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German Pages 370 [372] Year 2013
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf
Band 203
Wiebke Hoheisel
Goethes Geschichtsdenken in seinen Autobiographischen Schriften
De Gruyter
Diese Arbeit wurde gefördert mit einem Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes.
ISBN 978-3-11-030713-9 e-ISBN 978-3-11-030735-1 ISSN 0081-7236 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Siglen und Abkürzungen ............................................................................ IX 1 Einleitung ................................................................................................ 1 2 Theoretisch-methodische Grundlegung ............................................ 9 2.1 Begriffsklärung und Kontextualisierung: Goethes Geschichtsdenken und die Auseinandersetzung mit ‚Geschichte’ um 1800 ................................................................... 9 2.1.1 Goethes Skepsis gegenüber der Geschichte und sein Interesse an der Darstellung des „Menschen in seinen Zeitverhältnissen“ ....................... 9 2.1.2 Von der ‚Historie’ zur ‚Geschichte’ – Goethes Geschichtsbegriff im terminologiegeschichtlichen Kontext um 1800 ............................................................. 13 2.1.3 Goethes Verhältnis zur Geschichte – Divergenzen und Konvergenzen zu zentralen Positionen im Geschichtsdiskurs seiner Zeit ........................................ 18 2.2 Die Autobiographie im Spannungsfeld von Fiktion und Historiographie............................................................................. 57 2.2.1 Chancen und Schwierigkeiten – konzeptionelle und poetologische Aspekte von Goethes Autobiographieprojekt .................................... 59 2.2.2 Der Stand der Forschung: ‚Problemhorizonte’ des wissenschaftlichen Autobiographiediskurses............... 76 2.2.3 Ergebnisse und offene Fragen: die wissenschaftliche Rezeption von Goethes Autobiographischen Schriften............................................................................ 101 3 Textanalysen ......................................................................................... 110 3.1 Ein selbst geschaffenes literarisches „Denkmal“ – Anlass und Intention von Goethes Autobiographieprojekt ............. 110 3.1.1 „[W]enn man das selbst wegwirft, was man nicht retten kann“ – das Autodafé von 1770 als frühe Möglichkeit der Selbstkorrektur ................................... 110 V
3.1.2 Der Wunsch, „daß man meiner gedenke, daß man meinem Daseyn einigen Werth beylege“ – die Skizze Dankbare Gegenwart .............................................. 3.1.3 Goethes Versuch, ein Denkmal in seiner Heimatstadt nach seinen Vorstellungen errichten zu lassen ............................................................................ 3.1.4 Eine noch wirkungsvollere Möglichkeit sich sein eigenes „Denkmal“ zu gestalten: Schreibstrategien des corriger l’histoire ............................................................ 3.2 Das erzählte Ich als ein „neuer Kolumbus“ – ein ‚Genie’ weist der (Literatur-)Geschichte seiner ‚Epoche’ neue Wege .................................................................................... 3.2.1 Die Darstellung eines „tüchtige[n]“ „Menschen in seinen Zeitverhältnissen“ – Winkelmann und sein Jahrhundert................................................................... 3.2.2 Die Leipziger ‚Irrfahrt’ im Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit ....................................................... 3.2.3 Die Inszenierung des epochengeschichtlichen Durchbruchs zum Sturm und Drang im Eilften Buch von Dichtung und Wahrheit .................................... 3.2.4 „[N]ur erst durch einen großen Umweg sollte ich in diesen Kreis zurückgeführt werden“ – der Besuch im Mannheimer Antikensaal ........................... 3.3 Der Blick auf das Individuum: die Geschichte des erzählten Ichs............................................................................... 3.3.1 Die Bedeutung der Sterne – in der Eingangspassage von Dichtung und Wahrheit und in Urworte. Orphisch..... 3.3.2 Urworte. Orphisch als Programm-Gedicht der Alterslyrik – der Blick auf den menschlichen Lebenslauf ........................................................................ 3.3.3 „Jugend=Epoche“: das erzählte Ich im Widerstreit von Daimon und Tyche im Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit ....................................................... 3.3.4 Die Flucht vor Lili: die „leidenschaftlichste Raserei“ des Eros und die Angst vor der „Gefangenschaft“ der Anangke ...................................................................... 3.3.5 Das programmatische Nicht-Erklären von Elpis in der Gesamtkonzeption des Autobiographieprojekts..................................................
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3.4 Der Blick auf die vom erzählten Ich erlebte Zeit: die Geschichte eines ‚Jahrhunderts’................................................ 216 3.4.1 Die Zeitgeschichte als Tyche-Kraft, die „sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt“ .......... 216 3.4.2 Erste Konfrontationen mit der Geschichte als Erschütterung: das Erdbeben von Lissabon und der Siebenjährige Krieg .................................................. 218 3.4.3 Ordnungsversuche und Kapitulation vor dem Chaos? Natur und Geschichte in der Italienischen Reise ................................................................ 224 3.4.4 Die Konfrontation mit Krieg und Zerstörung und der „Leuchtturm“ des Monuments von Igel .............. 235 3.5 Sehen, Erinnern und Erzählen: der „Schlüssel“ zur Geschichte..................................................................................... 253 3.5.1 ‚Verunstaltendes’ „Gesperr“ und ‚märchenhafte’ Erzählungen – die ersten Zugänge des jungen Goethe zur Geschichte .................................................. 253 3.5.2 Auch ein in Italien gefundener „Schlüssel“: die bewusste Abkehr von der Tradition der Aufklärungshistorie......................................................... 257 3.5.3 Dreifach präsentierte Zeitgeschichte: Kaiserwahl und -krönung Josephs II. im Fünften Buch von Dichtung und Wahrheit ....................................................... 273 3.6 Die „höhere Wahrheit“: die Poetologie der disparaten Schreibverfahren ......................................................................... 284 3.6.1 Die Inkongruenz der autobiographischen Erzählweisen und die Konstante ihrer poetologischen Reflexion............................................... 284 3.6.2 Skepsis als Programm – poetologische Passagen der Autobiographischen Schriften ............................... 289 3.6.3 Geschichtsschreibung als „Dichtung“, „Chronik“ und „Lücke“ – Goethes autobiographische Darstellungsverfahren .................................................... 298 4 Schluss ................................................................................................... 329
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Literaturverzeichnis ................................................................................... Quellen .................................................................................................. Ausgaben von Goethes Werken ............................................... Einzelwerke und Werkausgaben anderer Dichter ................. Historische und biographische Quellen .................................. Nachschlagewerke, Bibliographien, sonstige Hilfsmittel und Artikel in (Fach-)Lexika ............................................................. Forschungsliteratur ..............................................................................
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340 340 340 340 341 341 345
Siglen und Abkürzungen Betrachtungen BvM CiF DbGgw DuW FA
GHb GJb GWb
HA Herz, mein Herz IR Jugend=Epoche Lebensbekenntnisse MA
NA
TuJ Urworte Urworte-Kommentar WA
Warum ziehst du mich unwiderstehlich
Betrachtungen über ein dem Dichter Goethe in seiner Vaterstadt zu errichtendes Denkmal. Belagerung von Mainz. Campagne in Frankreich. Dankbare Gegenwart. Dichtung und Wahrheit. Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände. Hg. von Hendrik Birus, Dieter Borchmeyer u.a. Frankfurt a.M. 1985–1999 [Frankfurter Ausgabe]. Witte, Bernd u.a. (Hgg.): Goethe-Handbuch in vier Bänden. Stuttgart und Weimar 1996–1998. Goethe-Jahrbuch. Goethe-Wörterbuch. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften [ehem. Akademie der Wissenschaften der DDR], der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stuttgart, Berlin und Köln 1966ff. Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. 14 Bände. Hg. von Erich Trunz. Neu bearbeitete Auflage. München 1984 [Hamburger Ausgabe]. Herz, mein Herz, was soll das geben […] Italienische Reise. Jugend=Epoche. Lebensbekenntnisse im Auszug. Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. 21 Bände in 33 Teilen. Hg. von Karl Richter. München 1985– 1998 [Münchner Ausgabe]. Schiller, Friedrich: Werke. 1940 begründet von Julius Petersen. Fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese, Siegfried Seidel und Norbert Oellers. Weimar 1943ff. [Nationalausgabe]. Tag- und Jahreshefte. Urworte. Orphisch. Goethes Prosa-Kommentar zu seinem Gedicht Urworte. Orphisch in der Zeitschrift Über Kunst und Altertum II/3 (1820). Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. 133 Bände in 143 Teilen. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887– 1919 [Reprint München 1987]. Ergänzt durch 3 Nachtrags-Bände zu Abteilung IV: Briefe. Hg. von Paul Raabe. München 1990 [Sophienausgabe; Weimarer Ausgabe]. Warum ziehst du mich unwiderstehlich […]
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Einleitung
Als ein „immer bedenkliches Unternehmen“ kündigt Goethe die „gegenwärtige[…] Arbeit“1 an und damit ist sicherlich nicht nur der Erste Teil von Dichtung und Wahrheit gemeint, aus dessen Vorwort die zitierten Formulierungen stammen. Vielmehr wird sich seine grundsätzlich skeptische Haltung auf das umfassende Autobiographieprojekt beziehen, das 1811 – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Ersten Teils von Dichtung und Wahrheit – noch als Gesamtdarstellung mit dem Titel „Aus meinem Leben“ geplant ist. Warum er dem Vorhaben von vornherein mit Bedenken begegnet und diese dem Leser gleich im ersten Satz und damit an besonders prominenter Stelle mitteilt, führt der Autor anschließend weiter aus, dabei mit dem Verweis auf den FreundesBriefwechsel einen Topos der antiken Rhetorik bemühend: Zwar habe er „unmittelbar die Lust“ (DuW I, S.12) verspürt, das „so freundlich geäußerte Verlangen […] zu befolgen“ (ebd.), das in dem „Brief eines Freundes“ (DuW I, S.11) an ihn herangetragen worden sei, nämlich daß Sie uns Ihre, bei der neuen Ausgabe, nach gewissen innern Beziehungen geordneten Dichtwerke in einer chronologischen Folge aufführen und sowohl die Lebens- und Gemütszustände, die den Stoff dazu hergegeben, als auch die Beispiele, welche auf Sie gewirkt, nicht weniger die theoretischen Grundsätze, denen Sie gefolgt, in einem gewissen Zusammenhange vertrauen möchten (DuW I, S.12).
Allerdings sei die Arbeit „bald beschwerlicher“ (ebd.) geworden, „weil ausführliche Anzeigen und Erklärungen nötig wurden, um die Lücken zwischen dem bereits Bekanntgemachten auszufüllen“ (DuW I, S.12f.). Das, was bereits der impliziten Leserschaft nicht gelingt, nämlich die einzelnen Werke Goethes zu einem Ganzen zusammenzufügen, fällt schließlich dem Autor selbst im Rückblick auf sein schriftstellerisches Schaffen schwer. Der „Freund“ beklagt mit Blick auf die soeben bei _____________ 1
Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände, hg. von Hendrik Birus, Dieter Borchmeyer u.a., Frankfurt a.M. 1985–1999 [Frankfurter Ausgabe], Abteilung I, Bd. 14, S.11. Im Folgenden: Sigle FA für Frankfurter Ausgabe. In der gesamten Arbeit wird Dichtung und Wahrheit nach der Frankfurter Ausgabe zitiert; Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle DuW nachgewiesen.
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Cotta erschienene Werkausgabe, dass „diese Produktionen immer unzusammenhängend [bleiben]; ja oft sollte man kaum glauben, daß sie von demselben Schriftsteller entsprungen seien“ (DuW I, S.11), zumal „äußere bestimmte Gegenstände als innere entschiedene Bildungsstufen daraus hervorscheinen, nicht minder auch gewisse temporäre moralische und ästhetische Maximen und Überzeugungen darin obwalten“ (ebd.). Ihm, Goethe selbst, mangle es bei der vom Publikum gewünschten Rekonstruktion seiner schriftstellerischen Entwicklung an authentischen Quellen und es sei ein mühsames Unterfangen gewesen, sich „Zeit und Umstände zu vergegenwärtigen, unter welchen ich sie [i.e. die einzelnen Texte] hervorgebracht“ (DuW I, S.12). Bei der Arbeit am Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit habe er gemerkt, dass vieles „fehlt“ (DuW I, S.13) – etwa einzelne nur angefangene und dann häufig vernichtete Werke –, anderes in der ursprünglichen Fassung nicht mehr zu rekonstruieren sei, weil es oft mehrfach und sogar über längere Zeiträume überarbeitet worden sei. Schon hier betont der Autor also, dass er nicht über ein Erinnerungsvermögen verfügt, das ihn mühelos in die Lage versetze, der Bitte nachzukommen. Vielmehr erfordere selbst das Ziel, das e i g e n e Leben aus der Retrospektive darzustellen, Methoden, die denen eines Historikers ähnlich sind – nämlich die Arbeit mit Quellen zur Ergänzung oder Korrektur der eigenen Erinnerung. Dadurch geht der Anspruch, den Goethes Autobiographieprojekt verfolgt, über die Darstellung der eigenen schriftstellerischen Entwicklung sowie über die Erläuterung der Entstehungsbedingungen der einzelnen Werke hinaus und übertrifft folgerichtig die Erwartungen, die das im Brief des „Freundes“ repräsentierte Lesepublikum an Goethe stellt. Im Vorwort wird demnach programmatisch eine umfassendere, ja eine dezidiert historische Perspektive eingenommen: Abgesehen davon, dass sich Goethe in seiner Autobiographie nicht ausschließlich als Dichter – in der Rolle, die offensichtlich das Publikum allein interessiert – präsentieren, sondern ebenso aufzeigen wolle, „wie ich mich in Wissenschaften und andern Künsten bemüht“ (DuW I, S.13), proklamiert er, dass diese historische Perspektive geradezu notwendig sei, wenn er denn tatsächlich „jener […] Forderung zu entsprechen wünschte, und mich bemühte, die innern Regungen, die äußern Einflüsse, die theoretisch und praktisch von mir betretenen Stufen, der Reihe nach darzustellen“ (DuW I, S.13). Als die „Hauptaufgabe der Biographie“ (ebd.) wird nämlich etwas anderes ausgewiesen, das die Beschränkung auf „mein[…] enge[s…] Privatleben“ (ebd.) unmöglich macht, denn die eigene Biographie könne nicht dargestellt werden, ohne „die Gestalten von hundert bedeutenden Menschen, welche näher oder entfernter auf mich eingewirkt“ (ebd.) zu berücksichtigen. Konse2
quent wird im Folgenden die Biographie als Geschichtsschreibung ausgewiesen, wenn ihr als „Hauptaufgabe“ zugeschrieben wird, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt (ebd.).
Signifikanterweise liegt hier der Fokus auf dem schaffenden Menschen, dem Menschen mit kreativem Potential, dem eine Spiegelfunktion zukomme, indem er nicht nur – wie andere Menschen auch – von seiner Umwelt, von seiner ‚Epoche’ geprägt wird, sondern sein historisches Erleben, seine Zeitgenossenschaft wiederum produktiv umsetzt. Der schaffende Mensch wird so zum Kristallisationspunkt seiner Zeit – und deswegen gilt das Interesse des Biographen nicht ausschließlich ihm, sondern er dient vielmehr als Brücke zu seinen „Zeitverhältnissen“. Eine gute Biographie ist daher auch gute Geschichtsschreibung, muss es ihr doch gelingen, ein umfassendes Porträt nicht nur eines einzelnen Menschen und seines „Privatleben[s]“, sondern ebenso der „weite[n] Welt“ (ebd.) zu zeichnen. Gerade diese Ausweitung des erzählerischen Anspruchs über das, was der „Freund“ in seinem Brief gewünscht hat, macht die Aufgabe jedoch nicht einfacher. Es bleibt nun nicht dabei, dass das „Geschäft […] bald beschwerlicher“ (DuW I, S.12) wurde, u.a. weil authentische Quellen fehlen und die Erinnerung versagt. Darüber hinaus wird eine weit radikalere und grundsätzlichere Skepsis formuliert, was die Erfolgsaussichten des – hier ja nicht als Biographie über einen Dritten, sondern als Autobiographie ausgewiesenen – Projektes anbelangt: Hiezu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, in wiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den willigen als unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt daß man wohl sagen kann, ein Jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein (DuW I, S.13f.).
Die Schwierigkeit für den Autobiographen scheint hier dreierlei zu sein: erstens sich selbst und zweitens die Zeit, die er miterlebt hat, ‚richtig’ wahrzunehmen und darzustellen sowie drittens und vor allem die Wechselwirkung zwischen „Individuum“ und „Jahrhundert“ zutreffend zu bestimmen, zumal in dem Zitat die Vorstellung anklingt, dass beide – der einzelne Mensch und die „Zeitverhältnisse[…]“ – in ihrer jeweiligen Entwicklung nahezu untrennbar miteinander verwoben sind: Gerade die wechselseitige Beeinflussung von „Individuum“ und „Zeitver3
hältnissen“ wird als entscheidender Motor geschichtlicher Entwicklung angesehen. Das Vorwort, das mit der im Brief des „Freundes“ vorgetragenen Bitte an den Autor begonnen hat, endet mit einem Appell des Autors an seine Leser. Die hier geknüpfte Beziehung ist typisch für Goethes Anliegen, weist sie doch die Kommunikation, die gerade die Autobiographie als Austausch mit dem Publikum ermöglicht, als (eine) wichtige Funktion des Projekts aus, denn Goethe betont, dass „es uns in spätern Tagen höchst erwünscht [ist], wenn irgend eine Teilnahme uns aufregen und zu einer neuen Tätigkeit liebevoll bestimmen mag“ (DuW I, S.12). Dieser Appell betont noch einmal die Bedeutsamkeit der vorangegangenen Ausführungen zu Anspruch, Methoden und nicht zuletzt zur Skepsis des Autors gegenüber seinem Projekt, das von vornherein als „ein kaum Erreichbares“ (DuW I, S.13) deklariert wird: Auf diesem Wege, aus dergleichen Betrachtungen und Versuchen, aus solchen Erinnerungen und Überlegungen entsprang die gegenwärtige Schilderung, und aus diesem Gesichtspunkt ihres Entstehens wird sie am besten genossen, genutzt, und am billigsten beurteilt werden können (DuW I, S.14).
Bis hierhin gewinnt man den Eindruck, dass das Werk, dessen Erster Teil mit dem Vorwort 1811 vorliegt, im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Historiographie, in dem die Autobiographie in der aktuellen Auseinandersetzung mit der Gattung angesiedelt wird,2 von Goethe selbst deutlich mehr als Geschichtsschreibung ausgewiesen wird denn als Dichtung – als eine Geschichtsschreibung, die zeitgenössischen Ansprüchen und Methoden entsprechend streng an der Realität der Fakten orientiert ist und die vor allem makrohistorischen Fragestellungen nachgeht. Der letzte Satz des Vorworts ergänzt jedoch die Methoden des Historikers um diejenigen des Schriftstellers: „Was aber sonst noch, besonders über die halb poetische, halb historische Behandlung etwa zu sagen sein möchte, dazu findet sich wohl im Laufe der Erzählung mehrmals Gelegenheit“ (ebd.). Das narrative Element spielt offen_____________ 2
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Der Einleitung dieser Arbeit soll die Funktion zukommen, anhand einer textimmanenten Analyse des Vorworts zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit zur Fragestellung der Arbeit hinzuführen. Wird – wie an dieser Stelle – auf Ergebnisse, Tendenzen oder auch Kontroversen in der Forschung hingewiesen, so erfolgt dies jeweils thesenartig und ohne eine differenziertere Auseinandersetzung sowie auch ohne weiterführende Literaturangaben in den Fußnoten, die, wenn man dies leisten wollte, sehr umfangreich ausfallen müssten. Es sei deswegen hier darauf verwiesen, dass die Auseinandersetzung mit der Forschung – sei es zur Autobiographietheorie, sei es zu Goethes Verhältnis zur Gattung oder auch zu seiner Vorstellung von und seinem Interesse an Geschichte wie freilich auch zu einzelnen spezielleren Aspekten der Goethe-Philologie – an späteren Stellen ausführlich erfolgt.
sichtlich bei der Darstellung des eigenen Lebens eine zentrale Rolle; wo und inwiefern nun aber historiographische, wo literarische Verfahren angewandt werden – offensichtlich zu gleichen Anteilen –, ja ob diese überhaupt als klar voneinander zu trennende Zugangsweisen bestimmt werden können, bleibt hier offen. Zumindest wird dem Leser an dieser exponierten Stelle – mit dem letzten Satz des Vorworts – der Titel des Werkes in Erinnerung gerufen, dessen erster Teil hier vor ihm liegt: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Unter Berufung auf eben diesen Titel von Goethes wirkungsmächtigstem autobiographischen Werk wurde in – meist älteren – Arbeiten, die vorwiegend an einer biographisch-positivistisch ausgerichteten Literaturgeschichtsschreibung interessiert sind, immer wieder versucht, die vermeintliche ‚Wahrheit’ von der vermeintlichen ‚Dichtung’ fein säuberlich zu trennen. Bisweilen, seltener jedoch in neueren Untersuchungen, wird dabei die eigentliche Bedeutung der Titelformulierung und damit ein wesentlicher Aspekt von Goethes Autobiographiekonzept verkannt: Der Wirklichkeitsanspruch der Autobiographie wird bei Goethe – und hier ist ein wichtiger Goethescher Neuansatz in der Entwicklung der Gattung zu erkennen – zu einem ‚Wahrheitsanspruch’, zu dessen Realisierung die ‚Dichtung’ existentiell beitragen muss: Der Titel Dichtung und Wahrheit bedeutet daher nicht, dass hier Fiktion und Wirklichkeit nebeneinander gestellt oder ineinander vermischt werden sollen, sondern die „höhere Wahrheit”3 der eigenen Geschichte erscheint „der paradoxen Mischung von fictum und factum übergeordnet”.4 Literarischer und historiographischer Anspruch verschmelzen zu einer höheren Einheit, und dies hat nicht zuletzt Konsequenzen für die angewandten Textverfahren, die auf der Grundlage historischer Quellen einen Text schaffen, der sich auch als Literatur begreift, der ‚wahr’ ist und gleichermaßen ‚gedichtet’. Dies betrifft etwa den Umgang mit den (eigenen) Quellen bei der Arbeit an den autobiographischen Schriften oder das Problem einer gesicherten Erinnerung, darüber hinaus die generelle Frage nach der Möglichkeit ‚objektiver’ historischer Erkenntnis. _____________ 3
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FA II/12, S.479: Gespräch mit Eckermann, 30. 03. 1831. Der für Goethe zentrale Begriff „höhere Wahrheit“ wird in der gesamten Arbeit noch mehrfach zitiert und dann nicht jedes Mal wieder nachgewiesen werden. Klaus H. Kiefer, Auch ich in Arkadien? – Kunst und Wirklichkeit in den Italienreisen der Goethezeit (unter besonderer Berücksichtigung von Goethes Italienischer Reise). In: „Ich fahr, weiß nit wohin...”. Das Motiv des Reisens in Europas Geschichte und Gegenwart. Acta Ising 1992, hg. von Stefan Krimm und Dieter Zerlin, München 1993, S.122–145, hier S.124.
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Vor dem Hintergrund des Autobiographieprojekts, dem hier ein dezidiert historiographischer Anspruch zugewiesen wird, scheinen diejenigen Urteile zumindest in ihrer Pauschalität fraglich, die Goethe ein grundsätzliches Desinteresse an Geschichte überhaupt wie eine Abneigung gegenüber Geschichtsschreibung attestieren. Vielmehr lässt sich aus der Intention, mit der er sein Autobiographieprojekt in den Jahren zwischen 1809 und 1811 mit der Arbeit am Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit beginnt, ableiten, dass Goethe sich zumindest für eine biographisch akzentuierte Geschichtsschreibung durchaus interessiert hat, nun die eigene Person und die eigene Entwicklung in ihrer historischen Genese und explizit als Teil seines „Jahrhunderts“ begreift, sich allerdings nicht nur der Chancen, die ein solches historiographisches Projekt bietet, sondern gleichermaßen der Schwierigkeiten dieses „immer bedenklichen Unternehmen[s]“ (DuW I, S.9) von vornherein bewusst ist und sie seinen Lesern programmatisch offen legt. Wie modern dabei Goethes Blick auf die Gattung Autobiographie ist, indem er ihr historiographische u n d literarische Methoden gleichermaßen zuschreibt, hat Nicholas Boyle in seinem Aufsatz „Geschichtsschreibung und Autobiographik bei Goethe (1810–1817)“ hervorgehoben, wenn er urteilt, dass „Goethe […] sich vollkommen bewußt [ist], daß historisches Verstehen eigentlich eine literarische Tätigkeit ist: Es kommt darauf an zu erzählen, und zwar nicht nur in der Geschichtsschreibung, sondern auch in der (Auto-)Biographie.“5 Die vorliegende Arbeit knüpft an die Ergebnisse von Boyles auf neun Druckseiten notgedrungen sehr skizzenhaft verfahrenden Aufsatzes an, indem sie seine Fragestellungen aufgreift und sie vor allem an einem auf Goethes autobiographische Texte in ihrer Gesamtheit ausgeweiteten Textcorpus überprüft. Zunächst einmal decken sich Boyles zentrale Thesen mit den vorangegangenen Überlegungen: Er betont den engen Zusammenhang zwischen Goethes autobiographischen Texten, seinen _____________ 5
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Nicholas Boyle, Geschichtsschreibung und Autobiographik bei Goethe (1810–1817). In: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S.163–172, hier S.169. Im Folgenden: GJb für GoetheJahrbuch. Der zweite Aufsatz, von dem man annehmen könnte, dass er eine wichtige Grundlage dieser Untersuchung bilden müsste, löst jedoch nicht ein, was sein Titel verspricht: Jochen Golz wählt als Textcorpus für die Frage nach „Geschichtliche[r] Welt und gedeutete[m…] Ich in Goethes Autobiographik“ nicht etwa Goethes Autobiographische Schriften, sondern seine Tagebücher, weil „die geschichtliche Welt in Tagebücher direkter Eingang findet“ als in „Textsorte[n]“, in denen „das Verhältnis von Ich und geschichtlicher Welt […] aus dem Abstand von Jahrzehnten seinen Niederschlag findet“ (Golz, Jochen: Geschichtliche Welt und gedeutetes Ich in Goethes Autobiographik. In: GJb 114 (1997), S.89–100, hier S.89). Er verkennt dabei jedoch, dass gattungstheoretisch grundsätzlich zwischen Tagebüchern und autobiographischen Texten unterschieden werden muss.
biographischen Arbeiten (etwa Das Leben des Benvenuto Cellini (1803), Philipp Hackert (1811) oder Winkelmann und sein Jahrhundert (1805)) und seinen historiographischen Arbeiten (vor allem den Materialien zur Geschichte der Farbenlehre (1810)), die dem Beginn an der Arbeit an Dichtung und Wahrheit vorangegangen sind und damit zwischen Goethes Autobiographik und seiner Historiographie. Außerdem deutet Boyle Goethes Autobiographik als Auseinandersetzung mit der (Schreib-)Gegenwart – ein Aspekt, der ebenso im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit anklingt wie Boyles Überlegungen zu den Schreibverfahren, die für Goethes autobiographische Texte der Jahre 1810 bis 1817 kennzeichnend seien. Sie seien geprägt von Goethes Überzeugung, dass Geschichtsschreibung wie Autobiographie nur ‚lückenhaft’ sein könne, historische Wahrheit im Sinne eines vollständigen Bildes, das man sich von Vergangenem machen könne, jedenfalls nicht aus der Aneinanderreihung von verifizierbaren Fakten erreicht werde, sondern immer ein literarischer (Re-)Konstruktionsprozess sei. Was sowohl Nicholas Boyle wie Goethes Vorwort nahe legen, stellt die Ausgangsthese meiner Arbeit dar: Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Goethes Autobiographik und seinem Geschichtsdenken; den Fragen, was Goethe an Geschichte interessiert, wie er sich Geschichte erschließt, wie er sie versteht und wie er sie in seinen Texten darstellt.6 Boyle beschränkt sich allerdings in seinem Aufsatz auf die ersten sieben Jahre von Goethes Arbeit an seinem Autobiographieprojekt, das ihn darüber hinaus dann noch mit zahlreichen Unterbrechungen, Neuansätzen und einschneidenden konzeptionellen Veränderungen bis an sein Lebensende beschäftigt – bzw. auf deren Erträge, nämlich auf die ersten drei Teile von Dichtung und Wahrheit7 sowie auf die ersten beiden Teile der Italienischen Reise.8 Er verweist dabei lediglich darauf, dass 1817 „das autobiographische Unternehmen überhaupt ins Stocken“ geriet, die „desultorisch abgefaßten ‚Tag- und Jahreshefte’“ entworfen und „von dem ursprünglich Geplanten […] nur noch die Darstellung der Kriegsereignisse 1792–93 fertig“ wurde und dann die „letzten autobiographischen Arbeiten – der Vierte Teil von ‚Dichtung und Wahrheit’ und ‚Zweiter Römischer Aufenthalt’ – […] einer _____________ 6
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Auch der für diese Arbeit zentrale Begriff ‚Geschichtsdenken’ wird an späterer Stelle – in der folgenden Theoretisch-methodischen Grundlegung – differenzierter bestimmt; es handelt sich hier also nur um eine vorläufige Begriffsklärung. Die ersten drei Teile von Dichtung und Wahrheit wurden in den Jahren 1811, 1812 und 1814 veröffentlicht. Die ersten beiden Teile der Italienischen Reise wurden in den Jahren 1816 und 1817 veröffentlicht.
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anderen Epoche [entstammen] und […] einer anderen Lebensauffassung Ausdruck [geben]“.9 Betrachtet man Konzeption, stilistischen Duktus und damit die Art, wie hier Geschichte erzählt wird, so muten gerade diese später entstandenen autobiographischen Texte auf den ersten Blick sicherlich ganz anders an als die ‚frühen’. Ob allerdings tatsächlich von einer Entwicklung oder gar von einem Wandel in Goethes Autobiographiekonzept und womöglich auch in seinem Geschichtsdenken auszugehen ist, wird anhand detaillierter Textanalysen, die einzelne Aspekte von Goethes Geschichtsdenken an ausgewählten Passagen aller autobiographischen Texte untersucht, zu überprüfen sein (Kap. 3.1 bis 3.6). In welche differenzierteren Fragestellungen die Untersuchung von Goethes Geschichtsdenken in seinen Autobiographischen Schriften sinnvoll zu spezifizieren ist, wird in der den Textanalysen vorangestellten theoretisch-methodischen Grundlegung zu erarbeiten sein. Nötig ist hierzu eine Auseinandersetzung mit Positionen von Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung um 1800, vor deren Hintergrund Goethes Geschichtsdenken zu bestimmen ist. Ebenso wird auf für die Fragestellung dieser Arbeit relevante Ergebnisse literatur- und geschichtswissenschaftlicher Forschung zur Autobiographie einzugehen sein.
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Boyle, Geschichtsschreibung und Autobiographik, S.163.
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Theoretisch-methodische Grundlegung
2.1
Begriffsklärung und Kontextualisierung: Goethes Geschichtsdenken und die Auseinandersetzung mit ‚Geschichte’ um 1800
2.1.1
Goethes Skepsis gegenüber der Geschichte und sein Interesse an der Darstellung des „Menschen in seinen Zeitverhältnissen“
Man mag sich die Bildung und Wirkung der Menschen unter welchen Bedingungen man will denken, so schwanken beyde durch Zeiten und Länder, durch Einzelnheiten und Massen, die proportionirlich und unproportionirlich auf einander wirken; und hier liegt das Incalculable, das Incommensurable der Weltgeschichte. Gesetz und Zufall greifen in einander, der betrachtende Mensch aber kommt oft in den Fall beyde mit einander zu verwechseln, wie sich besonders an parteyischen Historikern bemerken läßt, die zwar meistens unbewußt, aber doch künstlich genug, sich eben dieser Unsicherheit zu ihrem Vortheil bedienen.1
Das angeführte Zitat aus den Maximen und Reflexionen wirft Fragen auf, die gerade den alten Goethe im Hinblick auf Geschichte beschäftigten und seine zunehmende Skepsis gegenüber dem Sinn, dem Zusammenhang, womöglich gar gegenüber einem ‚Fortschritt’ der Geschichte wie gegenüber den Möglichkeiten historischer Erkenntnis und – eng damit verbunden – der Darstellung von Geschichte andeuten. Von ‚Schwanken’, von „Inkalkulable[m]“ und Unvorhersehbarem, ja von „Inkommensurable[m]“, Widersprüchlichem ist im Hinblick auf die „Weltgeschichte“ die Rede und Goethe scheint grundlegend zu bezweifeln, ob „der betrachtende Mensch“ überhaupt in der Lage sei, „Gesetz und Zufall“ voneinander zu unterscheiden, wenn sogar oder gerade den „Historikern“ – ob bewusst oder unbewusst – in dieser Hinsicht „Unsicherheit“ attestiert wird, die wohl den Weg zu historischer Erkenntnis verstellen muss. Im Gesamtzusammenhang der Maximen und Reflexionen betrachtet ist diese skeptisch-ablehnende Haltung gegenüber Geschich_____________ 1
FA I/13, S. 329f.
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te keineswegs ungewöhnlich: Ähnlich ironisch-distanzierte Bemerkungen zu den Geschichtswissenschaftlern und -schreibern finden sich an mehreren Stellen,2 ebenfalls Hinweise auf Unvernunft und Schlechtigkeit in der Geschichte,3 verbunden mit einer zunehmend kritischpolemischen Perspektive auf die eigene Gegenwart:4 Die politische Entwicklung lehnt Goethe weitgehend ab – gerade nach den Erfahrungen der gewaltsamen Umwälzungen im Gefolge der Französischen Revolution. Er beklagt – dies bereits gemeinsam mit Schiller – die zunehmende Diversität des literarischen und geistigen Lebens in Deutschland als ‚Verwirrung’ (teilweise verbittert als ‚Abfall’ von seiner eigenen ‚klassischen’ Kunstauffassung) und begrüßt viele technische Entwicklungen und Errungenschaften des beginnenden 19. Jahrhunderts ganz und gar nicht nur euphorisch. Entsprechend wird in der Goethe-Forschung immer wieder konstatiert,5 dass sich Goethe gegenüber (Geschichts-)Philosophie und Historiographie grundsätzlich auf Distanz gehalten habe und „seinen Umgang mit der Geschichte als Gesellschaftsgeschichte ein skeptischer Agnostizismus [beherrschte]“.6 Mit der Zeit sei er zwar „zu einer ausgeglicheneren Beziehung zur Geschichtsschreibung“ gekommen, hingegen seien „im Hinblick auf Geschichte die Zweifel an einer objektiven Sinngebung wie an den subjektiven Handlungsmöglichkeiten im Verlauf seines Lebens stärker“7 geworden. Darüber hinaus habe ihm ein _____________ 2 3 4
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Vgl. z.B. FA I/13, S.156: Spruch 2.36.7; FA I/13, S.73: Spruch *1.491. Vgl. z.B. FA I/13, S.220: Spruch *2.84.1 und FA I/13, S.98: Spruch *1.677. Vgl. z.B. FA I/13, S.133: Spruch 2.19.3 und FA I/13, S.105: Spruch *1.730; differenziertere und hinreichend mit Verweis auf einzelne Aphorismen abgesicherte Thesen zu einzelnen Aspekten von Goethes Geschichtsdenken in den Maximen und Reflexionen liefert der entsprechende Artikel im Goethe-Handbuch: Jürgen Jacobs, Artikel ‚Maximen und Reflexionen’. In: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Bd. 3, hg. von Bernd Witte, Stuttgart und Weimar 1997, S.415–429. Im Folgenden: Sigle GHb für Goethe-Handbuch. Vgl. als aktuellsten Forschungsüberblick zu Goethes Auseinandersetzung mit Geschichte den sehr knappen, aber dennoch präzise zentrale Ergebnisse benennenden einleitenden Absatz zu Nikolaus Lohses Artikel ‚Geschichte’ im Goethe-Wörterbuch: Nikolaus Lohse, Artikel ‚Geschichte’. In: Goethe-Wörterbuch, hg. von der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften [ehem. Akademie der Wissenschaften der DDR], der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stuttgart, Berlin und Köln 1966ff., Bd 4/1, Sp. 20–31, hier speziell Sp. 20f. Im Folgenden: GWb für Goethe-Wörterbuch. Vgl. entsprechend die einleitenden Bemerkungen in Hans-Dietrich Dahnke, Artikel ‚Geschichte’. In: GHb 4.1, S.354–365, hier S.354. Hans-Dietrich Dahnke, Artikel ‚Geschichtsschreibung’. In: GHb 4.1, S.366–370, hier S.366.
„Pessimismus gegenüber jeder a priorischen Geschichtskonstruktion“8 geeignet – gerade gegenüber „der herrschenden Auffassung eines teleologischen (zielgerichteten) Geschichtsprozesses“,9 zumal er während seines gesamten Lebens Schwierigkeiten gehabt habe, für sich selbst einen Schlüssel zur Geschichte, einen Weg zu historischer Erkenntnis zu finden. Vorerst nur verwiesen sei an dieser Stelle etwa auf die Erfahrungen, die Goethe bei seiner Reise durch Italien sammelte, wo es ihm z.B. gerade nicht gelang, sich aus den römischen ‚Trümmern’ die antike Welt zu rekonstruieren.10 Der alte Goethe, der seit 1809 zwar mit Unterbrechungen, dennoch bis an sein Lebensende an den einzelnen Teilen seines Autobiographieprojekts arbeitete, machte die Erfahrung, „daß mit dem Alten auch Vernünftiges und Liebgewordenes unterging und mit dem Neuen zugleich Unwillkommenes und Widerwärtiges aufstieg“, was „die generell aus der Unberechenbarkeit geschichtlicher Abläufe resultierende Neigung zu Mißtrauen und Distanz“11 vergrößerte und einerseits Äußerungen wie die gegenüber dem Kanzler von Müller provozieren mochte: „Ich bin nicht so alt geworden, um mich um die Weltgeschichte zu kümmern, die das Absurdeste ist, was es gibt; ob dieser oder jener stirbt, dieses oder jenes Volk untergeht, ist mir einerlei, ich wäre ein Tor, mich darum zu kümmern“ (Gespräch mit Kanzler von Müller, 06. 03. 1828).12 Andererseits beschäftigte er sich jetzt im Rahmen seines Autobiographieprojekts intensiv mit der eigenen Geschichte; das im Hinblick auf Darstellungsintentionen und -verfahren wie auf Goethes Autobiographieverständnis programmatisch zu lesende Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit – in Erinnerung gerufen sei nur „die Hauptaufgabe der Biographie […], den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen“ (DuW I, S.13) – eröffnet eine dezidiert historische Perspektive und Goethes Autobiographieprojekt entwickelte _____________ 8
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Victor Lange, Goethes Geschichtsauffassung. In: Études Germaniques 37 (1983), S.3–16, hier S.16. Werner Keller, Eröffnungsrede des Präsidenten der Goethe-Gesellschaft zur Eröffnung der 73. Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft. In: GJb 110 (1993), S.13–19, hier S.18. Auf diesen – gerade auch im Hinblick auf die Italienische Reise als derjenigen autobiographischen Schrift, in die diese Reiseerfahrung Eingang findet – wichtigen Aspekt wird in den Textanalysen ausführlich einzugehen sein; verwiesen sei schon hier auf Wilfried Barner, Die Trümmer der Geschichte. Über römische Erfahrungen Goethes. In: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, hg. von Hartmut Eggert u.a., Stuttgart 1990, S.140–150. Dahnke, Artikel ‚Geschichte’, S.364. FA II/10, S.596.
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sich „zur bedeutenden Spiegelung ganzer Kultur- und Geistesepochen in der Entwicklung des eigenen Lebens und Schaffens und stellte diese zugleich in den Kontext europäischer Geschichte und ihrer Umwälzungen.“13 Weltgeschichte also auf der einen Seite als ‚inkalkulabel’, ‚inkommensurabel’ und ‚absurd’ abzulehnen, auf der anderen Seite durchaus interessiert an – zumindest bestimmten – historischen Fragestellungen zu sein, die eigene Autobiographie als Beitrag zur Geschichte seiner ‚Epoche’14 zu verstehen und zu konzipieren, scheint auf den ersten Blick widersprüchlich, macht allerdings die Frage nach Goethes Geschichtsdenken in seinen Autobiographischen Schriften umso interessanter, da zu vermuten ist, dass eine entsprechende Untersuchung unter Umständen einen Beitrag zu einem differenzierteren, vielleicht letztlich sogar positiveren Bild von Goethes Geschichtsdenken leisten kann, zumindest aber einige neue Aspekte von Goethes Verhältnis zur Geschichte erbringen wird. Um zunächst jedoch diesen ‚Widerspruch’ aufzulösen und vor allem Problemfelder zu konturieren, die schließlich den Textanalysen im Hauptteil dieser Arbeit zugrunde liegen werden und mit deren Hilfe sich Goethes Geschichtsdenken in seinen Autobiographischen Schriften in Einzelaspekte aufgliedern und auf diese Weise differenzierter untersuchen lässt, soll die methodisch-theoretische Grundlegung dieser Arbeit zweierlei leisten. Zum einen muss sie neben einer Präzisierung des die Untersuchung leitenden Begriffs ‚Geschichtsdenken’ – auch des zur Goethezeit entscheidende Veränderungen und Erweiterungen erfahrenden Begriffs ‚Geschichte’ – den eingangs nur konturenhaft skizzierten Forschungsstand zu Goethes Verhältnis zur Geschichte genauer resümieren (Kap. 2.1). Zum anderen muss sie Goethes Autobiographiekonzeption auf ihren Zusammenhang mit historischen Denkformen und Interessen hin ausführlicher untersuchen, als im Zusammenhang mit der Analyse des Vorworts zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit möglich war, und dabei besonders diejenigen Ergebnisse der neueren Autobiographieforschung einbeziehen, die im Hinblick auf historische Fragestellungen bzw. historisches Denken relevant sind (Kap. 2.2). _____________ 13 14
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Dahnke, Artikel ‚Geschichte’, S.362. Auf den für Goethes Geschichtsdenken zentralen Begriff der ‚Epoche’ wird an späterer Stelle noch genauer eingegangen werden; verwiesen sei schon jetzt auf Jochen Golz, Artikel ‚Epoche’. In: GHb 4.1, S.270–272.
2.1.2
Von der ‚Historie’ zur ‚Geschichte’ – Goethes Geschichtsbegriff im terminologiegeschichtlichen Kontext um 1800
Gleich im ersten Absatz des grundlegenden und umfassenden Artikels ‚Geschichte, Historie’ von Reinhart Koselleck deutet sich die zentrale Bedeutung der Goethezeit für die Entwicklung des Begriffs ‚Geschichte’ an: Der Ausdruck [Geschichte] hat […] seine eigene Geschichte, die ihn erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einem politischen und sozialen Leitbegriff aufrücken ließ. Vergangenheit und Zukunft zugleich erfassend, wurde ‚die Geschichte’ zu einem regulativen Begriff für alle gemachte und noch zu machende Erfahrung. Der Ausdruck reicht seitdem weit über den Bereich bloßer Erzählung oder historischer Wissenschaft hinaus.15
Dass sich demnach um 1800 ein entscheidender terminologiegeschichtlicher Umbruch mit Begriffsverschiebungen, -veränderungen und -erweiterungen vollzieht, macht diesen Zeitraum zwar besonders interessant, eine eindeutige Bestimmung des Begriffs ‚Geschichte’ – etwa so, dass man davon ausgehen könnte, dass Goethe ihn auf diese (eine) Weise verstanden und verwendet hätte – nicht nur schwierig, sondern sogar unmöglich. Um daher die Fragestellung dieser Arbeit genauer zu bestimmen, muss Goethes ebenfalls mehrdimensionales Begriffsverständnis von ‚Geschichte’ vor dem Hintergrund dieser ‚Umbruchszeit’ umrissen und müssen dabei diejenigen Bedeutungsfacetten des Begriffs herausgestellt werden, auf die sich die Untersuchung seines Geschichtsdenkens in seinen Autobiographischen Schriften vorrangig beziehen soll.16 Im Goethe-Wörterbuch sind sechs Grundbedeutungen des Begriffs ‚Geschichte’ verzeichnet, die jeweils wieder in zahlreiche Unter- und Unterunterbedeutungen aufgeschlüsselt werden – hilfreich für eine Orientierung über die knapp 2000 Belege des Begriffs ‚Geschichte’ in Goethes Wortschatz ist der einleitende Hinweis, dass „[…] davon etwa zwei Drittel in Bed[eutung] C“17 vorkommen. Dieses relativ neue Be_____________ 15
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Reinhart Koselleck, Artikel ‚Geschichte, Historie’. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1975, S.593–717, hier S.593. Vollständig trennscharf voneinander zu behandeln sind die unterschiedlichen, von Fall zu Fall nur um Nuancen voneinander abweichenden Begriffsbedeutungen freilich nicht, zumal Goethe selbst – wie seine Zeitgenossen auch – den Begriff ‚Geschichte’ wohl kaum jemals ganz bewusst und gezielt in der einen oder anderen Bedeutung verwendet hat und so gerade auch das Unternehmen des Goethe-Wörterbuchs nur versuchen kann, im Nachhinein die Wortverwendungen unterschiedlichen Bedeutungen zuzuordnen. Lohse, Artikel ‚Geschichte’, Sp. 21.
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griffsverständnis, das – wie zu zeigen sein wird – erst nach dem „tiefgreifende[n], für das neuzeitliche Bewußtsein bes[onders] signifikante[n] Bedeutungswandel des Wortes im 18. Jh.“18 möglich wurde, stellt zwar nicht die einzige, wenngleich aber eine zentrale Ausgangsbasis für die vorliegende Untersuchung dar: ‚Geschichte’ in Bedeutung C des Artikels übernimmt u.a. die wohl wichtigsten Inhalte des vormals geläufigeren, bei Goethe allerdings nur 35 mal belegten Begriffs ‚Historie’19 und bezeichnet demzufolge einen „größere[n…], über längere Zeiträume wirkende[n…] (komplexe[n…]) Ereigniszusammenhang bzw[.] die Gesamtheit des Geschehenen als geschichtl[ichen] Prozeß (i[m] S[inne] einer durch äußere od[er] innere Faktoren bestimmten Entwicklungsabfolge)“.20 Doch wie kam es zu der ‚Verschmelzung’ der beiden offensichtlich ursprünglich Unterschiedliches bezeichnenden Begriffe? Und was ist ‚neu’ an der für unser heutiges Verständnis von ‚Geschichte’ selbstverständlich anmutenden Verwendung dieses Begriffs für „die Gesamtheit des Geschehenen als geschichtl[ichen] Prozeß“? Ein Vergleich der entsprechenden Lexikonartikel ‚Historie’ und/oder ‚Geschichte’ in den wichtigsten Nachschlagewerken des 18. bzw. beginnenden 19. Jahrhunderts – Zedler (1735), Adelung (1775) und Campe (1808) –, die ihrem eigenen Anspruch nach das gesamte Wissen ihrer Zeit versammeln,21 ist hinsichtlich der Vielschichtigkeit und Wandlungen der Begriffe recht aufschlussreich. Signifikant ist schon allein die Tatsache, dass der Zedler einen Eintrag zu ‚Historie’22, allerdings keinen zu ‚Geschichte’ aufweist und damit offensichtlich noch einen ganz anderen Stand der terminologiegeschichtlichen Entwicklung markiert als den, auf dem Goethes Begriffsverwendung fußt. Adelung erklärt _____________ 18 19
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Lohse, Artikel ‚Geschichte’, Sp. 21. Wenngleich der Begriff ‚Historie’ (auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts) bei weitem nicht über ein so vielfältiges Bedeutungsspektrum verfügt wie schließlich ‚Geschichte’ um und nach 1800 und schließlich bei Goethe vom Begriff ‚Geschichte’ quantitativ und qualitativ nahezu vollständig verdrängt wird, so unterscheidet Lohse im Artikel ‚Historie’ des Goethe-Wörterbuchs immerhin vier verschiedene Begriffsverwendungen, die sich allerdings alle unter den im Artikel ‚Geschichte’ erläuterten Bedeutungen wieder finden. Nikolaus Lohse, Artikel ‚Historie’. In: GWb 4/1, Sp. 1286f. Lohse, Artikel ‚Geschichte’, Sp. 24. Besonders deutlich wird dieser Anspruch schon in den Titelformulierungen bei Zedler und Adelung, die ein „U n i v e r s a l Lexicon A l l e r Wissenschafften und Künste“ (Hervorhebungen WH) bzw. ein „v o l l s t ä n d i g e [ s ] grammatisch-kritische[s] Wörterbuch[…]“ präsentieren wollen. Vgl. Johann Heinrich Zedler, Artikel ‚Historie’. In: Zedler, Grosses Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden worden. Dreyzehnter Band, Leipzig und Halle 1735, Sp. 281–286.
dagegen vierzig Jahre danach beide Begriffe23 und noch einmal drei Jahrzehnte später ist bei Campe lediglich noch ein Artikel zu ‚Geschichte’24 zu finden. Im Frühneuhochdeutschen bezeichnete die ‚Geschichte’ die ‚Erzählung von Geschehenem’ und war bis weit ins 18. Jahrhundert hinein eine „Pluralform, die die Summe einzelner Geschichten benannte“,25 also eine pluralische, additive Bedeutung hatte, die noch keineswegs den Zusammenhang der einzelnen Geschehnisse, die Gesamtheit dessen, was geschehen ist und geschehen wird, meinte, der für unsere ‚moderne’ Begriffsverwendung prägend ist und der im Goethe-Wörterbuch unter der Bedeutung C mit dem „(komplexe[n…]) Ereigniszusammenhang“ belegt ist. Abgesehen davon – und dies wird die Begründung dafür sein, dass Zedlers enzyklopädisch-gelehrtes Lexikonunternehmen eben den Begriff ‚Historie’ verzeichnet, ‚Geschichte’ aber nicht aufnimmt – umfasst demnach die ‚Geschichte’ gerade noch nicht die ‚subjektive’ und reflexive Seite des heutigen Begriffs. Diese Bedeutung von Wissen über, Beschäftigung mit Geschichte, also Geschichtskunde, erzählung und -wissenschaft, die bei Goethe ebenfalls bereits begegnet,26 betrifft noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein ausschließlich die ‚Historie’.27 Bei Adelung haben sich dann die beiden Entwicklungen vollzogen, die nach Koselleck den entscheidenden Beitrag zur Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs leisten, über den Goethe schon weitgehend verfügt: die Entstehung des Kollektivsingulars wie die Kontamination von ‚Geschichte’ und ‚Historie’.28 Adelung verweist nämlich _____________ 23
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Vgl. Adelung, Johann Christoph: Artikel ‚Die Geschichte’ und ‚Die Historie’. In: Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyter Theil, Leipzig 1775, Sp. 600f. bzw. Sp. 1210f. Joachim Heinrich Campe, Artikel ‚Die Geschichte’. In: Campe, Wörterbuch der Deutschen Sprache. Zweiter Theil, Braunschweig 1808, S.328f. Koselleck, Artikel ‚Geschichte, Historie’, S.647. Vgl. die Bedeutung D „historische Darstellung, Forschung, insbes[ondere]: Geschichtsschreibung“ mit ihren zahlreichen Unterbedeutungen im Goethe-Wörterbuch: Lohse, Artikel ‚Geschichte’, Sp. 28–30. So definiert Zedler 1735 die ‚Historie’ als die „Wissenschafft“ von der „Erfahrung“: „Wenn nun andre etwas zeugen, oder wenn wir selber etwas aufzeichnen, das in der That geschehen ist, so wird solches die Historie genennet“ (Zedler, Artikel ‚Historie’, Sp. 282); anschließend unterscheidet er „verschiedene Classen“ wie z.B. die „KirchenHistorie“ oder die „Politische Historie“, etwa entsprechend den heutigen Teilbereichen der Geschichtswissenschaft, in die die Historie eingeteilt werden könne. Vgl. dazu ausführlich und mit zahlreichen Hinweisen auf weiterführende Literatur Koselleck, Artikel ‚Geschichte, Historie’, S.647–658. Einen knapperen begriffsgeschichtlichen Überblick bietet Koselleck in einem neueren Aufsatz: Reinhart Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. In: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Auf-
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zum einen in seinem Artikel ‚Historie’ darauf, dass für alle drei Begriffsverwendungen, die er auflistet – erstens ‚Historie’ als geschehene Begebenheit, zweitens als Erzählung der geschehenen Begebenheit und drittens als Kenntnis der geschehenen Begebenheit – „nunmehr, wenigstens in der anständigen Schreibart, dafür das deutsche Geschichte gangbarer [ist]“;29 folglich die ursprünglich mit dem Begriff ‚Historie’ bezeichneten Bedeutungen auf die ‚Geschichte’ übertragen wurden.30 Zum anderen wird die zweite entscheidende ‚Neuerung’ in Adelungs Formulierung greifbar, dass mit ‚Geschichte’ nicht nur ein einzelnes ‚Geschehnis’, sondern „in engerer und gewöhnlicherer“ Verwendung „verschiedene[…] mit einander verbundene[…] Veränderungen, welche zusammen genommen ein gewisses Ganze ausmachen“ gemeint sei: Der Begriff stehe nun nämlich „oft collective und ohne Plural von mehrern geschehenen Begebenheiten einer Art“ und bezeichnet damit als Kollektivsingular v.a. einen ganzheitlichen und umfassenden Geschehens- und Entwicklungszusammenhang – bei Campe hat sich neben der vollständigen Absorbierung der ‚Historie’ durch die ‚Geschichte’ dahingehend, dass auf einen Artikel ‚Historie’ schlicht verzichtet wird, auch dieses Begriffsverständnis mit der Betonung des Z u s a m m e n h a n g s der einzelnen Geschehnisse vollends durchgesetzt.31 Eng verbunden mit der Ausbildung und Durchsetzung des Kollektivsingulars ist die ‚neue’ zeitliche Erstreckung der ‚Geschichte’, die nun keinesfalls mehr nur vergangene Geschehnisse meint, sondern alle drei temporalen Dimensionen umfasst: Geschichte als historischer Prozess schließt die Entwicklungen in Gegenwart und Zukunft ein und betrachtet gerade den Zusammenhang von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem.32 Nicht zuletzt die Überzeugung, dass Vergangenes den gegenwärtigen – gesellschaftlichen und persönlich-individuellen – Standpunkt bedingt, Gegenwärtiges u n d Vergangenes wiederum die _____________
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sätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten. hg. von Koselleck und mit einem Nachwort von Carsten Dutz. Berlin 2010, S.9–31 (zuerst veröffentlicht in Merkur 51 [1997], S.319– 334), hier besonders S.20–22. Adelung, Artikel ‚Die Historie’, Sp. 1210. Koselleck konstatiert, dass „im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts der Bedeutungsgehalt von ‚Historie’ – unter Zurückdrängung dieses Wortes – zur Gänze von ‚Geschichte’ aufgesaugt wird“ (Koselleck, Artikel ‚Geschichte, Historie’, S.653). Folgerichtig findet sich im 1805 erschienenen Wörterbuch von Campe auch ausschließlich ein Eintrag zu ‚Geschichte’. Vgl. Campe, Artikel ‚Die Geschichte’, S.328f. Diese erweiterte zeitliche Erstreckung ist nach Koselleck für den modernen Geschichtsbegriff von solcher Wichtigkeit, dass er sie gleich in den ersten einleitenden Sätzen seines Artikels in Geschichtliche Grundbegriffe erwähnt; vgl. die bereits zu Beginn dieses Abschnitts zitierte Formulierung in Koselleck, Artikel ‚Geschichte, Historie’, S.593.
