Goethes Dichtung und Wahrheit: Beiträge zu Goethes autobiographischen Schriften 9783110759426, 9783110746037

Goethe’s autobiographical project is increasingly becoming a focus of interdisciplinary academic interest. This volume b

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German Pages 172 Year 2022

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Teil I: Zur literarischen Form von Dichtung und Wahrheit
Dichtung und Wahrheit. Dichtung des Alten, Schein der Wahrheit
„Ein bloßes Stottern“. Goethes Porträtkunst und die Tradition der Physiognomik in Dichtung und Wahrheit
Der anekdotische Vorfall. Notiz zu einem Erzählverfahren in Dichtung und Wahrheit
Teil II: Erinnerung: Archiv und Vergegenwärtigung
Auf der Galerie. Eine Mystifikation
Eckermanns Redaktion des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit. Annäherungen auf dem Weg traditioneller und digitaler Philologie
„bald Chronik bald Annalen, Memoiren, Confessionen, und wer weiß wie sonst noch“ – zu Goethes Tag- und Jahres-Heften
Vor- und nach-klassizistisch. Goethes Aus meinem Leben. II. Abthl. Italienische Reise I.-II.
Anhang
Siglen
Abbildungsverzeichnis
Beiträgerinnen und Beiträger
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Goethes Dichtung und Wahrheit: Beiträge zu Goethes autobiographischen Schriften
 9783110759426, 9783110746037

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Goethes Dichtung und Wahrheit

Goethes Dichtung und Wahrheit



Beiträge zu Goethes autobiographischen Schriften Herausgegeben von Anne Bohnenkamp und Bernhard Fischer

ISBN 978-3-11-074603-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-075942-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-075947-1 Library of Congress Control Number: 2021952263 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Schon früh spielte Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit als Quelle der Goetheforschung, dann als Modell autobiographischen Schreibens in der Literaturwissenschaft eine zentrale Rolle. Nicht zuletzt deshalb waren die verschiedenen Paradigmenwechsel der Autobiographie-Forschung immer wieder mit Re-Lektüren von Goethes zentralem autobiographischen Werk verbunden, das so glaubhaft die Bildungsgeschichte Goethes von seiner frühesten Kindheit bis zum Aufbruch nach Weimar zu erzählen schien. Auch wenn die Forschung diese Bildungsgeschichte immer deutlicher als inszenierten Bildungsroman und gleichsam als ein Stück Autofiktion avant la lettre auffasste, vernachlässigte sie lange die Aufgabe, die vielfältigen Spielarten autobiographischen Schreibens vergleichend und differenzierend in den Blick zu nehmen, die Goethe selbst in der Ausgabe letzter Hand unter der Rubrik „Autobiographische Schriften“ zusammengestellt hat. Noch im letzten Goethe-Handbuch aus den späten 1990er Jahren werden die hier versammelten Werke lediglich in Einzelartikeln behandelt; eine Überblicksdarstellung, welche die Zusammenhänge und die Entwicklung des beträchtlichen Spektrums der autobiographischen Schreibweisen in den Fokus rücken würde, fehlte. Erst in den letzten Jahren, mit den Arbeiten von Carsten Rohde (2006), Wiebke Hoheisel (2013) u. a., ist zunehmend Goethes autobiographisches Projekt als Ganzes in den Fokus eines – anthropologisch, historiographisch oder geschichtstheoretisch orientierten – wissenschaftlichen Interesses gerückt. Diesen Faden aufzunehmen und fortzuspinnen, unternahm im April 2019 ein vom Goethe- und Schiller-Archiv und dem Freien Deutschen Hochstift gemeinsam veranstaltetes Symposion in den Räumen des Weimarer Archivs. Eine besondere Perspektive ergab sich dabei aus den vor Ort seit den 1990er Jahren laufenden historisch-kritischen Editionen der Tagebücher und Briefe von Goethe, die seit 2015 samt der Regestausgabe der Briefe an Goethe und den Begegnungen und Gesprächen auf der digitalen Forschungsplattform PROPYLÄEN integral zugänglich gemacht werden. Neben den Verbindungen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen zwischen den verschiedenen autobiographischen Schriften Goethes zeigen lassen, richtete sich der Blick auch auf die dichten Vernetzungen, die sich in diesen Schriften mit den pragmatischen Textsorten Brief und Tagebuch, kurz mit dem in Goethes „Archiv“ zu Lebzeiten systematisch gepflegten Quellenbestand ergeben. Gleichermaßen einbezogen werden sollten die Bezüge, die zwischen poetischem und autobiographischem Werk Goethes nicht nur in dem häufig untersuchten Sinne bestehen, dass Goethe

https://doi.org/10.1515/9783110759426-201

VI  Vorwort

rückblickend die Entstehung seiner Dichtung in den Zusammenhang seiner Lebensgeschichte stellt (wobei diese ihrerseits zum „Werk“ avanciert), sondern auch im Blick auf die hintergründigen Beziehungen und Interferenzen, die aus den gleichzeitigen und einander wechselseitig beeinflussenden Schreibprozessen resultieren, in denen poetische, historisch-biographische, pragmatische und autobiographische Texte entstanden. Das Hauptstück von Goethes autobiographischen Schriften: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, entstand in den Jahren 1809 bis 1831. Goethe selbst legte die ersten zwei Abteilungen (in sechs Teilen) 1811 bis 1822 vor, wobei er nach Erscheinen des ersten Teils den Titel auf Dichtung und Wahrheit kürzte;1 der letzte und vierte Teil der zweiten Abteilung erschien, nachdem seine Ausführung zwischen 1822 und 1831 geruht hatte, erst posthum 1833 im Rahmen der Nachlassbände zur Vollständigen Ausgabe letzter Hand redigiert und vollendet von Johann Peter Eckermann, der Goethe bis zuletzt bei der Ausarbeitung zur Seite gestanden hatte. Prima facie geht der Beginn des autobiographischen Projekts auf die Zäsuren zurück, die Goethes Welt grundstürzend veränderten: Schillers Tod im Mai 1805, die Implosion des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation mit der Abdankung des Kaisers Franz II. Anfang August und dem Ende des alten Weimar im Oktober 1806 nach der Schlacht von Jena und Auerstedt. Eine weitere Zäsur war die werkgeschichtliche Summe der – noch von Schiller verhandelten – „Ausgabe A“ bei Cotta (1806–1808), deren 12 Bänden Goethe 1810 noch die 1809 erschienenen Wahlverwandtschaften als dreizehnten Band anfügte. Im Zusammenhang mit den gleichzeitig begründeten Werkausausgaben von Schiller und Herder markierte diese Ausgabe die nunmehr erreichte ‚Klassizität‘ der Deutschen Nationalliteratur. Folgt man dem programmatischen Vorwort von Aus meinem Leben,2 so wollte Goethe Auskunft geben über die Entstehung seiner Werke und die Entwicklung seines Œuvre im Zusammenhang mit der ihm zugrundeliegenden „Wahrheit“, die er dreifach fasste: als „äußere bestimmte Gegenstände“, als „innere entschiedene Bildungsstufen“ und als „gewisse temporäre moralische und ästhetische Maximen und Überzeugungen“, wobei er die ihm selbst geltenden Auskünfte in seine persönlichen Beziehungen und darüber hinaus in die „ungeheuren Bewegungen des allgemeinen politischen Weltlaufs“ einbetten wollte. Entsprechend ist Dichtung und Wahrheit intellektuelle Autobiographie und literaturhistorisch zentrierte Epochenerzählung, wobei der Entwicklungsbogen 1 Abth. I, Thl. 1: 1811, Thl. 2: 1812, Thl. 3: 1814; Abthl. II, Thl. 1: 1816, Thl. 2: 1817, Thl. 3: 1822. 2 Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Bd. 14. Hg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt/Main 1986, S. 11– 14.

Vorwort 

VII

aus der "nullen" Epoche, namentlich eines Gleim, zum Neubeginn der auf gültigen und wahren Grundsätzen begründeten Literatur und Kunst der "Weimarer Kunstfreunde" führen sollte. Goethe und Schiller als Protagonisten der sich entwickelnden deutschen Literatur vorzuführen, war wohl ein ursprünglich beabsichtigtes Darstellungsziel von Dichtung und Wahrheit. In den Schemata zuerst angelegt bis zum Jahr 1809,3 ist Goethes autobiographische Erzählung in Dichtung und Wahrheit gleichwohl nicht weiter als bis zu jenen breit ausgeführten Momenten gekommen, in denen er es dem Zufall anheimstellt, ob die Kutsche, die ihn nach Weimar führen soll, kommt oder nicht, und ihn der erwartete Wagen schließlich doch erreicht. Erzählt sind die Lebensstationen: Kindheit in Frankfurt, Studentenleben in Leipzig und Straßburg, Tätigkeit und Leben in Wetzlar, Frankfurter Wartestand nebst den Rheinreisen. Es fehlen das erste Weimarer Jahrzehnt, die einsamen Jahre nach der Rückkehr von Italien und die Zeit der Weimarer Klassik; angestückt sind die Italienische Reise – die er formal anders organisiert, zunächst ausgelagert publiziert – und die Kampagne in Frankreich und die Belagerung von Mainz. Überdies fehlt jeder Ansatz, eine ähnliche Synthese für die folgenden Jahre auch nur zu planen. Schon zu Lebzeiten Goethes stieß seine Autobiographie auf großes Interesse, das das ganze 19. Jahrhundert anhielt und nur übertroffen wurde von dem an Johann Peter Eckermanns Gesprächen mit Goethe, die u. a. eine Fülle autobiographischer Reminiszenzen und Reflexionen bieten. Die Forschung hat das Werk zunächst vor allem als ergiebige biographische Quelle genutzt, wobei sich fortschreitend methodische Bedenken und Zweifel in die Rezeption einschrieben. Zu offenbar waren die Inszenierungsabsicht, das erzählerische Kalkül, die literarische Form; zu offenbar auch die Auswahl und mithin das Fehlen von Ereignissen, die überformenden Projektionen und Fehlerinnerungen; zunehmend rückten die sekundär konsistenzbildende Inszenierung des gelebten Lebens als „Bildungsroman“ und die Wahrnehmung in den Vordergrund, wie sehr die Reflexionen und die Lebenserfahrung des sich erinnernden und vergegenwärtigend erzählenden und raisonnierenden Goethe eben die des „alten Goethe“ sind. Dass Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit nicht mehr naiv als Goethes wahrhaftige Lebensbeschreibung zu lesen sei und wie stark diese „Autobiographie“, bis in die Details durchgearbeitet, literarisch konstruiert ist, gehörte zu den Voraussetzungen der Weimarer Tagung. Zur Diskussion sollte daher die Faktur der Finalität stehen, genauer, die Faktur der miteinander verflochtenen 3 S. das Karlsbader Schema: Goethe. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Frankfurter Ausgabe. Bd. 15. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt/M. 1986, S. 855–881; für die Jahre 1749–1803: Schema zur Biographie (ebd., S. 886 f.)

VIII  Vorwort

Finalitäten der großen Form: des Bildungsromans auf der einen und der literaturhistorischen Epochengeschichte auf der anderen Seite. Die Erkenntnisarbeit galt dem makro- und mikrologischen Aufbau von ‚Dichtung und Wahrheit‘, in dem sich Goethes Selbst- und „Wahrheits“-Verständnis ebenso aussprechen wie im Umgang mit seinen Quellen und wie in seiner seit den 1790er Jahren immer konsequenter werdenden Archivierungspraxis. Im Detail befragt wurden Funktion und Gestalt der kleinen Formen, die in die große Erzählung von Dichtung und Wahrheit eingelegt sind und diese biographisch durch Anekdoten und Physiognomien / Charakteristiken konturieren und anschaulich machen; befragt wurden ferner metaliterarische Reflexionsstrukturen, die sich aus der rekurrenten Thematisierung der Veranlassungen, Aufbauten und Effekte von Fiktionen innerhalb des autobiographisch erinnerten Lebensgangs ergeben. Im Besonderen sollte die Tagung die im Goethe- und Schiller-Archiv in den PROPYLÄEN edierten und kommentierten Texte und Textsorten in ein Verhältnis setzen zu Goethes autobiographischen Werken. Es geht um das Verhältnis von Quelle und Werk, von historischen Dokumenten und deren Gestaltung in autobiographischen Schriften. Auf einer zweiten Ebene trat Goethes „Archiv“ in den Blick, das im Großen und Ganzen in der von ihm angelegten Ordnung überliefert ist. Das „Archiv des Dichters und Schriftstellers“4 speist sein (auto-) biographisches Schreiben und ist in seiner spezifischen Ordnung selbst Teil dieses Werkes. Es erteilt Aufschluss darüber, was und wie Goethe das versammelte Material verwendet, in welcher komprehensiven oder rhapsodischen Weise er seine eigene Bildungsgeschichte schreiben und historisieren möchte oder geschrieben und historisiert sehen möchte. Im Horizont solcher Erkenntnisinteressen widmete sich die Tagung dem literarischen Gepräge im Detail sowie den Transformationen quellengestützter Erzählung und den Eigenheiten der späteren autobiographischen Schriften. Fluchtpunkt der Vorträge und Diskussionen waren die Fragen, weshalb Goethe Dichtung und Wahrheit an einem erreichten Punkt liegen ließ, weshalb er das Werk 1831 dann doch wieder aufnahm, um wenigstens die vorweimarer Zeit abzuschließen, und wie sich – mit Blick auf den Torso – seine anderen autobiographischen Werke (Italienische Reise) samt den eher für ihn selbst bestimmten, nach dem Ulrike-„Fiasko“ von 1823 ebenfalls abgebrochenen Tag- und JahresHeften und die Briefwechselausgaben (mit Schiller und Zelter) interpretieren lassen und welchen Status Goethe dem „Archiv“ als an die Nachwelt überlieferten Fundus zugedacht hat. Thematisch wird mit alldem, wie das Tagebuch, das Archiv insgesamt in Gemeinschaft mit den Goethe’schen Sammlungen (Autographen-, Mineralien-, 4 Goethe: WA I 41/2, 25–28.

Vorwort 

IX

Kunstsammlung, Musikalien etc.) mit den abschnittshaften Erzählungen etwa der Italienischen Reise oder der Kampagne in Frankeich und der späteren offenen Form der Tag- und Jahreshefte wie überdies mit den beiden großen Briefwechselausgaben (Schiller und Zelter) korrespondieren; wie sie sich jeglicher Teleologie und Deutung zu entziehen versuchen, in der Einsicht, dass kein Zeitgenosse einer Epoche ob seiner Befangenheit und Verstrickung die Epoche recht begreifen könne, dass jede autobiographische Selbstkonstitution erzählend gestaltet und notwendig aus dem Lebensmoment des sich konstituierenden und produzierenden Ich heraus seine Erinnerungen modelliert. Den Schlusspunkt dieses Rückzugs aus der "auktorialen" Perspektive bildet schließlich über den Mittelschritt der Herausgabe der zentralen Briefwechsel die bloße, unkommentierte Überlieferung seines Archivs, auf dass die Epochen der Nachwelt sich je ihr Bild von Goethes Individualität, seiner intellektuellen Biographie, der Genese seiner Werke und ihren Quellen machen können. Das Archiv mit den hier liegenden Materialien samt seinen Sammlungen, zunächst angelegt als Sedimente und Dokumentation der vielfältigen Ereignisse, Verbindungen und Forschungsgebiete, als Material, aber auch als Vergegenwärtigungshilfen („Erinnerungsmittel“) für die autobiographische Arbeit, wird so letztlich zum Gegenstück der autobiographischen Erzählung. Goethe gibt dabei Zug um Zug die Selbstfestlegung auf „seine“ Geschichte und den Anspruch auf die autoritative Geltung „seiner“ Geschichte für eine zu eigener Gedankenbeschäftigung aufgerufene Nachwelt auf. Anne Bohnenkamp Bernhard Fischer

Inhaltsverzeichnis Anne Bohnenkamp, Bernhard Fischer Vorwort  V

Teil I: Zur literarischen Form von Dichtung und Wahrheit Norbert Oellers Dichtung und Wahrheit. Dichtung des Alten, Schein der Wahrheit  3 Wilhelm Voßkamp „Ein bloßes Stottern“. Goethes Porträtkunst und die Tradition der Physiognomik in Dichtung und Wahrheit  17 David E. Wellbery Der anekdotische Vorfall. Notiz zu einem Erzählverfahren in Dichtung und Wahrheit  39

Teil II: Erinnerung: Archiv und Vergegenwärtigung Ernst Osterkamp Auf der Galerie. Eine Mystifikation  61 Gerrit Brüning Eckermanns Redaktion des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit. Annäherungen auf dem Weg traditioneller und digitaler Philologie  79 Ariane Ludwig „bald Chronik bald Annalen, Memoiren, Confessionen, und wer weiß wie sonst noch“ – zu Goethes Tag- und Jahres-Heften  101 Bernhard Fischer Vor- und nach-klassizistisch. Goethes Aus meinem Leben. II. Abthl. Italienische Reise I.-II.  133

XII  Inhaltsverzeichnis

Anhang Siglen  155 Abbildungsverzeichnis  157 Beiträgerinnen und Beiträger  159

 Teil I: Zur literarischen Form von Dichtung und Wahrheit

Norbert Oellers

Dichtung und Wahrheit. Dichtung des Alten, Schein der Wahrheit Die Goethe-Bibliographien und fast alle größeren Goethe-Monographien belegen, dass Dichtung und Wahrheit die Literaturwissenschaft weit weniger beschäftigt hat als andere epische Werke Goethes von größerem Ausmaß wie Die Leiden des jungen Werthers, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Die Wahlverwandtschaften und Wilhelm Meisters Wanderjahre.1 Im akademischen Unterricht, der sich mit Goethe auseinandersetzt, sieht es nicht anders aus; und dass Dichtung und Wahrheit stets weniger an ‚hoher‘ Literatur interessierte Leser hatte (und hat) als drei der genannten Romane – die Wanderjahre sind wohl auszunehmen –, kann nicht zweifelhaft sein. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Goethes Autobiographie wird selten als Dichtung verstanden, allenfalls, inspiriert durch den Titel, als Dichtung zweiten Grades oder als Werk mit poetischen Einschüben. Solche Erfahrungen, aber auch die davon motivierte neuerliche intensive Lektüre2 regten mein Thema an: „Dichtung und Wahrheit. Dichtung des Alten, Schein der Wahrheit“. Beim Genitiv der Formulierung „Dichtung des Alten“ handelt es sich um einen Genitivus subjectivus wie um einen Genitivus objectivus: Der alte Goethe, der Verfasser von Dichtung und Wahrheit, ist gemeint sowie sein frühes (also altes) Werk, von dem er spricht, und damit hängen dann die Dichtungen anderer Autoren zusammen, die er seinerzeit gelesen und beurteilt hat. „Schein der Wahrheit“ meint, dass es eine Antwort auf die Pilatus-Frage (vgl. Joh. 19,38) ‚eigentlich‘ gar nicht geben kann, wie nicht nur Kant und Schiller überzeugend begründet haben. In der Kunst gibt es allerdings nicht nur den Schein des Schönen, sondern damit auch den Schein der Wahrheit. Doch diese philosophischen Ansichten waren bekanntlich nicht Goethes Hauptprobleme – er hielt es für ausgemacht, dass in Dichtungen wie denen Homers die 1 Eine Ausnahme bildet interessanterweise die Goethe-Monographie von Friedrich Gundolf (1916), die alle fünf Werke im fast gleichen Umfang behandelt. 2 Meine erste gründliche Lektüre, die sich zum Studium ausdehnte, liegt sechs Jahrzehnte zurück (1960): die des 10. Bandes der Artemis-Gedenkausgabe (1948) mit der Einführung Ernst Beutlers; von dieser blieb kaum weniger im Gedächtnis als von Goethes Werk. Es folgten weitere, allerdings bloß kursorische Lektüren, wenn neue Ausgaben erschienen: Siegfried Scheibes zweibändige historisch-kritische Edition (1970/1974), Peter Sprengels Edition im Rahmen der „Münchner Ausgabe“ (1985) und die wenig später (1986) erschienene von Klaus-Dieter Müller als Beitrag zur „Frankfurter Ausgabe“ der Goethe’schen Werke. https://doi.org/10.1515/9783110759426-001

4  Norbert Oellers

„Wahrheit einer uralten Gegenwart“ gespiegelt sei.3 Davon soll hier nicht weiter die Rede sein, weil Wahrheit im vorliegenden Fall einfacher zu denken ist; denn Goethe hat ja „Biographica“ mit Wahrheit förmlich übersetzt, macht also danach keinen Unterschied zur Wirklichkeit (zur biographischen). Und deren Schein (auch wieder doppelt: als Anschein und als Scheinbarkeit) begegnet uns in dem Werk sehr oft. Nachdem ich Dichtung und Wahrheit noch einmal studiert hatte, wandte ich mich zur Sekundärliteratur, fand in Thomas Manns Stuttgarter Schillerrede vom 8. Mai 1955 die Frage: „Wer bin ich denn, daß ich das Wort führen soll zu seinem Preis, vor meinen Augen die Gebirge kundiger Erörterungen […], welche […] die gelehrte Vorsehung aufgetürmt hat?“ („Vorsehung“ war ein Freud’scher Sprechfehler; im Manuskript hieß es schon „Forschung“ wie später im Druck.4) – Was also sollte ich der gelehrten Forschung hinzufügen können? Aber ich nahm mir noch einiges vor, unter anderem Carsten Rohdes Spiegeln und Schweben (2006) und Wiebke Hoheisels Goethes Geschichtsdenken (2013), stieß dann bald auf die Gießener Dissertation von Gabriele Blod: „Lebensmärchen“. Goethes Dichtung und Wahrheit als poetischer und als poetologischer Text (2003). Abgesehen davon, dass viele Beobachtungen der Verfasserin mit dem, was mir wichtig ist, übereinstimmen und alles Fiktionale (Märchenhafte) des Textes in einer plausiblen Folge vorgestellt und begutachtet ist, gibt es grundsätzliche Differenzen, die sich einfach von meinem Standpunkt aus so bezeichnen lassen: Dichtung und Wahrheit enthält zwar mehr „Märchen“ als nur Der neue Paris, aber nicht so viele, wie Gabriele Blod zu erkennen glaubt; und: was sie „poetologisch“ nennt, ist zum großen Teil sachlicher Bericht von unzweifelhaft Geschehenem, ohne an eine poetische Beziehung denken zu lassen. (Ein Vergleich mit Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser wäre im Blick auf das verschiedene Gewicht des „Poetologischen“ vielleicht reizvoll.) Nach der langen Vorrede nur ein Satz zur Methode meines Literaturverständnisses: Ich hänge nicht (wie Gabriele Blod) der Dekonstruktionstheorie Jacques Derridas an, auch nicht der so genannten Systemtheorie Niklas Luhmanns, sondern bin der altertümlichen Hermeneutik verpflichtet, die textimmanente Befunde durch geistesgeschichtliche und sozialgeschichtliche Fakten auf verschiedene Prüfstände zu bringen verlangt.

3 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Berliner Ausgabe. Hist.-krit. Ausgabe bearb. von Siegfried Scheibe. Bd. 1: Text. Berlin 1970, S. 444. Bd. 2 der Ausgabe (Überlieferung, Variantenverzeichnis und Paralipomena) erschien in Berlin 1974. Im Folgenden werden der Text und der zugehörige Kommentar von Dichtung und Wahrheit nach dieser Ausgabe zitiert, als: Goethe: Dichtung und Wahrheit (BA 1, BA 2). 4 Thomas Mann: Versuch über Schiller. Berlin, Frankfurt/M. 1955, S. 11.

Dichtung und Wahrheit. Dichtung des Alten, Schein der Wahrheit



5

In Kürze das Bekannte zum Entstehungskontext von Dichtung und Wahrheit: Mit Schillers Tod verlor Goethe, wie er am 1. Juni 1805 an Zelter schrieb, „die Hälfte“ seines Lebens, und fast zwei Jahrzehnte später, am 24. Dezember 1824, erwähnte er in einem Brief an Knebel diesen Verlust in Verbindung mit einem anderen Ereignis, der Invasion der Franzosen im Oktober 1806. Der mit Schillers Tod eingetretene Abschluss einer „Epoche“ sei durch das politische Ereignis gleichsam bestätigt worden. Fünf Tage nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt ließ sich Goethe kirchlich trauen. Das poetische Werk stockte, das schon vorhandene wurde gesammelt und bis 1808 in zwölf Bänden bei Cotta veröffentlicht, darunter der 1806 vollendete Faust I. Als 1811 der erste Teil von Dichtung und Wahrheit erschien, war bereits Anfang 1810 der 13. Band der Cotta-Ausgabe mit den Wahlverwandtschaften erschienen. Dass Goethe im fingierten „Brief eines Freundes“, den er im Vorwort von Dichtung und Wahrheit zitiert, diesen Wahlverwandtschaften-Band übergeht, mag einen Hinweis auf das Entstehungsdatum des Vorworts geben (der Freund erwähnt „die zwölf Theile Ihrer dichterischen Werke“5), doch ebenso ist möglich, dass Goethe den Anschein erwecken wollte, er erfülle nun endlich einen vor längerer Zeit geäußerten Wunsch des Freundes, und zwar erfülle er ihn erst jetzt, weil er mit seinem Roman noch nicht fertig geworden war. Der Roman – eine „Göttergabe“ nennt ihn Cotta (im Brief an Goethe vom 19. Oktober 18096) – kann als Beginn einer neuen Zeitrechnung der Goethe’schen Poesie angesehen werden7 und drängte geradezu den Autor, das Vorangegangene so lebendig zu erhalten, wie es dem wohlwollenden Publikum gefallen müsste. Nach Abschluss der Wahlverwandtschaften machte Goethe sich gleich an die Arbeit, zu der er schon ein Jahr vorher von seinem Hausgenossen Riemer gedrängt worden war. Nun entwarf er Mitte Oktober 1809 das 1. Schema (beginnend „1742. / Carl VII. gekrönt. 24. Jan. residirt zu Franckfurt“,8 endend im Jahr 1809), mit vielen Details, die – auch für die Zeit vor 1776 – im Werk nicht mehr 5 Goethe: Dichtung und Wahrheit (BA 1), S. [9]. 6 Dorothea Kuhn (Hrsg.): Goethe und Cotta. Briefwechsel 1797–1832. Textkritische und kommentierte Ausgabe. Bd. 1. 1979. (Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft. 31), S. 202. 7 Als „Göttergabe“ wird auch Jochen Hörisch Die Wahlverwandtschaften ansehen: In der Januar-Nummer 2019 der vom Deutschen Hochschulverband herausgegebenen Zeitschrift Forschung & Lehre, in einem Beitrag „Bücher und ihre Wirkung“ (S. 25), hat er bekannt: „Nach der gründlichen Lektüre dieses besten deutschsprachigen Buches überhaupt sah ich mich veranlasst, mein Denken u. a. über Hermeneutik, Religion, Eigennamen, Liebe, Natur, Kultur, Zeit, Ökonomie, Sprache, Konsens, Dissens, Romantik, Entscheidbarkeit von Interpretationen und vieles mehr zu ändern.“ Der Satz wäre, mit einem Fragezeichen versehen, ein gutes Motto für eine Tagung zu den Wahlverwandtschaften. 8 Goethe: Dichtung und Wahrheit (BA 2), S. 450.

6  Norbert Oellers

auftauchen. Ein 2. Schema von Ende Mai 1810 ist überliefert, in dem keine genauen Daten mehr genannt werden, sondern vorwiegend Themen: „Tendenz der Deutschen zu einer Art von humanitats Cultur“9 oder: „Ich habe niemals einen presumptuoseren Mensch gekannt als mich selbst. Und daß ich das sage zeigt schon daß wahr ist was ich sage.“10 – Das Weitere ist leicht im Band der Akademie-Ausgabe nachzuschlagen, in der Überlieferung, Variantenverzeichnis und Paralipomena 658 Großoktav-Seiten einnehmen. Hinzuweisen ist freilich auf Bettina Brentanos Anteil an Dichtung und Wahrheit. Am 25. Oktober 1810 bittet Goethe sie „um einen grosen Gefallen“: Ich will dir nämlich bekennen daß ich im Begriff bin meine Bekenntnisse zu schreiben, daraus mag nun ein Roman oder eine Geschichte werden […]. Meine gute Mutter ist abgeschieden […]. Nun hast du eine schöne Zeit mit der theuren Mutter gelebt, hast ihre Mährchen und Aneckdoten wiederhohlt vernommen […]. Setze Dich also nur gleich hin und schreibe nieder was sich auf mich und die Meinigen bezieht und du wirst mich dadurch sehr erfreuen und verbinden.11

Bettina erfüllte Goethes Bitte und teilte ihm im November 1810 in drei Briefen allerlei mit.12 Etwas übernahm Goethe, das eher als Dichtungen Bettinas denn als historische Wahrheit zu verstehen ist und durch Veränderungen Goethes zu seinen Dichtungen wurde. Bald darauf, im September 1811, kam es zwischen Goethe und Bettina von Arnim zum Bruch (Christiane hatte Bettina tätlich angegriffen und wurde darauf von ihr „eine Blutwurst“ genannt, die „toll geworden und […] sie gebissen“ hätte.13) Alles das berührt schon die Themen „Dichtung des Alten“ und „Schein der Wahrheit“ so wie etwa auch Goethes vielzitiertes Billett an Charlotte von Stein von Anfang Oktober 1811: „Darf ich um die ersten Bücher meines Lebensmährchens bitten? Ich werde sie nun bald completiren können.“14 (Mit den Büchern sind Handschriften der Texte des ersten, Mitte Oktober 1811 erscheinenden Bandes gemeint.) Auf der Reise nach Karlsbad meldet Goethe unter dem 18. Mai 1810 in seinem Tagebuch lakonisch über ein Gespräch mit Riemer: „Unterhaltung über

9 Ebd, S. 478. 10 Ebd., S. 497. 11 WA IV 21, S. 408 f. 12 Vgl. Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. Hrsg. Von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. In: Bettine von Arnim: Werke und Briefe. Bd. 2. Frankfurt/M. 1992, S. 372–377 (Brief vom 4. November 1810), S. 378–385 (Brief vom 24. November 1810) und S. 385– 388 (Brief vom 28. November 1810). 13 Vgl. ebd., S. 833–839 (Zitat von Helene von Kügelgen ebd., S. 834). 14 WA IV 11, S. 175.

Dichtung und Wahrheit. Dichtung des Alten, Schein der Wahrheit 

7

Biographica und Aesthetica.“ 15 Es schließen sich Überlegungen zu diesem Thema an, die in den folgenden Tagen fortgesetzt werden. Am 31. Mai heißt es dann: „Wasser getrunken. / Nachher das biographische Schema geendigt“.16 „Biographica und Aesthetica“ – aus dem Arbeitstitel wurde dann zunächst Wahrheit und Dichtung, schließlich Dichtung und Wahrheit, weil Goethe sich „aus euphonischen Gründen“, wie Riemer gesagt hat, daran störte, dass sich das „Dichtung“-D unmittelbar an das „und“-D anschloss; wie Riemer sich ausdrückte: dass „in jener Verbindung zwei gleiche Buchstaben sich stoßen und zusammenkleben“.17 Mit dieser Verkehrung war keineswegs eine qualitative Hervorhebung des einen Begriffs gegenüber dem anderen beabsichtigt. Goethe hat später beide Titel gebraucht, den verworfenen z. B. in den Tag- und Jahresheften zum Jahre 1811 (notiert Ende des Jahrzehnts), da er davon spricht, wie er, als die Mutter nicht mehr lebte, Szenen aus seinen Kindertagen, „diese entschwundenen Geister in mir selbst hervorrufen und manche Erinnerungsmittel gleich einem nothwendigen Zauberapparat mühsam und kunstreich zusammenschaffen“ musste. „In diesem Sinne nannt’ ich bescheiden genug ein solches mit sorgfältiger Treue behandeltes Werk W ah r h eit un d Di c h tun g […].“18 Und in einem Brief an König Ludwig I. von Bayern heißt es am 17. Dezember 1829: Was den freylich einigermaßen paradoxen Titel der Vertraulichkeiten aus meinem Leben Wahrheit und Dichtung betrifft, so ward derselbige durch die Erfahrung veranlaßt, daß das Publicum immer an der Wahrhaftigkeit solcher biographischen Versuche einigen Zweifel hege. Diesem zu begegnen, bekannte ich mich zu einer Art von Fiction […]. / […] alles, was dem Erzählenden und der Erzählung angehört, habe ich hier unter dem Worte: Di ch tun g , begriffen, um mich des Wahren, dessen ich mir bewußt war, zu meinem Zweck bedienen zu können.19

Dichtung des alten Goethe: nach den Wahlverwandtschaften dessen Fortsetzung, Teil der poetischen Existenz des Autors in den letzten Jahrzehnten vor seinem Tod, nicht ohne weiteres vergleichbar den Wahlverwandtschaften oder Wilhelm Meisters Wanderjahren, aber in wesentlichen Punkten nicht völlig anders; da nämlich, wo er bewusst an der sogenannten Wahrheit vorbei schreibt, wo der durch die Erinnerung (sei diese auch erfunden oder subjektiv gewiss) angeregte Stoff nur noch dazu dient, der Sprache, dem Stil, kurz: der Form das Feld 15 GT IV.1, S. 145. (WA III 4, S. 120: Unterhaltung über Biographica und Ästhetica) 16 Ebd., S. 151. 17 Friedrich Wilhelm Riemer: Mitteilungen über Goethe. Hg. Von Arthur Pollmer. Leipzig 1921, S. 188 f. 18 WA I 36, S. 62. 19 WA IV 50, S. 60 f. Zum Datum vgl. ebd., S. 172 f.

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zu überlassen, auf dem Aus meinem Leben nicht mehr für die Jahre bis 1775 gilt, sondern für die Gegenwart des alt gewordenen Autors. Schon der Anfang des Buches bietet den Einstieg in dieses Feld der Aesthetica. Ausgedacht, erfunden, erdichtet wird ein nicht durch eine Überschrift bezeichnetes Vorwort, das durch die leicht durchschaubare Fiktion, „der Brief eines Freundes“ habe das Unternehmen angeregt, deutlich macht, dass alles Folgende in erster Linie diesem Freund, also dem Autor Goethe, gilt, der, sich erinnernd, seine Gegenwart verstehen möchte und dabei Wert darauf legt, dass die Lesenden den Obertitel seines Werks (Aus meinem Leben) nicht aus den Augen verlieren. Gelegentlich wird in der Sekundärliteratur betont, dass dieser Titel dem nachfolgenden aus guten Gründen vorangestellt ist.20 Es gibt einleuchtende Argumente für diese und jene Abfolge von Titel und Untertitel; Konsequenzen für das Textverständnisses ergeben sich daraus nicht. Der Beginn des Ersten Buchs, die Darstellung des Geburts-Horoskops, ist der Einstieg in die Fabel- (oder Märchen-)Welt des Autors, der die nicht-exakte Behauptung, er sei „Mittags mit dem Glockenschlage zwölf“ zur Welt gekommen, benutzt, um aus der Sternenkonstellation, der Nativität, die Bestimmung seines Lebenslaufs erkennen zu können; damit, so die nicht ausgesprochene Lehre, sei der Mensch stets Opfer außerirdischer Mächte. Der Kenner erinnert sich und soll sich möglicherweise an Schillers Wallenstein-Prolog erinnern, in dem davon die Rede ist, die Kunst (gemeint ist die Wallenstein-Tragödie) wälze „die größre Hälfte seiner [Wallensteins] Schuld / Den unglückseligen Gestirnen zu.“ Dazu passt wieder Goethes spätere Bemerkung über die „astrologischen Grillen als regiere der gestirnte Himmel die Schicksale der Menschen“.21 Diese Erzählung von seiner Geburt und Nativität ist ein Musterbeispiel ironischer Behandlung einer ernsthaft zu bedenkenden, aber nicht zu verstehenden Bestimmung des Menschen durch außermenschliche Wirkmächte, deren Existenz Goethe nicht infrage stellt. Ironie ist hier gemeint, wie sie Friedrich Schlegel dachte: als poetische Reflexion des seinen Stoff wendenden Kunst-Produzenten; εἰρωνεία (Verstellung; gegenteilige Äußerung; ‚Anderssprechen‘ – das Gemeinte wird durch das anders Gesagte betont). Zur ironischen Behand20 Vgl. z. B. Günter Niggl in der Rezension des „Lebensmärchen“-Buchs von Gabriele Blod in: Goethe-Jahrbuch 121 (2004), S. 343 f. 21 LA Bd. I 11, S. 245 (ebd., S. 244–268: Versuch einer Witterungslehre 1825 [aus dem Nachlass]). Zum Thema vgl. auch den Schluss von Dichtung und Wahrheit, mit dem der Anfang nicht aufgehoben, aber relativiert wird: „Kind, Kind! Nicht weiter!! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts, als muthig gefaßt, die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.“ (BA 1, S. 649.)

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lung des biographischen Stoffes und/oder der ästhetischen Darstellung gehört natürlich in der Regel nicht die Austauschung eines Begriffs durch einen vergleichbaren, am Beginn der Goethe’schen Berichts etwa die Ersetzung des von Bettina (im Brief vom 4. November 1810) gebrauchten Begriffs „Mißhandlung“ (der Amme) durch „Ungeschicklichkeit“ (der Hebamme). Überhaupt hat Goethe Bettinas Mitteilungen, die von dessen Mutter überliefert seien, verändert. Die über seine Geburt hat er gekürzt, um das Interesse als Säugling nicht mit dem an seiner Mutter (deren blau gewürfelte WochenbettVorhänge Bettina erwähnt) oder seiner Großmutter (die als erste wahrnahm, dass der Knabe lebte) zu teilen und die Horoskop-Geschichte, die natürlich bei Bettina nicht vorkommt, an den Rand zu drängen. Anders verhält es sich mit der von Bettina knapp erzählten Geschichte, wie „der kleine Wolfgang“ das in der Küche gefundene Geschirr aus dem Fenster warf, sich an dem „Rappeln freute“ und so lange schmiss, bis es kein Geschirr mehr gab. „[…] die Mutter, die aus der Kirche kam, war sehr erstaunt […], da war er eben fertig und lachte so herzlich mit den Leuten auf der Straße, und die Mutter lachte mit.“22 Goethe erweiterte die Geschichte, als Beispiel für „allerlei Eulenspiegeleyen“, die „die Meinigen“ gern erzählten, um das Doppelte und machte sie damit zu einer eigenen Geschichte: eine kleine Dichtung des Alten.23 Schließlich noch eine dritte Zulieferung Bettinas, die Goethe zupass kam. (Auf Aristeia der Mutter [„wunderbare Auszüge aus einer Hauschronik“],24 von Bettina im Brief vom 14. November 1810 mitgeteilt25, soll hier nicht eingegangen werden; der Text fand ja keinen Eingang in Dichtung und Wahrheit, so wenig wie Die neue Melusine.) Zupass kam Goethe Bettinas Bericht von dem träumenden Großvater. Davon nahm er einiges in das Erste Buch seines Werks auf: Dass der Großvater geträumt habe, er werde Schöffe, dann: er werde auch Schultheiß („Stadtsyndikus“ heißt es in Bettinas Brief). Goethe ergänzte dazu einiges aus Erinnerungen seiner Tante Johanna Maria Melber, geb. Textor, die ihm, auf ein Bittschreiben vom 31. März 1811 hin, ein paar Wochen später durch seinen Frankfurter Rechtsvertreter Johann Friedrich Heinrich Schlosser zugekommen waren.26 Das Überlieferte eignete sich Goethe an, kürzte und ergänzte es, wollte es aber gewiss auch als Wahrheit rezipiert wissen, obwohl er es stilistisch erhöhte.

22 Bettine von Arnim: Briefwechsel mit einem Kinde (vgl. Anm. 12), S. 380. 23 Goethe: Dichtung und Wahrheit (BA 1), S. 14. 24 Goethe: Dichtung und Wahrheit (BA 2), S. 642. Die Erzählung Aristeia der Mutter als Paralipomenon 157 ebd., S. 641–646 (fast wörtlich Text Bettina Brentanos; vgl. die folgende Anm.). – Die neue Melusine fügte Goethe später in Wilhelm Meisters Wanderjahre ein. 25 Bettine von Arnim: Briefwechsel mit einem Kinde (vgl. Anm. 12), S. 701–707. 26 Vgl. Schlossers Brief an Goethe vom 20. April 1811 in: EGW 2, S. 382 f.

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Noch einige Hinweise auf Dichtungen des alten Goethe, die sich von der angenommenen Wahrheit der sachlichen Erinnerungen seiner Gewährsleute (und seiner selbst) beträchtlich entfernen, nicht zuletzt durch die poetische, die metaphernreiche, mit Allegorien nicht sparende Sprache, die freilich nicht grundsätzlich die als Wahrheit gedachten Biographica so sehr überhöhen sollten, dass von diesen kaum noch etwas übrig bleiben konnte. Doch wichtig war ihm stets, dass sein Werk als ein im Wesentlichen poetisches, als kunstvoll gedachtes aufgefasst werde; weshalb er sich an seine Überzeugung hielt, die er im Elften Buch (also im 3. Teil), sicher auch im Rückblick auf die zehn vorangehenden Bücher (die Teile 1 und 2), so formulierte: „Die höchste Aufgabe einer jeden Kunst ist, durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu geben. Ein falsches Bestreben aber ist, den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliche übrig bleibt.“27 Nur zwei Dichtungen des alten Goethe seien noch genannt, die, nicht anders als die Umstände seiner Geburt, einen engen Bezug zur Wirklichkeit des Knaben suggerieren. Das erste Beispiel: Im Zentrum des Zweiten Buchs steht Der neue Paris, das im Sommer 1811 formulierte so genannte „Knabenmährchen“, das dem Verfasser nach 60 Jahren „noch ganz wohl vor der Einbildungskraft und im Gedächtniß schwebt“.28 Leicht ist zu erkennen, dass die Einbildungskraft des Alten das Gedächtnis an ein Geschehen, das der sieben- oder achtjährige Knabe geträumt hat, dominiert, wenngleich der Traum, dass der Besitz eines Apfels mit Schönheit und Liebe etwas zu tun habe, nicht unwahrscheinlich ist. Dass Inhalte des Märchens mit Darstellungen Frankfurter Maler, die von 1759 bis 1761 in dem für den Grafen Thoranc bestimmten Giebelzimmer des Goethehauses entstanden sind, zusammenstimmen, lässt sich bei der Interpretation von Der neue Paris berücksichtigen, besagt aber für den Gehalt dieser Dichtung nicht mehr als die Einsicht, dass der Riese in Goethes 1795 in den Horen erschienenem Mährchen29 etwas mit der Französischen Revolution zu tun hat. Das zweite Beispiel einer Dichtung: Die ausführliche Gretchen-Geschichte im Fünften Buch des 1. Teils, angezettelt von Pylades, dem Knaben- und Jünglingsfreund, der die frühen Verse des Schon-Dichters zum Anlass nimmt, ihn in eine größere Gesellschaft einzuführen, in der ein Mädchen „von ungemeiner, und […] von unglaublicher Schönheit“,30 Gretchen genannt (auch „das Kind“), 27 Goethe: Dichtung und Wahrheit (BA 1), S. 403. 28 Ebd., S. 47. Der neue Paris (mit dem Untertitel Knabenmährchen) ebd., S. 47–58. 29 Die Horen 1795, Stück 10, S. 108–152. 30 Goethe: Dichtung und Wahrheit (BA 1), S. 141. – Die Gretchen-Liebesgeschichte ebd., S. 141–150. – Die Fortsetzung mit dem für den liebenden Jüngling unerklärlichen Verschwinden Gretchens und den zur Krankheit führenden Reaktionen des Verlassenen ebd., S. 173–180.

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für Wein sorgt, von dem es auch genießt. Die einige Zeit andauernde Beziehung zu dem Mädchen, das am Ende spurlos verschwindet, eine mit vielen poetischen Mitteln ausgestaltete, d. h. weitgehend erfundene Liebesgeschichte, ist nur in Dichtung und Wahrheit zu erleben. Im frühen Schema von Oktober 1809 findet sich allerdings zum Jahr 1763 das Stichwort „Ungeheures“,31 das offenbar Gretchen gilt. Und am Ende weiß der Leser, dass die Geliebte aus juristischen, aus kriminellen Gründen verschwunden ist und vielleicht schon im Gefängnis sitzt. Das erzählt der alte Goethe, mit deutlichem Behagen an erfundenen Details und dadurch ablenkend von möglichem Interesse an tatsächlichen biographischen Vorkommnissen im Leben des 14-Jährigen. Dichtung des Alten: Der Autor spricht über seine frühen Werke aller Gattungen und über manches Werk der Dichter seiner Zeit. Seine Bemerkungen sind fast stets Beurteilungen, die er in den vergangenen Jahrzehnten gewonnen hat – wie er überhaupt das Geschehen nicht als unmittelbar erlebtes, sondern aus reflektierender Distanz, oft als Exempel einer allgemeinen (oft sentenzhaft verdichteten) Lebenserfahrung darbietet. Gelegentlich kommt dabei die sicher korrekte Erinnerung an das zur früheren Zeit Empfundene und Gedachte zum Ausdruck, etwa wenn er berichtet, wie er es unternahm, noch im Kindesalter mit Klopstocks Messias Bekanntschaft zu machen und „in Freystunden […] die auffallendsten Stellen auswendig zu lernen, und besonders die zartesten und heftigsten so geschwind als möglich ins Gedächtniß zu fassen“.32 In einem Paralipomenon vom November 1810 heißt es: „Die Herrlichsten gehaltvollsten Reden und Dichtungen von vielen auswendig gelernt, oft widerholt, angewendet und trivialisirt regen zuletzt das parodistisch Geistreiche im Menschen auf.“33 Im Bericht über seine Leipziger Zeit spricht Goethe nicht unkritisch über Klopstock, und es scheint, als sei damit schon alles über den einst Verehrten gesagt: Er sei „in den ersten Gesängen der Messiade […] nicht ohne Weitschweifigkeit; in den Oden und anderen kleinen Gedichten erscheint er gedrängt, so auch in seinen Tragödien.“34 Im selben Zusammenhang fallen auch Urteile über Lessing und Wieland, die schwerlich Überzeugungen der Leipziger Jahre (1765–1768) wiedergeben. Über jenen heißt es, dass er aufgrund von Reflexion „nach und nach ganz epigrammatisch in seinen Gedichten [wurde], knapp in der M in n a, laconisch in E mi li a Gal l ot ti, später kehrte er erst zu einer heiteren Naivetät zurück, die ihn so wohl kleidet im N ath an .“ Und der Sonderbarkeiten mehr: „Wieland, der noch im Ag at h on , D on S y l v io , den C om is c h en E r zäh l u n g en mit unter prolix [weitschweifig] gewesen war, wird in Mu s ari on und Id 31 Goethe: Dichtung und Wahrheit (BA 2), S. 457. 32 Goethe: Dichtung und Wahrheit (BA 1), S. 71. 33 Goethe: Dichtung und Wahrheit (BA 2), S. 505.

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ri s auf eine wundersame Weise gefaßt und genau […].“ Zur Erinnerung: Alle genannten Werke Wielands erschienen kurz hintereinander in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts. Der Dichter hätte sich also auf eine wundersame Weise in sehr kurzer Zeit verwandelt. Doch werfen wir noch einen Blick auf die frühe Dichtung des Alten, bevor ich zur ‚Wahrheit‘ des Werks abschließend ein wenig mehr anfüge. Der Einfachheit halber erinnere ich an einige Bemerkungen über Götz von Berlichingen, wissend, dass die Bemerkungen zu den Leiden des jungen Werthers, wie sie im Zwölften Buch vorgebracht werden, zur Diskussion geeigneter wären („So lebten sie, den herrlichen Sommer hin, eine ächt deutsche Idylle […].“35) – Zu Götz: „Die Lebensbeschreibung […] hatte mich im Innersten ergriffen. Die Gestalt eines rohen, wohlmeynenden Selbsthelfers in wilder anarchischer Zeit erregte meinen tiefsten Antheil.“36 Später sagt Goethe noch etwas über den „wohldenkende[n] brave[n] Mann“, der „in wüsten Zeiten […] an die Stelle des Gesetzes und der ausübenden Gewalt zu treten sich entschließt“.37 Und weitere Biographica schließen sich im folgenden, dem Dreizehnten Buch an: dass Shakespeare anregend wirkte, so dass sich die Einbildungskraft über alle Theatergesetze hinweg ausdehnte. In sechs Wochen war der so genannte Urgötz, den die Schwester mit viel Beifall und Herder mit viel Kritik bedachten, zunächst einmal fertig. Zur Überarbeitung veranlasst, wurde die ursprünglich leidenschaftliche Neigung des Autors zur erfundenen Adelheid zurückgenommen; der historische und nationale Gehalt der Geschichte fand angemessenen Ausdruck – kurzum: Goethe berichtet von der Entstehung des Dramas, von seinem Erfolg nach der Veröffentlichung („das Aufsehn das es machte, ward allgemein“34), von Rezensionen gebildeter und ungebildeter Menschen. Schließlich versichert er, der Erfolg des Stückes habe ihn ermuntert, „von diesem Wendepunkt der deutschen Geschichte mich vor und rückwärts zu bewegen und die Hauptereignisse in gleichem Sinn zu bearbeiten. Ein löblicher Vorsatz, der, wie so manches andere, durch die flüchtig vorbeyrauschende Zeit vereitelt worden.“35 Im letzten, posthum erschienenen Teil (im Neunzehnten Buch) erwähnt Goethe den Götz noch einmal, und zwar mit einer bemerkenswerten Wendung: Er habe in dem Stück „das Symbol einer bedeutenden Weltepoche […] abgespiegelt“.36 Symbol? Eine Ansicht des sehr alten Goethe, der vielleicht zur selben Zeit den (von ihm 1826 auch veröffentlichten) Aphorismus notierte: „Das ist die wahre Symbolik wo das Besondere das Allgemeinere re-

34 Ebd., S. 472. 35 Ebd., S. 475. 36 Ebd., S. 635.

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präsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.“37 Über den Schein der Wahrheit, auf den schon einige Male hingewiesen wurde, seien noch wenige Sätze, die zu diskutieren wären, gesagt. Auch wenn Goethe wusste, dass die Wirklichkeit, die für wahr gehalten wird, nicht wahr sein muss, wählte er den Begriff Wahrheit auch als Synonym des Wirklichkeitsbegriffs, um seinem ‚wirklichen‘ Leben, das aus ‚Biographica‘ zusammengesetzt ist, das gehörige Gewicht zu geben, wie es ja nun einmal geplant war. Unzweifelhaft ist dabei die als wahr angenommene Wirklichkeit dreifach zu unterteilen. Es gibt erstens die faktische, die ‚wirkliche‘ Wirklichkeit (zu der die meisten Geburts- und Todesdaten, Namen oder Temperaturen und ähnlich Gewisses gehören), zweitens den doppelt zu verstehenden Schein der Wirklichkeit: die anscheinende, nicht überprüfbare Wirklichkeit, schließlich drittens die scheinbare (also nur behauptete, sachlich aber nicht zutreffende) Wirklichkeit. Alle diese Wirklichkeiten kommen, anscheinend beliebig, in Dichtung und Wahrheit vor. Nur scheinbar wirklich, also objektiv unzutreffend ist z. B. Goethes beiläufige Erwähnung einer Begegnung mit Franz Joseph Gall, dem Wiener Erfinder der Phrenologie, am Ende des Zehnten Buchs, die der Leser nicht ins Jahr 1805 legen kann, vermutlich auch nicht soll.38 Nur scheinbar wirklich ist die Angabe über die Beschäftigung mit Gemmingens Drama Der teutsche Hausvater, das erst 1780, also nicht vor dem Wechsel nach Weimar erschien. Ähnliche Fehler lassen sich entdecken, doch insgesamt mag gelten, was Historiker bei der Untersuchung über den ‚Wahrheitsgehalt‘ der Berichte über die Besetzung Frankfurts durch die Franzosen herausgefunden haben. Über die Ergebnisse berichtet Ernst Beutler: „[…] Goethe hat wirklichkeitsgetreu erzählt, nichts hinzuersonnen, kaum und nur im Unwesentlichen hat sein Gedächtnis ihn getäuscht.“39 Das Feld der anscheinenden Wirklichkeiten ist riesengroß; es betrifft vor allem die wichtigen Erzählungen über Goethes Liebesbeziehungen, besonders über die mit Friederike Brion, dargestellt mit poetischer Intensität im Zehnten und Elften Buch, und mit Lili Schönemann, von der im Nachlassband ausführlich gesprochen wird. Beide Freundinnen konnten sich nicht mehr über den Wirklichkeits- (oder Wahrheits-)Gehalt des über sie Veröffentlichten nach eigener Erinnerung äußern, denn sie waren bereits 1813 bzw. 1817 gestorben. Lili Schönemann (seit 1778 verheiratete von Türckheim) hatte im Dezember 1807 in 37 Goethe: Maximen und Reflexionen. In: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Bd. 17. Hrsg. von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München, Wien 1991, S. 775. 38 Im Herbst 1805 und im Herbst 1807 hielt sich Gall in Weimar auf; er interessierte sich sehr für Schillers Schädel. Nicht unwahrscheinlich, dass er ihn bekam. 39 Goethe: Dichtung und Wahrheit. Einführung. In: Goethe: Werke. Gedenkausgabe. Hrsg. von Ernst Beutler. Bd. 10. Zürich 1948, S. 908.

