Goethes Tag- und Jahres-Hefte 9783111371436, 9783111014234


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German Pages 184 [188] Year 1970

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Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
AUTOBIOGRAPHISCHES UND AUTOBIOGRAPHIE
DIE ENTSTEHUNG DER TAG- UND JAHRES-HEFTE
THEMEN UND PROBLEME IN DEN TAG- UND JAHRES-HEFTEN
DIE FORM DER TAG- UND JAHRES-HEFTE
DIE TAG- UND JAHRES-HEFTE ALS AUTOBIOGRAPHIE
ZUSAMMENFASSUNG
ANHANG
LITERATURVERZEICHNIS
REGISTER
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Goethes Tag- und Jahres-Hefte
 9783111371436, 9783111014234

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Georg Wackcrl Goethes Tag- und Jahres-Hefte

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker

Begründet von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Neue Folge Herausgegeben von

Hermann Kunisch Stefan Sonderegger und Thomas Finkenstaedt 35(159)

Walter de Gruyter & Co vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbudihandlung Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp.

Berlin 1970

Goethes Tag- und Jahres-Hefte von

Georg Wackerl

Walter de Gruyter & Co vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp.

Berlin 1970

Ardiiv-Nr. 4 3 3 0 7 0 9

© Copyright 1970 by Walter de Gruyter Sc Co., vormals G. J- Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit Sc Comp. — Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanisdien Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, audi auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Franz Spiller, Berlin

VORWORT Die vorliegende Dissertation bringt die Ergebnisse einer mehrjährigen Beschäftigung mit den autobiographischen Schriften Goethes. Den Grund legte eine im Winter-Semester 1964/65 an der Freien Universität Berlin angefertigte Arbeit mit dem Titel „Die Tag- und Jahres-Hefte als Sonderfall autobiographischer Darstellung". Das Thema und den R a t zu seiner Weiterführung gab Frau Professor Dr. Katharina Mommsen. Auf einer zweiten Stufe entstand meine Zulassungsarbeit zum Staatsexamen. Unter dem Titel „Goethes Tag- und Jahres-Hefte im Zusammenhang seiner autobiographischen Literatur" wurde sie 1966 an der Universität München eingereicht. Diese Arbeit betreute und begutachtete H e r r Professor Dr. Walter Müller-Seidel. Von hohem Wert f ü r die Weiterarbeit erwies sich ein Studienaufenthalt am Goethe- und Schiller-Archiv zu Weimar (1967). Die Direktion der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar gestattete die Benutzung des benötigten Materials und die Wiedergabe bisher ungedruckter Handschriften. Das freundliche Entgegenkommen der Herausgeber und des Verlages Walter de Gruyter & Co ermöglichte den Druck in der Reihe „Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker". Die Ernst-Reuter-Gesellschaft Berlin gewährte einen finanziellen Zuschuß. Allen Beteiligten spricht der Verfasser aufrichtigen D a n k aus. Frau Professor Dr. Katharina Mommsen, die diese Arbeit angeregt und bis zum Abschluß betreut hat, bleibe ich zu besonderem Dank verpflichtet.

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort

V

EINLEITUNG

1

1. Zur Forschungslage

1

2. Vorüberlegungen zur Methode der Untersuchung

3

AUTOBIOGRAPHISCHES UND AUTOBIOGRAPHIE

6

1. Goethes Interesse am Biographischen

6

2. Autobiographische Formen in Goethes Dichtung

8

3. Dichtung als Autobiographie

9

4. Gattungsfragen

10

DIE E N T S T E H U N G DER TAG- U N D J A H R E S - H E F T E . . . .

14

1. Die biographische Situation Goethes

14

2. Autobiographisches vor den Tag- und Jahres-Heften

16

3. Chronologie der Entstehung der Tag- und Jahres-Hefte . . . .

18

a) Der erste Ansatz b) Die „Summarische c) Stufen

Jahresfolge

Goethescher

Schriften"

der Weiterarbeit

4. Die Arbeitsweise (Arbeitstitel) a) Die Entwicklung der Konzeption b) Die Quellen c) Die Verarbeitung der Quellen d) Die Mitarbeit von Eckermann und Riemer T H E M E N U N D PROBLEME I N DEN TAG- U N D J A H R E S HEFTEN

18 20 21 23 23 25 29 31 42

1. Vorläufige Charakteristik

42

2. Die literarische Tätigkeit bis 1789

43

3. Das erste Weimarer Jahrzehnt

47

4. Tätigkeit

48

5. Wahre und falsche Tendenzen

51

6. Die Darstellung der eigenen Dichtung

54

VIII

Inhaltsverzeichnis

7. Weimarisches Hoftheater

58

8. Naturforschung

69

9. Entwicklung und Bildung

73

10. Die Französische Revolution

75

11. Das Individuum und die Gesellschaft

82

DIE FORM DER TAG- U N D JAHRES-HEFTE

87

1. Einleitendes

87

2. Beobachtungen zum Stil

88

a) b) c) d) e)

Der Eingang des Werkes Extrakt und Skizze Aphoristische Ausdrucksweise Verallgemeinerndes Sprechen Die Objektivität des Stils

f ) Antithese

und

88 89 91 93 95

Ausgleich

96

3. Komposition a)

Die

„Ungleichheit

b) Annalenjorm c) Der

101

Abschnitt

d) Das Problem

und

der Behandlung" die Möglichkeiten

101 freier

Komposition

....

1794 der ,Episoden'

102 104

(1801,

1805 und 1794)

109

e) Naturbilder

114

f ) Spruchhaftes

118

g) Bekenntnisse

und Standpunkte

h) Der Zyklus

als Kompositionsprinzip

120 (Zusammenfassung)

....