Voraussetzung für zukünftige Entwicklungen bildet – mit anderen Worten: das „Bewußtsein geschichtlichen Geworden-Seins“33 –, bestimmt Goethes Verhältnis zur Geschichte und räumt damit „Geschichtlichkeit“ einen zentralen Platz in seiner „Weltsicht“ ein.34 Vor dem Hintergrund der terminologiegeschichtlichen Diskussion um 1800 bleibt festzuhalten: Bei Goethe meint der Begriff ‚Geschichte’ in seinen Hauptfacetten erstens nicht nur einzelne Geschehnisse oder die ‚Geschichte’ einzelner zeitlich umgrenzter Abschnitte, sondern im Sinne des Kollektivsingulars vor allem den alle drei zeitliche Dimensionen umfassenden Geschehniszusammenhang. Zweitens kontaminiert der ‚neue’ Begriff die ‚alten’ Begriffe ‚Historie’ und ‚Geschichte’ und umfasst damit sowohl die objektive, sich tatsächlich ereignete oder ereignende wie auch die subjektive, darstellende Seite des modernen Geschichtsbegriffs. Der Begriff ‚Geschichtsdenken’, der terminologisch nicht etwa so festgelegt ist, dass er sich in einschlägigen modernen Lexika nachschlagen ließe, ist deswegen vor allem auf eben diese Aspekte von ‚Geschichte’ zu beziehen. Die gegenüber verwandten Begriffen wie ‚Geschichtsbild’, ‚Geschichtsauffassung’, ‚Geschichtsanschauung’, ‚Geschichtsbewusstsein’ (z.T. erheblich) größere Offenheit des Begriffs ‚Geschichtsdenken’35 konfrontiert die Arbeit zwar zum einen mit der Schwierigkeit, sich eben nicht auf eine festgelegte Begriffsdefinition stützen zu können und ein der Arbeit zugrunde liegendes Begriffsverständnis so erst erarbeiten bzw. offen legen zu müssen. Zum anderen bietet diese Offenheit allerdings größere Spielräume und damit weitere Erkenntnismöglichkeiten, zumal die einzelnen ‚Problemfelder’, die für eine Untersuchung von Goethes Geschichtsdenken in seinen Autobiographischen Schriften ergiebig erscheinen, dabei gezielt Goethes spezifische Interessen an und Zugänge zur Geschichte berücksichtigen und seiner komplexen und schwierig zu bestimmenden Position auch in ihren möglichen Widersprüchen so evtl. gerechter werden, außerdem gezielt auf die für die Gattung ‚Autobiographie’ zentralen Aspekte zugeschnitten werden können.36 Geschichtsdenken bezeichnet daher in _____________ 33 34
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Lohse, Artikel ‚Geschichte’, Sp. 21. Entsprechend formuliert Dahnke, dass Goethes „[…] Weltsicht Geschichtlichkeit als beständig angewandtes Denk- und Erkenntnisprinzip zugrundelag, dem alles Seiende in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterworfen war“ (Dahnke, Artikel ‚Geschichte’, S.355). Artikel zu den Begriffen ‚Geschichtsbild’ und ‚Geschichtsbewusstsein’ finden sich sogar in allgemeinen Konversationslexika; vgl. z.B. Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, die Brockhaus-Enzyklopädie oder Microsoft Encarta Professional 2002. Ein ähnlicher Ansatz liegt der Unterteilung des sich in der Epoche der Aufklärung ausbildenden „modernen historischen Denkens“ in einzelne „Themenfelder“ zugrunde,
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dieser Untersuchung zunächst einmal die Summe der Vorstellungen, die sich Goethe (im Sinne der dargelegten nach dem terminologiegeschichtlichen ‚Umbruch’ wichtigsten Bedeutungen des von ihm bereits ‚modern’ verwendeten Begriffs) über und von Geschichte als Ereignis(zusammenhang) wie von den Möglichkeiten ihrer Erforschung und Darstellung macht. Damit ist zunächst einmal zweierlei gemeint: das Denken v o n Geschichte in dem Sinne, dass Geschichte (re-)konstruiert, erklärt, dargestellt wird, und das Denken ü b e r Geschichte in dem Sinne, dass einzelne geschichtliche Ereignisse, Entwicklungen oder der gesamte geschichtliche Entwicklungsprozess einer expliziten oder impliziten Bewertung unterzogen werden. 2.1.3
Goethes Verhältnis zur Geschichte – Divergenzen und Konvergenzen zu zentralen Positionen im Geschichtsdiskurs seiner Zeit
2.1.3.1 Anmerkungen zu Methode und Zielsetzung des Kapitels Ebenso wie in terminologiegeschichtlicher Hinsicht markiert die Zeit um 1800, was die Auseinandersetzung der Menschen mit Geschichte anbelangt, einen entscheidenden Umbruch – während Goethes Lebenszeit hat sich so nicht nur der ‚moderne’ Geschichtsbegriff entwickelt und durchgesetzt, sondern auch das ‚moderne’ Geschichtsbewusstsein: Die geschichtswissenschaftliche Forschung zu diesem Themenbereich konstatiert schon für die Aufklärung eine „radikale Umstrukturierung traditionellen historischen Denkens“,37 die keineswegs nur die Geschichtswissenschaft als institutionalisierte „selbständige wissenschaftliche Disziplin mit eigenem Themenbereich, Wissenschaftsanspruch und spezifischen Organisationsformen“38 betraf – das universitäre Fach ‚Geschichte’ formierte sich überhaupt erst in der _____________
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die Bödeker vornimmt, um eben die Entwicklung und die Spezifika dieses „modernen historischen Denkens“ präziser bestimmen zu können. Vgl. Hans Erich Bödeker, Die Entstehung des modernen historischen Denkens als sozialhistorischer Prozeß. Ein Essay. In: Anfänge modernen historischen Denkens, hg. von Wolfgang Küttler u.a., Frankfurt a.M. 1994, S.295–319 (Geschichtsdiskurs. In 5 Bänden. Bd. 2), bes. S.297 und 299–303. Hans Erich Bödeker, Reisebeschreibungen im historischen Diskurs der Aufklärung. In: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hg. von Hans Erich Bödeker u.a., Göttingen 1986, S.276–298 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 81), hier S.276. Bödeker, Die Entstehung des modernen historischen Denkens, S.295.
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts –, sondern vielmehr ein „breites, nicht mehr bloß gelehrtes Interesse an der Geschichte“ beförderte: Historisch-politische Bildung wurde nun von den Trägerschichten der Aufklärung als entscheidendes Moment der Ausbildung aufklärerischer Subjektivität begriffen. Eine neuartige historische Wißbegierde, ein neuartiges historisches Bewußtsein durchdrang die entstehende kulturelle und politische Öffentlichkeit.39
Dieses „neuartige[…] historische[…] Bewußtsein“ manifestierte sich in einem nicht mehr nur antiquarischen, statistischen und empirischen, sondern einem zunehmend genetischen, kausalen, erklärenden Blick auf die Geschichte – ein Blick, der die Gegenwart einbezog und die „traditionelle Vergangenheitsperspektive […] zum modernen Geschichtsbewußtsein [erweiterte und so...] einen Standpunkt [eröffnete], der sich selbst als geschichtlich bedingt reflektieren mußte.“40 Während seines langen Lebens war Goethe Zeitgenosse nicht nur dieser Initiation ‚neuer’ historischer Denkformen in der Epoche der Aufklärung, sondern auch ihrer Weiterentwicklungen und Veränderungen zunächst in der idealistischen Geschichtsphilosophie, später – in Goethes letzten Lebensjahrzehnten – in der romantischen Geschichtsbetrachtung und schließlich im frühen Historismus, als die Auseinandersetzung mit und die Perspektive auf Geschichte noch einmal eine Geschichtsdenken und Geschichtsbilder sehr langfristig prägende Wendung nahm.41 Wenngleich Goethes spezifisches Geschichtsdenken – wie zu zeigen sein wird – sich sicherlich kaum mit einer dieser Positionen auf einen Nenner bringen lässt, so kann es dennoch nicht losgelöst von seinem Zeitkontext betrachtet werden, sondern ist an den zeitgenössischen _____________ 39
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Bödeker, Die Entstehung des modernen historischen Denkens, S.296. Vgl. zum immensen Aufschwung, den das öffentliche Interesse an der Geschichte im 18. Jahrhundert nahm, auch den im selben Sammelband erschienenen Beitrag von Vierhaus: Rudolf Vierhaus, Historisches Interesse im 18. Jahrhundert. In: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hg. von Hans Erich Bödeker u.a., Göttingen 1986, S.264–275 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 81). Bödeker, Reisebeschreibungen im historischen Diskurs der Aufklärung, S.296. Einen hilfreichen Überblick über Tendenzen und Entwicklungen von Geschichtswissenschaft, Geschichtsphilosophie wie auch von öffentlichem Interesse an und Vorstellungen über Geschichte liefern zum 18. Jahrhundert neben dem bereits erwähnten Sammelband Bödeker, Aufklärung und Geschichte, die einzelnen Beiträge zu diversen Spezialaspekten des Themas in Wolfgang Küttler u.a. (Hgg.), Anfänge modernen historischen Denkens, Frankfurt a.M. 1994 (Geschichtsdiskurs. In 5 Bänden. Bd. 2); eine Orientierung über die einzelnen Positionen des 19. Jahrhunderts leistet der nächste Bd. derselben Reihe: Wolfgang Küttler u.a. (Hgg.), Epoche der Historisierung, Frankfurt a.M. 1997 (Geschichtsdiskurs. In 5 Bänden. Bd. 3).
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Geschichtsdiskurs42 anzubinden, zumal sich gerade Goethe als einer der letzten ‚Universalgelehrten’ nahezu auf allen Gebieten der Wissenschaft, des politischen und kulturellen Lebens seiner Zeit mit aktuellen Tendenzen auseinandersetzte. Entsprechend weist Hans-Dietrich Dahnke darauf hin, dass nicht nur „die Erfahrungen, die er [=Goethe] in seiner eigenen Lebenspraxis aus dem Miterleben und dem Durchleben davontrug [,…] seine Denkweise und Haltung [zur Geschichte] entschieden prägten“, sondern vielmehr auch „das Gedankenmaterial und die Denkformen, die er bei Vorlebenden und Zeitgenossen vorfand und die direkt oder indirekt auf sein Verständnis von Geschichte einwirkten“,43 zu beachten sind. Während seines gesamten Lebens haben – und dies ist für Goethes Auseinandersetzung mit den verschiedensten kulturellen oder philosophischen Strömungen seiner Zeit wie auch mit wissenschaftlichen Entwicklungen generell kennzeichnend – dabei persönliche Beziehungen eine zentrale Rolle gespielt; ‚Brücken’ zu Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft ermöglichten ihm – besonders während seiner Straßburger Studienzeit – seine Freundschaft zu Johann Gottfried Herder,44 im ‚klassischen Jahrzehnt’ zu Friedrich Schiller45 und in seinen letzten Lebensjahrzehnten seine – _____________ 42
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Die notwendigen Erläuterungen zur Verwendung und zum Verständnis des Begriffs ‚Diskurs’ in diesem Kapitel folgen weiter unten. Dahnke, Artikel ‚Geschichte’, S.355. Zu Herders Auseinandersetzung mit Geschichte sind – über seine Erwähnung in einschlägigen Lexikonartikeln (vgl. z.B. auch Koselleck, Artikel ‚Geschichte‚ Historie’, v.a. S.667, 674, 681) hinaus – zahlreiche Beiträge erschienen, die sich zumeist mit einzelnen ‚Problemfeldern’ von Herders Geschichtsdenken auseinander setzen, so etwa Gonthier-Louis Fink, Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive. In: Johann Gottfried Herder: 1744–1803, hg. von Gerhard Sauder, Hamburg 1987 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 9), S.156–176; Wolfgang Förster, Johann Gottfried Herder: Weltgeschichte und Humanität. In: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hg. von Hans Erich Bödeker u.a., Göttingen 1986, S.363–387 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 81); Hans-Wolf Jäger, Herder und die Französische Revolution. In: Johann Gottfried Herder: 1744–1803, hg. von Gerhard Sauder, Hamburg 1987 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 9), S.299–307; Tino Markworth, Unterwegs zum Historismus. Der Wandel des geschichtsphilosophischen Denkens Herders von 1771 bis 1773. In: Johann Gottfried Herder – Geschichte und Kultur, hg. von Martin Bollacher, Würzburg 1994, S.51–59; Michael Maurer, Die Geschichtsphilosophie des jungen Herder in ihrem Verhältnis zur Aufklärung. In: Johann Gottfried Herder: 1744–1803, hg. von Gerhard Sauder, Hamburg 1987 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 9), S.141– 155. Neben dem Aufsatz von Karl-Heinz Hahn, der einen ersten Überblick zu Interessengebieten, Tätigkeitsfeldern und ‚Zugängen’ Schillers zur Geschichte bietet (Karl-Heinz Hahn,: Schiller als Historiker. In: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hg. von Hans Erich Bödeker u.a., Göttingen 1986,
vorwiegend brieflichen – Kontakte zu mehreren Philosophen und Geschichtswissenschaftlern; darüber hinaus ist seine Lektüre nicht weniger historiographischer Werke nachweisbar.46 Wenn es im Folgenden darum gehen wird, auf der Grundlage der Ergebnisse der Goethe-Philologie einzelne Aspekte von Goethes Verhältnis zur Geschichte genauer zu umreißen, welche die Basis für die Konturierung der ‚Problemfelder’ bilden sollen, die im Hauptteil für die Textanalysen exemplarischer Passagen der Autobiographischen Schriften nutzbar gemacht werden können,47 so wird immer auch versucht werden, Divergenzen und Konvergenzen von Goethes spezifischem Geschichtsdenken zu zentralen Positionen im zeitgenössischen Geschichtsdiskurs aufzuzeigen. Dabei wird allerdings keinesfalls der Anspruch erhoben, alle Facetten dieses komplexen Diskurses vollständig darzustellen oder gar eine – methodisch auf eine fundiertere sowie kritischer zu hinterfragende Basis zu stellende – umfassende Analyse dieses Diskurses zu leisten sowie den einzelnen Positionen innerhalb des Diskurses gerecht zu werden (selbstverständlich wäre es dazu u.a. nötig, auf Primärtexte der Zeit zurückzugreifen).48 Der Ausblick auf ähnliche oder ganz abweichende zeitgenössische Positionen zu den für Goethes Geschichtsdenken wichtigen Aspekten dient vielmehr dazu, Goethes Auseinandersetzung mit Geschichte nicht losgelöst von dem Diskurs zu sehen, der ihm zur Verfügung stand und von dem er durch reges _____________
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S.388–415 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 81)), sei für detailliertere Informationen auf die einzelnen Beiträge in dem dezidiert Schiller a l s H i s t o r i k e r gewidmeten Sammelband verwiesen: Otto Dann, Norbert Oellers und Ernst Osterkamp (Hgg.), Schiller als Historiker, Stuttgart 1995. Einige wenige Aufsätze setzen sich bereits mit diesem Themenbereich auseinander und untersuchen Goethes Verhältnis zur Geschichtsschreibung bzw. vergleichen historische Denkformen bei Goethe und Herder bzw. bei Goethe, Herder und Kant: Gérard Laudin, Goethe und die Historiographie seiner Zeit. Kongruenzen und Divergenzen. In: Goethe im sozialen und kulturellen Gefüge seiner Zeit. Fünf Vorträge gehalten am Deutschen Historischen Institut zu Paris, hg. von Jürgen Voss, Bonn 1999, S.143–175 (Pariser Historische Studien, Bd. 51); Hugh Barr Nisbet, Goethes und Herders Geschichtsdenken. In: GJb 110 (1993), S.115–134; Hugh Barr Nisbet, Naturgeschichte und Humangeschichte bei Goethe, Herder und Kant. In: Goethe und die Verzeitlichung der Natur, hg. von Peter Matussek, München 1998, S.15–43. Im Rahmen dieses Kapitels, das nicht mehr als eine Grundlage für die erst im Hauptteil der Arbeit zu leistenden Textanalysen darstellt, muss sich bewusst und gezielt darauf beschränkt werden, diese einzelnen Aspekte von Goethes Geschichtsdenken auf der Basis der Ergebnisse der Goethe-Forschung darzustellen; eine eigenständige, überblicksartige Erschließung des gesamten Goetheschen Oeuvres ist weder leistbar noch sinnvoll, weil sie notgedrungen oberflächlich bleiben müsste. Ein solcher Ansatz – etwa mit dem Ziel, Goethes Position im Geschichtsdiskurs um 1800 genau zu bestimmen – erforderte eine andere Arbeit.
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und breit gestreutes Interesse direkte oder indirekte Anregungen erfuhr, sondern sie im Kontext seiner Zeit zu betrachten und zu beurteilen. Dennoch macht es allein die Verwendung des Begriffs ‚Diskurs’ unerlässlich, zumindest kurz „deutlich zu machen, aus welcher theoretischen Perspektive von D[iskurs] die Rede ist“,49 zumal besonders seit Beginn der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts der Begriff ‚Diskurs’ mehr und mehr verwendet wird; dabei häufig ohne offen zu legen, auf welche der inzwischen kaum noch zu überblickenden, jedenfalls immer mehr divergierenden Diskurstheorien sich die jeweilige Begriffsverwendung stützt.50 In diesem Kapitel wird der Begriff ‚Diskurs’ verwendet, weil es hier zunächst im weitesten Sinne um „Äußerungszusammenhänge[…]“,51 um „Serialitäten [geht], die auf ein bestimmtes thematisches Feld“52 – hier auf das Feld der ‚Geschichte’ – bezogen sind und sich das Erkenntnisinteresse gerade darauf richtet, aus den verschiedenen Texten und Aussagen zu diesem Feld eine historische Formation zu konstruieren. Dabei lehnt sich das zugrunde liegende Begriffsverständnis den Ausführungen von Christa Karpenstein-Eßbach an: Der Begriff ‚Diskurs’ erscheint im Zusammenhang mit den verschiedenen auf ‚Geschichte’ bezogenen Äußerungen um 1800 erstens deswegen besonders geeignet, weil er explizit nicht allein auf den Bereich von institutionalisiertem Spezialwissen (also etwa im Sinne einer Wissenschaftsgeschichte der universitären Geschichtswissenschaft um 1800) angewendet wird, sondern sich gerade als eine „Signatur des Popularwissens [versteht…], das in den kulturellen, sozialen und politischen _____________ 49
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Ute Gerhard, Jürgen Link und Rolf Parr, Artikel ‚Diskurs und Diskurstheorien’. In: Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, hg. von Ansgar Nünning, Stuttgart und Weimar 2001, S.115–117; vgl. mit einem ähnlichen Tenor etwa auch die einleitenden Bemerkungen von Christa Karpenstein-Eßbach, die in ihrem Aufsatz selbst eine – gerade für literaturwissenschaftliche Zwecke – brauchbare Präzisierung diskurs-analytischer Verfahren in Auseinandersetzung mit Michel Foucaults Arbeiten vorstellt: Christa KarpensteinEßbach, Diskursanalyse als Methode. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 119 (2000), S.98–106, hier S.98f. So wird etwa selbst in Arbeiten, die den Begriff in ihrem Titel führen – wie z.B. in der für eine mögliche begriffliche Orientierung zunächst vielversprechend erscheinenden Arbeit Ursula A. J. Becher, Geschichtsinteresse und historischer Diskurs. Ein Beitrag zur Geschichte der französischen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1986 (Studien zur modernen Geschichte, Bd. 36) oder selbst in der fünfbändigen und gerade für diese Untersuchung einschlägigen Reihe „Geschichtsdiskurs“ von Wolfgang Küttler –, auf eine entsprechende Begriffsklärung verzichtet. Jürgen Fohrmann, Artikel ‚Diskurstheorie(n)’. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. I, hg. von Klaus Weimar, Berlin und New York 1997, S.372–374, hier S.372. Karpenstein-Eßbach, Diskursanalyse als Methode, S.104.
Praktiken von Gesellschaften zum Tragen kommt.“53 Zweitens rückt der Begriff insbesondere diese Verschränkung von verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen (für das Geschichtsdenken um 1800 handelt es sich dabei in erster Linie um Wissenschaft und Literatur, u. U. auch um Politik) in den Blick, ohne eine „finalisierende Zentralinstanz für den Lauf der Geschichte anzunehmen“ oder die einzelnen Aussagen „in eine kausale Verkettung zu bringen.“54 Stattdessen wird ein wechselseitiger Austausch angenommen55 und das Ziel diskursanalytischer Verfahren besteht vielmehr darin, Ähnlichkeiten oder Widersprüche zwischen einzelnen Aussagen aufzuzeigen anstatt ‚Einflüsse’ von einer auf andere Aussagen nachzuweisen. Eng verbunden damit behält der Diskursbegriff drittens gezielt die „Pluralität von Standorten“ im Blick, weil sich diese „der Auszeichnung eines singulären Eigenen entziehen“56 und dementsprechend kein einzelner Standort privilegiert werden kann – auch derjenige Goethes nicht, dessen Aussagen zur ‚Geschichte’ daher in diesem Kapitel nicht ausschließlich für sich, sondern als Beiträge zu einem ‚Äußerungszusammenhang’ betrachtet werden sollen. Gleichwohl wird bei diesen Ausblicken auf diesen ‚Äußerungszusammenhang’ gezielt von Goethes spezifischen Schwierigkeiten mit und Zugangsmöglichkeiten zur Geschichte ausgegangen und die Perspektive dann weiter geöffnet auf den Geschichtsdiskurs, der ihm zur Verfügung stand.57 Weil sich Goethes Position im Hinblick auf Geschichte – wie angedeutet – kaum auf einen Nenner bringen lässt, sondern sie vielmehr vielschichtig und komplex ist, z.T. Widersprüche aufweist,58 soll im Folgenden versucht werden, auf der Grundlage der _____________ 53 54 55
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Karpenstein-Eßbach, Diskursanalyse als Methode, S.100. Karpenstein-Eßbach, Diskursanalyse als Methode, S.101. In diesem Zusammenhang definieren Jürgen Link und Ursula Link-Heer zunächst „jede historisch-spezifische ‚diskursive Formation’ im Sinne Foucaults als ‚Spezialdiskurs’“ und sprechen dann von ‚Interdiskursen’, wenn es um „interferierende[…], koppelnde[…], integrierende[…] usw. Quer-Beziehungen zwischen mehreren Spezialdiskursen“ geht (Jürgen Link und Ursula Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 77 (1990), S.88–99, hier S.92). Karpenstein-Eßbach, Diskursanalyse als Methode, S.103. Ähnlich verfährt Jürgen Große in seiner Arbeit, die allerdings eine andere, weniger auf Goethe und sein Geschichtsdenken selbst als auf den Nachweis von spezifisch ‚Goethischem’ in der Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts fokussierende Zielsetzung verfolgt: Jürgen Große, Phänomen-Erkenntnis. Goethisches bei Geschichtsdenkern des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2001 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Bd. 391). Vgl. die ähnliche Einschätzung zu Goethes grundsätzlich schwierig zu bestimmendem Verhältnis zur Geschichte von Dahnke, der darauf hinweist, dass Goethes „Äußerun-
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Ergebnisse der Forschung einzelne ‚Problemhorizonte’ von Goethes Auseinandersetzung mit Geschichte zu konturieren. Dabei wird jeweils zunächst ein Aspekt des zeitgenössischen Geschichtsdiskurses vorgestellt, dem Goethe mit Skepsis begegnet: der Annahme von Sinn und Kontinuität in der Geschichte (‚Problemhorizont’ A), dem Fortschrittsoptimismus (‚Problemhorizont’ B) und den gängigen (Darstellungs)Verfahren der zeitgenössischen Historiographen und Geschichtsphilosophen (‚Problemhorizont’ C). Jeweils direkt anknüpfend an diese Schwierigkeiten wird dann eine Möglichkeit vorgestellt, mit der sich ihm im jeweiligen Zusammenhang schließlich doch ein Weg zu historischer Erkenntnis eröffnet: Hier spielen kulturgeschichtliche Phänomene und biographische Geschichte (‚Problemhorizont’ a), das Denken in Epochen (‚Problemhorizont’ b) und die Rolle des Historiographen als Dichter (‚Problemhorizont’ c) als Zugangsmöglichkeiten eine herausgehobene Rolle. 2.1.3.2 Der Stand der Forschung: sechs ‚Problemhorizonte’ von Goethes Auseinandersetzung mit Geschichte A. Skepsis gegenüber dem Sinn der Geschichte: Geschichte ist unberechenbar, zerstört Kontinuitäten und hemmt die Entwicklung des Individuums Im eingangs zitierten Beispiel aus den Maximen und Reflexionen, in dem sich der alte Goethe skeptisch gegenüber der Berechenbarkeit, der Kontinuität geschichtlicher Abläufe äußert, „das Incalculable, das Incommensurable“‚ das „[S]chwanken“ und die Rolle des „Zufall[s]“59 betont, ist – eng mit dem ersten verbunden – mindestens noch ein zweiter Aspekt im Hinblick auf Goethes Geschichtsdenken interessant, der gerade nicht nur für seine letzten Lebensjahrzehnte typisch ist, sondern eine Frage berührt, die während seines gesamten Lebens einen wesentlichen Movens seiner Reflexionen über Geschichte darstellt: Um _____________
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gen zum Thema Geschichte vor allem situationsbezogen und subjektiv geprägt“ seien und sie deswegen stets „in ihrer Relativität gesehen und auf ihre Veranlassungen und Kontexte befragt werden [müssen]. Auf diese Weise wird auch ihre Widersprüchlichkeit besser begreifbar. Denn eine eindeutige, schlüssig auf einen Gesamtnenner zu bringende und auf das Denken und Dichten anwendbare Position G[oethe]s gibt es nicht […]“ (Dahnke, Artikel ‚Geschichte’, S.354). FA I/13, S.329.
die „Bedingungen“ der „Bildung und Wirkung der Menschen“60, um den „Einfluß“ des „Jahrhundert[s]“ auf „das Individuum“ (Vorwort zu DuW I, S.13) kreist sein Interesse nicht erst bei der Arbeit an seinem Autobiographieprojekt. Vielmehr motiviert schon den jungen Goethe gerade diese Frage nach der Rolle des Einzelnen – und zwar in besonderem Maße nach der Rolle herausragender Persönlichkeiten – wie nach dessen Möglichkeiten und Grenzen, in seiner Zeit und auf seine Zeit zu wirken, seine Auseinandersetzung mit Geschichte. Entsprechend ist sein erstes literarisches Werk, das auf geschichtlichen Quellen basiert bzw. vor einem historisch belegten Hintergrund spielt – das frühe Geschichtsdrama61 Götz von Berlichingen, mit dem der bis dahin noch nahezu unbekannte 24jährige Autor seinen ersten fulminanten literarischen Erfolg erzielte –, motiviert von dem Interesse an der Kollision eines herausragenden Individuums mit dem Gang der Geschichte, mit seinem ‚Jahrhundert’. Die Entstehung des Götz fällt in die Zeit der glühenden Shakespeare-Verehrung des Sturm-und-Drang-Dichters und entsprechend ist das Stück von Shakespeares Dramen inspiriert – unter anderem geht es Goethe im Götz selbst darum, was er in den Dramen des großen Vorbilds bewundert, nämlich „um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat) in dem das Ei_____________ 60 61
FA I/13, S.329. So die gängige Bezeichnung in der Goethe-Forschung; vgl. allgemein als hilfreichen Überblick über die zahlreichen Forschungen zu Götz von Berlichingen, an den sich auch die folgende, gezielt auf die Fragestellung dieses Kapitelabschnitts zugeschnittene und daher lediglich sehr knappe Darstellung anlehnt, und speziell zu einer ersten Orientierung über die Gattungsbezeichnung „Geschichtsdrama“ für den Götz Benedikt Jeßing, Johann Wolfgang Goethe, Stuttgart und Weimar 1995 (Sammlung Metzler, Bd. 288), S.52; darüber hinaus sei auf den ausführlicheren Artikel im Goethe-Handbuch verwiesen: Volker Neuhaus, Artikel ‚Götz von Berlichingen’. In: GHb. Bd. 2, hg. von Bernd Witte u.a., Stuttgart und Weimar 1996, S.78–99. Sowohl Jeßing als auch Neuhaus liefern hilfreiche weiterführende Literaturverweise. Dahnke geht in seinem Artikel ‚Geschichtsschreibung’ sogar so weit, Götz wie auch das klassische Drama Egmont – und im Übrigen auch Goethes Autobiographische Schriften – als „historiographische Arbeiten“ zu werten (Dahnke, Artikel ‚Geschichtsschreibung’, S.368). Dirk Niefanger liefert in seiner Habilitationsschrift zum frühneuzeitlichen Geschichtsdrama einen Ausblick auf Goethes Götz, in dem er in Abgrenzung zu der bis dahin formulierten Deutung Friedrich Sengles, der im Götz einen grundlegenden Neuanfang der Gattung, gleichsam den „Zielpunkt einer Entwicklung“ (Dirk Niefanger, Geschichtsdramen der Frühen Neuzeit 1495–1773, Tübingen 2005 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 174, S.381) figuriert sieht, einen anderen Blick auf Goethes frühes Geschichtsdrama wirft: „Der ‚Götz’ […] setzt den Diskurs um das Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit fort und formuliert noch einmal dessen immer wieder gehörtes Credo: Die Geschichte ist nicht greifbar! […] Die Geschichte erscheint bestenfalls in perspektivierten Geschichten. Sie tritt nicht als ‚objektive’, sondern als different vermittelte in Erscheinung“ (Niefanger, Geschichtsdramen der Frühen Neuzeit 1495–1773, S.381).
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gentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstoßt.“62 Götz kämpft für seine Ideale, für Selbstverwirklichung und (persönliche) Unabhängigkeit, vor allem für Freiheit gegenüber politischen und gesellschaftlichen Zwängen – und er kann, dem „notwendigen Gang des Ganzen“ folgend, den Kampf gegen die „Macht der Zeit“63 nur verlieren: Mit „Freiheit“ als d e m „zentrale[n] Programmbegriff des gesamten Dramas […] tritt Götz auf die Bühne, mit ihm auf den Lippen stirbt er.“64 Das Ende des Dramas entwirft eine pessimistische Perspektive auf den Gang der Geschichte, indem es eine „katastrophale Gegenwartserfahrung und negativste Zukunftserwartung artikulier[t…]“65: Götz’ Freiheitsideal lässt sich nicht verwirklichen, der Einzelne ist gegenüber der „historisch-unabänderlichen […] Dynamik von Geschichte und Gesellschaft“66 machtlos. Liegt der Fokus also schon hier auf konfliktträchtigen Situationen und Relationen – Vergleichbares gilt für den im ersten Weimarer Jahrzehnt konzipierten und in Italien fertig gestellten Egmont67 –, bei denen es kaum eine positive ‚Wechselwirkung’ zwischen ‚Individuum’ und ‚Zeitverhältnissen’ gibt, sondern der ‚Einfluss’ des ‚Jahrhunderts’ vor allem ein die individuelle Entwicklung hemmender, bisweilen gar (zer-) störender ist, so erlebte Goethe seine eigene politische Tätigkeit am Hofe Carl Augusts in seinem ersten Weimarer Jahrzehnt – und damit sein eigenes Agieren auf dem Feld der politischen Geschichte – als zutiefst unbefriedigend, für den Staat weitgehend fruchtlos und für seine persönliche Entwicklung keineswegs förderlich.68 Diese Erfah_____________ 62 63 64 65 66 67
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FA I/18, S.11: Zum Shakespears Tag. Neuhaus, Artikel ‚Götz von Berlichingen’, S.89. Jeßing, Johann Wolfgang Goethe, S.49. Jeßing, Johann Wolfgang Goethe, S.54. Jeßing, Johann Wolfgang Goethe, S.54. Im Hinblick auf die Fragestellung nach den Möglichkeiten und Grenzen des Einzelnen, auf den Lauf der Geschichte einzuwirken, entwirft auch Egmont ein ähnlich pessimistisches Bild wie Götz von Berlichingen, so dass an dieser Stelle auf eine nähere Vorstellung dieses Dramas verzichtet wird; vgl. zu einem ersten Überblick mit weiterführenden Literaturangaben den Artikel im Goethe-Handbuch: Georg-Michael Schulz, Artikel ‚Egmont’. In: GHb. Bd. 2, hg. von Bernd Witte u.a., Stuttgart und Weimar 1996, S.154– 172.S.154–172. Hier liefert vor allem der Abschnitt „Inhalt, politische und religiöse Aspekte“ (S.157–161) in diesem Zusammenhang relevante Informationen, darüber hinaus wird am Ende des Artikels ein kurzer Überblick zur Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Gehalt des Stückes in der Forschung geboten (vgl. S.168f.). Der plötzliche Aufbruch nach Italien im September 1786 wurde in diesem Zusammenhang häufig als ‚Flucht’ vor den Amtsaufgaben in Weimar interpretiert und von Goethe in seiner rückblickenden Darstellung der Italienischen Reise auch gezielt so inszeniert; als
rung bestärkte ihn vermutlich in seiner Einschätzung der geringen Wirkungsmöglichkeiten des Einzelnen auf den Gang der (politischen und gesellschaftlichen) Geschichte. Dennoch bedeutet die Überzeugung, dass „der Mensch“ in der Geschichte „nur Mitspieler in einem im Ganzen nicht zu übersehenden Schauspiel“69 sei, noch nicht zwangsläufig, dass dieses Schauspiel selbst plan- und sinnlos sei und jeglicher Kontinuitäten entbehre. In diesem Zusammenhang stellt jedoch die Französische Revolution, die gerade vom deutschen Ausland gleichsam aus der (zunächst!) unbeteiligten Zuschauerperspektive „wie ein historisches Schauspiel erlebt wurde“ und „Geschichte, geschichtliche Veränderung […] durch [ihre...] sensationelle und originelle Handlungs- und Ereignisfolge […] in ganz neuer Weise, begeisternd und erschreckend, sichtbar“70 machte, einen radikalen Einschnitt nicht nur für Goethe, sondern für das gesamte Geschichtsdenken des späten 18. Jahrhunderts dar.71 Dabei unterscheidet sich Goethes Bewertung der Ereignisse und Entwicklungen und die Konsequenzen, die sie für seine Geschichtsentwürfe haben, allerdings in wesentlichen Punkten von zahlreichen – besonders den mehr geschichtsphilosophisch als geschichtswissenschaftlich ausgerichteten – Geschichtsdenkern seiner Zeit, etwa von Johann Gottfried Herder und Immanuel Kant. Seit der gemeinsamen Straßburger Zeit hatte sich Goethe lange Zeit von dem fünf Jahre älteren Herder inspirieren lassen. Auch im Rückblick von Dichtung und Wahrheit wird Herder als Mentor, als Vor- und Leitbild dargestellt. Dabei wurde auch Goethes Interesse für historische Fragestellungen und besonders für einzelne geschichtliche Epochen _____________
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Beispiel für die Fülle dieser Art der Interpretation (des historischen Aufbruchs nach Italien wie auch der Italienischen Reise) sei hier nur auf den Aufsatz von Göres hingewiesen: Jörn Göres, Die Zurückgebliebenen. Reaktionen des Freundeskreises auf Goethes Italien-Erlebnis. In: Goethe in Italien. Eine Ausstellung des Goethe-Museums Düsseldorf, hg. von Mainz 1986, S.146–153, bes. S.146. Lange, Goethes Geschichtsauffassung, S.4. Ernst Schulin, Die Epochenschwelle zwischen Aufklärung und Historismus. In: Epoche der Historisierung, hg. von Wolfgang Küttler u.a., Frankfurt a.M. 1997, S.17–26 (Geschichtsdiskurs. In 5 Bänden. Bd. 3), hier S.21. Schulin sieht die immer wieder konstatierte Epochenschwelle zwischen Aufklärung und Historismus – viel mehr als von der früheren historischen Forschung geleistet – ganz deutlich eingrenzbar auf die Veränderungen, die Geschichtswissenschaft und Geschichtsinteresse speziell in Deutschland durch das Erlebnis der Französischen Revolution erfahren haben; vgl. Schulin, Die Epochenschwelle zwischen Aufklärung und Historismus. Entsprechend geht auch Koselleck von einer „geschichtsphilosophischen Wende zur Zeit der Revolution“ aus und widmet der Darstellung ihrer Ergebnisse einen gesonderten Abschnitt; vgl. Koselleck, Artikel ‚Geschichte, Historie’, S.673–678.
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von Herder angeregt und befördert – Hugh Barr Nisbet spricht Herder sogar den „wichtigste[n] Einfluß auf Goethes Geschichtsdenken“72 zu. Tatsächlich lassen sich einige wichtige Parallelen von Goethes Geschichtsdenken zu Herders früher geschichtsphilosophischer Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) aufzeigen, in der Positionen formuliert sind, von denen sich Herder selbst später – in seiner vierbändigen Abhandlung Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) – entfernt hat – ganz im Gegensatz zu Goethe, so dass „man ohne allzu viele Ungenauigkeit sagen [kann], daß der späte Goethe oft Argumente des frühen Herders gegen diejenigen des späten Herders ins Feld führt.“73 Dass es sich hierbei vor allem um Herders Bereitschaft, Analogien zwischen Geschichte und Natur zu ziehen und in beiden Bereichen ähnliche ‚Gesetze’ wirken zu sehen, sowie um seinen grundsätzlichen Fortschrittsoptimismus geht, die Goethe nicht nachzuvollziehen gewillt ist, wird an anderer Stelle zu erläutern sein – ein zentraler Unterschied liegt jedoch a u c h in der Bewertung der revolutionären Ereignisse in Frankreich. Hans Wolf Jäger konstatiert Herder zu Beginn der 1790er Jahre „zweifellos […] revolutionäre[n…] Enthusiasmus“74 und sieht gerade in dieser „Revolutionsfreundlichkeit“75 einen Grund für den Bruch der Jahrzehnte alten Freundschaft zwischen Goethe und Herder. Herder urteilt 1799 über die Ereignisse in Frankreich: „Die große Nation gab ein großes Schauspiel“ – allerdings aus seiner Perspektive weniger ein abschreckendes als ein lehrreiches, weil es neue, den Weg zu Freiheit und Humanität weisende Ideen aufgezeigt habe, die, obwohl sie nicht gleich zum Erfolg geführt hätten, sich womöglich in der Zukunft verwirklichen ließen: Denn „ungeheuer viele sonst schlafende Kräfte hat sie [=die französische Nation] geweckt und Gedankenverbindungen gewagt, die nicht sofort ausgelöscht werden mögen.“76 Gewaltsame Umbrüche im Geschichtsprozess werden von Herder also nicht kategorisch verurteilt, sondern nach ihrem Nutzen für die (vor allem geistige und moralische) Entwicklung der Menschheit, für die Ausbreitung der Humanität be_____________ 72 73 74 75 76
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Nisbet, Goethes und Herders Geschichtsdenken, S.115. Nisbet, Goethes und Herders Geschichtsdenken, S.133. Jäger, Herder und die Französische Revolution, S.300. Jäger, Herder und die Französische Revolution, S.299. Johann Gottfried Herder, Herders Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1877–1913, Bd. 23, S.14. Die „Morgenstunden-Gespräche“ zur Zeitschrift Aurora, aus denen die zitierten Äußerungen stammen, sind in die Herder-Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlags nicht aufgenommen, sodass an dieser Stelle auf die von Suphan herausgegebene Werkausgabe zurückgegriffen wird.
fragt; ja er ist sogar f ü r sozialpolitische Revolutionen, weil „[a]lle Formen der Staatlichkeit letztlich zu eliminieren [sind], da es Formen der Unterdrückung und Fesselung der Individuen und künstliche Institutionen sind.“77 Kant, dessen bereits 1784 in seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht entwickeltes teleologisches Konzept einer Geschichte a priori Goethe grundsätzlich ablehnt, geht von einem Geschichtsziel aus, auf das die Menschheitsentwicklung kontinuierlich zulaufe: Dieses sei „[…] die das Recht verwaltende bürgerliche Verfassung und darüber hinaus der ‚weltbürgerliche Zustand’, der ewige Friede zwischen den Staaten.“78 Die Französische Revolution begrüßt Kant fünf Jahre später begeistert als Bestätigung seiner Hypothesen: Er wertet sie als ‚Geschichtszeichen’, das den ‚Beweis’ für den Fortschritt in der Geschichte darstelle, weil sich in den Ereignissen in Frankreich der Wille der Menschheit zu einer vollkommenen Verfassung manifestiere.79 Es geht ihm also weniger um den Weg, mit dem dieses Ziel beschritten wird, als um die Ergebnisse, um das durch die Revolution neu Geschaffene. Goethe dagegen lehnt revolutionäre Umbrüche als Mittel, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen (selbst wenn sie am Ende Positives herbeiführen sollten), v.a. deswegen grundsätzlich ab, weil sie plötzlich und unberechenbar, ohne Rücksicht auf Gesetz und Ordnung (mit seinen eigenen Worten ‚inkalkulabel’) langfristig Gewordenem gewaltsam ein Ende setzen und Kontinuitäten zerstören: „Jede Revolution geht auf Naturzustand hinaus. Gesetz- und Schamlosigkeit. Picarden, Wiedertäufer, Sansculotten.“80 Dementsprechend reagiert er auf die Ereignisse in Frankreich 1789 und schließlich erst recht während der terreurs der Jakobiner mit Unsicherheit, tiefer Erschütterung und _____________ 77 78
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Förster, Johann Gottfried Herder: Weltgeschichte und Humanität, S.373. Ulrich Dierse und Gunter Scholtz, Artikel ‚Geschichtsphilosophie’. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Völlig neubearbeitete Ausgabe des ‚Wörterbuchs der philosophischen Begriffe’ von Rudolf Eisler. Bd. 3, hg. von Joachim Ritter, Darmstadt 1974, Sp. 416–439, hier Sp. 422. Weil es an dieser Stelle zunächst ausschließlich auf Kants Bewertung der Französischen Revolution ankommt, wird hier nicht näher auf sein teleologisches Geschichtskonzept eingegangen; vgl. Näheres dazu im nächsten Abschnitt oder ausführlicher und mit weiterführenden Literaturverweisen die Artikel ‚Fortschritt’ und ‚Geschichte’ in Rudolf Eisler, Kant-Lexikon, Hildesheim 1961, S.156–159 sowie 185–187. In diesem Sinne sei dieser Fortschritt in der Geschichte zunächst ein Fortschritt in der Legalität, nicht zwangsläufig auch in der Moralität. FA I/13, S.70: Spruch *1.470.
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distanzierter Skepsis.81 Er vertritt gerade nach den Erfahrungen in Frankreich – im Gegensatz zu Herder und Kant – eine entschieden antirevolutionäre Position, die den revolutionären Umstürzen ein Konzept der Reform, der innergesellschaftlichen Befriedigung und Entspannung entgegensetzt. Zwar diagnostiziert auch er im Nachhinein dem Ancien régime politisches und moralisches Versagen, dennoch ist er davon überzeugt, dass die „Emanzipation der Menschheit […] mit Tatkraft und Besonnenheit auf dem Weg allmählicher Humanisierung und Kultivierung, auf dem Wege einer umfassenden evolutionären Wandlung voranzubringen“82 sei. Bei Goethe ist vielleicht weniger von einem radikalen Einschnitt oder ‚Umbruch’ im Hinblick auf seine Vorstellungen von Geschichte auszugehen als bei anderen Zeitgenossen: Vielmehr integriert er die Erfahrung der Französischen Revolution in sein Konzept der (politischen und gesellschaftlichen) Geschichte, deren Verlauf sich planlos und ohne Rücksicht auf langfristig, evolutionär Gewachsenes vollziehe und in der das einzelne Individuum weitgehend – jedenfalls, was politische und gesellschaftliche Entwicklungen anbelangt – machtlos sei. Durch die Französische Revolution festigt sich bei ihm einerseits die Überzeugung, dass der Mensch als Kettenglied zwischen Natur und Geschichte83 fungiere und so dem ‚Chaos’, der Planund „Sinnlosigkeit“84 der Gesellschaftsgeschichte und ihrer oft zerstörerischen Kraft ein evolutionäres Konzept des organologischen Wachstums entgegensetzen müsse. Andererseits erscheinen ihm diese Versuche, in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht etwa durch Reformen – ohne gewaltsame Umstürze – positive Entwicklungen herbeizuführen, vor der ‚incalculablen’ und ‚incommensurablen’ Übermacht der Geschichte meist zum Scheitern verurteilt zu sein. Der Kampf des Alten, Bestehenden, Beharrenden mit Entwicklung, Aus- und Umbildung ist immer derselbe. Aus aller Ordnung entsteht zuletzt Pedanterie; um diese los zu werden zerstört man jene, und es geht eine Zeit hin bis man gewahr wird daß man wieder Ordnung machen müsse. Classicismus und Ro-
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Vgl. umfassend dazu Hans-Dietrich Dahnke, Artikel ‚Französische Revolution’. In: GHb. Bd. 4.1, hg. von Bernd Witte u.a., Stuttgart und Weimar 1996, S.313–319. Dahnke, Hans-Dietrich, Artikel ‚Französische Revolution’, S.316. Natur und (Gesellschafts-)Geschichte bezeichnen in Goethes Denken und Begriffsverwendung – genauso wie die ihnen jeweils zugeordneten Begriffe ‚Evolution’ und ‚Revolution’ – entgegengesetzte Polaritäten. Goethes Sichtweise entspricht in diesem Zusammenhang den Überlegungen von Reinhart Koselleck, der als „Gegenbegriff“ zum „Sinn“ in der Geschichte nicht etwa den „Unsinn“, sondern den „neutrale[n…] Ausdruck“ „Sinnlosigkeit“ favorisiert, gerade weil dieser „die Sinnfrage umgeht“ (Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, S.9).
manticismus, Innungszwang und Gewerbsfreyheit, Festhalten und Zersplittern des Grundbodens, es ist immer derselbe Conflict der zuletzt wieder einen neuen erzeugt. Der größte Verstand des Regierenden wäre daher diesen Kampf so zu mäßigen, daß er ohne Untergang der einen Seite sich ins Gleiche stellte; dieß ist aber den Menschen nicht gegeben und Gott scheint es auch nicht zu wollen.85
„Kampf“, „Conflict“, ‚Zerstörung’ sind hier im Hinblick auf den Geschichtsprozess eindeutig negativ besetzte Begriffe. „Verstand“, „Ordnung“ und ‚Mäßigung’ werden dagegen als Handlungsmaximen für den „Regierenden“ präsentiert: für herausragende Individuen, die in Gesellschaft und Politik etwas bewirken können und wollen. Die tatsächlichen Erfolgsaussichten, die Wirksamkeit solcher friedlicher Konzepte, mit denen sich ein Einzelner – wie Götz in Goethes frühem Drama – gegen den Lauf der Geschichte stemmt, werden dabei jedoch sogleich in Frage gestellt. Das zitierte Beispiel aus den Maximen und Reflexionen bringt Goethes Grundüberzeugung noch einmal deutlich auf den Punkt und bestätigt darüber hinaus das Fazit, das Dahnke am Ende seines Artikels ‚Revolution’ im Goethe-Handbuch zieht: Goethe habe „kontinuierlich, ständig weiterdenkend und modifizierend […] ein umfassendes Evolutionskonzept verfolgt, das Revolutionen […] aus dem Instrumentarium bewußten und vernünftigen menschlichen Handelns auszuschließen bestrebt war.“86 a. Eine Möglichkeit, Kohärenz zu finden: kulturgeschichtliche Phänomene und biographische Geschichte als e i n Schlüssel zur Geschichte In der Politik- und Gesellschaftsgeschichte findet Goethe kaum etwas Dauerhaftes, Zuverlässiges – und dieses Ungeordnete, Unregelmäßige erschwert es ihm, sich überhaupt einen Zugang zu historischen Phänomenen zu bahnen: Entsprechend steht er nicht nur geschichtsphilosophischen ‚Spekulationen’ über den Verlauf der Geschichte skeptisch gegenüber, sondern deutlich auszumachen ist außerdem, welche Bereiche der Geschichte ihn kaum interessieren und in welchen Bereichen er dagegen eher einen Schlüssel zu historischer Erkenntnis sucht und schließlich findet. Tatsächlich lässt sich ein Interesse für das, was Goethe selbst im eingangs aus den Maximen und Reflexionen zitierten Beispiel die „Weltgeschichte“ nennt und damit politische, militärische oder gesellschaftliche Phänomene von weit reichender Bedeutung meint – zum Beispiel für die großen Haupt- und Staatsaktionen einzelner Nati_____________ 85 86
FA I/13, S.36: Spruch 1.216. Dahnke, Artikel ‚Französische Revolution’, S.319.