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Goethes letztem überlieferten Brief an sie lesen können, er küsse ihr „tausendmal“ die Hand, „in Erinnerung jener Tage, die ich unter die glücklichsten meines Lebens zähle.“40 Als Goethe Ende September 1779 Friederike Brion ein letztes Mal in Sesenheim traf, mag er ihr Ähnliches gesagt haben – Wahrheiten. Die wirklichen Wirklichkeiten sind in Goethes Werk mühelos von allem Anderen zu sondern. Die Aufzählung der Frankfurter Honoratioren, gleich im Zweiten Buch, ist gewiss richtig, sie entspricht den urkundlich überlieferten Tatsachen, ist den meisten heutigen Lesern freilich nicht sonderlich interessant; dasselbe gilt vermutlich für die – allerdings von Goethe als bedeutungsvoll gedachte – Nacherzählung der Genesis im Vierten Buch (also auch noch im 1. Teil). Und so ließe sich weiter an die umständlichen Berichte der Krönungsfeierlichkeiten des Jahres 1764 im Ersten Buch des 2. Teils denken: multa, sed non multum (um eine geläufige lateinische Sentenz zu variieren); auf jeden Fall war es so. Noch dies zum Schluss: In keinem seiner Werke hat Goethe dem unpersönlichen „man“ so oft das wirklich Geschehene zugeschrieben wie in Dichtung und Wahrheit, wohl einhundert Mal oder noch öfter. Mit dem Subjekt beginnt es schon auf der zweiten Seite des 1. Buchs: „man hatte […] die Küche [,,,] mit […] Waaren versorgt“;41 wenig später las „man“ an einer Wand eine „kurze Inschrift“,42 kurz darauf: „Aus dem großen Kaisersaale konnte man uns nur mit sehr vieler Mühe wieder herausbringen, wenn es uns einmal geglückt war hineinzuschlüpfen“;43 dann will „man“ in der Stadt verdächtige Gefolge hoher Herrschaften nicht dulden. Und so geht es weiter, bis zu Aufforderungen an den Leser: „Man urtheile selbst“ 44 oder über Lavaters Physiognomische Fragmente: „Man darf es [das Werk] wohl als genial empirisch, als methodisch-collektiv ansprechen […].“45 Die ersten drei Absätze des Achtzehnten Buchs enthalten auf 1 ½ Seiten über ein Dutzend „man“-Subjekte, deren Ansichten in „literarischen Angelegenheiten“46 als unzweifelhaft eindeutig auftreten, also keines weiteren Nachdenkens bedürfen. Die zahlreichen wirklichen Wirklichkeiten, die in Dichtung und Wahrheit angehäuft werden, vor allem die vielen heiklen „man“-Floskeln rücken das Werk, das den Wahlverwandtschaften folgte, auch unter ästhetischen Gesichtspunkten ziemlich weit hinter diesen Roman, der, wie ein Goethe-Kenner neulich 40 41 42 43 44 45 46

WA IV 19, S. 472. Goethe: Dichtung und Wahrheit (BA 1), S. 14. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd., S. 605. Ebd. Ebd., S. [593].

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gesagt hat,47 ein Leben verändern kann. Über die poetische Qualität der Goethe’schen Autobiographie lässt sich trefflich streiten.

47 Jochen Hörischs „Bekenntnis“ wiedergegeben in Anm. 7.

Wilhelm Voßkamp

„Ein bloßes Stottern“. Goethes Porträtkunst und die Tradition der Physiognomik in Dichtung und Wahrheit Das Interesse an Gesichts-Erkennung, -Verstellung und -Maskierung bis hin zur Morphometrie, wie sie etwa zur Entwicklung digitaler Gesichtsmodelle angewandt wird, ist gerade heute in politischen und ökonomischen Zusammenhängen unübersehbar. Weniger bewusst ist die Traditionslinie, die solche biometrisch-statistischen Ansätze mit den alten und neuen physiognomischen Versuchen seit Aristoteles, vom Äußeren des menschlichen Gesichts auf das Innere des Charakters zu schließen, verbindet.1 Im 18. Jahrhundert erhielt die Frage der Gesichtserkennung und Gesichtsdeutung eine besondere Aufwertung in Johann Caspar Lavaters Physiognomik, deren Wirkung kaum zu überschätzen ist. Die „Wahrheit“, das Wesen eines Charakters vom Gesicht abzulesen, wurde nicht nur Mode und Gesellschaftsspiel (etwa im Schattenriss und Scherenschnitt), Lavater deklarierte sie vielmehr – im Gegensatz zu Immanuel Kant, der zwar von einer „physiognomi1 Soweit nicht anders vermerkt wird Dichtung und Wahrheit zitiert nach der Frankfurter Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Abtlg. I, Bd. 14. Hg. v. Klaus-Detlef Müller. Frankfurt/Main 1986; im Folgenden: Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14). – Zur Geschichte der Physiognomik vgl. insgesamt: Claudia Schmölders: Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik. Berlin 1995, 1997, 2007, und die Zusammenstellung der Bildquellen, Textquellen und Forschungsliteratur bis 1997; Gerd Mattenklott: Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers. Reinbek bei Hamburg 1982; Peter von Matt: „… fertig ist das Angesicht“. Zur Literaturgeschichte des Angesichts. München 1983; Ulrich Reißer: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance. Der Einfluss charakterologischer Lehren auf Kunst und Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts. München 1997; Heiko Christians: Gesicht, Gestalt, Ornament. Überlegungen zum epistologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte. In: DVjs 74 (2000), S. 84–110; jüngst erschienen: Daniela Bohde: Physiognomische Denkfiguren in Kunstgeschichte und visuellen Wissenschaften. Lavater und die Folgen. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (2011), H. 56/1, S. 89–121; Hans Belting: Face. Eine Geschichte des Gesichts. München 2013; Roland Meyer: Operative Porträts. Eine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit von Lavater bis Facebook. Konstanz 2019; außerdem Anna Christina Schütz: Charakterbilder und Projektionsfiguren. Chodowieckis Kupfer, Goethes Werther und die Darstellungstheorie der Aufklärung. Göttingen 2019. Über die Rolle der Physiognomik im Zusammenhang mit Dichtung und Wahrheit vgl. Wilhelm Voßkamp, Zweite Gegenwart. PoetologischeLektüren zu Dichtung und Wahrheit. Göttingen 2022 (erscheint demnächst). https://doi.org/10.1515/9783110759426-002

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schen Charakteristik“ spricht, für den die Physiognomik aber nie „eine Wissenschaft werden kann“2 – als Wissenschaft, die so gut wie die Mathematik, Physik und Theologie streng wissenschaftlich-methodisch betrieben werden solle. Lavaters Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe3 gehören zu den Grundwerken der Physiognomik überhaupt.4 1775 in fünf großen bebilderten Bänden erschienen, handelt es sich um ein auf Fortsetzung angelegtes work in progress. Lavater spricht deshalb bewusst von „Fragmenten“, die zu vermehren und zu vervollkommnen seien; in dem weit gestreuten Nachlass Lavaters in Zürich und Wien finden sich mehr als 22.000 bislang unedierte Blätter.5 Mit 342 Bildtafeln und zahllosen Vignetten gehören die erschienenen Bände zu den teuersten Buchproduktionen ihrer Zeit; trotz ihres hohen Preises erschienen bis 1810 55 Ausgaben. Lavater war der Überzeugung, dass er mit seinem unabgeschlossenen Werk einen gottgewollten Beitrag zur wissenschaftlichen Anthropologie leistete: Das allerwichtigste und bemerkenswürdigste Wesen, das sich auf Erden unserer Beobachtung darstellt – ist der Mensch. Auf jeder Seite möcht’ ich sagen: – welchem Menschen der Mensch, wem seine Menschheit nicht das Wichtigste ist – der hört auf, ein Mensch zu seyn. Vollkommeneres, Höheres hat die Natur nicht aufzuweisen – Der würdigste Gegenstand der Beobachtung – und der einzige Beobachter – ist der Mensch.6 2 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: ders.: Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 6. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Darmstadt 1983, S. 395–690; hier S. 639 (Von der Leitung der Natur zur Physiognomik). 3 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Leipzig und Winterthur 1775; Zweyter Versuch. Ebd. 1776; Dritter Versuch. Ebd. 1777; Vierter Versuch. Ebd. 1778. Zitierte Ausgabe: Eine Auswahl mit 101 Abbildungen. Hg. v. Christoph Siegrist. Stuttgart 1984. 4 Vgl. Andreas Käuser: Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1989; Ursula Geitner: „Klartext“. Zur Physiognomik Johann Caspar Lavaters. In: Geschichten der Physiognomik. Text-Bild-Wissen. Hg. v. Rüdiger Campe, Manfred Schneider. Freiburg i. B. 1996, S. 357–385; Richard Gray: Die Geburt des Genies aus dem Geist der Aufklärung. Semiotik und Aufklärungsideologie in der Physiognomik. In: Poetica 23 (1991), S. 95–138; ders.: Aufklärung und Antiaufklärung: Wissenschaftlichkeit und Zeichenbegriff in Lavaters „Physiognomik“. In: Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater. Hg. von Karl Pestalozzi und Horst Weigelt. Göttingen 1994 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. 31), S. 166–178.; Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater. Hg. v. Gerda Mraz und Uwe Schlögl. Wien 1999, darin: besonders Hans-Georg von Arburg: Johann Caspar Lavaters Physiognomik. Geschichte – Methodik – Wirkung, S. 40–59; Ingrid Goritschnig: Faszination des Porträts, S. 138–151; außerdem Hans-Georg von Arburg: Kunst-Wissenschaft um 1800. Studien zu Georg Christoph Lichtenbergs Hogarth-Kommentaren. Göttingen 1998 (Lichtenberg-Studien. 11.). 5 Vgl. Gerda Mraz: Wie die Lavater-Sammlung nach Wien kam. In: Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater (s. Anm. 4), S. 68–95. 6 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente (s. Anm. 3), S. 25.

„Ein bloßes Stottern“. Goethes Porträtkunst und die Tradition



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Die Aufmerksamkeit richtet sich zunächst auf das Äußere, vornehmlich auf die wahrnehmbaren Gesichtszüge, und sodann auf dessen Bedeutung. „Urbild“ und „Nachbild“ (das Studium des Menschen selbst und seines gezeichneten oder gemalten Bildes) weisen auf das Innere des Menschen: Er besteht aus Oberfläche und Inhalt. Etwas an ihm ist äußerlich und etwas innerlich. Dies Äußerliche und Innere stehen offenbar in einem genauen unmittelbaren Zusammenhang. Das Äußere ist nichts als die Endung, die Gränzen des Innern – und das Innre ist eine unmittelbare Fortsetzung des Äußeren.7

Von daher weist Lavater die von Friedrich Christoph Lichtenberg zur selben Zeit entwickelte „Pathognomik“ (die Lehre vom Affektausdruck und bewegter Mimik) kategorisch zurück. Man kann sich ausmalen, welche Konsequenzen Lavaters Auffassung im Blick auf seine Bemühungen hatte, vor allem in Porträts und Schattenrissen („Nachbildern“) eine Übereinstimmung von Äußerem (Signifikant) und Innerem (Signifikat) des jeweiligen Menschengesichts präzise wahrzunehmen, das individuell Bezeichnende der Gesichtsbildung herauszuheben und zu beschreiben. Ein Problem dabei waren die Mitarbeiter, die ihm beim Sammeln unterstützten; nach Goethe wollte Lavater möglichst die „ganze Welt zu Mitarbeitern und Teilnehmern“ 8. Aber wie waren sie auf eine Wahrnehmung und eine Auslegungsweise zu verpflichten, wie konnten sie je ihre eigene Individualität leugnen? Ein anderes Hauptproblem bestand darin, dass Lavater vor allem in den Christus-Darstellungen (etwa bei Holbein und Raffael) seiner „Portrait-Galerie“ ein Paradigma für die ideale Übereinstimmung zwischen Äußerem und Innerem sah; er erblickte darin einen unmittelbaren Abdruck der Natur. Mehr noch: Um die Christus-Bilder eindeutiger zu machen, musste er die visuelle Fülle lesbar machen, um sie theologisch reduzieren und interpretieren zu können, wobei er die dann gesehene Physiognomie sich sogar als Muster für die eigene imitatio Christi vorstellte: Da er Christum buchstäblich auffaßte, wie ihn die Schrift, wie ihn manche Ausleger geben, so diente ihm diese Vorstellung dergestalt zum Supplement seines eignen Wesens, daß er den Gottmenschen seiner individuellen Menschheit so lange ideell einverleibte, bis er zuletzt mit demselben wirklich in eins zusammengeschmolzen, mit ihm vereinigt, ja eben derselbe zu sein wähnen durfte.9

7 Ebd., S. 25 f. 8 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 16. Hg. von Peter Sprengel. München 1985, S. 772. 9 Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14), S. 819 f. – Über Lavaters christologische Menschenbeurteilung und seine Versuche, Goethe als einen Menschen von „großer Christusnähe und

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Ebenso problematisch – auch dies prägt sich vor allem in seinen ChristusVorbildern aus (bei Holbein etwa in der Gegenüberstellung von Judas und Christus)10 – waren Lavaters moralische Analogiebildungen, wonach schön als gut, hässlich als schlecht und anstößig charakterisiert werden. Lavater suchte die „Natursprache“ freizulegen, in der die verschiedenen Einzelformen wie „Buchstaben“ lesbar sein sollten, und von daher musste er am Modell von determinierten festen Teilen in ihrer Bewegungslosigkeit festhalten. Er glaubte, dass ein Zugleich von Sukzession und Momentanem möglich sei. Deshalb postulierte er die Einheit von Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Vereinfachend formuliert: Es handelt sich um eine Vision der Unmittelbarkeit. Die von Goethe demgegenüber betonte Veränderlichkeit und Veränderbarkeit dieses Wechselverhältnisses ignorierte Lavater ebenso wie die Tatsache, dass der Beobachter am Beobachteten teilnimmt, dass in der Beobachtung des menschlichen Gesichts sich Selbst-und Fremdbeobachtung kreuzen.11

I. Sieht man von Lavaters steter Liebenswürdigkeit ab, die Goethe lebenslang in ihren Bann zog –: Warum spielten Lavaters physiognomische Studien für Goethe trotz seiner Einwände eine so bedeutende Rolle? Zunächst verweist das Bild-Text-Verhältnis in Lavaters Arbeiten auf prinzipielle Fragen bildhafter Darstellung und Möglichkeiten von Veranschaulichung. Dann interessierte Goethe die entschiedene Betonung des Individuellen: das Inkalkulable jeder Person in ihrer Unbestimmtheit und der Versuch, diese in Bestimmtheit zu verwandeln, schließlich jene Paradoxie, bei der Aufklärung des Inneren vom Äußeren auszugehen. Aus demselben Motiv heraus interessiert er sich für Autographen, in denen die Handschrift ihm das Wesen des Schreibers vergegenwärtigt, und für Franz Joseph Galls (Encephalo-)Kranioskopie. Entscheidend ist darüber hinaus Goethes Bemühen um eine zeitadäquate und begrifflich präzise anthropologische Charakterisierung der individuellen Gestalt

Christusähnlichkeit“ zu sehen, vgl. Karl Pestalozzi: Lavaters Hoffnung auf Goethe. In: Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. (s. Anm. 4), S. 260–279. 10 Lavaters Orientierung an (und Distanzierung von) Winckelmanns durch antike Maßvorstellungen bestimmten Schönheitsidealen wären eigens zu diskutieren. Von einer durchgehend klassizistischen Ästhetik ist dabei nicht auszugehen. 11 Vgl. dazu: Das Gesicht ist eine starke Organisation. Hg. v. Petra Löffler und Leander Scholz. Köln 2004.

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des Einzelnen. Nicht ohne Grund kommt Goethe in seiner Morphologie als einer allgemeinen Gestalten-Lehre auf die Physiognomie zurück.12 Goethes Festhalten an der Tradition des physiognomischen Denkens und Schreibens trotz aller Kritik – auch nachdem er die konkrete Zusammenarbeit mit Lavater (Goethe lieferte Ergänzungen, kleine Abhandlungen und Hinweise in Briefen) beendet hatte – ist deshalb ebenso einleuchtend wie plausibel. Es geht ihm um die konstitutive Spannung zwischen den kodierten Zeichen des Gesichts als einer ästhetischen Dimension und einer problematischen, wenn nicht geradezu unmöglichen Wahrnehmung und Bestimmung der inneren Persönlichkeit über die Beobachtung der Formen und Proportionen von Stirn, Augen, Nase und Mund.13 – Wenden wir uns nun Goethes autobiografischem Schreiben in Dichtung und Wahrheit zu. 1.) Für Goethe ist auch Schreiben über sich selbst eine Verwandlung des Lebens in ein Bild: „Alles nach innerer Erfahrung/Selbstbildung durch Verwandl [ung] des Erlebten in ein Bild“.14 Dies ist die grundlegende Voraussetzung jeder Physiognomik und ihrer Tradition. Ausgangspunkt ist das Sichtbare – das Korrelat ist das Wort, die physiognomische Darstellung ist die notwendige Verwandlung des Bildes in Sprache; physiognomisches Schreiben ist ein Transkriptionsprozess. Bild und Worte müssen sich immerfort suchen.15 Goethe sieht sehr 12 Vgl. Kurt Werner Peuckert: Physiognomik in Goethes Morphologie. In: DVjs 47 (1973), S. 400–419; und: Eva Geulen: Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager. Berlin 2016, hier vor allem Kap. 4: Innen und Außen (Physiognomik und Morphologie), S. 49– 64. 13 Nach Lavater besteht „ein beynahe übermenschliches Gesicht“ aus sieben Charakteristika: a) „Auffallende Gleichheit der drey gewöhnlichen Gesichtsabtheilungen – der Stirn, der Nase, des Kinns. b) Eine horizontal sich endigende Stirn; mithin beynahe horizontale, kecke, gedrängte Augenbrauen. c) Augen von hellblauer, oder hellbrauner Farbe, die auf wenige Schritte schwarz scheinen, und deren obere Augenlieder den Apfel etwa um ein Fünftheil oder Viertheil bedecken. d) Eine Nase mit einem breiten, beynahe parallelen, jedoch etwas geschweiften Rücken. e) Einen im ganzen horizontalen Mund, wo die Oberlippe und die Mittellinie in der Mitte sich sanft, doch etwas tief, niedersenken – und die Unterlippe nicht größer ist als die Oberlippe. f) Ein rundes vorstehendes Kinn. g) Kurze dunkelbraune Haare, kraus in großen Parteyen“; zit. nach Ingrid Goritschnig: Faszination des Porträts. (Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater [s. Anm. 4], S. 149). 14 Paralipomena zu Dichtung und Wahrheit (1775). In: Dichtung und Wahrheit (FA 14), S. 864; vgl. auch S. 868: „Der Dichter verwandelt das Leben in ein Bild …“. 15 Vgl. Gerd Mattenklott: Goethe als Physiognomiker. In: Goethe Vorträge aus Anlaß seines 150. Todestages. Mit Beiträgen von Thomas Dietzel, Wilhelm Emrich, Dirk Grathoff, Hans Peter Herrmann, Karl Inderthal, Ulrich Karthaus, Erwin Leibfried, Gerd Mattenklott. Frankfurt/Main. Bern. New York 1984, S. 125–141, hier S. 140.

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genau, dass bei aller Bildorientiertheit der Physiognomik (und Goethe beteiligte sich – wie betont – über einen längeren Zeitraum selbst an der Suche nach geeigneten Porträts) die Verschriftlichung, die Versprachlichung des Bildes für Lavater das eigentliche Problem des physiognomischen Schreibens darstellt. Die Verschriftlichung bedeutet zugleich eine Verzeitlichung des Bildes und damit die Aufforderung, eine für diesen Prozess angemessene Sprache zu finden. Es geht um eine Wörtersuche; die Physiognomik wird damit im Sinne Reinhart Kosellecks zum Modell einer verzeitlichten Wissenschaft. Die Bild-Text-Korrelation im Sinne des steten Wechsel-und Bedingungsverhältnisses und ihre notwendige sprachliche Verzeitlichung spielen die Hauptrolle. Präziser formuliert: Goethes Kenntnis aller in Dichtung und Wahrheit genannten Personen von Angesicht zu Angesicht führt zu einem Bild-Eindruck, der mittels Verschriftlichung in einen Text verwandelt wird. Damit verweist ein Zeichensystem (das des Bildes) auf ein anderes (das der Sprache); zwei Symbolsysteme treten in eine intermediale Beziehung ein. Es geht um das Lesbarmachen des Bildes, und da wir dabei prinzipiell keinen medientranszendenten Bedeutungshorizont voraussetzen können, muss das „Verstehen auf jedem Punkt gewollt und gesucht werden“, wie Schleiermacher in seiner Hermeneutik betont.16 2.) Die Grundvoraussetzung aller Physiognomik wie aller Autobiographie ist die Rolle und Bedeutung des Individuums: „Jeder ist selbst nur ein Individuum und kann sich auch eigentlich nur fürs Individuelle interessieren. Das Allgemeine findet sich von selbst, dringt sich auf, erhält sich, vermehrt sich. Wir benutzen’s, aber wir lieben es nicht. Wir lieben nur das Individuelle, daher die große Freude an Vorträgen, Bekenntnissen, Memoiren, Briefe und Anekdoten [auch] abgeschiedener, selbst unbedeutender Menschen“.17 Goethe verbindet das Grundinteresse am Individuellen stets mit Fragen nach dem Einzelnen und seiner einmaligen unverwechselbaren Individualität, und es ist nur folgerichtig, wenn er eben in der Korrespondenz mit Lavater über physiognomische Fragen hier sein eigenes Emblem über die „Pyramide [des] Daseins“ und sein entscheidendes Postulat über das „Ineffabile“ des Menschen formuliert: „Diese Begierde, die Pyramide meines Daseins deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spizzen, überwiegt alles andere und lässt kaum augenblickliches Vergessen zu. […] Hab ich dir das

16 Vgl. Ludwig Jäger: Transkribieren. In: Medien/Lektüre. Hg. v. Ludwig Jäger und Georg Stanitzek. München 2002, S. 27. 17 Johann Wolfgang Goethe: Poetische Werke. Vollständige Ausgabe. Bd. 8. Autobiographische Schriften. Tl. 1. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bedeutung des Individuellen. Stuttgart o. J., S. 1356 f., hier S. 1356.

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Wort ‚Individuum est ineffabile‘, woraus ich eine Welt ableitete, schon geschrieben?“18 Für den problematischen Zusammenhang zwischen dem ineffabilen Individuellen und seiner diskursiven Fassung ist kein anderes Genre so aufschlussreich wie die autobiografische Selberlebensbeschreibung und die bildorientierte Physiognomik: „Man hat Lavatern nicht gut aufgenommen, dass er sich so oft Malen, Zeichnen und in Kupfer stechen ließ und sein Bild überall herum streute. Aber freut man sich nicht jetzt, da die Form dieses außerordentlichen Wesens zerstört ist, bei so mannigfaltigen, zu verschiedener Zeit gearbeiteten Nachbildungen im Durchschnitt gewiss zu wissen, wie er ausgesehen hat?“19 Dabei ist die Unbestimmtheit und Uneinholbarkeit des Individuellen und der Imperativ zur Selbstbestimmung im Horizont seiner ebenso wünschenswerten wie unmöglichen Bestimmbarkeit des Individuums die Grundlage jeden autobiografischen Schreibens, um ein „Formulierungsmuster für Einmaligkeit zu finden“.20 3.) Goethe selbst gibt sich mit Lavaters behaupteter stabiler und angeblich erschöpfender physiognomischer Charakterschau nicht zufrieden. Bei den in Dichtung und Wahrheit eingefügten physiognomischen Porträts / Charakteristiken fällt auf, dass Goethe nicht wie Lavater durchgehend von den (festen) Umrissen und Einzelformen eines menschlichen Gesichts ausgeht, sondern dass er sie ergänzt um bezeichnende Handlungen und Verhaltensweisen, um Bewegungen und Gesten, um die Frisur wie um die Kleidung. Darüber hinaus bettet Goethe die Porträts in bestimmte Konstellationen ein, die im Handlungszusammenhang des gesamten Textes eine spezifische, den Fortgang des Lebensgangs erläuternde, pathognomische Funktion (im Sinne Lichtenbergs) übernehmen. Man könnte deshalb von einer dynamisierten und konstellativen Physiognomik sprechen, die, im Unterschied zu einem Statuarischen, Exemplarisch-Abstrakten, vornehmlich auf die Charakterisierung des Porträtierten bezogenen, stets das Eigeninteresse des Autobiographen im Sinne seiner intendierten Lebensdisposition im Auge behält. Der kontingente

18 Goethe an Lavater, 20. September 1780 (Goethe und Lavater. Briefe und Tagebücher. Hg. v. Heinrich Funck. Weimar 1901, S. 136 und 138; WA IV 97, S. 299 f.). Vgl. dazu insgesamt Dirk Kemper: ineffabile. Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne. München 2004, vor allem S. 382–400. 19 Goethe: Poetische Werke (s. Anm. 17), S. 1356. 20 Fotis Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert. Eine Komponenten- und Funktionsanalyse des Begriffs „Bildung“ am Beispiel von Goethes „Dichtung und Wahrheit“. Tübingen 1996, S. 59; Niklas Luhmann spricht von der Pflicht, „selbst erzeugte Möglichkeitsüberschüsse zu disziplinieren“ (Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995, S. 434).

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Faktor in der Begegnung bei der Beobachtung des Beobachteten bleibt ein wichtiges Moment der Selbstbeobachtung. 4.) Das bedeutet schließlich, dass es in Dichtung und Wahrheit zwar grundsätzlich um die Wechselbeziehung zwischen dem Beobachter und Beobachteten geht, aber zugleich um die Wahrnehmung von Veränderung und Veränderbarkeit der porträtierten Person. Lässt sich über ihre innere Entwicklung im Oszillieren von Porträt (Bild) und Narration (Text) Genaueres erschließen? Verändert sich die Gestalt der Person? Kommt es (und wenn ja, in welchen Phasen) zu „Umbildungen“? Die Sprache der Physiognomik muss das Individuelle im Wechselprozess des Beobachters und das Wahrnehmen von Entwicklungs- und Bildungsprozessen berücksichtigen. Und schließlich: Bietet das zeitgenössische Konzept der „Bildung“ ein einschlägiges Integrationsmittel?21 5.) Insgesamt lassen sich in Dichtung und Wahrheit variable Formbildungen der physiognomischen Porträts beobachten: szenisch-dramatische (etwa in der Szene der Begegnung mit Gottsched), oder im Zusammenhang mit Lenz, rhetorisch-romaneske oder sarkastisch-parodistische. In unterschiedlichen Formbildungen kann man die Versprachlichung des Ausgangsbildes der jeweiligen Person am genauesten studieren. Hier wird auch das hypothetisch-konjunktivische Schreiben offenbar. Alle porträtierten Menschen studiert Goethe in ihrer Potentialität und zeitlichen Dreidimensionalität und orientiert sich hier an Kants unterschiedlichen Perspektiven von Aufmerksamkeit auf die Gegenwart: Im ersten „Sehen“ bedarf es der Aufmerksamkeit auf die Gegenwart: auf das, was er jetzt sagt, um es klar vorzustellen. [Zweitens] des Zurücksehens auf das, was er gesagt hat, und dann des „Vorhersehens auf das, was er eben nun sagen will“.22

II. Für die hier skizzierten theoretisch-poetologischen Befunde zu Goethes Porträtkunst in physiognomischer Absicht gebe ich im Folgenden einzelne Beispiele, um sie exemplarisch zu erläutern. Dabei lassen sich drei Gruppen unterscheiden: Erstens eine Gruppe, die sich in eher konventioneller Weise am Schema der physiognomischen Tradition orientiert, dieses aber auch schon durch andere Bestimmungen anreichert; eine zweite, die die Komplexität des Innen-Außen-Verhältnisses von Beobachter und Beobachtetem hervorhebt, und schließ21 Dazu: Wilhelm Voßkamp: Der Roman des Lebens. Die Aktualität unserer Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman. Berlin 2009. 22 Vgl. Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798]. In: Kant: Schriften zur Anthropologie. Geschichtsphilosophie. Politik und Pädagogik. Darmstadt 1966, S. 396–690.

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lich eine dritte Gruppe von Doppelporträts, in denen sich aus den physiognomischen Exempeln neue autobiografische und biografische Texte entwickeln im Zuge des Versuchs einer Gesamtdarstellung von Goethes Leben. 1.) Zu den in die Tradition konventioneller Physiognomik gehörenden Fallbeispielen gehören Goethes Charakterisierung des Medizinstudenten Johann Meyer (von Lindau), Christian Fürchtegott Gellert und August Wilhelm Iffland. Das literarische Porträt des Medizinstudenten Jo h an n Mey e rs zeigt die Hauptmerkmale sowohl des Lavater’schen Schemas als auch Merkmale von Goethes „innigem Shandismus“, mit dem er sich an Lavaters Projekt beteiligte: Man hätte ihn, seiner Gestalt und seinem Gesicht nach für den schönsten Menschen halten können, wenn er nicht zugleich etwas Schlottriges in seinem ganzen Wesen gehabt hätte […]. Er hatte ein mehr rundes als ovales Gesicht; die Werkzeuge der Sinne, Augen, Nase, Mund, Ohren, konnte man reich nennen, sie zeugten von einer entschiedenen Fülle, ohne übertrieben groß zu sein […].23

Neben Goethes durchgehend ironischer Distanz und Selbstbezüglichkeit fällt der Hinweis auf die Rätselhaftigkeit des Porträtierten auf: die konventionelle Gesichtsbeobachtung (Dreiteiligkeit) liefert dafür lediglich die Folie.

Christian F ü rch teg o tt G ellert Ausgangspunkt ist die für die physiognomische Charakterisierung außerordentliche „Verehrung und Liebe welche G el le rt von allen jungen Leuten genoß […]. Ich hatte ihn schon besucht und war freundlich von ihm aufgenommen worden. Nicht groß von Gestalt, zierlich aber nicht hager, sanfte eher traurige 23 Johann Meyer (1749–1825); Goethes Mitstudent und Tischgenosse in Straßburg; später als Arzt in Wien tätig (Dichtung und Wahrheit [FA 14], S. 391). Vergleichbar ist dieses Porträt mit dem Lakonismus, mit dem Goethe in einem Brief an Cornelia vom 6.-[10?]. Dez. 1765 den Magister Herrmann charakterisiert: „Ein Mediciner sein [von Magister Morus] Nachbaar ist gleichfalls keiner der beredesten aber macht immer ein verdrißliches Gesicht / Aber sonst ist es ein sehr schöner Mensch, ich will dir ihn freyen. Hier hast du sein Portrait, es schmeichelt gewiß nicht. Ohngefähr 4 ½ Fuß hoch. Vom Gesichte zu reden. Es besteht wie das Gesicht anderer Menschen, aus, Augen, Nase pp aber die Zusammensetzung davon, ach die entzückt. Finstere schwarze Augen die von herabhangenden Augenbrauen, beschattet werden, keine sonderlich schöne Nase, die durch das eingedrückte der Wangen sehr erhöht wird, ein aufgeworfener Mund, der so wie das Kinn mit einem schwarzen stachelichen Barte besetzt ist, sonst ist eine ziemlich starcke Röhte über sein ganzes Antliz verbreitet. Seine Reisen haben ihn nicht klüger gemacht. Er flieht die Welt, weil sie sich nicht nach ihm richten will.“ (Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1.I. 23. Mai 1764 – 30. Dezember 1772. Texte. Hg. von Elke Richter und Georg Kurscheidt. Berlin 2008, S. 24.)

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Augen, eine sehr schöne Stirn, eine nicht übertriebene Habichtsnase, einen feinen Mund, ein gefälliges Oval des Gesichts; alles machte seine Gegenwart angenehm und wünschenswert.“24 Die Beschreibung hält sich an die traditionelle Dreiteilung des Gesichts, die in eine Grundform – oval oder rund – eingeschrieben ist. Zunächst geht es um Auge und Stirn (als Ausdruck der intellektuellen Seite des Menschen); dann um die Nase (als Zentrum des Gesichts, das die Verbindung zwischen dem Intellektuellen und Animalischen, dem Mund herstellen soll). In allen physiognomischen Beschreibungen kehrt diese Einteilung wieder, und es fällt auf, dass Goethe sich durchgehend an diese triadische Ordnung der Gesichtsbeschreibung hält. Dass die Aufmerksamkeit gelegentlich auf einem bestimmten Teil des Gesichts gerichtet werden kann, zeigt das Beispiel Au g us t Wi l h el m I ffl an d s: Ich hatte lebhaft gewünscht, Ifflanden zu sehen und er hatte die Freundlichkeit mich zu besuchen; seine Gegenwart setzte mich in ein angenehmes Erstaunen. Er war etwas über zwanzig Jahre alt, von mittlerer Größe, wohlproportioniertem Körperbau, behaglich, ohne weich zu sein; so war auch sein Gesicht rund und voll, heiter ohne gerade zuvorkommender Mi[e]ne. Dabei ein paar Augen ganz einzige ich konnte ihm meine Verwunderung nicht verbergen, daß er mit solchen äußeren Vorzügen sich als ein Alter zu maskieren beliebte und Jahre sich anlöge, die noch weit genug von ihm entfernt seien.25

Hier findet sich ein Hinweis auf den wiederholt beobachtbaren Verstellungsdiskurs der frühen Neuzeit, dessen sich Goethe in autobiografischen Zusammenhängen souverän bedient (etwa in der Darstellung seiner Liebeskonstellationen).26 2.) Dass diese Art der Charakterisierung den eigentümlich konstellativ-perspektivischen Blick Goethes auf die ihm begegnende Person prägt, lässt sich an vielen Beispielen ablesen. Die lebenslange Verbindung mit J oh an n G ott fr ied H er der ist dafür ein herausragendes Beispiel. Sie lässt sich als ein Modell für Goethes teilnehmende Fremd-und Selbstbeobachtung bezeichnen und für die Einsicht in das prinzipiell Zwiespältige eines jeden Charakters und seiner physiognomischen Beschreibung. Auch hier beginnt das Porträt in Dichtung und Wahrheit – nach dem ersten Kennenlernen in Straßburg – mit einer Charakterisierung der äußeren Erscheinung und dem schematischen Nachzeichnen der dreiteiligen Oberfläche des Gesichts: 24 Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14), S. 271. 25 Dieses Porträt entwirft Goethe nach einem Besuch bei Iffland auf seiner „Reise über Mannheim nach der Schweiz im Jahre 1779“ (Goethe: Poetische Werke [s. Anm. 17], S. 1397). 26 Vgl. dazu vor allem: Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992.

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Sein gepudertes Haar war in eine runde Locke aufgesteckt, das schwarze Kleid bezeichnete ihn gleichfalls, mehr noch aber ein langer schwarzer seidner Mantel, dessen Ende er zusammengenommen und in die Tasche gesteckt hatte. Dieses einigermaßen auffallende, aber doch im Ganzen galante und gefällige Wesen, wovon ich schon hatte sprechen hören, ließ mich keineswegs zweifeln, daß er der berühmte Ankömmling sei, und meine Anrede mußte ihn sogleich überzeugen, daß ich ihn kenne.27

Goethe fühlt sich „immer mehr von ihm angezogen“28, worauf unmittelbar danach die genauere physiognomische Charakterisierung folgt: Er hatte etwas Weiches in seinem Betragen, das sehr schicklich und anständig war, ohne daß es eigentlich adrett gewesen wäre. Ein rundes Gesicht, eine bedeutende Stirn, eine etwas stumpfe Nase, einen etwas aufgeworfenen, aber höchst individuell angenehmen, liebenswürdigen Mund. Unter schwarzen Augenbrauen ein paar kohlschwarze Augen, die ihre Wirkung nicht verfehlten, obgleich das eine rot und entzündet zu sein pflegte. Durch mannigfaltige Fragen suchte er sich mit mir und meinem Zustande bekannt zu machen, und seine Anziehungskraft wirkte immer stärker auf mich. Ich war überhaupt sehr zutraulicher Natur, und vor ihm besonders hatte ich gar kein Geheimnis. Es währte jedoch nicht lange, als der abstoßende Puls seines Wesens eintrat und mich in nicht geringes Mißbehagen versetzte.29

Hinzu kommt Herders entschiedener „Widersprechungsgeist“, von dem Goethe glaubt, „noch manches ausstehen“ zu müssen.30 Hervorgehoben wird zunächst die Wirkung, die vom Gesamteindruck ausgeht (mit dem sofort auffallenden rotentzündeten Auge – ein Hinweis auf Herders lebenslanges schweres Augenleiden), die zunehmende Faszination, der aber bald das nicht geringe Missbehagen folgt. – Goethe orientiert sich hier an einem von ihm bevorzugten Renaissanceschema der autobiografischen Ambivalenz, das er in der Italienischen Reise am Beispiel des Florentiners und „humoristischen Heiligen“ Philipp Neri (geboren 1515) entwickelt hat.31 Der vollkommene Jüngling „ist anziehend und ablehnend zugleich. Anmut und Würde begleiten ihn überall“32. Man möge stets, so Goethe, die „wundersame Komplikation der menschlichen Natur [bedenken], in welcher sich die stärksten Gegensätze vereinigen, Materielles und Geistiges, Gewöhnliches und Unmögliches,

27 Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14), S. 438. 28 Ebd., S. 439. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 439 f. 31 Philipp Neri, der humoristische Heilige. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Bd. 15. Italienische Reise. Hg. v. Andreas Beyer und Norbert Miller. München 1992, S. 548–562. 32 Ebd., S. 548.

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Widerwärtiges und Entzückendes, Beschränktes und Grenzenloses“.33 Es lasse sich „ein langes Register“ aufzählen, dessen Widersprüchlichkeit „den Verstand irre macht, die Einbildungskraft losbindet […]“.34 Vergleichbar mit dem „humoristischen Heiligen“ Neri gehört Herders Lebensgeschichte aus der Sicht Goethes zu den die Einbildungskraft freisetzenden, zur Dichtung anreizenden, stets irritierenden Personen, deren Porträtierung niemals abgeschlossen werden könne. Von Herders bildendem Einfluss auf ihn schreibt Goethe: Die Einwirkung dieses gutmütigen Polterers war groß und bedeutend. Er hatte fünf Jahre mehr als ich, welches in jüngeren Tagen schon einen großen Unterschied macht; und da ich ihn für das anerkannte was er war, da ich dasjenige zu schätzen suchte was er schon geleistet hatte, so mußte er eine große Superiorität über mich gewinnen. Aber behaglich war der Zustand nicht: denn ältere Personen, mit denen ich bisher umgegangen, hatten mich mit Schonung zu bilden gesucht, vielleicht auch durch Nachgiebigkeit verzogen; von Herder aber konnte man niemals eine Billigung erwarten, man mochte sich anstellen wie man wollte. Indem nun also auf der einen Seite meine große Neigung und Verehrung für ihn, und auf der andern das Mißbehagen, das er in mir erweckte, beständig mit einander im Streit lagen; so entstand ein Zwiespalt in mir, der erste in seiner Art, den ich in meinem Leben empfunden hatte.35

Die so offen dargelegte Ambivalenz der Beziehungsgeschichte zwischen Herder und Goethe gehört zu den verallgemeinerbaren Geschichten von Konstellationen des Autobiografen und Physiognomikers in Dichtung und Wahrheit. Goethes Blick richtet sich immer selbstbezogener auf seine eigene Bildungsgeschichte, und als Herder sich herausnimmt („erlaubt“), einen „Spaß“ mit seinem Eigennamen zu treiben, kippt das ursprüngliche Wohlwollen um in eine höchst kritische Charakteristik, die sich bis zu Herders Tod noch verschärft: Schon drei Jahre hatte ich mich von ihm zurückgezogen, denn mit seiner Krankheit vermehrte sich sein mißwollender Widerspruchsgeist und überdies sollte seine unschätzbare einzige Liebensfähigkeit und Liebenswürdigkeit. Man kam nicht zu ihm, ohne sich seiner Milde zu erfreuen; man ging nicht von ihm, ohne verletzt zu sein [und dann verallgemeinernd] Fehler der Jugend sind erträglich, denn man betrachtet sie als Übergänge, als die Säure einer unreifen Frucht; am Alter bringen sie zur Verzweiflung.36

33 Ebd., S. 558. 34 Ebd. 35 Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14), S. 441. 36 Biografische Einzelnheiten. In: Goethe: Poetische Werke (s. Anm. 17), S. 1349–1511, hier S. 1409. Hier spricht Goethe auch von Herders „mehr […] dialektischem als konstruktivem Geiste“. (ebd.).

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Hier wird jene Tendenz erkennbar, die Goethe zu bitteren, ironisch-satirischen Charakterisierungen ermuntert, wie sie vor allem das Porträt von J ako b Mic h ael R ein h o l d Le n z prägen: Späte Bekanntschaft mit ihm, […] Seine Gestalt, sein Wesen […], Seltsamstes und indefinibelstes Individuum. Neben seinem Talent, das von einer genialen aber barocken Ansicht der Welt zeugte, hatte er ein travers, das darin bestand, über alles auch das Simpelste durch Intrige zu tun dergestalt, daß er sich Verhältnisse erst als Mißverhältnisse vorstellte, um sie durch politische Behandlung wieder ins gleiche zu bringen. In dem Umgang mit seinen Freunden, in Eleven und Bekannten war es seine Art, sich die närrischsten Irrwege auszusinnen, um aus nichts etwas zu machen, und ohne in der damaligen Epoche etwas Böses oder Schädliches zu wollen, übte er sich doch immer dergestalt, um in der Folge bei andern Zwecken, die er sich vorsetzen mochte, auf die tollste Weise zu einer Art von Schelmen zu werden. Wobei ihm, in Absicht und Beurteilung und Imputation immer seine Halbnarrheit, ein gewisser von jedermann erkannter, bedauerter, ja geliebter Wahnsinn zu statten kam.37

Aus dem biografischen Porträt wird eine psychologische Fallstudie wie aus dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde38 von Karl Philipp Moritz oder den Biografien der Wahnsinnigen von Christian Heinrich Spieß.39 Die Beschreibung der „Seelenkrankheitskunde“ im Magazin liefert mehrfache Hinweise auf Goethes Charakterisierungen: „Mangel der verhältnismäßigen Übereinstimmung aller Seelenfähigkeiten ist Seelenkrankheit“,40 verursacht von – so Spieß – „Ausschweifungen“ der menschlichen Einbildungskraft und „Schwärmereyen“ oder von „überspannte[r] heftiger Leidenschaft, [die] uns das kostbarste Geschenk des Schöpfers, unseren Verstand, rauben […]“41. Dabei nähert sich Goethe Lenz mit Sympathie und der Schilderung gemeinsamer Shakespeare-Begeisterung während der Straßburger Studienzeit: Lenz beträgt sich mehr bilderstürmerisch gegen die Herkömmlichkeit des Theaters, und will denn eben all und überall nach Shakspearescher Weise gehandelt haben. […] Ich lernte ihn erst gegen das Ende meines Straßburger Aufenthalts kennen. Wir sahen uns selten; seine Gesellschaft war nicht die meine, aber wir suchten doch Gelegenheit uns zu treffen, und teilten uns einander gern mit, weil wir, als gleichzeitige Jünglinge, ähnliche

37 Ebd., S. 1388. 38 Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Hg. v. Karl Philipp Moritz. 10 Bde. Berlin 1783–1793; zit. Neudruck. Lindau 1979. 39 Heinrich Spieß: Biographien der Wahnsinnigen [1795/96]; zit. Ausgabe: Ausgewählt, hg. und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Promies. Darmstadt und Neuwied 1976. – Zur Poetik literarischer Fallstudien vgl. insgesamt Nicolas Pethes: Literarische Fall-Geschichten. Zur Poetik einer epistemischen Schreibweise. Konstanz 2016. 40 Magazin (s. Anm. 38), Bd. X, Stück 3, S. 10. 41 Christian Heinrich Spieß: Biographien der Wahnsinnigen (s. Anm. 39), Vorrede, S. 7.

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Gesinnungen hegten. Klein, aber nett von Gestalt, ein allerliebstes Köpfchen, dessen zierlicher Form niedliche etwas abgestumpfte Züge vollkommen entsprachen; blaue Augen, blonde Haare, kurz ein Persönchen, wie mir unter nordischen Jünglingen von Zeit zu Zeit eins begegnet ist; einen sanften, gleichsam vorsichtigen Schritt, eine angenehme nicht ganz fließende Sprache, und ein Betragen, das zwischen Zurückhaltung und Schüchternheit sich bewegend, einem jungen Manne gar wohl anstand. Kleinere Gedichte, besonders seine eignen, las er sehr gut vor, und schrieb eine fließende Hand. Für seine Sinnesart wüßte ich nur das englische Wort whimsical, welches, wie das Wörterbuch ausweist, gar manche Seltsamkeiten in einem Begriff zusammenfaßt. Niemand war vielleicht eben deswegen fähiger als er, die Ausschweifungen und Auswüchse des Shakspeareschen Genies zu empfinden und nachzubilden.42

Goethe betont die große Freiheit, die sich Lenz herausgenommen habe, indem er sich „die Possenjacke seines Vorgängers“ angepasst habe, um „sich seinen Gebärden so humoristisch gleichzustellen, daß er demjenigen, den solche Dinge anmuteten, gewiß Beifall abgewann. […] Die Neigung zum Absurden, die sich frei und unbewunden bei der Jugend zu Tage zeigt, nachher aber immer mehr in die Tiefe zurücktritt, ohne sich deshalb gänzlich zu verlieren, war bei uns in voller Blüte, und wir suchten auch durch Originalspäße unsern großen Meister zu feiern.“43 Später kommt Goethe noch einmal auf Lenz zurück: „[...] weil es unmöglich wäre, ihn durch die Umschweife seines Lebensganges zu begleiten, und seine Eigenheiten darstellend zu überliefern.“44 Darauf folgt eine erneute psychologische Charakterisierung, indem er Lenzens „größte[] Fahrlässigkeit im Tun, und ein[en] aus dieser halben Selbsterkenntnis entspringende[n] Dünkel“ betont, der ihn „zu den seltsamsten Angewohnheiten und Unarten“ verführt habe.45 Auf diese Weise war er Zeitlebens ein Schelm in der Einbildung, seine Liebe wie sein Haß waren imaginär, mit seinen Vorstellungen und Gefühlen verfuhr er willkürlich, damit er immer fort etwas zu tun haben möchte. Durch die verkehrtesten Mittel suchte er seinen Neigungen und Abneigungen Realität zu geben, und vernichtete sein Werk immer wieder selbst; […].46

Die Art in der Einbildung zu leben und zu handeln macht ihn, so Goethe, literarisch nicht produktiv, sie wirkt vielmehr selbstzerstörerisch und – unter Hinweis auf Goethes eigenes Verfahren – „einen kleinen Roman daraus zu bilden […] war nicht seine Sache, ihm konnte nicht wohl werden, als wenn er sich 42 43 44 45 46

Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14), S. 539 f. Ebd., S. 540 f. Ebd., S. 651. Ebd. Ebd., S. 652.

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grenzenlos im Einzelnen verfloß und sich an einem unendlichen Faden ohne Absicht hinspann.“47 So kann er seine ihm eigentümliche Lebensrolle (Goethe spricht bezeichnenderweise von der „Bildungsaufgabe die ihm angeboren war“) nicht gerecht werden, und er bleibt für ihn deshalb ein „vorübergehendes Meteor […] ohne im Leben eine Spur zurückzulassen“.48 Goethe stellt ihn dann unvermittelt F rie dr ic h M ax im il ian Kl i n g er gegenüber als einem „einflußreiche[n] Schriftsteller, als tätige[n] Geschäftsmann […], der nicht im Verborgenen so manches geleistet und so vieles gewirkt“ habe.49 Mehr noch: Mit diesem Autor kehrt Goethe zu seiner bei Lenz weitgehend zugunsten psychologischer Perspektiven ausgesparten physiognomischen Schreibweise zurück: „Klingers Äußeres – denn von diesem beginne ich immer am liebsten – war sehr vorteilhaft. Die Natur hatte ihm eine große, schlanke, wohlgebaute Gestalt und eine regelmäßige Gesichtsbildung gegeben; er hielt auf seine Person, trug sich nett, und man konnte ihn für das hübscheste Mitglied der ganzen kleinen Gesellschaft ansprechen. Sein Betragen war weder zuvorkommend noch abstoßend, und, wenn es nicht innerlich stürmte, gemäßigt.“50 Noch in dieser lakonischen Charakterisierung schwingt die innere Beunruhigung über Jakob Michael Lenz mit. Im Verfahren der Doppelporträtierung, das seiner Neigung zum Vergleich entgegenkommt, gelingt Goethe die angestrebte autobiografische Balance. 3. Goethes spezifische Techniken des modifizierten physiognomischen Schreibens als Mittel einer literarischen Vergegenwärtigung und gleichzeitigen Deutung seines eigenen Lebens lassen sich insbesondere am Beispiel der Charakterisierung seiner Schwester C or n el ia und J oh an n C as par Lav at ers ablesen. Die Darstellung Cornelias ist ein Musterbeispiel. Den Ausgangspunkt bildet die Frankfurter Familienkonstellation: Der Bruder und die fast gleichaltrige Schwester befinden sich in einem „Widerstreit“ gegenüber dem Vater und halten sich an die Mutter. Beide Geschwister erhalten eine gemeinsame hervorragende Ausbildung, die mit dazu beiträgt, dass sie eine enge Gemeinschaft bilden, so dass „man sie wohl für Zwillinge halten konnte“.51 Der Bruder und Autobiograf Johann Wolfgang wechselt jetzt von dieser historischen Darstellung zwecks einer genaueren, lebendigeren und tieferen Charakterisierung Cornelias zur literarischen Fiktion: „Da ich dieses geliebte, unbegreifliche Wesen nur zu 47 48 49 50 51

Ebd., S. 654. Ebd., S. 656. Ebd. Ebd. Ebd., S. 250.

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bald verlor, fühlte ich genugsamen Anlaß, mir ihren Wert zu vergegenwärtigen, und so entstand mir der Begriff eines dichterischen Ganzen, in welchem es möglich gewesen wäre ihre Individualität darzustellen“.52 Dafür erscheinen ihm Richardsons Briefromane als Darstellungsmodell geeignet zu sein: Allein es ließ sich dazu keine andere Form denken als die der Richardsonschen Romane [Pamela, Clarissa, Sir Charles Grandison]. Nur durch das genauste Detail, durch unendliche Einzelnheiten, die lebendig alle den Charakter des Ganzen tragen und, indem sie aus einer wundersamen Tiefe hervorspringen, eine Ahndung von dieser Tiefe geben; nur auf solche Weise hätte es einigermaßen gelingen können, eine Vorstellung dieser merkwürdigen Persönlichkeit mitzuteilen: denn die Quelle kannn nur gedacht werden, in sofern sie fließt.53

Goethes Formulierungen bleiben bezeichnenderweise im einschränkenden Konjunktiv. Ihm bleibe nichts anderes übrig „als den Schatten jenes seligen Geistes […] wie durch Hülfe eines magischen Spiegels, auf einen Augenblick heran zu rufen.“54 Alle drei hier apostrophierten literarischen Verfahren stehen für Goethes generelle künstlerische Techniken: das Schreiben im Modus des Möglichen, augenblickshaft und (als zentrales Mittel) im (symbolischen) Spiegel-Blick. Erst danach kommt Goethe auf die traditionellen Formeln der Physiognomik zurück, allerdings ohne auf eine teilnehmerpsychologische Gesamtcharakterisierung vorweg zu verzichten: Sie war groß, wohl und zart gebaut und hatte etwas Natürlichwürdiges in ihrem Betragen, das in eine angenehme Weichheit verschmolz. Die Züge ihres Gesichts, weder bedeutend noch schön, sprachen von einem Wesen, das weder mit sich einig war, noch werden konnte. Ihre Augen waren nicht die schönsten, die ich jemals sah, aber die tiefsten, hinter denen man am meisten erwartete, und wenn sie irgend eine Neigung, eine Liebe ausdrückten, einen Glanz hatten ohne Gleichen; und doch war dieser Ausdruck eigentlich nicht zärtlich, wie der, der aus dem Herzen kommt und zugleich etwas Sehnsüchtiges und Verlangendes mit sich führt; dieser Ausdruck kam aus der Seele, er war voll und reich, er schien nur geben zu wollen, nicht des Empfangens zu bedürfen.55

Schon in der Wortwahl wird deutlich, dass Goethe von den Stereotypen der physiognomischen Gesichtsbeschreibung abweicht. Das findet seine Fortsetzung, wenn einzelne Teile des Gesichts (etwa die Stirn) beschrieben werden. Abgeschlossen wird das Porträt mit einer Gesamtcharakterisierung, die das we-

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niger attraktive Äußere in einen Ausgleich mit den umso nachdrücklicher betonten „inneren Vorzügen“ auszubalancieren sucht: „Kann ein Frauenzimmer für den Mangel von Schönheit entschädigt werden, so war sie es reichlich durch das unbegrenzte Vertrauen, die Achtung und Liebe, welche sämtliche Freundinnen zu ihr trugen; sie mochten älter oder jünger sein, alle hegten die gleichen Empfindungen.“56 Zugespitzt wird dann – unter Rückgriff auf die Ursprungskonstellation in der Familie – erneut die enge Bruder-Schwester-Verbindung thematisch: „Freilich, wenn ihr Äußeres einigermaßen abstoßend war, so wirkte das Innere, das hindurchblickte, mehr ablehnend, als anziehend: denn die Gegenwart einer jeden Würde weist den anderen auf sich selbst zurück. Sie fühlte es lebhaft, sie verbarg mir’s nicht, und ihre Neigung wendete sich desto kräftiger zu mir.“57 Damit ist aber die Charakterisierung Cornelias nicht abgeschlossen. Goethe bezieht sich noch einmal auf Richardsons Romane, indem er den englischen Freund58 Cornelias als literarische Figur präsentiert – offensichtlich in Anspielung auf den Charakter der Hauptfigur des Romans Sir Charles Grandison. Bei diesem Wechsel vom Autobiografischen zum Fiktiven, von der Detailcharakterisierung zur Gesamtbeurteilung, bleibt Goethes eigene Perspektive stets präsent. Das gilt auch dann noch, wenn Goethe die autobiografische Charakterisierung Cornelias noch einmal im achten Buch wieder aufnimmt und auch hier unter Hinweis auf die didaktischen Liebhabereien des Vaters eine Familienkonstellation beschwört, dann aber abschließend resümmiert: „Meine Schwester war und blieb ein indefinibels Wesen, das sonderbarste Gemisch von Strenge und Weichheit, von Eigensinn und Nachgiebigkeit, welche Eigenschaften bald vereint, bald durch Willen und Neigung vereinzelt wirkten.“59 Cornelia wird zum Modell für Goethes verallgemeinerbare Definition des individuellen „Ineffabile“ und damit zum Muster eines in seinem Reichtum und in seinen Widersprüchen undefinierbaren Menschen überhaupt. Das „Ineffabile“ fordert die Versprachlichung bestimmter sichtbarer Körper-und Gesichtsmerkmale heraus, ohne bei den traditionalen physiognomischen Stereotypen stehen zu bleiben. Aus der Physiognomie wird, ähnlich wie bei Lenz, ein Psychogramm, aus dem Psychogramm eine Biografie als Sonder-und Musterfall im Sinne der Fallstudien in Karl Philipp Moritz’ Magazin der Erfahrungsseelenkunde. Die prinzipielle Unfixierbarkeit der ineffabilen Individualität (dargestellt im brüderlichen Bildeindruck der Individualität Cornelias) und die gegenläufige Absicht, diese Indivi56 57 58 59

Ebd., S. 253. Ebd. Ebd., S. 253 f. Ebd., S. 368.