122

D I E T A G - U N D J A H R E S - H E F T E ALS A U T O B I O G R A P H I E 124 1. Goethes historisches Bewußtsein

124

2. Zeit und Bewußtsein

126

3. Das Problem der autobiographischen Wahrheit

129

4. Konfession und Schweigen

134

ZUSAMMENFASSUNG

137

ANHANG Exkurs I (Tabellen zur Entstehungsgeschichte)

141

Exkurs I I (Der Abschnitt 1795 — Entstehung und Gestaltung der TuJ) 146 LITERATURVERZEICHNIS

167

REGISTER

172

EINLEITUNG 1. Zur Forschungslage Goethes Tag- und Jahres-Hefte 1 sind schon allein deshalb bedeutend, weil hier der Autor über 73 Jahre seines Lebens Rechenschaft ablegt, über einen längeren Zeitraum als in irgendeiner seiner sonstigen autobiographischen Schriften. Trotz dieser hervorragenden Bedeutung für unsere Kenntnis von Goethes Leben und Werken führen sie ein bedauerliches Schattendasein. Nicht ohne Grund behauptet daher Sudhof in seinem Nachwort — innerhalb der dtv-Ausgabe von 1962 (!) —, die T u J seien „noch ein fast unbekanntes Werk", und fährt fort: „Von der neueren Goethe-Forschung, die sich des Goetheschen Spätwerks im besonderen angenommen hat, wurde es bisher übersehen oder nicht erkannt 2 ." Als Quellenmaterial für die Biographie Goethes und für die Interpretation seiner Werke leisteten die T u J der Forschung seit jeher unschätzbare Dienste 3 . Das Interesse gilt aber nur dem Inhalt; das Werk an sich findet kaum Beachtung. Varnhagen von Ense hatte Goethes T u J kurz nach ihrem Erscheinen mit wohlwollender Zustimmung, die aber der sachlich-kritischen Begründung nicht entbehrt, besprochen. Er weist vor allem auf den Formenreichtum des Werkes hin und interpretiert auch stilistische Besonderheiten. Mehr als spätere Kritiker erkennt er den bestimmenden Einfluß des Stoffes und der Entstehensweise auf die TuJ 4 . 1

Ferner a b g e k ü r z t : T u J .

2

S i e g f r i e d Sudhof im N a c h w o r t z u : J o h a n n W o l f g a n g G o e t h e : T a g - und J a h reshefte als E r g ä n z u n g meiner sonstigen Bekenntnisse. d t v - G e s a m t a u s g a b e , B d . 30, München 1962, S. 297. Goethes A u s f ü h r u n g e n z u den einzelnen J a h r e n werden dabei des öfteren zitiert, als handle es sich um Aussagen a u s d e m entsprechenden J a h r . Selbst S u d h o f entgeht diesem Irrtum nicht ganz, wenn er annimmt, d i e unfreundliche A u f n a h m e der Farbenlehre (1810) sei die Ursache d a f ü r , d a ß Goethe über seine späteren naturwissenschaftl. Arbeiten nur noch k n a p p berichtete. (Vgl. S u d h o f a.a.O., S . 297.) G o e t h e schrieb d i e gesamten T u J erst nach 1810. Eine etwaige Verstimmung müßte also das g a n z e Werk beeinflussen.

3

1

1

V a r n h a g e n von Ense: T a g - und J a h r e s - H e f t e als E r g ä n z u n g meiner sonstigen Bekenntnisse. I n : Varnhagen v. E . Z u r Gesdiichtschreibung und Litteratur. Berichte und Beurtheilungen. A u s d e n Jahrbüchern f ü r wissenschaftliche K r i t i k und anderen Zeitschriften gesammelt. H a m b u r g 1833, S. 3 7 6 — 3 8 7 . Wackerl, Ooethe

2

Einleitung

1894 gab Woldemar Freiherr von Biedermann seinen — für das so inhaltsbeladene Werk dringend erforderlichen — Kommentar zu den T u J heraus 5 . Die Ergebnisse der Forschungen Biedermanns sind seither nicht wesentlich vermehrt worden. Der Kommentar leidet u. a. aber darunter, daß der Verfasser die Tagebücher Goethes, die im Rahmen der Sophien-Ausgabe parallel zu seinen Erläuterungen erschienen, nur bis 1813 hatte einsehen können 6 . So bleiben seine Anmerkungen oft unbefriedigend. Zwischen Varnhagen von Enses Besprechung und Biedermanns Kommentar sowie auch nachher finden sich in der wissenschaftlichen Literatur kaum noch Studien zu den T u J . Nur vereinzelt werden sehr begrenzte Fragen abgehandelt; eine umfassende Untersuchung und Darstellung sucht man vergebens. Einführungen und Nachworte zu den verschiedenen Ausgaben der T u J bringen die Hauptsache dessen, was über das Werk historisch klärend und interpretierend erarbeitet ist, wobei der negativ wertende Gesamtton in den Ausführungen der verschiedenen Verfasser sich kaum unterscheidet. Zwar werden — fast stereotyp — herausgelöste Erzählzusammenhänge als ,Episoden* hervorgehoben, in einzelnen stilistischen Merkmalen glaubt man auch noch „des Meisters H a n d " 7 zu erkennen, dem Ganzen gegenüber — besonders bei den üblichen Vergleichen mit Dichtung und Wahrheit — macht sich jedoch Enttäuschung breit. Der enge Zusammenhang der T u J mit den sonstigen autobiographischen Schriften Goethes wird selten gebührend beachtet und meistens ausschließlich im Stofflichen gesehen. Daß auf die inhaltliche und formale Problematik des Werkes so wenig eingegangen wird, macht diese nur um so bedrängender. Bei der Untersuchung anderer autobiographischer Schriften Goethes, die sich größerer Beliebtheit erfreuen, oder bei Darstellungen des ,Späten Goethe' fällt nur gelegentlich ein Blick auch auf die T u J . Man braucht sich daher nicht zu wundern, wenn sie „noch ein fast unbekanntes W e r k " sind und mehr verkannt als erkannt werden. Erst die neueste Forschung nimmt von den T u J wieder einige Notiz. Förderlich war dabei vor allem das tiefere Eindringen in das Goethesche Alterswerk überhaupt, wodurch in den letzten Jahrzehnten der Blick für manche Züge des Stils und der Komposition geschärft wurde, die bis dahin mit dem Hinweis auf die nachlassende Gestaltungskraft Goethes abgetan worden waren. 5

6 7

Woldemar Frhr. von Biedermann: Erläuterungen zu den Tag- und Jahresheften von Goethe. Leipzig 1894. (Anhang an Goethes Werke, Abtheilung für Erläuterungen, Bd. 35 u. 36.) Bei diesen Erläuterungen handelt es sich um die erweiterte Bearbeitung von B.'s Anmerkungen zum 27. Bd. d. Hempelschen Ausg. Vgl. Biedermann a.a.O., S. V. Fritz Bergemann in der Einleitung zu: Tag und Jahreshefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse. Festausgabe, Bd. 18, S. 240.