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onen, auch in ihren Auswirkungen auf andere Nationen – kaum nachweisen. Dennoch bedeutet dies nicht, dass ihn ‚die Geschichte’ überhaupt nicht interessiert habe. Vielmehr ist eine Verschiebung zu erkennen, die sich in einer verstärkten Aufmerksamkeit zum einen für kulturgeschichtliche Phänomene, zum anderen für die Geschichte bedeutender Individuen – also in einem biographisch akzentuierten Geschichtsinteresse – niederschlägt: Diese Bereiche der Geschichte stellen sich ihm weniger ‚incalculabel’ und ‚incommensurabel’ dar als die „Weltgeschichte“ und ermöglichen ihm einen Sinn, eine Ordnung in den Ereignissen und Entwicklungen zu sehen. Was den dezidiert kulturgeschichtlichen Fokus ausmacht, so nimmt Goethe im Geschichtsdiskurs seiner Zeit keineswegs eine besonders herausgehobene Stellung ein. Die Geschichtswissenschaft der Aufklärung wandte sich mehr und mehr gegen eine streng politisch ausgerichtete Geschichtsschreibung87 und fragte nicht länger nur nach der Geschichte von Fürsten und Königen, sondern begann, in einer mehr anthropologisch ausgerichteten Perspektive die ‚kleinen’ Menschen und ihre Lebensumstände und neben der Politikgeschichte andere Bereiche, insbesondere kulturelle Entwicklungen, in den Blick zu nehmen. Schon bei Voltaire hat die Geschichte vor allem „Sinn als Kulturentwicklung“: Er setzt die Gipfelepochen der Weltgeschichte mit den „Blütezeiten der Kultur“ gleich „und das bedeutet immer ein glückliches Zusammentreffen geistig-fruchtbarer Situationen mit günstigen politischen Rahmenbedingungen, in denen sich dann eine Fülle kreativer Leistungen verschiedener Art gleichzeitig zeigt“.88 Signifikant für den spezifisch deutschen Zugang zu Geschichte ist in diesem Zusammenhang, dass das erste große historiographische Werk in deutscher Sprache, das den Vorsprung der Engländer und Franzosen auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung wohl nicht einzuholen, aber doch zu verringern wusste, Johann Joachim Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) und damit eine im engeren Sinne kunstgeschichtliche Darstellung war – ein Werk, das auf den jungen Goethe bereits während seiner Leipziger Studienzeit einen prägenden Einfluss ausübte.89 Ähnlich initiierte die erste intensivere und bewusstere historische Reflexion, die bei Goethe in Straßburg von dem engen Kontakt mit Herder wie auch von der Lektüre der Schriften Justus Mösers angeregt wurde, ein gezielt _____________ 87 88 89
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Vgl. Laudin, Goethe und die Historiographie seiner Zeit, bes. S.174f. Maurer, Die Geschichtsphilosophie des jungen Herder, S.144. Vgl. die entsprechenden Kapitel in Dichtung und Wahrheit; auch noch die ‚Folgen’ von Winckelmanns Einfluss auf Reiseroute und -verlauf in Italien, wo Goethe weitgehend gezielt auf dessen Spuren reiste.
kulturgeschichtliches Interesse, das bis an Goethes Lebensende für seine Auseinandersetzung mit Geschichte prägend blieb.90 Berührungspunkte zwischen Goethes Geschichtsdenken, den frühen geschichtsphilosophischen Schriften Herders und den historiographischen Werken Mösers liegen außerdem in ihrer gezielten Beschäftigung mit dem Individuellen und Partikularen: Um eine detaillierte Milieuschilderung geht es Möser, um differenzierte Beobachtungen in möglichst verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, um so die Spezifika eines Zeitabschnitts herausarbeiten und einen genauen historischen Querschnitt leisten zu können. Bei Goethe kristallisiert sich als Methode zu einem ähnlichen Zweck, nämlich zu differenzierter, Besonderheiten wahrnehmender historischer Erkenntnis – als Gegenpol zu den großen Bögen der geschichtsphilosophischen Ansätze verstanden – immer mehr das ‚biographische Prinzip’ heraus: Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Auseinandersetzung mit bedeutenden Individuen schon im Zusammenhang mit seinen frühen Geschichtsdramen eine wichtige Rolle spielte. Dies liegt jedoch nicht allein daran, dass es Goethe immer und vor allem darum geht, die Kollisionen zwischen diesen Persönlichkeiten und dem Lauf der Geschichte aufzuzeigen. Vielmehr liegt das ‚biographische’ Prinzip, das Goethe gezielt und in vielfältiger Weise – eben (und darauf wird ausführlich zurückzukommen sein) auch in seinen biographischen und ganz besonders in seinen autobiographischen Arbeiten – als Zugangsmöglichkeit zur Geschichte nutzt, zum einen darin begründet, dass ihm das Individuum als ‚Spiegel’ seiner Epoche fungiert, und zum anderen darin, dass er in der evolutionären Bildung des Individuums genau das findet, was er in der „Weltgeschichte“ vermisst: eine kontinuierliche und zielgerichtete Entwicklung. Erklären lässt sich diese ‚Flucht’ in die biographische Geschichte vor dem Hintergrund, dass Goethe sich selbst zeit seines Lebens als Naturwissenschaftler gesehen und seine naturwissenschaftlichen Schriften als seine bedeutendsten Werke ausgegeben hat – besonders interessiert war er an naturwissenschaftlichen Phänomenen, vor allem an evolutionären Konzepten. Prägend für diesen naturhistorischen, genetischen Blick auf natürliche Entwicklung ist die Annahme einer aufsteigenden Stufenfolge der Lebewesen und die Suche nach der Einheit in der Variabilität, wie sie sich bekanntermaßen in seinen Arbeiten zur Morphologie, hier besonders bei seiner Suche nach der so genannten ‚Urpflanze’ manifestiert, bei der alle Pflanzenarten auf einen gemeinsa_____________ 90
Vgl. entsprechend auch Dahnke, Artikel ‚Geschichtsschreibung’, S.367.
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men Ursprung zurückgeführt werden sollten. Morphologische Betrachtungen dienten demnach in der Naturgeschichte als „methodische[…] Mittel […, um] sich dem Verborgenen, dem Inkommensurablen anzunähern – rückbezogen aber stets wieder auf die Realien, mit deren Hilfe es möglich ist, sich zu vergewissern, daß in der Natur Gesetze und Ordnungen herrschen“91 – dass diese Methode zielführend sei und man auf diesem Weg tatsächlich Rückschlüsse auf „Gesetze und Ordnungen“ ziehen könne, ja dass solche überhaupt in der Natur herrschten, wurde – ganz anders als im Hinblick auf die „Weltgeschichte“ – von Goethe nie ernstlich in Zweifel gezogen. Dem Individuum kommt innerhalb dieses Konzepts, das der „Weltgeschichte“ Chaos zuschreibt und ihr skeptisch-distanziert begegnet, in der Naturgeschichte aber durchaus eine geordnete Entwicklung, ein geregeltes Wachsen annimmt und von der sich Goethe deswegen angezogen fühlt, eine wichtige Brückenfunktion zu. Zum einen gehört der Mensch der Natur an und ist damit Teil der evolutionären Entwicklung. Deswegen fungiert die gleichsam evolutionäre Bildung des Individuums als Gegenbild zur unberechenbaren Politik- und Gesellschaftsgeschichte: Hier kann man etwas Dauerhaftes, Zuverlässiges finden – dies erleichtert Goethe den Zugang zu historischen Phänomenen und steigert außerdem sein Interesse, zumal ihm dieser Ansatz eine optimistischere Zukunftsperspektive eröffnet, weil sie auf die (zunehmende) Bildung des Individuums setzt.92 Zum anderen ist gerade die ‚Bildung’ des Individuums eng mit dessen ‚Epoche’ verwachsen; es wird von seinem „Jahrhundert“ geprägt und prägt dieses – sofern es sich um eine in Politik, Kultur oder Wissenschaft herausragende Persönlichkeit handelt – wiederum selbst mit, ist also entsprechend ebenso Teil gesellschaftlicher Entwicklungen.93 Die Tendenz, die Nisbet für das 18. Jahrhundert generell als prägend und wegweisend für die Entstehung der modernen Naturwissenschaften wie des modernen historischen Bewusstseins aufzeigt, nämlich _____________ 91
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Dorothea Kuhn, Geschichte, begriffen als Beschreibung, als Biographie und als Historie. Goethes Konzepte. In: Goethe und die Verzeitlichung der Natur, hg. von Peter Matussek, München 1998, S.44–57, hier S.50. Dahnke weist in diesem Zusammenhang auf die Parallele zu Schillers der Französischen Revolution entgegen gesetztem Ansatz ästhetischer Erziehung hin; vgl. Dahnke, Artikel ‚Französische Revolution’, S.317. Auf dieses Konzept einer Wechselwirkung zwischen „Individuum“ und seinem „Jahrhundert“, das das Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit bereits programmatisch ankündet und demzufolge der Autobiographie eine gleichsam historiographische Funktion zugewiesen wird, ist im Zusammenhang mit Goethes Autobiographieverständnis im folgenden Kapitel noch ausführlich einzugehen.
die Natur als Entwicklungsprozess zu begreifen und in diesem Zusammenhang „die menschliche Geschichte zunehmend als Teil der Natur und als Gegenstand der Naturforschung zu betrachten“, und die „zu neuartigen Versuchen, historische Gesetze zu entdecken und dadurch den zukünftigen Lauf der Geschichte vorauszusagen oder sogar zu beherrschen“94 führte, trifft für Goethes Zugang zur Geschichte dementsprechend nur zur Hälfte zu: Die „Weltgeschichte“ wird dezidiert als Gegenbild zur Natur entworfen. Das Gefühl der zunehmenden Isolation von den Zeitgenossen – erst recht, was das eigene klassizistische Kunstprogramm anbelangt, von dem sich zunächst die literarische Avantgarde immer mehr distanzierte und schließlich mit ihrem ‚Gegenprogramm’ tonangebend wurde – in den Jahren nach Schillers Tod, verbunden mit der stärker werdenden Abneigung gegen viele gesellschaftliche, als ‚chaotisch’ empfundene Entwicklungen der Gegenwart führte bei Goethe zu einer Besinnung „auf Kontinuitäten, auf Quellen und Fundamente der eigenen Existenz. […] In der Hinwendung zur Aufarbeitung vergangener Phänomene distanzierte er sich von der Gegenwart und gewann zugleich ein diese Gegenwart einschließendes tieferes Verständnis für den Gang der menschlichen Dinge.“95 In diesem Zusammenhang ist die Arbeit an den Autobiographischen Schriften während der letzten zwanzig Jahre seines Lebens zu sehen. Dass aus dem ‚biographischen Prinzip’ in dieser Zeit dann vor allem ein ‚autobiographisches Prinzip’ wurde, mag daran liegen, dass die eigene Entwicklung – vielleicht noch mehr als die anderer ‚bedeutender’ Individuen – dazu geeignet erschien, sie als ‚Gegenbild’ zur ‚incommensurablen’ „Weltgeschichte“ und hingegen mehr ausgerichtet an organologischem, geregelten und zielgerichteten Wachstum zu gestalten. Dies bleibt anhand der Textanalysen zu überprüfen. B. Skepsis gegenüber zeitgenössischem Fortschrittsoptimismus: die zyklische Wiederkehr des Guten und des Schlechten in der Geschichte Der „Kampf“ von alt und neu sei „immer derselbe“; aus „Ordnung“ entstehe „Pedanterie“, die schließlich wieder „zerstört“ werde; nach einer gewissen Zeit der Anarchie werden die Menschen jedoch erneut „gewahr […] daß man wieder Ordnung machen müsse“ – schon _____________ 94
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Nisbet, Naturgeschichte und Humangeschichte bei Goethe, Herder und Kant, S.15. Zu weiterführenden, sehr kenntnisreichen Informationen zum Verhältnis von Natur und Geschichte bei Goethe, Herder und Kant, die hier nicht ausführlich dargestellt werden können, sei auf diesen Aufsatz verwiesen. Dahnke, Artikel ‚Geschichte’, S.362.
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das zitierte Beispiel aus den Maximen und Reflexionen lässt vermuten, dass sich Goethes Perspektive auf den Verlauf der Geschichte (hier dezidiert in ihrer ‚modernen’ Bedeutung als Kollektivsingular und Bewegungsbegriff für einen übergreifenden, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einschließenden Geschehenszusammenhang) grundlegend von derjenigen der Aufklärungshistorie und dabei von derjenigen Kants und Herders unterscheidet: Keineswegs geht Goethe hier von einem Fortschritt der Geschichte aus, schon gar nicht – wie etwa die den ‚Sieg’ der ‚Vernunft’ in der eigenen Gegenwart feiernden und optimistisch in die Zukunft blickenden Aufklärer96 – von einem linearen Fortschritt, sondern vielmehr von einem zyklischen Geschichtsprozess. Bei der Arbeit an der Farbenlehre, bei der konzeptionelle Fragen mit Friedrich Schiller erörtert werden, schlägt Goethe – im Hinblick auf wissenschaftsgeschichtliche, nicht etwa auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen! – vor, historischen Perioden „in einer Kreis- oder vielmehr Spiralbewegung zu folgen, in der alle wahren Ansichten und alle Irrtümer immer wieder anzutreffen seien.“97 Als „Irrtümer“, ja gar als ‚krank’ bezeichnet Goethe besonders in seinen letzten Lebensjahrzehnten Entwicklungen, deren Zeitzeuge er wird, die er aber mehr oder weniger scharf kritisiert – und dabei sind häufig vor allem solche gesellschaftlichen oder literarischen und kulturellen Entwicklungen gemeint, die er als ein Abkommen vom vormals bereits in die ‚richtige’, ‚gesunde’ Richtung eingeschlagenen Weg – mit anderen Worten: als ein Abkommen _____________ 96
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Zwar weisen Bödeker u.a. in ihrer Einleitung zum Sammelband Aufklärung und Geschichtswissenschaft darauf hin, dass der Fortschrittsgedanke der Aufklärung „komplexer, historischer [war] als spätere Forschung annahm und unterstellte“ (Hans Erich Bödeker, u.a., Einleitung: Aufklärung und Geschichtswissenschaft. In: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hg. von Hans Erich Bödeker u.a., Göttingen 1986, S.9–22 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 81), hier S.19), dennoch bleibt es sicherlich zutreffend, dass die klassischen Fortschrittstheoretiker Frankreichs wie z.B. Turgot und Condorcet, die „den Entwicklungsgang der Menschheit […] als einen dreistufigen, jedoch streng zielgerichteten Prozeß [begreifen], der vom Naturzustand über die Ausbildung von Wissenschaft und Technik zu deren weltweiter Anwendung im Dienst der Perfektibilität des Menschen führt“ (Gunter Scholtz, Artikel ‚Geschichte, Historie’. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Völlig neubearbeitete Ausgabe des ‚Wörterbuchs der philosophischen Begriffe’ von Rudolf Eisler. Bd. 3 hg. von Joachim Ritter, Darmstadt 1974, Sp. 344– 398, hier Sp. 357), auch in der deutschen Aufklärung sehr wirkungsmächtig waren und selbst noch auf Herder einen zentralen Einfluss ausübten (vgl. Förster, Johann Gottfried Herder: Weltgeschichte und Humanität, S.363). Kuhn, Geschichte, begriffen als Beschreibung, als Biographie und als Historie, S.51. Dass dieser Punkt – offensichtlich produktiv – gerade mit Schiller diskutiert wird, ist signifikant und wirft die Frage auf, inwiefern Analogien in Goethes und Schillers Vorstellungen vom Geschichtsprozess bestehen.
von den „wahren Ansichten“ – erklärt und bewertet. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang die polarisierende Gegenüberstellung von „Classicismus und Romanticismus“ im zitierten Beispiel aus den Maximen und Reflexionen, in der sich die für den alten Goethe selbst sehr schmerzliche Zeiterfahrung artikuliert, dass das ‚Gute’, ‚Gesunde’ – die eigene klassizistische Kunstauffassung, an der er bis an sein Lebensende festhielt – untergehe und vom ‚Schlechten’, ‚Kranken’ – der romantischen Bewegung, die in der literarischen und kulturellen Öffentlichkeit längst tonangebend war – verdrängt werde.98 Nicht zuletzt diese eigene Erfahrung von geschichtlichen Entwicklungen, die er selbst als ‚Rückwärtsbewegung’ interpretiert, werden zur Bestätigung seiner radikalen Ablehnung von linearen Fortschrittstheorien, die den Geschichtsdiskurs seiner Zeit prägten, geführt haben. Überhaupt ist es eine Leistung der Aufklärung – und diese Entwicklung hängt eng mit der Etablierung des ‚neuen’ Begriffsverständnis von ‚Geschichte’ zusammen – mehr als die einzelnen Ereignisse nun den Geschichtsprozess in seinem Gesamtzusammenhang in den Blick zu nehmen, die „Historie als Entstehungsbedingung der Gegenwart, als begründende Herleitung der gegenwärtigen Zustände“99 zu begreifen und so nach ihren kausalen Zusammenhängen zu fragen: Neben die Forderung nach chronologischer Richtigkeit, nach einer Auflistung der einzelnen ‚Geschichten’ trat „die Forderung nach kausaler Begründung der Ereignisse […] und führte schließlich zur Verbindung von Temporalität und Kausalität“,100 zu dem wissenschaftlichen Anspruch, Ge_____________ 98
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Auf Goethes Auseinandersetzung mit der Romantik kann an dieser Stelle nur stichwortartig eingegangen werden: Sie erstreckt sich über die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens und manifestiert sich zum einen in Rezensionen programmatischen Charakters von romantischen Schriften, die Goethe etwa in der Zeitschrift Kunst und Altertum veröffentlicht – signifikant ist auch die Zusammenarbeit mit Heinrich Meyer an dessen Aufsatz „Neu-deutsche religios-patriotische Kunst“, einer scharfen Polemik gegen die romantische Kunst. Zum anderen finden sich neben den veröffentlichten Texten auch zahlreiche Belege in Goethes Briefen und Gesprächen. Immer wieder wird das romantische Kunstprogramm polarisierend den eigenen klassizistischen Positionen gegenübergestellt und der von Goethe propagierte Gegensatz gipfelt schließlich in der viel zitierten Formulierung in einem Gespräch mit Eckermann: „Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke“ (FA II/12, S.324: Gespräch mit Eckermann, 02. 04. 1829). Für detailliertere aktuellere Ausführungen zu diesem vielschichtigen Themenkomplex sei auf die – auch in ihrer europäischen Perspektive interessante – Monographie von Hoffmeister und auf den Ausstellungskatalog von Perels verwiesen: Gerhart Hoffmeister, Goethe und die europäische Romantik, München 1984; Christoph Perels (Hg.), „Ein Dichter hatte uns alle geweckt“. Goethe und die literarische Romantik. Katalog zur Ausstellung im Frankfurter Goethe-Museum 19. Juni – 31. Juli 1999, Frankfurt a.M. 1999. Bödeker u.a., Einleitung: Aufklärung und Geschichtswissenschaft, S.17. Bödeker u.a., Einleitung: Aufklärung und Geschichtswissenschaft, S.19.
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schichte in ihren Zusammenhängen und ihrer Prozesshaftigkeit zu begreifen und zu e r k l ä r e n , anstatt sie bloß zu überliefern. Die Annahme, dass dieser Kausalzusammenhang der Geschichte zweckmäßig sei, einem – nach den meisten Konzepten dem Menschen verborgenen – göttlichen oder natürlichen Plan folgend auf ein – sicherlich im Einzelnen unterschiedlich bestimmtes, jedenfalls aber positiv bewertetes – Ziel zulaufe, demnach also teleologische und optimistische Fortschrittskonzepte prägen den Geschichtsdiskurs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.101 „Daß die Welt im ganzen immer zum Besseren fortschreite, dies anzunehmen berechtigt keine Theorie, aber wohl die reine praktische Vernunft, welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet“, formuliert auch Kant in seiner Schrift Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolfs Zeiten in Deutschland gemacht hat?102 Über seine zentralen geschichtsphilosophischen Ansichten gibt darüber hinaus seine Abhandlung Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht Auskunft: Er geht hier von einem „Plane der Natur [aus], der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele“,103 die durch einen beständigen Fortschritt zum Besseren erreicht werde. Gemeint ist damit zum einen eine bürgerliche, freiheitliche Verfassung der einzelnen Staaten, zum anderen ein friedliches Verhältnis der Völker und Staaten untereinander. Der Vorstellung von dem „Plane der Natur“ kommt in dieser teleologischen Konzeption eine zentrale Funktion zu, da Kant bei der Beobachtung „der Menschen und ihre[s] Spiele[s] im großen gar keine vernünftige Absicht voraussetzen kann“ – deswegen müsse der Philosoph versuchen, „ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei.“104 _____________ 101
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Vgl. differenzierter als in diesem Zusammenhang notwendig auch auf einzelne Fortschrittstheorien der Aufklärung eingehend die einschlägigen Lexikonartikel Koselleck, Artikel ‚Geschichte, Historie’; Dierse und Scholtz, Artikel ‚Geschichtsphilosophie’ und Scholtz, Artikel ‚Geschichte’; hier auch Angaben zu weiterführender Literatur. Zitiert nach Eisler, Artikel ‚Fortschritt’, S.156. Zitiert nach Eisler, Artikel ‚Geschichte’, S.187. Eisler, Artikel ‚Geschichte’, S.186. Dass Kant die Französische Revolution in diesem Zusammenhang als ‚Geschichtszeichen’ und damit als Beweis für die „moralische Tendenz des Menschengeschlechts“ (Eisler, Artikel ‚Fortschritt’, S.158) interpretiert, wurde im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Positionen zur Erklärung und Bewertung der Französischen Revolution im Geschichtsdiskurs der Zeit schon erwähnt.
Ein ähnlicher Fortschrittsoptimismus wie bei Kant wird in Herders späteren Schriften zur Geschichte erkennbar, nachdem dieser Aspekt seines Geschichtsdenkens in seinen vom jungen Goethe begeistert aufgenommenen frühen Schriften – vor allem in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit – kaum so deutlich profiliert war. Hier standen noch ganz andere Themen im Vordergrund und es werden z.B. die Individualität der Völker und Nationen wie der einzelnen ‚Abschnitte’ der Geschichte betont. Bei Goethe stoßen die Gedanken des späteren Herder zur Fortschrittsfrage mehr und mehr auf Skepsis oder gar auf dezidierte Ablehnung. In den Ideen begreift Herder die „Entwicklung der Menschheit als ein[en] stufenweise aufwärtsführenden Prozeß wachsender Verwirklichung der Humanität und Vernunft“105 – partielle Rückschläge gesteht Herders Vorstellung von der Humanitätsprogression der Menschheit zwar ein, dennoch ist seine „Weltgeschichtskonzeption […] durch tiefen historischen Optimismus geprägt“, zumal – und das markiert einen besonders zentralen Unterschied zu Goethes Vorstellungen – die zunehmende Ausbildung von Humanität „naturgesetzlich fundiert“ sei.106 Gerade in diesem Ansatz, nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Geschichte und Natur zu suchen oder die Menschheitsgeschichte in die Geschichte der Natur zu integrieren, liegt eine Parallele in der Art, wie Goethe und Herder sich ‚Zugangsmöglichkeiten’ auf dem Feld historischer Erkenntnis verschaffen. Allerdings ergeben sich aus diesem gemeinsamen Ansatz ganz unterschiedliche Ergebnisse: Während Goethe die Unterschiede in der Entwicklung von Natur und Geschichte betont, sich ihm die erste geregelt, kontinuierlich als Evolutionsprozess vollzieht, die zweite eben gerade – wie im vorigen Abschnitt dargestellt – unberechenbar und chaotisch, ist Herder bereit, „Geschichts- und Naturbereiche beinahe gleichzusetzen und sogenannte ‚Naturgesetze’ der Weltgeschichte aufzustellen“ – eine Vorstellung, die im klaren Gegensatz zu „Goethes zunehmender Skepsis gegenüber der Möglichkeit [steht], auf der Basis derartiger Abstraktionen und Verallgemeinerungen Fortschrittsoptimismus zu bekunden“107, zumal Goethe Herders Konzept auch deswegen kritisch betrachtet, weil er ihm genau das vorwirft, was er bei Kant ablehnt: dass beide eine Geschichte a priori entwerfen, die den Bereich
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Förster, Johann Gottfried Herder: Weltgeschichte und Humanität, S.369. Förster, Johann Gottfried Herder: Weltgeschichte und Humanität, S.386. Nisbet, Goethes und Herders Geschichtsdenken, S.133.
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der Empirie und der ‚Anschauung’108 verlässt und sich dagegen in ‚gedanklichen Spekulationen’ verliere. Zu Kants – hier nur konturenhaft umrissenem – aufklärerischem Fortschrittskonzept finden sich in Goethes Geschichtsdenken kaum Parallelen, ebenso von den teleologischen Konzeptionen, die Herder in den Ideen darlegt, setzt er sich ab109 – einige Gemeinsamkeiten lassen sich in diesem Zusammenhang allerdings mit der Position Friedrich Schillers nachweisen, zumindest mit dessen zunehmend skeptischem Blick auf den Fortschrittsgedanken n a c h der Französischen Revolution, die in Schillers Auseinandersetzung mit Geschichte einen radikalen Einschnitt markiert.110 Zwar lehnte Schiller sich in seinem für sein ‚vorrevolutionäres’ Verständnis von Geschichte und seiner Einschätzung des Nutzens ihres Studiums maßgeblichen Text Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, der Jenaer Antrittsvorlesung von 1788, „noch eng an die Positionen der Aufklärung“111 an, indem er eine zweifelsfrei positive Einschätzung der eigenen Gegenwart des späten 18. Jahrhunderts formuliert,112 die für ihn „den Zenit der historischen _____________ 108 109
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Auf diese für Goethes eigenen ‚Zugang’ zur Geschichte zentrale Kategorie wird an späterer Stelle noch eingegangen werden. Vielmehr hält er weiter an zentralen Positionen von Herders Geschichtsdenken, wie sie sich in seinen frühen Schriften äußern, fest, die Herder selbst verwirft oder doch zumindest in den Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Geschichte rückt. In der Schiller-Philologie wurde mehrfach und mit überzeugenden Begründungen darauf hingewiesen, dass es ‚d i e Position’ Schillers in seiner Auseinandersetzung mit und in seiner Sicht auf Geschichte nicht gebe, sondern sein Geschichtsdenken sich im Laufe seines Lebens ausdifferenziert und auch in grundlegenden Überzeugungen gewandelt habe. Die folgende Darstellung im Rahmen dieses Kapitels kann daher nur grobe Linien skizzieren, die für den Zusammenhang mit der Fortschrittsfrage und im Hinblick auf Goethe relevant sind; für detailliertere Informationen zu Schillers Geschichtsdenken sei auf die verschiedenste Aspekte des Themas berührenden Beiträge in dem Sammelband Dann, Oellers, Osterkamp, Schiller als Historiker, und auf die Monographie von Thomas Prüfer verwiesen: Thomas Prüfer, Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft, Köln, Wien und Weimar 2002. Hofmann, Michael, Schiller. Epoche – Werke – Wirkung, München 2003 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte. Herausgegeben von Wilfried Barner und Gunter E. Grimm), S.78. „Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen, haben sich […] alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimgebracht haben“, heißt es euphorisch in der Antrittsvorlesung (Friedrich Schiller, Werke. 1940 begründet von Julius Petersen. Fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese, Siegfried Seidel und Norbert Oellers, Weimar 1943ff. [Nationalausgabe]. Bd. 17/1, S.375f. Im Folgenden: Sigle NA für Nationalausgabe.
Entwicklung darstellt“,113 und ein ebenso optimistisches Bild auf die Zukunft wirft, in der Zivilisierung und Kultivierung des Menschengeschlechts noch weiter fortschreiten werden. Gerade in dieser teleologischen Geschichtsbetrachtung unterscheidet sich Schillers Position kaum von den geschichtsphilosophischen Überlegungen Kants, dessen „Idee über eine allgemeine Geschichte“ ihn, einem Brief an Körner aus dem Jahr 1787 zufolge, „ausserordentlich befriedigt“ habe.114 Nach den Erfahrungen von 1789, die Schiller keineswegs so positiv bewertet wie Kant – seines Erachtens hat die Französische Revolution „in ihrer zerstörerischen Widersprüchlichkeit“ gerade „nicht das erreicht […], was allein erreichenswürdig gewesen wäre: nämlich den Zustand der Freiheit zu vermitteln“115 – und ebenso wenig ohne gravierende Änderungen seiner Einschätzungen des Geschichtsprozesses in seine Geschichtskonzeption integrieren kann, melden sich „Zweifel an einer Kohärenz des Geschichtslaufs und an der Vorbildlichkeit der Zustände seiner Gegenwart“116 an. In den folgenden Jahren häufen sich – mehr noch indirekt in seinen literarischen Werken als direkt in den historiographischen – Formulierungen, die nicht mehr von einem linearen Fortschritt in der Geschichte ausgehen, sondern von Wiederholung und Rückkehr, und denen zyklische Vorstellungen zugrunde liegen, die zum einen schon an Geschichtsauffassungen des 19. Jahrhunderts,117 zum anderen an Goethes Konzeption erinnern: „es ist immer derselbe Conflict der zuletzt wieder einen neuen erzeugt.“118 Dieser „Conflict“ bringt sowohl in Goethes Blick auf den Geschichtsprozess als auch in demjenigen Schillers in den letzten Jahren seines Lebens nicht nur eine Wiederholung des Guten (diese Annahme ließe sich noch mit _____________ 113
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Helmut Koopmann, Schiller und die Überwindung der aufgeklärten Geschichtsphilosophie. In: Schiller als Historiker, hg. von Otto Dann, Norbert Oellers und Ernst Osterkamp, Stuttgart und Weimar 1995, S.59–76, hier S.64. NA 24, S.143: Brief an Körner, 29. 08. 1787. Vgl. als genaueren Vergleich von Schillers und Kants geschichtsphilosophischen Konzeptionen den kurzen, aber dennoch recht differenzierten und anhand einzelner Werke Schillers, die auf ihre Auseinandersetzung mit Kants Geschichtsphilosophie untersucht werden, textnah belegten Beitrag von Malter: Rudolf Malter, Schiller und Kant. In: Schiller als Historiker, hg. von Otto Dann, Norbert Oellers und Ernst Osterkamp, Stuttgart und Weimar 1995, S.281–291. Koopmann, Schiller und die Überwindung der aufgeklärten Geschichtsphilosophie, S.68. Hofmann, Schiller, S.78. Vgl. zu „Schillers Modernität“, die sich auch darin zeige, „wo bei ihm die Ahnung einer zyklischen Wiederkehr bestimmter historischer Entwicklungen aufkam“, ausführlicher Koopmann, Schiller und die Überwindung der aufgeklärten Geschichtsphilosophie, hier S.75. FA I/13, S.36: Spruch 1.216.
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dem Aufklärungsoptimismus des späten 18. Jahrhunderts in Einklang bringen), sondern gleichfalls eine zwangsläufige Rückkehr des Bösen hervor.119 b. Eine Möglichkeit, Ordnung ins Chaos zu bringen: das Denken in Epochen und die Einzigartigkeit historischer Zeiträume als ein z w e i t e r Schlüssel zur Geschichte Von einem – womöglich noch linearen – Fortschritt in der Geschichte geht Goethe nicht aus, sowieso steht er philosophischen Theorien über den Verlauf der Geschichte skeptisch gegenüber, weil er in der Menschheitsentwicklung kaum etwas Geregeltes, Planbares erkennen kann – sein ‚Zugang’ zu historischer Erkenntnis verläuft anders als bei den meisten Zeitgenossen, die sich – sei es aus einer mehr historiographischen, sei es aus einer mehr philosophischen Perspektive – mit Geschichte beschäftigen. Dennoch gelingt es Goethe, sich das der Geschichte auf der objektiven Seite bescheinigte ‚Chaos’ zumindest auf der subjektiven Seite, d. h. in der gedanklichen (Re-)Konstruktion von Geschichte, zu ‚ordnen’120 – indem er den Verlauf der Geschichte in „profilierte Abschnitte“ einteilt, die jeweils für sich „individuelles Eigenrecht beanspruchen“121 und für die Goethe den für sein Geschichtsdenken zentralen Begriff der ‚Epoche’ verwendet und begriffsgeschichtlich prägt. Auf der Betrachtung dieser einzelnen Epochen, auf der Erkenntnis ihrer Spezifika liegt ein wesentlicher Fokus seiner Auseinandersetzung mit Geschichte; einen zentralen Interessenschwerpunkt bilden darüber hinaus die Umschlagpunkte der Geschichte, das jeweilige Ende einer Epoche, das gleichzeitig den Beginn einer neuen _____________ 119
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Vgl. Koopmann, Schiller und die Überwindung der aufgeklärten Geschichtsphilosophie, besonders S.72–76. Koopmann belegt diese These anhand der Geschichtsvorstellungen, die sich etwa in Schillers späten Dramen Wallenstein und Demetrius sowie in seinem Gedicht Spaziergang erahnen lassen. Dabei ist Goethe selbst stets bewusst, dass diese ‚Ordnungsmuster’, die er auf die Geschichte appliziert, kaum als objektiv gegebene Ordnungen zu betrachten sind, sondern vielmehr vom Betrachter subjektiv konstruiert und auf die Geschichte übertragen werden, um schließlich ‚Ordnung’ in das ‚Chaos’ der historischen Abläufe zu bringen. Gerade im Hinblick auf den für die folgende Darstellung zentralen Schlüsselbegriff ‚Epoche’ weist Elke Umbach auf dieses subjektive Moment des Begriffs gleich in der Einleitung zu ihrem Artikel im Goethe-Wörterbuch hin: „Neben die Verwendung als objektiv geprägter hist[orischer] Zeitabschnitt tritt die Auffassung als situations- od[er] themengebundene bzw[.] subjektiv vom Einzelnen bestimmte Phase“ (Elke Umbach, Artikel ‚Epoche’. In: GWb 3, Sp. 222–226, hier Sp. 222). Umbach, Artikel ‚Epoche’, Sp. 222.
markiert.122 Vor dem Hintergrund der dargestellten optimistischen Progressionstheorien der Aufklärung nehmen diese spezifisch Goetheschen Zugänge zu historischer Erkenntnis eine relativ herausgehobene Position im zeitgenössischen Geschichtsdiskurs ein, obwohl er mit ihnen – wie zu zeigen sein wird – nicht g a n z allein steht. Sie nehmen zum einen – und darauf wurde vielfach und seit langem hingewiesen – zentrale Ansätze des Historismus vorweg,123 zum anderen nehmen sie Erkenntnisse über Geschichte auf, deren gedankliche Grundlagen bereits in der Aufklärung entwickelt wurden und die neben Goethe in den frühen Schriften Herders und bei Justus Möser aufgegriffen werden, schließlich auch – freilich anders akzentuierend – bei Schiller begegnen. Bödeker weist darauf hin, dass die Individualität und Unvergleichbarkeit geschichtlicher Erscheinungen (und damit ihre historische Relativität) – eng verbunden mit der Auflösung des Konzepts der historia magistra vitae, in dem den einzelnen ‚Geschichten’ eine exemplarische Funktion zukommt, aus der man (für Gegenwart und Zukunft) lernen könne – eine wichtige Erkenntnis der Aufklärungshistorie (und nicht etwa erst des Historismus) gewesen sei, wenngleich es sich hierbei noch um ein zunächst mehr oder weniger folgenloses Theorem handelte, dessen Entfaltung und Umsetzung in der historiographischen Praxis wie im öffentlichen Bewusstsein eine der eigentlich spezifischen Leistungen des Historismus darstellte.124 Goethe greift in diesem folglich erst gerade einsetzenden Prozess seinen Zeitgenossen vor – deutlich wird dies vor allem im Kontext seines ‚Epochendenkens’, wobei schon seine häufige Verwendung des Begriffs ‚Epoche’ auffällt, in der sich ein vor dem ideengeschichtlichen Hintergrund seiner Zeit ‚neues’ Geschichtsdenken manifestiert.125 Die _____________ 122
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Zum Begriff der ‚Epoche’ vgl. grundlegend die Beiträge in Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck (Hgg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 12). So etwa schon bei Friedrich Meinecke, Goethe und die Geschichte, München 1949, und ausführlicher in dessen wirkungsmächtiger Monographie Die Entstehung des Historismus (Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus. 2. Auflage, hg. von Carl Hinrichs, München 1965 [Friedrich Meinecke, Werke, hg. im Auftrag des Friedrich-MeineckeInstituts der Freien Universität Berlin von Hans Herzfeld, Carl Hinrichs, Walther Hofer. Bd. 3]), wenngleich Meineckes bekannte ‚Vereinnahmung’ Goethes für den Historismus so heutzutage sicher nicht mehr zu halten ist; vgl. stellvertretend für die Kritik an Meinecke in der neueren Goethe-Philologie Nisbet, Goethes und Herders Geschichtsdenken, S.123. Vgl. Bödeker u.a., Einleitung: Aufklärung und Geschichtswissenschaft, bes. S.16f. und 19. Vgl. hierzu und zu den folgenden Ausführungen zum spezifisch Goetheschen Begriffsverständnis von ‚Epoche’ den Eintrag im Goethe-Handbuch: Golz, Artikel ‚Epoche’.
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facettenreiche Begriffsverwendung lässt auf einen Bewusstseinswandel Goethes schließen, der sich vor allem in der Zeit nach 1800 vollzieht und mit einem sprachgeschichtlichen Bedeutungswandel des Begriffs korrespondiert. Zum einen lässt sich nach der Jahrhundertwende die bei weitem umfangreichste Belegmenge des Begriffs ‚Epoche’ nachweisen, zum anderen kristallisiert sich die neuere Bedeutung des Begriffs als diejenige heraus, in der Goethe den Begriff schließlich weit überwiegend gebraucht. Nur etwa 10% der beinahe 900 überlieferten Belege bezeichnen in der älteren Begriffsbedeutung den „Zeitpunkt eines bedeutsamen Ereignisses“ – in den unterschiedlichen Nuancierungen, dass damit „das Ereignis selbst“, „der Beginn eines Zeitraums“ oder ein „periodisch wiederkehrende[r] Zeitpunkt“ gemeint ist –; bei den restlichen 90% wird der Begriff für einen „naturgegebene[n] oder von gesellschaftlichen Konventionen geprägte[n] Zeitraum oder Entwicklungsabschnitt“ verwendet.126 Entscheidend für die häufige Verwendung des Begriffs mag vor allem die Möglichkeit sein, ihn in verschiedensten Bereichen zu gebrauchen, in denen sich Entwicklungen vollziehen können (und – zumindest partielle – Analogien zwischen diesen Bereichen annehmen zu können): „auf Stufen pflanzlicher oder tierischer Entwicklung, auf Stadien individueller menschlicher Entwicklung oder auf die Entwicklung von Gruppen und Völkern, aber auch – und dies am häufigsten – auf Lebensabschnitte des Dichters selbst“.127 Entsprechend häufig begegnet der Begriff ‚Epoche’, angewendet auf qualitativ neue Abschnitte seiner eigenen Biographie, in Goethes Autobiographischen Schriften und wird deswegen in den Textanalysen als Schlüsselbegriff eine herausgehobene Rolle einnehmen. In jedem Fall liegt dem Begriff die Vorstellung zugrunde, dass sich die Entwicklungen in all diesen Bereichen in „durch bestimmte Kriterien charakterisierte[…], relativ homogene[…] Zeitr[äume]“128 einteilen lassen, die sich – auch in der Gesellschaftsgeschichte – unabhängig von der Annahme eines linearen Kontinuums als historisch-chronologische ‚Ordnungsmuster’ für den Lauf der Geschichte anbieten. Mit seinem ‚historischen Blick’, der gezielt einzelne Epochen der Geschichte fokussiert und sie gerade in ihren Besonderheiten zu erkennen und so von anderen Epochen abzugrenzen versucht, verschiebt sich bei Goethe das Erkenntnisinteresse also von den Fragen nach den _____________ 126
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Golz, Artikel ‚Epoche’, S.270. Vgl. dazu differenzierter auf die einzelnen Facetten des Begriffs eingehend und dazu jeweils auch Beispiele aus Goethes Sprachgebrauch anführend den entsprechenden Artikel im Goethe-Wörterbuch: Umbach, Artikel ‚Epoche’. Golz, Artikel ‚Epoche’, S.270f. Golz, Artikel ‚Epoche’, S.271.
großen Linien, der Kohärenz oder gar dem Fortschritt der Geschichte auf solche, die die Einzigartigkeit historischer Phänomene in den Vordergrund rücken – und damit ebenso ihre Relativität. Gerade, wenn es um die Bewertung historischer Erscheinungen geht, sind diese in ihrem historischen Kontext – vor dem Hintergrund ihrer ‚Epoche’, ihres ‚Jahrhunderts’, und nicht etwa wie selbstverständlich gemessen am Standpunkt des Betrachters – zu beurteilen. Ein vergleichbare Akzente setzendes ‚Epochendenken’ begegnet in der frühen Geschichtsphilosophie Herders,129 auf dessen wichtige Vorbildfunktion für Goethe – freilich nicht nur auf dem Feld der Auseinandersetzung mit Geschichte – bereits hingewiesen wurde. Herders ursprünglich gegen die französischen Aufklärer (insbesondere gegen Voltaire) und damit gegen deren spezifisches Epochenbewusstsein, das das eigene Jahrhundert, das siècle de Louis XIV, verherrlichte und zum (vorläufigen) Höhepunkt aller historischen Entwicklung deklarierte, gerichtete Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit wird in der Forschung zu einer der Grundlagen des deutschen Historismus erklärt – nicht nur, was die sich hier neu konturierende historische Methode und den ausgeprägten Entwicklungsgedanken, sondern vor allem, was das Bewusstsein der Individualität und Relativität historischer Erscheinungen anbelangt, deren Erkenntnis und angemessene Beurteilung dem Betrachter u.a. Einfühlung (gerade in zunächst ganz fremd Erscheinendes) – in den Worten der neueren Geschichtstheorie: historische Imagination – abverlangt. Entsprechend entwirft Herder eine historische Konzeption, die den Verlauf der Geschichte den menschlichen Lebensaltern analog in einzelnen Stufen betrachtet, die jedoch nicht zu Durchgangsstadien entwertet werden; vielmehr wird von einer grundsätzlichen „Gleichwertigkeit der Zeitalter“130 ausgegangen: „jedes Zeitalter […] hat den Mittelpunkt [seiner…] Glückseligkeit in sich selbst, wie jedes Lebensalter.“131 Erst später entfernt sich Herder von dieser ursprünglichen – und Goethes Geschichtsdenken viel näher verwandten – Position: In den Ideen hält er zwar an seinem Stufendenken als Ordnungsprinzip der Geschichte fest, nimmt jedoch einen „stufenweise aufwärtsführende[n] Prozeß wachsender Verwirklichung der Humanität und Vernunft“132 _____________ 129
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Die in diesem Zusammenhang zentralen Aspekte des Geschichtsdenkens des jungen Herder können hier nur schematisch dargestellt werden. Vgl. ausführlicher dazu den Aufsatz Maurer, Die Geschichtsphilosophie des jungen Herder. Maurer, Die Geschichtsphilosophie des jungen Herder, S.153. Maurer, Die Geschichtsphilosophie des jungen Herder, S.150. Förster, Johann Gottfried Herder: Weltgeschichte und Humanität, S.369.
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für die Entwicklung der Menschheit an und nähert sich doch wieder den aufklärerischen Fortschrittskonzeptionen. Dennoch nehmen schon in der frühen Geschichtsphilosophie Herders trotz seiner grundsätzlichen Überzeugung von der Einzigartigkeit, die jeder ‚Epoche’ bzw. ‚Stufe’ der Geschichte zugestanden werden müsse, alle Zeitabschnitte keineswegs den gleichen Stellenwert ein – und in diesem Punkt begegnen sich Herders und Goethes Beschäftigung mit und Sicht von Geschichte erneut. Beide interessieren die „Umschlagpunkte des weltgeschichtlichen Entwicklungsprozesses“ – bei Herder handelt es sich um das „Verhältnis von orientalischer und antiker Welt, von Spätantike und frühem Mittelalter sowie [um] die Periode der Renaissance“,133 bei Goethe, wie erwähnt, zunächst in ganz besonderem Maße um die Umbruchszeit des 15. und 16. Jahrhunderts. Hinzu tritt bei beiden die – umfassender als (zumindest indirekte) Stellungnahme im Kontext der Querelle des anciens et des modernes zu betrachtende – Frage nach qualitativ besonders herausgehobenen ‚Epochen’ der Menschheitsentwicklung: Gerade aus Goethes zyklischem Geschichtskonzept, das davon ausgeht, dass sich sowohl Gutes als auch Schlechtes im Lauf der Geschichte immer erneut wiederholt, folgt, dass es Hoch- wie Tiefpunkte der Menschheitsgeschichte geben müsse, und Zeit seines Lebens bleibt die Antike, ganz besonders die griechische Geschichte, Ausgangspunkt und Erfahrungsmaterial allen historischen Nachdenkens134 – ein Denkmuster, das sich ähnlich bei Herder findet und das – freilich in besonders exponierter Form im klassischen Jahrzehnt – auch bei Schiller wieder anzutreffen ist. Bei Herder fungiert die griechische Antike als Ideal, das ein Gegenbild zu den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen entwirft und dem eine Leit- und Orientierungsfunktion zukommt: „Bei den Griechen, namentlich in der griechischen Kunst, ist für Herder modellhaft Humanität ausgebildet. Hier habe die Menschheit in ihrer Kindheitsperiode eine Form harmonischer Entfaltung des Menschen hervorgebracht, die als Norm und ewiges Muster aller menschlichen Existenz gelten müsse.“135 Vergleichbar formuliert Goethe, dass wir erst durch die Anschauung des Altertums „zu Menschen würden“136 und in seinem Werk ist „eine Tendenz zur Verabsolutierung [der Antike] nicht zu übersehen.“137 _____________ 133 134 135 136 137
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Förster, Johann Gottfried Herder: Weltgeschichte und Humanität, S.384. Vgl. Lange, Goethes Geschichtsauffassung, S.3. Förster, Johann Gottfried Herder: Weltgeschichte und Humanität, S.381. FA I/13, S.158: Spruch 2.37.8. Sicherlich muss auf die herausgehobene Rolle der Antike in Goethes Auseinandersetzung mit Geschichte noch viel ausführlicher und differenzierter eingegangen werden,
Auffällig sind die engen Berührungspunkte zu Schillers nachrevolutionären Geschichtsvorstellungen: zum einen, was die Idealisierung der Griechen anbelangt, zum anderen, was den dezidiert kulturgeschichtlich ausgerichteten Impetus ausmacht.138 In dessen nach 1789 entwickelten Geschichtskonzept wird „die Kunst zum politischen Allheilmittel“ erklärt und ihr werden erzieherische Funktionen zugesprochen: Die Freiheit, die es in der Gesellschaft zu erreichen gelte, wird nicht länger als politische, sondern als „ästhetische Freyheit“139 verstanden; nur die Kunst, das Schöne als dem Staat nicht unterworfener Bereich könne die geschichtliche Entwicklung der Menschheit voranbringen. Zentral für die Frage, welchen Stellenwert einzelne Epochen in Schillers Geschichtsdenken genießen, ist in diesem komplexen Zusammenhang, der für diese Zwecke nur sehr verkürzt skizziert werden kann, die Funktion, die der Antike, insbesondere der griechischen Kunst, beigemessen wird: Griechenland wird mit seiner Kunst plötzlich hochbedeutsam – als Ideal, als Vorbild für die eigene Gegenwart, an dem sich die zeitgenössische Kunst zu orientieren und zu messen habe: ein goldenes Zeitalter, ein Höhepunkt der Menschheitsentwicklung, dessen Erreichung man zu wiederholen anstreben müsse.140 Dies ist das Konzept, das Schillers und Goethes Arbeiten insbesondere während der Zeit ihrer engen Freundschaft und Zusammenarbeit im so genannten ‚klassischen Jahrzehnt’ zugrunde liegt, in dem die beiden auch die gemeinsame Einschätzung der deutschen – politischen wie literarisch-kulturellen – Gegenwart verband. Dieses Konzept ist für Goethes Kunstideal wie sein Geschichtsdenken über Schillers Tod hinaus noch prägend: Es erhebt _____________
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als dies an dieser Stelle möglich ist. Auf einzelne Aspekte wird in den Textanalysen zurückzukommen sein. Vgl. schon hier als hilfreichen Überblick mit zahlreichen weiterführenden Literaturangaben zu diesem in der Forschung schon recht umfangreich erschlossenen Thema Volker Riedel, Artikel ‚Antike’. In: GHb 4.1, S.52–72, hier S.66. Dass dieser Aspekt bekanntermaßen auch in ästhetischer Hinsicht von zentraler Bedeutung ist und die Vorbildfunktion der griechischen Kunst ein in seiner Wichtigkeit nicht zu überschätzendes Fundament für das ästhetische Programm der deutschen Klassik darstellt, kann hier nicht näher ausgeführt werden. NA 20, S.381: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Zwey und zwanzigster Brief. Auch hier sei erneut auf Schillers zyklisches Geschichtskonzept hingewiesen, das sich nach den Erfahrungen der Französischen Revolution gegen die aufklärerischen linearen Fortschrittstheorien wendet. Koopmann führt in diesem Zusammenhang aus, dass überhaupt diese „Annahme einer Hoch- und Sonderstellung der griechischen Kunst ein Schlag gegen die Kantische Geschichtsanschauung [ist], die ja vor einem gewarnt hatte: vor einer Überschätzung oder überhaupt Berücksichtigung des ‚goldenen Zeitalters’“ (Koopmann, Schiller und die Überwindung der aufgeklärten Geschichtsphilosophie, S.69).
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nicht nur die Kunst einer Epoche zum Leitbild, sondern schreibt ihrer gesamten Epoche eine herausgehobene Stellung im Geschichtsprozess zu. C. Skepsis gegenüber den Verfahren der zeitgenössischen Historiographie und Geschichtsphilosophie: die Forderungen nach ‚lebendiger’ Anschauung und Einbildungskraft im historischen Erkenntnisprozess Gerade im Hinblick auf die ‚Erforschung’ und ‚Darstellung’ der eigenen Geschichte in den Autobiographischen Schriften, die in der GoethePhilologie mitunter dezidiert als historiographische Arbeiten bezeichnet werden (meist allerdings, ohne diese Zuordnung zur Geschichtsschreibung genauer zu erläutern oder zu begründen),141 stellt sich die generelle Frage zu Goethes Verhältnis zur Geschichtsschreibung, verbunden besonders mit den Möglichkeiten, rückblickend zu historischer Erkenntnis zu gelangen. Wie immer grundsätzlich offen für und interessiert an den Entwicklungen nahezu aller wissenschaftlicher Disziplinen verfolgte er die Konstituierung von Geschichtswissenschaft als eigenständiger Disziplin, die sich in der späten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzog, und nahm die Arbeiten ihrer bekanntesten und wirkungsmächtigsten Vertreter zur Kenntnis – Dahnke weist die Lektüre der Schriften zunächst Justus Mösers, später dann Johannes von Müllers, Friedrich Christoph Schlossers, Barthold Georg Niebuhrs, Leopold von Rankes, Friedrich von Raumers, Heinrich Leos und Sir Walter Scotts nach, mit denen Goethe zum Teil brieflich verkehrte.142 Obwohl Goethe „mit der Zeit zu einer ausgeglicheneren Beziehung zur Geschichtsschreibung“143 kam, so überwiegen dennoch sein gesamtes Leben lang tiefe Zweifel an den Möglichkeiten, überhaupt einen passenden Schlüssel zur Erkenntnis von vergangenem Geschehen wie zu seiner erzählerischen Darstellung zu gelangen. Dass dabei eine bewusste, quellenkritische Methodenreflexion zu leisten sei, es sich hierbei sowieso kaum um eine bloße ‚Wiedergabe’ handeln könne – etwa so, dass Geschichtsschreibung die vergangene Wirklichkeit objektiv ‚abbildete’ –, mag vor dem Hintergrund der modernen geschichtstheoretischen Diskussionen unserer Zeit trivial erscheinen (lediglich hingewiesen sei an dieser Stelle auf die für diesen Zusammenhang einschlägigen Arbeiten Hayden Whites oder auch auf Reinhart Kosellecks neuere _____________ 141 142 143
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So etwa auch der Artikel ‚Geschichtsschreibung’ von Dahnke im Goethe-Handbuch. Vgl. Dahnke, Artikel ‚Geschichtsschreibung’, S.367f. Dahnke, Artikel ‚Geschichtsschreibung’, S.366.