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dualiät in ihrer Integrität aufgrund ihrer reichen Bestimmtheit im Text (ähnlich wie bei Lenz) zu fassen, gehören zusammen. Eine mit der Fallstudie Cornelias vergleichbare und Goethes vermutlich delikateste physiognomische Charakterisierung ist die Jo h an n C as par Lav ate rs , des Meisterphysiognomikers im 18. Jahrhundert. Hier ist das schematische Modell durchgehend reduziert, und Goethe konzentriert sich auf jene Besonderheit des Individuums, das es zu erkunden gilt. Ausgangspunkt ist Goethes Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** (1773) und Lavaters Bitte um Goethes Mitarbeit an den im Entstehen begriffenen Physiognomischen Fragmenten. Der bestimmte Wunsch ist charakteristisch: Lavater möchte von Goethe „einen Heiland gezeichnet haben, wie ich ihn mir vorstellte“.60 Die christologische Perspektive des Lavater’schen Ansatzes ist damit vorgezeichnet. Doch obwohl Goethe sich dann über einen längeren Zeitraum zu einer Mitarbeit entschließt, versucht er gegenüber den mancherlei Eigenheiten Lavaters die seinigen zu betonen und hervorzuheben. Die Schwierigkeiten bestehen von Anfang an darin, dass Lavater eine lebendige Vorstellung von Christus in sich trägt und sich nicht vorstellen kann, als Mensch leben zu können, ohne zugleich ein Christ zu sein und die imitatio Christi zu leben. Goethe sieht mehr und mehr, dass es für Lavater auf ein „Entweder Christ, oder Atheist“ hinausläuft, wogegen er sich mit seinem „liberalen Weltsinn“, mit dem Hinweis auf seine eigene, auch gottgewollte Individualität zur Wehr setzt: Ein Individuum, einzig, ausgezeichnet wie man es nicht gesehn hat und nicht wieder sehn wird, sah ich lebendig und wirksam vor mir. Er [Lavater] hingegen verriet im ersten Augenblick durch einige sonderbare Ausrufungen, daß er mich anders erwartet habe. Ich versicherte ihm dagegen, nach meinem angeborenen und angebildeten Realismus, daß, da es Gott und der Natur nun einmal gefallen habe, mich so zu machen, wir es auch dabei wollten bewenden lassen.61

Damit deutet sich ein prinzipielles Problem in der Diskrepanz zwischen der Erwartung und Erscheinung an, das zum Ausgangspunkt gerade der physiognomischen Beobachtung gemacht wird. Die von Lavater bis zur Perfektion entwickelte Technik der physiognomischen Gesichtsbeschreibung nimmt Goethe zurück: „Die tiefe Sanftmut seines [Lavaters] Blick, die bestimmte Lieblichkeit seiner Lippen, selbst der durch sein Hochdeutsch durchtönende treuherzige Schweizerdialekt [s. Mund], und wie manches Andere was ihn auszeichnete, gab allen zu denen er sprach, die angenehmste Sinnesberuhigung; ja seine, bei flacher Brust, etwas vorgebogene Körperhaltung, trug nicht wenig dazu bei, die 60 Ebd., S. 659. 61 Ebd., S. 664.

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Übergewalt seiner Gegenwart mit der übrigen Gesellschaft auszugleichen.“62 Das einzige, das Goethe mit seiner wohlwollenden physiognomischen Beschreibung andeutet, ist Lavaters „größte Pein“ gegenüber „äußerer Hässlichkeit“, woraus Lavaters christologische Perspektive, die vornehmlich an Bildern von Raffael und Holbein orientiert ist, hervorscheint. Zu berücksichtigen ist dabei jene moralische Analogiebildung, die in einer späteren höchst aktuellen Gegenüberstellung von schön und hässlich ein ästhetisches Prinzip zu formulieren sucht, das folgenreich ist. Noch einmal wird Lavaters starke Präsenz im Unterschied zu Goethes differenter „Wirksamkeit“ betont: „Nun fühlte ich den Abstand zwischen meiner und der Lavater’schen Wirksamkeit nur allzu sehr: die seine galt in der Gegenwart, die meine in der Abwesenheit; wer mit ihm in der Ferne unzufrieden war, befreundete sich ihm in der Nähe; und wer mich nach meinen Werken für liebenswürdig hielt, fand sich sehr enttäuscht, wenn er an einen starren ablehnenden Menschen anstieß.“63 Hier bringt Goethe seine genaue Selbstanalyse ebenso zur Sprache wie das kontingente Verhältnis von positiver Erwartung und möglicher Enttäuschung im Medium der physiognomischen Beobachtung. Bei aller Distanz und Kritik an seiner Zudringlichkeit und den Bekehrungsversuchen bleibt Goethe fasziniert von Lavaters Persönlichkeit, bei der der „äußere Beruf [als Pfarrer] mit dem inneren vollkommen übereinstimmt“.64 Die distanzierte Zuneigung dokumentiert Goethe auch in den zustimmenden Zitaten aus den Physiognomischen Fragmenten am Beispiel der Brüder Stolberg65 und darin, dass Goethe von Lavaters Vertrauen, ihm die Auswahl einzelner von ihm gezeichneter Personen und Kupferstiche zu überlassen, nur „mäßig Gebrauch“ macht.66 Zu einer deutlichen Zäsur kommt es erst, als Lavater dem „Satan in Engelsgestalt als Verführer Christi“ die Physiognomie Goethes verleiht: „Er ist kein großer Freund von mir. Es ist lächerlich wie er über mich denkt: er hatte dem Versucher Christi in der Wüste, wie man sagt, im Kupferstiche meine Physiognomie geben lassen. Das gehört zu seinen Phantasien, die ihn oft zu übertriebenen Vorstellungen verleiten.“67 62 Ebd., S. 665. 63 Ebd., S. 666. 64 Ebd., S. 661. 65 Vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14), S. 824–829. Nach Goethes Tod von Eckermann und Stegemann ergänzt (vgl. ebd., S. 1288 f.). 66 Ebd., S. 794. 67 Zit. nach Ilsebill Barta Fliedl: Lavater, Goethe und der Versuch einer Physiognomik als Wissenschaft. In: Goethe und die Kunst. Hg. Sabine Schulze. Frankfurt/M. 1994, S. 192–203, hier S. 200.

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Das Interesse an Lavaters religiösen Vorstellungen und am „Streit zwischen Wissen und Glauben“ bleibt bestehen. Goethe liebt es, sich „zu Gunsten beider zu erklären“.68 Unter Gesichtspunkten physiognomischer Debatten fällt auf, dass sich Goethe erneut der überlieferten Tradition vergewissert, wenn er in einem Vergleich zwischen Lavater und dem Philanthropen Jo han n Be rn h ar d B as ed ow die Hauptmerkmale der unterschiedlichen Kopf-und Gesichtsbilder hervorhebt: Einen entschiedneren Kontrast konnte man nicht sehen als diese beiden Männer. Schon der Anblick Basedow’s deutete auf das Gegenteil. Wenn Lavaters Gesichtszüge sich dem Beschauenden frei hergaben, so waren die Basedowischen zusammengepackt und wie nach innen gezogen. Lavaters Auge klar und fromm, unter sehr breiten Augenlidern, Basedow’s aber tief im Kopfe, klein, schwarz, scharf, unter struppigen Augenbrauen hervorblinkend, dahingegen Lavaters Stirnknochen von den sanftesten braunen Haarbogen eingefaßt erschien.69

In Basedow erblickt Goethe ein „Gegenstück“70 zu Lavater, dessen physiognomische Arbeiten man „wohl als genial empirisch, als methodisch-kollektiv ansprechen“ dürfe, zu dem er allerdings „das sonderbarste Verhältnis“ habe.71 Dem „physiognomischen Genie“72 zollt er Anerkennung weil Lavater durch den reinen Begriff der Menschheit den er in sich trug und durch die scharfzarte Bemerkungsgabe, die er erst aus Naturtrieb, nur obenhin, zufällig, dann mit Überlegung, vorsätzlich und geregelt ausübte, im höchsten Grade geeignet [war], die Besonderheiten einzelner Menschen zu bewahren, zu kennen, zu unterscheiden, ja auszusprechen. […]. Und wirklich ging seine Einsicht in die einzelnen Menschen über alle Begriffe; […], ja es war furchtbar in der Nähe des Mannes zu leben, dem jede Grenze deutlich erschien, in welche die Natur uns Individuen einzuschränken beliebt hat.73

68 Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14), S. 668. 69 Ebd., S. 669. 70 Ebd., S. 671. 71 Ebd., S. 794. 72 Ebd., S. 820. Goethe betont in diesem Zusammenhang die besondere Rolle, die die Kupferstiche und Abbildungen in Lavaters Physiognomischen Fragmenten spielen, und lobt das besondere Talent des Zeichners Johann Heinrich Lips, der einen wesentlichen Anteil am Erfolg dieses Werks habe: „Er war in der Tat zur freien prosaischen Darstellung des Wirklichen geboren, worauf es denn doch eigentlich hier ankam. Er arbeitete unter dem wunderlich fordernden Physiognomisten, und mußte deshalb genau aufpassen, um sich den Forderungen seines Meisters anzunähern; der talentreiche Bauernknabe fühlte die ganze Verpflichtung, die er einem geistlichen Herrn aus der so hoch privilegierten Stadt schuldig war, und besorgte sein Geschäft aufs beste.“ (Goethe: Dichtung und Wahrheit [FA 14], S. 795). 73 Ebd., S. 820 f.

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Gerade deswegen besteht Goethe auf einer Erweiterung und partiellen Aufhebung des traditionalen physiognomischen Schemas. Hypothetisch-fiktionale Charakterisierung wie beim Porträtieren Cornelias und teilnehmende Beobachtung als Hermeneutiker des Selbst stehen im Zentrum. Lavaters Postulat von der „Mahlerkunst [als] Mutter und Tochter der Physiognomik“ nimmt Goethe ernst.74 Die emblematische Bild-Text-Struktur bleibt erhalten, Versprachlichung und Diskursivierung des Gesichtsbildes sind die Herausforderung; Karl Philipp Moritz ist als Vorbild erkennbar in seiner Poetik der Menschenbeobachtung. Produktive und subtile Kritik der Physiognomik zugunsten des übergreifenden Interesses am Ineffabilen und widerspruchsvollen Reichtum des indefiniten Individuums ist Goethes Ziel: Man wird sich öfters nicht enthalten können, die Worte Physiognomie, Physiognomik in einem ganz weiten Sinn zu gebrauchen […]. Stand, Gewohnheit, Besitzthümer, Kleider, alles modificirt, alles verhüllt ihn. Durch alle diese Hüllen bis auf sein Innerstes zu dringen, selbst in diesen fremden Bestimmungen feste Punkte zu finden von denen sich auf sein Wesen sicher schließen läßt, scheint äußerst schwer, ja unmöglich zu sein. Nur getrost! Was den Menschen umgibt, wirkt nicht allein auf ihn er wirkt auch wieder zurück auf selbiges, und indem er sich modificieren läßt, modificiert er wieder rings um sich her […]. Die Natur bildet den Menschen, er bildet sich um, und diese Umbildung ist doch wieder natürlich; er der sich in die große weite Welt gesetzt sieht umzäunt, ummauert sich eine kleine drein, und staffiert sie aus nach seinem Bilde.75

Goethe weiter: Auf alles wirkt verhältnismäßig in der Welt, das werden wir noch oft zu wiederholen haben. Das allgemeine Verhältniß erkennet nur Gott; deswegen alles menschliche, philosophische und so auch physiognomische Sinnen und Trachten am Ende auf ein bloßes Stottern hinauslauft.76

Für eine solche Erweiterung der Physiognomik stehen Goethe alle literarischen Mittel zu Gebote – eine Vielfalt von Formenbildung ist die Folge. Die Über-Setzung des Personen-Bildes in eine sprachliche Form bleibt ein unabschließbarer Prozess. Der „Menschen-Mahler“ (so Goethe über sich selbst) ist ein Schriftkünstler. Das physiognomische Schreiben bietet dem Beobachter ein bestimmtes Mittel für die Wirklichkeitskonstruktion des Ich in der Autobiografie. Bildung, Umbildung im Sinne von „Gestaltung und Umgestaltung“ dienen der Identitätsstiftung des Ich. Hier kann die Morphologie eine neue Rolle im physio74 Vgl. Lavater: Physiognomische Fragmente (zit. Reclam-Ausg.), S. 42. 75 Goethes „Antheil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten. Von der Physiognomie überhaupt. Zugabe“. In: WA I, 37, S. 328–361, hier S. 329 f. 76 Ebd., S. 337.

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gnomischen Denken spielen. Den Lesern werden keine Grenzen gesetzt: Ihre je individuelle Lektüre macht eine eigene psychologische Operation notwendig; dem „Ineffabile“ des Individuums entspricht eine potenziell unabschließbare unendliche Auslegung.

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Der anekdotische Vorfall. Notiz zu einem Erzählverfahren in Dichtung und Wahrheit In einer 1812 niedergeschriebenen Notiz stellt Jean Paul fest: „In Goethes Biographie ist mehr das Leben um ihn als in ihm dargestellt.“1 Acht Jahre später verschärft er den Gedanken: „Mein Leben kann nur ich beschreiben, weil ich das Innere gebe; das von Göthe hätte ein Nebenherläufer beobachten und also mittheilen können.“2 Zutreffend sind insofern die zitierten Bemerkungen, als Dichtung und Wahrheit in der Tat keine aus der Innenschau erzählte Seelengeschichte bietet. Die Ichtransparenz, die Jean Paul voraussetzt, steht Goethe nicht zur Verfügung. Die Schlussfolgerung, dass Goethes Lebensbeschreibung nur Äußeres zur Darstellung bringe, dass sie die subjektive Seite menschlichen Lebens verfehle oder (aus welcher unterstellten Motivation auch immer) absichtlich verhehle, ist allerdings nur dann berechtigt, wenn man Subjektivität mit dem Bewusstseinsstrom gleichsetzt. Begreift man Subjektivität hingegen als ein Vermitteltes, dann sind andere Darstellungsmodi als die Angleichung der Sprache an das laufend Empfundene erfordert. Zur Illustration von Goethes Behandlung des autobiographischen Ichbezugs greife ich die im Siebzehnten Buch gebrachte Schilderung des emotionalen Zustandes heraus, der nach der Entscheidung zur Verlobung beim jungen Goethe eintritt. „Es war ein seltsamer Beschluß des hohen über uns Waltenden daß ich in dem Verlaufe meines wundersamen Lebensganges doch auch erfahren sollte wie es einem Bräutigam zu Mute sei.“3 Beim Leser stellt sich hier die Erwartung ein, dass die Formel „wie einem zumute sei“ sogleich eine inhaltliche Konkretisierung erfahren wird, und zwar in Gestalt von Sätzen, in denen das Pronomen der ersten Person vorherrscht. Stattdessen aber folgt dieser Absatz: Ich darf wohl sagen daß es für einen gesitteten Mann die angenehmste aller Erinnerungen sei; es ist erfreulich sich jene Gefühle zu wiederholen die sich schwer aussprechen und

1 Jean Paul: Lebenserschreibung. Veröffentlichte und nachgelassene autobiographische Schriften. Hg. von Helmut Pfotenhauer unter Mitarbeit von Thomas Meißner. München 2004, S. 99. 2 Ebd., S. 115. 3 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Abtlg. I, Bd. 14. Hg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt/M. 1986, S. 765. [Zitiert im Folgenden: Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14); andere Werke in der Frankfurter Ausgabe analog: Titel (FA Bd.)]. https://doi.org/10.1515/9783110759426-003

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kaum erklären lassen. Der vorhergehende Zustand ist durchaus verändert; die schroffsten Gegensätze sind gehoben, der hartnäckigste Zwiespalt geschlichtet; die vordringliche Natur, die ewig warnende Vernunft, die tyrannisierenden Triebe, das verständige Gesetz welche sonst in immerwährendem Zwist uns bestritten, alle diese treten nunmehr in freundlicher Einigkeit heran und bei allgemein gefeiertem frommen Feste wird das Verbotene gefordert und das Verpönte zur unerläßlichen Pflicht erhoben.4

Von Gefühlen, derer man sich gern erinnert, und also von einem subjektiv empfundenen Zustand ist zwar die Rede, aber eine Evokation der erwähnten Gefühle in ihrem Gegenstandsbezug und ihrer besonderen Färbung bleibt aus. Kein Gefühlsinhalt, kein unmittelbar Verspürtes kommt zur Sprache. Vielmehr wird der semantische Fokus weg vom individuellen Ich hin zum sozialnormativen Typus (dem „gesitteten Mann“) gelenkt, dem das sich erinnernde Ich zuzurechnen sei. Es folgt dann eine recht allgemein formulierte Beschreibung des gesellschaftlich bedingten Strukturwandels, der stattfindet, wenn das erinnerte Ich zum Bräutigam und damit zum sittlichen Subjekt wird. Das subjektive Gefühlsleben wird als Funktion eines rite de passage begriffen, eines rituell organisierten Statuswechsels, der im „frommen Fest“ der Verlobung den durch das Liebeserlebnis zugespitzten Konflikt zwischen Begehren und Moral in Harmonie überführt. Dass dadurch „das Verpönte“ (die sexuelle Intimität) „zur unerläßlichen Pflicht erhoben“ wird, notiert die Autobiographie mit einer ironisch gefärbten Sachlichkeit, welche den Vorgang der Verlobung der Teilnehmerperspektive entreißt und zum Gegenstand analytischer Erkenntnis werden lässt. Subjektivität wird also in ihrer gesellschaftlich-kulturellen Vermittlung erfasst, das heißt: im Hinblick auf allgemeine Strukturbedingungen, die dem aktuellen Erlebnis unzugänglich sind. Nach dieser Erkenntnisleistung kann sich die autobiographische Instanz der Schicht des unmittelbaren Erlebens wieder zuwenden, um eine durch den Statuswechsel bewirkte „Sinnes-Veränderung“ herauszustellen: „war sie [Lili] mir bisher schön, anmutig, anziehend vorgekommen, so erschien sie mir nun als würdig und bedeutend.“5 Durch den mit der Verlobung einhergehenden Statuswechsel gewinnt auch der geliebte Gegenstand eine neue soziale Sinndimension. Lilis primäre Erscheinungsweise der Attraktivität wird nunmehr durch den Charakterwert der Würde ergänzt. Die Erlebnisqualität („ich schaute es, ich durchblickte es und freute mich dessen als eines Kapitals von dem ich zeitlebens die Zinsen mit zu genießen hätte“6) wird durchaus zur Darstellung gebracht, aber so, dass die ihr zugrunde liegende allgemeine Gesetzmäßigkeit thematisch wird. Nicht das blanke Außen, wie Jean Paul 4 Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14), S. 765 f. 5 Ebd., S. 766. 6 Ebd.

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meinte, ist Gegenstand von Dichtung und Wahrheit, sondern die komplex geschichtete Durchdringung von Subjektivem und Objektivem, von Einzelnem und Allgemeinem. Die am Beispiel aufgewiesene Vermitteltheit der Darstellung ist für die gesamte Textstruktur charakteristisch. Die Erzählhaltung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die Ereignisebene – die Ebene des konkreten Geschehens – nur aus der Distanz vergegenwärtigt. Über große Strecken wird iterativ erzählt. Von dem, was auf einer bestimmten Lebensetappe zu geschehen pflegte, wird berichtet, wobei zeitpunktfixierte Ereignisse oft gar nicht vorkommen. Stattdessen werden Tendenzen, typische Entwicklungslinien innerhalb bestimmter Lebensdimensionen, summarisch geschildert. Iteratives Erzählen ist natürlich eine Technik, die in der Geschichtsschreibung prominent ist. Es eignet sich zur Darstellung von Milieus und zur Erfassung von Prozessen, die nicht an individuell Handelnde gebunden sind. Hat man die Prominenz dieser Form des narrativen Diskurses im Blick, dann wird deutlich, wie kontextuell Goethe seine Autobiographie anlegte. Konkrete Handlungsfolgen, insofern sie überhaupt vorkommen, werden in umfassende Kontexte eingebettet, welche den Lebensverlauf bestimmen. Die Lebenskontexte gewinnen ihren affektiven bzw. intellektuellen Wert durch die einzelnen Persönlichkeiten, die sie bevölkern. In diesem Zusammenhang kommt eine zweite Textform sehr effektiv zum Tragen, nämlich das Porträt: die selten über eine Seite hinausreichende, einprägsame Charakterskizze. Als Dokument bemerkenswerter, teilweise auch prägender Begegnungen ist Dichtung und Wahrheit in der Tat eine reichhaltige historische Porträtgalerie um die leere Mitte des nur indirekt und gleichsam reflexiv porträtierten Dichters organisiert. Kennzeichnend für diese Schicht des Werks ist, dass gerade bei denjenigen Persönlichkeiten, deren innerer Komplexität im Porträt Rechnung getragen wird und deren Bedeutung für Goethe zweifelsohne tiefgreifend war, bei Cornelia zum Beispiel oder bei Herder, szenisch dargestellte Interaktion eher selten vorkommt. Zur Distanzierungstendenz gehört auch, dass die genannten Erzählschichten durch allgemeine Reflexionen philosophischen, psychologischen, theologischen oder kunst- und literaturhistorischen Inhaltes ergänzt werden, eine Technik, welche die narrative Darstellung in begriffliche Deutungsmuster überführt. Zusammengenommen verbinden sich die drei genannten Textschichten zu einer relativ statischen Konstruktion, welche dadurch in Bewegung kommt, dass sie von Ereignisfolgen, in denen das erinnerte Ich die Hauptrolle spielt, durchzogen wird. Diese werden auch oft aus der Distanz erzählt, wie zum Beispiel beim Bericht von der ersten Einweihung in die Geheimnisse der Kunst am Anfang des Achten Buches. Hier ist Interaktion kaum zu beobachten, Goethe und Oeser sehen wir nicht einmal zusammen und die Lernkurve des Adepten wird nur in abstrakten Begriffen nachgezeichnet. Eine

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andere Möglichkeit der Narrativierung ist das vom beobachtenden Erzählsubjekt verfolgte öffentliche Ereignis, am grandiosesten vielleicht in der Darstellung der Kaiserkrönung im Fünften Buch. Selten, aber einprägsam sind kontinuierliche Ereignissequenzen, in denen Goethe als Handlungssubjekt (Protagonist) auftritt. Diese können aus lose verbundenen Ereignisketten (Rheinreise, Reise in die Schweiz) bestehen oder so durchgeformt und dramatisch zugespitzt sein, dass sie novellistisch wirken. Die Gretchengeschichte, die mit der Kaiserkrönung raffiniert verknüpft wird, sowie die Sesenheimer Idylle, die eine Verkleidungsgeschichte mit einem Goldsmith-Nachspiel verwebt, sind in diesem Sinne durchkomponierte Episoden. Diese knappe Auflistung der Techniken, die zur Konstruktion der Autobiographie beitragen, soll die komplexe Vermittlungsarbeit und die ins Begriffliche ausgreifende Tendenz, die an der Verlobungsepisode aufgezeigt wurden, als Merkmale des ganzen Werks ausweisen. Damit komme ich zur zentralen Fragestellung dieses kleinen Beitrags. Sind nämlich Distanzierung von der Ereignisebene, Thematisierung von großflächigen Entwicklungen, Exkurse zur historischen Kontextualisierung, statische Charakterskizzen und begriffliche Erklärungsangebote prägende Züge der autobiographischen Darstellung, dann stellt sich die Frage nach Sinn und Funktion der erzählten Vorfälle, die – in deutlichem Kontrast zur Haupttendenz der Darstellung – den Text von Dichtung und Wahrheit interpunktieren. Gekennzeichnet sind diese erzählten Vorfälle nämlich a) durch ihre Knappheit: sie erstrecken sich selten über einen einzigen Absatz; b) durch ihre äußerste Nähe zur Ereignissequenz: sie gehen oft im Sekundenschritt vor; c) durch ihre Isolation: sie zeitigen keine Konsequenzen für den weiteren Verlauf der Lebensgeschichte; d) durch ihre Ereignisstruktur: sie inszenieren eine plötzlich und unerwartet eintretende Wendung. Ich schlage vor, diese der dominanten narrativen Tendenz gegenläufigen Einsprengsel als anekdotische Vorfälle oder schlicht als Anekdoten zu bezeichnen. An dieser Stelle ist allerdings eine terminologische Klärung erforderlich. In Dichtung und Wahrheit verwendet Goethe den Begriff Anekdote selten. Im Dreizehnten Buch zum Beispiel berichtet er von einem während der Rheinreise abgestatteten Besuch beim Grafen von La Roche. Wenn er seinem Bericht eine „Anekdote von dem großen praktischen Sinne des Grafen“7 einflicht, dann 7 Ebd., S. 608.

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verwendet er den Begriff in dem seit Prokopius geläufigen Sinn einer unveröffentlichten Geschichte über das Privatleben einer bekannten Person. Dementsprechend handeln die Anekdoten (es sind nämlich deren zwei), die Goethe an der Stelle liefert, von bizarr zu nennenden Eigenheiten des gräflichen Amtsund Liebeslebens, die auch dessen Schreiber involvieren. Die zwei kurzen Erzählungen gehen gänzlich in ihrer Enthüllungsfunktion auf und entbehren jeglicher narrativen Prägnanz. Gerade die Verdichtung zu einer prägnanten narrativen Gestalt ist jedoch für die anekdotischen Vorfälle, um die es im Folgenden geht, wesentlich. Die Anfangspartien eines narrativen Textes haben unter anderem die Aufgabe, den Leser auf den Wechsel der im Werk gehandhabten Erzähltempi und -haltungen einzustimmen. Deswegen ist Goethe in den ersten Büchern von Dichtung und Wahrheit ersichtlich darum bemüht, auch die kleine Erzählform des anekdotischen Vorfalls als einen besonderen narrativen Typus zu exponieren. Mit dem Abschluss des Zweiten Buches ist die nötige rhythmische Kompetenz erreicht. Hier wird nämlich eine in ihrer Slapstick-Komik unvergessliche Anekdote gebracht: die Geschichte von der fatalen Klopstock-Rezitation, bei der Cornelias Ausruf: „O wie bin ich zermalmt!“ dazu führt, dass „der Chirurgus dem Vater das Seifenbecken in die Brust“ ausschüttet.8 Das fällt schon von sich auf, wird aber deswegen als besonders signifikant registriert, weil dem Leser das Ende des Ersten Buches noch gegenwärtig ist. Auch dort wurde eine Anekdote eingesetzt, um der ersten Kindheitsphase einen markanten Abschluss zu verleihen. Gemeint ist die feierliche Andacht, die der junge Johann mit dem „rotlackierten, goldgeblümten Musikpult“ veranstaltet und deren Wiederholung die katastrophale Konsequenz hat, dass sich die dazu verwendeten Räucherkerzen „in den roten Lack und in die schönen goldnen Blumen auf eine schmähliche Weise“ einbrennen.9 Bei Wahrnehmung dieses kompositorischen Parallelismus drängt sich die Frage auf, ob für Dichtung und Wahrheit generell gilt, dass das Ende eines Buches durch eine Anekdote besiegelt wird. Das Dritte Buch, das mit der Einquartierung des Königslieutenant Thoranc anhebt, schließt jedoch mit dessen Weggang und der später erhaltenen Nachricht, er sei in Westindien gestorben: eine wirkungsvolle, fast elegische Abschlussgeste, aber eben keine Anekdote. Nichtsdestoweniger lässt die das Ende markierende Funktion der Anekdoten am Schluss der beiden ersten Bücher die Erwartung aufkommen, dass dieser Erzählform in Dichtung und Wahrheit eine besondere Signifikanz zukommt. Und diese Erwartung steuert die weitere Lektüre, stellt den Leser auf

8 Ebd., S. 92. 9 Ebd., S. 52.

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den Wechsel im Erzählrhythmus ein, den ein anekdotischer Vorfall mit sich bringt. An dieser Stelle ist eine allgemeine Anmerkung einzuschalten. Die Anekdote (im hier gemeinten Sinne) ist eine Textsorte, an der es deswegen wenig zu interpretieren gibt, weil sie den erzählten Vorfall knapp und nackt darstellt. Kürze und Transparenz verbinden sich in der Anekdote mit ausschließlicher Fokussierung des Geschehens. Die Begebenheit, die auf dieser erzähltechnischen Schwundstufe in Erscheinung tritt, tendiert dazu, sich in die stumme Singularität ihres Vorkommens zurückzuziehen. Sinnentfaltung wird eher blockiert als ausgelöst. Eine gute Anekdote interpretiert man nicht; man wiederholt sie. Im nochmaligen Erzählen – und zwar im mündlichen Erzählen – hat die Anekdote ihre primäre Tradierbarkeit. Auch die Anekdote im oben erwähnten traditionellen Sinn hat in der Konversation ihren Sitz im Leben, wie Goethe einmal bemerkte: „Eine Sammlung von Anecdoten und Maximen ist für den Weltmann der größte Schatz, wenn er die ersten an schicklichen Orten ins Gespräch einzustreuen, der letzten im treffenden Falle sich zu erinnern weiß.“10 Der schickliche Ort im Gespräch ist eben der günstige Moment, den es zu ergreifen gilt, um in der Konversation Erfolg zu erzielen. Wenn Goethe daher in den Noten und Abhandlungen schreibt: „die ganze Nation ist geistreich, wie aus unzähligen Anecdoten hervortritt“,11 bezieht sich das Adjektiv sowohl auf den Einsatz der Anekdote im geselligen Austausch als auch auf den anekdotisch vergegenwärtigten Vorfall. Geistreich ist die gelungene Anekdote in beiden Hinsichten. Somit ist an der Anekdote eine Konsonanz zwischen Dargestelltem und Performanz zu beobachten. Beide sind Erscheinungsweisen des im Vollzug ergriffenen Augenblicks. Das Interesse des Themas Anekdote für eine Diskussion über Dichtung und Wahrheit liegt nicht zuletzt in diesem Augenblicksbezug. Freilich, gerade aufgrund der exponierten Positionierung am Ende eines Buches scheinen die erwähnten Anekdoten exemplarischen Status anzunehmen. Der kompositionelle Stellenwert suggeriert das Vorhandensein eines allgemeinen Sinns. Man könnte zum Beispiel mutmaßen, dass die schlimmen Folgen eines voreiligen Ausgriffs nach dem Göttlichen, sei es durch die eigens veranstaltete Gottesfeier, sei es auf den poetischen Schwingen von Klopstock-Versen, vorgeführt werden. Schon die Formulierung einer solchen Sinnzuschreibung lässt sie jedoch in sich kollabieren. Denn die Wirkungsmacht der einen Anekdote hängt vom roten Lack und von den Goldblumen, vom Fehlen der Porzellantasse, vom Triefen der Räucherkerzen ab, während die andere ihre explosive Komik der Kollision von Hexameter und Seifenbecken verdankt. Was hier insze10 Goethe: Eigenes und Angeeignetes (‚Über Kunst und Altertum‘ IV 2). In: FA I, 21, S. 429. 11 Goethe: West-östlicher Divan. Besserem Verständnis (Allgemeinstes). In: FA I, 3/1, S. 182.

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niert wird, ist kein allgemeiner Sinn. Die sehr tentative Mutmaßung, womit Goethe die Kerzenanekdote abschließt („[…] fast möchte man diesen Zufall als eine Andeutung und Warnung betrachten, wie gefährlich es überhaupt sei, sich Gott auf dergleichen Weise nähern zu wollen“12) ist ironisch zu lesen. Ist an den Anekdoten eine Darstellungsintention vorhanden, dann zielt sie auf die nicht in Sinn überführbare Einmaligkeit des Geschehens, letztlich auf die Idiotie des Realen.13 Konstitutiv für den erzählten Vorfall ist, dass er sich der Aufhebung ins Allgemeine widersetzt; sie wäre Auflösung seines realen Gehalts. Es ist in diesem Zusammenhang erhellend, dass Goethe das erzählte Ereignis der Kerzenanekdote einen „Zufall“ nennt, denn die gegenseitige Berührung (vgl. lat. contingere) der verschiedenen Faktoren, welche das Ereignis zeitigt, konfiguriert ein Paradebeispiel von Kontingenz. Und zwar von Außenkontingenz und Innenkontingenz, denn nicht nur die partikulare Konfiguration der Dinge und Menschen, nicht nur die Kollision von Cornelias Schrei und der gefährlichen Position des Seifenbeckens ist hier wichtig. Auch aus der spontan sich äußernden Lebenskraft des jungen Johann Wolfgang geht die Katastrophe hervor. Schon sehr früh in Dichtung und Wahrheit kommt dieses vitale Moment zum Vorschein, nämlich in der allerersten Anekdote des Ersten Buches, die von Freud herausgehobene „Kindheitserinnerung“ vom aus dem Fenster geschmissenen Geschirr.14 Denn das, woran sich das Kind so sehr freut, ist, dass das hinausgeworfene Geschirr „so lustig zerbrach.“15 Zum Verständnis der Stelle bedarf es keiner unterstellten Hintergrundmotivation (Freud: Eifersucht angesichts der erwarteten Geburt eines Geschwisters). Es geht vielmehr um die vitale Kraft, die, indem sie sich zerstörerisch äußert, Lust an sich selber verspürt. Der paradigmatische Wert der Anekdote ist darin zu sehen, dass in ihr die diesem Kind eigene Spontaneität ihren angemessenen Ausdruck findet. Das macht sie zu einem unverzichtbaren autobiographischen Datum. Eine Anekdote aus dem Fünften Buch zeigt den zuletzt thematisierten Aspekt in einem kollektiven Zusammenhang. Es handelt sich um die große Prozession der Herrscher bei der Kaiserkrönung. Von ihr schreibt Goethe: Wir sahen ihn [den Zug] so wie den ganzen volkserfüllten Platz beinah im Grundriß. Nur zu sehr drängte sich am Ende die Pracht: denn die Gesandten, die Erbämter, Kaiser und König unter dem Baldachin, die drei geistlichen Kurfürsten die sich anschlossen, die

12 Ebd., S. 52. 13 Vgl., Clément Rosset: Le réel. Traité de l’Idiotie. Paris 1977 (mit mehreren literarischen Beispielen). 14 Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung aus Dichtung und Wahrheit, in: Ders.: Studienausgabe Bd. 10. Bildende Kunst und Literatur. Frankfurt/M. 1969, S. 255–267. 15 Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14), S. 16.

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schwarz gekleideten Schöffen und Rathsherren, der goldgestickte Himmel, alles schien nur eine Masse zu sein, die nur von Einem Willen bewegt, prächtig harmonisch, und so eben unter dem Geläute der Glocken aus dem Tempel tretend, als ein Heiliges uns entgegenstrahlte.16

Das bei allem Gedränge doch statisch wirkende Bild lässt in der Vielheit der Versammelten die Einheit des herrschaftlichen Willens erkenntlich werden und verbürgt dadurch Stabilität und Harmonie der religiös-politischen Ordnung. Ihm schlägt dann auch vom Markt her ertönender Jubel entgegen, denn, wie Goethe rückblickend hervorhebt, „dieses große Fest sollte ja das Pfand eines dauerhaften Friedens werden, der auch wirklich lange Jahre hindurch Deutschland beglückte.“17 Unmittelbar auf die Beschreibung dieses großen, Gesetz und Ordnung ausstrahlenden Symbols lässt Goethe dann eine Anekdote folgen, die folgendermaßen lautet: Mehrere Tage vorher war durch öffentlichen Ausruf bekannt gemacht, daß weder die Brücke noch der Adler über dem Brunnen, Preis gegeben, und also nicht vom Volke wie sonst angetastet werden solle. Es geschah dies, um manches bei solchem Anstürmen unvermeidliche Unglück zu verhüten. Allein um doch einigermaßen dem Genius des Pöbels zu opfern, gingen eigens bestellte Personen hinter dem Zuge her, lös’ten das Tuch von der Brücke, wickelten es bahnenweise zusammen und warfen es in die Luft. Hiedurch entstand nun zwar kein Unglück, aber ein lächerliches Unheil: denn das Tuch entrollte sich in der Luft und bedeckte, wie es niederfiel, eine größere oder geringere Anzahl Menschen. Diejenigen nun welche die Enden faßten und solche an sich zogen, rissen alle die Mittleren zu Boden, umhüllten und ängstigten sie so lange, bis sie sich durchgerissen oder durchgeschnitten, und jeder nach seiner Weise einen Zipfel dieses, durch die Fußtritte der Majestäten geheiligten Gewebes davongetragen hatte.18

Der anekdotisch inszenierte Vorfall entfaltet sich kontrapunktisch zur Sinnsynthese des politischen Ordnungssymbols. Hier herrscht nicht das Gesetz, sondern der Tumult; hier weicht der vereinheitlichende Wille des Herrschers dem Chaos der blind begehrenden Einzelnen. Das lächerliche Unheil der vom Tuch bedeckten Menge ist den Katastrophen von Musikpult und Seifenbecken vergleichbar. Das geheiligte Gewebe wird zerschnitten und zerrissen. Subjektiv wurzelt die „wilde Belustigung“ der Szene im „Genius des Volks“, objektiv in den nicht voraussehbaren Fügungen des Zufalls. Und damit wiederholt sich auf der Ebene des gesellschaftlichen Lebens die Konfiguration, die wir aus den ersten beiden Büchern kennen. Unbändige Vitalität verbindet sich mit der Kontingenz von Lage und Gegenständen, um ein einmaliges, die routinierten Vorgän16 Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14), S. 221. 17 Ebd., S. 222. 18 Ebd., S. 222.

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ge durchbrechendes Ereignis zu zeitigen. Der Beitrag der Anekdote zur Autobiographie besteht darin, dass sie dieser momenthaft aufblitzenden Konfiguration eine sprachliche Form verleiht und damit dem Unverfügbaren, welches das eigene Leben mitbedingt, narrativ gerecht wird. Mit dem Fortschritt der Lebensbeschreibung gestalten sich die Anekdoten weniger körperlich. Slapstick sublimiert sich zum witzigen Umschlag; die Lebensspontaneität äußert sich als geistreiche Improvisation. Ein gutes Beispiel bietet ein Erlebnis Goethes auf der Reise nach Leipzig. Der erste Satz der Anekdote kündigt den erlebten Glückswechsel an: „Doch sollte ich noch in derselbigen Nacht, als wenn sie recht zu abwechselnden Schicksalen bestimmt gewesen wäre, nach einem unerwartet glücklichen Ereignis, einen neckischen Verdruß empfinden.“19 Mit dem „glücklichen Ereignis“ ist die Wahrnehmung eines optischen Phänomens gemeint, das auf der Fahrt nach der Universitätsstadt Leipzig die Aufmerksamkeit des jungen Goethe auf sich zieht: „Es blinkten nämlich in einem trichterförmigen Raume unzählige Lichtchen stufenweise über einander, und leuchteten so lebhaft, daß das Auge davon geblendet wurde.“20 Das Glück der sonderbaren Wahrnehmung, wofür keine Erklärung angegeben wird, besteht gewiss darin, dass es den Aufgang eines wissenschaftlichen Interesses markiert, das Goethe sein Leben lang in Bann halten wird. „Glücklich“ ist mit anderen Worten das Ereignis, weil es – vergleichbar dem Glücklichen Ereignis der Begegnung mit Schiller21 – auf den umfassenden Gang von Goethes Leben produktiv einwirkt. Dem entgegengesetzt ist der „neckische“ (im Sinne etwa von schelmisch, possenhaft, närrisch) Vorfall, der am gleichen Abend Goethes Lebensweg durchkreuzt und in der autobiographischen Lebensrekonstruktion sich zu einer Anekdote gestaltet. In einem Gasthaus zu Auerstädt wird Goethe zusammen mit seiner Begleitung zum gemeinsamen Essen am Tisch eines eleganten Ehepaars eingeladen. Der Mann ist ansehnlich, würdig, seine Gemahlin so schön, dass Goethe sich bemüht, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, was ihm auch in Ansätzen gelingt. Dann aber nehmen die Dinge eine fatale Wendung: Als ich aber hinausgesandt ward, die gehoffte Suppe zu beschleunigen, überfiel mich, der ich freilich des Wachens und der Reisebeschwerden nicht gewohnt war, eine so unüberwindliche Schlafsucht, daß ich ganz eigentlich im Gehen schlief, mit dem Hut auf dem Kopfe wieder in das Zimmer trat, mich, ohne zu bemerken, daß die Anderen ihr Tischge-

19 Ebd., S. 267. 20 Ebd., S. 267. 21 Vgl. den 1817 im ersten Heft zur Morphologie publizierten Aufsatz Glückliches Ereignis (Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Abtlg. I, Bd. 24, S. 434–438).

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bet verrichteten, bewußtlos gelassen gleichfalls hinter den Stuhl stellte, und mir nicht träumen ließ, daß ich durch mein Betragen ihre Andacht auf eine sehr lustige Weise zu stören gekommen sei.22

Die durch die strapaziöse Reise verursachte physische Erschöpfung, die animierende Gegenwart der schönen Dame, die Übereilung, die Fehleinschätzung der eigenen Kräfte, die Gleichzeitigkeit von Goethes Rückkehr zum Tisch mit dem Gebet der Gäste, und dann natürlich auch der unbemerkte Hut: Diese Elemente fügen sich im Augenblick zu einem kleinen Skandal und zur Betroffenheit Goethes. Auch hier wird Andacht gestört und Goethe selbst, in seinem bewusstlosen Dastehen, ist der Störfaktor. Das reichte zu einer Anekdote hin. Aber Goethe verleiht der Episode eine nochmalige, nun aber glückliche Wendung: Madame Fleischer, der es weder an Geist und Witz, noch an Zunge fehlte, ersuchte die Fremden, noch ehe man sich setzte, sie möchten nicht auffallend finden, was sie hier mit Augen sähen; der junge Reisegefährte habe große Anlage zum Quäker, welche Gott und den König nicht besser zu verehren glaubten, als mit bedecktem Haupte. Die schöne Dame, die sich des Lachens nicht enthalten konnte, ward dadurch nur noch schöner, und ich hätte alles in der Welt darum gegeben, nicht Ursache an einer Heiterkeit gewesen zu sein, die ihr so fürtrefflich zu Gesicht stand. Ich hatte jedoch den Hut kaum beiseite gebracht, als die Personen, nach ihrer Weltsitte, den Scherz sogleich fallen ließen, und durch den besten Wein aus ihrem Flaschenkeller Schlaf, Mißmut und das Andenken an alle vergangenen Übel völlig auslöschten.23

Der Situationskontingenz tritt eine Kraft entgegen, die durch eine den Moment glücklich ergreifende spontane Reaktion die Katastrophe abwendet. Was sich in den früher zitierten Anekdoten als Lebenskraft zeigte, kommt hier als geistreicher Witz, als Schlagfertigkeit zum Vorschein. Entscheidend ist die Bemächtigung des Augenblicks. Geistreich ist derjenige Weltmann, so hieß es in der oben zitierten Bemerkung Goethes, der an schicklichen Orten die passende Anekdote dem Gespräch einzustreuen versteht. Die Anspielung auf die Quäker-Sitte, die Madame Fleischer im richtigen Moment den frommen Tischgenossen vorlegt, löst deren keimende Empörung auf. Ihre gelungene Sprachgeste erweist sich als geistreich in Goethes Sinne. Geist und Witz sind die Fähigkeiten, welche dem auf eine Katastrophe zusteuernden Geschehen im Augenblick eine glückliche Wendung geben, aber sie vermögen es auch, augenblickliche Wendungen sprachlich zu inszenieren und damit Lust zu entbinden. Die Verwandtschaft zur Spontaneität des Kindes besteht im unüberlegten Charakter des Vollzugs. Nicht nach Plan, nicht einer Maxime gemäß wird gehandelt, sondern aus 22 Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14), S. 268. 23 Ebd., S. 268.

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unvordenklichen Ressourcen. Zwar äußert sich die Spontaneität in diesem Fall innerhalb einer Lebenshaltung, die durch die Norm des Schicklichen geprägt ist, aber das heißt nur, dass auch auf der Stufe geistig-sittlichen Verkehrs selbsttätige Lebendigkeit sich als bestimmenden Faktor erweist. In der Anekdote wird diese vitale Dimension menschlicher Erfahrung reflektiert und gefeiert. Hierauf wird zurückzukommen sein. Zu behaupten, Dichtung und Wahrheit enthalte eine Poetik der Anekdote, wäre zu viel gesagt. Allerdings werden Überlegungen formuliert, die sich durchaus als Ansätze zu einer theoretischen Erfassung der Form deuten lassen. Das geschieht nicht zufällig im Siebten Buch, nicht nur, weil dort die Entstehung von Goethes ersten dichterischen Werken vorm Hintergrund des damaligen literarischen Lebens geschildert wird, sondern auch, weil in jenem Abschnitt eine Figur von eminenter Bedeutung ihren Auftritt hat. Gemeint ist Behrisch, den Goethe als einen „der wunderlichsten Käuze, die es auf der Welt geben kann“ vorstellt. „Seine größte Lust war,“ so begründet Goethe sein Urteil, „sich ernsthaft mit possenhaften Dingen zu beschäftigen und irgendeinen albernen Einfall bis ins Unendliche zu verfolgen.“24 So handelt etwa das letzte Viertel des Siebten Buches von den „Späßen und Torheiten“, eben den „Possen“, die Behrisch als Gruppenunternehmungen orchestriert oder solo durchführt. Dabei geht es allerdings nicht wie in der Faustszene Auerbachs Keller in Leipzig grob und gemein zu. Goethe betont vielmehr, dass Behrisch „einen ganz besonderen Widerwillen gegen alles Rohe [hatte], und seine Späße waren durchaus barock, ohne jemals ins Derbe oder Triviale zu fallen.“25 Hier ist also eine gewisse Vergeistigung des Possenhaften zu beobachten, wie sie auch die eben referierte Auerstädter Anekdote aufweist. Es gehört nun zur Komposition des Siebten Buches, dass das Thema des Possenhaften in sinnfälligem Kontrast zu einem anderen Leitthema dieses Abschnitts steht, nämlich der Unnatur des orthodoxen Christentums und des moralischen Rigorismus. In diesem Buch nämlich – und solche Rückblenden sind in Dichtung und Wahrheit äußerst selten – gedenkt Goethe des Scheiterns seines ersten Gangs zur Beichte. Die Passage gehört zu den prägnantesten Anekdoten der Autobiographie. In ihrer Eindringlichkeit bereitet sie den Satz vor, der gleich auf sie folgt: dass „ich mich, sobald ich Leipzig erreicht hatte, von der kirchlichen Verbindung ganz und gar loszuwinden suchte.“26 Die Abwendung von der auf Sünde und Strafe fixierten und dadurch im Erleben des jungen Goethe krankmachenden Religion fällt mit der Hinwendung zur studentischen Kultur der aus dem Stegreif erfundenen Späßen, Torheiten 24 FA I, 24, S. 324 f. 25 Ebd., S. 326. 26 Ebd., S. 322.

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und Possen zusammen. Die semantische Pointe dieser autobiographischen Konstruktion ist wohl darin zu sehen, dass die Streiche und Possen die Lebenslust freisetzen, welche die Religion gelähmt hatte. Auf diesen für Dichtung und Wahrheit wichtigen Sinnzusammenhang ist die poetologische Überlegung zu beziehen, die Goethe mit Blick auf seine ersten dramatischen Versuche – Die Laune des Verliebten und Die Mitschuldigen – in die Schilderung der Leipziger Zeit einträgt. Beide Stücke seien von einem moralischen Ernst grundiert, der nicht bloß die Stücke verdüstere, sondern darüber hinaus poetisch produktive Motive, die in Goethes Natur lagen, verdrängt habe. Das erläutert er folgendermaßen: Es entwickelte sich nämlich unter jenen ernsten, für einen jungen Menschen fürchterlichen Erfahrungen in mir ein verwegner Humor, der sich dem Augenblick überlegen fühlt, nicht allein keine Gefahr scheut, sondern sie vielmehr mutwillig herbeilockt. Der Grund davon lag in dem Übermute, in welchem sich das kräftige Alter so sehr gefällt und der, wenn er sich possenhaft äußert, sowohl im Augenblick als in der Erinnerung viel Vergnügen macht.27

An dieser Stelle zeigt sich, dass das Motiv der jugendlichen Possen, welches in der später eingeführten Figur von Behrisch seinen Zenit erreicht, das Thema vitaler Spontaneität, welches wir an den anekdotisch inszenierten Vorfällen beobachten konnten, fortführt. Goethe liefert hier eine anthropologische Fundierung des Possenhaften, deren entscheidende Strukturmomente die individuelle Kraftäußerung und die Bemächtigung des Augenblicks sind. Dabei bleibt es aber nicht. In einer Anschlussüberlegung weist Goethe das ästhetische Potential nach, das in dieser anthropologischen Verfassung steckt: Solche humoristische Kühnheiten, mit Geist und Sinn auf das Theater gebracht, sind von der größten Wirkung. Sie unterscheiden sich von der Intrigue dadurch, daß sie momentan sind, und daß ihr Zweck, wenn sie ja einen haben sollten, nicht in der Ferne liegen darf. Beaumarchais hat ihren ganzen Wert gefaßt, und die Wirkungen seiner Figaros entspringen vorzüglich daher. Wenn nun solche gutmütige Schalks- und Halbschelmenstreiche zu edlen Zwecken, mit persönlicher Gefahr ausgeübt werden, so sind die daraus entspringenden Situationen, ästhetisch und moralisch betrachtet, für das Theater von dem größten Wert; wie denn z. B. die Oper: der Wasserträger, vielleicht das glücklichste Sujet behandelt, das wir je auf dem Theater gesehen haben.28

Die Vergeistigung des Possenhaften, die Goethe an den barocken Späßen eines Behrisch bewundert, wird bei Beaumarchais und Bouilly zu einer ästhetischen 27 Ebd., S. 313. 28 Ebd., S. 313–4. Gemeint ist die Oper Les Deux Journées, ou le Porteur d’eu von Luigi Cherubini, Libretto von Nicolas Bouilly, 1799.

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Form, die man als Dramaturgie des Momentanen bezeichnen könnte. Sie hat ihren vorkünstlerischen Ort nicht bloß in den Possen, sondern auch in den Augenblickskonfigurationen des anekdotischen Vorfalls. Die Anekdote, als Form betrachtet, ist Konfigurierung des Moments. Sie hat ihre Wurzel in der individuellen Spontaneität, die den Augenblick herausfordert und zu bemeistern versucht. Sei es in der knappen Ereigniserzählung, sei es in der Posse, sei es in Beaumarchais Dramaturgie des Moments, ist die Anekdote diejenige Form, in der Innen- und Außenkontingenz aufeinanderprallen. Zur Kennzeichnung der Anekdote habe ich einführend die Formel von der Idiotie des Realen verwendet. Die entsprechende Formel in Dichtung und Wahrheit lautet: die „wunderlich[e] Idiosynkrasie der menschlichen Natur“.29 Ein Ziel der Autobiographie besteht darin, diese begrifflich nicht zu fassende Idiosynkrasie in die Prägnanz einer gelungenen Darstellung einzubringen. Die Anekdote und die ihr verwandten Formen des Momentanen tragen zur Erreichung dieses Ziels bei. Zum Formgesetz des anekdotischen Vorfalls gehört, dass er sich vom umfassenden Lebensnarrativ abhebt. Die einzelnen Anekdoten verdichten sich zu Kristallisationspunkte des Realen, die in ihrer Abgeschlossenheit, ihrer szenischen Gegenwärtigkeit und ihrer internen Umschlagsstruktur (einer Spielart der ästhetischen Plötzlichkeit) eine Erfahrungsintensität aufweisen, die sich dem Gedächtnis des Lesers einschreibt. Aufgrund ihrer momenthaften Prägnanz bilden somit die über den Text gestreuten Anekdoten Inseln der Erinnerung, die immer wieder aufgerufen und nacherzählt werden können. Die hiermit skizzierte Struktur isolierender Verdichtung schließt jedoch nicht aus, dass der anekdotische Vorfall zu umfassenden Strukturen der Autobiographie auch in einem funktionalen Bezug stehen kann. Im Gegenteil, gerade diejenigen Merkmale der Anekdote, die zu ihrer ereignishaften Konzentration beitragen, können mobilisiert werden, um größere narrative Zusammenhänge durch eine sonst unzugängliche Sinndimension zu erweitern. Zur Illustration dieser Darstellungsstrategie seien abschließend drei unterschiedliche Fälle kurz erläutert. Das erste Beispiel betrifft die zwei herausragenden Liebeserlebnisse, von denen in Dichtung und Wahrheit berichtet wird, nämlich die Sesenheimer Idylle und die Lili-Sequenz. In beiden Fällen handelt es sich um sehr ausführlich geschilderte Ereignissequenzen, die sich über mehrere Episoden entfalten und ein zahlreiches Personal aufweisen. Die Beziehung zu Friedrike, die ihre Hauptstimmung der ländlichen Umgebung verdankt, ist nicht frei von Spannungen. Fast geht die Verkleidungsgeschichte, mit der sie anfängt, schief; die Erwartung des ersten Kusses zeitigt in der Seele des jungen Liebhabers merkwürdige Angstgefühle; und der Besuch von Friedrike und Familie in Straßburg macht 29 Ebd., S. 380.

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unüberbrückbare Diskrepanzen der Lebensformen allzu evident. Mit dem erfolgreichen Abschluss der Promotion und der Intensivierung von Goethes literarischen Interessen erreicht die Idylle dann auch ihr voraussehbares Ende, das Goethe mit der einprägsamen Schilderung eines visionären Erlebnisses besiegelt: In solchem Drang und Verwirrung konnte ich doch nicht unterlassen, Friedriken noch einmal zu sehn. Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist. Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Tränen in den Augen, und mir war sehr übel zu Mute. Nun ritt ich auf dem Fußpfade gegen Drusenheim, und da überfiel mich eine der sonderbarsten Ahndungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegen kommen, und zwar in einem Kleide wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, daß ich nach acht Jahren, in dem Kleide das mir geträumt hatte, und das ich nicht aus Wahl sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friedriken noch einmal zu besuchen.30

Faszinationskern der Anekdote ist das mysteriöse Omen. Dessen Funktion wird aber erst dann klar, wenn man es zu einem Vorfall aus der Lili-Sequenz in Beziehung bringt, der einen vergleichbaren Einbruch des Irrationalen inszeniert. Gemeint ist jene Stelle, wo Goethe, nach einem langen nächtlichen Spaziergang mit Lili, allein die Wanderung fortsetzt, bis er sich auf eine Bank niederlässt: „in der reinsten Nachtstille, unter den blendenden Sternhimmel, mir selbst und ihr anzugehören.“ Unmittelbar auf die Evokation dieses hingebungsvollen Seelenzustands folgt dann die Schilderung eines merkwürdigen Vorkommnisses: „Bemerkenswert schien mir ein schwer zu erklärender Ton, ganz nahe bei mir; es war kein Rascheln, kein Rauschen und bei näherer Aufmerksamkeit entdeckte ich daß es unter der Erde und das Arbeiten von kleinem Getier sei. Es mochten Ygel oder Wieseln sein, oder was in solcher Stunde dergleichen Geschäft vornimmt.“31 Der abrupte Übergang vom Gedanken an die Geliebte zum sachlich beschriebenen Naturvorgang, von der „reinsten Nachtstille“ und dem „blendenden Sternenhimmel“ zum obskuren Geräusch „unter der Erde“, produziert eine scharfe semantische Dissonanz und die auffallend ungenaue Erklärung des „ganz nahe bei mir“ vernommenen Geräuschs steigert nur den unheimlichen Charakter des Phänomens. Sowie Schmerz und Schuld des Scheidens von Friedrike und ihrer idyllischen Welt durch die visuelle Imagination der Rückkehr überblendet und gelindert worden waren, genauso drängen sich hier unterschwellige, das Verhältnis zu Lili betreffende Ambivalenzen als audi30 Ebd., S. 544 f. 31 Ebd., S. 763.