Vorüberlcgungen zur Methode der Untersuchung

3

Boeschensteins Aufsatz von 1956, Tag- und Jahreshefte: A new Type of Autobiography8, verdient unsere Aufmerksamkeit schon deshalb, weil darin die TuJ erstmals als ein Werk „sui generis" 9 betrachtet und gewürdigt werden. Durch diesen fruchtbaren Ausgangspunkt vermag sich Boeschenstein von vielen überlieferten Vorurteilen zu befreien und gelangt so zu einer Reihe aufschlußreicher Beobachtungen. Ein weiterführender Ansatz ist auch im Blick auf die Wanderjahre gegeben, auf die bereits im Eingang des Aufsatzes hingewiesen wird 10 . „This autobiography can stand on its own merits", lautet Boeschensteins ungewöhnliches Urteil über die TuJ 1 1 . Auf die Nähe der Wanderjahre weist auch Sudhof in seinem Nachwort hin und fordert einen detaillierten Vergleich der beiden Werke. Auch er sieht die Eigentümlichkeit der TuJ und betont besonders ihre Andersartigkeit gegenüber Dichtung und Wahrheit 12 . Von dieser grundsätzlich positiven, auf das Werk selbst hin gerichteten Einstellung ausgehend, vermag Sudhof in seiner Einführung wertvolle Aufschlüsse zu geben. Seinen Hinweisen und Boeschensteins Bemerkungen verdanken wir am meisten für unsere Interpretation der TuJ.

2. Vorüberlegungen zur Methode der Untersuchung Das Handschriftenmaterial zu Goethes T u J ist in ungewöhnlicher Vollständigkeit erhalten und im Goethe- und Schiller-Archiv zu Weimar gesammelt. Bei diesen Vorarbeiten handelt es sich um Auszüge aus Goethes Tagebüchern und aus Briefen, um rubrizierte Stoffsammlungen, schematische Zusammenstellungen für einzelne oder mehrere Jahre, verschiedenartige Konzepte mit Korrekturen und Ergänzungen und um allgemeinere Notizen von der Hand Goethes, Eckermanns und Riemers über den Stand der Arbeit bzw. über deren Weiterführung. Mit insgesamt 1030 Blatt ist das Handschriftenmaterial umfangreicher als das schließlich veröffentlichte Werk selbst. Zur Zeit kann aber nicht einmal auf eine zuverlässige Ausgabe der TuJ zurückgegriffen werden. Mit den Grundlagen fehlen auch spezielle Untersuchungen. Wie wir in unserem Bericht über den Stand der Forschung darlegten, sind 8

Hermann Boeschenstein: Tag- und Jahreshefte: A new Type of Autobiography. In: German Life and Letters, New Series, 10 (1956/57), S, 169—176.

• A.a.O., S. 174. 10

Ebd. S. 169.

11

Ebd. S. 172.

12

Vgl. Sudhof: dtv-Ausgabe, Bd. 30, S. 2 9 8 : „Die ,Tag- und Jahreshefte' sind völlig anders angelegt und ausgearbeitet als die übrigen autobiographischen Schriften. Vielleicht sind sie eher den .Wanderjahren' vergleichbar, dem späten Romanwerk. Dies müßte aber erst in detaillierter Arbeit geprüft werden."

1*

4

Einleitung

weiterführende Arbeiten über die TuJ — wenige fruchtbare Hinweise ausgenommen — ein Desiderat der Goethe-Forschung. Allgemeinere Studien zu Problemen der Autobiographie nehmen von den T u J zumeist nur am Rande Notiz. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung zur Autobiographie im allgemeinen und zum Thema TuJ im besonderen stellen sich daher einer Untersuchung dieses bedeutenden Werkes nur schwer zu überwindende Hindernisse entgegen. Gegen eine phänomenologische oder typologische Fragestellung spricht der Umstand, daß es an den dazu unbedingt nötigen Vorarbeiten fehlt. Ausführungen allgemeineren Inhalts müssen problematisch bleiben, solange sie nicht im einzelnen zu belegen sind. Gegen die ausschließliche Behandlung spezieller Probleme — z. B. der Entstehungsgeschichte oder der Quellen der TuJ — melden sich ebenfalls Bedenken an, weil eine solche Untersuchung auf die Klärung umfassenderer Zusammenhänge verzichten müßte. Da diese für die TuJ bisher noch nicht aufgezeigt sind, würde eine Einzeluntersuchung in eine isolierte Stellung geraten und eben dadurch problematisch bleiben, wenn nicht irreführend. Überdies müßte sich eine solche Untersuchung weitgehend auf statistische und positivistische Ergebnisse beschränken, die kaum ein gesteigertes Interesse an den TuJ wecken könnten. Gerade in der Anregung weiterführenden Interesses aber sehen wir die vorzügliche Legitimation einer wissenschaftlichen Arbeit. Die vom gegenwärtigen Stand der Forschung ausgehenden Vorüberlegungen zur Methode, die gleichzeitige Ablehnung von übergreifenden Fragestellungen und ausschließenden Einzeluntersuchungen führen zunächst zu einem grundsätzlichen Kompromiß. Im Fortgang der vorliegenden Arbeit soll ständig versucht werden, das Einzelne und das Allgemeine zu verbinden. Die Interpretation eines jeden literarischen Werkes — und ganz besonders eines autobiographischen — kann nämlich sinnvoll erst dann beginnen, wenn die Sachfragen mit der zuständigen Methode, d. h. positivistisch, geklärt sind. Die positivistische Klärung aber bleibt Selbstzweck, wenn sie auf Erklärung verzichtet. Daher zielen unsere Bemühungen darauf ab, die Problematik von Goethes TuJ in ihrem gesamten Umfang und Umkreis zu durchleuchten und die entsprechenden Ausführungen durch Untersuchungen zu ausgewählten Einzelfragen zu belegen. In der interpretierenden Darstellung von Inhalt und Form sollen die Einzeluntersuchungen ihren Stellenwert finden; die Einzeluntersuchungen wiederum sollen die allgemeineren Beobachtungen der Überprüfung aussetzen. Philologische Kleinarbeit, die bis zu Editionsfragen führen kann, und werkimmanente Interpretation müssen einander ergänzen, soll das Ergebnis der Arbeit nicht in nichtssagenden Feststellungen oder leeren Behauptungen sich erschöpfen. Den Aufbau der vorliegenden Arbeit verstehen wir als Konsequenz unserer Vorüberlegungen zur Methode. Zunächst wird in dem einleitenden Kapitel Autobiographisches und Autobiographie versucht, den Um-