Überlegungen zur Unterscheidbarkeit von Fiktion und geschichtlicher Wirklichkeit).144 Für die Goethezeit ist dies jedoch eine vergleichsweise neue Erkenntnis, deren erste Grundlagen in der Aufklärung gelegt wurden und die prägend und folgenreich für den Geschichtsdiskurs des Historismus wurde.145 Erst im Zusammenhang mit der Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs im 18. Jahrhundert wurde für die Geschichtsschreibung „‚Geschichte an und für sich’ zur Herausforderung“:146 Welche Inhalte der Geschichte man auswählen, ob einzelne Ereignisse oder Entwicklungen und Zusammenhänge im Vordergrund stehen sollten, wie überhaupt Geschichte geschrieben werden könne – wobei erstmals Darstellungsprobleme (schlagwortartig benannt seien zunächst nur die Narrativität der Darstellung wie die Standortgebundenheit und die Darstellungsabsicht(en) des Geschichtsschreibers) überhaupt als Probleme bewusst und diskutiert wurden – sind Fragen, die zu dieser Zeit aufkamen und dazu führten, dass die Geschichte im institutionellen Rahmen der Universitäten von ihrer vormaligen Zugehörigkeit dem Bereich der ‚ars’ entrückt und schließlich als eigenständige Wissenschaftsdisziplin anerkannt wurde. Diese Entwicklung, die erst im Historismus vollständig abgeschlossen war, hatte Konsequenzen für Methoden, Leitlinien und Ziele der Geschichtsschreibung: Dass es zum einen nicht mehr um ein ‚Richten’ der Vergangenheit gehen könne, Geschichtsschreibung auch nicht länger zur ‚Belehrung’ ihrer Leserschaft, die darauf Nutzen für Gegenwart und Zukunft ziehen sollte, herhalten dürfe, sondern sich _____________ 144
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Vgl. Reinhart Koselleck, Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit. In: Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. und mit einem Nachwort von Carsten Dutz. Berlin 2010, S.80–95 (zuerst veröffentlicht in Zeitschrift für Ideengeschichte I/3 [2007], S.39–54); darüber hinaus grundlegend Whites Monographie Auch Klio dichtet, auf die im Zusammenhang mit der neueren Autobiographieforschung im nächsten Kapitel noch ausführlicher eingegangen wird: Hayden White, Auch Klio dichtet. Oder: Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986. Bödeker u.a. schreiben so schon der Aufklärungshistorie die Initiierung der erkenntnistheoretischen Diskussion zu, die das Bewusstsein dafür entwickelt habe, dass Historiker Geschichte ‚produzieren’ bzw. ‚konstruieren’. Auch der Einzug der „philologischkritische[n] Methode in den disziplinären Zuständigkeitsbereich der Historie“ habe bereits in der Aufklärung begonnen, wenn er auch erst im Historismus seinen vollständigen Durchbruch erzielt habe. Vgl. Bödeker u.a., Einleitung: Aufklärung und Geschichtswissenschaft, S.17. Dieter Harth, Artikel ‚Geschichtsschreibung’. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3, hg. von Gert Ueding, Darmstadt 1996, Sp. 832–870, hier Sp. 857. Vgl. auch insgesamt als umfassenden Überblick zur Entwicklung der Geschichtsschreibung von ihren Anfängen bis zu Gegenwart, gezielter auch zu wichtigen Tendenzen um 1800, die hier nicht ausführlich dargestellt werden können, diesen sehr informativen Artikel.
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der Geschichtsschreiber vielmehr um Objektivität zu bemühen habe, hatte sich in der Wissenschaftsprosa Rankes und Niebuhrs schließlich durchgesetzt – eine Leitlinie historischer Darstellung, der Goethe gerade in seinen späten Jahren mit großer Skepsis begegnete, als sich bei ihm die Überzeugung immer mehr durchsetzte, dass alle Urteile über Geschichte allein aufgrund der Standortgebundenheit ihres Betrachters notwendigerweise subjektiv seien.147 In diesem Punkt scheint Goethe weiter zu sein als zeitgenössische Historiker: „Daß die Geschichte immer wieder umgeschrieben werden müsse, weil mit neuen Lagen neue Fragen auftauchen, war Goethes persönliche Erfahrung, längst bevor diese Maxime zum Allgemeingut der neuzeitlichen Historiker geworden ist.“148 Zum anderen stellte sich im späten 18. Jahrhundert die Frage nach der Rolle von Anschauung und Einbildungskraft im historischen Erkenntnisprozess sowie in der Geschichtsschreibung – und d i e s e neuen Kategorien berühren hingegen Aspekte, die auch für Goethes Zugänge zu Geschichte und ihrer Darstellung zentral sind und in denen sich einige Übereinstimmungen zwischen exponierten Positionen im zeitgenössischen Geschichtsdiskurs und Goethes Geschichtsdenken nachweisen lassen. Droysen fordert, dass der Historiker „aus Überresten mosaikartig ein ‚Bild’ zusammensetzen“ müsse; Niebuhr und Ranke schreiben dem Historiker entsprechend die „Rolle des ‚Restaurators’“149 zu. Ziel der Geschichtsschreibung müsse es sein, dem Leser zu anschauender Erkenntnis zu verhelfen, also einen kognitiven Prozess zu initiieren, der ihn mittels seiner Einbildungskraft dazu befähige, sich „das Vergangene retrospektiv zu ‚vergegenwärtigen’“150 – welch zentrale Rolle die Begriffe ‚Anschauung’ und ‚Vergegenwärtigung’ gerade bei Goethe und seiner Auseinandersetzung mit Geschichte und Geschichtsschreibung spielen, wird im Hauptteil dieser Arbeit zu zeigen sein. Es reiche – anders als in der Geschichtsschreibung vergangener Jahrhunderte – nicht mehr aus, die Evidenz ex datis wiederherzustellen, sondern die Ganzheit vergangenen Lebens müsse in einer sowohl begrifflich strukturierten als auch anschaulich vergegenwärtigten zusammenhängenden Kette der einzelnen Ereignisse aus den Quellen, die _____________ 147 148
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Vgl. dazu Nisbet, Goethes und Herders Geschichtsdenken, bes. S.130. Reinhart Koselleck, Goethes unzeitgemässe Geschichte, Heidelberg 1997 (zuerst veröffentlicht in GJb 110 [1993], S.27–40), S.15. Welche Konsequenzen diese Erkenntnis der grundsätzlichen Perspektivierung historischer Erkenntnis und dementsprechend auch historischer Darstellung für Goethes Auseinandersetzung mit der eigenen (Lebens-) Geschichte hat, wird im nächsten Kapitel im Zusammenhang mit seinem Autobiographiekonzept genauer zu klären sein. Harth, Artikel ‚Geschichtsschreibung’, Sp. 860 bzw. Sp. 861. Harth, Artikel ‚Geschichtsschreibung’, Sp. 861.
davon oft nicht mehr als bruchstückhafte Überreste böten, ‚restauriert’ werden und dem Leser möglichst ‚lebendig’ vor das ‚innere Auge’ treten. Dass mit den Geboten einer möglichst großen Anschaulichkeit und ‚lebendigen Vergegenwärtigung’ der Geschichte bei Goethe eine grundsätzliche Abneigung gegen jede Geschichtsphilosophie a priori verbunden ist, weil sie jeglicher empirischer Grundlage entbehre und lediglich auf gedanklichen Abstraktionen basiere, und nicht jede Art von Geschichtsschreibung gleichermaßen geeignet ist, diesen Ansprüchen zu genügen – schon gar nicht diejenige der zeitgenössischen Historiker, die den skizzierten Problemen historischer Erkenntnis bzw. Darstellung im Gegensatz zu Goethe (noch) relativ unreflektiert gegenüberstehen –, ist unmittelbar einleuchtend. c. Eine Möglichkeit, Geschichte zu vermitteln: die Rolle des Historiographen als Dichter als ein d r i t t e r Schlüssel zur Geschichte Einen Weg, der Goethe selbst einen Zugang zu historischer Erkenntnis und Darstellung bahnt und der schließlich in engem Zusammenhang mit der ‚Geschichtsschreibung’ seines eigenen Lebens – also seinen Autobiographischen Schriften sowie konzeptionellen Fragen der Gattung Autobiographie – steht, eröffnen Goethe vor allem zwei Forderungen an die Historiographie: Zum einen solle sich die Geschichtsschreibung (mehr als bisher) auf den Menschen als dem Subjekt der Geschichte konzentrieren und dabei besonders das Individuelle und Partikulare berücksichtigen, also durch eine möglichst konkrete und detailreiche Darstellung die Imagination des Lesers anregen. Zum anderen betont er die hermeneutische Leistung des Historikers: Der Historiograph rückt immer mehr in die Rolle eines Dichters – ein ‚Ausschmücken’, ein Illustrieren historischer Fakten (das sich schließlich nur graduell von einem ‚Hinzuerfinden’ weiterer Details unterscheiden lässt) sei daher nötig, um dem Anschaulichkeitsgebot nachzukommen und die Vorstellungskraft des Lesers zu befördern. Außerdem bedinge die grundsätzliche Subjektivität und Standortgebundenheit historischer Erkenntnis sowie die Notwendigkeit ihrer sprachlichen Verarbeitung eine Darstellungsweise, welche die historische ‚Wahrheit’ womöglich gar nicht so sehr von dem Konzept der „höhere[n] Wahrheit“ abgrenzt, das im Hinblick auf Goethes autobiographische Darstellungsverfahren grundlegend ist. In unserem Jahrhundert nennt Reinhart Koselleck dies
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„überspitzt formuliert, die Fiktion des Faktischen“151 und weist selbst auf die Ähnlichkeiten hin, die seine geschichtstheoretischen Überlegungen mit Goethes auf die Autobiographie bezogenem Postulat der „höhere[n] Wahrheit“ haben. Inwiefern dabei gerade die Autobiographie eine Schlüsselfunktion einnimmt, weil sie als Brückenglied zwischen Historiographie und Dichtung fungiert und darüber hinaus Goethe überhaupt einen Schlüssel zu historischer Erkenntnis und Darstellung ermöglicht, wird im nächsten Kapitel ausführlich zu erörtern sein. Dass allerdings Historiographie und Dichtung bei Goethe grundsätzlich keine diametral entgegengesetzten Pole markieren, ist für sein Verhältnis zur Geschichtsschreibung aufschlussreich und daher schon an dieser Stelle von Bedeutung. Doch zunächst zum ersten Aspekt: Werden in der GoethePhilologie Goethes biographische Arbeiten – Winkelmann und sein Jahrhundert, Benvenuto Cellini, schließlich die Geschichte der Farbenlehre, die im Wesentlichen eine biographische Wissenschaftsgeschichte darstellt – vor allem als ‚Vorarbeiten’ zur Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie gedeutet,152 so ist doch außerdem darauf hinzuweisen, dass gerade diese biographischen Arbeiten Goethes (einzige) Versuche ausmachen, selbst als Geschichtsschreiber tätig zu werden. Dass er bei diesen historiographischen Versuchen – ähnlich wie in seinen frühen Geschichtsdramen – den Zugang zur Geschichte über ‚bedeutende’ Individuen wählt, die dabei als ‚Spiegel’ ihres ‚Jahrhunderts’ fungieren, ist im Titel der Winckelmann-Schrift schon programmatisch formuliert und scheint vor dem Hintergrund des skizzierten Interesses am Einzigartigen und Partikularen wie überhaupt am (einzelnen) ‚Menschen’ in _____________ 151
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Koselleck, Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit, S.91. Koselleck arbeitet als Gemeinsamkeit zwischen Dichter und Historiker heraus, dass beide „vor derselben Inkommensurabilität von geschichtlicher Wirklichkeit und ihrer sprachlichen Verarbeitung“ (Koselleck, Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit, S.89) stehen. Denn auch für den Historiker seien „[w…]irklich in einem zugänglichen und auch überprüfbaren Sinne […] nur die Zeugnisse, die uns als Relikte von früher überkommen sind. Die daraus abgeleitete Wirklichkeit der Geschichte ist dagegen ein Produkt sprachlicher Möglichkeiten, theoretischer Vorgaben und methodischer Durchgänge, die schließlich zu einer Erzählung oder Darstellung zusammenfinden“ (Koselleck, Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit, S.91). Diese Perspektive ist zweifelsohne sehr aufschlussreich, zumal sich konzeptionelle Parallelen zwischen diesen biographischen Arbeiten und den autobiographischen Werken nachweisen lassen und die Veröffentlichung der biographischen Arbeiten der Konzeption und Ausführung des Ersten Teils von Dichtung und Wahrheit auch zeitlich unmittelbar vorausgeht. Vgl. zum engen Zusammenhang zwischen Goethes biographischen Werken und seinem Autobiographieprojekt Boyle, Geschichtsschreibung und Autobiographik bei Goethe (1810–1817), S.163–172, bes. S.164–169.
der Geschichte kaum verwunderlich.153 Dies sind Zugänge zur Darstellung von Geschichte, mit denen Goethe im Geschichtsdiskurs der Zeit keineswegs allein steht: Zwar waren in dieser Hinsicht noch vergleichsweise wenig Änderungen in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung zu verzeichnen, die nach wie vor vor allem an makrohistorischen Fragestellungen interessiert war, dafür spielte aber die Entdeckung des Menschen als Subjekt der Geschichte gerade in der historisches Wissen vermittelnden erzählenden Literatur eine zentrale Rolle.154 Nicht zuletzt diese – mehr vom öffentlichen Interesse der vor allem bildungsbürgerlichen Schichten an der Geschichte als von der wissenschaftlichen Historiographie motivierte – Entwicklung führte u.a. zu einem erheblichen Aufschwung der historische Themen berührenden Literatur; neben historischen Romanen sind in diesem Zusammenhang biographische und autobiographische Werke von herausgehobener Bedeutung. Hier waren es jedoch Dichter, die sich der Geschichte bemächtigten und mit ihr in ihren Werken mehr oder weniger ‚frei’, d. h. ohne den Anspruch auf absolute historische Verifizierbarkeit, umgingen und damit die Grenzen zwischen Historiographie und Fiktion verwischten. Hielt so die Geschichte nahezu selbstverständlich Einzug in die Literatur – und zwar besonders eine Geschichte, bei der einzelne Individuen eine exponierte Rolle spielten –, so werden neue Ansprüche an die Darstellungsverfahren historiographischer Werke erst ab ungefähr 1800 formuliert, eng verbunden mit einer theoretisch fundierteren Reflexion des grundsätzlichen Verhältnisses von Poetik und Historiographie. Hatte sich die deutsche Geschichtsschreibung über weite Strecken des 18. Jahrhunderts „überwiegend noch gelehrt schwerfällig, knochentrocken annalistisch und oft territorialgeschichtlich eng“155 präsentiert, so begegnete schließlich innerhalb der Historikerzunft die Forderung, „[ü]ber die systematische Zusammenstellung von Fakten und der Beschreibung von ‚Begebenheiten’ hinaus […] die Fülle der kausal nicht zu erklärenden Wirklichkeit des geschichtlichen ‚Lebens’ […] in der Verknüpfung von Narration und Reflexion ‚anschaulich’ zur Darstel_____________ 153
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Dahnke weist in diesem Zusammenhang auf den Entwurf der Vorrede zum Dritten Teil von Dichtung und Wahrheit hin, in dem Goethe der Biographie programmatisch „eine geradezu konstitutive Funktion für die Geschichtsschreibung zu[spricht]: ‚Soll aber und muß Geschichte seyn, so kann der Biograph sich um sie ein großes Verdienst erwerben, daß er ihr das Lebendige, das sich ihren Augen entzieht, aufbewahren und mittheilen mag.’“ (Dahnke, Artikel ‚Geschichtsschreibung’, S.369; vgl. den Entwurf der Vorrede zum Dritten Teil von Dichtung und Wahrheit FA I/14, S.935; hier dann „sein“ statt „seyn“ und „mitteilen“ statt „mittheilen“). Vgl. dazu Bödeker u.a., Einleitung: Aufklärung und Geschichtswissenschaft, S.12f. Vierhaus, Historisches Interesse im 18. Jahrhundert, S.269.
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lung“156 zu bringen. Von Positionen, die innerhalb der Geschichtswissenschaft erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so explizit formuliert werden, lassen sich schließlich Parallelen zu Goethes Annäherung von Historiker- und Dichterrolle ziehen: Wenn etwa August Wilhelm Schlegel im Jahr 1800 eine Darstellung der Geschichte in „künstlerischer“ Form im Sinne einer „Poesie der Wahrheit“ fordert und Wilhelm von Humboldt – der bekanntermaßen in regem brieflichen Austausch mit Goethe stand – in seiner Abhandlung Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers von 1821 schreibt, dass der Geschichtsschreiber „‚[…] die eigentliche, innere, in dem ursächlichen Zusammenhang gegründete Wahrheit“ der Geschichte zur Darstellung bringen müsse, indem er den „unsichtbaren Theil jeder Thatsache“ hinzufügt und „aus eigener Kraft bildet, was er, wie es wirklich ist, nicht mit bloßer Empfänglichkeit wahrnehmen konnte“ und schließlich zu dem Ergebnis gelangt, dass der Geschichtsschreiber auf „verschiedene Weise, aber ebensowohl, als der Dichter, […] das zerstreut Gesammelte in sich zu einem Ganzen verarbeiten [muß]“,157 so stellen sie ähnlich wie Goethe die hermeneutische Leistung des Historikers vor die Faktizität der Geschichte. Diese sei für den historischen Erkenntnisprozess notwendiger als ein kaltes, streng philologisch-quellenkritisches Verfahren, weil die bloßen Fakten eben nicht für sich sprechen – und dem Betrachter bzw. dem Leser einer historiographischen Darstellung schon gar nicht zu ‚lebendiger Anschauung’ verhelfen. Um diese zu ermöglichen, erscheinen nicht nur Goethe „jene nicht eindeutigen, eher durch dichterische Phantasie zu interpretierenden Momente des historischen Geschehens“158 entscheidend. Erinnern diese Positionen an Diskussionen der modernen Geschichtstheorie des 20. Jahrhunderts – auf Hayden White und Reinhart Koselleck wurde bereits hingewiesen, zu ergänzen wären die Arbeiten _____________ 156 157
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Vierhaus, Historisches Interesse im 18. Jahrhundert, S.274. Sowohl Schlegel als auch Humboldt sind hier zitiert nach Vierhaus, Historisches Interesse im 18. Jahrhundert, S.274f. . Lange, Goethes Geschichtsauffassung, S.14. Vgl. hierzu auch eine Äußerung Goethes in den Maximen und Reflexionen: „Höchst reizend ist für den Geschichtsforscher der Punkt, wo Geschichte und Sage zusammengrenzen. Es ist meistens der schönste der ganzen Überlieferung. Wenn wir uns aus dem bekannten Gewordenen das unbekannte Werden aufzubauen genötigt finden, so erregt es eben die angenehme Empfindung, als wenn wir eine uns bisher unbekannte gebildete Person kennenlernen und die Geschichte ihrer Bildung lieber herausahnden als herausforschen“ (Johann Wolfgang von Goethe, Werke. 14 Bände. Neu bearbeitete Auflage, hg. von Erich Trunz, München 1984 [Hamburger Ausgabe], Bd. 12, S.393f.: Spruch 208. Im Folgenden: Sigle HA für Hamburger Ausgabe. Der zitierte Spruch ist in der Frankfurter Ausgabe nicht nachweisbar).
von Jörn Rüsen, Werner Schiffer und vielen anderen mehr –,159 so steht Goethe mit seinen Positionen zum Verhältnis von Poetik und Historiographie im zeitgenössischen Geschichtsdiskurs zwar sicherlich recht isoliert, dennoch aber nicht ganz allein. Wichtige Anregungen hat er dabei vermutlich von Winckelmann erfahren, dessen kunsthistorische Schriften in diesem Zusammenhang wegweisend sind und einem Aufsatz von Hinrich C. Seeba zufolge sogar einen „Paradigmawechsel[…] in der Geschichtsschreibung“160 markierten, in denen er diejenigen Darstellungsmaximen umgesetzt habe, die er in den Gedanken vom mündlichen Vortrag, seinem einzigen Aufsatz zur Geschichte, programmatisch formuliert hat. Sie unterscheiden sich kaum von denjenigen, die später bei Goethe begegnen: Winckelmanns Abhandlung stellt ein Plädoyer für die Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Geschichtsschreibung [dar], ein[en] persönlich motivierte[n] und den persönlichen Anteil aufwertende[n] Aufruf, die Geschichte so zu erzählen, daß sie ‚den Geist und die Beredsamkeit des Geschichtsschreibers’ verrät, weil es nur so gelingt, ‚eine Erzählung angenehm zu machen’.161
Gerade im Hinblick auf das für Goethes Autobiographieverständnis zentrale Konzept der „höhere[n] Wahrheit“, das Fiktion und Historiographie zu vereinen sucht, scheint jedoch in besonderem Maße Schillers Sicht auf das Verhältnis von Poetik und Historiographie aufschlussreich zu sein, weil hier deutliche Parallelen nachzuzeichnen sind: zum einen, was die theoretische Bestimmung dieses Verhältnisses betrifft, zum anderen, was die Konsequenzen für das jeweilige Interesse an der Geschichte wie für das jeweilige Werk der beiden Weimarer Klassiker anbelangt. Dass die Erfahrungen der Französischen Revolution bei Schiller grundlegende Einschnitte in seiner Auseinandersetzung mit Geschichte markieren, wurde im Zusammenhang mit seiner – sich wandelnden – Sicht der Fortschrittsfrage schon dargestellt. Im Hinblick auf Leitlinien der Geschichtsschreibung ist jedoch in den 90er Jahren _____________ 159
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Vgl. zu den Überlegungen zum ästhetischen Charakter der Geschichtsschreibung neben White, Auch Klio dichtet, und Koselleck, Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit, Jörn Rüsen, Historismus und Ästhetik. Geschichtstheoretische Voraussetzungen der Kunstgeschichte. In: Rüsen, Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft, Stuttgart 1976; Werner Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart 1980. Vgl. den Titel des Aufsatzes: Hinrich C. Seeba, Winckelmann: Zwischen Reichshistorik und Kunstgeschichte. Zur Geschichte eines Paradigmawechsels in der Geschichtsschreibung. In: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hg. von Hans Erich Bödeker u.a., Göttingen 1986, S.299–323 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 81). Seeba, Winckelmann: Zwischen Reichshistorik und Kunstgeschichte, S.310.
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von einem „Paradigmenwechsel im Denken Schillers“162 auszugehen, der eng mit dem Gegensatz von ‚poetischer’ und ‚historischer Wahrheit’ verbunden ist, mit dem er erstmals 1788 in einem Brief an Caroline von Beulwitz operiert und der in der Folgezeit noch häufig begegnet.163 Gegenüber Caroline von Beulwitz wird die Frage aufgeworfen, „ob die i n n r e W a h r h e i t , die ich die philosophische und Kunstwahrheit nennen will, und welche in ihrer ganzen Fülle im Roman oder in einer andern poëtischen Darstellung herrschen m u ß , nicht eben soviel Werth hat als die historische“.164 Tatsächlich komme der „poëtischen“ (oder „innre[n]“) Wahrheit sogar der Vorzug gegenüber der historischen Wahrheit, der Evidenz ex datis, zu, weil man „auf diesem Weg den M e n s c h e n und nicht d e n Menschen kennen-[lernt], die Gattung und nicht das sich so leicht verlierende Individuum“. Deswegen sei die „Freiheit“ des Dichters der Tätigkeit des Geschichtsschreibers, der oft Sklave der „historischen Richtigkeit“ sei, vorzuziehen.165 Für Schiller ergibt sich daraus zunächst eine Konsequenz für seine eigene Tätigkeit auf dem Feld der Geschichtsschreibung, in seinem ‚Brotberuf’ als Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte an der Universität Jena, die der poetischen Wahrheit hohen Tribut zollt und – ähnlich der Goetheschen Konzeption – den Historiographen und damit sein eigenes Schaffen in die Nähe des Dichters rückt: „Die Geschichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie, und die Gegenstände müssen sich gefallen laßen, was sie unter meinen Händen werden.“166 Langfristig trägt diese Überordnung der ‚poetischen’ über die ‚historische Wahrheit’ zu Schillers Rückzug aus der Geschichtswissenschaft und -schreibung und zu seiner (erneuten) Hinwendung zur Dichtung sicherlich in entscheidendem Maße bei. Bei Goethe ergibt sich hingegen eine andere Konsequenz aus einem ähnlichen (Ideal-)Konzept von Geschichtsschreibung, das mit einer bloßen Evidenz ex datis kaum mehr etwas gemein hat: nämlich gerade die Hinwendung zu einer Textsorte, die im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Historiographie angesiedelt ist und Schillers Gegenüberstellung der ‚poetischen’ und der ‚historischen Wahrheit’ im Konzept der „höhere[n] Wahrheit“ aufzuheben versucht. Es bietet sich ihm _____________ 162
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Koopmann, Schiller und die Überwindung der aufgeklärten Geschichtsphilosophie, S.70. Vgl. hierzu ausführlicher Koopmann, Schiller und die Überwindung der aufgeklärten Geschichtsphilosophie, bes. S.67–72. NA 25, S.154: Brief an Caroline von Beulwitz, 10./11. 12. 1788. NA 25, S.154: Brief an Caroline von Beulwitz, 10./11. 12. 1788. NA 25, S.154: Brief an Caroline von Beulwitz, 10./11. 12. 1788.
so die Möglichkeit, als Dichter und als Historiograph gleichermaßen tätig zu werden und sich selbst einen Weg zu historischer Erkenntnis zu bahnen: bei der Arbeit an seinen Autobiographischen Schriften, wie im folgenden Kapitel zu erläutern bleibt.
2.2
Die Autobiographie im Spannungsfeld von Fiktion und Historiographie
Das „Individuum […] und sein Jahrhundert“, die „eigene Bildung und die Wirkung nach außen“, die „innern Regungen“ wie „die Gestalten von hundert bedeutenden Menschen, welche näher oder entfernter auf mich eingewirkt […]; ja die ungeheuren Bewegungen des allgemeinen politischen Weltlaufs“ (DuW I, S.13f.) – dies sind zentrale Formulierungen, mit denen im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit programmatisch Darstellungsverfahren und -intentionen umrissen werden, die dem 1811 veröffentlichten ersten, die Kindheit und Jugend in Frankfurt umfassenden Teil des Autobiographieprojekts zugrunde liegen, das Goethe – mit Unterbrechungen – bis an sein Lebensende beschäftigt. Die zitierten Schlüsselstellen sollen hier noch einmal in Erinnerung rufen, was bereits in der Einleitung als Ausgangsthese entwickelt wurde: dass das im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit entworfene Autobiographieverständnis in wesentlichen Punkten historische Fragestellungen und Zusammenhänge aufgreift und daher von einem engen Zusammenhang zwischen Autobiographiekonzept und Geschichtsdenken auszugehen ist. Sie deuten außerdem an, dass sich Goethes generell skeptische Haltung gegenüber Geschichte und Historiographie, sein Desinteresse an bzw. gar seine Ablehnung von geschichtsphilosophischen Theorien seiner Zeit, seine Schwierigkeiten, sich selbst einen Zugang zu historischen Fragestellungen bzw. zu historischer Erkenntnis zu bahnen, für die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte s o offensichtlich nicht gilt. Zu vermuten bleibt schon hier, dass sich ihm in der eigenen Lebensgeschichte leichter ein kohärenter Sinnzusammenhang erschließen und sich über diesen ‚Umweg’ womöglich doch ein ‚Schlüssel’ auch zur allgemeinen Geschichte finden lässt. Um Goethes Position im zeitgenössischen Geschichtsdiskurs präziser und differenzierter zu verorten, scheint es deswegen gerade nötig, nach seinem Geschichtsdenken im Kontext seines Autobiographieprojekts zu fragen und anhand exemplarischer Analysen zu klären, wie sich das Denken ‚über’ und ‚von’ Geschichte in den einzelnen autobiographischen Texten darstellt. Dass diese dezidiert histori57
sche Perspektive, die das Vorwort eröffnet, nicht etwa nur für den Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit konstitutiv ist, sondern dass es darüber hinaus für die später erschienenen drei Teile von Dichtung und Wahrheit, sogar – eventuell in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlichen Akzenten – für alle autobiographischen Texte Goethes kennzeichnend ist und die autobiographische Darstellung in entscheidendem Maße prägt, deuten die zahlreichen Äußerungen Goethes über sein Autobiographieprojekt an. Sicherlich können und sollen – anders als es viele Arbeiten der Goethe-Philologie lange Zeit unternommen haben – diese ‚Selbstinterpretationen’ des Autors nicht einfach unreflektiert auf seine Texte übertragen werden, denn diese hat man längst nicht in all ihren Facetten, Widerständen und Inkongruenzen erschlossen, wenn man zur Kenntnis nimmt, wie der Autor selbst sie verstanden wissen will. Dennoch leisten die Äußerungen Goethes über sein Autobiographieprojekt einiges: Sie entwerfen Problemhorizonte, die zentrale Aspekte des aktuellen – sei es des literaturwissenschaftlichen, sei es des geschichtswissenschaftlichen – Autobiographiediskurses widerspiegeln bzw. vorwegnehmen und die von einem ausgeprägten Problembewusstsein gerade im Hinblick auf Möglichkeiten und Grenzen autobiographischer Darstellung zeugen, das in der Goethe-Forschung nicht selten übersehen wurde. Daher sollen in einem ersten Schritt dieses Kapitels anhand der Goetheschen Äußerungen zu seinem Autobiographieprojekt bzw. zu einzelnen seiner autobiographischen Texte fünf Problemfelder konturiert werden. Zum einen erscheinen diese Problemfelder für Goethes Gattungsverständnis im Allgemeinen, im Besonderen für die Frage nach dessen Zusammenhang mit seinem Geschichtsdenken relevant. Zum anderen zeigen sie Schlüsselprobleme autobiographischen Schreibens auf, die in einem zweiten Schritt vor dem Hintergrund des aktuellen Stands der nicht nur literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gattung Autobiographie inhaltlich und begrifflich genauer zu bestimmen sind. Anschließend wird im dritten und letzten Schritt ein knappes, auf die Erfordernisse der Frage nach Goethes Geschichtsdenken zugeschnittenes Resümee des Forschungsstands zu den einzelnen autobiographischen Schriften Goethes gegeben, um einerseits zu erläutern, inwiefern die Art der wissenschaftlichen Rezeption von Goethes Autobiographie paradigmatisch für das Interesse an der Gattung überhaupt und damit für die Autobiographietheorie war bzw. ist. Andererseits und vor allem soll hier dargelegt werden, dass sich mit Goethes Autobiographieprojekt – anders als man es womöglich erwarten mag –, durchaus ein Feld auftut, in dem trotz der großen Menge an Sekundärliteratur, die die Goethe-Forschung hervorgebracht hat, immer noch einige Fragen of58
fen sind, unter denen diejenige nach dem Zusammenhang von Goethes Geschichtsdenken und seinem Autobiographieverständnis eine Lücke in der Forschung darstellt, die diese Arbeit zu schließen versucht. 2.2.1
Chancen und Schwierigkeiten – konzeptionelle und poetologische Aspekte von Goethes Autobiographieprojekt
2.2.1.1 Erinnerung als mühsame ‚(Re-)Konstruktionsarbeit’ „An dem zweiten Band meines biographischen Versuchs, habe ich mehr durch Denken und Erinnern gearbeitet, als daß ich viel zu Papier gebracht hätte“, schreibt Goethe kurz vor seiner Abreise nach Karlsbad an Zelter in der Hoffnung, dass es dort „wohl rascher gehen“167 werde. Er nimmt damit ein Problem in den Blick, das sich wie ein roter Faden durch seine zahlreichen Äußerungen über die Arbeit an seinen Autobiographischen Schriften zieht: dass die Erinnerung oft schwer falle und mühsam sei, teilweise sogar ganz versage, sich jedenfalls keineswegs als bloßes ‚Abrufen’ gespeicherter Informationen darstelle. Sie sei dagegen selbst bereits ‚(Re-)Konstruktionsarbeit’, die der ‚Schreibarbeit’ vorausgehen müsse und damit ein aktives Moment in sich berge. Wie der Autor diese ‚Erinnerungsarbeit’ gestaltet, welche Schwierigkeiten dabei begegnen und wie sich Erinnerungs- und Schreibarbeit gegenseitig beeinflussen oder gar bedingen, wird gegenüber Briefpartnern und in Gesprächen über das Autobiographieprojekt immer wieder fokussiert – gerade deswegen, weil die Freunde für Goethe als Erinnerungshilfen und Schlüssel zur Geschichte fungieren – genauer gesagt zu deren eigenen Lebensgeschichten wie auch zu derjenigen Goethes. So bittet er beispielsweise für die ersten Bücher von Dichtung und Wahrheit Bettina Brentano, alles aufzuschreiben, was ihr seine verstorbene Mutter über seine Kindheit erzählt hat, und bedauert dabei, nicht mehr auf die direkte Quelle zurückgreifen zu können: „Meine gute Mutter ist abgeschieden und so manche andre die mir das Vergangne wieder hervorrufen könnten, das ich meistens vergessen habe.“168 Solange dies möglich ist, wendet er sich an noch lebende Zeitgenossen und fragt bei diesen um Mithilfe bei der Erschließung der eigenen bzw. gemeinsamen Vergangenheit an. Zum einen handelt es sich dabei um ganz konkrete _____________ 167 168
FA I/14, S.1012f.: Brief an Carl Friedrich Zelter, 08. 04. 1812. FA II/6, S.611: Brief an Bettina Brentano, 25. 10. 1810.
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Sachinformationen, sogar um genaue Daten – etwa in einem Brief an seinen Frankfurter Freund Johann Friedrich Heinrich Schlosser: „Könnten Sie mir vielleicht den Todestag des Fräulein von Klettenberg anzeigen? Auch wünschte ich folgende Fragen beantwortet. – Wann ist Georg Schlosser zuerst nach Carlsruhe gegangen? Wann hat er sich mit meiner Schwester verlobt, wann verheiratet?“169 Zum anderen scheint Goethe sich der Multiperspektivität historischer Darstellung – insbesondere persönlicher Erinnerungen von Zeitzeugen – bewusst zu sein und in dieser sogar einen Vorteil zu sehen, der die eigene Wahrnehmung ergänzt bzw. unter Umständen sogar verschiebt, deren möglicherweise unterschiedliche Akzentuierungen oder Sichtweisen sich jedenfalls gegenseitig bereichern: „Schon mehrere Freunde z.B. Klinger und Trebra erzeigten mir dieselbe Gefälligkeit und ließen mich von ihrer Seite in Epochen zurücksehen, die ich von der meinen niemals eben so würde durchschaut haben.“170 Handelt es sich bei den Darstellungen der Freunde gleichfalls um erinnernde Rückschau – im engeren Sinne also n i c h t um historische Quellen aus der Zeit, die Goethes autobiographischer Darstellung jeweils zugrunde liegen soll –, so unterstützen seine ‚Erinnerungsarbeit’ ausgiebige Quellenstudien. Er berichtet von „mannigfaltiger Lecture alter und neuer Schriften“171, studiert fremde und eigene Briefe, die er zum Teil dezidiert für die Arbeit an seinem Autobiographieprojekt von seinen Korrespondenzpartnern zurückfordert, und bereut offensichtlich, dass ihm aus einigen Lebensabschnitten kaum mehr authentisches Material zur Verfügung steht, weil dieses Autodafés172 zum Opfer fiel: _____________ 169 170 171 172
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FA I/14, S.1022: Brief an Johann Friedrich Heinrich Schlosser, 26. 03. 1813. FA I/14, S.1030: Brief an Friedrich Johann Justin Bertuch, 15. 12. 1816. FA II/7, S.38: Brief an Carl Ludwig von Knebel, 25. 03. 1812. Regelmäßig – meist an zentralen Wendepunkten seines Lebens und vermutlich motiviert vor allem aus Unzufriedenheit mit den eigenen Werken, gerade auch mit nur Angefangenem und nicht Vollendetem, darüber hinaus auch aus persönlichen Rücksichten etwa gegenüber Korrespondenzpartnern oder auch um einen symbolischen ‚Neuanfang’ zu markieren – vernichtete Goethe Manuskripte, Entwürfe und/oder Briefe, so etwa während der Leipziger Studienzeit 1767/1768 fast alles, was aus seiner Kindheit und Jugend in Frankfurt überliefert gewesen war; kurz darauf in Frankfurt vor der Abreise nach Straßburg folgte das nächste Autodafé, weitere sind durch eigene Erwähnungen im Tagebuch oder in Briefen für die Jahre 1779, 1786 (Verbrennung aller Briefe vor der Italienreise), 1792 (Tagebuch des Frankreichfeldzugs), 1797 (alle seit 1792 eingetroffenen Briefe), 1818 (alle Papiere aus Neapel und Sizilien) und 1829 (die Briefe und Aufzeichnungen aus der Zeit des zweiten römischen Aufenthalts 1787/88) belegt (vgl. dazu Gero von Wilpert, Artikel ‚Autodafés’. In: Wilpert, Goethe-Lexikon, Stuttgart 1998, S.66f. (Kröners Taschenausgabe, Bd. 407). Auffällig ist dabei, dass gerade in späteren Jahren fast ausschließlich biographisches Material und nicht so sehr – wie in Leipzig oder Frankfurt – literarische Werke bzw. Entwürfe den Flammen zum
„Bisher habe ich die Art oder Unart gehabt alles Vergangne eher zu vertilgen als zu bewahren. Nun mag die Zeit des Bewahrens, wenn auch zu spät, eintreten“173, schreibt er bei der Arbeit am Zweiten Teil von Dichtung und Wahrheit an seinen Jugendfreund Klinger. Dass der Mangel an Quellen, gerade aus dem persönlichen Umfeld, große Schwierigkeiten für den Autor darstellt und offensichtlich dazu beiträgt, dass die Arbeit am Vierten Teil von Dichtung und Wahrheit stagniert und schließlich für lange Zeit unterbrochen wird, deutet das hier sogar als ‚Rettung’ bezeichnete Ausweichen in die Redaktion der Italienischen Reise an: „Ich r e t t e mich in eine Epoche, von der mir die entschiedensten Dokumente übrig sind, Tagebücher, Briefe, kleine Aufsätze, unendliche Skizzen, von mir und andern, und zu diesem allen die Gegenwart und Teilnahme meines vortrefflichen Reise- und Lebensgefährten des Hofrat Meyers.“174 All diese – aus eigener und aus fremder Feder stammenden und so mehrere Perspektiven offerierenden – Quellen fungieren jetzt als Schlüssel zur eigenen Vergangenheit und als wichtige „Anregung“175, um die ‚Erinnerungsarbeit’ anzukurbeln. Vermutlich hat die Quellenlage, die sich für einzelne Abschnitte des Goetheschen Lebens zum Teil erheblich unterschiedlich darstellt – der minutiösen, an Quantität und Genauigkeit kaum zu übertreffenden Dokumentation des eigenen Lebens in den letzten Lebensjahrzehnten stehen einige erhebliche Lücken in den frühen Jahren gegenüber – bzw. deren Konsequenzen für die ‚Erinnerungsarbeit’ nicht nur Folgen für die ‚Schreibmotivation’ des Autors und die Geschwindigkeit, mit der er einzelne ‚Epochen’ seines Lebens bearbeitet, sondern sie könnte vielmehr Auswirkungen auf Konzeption und Gestaltung der einzelnen autobiographischen Schriften nehmen – eine Hypothese, die an den Texten zu überprüfen bleibt.176 _____________
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Opfer fiel und zudem noch gerade diejenigen Quellen verbrannt wurden, die den autobiographischen Schriften zugrunde lagen (sofern sie – wie etwa bei der Italienischen Reise – dem Autor zum Zeitpunkt ihrer Abfassung noch zur Verfügung standen). Ob und inwiefern sich in diesen Autodafés die Absicht Goethes widerspiegelt, die Rezeption seines Lebens und Werks selbst zu steuern und das Bild, das er in seinen autobiographischen Texten von sich entwirft, nicht durch eine womöglich abweichende Darstellung in den Quellen getrübt sehen zu müssen, bleibt zu überlegen. FA II/6, S.715: Brief an Friedrich Maximilian von Klinger, 08. 12. 1811. FA II/7, S.405: Brief an Heinrich Carl Abraham Eichstätt, 29. 01. 1815; Hervorhebung WH. FA II/7, S.187: Brief an Carl Ludwig von Knebel, 10. 03. 1813, S.187. Dass gerade im Hinblick auf Dichtung und Wahrheit als d e m Paradigma von Goethes autobiographischem Werk, ja – wie zu zeigen sein wird – der Gattung Autobiographie überhaupt, immer wieder der Wirklichkeits- bzw. Wahrheitsgehalt des Textes diskutiert wird, erscheint an dieser Stelle noch einmal besonders interessant, weil dem Autor hier
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Dass nicht nur die Quellenlage, sondern auch der zeitliche Abstand sowie weitere, näher zu benennende Aspekte Einfluss auf die ‚Erinnerungsarbeit’ (und damit vermutlich auf die angewandten Schreibverfahren) haben, sie sich für einzelne Abschnitte des Lebens einfacher, für andere schwieriger gestaltet, wird ebenfalls mehrfach problematisiert: Die früheren Zeiten der Kindheit und ersten Jugend bleiben lebhaft bestimmt in der Einbildungskraft geprägt, wenn die spätern Ereignisse, die sich leidenschaftlicher über einander drängen, sich wechselseitig aufheben und nur erst mit einiger Anstrengung und von ihrer Seite, wie der Geist des Hohenpriesters widerstrebend hervorrufen lassen.177
Aspekte der Verdrängung, Unterdrückung von Unangenehmem, das man womöglich gar nicht gerne wieder in die Erinnerung zurückruft, von übermächtigen Gefühlen, die einer ‚objektiven’, sachlich korrekten Rückschau im Wege stehen,178 werden hier angedeutet – kurz hingewiesen sei im Zusammenhang mit diesem Zitat auf die signifikante Verwendung des Begriffs „Einbildungskraft“ (und eben nicht der Begriffe ‚Erinnerung’ oder ‚Gedächtnis’!) und auf dessen aktivische Komponente, die den engen Zusammenhang zwischen ‚Erinnerung’ und ‚Imagination’ als (Re-)konstruktionen betont, die oftmals gar nicht so trennscharf voneinander abzugrenzen sind.179 Dass die Erinnerung dabei als schöpferischer Prozess – gleichsam wie eine Kettenreaktion – verstanden werden kann, bei dem oftmals einzelne Gedanken andere hervorrufen und man sich so immer weiter in die eigene Vergangenheit ‚zurückarbeiten’ kann, erläutert Goethe im Zusammenhang mit der Arbeit an den Tag- und Jahresheften, bei denen er deswegen mit der jüngeren Vergangenheit beginnt: „Nach mancherlei Versuchen hab ich endlich von der neusten Zeit angefangen, da ich mich denn bei frischem Gedächtnis nicht lange um Stoff zu bemühen brauche; endlich merke, so rückwärts _____________
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bei seiner ‚Erinnerungsarbeit’ mit Abstand am wenigsten Quellen zur Verfügung stehen und diese sich daher deutlich schwieriger gestaltet als etwa für den Italien-Aufenthalt 1786 bis 1788. FA II/7, S.108: Brief an Friedrich Wilhelm Heinrich von Trebra, 27. 10. 1812. Dass dies nicht nur eine Schwierigkeit der möglichst ‚objektiven’ Rückschau in die (eigene) Vergangenheit, sondern bereits ein Problem der Wahrnehmung der gegenwärtigen Umwelt ist, formuliert Goethe gegenüber Knebel: „Die stärkeren Leidenschaften, die uns beunruhigen, hindern uns an der Aufmerksamkeit auf die Außenwelt und die innere Beschäftigung stumpft gegen die äußeren Wirkungen ab“ (FA II/7, S.187: Brief an Carl Ludwig von Knebel, 10. 03. 1813) – je mehr man mit sich selbst beschäftigt ist, desto weniger nimmt man von äußeren Einflüssen wahr, und umgekehrt. Inwiefern Goethe hier Ergebnisse der neueren Gedächtnisforschung vorwegnimmt, wird an späterer Stelle gezeigt werden.
arbeitend, wie das Bekannte, Gegenwärtige das Verschwundene, das Verschollene wieder zurückruft.“180 2.2.1.2 Sich „mit entfernten Freunden [zu] unterhalte[n]“ – die kommunikativen Funktionen von Goethes Autobiographischen Schriften Die ‚Erinnerungsarbeit’ birgt also vielerlei Schwierigkeiten; einen ‚Schlüssel’ zur eigenen Vergangenheit zu finden, ist oft mühsam, es handelt sich keineswegs immer um angenehme, erfreuliche Erinnerungen. Dass die Arbeit an dem Autobiographieprojekt dennoch in den letzten Lebensjahrzehnten so konsequent verfolgt wird – und zwar gerade zu Beginn der Arbeit an Dichtung und Wahrheit mit besonders großem Enthusiasmus –, verweist darauf, dass sich der Autor von der Veröffentlichung seiner Autobiographie, der Rückschau in sein eigenes Leben, einen ‚Lohn’ verspricht: „[…] ich freue mich, dadurch die einzige Absicht gewiß zu erlangen, daß ich mich mit entfernten Freunden unterhalte und der Gefahr, ihnen bei Lebzeiten abzusterben, entgehe.“181 Das viel zitierte und interpretierte Diktum Goethes, ‚sich selbst historisch geworden zu sein’,182 gehört in diesen Kontext und bezeichnet bekanntermaßen das Gefühl des Autors, als Relikt einer eigentlich vergangenen Epoche anzugehören, in der eigenen Gegenwart ‚fremd’ zu sein, das sich ungefähr seit 1800 einstellt; Schillers Tod 1805 markiert kurz darauf einen gravierenden Einschnitt, mehr und mehr nimmt das Gefühl der Alterseinsamkeit, der Fremdheit in der eigenen Gegenwart dann in den letzten Lebensjahren zu. Es hängt zum einen damit zusammen, dass zahlreiche enge Bezugspersonen lange Zeit vor ihm sterben – neben Schiller Herder 1803, seine Schwester Cornelia schon sehr früh 1777, seine Frau Christiane 1816, Charlotte von Stein 1827, Carl August 1828, schließlich sogar sein Sohn August 1830, um nur die wichtigsten zu nennen –, zum anderen damit, dass die Begeisterung, mit der das Publikum den ‚Sturm-und-Drang-Goethe’ etwa bei Er_____________ 180 181 182
FA II/10, S.71f.: Brief an Carl Friedrich Zelter, 24. 07. 1823. FA II/7, S.86: Brief an Carl Friedrich von Reinhard, 13. 08. 1812. Vgl. z.B. einen Brief an Christian Heinrich Schlosser vom 23. November 1814: „Diese Zeit benutzte ich um mich in mir selbst historisch zu bespiegeln […]“ (FA II/7, S.379). Schließlich wird der Begriff des ‘Sich-Selbst-Historisch-Werdens’ zu einem Topos in den Äußerungen des alten Goethe; vgl. etwa die ähnlichen Formulierungen in einem Brief an Justus Friedrich Carl Hecker vom 07. 10. 1829 (FA II/11, S.178), in einem Brief an Wilhelm von Humboldt vom 01. 12. 1831 (FA II/11, S.494) oder auch in einem Spruch aus „Makariens Archiv“ in Wilhelm Meisters Wanderjahre (FA I/10, S.751).
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scheinen des Werthers gefeiert hatte,183 von späteren Veröffentlichungen nie mehr erreicht werden konnte, ja den späten Werken oft mit Desinteresse, Unverständnis oder gar Ablehnung begegnet wurde.184 Daher motiviert sich die Angst „bei Lebzeiten abzusterben“, der u.a. mit der Arbeit am Autobiographieprojekt bzw. mit der Veröffentlichung seiner einzelnen Teile begegnet werden soll: Ähnlich resignative Töne im Hinblick auf die aktuelle Lebenssituation wie gegenüber Reinhard sowie Aussagen zur Intention der autobiographischen Texte finden sich vielfach in Goethes Korrespondenz. „Was soll’s denn weiter, als daß man das unmittelbare Andenken der Tüchtigen erhält“185, schreibt Goethe an Klinger – nicht nur diesem Freund und anderen ihm nahe stehenden und/oder von ihm geschätzten Personen will er mit seinem autobiographischen Werk ein „freundschaftliches Denkmal […] erbauen“186, sondern vor allem sich selbst. „[B]ei Lebzeiten abzusterben“ bedeutet demnach nicht mehr beachtet, nicht mehr gewürdigt, vergessen zu werden und ‚Erinnerungsarbeit’ als notwendige ‚Vorstufe’ des Schreibens wird so nicht nur sich selbst abverlangt, sondern das „unmittelbare Andenken der Tüchtigen“ als Programm gegen das Vergessen von den Lesern gefordert.187 _____________ 183
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Bekanntermaßen stellte der Roman mit circa 10000 verkauften Exemplaren in den ersten fünf Jahren nach Erscheinen – und rasch einsetzenden Übersetzungen auch im Ausland – einen buchhändlerischen Rekord auf, der nicht nur von modischen Industrie-Artikeln wie Tassen, Fächern, Stickereien und anderen Sammelobjekten mit Werther-Motiven sowie von der Vermarktung der typischen Werther-Kleidung mit blauem Frack und gelber Weste verstärkt wurde, sondern auch eine ganze Generation mit dem ‚Wertherfieber’ infizierte. Einen kurzen Überblick mit weiterführenden Literaturangaben bietet Gert Mattenklott, Artikel ‚Die Leiden des jungen Werthers’. In: GHb 3, hg. von Bernd Witte u.a., Stuttgart und Weimar 1997, S.51–101, zur „Wirkung“ bes. S.94–98. Dass der alternde Goethe Enttäuschung und Zorn darüber, „zum steinernen Monument ohne Herz und Empfindungen stilisiert“ und von seinen Zeitgenossen nicht mehr wahrgenommen oder gar verstanden zu werden, mitunter nur mühsam hinter einer nur „scheinbare[n] Gelassenheit“ verbergen konnte, führt Wolfgang Frühwald aus (vgl. Wolfgang Frühwald, Goethes Spätwerk – die Erfahrung, sich selbst historisch zu werden. In: GJb 114 (1997), S.23–34, hier S.23). FA I/6, S.715: Brief an Friedrich Maximilian von Klinger, 08. 12. 1811. FA I/7, S.341: Brief an Friedrich Maximilian von Klinger, 08. 05. 1814. Der für Goethes Autobiographieprojekt zentrale Begriff „Denkmal“ wird in der gesamten Arbeit noch mehrfach zitiert und dann nicht jedes Mal wieder nachgewiesen werden. Dass sich diese Forderung sicherlich nicht nur an das gegenwärtige, sondern gerade auch an das zukünftige Publikum richtet, in dessen Gedächtnis Goethe sich mit seinem autobiographischen Werk ‚festschreiben’ will, kann an dieser Stelle nur vermutet werden, markiert aber einen Aspekt, der im weiteren Verlauf dieser Arbeit verfolgt werden muss.
Der Autor fokussiert offensichtlich gezielt einen bestimmten Teil des potentiellen Lesepublikums: „Mit entfernten Freunden und Geistesverwandten mich zu unterhalten ist dabei meine einzige Absicht: denn diese sind es ja eigentlich nur, die man zu Zeugen seines vergangenen Lebens und Treibens, und zur Teilnahme am gegenwärtigen aufrufen kann.“188 Gegenüber den (alten) Freunden dient die Autobiographie dazu, die Kommunikation zu beleben oder überhaupt erst wieder zu initiieren, sie selbst kann als kommunikativer Akt gewertet werden, auf den die Freunde reagieren, Goethe daraufhin wieder mit einem Brief antwortet oder zu dessen Konzeption und Fertigstellung sie durch ihre ‚Erinnerungshilfen’ bereits selbst einen Beitrag geleistet haben. Nicht nur die Erinnerung allein, sondern vielmehr noch der kommunikative Austausch über die (gemeinsame) Vergangenheit bietet eine Möglichkeit, der Einsamkeit zu begegnen: Denn indem ich mir jene Zeiten zurückrufe, und die Gegenstände, die sich mir in der Erinnerung darbieten, zusammenarbeite, gedenke ich meiner abwesenden Freunde als wenn sie gegenwärtig wären, glaube meine Reden an sie zu richten und kann also wohl für das Geschriebene eine gute Aufnahme hoffen.189
Zum einen sieht der Autor in den einzelnen Veröffentlichungen seines Autobiographieprojekts also einen Beitrag zum beinahe ‚privatpersönlich’ anmutenden Austausch mit einem ihm aufgrund freundschaftlicher Verbindungen ohnehin wohlgesonnenen exklusiven Teil des Lesepublikums, zum anderen erhofft er sich darüber hinaus mit der Rückschau auf das eigene Leben und Werk das Interesse – die „Teilnahme“, wie es in zahlreichen Briefen heißt190 – eines größeren Publikums wieder auf sich ziehen zu können. Tatsächlich freut er sich nach der Veröffentlichung des ersten Bandes von Dichtung und Wahrheit über „so viele teilnehmende Stimmen aus dem Publikum“191, von dessen Beachtung und Wohlwollen er nicht unabhängig zu sein scheint: „Erfahre ich zugleich, daß man über meine Schriften, meine Persönlichkeit recht ernstlich zu denken und darüber bedachtsam zu urteilen geneigt ist; so gereicht es mir zu großer Förderung.“192 Außerdem bekennt er, _____________ 188
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FA I/14, S.1009: Brief an Johann Friedrich Rochlitz, 11. 09. 1811. Vgl. ganz ähnlich dazu auch FA 14, S.1009: Brief an Johann Friedrich Cotta, 04. 05. 1811. FA II/7, S.26f.: Brief an Carl Friedrich von Reinhard, 13. 02. 1812. Vgl. FA 14, S.1009: Brief an Johann Friedrich Rochlitz, 11. 09. 1811; FA II/7, S.405: Brief an Heinrich Carl Abraham Eichstätt, 29. 01. 1815 u. ö. FA I/14, S.1009: Brief an Cotta, 28. 09. 1811. FA II/7, S.9: Brief an Friederike Caroline Sophie Prinzessin von Solms-Braunfels, 01. 01. 1812.