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tive Suggestion ins Bewusstsein. Die zwei Vorfälle erbringen die gleiche Funktionsleistung: Sie durchbrechen die chronologisch angeordnete Erscheinungswelt und öffnen die Liebesnarrative, in denen sie vorkommen, auf die vorausund rückblickende Gefühlsdimensionen von Schuld und Angst. Der Parallelismus der beiden Stellen macht die Irrelevanz der Frage nach der Wirklichkeit des Erzählten deutlich. Nicht um Tatsachenberichte handelt es sich, sondern um den geschickten Einsatz eines Verfahrens literarischer Sinngestaltung. Von einem entfernten Anklang an die Tragödie, in der affektiv aufgeladene perzeptive Phantasien ins Halluzinatorische gesteigert werden, könnte man diesbezüglich sprechen. In dem Augenblick, da die beiden Liebesgeschichten das autobiographische Subjekt bis an die Schwelle einer festen Verbindung hinführen, lassen die punktuell eingesetzten Anekdoten die negativen Affekte, welche auf Verstrickung und Gefährdung deuten, in die Darstellung einströmen. Auf Faktentreue zielt die autobiographische Dichtung nicht, sondern auf eine schwer fassbare psychologische Wahrheit. Das zweite Beispiel kompositorischer Handhabung eines anekdotischen Vorfalls, das hier besprochen werden soll, ist dem Sechzehnten Buch entnommen. Da die infrage stehende Anekdote nur eine lose Verknüpfung an das sie umrahmende Narrativ aufweist, können die wesentlichen kontextuellen Informationen nachgeliefert werden. Hier die Darstellung des Vorfalls: Denn so machte uns im Einzelnen ein alter blinder Betteljude aus dem Isenburgischen zu lachen, der, in dem höchsten Elend nach Frankfurt geführt, kaum ein Obdach, kaum eine kümmerliche Nahrung und Wartung finden konnte, dem aber die zähe orientalische Natur so gut nachhalf, daß er vollkommen und ohne die mindeste Beschwerde sich mit Entzücken geheilt sah. Als man ihn fragte: ob die Operation nicht geschmerzt habe? So sagte er nach der hyperbolischen Weise: wenn ich eine Million Augen hätte, so wollte ich sie jedesmal für ein halb Kopfstück, sämtlich, nach und nach operieren lassen. Bei seinem Abwandern betrug er sich in der Fahrgasse eben so exzentrisch, er dankte Gott auf gut alttestamentlich, pries den Herren und den Wundermann seinen Gesandten. So schritt er, in dieser langen gewerbreichen Straße, langsam der Brücke zu. Verkäufer und Käufer traten aus den Läden heraus, überrascht durch einen so seltenen frommen, leidenschaftlich vor aller Welt ausgesprochenen Enthusiasmus; alle waren angeregt zur Teilnahme, dergestalt daß er, ohne irgend zu fordern oder zu heischen, mit reichlichen Gaben zur Wegezehrung beglückt wurde.32

Einführend war in einem sehr allgemeinen Sinn davon die Rede, dass der anekdotische Vorfall aufgrund seiner Isolation, seiner szenischen Unmittelbarkeit und seiner Zentrierung um ein prägnantes Ereignis gegenläufig zur distanzierten, komplex vermittelnden Erzählhaltung von Dichtung und Wahrheit sei. Bei 32 Ebd., S. 745 f.

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der soeben zitierten Anekdote lässt sich allerdings von einer gezielten Gegenläufigkeit reden, deren Funktion darin besteht, zum umfassenden narrativen Kontext, in dem die Anekdote eingebettet ist, einen markanten semantischen Kontrast zu bilden. Erzählt wird der Vorfall vom Betteljuden fast am Ende des Berichts über einen längeren Aufenthalt Johann Heinrich Jungs (nachher Stilling genannt) im Haus von Goethes Eltern. Nach Frankfurt war Jung gekommen, um an einem gewissen Herrn von Lersner eine Staroperation durchzuführen und, da Goethe ihn seit der Straßburger Zeit kannte, wurde er im Haus am Großen Hirschgraben untergebracht. Die Operation misslingt, Versuche, die Konsequenzen des Missgriffs zu beheben, ziehen sich in die Länge, um am Ende dann doch zu scheitern. Wie verhält sich nun die eingefügte Anekdote zu dieser traurigen Ereigniskette? Ihre Funktion ist nicht bloß darin zu sehen, dass dem misslungenen Eingriff eine erfolgreich durchgeführte chirurgische Prozedur gegenübergestellt wird. Die anekdotische Erzählung ermöglicht vielmehr den Aufbau einer semantischen Oppositionsstruktur, die in erster Linie die Frage nach Grundlage und Wirkung der Religion zum Gegenstand hat. Goethes Überzeugung nach wurzelt nämlich die bedrückend düstere Stimmung, die Jung im Haus von Goethes Eltern verbreitet, in der „dunkle[n] Geistesform“,33 der seine pietistisch gefärbte Religiosität entspringt. Diese Geisteshaltung hat zur Konsequenz, dass die misslungene Staroperation eine Kaskade von Selbstvorwürfen auslöst, die Jung in die Verzweiflung treibt. Das Leben im Haus Goethes wird zu einem „Drama Hiobs“, in dem „der treue Mann [Jung] sich die Rolle der scheltenden Freunde selbst übernahm.“34 Vor diesem Hintergrund hebt sich die Stoßrichtung der Anekdote vom Betteljuden deutlich ab. Sie verschärft die Kritik am verdüsterten psychologischen Zustand Jungs durch das Bild eines alternativen Gottesbezugs, der in der „zähe[n] orientalische[n] Natur“ des Betteljuden gründet und ihm auch „in dem höchsten Elend“ Vertrauen und Zuversicht einflößt. Die Anekdote lässt mit anderen Worten eine „alttestamentlich“ geprägte Urreligiosität gleichsam festzugartig in die Welt von 1775 hineinragen. Damit gewinnen die jeweils anders verlaufenen Augenoperationen auch einen auf das Religionsthema bezogenen metaphorischen Sinn. Dass durch die an ihm vollzogene Operation der blinde Jude sein Sehvermögen erhält, deutet auf die Lebenswahrheit der Offenbarung hin, dem sein Glaube gilt.35 Darüber hinaus lässt Goethe die Kritik an der religiösen Einstellung Jungs in ökonomische Zusammenhänge hinüberspielen. Denn die gescheiterte Operation lässt überall Schulden 33 Ebd., S. 742. 34 Ebd., S. 744. 35 Zum „alttestamentlichen“ Motiv vgl. etwa Jesaja 35, 5: „Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden.“ Lutherbibel, Stuttgart 1984.

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und Schuldgefühle zurück, sowohl bei Jung als auch beim Patienten, während die Anekdote vom Betteljuden in ein Fest der Gabe und Dankbarkeit einmündet. Schließlich darf das Detail nicht übersehen werden, dass durch den anekdotischen Vorfall die von Jung verbreitete traurige Stimmung „eine andere Wendung“ bekommt. Erwähnt wird nämlich, dass die durch Frankfurt kursierende Erzählung vom Betteljuden Goethe und seine Familie „lachen“36 lässt und somit momentane Befreiung von der durch Jungs Misserfolg ausgelösten Betrübnis gewährt. Die Bemerkung ist als eine Reprise von Motiven zumal aus dem Siebten Buch zu verstehen, in dem, wie wir gesehen haben, die Freisetzung der Lebenslust, die aus dem Stegreif erfundene Streiche und Possen bewirken, der krankmachenden Wirkung einer auf moralische Schuld fixierten religiösen Einstellung entgegengesetzt wird. Als drittes und letztes Beispiel kompositorischen Gebrauchs der hier thematischen Erzählform ist ein Anekdotenpaar anzuführen, das am Anfang des Sechzehnten Buches und damit des vierten und letzten Teils von Dichtung und Wahrheit steht. Die beiden Anekdoten, um die es sich dabei handelt, haben sich dem Gedächtnis von Goethe-Lesern so unauslöslich eingeprägt, dass sich ein ausführliches Zitat erübrigt. Die erste erzählt von einer Tat des jungen Goethe, die zur wirksamen Bekämpfung eines in der Frankfurter Judengasse ausgebrochenen Brandes beitrug. Man erinnert sich: In dem Augenblick, als er das Hin- und Herlaufen der die Wassereimer tragenden Bürger gewahrt, erkennt Goethe, dass eine rational organisierte Kollektivaktion erforderlich sei: Ich sah gar bald daß, wenn man eine Gasse bildete wo man die Eimer herauf und herabreichte, die Hülfe die doppelte sein würde. Ich ergriff zwei volle Eimer und blieb stehen, rief andere an mich heran, den Kommenden wurde die Last abgenommen und die Rückkehrenden reihten sich auf der andern Seite. Die Anstalt fand Beifall, mein Zureden und persönliche Teilnahme ward begünstigt und die Gasse vom Eintritt bis zum brennenden Ziele war bald vollendet und geschlossen.37

Sujet der zweiten Anekdote ist ein glücklicher Tag. Wegen ungewöhnlicher Kälte ist der Main zu einem festen Eisboden geworden, auf dem das schlittschuhfahrende Stadtvolk sich fröhlich durcheinander bewegt. Vom frühen Morgen an beteiligt sich auch der leichtgekleidete Goethe am „lustigen geselligen Verkehr“ auf dem Eis, mit der Konsequenz allerdings, dass er am Nachmittag, als seine Mutter zur Betrachtung der Eisläufer kommt, ziemlich durchgefroren ist: Geben Sie mir, liebe Mutter, ihren Pelz! rief ich aus dem Stegreife, ohne mich weiter besonnen zu haben, mich friert grimmig. Auch sie bedachte nichts weiter, im Augenblicke 36 Ebd., S. 45 f. 37 Ebd., S. 736 f.

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hatte ich den Pelz an, der purpurfarb bis an die Waden reichend, mit Zobel verbrämt mit Gold geschmückt zu der braunen Pelzmütze die ich trug, gar nicht übel kleidete. So fuhr ich sorglos auf und ab […]38

Die zwei Anekdoten führen das Geschehen mit solch eindringlicher Unmittelbarkeit vor, dass sich der Leser zunächst gar nicht fragt, warum sie als Paar präsentiert werden. Die Frage ist allerdings angebracht, denn es handelt sich um die einzige Nebeneinanderstellung von Anekdoten in allen vier Teilen von Dichtung und Wahrheit. Auffallend ist die Stelle auch deswegen, weil sie zu den ganz wenigen Passagen in der Autobiographie gehört, die von einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb des Lebenslaufs aus auf ein vergangenes Ereignis zurückgreifen.39 Ein Wink für das Verständnis dieser Besonderheiten ist in dem Sachverhalt enthalten, dass die zitierten Anekdoten am Anfang des letzten Teils der Autobiographie ihre Stelle haben. Dort, wo sich die Jugendgeschichte ihrem Abschluss zuwendet, zögert der autobiographische Bericht, blickt zurück und hebt die zwei Vorfälle zur nachträglichen Betrachtung heraus. Warum? Entscheidend ist meines Erachtens, dass der Rückblick von einem Standpunkt aus geschieht, der maßgeblich durch eine neu hinzugekommene intellektuelle Ressource geprägt ist, nämlich durch die Gedankenwelt Spinozas. Von ihr und von ihrer Wirkung auf den jungen Goethe berichten die ersten Seiten des Sechzehnten Buchs. In dem knappen Abschnitt wird als Fazit der Spinoza-Lektüre eine bestimmte Geisteshaltung festgehalten: die Orientierung am „Ewigen, Notwendigen, Gesetzlichen“ und die Bildung von Begriffen, „welche unverwüstlich sind, ja durch die Betrachtung des Vergänglichen nicht aufgehoben sondern vielmehr bestätigt werden.“40 Über Goethes recht indirekte und verwickelte Diskussion der Bedeutung, die Spinoza für ihn hatte, gäbe es noch manches zu sagen. Für unsere Zwecke jedoch ist der Kernbefund wohl dies: dass in Übereinstimmung mit Spinozas Zentralgedanken vom „Gesetzlichen“ das Wesen – die innere Gesetzmäßigkeit – von menschlicher Jugend überhaupt erfasst wird. Goethe formuliert die Wesenserkenntnis mit diesen Worten: Glückliche Kinder und Jünglinge wandeln in einer Art von Trunkenheit vor sich hin die sich dadurch besonders bemerklich macht daß die Guten, Unschuldigen das Verhältnis der jedesmaligen Umgebung kaum zu bemerken, noch weniger anzuerkennen wissen. Sie sehen die Welt als einen Stoff an den sie bilden, als einen Vorrat dessen sie sich bemächtigen sollen. Alles gehört ihnen an, ihrem Willen scheint alles durchdringlich; gar oft ver38 Ebd., S. 738. 39 Die Erinnerung an den Gang zur Beichte, die im Laufe des Berichts über die Leipziger Zeit nachgetragen wird, ist, wenn ich recht sehe, die einzige andere Verwendung einer solchen anekdotischen Rückblendung. 40 Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14), S. 730.

Der anekdotische Vorfall



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lieren sie sich deshalb in einem wilden wüsten Wesen. Bei den Bessern jedoch entfaltet sich diese Richtung zu einem sittlichen Enthusiasmus, der sich nach Gelegenheit zu irgend einem wirklichen oder scheinbarem Guten aus eignem Triebe hinbewegt, sich aber auch öfters leiten, führen und verführen läßt.41

Es geht nicht zu weit, wenn man die hier ausgesprochene Einsicht dahingehend zusammenfasst, dass die Jugend, aufgrund mangelnder Erkenntnis des Notwendigen und eingeborener Überschätzung der eigenen weltformenden Kapazität, ihre Situation in der Welt systematisch missdeutet. In den glücklichen Fällen allerdings kann sich die der Jugend innewohnende vitale Kraft zur Begeisterung für eine gute Sache entwickeln. Zur Selbstgesetzgebung ist die Jugend freilich noch nicht fähig, aber in der ihr eigenen Spontaneität ist die Quelle der Autonomie vorhanden. Von dieser allgemeinen Sicht auf die Jugend aus lässt sich nun der besondere Charakter der eigenen Jugend erfassen. Das autobiographische Subjekt kann auf die Vergangenheit insgesamt zurückblicken und die eigene Grundtendenz auf den Begriff bringen: „Der Jüngling von dem wir uns unterhalten war in einem solchen Falle und wenn er den Menschen auch seltsam vorkam so erschien er doch gar manchem willkommen. Gleich bei dem ersten Zusammentreten fand man einen unbedingten Freisinn, eine heitere Offenherzigkeit im Gespräch, und ein gelegentliches Handeln ohne Bedenken, von letzterem einige Geschichtchen.“42 Diese Sätze, in denen die Verwendung des Pronomens der dritten Person die Selbstdistanz anzeigt, aus der das autobiographische Subjekt sich selbst betrachtet, leiten das Anekdotenpaar ein, das hier zur Diskussion steht. „Geschichtchen“, die ein „gelegentliches Handeln ohne Bedenken“ zum Gehalt haben, lässt sich als Beschreibung der Erzählform Anekdote verstehen, die mit der vorausgehenden Analyse übereinstimmt. Alle bislang besprochenen Anekdoten sind dadurch gekennzeichnet, dass die in ihnen sich momentan vollziehende Bemächtigung der „gelegentlichen“ Situation in der unvordenklichen Ressource vitaler Spontaneität ihre Quelle hat und in diesem Sinn „unbedacht“ ist. Hier wird allerdings das „Handeln ohne Bedenken“ als Charakterzug des „Jüngling[s] von dem wir uns unterhalten“ beschrieben und damit als Leitthema der Jugendgeschichte, die Dichtung und Wahrheit ja ist, ausgewiesen. Zur Jugend überhaupt gehört, dass der Jüngling noch nicht in der Lage ist, sich selbst ein Gesetz zu geben; somit ist er, wie Goethe bemerkt, auf Leitung, Führung und sogar Verführung angewiesen. Aber es ist ebenfalls wahr, dass die Jugend mit einer Lebensenergie ausgestattet ist, welche auf die Bedrängnis einer zufällig konfigurierten Situation produktiv antworten und somit dem Augen41 Ebd., S. 736. 42 Ebd., S. 736.

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blick Gestalt geben kann.43 Genau solches Gelingen wird in dem Anekdotenpaar, womit Goethe den vierten Teil der Autobiographie beginnen lässt, vorgeführt. Und damit ist die Frage nach der Funktion der nacheinander erzählten Anekdoten beantwortet. Sie stehen deshalb am Anfang des Vierten Buchs, weil sie ein Wesensmoment der Lebensphase, die nun auf ihr Ende zugeht, prägnant zur Darstellung bringen. Es sind gleichsam eidetische Anekdoten, deren Gegenstand die Form geglückten jugendlichen Lebens selbst ist. Der Anspruch der zwei von Goethe nachgelieferten „Geschichtchen“ ist es, die Wesensgestalt vitaler Spontaneität als Anschauung erfassbar zu machen. Für diese Deutung spricht auch die Tatsache, dass das Paar, welches die zwei Anekdoten bilden, eine sinnträchtige innere Polarität aufweist. Deswegen hat Goethe die zwei Vorfälle aus ihrem jeweiligen lebensgeschichtlichen Kontext herausgenommen und einander gegenübergestellt, weil sie eminente Fälle von Not (Brand) und Glück (Eislauf) als ausgezeichneten Weisen menschlicher Selbsterfahrung konfigurieren. Aufgrund seiner Polaritätsstruktur weist das Anekdotenpaar auch über die lebensgeschichtliche Grenze von Dichtung und Wahrheit hinaus und lässt die zwei wesentlichen Dimensionen von Goethes späterem Leben in Weimar umrisshaft sichtbar werden. Im Hinblick auf die spontane Handlung in der Judengasse ist das evident; sie ist geradezu paradigmatisch für engagiertes Mitwirken zwecks Verbesserung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Das Schlittschuhfahren hingegen – das sorglos-freie Segeln übers Eis in improvisierter, phantastisch-regaler (purpurner) Kleidung – ist als Figur poetischer Existenz zu deuten.

43 „Jugend“ im hier gemeinten Sinn ist freilich kein Monopol der Jugend im Sinne eines chronologisch und biologisch bestimmten Lebensalters. Es wird ja eigens vermerkt, dass auch Goethes Mutter leichtsinnig-spontan handelt („nichts weiter bedachte“), als wäre sie von seinem jugendlichen Einfall zur eigenen Jugend erweckt.

 Teil II: Erinnerung: Archiv und Vergegenwärtigung

Ernst Osterkamp

Auf der Galerie. Eine Mystifikation Im Achten Buch von Dichtung und Wahrheit erzählt Goethe von seinem ersten Besuch der Dresdner Gemäldegalerie, den er vermutlich Ende Februar/Anfang März 1768 als 18jähriger unternommen hat. Der sechs bis sieben Druckseiten umfassende Bericht des Dresdner Aufenthalts zeichnet sich durch episodischen Anschauungsreichtum aus, dies insbesondere im Zusammenhang mit dem ungewöhnlichen Quartier, das Goethe bei dem Schuhmacher Johann Gottfried Haucke, einem Verwandten und Korrespondenzpartner seines Leipziger Zimmernachbarn Johann Christian Limprecht, bezogen hatte, und jenem sonderbaren Zechabend, welcher der „Mystifikation“ eines „vorlauten, anmaßlichen“ jungen Mannes diente,1 aber auch durch die genaue Erinnerung an Gespräche mit Haucke sowie dem Generaldirektor der Kunstsammlungen Christian Ludwig von Hagedorn und dem Galerieinspektor Johann Anton Riedel. Nicht zuletzt die in diesen Episoden zum Ausdruck gelangte Anschaulichkeit und Präzision von Goethes Erinnerungen sichern dem Bericht über seinen ersten Besuch der Dresdner Gemäldegalerie seinen hohen Quellenwert in der Forschung zur Entwicklung seiner Kunstauffassung. Allerdings unterliegt nicht allein der feucht-fröhliche Abend in dessen Mitte, sondern Goethes gesamte Reise nach Dresden einer Strategie der „Mystifikation“. Goethe gesteht dies zu Beginn seines Berichts auch offen ein: Sein „grillenhaftes Wesen“ habe ihn damals dazu veranlasst, seinen „Vorsatz vor Jedermann geheim“ zu halten, „weil ich die dortigen Kunstschätze ganz nach eigner Art zu betrachten wünschte und, wie ich meinte, mich von Niemand wollte irre machen lassen.“2 Diesen Vorsatz zur Geheimhaltung seiner Reise hat er mit solcher Konsequenz und solchem Erfolg eingehalten, dass es über den Bericht in Dichtung und Wahrheit hinaus nur ein einziges Zeugnis gibt, das Goethes Besuch in Dresden dokumentiert; wenn es dieses Dokument nicht gäbe, könnte es sich, quellenkritisch gesehen, also bei Goethes gesamtem Bericht über seine Dresden-Reise um eine Mystifikation handeln. Es ist dies ein Brief an Ernst Wolfgang Behrisch, dem er schon am 24. Oktober 1767 vage angekündigt hatte,

1 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 16. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. von Peter Sprengel. München/ Wien 1985, S. 347 [im Folgenden zitiert: Goethe: Dichtung und Wahrheit (MA 16)]. 2 Goethe: Dichtung und Wahrheit (MA 16), S. 342. https://doi.org/10.1515/9783110759426-004

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er werde „mit dem Märzen, etwas nach Dreßden“ reisen.3 In einem Brief vom März 1768 ohne Tagesangabe bestätigt er Behrisch, dass die Reise mittlerweile stattgefunden habe, wobei er den Freund zunächst von dessen Brüdern in Dresden grüßt und dann fortfährt: Nichtwahr das hättest du nie vermuhtet, ich binn in Dreßden gewesen, auf zwölf Tage, die Gallerie zu sehen, die habe ich gesehen, was man gesehen heisst. Deine Brüder sind wohl, und haben mich wohl bewirthet. Dresden ist ein Ort, der herrlich ist, und wenn mir’s erlaubt wäre ein kleines Supplement daran zufügen, so wünschte ich mich nie heraus.4

Dem Brief lassen sich, über die Bestätigung der Faktizität der Reise hinaus, insgesamt drei Informationen entnehmen, die sich nicht in Dichtung und Wahrheit finden: 1. der ungefähre Zeitraum der Reise, der sich aus der Datierung des Briefes auf den März 1768 ergibt: also hat die Reise Ende Februar/Anfang März 1768 stattgefunden; 2. die Dauer der Reise: sie wird „auf zwölf Tage“ veranschlagt, wobei unklar bleibt, ob die in der Kutsche verbrachte Reisezeit darin eingerechnet ist; man darf jedenfalls mit einer Aufenthaltsdauer in Dresden von mindestens zehn Tagen rechnen, während in Dichtung und Wahrheit nur unbestimmt von „wenigen Tagen meines Aufenthalts in Dresden“5 die Rede ist; 3. schließlich der enge Kontakt zu Behrischs Brüdern, die in Goethes Autobiographie keine Erwähnung finden; dort ist von ganz anderen sozialen Kontakten in Dresden die Rede. Diese dem Brief an Behrisch, der Goethe bei der Niederschrift von Dichtung und Wahrheit sicher nicht vorlag, zu entnehmenden präzisen Informationen geben einen deutlichen Hinweis darauf, dass Goethe beim Diktat seiner Erinnerungen an seinen ersten Dresden-Besuch weitgehend auf die Daten angewiesen war, die ihm sein Gedächtnis im Hinblick auf Ereignisse überlieferte, die mittlerweile 44 Jahre zurücklagen. Dass Goethe die Lückenhaftigkeit seines Gedächtnisses durch erzählerische Absichten und Darstellungsstrategien, denen der Dresden-Bericht auch seine erstaunliche Anschaulichkeit verdankt, ausglich und überspielte, ergibt sich bereits aus der Divergenz zwischen den im Brief genannten zwölf Reisetagen, die 3 Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1.I. 23. Mai 1764 – 30. Dezember 1772. Texte. Hg. von Elke Richter und Georg Kurscheidt. Berlin 2008, S. 105. [im Folgenden zitiert: GB, Bd. 1.I] 4 GB Bd. 1.I, S. 126. 5 Goethe: Dichtung und Wahrheit (MA 16), S. 347.

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Goethe dem Besuch Dresdens gewidmet hat, und den „wenigen Tagen“, von denen die Autobiographie berichtet. Wer die zahlreichen Berichte von Reisenden der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über ihre Besuche der Dresdner Galerie durchsieht,6 wird feststellen, dass eine Dauer von zehn Besichtigungstagen höchst ungewöhnlich war; die meisten Reisenden haben sich wie die heutigen Touristen mit sehr viel kürzeren Besuchszeiträumen zufriedengegeben (und von Exklusivführungen durch Riedel und Hagedorn ist ohnehin nur ganz selten die Rede). Die Schrumpfung der Aufenthaltsdauer auf „wenige Tage“, also aufs touristische Normalmaß, gibt die Absicht des Autobiographen zu erkennen, die Bedeutung seines ersten Dresdner Aufenthalts für die Entwicklung seines künstlerischen Geschmacks und seiner kunsthistorischen Kenntnisse entschieden herunterzuspielen. Der Opulenz der Dresdner Sammlung stellt die Autobiographie deshalb die Kürze der Besichtigungsdauer gegenüber, und überdies wird dort die Erinnerung an die Gemälde selbst verdrängt und überlagert durch Erinnerungsbilder an die pittoreske Alltagswirklichkeit der Schusterwohnung, die der Erzähler nach dem Muster von Adriaen van Ostade am Mittag und von Godfried Schalcken in der Nacht wahrgenommen haben will, oder gar an Kneipenszenen im Stil von Auerbachs Keller. Ich zitiere exemplarisch das Bild, als welches sich die Schusterwohnung dem Blick des um Mitternacht heimkehrenden Gastes darbietet: „alles war zu Bette und eine Lampe erleuchtete den enghäuslichen Zustand, wo denn mein immer mehr geübtes Auge sogleich das schönste Bild von Schalken erblickte“.7 Das klingt nun so, als habe er seinen Blick am Tage auf der Galerie an Bildern Schalckens „geübt“ – merkwürdig nur, dass der zeitgenössische Katalog der Dresdner Galerie kein einziges Gemälde verzeichnet, das damals Godfried Schalcken zugeschrieben wurde.8 Dem Autobiographen ist jedenfalls alles daran gelegen, dem jungen Besucher der Galerie ein Bildungserlebnis zu bescheren, für das er offensichtlich noch nicht reif war. Deshalb verwehrt er seinem 18jährigen Ich in der Galerie jeden Erkenntnisschritt, der über dessen Leipziger Denkhorizont hinausführt, 6 Vgl. hierzu den informativen Aufsatz von Katharina Pilz: Die Gemäldegalerie in Dresden unter Berücksichtigung der Mengsschen Abgusssammlung. In: Tempel der Kunst. Die Geburt des öffentlichen Museums in Deutschland 1701–1815. Hg. von Bénédicte Savoy. Mainz 2006, S. 145–171; dort S. 170 f. eine Bibliographie der zeitgenössischen Beschreibungen der Galerie und S. 411–435 aufschlussreiche Auszüge aus zeitgenössischen Berichten von Besuchern der Galerie. 7 Goethe: Dichtung und Wahrheit (MA 16), S. 347. 8 Catalogue des tableaux de la Galerie Electorale a Dresde. Dresden 1765. Die Verfasser des Katalogs waren Johann Anton Riedel und Christian Friedrich Wenzel. Allerdings befanden sich schon seit den 1720er Jahren Kabinettstücke Schalckens in den kurfürstlichen Sammlungen; vgl. Bernhard Maaz: Gemäldegalerie Alte Meister Dresden. Eine Geschichte der Malerei. Köln 2014, S. 350 f. (Abb. 289), S. 436 ff. (Abb. 361).

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und jede Erweiterung seiner künstlerischen Erfahrungen durch ästhetische Einsichten, die der Erzähler erst für spätere Entwicklungsphasen seines Ich eingeplant hat. Erzählerisch ergibt sich daraus die spannungsvolle Konstellation, dass das kunsthistorische Bewusstsein des Autobiographen erheblich abweicht von demjenigen seines jugendlichen Helden und eifersüchtig darüber wacht, dass dieser vor den Bildern zu keinen künstlerischen Einsichten finden darf, die der Erzähler selbst erst in weiteren Jahrzehnten seiner Ausbildung und nach einem längeren Umweg über Italien gewonnen haben will. Der Autor des Berichts über seinen ersten Besuch in der Dresdner Galerie hat überdies mit dem Problem zu kämpfen, sich an diesen 44 Jahre später schon deshalb kaum noch erinnern zu können, weil er derweil weitere vier Mal in Dresden und dabei immer auch auf der Galerie gewesen war: im Sommer und Herbst 1790, im August 1794, im September 1810, und stets hat ihn dabei der unverwüstliche Johann Anton Riedel (1733–1816) als Galerieinspektor begleitet. Die sich hieraus ergebende Überlagerung des juvenilen Galeriebesuchers durch den italienisch geschulten Galeriebesucher setzt der Autobiograph in einer wunderbaren kleinen Hommage auf Riedel ins Bild: Ich fand diesen trefflichen Mann damals eben so tätig und gefällig, als ich ihn nachher mehrere Jahre hindurch gesehen und wie er sich heute noch erweist. Sein Bild hat sich mir mit jenen Kunstschätzen so in Eins verwoben, daß ich beide niemals gesondert erblicke, ja sein Andenken hat mich nach Italien begleitet, wo mir seine Gegenwart in manchen großen und reichen Sammlungen sehr wünschenswert gewesen wäre.9

Nach Italien: wie das Bewusstsein des postitalienischen Galeriebesuchers die Erinnerung an den präitalienischen Galeriebesucher erzählerisch überlagert, kann der Leser der Autobiographie nicht nur an solchen Blicken in die Zukunft, sondern auch an den vom Erzähler rekonstruierten Wahrnehmungen des jungen Helden nachvollziehen, der sich noch ganz an die niederländische Schule hält und dessen Kunsturteil auf dem Vergleich des Bildes mit der nachgeahmten Natur beruht. Wie diese Wahrnehmungen die Eingeschränktheit seines naturalistischen Sehens vor Augen führen sollen, zeigt eine berühmte Sequenz: Als ich bei meinem Schuster wieder eintrat, um das Mittagsmahl zu genießen, trauete ich meinen Augen kaum: denn ich glaubte ein Bild von Ostade vor mir zu sehen, so vollkommen, daß man es nur auf die Galerie hätte hängen dürfen. Stellung der Gegenstände, Licht, Schatten, bräunlicher Teint des Ganzen, magische Haltung, alles was man in jenen Bildern bewundert, sah ich hier in der Wirklichkeit.10

9 Goethe: Dichtung und Wahrheit (MA 16), S. 346. 10 Ebd., S. 345.

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Das ist schon deshalb merkwürdig, weil die Dresdner Galerie zwar heute sechs Bilder Ostades besitzt, von denen aber keines ein vergleichbares Interieur darstellt.11 Wichtiger noch: Der 1765 erschienene Galeriekatalog verzeichnet nur einen einzigen Ostade in der Galerie, und der stellt einen Stall mit Kühen und Pferden dar.12 Dennoch will der Autobiograph den Leser glauben machen, dass der junge Galeriebesucher die Darstellungsprinzipien dieses Gemäldes (oder welcher Gemälde Ostades auch immer) so aufmerksam studiert hatte, dass er sie von einem Stall auf eine Schusterstube zu übertragen vermochte, so dass es in Dresden zu einem Initialerlebnis in der Entwicklung seines künstlerischen Sehens kommen konnte: Es war das erste Mal, daß ich auf einen so hohen Grad die Gabe gewahr wurde, die ich nachher mit mehrerem Bewußtsein übte, die Natur nämlich mit den Augen dieses oder jenes Künstlers zu sehen, dessen Werken ich so eben eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte.13

Während der Blick des erzählten Goethe in die Schusterstube aber die Kunst mit der Wirklichkeit in eins setzt (die Stube ist ein Ostade), verfährt die Deckerinnerung des erzählenden Goethe auf genau umgekehrte Weise: durch die Identifikation von Ostades künstlerischen Techniken der Wirklichkeitsdarstellung, wobei das im Text erfolgte Urteil über die Kunst Ostades nach den akademischen Kategorien Komposition, Licht und Schatten, Kolorit und räumliche Tiefenstaffelung durch Luftperspektive (Haltung) eben nicht dasjenige des unge11 Gemäldegalerie Dresden. Alte Meister. Katalog der ausgestellten Werke. Dresden/Leipzig 1992, S. 285–288, Nr. 1395–1400; Maaz: Gemäldegalerie (Anm. 8), S. 346 f. 12 Catalogue (Anm. 8), S. 157 (Nr. 795 der äußeren Galerie). Der 1765 erschienene erste Katalog der Dresdner Sammlung befindet sich nicht in Goethes Bibliothek, wohl aber enthält sie zwei später erschienene Kataloge, und es ist natürlich gut möglich, dass der Autobiograph anhand dieser Werke seine Erinnerungen an seinen ersten Besuch in der Dresdner Galerie aufgefrischt und sie so mit späteren Eindrücken überdeckt hat; vgl. Goethes Bibliothek. Katalog. Bearbeiter der Ausgabe Hans Ruppert. Weimar 1958, S. 314 f. (Nr. 2176), S. 338 (Nr. 2321). Die Autopsie zeigt freilich, dass Goethe für die Modellierung seiner Erinnerung schwerlich auf diese Galerieführer zurückgegriffen hat. [Johann August Lehninger]: Abrégé de la vie des peintres, dont les tableaux composent la Galerie électorale de Dresde. Dresden 1782 (Ruppert 2321) verzeichnet kein Werk von Schalcken und von Ostade nur die erwähnte Stallszene; Heinrich Meyer hat dies Buch mit vielen Annotationen zu einzelnen Bildern versehen. Goethe selbst hat den Führer Die Koenigl. Saechs. Gemaelde-Galerie in Dresden. Neue durchaus verb. Aufl. Dresden 1812 (Ruppert 2176) zwar mit vielen Bleistiftanmerkungen versehen, die dort aufgeführten drei Stücke von Ostade und das hier nun erstmals erwähnte kleine Nachtstück von Schalcken, das einen jungen Mann mit weiblicher Büste zeigt und bei all seinen virtuosen Beleuchtungseffekten dennoch schwerlich an eine nächtliche Schusterstube denken lässt (Maaz: Gemäldegalerie [Anm. 8], Abb. 289), aber unkommentiert gelassen. 13 Goethe: Dichtung und Wahrheit (MA 16), S. 346.

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schulten jugendlichen Galeriebesuchers, sondern das des kunsttheoretisch versierten nachitalienischen Goethe ist. Die erzählerische Frische, der Episodenreichtum und die Lebensnähe des Goethe’schen Dresden-Berichts täuschen also darüber hinweg, dass über ihm ein starker Firnis späterer Erinnerungen und vor allem späterer theoretischer Einsichten liegt. Umso mehr stellt sich die Frage, was Goethe wirklich in der Dresdner Galerie gesehen hat und wie er es gesehen hat. Diese Frage lässt sich nur schwer beantworten, weil der Erzähler in seinem Bericht über die Galeriebesuche des jungen Mannes, denen er seinen gesamten zehntägigen Aufenthalt gewidmet haben will, höchst summarisch verfährt: Keines der rund 1200 Gemälde und 200 Pastelle, die Goethe auf der Galerie hat betrachten können, wird erwähnt – dies im Unterschied zu allen anderen zeitgenössischen Berichten über Besuche der Galerie, in denen stets mehrere Maler und einzelne Bilder hervorgehoben werden.14 Es ist, als habe er keine einzige Entdeckung gemacht und sich durch keine ästhetische Herausforderung irritieren lassen, ja als hätten die 1200 Bilder der bedeutendsten Galerie nördlich der Alpen den mitgebrachten Geschmack und das Kunsturteil des noch sehr jungen Mannes nur bestätigen können, mit anderen Worten: als sei der Besuch der Galerie gänzlich folgenlos geblieben. Und tatsächlich will Goethe in seinem Bericht dem Leser den Eindruck vermitteln, er sei damals der überwältigenden Erscheinungsfülle der Bilder dadurch ausgewichen, dass er sich bei der Besichtigung auf die Gemälde der Maler konzentriert habe, die ihm, sei es durch Originale, sei es durch Reproduktionen, schon bekannt gewesen waren, oder solcher Künstler, deren Malweise derjenigen dieser Maler ähnlich war. Diese Strategie der Wahrnehmungsintensivierung durch Wahrnehmungsausblendung bringt der junge Goethe nach dem Bericht in Dichtung und Wahrheit bei dem ihn führenden Galeriebeamten sofort zur Geltung: „nur erbat ich mir, in der äußeren Galerie bleiben zu dürfen.“15 In der äußeren Galerie waren die Werke aus allen nichtitalienischen Schulen, vor allem also diejenigen der niederländischen Maler, versammelt: Hier fand ich mich, zu meinem Behagen, wirklich zu Hause. Schon hatte ich Werke mehrerer Künstler gesehn, andere kannte ich durch Kupferstiche, andere dem Namen nach; ich verhehlte es nicht und flößte meinem Führer dadurch einiges Vertrauen ein, ja ihn ergetzte das Entzücken, das ich bei Stücken äußerte, wo der Pinsel über die Natur den Sieg davon trug: denn solche Dinge waren es vorzüglich, die mich an sich zogen, wo die Vergleichung mit der bekannten Natur den Wert der Kunst notwendig erhöhen mußte.16

14 Vgl. hierzu die Dokumentation bei Pilz: Gemäldegalerie (Anm. 6). 15 Goethe: Dichtung und Wahrheit (MA 16), S. 345. 16 Ebd.

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Über diese Position, die den Kunstwert eines Bildes an der gesteigerten Naturwahrheit der Darstellung misst, will der Autobiograph den jungen Kunstfreund in den zehn Tagen seines Aufenthalts in der Dresdner Galerie nicht hinaus gelangen lassen, und so summiert denn Goethe am Ende seines Galerieberichts den Stand der künstlerischen Einsichten seines juvenilen Ich mit Worten, die inhaltlich denen des Anfangs völlig entsprechen: So nahm ich den Wert der italienischen Meister mehr auf Treu und Glauben an, als daß ich mir eine Einsicht in denselben hätte anmaßen können. Was ich nicht als Natur ansehen, an die Stelle der Natur setzen, mit einem bekannten Gegenstand vergleichen konnte, war auf mich nicht wirksam. Der materielle Eindruck ist es, der den Anfang selbst zu jeder höheren Liebhaberei macht.17

Um zu dieser auf der Naturwahrheit der Darstellung insistierenden Ästhetik zu gelangen, hätte der junge Goethe freilich nicht nach Dresden reisen und sich mit einigen der bedeutendsten Kunstkenner seiner Zeit unterhalten müssen; dazu hätte es völlig hingereicht, in Leipzig zu bleiben und dort weiterhin den Kunstgesprächen der Matadore jener „Kunstsozietät“ zu lauschen, die seit 1763 wöchentlich in der Richter’schen Sammlung zusammenkam, um über Bilder zu sprechen; deren Geschmack richtete sich „mehr gegen die niederländische Schule“.18 Tatsächlich bilden italienischen Meistern zugeschriebene Gemälde in der ganz durch die Niederländer geprägten Richter’schen Sammlung, wie der Versteigerungskatalog von 1810 zeigt,19 eine Quantité négligeable. Der Besuch der Dresdner Galerie führte den jungen Goethe also nach dem Zeugnis von Dichtung und Wahrheit nicht einen Schritt über die ästhetische Position hinaus, die er am Ende der Irrungen und Wirrungen seiner Leipziger Studienzeit bereits erreicht hatte. Dem Autobiographen ist alles daran gelegen, den Bildungsroman seines Ich mit dem Dresden-Besuch auf eine Klimax zu führen, die mit einer Antiklimax identisch ist: sein künstlerisches Wahrnehmungsvermögen also dort vor die größte ästhetische Herausforderung zu stellen und ihn an dieser Herausforderung scheitern zu lassen. Er will sich am Ende seiner Leipziger Studienzeit als einen von wahrer Kunstkennerschaft weit entfernten Dilettanten darstellen, der noch ganz am „Anfang“ einer „höheren Liebhaberei“20 steht und somit im Äußeren, in der „äußeren Galerie“, verharrt, ohne ins Inne17 Ebd, S. 347. 18 Ebd., S. 340. 19 Verzeichniß einer vorzüglich schönen Sammlung von Original-Oel-Gemälden der berühmtesten Meister der vier Haupt-Schulen. Leipzig 1810. Von den 228 Nummern lassen sich auf der Grundlage der äußerst großzügigen Zuschreibungen allenfalls zwei Dutzend Bilder mit einigem Wohlwollen der italienischen Schule zuordnen. 20 Goethe: Dichtung und Wahrheit (MA 16), S. 347.

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re, die innere Galerie, vordringen zu können. Um dies erzählerische Ziel zu erreichen, wird in dem Dresden-Bericht Deutschlands italienischste Stadt konsequent niederlandisiert. Auch deshalb führt der Erzähler zu dessen Beginn den Besucher der Stadt direkt in die Schusterstube, ohne ihn auch nur eine einzige Architektur Dresdens sehen zu lassen, und aus demselben Grund führt er ihn an dessen Ende auf die „Kuppel der Frauenkirche“,21 um ihm von dort herab Dresden als vom Krieg schwer getroffene Trümmerlandschaft zu präsentieren. Dass in der Komposition des Buches diese Antiklimax einem doppelten Blutsturz präludiert – der Nachricht von der Ermordung Winckelmanns und dem bald darauf folgenden psychophysischen Zusammenbruch des Leipziger Studenten –, gibt klar zu erkennen, dass der Bericht über seinen ersten Dresdner Aufenthalt weniger von der Erinnerung des Autors an den Besuch selbst als von kompositorischen Erwägungen geformt worden ist. Denn kann es wirklich so gewesen sein, wie Goethe es hier erzählt: zehn Tage, die „allein der Gemäldegalerie gewidmet“ waren,22 und als Ergebnis nur die Bestätigung eines an den Niederländern orientierten Naturalismus in der Kunstwahrnehmung bei konsequenter Vernachlässigung der Italiener und einem fundamentalen Unverständnis gegenüber einer an der Antike geschulten Darstellungsweise? Die Goethe-Philologie jedenfalls ist der Darstellung des Autobiographen Goethe bis heute weitgehend gefolgt und spricht immer wieder davon, er habe in Dresden nur die Niederländer gesehen, die Italiener habe er nicht weiter beachtet und die Sixtinische Madonna seines späteren Abgotts Raffael habe er schon deshalb nicht gesehen, weil er sie sonst sicher erwähnt hätte. Noch einmal: Kann es wirklich so gewesen sein? Man muss schon deshalb daran zweifeln, weil Goethe bei und nach seinen späteren Besuchen der Dresdner Galerie die Sixtinische Madonna auch nicht erwähnt: an keiner Stelle seines Werks, seiner Briefe und Tagebücher (mit Ausnahme einer verschlüsselten Transformation des Bildes in dem 1808 entstandenen Gedicht Einer hohen Reisenden23). Niemand wird daraus folgern wollen, er habe das Bild nicht gesehen, sondern es lässt sich allenfalls schließen, dass es für Goethe Gründe gegeben haben muss, das Bild nicht erwähnen zu wollen.

21 Ebd., S. 348. 22 Ebd., S. 347. 23 Vgl. hierzu Ernst Osterkamp: Maria, Auguste und die Madonna. Die Bedeutung Raffaels für Goethe, erläutert am Beispiel von zwei Gedichten An Personen. In: Gerhard Neumann und David E. Wellbery (Hg.): Die Gabe des Gedichts. Goethes Lyrik im Wechsel der Töne. Freiburg i. Br., Berlin, Wien 2008, S. 185–207.

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Abb. 1: Grundriss der Dresdner Gemäldegalerie (Anna Amalia Heinecke: Receuil d’Estampes. Vol. 1. 1753; Photo: SLUB Dresden / Digitale Sammlungen / Art.plast.159-1).

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Wie also hat sich Goethes Besichtigung der Dresdner Galerie tatsächlich vollzogen? Welche Bilder hat er dort gesehen? Während sich auf die erste Frage wohl nie wird antworten lassen, kann es auf die zweite nur eine Antwort geben: Wer zehn Tage in die Besichtigung einer großen Galerie investiert, hat alles gesehen – und zwar gründlich. Er ist also nicht in der äußeren Galerie hängen geblieben, sondern hat auch die den italienischen Meistern gewidmete innere Galerie intensiv studiert; jede andere Vermutung ist äußerst unwahrscheinlich. Dies ergibt sich bereits aus der Raumsituation. Nach dem Ankauf der Sammlung des Herzogs von Modena im Jahre 1745 wurde das Ende des 16. Jahrhunderts errichtete Stallgebäude, das seit dem 18. Jahrhundert die kurfürstliche Gemäldesammlung beherbergte, zu einem vierflügeligen Zentralbau ausgebaut, über dessen nach wie vor für Stallungen und die Remise genutztem Erdgeschoss sich nun ein neun Meter hohes Obergeschoss erhob, das zur Galerie umgestaltet wurde.24 In dieses Hauptgeschoss wurde eine umlaufende mittlere Längswand eingezogen, wodurch eine um den Innenhof verlaufende innere Galerie, die die Bilder der italienischen Schule enthielt, und eine äußere Galerie entstanden, die die Bilder aller anderen Schulen zeigte. Der im 1753 erschienenen ersten Band von Carl Heinrich von Heineckens Dresdner Galeriewerk reproduzierte Grundriss25 zeigt, dass auf der Nordseite der Galerie zwei neben den Wendeltreppen angebrachte Türen die innere mit der äußeren Galerie verbanden; eine weitere Tür verband die Galerien zudem im gegenüberliegenden südlichen Flügel. Es war für die Besucher also leicht möglich, jederzeit zwischen den beiden Galerien zu wechseln. Goethe wird diese Möglichkeit genutzt haben, wann immer ihm danach zumute war. Die Bilder wurden in gleichförmigen goldenen Rahmen in barocker Hängung präsentiert, füllten also die gesamte Hängewand sowie die Pfeiler an den Fensterwänden, wobei Schulzusammenhänge und Chronologie in der Hängung keine Beachtung fanden. Dies macht es schwer, eine genaue Vorstellung davon zu gewinnen, wie die einzelnen Gemälde gehängt und wie gut sie jeweils sichtbar waren – schwer auch deshalb, weil die früheste Ansicht des Inneren der Galerie erst aus dem Jahre 1830 stammt und die Innengalerie zeigt,26 ohne dass sich sämtliche dort hängenden Gemälde identifizieren lassen. Diese Ansicht gibt immerhin die gewaltigen optischen Herausforderungen zu erkennen, die 24 Zur Baugeschichte vgl. neben Pilz: Gemäldegalerie (Anm. 6) die konzise und gut illustrierte Darstellung in Gerald Heres: Dresdener Kunstsammlungen im 18. Jahrhundert. Leipzig 1991, S. 114–125. 25 Heres: Dresdener Kunstsammlungen (Anm. 24), S. 120; ein weiterer Grundriss bei Pilz: Gemäldegalerie (Anm. 6), S. 152, Abb. 10. 26 Heres: Dresdener Kunstsammlungen (Anm. 24), S. 121; Pilz: Gemäldegalerie (Anm. 6), S. 155, Abb. 11.

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die außerordentliche Raumhöhe für die Betrachter mit sich brachte, wobei zusätzlich die schlechten Lichtverhältnisse zu bedenken sind, über die fast alle Besucher der Galerie zumal bei den an den Pfeilern hängenden Bildern klagten. Dass sich bei solchen Gegebenheiten allenfalls die Hälfte der rund 1200 Bilder sorgfältig betrachten ließ, liegt auf der Hand. (Und wie gut Goethe, bei aller Sonnenhaftigkeit seines Auges, tatsächlich gesehen hat, ist nur schwer zu ermessen: „Meine Augen sind schwach, und reichen nicht biß in die Logen“,27 so schrieb er jedenfalls im November 1767 auf dem Höhepunkt seines Eifersuchtsdramas mit Anna Catharina Schönkopf an Behrisch, und deshalb lieh er sich im Theater, um sie in ihrer Loge von der Galerie aus überwachen zu können, ein Glas aus, weil er das eigene zu Hause vergessen hatte.) Es liegt jedenfalls auf der Hand, dass Goethe bei aller Vorliebe für die Niederländer seine Augen nicht an schlecht gehängten Bildern der niederländischen Schule abgemüht haben wird, nur um keine gut gehängten Italiener sehen zu müssen; schon dies macht es plausibel, dass er seine Aufmerksamkeit zwischen den Galerien geteilt hat.

Abb. 2: Blick in die Dresdner Galerie, um 1830 (SK Dresden, Kupferstich-Kabinett). 27 GB 1.I, S. 113.

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Nun konnte man zwar in der äußeren Galerie alle großen Namen der niederländischen Schule finden – Breughel und Brouwer, Rembrandt und Dou, Rubens und Snyders, Ruisdael und van der Werff, Ostade und Terborch –, aber eben nicht nur sie. Goethe konnte schon hier zahlreiche Bilder entdecken, die für eine ausschließlich am Kriterium der Naturwahrheit der Darstellung orientierte Betrachtung eine große Herausforderung bedeuteten. Der erste Führer durch die Sammlung, der von Johann Anton Riedel und Christian Friedrich Wenzel, dem Inspektor des Kupferstichkabinetts, 1765, also kurz vor Goethes Besuch, besorgte Catalogue des tableaux de la Galerie Electorale a Dresde, zeigt deutlich, welche Fülle an ästhetischen Irritationen für ein Auge, das die Kunst „als Natur ansehen“ wollte,28 die äußere Galerie präsentierte: Bilder von Caravaggio und Salvator Rosa, Kopien nach Raffael, Gemälde von Marco Ricci, von Antoine Watteau und vielen anderen.29 Vor allem aber vollzog sich Goethes erste Begegnung mit der idealen Landschaftsmalerei des Südens 1768 in der äußeren Galerie, denn dort hingen sämtliche Bilder von Gaspar Dughet, von Nicolas Poussin und Claude Lorrain, über die die Dresdner Sammlung verfügte.30 Goethe erwähnt diese Bilder in Dichtung und Wahrheit nicht, weil sie für den Autobiographen in den Kontext seines italienischen Bildungserlebnisses gehörten – aber ist es deshalb auch vorstellbar, dass sie 1768 der Aufmerksamkeit, ja dem Entzücken dieses mit allen Sinnen nicht nur für die Natur, sondern auch für die Kunst offenen Betrachters entgangen sind? Ich halte dies für gänzlich unwahrscheinlich. Der Autobiograph aber wollte, dass seine Leser gerade dies für plausibel halten, weil in der Ordnung des Bildungsweges, den er für seinen Helden, der in Maßen er selbst gewesen war, vorgesehen hatte, für solche Begegnungen mit großer idealisierender Kunst, die dessen Frankfurter und Leipziger ästhetischen Horizont überschritt, und für eine Faszination durch diese Kunst noch kein Raum sein sollte. Man kann den Reichtum an ästhetischen Erfahrungen, die der junge Goethe bereits in der äußeren Galerie gemacht hat, leicht nachvollziehen, wenn man sich anhand des Riedel/Wenzel’schen Katalogs, der der zeitgenössischen Hängung folgt und deshalb auch die Kontexte, in denen die einzelnen Bilder hingen, erkennen lässt, durch die Flügel der Galerie bewegt. Die Goethe-Forschung hat dies nicht getan, weil sie der Mystifikation von Goethes Dresden-Bericht in Dichtung und Wahrheit gefolgt ist. Man wird bei diesem Weg durch den ästheti-

28 Goethe: Dichtung und Wahrheit (MA 16), S. 347. 29 Leichte Orientierung ermöglicht dem Benutzer des Catalogue eine auf die Katalognummern verweisende „Table alphabetique des Peintres“ am Katalogende. 30 Der Catalogue verzeichnet in der äußeren Galerie zwei Bilder von Gaspar Dughet, 13 Bilder von Nicolas Poussin und zwei Bilder von Claude Lorrain.

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schen Reichtum, den die äußere Galerie präsentierte, jedenfalls feststellen, dass die Festlegung des Goethe’schen Geschmacks auf eine Naturwahrheit gewährleistende Niederländerschablone, wie sie die Schusterstubenanekdoten suggestiv zu belegen suchen, in dem zehn Tage umfassenden Besichtigungsparcours nicht erfolgt sein kann; keines der dort zu betrachtenden großen Stücke von Pieter Breughel oder Rembrandt, von Rubens oder Snyders lässt sich nach dieser Schablone erfassen, und keines davon wird doch seiner ästhetischen Sensibilität entgangen sein. Man wird also annehmen dürfen, dass von dieser Besichtigung der äußeren Galerie über die Naturwahrheit der Darstellung hinausführende bleibende künstlerische Prägungen ausgegangen sind, die der Bericht in Dichtung und Wahrheit bewusst nicht zur Geltung bringen wollte, weil sie der Autor für eine spätere Stelle des Metamorphosenwegs seiner Biographie vorgesehen hatte. Und so wird auch die Begegnung mit der inneren Galerie sehr viel intensiver ausgefallen sein, als es der lapidare Satz „So nahm ich den Wert der italienischen Meister mehr auf Treu und Glauben an, als daß ich mir eine Einsicht in denselben hätte anmaßen können“31 den Leser will glauben machen. Immerhin gibt der Satz klar zu erkennen, dass der junge Goethe sich der ästhetischen Herausforderung der inneren Galerie bewusst gestellt und dass er den „Wert“ der italienischen Maler der Renaissance und des Barock durchaus wahrgenommen hat; alles andere wäre auch höchst unwahrscheinlich, denn nach 1746 stellten die italienischen Meister den ganzen Stolz der Dresdner Galerie dar, wie nicht allein ihre Hängung im Inneren der Galerie, gleichsam als deren Herzstück, zeigt, sondern auch der Befund, dass in dem von Carl Heinrich von Heinecken in den Jahren 1753 und 1757 herausgegebenen prachtvollen Galeriewerk Recueil d’estampes d’après les Tableaux originaux de la Galerie royale neunzig der hundert Stiche italienische Werke zeigen. So sagt der zitierte Satz eigentlich nicht mehr, als dass der junge Betrachter auch diese Bilder genau gesehen und dass er sie bewundert hat, dass er dabei aber noch nicht über das kunsttheoretische Wissen verfügte, das ihm ein völliges Verständnis ihres künstlerischen Rangs ermöglicht hätte. Mit anderen Worten: Wenn der Autobiograph hier davon spricht, dass er als junger Mann in Dresden den „Wert der italienischen Meister“ nur „auf Treu und Glauben“ annehmen konnte, so verbindet er damit eine doppelte Perspektive: einmal auf den Bildungsweg, der seinem Helden damals bevorstand, zum anderen auf sein eigenes Schreibprogramm, das ihm noch eine Italienische Reise abverlangte. Tatsächlich weisen direkte Verbindungslinien von Goethes Besuch der inneren Dresdner Galerie hinüber zur Italienischen Reise, die die Forschung schon 31 Goethe: Dichtung und Wahrheit (MA 16), S. 347.