Vorüberlegungen zur Methode der Untersuchung

5

kreis des Themas aufzuzeigen und die wichtigsten Begriffe zu klären — nicht im Sinne einer endgültigen Definition, sondern einer Arbeitshypothese. Die Ausführungen über Die Entstehung der Tag- und Jahres-Hefte gelten der Erhellung der biographischen Situation des Autors bei Beginn seiner Arbeit und anderen entstehungsgeschichtlichen Fakten, die für die spätere Interpretation wichtig werden. Besondere Bedeutung messen wir den Abschnitten über die Quellen der TuJ und über die Mitarbeit von Eckermann und Riemer bei, da sie Ergebnisse bringen, die eine neue Einordnung der TuJ erfordern. Die Darstellung der Themen und Probleme in den TuJ hat den Zweck, durch neue, ständig wechselnde Fragestellungen tiefer in das Werk selbst einzudringen und seine Problematik in ihren verschiedenen Aspekten herauszuarbeiten. Diese Fragen gelten zwar noch hauptsächlich dem Inhalt, vorwegnehmende Interpretationen formaler Bezüge lassen sich jedoch nicht ausschließen — ein Grund mehr, diesen weiter nachzugehen. Der Einheit von Gehalt und Gestalt ist das Kapitel Die Form der Tag- und Jahres-Hefte gewidmet. Beobachtungen am stilistischen Detail und Interpretation durchgängiger Kompositionsprinzipien werden dabei einander ständig zu begleiten und zu beglaubigen haben, da wir uns in diesem Abschnitt fast durchweg auf Neuland bewegen. Nach der gegenseitigen Erhellung von Inhalt und Form wird im Kapitel Die Tag- und Jahres-Hefte als Autobiographie versucht, in phänomenologischen Fragestellungen die TuJ in ihrer autobiographischen Relevanz zu betrachten und zu werten. Engere Fragestellungen nach der Entstehung der einzelnen Jahresabschnitte und nach der Gestaltung eines besonderen, ausgewählten Abschnittes (1795) verweisen wir als Exkurse in den Anhang. Ihren eigentlichen Sinn erhalten diese Exkurse erst beim Blick auf das Ganze. Als detaillierte Ausarbeitungen zur Entstehungsgeschichte nach äußeren Daten und innerem Werden — auf der Grundlage bisher nicht veröffentlichter Handschriften — halten wir sie jedoch für entscheidende Glieder in unserer Interpretation der TuJ.

AUTOBIOGRAPHISCHES U N D AUTOBIOGRAPHIE 1. Goethes Interesse am Biographischen Uber kaum einen bedeutenden Menschen der Geschichte sind wir so genau und vollständig unterrichtet wie über Goethe. Zeugen seine Dichtungen, seine Schriften zur Naturwissenschaft und seine kritischen Abhandlungen über Literatur, Kunst und Altertum bereits in vielfältiger Weise von der schöpferischen, forschenden und kritischen Persönlichkeit des Autors, so geben seine Briefwechsel einen tieferen Einblick in seine gesellschaftlichen Verbindungen und persönlichen Verhältnisse. Weitere Aufschlüsse erhalten wir aus Goethes Tagebüchern. Sogar seine Gespräche sind teilweise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und der Nachwelt überliefert worden, ein Unternehmen, dem Goethe selbst — zumindest im Falle seiner Gespräche mit Eckermann — zustimmend gegenüberstand. In einem von Inhalt und formaler Erscheinung her ungewöhnlich reichen autobiographischen Schrifttum stellte er schließlich das eigene Leben dar. Die überraschende Fülle und Verschiedenartigkeit der Goetheschen Selbstaussagen läßt eine stark ausgeprägte autobiographische Tendenz erkennen. Im Interesse an fremden Autobiographien findet sie ihren ersten Ausdruck. Goethe kannte eine große Anzahl von Autobiographien und hebt immer wieder die Bedeutung einer solchen Literatur hervor. „Die Anforderung an lebende Gelehrte, kurze Selbstbiographien zu schreiben, in der Absicht das Publicum sogleich damit zu beschenken, ist ein sehr glücklicher G e d a n k e . . s c h r e i b t er in einer Rezension über die von S.M.Lowe 1806 herausgegebene Sammlung: „Bildnisse jetzt lebender Berliner Gelehrten, mit ihren Selbstbiographien 1 ." Wichtig f ü r die Beurteilung von Goethes eigenem autobiographischen Schrifttum ist der Umstand, daß er nicht nur viele Autobiographien kannte, sondern t y p i s c h e Vertreter aus der Geschichte der Gattung. Die genaue Kenntnis der Tradition macht in der Nachfolge — und noch mehr in der Abhebung von ihr — Goethes besondere Absicht und eigene Leistung deutlich. Nach der wesentlich von Augustinus' Confessiones bestimmten, religiösen, auf das Verhältnis der Seele zu Gott ausgerichteten Autobiographie der mittelalterlichen Mystik brachte das neue Selbst- und 1

Vgl. WA I 40, 360.