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gegen „den wahren Erfolg […] nicht im mindesten gleichgültig [zu sein]; vielmehr ist der Glaube an denselben immer mein Leitstern bei allen meinen Arbeiten.“193 Dementsprechend macht sich bei der Auseinandersetzung mit den (Nicht-)Reaktionen des größeren Publikums auf seine klassischen, noch mehr auf seine nachklassischen Werke während der Arbeit an den ersten Bänden von Dichtung und Wahrheit, als er gezwungen ist, sich mit dem eigenen Leben und mit dem literarischen (Nicht-)Erfolg auseinanderzusetzen, unmissverständlich Verbitterung bemerkbar: Das Publikum sei nicht aufgeschlossen „für neue Formen“ und so habe er sich als Autor „jederzeit isoliert gefunden, weil nur mein Vergangenes wirksam war und ich zu meinem Gegenwärtigen keine Teilnehmer finden konnte.“194 Ganz ähnlich wie im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit formuliert wird, betont Goethe in seiner Korrespondenz, dass „[…] sich meine Schriften vom Leben nicht sondern [lassen], deshalb ich auch schon 5 biographische Bändchen geschrieben habe“195, die dem Leser „die Stufen meiner Bildung“196 aufwiesen und so womöglich zur Verständigung zwischen Autor und Publikum beitragen könnten. Mit um so größerer Genugtuung wird dann registriert, wenn es tatsächlich gelingt, mit Teilveröffentlichungen des Autobiographieprojekts ein größeres Publikum zu erreichen und sich auch in das Gedächtnis jüngerer Leser einzuschreiben, sich selbst, den eigenen Leistungen und damit dem eigenen ‚Literaturprogramm’ durch positive Beachtung gerade bei nachfolgenden Generationen eine exponiertere Position im literarischen Feld197 der Gegenwart zurückzuerobern: „Ihr freudiges Aufnehmen meiner Italiänischen Reise tut mir sehr wohl und ich werde um desto fleißiger an dem 2. Teile arbeiten. Wie vor Zeiten die älteren Autoren für uns Jünglinge schrieben, so müssen wir für euch Jünglinge schreiben.“198 _____________ 193 194
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FA II/7, S.20: Brief an Johann Friedrich Rochlitz, 30. 01. 1812. FA II/7, S.179f.: Brief an Carl Ludwig von Woltmann, 05. 02. 1813. Vgl. zur Auseinandersetzung mit dem Publikum ausführlicher auch FA II/7, S.20–22: Brief an Johann Friedrich Rochlitz, 30. 01. 1812. FA II/8, S.252: Brief an Johann Friedrich von Cotta, [20.] 02. 1819. FA II/7, S.385: Brief an Johann Friedrich von Cotta, 21. 12. 1814. Der Begriff ‚literarisches Feld’ wird im Sinne des literatursoziologischen Ansatzes von Pierre Bourdieu verwendet, auf den im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch genauer eingegangen wird. FA II/8, S.69f.: Brief an Sulpiz Boisserée, 16. 12. 1816. Vielleicht in besonders exponiertem Maße kann die Italienische Reise, bei der es gerade um die klassische „Wiedergeburt“ (FA I/15.1, S.160 u. ö. Auch im Folgenden wird die Italienische Reise nach der Frankfurter Ausgabe zitiert; Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle IR nachgewiesen) des Autors, um den literaturgeschichtlich bedeutsamen ‚Durchbruch’ zur Klassik geht, als Verteidigung der klassischen Literatur post festum gelesen werden;
Wie sehr die Konzeption und Abfassung der einzelnen Teile des Autobiographieprojekts erfolgsorientiert ist, die Wirkung auf das Publikum, auf bestimmte und ganz unterschiedliche Zielgruppen, gar auf einzelne Personen, mitbedacht wird, verdeutlichen außerdem explizite Rücksichtnahmen auf noch lebende Personen – so wird etwa Riemer bei der Durchsicht des Manuskripts zum Dritten Teil von Dichtung und Wahrheit aufgefordert, „besonders […] auf dasjenige zu merken, was von noch lebenden Personen gesagt ist“199 – und ‚Botschaften’, die gezielt an bestimmte Leser adressiert sind: „Wie vieles in diesem Werklein [im Zweiten Teil von Dichtung und Wahrheit] ist unmittelbar an Sie gerichtet!“200, schreibt Goethe an seinen Freund Zelter. Dass jeder literarische Text als Stellungnahme im literarischen Feld gelesen werden kann, ist keine neue Erkenntnis – darüber hinaus ist aber aus den Äußerungen Goethes zu schließen, dass er in seinem Autobiographieprojekt bewusst und in besonderem Maße einen kommunikativen Akt, im Sinne der Sprechakttheorie eine Handlung sieht, die Wirkung auf das Publikum sowie die eigene Positionierung im literarischen Feld stets im Blick hat, müsste Konsequenzen für Konzeption und Schreibverfahren haben, die im Hauptteil an den Texten zu untersuchen sind. 2.2.1.3 Das Ich als „lebendiger Zeuge“ einer „Zeit […], wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen“ E i n e solche Konsequenz deutet Goethe selbst programmatisch in Gesprächen und in seiner Korrespondenz mehrfach an: Wenn mit der Veröffentlichung der Autobiographie intendiert ist, sich selbst wieder einen ‚Platz’ in der Gegenwart zurückzuerobern und die eigene ‚Bedeutung’ für die Zeitgenossen herauszustellen, so muss es bei der rückblickenden Darstellung des eigenen Lebens in besonderem Maße darum gehen, die vollbrachten ‚Leistungen’ und die Wirkung auf die ‚Epoche’ _____________
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auch bei den anderen autobiographischen Schriften ist jedoch das Festhalten, das programmatische Bekenntnis zur klassischen Kunst und Literatur e i n zentrales Thema, auf das noch einzugehen sein wird. Der für die Italienische Reise zentrale Begriff „Wiedergeburt“ wird in der gesamten Arbeit noch mehrfach zitiert und dann nicht jedes Mal wieder nachgewiesen werden. FA II/7, S.248: Brief an Friedrich Wilhelm Riemer, 27. 07. 1813. Ausführlicher wird die Gefahr, noch lebende Personen durch die Darstellung womöglich zu verletzen, im Zusammenhang mit der Lili-Episode im Vierten Teil von Dichtung und Wahrheit reflektiert; vgl. FA II/12, S.698–700: Gespräch mit Eckermann, 05. 03. 1830. FA 14, S.1015: Brief an Carl Friedrich Zelter, 03. 11. 1812.
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zu exponieren: „Ich bin genötigt in die Welt- und Literargeschichte zurück zu gehen, und sehe mich selbst zum erstenmal in den Verhältnissen, die auf mich gewirkt und auf die ich gewirkt habe“201. Nicht das Individuum für sich ist von Interesse, sondern die Wechselwirkung zwischen Individuum und seiner ‚Epoche’, die es mitprägt und von der es mitgeprägt wird – und diese Maxime wird keineswegs nur auf das erzählte Ich202 selbst bezogen, sondern ergibt die Leitlinie, an der sich ebenfalls die Darstellung anderer ‚bedeutender Persönlichkeiten’ anlehnen soll, denen Goethe in seinen Autobiographischen Schriften ein „freundschaftliches Denkmal“203 errichten will. So solle der Abschnitt über Shakespeare im Dritten Teil von Dichtung und Wahrheit nicht dessen Leben und Werk als solches in den Blick nehmen, sondern wieder geht es – einer Aussage gegenüber Zelter zufolge – um die „ersten Wirkungen Shakespears in Deutschland.“204 ‚Wirkung’ einzelner Individuen bzw. ‚Wechselwirkung’ zwischen Individuum und Zeitverhältnissen fungieren als programmatische Schlüsselbegriffe für Goethes Autobiographieverständnis bzw. für seine eigene Darstellungsabsicht und zahlreiche seiner Äußerungen rufen daher das autobiographische ‚Programm’ in Erinnerung, das im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit entfaltet wird: _____________ 201 202
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FA II/6, S.617: Brief an Johann Friedrich Cotta, 16. 11. 1810. Hier und im Folgenden werden die Begriffe ‚erzähltes Ich’ und ‚erzählendes Ich’ verwendet, um die Distanz zwischen dem (jungen) Goethe, dessen Leben im Text erzählt wird, und dem (alten) Goethe, der im Text sein Leben erzählt, zu verdeutlichen. Diese Unterscheidung erfolgt in Anlehnung an die erzähltheoretischen Überlegungen von Matias Martinez und Michael Scheffel, die zwar nur beiläufig auf den Sonderfall des autobiographischen Ich-Erzählers eingehen und die Autobiographie als „Idealfall einer homo- bzw. autodiegetischen Erzählung“ bestimmen (Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. 8. Auflage, München 2009, S.83), gleichwohl allerdings generell bei fiktionalen und faktualen Erzählungen darauf hinweisen, dass in Ich-Erzählungen „die erste Person“ grundsätzlich „zwei unterschiedliche Rollen des Ichs umfasst: ein erzählendes und ein erzähltes bzw. erlebendes Ich“ (Martinez und Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S.81). Schon hier sei mit Blick auf diese Begrifflichkeit auf die gattungstheoretischen Überlegungen zur Autobiographie verwiesen, die in diesem Kapitel folgen und verdeutlichen werden, wie wichtig die Unterscheidung von erzähltem und erzählendem Ich gerade für Goethes Autobiographiekonzept ist. Sie werden genauer erläutern, dass Goethe in seinen Autobiographischen Schriften als Autor weder die Geschichte noch sich selbst so ‚abbilden’ kann, wie sie wirklich gewesen sind. Vielmehr ‚schreibt’ er ein Subjekt, das er als sich selbst ausgibt, und präsentiert damit einen ‚Selbst-Entwurf’ in Vergangenheit und Gegenwart: ein erzähltes und ein erzählendes Ich, die beide Konstruktionen sind und nicht etwa als bloße ‚Übertragung’ der Identität des Autors in seine autobiographischen Texte verstanden werden können. FA I/7, S.341: Brief an Friedrich Maximilian von Klinger, 08. 05. 1814. FA II/7, S.139: Brief an Carl Friedrich Zelter, 12. 12. 1812.
Aufrichtig zu sagen, ist es der größte Dienst, den ich glaube meinem Vaterlande leisten zu können, wenn ich fortfahre, in meinem biographischen Versuche die Umwandlungen der sittlichen, ästhetischen, philosophischen Kultur, insofern ich Zeuge davon gewesen, mit Billigkeit und Heiterkeit darzustellen, und zu zeigen, wie immer eine Folgezeit die vorhergehende zu verdrängen und aufzuheben suchte, anstatt ihr für Anregung, Mitteilung und Überlieferung zu danken.205
Unmissverständlich deutlich wird in diesem Zusammenhang, dass die Goethesche Autobiographie wesentlich von historischem Interesse motiviert ist und historiographische Darstellungsverfahren einbezieht. Dabei eröffnet sich hier eine geradezu geschichtsphilosophisch zu nennende Perspektive, wenn der ‚Gang’ der Geschichte – von Goethe dezidiert negativ verstanden – als dynamischer Prozess mit radikalen Neuanfängen und Brüchen mit Vergangenem – beinahe als gewaltsamer Widerstreit der aufeinander folgenden ‚Epochen’, von denen die spätere die frühere zu ‚vernichten’ sucht – betrachtet wird. Auch soll das erzählte Ich offensichtlich als ‚Zeitzeuge’ seiner Epoche vorgeführt werden, der Geschichte nicht nur miterlebt, sondern entscheidend von ihr geprägt wird, und dessen individuelle Entwicklung daher nur vor dem Hintergrund des historischen Kontexts nachvollziehbar ist. Dabei erweist sich Goethe ‚seine’ Epoche rückblickend als besonders interessant, wie er gegenüber Eckermann betont: Ich habe den großen Vorteil, fuhr er [Goethe] fort, daß ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten, so daß ich vom siebenjährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der französischen Revolution, und endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum Untergange des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war.206
Konsequenterweise „streifen“ so die Autobiographischen Schriften Goethes „in ihrem einfachen Gang an die Weltgeschichte oder die Weltgeschichte – wenn man will – streift an sie.“207 _____________ 205 206 207
FA II/7, S.308f.: Brief an Franz Bernhard v. Bucholtz, 14. 02. 1814. FA II/12, S.91: Gespräch mit Johann Peter Eckermann, 25. 02. 1824. HA 10, S.567: Brief an Staatsrat Christoph Friedrich Ludwig Schultz, 31. Mai 1825. .Diese Aussage ist auf die Tag- und Jahreshefte bezogen, die „sich von unbedeutenden Einzelheiten bis zu dem wichtigsten Allgemeinsten [bewegen]“, die Goethe im selben Brief noch als „sonderbare[…] Hefte“ bezeichnet, die er „nicht recht zu nennen weiß“ (HA 10, S.567: Brief an Staatsrat Christoph Friedrich Ludwig Schultz, 31. Mai 1825) – ob bzw. inwiefern sie daher für a l l e autobiographischen Werke Goethes (gleichermaßen) ihre Gültigkeit hat oder in besonderem Maße eben für die Tag- und Jahreshefte gilt, wird im Hauptteil dieser Arbeit zu untersuchen sein.
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2.2.1.4 Entwicklung und positive Leistungen – Goethes teleologischer Blick auf das Individuum Vor dem Hintergrund des programmatischen Anspruchs, den Zusammenhang zwischen individueller Entwicklung und geschichtlichen Verhältnissen herauszuarbeiten und dabei Stellung und Bedeutung des Individuums in seiner und für seine ‚Epoche’ zu umreißen, werden Äußerungen Goethes verständlich, mit denen er sein Verhältnis zur autobiographischen Tradition skizziert: Zwar verwendet er zu Beginn der Arbeit an Dichtung und Wahrheit in seiner Korrespondenz und in seinem Tagebuch mehrfach die Bezeichnung „Confessionen“208 oder „Bekenntnisse“209 für seine Autobiographie und knüpft damit an zwei für ihre jeweilige Entstehungszeit signifikante und für die Entwicklung der Gattung grundlegende Autobiographien an, nämlich an die Confessiones des Augustinus und die Confessions von Jean-Jacques Rousseau. Außerdem rufen diese Termini beim zeitgenössischen Leser unmissverständlich die Tradition der pietistischen Autobiographik210 in Erinnerung, in der das Schreiben der eigenen Lebensgeschichte vor allem die Funktion einer Beichte innehat. Die Perspektive auf das Individuum, die mit diesen Begriffen verbunden ist, lehnt Goethe jedoch ab und so kann sein Tagebucheintrag vom Mai 1810 als indirekte Kritik an eben diesen Autobiographiekonzepten verstanden werden: „Jeder, der eine Konfession schreibt, ist in einem gefährlichen Falle, lamentabel zu werden, weil man nur das Morbose, das Sündige bekennt und niemals seine Tugenden beichten soll.“211 Augustinus’ Rechenschaft ist an Gott _____________ 208
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Johann Wolfgang von Goethe, Werke. 133 Bände in 143 Teilen, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1919 [Reprint München 1987]. Ergänzt durch 3 Nachtrags-Bände zu Abteilung IV: Briefe, hg. von Paul Raabe, München 1990 [Sophienausgabe; Weimarer Ausgabe]. Abteilung IV, Bd. 22, S.169: Brief an Cotta, 28. 09. 1811. Im Folgenden: Sigle WA für Weimarer Ausgabe. Im Tagebuch vom 18. 05. 1810 wird die „Confession“ erwähnt (WA III/4, S.121). FA II/6, S.611: Brief an Bettina Brentano, 25. 10. 1810. Vgl. zur pietistischen Autobiographik die grundlegende Monographie von Schrader: Hans-Jürgen Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ „Historie der Wiedergebohrnen“ und ihr geschichtlicher Kontext, Göttingen 1989 (Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen, englischen und skandinavischen Philologie, Bd. 283). Dass Goethe zwar kein Pietist war, Religiosität und Weltbild gerade des jungen Goethe sich aber auch in der Auseinandersetzung mit radikalpietistischem Gedankengut entwickelte – etwa in der Begegnung mit dem Kreis um Susanna von Klettenberg in seiner Frankfurter Zeit zwischen 1768 und 1770 – betonen die Beiträge einer Tagung, die 1999 in Halle stattgefunden hat: Hans-Georg Kemper und Hans Schneider (Hgg.): Goethe und der Pietismus, Niemeyer 2001 (Hallesche Forschungen, Bd. 6). HA 10, S.551: Tagebuch vom 18. 05. 1810.
adressiert und zu ihr gehört vor allem – wie dann auch in der pietistischen Autobiographik – die Beichte der eigenen Sünden, Rousseaus ‚Bekenntnisse’ wenden sich dagegen mehr und mehr an den Leser, doch wird hier versichert: „J’ai dit le bien et le mal avec la même franchise. Je n’ai rien tu de mauvais, rien ajouté de bon“.212 Bei Goethe dagegen werden – wie schon seine programmatisch zu lesenden Äußerungen ankündigen – ‚Gutes’ und ‚Schlechtes’ keineswegs mit der gleichen ‚Aufrichtigkeit’ berichtet, schon gar nicht kommt ihnen der gleiche Stellenwert zu, denn ‚gefährlich’ ist für Goethe das ‚Lamentable’, das die eigene Person „zusammenschrumpf[en…]“ lässt, weil es der Autobiographie eine Stoßrichtung gebe, die keineswegs „ein Bild des Menschen, wie er etwa mag sein oder gewesen sein“ entwerfe, sondern vom Leser bei der Lektüre „erst wieder das, was wir von seinen Handlungen gesehen, was wir von seinen Schriften gelesen haben chymisch hinzugetan werden [muss.]“213 Gerade in diesem Zusammenhang hat Goethes Darstellungsabsicht, die ‚Wirkung’ und ‚Bedeutung’ und damit die positiven Leistungen des Individuums in den Vordergrund stellt und das Ziel verfolgt, sich selbst mit und in seinem Text ein „Denkmal“ zu errichten, ihre Konsequenzen: Zum einen erlegt der Autor sich selbst für seine „biographischen Stunden“ eine grundsätzliche „Heiterkeit“ auf, „damit sich in die Reflexionen, die doch einmal angestellt werden sollen, nichts Trübes und Unreines mische“214, um die Darstellung „nicht zu ernsthaft“ werden zu lassen und ihr „eine gewisse spezifische Leichtigkeit“215 zu geben. Zum anderen geht es ihm um das Nachzeichnen seiner Entwicklung, dabei die bewusste oder unbewusste Förderung durch andere einbeziehend und wiederum ausgehend von der Vorstellung der ‚Wechselwirkung’ nicht nur zwischen Individuum und Zeitverhältnissen, sondern auch zwischen einzelnen Individuen, denn „Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern und Mitle_____________ 212
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Jean-Jacques Rousseau, Les confessions. Tome 1. Introduction par Philippe van Tieghem, Paris 1962, S.25. Die Autobiographiekonzeptionen von Augustinus und Rousseau können hier nur skizzenhaft angedeutet werden. Vgl. detaillierter und mit weiterführenden Literaturangaben zu Augustinus: Kurt Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980, bes. S.229–262; zu Rousseau: Birgit Nübel, Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800. Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz, Tübingen 1994 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 136), bes. S.82–133; Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff, München 1988, bes. S.268– 298 (zu Rousseau). FA II/2, S.449: Brief an Johann Kaspar Lavater, 04. 10. 1782. FA II/7, S.139: Brief an Carl Friedrich Zelter, 12. 12. 1812. FA II/7, S.100: Brief an Carl Friedrich Zelter, 02. 09. 1812.
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benden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig.“216 Obwohl er dabei auf „Epochen“ seines Lebens eingeht, die „eher stockend als vorschreitend“217 sind, wie etwa im Hinblick auf den Zweiten Teil von Dichtung und Wahrheit mehrfach betont wird, der „seinem Inhalte nach nicht der günstigste“218 sei, so liegt der Interessen- und Darstellungsschwerpunkt auf den für Mit- und Nachwelt positiven Leistungen, Ergebnissen des eigenen Lebens. Deutlich scheint hier Goethes Entelechie-Konzept durch, das das Leben eines jeden Menschen vor dem Hintergrund eines vorherbestimmten Telos interpretiert: Denn es ist ja, bei einem fortschreitenden Tun und Handeln nicht die Frage was einzeln lobens- oder tadelnswert, bedeutend oder unbedeutend sei? sondern was im Ganzen für eine Richtung genommen worden und was daraus zuletzt für das Individuum selbst, für seine nächsten Zeitgenossen, irgend für ein Resultat sich ergeben, und was daher für die Zukunft zu hoffen sei. 219
Wieder – und hier werden die Überlegungen bestätigt, die sich im Kontext der gezielten und bewusst gestalteten Kommunikation mit dem Publikum durch und über den autobiographischen Text ergaben – liegt die Zielperspektive unmissverständlich in der Gegenwart: Angedeutet wird, dass ein genaues, sachlich detailliertes und an den einzelnen ‚Fakten’ des Lebens orientiertes Nachzeichnen der eigenen Vergangenheit weniger wichtig ist als die Darstellung der eigenen Existenz und der eigenen Leistungen für die Gegenwart und für die Nachwelt, wie sie sich dem Autobiographen j e t z t präsentieren und wie er sie von seinem Publikum gesehen und beurteilt wissen will. Der Gräfin Josephine O’Donnell, die sich positiv zum Zweiten Teil von Dichtung und Wahrheit geäußert hat, gibt Goethe Recht, dass er „eigentlich nur mein späteres Leben hinter das frühere verstecken kann“ und so scheint „biographische Masquerade“220 womöglich der treffendere Ausdruck für Goethes Autobiographieprojekt zu sein als „Confessionen“ oder „Bekenntnisse“, zumindest jedoch auf einen für die Wirkungsabsicht zentralen Aspekt des Projekts hinzuweisen: Das, was aus der Perspektive des Schreibenden von Bedeutung ist und was er von Zeitgenossen und Nachwelt an Lebensleistungen wahrgenommen und erinnert wissen will, ist für die Darstellung jüngerer Jahre immer prägend – der jüngere, vergangene Goethe wird nur als ‚Maske’ aufgesetzt, um den alten, den gegenwärtig schreibenden, zu tarnen. _____________ 216 217 218 219 220
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FA II/12, S.158: Gespräch mit Eckermann, 12. 05. 1825. FA II/7, S.27: Brief an Carl Friedrich von Reinhard, 13. 02. 1812. FA I/14, S.1013: Brief an Carl Friedrich Zelter, 08. 04. 1812. FA II/11, S.253: Brief an Heinrich Gustav Hotho, 19. 04. 1830. FA II/7, S.160: Brief an Gräfin Josephine O’Donell, 22. 01. 1813.
2.2.1.5 „[E]in Roman oder eine Geschichte“? Goethes Sicht des Schlüsselproblems autobiographischen Schreibens Der Titel, unter dem Goethes autobiographisches Hauptwerk, die Darstellung seines Lebens von seiner Geburt bis zum Aufbruch nach Weimar, schließlich erscheint, hat der Goethe-Philologie lange Zeit Rätsel aufgegeben. Die Deutung dieses „einigermaßen paradoxen Titel[s]“221 – Goethe hat zunächst „Wahrheit und Dichtung“ im Auge und ändert kurz vor der Veröffentlichung des Ersten Teils die Reihenfolge in Dichtung und Wahrheit – wird immer wieder kontrovers diskutiert, zumal in ihm ein Schlüsselproblem der (theoretischen) Auseinandersetzung mit der Gattung Autobiographie anklingt, nämlich die Frage nach der Referenz, nach der ‚Wahrheit’ oder gar der ‚Wirklichkeit’ des Erzählten. Gerade wenn man die nicht wenigen Äußerungen des Autors, in denen die Gattungszugehörigkeit bzw. die Gattungsspezifika des Textes reflektiert werden, vor dem Hintergrund der vor und bei der ‚Schreibarbeit’ zu leistenden ‚Erinnerungsarbeit’ und ihrer Schwierigkeiten sowie im Zusammenhang mit der erklärt auf die Gegenwart des Schreibenden abzielenden Wirkungsintention und Kommunikationsfunktion liest, wird verständlicher, welche konzeptionellen Prämissen hinter dem Titel Dichtung und Wahrheit stehen: Wenn Goethe zu Beginn der Arbeit an seinem Autobiographieprojekt noch nicht weiß, ob daraus „ein Roman oder eine Geschichte“222 werden wird, von der „Halb Poesie meines biographischen Versuches“223 spricht, so ist damit nicht gemeint, dass sich etwa einzelne Passagen der Autobiographie rein fiktiv als ‚Dichtung’ bezeichnen ließen, hingegen andere ganz und gar die Vergangenheit des Autors wiedergäben, wie sie ‚wirklich’ gewesen ist. Sehr deutlich und ausführlich erläutert Goethe sein Autobiographiekonzept, das sich in der Titelformulierung „Dichtung und Wahrheit“ andeutet und das hinter der bereits zitierten Kurzformel der „höhere[n] Wahrheit“ steht, in einem Brief an Zelter. Abgesehen davon, dass hier selbst die gewählte Titelformulierung mit dem gezielten Kalkül ihrer Wirkung auf das Publikum begründet wird – da dieses sowieso schon „immer an der Wahrhaftigkeit solcher biographischen Versuche einigen Zweifel hege“, reize ihn ein „gewisse[r…] Widerspruchs-Geist“ dazu, diesen „Zweifel“ durch das Bekenntnis zu einer „Art von Fiktion“ noch zu befördern und gerade durch diesen „einigermaßen paradoxen Titel“ das _____________ 221 222 223
FA 14, S.1035: Brief an Carl Friedrich Zelter, 15. 02. 1830. FA II/6, S.611: Brief an Bettina Brentano, 25. 10. 1810. FA 14, S.1025: Brief an Charlotte von Stein, 01. 12. 1813.
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Leserinteresse zu steigern. Den Anspruch auf ‚Wahrheit’ reklamiere der Text jedoch durchaus: […] es war mein ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrucken. Wenn aber ein solches in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückerinnerung, und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt, gewissermaßen das dichterische Vermögen auszuüben, so ist es klar daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken, als die Einzelnheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und hervorheben werde.224
Sehr realistisch schätzt der Autor, der die Schwierigkeiten bei der ‚Erinnerungsarbeit’ so oft reflektiert, hier deren Konsequenzen für Konzeption und Schreibverfahren, besonders für den ‚Wahrheitsgehalt’ der Autobiographie ein: Obwohl seiner Arbeit ein „ernstestes Bestreben“ nach dem „eigentliche[n] Grundwahre[n]“ zugrunde liege, so könne dieser Anspruch schon allein aufgrund der großen zeitlichen Distanz zwischen erzählendem Ich und erzähltem Ich kaum jemals eingelöst werden – jedenfalls nicht, wenn man sich unter ‚Wahrheit’ „die Einzelnheiten, wie sie sich damals ereigneten“ vorstelle. Vielmehr werden gegenüber Zelter die Begriffe „Rückerinnerung“, „Einbildungskraft“ und „dichterische[s] Vermögen“ ganz eng aufeinander bezogen, Erinnerungsarbeit in ihrer aktiven, schöpferischen Komponente mit Schreibarbeit gleichgesetzt bzw. Erinnern und Dichten als Tätigkeiten begriffen, die sich wechselseitig befördern und bedingen: nur mittels des Schreibens erarbeitet bzw. ‚entwirft’ sich das erzählende Ich „das eigentliche Grundwahre“ – dies allerdings nicht verstanden als eine wirklichkeitsgetreue und detaillierte ‚Abbildung’ einzelner ‚Fakten’ des Lebens, sondern als „die Resultate und, wie wir uns das Vergangene j e t z t d e n k e n “ [Hervorhebung WH]. Wieder liegt der Fokus auf dem ‚Jetzt’, auf der Gegenwart und auf dem ‚Denken’ des erzählenden Ichs als (Re-)Konstruktionsakt – an dessen „Rückerinnerung“ muss sich der Wahrheitsanspruch der Autobiographie messen. Interessant ist, dass Goethe gerade an dieser Stelle eine Parallele zwischen Autobiographie und Historiographie zieht: Bringt ja selbst die gemeinste Chronik notwendig etwas von dem Geiste der Zeit mit, in der sie geschrieben wurde. Wird das vierzehnte Jahrhundert einen Kometen nicht ahnungsvoller überliefern als das neunzehnte? Ja ein bedeutendes Ereignis wird man, in derselben Stadt, Abends anders als des Morgens erzählen hören.225
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FA 14, S.1035: Brief an Zelter, 15. 02. 1830. FA 14, S.1035: Brief an Zelter, 15. 02. 1830..
In der Historiographie bringt die Perspektivität der Darstellung Konsequenzen für ihren ‚Wahrheitsgehalt’ mit sich und Sichtweisen und Wertungen des Verfassers und seiner Zeit fließen in die ‚Geschichte’ ein, so sehr sich der Historiograph auch um einen ‚objektiven’ Standpunkt bemüht. Deswegen hofft der Autobiograph, dass vielleicht zumindest Der gründliche und freidenkende Historiker […] am ersten im Fall [ist], solche problematische Produktionen zu beurteilen und zu würdigen, er stößt sich nicht daran, daß man ihm Dichtung und Wahrheit anbietet, da er weiß, wie viele Dichtung er von bedeutenden historischen Monumenten abziehn muß, um die Wahrheit übrig zu behalten.226
Die bislang zitierten Äußerungen Goethes zum ‚Wahrheitsgehalt’ seiner Autobiographie, zum Verhältnis von Fiktum und Faktum, zur außersprachlichen ‚Referenz’ seines Textes beziehen sich alle auf (meist einzelne Bände von) Dichtung und Wahrheit – die weniger zahlreichen Äußerungen, in denen er ähnliche Probleme im Zusammenhang mit anderen autobiographischen Texten reflektiert, legen jedoch die Vermutung nahe, dass trotz der vielfach konstatierten Heterogenität von Goethes Autobiographieprojekt das skizzierte Konzept der „höhere[n] Wahrheit“ als Darstellungsprinzip des gesamten Projekts gleichermaßen fungiert. So wird bei der Redaktion des Reisetagebuchs für Charlotte von Stein für die Veröffentlichung des Ersten Teils der Italienischen Reise „das Unbedeutende des Tages“227 gelöscht und dementsprechend werden die ‚Resultate’, die ‚Wirkung’ des eigenen Lebens für und auf Zeitgenossen und Nachlebende betont. Immer wieder reflektiert Goethe außerdem – vor allem im Hinblick auf die Tag- und Jahreshefte – ähnlich wie im Zusammenhang mit Dichtung und Wahrheit den Status des Textes und weist noch einmal besonders deutlich auf die Schwierigkeit hin, „das, was ich nicht recht zu nennen weiß“, mit einer eindeutigen Gattungsbezeichnung zu etikettieren: Sie „bleiben dem Sinne nach dieselbigen, der Ausführung nach möchte man sie bald Chronik, bald Annalen, Memoiren, Konfessionen und wer weiß wie sonst noch, nicht mit Unrecht benennen.“228 Es handelt sich um ganz ähnliche Probleme wie bei Dichtung und Wahrheit – nur dass sie hier vielleicht noch deutlicher in den Blick geraten, zumal sich die angewandten Schreibverfahren schon innerhalb dieses letzten autobiographischen Werks Goethes in einzelnen Passagen in bemerkenswertem Maße voneinander unterscheiden. Goethe selbst spricht von einer „tadelnswerte[n] Ungleichheit“229: „je _____________ 226 227 228 229
FA II/7, S.179: Brief an Carl Ludwig von Woltmann, 05. 02. 1813. HA 10, S.559: Brief an Zelter, 27. 12.1814. HA 10, S.567: Brief an Staatsrat Christoph Ludwig Friedrich Schultz, 31. Mai 1825. HA 10, S.567: Brief an Staatsrat Christoph Ludwig Friedrich Schultz, 31. Mai 1825.
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nach dem die Stimmung ist, [behält] meine Chronik entweder ihren Charakter […] oder [möchte] sich zu Annalen, ja wohl gar zur Geschichte steigern […].“230 Festzuhalten bleibt, dass Gattungsfragen – vor allem der schwierig zu bestimmende Status der Texte zwischen Fiktion und Historiographie – im Hinblick auf das gesamte Autobiographieprojekt (und nicht etwa nur im Bezug auf Dichtung und Wahrheit) von Goethe immer wieder reflektiert werden – inwiefern diese theoretischen Überlegungen tatsächlich Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung der einzelnen autobiographischen Schriften nehmen (und dies eventuell in unterschiedlichem Maße und/oder mit unterschiedlichen Konsequenzen), wird an den Texten zu untersuchen sein. 2.2.2
Der Stand der Forschung: ‚Problemhorizonte’ des wissenschaftlichen Autobiographiediskurses
Zunächst einmal ist deutlich geworden, dass diese fünf vorgestellten Problemfelder, die Goethe selbst in Gesprächen und gegenüber seinen Korrespondenzpartnern reflektiert, weiterführende Fragen nicht nur im Hinblick auf sein Autobiographieverständnis, sondern auch im Zusammenhang mit seinem Geschichtsdenken aufwerfen, dass beide Aspekte sich wechselseitig bedingen und ergänzen: ‚Erinnerungsarbeit’ und ‚Schreibarbeit’ fungieren dabei als (re-)konstruktive Tätigkeiten, mittels derer sich Goethe Vergangenes erschließt. Sie haben Konsequenzen für die Darstellungsverfahren, mit denen er seine eigene Geschichte präsentiert und die bei Lesern und in der Forschung immer wieder und zum Teil immer noch die Frage nach dem Status der Texte ‚zwischen’ Fiktion und Historiographie aufgeworfen haben bzw. aufwerfen.231 Darüber hinaus ist die Intention, die Goethe mit seinem Autobiographieprojekt verfolgt, schon insofern für sein Geschichtsdenken aufschlussreich, dass es sich um die gezielte Inszenierung der eigenen Rolle in der und für die Geschichte seiner ‚Epoche’ handelt, die in den Texten so ausgestaltet wird, wie er seine Person und seine Leistungen von seinem Lesepublikum beurteilt, sich in das Gedächtnis der _____________ 230 231
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FA II/10, S.116: Brief an Johann Wilhelm Süvern, 15. Oktober 1823. Die bei der Analyse von Goethes ‚Selbstäußerungen’ zunächst getrennt voneinander untersuchten Aspekte der Erinnerung und ihrer Schwierigkeiten (Problemfeld 1: Erinnerung als mühsame ‚(Re-)Konstruktionsarbeit’) sowie der Textgestaltung (Problemfeld 5: „[E]in Roman oder eine Geschichte“?) bzw. die Aspekte ‚Erinnerungs-’ und ‚Schreibarbeit’ sind daher im Folgenden stets in engem Zusammenhang zu betrachten.
Gegenwart und Nachwelt ‚eingeschrieben’ wissen will. Dieser Anspruch, vor allem sich selbst, aber auch anderen, mit und durch seine Texte ein „Denkmal“ zu errichten und ein Geschichtsbild zu entwerfen, in dem vor allem die ‚Wirkung’ einzelner Individuen fokussiert wird, prägt in seinen Autobiographischen Schriften sowohl den Blick auf das eigene Leben und dasjenige anderer ‚bedeutender’ Personen als auch auf die ‚Zeitverhältnisse’. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der Gattung Autobiographie in der Forschung können diese Problemfelder, die Goethe selbst anspricht und die erkenntnisleitend für die anschließenden Textanalysen in dieser Arbeit sind, inhaltlich und begrifflich schärfer konturiert werden – und zwar sind hier Ansätze literaturwissenschaftlicher u n d – freilich in geringerem Umfange – geschichtswissenschaftlicher Provenienz von Bedeutung. Interessant erscheint nämlich, dass es genau diese Fragen sind, die in beiden Fächern den Autobiographiediskurs prägen und zwar signifikanterweise in unterschiedlichem Maße zum Teil seit Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gattung, zum Teil gerade erst als Kristallisationspunkte der neueren Diskussion. Spielen so Überlegungen zur Bedeutung von Erinnerung und Gedächtnis für die Textgestaltung, zu kommunikativen Funktionen der Autobiographie, die auf Wirkung in der Gegenwart des Schreibenden abzielt, erst in der neueren Autobiographiediskussion eine – nun allerdings zentrale – Rolle, so kommt der Frage nach dem Status der Autobiographie im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Historiographie von jeher eine besondere Bedeutung zu, dessen unterschiedliche Beantwortung über die Jahre hinweg zu einer höchst unterschiedlich intensiven Beachtung der Gattung in der Forschung beider Disziplinen geführt hat. So resümiert Martina Wagner-Egelhaaf für die Literaturwissenschaft: Ihre zweifache Lesbarkeit als historisches Zeugnis und als literarisches Kunstwerk, ihr Grenzgängertum zwischen Geschichte und Literatur scheint die Autobiographie an eine Randposition des genuin literaturwissenschaftlichen Feldes zu verweisen – und doch betrifft sie aus ebendenselben systematischen Gründen den Kernbereich allgemeinliteraturwissenschaftlichen Fragens und Erkennens.232
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Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart und Weimar 2005, S.1 (Sammlung Metzler, Bd. 323).
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Während die Autobiographie in der älteren Forschung bis in die 60erund 70er Jahre hinein in der Tradition Johann Gottfried Herders233 und Wilhelm Diltheys234 vorwiegend als historisches Dokument mit Abbildfunktion gegenüber der vergangenen ‚Wirklichkeit’ gelesen, daher wohl – in der Terminologie Diltheys – als ‚geisteswissenschaftlich’, weniger aber als im engeren Sinne literaturwissenschaftlich interessant befunden und folglich kaum beachtet wurde, rückt das Moment der Fiktion in jüngerer Zeit immer mehr in den Blick (einen Meilenstein der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gattung markiert in diesem Zusammenhang die Arbeit von Roy Pascal, der die Autobiographie als „Kunstform“235 definiert und untersucht) und verursachte geradezu einen Forschungsboom in den letzten Jahrzehnten. Ursächlich genau anders herum, in der Konsequenz allerdings ähnlich, verhält es sich mit der geschichtswissenschaftlichen Betrachtung und ebenfalls erst in den letzten Jahrzehnten wird der Autobiographie im Kontext der Selbstzeugnisforschung mehr und mehr Interesse entgegengebracht. Früher erschienen autobiographische Texte aufgrund ihrer subjektiven Perspektive und ihres literarischen Anspruchs als historische Quellen eher ungeeignet, um Erkenntnisse über die Vergangenheit, wie sie ‚objektiv’ gewesen ist, zu liefern, und berührten mit ihrem meist auf die Geschichte des schreibenden Individuums, auf persönliche Erfahrungen und Erlebnisse fokussierenden Inhalt gerade nicht diejenigen Dimensionen historischer Forschung, nach denen sich eine Geschichtswissenschaft ausrichtete, die vorwiegend an makro-historischen Fragestellungen interessiert war. In den 50er Jahren initiierte der nieder_____________ 233
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Wagner-Egelhaaf weist darauf hin, dass Herders Beschäftigung mit der Gattung durch ein dezidiert historisches Erkenntnisinteresse motiviert ist, wenn er 1791 im dritten einleitenden Brief zu Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst die „Lebensbeschreibungen, die merkwürdige Personen zu gewissen bestimmten Zwecken für andre von sich aufzeichnen“, als einen „vortreffliche[n…] Beitrag zur Geschichte der Menschheit“ bewertet (Johann Gottfried Herder,: Werke in zehn Bänden, hg. von Günter Arnold, Martin Bollacher u.a. Frankfurt a.M. 1985–2000. Bd. 8, S.26f.; vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.19). In Diltheys hermeneutischer Konzeption der Autobiographie ergibt sich der „Zusammenhang“, der Sinn – oder in Goethes Worten: die ‚höhere Bedeutung’ – des Lebens nicht erst durch die bzw. bei der Erinnerungs- und Schreibarbeit, sondern er „entspringt“ schon „aus dem Leben“ selbst (Wilhelm Dilthey, Das Erleben und die Selbstbiographie. In: Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a.M. 1981, S.235–251, hier S.240). Wagner-Egelhaaf fasst zusammen, dass nach Diltheys Vorstellung „der Mensch, der sein Leben beschreiben will, […] durch eben dieses Leben schon einen Zusammenhang hergestellt [hat], der nun [in der Autobiographie] ausgesprochen werden soll“ (Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.22); dementsprechend bilde die Autobiographie vergangenes Leben ab. Roy Pascal, Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt, Stuttgart u.a. 1965, S.13.
ländische Historiker Jacques Presser mit der Einführung des Begriffs ‚egodocument’ für „‚historische Quelle[n] persönlichen Charakters’, in denen ‚ein Ich schreibendes und beschriebenes Subjekt’ zugleich ist“236 – einer Definition, die gezielt möglichst weit gefasst ist, um Texte unterschiedlicher Art, etwa Tagebücher, Briefe, Memoiren und Autobiographien, als historische Quellen nutzbar zu machen –, eine Entwicklung, in deren Verlauf sich historisches Erkenntnisinteresse gerade auf die „Geschichte des ‚Ich’“237 konzentrierte. Der Autobiographie wird daher in der Geschichtswissenschaft der letzten Jahre immer dann Aufmerksamkeit entgegengebracht, wenn im Kontext der Selbstzeugnisforschung Prozesse, Voraussetzungen, Ausdrucksformen und Konsequenzen der Individualisierung in ihrem historischen Wandel, etwa zu Beginn der ‚Konstitution des Subjekts’ in der Frühen Neuzeit, untersucht werden, jedenfalls kulturwissenschaftlichen und/oder mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen nachgegangen wird. Hier kommt den Ego-Dokumenten eine besondere Bedeutung zu, weil sie „[…] individuell-menschliches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbestände darlegen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartungen widerspiegeln“.238 Wenngleich die unterschiedlichen Definitionen der Begriffe ‚Selbstzeugnis’ und ‚Ego-Dokument’ bzw. ihre Abgrenzungsversuche voneinander an dieser Stelle nicht diskutiert werden sollen,239 so bleibt doch festzuhalten, dass alle Definitionen die Gattung Autobiographie einschließen und diese auf dem aktuellen Stand der geschichtswissenschaftlichen Diskussion trotz ihres literarischen An_____________ 236
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Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 2 (1994), S.462–471, hier S.469. Dülmen, Richard van (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln u.a. 2001, S.6. Winfried Schulze, Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „EGO-DOKUMENTE“. In: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, hg. von Winfried Schulze, Berlin 1996, S.11–30 (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 2), hier S.28 (Kursivierung im Original). Vgl. zu einer „vorläufigen“ Definition des Begriffs ‚Ego-Dokument’ Schulze, EgoDokumente, S.28; den Terminus ‚Selbstzeugnis’ favorisieren Richard van Dülmen (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u.a. 2001, und Kaspar von Greyerz u.a. (Hgg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850), Köln u.a. 2001 (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 9) – hier signifikant auch der Titel der Reihe –; eine Abgrenzung der Begriffe ‚Ego-Dokument’ und ‚Selbstzeugnis’ versuchen Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? und Klaus Arnold, Sabine Schmolinsky und Urs Martin Zahnd (Hgg.), Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bochum 1999 (Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit, Bd. 1) in der Einleitung ihres Sammelbandes.
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spruchs und den damit verbundenen fiktiven Komponenten als „konventionell historisches Dokument“240 genutzt wird und diese ‚Hindernisse’ für historische Erkenntnis bewusst einkalkuliert und quellenkritisch berücksichtigt werden. Beide Disziplinen – Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft – gehen also inzwischen konstruktiv mit dem „Grenzgängertum [der Autobiographie] zwischen Geschichte und Literatur“241 um und beschäftigen sich mit ihr, freilich geleitet von unterschiedlichen Fragestellungen und Erkenntnisinteressen, die Spezifika der Gattung jedoch stets gleichermaßen im Blick behaltend: No literary critic would today maintain that there is a sharp dividing line between autobiography and the novel; no historian today would maintain that there is a clear dividing line between the ‘facts’ of a non-fictional text and the ‘fiction’ of a literary text. It is precisely the hybrid character of egodocuments, formerly feared and criticized, that has given such texts a greater prestige in recent years.242
In diesem Sinne steht geschichtswissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Autobiographie heute nicht (mehr) in Widerspruch zueinander, vielmehr werden ähnliche Fragestellungen, Überlegungen und Ergebnisse diskutiert, die sich wechselseitig bestätigen, ergänzen und befördern und daher beide als methodischtheoretisches Fundament dieser Arbeit nutzbar gemacht werden sollen. Im Folgenden ist dazu über diese erste, für die grobe Orientierung in der interdisziplinären Autobiographieforschung unerlässlich erscheinende Rückschau zur Auseinandersetzung mit dem ‚Schlüsselproblem Fiktion und/oder Historiographie’ hinaus nicht intendiert, einen detaillierteren wissenschaftsgeschichtlichen Überblick über die Entwicklung des Autobiographiediskurses in beiden Disziplinen zu geben, und auch nicht, die gerade in der Literaturwissenschaft breit gestreuten und unterschiedlichen Schulen zugeordneten neueren gattungstheoretischen Arbeiten zur Autobiographie vollständig zu präsentieren und ausführlich zu erörtern. 243 Vielmehr werden gezielt diejenigen Aspekte in den _____________ 240
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Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis. In: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth, Frankfurt a.M. 1993, S.289–304, hier S.292. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S.1. Rudolf Dekker (Hg.), Egodocuments and history. Autobiographical writing in its social context since the Middle Ages, Hilversum 2002 (Publicaties van de Faculteit der Historische en Kunstwetenschappen, Bd. 38), S.13. Hilfreiche Überblicksdarstellungen zur Entwicklung der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gattung liefern Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, v.a. in ihrem Kapitel zur „Theorie der Autobiographie“, S.19–103; weniger systematisch wissenschaftsgeschichtliche Eckpunkte, sondern eher den neueren Stand der literaturwissen-
Blick genommen, die für die Frage nach Goethes Geschichtsdenken in seinen Autobiographischen Schriften von Belang erscheinen und die er selbst – wie bereits dargestellt – in Gesprächen und Briefen reflektiert: 1) das Verhältnis von „Dichtung“ und „Wahrheit“ – mit anderen Worten: von Fiktion und Authentizität –, in engem Zusammenhang damit die Rolle des Autors und die Frage, inwiefern dieser als Historiograph seiner selbst über seine eigene Geschichte als autonomes Subjekt ‚verfügen’ kann, 2) die Bedeutung von Erinnerung und Gedächtnis für die Autobiographie und schließlich 3) die Autobiographie als literarischer Akt, der „als Produkt und Medium kommunikativer Prozesse zwischen Autor bzw. Autorin und Publikum“244 zu werten ist und daher vom _____________
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schaftlichen Forschung fokussierend Michaela Holdenried, Autobiographie, Stuttgart 2000, S.9–61; und noch gezielter aktuelle Problemfelder beleuchtend Almut Finck, Subjektbegriff und Autorschaft. Zur Theorie und Geschichte der Autobiographie. In: Einführung in die Literaturwissenschaft, hg. von Miltos Pechlivanos u.a., Stuttgart und Weimar 1995, S.283–294.; vgl. hier auch einschlägige weiterführende Literaturhinweise auf Arbeiten aus dem Bereich der poststrukturalistisch und dekonstruktivistisch argumentierenden Autobiographietheorie wie Paul Jay, Being in the Text. Autobiography and the Problem of the Subject. In: Modern Language Notes 97 (1982), S.1045–1063; Paul Jay, What’s The Use? Critical Theory and the Study of Autobiography. In: biography 10 (1987), S.39–54; Candace Lang, Autobiography in the Aftermath of Romanticism. In: diacritics 12 (1982), S.2–16; Michael Sprinker, Fictions of the Self. The End of Autobiography. In: Autobiography. Essays Theoretical and Critical, hg. von James Olney, Princeton 1980, S.321–342; oder aus dem Bereich der feministischen Autobiographietheorie die Sammelbände Domna C. Stanton (Hg.), The Female Autograph. Theory and Practice of Autobiography from the Tenth to the Twentieth Century, Chicago und London 1984; Bella Brodzki und Celeste Schenck (Hgg), Life / Lines. Theorizing Womens’s Autobiography, Ithaca und London 1988; Shari Benstock (Hg.), The Private Self. Theory and Practice of Women’s Autobiographical Writings, Chapel Hill und London 1988; Susan Groag Bell, und Marilyn Yalom (Hgg.), Revealing Lives. Autobiography, Biography and Gender, Albany 1990, die jedoch für die in dieser Arbeit zu beleuchtenden Problemfelder wenig austragen. Einen zwar erst jüngst erschienenen, die Problemfelder allerdings sehr knapp und daher mitunter zu vereinfachend darstellenden Überblick über aktuelle Entwicklungen der Autobiographieforschung, der dabei sogar ein gezieltes Augenmerk auf Dichtung und Wahrheit richtet, liefert Hu Wei: Interdisziplinäre und transnationale Tendenzen in der Autobiographieforschung. Am Beispiel von Johann Wolfgang Goethes ‚Dichtung und Wahrheit’. In: Literaturstraße 9 (2008), S.85–93. Eine Orientierung über eher traditionelle, hermeneutische Ansätze bieten die gattungstheoretisch akzentuierten Arbeiten im Sammelband Günter Niggl (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. 2. Auflage, Darmstadt 1998. Den m. E. besten Überblick über die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Autobiographie im Rahmen der Egodokument- bzw. Selbstzeugnisforschung bietet Rudolf Dekkers „Introduction“ in Dekker, Egodocuments and history, S.7–20; eine gute Zusammenfassung der aktuellen Diskussion findet sich unter der Überschrift „Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung“ von Fabian Brändle, Kaspar von Greyerz, Lorenz Heiligensetzer, Sebastian Leutert und Gudrun Pillert als „Einführung“ in den Sammelband Greyerz, Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich, S.3–31. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.57.
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Autor gezielt als Instrument zur Steuerung der Rezeption nicht nur des autobiographischen Textes, sondern vielmehr auch seines im und vom Text dargestellten Lebens eingesetzt werden kann. 2.2.2.1 „Dichtung“ und „Wahrheit“, Fiktion und Authentizität und die Rolle von Sprache und Schrift – zum ‚Schlüsselproblem’ des Autobiographiediskurses Die oft falsch, nämlich als entgegengesetzte und einander ausschließende Pole verstandene Titelformulierung von „Dichtung“ und „Wahrheit“ benennt ein ‚Schlüsselproblem‘ der Auseinandersetzung mit der Gattung: Handelt es sich bei der Autobiographie nun eher um einen literarisch gestalteten, fiktiven Text, der ein Produkt subjektiver Imagination darstellt, oder um Historiographie, um ‚objektive’ Abbildung vergangener Wirklichkeit? Der in die neuere Diskussion um die Gattung eingeführte Terminus ‚Autofiktion’ gibt Aufschluss darüber, worauf sich vermutlich die meisten Literaturwissenschaftler – unabhängig davon, welche literaturwissenschaftlichen Ansätze und/oder Methoden sie präferieren – heute einigen könnten: Dass „Dichtung“ und „Wahrheit“ im Hinblick auf Zielsetzung und Anspruch autobiographischen Erzählens, nämlich sich selbst auszudrücken, ein Bild von sich und seinem vergangenen Leben zu entwerfen, nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern dass die literarische Imagination erst autobiographische Realität schaffe – mit Goethes Worten: die „höhere Wahrheit“ produziere.245 Eben weil die Dichtung „ein legitimes Mittel der Wahrheitsfindung ist […,] gibt es in Goethes Lebensbeschreibung Episoden, die erfunden sind und die einem naiven Verständnis von Autobiographie als Form einer lediglich an Fakten und an ‚tatsächlich Geschehenem’ orientierten Geschichtsschreibung zuwiderläuft“246, hebt Martina Wagner-Egelhaaf in einem neueren Aufsatz im hervor, dessen _____________ 245
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Entsprechend hebt auch Wagner-Egelhaaf gleich in der „Einführung“ ihrer Überblicksdarstellung zu Theorie und Geschichte der Autobiographie hervor, dass „gerade in der jüngsten Autobiographiediskussion geltend gemacht [wird], dass das Moment der Fiktion dem Begehren nach Selbstausdruck keinesfalls entgegenstehe, dass sich im Gegenteil jeder Ich- und Weltbezug als ein fiktionaler vollziehe“ (Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.5). Vgl. dazu – auch zum Terminus ‚Autofiktion’ – ausführlicher Finck, Subjektbegriff und Autorschaft. Wagner-Egelhaaf, Martina, Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie. Goethe – Barthes – Özdamar. In: Grenzen der Identität und der Fiktionalität, hg. von Ulrich Breuer u.a., München 2006, S.353–368 (Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bd. 1), hier S.354.