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deshalb nicht hat erkennen können, weil Goethe in Dichtung und Wahrheit nichts über seine Besichtigung der inneren Galerie sagt. Ich gebe hier nur ein Beispiel: Es bleibt immer merkwürdig, dass Goethe, den es dringend nach Rom verlangte, am 17. Oktober 1786 von Ferrara aus einen Abstecher nach Cento machte, um alle dort erhaltenen Bilder von Guercino zu betrachten.32 Dazu hatte zwar Goethes Reiseführer Volkmann den Italienreisenden geraten,33 da Guercino jedoch in der Vorgeschichte der Italienreise für Goethe keine erkennbare Rolle gespielt hat, bleibt die Digression zu einem Maler des 17. Jahrhunderts an dieser Stelle dennoch irritierend. Sie erscheint aber völlig plausibel, wenn man sie vor dem Hintergrund von Goethes erstem Dresden-Besuch betrachtet. In der inneren Galerie war Guercino nämlich überproportional häufig vertreten; insgesamt zwölf Bilder schreibt ihm der Galerieführer 1765 zu, und in ihrer Summe werden sie ihren Eindruck auf Goethe 1768 gewiss nicht verfehlt haben. Entscheidend aber ist etwas anderes: Sieben Bilder von Guercino hingen in direkter Nachbarschaft zu einem Gemälde, das Goethes Blicke zwingend auf sich ziehen musste: Raffaels Sixtinischer Madonna.34 Wer Raffaels berühmtes Gemälde betrachtete, wurde unmittelbar daneben in die Bildwelt Guercinos gezogen – und diese äußere Nachbarschaft und innere Nähe von Raffael und Guercino bewahrt Jahrzehnte später der Autor der Italienischen Reise. Er lässt sich selbst als Reisenden also am 17. Oktober in Cento die Gemälde Guercinos betrachten, um sich damit auf ein künstlerisches Kernerlebnis seiner Italienreise vorzubereiten: seine angeblich erste Begegnung mit einem Originalgemälde Raffaels, der Heiligen Cäcilie, am folgenden Tag in Bologna: Es ist, was ich zum Voraus wußte, nun aber mit Augen sah: er [Raffael] hat eben immer gemacht, was andere zu machen wünschten, und ich möchte jetzt nichts darüber sagen, als daß es von ihm ist.35

Natürlich hatte Goethe dies „zum Voraus“ gewusst, denn er hatte ja schon als junger Mann bei seinem Besuch in Dresden sich in den Raumsog der Sixtinischen Madonna ziehen lassen und bei dieser Gelegenheit auch die Qualitäten der Bilder Guercinos entdeckt, die Raffaels Bild umgaben. Jetzt, in Italien, geht er den umgekehrten Weg: Er besichtigt zunächst die Guercinos und dann Raffaels Heilige Cäcilie, die August III. vergeblich für die Dresdner Galerie anzukau-

32 Vgl. Goethe: Italienische Reise. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Bd. 15. Hg. von Andreas Beyer und Norbert Miller. München, Wien 1992, S. 116 f. 33 Vgl. den Kommentar zu dieser Passage: ebd., S. 870. 34 Vgl. den Catalogue (Anm. 8), S. 215 f., Nr. 246–254 (ohne Nr. 250). 35 Goethe: Italienische Reise. (Anm. 32), S. 118.

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fen versucht hatte, und kann danach die relative Bedeutung Guercinos bestimmen, der als Maler zu machen wünschte, was Raffael tatsächlich gemacht hatte. Aber stelle ich, gestützt allein auf die Evidenz des Galerieführers von 1765, nicht auch eine Mystifikation her, die diejenige Goethes im Hinblick auf seinen Dresdner Galeriebesuch 1768 noch übertrifft, indem ich aus seiner Aufmerksamkeit für das Werk Guercinos im Jahre 1786 seine Aufmerksamkeit für Raffaels Sixtinische Madonna im Jahre 1768 extrapoliere? Ich denke, dass ich dies nicht tue, denn das Achte Buch von Dichtung und Wahrheit gibt ja, vielleicht sogar gegen den Willen seines Autors, Hinweise genug, aus denen sich erschließen lässt, dass der junge Goethe mit hohem Interesse auch für die Bilder der inneren Galerie insgesamt und für die Sixtinische Madonna insbesondere nach Dresden gereist sein muss, so z. B. die Bemerkung, dass die „Kunstsozietät“, die einmal wöchentlich in der Richter’schen Sammlung in Leipzig zusammenkam, in ihren geschmacklichen Prädilektionen zwar „gegen die niederländische Schule“ gerichtet gewesen sei, auf der anderen Seite aber auch einen „sehnsuchtsvoll verehrenden Blick nach Südosten immer offen gehalten“ habe:36 also nach Italien und Griechenland. Hinzu kommen die Ausführungen über den entscheidenden Einfluss Adam Friedrich Oesers auf Goethes geschmackliche Entwicklung in Leipzig, also auf seine Prägung durch die frühklassizistische Forderung nach „Einfalt“,37 und überhaupt die extensiven Hinweise auf das Studium der frühen Schriften Winckelmanns unter Oesers Anleitung;38 wer aber die in Kooperation mit Oeser entstandene Winckelmann’sche Erstlingsschrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, die das Axiom der edlen Einfalt und stillen Größe im Ausdruck anhand einer Beschreibung der Sixtinischen Madonna entwickelte,39 gelesen hatte, den musste es in der Dresdner Galerie geradezu magisch zu Raffaels Bild ziehen und der verfügte auch über hinreichend kunsttheoretisches Urteilsvermögen, um den „Wert der italienischen Meister“ nicht nur „auf Treu und Glauben“40 annehmen zu müssen. Und schließlich ist noch einmal an die in Dichtung und Wahrheit niedergelegte Hommage auf Johann Anton Riedel zu erinnern, die in der Devise gipfelt, es habe sich Goethe dessen Bild „mit jenen Kunstschätzen so in Eins verwo36 Goethe: Dichtung und Wahrheit (MA 16), S. 340. 37 Ebd., S. 333. 38 Ebd., S. 339. 39 Johann Joachim Winckelmann: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe. Hg. von Walther Rehm. Mit einer Einleitung von Hellmut Sichtermann. Berlin 1968, S. 46: „Sehet die Madonna mit einem Gesichte voll Unschuld und zugleich einer mehr als weiblichen Grösse, in einer seelig ruhigen Stellung, in derjenigen Stille, welche die Alten in den Bildern ihrer Gottheiten herrschen liessen. Wie groß und edel ist ihr gantzer Contour!“ 40 Goethe: Dichtung und Wahrheit (MA 16), S. 347.

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ben“, dass „sein Andenken“ ihn „nach Italien begleitet“ habe.41 So konnte nur ein genauer Kenner der inneren Galerie urteilen, dessen Vertrautheit mit italienischer Malerei im Gespräch mit Riedel bereits bei seinem ersten Besuch der Dresdner Galerie begründet worden war. Warum aber diese Mystifikation des jungen Reisenden zu einem Adepten der Kunst, der in deren Vorhöfen hängengeblieben sei: im wahrsten Wortverstand im Äußeren der Kunst? Hier setzt sich wie so oft der Gestaltungswille des sein Leben schematisierenden Autobiographen über die innere Komplexität und Widersprüchlichkeit seines tatsächlichen Lebenswegs hinweg. Die Darstellung seiner Begegnung mit der italienischen Malerei insgesamt, mit dem Werk Raffaels insbesondere und der Entwicklung seiner klassischen Ästhetik hatte der Autobiograph von Anbeginn für jenen Teil seines Lebensberichts vorgesehen, dessen Schauplatz Italien war, und deshalb hätte eine vorweggenommene Italienreise, die zehn Tage lang durch die Bilder einer Ausstellung führte, das Gesamtbild eines organischen Entwicklungs- und Bildungswegs, der – um nachitalienische Kategorien zu verwenden – von der einfachen Nachahmung der Natur zum Stil führen sollte, massiv durcheinandergebracht. Und deshalb durfte es auch kein voritalienisches Raffaelerlebnis geben, denn es hätte die Bedeutung von Goethes italienischem Geschmackswandel auf der Basis entwickelter kunsttheoretischer Kategorien entscheidend relativiert. Der Autobiograph hatte für sich und für die Entwicklung seines Kunstverständnisses schließlich noch einen weiten Metamorphosenweg vorgesehen. Deshalb musste dem jungen Mann Dresden so erscheinen, als sei es nicht von Canaletto, sondern von Niederländern gemalt worden, deshalb durfte die Sixtinische Madonna nicht erwähnt werden, deshalb half der Autobiograph sofort nach der Rückkehr seines jungen Helden aus Dresden nach Leipzig erst Winckelmann ganz und danach sich selbst halb aus dem Leben, um damit die Erinnerung an die frühklassizistischen Ursprünge seiner Kunstentwicklung zumindest vorübergehend auszulöschen. Erst im Neunten Buch, in einer zwei Jahre später spielenden Episode, nimmt der Autobiograph die im Achten Buch abgeschnittenen Fäden wieder auf: 1770 auf einer Rheininsel in Straßburg. Hier sieht er anlässlich der Vermählung Marie Antoinettes mit Ludwig XVI. „zum ersten Mal ein Exemplar jener nach Raphaels Kartonen gewirkten Teppiche“,42 die ihn 17 Jahre später hastig von Neapel nach Rom reisen lassen werden – und Goethe erzählt davon, als habe er nie zuvor etwas von Raffael gesehen und als sei er nie in Dresden gewesen (wo er übrigens bereits die gleiche Folge von Teppichen hätte sehen können und vielleicht sogar gesehen hat; sie befanden sich seit 1728 im Besitz Augusts 41 Ebd., S. 346. 42 Ebd., S. 390.

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des Starken!43). So bleibt der Dresdner Raffael (wie die gesamte innere Galerie) in Dichtung und Wahrheit auch deshalb eine Leerstelle, weil der Autobiograph die erste Irritation seines frühen Naturalismus durch ein Raffaelerlebnis für Straßburg vorgesehen hatte: in textilen Reproduktionen freilich, aber immerhin als erster Ausblick auf „das Rechte und Vollkommene“44 und damit als erster Anreiz zur Italienreise. Es ist im 18. Jahrhundert die Reproduktion, die den Weg zum Original bahnt; so sieht es die vom Autobiographen entworfene Ordnung seines Lebenswegs vor. Deshalb verflüchtigt sich das Erlebnis der Dresdner Galerie in einer Mystifikation. Der Autobiograph wusste freilich genau, dass er der Dichtung bedurfte, um seinem Leben Wahrheit zu verleihen; im Neunten Buch von Dichtung und Wahrheit heißt es: „Das wirkliche Leben verliert oft dergestalt seinen Glanz, daß man es manchmal mit dem Firnis der Fiktion wieder auffrischen muß.“45

43 Gemäldegalerie Dresden (Anm. 11), S. 460–463. 44 Goethe: Dichtung und Wahrheit (MA 16), S. 393. 45 Ebd., S. 396.

Gerrit Brüning

Eckermanns Redaktion des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit. Annäherungen auf dem Weg traditioneller und digitaler Philologie Die etablierten Leseausgaben von Goethes Dichtung und Wahrheit bieten den Text des vierten Teils in deutlich voneinander abweichenden Fassungen. Nur eine ist in dem Sinn authentisch, dass sie in Wortlaut, Interpunktion, Absatzeinteilung usw. von Goethe selbst herrührt. Ältere Leseausgaben basieren indirekt auf dem Text der Ausgabe letzter Hand, in welcher der vierte Teil erst postum erschienen war.1 Anders als die vorherigen Teile I–III, die noch zu Lebzeiten erschienen waren (1829/30), hat der vierte Teil von Dichtung und Wahrheit eine durchgreifende Bearbeitung durch die Nachlassherausgeber, insbesondre Eckermann, erfahren, die auch für die Weimarer und die ihr nachfolgenden wissenschaftlichen Ausgaben verbindlich blieb. Siegfried Scheibe legte mit seiner Edition von 1970 einen Text frei, der dem letzten noch zu Goethes Lebzeiten erreichten Arbeitsstand entspricht.2 Scheibes Text wurde für die nachfolgenden wissenschaftlichen Ausgaben bindend und fand 1991 auch in das Segment der preiswerten Taschenbuchausgaben Eingang.3 Bis dahin dürften die weitaus meisten Leserinnen und Leser den Text des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit in einer Form rezipiert haben, die ihm nach Goethes Tod gegeben worden war. Weder die ältere noch die neuere (rein Goethe’sche) Fassung gibt freilich ohne weiteres zu erkennen, was das im Effekt bedeutet: inwieweit Eckermann den Text Goethes veränderte und wie diese Änderungen einzuschätzen sind. Scheibes Text von Dichtung und Wahrheit entsprang zeitgenössischen Tendenzen der editionswissenschaftlichen Methodendiskussion; er bietet aber zugleich Ansatzpunkte für ein differenzierteres Verständnis der damals aufgestell1 Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Acht und vierzigster Band. Unter des durchlauchtigsten deutschen Bundes schützenden Privilegien. Stuttgart und Tübingen, in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1833. Nebentitel: Goethe’s nachgelassene Werke. Achter Band (Taschenausgabe, Sigle: C1; Oktavausgabe, Sigle: C3). 2 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. 1. Bearbeitet von Siegfried Scheibe, Berlin 1970. 3 Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Walter Hettche. 2 Bde. Stuttgart 1991. https://doi.org/10.1515/9783110759426-005

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ten Prinzipien. Die Schicht der von Eckermann vorgenommenen Änderungen einmal abzutragen, war notwendig. Genauso wichtig wäre es aber gewesen, Eckermanns Entscheidungen deutlich sichtbar zu machen. Denn Eckermann war zu dem, was er tat, in einem genauen Wortsinn von Goethe autorisiert. Er durfte überzeugt sein, im Sinne des Verstorbenen zu handeln. Und schließlich werfen seine Änderungen auch auf den rein Goethe’schen Text manch interessantes Licht. Als Goethe die Arbeit am vierten Teil von Dichtung und Wahrheit im Oktober 1831 beendete, war er bereits entschlossen, diesen Teil seiner Autobiographie nicht mehr selbst zum Druck zu bringen.4 Im Januar desselben Jahres hatte er die Ausgabe letzter Hand mit dem Erscheinen des 40. Bandes für abgeschlossen erklärt und Johann Peter Eckermann mit der Herausgabe der künftigen Nachlassbände beauftragt.5 Im Mai 1831 schloss er eine vertragliche Übereinkunft mit Eckermann und ernannte diesen darin förmlich zum Herausgeber einer Reihe von literarischen Werken, zu denen neben Gedichten, dem Faust II, Ur- und Bühnenfassung des Götz, der Reise in die Schweiz und kleineren Schriften auch der vierte Teil von Dichtung und Wahrheit gehörte: Herr Dr. Eckermann hat mir seit verschiedenen Jahren bei Bearbeitung vorstehender Werke treulich beigestanden; in wie fern sie als abgeschlossen oder unvollendet anzusehen sind, davon wird er jederzeit die beste Auskunft geben können. Ich ernenne ihn deßhalb zum Herausgeber vorgemeldeter Werke. […] Dr. Eckermann […] wird […] auf Erfordern ein gereinigtes Manuscript überliefern. Die gedachten Manuscripte sind von meinen übrigen Papieren durchaus abgesondert, in einem verschlossenen Kasten verwahrt, wozu Dr. Eckermann den Schlüssel hat und nach Befund und Nothwendigkeit seine Redaction fortsetzen […] wird.6

Dass Eckermann Goethe bei der Arbeit an dessen Werken „treulich beigestanden“ habe, trifft auf den vierten Teil von Dichtung und Wahrheit in besonderem Maße zu.7 Eckermanns Vorschläge betrafen dabei vor allem die Reihenfolge 4 Zur Beendigung der Arbeit an Dichtung und Wahrheit IV vgl. die Zeugnisse in Momme Mommsen unter Mitwirkung von Katharina Mommsen: Die Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten. Hrsg. vom Institut für Deutsche Sprache und Literatur der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (im Folgenden: EGW), Bd. 2. Berlin 1958, S. 526 sowie Siegfried Scheibe: Der vierte Teil von „Dichtung und Wahrheit“. Zu Entstehungsgeschichte und Textgestalt, in: Goethe-Jahrbuch NF 30, 1968, S. 87–115, hier S. 99, 101. 5 Testament vom 22. Januar 1831 (WA I, Bd. 53, S. 334, 335). 6 Ebd., S. 340. Im Testamentszusatz vom 22. Januar fehlt der Hinweis auf Dichtung und Wahrheit IV noch, vgl. ebd., S. 335. 7 Vgl. EGW, Bd. 2, S. 501, 503–505 (1824), S. 509 (1826), S. 521–525 (1831). Vgl. auch Scheibe: Der vierte Teil von „Dichtung und Wahrheit“ (Anm. 4), S. 95, 97 f.

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und Verteilung der einzelnen Partien auf die Bücher.8 Neben Friedrich Wilhelm Riemer und Karl Wilhelm Göttling war Eckermann Goethes „wichtigster Mitarbeiter“ bei den Vorbereitungen für die Ausgabe letzter Hand; es lag daher nahe, ihm die künftige „Verwaltung und Bewahrung seines [Goethes] geistigen Erbes“ anzuvertrauen.9 Wenige Tage nach Goethes Tod, am 28. März 1832, nahmen der Testamentsvollstrecker Friedrich von Müller, Riemer, Eckermann und Theodor Kräuter den literarischen Nachlass erstmals in Augenschein.10 Kurz darauf wurde beschlossen, die Redaktionsarbeit zwischen Eckermann und Riemer aufzuteilen.11 Müller bot Cotta den vierten Teil von Dichtung und Wahrheit zunächst schon für die erste Lieferung der nachgelassenen Werke an.12 Eckermann votierte fast gleichzeitig dafür, mit Dichtung und Wahrheit IV die zweite Lieferung beginnen zu lassen.13 Zu dieser Zeit war Eckermann davon überzeugt, dass er am Text nicht mehr viel zu tun habe und sich dabei im Rahmen der mit Goethe mündlich getroffenen Vereinbarungen halten könne: „Auch dieses vortreffliche Werk ist fast ganz vollendet und sind nur hie und da noch einige kleine Incongruitäten ins Gleiche zu bringen, welches ich mit Goethe mündlich besprochen und mein nächstes Geschäft seyn soll.“14 Die Lektüre übernahm dann zunächst Müller, der damit in das Redaktionskollegium der Ausgabe eintrat.15 Am 1. Juni besprachen sich Müller und Eckermann darüber.16 Kurz darauf übersandte Müller

8 Vgl. EGW, Bd. 2, S. 504, 522. Die Korrektur des Manuskripts vertraute Goethe Riemer an, vgl. Scheibe: Der vierte Teil von „Dichtung und Wahrheit“ (Anm. 4), S. 96 f. 99. 9 Waltraud Hagen: Goethes Maßnahmen zur Sicherung seines literarischen Nachlasses und die Vorbereitung der Ausgabe letzter Hand. In: Siegfried Scheibe u. a. (Hrsg.): Goethe-Studien. Berlin 1965, S. 79–96, S. hier S. 88. 10 Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bearbeitet von Waltraud Hagen (u. a.) 4 Bde., Berlin 1966–86 (im Folgenden: QuZ), Bd. 3, S. 19, Anm. 3. 11 Müller an Johann Friedrich Cotta, 1. April 1832, ebd., S. 19. Riemer sollte sich demnach an der Redaktion beteiligen, die Entscheidungsbefugnis lag aber nach wie vor beim testamentarisch beauftragten Eckermann, vgl. auch die spätere Cotta’sche Verlagsanzeige (erschienen im Intelligenzblatt Nr. 28, das am 29. September 1832 dem Morgenblatt beilag): Eckermann wird dort als „Redakteur und Herausgeber“ benannt, „unter Beirath und Theilnahme“ Riemers (ebd., S. 46). 12 Müller an J. F. Cotta, 22. Mai 1832, ebd., S. 21. 13 Eckermann an J. F. Cotta, 23. Mai 1832, ebd., S. 24. In diesem Sinne dann auch Müller an Riemer, 4. Juli 1832, ebd., S. 31. 14 Eckermann an J. F. Cotta, 23. Mai 1832, ebd., S. 24. 15 Müller an Eckermann, 31. Mai 1832, ebd., S. 25 f. 16 Müllers Tagebuch, ebd., S. 26.

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Eckermann das von ihm redigierte Manuskript mit brieflichen Änderungsvorschlägen.17 Die intensive Arbeit an der ersten Lieferung (C 41–45), für die Dichtung und Wahrheit nicht vorgesehen war, drängte die Redaktion des vierten Teils der Autobiographie vollständig in den Hintergrund; für ganze sieben Monate schweigen die Zeugnisse von ihm. Im Verlauf der Arbeiten an den Nachlassbänden kam Eckermann mehr und mehr zu Bewusstsein, dass seine anfängliche Einschätzung über den Umfang der Redaktionsarbeit getrogen hatte. Über Johann Friedrich Cotta, der mit wachsender Ungeduld auf die Manuskriptlieferungen wartete, schrieb er im Dezember: „Herr v. Cotta hat keine Idee was an einem solchen Bande [hier: dem dritten der nachgelassenen Werke = C 43] zu thun ist; er denkt wahrscheinlich Goethe habe die Manuscripte gereinigt hinterlassen und es wäre nichts weiter zu thun als sie zusammenzustellen.“18 Das war auf die Reise in die Schweiz gemünzt, die Eckermann regelrecht „aus den Tagebüchern heraus erst componirt“ hatte.19 Es galt aber grundsätzlich auch für andere Texte, wie Eckermann im Januar 1833 beklagte: Niemand bedenkt daß zu den meisten Bänden die Materialien aus allen Ecken und Winkeln zusammengesucht werden müssen, und daß unendlich Vieles weil es lückenhaft, undeutlich und nur erster Entwurf war, einer bedeutenden Nachhülfe im Einzelnen bedurfte und bedarf um mittheilbar zu seyn.20

Zu dieser Zeit hielt Müller den vierten Teil von Dichtung und Wahrheit für absendefertig.21 Eckermann dagegen hielt noch eine Prüfung anhand der Manuskriptvorlagen und eine Durchsicht Riemers für erforderlich.22 Dieser bestätigte, dass noch erheblichen Mängeln abzuhelfen war.23 Er trug etliche Änderungen ein, bevor dann Eckermann die für den Druck vorgesehene Abschrift an den Vorlagen prüfte: „Ich collationire ihn [den achten Band, d. h. das Manuskript für ihn] nun sorgfältig und gehe ihn noch außerdem scharf durch wo sich denn noch

17 Müller an Eckermann, vor dem 17. Juni 1832, ebd., S. 26; Müller an Eckermann, 17. Juni 1832, ebd., S. 27. 18 Eckermann an Müller, 11. Dezember 1832, ebd., S. 98. 19 Müller an J. F. Cotta, 12. Dezember 1832, ebd., S. 101; vgl. Silke Henke: Von Goethe autorisiert. Johann Peter Eckermann als Redakteur der „Reise in die Schweiz 1797“. In: Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta (Hrsg.): Autor – Autorisation – Authentizität. Tübingen 2004, S. 239–249, insbes. S. 242–245. 20 Eckermann an Müller, 15. Januar 1833, QuZ, Bd. 3, S. 118. 21 Müller an Eckermann, 15. Januar 1833, ebd., S. 118. 22 Eckermann an Müller, 15. Januar 1833, ebd., S. 119. 23 Riemer an Müller, 16. Januar 1833, ebd., S. 123.

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vielfache sehr glückliche Verbesserungen ergeben.“24 Erst jetzt erhielt der vierte Teil sein den vorigen Teilen analoges Motto „Nemo contra deum nisi deus ipse“, und einer chronologischen Unstimmigkeit in der Erzählung wurde nachgegangen.25 Eckermann erklärte das Werk am 19. Januar für fertig. Dabei verwies er auf eine „eine Unzahl kleinerer und grösserer Fehler und Auslassungen“, die er noch gefunden hatte.26 „Unter anderem fehlten auch zwey der vortrefflichsten Seiten […] zur Charakteristik seiner Schwester […] | Alle dise Auslassungen waren der Art daß Riemer sie, ohne die Copie mit dem Original zu vergleichen, nicht hatte finden können.“ Das Manuskript ging am 21. Januar 1833 an die Druckerei ab.27 Aus den Zeugnissen ergibt sich, dass Eckermann in der Redaktion zwar nicht auf sich allein gestellt war, aber, seiner öffentlich bekanntgegebenen Rolle als „Redakteur und Herausgeber“ entsprechend, eine führende Rolle eingenommen hatte.28 In diesem Sinn kann daher vom Eckermann’schen Text des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit gesprochen werden. Aus den Zeugnissen ergibt sich ferner, dass Eckermann in dieser seiner Rolle unbestrittenermaßen als legitimer Sachwalter des Autors agierte. Er war – anders alle späteren Herausgeber – zu den Entscheidungen, die er traf, eindeutig autorisiert. Dies bedeutet aber nicht, dass seine Entscheidungen für wissenschaftliche Editionen hätten verbindlich sein müssen. Da die noch von Goethe selbst bearbeitete Handschrift des vierten Teils erhalten ist, lassen sich die von Eckermann vorgenommenen Änderungen feststellen: entweder unmittelbar in dieser Handschrift selbst oder durch den Vergleich mit dem Text der postum erschienenen Erstausgabe. Der Bearbeiter des entsprechenden Bandes der Weimarer Ausgabe, Jakob Baechtold, deutet denn auch bereits eine vorsichtige Kritik an, wenn er schreibt, „Eckermanns Redaction dieses vierten Theils, also der Text von C“, möge im Vergleich zur Handschrift „willkürlich erscheinen“.29 Dennoch ist er ausdrücklich „nicht zu dem ursprünglichen Wortlaut von H zurückgekehrt“, d. h. zu dem Text, der Eckermanns postum vorgenommenen Änderungen vorausging. Zur Begründung heißt es, „dass absolut nicht mehr festzustellen ist, inwieweit derartige Änderungen oder Zusätze Goethischen Intentionen entspre24 Eckermann an Müller, 18. Januar 1833, ebd., S. 125. 25 Ebd., S. 126 f. sowie Riemer an Müller, 18. Januar 1833, ebd., S. 127. 26 Eckermann an Müller, 19. Januar 1833, ebd., S. 128. Das folgende ebd. 27 QuZ 3, S. 124, Anm. 1. Zum Druckverlauf vgl. Wilhelm Reichel an Müller, 15. Februar 1833, ebd., S. 141. Anfang Mai lag die zweite Lieferung der Nachlassbände (Taschenausgabe), darunter C1 48 mit Dichtung und Wahrheit IV, fertig vor (Johann Jakob Wagner an Müller, 2. Mai 1833, ebd., S. 228). 28 Verlagsanzeige der J. G. Cotta’schen Buchhandlung (vgl. Anm. 11), ebd., S. 45. 29 Baechtold in WA I, Bd. 29, S. 197. Das folgende ebd.

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chen, ja geradezu Goethische Bleistift-Correcturen voraussetzen, die mitunter noch deutlich aus Eckermanns Änderungen hervortreten.“ Der Versuch, einen rein Goethe’schen, von der Schicht der Eckermann’schen Redaktion befreiten Text herzustellen, ist laut Baechtold damit von vornherein aussichtslos. Bereits im frühen zwanzigsten Jahrhundert wurde der Wunsch nach einem authentischeren, d. h. auch im einzelnen auf Goethe selbst zurückgehenden Text laut.30 Ob die Änderungen, die zu Goethes Lebzeiten vorgenommen wurden, von solchen, die erst postum in den Text eingingen, mit hinreichender Sicherheit unterschieden werden könnten, blieb jedoch im Zweifel. Den ersten Schritt in Richtung eines autornäheren Textes unternahm Lieselotte Blumenthal 1959 in der Hamburger Ausgabe, indem sie für die Textherstellung anstelle des postum erschienen Drucks die von Goethe hinterlassene Handschrift benutzte, allerdings erklärtermaßen deren „letzte Bearbeitung […], die hauptsächlich durch Eckermann, häufig nach Goethes Bleistiftnotizen, vorgenommen wurde“.31 Die „Frage von Goethes Beteiligung“ an den handschriftlichen Änderungen, die in der wiedergegebenen Fassung enthalten sind, bleibt hier wie schon bei Baechtold offen. Auch mit Blumenthals Hamburger Ausgabe liegt also nicht etwa „Goethes hinterlassener Text“ vor.32 Wohl aber sind in ihm zwei postum entstandene Schichten abgetragen: erstens die Änderungen, die erst in der nicht erhaltenen handschriftlichen Druckvorlage vorgenommen wurden, und zweitens die Abweichungen von C 48 gegenüber dieser Druckvorlage. In Siegfried Scheibes Edition von 1970 erschien dann „zum ersten Male der rein Goethe’sche Text“ des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit.33 Seine programmatische Darstellung im Aufsatz von 1968 lassen die erstmals von Baechtold geltend gemachten und fortan tradierten Zweifel an der Rekonstruierbarkeit einer solchen ‚rein Goethe’schen‘ Fassung auf Grundlage der Handschrift als übertrieben, ja geradezu als Ausflucht vor einer durchaus zumutbaren editorischen Aufgabe erscheinen: „Das Problem ist, wie sich bei unseren Betrachtungen schon gezeigt hat, nicht allzu schwer zu lösen, es bereitet weniger Schwie-

30 Vgl. Scheibe: Der vierte Teil von „Dichtung und Wahrheit“ (Anm. 4), S. 89. Das folgende ebd. 31 Blumenthal in Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 10. Textkritisch durchgesehen von Lieselotte Blumenthal und Waltraud Loos. Mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz und Waltraud Loos. Hamburg 1959, S. 656. Das folgende ebd. Zu dieser Position vgl. auch Scheibe: Der vierte Teil von „Dichtung und Wahrheit“ (Anm. 4), S. 90. 32 Ebd. 33 Scheibe: Der vierte Teil von „Dichtung und Wahrheit“ (Anm. 4), S. 102 f. Zum Textband der Edition, der 1970 erschien, vgl. Anm. 2.

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rigkeiten, als in früheren Veröffentlichungen angenommen wurde.“34 Scheibes Verfahren ist klar expliziert. Er nahm in den konstituierten Text auf: 1. die Grundschicht, geschrieben von Johann August Friedrich John, 2. eigenhändige Änderungen, 3. die von John mit Tinte nachgezogenen Bleistiftänderungen (darunter auch nichteigenhändige Bleistiftänderungen).35 Dagegen schloss er aus dem Text aus: 1. Bleistiftänderungen von fremder Hand, die nicht von John mit Tinte nachgezogen wurden (darunter auch solche, bei denen nicht eindeutig erkennbar ist, ob sie von fremder Hand herrühren; dies betrifft z. B. Interpunktion und einzelne Buchstaben), 2. mit Tinte vorgenommene Änderungen von fremder Hand.36 Die zuletzt genannte zweite Gruppe enthält die Änderungen Eckermanns, von denen auf Grundlage der Zeugnisse anzunehmen ist, dass sie sämtlich nicht mehr zu Lebzeiten, sondern postum vorgenommen wurden. Die theoretische Möglichkeit, dass Eckermann einige dieser Änderungen schon zu Goethes Lebzeiten vornahm, braucht dabei nicht völlig ausgeschlossenen zu werden. Denn auch in diesem (angenommenen) Fall unterscheiden sie sich von den ebenfalls fremdhändigen Änderungen Riemers, die Scheibe in den konstituierten Text aufnahm. Riemer nahm seine Änderungen durchweg mit Bleistift vor, und John zog sie auf Geheiß und noch zu Lebzeiten Goethes mit Tinte nach.37 Anders verhält es sich mit den Änderungen Eckermanns: Alle textlichen Korrekturen jedoch, die Eckermann in die Handschriften eingetragen hat, sind von Goethe nicht ausdrücklich bestätigt worden (weder durch Nachziehen, noch durch Tilgen usw.), wie es bei den Korrekturen Riemers geschehen ist. So kann auf ihre Aufnahme in den Text verzichtet werden, ohne daß dabei die Gefahr besteht, eine von Goethe getroffene Entscheidung nicht zu vollziehen.38

Es genügt demnach, dass die betreffenden Änderungen von Goethe nicht erkennbar gebilligt wurden; es muss nicht ausgeschlossen sein, dass er sie noch gesehen hat. Dank der Merkmale der Handschrift, vor allem der Tatsache, dass John die von Goethe gebilligten fremdhändigen Bleistiftänderungen nachweislich zu

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Scheibe: Der vierte Teil von „Dichtung und Wahrheit“ (Anm. 4), S. 102. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 97 f. Ebd., S. 98.

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Goethes Lebzeiten von John mit Tinte nachzog, kann Scheibes Textkonstitution einen hohen Grad von Sicherheit beanspruchen. Und doch handelt es sich bei Scheibes Text um eine Rekonstruktion, um ein Ergebnis von zahllosen Einzelentscheidungen über die Zuordnung der Schreiberhand, vor allem bei Änderungen, die mit Tinte vorgenommen wurden. Je weniger umfangreich solche Änderungen sind, desto schwieriger ist in der Praxis die Unterscheidung der Hand Eckermanns von derjenigen Goethes. Hinzu kommt die schon von Baechtold erwähnte Möglichkeit, dass Eckermann eigenhändige Bleistiftänderungen nachgezogen haben könnte, die verwischt und infolgedessen nur noch teilweise zu erkennen sind.39 Problematisch ist aber nicht die Rekonstruktion als solche, sondern der editionsmethodologische Bedarf, diesen Rekonstruktionscharakter zu verdecken. Im Hintergrund steht nämlich die von Scheibe an prominenter Stelle vertretene Auffassung, es sei „unnötig, den Autortext durch die Anwendung kritischer Methoden ‚herzustellen‘, er ist uns schon überliefert“.40 Diese Formulierung richtete sich gegen editorisch hergestellte Texte, die sich aus zeitlich weit voneinander entfernten Überlieferungsstufen ergaben und denen daher kein bestimmter textgeschichtlicher Ort zugewiesen werden konnte.41 Scheibes Text hat, indem er den letzten zu Goethes Lebzeiten erreichten Arbeitsstand wiedergibt, den verlangten textgeschichtlichen Ort. Zugleich aber war er in einem starken Sinn editorisch „herzustellen“ und zu verantworten und so jedenfalls nicht einfach „schon überliefert“. Das spricht nicht gegen Scheibes Edition von Dichtung und Wahrheit, wohl aber dafür, die von Scheibe und Hans Zeller in der editionswissenschaftlichen Methodendiskussion aufgestellten Prinzipien so differenziert zu verstehen und auch als so revisionsoffen zu behandeln, wie dies angesichts 39 Baechtold in WA I, Bd. 29, S. 197. Im Fall von Dichtung und Wahrheit IV spielen solche eigenhändigen Bleistiftkorrekturen als Vorstufe zu postum vorgenommenen Tintenkorrekturen keine Rolle (vgl. Scheibe: Der vierte Teil von „Dichtung und Wahrheit“ [Anm. 4], S. 109). Im Fall des Faust II stellt sich die Lage unterschiedlich und insgesamt schwieriger dar. Für eine Übersicht der Stellen, an denen postum vorgenommene Eingriffe gegen die gesamte editorische Tradition zurückgenommen wurden, vgl. Johann Wolfgang Goethe: Faust. Historisch-kritische Edition. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis unter Mitarbeit von Gerrit Brüning u. a. Frankfurt am Main / Weimar / Würzburg 2019. URL: http://v1-2.faust edition.net/ (Text / Apparat / Typ „VI: Postumer Eingriff“). Die dort zusammengeführten Textstellen machen die betreffenden editorischen Entscheidungen und den ihnen jeweils zugrundeliegenden handschriftlichen Befund transparent. 40 Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe, in: Gunter Martens und Hans Zeller (Hrsg.): Texte und Varianten. München 1971, S. 1–44, hier S. 6 f. 41 Vgl. Dietmar Pravida und Gerrit Brüning: Komplexe Überlieferungssituationen und Probleme des Autorisationsbegriffs, am Beispiel Goethes. In: editio 33, 2019, S. 94–113, hier S. 102.

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komplexer Überlieferungssituation erforderlich ist.42 Vor dem Hintergrund der Methodendiskussion verdient außerdem Beachtung, dass Scheibe den Text von Dichtung und Wahrheit auf der Grundlage einer Mehrzahl von Zeugen herstellte: im ersten bis dritten Teil auf der Grundlage der Erstdrucke von 1811, 1812 und 1814, im vierten Teil auf der Handschrift.43 Scheibe bietet also nicht den Text von Dichtung und Wahrheit insgesamt, wie er für Goethe am Ende seines Lebens gültig war (d. h. die entsprechenden Bände der Ausgabe letzter Hand für die Teile I– III zusammen mit der Handschrift für den IV. Teil), sondern wendet das von ihm aufgestellte Prinzip, dem konstituierten Text nur einen Zeugen zugrundezulegen, jeweils separat auf die einzelnen Teile von Dichtung und Wahrheit an.44 Scheibes Text von Dichtung und Wahrheit ist heute allgemein akzeptiert und verbreitet. Wie eingangs bemerkt, ging er mit wenigen Veränderungen in die späteren wissenschaftlichen Studienausgaben ein und liegt auch als preiswerte Taschenbuchausgabe vor. Den Vorzug erhält er aber nicht allein aufgrund der Tatsache, dass er erstmals eine „rein Goethesche“ Fassung des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit bringt.45 Entscheidend war das Versprechen, damit zugleich einen ästhetisch aus heutiger Sicht höherwertigen Text zu bieten. Eckermann habe einen von Inkongruenzen bereinigten, geglätteten, den ästhetischen Ansprüchen des zeitgenössischen Publikums angepassten Text hergestellt.46 Goethes „lange Perioden, die ein Thema in einem großem Atem behandeln“, seien von ihm „radikal“ geopfert worden.47 Hinzugefügte Absatzgrenzen „zerhacken den Text“ geradezu.48 Er werde dadurch „einfacher, überschaubarer, glatter, aber der Reiz der Spannung, der in Goethes Altersprosa herrscht, geht dabei verloren.“49 Demgegenüber, so muss man aufgrund dieser Darstellung annehmen, legte Scheibe wieder die ästhetischen Qualitäten des Goethe’schen Altersstils frei. Doch an welchen Stellen ist der Text durch Scheibes editorischen Akt der Freilegung authentischer geworden? Oder umgekehrt: Wo hatte Eckermann den Text Goethes signifikant verändert? Scheibes erstmals „rein Goethesche“ Fassung gibt dies auf den ersten Blick ebenso wenig zu erkennen wie die früheren Fassungen, die auf Eckermanns Redaktion beruhten. Leserinnen und Leser ohne 42 Vgl. ebd., S. 107–113. 43 Scheibe in Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bd. 2. Bearbeitet von Siegfried Scheibe, Berlin 1974, S. 265. 44 Vgl. Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien (Anm. 40), S. 38 f., 41. 45 Scheibe: Der vierte Teil von „Dichtung und Wahrheit“ (Anm. 4), S. 102 f. 46 Ebd., S. 103. 47 Ebd., S. 106. 48 Ebd., S. 109. 49 Ebd., S. 108.

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editionswissenschaftliche Vorbildung kommen daher gar nicht umhin, sowohl den einen als auch den anderen Text von Dichtung und Wahrheit so zu rezipieren und zu interpretieren, wie er jeweils ist, und ihn dabei in dem Sinne für authentisch zu halten, dass er den Intentionen des Autors im Großen und Ganzen entspricht.50 Aus dieser Perspektive betrachtet lassen aber beide Texte zu wünschen übrig: der Eckermann’sche, weil sich nicht ermitteln lässt, dass er dem Wunsch des Verstorbenen entsprach; der ‚rein Goethe’sche‘ aber ebenso, weil es andererseits feststeht, dass Goethe keinen rohen Abdruck des bei seinem Tod hinterlassenen Manuskriptzustands gewollt hat – Eckermann war ja zur Redaktion ausdrücklich testamentarisch beauftragt. Die Argumentation für oder gegen den einen oder anderen Text kann also nicht auf die Intentionen Goethes abstellen. Auch ästhetische Präferenzen, die von Scheibe ins Feld geführt und nach ihm bereitwillig aufgegriffen wurden,51 können als Kriterium keine Rolle spielen. Auch wenn Eckermann zu attestieren wäre, dass ihm mit seiner Redaktion eine bestmögliche Annäherung an Goethes Altersstil gelungen ist, hätte Scheibe nach seinen eigenen Prinzipien so verfahren müssen, wie er verfuhr. Überdies ist klar, dass der von Goethe hinterlassene Text von Dichtung und Wahrheit IV jedenfalls nicht als vollendeter Ausdruck des Altersstils betrachtet werden kann: Was die Herausgeber als vierten Teil von „Dichtung und Wahrheit“ vorfanden, war ein Torso, der erst in wenigen Abschnitten seinen endgültigen Stand erreicht hatte, in dem die meisten Partien unverbunden und ohne Bezug zueinander zusammengestellt waren, in dem überdies manche Widersprüche begegneten52

Zu den Kennzeichen der Vorläufigkeit, die hier in Rede stehen, gehörten zudem die kleinen Fehler, wie sie für Schreiberhandschriften typisch sind, und die im Verhältnis zur Druckfassung schwache oder fehlende Gliederung des Textes im Großen (Absätze) und Kleinen (Interpunktion). Anstatt einen der beiden vorliegenden Texte zu verabsolutieren, sollte es vielmehr darum gehen, sie zueinander in Relation zu setzen. Denn Eckermanns redaktionelle Veränderungen haben nicht nur über Jahrzehnte die Rezeption des Textes geprägt; sie werfen, indem sie von ihm abweichen, auch ein Licht auf den ‚rein Goethe’schen‘ Text selbst. Wie kann es gelingen, sich dem Verhältnis beider Texte und damit zugleich Eckermanns Redaktionsarbeit anzunähern? Die Entwicklung eines Textes wiederzugeben, ist Aufgabe des Apparats historisch-kritischer Ausgaben. Das gilt ausdrücklich auch für den Apparat der 50 Ausführlicher zu dieser Problematik Vf.: Modellierung von Textgeschichte. Bedingungen digitaler Analyse und Schlussfolgerungen für die Editorik. In: Fotis Jannidis u. a. (Hrsg.): Digitale Literaturwissenschaft. DFG-Symposium 2017 (im Erscheinen). 51 Vgl. Peter Sprengel in MA, Bd. 16, S. 918. 52 Scheibe: Der vierte Teil von „Dichtung und Wahrheit“ (Anm. 4), S. 103.

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Goethe-Akademie-Ausgabe, in deren Rahmen Scheibes Edition von Dichtung und Wahrheit erschien.53 Sein Apparat hebt die postum entstandenen Lesarten aus der Gesamtmasse der Varianten heraus, indem er ihnen eine eigene Spalte zuweist, und erleichtert so ihre Betrachtung. Die Hoffnung, sich mithilfe des Apparats einen raschen Überblick der Eckermann’schen Redaktion zu verschaffen, trügt jedoch, teils infolge der allgemeinen Merkmale aller Stellenapparate, teils infolge der besonderen Merkmale des Apparats der Akademie-Ausgabe und schließlich infolge der schieren Menge der Varianten. Zunächst muss man die Stelle des edierten Textes, auf welche die Variante sich bezieht, anhand von Seiten- und Zeilenreferenz sowie von Wortidentität aufsuchen, um in einem zweiten Schritt Text und Variante miteinander vergleichen und die Variante in ihrem Kontext betrachten zu können. Anders als im Fall des sog. lemmatisierten Apparats enthalten die Apparateinträge der Akademie-Ausgabe generell kein Lemma, das im Fall kurzer Varianten einen sofortigen, wenn auch vom Kontext isolierten Vergleich zwischen Text und Variante ermöglichen würde.54 Die Erfassung jeder einzelnen Variante wird infolgedessen zu einem so mühsamen Geschäft, dass sich eine Gesamtschau aller postum entstandenen Lesarten mithilfe des Apparats praktisch nicht erreichen lässt, obwohl diese sogar von den übrigen Varianten getrennt erscheinen. Anhand der folgenden Passage sollen die verschiedenen Möglichkeiten des Zugangs zu Eckermanns Redaktionstätigkeit exemplarisch durchgespielt werden: In einer Stadt wie Frankfurt befindet man sich in einer wunderlichen [10]Lage; immer sich kreuzende Fremde deuten nach allen Weltgegenden hin; früher war ich schon bey manchem Anlaß mobil geworden und gerade jetzt, im Augenblicke wo es drauf ankam einen Versuch zu machen ob man Lilli entbehren könne, wo eine gewisse peinliche Unruhe mich zu allem bestimmten Geschäft unfähig machte, schien mir ein solcher Anlaß, ein solcher Ruf [15]willkommen. Ich entschloß mich, begünstigt durch das Zureden meines Vaters, welcher eine Reise nach der Schweitz sehr gerne sah und mir empfahl einen Uebergang nach Italien, wie es sich fügen und schicken wollte nicht zu versäumen.55 53 Grundlagen der Goethe-Ausgabe. In: Siegfried Scheibe: Kleine Schriften zur Editionswissenschaft. Berlin 1997, S. 245–272, hier S. 256. 54 Vgl. auch Grundlagen der Goethe-Ausgabe (Anm. 53), S. 256. Beispiel: „551, 3 ist, (Xx)Hk195– D225“ (Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2 [Anm. 43], S. 330). Der Text hat an der betreffenden Stelle „ist“ (ohne Komma, vgl. ebd., Bd. 1, S. 551). Die Hinzugabe eines Lemmas nach dem Muster ‚ist] ist,‘ würde dagegen erlaubt, auch ohne Aufsuchen der Stelle im Text zu erkennen, um was für eine Art von Variante es sich handelt. 55 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1 (Anm. 2), S. 599. Auf die am linken Rand mitgeführte Zeilenzählung beziehen sich die Angaben in Scheibes Apparat (vgl. Abb. 1 und 2).

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Abb. 1 und 2: Variantenverzeichnis aus Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2 (Anm. 43), S. 385 f. Auf die folgende Abb. 3 beziehen sich sowohl in der linken als auch in der rechten Spalte die Angaben zu S. 599, Z. 8–18.

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Abb. 3: Handschrift des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit, 18. Buch (Signatur: GSA 25/ W 2355, Sigle: Hm, Bl. 108v; Foto: Klassik Stiftung Weimar). Rechtsspaltig die Grundschicht von John; teils mit zu Lebzeiten von Riemer mit Bleistift vorgenommenen und von John mit Tinte nachgezogenen, teils mit postum von Eckermann mit Tinte vorgenommenen Änderungen. Zum Text vgl. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1 (Anm. 2), S. 599, Z. 8–17, zu den Varianten vgl. Abb. 1 und 2.

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Abb. 4: Handschrift des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit, 17. Buch (Signatur: GSA 25/ W 2355, Sigle: Hm, Bl. 44r; Foto: Klassik Stiftung Weimar). Niederschrift und Änderungen von der Hand Eckermanns. Zum Text vgl. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1 (Anm. 2), S. 569, Z. 24–32, zu den Varianten vgl. ebd., Bd. 2 (Anm. 43), S. 357 f. Eckermanns Niederschrift beruht auf bereits vorliegenden Formulierungen Goethes, die von Müller als problematisch markiert und von Eckermann daraufhin einer grundlegenden Überarbeitung unterzogen wurden.56 56 Vgl. Müller an Eckermann, vor dem 17. Juni 1832: „Bey der vorzunehmenden Redaction mache ich Sie besonders auf den ersten Bogen des XVII. Capitels aufmerksam, wo manches

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So liest sich der Text in dem Zustand, in dem Goethe ihn bei seinem Tod mutmaßlich hinterließ, d. h. bevor Eckermann postum seine Änderungen vornahm, um den Text für die Veröffentlichung einzurichten. Der Apparat der AkademieAusgabe (vgl. Abb. 1 und 2) hält die einzelnen Akte von Eckermanns Redaktionstätigkeit detailliert und vollständig, aber in einer Form fest, die aus den zuvor genannten Gründen nur unter Mühen nachvollziehbar, jedenfalls nicht flüssig lesbar ist. Einen anschaulicheren Eindruck von Eckermanns Redaktionstätigkeit vermittelt die Handschrift der Passage. Doch ist die Unterscheidung der postum vorgenommenen Eingriffe von den Änderungen Goethes sowie von den fremdhändigen Änderungen zu Lebzeiten nicht immer trivial. Sie erfordert in vielen Fällen spezielle paläographische Kenntnisse. Einen unverstellten Zugang zu Eckermanns Redaktionstätigkeit bietet daher auch die Handschrift nicht, und man wird sich bei ihrem Studium immer wieder auf die Angaben in Scheibes Apparat stützen. Anstatt die Erfahrung von Anschaulichkeit angesichts der Handschrift gegen die notgedrungen technische Form des Apparats auszuspielen, gälte es, beide Sichten auf die Überlieferung so zusammenzuführen, dass sie sich wechselseitig verständlich machen: Der Apparat würde weiterhin Auskunft darüber geben, wie der handschriftliche Befund zu verstehen ist. Umgekehrt aber würde die Abbildung der Handschrift dabei helfen, die Angabe im Apparat nachzuvollziehen. Voraussetzung dazu ist eine interaktive Verknüpfung von Bild und Text. Diese ist im digitalen Medium möglich (vgl. z. B. die Realisierung in der Faustedition), aber im Fall des Apparats der Akademie-Ausgabe weder konzeptionell noch technisch trivial, da als vorbereitender Schritt zunächst Apparat und Text zusammengeführt werden müssten, und da sich ferner Faksimile und Apparat nicht eins zu eins entsprechen. Der Apparat der Akademie-Ausgabe enthält alle Informationen, die man sich aus philologischer Sicht wünschen kann, so dass sich eine Neuedition eigentlich verbietet. Andererseits vermittelt er diesen Gehalt in einer Form, die der menschlichen Lektüre praktisch unzugänglich ist. Soll die ungeheure Leistung von Scheibes Akademie-Ausgabe jemals einen realen Gewinn in Form einer Rezeption durch Leserinnen und Leser zeitigen, so muss eine digitale Erschließung dieser Edition ins Auge gefasst werden.57 Das Studium der Handschrift ist allerdings nicht der alleinige Weg, um ein Gesamtbild der Eckermann’schen Redaktion zu erhalten. Zum einen kann und

mir nicht zart genug ausgedrückt scheint; der Leser könnte leicht nachtheilige Begriffe von der Heldin Lilli fassen.“ (QuZ 3, S. 26) sowie Müller an Eckermann, 17. Juni 1832, ebd., S. 27. 57 Dasselbe gilt für alle Werke, zu denen im Rahmen der Akademie-Ausgabe ein Apparat erschienen ist, d. h. für die „Erzählungen“ (1971, 1975), die „Schriften zur Literatur“ (1970–1982) und mit Abstrichen auch für einige „Werke Goethes“ (1952–1966).

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muss für ein solches Gesamtbild von den zahlreichen einzelnen Details des handschriftlichen Befundes abstrahiert werden. Zum anderen führte Eckermann seine Redaktion in der späteren, nicht erhaltenen Handschrift fort, die dann als Vorlage für den Druck in den Nachgelassenen Werken (C 48) diente. Insgesamt ist gemäß der oben referierten Quellenlage mit folgenden textgeschichtlichen Stufen des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit zu rechnen: 1. Handschrift im letzten zu Goethes Lebzeiten erreichten Arbeitsstand (1831) = AA (Scheibe), 2. Handschrift nach postum erfolgter Redaktion (1832) = HA (Blumenthal), 3. Druckvorlage (1832/33, nicht erhalten) 4. Druck in C 48, 1833 ≈ WA I 29 (Baechtold) Das Endergebnis von Eckermanns Redaktion ist nur durch den Druck C 48 zugänglich. Der direkteste Weg, sich Eckermanns Redaktionsarbeit anzunähern, ist daher ein Vergleich des Textes, der dem letzten zu Goethes Lebzeiten erreichten Arbeitsstand entspricht (vertreten durch Scheibes Rekonstruktion), mit dem Text von C 48 (hier vertreten durch die WA).58 Indem der Apparat der AA zu jeder Stelle des Textes in der linken Spalte alle Entstehungs- und in der rechten Spalte alle postum entstandenen Varianten verzeichnet, bietet er jederzeit die gesamte Fülle der Informationen, aber kaum die Möglichkeit, das Verhältnis einer Auswahl von Fassungen zu überblicken. Genau dies ermöglichen digitale Werkzeuge. Der Text des vierten Teils in der AA (= Goethe’scher Text) wurde digitalisiert, für die WA (≈ Eckermann’scher Text) wurde die vorliegende digitale Version benutzt.59 Durch automatische Kollation lassen sich diese Textfassungen lückenlos vergleichen. Die vom Programm erzeugte Verzeichnung der festgestellten Unterschiede ist maschinenlesbar und kann auf verschiedene Arten weiterverarbeitet werden. Als erster Schritt der Weiterverarbeitung bietet sich an, die maschinenlesbare Verzeichnung in eine für Menschen bestmöglich lesbare Form zu überführen. Das eigens zu diesem Zweck entwickelte TUSTEP-Pro58 Beim Text der WA ist im Bereich der Orthographie und Interpunktion gemäß den Grundsätzen der Weimarer Ausgabe zwar mit geringfügigen Abweichungen von C 48 zu rechnen; diese betreffen jedoch einen Bereich, auf den sich Eckermanns Redaktionsarbeit nicht oder allenfalls nebenher mit erstreckte, sind für deren Einschätzung also nicht von Belang. Die WA war demgegenüber jedoch grundsätzlich bestrebt, fehlerhafte Abweichungen von der Druckvorlage rückgängig zu machen, und kommt dem Ergebnis von Eckermanns Redaktion insofern näher als der Druck C 48. Die hier entwickelten Verfahren können künftig ohne weiteres auf einen Vergleich des Goethe’schen Textes mit dem Text von C1 oder C3 48 übertragen werden. 59 Goethes Werke auf CD-ROM. Cambridge 1995.

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gramm Vergleich-aufbereite ist in der Qualität seines Ausgabeformats nach wie vor unerreicht. Die folgende Abbildung (Abb. 5) zeigt die Ausgabe des Programms für die oben vor Abb. 1 zitierte Textpassage.