Goethes Interesse am Biographischen

7

Welt-Bewußtsein der Renaissance die Gattung zu einer zweiten Blüte. Die hervorragendsten Vertreter der neuen Art, über sich selbst zu berichten, waren Cellini und Cardano. Von der Lektüre der analytisch-reflektierenden Lebensbeschreibung Cardanos berichten Goethes Tagebuchaufzeichnungen vom Juli 1777: „Cardan de vita propr 2 ." Die von hohem Selbstbewußtsein getragene und in positivem Sinn selbstherrliche Autobiographie Cellinis übersetzte Goethe zunächst als ein Gelegenheitswerk für Schillers Hören. Revidiert und kommentiert nahm er die Übersetzung später in die Reihe der eigenen Werke auf. Die damit ausgedrückte Hochschätzung vermag am besten zu zeigen, welcher Art der Selbstdarstellung Goethe die meiste Sympathie entgegenbrachte. 1782 lernte Goethe Rousseaus Confessions kennen, in denen die moderne, extrem-subjektivistische Selbstaussage ihre erste große Gestaltung gefunden hatte. Schon vorher hatte er die Lebensgeschichte seines Straßburger Jugendfreundes Jung-Stilling im Entstehen verfolgt und im Jahre 1777 selbst die Drucklegung des Werkes besorgt. Der dieser Autobiographie eigene psychologisierende Zug ist im „Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz gesteigert zum Bericht über eine pathologische Entwicklung. Goethe lernte das seit 1785 erschienene Werk 3 bald kennen; mit dem Autor selbst nahm er in Rom freundschaftliche Beziehungen auf. Die Beschäftigung mit den Biographien anderer gab Anlaß zu grundsätzlichen Überlegungen, was man von einer Lebensbeschreibung erwarten müsse und bereitete so Goethes selbstbiographische Schriften vor. Die Übersetzung des Cellini wurde bereits erwähnt. Mit der Arbeit an der Biographie Winckelmanns rückte das eigene Jahrhundert in das Blickfeld der Betrachtung. Im Titel „Winckelmann und sein Jahrhundert" klingt der programmatische Satz aus dem Vorwort zu Dichtung und Wahrheit voraus, man müsse in einer Biographie das Individuum in seinen Zeitverhältnissen darstellen. Im Jahrhundert Winckelmanns haben wir es aber bereits mit den Zeitverhältnissen zu tun, die Goethes eigene Entwicklung bestimmten. In der „Faktenwelt", wie sie in den Anmerkungen zur Übersetzung des Cellini gesammelt ist, und im „Thema der geistigen Strömungen und Überlieferungen", wie es in den präzisen Kapiteln der Winckelmann-Schrift angeschlagen ist, erkennt Hans Mayer wesentliche Züge, in denen sich Goethes eigene Biographie vorbereitete 4 . In 2 3 4

WA III 1,43. 4 Bde., 1785—90. Hans Mayer: Zur Deutschen Klassik und Romantik. Pfullingen 1963. S. 102. — Eine ähnliche Feststellung trifft Heinrich Meyer: „Als er [Goethe] Windtelmann darstellte, machte er Winckelmann gewissermaßen zu Goethe in Italien, wie er ja tatsächlich in dieser Darstellung die Grundprinzipien seiner eigenen Biographie zuerst festlegte." (H. M.: Goethe. Das Leben im Werk. 2. Aufl. Stuttgart 1967. S. 19.)

s

Autobiographisches und Autobiographic

der Bearbeitung von Diderots Dialog „Rameaus Neffe" verbinden sich nach Mayer die beiden Merkmale und weisen dadurch ebenfalls auf die Beschaffenheit von Goethes eigener Biographie voraus. Schließlich berührte sich die Biographie Philipp Hackerts, die Goethe aus dessen biographischen Aufsätzen und Skizzen zusammenstellte, mit dem eigenen Leben und gab Anlaß, für sich selbst ein Gleiches zu tun: „ . . . ich hatte Ursache mich zu fragen, warum ich dasjenige was ich für einen andern thue nicht für mich selbst zu leisten unternehme?", erklärt Goethe rückschauend 1 .

2. Autobiographische Formen in Goethes Dichtung Lange bevor sich Goethe aus historisch-wissenschaftlicher Sicht dem Phänomen des Autobiographischen zuwandte, war Biographisches und Autobiographisches als Stoff und Motiv ein bevorzugtes Thema seiner Dichtung. Nicht die Ereignisse des 15. und 16. Jahrhunderts, sondern die individuelle Gestalt, wie sie ihm aus der „Lebensbeschreibung des Herrn Götz von Berlichingen" entgegentrat, hatte ihm den Blick für die Zustände der Zeit geöffnet und den Anlaß für die dramatische Gestaltung gegeben. Ist die Lebensgeschichte des Götz von Berlichingen noch als bloßer Stoff benutzt, so ist zur gleichen Zeit, bei der Entstehung des Werther, das Autobiographische ein strukturierender Bestandteil der Erzählhaltung. Im Briefroman spricht das Ich des Helden unmittelbar von sich selbst. Die biographischen Hintergründe im Leben Goethes, nach denen seit dem Erscheinen des Werther — sehr zum Verdruß des Autors — immer wieder gefragt und geforscht wurde, werden aber durch distanzierende Darstellung zurückgenommen, wenn nicht aufgehoben. Die Romanfigur ist nicht mit dem Erzähler gleichzusetzen. Die Unmittelbarkeit der Briefe ist vor allem ein dichterisches Mittel der Darstellung. Der Dichter selbst steht auf einer höheren Ebene. Die Subjektivität der Briefe wird objektiviert, indem der Dichter die Rolle des Herausgebers, d. h. eines teilnehmenden, aber in der Distanz verharrenden Sammlers fremden „autobiographischen" Materials annimmt: „Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor . . , 6 " Mit diesen Worten leitet Goethe die Erzählung ein und tritt am Schluß des Berichtes nach kurzen Sätzen im Imperfekt sehr bewußt in das objektivierende Perfekt zurück: „Kein Geistlicher hat ihn begleitet 7 ." 5

WA I 36, 62.