Titel ebenfalls den in diesem Sinne und explizit auf Dichtung und Wahrheit bezogenen programmatisch zu lesenden Begriff ‚Autofiktion’ verwendet. Die ‚Lawine’ in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gattung, die mit Roy Pascals Arbeit Design and Truth in Autobiography seit den 60er Jahren ins Rollen kam, verschob die „kritische[…] Aufmerksamkeit vom beschriebenen Leben zum Akt und zur Medialität des autobiographischen Schreibens selbst“247 – gefragt wird in der Literaturwissenschaft demnach kaum noch nach den historischen ‚Fakten’, die ‚hinter’ der erzählten Lebensgeschichte stehen, sondern vor allem nach der Erzählung selbst, dem literarisch-handwerklichen Gemachtsein der Texte und – durchaus mit sprachkritischem Bewusstsein – nach ihrer sprachlichen Verfasstheit und damit ebenfalls nach der Dialektik zwischen Autor und Text, wobei letztem – vor allem in dekonstruktivistischen Ansätzen in der Tradition Jacques Derridas248 – ein immer stärkeres Eigengewicht zugesprochen wird. „Autobiographie heißt demzufolge nicht beschriebenes, sondern geschriebenes Leben.“249 Aus diesen hier nur angedeuteten Aspekten ergeben sich zahlreiche neue Problemfelder, die die jüngere literaturwissenschaftliche Autobiographieforschung prägen und von denen gezielt d i e drei ausführlicher dargestellt werden sollen, die im Hinblick auf Goethes Autobiographiekonzept relevant sind: Erstens ist eine umfassendere Klärung des bislang nur angedeuteten, für Goethes Autobiographieverständnis zentralen Konzepts der ‚höheren Wahrheit’ vorzunehmen und in diesem Zusammenhang darzulegen, inwiefern Goethes Autobiographieprojekt mehr Auskunft darüber gibt, wie der Autor sich (seine) Geschichte d e n k t , als darüber, wie sie ‚wirklich gewesen ist’. Zweitens sind zentrale Ergebnisse derjenigen gattungstheoretischen Arbeiten nachzuzeichnen, die den Fokus gezielt auf das literarisch-handwerkliche ‚Gemachtsein’ von Autobiographien legen, indem sie Analogien zu (anderen) literarischen Formen und Gattungen – vor allem zum Roman – nachweisen, um auf deren Grundlage die Literarizität von im Medium der Autobiographie dargestellter (Lebens-)Geschichte als literarisch erzählter Geschichte stärker in den Blick zu rücken. Drittens ist die Rolle von Sprache und Schrift beim ‚Denken’, bei der Konstruktion der _____________ 247 248
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Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.46f. Grundlegend für diesen Ansatz sei auf Derridas Hauptwerk verwiesen: Jacques Derrida: De la grammatologie, Paris 1967; vgl. als erste Orientierung zur „Rhetorik der Schrift“ bzw. zu den Konsequenzen des Ansatzes für die dekonstruktivistische Autobiographieforschung Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.15–17. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.17.
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eigenen Lebensgeschichte zu reflektieren und gegen das Konzept des Autors als autonomes Subjekt abzuwägen, der womöglich gar nicht so ‚souverän’ über seine Lebensgeschichte verfügen und diese ebenso wenig ‚souverän’ ins Medium der Schrift ‚umwandeln’ kann, wie es noch in älteren Arbeiten zur Autobiographie scheint. Dabei geht es also um die Sprachlichkeit der Welt- und Selbstwahrnehmung und damit um die Sprachlichkeit von Geschichtsentwürfen. Es soll und kann hier keine umfassende, etwa einer philosophischen Prüfung standhaltende Klärung der Begriffe ‚Wahrheit’, ‚Wirklichkeit’ und ‚Fiktion’ vorgenommen werden – dennoch scheint es als methodisch-theoretisches Fundament der Textanalysen und zur Präzisierung der für diese Arbeit zentralen Fragestellungen unerlässlich, sich von dem unreflektierten Begriffsverständnis, das lange Zeit im Zusammenhang mit der Autobiographie als ‚Grenzgängerin’ zwischen Dichtung und Historiographie prägend und darüber hinaus generell mit der Annahme eines „Gegensatz[es] zwischen Geschichtsdarstellung und fiktionaler Literatur“250 verbunden war, abzugrenzen und den aktuellen Stand der Diskussion nachzuzeichnen. Ein Ausblick auf die in diesem Zusammenhang wegweisenden Ergebnisse Hayden Whites lässt Dekkers bereits zitierte Aussage genauer verstehen, warum „no historian today would maintain that there is a clear dividing line between the ‘facts’ of a non-fictional text and the ‘fiction’ of a literary text“.251 Whites primäres Erkenntnisinteresse gilt dabei allerdings gar nicht der Geschichtswissenschaft oder der Historie als literarischer Gattung, obwohl er seine Überlegungen zumeist an historischen oder historiographischen Texten exemplifiziert, sondern er „fragt nach der sprachlichen Konstitution menschlicher Erfahrung überhaupt“, „danach, wie die kulturelle Verarbeitung geschichtlicher Erfahrung überhaupt sprachlich ermöglicht wird“252 und kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass „die Geschichtsschreibung nicht weniger eine Form von Fiktion, als der Roman eine Form historischer Darstellung ist“253 – eine These, die nur auf den ersten Blick etwas radikal anmuten mag, denn schließlich war schon in der antiken Vorstellung die Historiographie eine literarische Gattung und gehörte dem Bereich der Rhetorik an. Die These führt in den Kernbereich des Autobiographiediskurses und revidiert frühere Überzeugungen: Es ist nämlich nicht möglich, ‚Wahrheit’ mit empirisch _____________ 250 251 252 253
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White, Auch Klio dichtet, S.146 (Hervorhebung im Original). Dekker, Rudolf (Hg.), Egodocuments and history, S.13. So Reinhart Koselleck in der „Einführung“ zur deutschen Übersetzung: White, Auch Klio dichtet, S.2. White, Auch Klio dichtet, S.146.
nachprüfbaren Tatsachen gleichzusetzen und daraus abzuleiten, dass die Geschichtsschreibung dementsprechend lediglich „faktengetreue Aussagen über ein Gebiet von Ereignissen [liefere…], die im Prinzip beobachtbar sind (oder waren) [und] deren Anordnung in der Reihenfolge ihres ursprünglichen Geschehens ihre wahre Bedeutung oder ihren wahren Sinn offenbar werden ließe.“254 Ebenso wenig ist die ‚Fiktion’ als das Gegenteil von Wahrheit zu betrachten, nur weil sie sich mit Ereignissen beschäftigt, die nicht dem Bereich des in Vergangenheit oder Gegenwart Beobachtbaren, Wahrnehmbaren entstammen, sondern der Imagination angehören. Dass nämlich sowohl der Autor von Fiktionen als auch der Historiograph einen T e x t verfasst und damit die Wiedergabe der Ereignisse – seien sie vorgestellt oder real – eine referentielle und diskursive ist, die ‚Zusammenfügung’ der einzelnen Ereignisse, die eine Ordnung in das Chaos der zunächst unverbundenen Bruchstücke bringt, in beiden Fällen ein dichterischer Prozess („Auch Klio dichtet“ lautet in diesem Sinne der treffende Titel der deutschen Übersetzung von Whites „Tropics of Discourse“), ist aufschlussreich, wenn man nach dem Wahrheitsgehalt der Autobiographie fragt. Sowohl White selbst als etwa auch Wagner-Egelhaaf in ihrer Überblicksdarstellung räumen ein, dass es verschiedene Wahrheitsbegriffe gebe;255 im Hinblick auf das Goethes Autobiographieprojekt bezeichnende Konzept der ‚höheren Wahrheit’ scheinen zumindest genau Whites Überlegungen, der die Leistung der ‚Fiktion’ für historische Darstellungen betont, zuzutreffen: Bei der Darstellung realer Ereignisse der Vergangenheit ist es dem Historiker unvermeidlich, Verfahren der Fiktion zu bemühen, weil „die Fakten nicht für sich selbst sprechen“ und der Historiker, um sie zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen, „genau die gleichen tropologischen Strategien […], die gleichen Modalitäten der Darstellung von Beziehungen in Worten [anwenden muss], die der Dichter oder Romanautor verwendet“,256 heißt es bei White; dass aber die Darstellung des „eigentliche[n] Grundwahre[n...] in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückerinnerung und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt, gewissermaßen das dichterische Vermögen _____________ 254 255
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White, Auch Klio dichtet, S.147. White unterscheidet u.a. zwischen „Wahrheit der Korrespondenz“ und „Wahrheit der Kohärenz“ (White, Auch Klio dichtet, S.146); Wagner-Egelhaaf betont gerade im Hinblick auf Goethe, dass sein „Wahrheitskonzept nur ein mögliches Modell“ von Wahrheit ist und „andere Modelle von Wahrheit […] an die Autobiographie herangetragen worden [sind]“ (Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.3). White, Auch Klio dichtet, S.149.
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auszuüben“,257 formuliert Goethe und erklärt damit den Wahrheitsanspruch seines Autobiographieprojekts, zu dessen Realisierung die Dichtung existentiell beitragen müsse. Geschichtsschreibung und Literatur also nicht als Gegensatz, vielmehr Fiktion als Mittel der Wahrheitsfindung besonders bei der Darstellung vergangener Ereignisse, weil Wahrheit eben mehr als eine ungeordnete Aneinanderreihung von Tatsachen ist, umreißt Goethes und Whites gemeinsame Position. Grundsätzlich erfährt auf ihrer Grundlage die Fiktion eine radikale Aufwertung, was ihre Leistung für die Darstellung von Geschichte und auch – wie in der Autobiographie – von persönlich erlebter Geschichte anbelangt. Für die Frage nach Goethes Geschichtsdenken in seinen Autobiographischen Schriften bedeutet dies, dass seine Texte weniger Aufschluss darüber liefern können, wie Goethes vergangenes Leben ‚wirklich’ gewesen ist, als vielmehr darüber, wie er sich seine Geschichte ‚denkt’ – und zwar mit allen gezielt aktivischen, kognitiv-imaginativen und fiktive Verfahren bemühenden Komponenten, die Hayden White in seiner Untersuchung der Arbeiten bedeutender Historiker des 19. Jahrhunderts von Michelet bis Droysen aufdeckt und auf die er vor dem Hintergrund der sprachlichen Verfasstheit jeglicher ‚Geschichtsschreibung’ verweist. Die Betonung der fiktiven Komponente autobiographischen Schreibens führte nicht nur – wie bereits angedeutet – überhaupt zu einem größeren Interesse der Literaturwissenschaft an der Gattung, sondern rückte darüber hinaus das Augenmerk auf den ‚Kunstcharakter’ – weniger emphatisch ausgedrückt: auf die genuin literarischen Darstellungstechniken – der Texte. Zu den ‚Nachbargattungen’ der Autobiographie werden daher eben nicht nur Geschichtsschreibung und Fremdbiographien gezählt, sondern – aufgrund ähnlicher Darstellungsmittel und -techniken – auch der Roman, gegenüber dem eine trennscharfe und allgemein gültige Abgrenzung gleichsam schwierig ist. Diese kann und soll hier gar nicht vorgenommen werden – zu beachten bleibt lediglich, dass sich seit dem 18. Jahrhundert mehr und mehr eine Literarisierung der zuvor als rhetorische ‚Zweckform’ verstandenen Gattung vollzog und gerade in der Goethezeit eine weit reichende historische Annäherung von Autobiographie und Roman zu beobachten ist, in Folge derer sich die Autobiographie in zunehmendem Maße Techniken der Romangestaltung aneignete.258 Die von Holdenried vor_____________ 257 258
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FA 14, S.1035: Brief an Carl Friedrich Zelter, 15. 02. 1830. Vgl. dazu ausführlich Klaus-Detlef Müller, Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit, Tübingen 1976.
geschlagenen innovativen Strukturmerkmale moderner Autobiographik259 verweisen darauf, dass es sich bei Autobiographien um literarische, im Sinne der Kunst als ‚ars’ ‚handwerklich’ bewusst und gezielt gestaltete Texte handelt. Dementsprechend präsentieren sich Goethes Geschichtsentwürfe in seinen Autobiographischen Schriften in literarischen Formen, vollzieht sich Geschichte – und das markiert sicherlich einen deutlichen Unterschied zur Geschichtsschreibung der Goethezeit, die sich, daran sei hier erinnert, gezielt von Verfahren des Dichters abgrenzen wollte und „jegliche Spur des Fiktiven oder nur Vorstellbaren aus [ihrem...] Diskurs zu tilgen“260 versuchte – als literarisch erzählte Geschichte, so dass bei der Frage nach Goethes ‚Denken’ von Geschichte nicht nur unvermeidbar fiktive Komponenten, sondern auch gewollte und gezielt eingesetzte literarische Darstellungsverfahren zu berücksichtigen sind. Autobiographie als ‚geschriebenes’, nicht als ‚beschriebenes’ Leben: Wagner-Egelhaafs These261 lässt sich vor dem Hintergrund der skizzierten Überlegungen Hayden Whites nicht nur auf die prinzipiell sprachliche Verfasstheit von Geschichte und ihre Konsequenzen, die im Hinblick auf die Darstellung von eigener Lebensgeschichte relevant sind, beziehen, sondern sie lässt sich – und vor allem das hat die neuere literaturwissenschaftliche Autobiographieforschung in den vergangenen Jahren beschäftigt – mit der Konzeption des literarischen Ichs im autobiographischen Text in Verbindung bringen. So hat sich seit den 60erund 70er-Jahren und im Anschluss an die Aufwertung der Autobiographie als literarischer Gattung ein zunehmendes Problembewusstsein entwickelt, was die Autorfunktion und das ‚Schreiben’ von Subjektivität anbelangt: Genauso wenig, wie die Autobiographie noch ausschließlich als historisches Dokument mit Abbildfunktion betrachtet wird, geht – so konstatiert Almut Finck – inzwischen kaum mehr jemand davon aus, dass im autobiographischen Text ein „sich selbst präsente[s…] Subjekt[…] jenseits einer Sprache, in der es sich als in einem transparenten Medium ausspricht,“262 begegnet. Vielmehr wurde die Möglichkeit eines autonomen, ‚über’ ‚seinen’ Text souveränen Autors, überhaupt die _____________ 259
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Vgl. dazu Holdenried, Autobiographie, S.37–51; sie unterscheidet hier „Zentralperspektive als ästhetische Objektivierung“, „Dissoziierte Chronologie und vitale Zeitordnung“, „Selbstreferentialität“, „Stilisierung und Stilpriorität“ und „Fragmentarität und Schlußproblematik“ als literarische Strukturmerkmale, die – meist im Hinblick auf einen konkreten Text kaum je allesamt, aber doch einzeln für sich – seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mehr und mehr auf die Autobiographie angewandt werden. White, Auch Klio dichtet, S.147. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.17. Finck, Subjektbegriff und Autorschaft, S.287.
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Möglichkeit, dass ein literarischer Text als ‚Ausdruck’ außersprachlicher Ereignisse, Gedanken oder Gefühle fungieren könne – und damit also die Möglichkeit sprachlicher Referentialität –, immer mehr bezweifelt und dagegen in Fortführung und Radikalisierung der um die Jahrhundertwende formulierten sprachkritischen Positionen die Sprachlichkeit nicht nur der Welt-, sondern auch der Selbstwahrnehmung zunehmend betont und in der Auseinandersetzung mit der angeblich ‚selbstreferentiellen’ Gattung Autobiographie besonders berücksichtigt. Finck resümiert die Konsequenzen dieser ‚Zweifel’ am vormals emphatisch verwendeten Subjektbegriff und an der ‚Wiedergabe’-Funktion der Sprache und damit den aktuellen Stand der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung, indem sie deren diskursanalytischen Blick auf die Gattung betont, in welchem die sprachliche Verfasstheit von Individualität und Subjektivität im Text besonders berücksichtigt wird: Versteht man solchermaßen unter ‚Kontext’ keinen festen Rahmen, sondern offene und ständig die Umrisse ändernde textuelle Felder, die in ihrer je eigenen diskursiven Verfaßtheit zu beleuchten sind, tritt an die Stelle der autobiographischen Festschreibung von Sinn, an den Ort der Substantialisierung von Subjektivität, ihre Fortschreibung. Der autobiographische Text wäre dann ein Prozeß, der in der Rekonstruktion von Subjektivität ihre ständige Neuschreibung inszenierte.263
Holdenried sieht gerade in diesem Prozess – dem Entwurf von Subjektivität durch ihre „ständige Neuschreibung“ – d e n autobiographischen Impuls überhaupt: Die Autobiographie habe schon immer diese Funktion der „sprachlich-ästhetische[n] Selbsterzeugung“ gehabt, bei der ein Subjekt konstruiert wird, das „gleichsam in ästhetischer Probehandlung zur Disposition“ gestellt wird.264 Für unsere Fragestellung ergibt sich aus diesen gattungstheoretischen Überlegungen, dass Goethe in seinen Autobiographischen Schriften nicht einfach ‚sich selbst‘ in den autobiographischen Text ‚übertragen’ kann. Vielmehr ‚schreibt’ er ein Subjekt, das er als ‚Goethe‘ ausgibt, und präsentiert damit einen ‚Selbst-Entwurf’ in Vergangenheit und Gegenwart. Gerade deswegen versprechen seine autobiographischen Texte darüber Aufschluss zu liefern, wie er sich selbst und seine Rolle in der Geschichte ‚denkt’ und wie er vom Publikum wahrgenommen werden will.
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Finck, Subjektbegriff und Autorschaft, S.293. Holdenried, Autobiographie, S.56.
2.2.2.2 „Erinnern konstruiert Vergangenheit“ – zum Zusammenhang von Gedächtnis, Erzählen und Identität „Erinnern konstruiert Vergangenheit“265 – was Siegfried J. Schmidt als Ergebnisse der kognitionswissenschaftlichen Forschung zum Zusammenhang von Gedächtnis, Erzählen und Identität nachzeichnet, präzisiert die Überlegungen, die im Kontext von Goethes eigenen Reflexionen über die oft mühsame ‚Erinnerungsarbeit’ angestellt wurden und die zum Teil schon in die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Autobiographie als ‚erinnerter Lebensgeschichte’266 wie in die geschichtswissenschaftliche Forschung – hier nicht nur im Hinblick auf (schriftliche) Ego-Dokumente, sondern z.B. auch im Zusammenhang mit methodologischen Problemen der Oral History267 – Eingang gefunden haben. Wenngleich in den verschiedenen Disziplinen, die sich gerade in jüngerer Zeit268 verstärkt mit Aufbau, Tätigkeit und Funktionen des Gedächtnisses beschäftigen – etwa Kognitionswissenschaft, Psychologie, Neurologie, Soziologie, Philosophie – noch immer viele _____________ 265
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Siegfried J. Schmidt, Gedächtnis – Erzählen – Identität. In: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth, Frankfurt a.M. 1993, S.378–398, hier S.388 (Hervorhebungen im Original). Vgl. hier den aktuellen Stand der literaturwissenschaftlichen Forschung resümierend den als „Problemhorizont“ ausgewiesenen Abschnitt „Gedächtnis und Erinnerung“ in Holdenried, Autobiographie, S.57–61, und die Abschnitte „Erinnerung und Gedächtnis“, „Die Grenzen des Gedächtnisses“, „Gedächtnis und Imagination“ sowie „Das autobiographische Gedächtnis“ in Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.12–15, 43f., 47f. bzw. 87–91. Z.B. gelangen Daniel Bertaux und Isabelle Bertaux-Wiame schon bei der ersten Konferenz über Oral History in Frankreich zu bemerkenswerten Ergebnissen: Sie weisen das Erinnern als eine „aktive Tätigkeit, keine automatische Handlung“ aus und betonen, dass „diese Tätigkeit […] die Gegenwart oder einen Teil der Gegenwart beim Hervorholen, bei der Rekonstruktion der Vergangenheit mit ein[schließt]“ (Daniel Bertaux und Isabelle Bertaux-Wiame: Autobiographische Erinnerungen und kollektives Gedächtnis. In: Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der ‚Oral History’, hg. von Lutz Niethammer, Frankfurt a.M. 1980, S.108–122, hier S.111). Neuere Arbeiten zur Oral History, die ihre Methoden quellenkritisch reflektieren, kritisieren z.B. die in der Forschung lange Zeit vorherrschenden „dualistischen Konzeption[en] von erlebter und erzählter Lebensgeschichte“ wie auch von „Ereignis und Erlebnis“, die auf einer ‚fehlerhaften’ Annahme von ‚objektiver’ Wirklichkeit auf der einen und ‚subjektiver’ Wahrnehmung, Erinnerung und Darstellung auf der anderen Seite basierten und „die Wechselwirkung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem verfehlt[en]“ (Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt a.M. u.a. 1995, hier S.14 und 17). Holdenried konstatiert der Gedächtnisforschung augenblicklich eine hohe „Konjunktur“ – allerdings auch in jüngerer Zeit immer noch „als abgekoppelte Spezialdisziplin“, in der „Bezüge zur Autobiographik […] eher illustrierenden Charakter“ haben (Holdenried, Autobiographie, S.57f.).
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Fragen offen sind,269 so herrscht doch inzwischen ein grundsätzlicher Forschungskonsens darüber, dass diejenigen Gedächtnismodelle die größte Plausibilität besitzen, „die Gedächtnistätigkeit nicht als Aufbewahrungs-, sondern als Konstruktionsarbeit konzeptualisieren […und] die kreative Rolle des Gedächtnisses […], den dynamischen Charakter auch der Prozesse des Konservierens (retention) und Aktualisierens (recall)“270 betonen. Die Erkenntnisse der Gedächtnisforschung stützen die Thesen, die die Abbildfunktion der Autobiographie im Hinblick auf eine ‚korrekte Wiedergabe’ vergangener Wirklichkeit grundsätzlich bezweifeln, indem sie nicht nur die ‚Verschriftlichung’ des Erinnerns, sondern auch das Erinnern selbst vom Wahrheitspostulat abkoppeln – schon deswegen, weil von einer grundsätzlichen Differenz zwischen Erlebnis und Erinnerung auszugehen ist und Erlebnisse nicht einfach ‚konserviert’ und bei Bedarf wieder ‚abgerufen’ werden können: Erinnerte Lebensgeschichte stehe zwar in einem Zusammenhang mit den vergangenen Erlebnissen, könne jedoch nicht für sich reklamieren, das vergangene Leben so nachzuzeichnen, wie es tatsächlich gewesen ist, vielmehr sei sie „aktuelle Sinnproduktion im Zusammenhang jetzt wahrgenommener oder empfundener Handlungsnotwendigkeiten.“271 Wichtig sind zum einen für die im vorigen Abschnitt dargestellte Diskussion um die Authentizität der Autobiographie, zum anderen für die ‚Funktion’ autobiographischen Erzählens bzw. Schreibens für die Identität des – in unserem Falle schreibenden – Individuums Schmidts Ausführungen zur Referenzebene der Erinnerung, zur gegenseitigen Koordination von Erinnern und Erzählen wie schließlich zur Leistung von Gedächtnis und Erzählen für die individuelle Identität. Wenn nämlich die Referenzebene aller Erinnerungen nicht die Vergangenheit selbst ist, sondern die Vorstellungen, die sich das erinnernde Individuum von der Beschaffenheit der Vergangenheit macht, so wird offenkundig, dass keine autobiographische Darstellung die vergangene Wirklichkeit ‚abbilden’ kann, sondern auf den aktuellen Vorstellungen des sich erinnernden Autobiographen basiert. Goethes mühsame Versuche, einen ‚Schlüssel’ zur eigenen Vergangenheit zu finden, sind demnach eigentlich der Versuch, möglichst zusammenhängende und schlüssige _____________ 269
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Vgl. zum neueren Stand der Diskussion die – gerade auch für die im weiteren Sinne geisteswissenschaftliche, im engeren Sinne literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Erinnern und Gedächtnis wichtigen – Beiträge zum Thema in den Sammelbänden Assmann und Harth (Hgg.), Mnemosyne; Anselm Haverkamp und Renate Lachmann (Hgg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993. Schmidt, Gedächtnis – Erzählen – Identität, S.378 (Hervorhebungen im Original). Schmidt, Gedächtnis – Erzählen – Identität, S.386.
Vorstellungen von der eigenen Vergangenheit zu konstruieren (genau diese fehlten ihm ja in der Historie). Wie eng außerdem ‚Erinnerungs-’ und ‚Schreibarbeit’ miteinander verknüpft sind (und dies nicht nur bei Goethe, obwohl bemerkenswert ist, wie bewusst gerade ihm dieser Zusammenhang zu sein scheint), verdeutlichen Schmidts Überlegungen zur „Ordnung des erzählten Geschehens“, das nämlich als „eine Funktion des Erzählens, nicht der Ordnung des erzählten Geschehens“272 zu betrachten ist. Auch hier sind es also wieder die in der Gegenwart vollzogenen Handlungen des Erzählens bzw. Schreibens, die die Darstellung strukturieren bzw. sie allererst produzieren und nicht etwa das dargestellte Geschehen selbst. Dementsprechend ist in Abgrenzung von der älteren Forschung nicht mehr – und dies ist eben gerade im Hinblick auf literarische Erinnerungsverfahren wichtig – von einer anhand von historischen Fakten verifizierbaren, sondern von einer „narrativen Wahrheit“273 nicht nur des autobiographischen Schreibens, sondern auch des autobiographischen Erinnerns auszugehen. Die Gedächtnisleistung ist damit als kreative Funktion zu bewerten und – gerade was die Auswahl und Ausgestaltung von Vergangenem anbelangt; erst recht, wenn das Erinnerte ‚verschriftlicht’ werden soll – an ästhetische Erwägungen gekoppelt.274 Entscheidend für die von Goethe intendierte Wirkung seines Autobiographieprojekts, darüber hinaus auch für die selbsttherapeutische Funktion des autobiographischen Schreibens – beides deutet sich, durchaus in engem Zusammenhang zu sehen, in Goethes Äußerungen in Gesprächen und Briefen immer wieder an –, ist der Beitrag von ‚Erinnerungs-’ und ‚Schreibarbeit’ für das Selbstkonzept des Autobiographen, das schließlich durch die autobiographische Darstellung nach außen kolportiert wird: „Im und durch Erzählen konstruieren wir die Identität der Prototypen ebenso wie die Identität des Erzählers.“275 Durch die Vorstellungen, die das erinnernde Individuum sich von vergangenem Geschehen macht, modelliert es ein Bild von der eigenen Person und von der Außenwelt sowie von der Wechselwirkung zwischen beiden. Der Autobiograph konstruiert also auf diese Weise seine Identität und inszeniert sie darüber hinaus durch die Veröffentlichung _____________ 272 273
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Schmidt, Gedächtnis – Erzählen – Identität, S.389. Dies ist ein Schlüsselbegriff in Kotres Buch; vgl. dazu John Kotre, Weiße Handschuhe. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hartmut Schickert, München 1996. Vgl. zur ‚Koppelung‘ der „Gedächtnisleistung“ an „ästhetische Erwägungen“, auch zum „ästhetischen Vergessen“ Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.48. Schmidt, Gedächtnis – Erzählen – Identität, S.389.
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gegenüber einem Publikum. Die selbsttherapeutische Funktion von ‚Erinnerungs-’ und ‚Schreibarbeit’ liegt dabei darin, dass konsistente Selbstkonzepte „dem Subjekt konsistente Handlungsorientierungen [erlauben] und […] das Erlebnis von personaler Kontinuität und Identität [vermitteln]“.276 Neuere Arbeiten zum autobiographischen Gedächtnis sehen gerade in dieser auf die eigene Identität bezogenen Sinnstiftung dessen ‚eigentliches Interesse’ und betonen, dass Erinnerungen kompatibel mit dem Selbstbild des sich erinnernden Individuums sein müssen, um überhaupt als Erinnerungen anerkannt zu werden.277 „Ein Factum unseres Lebens gilt nicht, insofern es wahr ist, sondern in so fern es etwas zu bedeuten hatte”278 – Goethes viel zitierte Äußerung gegenüber Eckermann, die im Kontext eines Gesprächs über sein Autobiographieprojekt steht und auf die „höhere Wahrheit“ der Darstellung verweist, lässt sich daher allgemein gültig auf Funktion und Verfahren des autobiographischen Gedächtnisses beziehen: Schließlich erinnert man keineswegs das, was „wahr“ ist – und schon gar nicht a l l e s , was „wahr“ ist –, sondern das, was „etwas zu bedeuten hatte“ bzw. gerade für das erinnernde Individuum zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch „etwas zu bedeuten“ hat – etwa, weil „es einzigartig ist“, weil es „für das Individuum mit gewissen Folgen verbunden ist“, weil es „unerwartet auftritt oder aber mit einer besonderen Emotionalität verbunden ist.“279 Über diese für das Individuum selbst bedeutsame Sinnstiftungsfunktion des Erinnerns hinaus kann im Hinblick auf das Lesepublikum einer Autobiographie ein konsistentes Selbstkonzept, eine auch für den Leser überzeugende und in sich geschlossene Identitätskonstruktion sicherlich dazu beitragen, vom Autobiographen intendierte Wirkungsabsichten tatsächlich durchzusetzen.
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Schmidt, Gedächtnis – Erzählen – Identität, S.393. Vgl. dazu als kurzen Überblick den Abschnitt „Das autobiographische Gedächtnis“ bei Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.87–91; ausführlicher Kotre, Weiße Handschuhe; Craig R. Barcley, Schematization of autobiographical memory. In: Autobiographical Memory, hg. von David C. Rubin, Cambridge, New York und Melbourne 1986, S.82–99. FA II/12, S.479: Gespräch mit Eckermann, 30. 03. 1831. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.87. Vgl. dazu auch Holdenried, Autobiographie, S.60f.: „Was die Tätigkeit des Gedächtnisses freilegt (oder produziert), ist niemals ‚authentisch’ im Sinne einer Einholbarkeit vergangener Lebenstatsachen, aber es ist auch nicht als ‚falsche’ (verfälschte) Erinnerung zu diskreditieren, weil es sich immer um Sequenzen handeln dürfte, welche bedeutsam für die individuelle Genese waren.“ Vgl. entsprechend – mit kritischem Fokus auf dem Quellenwert der Oral History – Bertaux und Bertaux-Wiame, Autobiographische Erinnerungen und kollektives Gedächtnis, S.111f.
Schon in Schmidts Formulierung von den „jetzt wahrgenommene[n…] oder empfundene[n…] Handlungsnotwendigkeiten“280 deutet sich das funktionale und damit auf die Gegenwart des Erinnernden bezogene Moment der ‚Erinnerungsarbeit’ an. Erinnert wird vor allem und meist – bewusst oder unbewusst – gezielt Vergangenes, das in der Bewertung des erinnernden Individuums einen Bezug zu bzw. eine Bedeutung für die Gegenwart und oft gleichermaßen im Hinblick auf die antizipierte Zukunft hat. Der ‚Erinnerungsarbeit’ ist so ein Fixpunkt inhärent, der teleologische Konstruktionsleistungen hervorbringt, die die Erinnerungen in Auswahl und Gestaltung auf ein Ziel zulaufen lassen: das erinnernde Individuum nicht mit seinen vergangenen, sondern seinen gegenwärtigen Wahrnehmungen, Sichtweisen, Gefühlen, Gedanken, Wünschen und Bedürfnissen gegenüber sich selbst wie gegenüber anderen in seiner Genese sichtbar und so besser verstehbar werden zu lassen. Auf diese Weise konstituiert sich „sowohl das Vergangene aus der Gegenwart und der antizipierten Zukunft […] als auch die Gegenwart aus dem Vergangenen und dem Zukünftigen.“281 Die Gegenwart nimmt als Fixpunkt bei verschiedenen (Formen von) ‚Erinnerungsarbeit’ und bei verschiedenen erinnernden Individuen sicherlich einen nicht immer gleich hohen und bewussten Stellenwert ein. Ob man daher generell so weit gehen kann, Aufzeichnungen über Vergangenes und damit auch Autobiographien als „Überredungsversuche“ zu definieren, „die aufgeschrieben wurden, um das Gedächtnis anderer zu modellieren“ und die daher keineswegs „unschuldige[…] Erinnerungen enthalten“,282 ist in dieser Radikalität womöglich zu bezweifeln. Nimmt man aber in diesem Zusammenhang die kommunikativen Aspekte von Goethes Autobiographischen Schriften genauer in den Blick, so wird zumindest verständlicher, dass diese Aussage und damit die sozialen Funktionen des autobiographischen Gedächtnisses in besonderem Maße auf Goethes Autobiographieprojekt zutreffen, weil der Autor mit der Veröffentlichung seiner als Autobiographie aufgezeichneten Erinnerungen in seiner Gegenwart wie in der antizipierten Zukunft ganz _____________ 280 281 282
Schmidt, Gedächtnis – Erzählen – Identität, S.386. Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S.17. Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, S.292. Für Burke und seinen geschichtswissenschaftlich akzentuierten Fokus auf die ‚erinnerte Lebensgeschichte’ ist diese These jedoch umso bedenkenswerter, wenn es – ähnlich wie auch in methodenkritischen Überlegungen zur Oral History – um den Quellenwert des Erinnerten geht, das eben nicht nur für das sich erinnernde Individuum und seine individuelle Lebensgeschichte interessant ist, sondern durch die – schriftliche oder mündliche – Weitergabe des Erinnerten in das soziale Gedächtnis eingeht (und wechselseitig auch wiederum vom sozialen Gedächtnis geprägt ist).
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bestimmte Ziele verfolgt und seine Leser zu einer ganz bestimmten Rezeption seines Lebens und Werks ‚überreden’ will.283 2.2.2.3 Sprechakttheorie, Rezeptionsästhetik und Literatursoziologie: die Autobiographie als Handlungs- und Kommunikationsinstrument Inwiefern die Autobiographie tatsächlich Auskunft über vergangene Wirklichkeit liefert bzw. überhaupt zu liefern vermag, kann man vor dem Hintergrund der dargestellten Überlegungen zum begrenzten Vermögen des Autobiographen, sich die eigene Vergangenheit so zu erschließen, ‚wie sie wirklich war’, bezweifeln. Ihre Aussagekraft für auf die Gegenwart des Schreibenden bezogene Sichtweisen, Wahrnehmungen und Wirkungsabsichten wird dagegen umso evidenter. Dass gerade bei Goethe dieser Gegenwartsfokus des autobiographischen Schreibens auf eine gezielt intendierte Wirkung, auf ‚inszenierte Selbstdarstellung’ vor einem Lesepublikum abhebt, das den Text mit einer ganz spezifischen Zielsetzung rezipieren und im Idealfall die vom Autor beabsichtigten Reaktionen erbringen soll, lässt es – wie bereits im Zusammenhang mit Goethes Äußerungen in Gesprächen und Briefen angedeutet – als methodisches Fundament der Textanalysen sinnvoll erscheinen, diejenigen literaturtheoretischen Ansätze in den Blick zu nehmen, mit denen sich Goethes Autobiographieprojekt als Medium in einer Kommunikationskette zwischen Autor und Leser beschreiben lässt. Dabei schließen sich rezeptions- und sprechakttheoretische Ansätze nicht aus, sondern ergänzen sich wechselseitig, indem sie literarische Kommunikation aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten:284 Während die _____________ 283
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Dass diese Überredungsstrategie (gerade bei Goethe) nicht nur das Lesepublikum, sondern auch den Autor selbst im Blick hat, deutet schon die Titelformulierung von Kramers Aufsatz an: Olaf Kramer, Ein Leben schreiben. Goethes „Dichtung und Wahrheit“ als Form autobiographischer Selbstüberredung. In: Jahrbuch Rhetorik 20 (2001), S.117–130. Kramer führt unter anderem aus, dass der „in der Autobiographie suggerierten souveränen Erinnerungsleistung […] genaue Recherche und Konstruktion entgegen[steht], wir haben mit Dichtung und Wahrheit kein Werk der Erinnerung vor uns, sondern ein Werk zielgerichteter (Re-)Konstruktion“ (Kramer, Ein Leben schreiben, S.122). Dass sie dennoch in der einen aktuelleren Überblicksdarstellung Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.57–60 (zur „Autobiographie als Handlung“) bzw. S.65–72 („Die Autobiographie und ihre Leser/innen: Rezeptionsästhetische Deutungsansätze“) vollständig losgelöst voneinander behandelt werden, in der zweiten Überblicksdarstellung neueren Datums Holdenried, Autobiographie, S.27f. und 43f. nur auf Lejeunes rezeptionstheoretisches Autobiographiekonzept eingegangen und sprachpragmatische Ansätze völlig aus-
rezeptionstheoretische Autobiographieforschung – der prominenteste Vertreter ist nach wie vor Philippe Lejeune mit seinem Konzept des ‚pacte autobiographique’ – den Fokus auf den Leser richtet und nach seinen Rezeptionshandlungen fragt,285 interessieren sich die literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die die sprechhandlungstheoretischen Debatten in der Tradition John L. Austins und John R. Searles aufgreifen, primär für Handlung und Wirkungsabsichten des Schreibenden.286 Von dessen Standpunkt betrachtet rufen nämlich die vom und im Text vollzogenen Handlungen in einer ‚idealen’ literarischen Kommunikation auf der Seite des Lesers genau diejenigen Reaktionen hervor, die der Schreibende beabsichtigt. Doch wie stellt sich nun für Goethe die ‚ideale’ literarische Kommunikation durch und über sein Autobiographieprojekt dar, wie soll der ‚ideale’, den Wirkungsabsichten des Autors nachkommende Leser dessen einzelne Teile rezipieren? Hier ist Philippe Lejeunes rezeptionstheoretischer Ansatz des ‘pacte autobiographique’ hilfreich: Lejeune geht bei seiner Analyse des Rezeptionsprozesses so weit, die spezifische Art der Rezeption als gattungskonstituierend für die Autobiographie zu setzen: Leser und Autor schließen einen Pakt, bei dem der Autor ausdrücklich seine Identität mit Erzähler und Protagonist des Textes erklärt (dies geschieht meist schon durch die Titelgebung seines Werkes, sonst aber in einer einleitenden Passage, nachweislich aber durch die _____________
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geblendet werden und es auch m. W. keine Einzelstudien zu Autobiographien gibt, die beide Ansätze integrierend für ihre Analysen nutzbar machen, scheint daher verwunderlich. Lejeune leitet sein Untersuchungsinteresse selbst aus seiner eigenen Perspektive als L e s e r – und eben nicht als Autor – von Autobiographien ab, wie er einleitend als ‚Programm’ seines zentralen Aufsatzes formuliert: „Textuellement, je pars de la position du lecteur: il ne s’agit ni de partir de l’intériorité d’un auteur qui justement fait problème, ni de dresser les canons d’un genre littéraire. En partant de la situation de lecteur (qui est la mienne, la seule que je connaisse bien), j’ai chance de saisir plus clairement le fonctionnement des textes (leurs différences de fonctionnement) puisqu’ils ont été écrits pour nous lecteurs, et qu’en lisant, c’est nous qui les faisons fonctionner“ (Lejeunes Aufsatz wird zitiert nach dem Erstdruck: Philippe Lejeune, Le pacte autobiographique. In: Poétique 4 (1973), S.137–162, hier S.137; Hervorhebung im Original). Diese Sprecherzentriertheit stellt einen – wenn nicht d e n – zentralen Kritikpunkt an der Sprechakttheorie – bzw. ihren grundlegenden, inzwischen ja weiterentwickelten und ergänzten, Arbeiten dar; weil sie doch den Anspruch erhebe, „zumindest einen Teil des Wissens zu beschreiben, das bei Sprechenden und Hörenden dem Sprachgebrauch zugrunde liegt“ und sie trotzdem „das Augenmerk vor allem darauf [legt], was Sprechende tun oder meinen“, so dass man als notwendige Ergänzung schon eine ‚„Hörverstehensakt-Theorie’“ gefordert habe (Angelika Linke, Markus Nussbaumer und Paul R. Portmann, Studienbuch Linguistik. 2. Auflage, Tübingen 1994 (Reihe Germanistische Linguistik, Bd. 121), S.194; Hervorhebungen im Original).
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Namensidentität von Autor, Erzähler und Protagonist), woraufhin der Leser den Text als Autobiographie zu lesen hat und damit erwarten kann, dass der Autor sein Leben so erzählt, wie es ihm rückblickend als ‚wahr’ erscheint. Diesen ‚Vertrag’, der zwischen Autor und Leser einer Autobiographie abgeschlossen wird, deklariert Lejeune als ‚pacte autobiographique’.287 Erzähler und Figur verweisen i m Text der Autobiographie auf den Autor a u ß e r h a l b des Textes und damit, dass sich der Text auf diese Weise auf eine außersprachliche Realität bezieht, ist der nach Lejeune für die Autobiographie konstitutive ‚pacte référentiel’ geschlossen. In unserem Zusammenhang sind besonders die Konsequenzen entscheidend, die sich aus dem ‚pacte autobiographique’ und dem ‚pacte référentiel’ für die Konzepte der ‚identité’ und der ‚ressemblance’ in der Autobiographie ergeben. Für Lejeune ist die Mitarbeit des Lesers konstitutiv: nimmt dieser das Paktangebot an, so ‚funktioniert’ das autobiographische Lesen, und fortan spielt eine Prüfung der Verifizierbarkeit der Darstellung, die Frage nach der Ähnlichkeit mit der Realität, keine Rolle mehr, da ja die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist garantiert ist und der Autor durch den autobiographischen Pakt dafür bürgt, die Ähnlichkeit so, wie sie sich ihm selbst darstellt, zu intendieren. Lejeune erläutert dies am Beispiel von Rousseaus Confessions: Le fait que nous jugions que la ressemblance n’est pas obtenue, est accessoire à partir du moment où nous sommes sûrs qu’elle a été visée. Ce qui importe, c’est moins la ressemblance de ‘Rousseau à l’âge de seize ans’ représenté dans le texte des Confessions avec le Rousseau de 1728 ‘tel qu’il était’, que le double effort de Rousseau vers 1764 pour peindre 1) sa relation au passé; 2) ce passé tel qu’il était, avec l’intention de ne rien y changer.288
Nimmt man als Leser von Goethes autobiographischen Schriften den durch die Namensidentität von Autor, Erzähler und Protagonist offerierten und durch die Titel der einzelnen Werke (vor allem der einzelnen Bände von Dichtung und Wahrheit, der ersten beiden Teile der Italienischen Reise, der Campagne in Frankreich und der Belagerung von Mainz, die bei ihrer jeweiligen Erstveröffentlichung alle mit dem Titelzusatz Aus meinem Leben versehen sind), durch die Einordnung in die Autobiographischen Schriften in der Ausgabe letzter Hand und die zahlreichen programmatischen Äußerungen zu diesen Werken in Gesprächen oder Briefen noch unterstützten autobiographischen Pakt an, so verbieten sich – pointiert formuliert – Fragen nach der Ähnlichkeit der Darstellung. Auf diese Weise wird die Mitarbeit des Lesers zum gattungskon_____________ 287 288
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Im Gegensatz dazu setzt der ‘pacte romanesque’ die „pratique patente de la non-identité“ und die „attestation de fictivité“ voraus (Lejeune, Le pacte autobiographique, S.148). Lejeune, Le pacte autobiographique, S.158.
stituierenden Kriterium gesetzt und der Pakt – wird er denn vom Leser angenommen – erzeugt Effekte, die dem Text zugeschrieben werden und ihn als Autobiographie bestimmen. […] l’autobiographie: c’est un mode de lecture autant qu’un type d’écriture, c’est un effet contractuel historiquement variable. […] Si donc l’autobiographie se définit par quelque chose d’extérieur au texte, ce n’est pas en deçà, par une invérifiable ressemblance avec une personne réelle, mais au-delà, par le type de lecture qu’elle engendre, la créance qu’elle sécrète, et qui se donne à lire dans le texte critique.289
Zwar wurde Lejeunes Konzept inzwischen in mehreren Punkten und mit z.T. überzeugenden Argumenten kritisiert – um nur wenige Aspekte anzudeuten:290 Was eigentlich passiert, wenn der Leser den Pakt nicht annimmt? Ist überhaupt jede Autobiographie vom Autor auf dem Buchdeckel oder mittels eines Vorworts oder Klappentexts als solche ausgewiesen? Und welche Konsequenzen hat es, wenn das erzählende Ich über sich selbst nicht in der 1. Person Singular berichtet? Kann man daher im Hinblick auf Lejeunes Anspruch, eine allgemein gültige Theorie der Gattung vorzulegen, sicherlich berechtigte Zweifel anmelden und kritisieren, dass es ihm „am wohlsten zu sein scheint, wenn es gelingt, textuelle Unsicherheiten, Unentscheidbarkeiten, Irritationen auf das sichere Parkett des autobiographischen Paktschlusses zu retten“,291 so trifft dieser ‚Vorwurf’ doch genau Goethes Intention, seine Identität mit und in seinen Texten so zu inszenieren, wie sein Publikum ihn als „Denkmal“ in Erinnerung behalten soll – und zwar im Fall einer aus Goethes Perspektive ‚idealen’ literarischen Kommunikation und damit Rezeption seiner autobiographischen Texte tatsächlich ohne Zweifel an der Authentizität der Darstellung durch einen ebenso ‚idealen’ Leser und auf dem „sichere[n] Parkett des autobiographischen Paktschlusses“.292 Mit anderen Worten bzw. aus einer anderen Perspektive – nämlich in der Terminologie der Sprechakttheorie und mit einem Fokus auf den Sprechhandlungen und Wirkungsabsichten des Schreibenden – formuliert: Goethe b e h a u p t e t , dass sich ihm rückblickend sein Leben tat_____________ 289 290
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Lejeune, Le pacte autobiographique, S.161f. (Hervorhebungen im Original). Vgl. ausführlicher zur Kritik an Lejeunes ‚pacte autobiographique’ die entsprechenden Abschnitte in den Überblicksdarstellungen von Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.68f. und Holdenried, Autobiographie, S.42–44; detaillierter und mit einem konstruktiven Impetus, der Lejeunes Pakterklärung um den Faktor der „Identitätsrepräsentation“ erweitert, Michaela Holdenried, Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman, Heidelberg 1991, S.174–208. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.69. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.69.
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sächlich so darstellt, wie er es dem Leser in seinen Autobiographischen Schriften präsentiert und wie dieser es ihm glauben soll. Er setzt sich damit „handelnd in ein bestimmtes Verhältnis zur Umwelt“,293 das sich genauer bestimmen lässt, wenn man diejenigen Dimensionen der Gattung in den Blick nimmt, die die literaturwissenschaftliche Pragmatik294 herausgearbeitet hat. Elizabeth W. Bruss ist dabei die erste, die die Autobiographie als einen literarischen ‚Akt’, als eine Form des Handelns untersucht.295 In Anlehnung an Karlheinz Stierle296 erläutert sie überzeugend, dass „jeder literarische Diskurs ein System illokutionärer Typen oder Gattungen“ ist und sich daher auch „die Literatur selbst als ein außerkategorialer illokutionärer Typ […], als eine spezifische _____________ 293 294
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Jürgen Lehmann, Bekennen – Erzählen – Berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie, Tübingen 1988, S.36. Hier handelt es sich um eine noch relativ junge Teildisziplin der Literaturwissenschaft, die seit den 70er Jahren versucht, die ein Jahrzehnt zuvor geführten, von John L. Austins How to do Things with Words [1962] und John R. Searles Speech Acts [1969] initiierten sprechhandlungstheoretischen Debatten der Linguistik für die Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen und literarische Texte als ‚Sprechakte’ zu bestimmen und zu analysieren. Die linguistischen Grundlagen der Sprechakttheorie können hier nicht ausführlicher vorgestellt werden. Erinnert sei lediglich an Austins grundlegende Unterscheidung zwischen lokutionärem, illokutionärem und perlokutionärem Akt. „Dabei bezeichnet der lokutionäre Akt die sprachliche Äußerung als grammatische und phonetische Erscheinung sowie ihre referentielle und prädikative Funktion, während der illokutionäre Bestandteil die Art der Verwendung der Aussage in Handlungskontexten anzeigt, also das, was ihren spezifischen Handlungscharakter ausmacht“ (Lehmann, Bekennen – Erzählen – Berichten, S.14). Wichtig ist jedoch darauf hinzuweisen, dass literaturwissenschaftliche Untersuchungen im Unterschied zu Austin und Searle, die stets nur einzelne Sätze (und nicht etwa längere Äußerungen) als Sprechakt begreifen, die sprechaktbezogenen Analysen über die Satzgrenze hinweg auf die Äußerung von (ganzen) Texten ausdehnen, die als Abfolge einzelner Sprechakte oder aber auch als e i n e sprachliche Handlung betrachtet werden können. Allerdings wurde die „Satzverhaftetheit der Sprechakttheorie“ (Linke, Nussbaumer, Portmann, Studienbuch Linguistik, S.195) auch innerhalb der Linguistik mittlerweile mehrfach kritisiert und weiterentwickelt und auch die linguistische Pragmatik untersucht inzwischen – gerade im Bereich der Gesprächsanalyse – Satzsequenzen auf ihren Gehalt als Sprechakt. Vgl. zur (im Hinblick auf das literaturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse unumgänglichen) Abgrenzung der literaturwissenschaftlichen Pragmatik von Searles ursprünglichem Ansatz und damit zur ‚Ausweitung’ des Sprechhandlungsbegriffs auf ganze Texte ausführlicher Lehmann, Bekennen – Erzählen – Berichten, S.20f. Der zuerst 1974 unter dem Titel „L’autobiographie considérée comme acte littéraire“ veröffentlichte Aufsatz wird zitiert nach dem Sammelband von Günter Niggl: Elizabeth W. Bruss, Die Autobiographie als literarischer Akt. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. 2. Auflage, hg. von Günter Niggl, Darmstadt 1998, S.258–279. Karlheinz Stierle, L’Histoire comme Exemple, l’Exemple comme Histoire. Contribution à la pragmatique et à la poétique des textes narratifs. In: Poétique 10 (1972), S.176– 198.