Abb. 5: Ausgabe des TUSTEP-Programms Vergleich-aufbereite für die oben zitierte und in Abb. 3 wiedergegebene Passage AA DuW 1, S. 599, Z. 9–18. Die linke Randspalte enthält eine programminterne Seiten- und Zeilenreferenz, die zweite Spalte in eckigen Klammern Kurzbezeichnungen der Vergleichstexte (hier „WA“). Danach folgt eine mehrzeilige (hier zweizeilige) Synopse der verglichenen Fassungen. Gleichheitszeichen stehen für identischen, Lücken für fehlenden Text.

Grund- und Vergleichstext (ggf. auch mehrere Vergleichstexte) lassen sich in dieser Darstellung wie die Stimmen einer musikalischen Partitur synchron lesen. Horizontal ist wie bei der gewohnten Lektüre das Syntagma des Textes zu verfolgen, auf der vertikalen Achse erscheint das Variantenparadigma. Die visuellen Stärken und die Wahlmöglichkeiten des Programms Vergleich-aufbereite rechtfertigen bereits den dafür erforderlichen vorhergehenden Einsatz des Programms vergleiche als Werkzeug zur automatischen Kollation, einem Bereich, in dem TUSTEP mittlerweile nicht mehr konkurrenzlos ist. In der zeilensynoptischen Darstellung sind die Varianten leichter als in der Handschrift oder im Apparat zu erfassen. Eckermanns Redaktion kann mühelos über den gesamten vierten Teil von Dichtung und Wahrheit hinweg nachvollzogen werden. Digitale Werkzeuge können auf diese Weise ohne aufwendige Vorkehrungen eine Übersicht vermitteln, wie sie allenfalls Scheibe selbst während seiner Arbeit am Variantenverzeichnis hatte. Indem sie den von Goethe hinterlassenen und den von Eckermann hergestellten Text vergleichend lesbar machen, legen sie erstmals den ungehinderten Blick auf Eckermanns Redaktionstätigkeit, aber

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auch ihre in Goethes Text selbst liegenden Anlässe frei, die in Scheibes Kontrastierung von Altersstil und Zeitgeschmack nicht aufgehen. Bezogen auf den Goethe’schen Text sind u. a. folgende Merkmale zu festzuhalten: – schwach ausgeprägte Absatzgliederung, – schwache ausgeprägte Interpunktion (so für Handschriften generell, aber nicht für Veröffentlichungen zu Lebzeiten typisch), – Schreib- und Hörfehler,60 – orthographische Inkonsistenzen, – Wortwiederholungen, – Wiederholungen einzelner Passagen, – implizite Rückbezüge, – frei gebliebene Lücken in der Handschrift, – fehlende Anschlüsse, besonders nach Lücken, – anstößige Formulierungen. Darüber hinausgehend griff Eckermann auch dort ein, wo er dem Verständnis der Lesenden durch Vorausdeutungen, Rückbezüge und Verdeutlichungen nachhelfen zu können glaubte, ohne Inhalt und Ausdruck zu verfremden. Die oben exemplarisch herangezogene Passage enthält dafür zwei typische Beispiele, so die von Eckermann hinzugefügte „Reiselust“, die psychologisch motivieren soll, weshalb Goethe schon bei früheren Anlässen „mobil geworden“ war, und die „Aufforderung der Stolberge, sie nach der Schweiz zu begleiten“,61 mit denen Eckermann unter Rückbezug auf die einige Seiten vorher geschilderte Einführung der Grafen Stolberg expliziert, um was für einen „Anlaß“ und „Ruf“ es sich handelt.62 Der Gedanke an die Gegenüberstellung von Handlungs- und Symbolzusammenhang, von Kausal- und Bilderreihe, wovon jeweils das letztere Glied als kennzeichnend für Goethes Altersstil gilt, liegt hier nahe.63 Im gegebenen Fall hebt Eckermann gleichwohl nur einen pragmatischen Nexus hervor, der bereits im Goethe’schen Text vorliegt und lediglich undeutlich ausgedrückt ist, anstatt etwa einen symbolischen zu verdecken. Im Hinblick auf die über60 Darunter auch häufig irregulär gebildete Dative wie „bey schlechten Wetter“, die für Goethe nicht belegt, für John aber typisch sind und bei Scheibe gewahrt werden (Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1 [Anm. 2], S. 591). 61 WA I, Bd. 29, S. 92. 62 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1 (Anm. 2), S. 599, vgl. ebd., S. 597: „Um diese Zeit meldeten sich die Grafen Stollberg an die auf einer Schweitzerreise begriffen bey uns einsprechen wollten.“ 63 Vgl. Erich Trunz: Goethes Altersstil. In: Ders.: Ein Tag aus Goethes Leben. München 2006, S. 139–146, hier S. 140. Hans Joachim Schrimpf: Goethes Altersgeistigkeit: Weltbild und Altersstil. In: Ders.: Goethe. Spätzeit, Altersstil, Zeitkritik. Pfullingen 1966, S. 5–24, hier S. 20 f.

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greifende Struktur des vierten Teils ist zum einen zu sagen, dass sich die von Eckermann gemilderten Brüche (wie in der obigen Aufzählung bereits angedeutet), aus den im Manuskript feststellbaren Lücken des Textes ergeben, also kein direkter Ausfluss eines poetischen Willens sind, und zum anderen, dass der Eckermann’sche Text immer noch von einer „lockeren Konzeption“ im Sinne des Altersstils geprägt ist.64 Eine fundierte Einschätzung der in Eckermanns Redaktion wirksamen Tendenzen kann nicht auf einzelnen herausgegriffenen Stellen beruhen, sondern sollte von einer Klassifikation der Änderungen ausgehen. Digitale Werkzeuge können auch hierzu einen Beitrag leisten, indem die maschinenlesbare Verzeichnung der Varianten computergestützt analysiert wird.65 Bereits beim ersten Blick auf die menschenlesbare Form des Kollationsergebnisses fallen Änderungen der Interpunktion und Orthographie ins Auge. Um die ersteren leichter von den übrigen Varianten isolieren zu können, wurden zunächst die Interpunktionszeichen vom jeweils vorhergehenden Wort getrennt. Aus dem Vergleich der beiden so behandelten Fassungen ergeben sich rund 3400 Abweichungen. Das Verfahren zur Klassifikation beruht in den meisten Fällen auf zwei Schritten: Der Inhalt der verzeichneten Abweichungen wird anhand vorgegebener Regeln normalisiert und anschließend daraufhin getestet, ob Lemma und Variante infolgedessen identisch sind (wie z. B. die Varianten „Styl“ und „Stil“, wenn y durch i ersetzt wird). Ist dies Fall, kann die betreffende Variante einer der definierten Gruppen zugewiesen werden. Auch die Entfernung von Zeichen (z. B. von Wortzwischenräume oder Apostrophen) kann Varianten identisch werden lassen. Im Ergebnis entfallen drei Viertel der Varianten 64 Trunz: Goethes Altersstil (Anm. 63), S. 141. 65 Die Entwicklung von Verfahren zur automatischen Variantenklassifikation steht noch am Anfang. Ausgangspunkt der folgenden Darstellung war der 2018 angestellte Vergleich von Max Brods Erstausgabe des Prozesses mit Kafkas Handschrift nach der Kritischen Kafka-Ausgabe. Dem Vergleich ging eine computergestützte Annäherung an den unemendierten Manuskripttext durch Zurücknahme der editorischen Eingriffe der Kritischen Ausgabe voraus. Die Analyse des Vergleichsergebnisses war methodisch angelehnt an Erik Ketzan und Christof Schöch: What Changed When Andy Weir’s The Martian Got Edited? In: Digital Humanities 2017 Conference Abstracts. Montreal 2017. URL: https://dh2017.adho.org/abstracts/317/317.pdf und erfolgte mit einem entsprechend modifizierten Python-Skript. Die Untersuchung von Dichtung und Wahrheit IV beruht auf der Weiterentwicklung eines TUSTEP-Skripts, das Wilhelm Ott im Rahmen der 2011 Annual Conference and Members’ Meeting of the TEI Consortium, Würzburg, 10.– 16. Oktober 2011, erstmals vorgestellt hat. Die Stärke des dabei eingesetzten Programms kopiere gegenüber dem Python-Skript liegt darin, dass die zur Klassifikation angegebenen Regeln nicht nur alternativ, sondern auch kombiniert angewendet werden, wie es z. B. für die Klassifikation der Variante „beym] bei’m“ erforderlich ist (Abweichung im Gebrauch von i/y und in der Apostrophsetzung).

Eckermanns Redaktion des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit



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auf Gruppen, die auf systematische Änderungen zurückgehen. Die bei weitem größten Gruppen sind die der Interpunktions- (1370 Vorkommen, 41 %) und orthographischen Änderungen (1045 Vorkommen, 31 %). Deutlich kleiner, aber noch klar als Gruppe erkennbar sind hinzugefügte Absatzgrenzen (73 Vorkommen, 2,2 %), korrigierte Dative (z. B. „dem […]“ statt „den obersten Stande“; 43 Vorkommen, 1,3 %),66 beseitigte oder veränderte Synkopierung (z. B. „goldenen“ statt „goldnen“; 39 Vorkommen, 1,2 %).67 Von den knapp 800 (24 %) der bislang nicht zugeordneten Varianten sind einige ebenfalls noch den genannten Gruppen zuzuordnen.68 Es bleibt die Gruppe der im engeren Sinn substantiellen Varianten, die sich einer regelbasierten Klassifikation vorerst entziehen. Um auf diesem Feld mit digitalen Werkzeugen Fortschritte zu erzielen, sind sowohl analytisch als auch informationstechnisch anspruchsvollere Ansätze erforderlich.69 Methoden der Digital Humanities ermöglichen eine Annäherung an Eckermanns Redaktion von Dichtung und Wahrheit IV, die auf herkömmlichem Weg nicht oder nur mit ungleich größerem Aufwand zu bewerkstelligen wäre, und potentiell eine über einzelne Texte hinausgehende, vergleichende Analyse von Textgeschichte. Insofern als Eckermanns Eingriffe nicht von zufälligen Neigungen, sondern meistenteils von beschreibbaren Merkmalen der ihm vorliegenden Manuskriptfassung herrührten, erhellen solche Methoden auch Eigenschaften des Goethe’schen Textes. Die daraus fließenden Erkenntnisse beziehen sich aber zunächst nur auf die geänderten Stellen, nicht auf den Text als ganzen, und sind mit Blick auf die generellen Merkmale der Autobiographik des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit nur begrenzt aussagekräftig. Und wenn in Be66 Zu „den obersten Stande“ vgl. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1 (Anm. 2), S. 585. 67 Da es sich um einen Prosatext handelt, kann die in C erkennbare Tendenz zu volleren Formen ebenfalls zu den im weiteren Sinn orthographischen Änderungen gezählt werden. 68 Um Vollständigkeit zu erreichen, hätte das bereits umfangreiche Set an Regeln nochmals deutlich erweitert werden müssen, u. a., um Überschneidungen in der Anwendung unterschiedlicher Regeln aufzulösen. Zudem wäre es notwendig gewesen, auch die zahlreichen Möglichkeiten kombinierter Phänomene abzubilden (z. B. Worttrennung und beseitigte Synkope, Worttrennung und korrigierter Dativ usw.). Dies war in diesem Rahmen nicht angestrebt. 69 In der TXSTEP-Version von März 2021 sind neue Skripte enthalten, die zu jeder Variante das Ausmaß der Abweichung (die sog. Levenshtein-Distanz) berechnen. Auf dieser Grundlage lassen sich die Lesarten des Eckermann’schen Textes daraufhin sortieren, ob sie besonders stark oder nur geringfügig vom Goethe’schen Text abweichen. Darüber hinaus hat der Programmautor Wilhelm Ott Skripte zur alphabetischen Sortierung der Varianten nach deren Inhalt erstellt, mit denen gleichartige und ähnliche Abweichungen zusammengeführt werden können. – Ich danke Wilhelm Ott für zahlreiche Beiträge und Anregungen zu diesen wie auch zu vorangegangenen Untersuchungen.

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zug auf die meisten der von Eckermann retuschierten Züge der von Goethe hinterlassenen Textfassung (schwache Absatzgliederung und Interpunktion, Fehler und Inkonsistenzen, stilistisch und inhaltlich anstößige Passagen, fehlende Anschlüsse etc.) in Frage steht, ob diese Merkmale auf den Goethe’schen Altersstil zurückzuführen sind, so ist aus demselben Grund fraglich, ob sie aus einer spezifischen autobiographischen Erzählweise resultieren. Wirklich nahe liegt die Vermutung eines mehr als bloß nachlässigen Umgangs im Wissen um die Sorgfalt des künftigen Redakteurs oder einer Nachlässigkeit im höheren poetologischen Sinn nur im Fall der impliziten Rückbezüge und Undeutlichkeiten, die Eckermann explizit macht und auflöst. Um über Goethes autobiographische Erzählweise auf dem Weg einer digitalen Philologie mehr in Erfahrung zu bringen, müssten sowohl die Analyse der Fassungsunterschiede verfeinert als auch darüber hinausgehende DH-Methoden entwickelt werden.

Ariane Ludwig

„bald Chronik bald Annalen, Memoiren, Confessionen, und wer weiß wie sonst noch“ – zu Goethes Tag- und Jahres-Heften Let me embrace thee, good old chronicle, Thou hast so long walk’d hand in hand with time.1 Das was ich nicht recht zu nennen weiß, was aber wohl auf ein paar Bände anschwellen möchte sind Notizen a u s m e in e m L eb e n ; sie gehen durch alle Jahre durch bis auf die neuste Zeit, bleiben dem Sinne nach dieselbigen, der Ausführung nach möchte man sie bald Chronik bald Annalen, Memoiren, Confessionen, und wer weiß wie sonst noch, nicht mit Unrecht benennen; sie streifen in ihrem einfachen Gang an die Weltgeschichte, oder die Weltgeschichte wenn man will streift an sie, und so bewegen sie sich von unbedeutenden Einzelnheiten bis zu dem wichtigsten Allgemeinsten und vielleicht gewinnt grade diese tadelnswerthe Ungleichheit den sonderbaren Heften einige Gunst.2

Mit diesen Worten charakterisiert Goethe in einem Brief vom 31. Mai 1825 an Staatsrat Christoph Ludwig Friedrich Schultz das Werk, das man heute, den eigentlichen Titel verkürzend, Tag- und Jahres-Hefte zu nennen gewohnt ist. Diese autobiographische Darstellung lag im Jahr 1825 im Großen und Ganzen in der Textgestalt vor, in der sie 1830 in den Bänden 31 und 32 der Ausgabe letzter Hand publiziert wurde. Goethes an seinen Berliner Freund Schultz adressierte Worte sind also auf ungefähr die Fassung bezogen, die wir heute lesen. Der von Goethe unter dem Titel Tag- und Jahres-Hefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse veröffentlichte, stilistisch nuancenreich von der Prägnanz des Aphorismus bis hin zur novellistischen Erzählung schillernde Prosatext umspannt die Jahre 1749 bis 1822, also mehr als sieben Jahrzehnte von

1 Eigenhändiges Motto auf dem Umschlagbogen des von Johann Johns Hand geschriebenen Manuskriptes des Jahres 1794 der Tag- und Jahres-Hefte (WA I 35, S. 281); weitere Hinweise dazu siehe im Abschnitt II des vorliegenden Aufsatzes. Zitiert werden die Tag- und Jahres-Hefte nach: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Abtlg. I, Bd. 17. Hg. von Irmtraut Schmid. Frankfurt/M. 1994; im Folgenden: Goethe: Tag- und Jahres-Hefte (FA I 17). – Für aufmunternde Kritik und vielerlei Unterstützung danke ich Margrit Glaser, Helmut Hühn, Johannes Korngiebel und Alexander Rosenbaum herzlich. 2 WA IV 39, S. 206. https://doi.org/10.1515/9783110759426-006

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Goethes Leben. Damit sind die ‚Annalen‘3 nicht nur das autobiographische Werk von Goethe, das die größte Zeitspanne seines Lebens umfasst,4 sondern auch das Œuvre, das von einem längeren lebensgeschichtlichen Zeitraum als Goethes Briefe bzw. seine Tagebücher zeugt – die überlieferten Briefe erstrecken sich über 68, die Tagebücher über insgesamt 57 Jahre. Welche Bekenntnisse die Tag- und Jahres-Hefte u. a. ergänzen und durch welche Werke sie umgekehrt ergänzt werden, kann der Anordnung der Ausgabe letzter Hand entnommen werden. Es sind die großen Erzählungen aus Goethes Leben, die in dieser Ausgabe in den Bänden vor den Tag- und Jahres-Heften veröffentlicht wurden: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, die Italiänische Reise, die Campagne in Frankreich 1792 sowie die Belagerung von Maynz. Dass ‚Ergänzen‘ nicht im Sinne eines abschließenden Komplettierens gemeint sein kann, rückt auch dadurch ins Bewusstsein, dass die Tag- und Jahreshefte (schon) 1822 enden und dass sie an ein Ende kommen, ohne einen wirklichen Schluss zu haben.5 Immer karger werdende Schemata für die Jahre 1823 bis 1828 zeigen, dass geplant war, die Annalen über das Jahr 1822 hinaus fortzuschreiben.6 Über Gründe, die Goethe dazu veranlasst haben könnten, diese Pläne nicht zu realisieren, kann nur spekuliert werden. Vielleicht sah Goethe die Aufgabe des Fortschreibens seiner Biographica (zumindest teilweise) von anderen Werken und in anderen 3 Diese Bezeichnung gebraucht Goethe Georg Wackerl zufolge zum ersten Mal in einem von Eckermann unter dem Datum des 27. Januar 1824 festgehaltenen Gespräch „und zwar in Hinsicht auf die Art der Darstellung“ (Georg Wackerl: Goethes Tag- und Jahres-Hefte. Berlin 1970, S. 24; den Wortlaut siehe Eckermanns Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Abtlg. II, Bd. 12, S. 83). Goethe selbst verwendet die Bezeichnung laut Christoph Michel zum ersten Mal im Tagebuch vom 13. April 1825 (siehe ebd., S. 1083; vgl. WA III 10, S. 43; vgl. auch den Artikel ‚Annalen‘ in GWb 1). 4 Vgl. Irmtraut Schmid: Erhellung autobiographischer Texte durch Aufdeckung ihrer Quellen. Am Beispiel von Goethes Tag- und Jahresheften dargestellt. In: Editio 9 (1995), S. 105–116, hier S. 106. – Selbst wenn Goethe das erste, von 1809 stammende und bis zu diesem Jahr, also bis in die Konzeptionsgegenwart der Autobiographie reichende Schema zu Dichtung und Wahrheit (siehe WA I 26, S. 349–364) in die Realität seiner Dichtung umgesetzt hätte, würde diese heute präsentere autobiographische Schrift den zeitlichen Umfang der Tag- und Jahres-Hefte nicht erreichen oder gar überschreiten. 5 Der letzte gedruckte Satz – „Dr. Carus gab einen sehr wohlgedachten und wohlgefühlten Aufsatz über Landschaftsmahlerey in dem schönen Sinne seiner eigenen Productionen.“ (Goethe: Tag- und Jahres-Hefte [FA I 17], S. 349) – klingt so, als würde sich unmittelbar Weiteres anschließen (selbst wenn man Goethes Vorliebe für ins Offene weisende Werkschlüsse in Betracht zieht – vgl. z. B. die Schlüsse der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, der Novelle sowie den von Faust II). 6 Siehe in GSA 25/W 2708; vgl. eine Notiz von Theodor Kräuters Hand: „Angefangenes Schema zur Weiterführung der Annalen“ (ebd., Bl. 5).

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Textgattungen erfüllt? Ergänzungen in diesem Sinne wären: Der von Goethe ab 1823 zur Publikation vorbereitete, in den Jahren 1828/29 erschienene Briefwechsel mit Schiller, den Goethe als „Schlußstein […], meine und Schillers Werke zusammen zu halten und zu stützen“,7 bezeichnet, der von ihm zu seinen Lebzeiten für die Veröffentlichung bestimmte, 1833 von Friedrich Wilhelm Riemer herausgegebene Briefwechsel mit Carl Friedrich Zelter sowie Eckermanns Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, die Goethes Bekenntnisse ab 1823 auf ihre Weise und mit Goethes Wissen fortsetzen. In der Komposition der Tag- und Jahres-Hefte werden Formen historischen und autobiographischen Schreibens – „bald Chronik bald Annalen, Memoiren, Confessionen“8 – produktiv zu einem Textgefüge zusammengebracht, das sich einer eindeutigen Klassifikation entzieht. Dass Goethe als Titel keine traditionelle Gattungsbezeichnung wählte, weist auf „die formale Eigenständigkeit“ der Tag- und Jahres-Hefte hin9 und kann als Indiz dafür gelesen werden, dass es sich bei diesem Werk um eine ‚neue Art von Autobiographie‘10 handelt. Deren reiches gestalterisches Spektrum ist in Goethes Formulierung „und wer weiß wie sonst noch“11 auf das Trefflichste charakterisiert. Kein Titel anderer, von Goethe verfasster autobiographischer Texte markiert Temporalität so deutlich wie die zwei Zeiteinheiten – Tag und Jahr – benennende Titelfügung der Tag- und Jahres-Hefte. Allein dieser Umstand legt es nahe, die Darstellung von Zeit in den Annalen zumindest in Ansätzen zu betrachten. Eine ausführliche und systematische Untersuchung dieser Aspekte bleibt eine verlockende Aufgabe. Dass in der spezifischen Form der Tag- und Jahres-Hefte Zeit und Zeitlichkeit in sehr differenten Weisen thematisch und auch problematisch werden, ermuntert in besonderem Maße dazu zu fragen, welche Bilder von Natur-, autobiographischer und Geschichtszeit die Darstellung prägen und ob deren je eigene Strukturen in einem Spannungsverhältnis präsentiert oder harmonisch miteinander verknüpft werden. Im ersten Teil der folgenden Überlegungen werden die von Goethe genannten und verwandten Quellen, seine ‚Archive‘, kurz Erwähnung finden, da die Art des Umgangs mit Archivalien auch Positionen, Verhältnisse zur Zeit erkenn7 WA IV 42, S. 26. 8 WA IV 39, S. 206. 9 Sibylle Schönborn: Tag- und Jahreshefte. In: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Hg. von Bernd Witte, Theo Buck, Hans-Dietrich Dahnke, Regine Otto und Peter Schmidt. Stuttgart, Weimar 1996–1999, hier Bd. 3: Prosaschriften. Hg. von Bernd Witte und Peter Schmidt. Die naturwissenschaftlichen Schriften von Gernot Böhme, S. 385–396, hier S. 388. 10 Vgl. Hermann Boeschenstein: ‚Tag- und Jahreshefte‘: A new Type of Autobiography. In: German Life and Letters. New Series 10 (1956/57), S. 169–176. 11 WA IV 39, S. 206.

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bar werden lässt – die zu Vergangenem, die in Dokumenten ‚gespeichert‘ ist, die zu Zukünftigem, das auch in der Rückwendung auf Vergangenheiten gedanklich vorgeformt und entworfen wird, und die zur Gegenwart, aus der heraus Archive durchsucht und aus deren Beständen für die Darstellung (produktiv und oft transformierend) ausgewählt wird: „wir verarbeiten das Gegebene, und wie? Als Poeten, als Rhetoren!“12

Abb. 1: Der Wacholderbaum, Kopie von Adolph Temler nach seinem Aquarell (GNM KHz 1992/ 00103; Foto: Klassik Stiftung Weimar)

„Eine Chronik schreibt nur derjenige, dem die Gegenwart wichtig ist.“13 Im zweiten Teil des Aufsatzes werden einzelne Stellen aus den Tag und Jahres-Heften vorgestellt, die in der Mikro- und der Makrostruktur des Textes verschiedene Weisen des Umgangs mit Zeit vor Augen führen. Deren Betrachtung läuft (im dritten Teil) zu auf einige Überlegungen zur Darstellung des im Jahr 1809 durch 12 Goethe an Barthold Georg Niebuhr, 23. November 1812 (WA IV 23, S. 162). 13 WA I 42.2, S. 149.

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einen Sturm umgerissenen Wacholderbaumes, der in Goethes Garten bei seinem Gartenhaus stand – eine prägnante Passage14 auch deshalb, weil hier eine eigene Chronologie komponiert wird und Naturzeit, die Zeit des biographischen Schreibens und möglicherweise auch die Geschichtszeit in spezifische Verhältnisse zueinander gebracht werden. Arbeitsmaterialien aus Goethes Archiven gewähren Einblicke in die Entstehung dieses Textabschnittes und in die allmähliche Verfertigung der Komposition einer biographisch-poetischen Eigenzeitlichkeit durch die markante Positionierung der Wacholderbaum-Stelle am Schluss des Jahres 1809.

I. Wie andere autobiographische Werke Goethes basieren die ungefähr in den Jahren 1817 bis 182615 entstandenen Tag- und Jahres-Hefte vor allem auf zwei Quellen. Mit Blick auf die Genese von Dichtung und Wahrheit bezeichnet Goethe diese Grundlagen autobiographischen Schreibens in den Annalen als „Erinnerungsgabe“ und „Erinnerungsmittel“: Ich wandte mich […] an meine eigene frühste Lebensgeschichte; hier fand sich nun freylich daß ich zu lange gezaudert hatte. Bey meiner Mutter Lebzeiten hätt’ ich das Werck unternehmen sollen, damals hätte ich selbst noch jenen Kinderscenen näher gestanden und wäre durch die hohe Kraft ihrer Erinnerungsgabe völlig dahin versetzt worden. Nun aber mußte ich diese entschwundenen Geister in mir selbst hervorrufen und manche Erinnerungsmittel gleich einem nothwendigen Zauberapparat mühsam und kunstreich zusammenschaffen. Ich hatte die Entwicklung eines bedeutend gewordenen Kindes, wie sie sich unter gegebenen Umständen hervorgethan, aber doch wie sie im allgemeinen dem Menschenkenner und dessen Einsichten gemäß wäre, darzustellen. In diesem Sinne nannt’ ich bescheiden genug ein solches mit sorgfältiger Treue behandeltes Werk: Wa h rh e it u n d D ich tu n g, innigst überzeugt daß der Mensch in der Gegenwart ja vielmehr noch in der Erinnerung die Aussenwelt nach seinen Eigenheiten bildend modele.16

Wenn man in dieser Stelle, die auch eine Beschreibung der Arbeit an den Tagund Jahres-Heften sein könnte, eine implizite Darstellung verschiedener Archiv14 Wackerl hatte in seiner knappen Würdigung der Schlusspassage des Jahres 1809 der Tagund Jahres-Hefte (siehe Goethes Tag- und Jahres-Hefte [Anm. 3], S. 116–118) bereits, die Ergebnisse seiner Betrachtung zusammenfassend, festgehalten: „Die Beschreibung des Baumes im letzten Absatz des Jahres 1809 erscheint […] in einer bedeutsamen, autobiographischen Funktion im Ganzen der Dichtung.“ (ebd., S. 118). 15 Vgl. u. a. Goethe: Tag- und Jahres-Heftes (FA I 17), S. 500. 16 Ebd., S. 239.

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formen in nuce erkennen möchte, wäre diese ungefähr wie folgt zu entfalten: „Erinnerungsgabe“ ist die Fähigkeit eines Subjekts, Vergangenes zu wissen, es zu vergegenwärtigen. „Erinnerungsmittel“ sind vor allem die aus vergangenen Zeiten überkommenen Dinge. Es ist mit „Erinnerungsgabe“ und „Erinnerungsmittel“ zum einen die Rede von inneren Archiven,17 deren Inhalte sich vor jeglicher Fixierung in Prozessen des zu Papier Bringens stets lebendig neu- und umgestalten (auch im ‚Dialog‘ mit ‚äußeren‘ Archiven), und zum anderen von solchen Archiven, die vor allem Manuskripte, aber auch Bilder und (Kunst-) Objekte, Sammlungen verschiedenster Art bewahren. „Erinnerungsmittel“ können – ähnlich wie Prousts Madeleine – das Gedächtnis dazu stimulieren, aus der Vergangenes modifizierenden Perspektive der Gegenwart in verschiedene Vergangenheiten einzutauchen, Erinnerungen auszulösen an Zeiten, in denen Begegnungen stattfanden, Werke geschaffen und rezipiert, Objekte zu Teilen von Sammlungen und damit auf bestimmte Weise zu Elementen der eigenen Biographie wurden. Im Zusammenhang mit „Erinnerungsmitteln“ ist hinsichtlich der Annalen festzuhalten, dass eine „zweite konzentrierte Arbeitsphase an den Tag- und Jahresheften […] mit dem Jahr 1822 ein[setzte]“18. In diesem Jahr hatte Theodor Kräuter die in Goethes Haus aufbewahrten Manuskripte geordnet sowie das (später immer weiter ergänzte) Repertorium über die Goethesche Repositur19 angelegt. Wie im Tagebuch zum 2. September 1822 notiert ist, hatten sich in diesem Zusammenhang die „Papiere zum Biographischen Abriß meines ganzen Lebens […] wieder gefunden“20; Goethe lagen also die in den Vorjahren angelegten Vorarbeiten zu den Tag- und Jahres-Heften wieder vor. Archivalisches Ordnen und Werkgenese gehen hier Hand in Hand. Ähnlich wie in den teilweise gleichzeitig mit den Tag- und Jahres-Heften entstandenen Wanderjahren immer wieder auf Archive hingedeutet wird, aus denen sich der „Archivroman“21 speist, erwähnt Goethe in den Annalen oft seine „Erinnerungsmittel“ in Formulierungen wie „Uebergehen will ich nicht daß ich in meinen Tagebüchern angemerkt finde“22, oder weist auf viele andere

17 Vgl. z. B. den von Rüdiger Safranski verwendeten Begriff des „inneren Archiv[s]“ (Goethe. Kunstwerk des Lebens. Biographie. München 2013, S. 52). 18 Schönborn: Tag- und Jahreshefte (Anm. 9), S. 385, vgl. Goethe: Tag- und Jahres-Heftes (FA I 17), S. 502. 19 GSA 39/I, 1a. 20 GT VIII.1, S. 254. 21 Ehrhard Bahr: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. In: Goethe-Handbuch Bd. 3 (Anm. 9), S. 186–231, hier S. 206. 22 Goethe: Tag- und Jahres-Hefte (FA I 17), S. 209.

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Schriftstücke hin, die in seinem Archiv aufbewahrt werden: auf Briefe23 – eigene und an ihn gerichtete – auf Schemata, Aktenstücke, Gutachten und auf Texte, die „wegen Anzüglichkeit, unter die Paralipomena“24 gelegt werden mussten. Eines der augenfälligsten Beispiele für das Studium und die Integration der an ihn gerichteten Briefe in die Tag- und Jahres-Hefte ist die durch Anführungszeichen als Zitat markierte und unter Angabe der Quelle – Schillers Brief vom 21. Dezember 1803 – in die Darstellung des Jahres 1803 eingefügte Charakterisierung der Madame de Staël.25 Interessant scheint nicht zuletzt, dass Goethe in den Annalen auch Werke und Texte Revue passieren lässt, die deshalb nicht mehr Quelle im eigentlichen Sinn für ihn sein konnten, weil von ihnen nichts mehr vorhanden war. Die Tagund Jahres-Hefte, die aus Archiven schöpfen, werden so selbst zu einer Art von Archiv, indem sie Zeugnis ablegen von dem – und es insofern bewahren –, was andernfalls vielleicht nicht einmal als Hauch einer Erinnerung ein Nachleben hätte. In diesem Zusammenhang zu nennen ist eine geplante Ballade über Hagen und die ihm weissagenden Meerfrauen, über deren Konzeptionsphase sich Goethe so vage ausdrückt, dass in der Schwebe bleibt, ob er überhaupt Ideen 23 Dass „neben den Tagebüchern die bei Goethe eingegangenen Briefe die entscheidende Grundlage des Werkes“ (Wackerl: Tag- und Jahres-Hefte [Anm. 3], S. 27) sind, hat Georg Wackerl als erster gesehen. Der Briefauszüge in besonderem Maße angenommen haben sich Sabine Schäfer (siehe dies.: Zur Erschließung der Registratur der bei Goethe eingegangenen Briefe. Die Einbeziehung der Vorarbeiten zu Goethes „Tag- und Jahresheften“ in die Redaktion der ersten Bände der Regestausgabe „Briefe an Goethe“. In: Im Vorfeld der Literatur. Vom Wert archivalischer Überlieferung für das Verständnis von Literatur und ihrer Geschichte. Studien. Hg. von Karl-Heinz Hahn. Weimar 1991, S. 85–107) und Irmtraut Schmid; letztere hat in ihrer Edition der Tag- und Jahres-Hefte Goethes Briefauszüge abgedruckt (siehe Goethe: Tag- und Jahres-Hefte [FA I 17], S. 512–648). 24 Ebd., S. 258. Hier ist ein Text gemeint, der später, in der ‚Anzüglichkeit‘ abgemildert, unter dem Titel Die Weisen und die Leute (WA I 3, S. 107–111) veröffentlich wurde (siehe Goethe: Tagund Jahres-Hefte [FA I 17], S. 584). 25 Vgl. ebd., S. 122. – An einer anderen Stelle der Tag- und Jahres-Hefte gibt Goethe einen Brief Schillers als Quelle nur sehr allgemein an: Anlässlich einer letztendlich nicht zustande gekommenen Feier, die August von Kotzebue zu Schillers Ehren für den 5. März 1802 in Weimar geplant hatte, heißt es: „der Zufall aber, der, wie Schiller sagt, oft naiv ist, sollte dem ganzen Ereignis die Krone aufsetzen […].“ (ebd., S. 96). Die Worte vom naiven Zufall stehen in einem Brief Schillers an Goethe vom 10. März 1802, in dem Schiller einen Satz wie folgt beginnt: „Wie aber der Zufall immer naiv ist“ (NA 31, S. 115). Darüber, weshalb Goethe im Zusammenhang mit der Wendung vom naiven Zufall seine Quelle nicht genauer angab, kann nur spekuliert werden. Möglicherweise rückt die Formulierung „wie Schiller sagt“ die Aussage mehr in die Richtung einer Sentenz, ins Sprichwörtliche. – Die Briefe, die Schiller an ihn gerichtet hatte, waren Goethe zu einer Hauptzeit der Niederschrift der Annalen besonders präsent, weil er (wie bereits erwähnt) 1823 begann, die Ausgabe dieser Freundeskorrespondenz vorzubereiten.

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zu dieser Ballade notiert hatte oder sie sich ausschließlich in seinem inneren Archiv gestaltete: Ein anderes Interesse that sich im letzten Viertel des Jahres hervor; ich wendete mich an die Nibelungen, wovon wohl manches zu sagen wäre. Ich kannte längst das Daseyn dieses Gedichts aus Bo dm er s Bemühungen. Christian Heinrich M ü lle r sendete mir seine Ausgabe leider ungeheftet, das köstliche Werk blieb roh bey mir liegen und ich, in anderem Geschäft, Neigung und Sorge befangen, blieb so stumpf dagegen wie die übrige Deutsche Welt; nur las ich zufällig eine Seite die nach aussen gekehrt war, und fand die Stelle wo die Meerfrauen dem kühnen Helden weissagen. Dies traf mich, ohne daß ich wäre gereitzt worden, ins Ganze tiefer einzugehen; ich phantasirte mir vielmehr eine für sich bestehende Ballade des Inhalts, die mich in der Einbildungskraft oft beschäftigte, obschon ich es nicht dazu brachte sie abzuschließen und zu vollenden.26

Erwähnt wird außer dem, was hätte vollendet werden können, auch das einst vorhanden Gewesene, später (z. T.) absichtlich Vernichtete wie verbrannte Briefe; so ist in der Darstellung des Jahres 1797 zu lesen: „Vor meiner Abreise [in die Schweiz] verbrenn ich alle an mich gesendeten Briefe seit 1772, aus entschiedener Abneigung gegen Publication des stillen Gangs freundschaftlicher Mittheilung.“27 Implizit erheben die Tag- und Jahres-Hefte hier den Anspruch, von dem zu zeugen, was (angeblich) nicht mehr vorhanden und nicht mehr archivierbar ist, indem sie eine Erinnerung an dessen einstige Existenz bewahren.

II. „Die Zeit ist selbst ein Element“28 heißt es in den Maximen und Reflexionen. Sowohl Goethes Tagebücher wie deren Vorläufer, die Ephemerides, als auch die Tag- und Jahres-Hefte gehören zu Formen autobiographischen Schreibens bzw. konstituieren sie, die – allein die Titel machen es deutlich – aufs Engste mit Zeitformen verknüpft sind, die hervorgebracht werden durch die Auseinandersetzung mit der Zeit und die umgekehrt im Erzählen erst ihre je spezifischen Zeiten erzeugen. Nachträglich zum Erlebten entstehen die Tagebücher in einer sehr kurzen, im Prozess des Schreibens so gut wie immer der Chronologie folgenden Form der Nachträglichkeit, die Tag- und Jahres-Hefte hingegen werden geschrieben in sehr verschiedenen Abständen zu den in ihnen geschilderten Er26 Goethe: Tag- und Jahres-Heftes (FA I 17), S. 216. 27 Ebd., S. 60. – Darauf, dass sich diese Aussage „wenig […] mit den erhaltenen Dokumenten vereinbaren“ lasse, weist bereits Wackerl hin (Tag- und Jahres-Hefte [Anm. 3], S. 29). 28 WA I 42.2, S. 131.

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eignissen, in ganz unterschiedlichen Nachträglichkeiten. An den Annalen arbeitend, ist Goethe frei von Bindungen an die chronologische Reihenfolge: Die Niederschrift dieses Werkes beginnt er nicht mit dem Jahr 1749 und schreibt sich nicht Jahr für Jahr an seine Gegenwart heran, sondern scheint oft ‚sprunghaft‘ vorzugehen.29 Wendet man den Blick von Goethes in der Genese des Werks freiem Umgang mit Zeit zu verschiedenen Darstellungen von Zeit in den Annalen, kann gefragt werden: Was erzählen die Tag- und Jahres-Hefte über Erscheinungsformen von Zeit? Wo ist sie im wörtlichen Verständnis von Chronologie Sukzession von Ereignissen? In welchen Bildern und Momenten ist sie selbstverständlich präsent? In welchen besonders präsent? Und wann verliert Zeit ihre Selbstverständlichkeit, wann und wodurch gerät sie aus den Fugen, wann geht sie vielleicht sogar verloren? In der Überzeugung, dass gerade das Abarbeiten am Verlust und Versuche des Wiedergewinnens auf prägnante Weise die Bedeutung eines Nicht-Mehr-Vorhandenen eingestehen und offenlegen sowie das Verhältnis markieren, das ein Subjekt zu Verlorenem hat (und im Umgang mit dem Verlust gestaltet), kann dann gefragt werden: Welche Methoden und Strategien entwickelt Goethe aus diesen Momenten temporärer Krisen heraus, um zu einer Form des Wiedergewinnens verlorener Zeiten gelangen zu können? Auf welche Weise können Krisen als Elemente der „bewegliche[n] Ordnung“30 des Lebens erfahrbar und gestaltbar werden? Inwiefern Zeit in den Tag- und Jahres-Heften besondere Bedeutung dadurch zukommt, wie Goethe in der Chronik31 seines Lebens vom einzelnen Wort bis zu größeren Strukturen auf Zeit Bezug nimmt und sie auf unterschiedlichste Weisen darstellt, mögen einige Beispiele veranschaulichen:

29 Eine Übersicht über die an Tagebuchnotizen ablesbaren Phasen der Arbeit an den Annalen bietet WA I 35, S. 279. – Z. B. machen folgende Notate zur Enstehung der Tag- und Jahres-Hefte in Goethes Tagebuch von 1823 deutlich, wie ‚Sprunghaftigkeit‘ und eine gewisse Folge sich abwechseln: „Fortgesetztes Jahr von 1806“ (13. Januar 1823), „in Rubriken getheilter Auszug des Jahrs 1819“ (14. Januar), „Schema von 1820 nach Rubriken durchaus“ (15. Januar), „Schema von 1821“ und „Fortsetzung des Schemas von 1821“ (16. Januar), „Schema von 1821 geendigt“ (17. Januar) sowie „Ausführung von 1806“ (19. Januar; WA III 9, S. 5–7) bzw. „Chronik von 1815 und 16 in’s Reinere“ und „an der Chronik von 1818“ (17. Juli 1723), „Chronik des Jahrs 1818 fortgesetzt“ (18. Juli), „Ausführung des Jahres 1815“ und „Das Jahr 1816 auszuführen angefangen“ (19. Juli; WA III 9, S. 78 f.). 30 WA I 3, S. 91. 31 Ab Februar 1819 bezeichnete Goethe den Text, der später unter dem Titel Tag- und JahresHefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse veröffentlicht wurde, häufig als „Chronik“ (siehe WA I 35, S. 280 und GWb 2, Sp. 1012).

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„Zeitig“ ist das zweite Wort des ersten Absatzes der Annalen,32 Zeit also von Anfang an explizit verbal präsent. Wenn Goethe in diesem ersten kurzen, die Zeit „von 1749 bis 1764“ skizzierenden Abschnitt „Gelegenheit-Gedichte“33 erwähnt, ist damit indirekt auch eine besondere Zeit genannt: der Augenblick, der günstig ist, ein Gedicht hervorzurufen, eine Art Kairos der Poesis.34 – Innerhalb der Schilderung eines konkreten Ereignisses, eines Gesprächs mit Madame de Staël, findet sich zum Jahr 1804 ein Satz, der die Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als eine zusammenhängende, aufeinander aufbauende Folge beschreibt: ich rief im Stillen mir das Vergangene Zurück, um, nach meiner Art, daran das Gegenwärtige zu prüfen und das Künftige daraus zu schließen, oder doch wenigstens zu ahnen.35

Eine solche consecutio temporum ist für Goethe, den Beobachter und Denker der Folge36 organischen Werdens und Wachsens, den Dichter der im Pulsschlag rhythmisierten Folgestrukturen von Systole und Diastole37, offenbar eine Art Idealform, Zeiten miteinander zu verknüpfen: im klassischen Dreischritt von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft. Mit einem solchen vergleichsweise ruhigen Dahinströmen der Zeit verbundene Bildungsprozesse und Werkgenesen schildert Goethe in den Tag- und Jahres-Heften oft, z. B. in Bildern organischen Werdens und in Vergleichen mit pflanzlichen Wachstumsprozessen. So heißt es im Abschnitt „Bis 1780“:

32 Vgl.: „Bey zeitig erwachendem Talente, nach vorhandenen poetischen und prosaischen Mustern, mancherley Eindrücke kindlich bearbeitet, meistens nachahmend, wie es gerade jedes Muster andeutete.“ (Goethe: Tag- und Jahres-Hefte [FA I 17], S. 11). 33 Vgl. ebd. 34 Dass Goethe auch den umgekehrten Fall, die versäumte Gelegenheit, in den Tag- und Jahres-Heften bedenkt, zeigt nicht zuletzt die oben zitierte Stelle zu der während seiner „Mutter Lebzeiten“ (ebd., S. 239) nicht begonnenen autobiographischen Schrift Dichtung und Wahrheit. 35 Ebd., S. 128. 36 Carsten Rohde nennt „Folge“ „ein Lieblingswort Goethes“ (Spiegeln und Schweben. Goethes autobiographisches Schreiben. Göttingen 2006, S. 346; dort auch Belegstellen). 37 In den Tag- und Jahres-Heften äußert sich Goethe unter expliziter Verwendung der Begriffe Systole und Diastole am Beispiel der Wirkungen von Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum zu diesem dynamischen Prinzip (vgl. Goethe: Tag- und Jahres-Hefte [FA I 17], S. 316 f.); vgl. auch eine Notiz zu den Tag- und Jahres-Heften, die sich unter der Überschrift „Ueber Metamorphose und deren Sinn“ auf einem kleinen Rubrikenzettel zum Jahr 1808 in Kräuters Handschrift findet: „Systole und Diastole des Weltgeistes; aus jener geht die Specification hervor aus dieser das Fortgehn ins Unendliche“ (GSA 25/W 2707, Bl. 22).

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Die Anfänge des Wil h e lm M e is te r wird man in dieser Epoche auch schon gewahr, obgleich nur cotyledonenartig; die fernere Entwicklung und Bildung zieht sich durch viele Jahre.38

Werden hier Prozesse (und Zeiten) des Pflanzenwachstums mit der Genese eines Werkes zusammengedacht, so wird am Schluss der Schilderung des Jahres 1794 der Beginn einer Freundschaftsepoche in Bildern pflanzlichen Wachstums beschrieben und mit einer Jahreszeit, dem Frühling, in eins gesetzt. Im bildhaften Sprechen finden ‚Naturzeit‘ sowie ‚Bewusstseinszeit‘ und Bildungsgeschichte zusammen: In diesem Drange des Widerstreits übertraf alle meine Wünsche und Hoffnungen das auf einmal sich entwickelnde Verhältniß zu Sc h ill e r; von der ersten Annäherung an war es ein unaufhaltsames Fortschreiten philosophischer Ausbildung und ästhetischer Thätigkeit. Zum Behuf seiner Horen mußte ihm sehr angelegen seyn, was ich im Stillen gearbeitet, angefangen, unternommen, sämmtlich zu kennen, neu anzuregen und zu benutzen; für mich war es ein neuer Frühling, in welchem alles froh nebeneinander keimte und aus aufgeschlossenen Saamen und Zweigen hervorging. Die nunmehr gesammelten und geordneten beiderseitigen Briefe geben davon das unmittelbarste, reinste und vollständigste Zeugniß.39

Dieser auch durch seine Platzierung am Schluss eines Jahres besonders hervorgehobene Abschnitt ist relativ reich an Wörtern, die sich auf Zeit beziehen und Zeit beschreiben: Zunächst fällt das „auf einmal“ auf, das in „ein unaufhaltsame[n] Fortschreiten“ übergeht: Der Beginn einer neuen Epoche ist prägnant markiert.40 Des Weiteren ist der Titel von Schillers Zeitschrift Die Horen von seiner Grundbedeutung ein Zeitbegriff – ὥρα meint im Griechischen „ursprünglich

38 Goethe: Tag- und Jahres-Hefte (FA I 17), S. 13. 39 Ebd., S. 38. – Ob es Zufall ist, dass hier wie am Anfang von Glückliches Ereigniß, dem 1817 am Ende des ersten der Hefte Zur Morphologie publizierten, den Beginn seiner Freundschaft mit Schiller schildernden Textes, Botanisches im weitesten Sinne eine Rolle spielt und so das Ende des Jahres 1794 der Tag- und Jahres-Hefte mit Glückliches Ereignis miteinander verknüpft sind? Vgl. den Beginn des letztgenannten Textes: „Genoß ich die schönsten Augenblicke meines Lebens zu gleicher Zeit, als ich der Metamorphose der Pflanzen nachforschte […]: so mußten mir diese vergnüglichen Bemühungen dadurch unschätzbar werden, indem sie Anlaß gaben zu einem der höchsten Verhältnisse, die mir das Glück in spätern Jahren bereitete. Die nähere Verbindung mit Schiller bin ich diesen erfreulichen Erscheinungen schuldig, sie beseitigten die Mißverhältnisse, welche mich lange Zeit von ihm entfernt hielten.“ (WA II 11, S. 13). 40 Die Markierung des Neubeginns durch das „auf einmal“ wird besonders dann noch deutlicher, wenn man sich bewusst macht, dass in einer Handschrift zunächst „nach und nach“ stand, was Goethe eigenhändig zu „auf einmal“ korrigierte (GSA 25/W 2651, Bl. 22, vgl. WA I 35, S. 287).

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eine jede bestimmte Zeit“41 und kann verschiedene Einteilungsweisen von Zeit (eine Jahreszeit, eine Tageszeit oder eine Stunde) bezeichnen.42 Außerdem sind die Horen in der griechischen Mythologie (auch) Göttinnen der Jahreszeiten; ‚Zeitmessung‘ und bildhaftes Sprechen werden in den ‚Horen‘ gleichsam eins. Von der Erwähnung der Horen an geht das Sprechen über Zeit in diesem Abschnitt der Annalen von einem sachlichen Benennen („auf einmal“ etc.) mit dem „Frühling“ und den „aufgeschlossenen Samen und Zweigen“ in ein bildhaft-poetisches Sprechen über. Der letzte Satz zu den „nunmehr gesammelten und geordneten beiderseitigen Briefe[n]“ ist mit dem „nunmehr“ in der Gegenwart des Schreibens der Annalen angekommen43 und lässt in der Wortwahl das bildhafte Sagen des vorangegangenen Satzes hinter sich. – Legt der Aufbau des ganzen Absatzes es nahe, die ab 1823 gesammelten und geordneten44 Briefe als Blüte oder Frucht der ab 1794 keimenden Freundschaft zu sehen? Verwendet Goethe im Zusammenhang mit Hinweisen auf die Entstehung von Wilhelm Meisters Lehrjahren und zur Beschreibung seiner Freundschaft mit Schiller Sprachbilder pflanzlich-organischen Wachstums, so weist er an anderen Stellen durch wiederholtes, progredierendes Erzählen von Werkgenesen oder bestimmten Aspekten seiner Tätigkeit auf organische Prozesse hin: In aller inhaltlichen und formalen Heterogenität, Disparatheit und Brüchigkeit der Annalen sind solche Prozesse zu verfolgen anhand einiger roter Fäden, die das Textgewebe dieses Werkes durchziehen, indem Goethe z. B. über Jahre hinweg die Entwicklung der Farbenlehre, die weiterer „wissenschaftliche[r] Bemühungen“45 oder seine kontinuierlich ausgeübten Tätigkeiten für das Weimarer Theater beschreibt. Richtet man den Blick auf kompositorische Momente der Folge in den Annalen, fällt auf, dass Goethe im Rahmen seiner Hinweise auf die Entstehung des West-östlichen Divan zwei Jahre, 1815 und 1818, mit Ausführungen zu diesem Spätwerk beginnt, der rote Faden der Divan-Genese dort besonders sichtbar wird. Der Divan ist das einzige Werk, dem innerhalb der Annalen eine doppelt prominente Stellung an Jahresanfängen ‚zugeschrieben‘ wird. In dieser Anfangsstellung und im hochgestimmten Ton der Schilderung tritt der Wert, den 41 Wilhelm Pape: Griechisch-deutsches Handwörterbuch. In drei Bänden deren dritter die Griechischen Eigennamen enthält. 3. Aufl. bearbeitet von M. Sengebusch, 6. Abdruck. Braunschweig 1914, hier Bd. 2 Λ – Ω, S. 1412. 42 Ebd., S. 1412 f. 43 EGW 1, S. 484, Anm. 1 vermutet, dass der Schiller gewidmete Schluss des Jahres 1794 Ende 1824/Anfang 1825 entstand. 44 Vgl. die Zusammenstellung der auf die Herausgabe des Briefwechsels bezogenen Dokumente in ebd., S. 470–529; zum Ordnen der Briefe besonders S. 478–483. 45 Goethe: Tag- und Jahres-Hefte (FA I 17), S. 18.

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dieses Werk für Goethe hat, deutlich hervor: Während Goethe in den ersten Abschnitten zu 1815 die Bedeutung von Joseph von Hammers Übersetzung des Diwan des persischen Dichters Hafis für sein eigenes Dichten hervorhebt und dann weitere für die Entstehung seines Divan wichtige Bücher nennt, beginnt 1818 mit den Worten: Der Divan war auch den Winter über mit so viel Neigung, Liebe, Leidenschaft gehegt und gepflegt worden, daß man den Druck desselben im Monat März anzufangen nicht länger zauderte.46

Die Erwähnung des Divan zu Beginn zweier Jahre der Tag- und Jahres-Hefte exponiert eine besonderen Bedeutung dieses west-östlichen Dialogs. Auch hat es eine eigene Stimmigkeit, dass das Werk, das so markant den Aufbruch in ein Neues mit dem ersten Gedichttitel – Hegire47 – präsent macht, die Erzählung zweier Jahrgänge aus Goethes Leben eröffnet. Bei aller Würdigung der zeitlichen Folge zeigt Goethe oft, dass den Poeten, wie Chiron im Gespräch mit Faust in der Classischen Walpurgisnacht äußert, keine Zeit bindet.48 Fast beiläufig-spielerisch macht Goethe eine solche Verfügungskraft des Dichters über Zeitfolgen im Sinne der Chronologie dann in den Annalen deutlich, wenn er einen Satz mit dem „Allerneusten“ beginnen und mit der Ilias enden lässt, wobei die immer neue, immer aktuelle Bedeutung der homerischen Epen im Aufbau mitschwingt: „Des Allerneusten hier zu erwähnen sendete mir Abbate Monti, früherer Verhältniße eingedenk, seine Uebersetzung der Ilias.“49 Solche, vermutlich die Erwartungshaltung der Leser überraschende syntaktische Antichronologien können weitere Impulse dazu geben, Darstellungen von Zeit in den Tag- und Jahres-Heften gerade auch dann genauer zu betrachten, wenn sie nicht der temporalen Sukzession folgen (können). Nicht unbedeutend erscheint es da, dass das nur im Manuskript zu findende Motto für das Jahr 1794 mit Chroniken und Chronologien spielt: Let me embrace thee, good old chronicle, Thou hast so long walk’d hand in hand with time.50

Dass Goethe diese Verse als Motto für ein Jahr der Tag- und Jahres-Hefte – für das Jahr, das durch den Beginn der Freundschaft mit Schiller ein besonderes 46 47 48 49 50

Ebd., S. 290. WA I 6, S. 5–6. Vgl.: „G’nug, den Poeten bindet keine Zeit.“ (WA I 15.1, S. 129). Goethe: Tag- und Jahres-Hefte (FA I 17), S. 253. WA I 35, S. 281.