6

WA 119, 3.

7

WA 1 1 9 , 1 9 1 .

Dichtung als Autobiographic

9

Im sechsten Buch von Wilhelm Meisters Lehrjahren unterbrechen die eingefügten „Bekenntnisse einer schönen Seele" den Fortgang der Handlung. Die Entstehung dieser Bekenntnisse leitet Goethe in Dichtung und Wahrheit aus „Unterhaltungen und Briefen" des Fräulein von Klettenberg ab8. Sie zeigen, wie eingehend sich der Autor in den Jahren 1769—1775 mit den pietistischen Kreisen und ihrer autobiographischen Literatur beschäftigt hatte. Indem Goethe die „Bekenntnisse einer schönen Seele" aber in den größeren Zusammenhang seines Romans einfügt, verliert auch hier — wie im Werther — das Autobiographische seine Unmittelbarkeit und wird in das Ganze der Erzählung integriert. Autobiographie als formales Element setzt sich auch in Wilhelm Meisters Wanderjahren fort. Joseph erzählt seine Geschichte9. Friedrich wird zum Chronisten des Auswandererbundes bestellt10. Die Lektüre von Lenardos Tagebuch füllt in Absätzen zu den einzelnen Tagen zwei Kapitel des Romans aus11. Inwieweit die Meister-Romane überhaupt, als Bildungsromane, autobiographischer Natur sind, bedürfte einer eigenen Untersuchung. Hier kann das Problem nur angedeutet werden.

3. Dichtung als Autobiographie Lassen sich autobiographische Elemente der Dichtung durch ihren Funktionswert als ein Mittel der Darstellung erklären, so wird die Dichtung als Dichtung — und ganz besonders die Goethes — in ihrem Zusammenhang mit der Gattung Autobiographie problematisch. Goethes Ausspruch, alle seine Werke seien nur Bruchstücke einer großen Konfession12, ordnet anscheinend sein gesamtes Schaffen der Kategorie des Autobiographischen zu und macht daher die weiteste Fragestellung notwendig. Es ist kein Zufall, daß der zunächst so fruchtbare Begriff der „Erlebnis-Dichtung" vornehmlich aus den Werken Goethes gewonnen wurde. In gefährlicher, durch Goethes eigene Aussage jedoch verständlicher Verbindung vertauschten aber Goethe-Verehrer und auch GoetheForscher wiederholt Leben und Werk, betrachteten das Leben Goethes als ein Kunstwerk und sahen im Werk vor allem das Leben und das Erleben. Tatsächlich läßt sich schon bei Goethes Leipziger Anfängen, gesteigert seit den Sesenheimer Liedern, vom Werther bis zum Wilhelm Meister und den Wahlverwandtschaften, vom Tasso bis zum Faust 8

WA I 27, 199.

9

Vgl. WA I 2 4 , 1 3 ff.

10

Vgl. WA 125 (1), 101.

11

Vgl. WA I 25 (1), 107 ff., 225 ff.

12

Dichtung und Wahrheit, Buch 7, W A I 27,110.

10

Autobiographisches und Autobiographie

der Erlebnishintergrund für Goethes Dichtung belegen und wird von Goethe selbst in einem autobiographischen Werk bestätigt. Im Zusammenhang mit der ersten Ausgabe seiner Schriften schreibt er aus R o m : Es ist mir wirklidi sonderbar zu Muthe, d a ß diese vier zarten B ä n d chen, die Resultate eines halben Lebens, mich in R o m aufsuchen. Ich kann wohl s a g e n : es ist kein Buchstabe drin, d e r nicht gelebt, empf u n d e n , genossen, gelitten, gedacht wäre, und sie sprechen mich nun alle desto lebhafter an 1 3 .

Es besteht kein Grund, an dieser Auskunft Goethes zu zweifeln, doch gibt es vielfache Gründe zu bezweifeln, daß jeder „Buchstabe" so empfunden wurde, wie er geschrieben steht. Auch stellt sich das Problem, ob nicht der Vorgang des Dichtens selbst, als biographischer Akt, hinter dieser Aussage steht.

4. Gattungsfragen Die Vorüberlegungen im weiteren Umkreis des Themas führen zu der schwierigen Frage nach der Autobiographie als literarischen Gattung. Wir sind uns bewußt, daß dieses Problem — trotz der steigenden Zahl von entsprechenden Untersuchungen — bisher nicht erschöpfend behandelt ist, und daß die begriffliche Klärung noch aussteht. Gerade deshalb ist es aber unumgänglich, das Phänomen des Autobiographischen näher zu bestimmen, bevor es möglich wird, die T u J auch in ihrer autobiographischen Relevanz zu betrachten. Erst dann wird es auch möglich, die Gesamtheit der autobiographischen Schriften Goethes in ihrem besonderen Zusammenhang zu sehen, und von den eigentlichen autobiographischen Werken wieder auf die autobiographische' Dichtung zu verweisen. Wenn auch eine eindeutige Scheidung zwischen Autobiographie und Dichtung nicht möglich und den konkreten Erscheinungsweisen wohl auch gar nicht angemessen ist, so soll doch aus methodischen Gründen vorerst das Unterscheidende herausgestellt werden, damit nicht eine zu enge Verquickung von vornherein den Blick für die Eigenart der beiden gründsätzlidi verschiedenen Möglichkeiten der Aussage verstellt. Das Bestreben, sich seiner selbst zu vergewissern, indem man zu Freunden und Zeitgenossen über das eigene Ich spricht, und sich durch die Aufzeichnung solcher Berichte ein Fortleben bei der Nachwelt zu sichern, ist ein entscheidender Schritt im geschichtlichen Prozeß der Bewußtwerdung der eigenen Individualität. Misch geht in seiner sehr weit angelegten Geschichte der Autobiographie deren ersten Anfängen und entferntesten Möglichkeiten nach: 13

Vgl. Italienische Reise, W A I 32, 83.