Sprechsituation“297 begreifen lässt. Jürgen Lehmann führt ihre Überlegungen weiter, nimmt vor allem – und dies ist im Hinblick auf Goethes Autobiographiekonzept entscheidend – den perlokutionären Gehalt des literarischen Texts als Sprechhandlung stärker in den Blick und versteht die Autobiographie als eine Form sozialen Handelns, bei der die Autobiographen ihren Text zwar nicht zwangsläufig mit e i n e r bestimmten Handlung [identifizieren], […] aber […] den A n s p r u c h [erheben], mit Hilfe dieses Textes Situationen zu verändern, sie zu beenden oder zu stabilisieren, kurz, sich durch die sprachliche Formulierung ihrer Vergangenheit in ein bestimmtes Verhältnis zur Umwelt zu setzen.298
Er sucht bei seiner Arbeit nach Handlungsindikatoren in Texten, die dazu geeignet sind, „gerade Autobiographien als Dokument und Organon sprachlichen Handelns aus[zu]weisen.“299 Dass in Goethes Autobiographischen Schriften von Lehmanns aufgestellten Indikatoren gerade diejenigen besonders häufig begegnen, die auf die beabsichtigte Wirkung des Textes, d. h. auf seinen perlokutionären Gehalt als Sprechhandlung verweisen – Indikatoren, die „auf die für die Entstehung des Textes relevante Schreibsituation und den Interaktionsrahmen deuten“, die „im Zusammenhang damit Intentionen, Erwartungen und Erwartungserwartungen artikulieren“, die „dabei das Verhältnis zwischen Autor und intendierten und antizipierten Rezipienten anzeigen“ und die „die Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit der mit der betreffenden Textäußerung vollzogenen Handlung unterstreichen und erkennen lassen, daß der Text einem Wahrheitsanspruch gerecht wird“300 –, überrascht vor dem Hintergrund des gezielten Kalküls der Publikumsreaktionen auf das Projekt durch den Autor nicht, macht sie allerdings als Leitlinien für die vorliegende Untersuchung umso brauchbarer. Den drei – von Lehmann idealtypisch verstandenen, in realen Texten meist als ‚Mischform’ auftretenden – Sprechhandlungsformen ‚Bekennen’, ‚Erzählen’ und ‚Berichten’ sind Versionen einer für die Autobiographie kennzeichnenden Behauptungshandlung übergeordnet: „Behauptet wird der Wahrheitsanspruch des autobiographisch Dargestellten“.301 Verhalten sich die Leser der Autobiographie im Sinne des ‚pacte autobiographique’ vertragskonform, zweifeln sie die (einzelnen) Behauptung(en) sowie den Wahrheitsanspruch der Autobiographie nicht an – und damit bei der Lektüre von Goethes Autobiographischen Schriften _____________ 297 298 299 300 301
Bruss, Die Autobiographie als literarischer Akt, S.262. Lehmann, Bekennen – Erzählen – Berichten, S.35. Lehmann, Bekennen – Erzählen – Berichten, S.5. Lehmann, Bekennen – Erzählen – Berichten, S.22f. Wagner-Egelhaaf, Autobiographe, S.57.
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auch nicht die positiven (Lebens-)Leistungen, die der Autor gezielt in den Vordergrund rückt, um seine Wirkung auf und für Gegenwart und Nachwelt zu betonen. Je überzeugender die Behauptungshandlung auf der Textebene umgesetzt wird, je häufiger und gezielter strukturierend also die von Lehmann aufgestellten Handlungsindikatoren – und gerade diejenigen, die den perlokutionären Gehalt der Textäußerung betreffen – im Text begegnen, desto besser wird es gelingen, den Leser zur konsequenten Annahme des ‚pacte autobiographique’ zu bewegen – und desto besser sind für Goethe die Voraussetzungen dafür, sich selbst ein „Denkmal“ zu statuieren und es vor allem so auszugestalten, wie er selbst von gegenwärtiger und zukünftiger Leserschaft gesehen und beurteilt werden will. Lehmanns Hinweis darauf, dass der Erfolg des Autors, die intendierte Wirkung auf seinen Leser zu erzielen, zusätzlich davon abhängt, inwiefern er die „Regelgebundenheit“ seiner sprachlichen Äußerung im Blick hat, weil schriftliche Texte zunächst durch Konventionen beeinflusste „Konkretisationen von Regelapparaten […] und nicht primär Ergebnisse eines individuellen Schöpfungsaktes“ sind, verweist auf ein in die jeweilige historische Situation eingebundenes „System der Verständigung“,302 innerhalb dessen Text, Autor und Leser kommunizieren bzw. kommunizierend interagieren und damit für die Untersuchung der literarischen Kommunikation auf strukturalistische Konzepte. Auf deren theoretischem Fundament ist es abschließend möglich, nicht entweder rezeptionstheoretisch aus der Perspektive des Lesers oder sprechakttheoretisch aus der des Autors zu argumentieren, sondern das ‚System’ als ganzes zu betrachten. Für die gesamte literarische Kommunikation zwischen Goethe als Autor und seinem Publikum sei dazu noch einmal auf die zentrale übergeordnete Wirkungsabsicht hingewiesen: Es geht Goethe darum, die Rezeption seiner Leser so zu steuern, dass sie wieder Interesse an ihm und seinen Werken finden, seine Lebensleistungen honorieren, um der Gefahr zu entgehen „bei Lebzeiten abzusterben“303 und statt dessen seinen Platz in der Gegenwart und damit in der Geschichte zu befestigen. Dabei kalkuliert er – in der Terminologie Pierre Bourdieus gesprochen – die historische Konstellation, die Strukturen und Mechanismen des zeitgenössischen literarischen Feldes genau ein.304 Die einzelnen Teile seines Autobiogra_____________ 302 303 304
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Lehmann, Bekennen – Erzählen – Berichten, S.21f. FA II/7, S.86: Brief an Carl Friedrich von Reinhard, 13. 08. 1812. In dieser Arbeit wird mit der Terminologie Pierre Bourdieus gearbeitet, ohne dass seine Feldtheorie hier ausführlich dargestellt werden kann – vgl. als detaillierte Einführung in seinen literatursoziologischen Ansatz Jurt, Joseph: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre
phieprojekts sind nach Bourdieus Feldtheorie als Stellungnahmen zu bewerten, mit denen er symbolisches Kapital anhäufen will, um so seine ehemals exponierte Position im Feld wieder zu verbessern. Am dominanten Pol des Feldes wie im so genannten ‚klassischen Jahrzehnt’ zwischen 1795 und 1805, als seine und Schillers klassizistische Kunstauffassung das Feld beherrschte, befand er sich nämlich schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Ersten Teils von Dichtung und Wahrheit 1812 nicht mehr: Die romantische Bewegung stellte jetzt keineswegs mehr eine avantgardistische Gegenströmung dar, sondern hatte sich mehr oder weniger fest am dominanten Pol des literarischen Felds etabliert (gerade vor diesem Hintergrund lässt sich übrigens Goethes viel zitiertes Diktum, ‚sich selbst historisch geworden’ zu sein, erklären).305 Bereits die textexternen Äußerungen wie die betrachteten programmatischen Aussagen in Briefen und Gesprächen dienen Goethe als ergänzende Stellungnahmen, um auf das literarische Feld einzuwirken und die eigene Position dort zu sichern bzw. zu verbessern. Inwiefern diese auf die konkrete Kommunikationssituation bezogene Wirkungsabsicht des Autors, die Distanz zum dominanten Pol des literarischen Felds wieder zu verringern, die eigene historische Bedeutung zu stärken und der Nachwelt ein selbstinszeniertes und damit autorisiertes „Denkmal“ zu errichten, sich auch – und wie anzunehmen ist in besonderem Maße – auf die Gestaltung der Texte niederschlagen und deren kommunikative Funktionen bewusst einkalkuliert werden, wird zu zeigen sein. 2.2.3
Ergebnisse und offene Fragen: die wissenschaftliche Rezeption von Goethes Autobiographischen Schriften
Die dargestellten drei Problemfelder „Dichtung“ und „Wahrheit“ der Autobiographie, Erinnerung und Gedächtnis sowie Autobiographie als Kommunikationsmedium wurden zwar gezielt als diejenigen ausgewählt, die als methodisch-theoretische Grundlegung bzw. als begriffli_____________
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Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt 1995, hier bes. S.69–107; Bourdieus eigenen grundlegenden Aufsatz Pierre Bourdieu, Le champ littéraire. In: Actes de la recherche en sciences sociales 89 (1991), S.4–46; ausführlicher dann auch Pierre Bourdieu, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris 1992 bzw. Pierre Bourdieu, Das literarische Feld. In: Streifzüge durch das literarische Feld, hg. von Louis Pinto und Franz Schultheis, Konstanz 1997, S.33–147. Schon hier sei auf die grundlegende Studie über Goethes Verhältnis zur Romantik verwiesen, die in ihrer Anlage sehr differenziert Goethes Beziehung zu einzelnen Romantikern untersucht: Hartmut Fröschle, Goethes Verhältnis zur Romantik, Würzburg 2002.
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ches Instrumentarium für die Frage nach Goethes Geschichtsdenken in seinen Autobiographischen Schriften etwas austragen, sie liefern allerdings einen – wenn auch nicht vollständigen – Überblick über die literaturwissenschaftliche und/oder geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Autobiographie als Gattung, in der Goethes Werk – und damit ist hier keineswegs sein gesamtes Autobiographieprojekt bzw. alle Teile gleichermaßen, sondern vielmehr fast ausschließlich Dichtung und Wahrheit gemeint – stets eine besondere Rolle eingenommen hat. Wenn etwa am Beispiel der Autobiographie auf die Diskursivität von Gattungstraditionen, sogar von Gattungsdefinitionen verwiesen und betont wird, dass jeder „autobiographische Akt, sei es das Lesen oder das Schreiben einer Autobiographie, [die ‚Gattung’ Autobiographie] bestätigt und modifiziert“,306 so fehlt nirgendwo der Hinweis, dass es seit dem 19. Jahrhundert vor allem Dichtung und Wahrheit war und womöglich immer noch ist, das eine diskursnormierende Funktion ausübt(e), sei es im Hinblick auf den literarischen, sei es im Hinblick auf den literaturwissenschaftlichen Diskurs: Für die Autobiographien des 19., auch noch des 20. Jahrhunderts hatte Dichtung und Wahrheit zweifellos eine maßgebliche Orientierungsfunktion – meist im Sinne eines idealisierten und idolisierten Vorbilds, mitunter dann später, um sich eben gerade von diesem allzu wirkungsmächtigen Vorbild abzugrenzen. In der Literaturwissenschaft wurde Dichtung und Wahrheit zum „Höheund Kulminationspunkt der Gattung“307 erhoben und frühere Autobiographien teleologisch als ‚Vorläufer’, nachfolgende als ‚Epigonen’ diskreditiert. Es verwundert daher nicht, dass nicht nur Elemente des spezifisch Goetheschen Autobiographiekonzepts in die zahlreichen und allesamt umstrittenen Versuche eingeflossen sind, die Gattung zu definieren, sondern dass sich gleichsam in der Forschung zu Goethes Autobiographie der literaturwissenschaftliche Diskurs überhaupt widerspiegelt, und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen, weil sich anhand der zahlreichen Arbeiten zu Dichtung und Wahrheit die Entwicklung der Fragestellungen, der Interessenschwerpunkte und der (literatur-)theoretischen Grundlagen der Autobiographieforschung nachvollziehen lassen, zumal Dichtung und Wahrheit sicherlich die Autobiographie im deutschsprachigen Raum ist, zu der überhaupt am meisten publiziert wurde, und zum anderen, weil innerhalb des extrem heterogenen Goetheschen Autobiographieprojekts Dichtung und Wahrheit d i e exponierte _____________ 306 307
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Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.7. Ingrid Aichinger, Artikel ‚Selbstbiographie’. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. 2. Auflage, hg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr, Berlin und New York 1977, S.801–819, hier S.813.
Position einnimmt und eine wahre Fülle an Arbeiten zu eben diesem Werk einer vergleichsweise geringen bzw. fast verschwindenden Anzahl an Arbeiten zur Italienischen Reise, zur Campagne in Frankreich und zur Belagerung von Mainz und erst recht zu den Tag- und Jahresheften gegenübersteht. Vor allem der erste Aspekt kann und soll hier – gerade aufgrund der jedenfalls zu Dichtung und Wahrheit als „Muster, ja Idealtypus der Gattung“308 inzwischen fast unüberschaubaren Sekundärliteratur – nicht ausführlich dargelegt werden, zumal eine integrierende, an den jeweiligen Problemhorizont angebundene Auseinandersetzung mit einzelnen Arbeiten der Goethe-Forschung an entsprechenden Stellen der Textanalysen erfolgen wird und darüber hinaus ein wissenschaftsgeschichtlicher Rückblick auf Arbeiten zu Dichtung und Wahrheit sowie ein Resümee des aktuellen Stands der Diskussion an zahlreichen anderen Stellen nachgelesen werden kann.309 Wichtig bleibt dennoch etwas zu betonen, das vielleicht zunächst verwunderlich erscheinen mag: dass trotz der Fülle an Arbeiten ein Forschungsdefizit zu konstatieren ist, weil die skizzierten neueren gattungstheoretischen Ansätze bislang kaum auf die ‚alten’ Texte und so auch nicht auf den Klassiker Dichtung und Wahrheit angewandt wurden. So fordert Finck generell die „erneute Lektüre kanonischer Texte“, weil eine „Diskussion autobiographischen Schreibens“ vor allem da interessant werde, „wo sie sich nicht auf zeitgenössische Texte beschränkt“ und sich „die Frage nach dem Verhältnis von Text und Theorie“ als besonders brisant erweise. Signifikant ist dabei, dass sie ihre Überlegungen, die bei der Kürze ihres Aufsatzes nur angedeutet bleiben, gerade wieder an Dichtung und Wahrheit illustriert _____________ 308 309
Holdenried, Autobiographie, S.160. Natürlich widmen sich beide Überblicksdarstellungen zur Autobiographie jeweils auch ausführlich dem „Klassiker der Autobiographie“ (Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.161) und resümieren die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Dichtung und Wahrheit: Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.161–169; Holdenried, Autobiographie, S.160–169. Nützlich für eine erste Orientierung in der Forschung sind darüber hinaus der Artikel zu Dichtung und Wahrheit im Goethe-Handbuch sowie – weitaus differenzierter und umfangreicher – das die gesamte Forschung zu Dichtung und Wahrheit aufarbeitende Einführungskapitel der wohl aktuellsten Monographie zu Dichtung und Wahrheit, der Dissertation von Blod: Gabriele Blod, „Lebensmärchen“. Goethes Dichtung und Wahrheit als poetischer und poetologischer Text, Würzburg 2003 (Stiftung für Romantikforschung, Bd. 25), bes. S.12–41. Unter den Gliederungspunkten „Autobiographie als Wahrheit des Gesagten“ (S.12–25), „Autobiographie als Wahrheit des Sagens“ (S.26– 32) und „’Wahrheit’ als Paradoxie – Autobiographie als Schrift“ (S.33–41) umreißt sie vor allem die im Hinblick auf Dichtung und Wahrheit vertretenen Positionen der hermeneutischen, der kommunikations- und sprechakttheoretischen wie schließlich der dekonstruktivistischen Autobiographie-Forschung und weist kritisch auf deren Grenzen und Probleme hin.
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und anhand des Vorworts zum Ersten Teil darauf verweist, dass „die autobiographische Praxis schon immer von einem ausgeprägten Problembewußtsein hinsichtlich der klassischen Konzepte von Sprache und Subjektivität gekennzeichnet ist.“310 „Hiezu [den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen] wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne“ (DuW I, S.13), heißt es dort und Finck leitet daraus ab – und das ist besonders für die Fragestellung dieser Untersuchung wichtig –, dass „Goethe sowohl Selbsterkenntnis als auch historische Erkenntnis für ein ‚kaum Erreichbares’ hielt“311 – was die traditionelle Autobiographieforschung bislang weitgehend übersehen hat, wenn sie gerade die „Konstanz der Ich-Konzeption“312 in Goethes Autobiographie rühmt und sie „als Zeugnis der bedeutungsvollen Selbstgegenwärtigkeit eines mit sich identischen und zugleich über sich hinausweisenden Geistes“313 rezipiert. Dass dagegen eine „vielschichtigere[…] Annäherung“ notwendig ist und „problembewusstere Interpretationen“ gegen die erst in den letzten Jahren langsam abbrechenden Tendenzen einer solchen „harmonisierenden Goethe-Lektüre“314 zu stellen sind, will man sich denn endgültig von einer idealisierenden und biographistischpositivistischen Goethe-Verehrung verabschieden und seine Texte sowie sein Autobiographieverständnis ernsthaft erschließen, formulieren nicht nur Finck und Holdenried als Forderungen an die GoethePhilologie. Vielmehr ergibt sich die Konsequenz, neue Fragestellungen an Dichtung und Wahrheit zu richten und den so oft untersuchten Text noch mehr als bereits (in jüngeren Arbeiten) getan gegen den Strich zu lesen,315 gerade aus den oben vorgestellten Äußerungen des Autors zu _____________ 310 311 312
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Finck, Subjektbegriff und Autorschaft, S.290. Finck, Subjektbegriff und Autorschaft, S.291; vgl. ähnlich auch Holdenried, Autobiographie, S.162f. Ingrid Aichinger, Künstlerische Selbstdarstellung. Goethes „Dichtung und Wahrheit” und die Autobiographie der Folgezeit, Bern, Frankfurt a.M. und Las Vegas 1977, S.33. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.162. Holdenried, Autobiographie, S.162f. An dieser Stelle seien neben der bereits erwähnten Dissertation Blod, „Lebensmärchen“, schon einmal die folgenden Arbeiten genannt: Susanne Craemer-Schroeder, Deklination des Autobiographischen. Goethe, Stendhal, Kierkegaard, Berlin 1993 (Philologische Studien und Quellen, Bd. 124); Bernd Witte, Autobiographie als Poetik. Zur Kunstgestalt von Goethes „Dichtung und Wahrheit“. In: Neue Rundschau 89 (1978), S.384–400; Harald Schnur, Identität und autobiographische Darstellung in Goethes „Dichtung und Wahrheit“. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1990), S.28–93; Kerstin Stüssel, Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln. Poetik und autobiographisches Schreiben im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Tübingen 1993 (Communicatio, Bd. 6); Erwin Seitz, Talent und Geschichte. Goethe in seiner Autobiographie, Stuttgart und Weimar 1996 und Michael Gärtner,
seinem Autobiographieprojekt gegenüber Gesprächs- und Korrespondenzpartnern. Eine originelle Perspektive eröffnet dabei die wohl aktuellste Dissertation zu Dichtung und Wahrheit von Gabriele Blod, die durch die genaue Lektüre einzelner Passagen neue Ergebnisse erbringt. Ob jedoch ihr Untersuchungsansatz und damit ihre Hauptthese insgesamt zur Erschließung dieses Textes beitragen, ihn dezidiert nicht als Autobiographie, sondern als Märchen zu lesen, weil Goethe ihn in seiner Korrespondenz mitunter als „Lebensmährchen[…]“316 bezeichnet und sich einige strukturelle Parallelen zur Gattung ‚Märchen’ – wie bekanntermaßen etwa zum Roman – nachweisen lassen, die Blod sehr einleuchtend aufzeigt, scheint mir allerdings fraglich. Das ‚Ausweichen’ auf die Gattung ‚Märchen’ als Bezugspunkt verstellt nämlich vor allem den Blick auf zentrale Aspekte und auch auf die dargestellten Wirkungsintentionen, die Goethe mit seinem Text a l s A u t o b i o g r a p h i e verfolgt. Dagegen lässt sich im Hinblick auf Goethes Intention einer gezielten, auf Selbstinszenierung und ‚Denkmalkult’ ausgerichteten Rezeptionssteuerung, die für mein eigenes Untersuchungsproblem wichtig ist, unter diesen jüngeren Arbeiten zu Dichtung und Wahrheit vor allem an die Ergebnisse der 1993 erschienenen Dissertation von Kerstin Stüssel anknüpfen, bei denen zu prüfen bleibt, inwiefern sie für andere Teile von Goethes Autobiographieprojekt Gültigkeit besitzen: Ausgehend von dem Sprichwort Poeta nascitur non fit und dem damit verbundenen Dichterbild, das von „angeborener, exklusiver Genialität“317 – und nicht etwa von einem ‚gelernten’ oder gar von einem ‚gemachten’, gezielt inszenierten Dichter – ausgehe, befragt sie autobiographische Texte des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts nach der „Dichterausbildung und dem dichterischen Handeln im Spannungsfeld zwischen Gelehrtenstand und Literaturmarkt“318 und nimmt dabei eine Perspektive ein, die sich vor allem für die literarische Kommunikation durch die Texte und in den Texten interessiert. In ihrem Dichtung und Wahrheit gewidmeten Kapitel319 belegt sie überzeugend die These, dass Goethe _____________ 316 317 318 319
Zur Psychoanalyse der literarischen Kommunikation. „Dichtung und Wahrheit“ von Goethe, Würzburg 1998 (Freiburger literaturpsychologische Studien, Bd. 4). WA IV/22, S.175: Brief an Charlotte von Stein, „Anfang October“ 1811. Stüssel, Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln, S.1. Stüssel, Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln, S.7. Vgl. das Kapitel „Von Lesern und Lügnern: Die Konstruktion der Einheit von Leben und Werk in ‚Dichtung und Wahrheit’“ in Stüssel, Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln, S.242–289.
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mit diesem Text auf „den Umbruch der literarischen Kommunikationsverhältnisse“ antworte, und liest ihn als Versuch des Autors, sich „literarischen Ruhm[…]“ zu sichern und „die Kontrolle über die eigenen Texte zu Lebzeiten und postum zu gewährleisten“320 – Überlegungen, die in die gleiche Stoßrichtung weisen, die im Zusammenhang mit den Ausführungen zur Autobiographie als Kommunikationsinstrument321 angedeutet wurde und die – ausgeweitet auf Goethes andere autobiographische Schriften – im Hauptteil dieser Arbeit weiter zu verfolgen sein wird. Sicherlich ähnlich erklären und ebenso kritisieren – nämlich mit einem allzu normativen Gattungsdenken und dem Wunsch nach einem kohärenten, „tatkräftig-selbstbewussten Autor“322 – lässt sich die Tatsache, dass es sowohl weitaus weniger Einzelstudien gibt, die neben Dichtung und Wahrheit die anderen Teile von Goethes Autobiographieprojekt in den Blick nehmen (und schon gar nicht solche, die diese Teile a l s Autobiographie untersuchen und gattungsspezifische Fragen an sie richten), als auch kaum Arbeiten, die bei der Frage nach Goethes Autobiographiekonzept sein gesamtes Projekt und damit dessen Heterogenität betrachten. Abgesehen davon, dass es schon hinsichtlich der vier über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren entstandenen Teile von Dichtung und Wahrheit schwierig erscheint, von d e m Autobiographiekonzept Goethes zu sprechen, da bereits bei einer Gegenüberstellung von erstem und viertem Teil offensichtlich wird, dass sich Darstellungsverfahren und Konzeption, vermutlich auch Intention wandeln, so erscheinen die Texte, die Goethe in der Ausgabe letzter Hand unter dem Deckmantel der „Autobiographischen Schriften“ zusammengefasst hat, alles andere als homogen. Nimmt man dann – und dies hat die Forschung lange Zeit unternommen – Dichtung und Wahrheit als d e n paradigmatischen Schlüsseltext für Goethes Autobiographie oder sogar für d i e Autobiographie überhaupt, an dem andere Texte gemessen wurden und an dem sich Gattungsdefinitionen ausrichteten, so bleibt die skeptische Distanz der Literaturwissenschaft gegenüber den anderen von Goethe zu seinem Autobiographieprojekt gezählten Texten erklärlich, fügen sie sich doch alle vier nicht so leicht in dieses Bild ein. Die Italienische Reise ist dabei der Text, der von der Goethe_____________ 320 321
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Stüssel, Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln, S.245. Vgl. die Abschnitte „Sich ‚mit entfernten Freunden [zu] unterhalte[n]’ und die ‚Gefahr, […] bei Lebzeiten abzusterben’ – das Autobiographieprojekt als Kommunikationsmedium“ und „Sprechakttheorie, Rezeptionsästhetik und Literatursoziologie: Die Autobiographie als Handlungs- und Kommunikationsinstrument“ in diesem Kapitel. Holdenried, Autobiographie, S.163.
Philologie zwar dennoch große Aufmerksamkeit erfahren hat – vermutlich, weil sie mit der „Wiedergeburt“ des Autors und dem damit verbundenen ‚Durchbruch’ zur Klassik einen für Goethes Leben und Werk wie für die deutsche Literaturgeschichte entscheidenden ‚Umbruch’ markiert und in der rückblickenden Darstellung gezielt auf diese Weise inszeniert. Geht es jedoch in diesen Arbeiten um gattungsspezifische Fragestellungen, so wird stets mehr oder weniger ausführlich diskutiert, ob und inwiefern man ihre – im Vergleich untereinander sehr heterogenen – drei Teile als Autobiographie lesen kann, weisen sie doch gleichwohl Parallelen zu anderen Gattungen auf, auf der einen Seite vor allem zu den ‚Zweckformen’ Tagebuch und Reisebericht, auf der anderen Seite zum (autobiographischen) Roman.323 Diese Betrachtungsweise rückt dann die Italienische Reise als „Kunstwerk“324, d.h. als literarischer Text, mehr in den Blick. Wird hier die Frage der Gattungszugehörigkeit allerdings immerhin überhaupt noch – wenn auch sehr kontrovers und kaum mit dem Ergebnis, sie als das zu lesen, was sie ist: eine Autobiographie – diskutiert, so sind Arbeiten, die die Tag- und Jahreshefte, die Campagne in Frankreich oder die Belagerung von Mainz dahingehend untersuchen, was sie für Goethes Autobiographieverständnis austragen, nach wie vor ein Manko. Existiert zu den Tag- und Jahresheften bislang neben nur wenigen Aufsätzen mit der Dissertation von Georg Wackerl nur eine einzige Monographie,325 so fanden die Campagne in Frankreich und die Belagerung von Mainz zwar etwas mehr Beachtung, jedoch bislang kaum als literarischer Text, sondern vor allem „als ein wertvolles Quellenwerk für das Studium der Revolutionsepoche“, für das sich besonders Historiker, weniger Literaturwissenschaftler interes_____________ 323
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Es sei hier nur exemplarisch auf wenige Arbeiten verwiesen, die sich mit der Gattungszugehörigkeit der Italienischen Reise beschäftigen und deren spezifischer Untersuchungsfokus – meist als Abgrenzungsversuch gegenüber oder Vergleich mit verwandten Gattungen – schon aus ihrem Titel abzuleiten sind: Italo Michele Battafarano, Goethes Italienische Reise – Quasi ein Roman. Zur Literarizität eines autor-referentiellen Textes. In: Wahrheit und Wort. Festschrift für Rolf Tarot zum 65. Geburtstag, hg. von Gabriela Scherer und Beatrice Wehrli, Bern 1996, S.27–48; Jörg-Ulrich Fechner, „zugleich völlig wahrhaft und ein anmuthiges Märchen”: Goethes „Italienische Reise” – keine Reisebeschreibung!. In: Italienische Reise. Reise nach Italien, hg. von Italo Michele Battafarano, Gardolo di Trento 1988, S.231–255; Rolf Schröder, Goethes italienisches Reisemärchen. In: Ein unsäglich schönes Land. Goethes Italienische Reise und der Mythos Siziliens. Un paese indicibilmente bello. Il Viaggio in Italia di Goethe e il mito della Sicilia, hg. von Albrecht Meier, Palermo 1987, S.42–91; Manfred Link, Der Reisebericht als literarische Kunstform von Goethe bis Heine. Dissertation, Köln 1963 (Masch.). So der Titel einer Dissertation der frühen 80er Jahre: Ursula Donat, Goethes „Italienische Reise” als Kunstwerk, Freiburg im Breisgau 1981. Georg Wackerl, Goethes Tag- und Jahreshefte, Berlin 1970.
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sierten und das Werk „ohne weiteres als historische Primärquelle [oder...] als eine ganz vertrauenswürdige Quelle für das Studium von G.[oethes] Biographie in Anspruch“326 nahmen. Nachdrücklich zu unterstützen sind daher die Forderungen, die sich schon aus den entsprechenden Artikeln des Goethe-Handbuchs ableiten lassen, wenn etwa Thomas P. Saine im Hinblick auf die Campagne formuliert, dass hier „Geschichte […] nicht einfach erzählt“, sondern „literarisch gestaltet“327 wird und der Text „vor allem ein autobiographisches Werk“328 und eben nicht etwa historisches Dokument oder Geschichtsschreibung sei. Entsprechend betont Sibylle Schönborn in ihrem eben dort erschienenen Artikel zu den Tag- und Jahresheften, dass diese „unter den autobiographischen Schriften, die G.[oethe] hinterlassen hat, eine wichtige Stellung ein[nehmen]“329, und moniert, dass diese „gegenüber den großen autobiographischen Texten […] von sekundärer Bedeutung“330 in der Forschung geblieben sind und selbst im Kommentar der Frankfurter Ausgabe als der neuesten Goethe-Werkausgabe dem Autor der Tag- und Jahreshefte noch „keine poetische, sondern eine historiographische Verfahrensweise“331 unterstellt wird. Meine Untersuchung nimmt daher gezielt a l l e autobiographischen Schriften und damit die Heterogenität von Goethes Autobiographieprojekt in den Blick – gerade, um Spannungen und Inkongruenzen wahrnehmen und aufzeigen zu können und auf diese Weise Ergebnisse zu erzielen, die neben der Frage nach Goethes Geschichtsdenken und dessen Zusammenhang mit seiner Darstellung des eigenen Lebens einen Beitrag zu einem differenzierteren und problembewussteren Bild seines Autobiographiekonzepts leisten können. Dichtung und Wahrheit _____________ 326
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Thomas P. Saine, Artikel ‚Campagne in Frankreich 1792 / Belagerung von Mainz’. In: GHb 3, S.369–385, hier S.377. Die überhaupt sehr verspätet einsetzende Rezeption der Campagne und der Belagerung – für das 19. Jahrhundert findet sich kaum eine nennenswerte Erwähnung oder Auseinandersetzung mit den beiden Werken – erklärt Saine plausibel mit dem Hinweis darauf, dass „Dichtung und Wahrheit und die Italienische Reise […] viel erbaulicher und für den damals beginnenden G.[oethe]-Kult geeigneter [sind] als die Campagne“ (Saine, Artikel ‚Campagne in Frankreich, S.376f.). Saine, Artikel ‚Campagne in Frankreich 1792 / Belagerung von Mainz’, S.381. Saine, Artikel ‚Campagne in Frankreich 1792 / Belagerung von Mainz’, S.379. Schönborn, Sibylle, Artikel ‚Tag- und Jahreshefte’. In: GHb 3, S.385–396, hier S.388. Schönborn, Sibylle, Artikel ‚Tag- und Jahreshefte’, S.387. Irmtraut Schmid, Kommentar in FA 17, S.508. Schönborn führt als weiteren Beleg für diese in der Goethe-Philologie vertretene Einschätzung den noch schärfer urteilenden Kommentar von Reiner Wild in der Münchner Ausgabe an, in dem dieser die Auffassung vertritt, dass Goethe die Arbeit an den Tag- und Jahresheften „nicht als eine künstlerische Aufgabe verstanden [hat]; er folgte keiner durchgängigen, das Ganze der Schrift umfassenden Konzeption“ (Reiner Wild, Kommentar in MA 14, S.617).
kann und soll demzufolge nicht als ‚Norm’ gesetzt werden, an der sich die anderen Texte zu messen haben, sondern im Sinne eines diskursiven Gattungsverständnisses332 erhalten diese bislang weniger beachteten und sicherlich zum Teil strukturelle Gemeinsamkeiten, genauso aber deutliche Unterschiede aufweisenden Werke einen größeren Stellenwert. Sie alle werden – z.T. entgegen den dargestellten Einschätzungen in denjenigen Arbeiten, die die Zugehörigkeit einzelner Texte zur Gattung Autobiographie anzweifeln oder mitunter ganz abstreiten – als das gelesen, als was sie vom Autor durch die Einordnung in die Ausgabe letzter Hand ausgegeben wurden: als Autobiographien. Schon hier wird deutlich, dass – anders als etwa bei dekonstruktivistischen Arbeiten – der Text zwar als die wichtigste, nicht aber „als letztmögliche Bezugsgröße“333 genommen und dessen Aufwertung auch nicht „um den Preis des Verschwindens des autobiographischen Subjekts als textexterne Referenz [erkauft]“334 wird. Sicherlich wäre hier bei anderen, häufiger gerade bei jüngeren Autobiographien u. U. anders zu verfahren, zumal die Entscheidung für einen bestimmten methodischtheoretischen Ansatz keine ‚Glaubensfrage’ sein sollte, sondern stets zu fragen bleibt, inwiefern die gewählte Methode etwas im Hinblick auf ein bestimmtes Erkenntnisinteresse und für die Erschließung eines bestimmten Textes leistet. Gerade weil es – wie gezeigt wurde – für Goethe als Autor eine, wenn nicht d i e entscheidende Motivation und Intention seines Autobiographieprojekts war, sich selbst in und mit seinen als Autobiographie deklarierten Texten ein „Denkmal“ zu errichten, sich einen Platz in der Geschichte zu ‚(er-)schreiben’, trägt es m. E. – über die im Zentrum dieser Arbeit stehende Frage nach Goethes Geschichtsdenken bzw. den Zusammenhang zwischen seinem Geschichtsdenken und seinem Autobiographiekonzept hinaus – wesentlich zum Verständnis seiner autobiographischen Schriften bei, von einer außersprachlichen Referenz der autobiographischen (Re-)Konstruktion auszugehen und z.T. ausgehend von dieser Referenz Fragen an die Texte zu richten.
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Vgl. zur Relativität und Konventionalität von Gattungstraditionen, die „zu einem guten Teil diskursiv installiert sind“, Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.7. Blod, „Lebensmärchen“, S.31. Blod, „Lebensmärchen“, S.38.
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3
Textanalysen
3.1
Ein selbst geschaffenes literarisches „Denkmal“ – Anlass und Intention von Goethes Autobiographieprojekt
3.1.1
„[W]enn man das selbst wegwirft, was man nicht retten kann“ – das Autodafé von 1770 als frühe Möglichkeit der Selbstkorrektur
Aus dem Abstand von mehr als vierzig Jahren beschreibt Goethe im Zweiten Teil von Dichtung und Wahrheit, was ihm nach der Rückkehr ins Frankfurter Elternhaus bei der Durchsicht seiner während der zweijährigen Studienzeit in Leipzig an den Vater und die Schwester verfassten Briefe durch den Kopf gegangen sei und ihn schließlich dazu veranlasst habe, „als [er…] nun abermals das väterliche Haus verlassen und auf eine zweite Akademie ziehen sollte, wieder ein großes Haupt-Autodafé über [seine...] Arbeiten zu verhängen“ (DuW II, S.381). Diesem Autodafé fielen nicht nur seine eigenen Briefe, sondern auch Dramenfragmente und Gedichte zum Opfer. Vor dem Hintergrund, dass der alte Goethe bei der Arbeit an seinen Autobiographischen Schriften gerade diese Vernichtungsaktionen bedauerte, weil ihm nun aus einigen – besonders aus den frühen – Lebensabschnitten kaum noch authentisches Material zur Verfügung stand, das als Erinnerungshilfe fungieren konnte, erhält diese Textpassage des Achten Buchs einen besonderen Stellenwert. Verwiesen sei nur auf die Bemerkung gegenüber seinem Jugendfreund Klinger, die signifikanterweise genau aus dem Zeitraum stammt, in dem Goethe am Zweiten Teil von Dichtung und Wahrheit arbeitete: „Bisher habe ich die Art oder Unart gehabt alles Vergangne eher zu vertilgen als zu bewahren. Nun mag die Zeit des Bewahrens, wenn auch zu spät, eintreten.“1 Was zunächst paradox erscheinen mag, lässt sich bei genauerer Untersuchung erklären: Das ‚Vertilgen’, das der _____________ 1
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FA II/6, S.715: Brief an Friedrich Maximilian Klinger, 08. 12. 1811.
junge Goethe nach der Rückkehr aus Leipzig vorgenommen hat und das nun in den Zweiten Teil von Dichtung und Wahrheit Eingang findet, und das ‚Bewahren’, das sich der Autobiograph inzwischen als Aufgabe stellt, – so gegensätzlich ihre Konsequenzen zunächst sind – geschehen aus ganz ähnlichen Motiven und verfolgen den gleichen Zweck, nämlich dem Autor Goethe einen selbst bestimmten Platz in der Geschichte zu erschreiben. Dazu versucht er sich in und mit seinen Texten ein „Denkmal“ zu errichten, das ihn so präsentiert, wie er selbst in seiner Gegenwart wahrgenommen und von der Nachwelt in Erinnerung behalten werden möchte. Zunächst kommt der Beschreibung des Frankfurter Autodafés jedoch noch in einer anderen Hinsicht eine wichtige Spiegelfunktion2 zu, die Aufschluss über den Anlass des Autobiographieprojekts gibt: Projiziert wird hier nämlich die Erfahrung, ‚sich selbst historisch’ geworden zu sein, mit der der alte Goethe bei der Arbeit an Dichtung und Wahrheit auf sein bisheriges Leben schaut, auf den neunzehnjährigen, literarisch noch gänzlich unbekannten Studenten, der anhand seiner in Leipzig verfassten Briefe auf die soeben (wegen einer schweren Erkrankung) abgebrochene zweijährige Studienzeit zurückblickt. In beiden Fällen geht diese Erfahrung einher mit einer tiefen Verunsicherung: Auf das Gefühl des Autobiographen, als Relikt einer vergangenen Epoche anzugehören, bereits viele – persönliche wie literarische – Weggefährten _____________ 2
Dem aus der Optik entnommenen Begriff der ‚Spiegelung’ kommt zunächst in Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten, dann aber auch in seinem literarischen Werk eine besondere Bedeutung zu. Im Kontext seiner Untersuchungen über die entoptischen Farben, welche dem übergeordneten Ziel dienen, Newtons Lehre, dass die Farben bereits im Licht enthalten seien, zu widerlegen (Goethe will die Entstehung der Farben aus dem Zusammenwirken von Licht und einem trüben Mittel erklären), unter-nimmt Goethe zahlreiche Spiegel-Experimente und setzt dabei gerade auch solche mit mehrfachen Spiegelungen ein. Besonders anhand des Gedichts Entoptische Studien (1817) und des kurzen Aufsatzes über sein Erlebnis bei der Rückkehr nach Sesenheim Jahre nach seiner Straßburger Studienzeit (Eckermann verwendet die Formulierung ‚Wieder-holte Spiegelungen’ dann später als Titel für diesen Text, unter dem er heute geläufig ist) macht Goethe selbst explizit, dass ihm das ‚Spiegeln’ über den naturwissenschaftlichen Bereich hinaus als Erkenntnismittel dient, weil „erst das vielfache Spiegeln ein Phänomen deutlich vor Augen führt – in den entoptischen Farbfiguren der Physik ebenso wie im Lebendig-Erhalten des Vergangenen in der geistig-sittlichen Vor-stellung“ (Manfred Wenzel, Artikel ‚Zur Naturwissenschaft überhaupt’. In: GHb 4.2, S.755–778, hier S.762). Entsprechend häufig verwendet Goethe die Technik der ‚Spiegelung’ bekanntermaßen auch in seinen literarischen Arbeiten, gerade auch in seinen Autobiographischen Schriften – ein Aspekt, der bereits vielfach untersucht wurde. Vgl. dazu ausführlicher z.B. Klaus-Peter Hinze, Zu Goethes Spiegelungstechnik im Bereich seiner Erzählungen. In: Orbis Litterarum 25 (1970), S.221–229 oder Rita Terras, Goethe’s Use of the Mirror Image. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 67 (1975), S.387–402.
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überlebt zu haben und in der Gegenwart kaum mehr wahrgenommen, ja bedeutungslos zu werden, wurde als wichtige Grundempfindung des späten Goethe bereits hingewiesen. Ähnlich kehrt das erzählte Ich im Achten Buch von Dichtung und Wahrheit mit einem „sehr niederschlagende[n…] Gefühl […] gleichsam als ein Schiffbrüchiger“ (DuW II, S.367) nach Frankfurt zurück – ein Gefühl, das von den Reaktionen des Vaters sicher noch verstärkt worden sein mag, der enttäuscht darüber war, „anstatt eines rüstigen, tätigen Sohns, der nun promovieren und jene vorgeschriebene Lebensbahn durchlaufen sollte, einen Kränkling zu finden, der noch mehr an der Seele als am Körper zu leiden schien“ (DuW II, S.369). Der autobiographischen Rückschau zufolge ist jedenfalls zunächst völlig unklar, was aus dem von der schweren Krankheit physisch und psychisch geschwächten jungen Mann werden soll, und so verlebt er eine Zeit der Um- und Neuorientierung, verbringt viel Zeit mit der Schwester, gerät in Kontakt mit Susanna von Klettenberg, betreibt alchimistische Studien – all das jedoch, ohne sogleich eine fruchtbare, zielgerichtete neue Lebensperspektive zu finden. Vor diesem Hintergrund wird der Beschäftigung mit den eigenen Texten aus der Leipziger Zeit ein großer Nutzen für die „augenblickliche Bildung“ (DuW II, S.376), beinahe eine selbsttherapeutische Funktion zugeschrieben: „Nichts gibt uns mehr Aufschluß über uns selbst, als wenn wir das, was vor einigen Jahren von uns ausgegangen ist, wieder vor uns sehen, so daß wir uns selbst nunmehr als Gegenstand betrachten können“ (ebd.). Dass diese heilsame Wirkung, die von der distanziert-kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ausgeht, jedoch nicht nur für den jungen Studenten hilfreich war, sondern diese Aussage womöglich mehr noch auf die Gegenwart des Schreibenden zu beziehen ist, legt die direkt folgende Bemerkung nahe: „Allein freilich war ich damals noch zu jung und die Epoche noch zu nahe, welche durch diese Papiere dargestellt ward“ (ebd.). Daher markiert die Art, mit der hier auf die gerade vergangene Bildungsstufe zurückgeblickt wird, einen zentralen Unterschied zur distanziertwohlwollenden, die eigene Entwicklung teleologisch deutenden Perspektive des alten Goethe, der jeder ‚Epoche’ des eigenen Lebens ihren besonderen Wert zuerkennt, weil sie ihn „auf eine höhere Stufe der Betrachtung und Einsicht gehoben“ (ebd.) habe. Dem Neunzehnjährigen hingegen ermangelte aus einem „gewissen selbstgefälligen Dünkel“ heraus, den „man in jungen Jahren […] nicht leicht ablegt“, die Einsicht, dass die überwundene Stufe wichtig gewesen sei, weil sie ihm den Weg zur jetzigen, höheren Stufe gewiesen habe, und er „verachtet“ sich „im kurz Vorhergegangenen“ (ebd.). Entsprechend sei der Entschluss zum Autodafé motiviert gewesen: Seine „akademische 112
Laufbahn“ sei ihm „geringschätzig“ (ebd.) vorgekommen. An den Briefen an die Schwester habe ihn vor allem das altkluge Gebaren, die „Nachäfferei“ (DuW II, S.381) des Studenten gestört, der sogleich versucht habe, das eben an der Universität Gelernte an Cornelia weiterzugeben und gerade, was ihre Briefe anbelangt, im Sinne der Gellertschen Stilgebote auf sie einzuwirken. Auch seine anakreontischen Gedichte seien ihm „kalt, trocken und in Absicht dessen was die Zustände des menschlichen Herzens oder Geistes ausdrücken sollte, allzu oberflächlich“ (ebd.) erschienen.3 Insgesamt habe er beim Rückblick auf seine Leipziger Existenz erkannt, „daß dasjenige was man an sich so wie an Andern für gut und vortrefflich achtet, nicht Stich hält“ und so habe er geglaubt, „über diese Verlegenheit am besten hinauszukommen, wenn man das selbst wegwirft, was man nicht retten kann“ (DuW II, S.376). Diese distanzierte Betrachtung seiner selbst als „Gegenstand“ wird als frühe Form des ‚Sich-Historisch-Werdens’ ausgestaltet: Das erzählte Ich erkennt, dass es so (wie während der Leipziger Studienzeit) nicht mehr ist, nicht mehr sein und keinesfalls von anderen gesehen und erinnert werden will – und zieht daraus die Konsequenz, fast alle Zeugnisse seiner inzwischen ‚überwundenen’ Existenz zu vernichten. Schon hinter diesem Autodafé manifestiert sich der autobiographischen Darstellung zufolge die Intention, sich selbst auf eine bestimmte Art zu präsentieren, der Wunsch, seine Rolle in der (Literatur-)Geschichte selbst zu bestimmen, ja – zugespitzt formuliert – die Absicht eines corriger l’histoire.4 Dazu muss zunächst aus dem Rückblick unpassend, unbequem erscheinendes Material – eben Briefe, aber auch unveröffentlicht _____________ 3
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Hier werden mit den als Oppositionspaare gebrauchten Begriffen ‚kalt’ bzw. ‚trocken’ auf der einen und den „Zustände[n] des menschlichen Herzens oder Geistes“ auf der anderen Seite in den Formulierungen des alten Goethe schon dem neunzehnjährigen Studenten Leitbegriffe der Sturm-und-Drang-Poetik als Wertmaßstäbe, noch dazu für seine eigenen Schriften, zugeschrieben! Sie begegnen später auch als kulturdifferenzierende Termini: So will sich der junge Goethe in Straßburg von der ‚kalten’ französischen Kultur absetzen; vgl. dazu ausführlich das folgende Kapitel dieser Arbeit. Der Begriff des corriger l’histoire wird in Anlehnung an Wilfried Barner verwendet. Barner bezeichnet mit dem Begriff ein „Umarrangieren wichtiger früher Prägungen“ (Wilfried Barner, Goethes Bild von der deutschen Literatur der Aufklärung. Zum Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit. In: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700–1848), hg. von Wolfgang Frühwald und Alberto Martino, Tübingen 1989, S.283–305, hier S.295), das Goethe im Siebenten bzw. im Eilften Buch von Dichtung und Wahrheit vornehme, wenn er den epochengeschichtlichen Durchbruch zum Sturm und Drang im autobiographischen Rückblick konsequent in Straßburg inszeniert, worauf in Kapitel 3. 2 noch ausführlich zurückzukommen sein wird. Weiter gefasst wird in dieser Arbeit der Begriff verwendet, wenn es um – durchaus sehr unterschiedliche – (Schreib-)Strategien geht, hinter denen die Absicht steht, Vergangenes gezielt anders darzustellen, als es sich tatsächlich ereignet hat.
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gebliebene literarische Versuche – vernichtet werden. Später kann diese Strategie der Selbstkorrektur jedoch schlicht nicht mehr greifen; jedenfalls nicht, was den Umgang mit den literarischen Werken anbelangt, durch die der Autor längst europaweite Berühmtheit erlangt hatte. An die Stelle des ‚Vertilgens’ tritt daher – mit ganz ähnlicher Intention – das womöglich viel wirkungsvollere ‚Bewahren’, das jedoch gerade nicht als ein ‚Konservieren’ dessen, was tatsächlich gewesen ist, zu verstehen ist, sondern vielmehr als das Errichten eines selbst gestalteten „Denkmals“, das Leben und Werk des erzählten Ichs so darstellt und interpretiert, wie das erzählende Ich sich selbst seinen Zeitgenossen und der Nachwelt präsentieren will. Am Beispiel der autobiographischen Darstellung der Re-Lektüre der Leipziger Schriften und des daraus folgenden Autodafés von 1769/70 im Achten Buch von Dichtung und Wahrheit spiegeln sich also bereits besondere Probleme wider, die vor allem Anlass und Intention von Goethes gesamtem Autobiographieprojekt betreffen und die in diesem Kapitel anhand exemplarischer Textanalysen genauer in den Blick genommen werden sollen. Ein erster Aspekt betrifft dabei den Anlass der intensiven Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit und des Entschlusses, eine Autobiographie zu verfassen: die Erfahrung, die ‚eigene’ Epoche überlebt zu haben und in der Gegenwart mehr und mehr an Bedeutung zu verlieren, die sich in zahlreichen Passagen der Autobiographischen Schriften niederschlägt. Ein zweiter zentraler Aspekt muss die Intention beleuchten, die Goethe mit seinem Autobiographieprojekt verfolgt: Dass hier kommunikative Funktionen eine besondere Rolle spielen, wurde bereits erwähnt. Inwiefern das erzählende Ich aber gezielt Schreibstrategien des ‚Bewahrens’ dazu nutzt, sich in seinen und durch seine Texte ein literarisches „Denkmal“ zu statuieren, muss genauer beleuchtet werden. Unterstützt werden diese Strategien durch außertextuelle Möglichkeiten, sich selbst einen Platz im Gedächtnis der Nachwelt zu sichern – etwa der minutiösen Archivierung der eigenen (nicht nur literarischen) Texte, der Dokumentation von Gesprächen oder der Ausgestaltung des Hauses am Weimarer Frauenplan, das bereits zu Goethes Lebzeiten mehr einem Museum als einem Wohnhaus glich. Eng verbunden damit ist schließlich ein dritter Aspekt: nämlich die Frage, inwiefern und auf welche Weise an die Stelle des ‚Vertilgens’ – wie bei den frühen Autodafés – in den Autobiographischen Schriften andere Möglichkeiten des corriger l’histoire, ja produktiver formuliert: der Selbstinterpretation nicht nur des eigenen Lebens, sondern auch eigener Werke treten, wie das erzählende Ich sie im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit als Antwort auf die Frage nach dem ‚roten Faden’ der so heterogen erscheinenden Werke 114
im fiktiven „Brief eines Freundes“ (DuW I, S.11) programmatisch ankündigt. Besonders interessant wird hier der späte Blick des Autors auf die Arbeiten seiner Sturm-und-Drang-Zeit sein, die ihn zwar berühmt gemacht haben, die er aber inzwischen sehr distanziert-kritisch beurteilt und keineswegs mehr als die Werke gesehen wissen möchte, die sein Bild in Gegenwart und Nachwelt prägen. Hier ist zu untersuchen, inwiefern das erzählende Ich in diesem Kontext Schreibstrategien einsetzt, um sich zwar nicht mehr durch materielle Vernichtung, dafür aber durch gezielte Kommentierung und korrigierende Bewertung ein bewusst gestaltetes „Denkmal“ zu inszenieren. 3.1.2
Der Wunsch, „daß man meiner gedenke, daß man meinem Daseyn einigen Werth beylege“ – die Skizze Dankbare Gegenwart
Das mit zunehmendem Alter steigende Gefühl der – literarischen wie persönlichen – Isolation, die Angst davor, in der Gegenwart immer mehr an Bedeutung zu verlieren, schließlich – schon zu Lebzeiten, dann aber erst recht nach dem Tod – vergessen zu werden ist ein entscheidender Antrieb für die Arbeit an den Autobiographischen Schriften.5 Sie bietet Goethe zum einen die Möglichkeit, sich durch die ‚Flucht’ in die eigene Vergangenheit zumindest gedanklich in eine angenehmere Zeit zu versetzen, in der er eine exponierte Position im literarischen Feld behaupten konnte, die er in nachitalienischer Zeit eingebüßt hatte: Norbert Christian Wolf kennzeichnet Goethes Position im literarischen Feld nach 1800 als die eines Vertreters der „etablierte[n] Avantgarde“6, deren Wirkung auf einen kleinen Kreis von Kennern begrenzt bleibt, und unterscheidet sie grundsätzlich von der Phase der begeisterten, breite Schichten der Gesellschaft umfassenden Goethe-Rezeption des Sturm und Drang. Zum anderen kommt er so den Erwartungen des Publikums entgegen, das zweifelsohne wie an den anderen literarischen _____________ 5
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Georg Wackerl umreißt die biographische Situation Goethes während der Arbeit an seinen Autobiographischen Schriften, im Besonderen an den Tag- und Jahresheften, die weitest gehend in den Jahren zwischen 1816 und 1825 entstanden, sehr zutreffend und unterscheidet ebenfalls – freilich noch ohne auf Bourdieus Feldtheorie zurückzugreifen – zwischen der „persönliche[n] Vereinsamung“ und „einer zunehmenden Isolierung im Bereich des Kunstschaffens und der Kunstkritik“ (vgl. Wackerl, Goethes Tag- und Jahreshefte, S.15). Norbert Wolf, Goethe als Gesetzgeber. Die struktur- und modellbildende Funktion einer literarischen Selbstbehauptung um 1800. In: „Für viele stehen, indem man für sich steht.“ Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne, hg. von Eckart Goebel und Eberhard Lämmert Berlin 2004, S.23–49, hier S.48.