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ist – wählt, ist auch deshalb interessant, weil es in einem chronologisch-chiastischen Verhältnis zu Goethe und dessen Annalen steht. Die Verse sind ein Zitat aus Shakespeares Troilus and Cressida;51 Goethe notierte sie vermutlich im Sommer 1824, als er dieses Stück las.52 Mit den zitierten Worten spricht Hector in Shakespeares Stück den um vieles älteren Nestor an. Indem Goethe sich durch die Wahl der Verse als Motto gleichsam zum Sprecher von Hectors Worten macht und aus seinem nahezu nestorischen Alter auf eine frühere Epoche seines Lebens und die von ihr zeugenden Texte wie z. B. seine mit Schiller gewechselten Briefe blickt, kehrt er die Altersverhältnisse von Shakespeares Dialog um. Außerdem nimmt er „chronicle“ wörtlich als chronikale Aufzeichnungen, wohingegen Shakespeares Hector das Wort metaphorisch als Epitheton für Nestor verwendet. Der autobiographisch (ver-)dichtende Poet vermag in freiem Umgang mit Chronologien auch anzudeuten, dass die autobiographisch erzeugte Zeit nicht identisch mit der chronologischen ist. Wie schon angemerkt, finden sich aber in den Annalen auch Momente und Ereignisse, in denen der Autobiograph nicht mehr – spielerisch, frei oder selbstverständlich – mit Zeit umgehen kann und versucht, zerrissene (Lebens- und Zeit-) Fäden zu einem Fortleben zu knüpfen. Besonders auf der Suche nach einer verlorenen Zeit scheint (der) Goethe (der Tag- und Jahres-Hefte) nach Schillers Tod zu sein. Der „Riß“, der in der Klage im Epilog auf Schillers Glocke die rhythmische Struktur der Verse ins Wanken zu bringen droht – Ach! wie verwirrt solch ein Verlust die Welt! Ach! was zerstört ein solcher Riß den Seinen53 –

dieser Riss in seiner schmerzenden Intensität ist auch in den Tag- und JahresHeften offenbar: Erkennbar ist er vor allem in der Weise, wie Goethe nach dem Tod des Freundes und dem gescheiterten Versuch, den Demetrius zu vollenden, sowie in Folge der mit diesem Scheitern verbundenen Einsicht „Nun war mir Schiller eigentlich erst entrissen“54, verschiedene Möglichkeiten darstellt, zur Zeit (wieder) in eine Beziehung zu treten und durch unterschiedliche Erfahrun51 William Shakespeare: Troilus and Cressida: In: The Plays of William Shakespeare.Volume the ninth. London 1773, S. 1–150, hier S. 114 (dort allerdings statt „Thou“ ein „That“). Goethe entlieh diesen Band vom 20. bis 24. Juli 1824 aus der Weimarer Bibliothek (siehe Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek. Ein Verzeichnis der von ihm entliehenen Werke. Bearbeitet von Elise von Keudell. Weimar 1931 [Reprint Leipzig 1982], S. 247, Nr. 1552). 52 Vgl. zusätzlich zum Ausleihvermerk (siehe die vorangegangene Fußnote) Tagebuch 20. Juli 1824; WA III 9, S. 246. 53 WA I 16, S. 165. 54 Goethe: Tag- und Jahres-Hefte (FA I 17), S. 142.

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gen mit Zeit vielleicht überhaupt erneut in einen Rhythmus, in Zeitfolgen kommen zu können: So geht es (was hier nur angedeutet werden kann) z. B. in Gesprächen mit dem Philologen Friedrich August Wolf nach Schillers Tod um „Arten die Vergangenheit sich zu vergegenwärtigen“55. Bei dem kauzigen Professor und Sammler Gottfried Christoph Beireis in Helmstedt wird Goethe durch dessen „Zeitrechnung und Nomenclatur“ erst recht „aus der Richte“56 vor allem auch aus der der Zeit, gebracht; er sieht im Schlafzimmer dieses alten Mannes in chronologischem Chiasmus „das Bild eines jungen Mannes“57 [Hervorhebung A. L.] und erfährt anschließend in Halberstadt, im Haus des zwei Jahre zuvor verstorbenen Gleim, die ihm offenbar wohltuende Haltung, dessen „vorübergegangenes Wirken […] an seiner Verlassenschaft“ zu ‚feiern‘, Vergangenheit und Gegenwart in „lebhaften Vergegenwärtigungen“58 in ein harmonisches Verhältnis zu setzten. Obschon Goethe ein neues Verhältnis zu Rhythmen der Zeit und des Lebens nach Schillers Tod erlangen konnte, blieb der Riss, der durch den Verlust des Freundes seine Biographie verwundete, unheilbar. Eines der spätesten Zeugnisse für die Trauer dieser zweiten Hälfte von Goethes Leben findet sich in der auf den 18. Oktober 1829 datierten Widmung der Ausgabe des Briefwechsels mit Schiller an König Ludwig I. von Bayern: „Jetzt da ich nach beendigter Arbeit [an der Ausgabe des Briefwechsels] von ihm [von Schiller] abermals zu scheiden genöthigt bin […].“59

III. Eine ebenfalls intensiv empfundene Verlusterfahrung beschreibt Goethe in den Tag- und Jahres-Heften am Schluss der Darstellung des Jahres 1809 in einem zweigeteilten Abschnitt:

55 Ebd., S. 145. 56 Ebd., S. 161. 57 Ebd., S. 162. 58 Ebd., S. 176. 59 Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Sechster Theil vom Jahre 1801 bis 1805. Stuttgart und Tübingen 1829, unpaginierter Widmungstext (der sich in einigen Exemplaren im ersten Teil findet).

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Von Naturereignissen erwähne ich des gewaltsamen Sturms in der Nacht vom 29n auf den 30. Januar,60 welcher weit und breit wüthete und auch mir einen empfindlichen Schaden brachte, indem er einen alten ehrwürdigen Wachholderbaum in meinem Garten am Sterne niederwarf und so einen treuen Zeugen glücklicher Tage von meiner Seite riß. Dieser Baum, der einzige in der ganzen Gegend, wo der Wachholder fast nur als Gestrüppe vorkommt, hatte sich wahrscheinlich aus jenen Zeiten erhalten wo hier noch keine Gartenkultur gewesen. Es hatten sich allerley Fabeln von ihm verbreitet: ein ehemaliger Besitzer, ein Schulmann, sollte darunter begraben seyn, zwischen ihm und dem alten Hause in dessen Nähe er stand, wollte man gespensterhafte Mädchen, die den Platz reine kehrten gesehen haben; genug er gehörte zu dem abenteuerlichen Complex jenes Aufenthalts, in welchem so manche Jahre meines Lebens hingefloßen und der mir und andern durch Neigung und Gewohnheit, durch Dichtung und Wahn so herzlich lieb geworden. Den umgestürzten Baum ließ ich durch einen jungen Künstler zeichnen wie er noch auf Herzogl. Bibliothek zu sehen ist; die Unterschrift sagt von ihm folgendes: Oben gezeichneter Wa ch h o ld e r- Ba u m stand in dem Garten des Herrn Geheime Raths von Goethe, am Stern. Die Höhe vom Boden bis dahin wo er sich in zwey Aeste theilte, war zwölf hiesige Fuß, die ganze Höhe 43. Fuß. Unten an der Erde hielt er 17 Zoll im Durchmesser, da wo er sich in die beiden Aeste theilte, 15. Zoll. Jeder Ast 11. Zoll, und nachher fiel es ab, bis sich die Spitzen ganz zart verzweigten. Von seinem äußerst hohen Alter wagt man nichts zu sagen. Der Stamm war inwendig vertrocknet, das Holz desselben mit horizontalen Rissen durchschnitten, wie man sie an den Kohlen zu sehen pflegt, von gelblicher Farbe und von Würmern zerfreßen. Der große Sturm welcher in der Nacht vom 30. zum 31. Januar wüthete im Jahr 1809. riß ihn um, ohne dieses außerordentliche Ereigniß hatte er noch lange stehen können. Die Gipfel der Äste so wie die Enden der Zweige waren durchaus grün und lebendig.61

Die beiden Teile dieser Schlusspassage des Jahres 1809 sind durch einen ‚Scharniersatz‘ („Den umgestürzten Baum ließ ich durch einen jungen Künstler zeichnen […]“) miteinander verbunden: Am Anfang steht eine Art Kurzbiographie des Baumes. Sie greift vom genau datierten Tag des Verlustes aus in Zeiten vor die Epoche des Kultivierens, der Kultur („hatte sich wahrscheinlich aus jenen Zeiten erhalten wo hier noch keine Gartenkultur gewesen“), und erweitert allein

60 Das korrekte Datum – die Nacht vom 30. auf den 31. Januar – steht weiter unten im Text der Tag- und Jahres-Hefte. Die irrtümliche (im Erstdruck korrigierte, vgl. Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Bd. 32. Stuttgart und Tübingen 1830, S. 53) Vordatierung (wie sie die Frankfurter Ausgabe druckt) geht offenbar auf eine falsche Angabe in einer Vorarbeit zurück (siehe GSA 25/W 2672, Bl. 3 Rs.; Zitat dieser Notiz an späterer Stelle im vorliegenden Beitrag). 61 Goethe: Tag- und Jahres-Hefte (FA I 17), S. 232–234.

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dadurch die auf Gegenwart und Zukunft weisenden, im Kontext von Wilhelm Meister und der Freundschaft mit Schiller das Erzählen prägenden Bilder pflanzlichen Wachstums um die Dimension einer in Jahreszahlen nicht zu fassenden Vergangenheit. Der auch durch seine ‚Einzigartigkeit‘ auffallende Baum („Dieser Baum, der einzige in der ganzen Gegend, wo der Wachholder fast nur als Gestrüppe vorkommt“) steht in enger Verbindung mit Dichterich-Poetischem („allerley Fabeln“, „Dichtung und Wahn“). Auf den eher erzählerischen, aus der Perspektive des autobiographischen Ichs verfassten Beginn der Schlusspasse des Jahres 1809, der sich abhebt vom „Berichtscharakter“62, der weite Strecken der Annalen prägt, folgt die als Zitat ausgewiesene Beschreibung des Baumes, die, naturwissenschaftlich orientiert, fast wie ein Obduktionsbericht63 anmutet und in der von Goethe nur in der dritten Person die Rede ist. Der Modus der (stilistischen) Zweiteilung kehrt, wenngleich in weniger prägnanter Form, in umgekehrter Reihenfolge im zweiten Teil wieder und affirmiert das Prinzip der Zweiheit: Auf einen mit verhältnismäßig vielen Zahlen versehenen Abschnitt zu Beginn des zweiten Teils schließt sich ein Ausblick an, der eine alternative Vergangenheit im Potentialis vorstellt („ohne dieses außerordentliche Ereigniß hatte er noch lange stehen können“). Er endet mit Adjektiven, die gerade in ihrer Kombination („grün und lebendig“) von höchster Vitalität künden, was nach dem die Gewalt des „empfindlichen Schaden[s]“ schildernden Anfang überrascht. Eine Passage, die anfangs von einer plötzlich endenden Lebenszeit, von Entwurzelung, von entwurzelter Zeit zeugt, blüht auf in einem der auf den ersten, nur die Wortebene berücksichtigenden Blick vielleicht ‚positivsten‘ Schlüsse der Einzeljahre der Tag- und Jahres-Hefte.64

62 Stefan Blechschmidt: Goethes lebendiges Archiv. Mensch – Morphologie – Geschichte. Heidelberg 2009, S. 46. 63 Vgl. in diesem Zusammenhang, dass Goethe in einem Brief an seinen Sohn August vom 5. Februar 1809 von der „Section“ des Baumes spricht (WA IV 20, S. 295). 64 Wenige Jahrgänge der Tag- und Jahres-Hefte enden derart auffällig und prägnant mit positiven Worten bzw. Wendungen; zu nennen sind vor allem der Schluss des Jahres 1794, der vom Beginn der Freundschaft mit Schiller erzählt, und der perspektivenreichen Ausklang des Abschnitts „Von 1769 bis 1775“ mit „der Besuch in Weimar […] drängte mich unversehns auf einen neuen glücklichen Lebensgang“ (Goethe: Tag- und Jahres-Hefte [FA I 17], S. 12).

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Über das Holz des „treuen Zeugen glücklicher Tage“65 hatte Goethe am 29. März 1810 an seine Frau geschrieben: „Das Holz des Wachholderbaums hebe ja sorgfältig auf und laß nichts mehr davon zerschneiden. Es ist viel kostbarer als wir jetzt denken: denn dergleichen ist unter keiner Bedingung wieder zu haben […].“66 Wie ‚kostbar‘ Goethe der Baum war, zeigt auch die Jahre67 nach dessen Tod geschriebene Schlusspassage des Jahres 1809, die das wohl längste und markanteste ‚Finale‘ von allen Jahresschlüssen von Goethes Lebenschronik ist.68 Wendet man sich der Genese und einigen erzählerischen Strategien des Wacholderbaum-Textes zu, fällt u. a. auf, dass eine poetisch-kompositorische Chronologie die historisch-kalendarische ablöst: Wie Goethe die Erzählung vom Beginn seiner Freundschaft mit Schiller aus der historisch korrekten Mitte des Jahres 1794 an dessen Ende rückt, so rückt er in der Darstellung des Jahres 1809 ein Ereignis, das – und darauf wird durch die zweifache Erwähnung des Januar deutlich hingewiesen – am Beginn des Jahres stattfand, in eine die Bedeutung und Singularität markierende (oder erschreibende) Endstellung,69 eine Verschiebung, die sich anhand von Goethes Quellen und Arbeitsmaterialien rekonstruieren lässt: In Goethes Tagebuch des Jahres 1809 werden Sturm und umgestürzter Wacholderbaum nicht im gleichen Eintrag erwähnt: „Nachts gewaltiger Sturm“70 steht zwischen dem 30. und 31. Januar 1809. Am 4. Februar heißt es dann, wobei das über den Baum Festgehaltene fast den ganzen Tageseintrag ausmacht, was die (schon damals) besondere Bedeutung des Ereignisses für Goethe spiegelt (Abb. 2):

65 Ebd., S. 233. – Dass Goethe seit seiner frühen Weimarer Zeit eine enge Beziehung zu dem Baum hatte, zeigt auch die Art, wie er schon damals über ihn geschrieben hatte (vgl. die Briefe an Charlotte von Stein vom 19. oder 20. November 1776 und den vermutlich von Anfang Juni 1777 stammenden in GB 3.I, S. 117 und 148; vgl. ferner den Kommentar in GB 3.II, S. 426). 66 WA IV 21, S. 219. 67 Am Jahr 1809 der Tag- und Jahres-Hefte arbeitete Goethe 1819, 1822, 1823 und 1825 (siehe WA I 35, S. 279). Zu einem etwas genaueren Datierungsvorschlag des Schlussabschnittes des Jahres 1809 siehe Ausführungen weiter unten in diesem Beitrag. 68 Vergleichbar in der Prägnanz der Darstellung scheinen mir nur der weiter oben zitierte Schluss des Jahres 1794, in dem des Beginns der Freundschaft mit Schiller gedacht wird, und der in fast atemlosen Staccato geschilderte des Kriegsjahres 1813 zu sein. 69 Vgl. ähnlich Wackerl, der im Abschnitt „Naturbilder“ seiner Studie betont, dass „[d]iese Stellung […] das Bild in seiner Funktion noch ganz besonders hervor[hebt]“ (Goethes Tagund Jahres-Hefte [Anm. 3], S. 118; zum Wacholderbaum ebd., S. 116–118). 70 GT IV.1, S. 11.

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Abb. 2: Goethes Tagebuch vom 3. und 4. Februar 1809; Schreiber: Friedrich Wilhelm Riemer (GSA 27/26, S. 42; Foto: Klassik Stiftung Weimar)

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Spät aufgestanden. Um 11 Uhr in den untern Garten den umgestürzten Wachholderbaum zu besehen.71 Mittags Prof. Oken. Nach Tische mit ihm und der Familie nochmals in den Garten. Kam Prof. Meyer und Prof. Vogt dahin. Abends der Pfandbrief; Adolph und Clara, und die Beichte von Kotzebue.72

In einem Brief an seinen Sohn, der einen Tag nach diesem Tagebucheintrag verfasst wurde, erwähnt Goethe eine „nähere Beschreibung dieses merkwürdigen Baumes und wie wir ihn bey seiner Section gefunden haben“73. Bei diesem Text dürfte es sich um die Beschreibung handeln, die unter das in der Chronik erwähnte Bild eines „jungen Künstler[s]“74 gesetzt wurde und die Goethe später (mit kleinen Abweichungen) als Zitat in die Tag- und Jahres-Hefte integrierte.75 1809 ließ Goethe den umgestürzten Baum von dem damals 43jährigen (also gar nicht mehr so jungen) Adolph Temler, einem Lehrer am Zeicheninstitut in Weimar, zeichnen.76 Heute sind – in Kombination mit einem beschreibenden Text – drei Bilder des umgerissenen Baumes bekannt: Das Aquarell von Adolph Temler aus Goethes Sammlungen (Abb. 3) sowie zwei Kopien, eine von Temler selbst (Abb. 1), aus dem Kunstkabinett der Großherzoglichen Bibliothek.77 Da in den Tag- und Jahres-Heften ein auf der „Herzogl. Bibliothek“78 zu sehendes Bild erwähnt wird, dürfte es sich bei dem in der Chronik gemeinten Aquarell um die von Temler angefertigte Kopie handeln. Auffällig ist, dass Goethe den Namen des Malers in den Tag- und Jahres-Heften nicht nennt, obgleich es ihm, selbst wenn der Name ihm nicht präsent ge-

71 Ein paar Tage später sprach Goethe Stephan Schütze zufolge bei Johanna Schopenhauer über den „umgefallenen Wachholderbaum“ (Thomas C. Starnes: Goethe und sein Haus. Aus zwei Weimarer Tagebüchern. In: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg. N. F. Bd. 4. [1983], S. 91– 143, hier S. 106). 72 GT IV.2, S. 12. – Auf Stellen zum Wacholderbaum in späteren Briefen Goethes und auf andere Quellen weist Manfred Wenzel im Artikel ‚Wacholder‘ hin (in: Goethe-Handbuch [Anm. 9]. Supplemente Bd. 2. Naturwissenschaften. Hrsg. von Manfred Wenzel. Stuttgart, Weimar 2012, S. 691). 73 WA IV 20, S. 295. 74 Goethe: Tag- und Jahres-Hefte (FA I 17), S. 233. 75 Anders z. B. LA I 24, S. 1146; vgl. dazu später im vorliegenden Beitrag sowie die Fußnoten 82 und 83. 76 Vgl. zur Datierung z. B. einen Brief Goethes an Johann Heinrich Meyer vom 28. April 1809 (WA IV 20, S. 319). 77 GNM KHz/AK Nr. 1288, GNM KHz 1992/00103 (diese Kopie von Temler) und GNM KHz 1992/ 00104. – Im Übrigen zeigen die Bilder nicht den ganzen Baum, sondern nur den Teil, ab „wo er sich in zwey Aeste theilte“ (Goethe: Tag- und Jahres-Hefte [FA I 17], S. 233). 78 Ebd.

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wesen sein sollte, ein Leichtes gewesen wäre, ihn zu ermitteln, nicht zuletzt, weil Temler im Bild (Original) und unter dem Bild (Kopie) mit seinem Namen signiert hat. – War es Goethe wichtiger, zu betonen, dass der „alte ehrwürdige“ Baum von „eine[m] jungen Künstler“79 [Hervorhebung A. L.] gezeichnet worden war, als den Namen des Malers zu überliefern? Dass er Temlers Namen nicht nennt, findet eine Parallele darin, dass Goethe auch den Verfasser der ‚näheren Beschreibung‘ des Baumes nicht namentlich erwähnt. Darauf, dass sie wohl nicht von ihm stammt, deuten die Formulierung im Brief an August vom 5. Februar 1809 und der Umstand hin, dass in dem Text von Goethe in der dritten Person die Rede ist.80 Zehn Jahre nach seinem Umsturz taucht der Wacholderbaum wieder im Tagebuch auf, wenn es im Eintrag zum 29. März 1819 heißt: Die Explication unter die Abbildung des vormals im untern Garten gestandenen großen Wachholderbaums gesetzt.81

Bei dieser „Explikation“ handelt es sich vermutlich um eine Abschrift der Beschreibung, die Goethe im Brief an August vom 5. Februar 1809 erwähnt. Die Abschrift wurde von Theodor Kräuter angefertigt und unter das Original des Bildes gesetzt; das Bild war (und ist) auf starkem Karton aufgeklebt, auf dem Raum für die Unterschrift gelassen war.82 79 Ebd. 80 Soweit ich sehe, scheint bisher niemand nach dem Verfasser dieses Textes gefragt zu haben bzw. er wurde Goethe zugeschrieben (vgl. z. B. den Abdruck in FA I 24, S. 646 und den Kommentar ebd., S. 1146: „Der Text ist zunächst für die Annalen verfasst worden“). 81 GT VII.1, S. 33. 82 GNM KHz/AK 1288. Heute ist dieses Bild-Text-Ensemble aus Goethes Besitz nicht mehr als Einheit vorhanden; Text- und Bildteil müssen irgendwann auseinandergeschnitten worden sein. Wenn 1819 nicht eine ältere Text-Bildeinheit neu zusammengefügt wurde, kann man davon ausgehen, dass Goethes in einem Brief an Meyer vom 28. April 1809 formulierte Bitte, die „Zeichnung des alten Wachholderbaumes […] auf ein weißes steifes Papier auftragen zu lassen, damit man dessen Maß und Geschichte dazu schreiben könne“ (WA IV 20, S. 319), 1809 wohl nur so weit erfüllt wurde, dass Temlers Original auf Karton aufgeklebt wurde. Die Unterschrift hätte dann erst 1819 Kräuter hinzugefügt – als Abschrift des früher entstandenen Textes. Auch Wackerl geht davon aus, dass der Text in Kräuters Handschrift eine Abschrift ist, vgl.: „Zur Auswertung für die TuJ ließ Goethe davon [von der Bildunterschrift] durch Kräuter eine Abschrift anfertigen, die mit nur geringfügigen Abweichungen im endgültigen Text [der Annalen] erscheint.“ (Goethes Tag- und Jahres-Hefte [Anm. 3], S. 117, wobei Wackerl sich möglicherweise nicht auf die Bildunterschrift von Kräuters Hand, sondern auf einen in dessen Handschrift überlieferten Zettel bezieht, der im GSA überliefert ist: GSA 26/LXI,4,21:3, 4,21). – Vielleicht war der ursprüngliche Text der Bildunterschrift im Jahr 1809, in leichter Abwandlung von Goethes Bitte an Meyer, unter Temlers Kopie des Bildes, unter der ausreichend Platz auf demselben Blatt war, notiert worden? Im Sinne dieser Vermutungen und Fragen müsste der Kommentar

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Abb. 3: Der Wacholderbaum, Aquarell von Adolph Temler (GNM KHz/AK Nr. 1288; Foto: Klassik Stiftung Weimar)

Auch dieser Tagebucheintrag sowie die Rekonstruktion des Bild-Text-Ensembles (mit Temlers Original), das im März 1819 entstand, stützt die These, dass die Bildunterschrift vor 1819, vermutlich schon 1809 entstand und dass sie nicht von Goethe verfasst wurde.83 Dann wäre der Schlussabschnitt des Jahres 1809 zum Tagebucheintrag vom 29. März 1819 in GT IV.2, S. 601 in Teilen ergänzt und vorsichtiger formuliert werden. 83 Vgl. zur Datierung auf 1809 auch Wackerl, der allerdings von Goethes ‚möglicher‘ Autorschaft ausgeht: „Es ist durchaus möglich, daß er [Goethe] dabei [als er veranlasste, ein Bild des Baumes anzufertigen,] auch den Text der ‚Unterschrift‘ verfaßte.“ (Goethes Tag- und JahresHefte [Anm. 3], S. 117). – Im Sinne des oben Gesagten scheint die von LA II 10 A, S. 819 vorgeschlagene Chronologie der Handschriften, der zufolge die beiden von „Schreiberhand“ geschriebenen Texte „Kopien“ (ebd.) von der Bildunterschrift in Kräuters Hand seien, in Frage gestellt werden zu müssen: Auf jeden Fall die Bildunterschrift unter der Kopie von Temler scheint früher entstanden (vermutlich, wie schon gesagt, im Jahr 1809) und wohl auch unter dem Bild notiert worden zu sein als die in Kräuters Handschrift unter das in Goethes Besitz

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der Tag- und Jahres-Hefte aus zwei zu unterschiedlichen Zeiten von verschiedenen Autoren verfassten Texten84 zusammengefügt worden, wobei der erste, eigens für die Annalen geschriebene Teil möglicherweise im März 1819 entstand (und damals eventuell auch beide Teile zusammengefügt wurden), als laut Tagebuch „Die Explication unter die Abbildung des vormals im untern Garten gestandenen großen Wachholderbaums gesetzt“85 wurde: Vermutlich erinnerte Goethe sich durch die Arbeit an den Tag- und Jahres-Heften an Temlers Aquarell und ließ deshalb die Bildbeschreibung unter das in seinem Besitz befindliche Bild notieren. Offen muss wohl die Frage bleiben, wer die in „Schreiberhand“86 überlieferte Bildunterschrift unter dem Bild, das (auch) um 1819 in der „Herzogl. Bibliothek“87 aufbewahrt wurde, verfasst hat. Der Umstand, dass laut Tagebuch der Arzt und Naturforscher Lorenz Oken und der Botaniker Friedrich Siegmund Voigt bei der Besichtigung des umgestürzten Baumes am 4. Februar 1809 anwesend waren und dass Goethe einen Tag später seinem Sohn in einem Brief mitteilte, dass eine Beschreibung „zu Diensten“ steht,88 lässt vermuten, die Beschreibung stamme von einem der genannten Herren – zu denken wäre wohl am ehesten an den Botaniker Voigt.89

befindliche Original gesetzte. Der Text von Kräuters Hand wäre dann eine variierte Abschrift des Jahre zuvor entstandenen Textes. – Für gedanklichen Austausch zu Fragen auch der Datierung danke ich Edith Zehm herzlich. 84 Auch die unterschiedlichen Angaben des Datums der Sturmnacht im Wacholderbaum-Abschnitt der Tag- und Jahres-Hefte sprechen dafür, dass die beiden Teile dieses Abschnitts nicht gleichzeitig entstanden sind, sondern dass Goethe – das wäre eine Erklärungsmöglichkeit – den Anfang eigens für die Tag- und Jahres-Hefte verfasste und die ältere, womöglich 1819 entstandene Beschreibung in leicht überarbeiteter Form von seinem Schreiber ins Manuskript der Annalen übernehmen ließ, ohne die Angaben des Datums (zunächst) auf Stimmigkeit zu prüfen. 85 GT VII.1, S. 33. 86 LA II 10 A, S. 819. – Selbst wenn sich ermitteln ließe, in wessen Handschrift die Beschreibung unter Temlers Kopie notiert wurde, gäbe das keine Gewissheit über den Verfasser, da dieser nicht mit dem Schreiber identisch sein muss. 87 Goethe: Tag- und Jahres-Hefte (FA I 17), S. 233. 88 WA IV 20, S. 295. 89 Dass Goethe in einem Brief vom 31. März 1809 an seinen Sohn eine ähnliche Formulierung – „Der Hauptstamm […] war innwendig vertrocknet“ (ebd., S. 309) – verwendet wie in der Bildunterschrift, kann wohl weder als Argument für noch gegen seine ‚Autorschaft‘ an diesem Text herangezogen werden.

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Abb. 4: Rubrikenzettelchen zu den Tag- und Jahres-Heften; Schreiber: Theodor Kräuter (GSA 25/W 2707, Bl. 32; Foto: Klassik Stiftung Weimar)

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Abb. 5: Rubrizierte Vorarbeit zu den Tag- und Jahres-Heften; Schreiber: Goethe und Johann John (GSA 25/W 2672, Bl. 3 Rs.; Foto: Klassik Stiftung Weimar)

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In den das Diktat der Tag- und Jahres-Hefte vorbereitenden rubrizierten Aufstellungen, also in der an den Handschriften zum Teil ablesbaren Genese der Wacholderbaumstelle, ist eine ‚Wanderbewegung‘ des Baumes zu beobachten: Am Ende eines mit den Stichworten „Geschichte der Farbenlehre“ beginnenden Rubrikenzettelchens von Kräuters Hand zu „Naturwissenschaften“ heißt es: „Umsturz des alten Wachholderbaumes / den 4n Februar.90 / In der Nacht vom 30n zum 31n Januar / war ein gewaltiger Sturm gewesen, / vorausgesagt von Lamarque.“91 (Abb. 4) Hervorzuheben ist, dass schon auf dem Zettelchen Baum und Sturm am Schluss notiert sind – so wie sie dann in der Textfassung der Annalen am Schluss des Jahres 1809 stehen. In einer offenbar später entstandenen Vorarbeit, auf einem der vielen großen Bogen, in denen Ereignisse verschiedenen Rubriken zugeordnet sind, werden Sturm und Baum zum einzigen Punkt unter „Natur E reignisse “, sie haben also die Kategorie gewechselt, werden nicht mehr unter „Naturwissenschaften“ aufgelistet und erscheinen nun vor allem als ein singulär-markantes Ereignis. In Goethes Handschrift (und durch Erledigungsstriche mit Bleistift durchgestrichen) ist zu lesen, wobei der Umsturz des Baumes eindeutig als Folge des Sturms dargestellt wird und nur ein kleiner Irrtum im Datum unterläuft: „Gewaltiger / Sturm Jan / vom 29–30. / Wachholderb. / umgestürzt.“92 (Abb. 5) Allein die Anlage zweier die Annalen vorbereitender Handschriften zeigt, wie die Kombination von außergewöhnlichem Sturm und umgerissenen Baum für Goethe immer prägnantere Formen annimmt93 und wie der Dichter im ‚Komponieren‘ aus produktiver Distanz zu den Ereignissen auch von real-chronologischen Zeitfolgen frei ist und im Dichten eine Zeitlichkeit gestaltet, die ihre eigene Wahrheit hat. 90 Ob Goethe, als diese Notiz aus der Lektüre der Tagebücher heraus niedergeschrieben wurde, nicht (mehr) präsent war, dass der Baum im Januar umgerissen wurde, oder ob die Nennung des Datums des 4. Februar ausschließlich auf den ausführlichen Tagebucheintrag verweist, in dem der umgestürzte Baum erwähnt wird, konnte nicht abschließend geklärt werden. Letzteres ist auch deshalb wahrscheinlich, weil die unmittelbar folgende Notiz zum Sturm es nahelegt, in dieser Anordnung einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Sturm vom 30. auf den 31. Januar sowie dem Umsturz des Baumes zu sehen. 91 GSA 25/W 2707, Bl. 32; die Notiz zu Jean Baptiste Pierre Antoine de Monnet Lamarcks Vorhersage des Sturmes deutet darauf hin, dass Goethe, als er an dieser tabellarischen Übersicht arbeitete, in der Lektüre seiner Tagebücher bis zum 20. Februar 1809 gekommen sein muss, denn dort ist mit „Lamarck annuaire météorologique von 1809“ die Quelle dieser Voraussage notiert (GT IV.1, S. 15; Genaueres siehe im Kommentar zur Stelle in GT IV.2, S. 707 f.). 92 GSA 25/W 2672, Bl. 3 Rs. 93 Und allein dieses Beispiel belegt, was Hermann Boeschenstein schon 1956/57 konstatierte: „the Annalen were written with more deliberation than most commentators are willing to concede.“ (Boeschenstein [Anm. 10], S. 170).

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Wenige Seiten vor dem Baum-Abschnitt hatte Goethe auf die im Jahr 1809 beginnenden „Vorarbeiten zu jenem bedeutenden Unternehmen einer Selbstbiographie“94 hingewiesen. Er nennt den Titel, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, nicht – aber klingt er vielleicht in der Baum-Episode an in der Formulierung „Dichtung und Wahn“95? Enthielte diese Episode vom alten, noch so lebendigen und in der Bildenden und erzählenden Kunst fortexistierenden Baum auch ein Bild autobiographischen Schreibens (und des Schreibers) – ein Bild der Art und Weise, wie Dichtung und Wahrheit und auch die Tag- und JahresHefte, die Dichtung und Wahrheit ‚ergänzen‘, komponiert wurden?96 Die Wachholderbaum-Passage liest sich in ihrer raffinierten (stilistischen) Zweiteilung einerseits – legt man den Fokus der Betrachtung auf das Disparate – als ein in der Form der Darstellung sich manifestierender Reflex des Risses, der durch den Verlust des Baumes durch Goethes Leben geht, und andererseits – setzt man den Schwerpunkt der Reflexion auf die Funktion beider Teile als eine Schlusspassage – als eine Vereinigung disparater Elemente zu einer Ganzheit. Es wäre eine Ganzheit, die Disparates nicht leugnet, in der das Vielgestaltige, das Rissige und Brüchige eines Lebens weder nivelliert noch harmonisiert wird. – Wird eine besondere Form künstlerisch-produktiver Energie aus dem in der Lebensrealität Verlorenen gewonnen und freigesetzt, so dass die Passage, die vom Tod des Baumes erzählt, mit dem Wort „lebendig“ enden kann? Komplettieren und erhellen sich wechselseitig zwei Stile (und zwei Betrachtungsweisen desselben Ereignisses), ein eher poetischer und ein eher naturwissenschaftlicher, – und lassen daran denken, dass Goethe Dichter und Naturforscher97 war? Verschiedene Darstellungsweisen in Wort und Bild – so wie Goethe Dichter und Maler war – bewahren die Erinnerung an den Baum. Schilderungen und Darstellungen des Baumes aus verschiedenen Zeiten – die Erwähnung des 1809 entstandenen Aquarells, das Zitat des den umgestürzten Baum beschreibenden Textes, der mit der Zeichnung zu einer Bild-Text-Einheit, 94 Goethe: Tag- und Jahres-Hefte (FA I 17), S. 228. 95 Ebd., S. 233. Hier geht es mir ausschließlich um die klangliche Assoziation. Fragen, die sich an den Diskurs über den Wahn anknüpfen ließen, seien an dieser Stelle nicht diskutiert. 96 Mit anderem Akzent sieht auch Wackerl einen engen Bezug zwischen Baum und autobiographischem Schreiben, vgl.: „In einem weiteren Sinn wird die Stelle dadurch autobiographisch relevant, daß Goethe 1809 die Absicht, sein eigenes Leben zu beschreiben, in die Tat umzusetzen begann.“ (Goethes Tag- und Jahres-Hefte [Anm. 3], S, 117). 97 Unabhängig von der weiter oben kurz diskutierten Frage, von wem die Bildunterschrift verfasst worden sein könnte, ist Wackerl zuzustimmen, der im Zusammenhang damit, dass der Baum „mit den Augen des Naturforschers gesehen und entsprechend beschrieben“ wurde, auf die „Bedeutung der naturforschenden Tätigkeit Goethes für seine Autobiographie“ hinweist und in diesen Kontexten die Integration der wissenschaftlichen Baumbeschreibung als „aufschlußreich“ bezeichnet (ebd.).

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zu einer ‚œuvre collective‘, zusammengefügt wurde, und der ‚poetische‘, lange nach dem Ereignis entstandene Textteil, der den Beginn der Wacholderbaumpassage bildet – werden zusammengefügt. Kann man in dieser Kompositionsform in nuce ein Bild der Verfahrensweisen erkennen, die konstitutiv für Goethes autobiographisches Schreiben sind? ‚Quellen‘ aus verschiedenen Zeiten werden in der Wacholderbaumpassage zu einem neuen Ganzen vereint mit dem Resultat, dass das, was realiter verloren ist, in der (autobiographischen) Eigenzeit der Kunst – 1809 ist das einzige Jahr, das mit einem Zitat endet – „grün und lebendig“98 präsentiert und bewahrt werden kann. Markiert ist im abrupten Lebensende des Baumes die Vergänglichkeit und in der Darstellung gleichzeitig das Bedürfnis, dem Anheimgegebensein an den Tod zu widerstreiten, ihn (mit den Mitteln der Kunst) zu transzendieren. Indem ein produktiver Umgang mit dem Abbruch vor Augen geführt und gezeigt wird, wie Energien aus der Destruktion erwachsen, wie Diskontinuität Basis, Element neuer Produktivität sein kann, wird aus dem A-Kairos der Katastrophe ein Kairos in und durch die Kunst. Der Abschnitt vom Wacholderbaum kann als eine Steigerung des narrativen Einwebens von Bildern pflanzlichen Wachsens in die Tag- und Jahres-Hefte betrachtet werden. In dieser Perspektive würden Bilder organischen Wachstums wie die von den kotyledonenartigen Anfängen des Wilhelm Meister oder die Erzählung von der als „neuer Frühling“99 empfundenen Freundschaft mit Schiller in der Schlusspassage des Jahres 1809 aufgenommen und fortgeführt. Mit dem gewaltsamen Tod des eigentlich noch standfesten und lebensfähigen Baumes entsteht ein Kontrastmoment, eine Art negativer Kulminationspunkt zu den von Anfangszeiten pflanzlichen Wachsens erzählenden Bildern von Kotyledonen und Frühling. Indem der Wacholderbaum-Abschnitt und in ihm die Darstellung des gesamten Jahres 1809 mit dem Satz „Die Gipfel der Äste so wie die Enden der Zweige waren durchaus grün und lebendig“100 ausklingt, scheinen Vorstellungen von lebendigem Gedeihen – dem Umsturz gleichsam zum Trotz – evoziert und affirmiert zu werden. Der Tatsache, dass die Lebenszeit des Baumes an ein Ende gekommen ist, würde in der Komposition der Darstellung die Idee einer Lebendigkeit kontrastiert; die Zeit, welche durch die Kunst generiert wird, überspielte die Grenzen der Naturzeit des Baumes – und vielleicht auch die der Lebenszeit des autobiographischen Ich. Da vor allem in den ersten Jahren der Tag- und Jahres-Hefte der Gebrauch von ‚ich‘ bzw. von die erste Person Singular bezeichnenden Possessivpronomi98 Goethe: Tag- und Jahres-Hefte (FA I 17), S. 234. 99 Ebd., S. 38. 100 Ebd., S. 233

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na verhältnismäßig karg ist,101 und da Goethe in den Passagen vor den Wachholderbaum-Abschnitten auch, zwischen ‚man‘ und ‚wir‘ balancierend, fast immer einen explizit verbalisierten Bezug auf das eigene Ich vermeidet,102 fällt umso mehr auf, wie oft im ersten Teil der Baum-Episode ‚mein‘ (und ähnliches) geschrieben wird: der Sturm brachte „mir einen empfindlichen Schaden“, er riß mit dem Baum „in meinem Garten am Sterne […] einen treuen Zeugen glücklicher Tage von meiner Seite“ und – vielleicht besonders wichtig –, das eine Summe ziehende: „genug er gehörte zu dem abenteuerlichen Complex jenes Aufenthalts, in welchem so manche Jahre meines Lebens hingefloßen und der mir und andern durch Neigung und Gewohnheit, durch Dichtung und Wahn so herzlich lieb geworden.“103 [Hervorhebungen A. L.] – Dorothea Kuhn kommentiert: „Der Sturz des Wacholders erschien ihm [Goethe] als Symbol und Zeuge für sein eigenes Altern […].“104 Denkt man diesen Gedanken weiter, wäre der nicht zuletzt als ‚lebendig‘ in einer autobiographischen Darstellung bewahrte Baum – betrachtetes Du und im poetischen Bild in zarter Andeutung auch Ich des Dichters – ein Symbol dafür, wie das Verfassen von „bald Chronik bald Annalen, Memoiren, Confessionen, und wer weiß wie sonst noch“105 Fortdauer und Lebendigkeit gewährt – auch über den Tod hinaus. Diese spezifische Eigenzeit, die Epochen überdauert, Äonen hinter sich lassen kann, ist allerdings eine in Anführungszeichen gesetzte Lebendigkeit – die Lebendigkeit als Zitat. Gerade die exponierte Stellung von ‚lebendig‘ bekräftigte die Differenz zwischen der Vergangenheit, in der der Baum lebte, und der Gegenwart, in der er tot ist. Ausgestellt wird auch das Widerfahrnis der Brüchigkeit und als ein Element von Biographien in die Tag- und Jahres-Hefte integriert – so wie der späte Goethe sich z. B. in der Zusammenstellung von Textkorpora für seine Zeitschriften kaum um ‚Glättung‘ bemüht. Zur Wahrnehmung des eigenen Alterns und zum Bewusstsein der Sterblichkeit gehört in besonderem Maße auch das Abschiednehmen von Weggefährten, das dieses Wahrnehmen sensibilisiert. Zwei der 1809 bereits Verstorbenen, Her-

101 Vgl. Schönborn: Tag- und Jahreshefte (Anm. 9), S. 389: „Dem autobiographischen Sprechen fehlt das Subjekt. G. objektiviert insbesondere im ersten Teil der Tag- und Jahreshefte konsequent den Gegenstand des autobiographischen Diskurses, indem er das schreibende Subjekt zum unpersönlichen Gegenstand der Darstellung werden läßt. Wo das handelnde Subjekt nicht ganz in seinem Werk verschwindet, seine Präsenz zugunsten seines Produkts aufgibt, dort wird es zum unpersönlichen, verallgemeinernden ‚man‘ stilisiert.“ 102 Eine Ausnahme bildet der Abschnitt Nr. 740 (Goethe: Tag- und Jahres-Hefte [FA I 17], S. 232). 103 Ebd., S. 233. 104 LA II 10 A, S. 819. 105 WA IV 39, S. 206.

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der und Schiller, werden in den Annalen kurz vor der Wacholderbaum-Episode erwähnt, interessanterweise als (von Gerhard von Kügelgen) Porträtierte, als – wie der Baum – im Bild Festgehaltene. Anlässlich des Besuchs des Malers Kügelgen heißt es: „er malte Wielands Portrait und meins nach der Person, Herders und Schillers nach der Ueberlieferung.“106 Auch aufgrund dieser Erwähnung zweier der verstorbenen Freunde kurz vor der Schlusspassage des Jahres 1809 ist Sibylle Schönborn zuzustimmen, die zum ‚Finale‘ dieses Jahres allgemein festhält, dass es „stellvertretend für den unerwähnt bleibenden Verlust der vielen Freunde und Weggefährten steht.“107 Vielleicht kann man neben Allusionen auf (auto-) biographische Eigen- und Endzeiten auch ein leises Hindeuten auf die Geschichtszeit, auf historische Umstände wahrnehmen: In keiner der mir bekannten Beschreibungen Goethes vor der Niederschrift der Tag- und Jahres-Hefte oder in ihr Diktat vorbereitenden Schemata erscheint der Sturm als ‚gewaltsam‘.108 Erst in den Annalen erhält er im Adjektiv ‚gewaltsam‘ ganz explizit destruktive Kraft. Ist es abwegig, die plötzlich hereinbrechende Gewalt des Sturmes mit den zu Beginn des Jahres 1809 erwähnten „unerwartete[n] Kriegsläufte[n]“109 und mit „Nachrichten des gewaltsamen Vordringens der Franzosen in Oesterreich“110 zusammenzudenken? Das Naturereignis würde dann auch (keinesfalls nur) zum Bild historischen Geschehens, das Ehrwürdiges, das Lebensfähiges plötzlich und gewaltsam entwurzelt. In Entwürfen zu einem (nicht gedruckten) Vorwort zum 1814 erschienenen dritten Teil von Dichtung und Wahrheit legt Goethe dar, dass er seine Autobiographie ursprünglich nach jenen Gesetzen zu bilden [dachte], wovon uns die Metamorphose der Pflanzen belehrt. In dem ersten sollte das Kind nach allen Seiten zarte Wurzeln treiben und nur wenig Keimblätter entwickeln. Im zweyten der Knabe mit lebhafterem Grün stufenweis mannigfaltiger gebildete Zweige treiben, und dieser belebte Stengel sollte nun im dritten Beete ähren- und rispenweis zur Blüte hineilen und den hoffnungsvollen Jüngling darstellen.111

Dieser Entwurf gelangt nicht bis zu Alter und Tod. Beides subtil zu berühren und im Durchgang durch die Bewegungen des Textes das Jahr 1809 mit einem 106 Goethe: Tag- und Jahres-Hefte (FA I 17), S. 231. 107 Schönborn: Tag- und Jahreshefte (Anm. 9), S. 389. 108 Im Tagebuch (vgl. das Zitat weiter oben im Text; siehe GT IV.1, S. 11) und in Briefen an August von Goethe im ersten Quartal des Jahres 1809 (vgl. die Briefe vom 5. Februar und vom 31. März; WA IV 20, S. 295 und S. 309) wird der Sturm als ‚gewaltig‘ oder ‚groß‘ bezeichnet. 109 Goethe: Tag- und Jahres-Hefte (FA I 17), S. 225. 110 Ebd., S. 226. 111 WA I 28, S. 356.

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Bild des einst Lebendigen und mit einem Zitat, in einer doppelten Markierung (der Wahrheit) der Kunst, deren Eigenzeit in einem spannungsvollen Verhältnis zur Eigenzeit alles Lebendigem, dem Tode Anheimgegebenen, steht, ausklingen zu lassen, gelingt in der Episode vom „treuen Zeugen glücklicher Tage“112, zu dem Goethe auch hätte sagen können: Let me embrace thee, good old chronicle113.

112 Goethe: Tag- und Jahres-Hefte (FA I 17), S. 233. 113 WA I 35, S. 281.

Bernhard Fischer

Vor- und nach-klassizistisch. Goethes Aus meinem Leben. II. Abthl. Italienische Reise I.-II. Als Goethe1 im Oktober 1809 daran ging, in der Rückschau sein Leben chronikalisch aufzubereiten, widmete er der Reise nach Italien nur wenige, karge Zeilen. Nach den Notaten für das Jahr 1785: Prüfung meiner Zustände Was abgieng Reise nach Italien Vorgesetzt. Archenholz Widerstreit. Aberglaube. […]2

liest man hier für 1786: Carlsbad Redaktion m[einer] Schriften Herder D. 3. Sept. ab. 14 Verona 28 Venedig 18 Oktbr. Bologna 29 Rom. 1 Zitiert wird die Italienische Reise nach der Frankfurter Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise. 2 Tle. Hrsg. von Christoph Michel und Hans-Georg Dewitz. In: Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Bd. 15/1–2. Frankfurt/ Main 1993; im Folgenden: Goethe: Italienische Reise (FA 5.1, 15.2), dabei mit den Siglen: ITR: für den redigierten gedruckten Text / RT: für das auf der Reise geführte Reisetagebuch. Rüdiger Görner: Unter Zitronenblüten und Narren. Schwellen zwischen Natur und Gesellschaft in Goethes ‚Italienischer Reise‘. In: Goethe-Jahrbuch 124 (2007), S. 74–84. 2 Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Bd. 14. Hg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt/Main 1986, S. 870 f. [zitiert im Folgenden: Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14)] Der Eintrag offenbart Goethes Dilemma, zwischen dem den mangelhaften „Zuständen“ entspringenden Reisewunsch und dem schlechten Omen („Aberglauben“) eingeklemmt zu sein, das aus den bis dahin, z. T. im Ansatz abgebrochenen Italien-Reisen rührt. Das böse Omen überwinden dann die namentlich am Anfang des Reise-Tagebuchs beobachteten günstigen Naturzeichen (die mit der astrologischen Nativität in Dichtung und Wahrheit korrespondieren). https://doi.org/10.1515/9783110759426-007

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für 1787: Die vier ersten Bände meiner Schriften bei Göschen. Arkadier. Megalio Melpomenio. Herders Abreise

und für 1788: Rückreise Rückkunft […] Abreise der Herzogin M[utter] Neue Lebensverhältnisse Nach innen Nach außen3

So spärlich die Angaben, so klar lassen sie erkennen, dass er die Reise aus tiefster Not antrat und dass sie zu einer grundlegenden Änderung seines Weimarer Lebens und Selbstverständnisses führte. Die Arbeit an Dichtung und Wahrheit, welches Werk dynamisches Epochenbild, Geschichte der Literatur, intellektuelle Biographie, Lebens- und Werkgeschichte ineinander verflechten sollte, begann er mit Geburt und Kindheit.4 Begünstigt durch die Fülle an Materialien, die er teils bereits 1796 in einem enzyklopädischen Werk über Italien hatte publizieren wollen,5 arbeitete er schon bald gleichzeitig an der Italienischen Reise, deren „Konzept“ er „im ersten Frühjahr“ 18146 „in großen Stücken“ resp. deren „Rohmanuskript“ er im Oktober 18157 schon erarbeitet hatte und deren endgültige Fassung er 1816 und 1817 publizieren sollte. Wo steht die Italienische Reise I-II im Zusammenhang von Goethes intellektueller Biographie und im Verhältnis zu den „Perioden“ des Werks? Wie verhält sie sich zur „großen Erzählung“ von Dichtung und Wahrheit? Was trägt sie zur Geschichte des Klassikers und seiner Autobiographik bei? Die Daten der Reise 1786–1788 und des auf der Reise geschriebenen ReiseTagebuchs einerseits und die in großen Teilen auf seiner Grundlage entstandene 1816 und 1817 publizierte Buchfassung andererseits setzen zeitliche Marken, deren jeweilige biographisch-intellektuelle Signaturen gelesen und miteinander

3 Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14), S. 870 f. 4 Die Teile 1–3 der Abth. I der Italienischen Reise erschienen 1811, 1812 und 1814 bei Cotta. 5 Goethe: Italienische Reise (FA 15.1), Kommentar, S. 1065; s. dazu: Claudia Keller: Abglanz der Welt. Goethes Italien-Projekt als Kulturanalyse. Göttingen 2018. (Ästhetik um 1800. 11). 6 Für die Italienische Reise I, s. Goethe: Italienische Reise (FA 15.1), Kommentar, S. 1073 f. 7 Für die Italienische Reise II, s. ebd., Kommentar, S. 1093 f.

Vor- und nach-klassizistisch. Goethes Aus meinem Leben



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in Beziehung zu setzen sind. Die Verbindung der in Italien entstehenden Bände der Göschen’schen Werkausgabe wie die prägende Kraft des kosmogonisch-universalhistorischen Habitus von Goethes Weltansicht mit den Integralen „Urmeer“ („Urgewässer“8), „Urgebirge“,9 „Urwelt“, „Urpflanze“, mit „Volk“ und „Nation“ stellen Reise und Reise-Tagebuch unter den Stern Herders;10 doch mehr und mehr tritt gegen die von Herder inspirierte naturhistorische und kulturanthropologische Offenheit in Rom und Sizilien eine sich an den Antiken schulende klassizistische Kunstanschauung hervor, die schon in Rom immer stärker theoretisch-lehrhafte, um nicht zu sagen, doktrinäre Züge annimmt;11 die schließlich publizierte Reise dagegen ist ein Werk des postklassizistischen Goethe nach der „Weimarer Klassik“. Zwar hatte er mit dem Tod Schillers seinen Alliierten verloren, er wurde aber auch freier, die eigene von klassizistischen Selbstbeschränkungen freie Modernität in den zur Unabschließbarkeit neigenden und entsprechend wuchernden, ihrer Bauform nach aggregaten Romanen Wahlverwandtschaften und Wilhelm Meisters Wanderjahre zu entfesseln.12 Mit dem von Sulpiz Boisserée für das Mittelalter und von Hammer-Purg8 Ebd., ITR, S. 97 (9. Okt., Venedig); „uralten Meeres“ (ITR, 7. Sept., Mittelwald). 9 Ebd., ITR, S. 16 (ITR, 7. Sept., Mittelwald) aus „Ebbe und Fluth aus der Donau“ (RT, S. 605 4. Sept.). 10 Zugrunde liegt hier vor allem Goethes intensive Beschäftigung mit Herders Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit, deren erste beide Teile 1784 und 1785 erschienen waren. Wie stark diese Begegnung Goethe prägte, zeigt nicht nur die damalige Wiederaufnahme der Freundschaft mit Herder, sondern seine späte Würdigung (1828) der Ideen als „ein vor funfzig Jahren in Deutschland entsprungenes Werk, welches unglaublich auf die Bildung der Nation eingewirkt hat und nun, da es seine Schuldigkeit gethan, so gut wie vergessen ist“ (WA I, 41, S. 345), was ebenso für die nie ausdrücklich gemachte Wirkung auf Alexander von Humboldt (s. Bernhard Hunger: Spurensuche einer Rezeptionsgeschichte. Alexander von Humboldt und Johann Gottfried Herder. In: HiZ 18 [2009], S. 45–52) wie auf Hegels Geschichtsphilosophie gelten kann. 11 Zu nennen ist hier vor allem der 1788/1789 im Rahmen der Auszüge aus einem Reise-Journal entstandene Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (Goethe: Italienische Reise, FA 15.2, S. 872–877). 12 Zu Wilhelm Meisters Wanderjahren s. Verf.: Goethes „Aggregat“. Wilhelm Meisters Wanderjahre (1829). In: andererseits – Yearbook of Transatlantic German Studies Vol. 7/8 (2018/2019), S. 133–145. – Von der bei aller freundschaftlichen Liebe und literaturpolitischen Allianz abgründigen Spannung des „Bundes“ mit Schiller handelt Goethes späte Erzählung Glückliches Ereignis von 1817, die gegen das Publikumsklischee vom glücklichen Dioskurenpaar die Problematik der Jahre der Weimarer Klassik für Goethes Werk offenlegt. Im ernüchterten Rückblick geschrieben, positioniert sich die Erzählung jenseits von Goethes anfänglicher Hoffnung „wachsender Übereinstimmung“ auf gemeinsamen Grundsätzen (Goethe an Schiller, 15. Dez. 1795 [Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe: Der Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. 2 Bde. Hrsg. Und komm. Von Norbert Oellers unter Mitarbeit von Georg Kurscheidt. Stuttgart 2009, Bd. 1, S. 149]), um einen unüberbrückbaren Hiat der „Denkweisen“ festzuhalten,

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stalls Hafis-Übersetzung für den Orient erwachsenden Interesse leben durch den Klassizismus verschüttete Ansätze wieder auf, die ihm aus Herders offen universalhistorischer Kulturphilosophie vertraut waren. Eben sie ermöglichen es ihm, sich in der posttraditionalen Welt, die für sich ihre naive identitätsstiftende kollektive „Kultur“ verloren hat oder ihrer unsicher geworden ist, Bestände aus den verschiedensten „Kulturen“ wahrzunehmen, sich anzueignen und im Sinne der Idee einer Weltliteratur und Weltkunst erfahrungsoffen und ohne prästabilierte Hierarchie der Bestände zu synthetisieren. * Auch wenn sie der Titel Aus meinem Leben. II. Abthl. an die große Lebensgeschichte anschließt, hat die 1816 und 1817 publizierte Italienische Reise eine eigene Form, ist fest umrissen und in sich abgeschlossen. Es fehlt jede Bezugnah-

den Goethe nur mit Mühe als „Polarität“ der dynamischen Natur und des Primats des Objekts einerseits, der Freiheit und Unbedingtheit der autonomen Vernunft andererseits interpretieren kann. Letztlich markiert diese Kluft die Unvermittelbarkeit von Goethes pantheistischer Ontologie und Schillers von Kant inspiriertem transzendentalen Idealismus, denktypologisch: die Evidenz der reichen konkreten Anschauung (bei grundsätzlicher Skepsis gegen ihre sprachliche Fassung und terminologische Fixierung) und das Streben nach kohärenter Systematizität des diskursiv-begrifflichen Philosophierens. „An keine Vereinigung war zu denken“. Wenn Goethe und Schiller dennoch zu einem „Bund“ zusammenfanden, schrieb sich der unvermittelbare Hiat und der ihm zugeordnete Gegensatz einer eher genial-intuitiven offenen (Goethe) und einer begrifflich-deduktiven auf die vollständige Repräsentation von Ideen zielenden poetischen Arbeitsweise als ewiger „Wettkampf“ in die Zusammenarbeit ein. Der Agon hatte wegen Schillers Begriffsmacht, der sich Goethe anvertraute, auch weil er ihr wenig entgegenzusetzen hatte, für diesen nicht nur fruchtbare, vielmehr auch hemmende Folgen, wie schon die Arbeit an den Lehrjahren zeigte, wo Schiller nach der interpretierenden Lektüre des Manuskripts Goethe eine Fülle von „Erinnerungen“ gab, die diesen bei allem guten Willen, dem Rat zu folgen, schließlich auf ihren unüberbrückbaren Grundhiat zurückführten und resigniert-aufmunternd feststellen ließen: „Fast möchte ich das Werk zum Drucke schicken, ohne es Ihnen weiter zu zeigen. Es liegt in der Verschiedenheit unserer Naturen daß es Ihre Forderungen niemals ganz befriedigen kann, und selbst das giebt, wenn Sie dereinst sich über das Ganze erklären, gewiß wieder zu mancher schönen Bemerkung Anlaß.“ (Goethe an Schiller, 10. Aug. 1796 [ebd., S. 261]). Schiller, auch für Goethe ein unendlich liebenswürdiger, taktvoller und empathischer Freund, gewinnt hier einen Zug jener stacheligen Mentoren wie Merck und Herder, die Goethe für seine Bildung offenbar suchte und denen er mit seinem Hang zum Paradoxen und seinem mephistophelischen Widerspruchsgeist wesensverwandt war. Kein Wunder also, dass Goethe sich bald mit Meyer zusammentut, um auf dem Feld der bildenden Kunst in den Propyläen das Gegenprojekt einer eigenen anschauungsbezogenen Theorie ästhetischer Gegenstände zu entwickeln. Kein Wunder auch, dass Goethe sich außer Stande sah, nach Schillers Tod dessen Demetrius zu vollenden. Das Verhältnis zu Schiller insgesamt war ihm, so scheint es, derart unaussprechlich intrikat, dass er es nicht autobiographisch gestalten, sondern nur dokumentarisch behandeln konnte: in der unkommentierten Ausgabe seines Briefwechsels mit Schiller.