Gattungsfragen

11

S i e gehört ihrem Wesen nach zu d e n N e u b i l d u n g e n höherer K u l t u r stufen und ruht doch auf d e m natürlichsten G r u n d e , auf dem Bed ü r f n i s nach Aussprache und d e m entgegenkommenden Interesse der anderen Menschen, w o m i t d a s B e d ü r f n i s nach Selbstbehauptung zusammengeht; sie ist selber eine Lebensäußerung, die an keine bestimmte F o r m gebunden ist. Sie ist reich an neuen A n f ä n g e n und d a s wirkliche Leben gibt sie ihr . . . U n d keine F o r m f a s t ist ihr f r e m d . Gebet, Selbstgespräch und T a t e n bericht, fingierte Geschichtsrede oder rhetorische D e k l a m a t i o n , wissenschaftlich oder künstlerisch beschreibende Charakteristik, L y r i k und Beichte, Brief und literarisches P o r t r a i t , Familienchronik und höfische Memoiren, Geschichtserzählung rein stofflich oder romanhaft, R o m a n und Biographie in ihren verschiedenen Arten, E p o s und selbst D r a m a — in all diesen F o r m e n hat sie sich bewegt, und wenn sie so recht sie selbst ist, und ein originaler Mensch sich in ihr darstellt, schafft sie die gegebenen G a t t u n g e n um oder bringt v o n sich aus eine unvergleichliche F o r m hervor 1 4 .

Man sieht sich bei diesen Ausführungen an das Wort Goethes von der „großen Konfession" erinnert, die in allen seinen Werken ausgesprochen sei. D a aber Misch das nur vom Inhalt her Autobiographische so stark betont, erscheint in der Vielfalt der autobiographischen Möglichkeiten die Autobiographie selbst, als eine eigengesetzliche Form der Aussage, — „ . . . und wenn sie so recht sie selbst i s t . . . " , formuliert Misch — als zu wenig abgegrenzt. Wenn Misch behauptet, die Autobiographie sei an keine bestimmten Formen gebunden, so läßt sich diese Aussage bei einem Blick auf den Formenreichtum autobiographischer Literatur leicht bestätigen. Wenn er aber relativ feste literarische Gattungen und selbst ,poetische Grundbegriffe' für die Autobiographie in Anspruch nimmt, scheint er den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem dichterischen SelbstZ e u g n i s , das jede Dichtung ablegt, und der bewußten und beabsichtigten Selbst a u s s a g e , wie sie nur die Autobiographie bietet, zu vernachlässigen. Von der Dichtung scheidet sich die Autobiographie vor allem durch die andere Beschaffenheit der Realität, mit der sie es zu tun hat. Während der Dichter seine Realität erst schafft, findet der Autobiograph Tatsachen vor. In der notwendig subjektiven Darstellung schafft er daraus eine neue — eben die autobiographische — Realität. Die Gestalt des ,Helden' ist in der Autobiographie mit der Person des Erzählers identisch. Die Ich-Erzählung der Autobiographie ist also nicht wie im Roman eine Fiktion — vom Erzähler bewußt verwendet und vom Leser durchschaut — sondern Realität. Wohl spricht auch die Dichtung von ihrem Dichter, aber der Dichter spricht in ihr nicht von sich. Wo er es zu tun scheint, erhebt er das subjektive Erleben durch seine Gestal14

G e o r g Misch: D i e Geschichte d e r A u t o b i o g r a p h i e . 3. A u f l . F r a n k f u r t a. M. 1949, 1. B d . : D a s Altertum. 1. H ä l f t e , S. 6.

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Autobiographisches und Autobiographie

tung zum Allgemeingültigen. Die Autobiographie dagegen bleibt immer unmittelbar auf den Darsteller bezogen. Das objektiv-tatsächliche Erleben erhält freilich selbst bei dem angestrengtesten Bemühen des Selbstbiographen um eine größtmögliche Objektivität seiner Darstellung eine subjektive Deutung. Im Extremfall führt diese Deutung dazu, daß der Bericht über das eigene Leben zur Enthüllung der „Lebensillusion" des Autors wird, wie R o y Pascal es nennt 1 5 . Aber auch in diesem Falle noch erweist sich die Struktur des Berichtes als ein getreues Abbild der Bewußtseinsstruktur des Erzählers und bleibt daher absolut autobiographischer Natur. In dieser unauflöslichen Einheit sehen wir ein wesentliches Merkmal der Autobiographie, das über der faktischen Realität des Berichtes steht. Voraussetzung für eine solche unauflösbare Einheit ist die Bewußtheit, aus der heraus berichtet wird. Ein unbewußtes und unbeabsichtigtes Selbstzeugnis ist noch keine Aussage über sich selbst — soviel es auch aussagen mag. Autobiographie setzt die Absicht zur Autobiographie voraus. Erst eine solche Absicht erfordert die Besinnung auf das Ganze der eigenen Individualität und des Lebens. Die Gesamtheit des Lebens und des Erlebens wird im Bewußtsein erneuert und vielleicht erst als Einheit hergestellt. In der Erkenntnis also liegt das einheitsstiftende Moment des Lebens sowohl als auch der Beschreibung des Lebens. Die Autobiographie erhält eben dadurch ihre eigentümliche Mittelstellung zwischen der Unmittelbarkeit der Darstellung realer Verhältnisse und überlegenem Bewußtsein. Darin liegt ihre vornehmste Eigenart und ihre „Totalität", von der Goethe in einer frühen Tagebuchnotiz zu seiner autobiographischen Beschäftigung spricht: . . . Unterhaltung über Biographica und Ästhetica . . . Ironische Ansicht des Lebens im höhern Sinne, wodurch die Biographie sich über das Leben erhebt. Superstitiose Ansidit; wodurch sie sich wieder gegen das Leben zurückzieht. Auf jene Weise wird dem Verstände und der Vernunft, auf diese der Sinnlichkeit und der Phantasie geschmeichelt; und es muß zuletzt, wohl behandelt, eine befriedigende Totalität hervortreten 1 8 .

Ein weiteres Kriterium der literarischen Autobiographie kann darin gesehen werden, daß sie zur Veröffentlichung bestimmt ist. Privates ist nämlich nicht literarisch und Literarisches bleibt nie privat. Die Hinwendung an ein größeres Publikum in eigener Sache und mit der deutlich erkennbaren Bereitschaft zur Mitteilung unterscheidet die 15

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R o y Pascal: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. (Design and Truth, deutsch). Übers, von M. Schaible. Stuttgart Berlin Köln Mainz 1965. S. 7. W A I I I 4 , 1 2 0 . — Dieser Passus — niedergeschrieben am 18. Mai 1810, auf der Reise nach Karlsbad, — enthält Überlegungen zu Diditung und Wahrheit. Vgl. Momme Mommsen, unter Mitwirkung von Katharina Mommsen: Die Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten. Berlin 1958. Bd. 2, S. 368.

Gattungsfragen

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Autobiographie von der persönlichen Äußerung, wie sie in Briefen und Gesprächen erscheint. Darin grenzt sie sich auch vom Tagebuch ab. Das Tagebuch sammelt überdies ohne Distanz der Zeit und des Bewußtseins, von Tag zu Tag fortschreitend, die verschiedenen Aufzeichnungen, während die Autobiographie aus der Ubersicht der Rückschau heraus zusammenhängend berichten kann. Das Tagebuch begleitet das Erleben; der Anfang der Autobiographie wird erst durch das (vorläufige) Ende des Erlebens möglich. Diesen Unterschied halten wir für entscheidend, auch wenn Vermittlungen möglich sind. In den vorausgehenden Überlegungen wurde versucht, das Wesen der Autobiographie von innen heraus zu bestimmen. Mehr äußerlich definiert Misch die Autobiographie durch eine Paraphrase des Begriffes: I n d e r T a t zeigt das autobiographische Schrifttum, als Ganzes betrachtet, einen proteischen C h a r a k t e r . Diese L i t e r a t u r g a t t u n g entzieht sich einer Definition nodi hartnäckiger als die gebräuchlichsten F o r m e n d e r Dichtung. Sie l ä ß t sich k a u m näher bestimmen, als durch die E r läuterung dessen, was der Ausdruck besagt: die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst ( a u t o ) 1 7 .

Die Gattung Autobiographie enger einzugrenzen, als es bisher geschehen ist, oder in Sonderformen zu unterteilen — wie Memoiren, literarisches Tagebuch u. a. — halten wir bei der fast völligen inhaltlichen und formalen Offenheit der Gattung für verfrüht — zumindest im Rahmen des gestellten Themas. Wenn daher in der versuchten U m schreibung, die nicht als Definition, sondern als Arbeitshypothese gemeint ist, auch der Umkreis des Themas aufgezeigt wird, werden wir uns dem Problem des Autobiographischen bei der Untersuchung von Goethes T u J ständig von neuem zu stellen haben.

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Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. I, 1, S. 7.

DIE E N T S T E H U N G DER TAG- U N D JAHRES-HEFTE 1. Die biographische Situation Goethes Goethes Interesse für die Autobiographie tritt, wie sich gezeigt hat, früh und vielfältig in Erscheinung. Seine eigentlichen autobiographischen Schriften sind jedoch erst als Resultate des Lebens und als ein Ausdruck des Abstand gewinnenden Alterns zu verstehen. Er sah die Gefährten seiner früheren Jahre dahingehen und wurde dadurch an sein eigenes Ende erinnert. In den Äußerungen über seine autobiographische Tätigkeit spricht Goethe wiederholt von der ihm noch verbleibenden Zeit 1 . Schwere Krankheiten hatten den alternden Dichter seit 1801 mehrfach heimgesucht, so daß seine Freunde um sein Leben bangen mußten 2 . Während er selbst erhalten blieb, raffte der Tod Schiller, den zehn Jahre jüngeren Freund, hinweg. Dieser Verlust stellte das eigene schöpferische Dasein in Frage. Hatte doch die Verbindung mit Schiller einen „neuen Frühling" heraufkommen lassen und wieder den Dichter in Goethe gefordert, zu einer Zeit, als dessen Schaffenskraft zu erlahmen drohte 3 . Fortan ist „einsame Thätigkeit" sein Teil 4 . Zwei Jahre vorher hatte er Herder, den großen Anreger seiner Jugend und Freund auch der späteren Jahre, verloren. Zusammen mit ihm hatte Goethe während der literarischen Bewegung des ,Sturm und Drang' die Richtung, in die sich die deutsche Literatur bewegen sollte, entscheidend mitbestimmt. 1807 hatte der Weimarer Hof mit der Herzogin Amalie seinen gesellschaftlichen Mittelpunkt verloren. 1808 war Goethes Mutter gestorben 5 . Eine neue, schmerzliche Lücke riß 1813 der Tod Wielands, dessen heitere Humanität Goethe so sehr schätzen gelernt hatte. 1

2

3 4 5

Z. B. in der „ C o n f e s s i o n des V e r f a s s e r s " [der F a r b e n l e h r e ] : „ . . . und so m a g d a s G e g e n w ä r t i g e als ein einzelnes C a p i t e l jenes größeren Bekenntnisses angesehen w e r d e n ; welches abzulegen mir vielleicht nodi Zeit und M u t h übrig bleibt." ( W A I I 4, 184 f.). V g l . „Ältestes chronologisches Schema", zu 1801: „ U n g e h e u r e K r a n k h e i t " ( W A I 26, 361.). Vgl. T u J , W A I 35,41. Vgl. T u J , W A I 35,193. In d e n T u J weist Goethe d a r a u f hin, wie sehr die ein J a h r später einsetzende Arbeit an Dichtung und Wahrheit d a r u n t e r litt: „Bei meiner Mutter Lebzeiten hätt' ich das Werk unternehmen sollen . . . " Vgl. T u J , W A I 36, 62.

Die biographische Situation G o e t h e s

15

Christianes Tod, 1816, führt unmittelbar in die Zeit der Entstehung der TuJ. Seine Folgen bestimmten also mit die biographische Situation des Autors bei Beginn seiner Arbeit. Günther Müller beschreibt diese Folgen: Nicht d und Wein" Die Entwicklung des hymnischen Stils in der elegischen Dichtung Von

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