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me auf das große Narrativ der Gesamtlebensbeschreibung, obwohl es Goethe doch ein Leichtes gewesen sein müsste, etwa in einem Vorwort, diesen Solitär in einen Spannungsbogen hin zur Weimarer Klassik als Zwischenhoch und Inkubationszeit der späteren „Weimarer Klassik“ zwischen die beiden retardierenden, wenn nicht „verlorenen“, so doch schmerzlichen Jahrzehnte 1775–1785 und 1786–1794 einzubauen. Aber das hat er wohl nie auch nur erwogen. Schon die ersten Sätze der beiden Werke, hier die programmatische Vorrede, dort unter dem Tagesdatum der Beginn medias in res, zeigen die Distanz, die zwischen der diaristischen Form und dem langen epischen Atem einer als Epochengemälde aufgefassten Autobiographie besteht, die auf den Fluchtpunkt des Klassikers Goethe nach der „Werkausgabe A“ und der klassischen deutschen Literatur zielt. Nur durch den Titel an das große Narrativ von Dichtung und Wahrheit angeschlossen, verwandt und doch eigenartig, hebt die Italienische Reise das Programm von Dichtung und Wahrheit in sich auf.13 Auch hier gilt die Aufmerksamkeit dem sich bilden-wollenden, geradezu experimentell einsamen Ich Goethes und seiner Auseinandersetzung mit der Welt – sie gilt dem nördlichen Fremdling: dem „nordischen Bär“14, der sich auf den Weg begibt, sich zum Griechen zu bilden. Und unter werkgeschichtlicher Perspektive erläutert der Schluss des ersten Abschnitts „Carlsbad-Brenner“15 Sinn und Zweck des Tagebuchschreibens mit Blick auf seine Freunde und den Schreiber selbst, und verzahnt, zeitlich vor den ersten Tagebucheintrag führend, die Reise mit der Vollendung der fehlenden Bände der Göschen’schen Werkausgabe. Auch in der minutiösen erzählerischen Durchformung sind die beiden Werke bei allen Unterschieden eng verwandt. Auch der Erste Römische Aufenthalt ist von einer welterfahrenen Reflexion ex post des Erzählers tingiert und überfangen, wobei dies für den Berichtenden des Reise-Tagebuchs wie für den alten Redaktor seiner selbst von 1814 gilt. Alles ist pragmatisch bis ins Kleinste durchgearbeitet und verknüpft, auch hier bilden die verschiedenen Motivreiche, von den mineralogischen und botanischen bis zu den ethnographischen „Bemerkungen“, die eingelegten Szenen, die Anekdoten und Charakterschilderungen Ketten16 und lassen ein ebenso facettenreiches wie fasslich-konkretes Gesamtbild entstehen.

13 Dasselbe autobiographische Verfahren der motivierenden Einbettung von Werken in die Lebens- und Zeitgeschichte findet sich auch im zweiten Teil des anderen großen symbolischen Solitärs: der Kampagne in Frankreich, wo Goethe in der Wiederbegegnung mit Weggefährten und Bekannten Ereignisse und Werke der Weimarer Zeit vergegenwärtigt. 14 Goethe: Italienische Reise (FA 15.1), RT, S. 629 (10. Sept., Trient). 15 Ebd., ITR, S. 24 f. 16 „leitmotivisch“ (Görner [Anm. 1], S. 75).

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Zu beschreiben, was den Ersten Römischen Aufenthalt ausmacht, muss man nur den Umgang mit dem zuerst – in actu auf der Reise für die Freunde – geschriebenen Reise-Tagebuch ansehen, das ja die Hauptquelle war und dessen Chronologie und Etappengliederung (in „Stücken“) Goethe aufnahm. Das Ergebnis ist, kurz gesagt: Goethe transponiert virtuos das für Charlotte von Stein (und seine Freunde) im Reise-Tagebuch geschilderte Erleben und „Bemerken“ (als Einheit von Anschauen und reflexiver Fassung) in reflexiv-durchdrungene, symbolische und dabei erlebnishaft spontan dargebotene Erfahrung. Der Vergleich des Reise-Tagebuchs mit der publizierten Italienischen Reise zeigt, wie er einzelnes, vor allem aber seine unmittelbaren Mitteilungen an seine Weimarer Freunde weglässt, wie er Motive verschiebt und einbettet, nicht zuletzt um dem Text stärkere pragmatische (temporale wie kausale) Bindung zu geben (als Beispiel sei an den Eingangsabsatz erinnert), wie er aus den gegebenen „Stücken“ die kleinen Bögen der Etappen herstellt. Berückend gelingt ihm eine Naivität zweiter Potenz, eine zweite Unmittelbarkeit – obschon er die ursprünglich ja gleichsam anwesenden Freunde, für die er einst schrieb, weitgehend tilgt, lässt er eben doch ein paar enigmatische Spuren stehen: „Du“ / „Freunde“.17 Indem sie erahnen lassen, dass es – gegen die inszenierte „allein“, „ganz allein“-Einsamkeit der tabula-rasa-Situation – eben doch jemanden gab und gibt, dem er erzählt, hält er die Unmittelbarkeit der Tageserlebnisse und der sich vollziehenden Augenblicke des Erzählens und der Reflexion gegen die spätere Expost-Erzählung und Konstruktion fest. Das Italienerlebnis ist komponierte Erinnerung, angelegt als Vergegenwärtigung jener glücklichen Tage, melancholisch durchwirkt vom lange vergangenen schmerzlichen Abschied und vom Wissen, nie wieder dahin zu kommen und dort das erste Mal wiederzuerleben. Die „Flucht“18 beginnt er im publizierten Text „ganz allein“, in gesuchter „Einsamkeit“, er inszeniert sich als eine Art tabula rasa, die er, aufbauend auf seinem Interesse an allen Arten von Naturphänomenen und ihrer auch ästhetischen Faszination, alle Reiche der Natur durchschreitend, von Stufe zu Stufe komplexer werdend, nun neu beschreibt und dabei seinen phänomenologischgenetischen Wahrnehmungshabitus übt, ausbildet und perfektioniert. Damit treibt er nur das hervor, was schon das italienische Reisetagebuch und das Tagebuch der Schweizer Reise von 1779 offensichtlich prägte. Die Reise, die Bewegung durch die Land- und Klimastriche meint „Genuss“-volle Exerzitien der phänomenologischen Anschauung und der – zuvor ausgetrockneten – jetzt von den Gegenständen gebannt faszinierten Anschauung, an die sich dann Reflexion anschließt, die alsbald die Gegenstände selbst und ihre Wahrnehmung be17 Goethe: Italienische Reise (FA 15.1), ITR, S. 15. 18 Ebd., ITR, S. 21.

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reichert, immer mehr erfassend, immer mehr die Kontexte der Dinge in den Dingen selbst sehend.19 Das „erste Staunen“,20 Folge der unmittelbaren Begegnung gegen alle abbildhafte Kenntnis durch Stiche oder Lektüre,21 führt auf die weitere Stufe der kulturhistorischen Kontextualisierung. Folie der Kaskade erfüllter Augenblicke ist das nur mit wenigen Worten thematisierte Leid in Weimar: Er fliehe „vor allen den Unbilden, die ich unter dem Ein und Funfzigsten Grade erlitten“,22 er flieht „Kimmerien“,23 er flieht die Prosa der Verhältnisse „in unsern statistischen Zeiten“,24 die Bücher und Abbilder. Dass sonst wenig die Trübsal des verlorenen ersten Weimarer Jahrzehnts skizziert, ist wohl auch als Rücksicht gegen seine Freunde samt dem hochgeschätzten Herzog Carl August zu deuten – denn sein Amt im Räderwerk der Landesadministration, die Akten, die „Abstraktheit seiner Existenz“, nicht zuletzt die biographischen und produktiven Krisen25 mögen das Ihre dazu beigetragen haben, dass er die lebendige Anschauung, das „Auge“ verloren hat; jedenfalls spricht das „Mir ists wie einem Kinde, das erst wieder leben lernen will“,26 Bände. Kaum eine andere Bemerkung lässt erkennen, wie unglücklich er gewesen sein muss, auch wenn sie keine nähere Auskunft gibt über das, „Was abging“ bei „Prüfung meiner Zustände“.27 Vielleicht noch die andere vor dem Hintergrund, 19 Rüdiger Görner verdanke ich den Hinweis auf Friedmar Apels (Das Auge liest mit. Zur Visualität der Literatur. München 2010, S. 91) Formulierung der "individuierten Poetik der Aufmerksamkeit". 20 Ebd., ITR, S. 161 – die auf Platon zurückführende Reflexion unter dem 25. Dez. 1787: „Ich fange nun schon an die besten Sachen zum zweitenmal zu sehen, wo denn das erste Staunen sich in ein Mitleben und reineres Gefühl des Wertes der Sache auflöst. Um den höchsten Begriff dessen was die Meisten Menschen geleistet haben in sich aufzunehmen, muß die Seele erst zur vollkommensten Freiheit gelangen.“ ist wohl eine Reformulierung der in ITR getilgten Reflexion auf die gegen das Vorurteil zu rekonstruierende Reinheit der Anschauung des RT (S. 665 f., 24. Sept., Vicenz). 21 Goethe: Italienische Reise (FA 15.1), ITR, S. 165. 22 Ebd., ITR, S. 21. 23 Ebd., RT, S. 729 („Zimmerien“ sic; 19. Okt., Bologna). 24 Ebd., ITR, S. 28. 25 Goethe: Italienische Reise (FA 15.2), ITR, Kom. S. 1057 f. nennt die verschiedenen Aspekte der „innere[n] Problematik der frühen Weimarer Jahre“, „vor der die Darstellungskunst der Autobiographie kapitulierte“ (ebd., S. 1056), bezeichnenderweise fiel ihm auch eher aus Erinnerungsverweigerung als -schwäche für das chronikalische Schema für die frühen Weimarer Jahre kaum etwas ein. 26 Goethe: Italienische Reise (FA 15.1), RT, S. 629 (10. Sept., Trient). 27 Der Eintrag offenbart Goethes Dilemma, zwischen dem den mangelhaften „Zuständen“ entspringenden Reisewunsch und dem schlechten Omen („Aberglauben“) eingeklemmt zu sein, das aus den bis dahin, z. T. im Ansatz abgebrochenen Italien-Reisen rührt. Das böse Omen überwinden dann die namentlich am Anfang des Reise-Tagebuchs beobachteten günstigen Naturzeichen (die mit der astrologischen Nativität in ‚Dichtung und Wahrheit‘ korrespondieren.

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dass er das Projekt der Reise 30 Jahre mit sich herumgetragen hat: Dass er, so Dichtung und Wahrheit, den Zufall für Weimar, gegen Italien, gegen „wunderbare Dinge“ entscheiden lassen hat,28 sei ein Irrtum „planloser Jugend“ gewesen; aber im Reisetagebuch in Verona: „Ja meine Geliebte hier bin ich endlich angekommen, hier wo ich schon lang einmal hätte sey sollen, manche Schicksale meines Lebens wären linder geworden. Doch wer kann das sagen, und wenn ich’s gestehen soll; so hätt ich mirs nicht eher ein halb Jahr eher wünschen dürfen.“29 Am Anfang steht ein ungeheures Verlangen nach sinnlicher Unmittelbarkeit, nach Anschauung, nicht bloß eine „Begierde nach Konkretion“,30 sondern eine Lust auf die mannigfaltige Welt und auf das Leben selbst: Mir ist jetzt nur um die sinnlichen Eindrücke zu tun, die kein Buch, kein Bild gibt. Die Sache ist, daß ich wieder Interesse an der Welt nehme, meinen Beobachtungsgeist versuche und prüfe, wie weit es mit meinen Wissenschaften und Kenntnissen geht, ob mein Auge licht, rein und hell ist, wie viel ich in der Geschwindigkeit fassen kann, und ob die Falten, die sich in mein Gemüt geschlagen und gedrückt haben, wieder auszutilgen sind?31

Entsprechend heftet sich sein Auge auf alles, genießt die numinose Präsenz an sich,32 und die Bemerkungen wie die sich anschließenden allgemeineren Reflexionen sind von enzyklopädischer Breite.33 Die Breitengrad um Breitengrad überquerende Reise nach Süden dringt durch die verschiedenen geognostischen und meteorologischen Formationen dem vergleichenden Blick besonders viele Bemerkungen auf, die er in seiner „Welterschaffung“34 zusammenfasst. Schon hier zeigt sich die kunstvolle Form eines Tagebuchs, das aus den Materialien heraus rekonstruiert und symbolisch in jedem erzählten Phänomen, ob Ding, Anekdote, Aperçu, ob Charakter, ob Sitte, Gebrauch oder „Äußeres des

28 Goethe: Dichtung und Wahrheit (FA 14), IV. Theil, S. 847. 29 Goethe: Italienische Reise (FA 15.1), RT, S. 641 (15. Sept., Verona). 30 Goethe: Italienische Reise (FA 15.2), ITR, Kom. S. 1043. 31 Goethe: Italienische Reise (FA 15.1), ITR, S. 28 (11. Sept. Trent). 32 Überwältigt in der sinnlich-körperlichen Konfrontation mit den Originalen, so wie er in Vicenza zu Palladios Bauten sagt: „Wenn man nun diese Werke gegenwärtig sieht, so erkennt man erst den großen Wert derselben, denn sie sollen ja durch ihre wirkliche Größe und Körperlichkeit das Auge füllen, und durch die schöne Harmonie ihrer Dimensionen nicht nur in abstrakten Aufrissen, sondern mit dem ganzen perspektivischen Vordringen und Zurückweichen den Geist befriedigen“. (Goethe: Italienische Reise [FA 15.1], ITR, S. 57 (19. Sept., Vicenz). 33 Ebd., RT, S. 660: „Meine Bemerckungen über Menschen, Volck, Staat, Regierung, Natur, Kunst, Gebrauch, Geschichte“. 34 Ebd., ITR, S. 19 (8. Sept., Brenner).

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Menschengeschlechts“35 ein Moment des unmittelbaren Reisevollzugs erzählt,36 gleichzeitig einen Mosaikstein ins Gesamtbild der italienischen Welt und des aus ihr entstehenden autochthonen Nationalcharakters einfügt und diese in eine alles umfassende Welterzählung einbettet, als Einspruch der konkreten Erkenntnis und Wahrheit, die immer durchwirkt ist von den momentanen Bedingungen, gegen jeden allgemeinen „Begriff“, ganz auf die Wiedergabe des Tages, des Augenblicks angelegt ist. Goethe sieht die Einzelheiten wie die Wechselwirkung von Klima und Landschaft und Pflanzen und Lebewesen; er sieht die geologischen Formen der Landschaften und die Übergänge der führenden Gesteinsarten, er sieht das Land und Wasser sich formen. Immerzu forscht er zur Entstehung und Entwicklung der Welt, sieht er die Spuren des Urmeers, die nur durch die „Urpflanze“37 als Arche- und produktiver Typus zu verstehende Vielfalt der Pflanzen. Ihm geht die Entstehung des Amphitheaters aus der Selbstorganisation der Zuschauer und dem Selbstgenuss des „Volks“ auf, wie Naturform zum „Kunstbild“38 drängt: wie die vor Augen liegende schöne Natur Landschafts-: „völlige Everdingen“,39 Straßenszenen Genrebilder,40 wie die Bewegungen und „schönsten Stellungen“ der Ballspieler die skulpturale Gestaltung vorbilden,41 das teilnehmende Volk in Malsesine ihn an den „Chor der Vögel“ erinnert;42 er sieht das Alte: die Antike, das „Volk“ von Rom in der Gegenwart, den „Naturmenschen“ im modernen Römer,43 in der Herberge in Fuligno die „Homerische Haushal-

35 Ebd., ITR, S. 23 (8. Sept., Brenner). 36 Der auf kontingenzdurchwirkte Konkretheit zielende Wahrheitsbegriff, die Kraft des Augenblicks, die Goethe inszeniert, sind wohl mit ein Grund, dass sich die Italienische Reise als Werk von der großen Biographie Dichtung und Wahrheit emanzipiert hat. Dass man sie so gerne als Solitär liest, mag dafür sprechen, dass Goethe selbst sie just deshalb aus der Finalität einer gleichsam notwendigen Entwicklung zum Klassizismus und zur Weimar Klassik herausnahm; dass aber auch die Lehren dieses Werks: die Erfahrungen und theoretischen Ansichten gleichermaßen, jenseits den Perioden, den durchgängigen Kern seiner Individualität bilden. 37 Goethe: Italienische Reise (FA 15.1), ITR, S. 239 (25. März 1787, Neapel); S. 286 (17. Apr., Palermo). 38 Ebd., ITR, S. 29. 39 Ebd., ITR, S. 26. 40 Ebd., ITR, S. 230 (19. März, Neapel). 41 Ebd., ITR, S. 48 f. (16. Sept., Verona). 42 Ebd., ITR, S. 35 (14. Sept., Malsesine). 43 Ebd., ITR, S. 153 (24. Nov., Rom).

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tung, wo alles um ein Feuer in einer grosen Halle versammelt ist und schreyt, lärmt, an langen Tischen speist, wie die Hochzeit von Cana gemahlt wird“.44 Alles ist Gegenstand der phänomenologisch-genetischen Betrachtung, die grundsätzlich offen ist, sich auch auf das Abgeschmackte, Groteske und Kuriose einlässt. Goethes Eigenart der Betrachtung prägt sich rein aus im Bereich der Kunst. In der Gegenwart der Werke zu sein, sie gegenwärtig anzuschauen, meint eine auratische Präsenz zu erleben, die, unerschöpflich, das wiederholte Betrachten, das vergleichende Studium der einzelnen Werke von sich her fordert. Hier liegt der Kern der phänomenologischen Methode Goethes: Kunstwerke wie Naturerscheinungen immer wieder neu und unter immer neuen Bedingungen anzuschauen und im ausgreifenden Vergleich je in ihrer Eigenart, in ihren Familien und Übergängen zu explorieren. So genommen meint „Auge“ die Einheit von unvoreingenommener „Theorie“: von Betrachtung / Beobachtung und methodisch aus Vergleich und Anordnung gewonnenem Wissen.45 Eingespannt in die Bewegung des Reisens mit der vervielfachten Erfahrung ist eine weitere Dimension: die Reflexion des Fremden auf die Art, wie er das Fremde wahrnimmt und selbst von den Fremden wahrgenommen wird, und dadurch die Erkenntnis von Brechungen und Trübungen, welche die phänomenologische Wachheit und Wahrheit, das „reine“ Anschauen der mannigfaltigen und die sich in der Mannigfaltigkeit zur Erscheinung bringenden Natur46 beeinträchtigen.47 Von da schreitet das immer geschultere „Auge“, das sich zunächst von der schieren Gegenwart der ihm aus der Lektüre und den Abbildern bekannten Monumente überwältigen ließ, zur Einsicht in die Problematik eben dieses eine einzigartige Monumentalität projizierenden Blicks fort zur erkenntniskritischen Maxime einer reflektierten Heuristik: Der Genuß auf einer Reiße ist wenn man ihn rein haben will, ein abstrackter Genuß, ich muß die Unbequemlichkeiten, Widerwärtigkeiten, das was mit mir nicht stimmt, was ich nicht erwarte, alles muß ich bey Seite bringen, in dem Kunstwerck nur den Gedancken des Künstlers, die erste Ausführung, das Leben der ersten Zeit da das Werck entstand heraussuchen und es wieder rein in meine Seele bringen, abgeschieden von allem was die

44 Ebd., RT, S. 738 (26. Okt. 1787). S. dazu Görner, S. 80 f., Christoph Jamme: Vom „Garten des Alcinous“ zum „Weltgarten“. Goethes Begegnung mit dem Mythos im aufgeklärten Zeitalter. In: Goethe Jahrbuch (1988), S. 93–114. 45 Ebd., ITR, S. 228 (17. März 1787, Neapel). 46 Rüdiger Görner spricht treffend von „Naturoffenbarung“ (Görner, S. 75). 47 Goethe: Italienische Reise (FA 15.1), RT, S. 660. S. dazu die Formulierung, „Du weißt was die Gegenwart der Dinge zu mir spricht und ich bin den ganzen Tag in einem Gespräche mit den Dingen“ (ebd.), die die Wechselwirkung von Subjekt und Gegenstand, den Versuch als Vermittler markiert (s. auch Görners Bemerkung, die Reise sei „Vermittler zwischen Subjekt und Objekt“, S. 82).

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Zeit, der alles unterworfen ist und der Wechsel der Dinge darauf gewürckt haben. Dann hab ich einen reinen bleibenden Genuß und um dessentwillen bin ich gereißt, nicht um des Augenblicklichen Wohlseyns oder Spasens willen. Mit der Betrachtung und dem Genuß der Natur ists eben das. Triffts dann aber auch einmal zusammen daß alles paßt, dann ists ein großes Geschenck, ich habe solche Augenblicke gehabt.48

Diese programmatische Reflexion des Reisetagebuchs nimmt er nicht in den publizierten Text auf, während er für die Druckfassung die lange Episode von den Malsesiner Schlossruinen ausspinnt,49 welche ihm Gelegenheit für die Bemerkung bietet, „daß nicht allein griechische und römische Altertümer, sondern auch die der mittlern Zeit, Aufmerksamkeit verdienten“50 – eine Ehrenrettung, die für den nachklassizistischen Goethe charakteristisch ist, der während der Redaktion der Römischen Teile der Italienischen Reise intensiv den West-Östlichen Divan vorantreibt. ** Die Italienische Reise ist geprägt vom überwältigenden Erlebnis der antiken Kunst. Die bildende Kunst steht dem sein „Aug“ und „seinen innern Sinn“ übenden51 Goethe am Anfang am fernsten: „ich muß meine Augen erst wieder an Gemälde gewöhnen“,52 „Im Antiken-Saale konnte ich recht bemerken, daß meine Augen auf diese Gegenstände nicht geübt sind, deswegen wollte ich nicht verweilen und Zeit verderben. Vieles sprach mich gar nicht an, ohne daß ich sagen könnte warum“53, und am 12. September in Trient im Wortlaut des Reise-Tagebuchs: „Die schönsten und grösten Natur Erscheinungen des festen Landes hab ich nun hinter mir, nun gehts der Kunst, dem Alterthum und der Seenachbarschafft zu!“54 Mit dem Amphitheater in Verona, dem „ersten Monument der alten Zeit“55, erwacht reflexhaft der Affekt gegen die Moderne. Die Reflexion zur Monumentalität56 lässt den „großen“ und „wahren“ Gedanken der Antike mit dem kleinen 48 Goethe: Italienische Reise (FA 15.1), RT, S. 668 f. – Konkretes Beistück ist die reflektiertmethodische Betrachtung angesichts der zunächst ganz fremden Gestalt der dorischen Tempel von Salern, die wieder vom Staunen ausgeht und zum prägnanten Verstehen fortschreitet: „Das Land ward immer flacher und wüster, wenige Gebäude … das eigentliche Leben mit, man fühlt es wieder aus ihnen heraus, welches der Baumeister beabsichtigte, ja hinein schuf.“ (ITR, S. 236 f., 23. März 1787, Neapel). 49 Ebd., ITR, S. 34–39, s. RT, S. 633 50 Ebd., ITR, S. 36. 51 Ebd., RT, S. 660 (21. Sept., Vicenza). 52 Ebd., ITR, S. 14 (6. Sept., München). 53 Ebd., ITR, S. 14 (6. Sept., München). 54 Ebd., RT, S. 631 (11. Sept., Roveredo). 55 Ebd., RT, S. 641 (15. Sept., Verona). 56 Ebd., RT, S. 643 f. (15. Sept., Verona).

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und unwahren Gegenstand der (christlichen) Nachantike kollidieren, die „Ungeheuer“ hervorbringe. Diese Reflexion führt die sich anschließende Bemerkung angesichts der Gemälde von St. Giorgio aus: St. Giorgio ist eine Galerie von guten Gemälden, alle Altarblätter, wo nicht von gleichem Wert, doch durchaus merkwürdig. Aber die unglücksel’gen Künstler, was mußten die malen! und für wen! Ein Mannaregen vielleicht dreißig Fuß lang und zwanzig hoch! das Wunder der fünf Brote zum Gegenstück! was war daran zu malen? Hungrige Menschen, die über kleine Körner herfallen, unzählige andere denen Brot präsentiert wird, Die Künstler haben sich die Folter gegeben um solche Armseligkeiten bedeutend zu machen. Und doch hat, durch diese Nötigung gereizt, das Genie schöne Sachen hervorgebracht.57

Wie kann die Kunst gelingen, ohne im „Volk“ als Publikum und Auftraggeber verwurzelt zu sein, wie kann sie gelingen mit den weltabgewandten „unsinnigen Süjets“, mit den „abscheulichen, dummen, mit keinen Scheltworten der Welt genug zu erniedrigenden Gegenständen“?58 Den christlichen Motiven und Themen hält Goethe die rührenden „Gräber der Alten“ entgegen, die das intime Alltagsleben darstellenden Grabreliefs: Da ist ein Mann, der neben seiner Frau aus einer Nische, wie zu einem Fenster heraussieht. Da stehen Vater und Mutter, den Sohn in der Mitte, einander mit unaussprechlicher Natürlichkeit anblickend. Hier reicht sich ein Paar die Hände. Hier scheint ein Vater, auf seinem Sopha ruhend, von der Familie unterhalten zu werden. Mir war die unmittelbare Gegenwart dieser Steine höchst rührend. Von späterer Kunst sind sie, aber einfach, natürlich und allgemein ansprechend.59

Solche „einfache Gegenwart der Menschen“, die „hienieden“ sind, „was sie waren und was sie sind“,60 sei die Essenz der antiken Kunst: „Dieses ist eben der alten Künstler Wesen das ich nun mehr anmuthe als jemals, daß sie wie die Natur sich überall zu finden wußten und doch etwas wahres etwas lebendiges hervorzubringen wußten.“61 Das einfache Leben und Wirken von Menschen, die ganz unheroische Größe und Einfalt, findet Goethe bei christlichen Szenen nur in der reinen Menschlichkeit der innigen Mutterliebe Mariens. Sonst: „Man ist immer auf der Anatomie, dem Rabenstein, dem Schindanger, immer Leiden des Helden nie Handlung. Nie ein gegenwärtig Interesse, immer etwas phantastisch erwartetes.“62 57 58 59 60 61 62

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

ITR, S. 49 f. (17. Sept., Verona). RT, S. 727 (19. Okt., Bologna). ITR, S. 46 f. (16. Sept., Verona). ITR, S. 47 (16. Sept., Verona). RT, S. 740 (26. Okt., Fuligno). RT, S. 727 (19. Okt., Bologna).

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Und in universalhistorischer Kontextualisierung meint das:63 Der „Aberglaube“ sei „eigentlich wieder Herr über die Künste geworden“ – habe also die mit der antiken Kunst erreichte reine Menschlichkeit gleichsam zurückgedreht – und das „Enge Bedürfniß der neuern, der nördlichen Völcker“64 – also die dem „heitern Himmel“ und „milden Klima“ fremde „Sorge“.65 Gegen diese Bedingungen, von solchen Gegenständen gemartert, kann sich schöne Kunst nur langsam wiederfinden und das Genie nur Stufe um Stufe erklimmen, bis etwa Mantegna ihn durch „eine scharfe, sichere Gegenwart“ „erstaunt“. „Von dieser ganz wahren, nicht etwa scheinbaren, effektlügenden, bloß zur Einbildungskraft sprechenden, sondern derben, reinen, lichten, ausführlichen, gewissenhaften, zarten, umschriebenen Gegenwart“.66 Reine Gegenwart, den „Genuss seines Daseins“67 erlebend, mit geübtem phänomenologischem „Auge“ in Dingen der Naturerkenntnis, konnte er angesichts der Menge antiker Denkmäler nicht umhin, auch hier „Gesetze“68 zu suchen und – den latenten Klassizismus Herders auslebend – Winckelmanns Identifikation des „Ideals“ mit der griechischen Kunst zu bestätigen. So in den „zwei Betrachtungen, die durch alles durchgehen, welchen sich hinzugeben man jeden Augenblick aufgefordert wird“.69 Die eine zielt auf die historische Kontextualisierung der Werke in ihren jeweiligen Epochenstilen, die andere erkennt mit Winckelmann schließlich in der „Kunst der Griechen“ den „Kreis göttlicher Bildung“, der vollkommen und vollständig die Idee der Kunst vor Augen stelle. Zuerst also wird man bei dem ungeheuern und doch nur trümmerhaften Reichtum dieser Stadt, bei jedem Kunstgegenstande aufgefordert, nach der Zeit zu fragen, die ihm das Dasein gegeben. Durch Winkelmann sind wir dringend aufgeregt die Epochen zu sondern, den verschiedenen Styl zu erkennen dessen sich die Völker bedienten, den sie, in Folge der Zeiten, nach und nach ausgebildet und zuletzt wieder verbildet. Hievon überzeugte sich jeder wahre Kunstfreund. Anerkennen tun wir alle die Richtigkeit und das Gewicht der Forderung. Aber wie nun zu dieser Einsicht gelangen! Vorgearbeitet nicht viel, der Begriff richtig und herrlich aufgestellt, aber das Einzelne im ungewissen Dunkel. Eine vieljährige entschiedene Übung des Auges ist nötig und man muß erst lernen um fragen zu können. Da hilft 63 „Wir wollen die Geschichte dazu nehmen und du wirst sehn …“ (ebd., RT, S. 728). 64 Ebd., RT, S. 728 (19. Okt., Bologna) 65 Hier anzuschließen die zeitdiagnostische Bemerkung „die Zeit des Schönen ist vorbei, nur die Noth und das strenge Bedürfniß erfordern unsre Tage“ (ebd., RT, S. 697, Venedig). 66 Ebd., ITR, S, 67 (27. Sept., Padua). 67 Ebd., ITR, S. 51 (17. Sept., Verona) / „Übergefühl des Daseins“ (ITR, S. 53, 17. Sept., Verona). 68 Bezogen auf Palladio und Raphael: „Gränzen und Gesetze ihrer Kunst“ (ebd., RT, S. 729, 19. Okt., Bologna). 69 Ebd., ITR, S. 178 (28. Jan., Rom).

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kein zaudern und zögern, die Aufmerksamkeit auf diesen wichtigen Punkt ist nun einmal rege und jeder, dem es Ernst ist, sieht wohl ein, daß auch in diesem Felde kein Urteil möglich ist als wenn man es historisch entwickeln kann. Die zweite Betrachtung beschäftigt sich ausschließlich mit der Kunst der Griechen und sucht zu erforschen, wie jene unvergleichlichen Künstler verfuhren, um aus der menschlichen Gestalt den Kreis göttlicher Bildung zu entwickeln, welcher vollkommen abgeschlossen ist und worin kein Hauptcharakter so wenig als die Übergänge und Vermittlungen fehlen. Ich habe eine Vermutung, daß sie nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfährt und denen ich auf der Spur bin. Nur ist noch etwas anders dabei, das ich nicht auszusprechen wüßte.70

Winckelmann wird zum Geburtshelfer des neuen Goethe („Wiedergeburt“71), der auf der Basis der vergleichenden Natur- und Kunstbetrachtung (also phänomenologisch-genetischer Studien) mit der Konfundierung von urtypischer und idealer „schöner Natur“ das Geheimnis des klassischen Gehalts und der klassischen Form72 zu entdecken meint. Damit bildet die Reise nach Italien biographisch den Übergang des vorklassischen zum klassischen Goethe, ist sie erster Abschnitt der Goethe’schen Klassik, die sich dann mit Schiller und vor allem durch die gemeinsame Frontstellung gegen die Romantiker zur „Weimarer Klassik“ erweitert und konsolidiert. Aber lehrt ein Blick auf die offene Neugier, auf die Lebens- und Daseinsfei73 er der Italienischen Reise nicht auch, dass der Klassizismus (und die literaturpolitische Allianz mit Schiller, der das geschichtsphilosophisch-poetologische Selbstverständnis dieser Allianz in Über naive und sentimentalische Dichtung ausformuliert74) mit einer Dogmatisierung verbunden war? Und weder vermochte Goethe die Verbindlichkeit des Dogmatisierten in sich kohärent und konsistent zu begründen noch taugte sie ihm als Fundament literarischer Produktion, konnte sie doch von sich aus die doppelte Verlegenheit weder vermeiden noch meistern: in klassischer Formsprache neuzeitliche und näherhin spezifisch mo70 Ebd., ITR, S. 178 f. (28. Jan., Rom). 71 Ebd., ITR, S. 158 (3. Dez., Rom), S. 160 (20. Dez., Rom). 72 Ebd., ITR, S. 179 (28. Jan., Rom). 73 In Venedig angesichts von Seeschnecken, Patellen und Taschenkrebsen des Meeres: „Was ist doch ein Lebendiges für ein köstliches, herrliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend!“ (Ebd., ITR, S. 99, 9. Okt., Venedig). 74 Seine Interpretation aus dem Geburtstagsbrief von 1794 fortschreibend, Goethes „griechischer Geist“, „in die nordische Schöpfung geworfen“, habe „von innen heraus und auf einem rationalen Wege ein Griechenland“ geboren, weist er diesem in Über naive und sentimentalische Dichtung die naturbezogene reale und sich die ideenbezogene ideale sentimentalische Dichtart zu (s. dazu: Verf.: Goethes Klassizismus und Schillers Poetologie der Moderne. „Über naive und sentimentalische Dichtung“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie (1994), Bd. 113, S. 225–245).

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derne Stoffe ästhetisch überzeugend und alte Stoffe ohne anachronistisch-fade Epigonalität ins Werk zu setzen (dies auf jeden Fall in der Literatur). Goethe selbst sah hierin den historischen Reflex der Unzeitgemäßheit der Kunst in „prosaischer Zeit“, die einen Impuls darstellt für seine kurzschließende Konfundierung. Goethe wurde mithin sich selbst historisch, weil er das Unzeitgemäße und Überlebte nicht nur im Verhältnis zu der neuen Zeit, sondern auch in sich selbst spürte. Es wurde Zeit für eine weitere Häutung. Wie gesagt, die publizierte Italienische Reise bildet die neue Grundlegung des Klassizismus ab, jedoch überwindet sie auch auf ihre Weise, darin selbst neues Programm, dessen Programmatik, insofern sie sich auf der Grundlage der eigenen ästhetischen Erfahrung, welche die Verbindung reiner diesseitiger Gegenwärtigkeit und des heitern Lebensvollzuges beschwört, öffnet zu einer vielerlei Einflüsse aufnehmenden Kunst. Der pagane Antikenkult geht auf in einer offenen diesseitig-weltfrommen Kunst, die sich weiterhin gegen „an sich“ widernatürliche Gegenstände und alle „neureligiöse“ Romantik verwahrt, auf dem immanenten Sinn einer „reinen“ – will sagen eigenartig autonomen, in einer eigenen Zeitlichkeit und in einem eigenen Erfahrungsmodus wahrgenommenen und idealen – Gegenwart besteht. Von dieser Überzeugung wird der „postklassische“ Goethe auch nach dem Klassizismus nichts zurücknehmen. Sie wird die Grundlage für seine amalgamierend-verschmelzend wie wechselseitig metaphorisierend wie zitierend-appräsentierende postreligiöse Adaption selbst der christlichen Kunst. Die Würdigung der Werke in ihrer Eigenart unter den je besonderen historischen Entstehungsbedingungen75 trifft sich mit dem postklassizistisch entdogmatisierten produktiven Zugang zu den neuen Stoffwelten, etwa zu der durch den neuen Freund Sulpiz Boisserée ausgelöste intensive Beschäftigung mit der mittelalterlichen Kunst oder der Begegnung mit dem Orient. Indes, hatte Goethe nicht vieles davon unter dem Einfluss seines Mentors Herders schon kennengelernt? Von da stellten die Jahre nach Schillers Tod eine Art Rückbesinnung und Wiederaufnahme von Ideen der vorklassischen, genauer: vorklassizistischen Zeit dar. Wie greifbar Goethes erfahrungsoffene Überschreitung der klassischen Norm, des klassizistischen Dogmas sich mit Herders Individualismus und vorklassizistischem Historismus trifft, jeder Mensch habe seine eigene Weltansicht und bilde deshalb seine eigene Philosophie, demonstriert das Schlusswort vom Anfang Juni 1787:

75 Sie wird auch – nachvollziehbar in seinem Tagebuch der 1820er Jahre – Goethes weltliterarisches Studium der verschiedenen Literaturen und Werke prägen, das die auf die sprachliche und formale Eigenart der Werke zielende Lektüre verbindet mit breit angelegten kulturhistorischen Studien.

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Überhaupt, wenn jeder Mensch nur als ein Supplement aller übrigen zu betrachten ist, und am nützlichsten und liebenswürdigsten erscheint wenn er sich als einen solchen gibt; so muß dieses vorzüglich von Reiseberichten und Reisenden gültig sein. Persönlichkeit, Zwecke, Zeitverhältnisse, Gunst und Ungunst der Zufälligkeiten, alles zeigt sich bei einem jeden anders. Kenn’ ich seine Vorgänger so werd’ ich auch an ihm mich freuen, mich mit ihm behelfen, seinen Nachfolger erwarten und diesem, wäre mir sogar inzwischen das Glück geworden die Gegend selbst zu besuchen, gleichfalls freundlich begegnen.76

Abb. 1: Eintrag vom 3. September 1786 (Stück I) in Goethes korrigiertem und redigiertem Reisetagebuch auf gebrochenem Bogen in gr.-8°, dem eine von Charlotte von Stein redigierte Abschrift auf gebrochenen Bogen in 4° des verlorenen Urtagebuchs zugrundeliegt. (GSA 27/9, S. 11; s. dazu GT I.2) 76 Goethe: Italienische Reise (FA 15.1), ITR, S. 372 (4., 5. und 6. Juni 1787, Unterwegs).

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Abb. 2: Eintrag vom 16. September 1786 (Stück III) in Goethes korrigiertem und redigiertem Reisetagebuch; geschrieben auf ganzem Bogen in gr.8°– Abschrift des Urtagebuchs? (GSA 27/ 9, S. 144; GT I.2)

150  Bernhard Fischer

Abb. 3: Brief an die Weimarer Freunde vom 1. November 1786 (geschrieben auf feinem Postpapier in gr.8°), der – siehe die Erledigungsstriche in Rötel – einer (weiteren redigierten) Abschrift: dem Ms. der Italienischen Reise, zugrundeliegt; (GSA 29/494, Bl. 1)

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Abb. 4: Brief an Charlotte von Stein vom 3. November 1786 (in Tinte umgeändert in 1. November) (feines Postpapier in gr.8°; GSA 29/494, Bl. 3)

152  Bernhard Fischer

Abb. 5: Brief an die Weimarer Freunde vom 7. November 1786 (hier mit Bleistift redigiert) (gr.8°, feines Postpapier; GSA 29/494, Bl. 5)

 Anhang

Siglen GSA KSW EGW

FA GB

GT

Goethe- und Schiller-Archiv Klassik Stiftung Weimar Die Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten. Begründet von Momme Mommsen. Fortgeführt und hrsg. von Katharina Mommsen. Bd. 1- (Bd. 1 und 2: Reprographischer Neudruck des vom Institut für Deutsche Sprache und Literatur der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Akademie Verlag 1958 herausgegebenen Erstdrucks). Berlin, New York 2006 ff.– Bd. 1: Abaldemus – Byron (2006);– Bd. 2: Cäcilia – Dichtung und Wahrheit (2006);– Bd. 3: Diderot – Entoptische Farben (2006);– Bd. 4: Entstehen – Farbenlehre (2008);– Bd. 5: Fastnachtsspiel – Faust (2017);– Bd. 6: Feradeddin – Gypsabgüsse (2010);– Bd. 7: Hackert – Indische Dichtungen (2015). Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Frankfurt/M. 1987–2013. Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Klassik-Stiftung Weimar/ Goethe- und Schiller-Archiv / (ab 2017:) In Verbindung mit der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar/Goethe- und Schiller-Archiv hrsg.von Georg Kurscheidt, Norbert Oellers und Elke Richter. Bd. 1-. Berlin 2008 ff.– Bd. 1 I–II: 23. Mai 1764–30. Dezember 1772. Text und Kommentar. Hrsg. von Elke Richter und Georg Kurscheidt (2008);– Bd. 2 I–II: Anfang 1773–Ende Oktober 1775. Text und Kommentar. Hrsg. von Georg Kurscheidt und Elke Richter (2008);– Bd. 3 I–II: 8. November 1775–Ende 1779. Text und Kommentar. Hrsg. von Georg Kurscheidt und Elke Richter unter Mitarbeit von Gerhard Müller und Bettina Zschiedrich (Kommentar) (2014);– Bd. 6 I–II: Anfang 1785–3. September 1786. Text und Kommentar. Hrsg. von Volker Giel unter Mitarbeit von Susanne Fenske und Yvonne Pietsch (Text); unter Mitarbeit von Yvonne Pietsch, Markus Bernauer und Gerhard Müller (Kommentar) (2010);– Bd. 7 I–II: 18. September 1786–10. Juni 1788. Text und Kommentar. Hrsg. von Volker Giel unter Mitarbeit von Susanne Fenske und Yvonne Pietsch (Text); unter Mitarbeit von Yvonne Pietsch, Markus Bernauer und Gerhard Müller (Kommentar) (2012);– Bd. 8 I–II: 20. Juni 1788–Ende 1790. Text und Kommentar. Hrsg. von Volker Giel und Norbert Oellers unter Mitarbeit von Yvonne Pietsch (Text); unter Mitarbeit von Gerhard Müller und Yvonne Pietsch (Kommentar) (2017);– Bd. 9 I–II: 1791–1793. Text und Kommentar. Hrsg. von Volker Giel und Norbert Oellers unter Mitarbeit von Gerhard Müller und Yvonne Pietsch (2019);– Bd. 10 I–II: 1794–1795. Text und Kommentar. Hrsg. von Jutta Eckle und Georg Kurscheidt (2019). Johann Wolfgang Goethe: Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik [ab Bd. V (2007): Klassik Stiftung Weimar] hrsg. [Bd. 1– 6: von Jochen Golz unter Mitarbeit von Wolfgang Albrecht, Andreas Döhler und Edith Zehm]. Bd. 1-. Stuttgart, Weimar 1998 ff.– Bd. I 1–2: 1775–1787. Text und Kommentar. Hrsg. von Wolfgang Albrecht und Andreas Döhler (1998);– Bd. II 1: 1790–1800. Text. Hrsg. von Edith Zehm (2000);– Bd. II 2: 1790–1800. Kommentar. Hrsg. von Wolfgang Albrecht und Edith Zehm (2000);– Bd. III 1–2: 1801–1808. Text und Kommentar. Hrsg. von Andreas Döhler (2004);– Bd. IV 1–2: 1809–1812. Text

https://doi.org/10.1515/9783110759426-008

156  Anhang

LA

WA WAN

und Kommentar. Hrsg. von Edith Zehm, Sebastian Mangold und Ariane Ludwig (2008);– Bd. V 1–2: 1813–1816. Text und Kommentar. Hrsg. von Wolfgang Albrecht (2007);– Bd. VI 1–2: 1817–1818. Text und Kommentar. Hrsg. von Andreas Döhler (2014);– Bd. VII 1–2: 1819–1820. Text und Kommentar. Hrsg. von Edith Zehm, Sebastian Mangold und Ariane Ludwig (2014);– Bd. VIII 1–2: 1821–1822. Text und Kommentar. Hrsg. von Wolfgang Albrecht (2015). Johann Wolfgang Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Vollständige mit Erläuterungen versehene Ausgabe im Auftrage der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina begründet von K. Lothar Wolf und Wilhelm Troll herausgegeben von Dorothea Kuhn und Wolf von Engelhardt. 29 Bde. [11 Bde. Text; 19 Bde. Kommentar.] Weimar 1947–2011. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen ‚Weimarer Ausgabe‘. 133 Bde. in IV. Abt. und 143 Tlen. Weimar 1887–1919. Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. Nachträge und Register zur IV. Abteilung: Briefe. Hrsg. von Paul Raabe. 3 Bde. München 1990. (WA IV 51–53.)

Abbildungsverzeichnis Osterkamp: Auf der Galerie. Eine Mystifikation Abb. 1:

Abb. 2:

Grundriss der Dresdner Gemäldegalerie (Anna Amalia Heinecke: Receuil d’Estampes. Vol. 1. 1753; Photo: SLUB Dresden / Digitale Sammlungen / Art. plast.159-1). — 69 Vue d'une partie de la Galérie royale de Dresde (appellée Galerie intérieure ou italienne), comme elle était à l'an 1830. (Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Photo Herbert Boswank) — 71

Brüning: Eckermanns Redaktion des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit. Annäherungen auf dem Weg traditioneller und digitaler Philologie Abb. 1 und 2: Variantenverzeichnis aus Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2 (Anm. 43), S. 385 f. Auf die folgende Abb. 3 beziehen sich sowohl in der linken als auch in der rechten Spalte die Angaben zu S. 599, Z. 8–18. — 91 Abb. 3: Handschrift des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit, 18. Buch (Signatur: GSA 25/W 2355, Sigle: Hm, Bl. 108v; Foto: Klassik Stiftung Weimar). Rechtsspaltig die Grundschicht von John; teils mit zu Lebzeiten von Riemer mit Bleistift vorgenommenen und von John mit Tinte nachgezogenen, teils mit postum von Eckermann mit Tinte vorgenommenen Änderungen. Zum Text vgl. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1 (Anm. 2), S. 599, Z. 8–17, zu den Varianten vgl. Abb. 1 und 2. — 92 Abb. 4: Handschrift des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit, 17. Buch (Signatur: GSA 25/W 2355, Sigle: Hm, Bl. 44r; Foto: Klassik Stiftung Weimar). Niederschrift und Änderungen von der Hand Eckermanns. Zum Text vgl. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1 (Anm. 2), S. 569, Z. 24–32, zu den Varianten vgl. ebd., Bd. 2 (Anm. 43), S. 357 f. Eckermanns Niederschrift beruht auf bereits vorliegenden Formulierungen Goethes, die von Müller als problematisch markiert und von Eckermann daraufhin einer grundlegenden Überarbeitung unterzogen wurden. — 93 Abb. 5: Ausgabe des TUSTEP-Programms Vergleich-aufbereite für die oben zitierte und in Abb. 3 wiedergegebene Passage AA DuW 1, S. 599, Z. 9–18. Die linke Randspalte enthält eine programminterne Seiten- und Zeilenreferenz, die zweite Spalte in eckigen Klammern Kurzbezeichnungen der Vergleichstexte (hier „WA“). Danach folgt eine mehrzeilige (hier zweizeilige) Synopse der verglichenen Fassungen. Gleichheitszeichen stehen für identischen, Lücken für fehlenden Text. — 96

https://doi.org/10.1515/9783110759426-009

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Ludwig: „bald Chronik bald Annalen, Memoiren, Confessionen, und wer weiß wie sonst noch“ – zu Goethes Tag- und Jahres-Heften Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5:

Der Wacholderbaum, Kopie von Adolph Temler nach seinem Aquarell (GNM KHz 1992/00103; Foto: Klassik Stiftung Weimar) — 104 Goethes Tagebuch vom 4. Februar 1809; Schreiber: Friedrich Wilhelm Riemer (GSA 27/26, S. 42; Foto: Klassik Stiftung Weimar) — 119 Der Wacholderbaum, Aquarell von Adolph Temler (GNM KHz/AK Nr. 1288; Foto: Klassik Stiftung Weimar) — 122 Rubrikenzettelchen zu den Tag- und Jahres-Heften; Schreiber: Theodor Kräuter (GSA 25/W 2707, Bl. 32; Foto: Klassik Stiftung Weimar) — 124 Rubrizierte Vorarbeit zu den Tag- und Jahres-Heften; Schreiber: Goethe und Johann John (GSA 25/W 2672, Bl. 3 Rs.; Foto: Klassik Stiftung Weimar) — 125

Fischer: Vor- und nach-klassizistisch. Goethes Aus meinem Leben. II. Abthl. Italienische Reise I.-II. Abb. 1:

Abb. 2:

Abb. 3:

Abb. 4: Abb. 5:

Eintrag vom 3. September 1786 (Stück I) in Goethes korrigiertem und redigiertem Reisetagebuch auf gebrochenem Bogen in gr.-8°, dem eine von Charlotte von Stein redigierte Abschrift auf gebrochenen Bogen in 4° des verlorenen Urtagebuchs zugrundeliegt. (GSA 27/9, S. 11; s. dazu GT I.2) — 148 Eintrag vom 16. September 1786 (Stück III) in Goethes korrigiertem und redigiertem Reisetagebuch; geschrieben auf ganzem Bogen in gr.8°– Abschrift des Urtagebuchs? (GSA 27/9, S. 144; GT I.2) — 149 Brief an die Weimarer Freunde vom 1. November 1786 (geschrieben auf feinem Postpapier in gr.8°), der – siehe die Erledigungsstriche in Rötel – einer (weiteren redigierten) Abschrift: dem Ms. der Italienischen Reise, zugrunde liegt (GSA 29/ 494, Bl. 1) — 150 Brief an Charlotte von Stein vom 3. November 1786 (in Tinte umgeändert in 1. November) (feines Postpapier in gr.8°; GSA 29/494, Bl. 3) — 151 Brief an die Weimarer Freunde vom 7. November 1786 (hier mit Bleistift redigiert) (gr.8°, feines Postpapier; GSA 29/494, Bl. 5) — 152

Beiträgerinnen und Beiträger Anne Bohnenkamp, geb. 1960, Promotion 1992 mit einer Arbeit über Goethes ‚Faust‘ bei Albrecht Schöne, 1989–2003 Wiss. Assistentin an der LMU München, Habilitation 2000, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt, Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts / Frankfurter Goethe-Museums. Wichtige Projekte: Historisch-kritische Hybrid-Edition von Goethes Faust (2009–2018); Konzeption und Realisierung des Deutschen Romantik-Museums (2011–2021). Gerrit Brüning, geb. 1980, Promotion 2012, 2009 bis 2019 Mitarbeit an der historisch-kritischen Faust-Edition, 2019 bis 2021 Referent für Forschung an der Klassik Stiftung Weimar, seit 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Medienbearbeitung und -nutzung am Goethe- und Schiller-Archiv, Publikationen zur Weimarer Klassik, zur Editionswissenschaft und den Digital Humanities. Bernhard Fischer, geb. 1956, Studium der Deutschen Philologie in Bonn, Promotion 1985, war von 1992 bis 2007 Leiter des Cotta-Archivs (Stiftung der Stuttgarter Zeitung) im Deutschen Literaturarchiv Marbach, danach bis 2020 Direktor des Weimarer Goethe- und Schiller-Archivs. Publikationen und Editionen zur Verlagsgeschichte und zur deutschen Literatur des 18. bis 20 Jahrhunderts. Ariane Ludwig, nach der Promotion 2010 in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz seit 2012 Mitarbeiterin der Abteilung Editionen am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Tagebüchern; Publikationen u. a.: Opernbesuche in der Literatur. Würzburg 2012. Norbert Oellers, geb. 1936, war von 1973 bis 2002 Prof. für neuere deutsche Literaturgeschichte in Bonn. Seit 1965 Mitarbeiter, seit 1978 Mitherausgeber, seit 1992 alleiniger Herausgeber der Schiller-Nationalausgabe. Bücher, Editionen, Abhandlungen und Aufsätze zur deutschen Literatur des 18. bis 20 Jahrhunderts. Ernst Osterkamp, geb. 1950, war von 1992 bis 2016 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2017 ist er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Wilhelm Voßkamp, geb. 1936. Prof. em. für Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln; 1999–2004 Direktor am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg „Medien und kulturelle Kommunikation“; seit 1994 Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Zuletzt erschienen: Der Roman des Lebens. Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman. Berlin 2009; Theorie der Klassik (Hg.). Stuttgart 2009; Emblematik der Zukunft. Poetik und Geschichte literarischer Utopien von Thomas Morus bis Robert Musil. Berlin 2016; 2018.

https://doi.org/10.1515/9783110759426-010

160  Anhang

David E. Wellbery, geb. 1947. Studium der Germanistik an der Yale University. Promotion 1977. Professor of German an der Stanford University (1975–1990) und an der Johns Hopkins University, Baltimore (1990–2001), seit 2001 LeRoy T. and Margaret Deffenbaugh Carlson University Professor, Germanic Studies, Committee on Social Thought, an der University of Chicago. Seit 1998 Mitherausgeber der Deutschen Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Wichtigste Publikationen: Lessing’s Laocoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason (1984); The Specular Moment: Goethe’s Early Lyric and the Beginnings of Romanticism (1996); Schopenhauers Bedeutung für die moderne Literatur (1998); Seiltänzer des Paradoxalen. Aufsätze zur ästhetischen Wissenschaft (2007); Goethes Faust. Reflexion der tragischen Form (2016); Goethes Pandora. Dramatisierung einer Urgeschichte der Moderne (2017).