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Werken des späten Goethe an dessen Darstellung seines eigenen Lebens, ja überhaupt an seiner längst zum „Dichteridol“7 avancierten Person interessiert ist, und kann damit womöglich wieder näher an den dominanten Pol des literarischen Feldes rücken. Dieser Anlass für das Autobiographieprojekt wird nicht nur im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit greifbar, sondern auch in einzelnen Passagen der Autobiographischen Schriften, freilich mehr in den vor allem die späteren Lebensjahre betreffenden Tag- und Jahresheften und den kürzeren autobiographischen Texten, bei denen der Abstand zwischen der Zeit der Entstehung und der dargestellten Zeit meist nicht besonders groß ist und so für die Gegenwart des Schreibenden relevante Probleme und Gedanken häufiger direkt einfließen als in Dichtung und Wahrheit, der Italienischen Reise, der Campagne in Frankreich und der Belagerung von Mainz, weil diese alle weiter zurückliegenden ‚Epochen’ von Goethes Leben gewidmet sind. Diese in den letzten Lebensjahrzehnten zunehmende Angst vor dem Alleinsein und der Bedeutungslosigkeit8 wird exemplarisch in dem kurzen autobiographischen Text Dankbare Gegenwart, den Goethe 1823 für das zweite Heft des vierten Bands von Kunst und Altertum verfasste, in besonderem Maße deutlich – allerdings ex negativo: Der Text verleiht nämlich der „angenehmste[n] aller Empfindungen“ Ausdruck, die das erzählte Ich, von einer „schwer überstandenen Krankheit“9 genesen, durch „eine allgemeine Theilnahme“ widerfahren sei und die ihm „das höchste Glück“ zuteil werden lassen habe, „sogleich heiter und gut _____________ 7
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Benedikt Jeßing, Der Kanon des späten Goethe. In: Der Kanon im Zeitalter der Aufklärung. Beiträge zur historischen Kanonforschung, hg. von Anett Lütteken, Göttingen 2009, S.164–177, hier S.165. Jeßing konstatiert „[a]ngesichts schon des mittleren und v.a. des späten Goethe […] ein[en] ebenso überraschende[n…] wie inhomogene[n…] Tatbestand: Einerseits ist Goethe als Autor für seine Zeitgenossenschaft nicht mehr von großer Bedeutung, andererseits aber hat er die Rolle als bedeutender Kunstrichter und (selbstinszeniertes) Dichteridol inne“ (Jeßing, Der Kanon des späten Goethe, S.164f.). Ernst Osterkamp deutet in diesem Zusammenhang dieses für Goethes letzte Lebensjahrzehnte prägende Gefühl des Alleinseins, der Einsamkeit als „produktive[…] Lebensform“, die einen entscheidenden Antrieb für seine zahlreichen wissenschaftlichen wie literarisch-künstlerischen Aktivitäten dargestellt habe (Ernst Osterkamp, Einsamkeit. Über ein Problem in Leben und Werk des späten Goethe, Stuttgart 2008, hier S.5 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 2008/1). Es handelt sich um eine Herzbeutelentzündung, an der der 73Jährige Mitte Februar lebensbedrohlich erkrankte und die Mitte März überwunden war (vgl. Irmtraut Schmids Kommentar zu Dankbare Gegenwart in der Frankfurter Ausgabe: FA I/17, S.713).
gestimmt das mir Gegönnte vollkommen zu verehren.“10 Das erzählende Ich formuliert hier ganz deutlich, worauf es ihm ankommt, um sich überhaupt ‚lebendig’ zu fühlen und nicht „bei Lebzeiten abzusterben“11: nämlich in seiner Gegenwart wahrgenommen, beachtet und geschätzt zu werden, in wechselseitigem Austausch mit den Mitlebenden – vor allem mit bedeutenden Zeitgenossen – zu stehen und schließlich in Dankbarkeit selbst etwas für das geben zu können, was ihm an Anteilnahme entgegen gebracht wird.12 Deswegen hebt es besonders hervor, dass sich während der Krankheit nicht nur seine „nächste[…] Umgebung“ sehr um Wohlergehen und Gesundheit des erzählten Ichs bemüht habe, sondern es auch „von außen eben solche Zeugnisse [empfing], daß man meiner gedenke, daß man meinem Daseyn einigen Werth beylege“ (DbGgw, S.371). Wie sehr Goethe die Nicht-Anteilnahme an seiner Person und seinem Werk, das „lange[…] Schweigen“ gestört und gekränkt haben und wie gut ihm dagegen die Erinnerung „an würdige vorige Zeiten und Verhältnisse“ tut – im Übrigen, ganz ähnlich wie bei der Arbeit an den Autobiographischen Schriften, initiiert durch die Beschäftigung mit „gar manche[n] Schriftzügen“ (DbGgw, S.372), hier mit aktuell an ihn gerichteten Genesungsbriefen, dort mit alten (eigenen wie fremden) Texten – wird öffentlich (!) gegenüber der Leserschaft von Kunst und Altertum – fast mit einem leicht vorwurfsvollen Gestus – bekundet. Mit noch größerem Wohlwollen registriert das erzählende Ich dann auch, dass selbst Personen, die nicht nur unbewusst – mangels Zeit bzw. Interesses – den Kontakt zu ihm verloren, sondern sich ganz gezielt, weil sie „einigen Widerwillen gegen mich hegten“, von ihm abgewendet hätten, nun wieder die „alte Neigung“ zeigten: das Gefühl des Zusammenseyns auf Erden und des daraus entspringenden Glücks behielt die Oberhand, und ich sehe die schönsten Verhältnisse wieder hergestellt, deren Entbehrung mir oft empfindlich fiel (DbGgw, S.372).
Dass mit diesen „schönsten Verhältnissen“ beiderlei – nicht nur das „Gefühl des Zusammenseyns auf Erden“ im privat-persönlichen Be_____________ 10
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FA I/17, S.371. Auch im Folgenden wird Dankbare Gegenwart nach der Frankfurter Ausgabe zitiert; Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle DbGgw nachgewiesen. FA II/7, S.86: Brief an Carl Friedrich von Reinhard, 13. 08. 1812. „Freunde, nach langem Schweigen, b e l e b t e n das Verhältniß auf’s neue“ (DbGgw, S.372; Hervorhebung W.H.) – eine signifikante Formulierung, die in die gleiche Richtung verweist: Leben bedeutet, mit seiner Person und seinen Leistungen beachtet und geschätzt zu werden und im Sinne eines wechselseitigen Austauschs für das, was man gibt, auch etwas zu bekommen.
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reich, sondern ebenso eine dominante Position im literarischen Feld – gemeint ist, deutet die Unterscheidung zwischen „[g]ar Manche[m…], was die Persönlichkeiten zu nahe berührt“ und das „sich zu verschweigen [geziemt]“ sowie „[a]ndere[m]“, das „aber […] wohl freudig dankbar anerkannt werden [darf]“, an (DbGgw, S.372). Bei dem ‚anderen’, das im Folgenden, an die Manier der Tag- und Jahreshefte erinnernd, minutiös aufgelistet und mit freundlich-wohlwollenden Kommentaren bedacht wird, handelt es sich ausschließlich um öffentliche Ehrungen, die dem Genesenen zuteil wurden und die im Übrigen aufschlussreich für die Rolle sind, welche Goethe sich selbst in der Geschichte zuschreiben will, und die er deswegen so dankbar registriert. Zum einen geht es um die (Wieder-)Beachtung seiner Werke – und zwar derjenigen der klassischen Periode: Am Weimarer Theater, „welches unter einer neuen Regie sich einer neuen Epoche zu erfreuen hat“, sei „überraschend“ der Tasso (nicht etwa Götz von Berlichingen oder Egmont als die Dramen des jungen Goethe!) wieder aufgeführt worden und sogar „ganz wie in vorigen Zeiten [ge]glückt[…]“ (DbGgw, S.372f.).13 Zum anderen deutet die Erwähnung „von freundlichen Gastmahlen“ an, „bey welchen man festlich dem Aesculap einen Hahn geopfert“ habe, um dem griechischen Gott der Heilkunst für Goethes Genesung zu danken,14 wie sich Goethe in der Geschichte womöglich positioniert wissen will: als der klassische, die antike, v.a. die griechische Kultur zum Ideal erhebende Dichter. Der Rehabilitierung im literarischen Feld dient außerdem eine weitere „Auszeichnung“: Lord Byron, „der Dichter ohne Gleichen“, habe Goethe den Werner, „eins seiner vorzüglichsten Werke“ gewidmet – und wiederum im Sinne einer wechselseitigen Anteilnahme und Förderung gerade zwischen so bedeutenden Individuen einer ‚Epoche’ fühle sich das erzählende Ich für das, was es Byron in den vergangenen Jahren an Aufmerksamkeit zuteil werden lassen habe, dieser Ehrung „werth“ durch „das Verdienst eines [sic!] so außerordentlichen Mitle_____________ 13
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Auch Wackerl hebt im Bezug auf die Tag- und Jahreshefte hervor, dass den Berichten über Goethes Tätigkeit für das Weimarer Hoftheater in der annalistischen Darstellung – rein quantitativ – ein hoher Stellenwert zukomme. Er wertet Goethes Ausscheiden von seiner Intendantur nach vielen Unstimmigkeiten kurz vor Aufnahme der Arbeit an den Tag- und Jahresheften sogar als „eines der Motive, die Goethe zu einer erneuten Beschreibung des eigenen Lebens veranlaßten“ (Wackerl, Tag- und Jahreshefte, S.138). Entsprechend muss ihn dieser versöhnende Gestus der neuen Theaterleitung, der seine Leistungen mit der Aufführung des Tasso würdigte, besonders gefreut haben. Vgl. zum Aesculap-Kult den Kommentar der Frankfurter Ausgabe: FA I/17, S.713. Von der Opferung des Hahns bei einem am 09. März zu Ehren Goethes stattgefundenen Festmahls hatte Kanzler von Müller Goethe vier Tage später berichtet.
benden treulich und gründlich zu schätzen und seinen Gang zu verfolgen, wie ich ihm denn seit seinen English Bards and Scotch Reviewers anhaltend Gesellschaft geleistet“ (DbGgw, S.373). Kennzeichnend für die Bedeutung, die Goethe seinen Lebensleistungen nicht nur auf dem Gebiet der Literatur, sondern auch auf dem Feld der Naturwissenschaften zugeschrieben wissen will, sind die Verweise darauf, dass das erzählte Ich „[a]uch im Wissenschaftlichen […] die schönsten Zeugnisse des Andenkens und Theilnehmens mit Aufforderung zur Theilnahme“ (ebd.) erhalten habe (was gerade deswegen für Goethe in besonderem Maße erwähnenswert ist, weil er hier bekanntermaßen sein Leben lang – freilich mit weit geringerem Erfolg als im Bereich der Literatur – um Anerkennung kämpfte):15 erstens durch den Verleih der Ehrenmitgliedschaft der Gesellschaft des Vaterländischen Museum in Böhmen, zweitens durch die Aufnahme in die Edinburgher Gesellschaft der Wissenschaften zum korrespondierenden Mitglied16 und drittens durch ein ganz besonderes „ehrenvolles Denkmal“, von dem es sich einen Beitrag dazu verspricht, auch nach seinem Tod noch im Gedächtnis der Nachwelt zu bleiben, überdies in einem Kontext, in dem es selbst gesehen werden möchte, nämlich „in dem sich immer weiter ausdehnenden Naturkreise, worin ich mich nach meiner Art lebenslänglich bewege“ (ebd.). Die mit Goethe befreundeten Botaniker Nees von Esenbeck und von Martius hatten einer neu entdeckten Pflanze den Namen ‚Goethea’ gegeben.17 Erst abschließend löst sich der auf den ersten Blick rätselhaft klingende Titel des Aufsatzes auf. Im Anschluss an die Auflistung der zahlreichen Würdigungen, die dem Genesenden zuteil geworden sind, fragt sich das erzählende Ich, wie es „so große Beweise von entschiedener Theilnahme nur einigermaßen dankbar erwiedern könne“ (DbGgw, _____________ 15
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Gerade die kaum zustimmenden Reaktionen auf Goethes Farbenlehre bzw. besonders auf seine Newton-Polemik hatten Goethe zutiefst gekränkt, zumal er selbst seine Leistungen auf dem Gebiet der Optik als besonders hoch einschätzte; vgl. zu Goethes Farbenlehre grundlegend Albrecht Schöne, Goethes Farbentheologie, München 1987; zu Goethes Empörung gegenüber seinen Gegnern und seiner tiefen Überzeugung selbst im Recht zu sein und wissenschaftliche Leistungen höchsten Ranges vollbracht zu haben, schon das erste Kapitel „Befremdliches“, S.7–10. Mit der Prager Gesellschaft fühlte sich Goethe deswegen besonders verbunden, weil er zum einen mit ihrem Vorsitzenden, Kaspar Graf von Sternberg, in regem Briefkontakt stand, zum anderen der Gesellschaft selbst „manche Früchte meiner böhmischen Naturstudien gewidmet“ hatte. Die Urkunde über seine Wahl zum Ehrenmitglied ging ihm über Graf von Sternberg am 16. März zu; das Diplom der Royal Society of Edinburgh erhielt er mit einem Brief von Christian Friedrich Schwägrichen am 08. August 1823 (vgl. DbGgw, S.373f. sowie den Kommentar der Frankfurter Ausgabe: FA I/17, S.714). Vgl. dazu den Kommentar der Frankfurter Ausgabe: FA I/17, S.714.
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S.374). Die Antwort erklärt zum einen den Titel des Aufsatzes und ist zum anderen als Programm für Goethes letzte Lebensjahrzehnte zu lesen: „auf eben die Weise, wie ich sie gewonnen habe, durch eine ernste, treue, redliche Wirkung nach außen, die sowohl meinem Vaterland als dem Auslande zu Gute käme“ (ebd.), könne es seine ‚dankbare Gegenwart’ bekunden und den Zeitgenossen wie der Nachwelt den größten Nutzen bringen. Entsprechend sei es seine „Pflicht“, weiterhin unermüdlich in den Bereichen tätig zu sein, in denen es sich selbst seine bedeutendsten Leistungen zuschreibt, und all seine Kräfte darauf zu verwenden, einen „friedlichen Betrieb“ aufrechtzuerhalten. All diese Aspekte, die in dem kurzen für Kunst und Altertum verfassten Aufsatz eine zentrale Rolle spielen, begegnen in den Tag- und Jahresheften, an denen Goethe zur gleichen Zeit ganz besonders intensiv arbeitet und die er zwei Jahre nach Dankbare Gegenwart veröffentlicht, ebenfalls: Auch sie erscheinen „wie ein nüchterner Bericht“ über Goethes vielfältige Tätigkeiten und seinen regen Austausch mit bedeutenden Persönlichkeiten seiner Zeit und stilisieren „dennoch auf kunstvolle Art sein gesamtes Leben zu einem aktiven Wirken […] und [stellen] Goethe als impulsgebendes Organ des europäischen Wissenschafts- und Kunstlebens dar[…].“18 Dieses umfangreiche Dokumentations-Projekt kann und soll auch als Beweis dafür gelesen werden, dass dem selbst auferlegten ‚Tätigkeits-Programm’, das am Ende von Dankbare Gegenwart noch einmal als Devise der noch bleibenden Lebensjahre formuliert wird, tatsächlich bis ins höchste Alter nachgekommen wird. 3.1.3
Goethes Versuch, ein Denkmal in seiner Heimatstadt nach seinen Vorstellungen errichten zu lassen
Wenngleich die Zeitgenossen den literarischen Werken des späten Goethe nur noch vergleichsweise wenig Interesse entgegenbrachten – gerade im Vergleich mit der breiten und begeisterten Anteilnahme, die die Werke der Sturm-und-Drang-Periode, vor allem das ‚Kultbuch’ Werther erfahren hatten –, so ging doch Goethes Konzept, sich selbst einen festen Platz im Gedächtnis von Gegenwart und Nachwelt zu schaffen, in seinen letzten Lebensjahren auf eine andere Art auf. Sie zeigt zum einen, dass seine „geistesgeschichtliche[…] Stellung im allgemei_____________ 18
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Christoph Jost, Das Ich als Symbol. Überlegungen zum Kunstcharakter von Goethes kleineren autobiographischen Schriften, Frankfurt a.M. u.a. 1990 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1214), hier S.174.
nen“ „schon früh [nämlich noch zu seinen Lebzeiten!] erkannt[…]“19 wurde und seine herausgehobene Rolle in der und für die Geschichte tatsächlich – wie er selbst es sich wünschte – öffentlich präsentiert und erinnert werden sollte. Sie mag zum anderen auch einen nicht unwesentlichen Beitrag zu Goethes Gefühl ‚sich selbst historisch zu werden’ geleistet haben: Goethe gehörte zu den wenigen, denen schon vor seinem Tode Monumente gesetzt wurden – die frühesten dem gerade einmal 33Jährigen 1782 mit zwei denkmalartig im Freien aufgestellten Büsten von Gottlieb Martin Klauer in Tiefurt bei Weimar und in Seifersdorf bei Dresden. Bis zu seinem Tode 1832 gab es bereits zwölf ihm gewidmete Denkmalvorhaben; ausgeführt und errichtet wurde das erste öffentliche ganzfigurige Standbild 1844 in seiner Geburtsstadt Frankfurt am Main, es folgten in den kommenden Jahren des ‚denkmalwütigen 19. Jahrhunderts’20 an zahllosen, teils von ihm nie besuchten Orten (wie z.B. Wien oder Chicago) viele weitere. Aufschlussreich gerade im Hinblick auf die Frage, wie Goethe selbst gesehen und erinnert werden wollte, ist dabei sein Versuch, auf Konzeption und Gestaltung der geplanten Denkmäler Einfluss zu nehmen, der besonders greifbar bei seinen Reaktionen auf die Pläne in seiner Geburtsstadt wird. Sulpiz Boisserée hatte das Vorhaben beim anlässlich des 70. Geburtstags des Dichters von den Frankfurter Verehrern veranstalteten Festmahl initiiert und einen Verein ins Leben gerufen, der dann „das Projekt, das auf ein dem deutschen Dichter gewidmetes nationales Denkmal gerichtet war, fast zwei Jahre lang“21 verfolgte. Während der Planungen zur Errichtung des Frankfurter Denkmals stand Goethe mit Boisserée in engem Briefwechsel, in dem sich einige Gedanken wiederfinden, die in dem kurzen Aufsatz Betrachtungen über ein dem Dichter Goethe in seiner Vaterstand zu errichtendes Denkmal zusammenhängend formuliert sind. Signifikant ist die Tatsache, dass Goethe diesen Aufsatz über den aufgrund seiner hohen Position am Weimarer Hof politisch einflussrei_____________ 19 20
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Stefan Voerkel, Artikel ‚Denkmäler’. In: GHb 4.2, S.183f., hier S.183. Vgl. so schon den bezeichnenden Titel einer den ‚Denkmal-Boom’ des 19. Jahrhunderts kritisch beurteilenden Arbeit eines Zeitgenossen: Max Schasler, Ueber moderne Denkmalswuth, Berlin 1878 (Deutsche Zeit- und Streit-Fragen, Bd. 7). FA I/17, S.697. Bislang ist die Goethe-Forschung auf den kurzen Aufsatz Betrachtungen über ein dem Dichter Goethe in seiner Vaterstadt zu errichtendes Denkmal, der erstmals im GJb XVII (1896) veröffentlicht wurde und in der Frankfurter Ausgabe unter den „Biographischen Einzelheiten“ zu finden ist, nicht aufmerksam geworden. Erste nützliche Ansätze zu einer Interpretation, auch Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen Goethe und Boisserée finden sich daher bislang ausschließlich im Kommentar der Frankfurter Ausgabe, vgl. FA I/17, S.696–701.
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chen Kanzler Friedrich von Müller, einem seiner engsten Freunde und Vertrauten der letzten Lebensjahrzehnte, dem Württembergischen Minister und Bundestags-Gesandten Freiherrn von Wangenheim in Frankfurt zukommen ließ, um nicht nur über Boisserée, sondern zusätzlich noch über einen zweiten, offizielleren und möglicherweise wirkungsvolleren Kanal Einfluss auf die Gestaltung des Denkmals zu nehmen. Müller wiederum präsentiert den Text in seinem Anschreiben als „Weimarisches Collectiv-Votum“ – um ganz im Sinne Goethes entsprechend nachdrücklich dafür einzutreten, „[…] ein so preiswürdiges Unternehmen auf die zweifelloseste Weise vollführt zu sehen und so, daß es der Individualität des Gefeyerten zusagend, Ihn [sic] selbst zur schönsten Beruhigung gereiche.“22 Nicht zuletzt deswegen musste Goethe dieses Unternehmen so wichtig sein, weil er sich gewissermaßen im Zugzwang befand und sein nachdrückliches Engagement, auf Gestaltung und Platzierung des Frankfurter Denkmals Einfluss zu nehmen, im Kontext der ‚Klassikerkonkurrenz’ zu sehen ist: Gleich nach Schillers frühem Tod 1805 entwickelte sich in Deutschland geradezu ein „Schiller-Denkmalskult“,23 der die oben angedeuteten zeitgleichen Bemühungen um GoetheDenkmäler noch bei weitem übertraf – den aufwändigsten Vorschlag zu einem Schiller geradezu apotheotisch feiernden Denkmal lieferte Schillers Jugendfreund Johann Heinrich Dannecker: Eine monumentale Rahmung der Büste, die der Bildhauer bereits 1794 von dem 35Jährigen angefertigt hatte und die Schillers äußere Erscheinung antiken Schönheitsvorstellungen entsprechend idealisierte, sollte in einem Denkmalstempel präsentiert werden und den Verstorbenen als d e n KolossalKlassiker verehren. In den folgenden Jahren dominierten – im Kontext der patriotischen Begeisterung während und nach der napoleonischen Besatzung – betont vaterländische Denkmalsentwürfe, die das SchillerBild vom deutschen Nationaldichter während des gesamten 19. Jahrhunderts prägen sollten – ja es wurden noch in Schillers Todesjahr mehrere Aufrufe und Subskriptionslisten für Schiller-Denkmäler lanciert und so „die Frage eines Schiller-Denkmals von Beginn an zu einer _____________ 22 23
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FA I/17, S.698f.: Brief von Friedrich von Müller an Freiherr von Wangenheim, 23. 05. 1821. Rolf Selbmann, Dichterdenkmäler in Deutschland. Literaturgeschichte in Erz und Stein, Stuttgart 1988, S.39. Vgl. ausführlich zu Ikonographie und zum Denkmal-Diskurs um Friedrich Schiller die sehr gründlich recherchierte Arbeit Klaus Fahrner, Der Bilddiskurs zu Friedrich Schiller, Stuttgart 2000 (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart, Bd. 82), zu den (noch) nicht realisierten Denkmalprojekten in den ersten zwei Jahr-zehnten nach Schillers Tod besonders das Kapitel „Zur Ikonographie der nicht-gebauten Denkmäler“, S.169–182.
Angelegenheit von öffentlicher und nationaler Tragweite deklariert.“24 Goethe konnte hier zunächst nicht mithalten: Zum einen bot sein Werk weit weniger Möglichkeit, es für die patriotischen und liberaldemokratischen Forderungen, die die Zeitgenossen bewegten, zu instrumentalisieren, zum anderen verhinderten „seine irritierend ungebrochene Produktivität und vor allem seine Lebendigkeit […] eine Sakralisierung.“25 Goethes Engagement innerhalb des Diskurses um das Denkmal, das ihm nun selbst in Frankfurt errichtet werden sollte, stellte daher immer auch den Versuch dar, auf dem Gebiet des ikonographischen Gedenkens mit Schiller als seinem größten Konkurrenten Schritt zu halten. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Aussage Goethes im Briefwechsel mit Boisserée, als über das Frankfurter Denkmalprojekt verhandelt und diskutiert wird, welcher Bildhauer mit der Modellierung der Goethe-Büste betraut werden solle. Und was die Büste betrifft, so gesteh ich gern, daß ich an Danneckers Hieherkunft nicht mehr glaube. Dieses denke und sage ich wider Willen, weil ich mich, durch ihn modelliert, wieder neben Schillern denken könnte. Wer muß sich aber nicht jeden Tag bekennen, daß vergangene Zeiten, Verhältnisse, Gefühle, Tätigkeiten nicht wieder zurückzurufen sind.26
Sich „neben Schillern denken“ – dies ist durchaus in doppeltem Sinne zu verstehen: zum einen würde ein von demselben Bildhauer, der die bereits 1820 berühmte und bis heute wirkungsmächtigste Schiller-Büste geschaffen hatte, angefertigtes Bildnis die Nähe der beiden Dichter und damit das durch den Freundschaftsbund geprägte ‚klassische’ Weimarer Jahrzehnt wieder in Erinnerung gebracht, ‚zurückgerufen’ werden, das Goethe selbst als die glücklichste Zeit seines Lebens und als Höhepunkt seines literarischen Schaffens ansah. Angedeutet ist zum anderen aber ebenso das konkurrierende Moment: Durch ein solches Bildnis könnte Schiller möglicherweise an Vorsprung einbüßen und Goethe im Gedächtnis von Gegenwart und Nachwelt wieder „neben“ ihm, auf einer Stufe mit ihm stehen. Goethe äußert in seinen Betrachtungen Kritik vor allem an folgenden Punkten: zum einen an Größe und Ausmaß wie an der Lage des geplanten Denkmals, eigentlich überhaupt an einer Platzierung im Freien, zum anderen an seinem „nationalen, die Vaterstadt überschreitenden Charakter“,27 und schlägt stattdessen ein kleineres, lediglich eine Büste prä_____________ 24 25 26 27
Fahrner, Der Bilddiskurs zu Friedrich Schiller, S.171. Selbmann, Dichterdenkmäler in Deutschland, S.42. FA II/9, S.76: Brief an Boisserée, 16. 07. 1820. FA I/17, S.700.
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sentierendes Monument, das im Bibliotheksgebäude, möglicherweise neben anderen Geistesgrößen aufzustellen sei, vor. Einleitend wird die Idee Boisserées grundsätzlich als „von dem Dichter dankbarlichst anzuerkennende[r], höchst ehrenhafte[r] Vorschlag“28 gelobt – schon hier wird im Übrigen in der distanzierten Formulierung, die im gesamten Text die 1. Person Singular vermeidet, deutlich, dass Goethe sich selbst als ‚Gegenstand’, als historisches Objekt betrachtet. Außerdem weist Goethe darauf hin, dass ein solch „wichtiges Geschäft“ „wohlüberlegt“ (Betrachtungen, S.359) und unter beständiger kritischer Reflexion geplant werden müsse – wenngleich, mit einem ganz vorsichtigen, bescheidenen Gestus, was den Stellenwert anbelangt, mit dem seine eigene Meinung berücksichtigt werden möge.29 Die weit verbreitete Behauptung, dass Goethe „kein Freund von architektonischen Denkmälern“ gewesen sei und er den Unternehmungen höchst kritisch gegenüber gestanden habe, ja sie am liebsten „verhindert[…]“ hätte, greift so also sicherlich zu kurz.30 Dass ihm vielmehr _____________ 28
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FA I/17, S.360. Auch im Folgenden wird Goethes Aufsatz Betrachtungen über ein dem Dichter Goethe in seiner Vaterstadt zu errichtendes Denkmal nach der Frankfurter Ausgabe zitiert; Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle Betrachtungen nachgewiesen. „Es sey erlaubt […] in so weit die Entfernung vom Orte es zuläßt, ein, vielleicht nicht durchgängig begründetes, doch wohlgemeintes Wort auszusprechen“ (Betrachtungen, S.360). Dies bietet Wilpert als Resümee der – bislang noch recht wenigen – Arbeiten der Goethe-Forschung zu diesem Aspekt: Gero von Wilpert, Artikel ‚Denkmäler’, In: Wilpert, Goethe-Lexikon, Stuttgart 1998 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 407), S.210. Grundsätzlich in eine zutreffendere Richtung zu weisen erscheint die Einschätzung der Kommentatoren der Frankfurter Ausgabe, auch wenn sie sich zunächst nur auf Goethes Haltung zu dem geplanten Frankfurter Denkmal bezieht: „Zwar ging er [Goethe] auf die ersten von Boisserée geäußerten Gedanken nur zögerlich ein, stand aber dem Projekt durchaus nicht abweisend gegenüber, was schon daraus hervorgeht, daß er für April 1820 [vier Monate, nachdem er von Boisserée über die Frankfurter Pläne unterrichtet wurde] Dannecker [Johann Heinrich Dannecker, der zunächst als Bildhauer für die Büste vorgesehen war] in Weimar erwartete, um ihm Modell zu sitzen […]“ (FA I/17, S.696). Den hohen Wert, den er Denkmälern, vor anderen architektonischen Formen vor allem Büsten oder Medaillen zuschreibt, die den Menschen selbst möglichst originalgetreu abbilden, formuliert er allgemein und nicht speziell auf seine eigene Person bezogen in dem kurzen Aufsatz Denkmale: „Das beste Monument des Menschen aber ist der Mensch. Eine gute Büste in Marmor ist mehr wert als alles Architektonische, was man jemanden zu Ehren und Andenken aufstellen kann; ferner ist eine Medaille, von einem gründlichen Künstler nach einer Büste oder nach dem Leben gearbeitet, ein schönes Denkmal, das mehrere Freunde besitzen können und das auf die späteste Nachwelt übergeht“ (FA I/18, S.961). Zahlreiche weitere Belegstellen dafür, dass Goethe sehr daran gelegen war, dass gerade auch seine äußere Erscheinung der Nachwelt überliefert wurde – sei es in Form von Büsten oder in Porträtbildern – sind zudem in den Tag- und Jahresheften zu finden, in denen Goethe an mehreren Stellen sehr wohlwollend verzeichnet, dass an solchen Unternehmungen gearbeitet wurde, etwa
sehr an diesem „wichtigen Geschäft“ gelegen ist, verraten die häufigen Erwähnungen des Frankfurter Projekts in seinen Briefen – nicht nur an den Initiator Boisserée, sondern an zahlreiche weitere Korrespondenzpartner – des Jahres 1820, in denen er seinen Anspruch, auf die Gestaltung des Denkmals einzuwirken, viel weniger bescheiden formuliert als in seinem als offizielle Petition lancierten Aufsatz: Ich habe in dieser, für mich so bedeutenden Sache jede Bedenklichkeit einer falschen Scham entfernt, um getrost und froh mit einzuwirken. Mich läßt überhaupt jeder Kunstgegenstand ganz unparteiisch, nur Sinn und Absicht schwebt mir vor, mit der Frage, ob jener auch der rechte sei und ob diese wohl erreicht werde?31
Tatsächlich meldet Goethe – trotz aller prinzipiellen Freude über diese Ehrung – allerdings grundlegende „Bedenken“ an, was das „Local“ und das Ausmaß der nach den aktuellen Plänen nun „größeren architektonischen Unternehmungen“ angeht, nachdem nach den ersten Entwürfen nur ein „bescheidene[s] Denkmal“ angedacht war, das „die umsichtigen Frankfurter Freunde [nun...] für zu kleinlich halten“ (Betrachtungen, S.360). Die angeführten Gründe für seine Kritik verdeutlichen, woran ihm selbst bei dem Unternehmen gelegen ist, mit seinen eigenen Worten: welcher „Sinn“ und welche „Absicht“ ihm bei diesem ihm so „wichtige[n...] Geschäft“ vorschweben. Es geht ihm zum einen darum, dass das Denkmal genau das leistet, was keinem Menschen selbst vergönnt ist: nämlich die Zeiten unbeschadet zu überdauern, seinen Ursprungszustand zu konservieren und ihm so einen permanenten und unumstößlichen Platz im Gedächtnis der Nachwelt zu behaupten. Das geplante Denkmal auf der Maininsel dagegen wäre der Witterung schutzlos ausgeliefert (verwiesen werden auf die Schäden, die „Schnee“ und „Frost“ unweigerlich hervorrufen und das Monument mit „unerfreulichen Reparaturen bedrohen“ (Betrachtungen, S.361) würden),32 zudem sei es durch den „Weltlauf“, durch die Geschichte, deren zerstörerische Komponente hier deutlich in den Vordergrund gerückt wird, womöglich noch größeren Gefahren ausge_____________
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1801 seine von Tiek gefertigte Büste in einem Saal des nach dem Brand neu einzurichtenden Weimarer Schlosses aufgestellt worden sei (vgl. FA I/17, S.90; die Tag- und Jahreshefte werden auch im Folgenden nach der Frankfurter Ausgabe zitiert; Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle TuJ nachgewiesen), 1820 Tiek und Rauch eine weitere Büste modelliert hätten (vgl. TuJ, S.311) oder 1821 der englische Maler Dawe nach Weimar gekommen sei, um sein Porträt zu nehmen (vgl. TuJ, S.334). FA II/9, S.94: Brief an Chistoph Friedrich Ludwig Schultz, 01. 09. 1820. Sowieso sei die Zelle selbst „im Winter ganz unzugänglich“ und auch „im Sommer vielleicht nur wenige Monate durch ein erfreulicher Aufenthalt“ (Betrachtungen, S.361), so dass das Denkmal nicht mal für Besucher das ganze Jahr über attraktiv sei.
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setzt: „Ein so einzeln stehendes Gebäude möchte in Friedenszeiten vielleicht unangetastet bleiben, aber bey Kriegsunruhen dürfte die bronzene Thüre, als angreifliche Waare, vor Freund- und Feindeshänden kaum sicher seyn“ (Betrachtungen, S.362). Zum anderen ist ihm vor allem wichtig, dass das Denkmal an einem Ort steht, der von einer größeren Besuchermenge frequentiert wird und wo es zudem nicht von irgendeinem, sondern von einem ausgewählten Publikum wahrgenommen wird, das die Bedeutung des durch das Denkmal geehrten Dichters zu schätzen weiß. Auch deswegen sei die Maininsel ungeeignet, wo einzelne Personen, allenfalls kleine gesellige Parthieen, sich ein beschränktes, unbewohntes, ausser einigen, obgleich schätzenswerthen Bildwerken, nichts darbietendem Locale, nach einer, wenigstens bey gewissen Jahrs- und Tagszeiten, mühseligen Wallfahrte, aufschließen lassen (Betrachtungen, S.362f.).
Goethes Erwägungen zur Platzierung des Denkmals sind an einen zeitgenössischen Diskurs angebunden, der sich wiederum bei den Kontroversen um die geplanten Schiller-Denkmäler wiederfindet. Klaus Fahrner weist in seiner Arbeit über den Schiller-Bilddiskurs darauf hin, dass zahlreiche Denkmalprojekte in den ersten Jahrzehnten nach Schillers Tod daran scheiterten, dass sie – vergleichbar den Frankfurter Plänen zum Goethe-Denkmal auf der Maininsel – „noch oft in eine parkartige Szenerie eingebettet sind“ und ihnen daher – wie schon von Zeitgenossen häufig kritisiert wurde – „ein Hauptfaktor bürgerlicher Öffentlichkeit“ ermangelte: die „für jedermann frei zugängliche[…] Aufstellung auf Plätzen mit hohem Urbanitätsgrad.“33 Goethe selbst schlägt vor, die aktuellen Pläne eines Denkmals außerhalb der Stadt auf der Maininsel ganz aufzugeben – allerdings nicht etwa verbunden mit der Idee, stattdessen eine Statue an einem Ort im Frankfurter Stadtzentrum zu errichten, sondern vielmehr eine Büste in einem Saal des neu gebauten Bibliotheksgebäudes aufzustellen. Hier sei das Denkmal vor Verfall und Beschädigung sicher und stehe an einem Ort, an dem „Zusammenkünfte der Belesensten, Wissenschaft Liebenden, Gebildeten“ (Betrachtungen, S.362) stattfinden. Er verspricht sich, von einem exklusiven, intellektuellen Publikum, u. U. weit gereisten Forschern aus aller Welt, die in der Bibliothek arbeiten, wahrgenom_____________ 33
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Fahrner, Der Bilddiskurs zu Friedrich Schiller, S.182. Vgl. zu dem sich anbahnenden und sich dann nach 1830 endgültig vollziehenden ‚Bruch’ mit der herkömmlichen Denkmaltradition, bei dem „die Bürger […] die Monumente aus der Abgeschiedenheit der Natur in die Öffentlichkeit der Stadt hereinholten“ und somit „einen räumlichen und ideellen Aneignungsprozeß“ vollzogen, ausführlicher Müller, Die Stadt, S.273.
men zu werden, entsprechend also eine weit größere Wirksamkeit auf diejenigen Menschen, in deren Gedächtnis er v.a. behalten werden möchte, als er mit dem Monument auf der Maininsel glaubte, erzielen zu können. Möglicherweise spielt hier für Goethe auch eine Rolle, sich innerhalb des Konkurrenzkampfes mit Schiller gegen seinen Kontrahenten abzusetzen und – in engem Zusammenhang damit – den Forderungen nach einer deutschen Nationalliteratur, die gerade im Kontext der napoleonischen Besatzung und der Befreiungskriege weit verbreitet waren, sein Konzept der ‚Weltliteratur’ entgegenzustellen: Im Unterschied zu Schiller als dem Nationaldichter, der gerade von einer breiteren Masse des Volkes für patriotische und auch politische Zwecke vereinnahmt und verehrt wird und dessen Denkmäler entsprechend – so wird in den Kontroversen um die Errichtung der Schiller-Denkmäler häufig gefordert – ‚unter das Volk’ gehörten, will Goethe sein eigenes Monument einem gebildeten und internationalen Publikum vorbehalten und damit nicht so sehr seine Bedeutung für die deutsche Nation denn für die ‚Welt’ betonen – gerade in einer Zeit, in der seine Beziehungen zur deutschen Öffentlichkeit immer problematischer wurden, die Aufmerksamkeit des Auslands für seine Werke jedoch stetig zunahm.34 Der Wunsch, eine Statue in der Bibliothek aufzustellen, ist zudem noch in zweierlei Hinsicht aussagekräftig: Zum einen sei das Projekt Goethes Vorstellungen entsprechend weitaus preisgünstiger zu bewerkstelligen als mit „jene[m] großen, eigentlich incalculablen Aufwand“ und man könne die gesparten Mittel auf diese Weise auf das verwenden, was für Goethe das Wichtigste ist, nämlich auf die Statue selbst,35 für die er Christian Daniel Rauch als Bildhauer vorschlägt – einen Künstler, dem er zutraut, eine Statue zu entwerfen, die ihn seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen entsprechend präsentiert, und dazu auf die von ihm schon 1820 verfertigte „glückliche Büste des _____________ 34
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Goethes Gebrauch und Verständnis des Begriffs ‚Weltliteratur’ – auch die Gründe, warum sein „Interesse an internationaler Literaturkommunikation“ mit steigendem Alter zunahm, die eben besonders auch im Zusammenhang mit der schwindenden Anteilnahme des deutschen Publikums an seinem (Spät)Werk und seiner Person zu sehen sind – können hier nur angedeutet bleiben. Eine erste Orientierung zu diesem in der Goethe-Philologie viel untersuchten Aspekt bietet Peter Weber, Artikel ‚Welt-literatur’. In: GHb 4.2, S.1134–1137 (Zitat S.1134); hier auch Angaben zu weiterführender Literatur. Vgl. zu der uneingeschränkten Priorität, die für Goethe offensichtlich die Statue selbst genießt, auch die Bemerkung in seinem Brief an Boisserée vom 07. Juni 1821: „[...] wirken Sie nur darauf, daß das Bildnis zu Stande kommt, das Übrige findet sich“ (WA IV/34, S.278).
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Dichters“ (Betrachtungen, S.363) verweist.36 Zum anderen – und dies ist wiederum besonders wichtig für Goethes Intention, die Rezeption seines Lebens und Werks seiner ‚Selbstdeutung’ entsprechend zu beeinflussen – findet er sich hier in ein Umfeld gestellt, das gleich auf die beiden Bereiche verweist, in denen er sein ‚Lebenswerk’ situiert und gewürdigt wissen will: Deswegen solle man die Statue in der Bibliothek aufstellen, „wo alle Literatur, also auch die schöne zu Hause ist, wo die Wissenschaften zu Hause sind, denen der Dichter die Mannigfaltigkeit seiner Productionen schuldig geworden“ (Betrachtungen, S.363). In eine ähnliche Richtung verweist seine Anregung, einen ganzen Saal „plastisch auszuschmücken“ und „in derselben Localität verdienten Männern der Vaterstadt gleichfalls Ehre zu erweisen“ (Betrachtungen, S.363), die im Übrigen ein Grundprinzip seines Geschichtsdenkens wie seines Autobiographiekonzepts widerspiegelt, gerade was die Leistungen des Einzelnen anbelangt, die nur im Kontext ihrer ‚Epoche’ angemessen verstanden und gewürdigt werden können.37 Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Goethe selbst seine Person und seine Leistungen in der Geschichte bewertet wissen will – abschließend fügt er nämlich noch Überlegungen an, die die aktuellen Pläne des Frankfurter Vereins „von der sittlichen Seite“ (Betrachtungen, S.363) betrachten. Entscheidend dabei ist, dass diese „sittlichen“ Bedenken, die darauf abzielen, dass „das projectirte Monument […] das Maaß zu überschreiten [scheine] der Ehre, die man einem Einzelnen erweisen darf“ nicht so sehr als die eigenen Zweifel angemeldet werden – etwa in dem Sinne, dass Goethe selbst eine solch herausgehobene Stellung unangenehm oder unangemessen erschiene –, sondern viel_____________ 36
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Gemeint ist die sogenannte Atempo-Büste, eine häufig reproduzierte und abgebildete, wenn nicht gar d i e bekannteste Goethe-Büste, die Goethe schon in Briefen an Boisserée vom 01. 09. 1820 als „wirklich grandios“ lobt (FA II/9, S.92). Rauch, Professor an der Akademie der Künste in Berlin, war einer der bedeutendsten Bild-hauer des deutschen Klassizismus – entsprechend stimmen Goethe und Rauch in ihren Kunstauffassungen weitgehend überein. Goethe erwähnt die „lebhafte ja leidenschaftliche Kunstunterhaltung“ (TuJ, S.311), die 1820 stattgefunden habe, als er Rauch kennen lernte und ihm und dessen Begleiter Christian Friedrich Tieck in Jena Modell saß – er habe „diese Tage unter die schönsten des Jahres rechnen“ (TuJ, S.311) dürfen –, und es wird ihm daher keine großen Schwierigkeiten bereitet haben, bei den später von Rauch entworfenen bzw. tatsächlich ausgeführten Statuen oder Statuetten, die ihn wohlbemerkt in antiken Gewändern, z.T. mit Lorbeerkranz zeigen und somit den klassischen Goethe (nicht etwa den jungen Sturm-und-Drang-Dichter!) präsentieren, auf Konzeption und Gestaltung einzuwirken. Vgl. dazu die in der Einleitung dieser Arbeit ausführlich untersuchten programmatischen Bemerkungen im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit – erinnert sei hier nur an die „Hauptaufgabe der Biographie“, die darin gesehen wird, „den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen“ (DuW I, S.13).
mehr wird wieder mit der Wirkung auf das Publikum argumentiert. Bei „Theile[n] des Publikums“ sei schon jetzt „einiges Mißfallen zu bemerken“ und „[f]romme Seelen sehen etwas heidnisches, dem Götzendienst ähnliches, in dieser Anstalt“ (Betrachtungen, S.363). Entsprechend könnte „eine solche Auszeichnung“ genau das Gegenteil von dem bewirken, was Goethe sich von dem Denkmalprojekt erhofft, indem sie ihm nämlich kein uneingeschränkt positives Andenken im Gedächtnis der Nachwelt sichern, sondern womöglich auch Irritation oder gar entschiedene Ablehnung hervorrufen könnte. Mit der bescheideneren Statue in der Bibliothek wäre dagegen diese Gefahr gebannt und „Nemesis würde den, ein so übergrosses Glück Erlebenden nicht zu demüthigen haben und er sich zugleich höchst geehrt und freundlich beruhigt fühlen“ (Betrachtungen, S.363f.). Deutlich geworden ist, dass Goethe dem Frankfurter Denkmalprojekt keineswegs mit Ablehnung begegnet, sondern er vielmehr seine Kontakte zu den Initiatoren intensiv dazu zu nutzen versucht, auf die Planung einzuwirken, weil es ihm in kaum zu überschätzendem Maße wichtig ist, seine Rolle im Gedächtnis von Gegenwart und Nachwelt überhaupt zu befestigen, und schließlich auch, sie selbst nach seinen Vorstellungen zu inszenieren. Direkten Erfolg hatten seine Bemühungen hier allerdings nicht – seine Vorschläge wurden nicht aufgegriffen und führten vielmehr dazu, dass das Projekt ganz aufgegeben wurde, weil der Verein nicht gegen den ausdrücklich erklärten Willen Goethes vorgehen konnte und wollte.38 Umso gezielter mussten andere Strategien verfolgt werden, sollte denn Goethes Konzept aufgehen: Vor allem im Zusammenhang mit dieser Intention sich selbst einen festen Platz in der Geschichte zu schaffen, nicht nur von der Gegenwart, sondern auch von der Nachwelt nach den eigenen Vorstellungen erinnert zu werden, kann sein Autobiographieprojekt gesehen werden.39 Durch und in seinen Autobi_____________ 38 39
Vgl. dazu ausführlicher FA I/17, S.700. Ähnlich wertet Rüdiger Görner das „Projekt Dichtung und Wahrheit“ als Goethes „Arbeit an seinem eigenen Mythos“ (Rüdiger Görner, ‚Warme Kälte’ und andere Gegensätze. Goethes Selbstmythisierung. In: Nachdenklicher Leichtsinn. Essays on Goethe and Goethe reception, hg. von Heike Bartel und Brian Keith-Smith, Lewiston u.a. 2000 (Studies in German language and literature, Bd. 26), S.1–12, hier S.3. Auch Rolf Selbmann betont den Zusammenhang zwischen Goethes autobiographischen Arbeiten und seinen Bemühungen darum, sich selbst einen festen Platz in der Erinnerungskultur zu setzen, ja er weist diesen Bemühungen sogar einen Stellenwert für Goethes gesamtes Alterswerk zu: „Wenn jede Erinnerungsform ein Denkmal ist, so kann Goethes gesamte Alterproduktion (Autobiographieprojekt, Ausgabe letzter Hand, Briefwechsel mit Schiller) zum Denkmal werden” (Rolf Selbmann, Goethes Denkmäler. Selbstbild und Ikonographietradition. In: Schriftsteller-Inszenierungen, hg. von Gunter E. Grimm und Christian
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ographischen Schriften setzt er sich ein womöglich noch viel wirkungsvolleres – und vor allem ohne Rücksicht auf die Wünsche und Vorstellungen anderer konzipiertes – vollständig selbst inszeniertes „literarisches Denkmal“.40 Hier kann er all das so ausgestalten, wie er es sich beim Frankfurter Denkmal gewünscht hatte: sein Leben in dem Kontext präsentieren, in dem er selbst gesehen werden will, diejenigen Leistungen hervorheben, für die er geehrt werden möchte, selbst abschätzen, welche Art einer (zu überhöhten) Inszenierung womöglich eher „Mißfallen“ statt Anteilnahme des Publikums hervorrufen könnte – und vor allem kann er sich sicher sein, dass nicht „einzelne Personen, allenfalls kleine gesellige Parthieen“ mehr oder weniger zufällig bei einem Ausflug seiner gedenken, sondern er sich vielmehr gezielt in das Gedächtnis desjenigen exklusiven Teils der Leserschaft einschreiben kann, der sowieso schon „freundschaftliche[…] Gesinnungen“ (DuW I, S.12) für sein Leben und Werk hegt und gerade deswegen seine autobiographischen Arbeiten liest, weil er „als näher bekannt mit [seiner...] Lebens- und Denkweise, manches Rätsel zu erraten, manches Problem aufzulösen“ (DuW I, S.11) sucht. 3.1.4
Eine noch wirkungsvollere Möglichkeit sich sein eigenes „Denkmal“ zu gestalten: Schreibstrategien des corriger l’histoire
Auf ein besonders großes Interesse bei einem breiten Publikum stießen diejenigen „Rätsel“ und „Problem[e]“, die an Goethes ersten Roman, Die Leiden des jungen Werthers, geknüpft waren, mit dem der 24jährige Autor 1774 eine literarische Sensation initiiert hatte und schlagartig berühmt geworden war. Er hatte Goethe seinerzeit nicht nur – noch mehr als das ein Jahr zuvor veröffentlichte Drama Götz von Berlichingen – _____________
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Schärf, Bielefeld 2008, S.25–44, hier S.41). Darüber hinaus bietet Selbmanns Aufsatz einen allgemeinen (und nicht ausschließlich auf Denkmäler für die eigene Person fokussierten) Überblick über Goethes Beschäftigung mit Denkmälern während seines gesamten Lebens. Signifikant ist, dass in einer der bislang sehr wenigen Arbeiten zu Goethe-Denkmälern (die vor allem allesamt kaum oder gar nicht auf Goethes eigene Einstellung zu Denkmälern eingehen) der Terminus „literarisches Denkmal“ nur nebenbei und im Bezug auf Bettina von Arnim verwendet wird: Diese habe nicht nur schon seit den zwanziger Jahren ein figürliches Denkmal für Goethe geplant, sondern ihm auch „mit ihrem 1835 veröffentlichten Werk ‚Goethes Briefwechsel mit einem Kinde’ ein literarisches Denkmal“ gesetzt (Jutta Schuchard, „Goethe auf dem Postament“ – Goethe-Denkmäler. In: GJb 106 (1989), S.278–308, hier S.287). Der Zusammenhang zwischen den GoetheDenkmälern bzw. besonders Goethes eigenen Versuchen, auf deren Gestaltung einzuwirken, und seinem Autobiographieprojekt wurde bislang nirgends beachtet.
an die Spitze der jungen Avantgarde gebracht, die sich gegen die aufklärerische Regelpoetik und ihre bürgerlich-rationalen Moralvorstellungen durchzusetzen versuchte, und ihm schließlich eine exponierte Position im literarischen Feld verschafft, sondern ihm durch die zahlreichen Auflagen, Übersetzungen und Raubdrucke zu „internationale[r] Resonanz bei einem breiten Lesepublikum“41 verholfen. Keinem anderen seiner Werke sollte später je wieder so viel Aufmerksamkeit entgegengebracht werden. Dem Publikum blieb er daher – bis in seine letzten Lebensjahre und darüber hinaus – vor allem als der Verfasser des Werthers im Gedächtnis.42 Entsprechend bezieht sich das im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit als Anlass des Autobiographieprojekts ausgegebene Interesse des Publikums, das im fiktiven Brief des Freundes bekundet wird, sicherlich in ganz besonderem Maße auf diesen in seiner Wirkung bis dahin einzigartigen literarischen Erfolg, zumal Goethes eigene Erlebnisse in Wetzlar und dann wiederum die – ebenfalls schließlich unglücklich endende – Liebe zu Maximiliane von La Roche den Hintergrund für den Werther lieferten, und also gerade bei diesem Roman „besondere Veranlassungen [den Roman...] hervorgebracht, und sowohl äußere bestimmte Gegenstände als innere entschiedene Bildungsstufen daraus hervorscheinen“ (DuW I, S.11), deren Aufdeckung sich das Publikum von Goethes Autobiographie erhoffe. Doch dieser Festlegung auf eine längst überwundene ‚Epoche’, die Goethe selbst keineswegs als den Höhepunkt seiner (literarischen) Entwicklung ansah – wenngleich sie eine besonders erfolgreiche war –, stand der älter werdende Autor mehr und mehr kritisch gegenüber. Sein zwiegespaltenes Verhältnis zu seinem Erstlingsroman und damit sein Umgang mit einem besonders wirkungsmächtigen Abschnitt seiner eigenen Vergangenheit nehmen in seinen Autobiographischen Schriften auch deswegen eine zentrale Rolle ein, weil das Interesse des Publikums an der entsprechenden ‚Epoche’ von Goethes Leben genau mit dem Lebensabschnitt zusammentrifft, bei dem Goethe selbst rückblickend womöglich den größten Korrekturbedarf sieht. Die Schreibstrategien, _____________ 41 42
Mattenklott, Artikel ‚Die Leiden des jungen Werthers’, S.94. Zum überwältigenden buchhändlerischen Erfolg des Werthers vgl. den kurzen Überblick bei Mattenklott, Artikel ‚Die Leiden des jungen Werthers’, bes. S.94f.; ausführlicher dazu Georg Jäger, Die Wertherwirkung. Ein rezeptionsästhetischer Modellfall. In: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Stuttgarter Germanistentag 1972, hg. von Walter Müller-Seidel u.a., München 1974, S.389–409 sowie die Monographie Klaus R. Scherpe, Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert, Bad Homburg v. d. H., Berlin und Zürich 1970.
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die er in der Italienischen Reise, dann aber in besonderem Maße im Dreizehnten Buch von Dichtung und Wahrheit, das der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Werthers gewidmet ist, mit der Intention einsetzt, seine Distanz zum jungen Dichter des Werthers zum Ausdruck zu bringen und sich selbst als einen Autor zu präsentieren, der diese ‚kranke’ Entwicklungsstufe längst hinter sich gelassen hat, sollen im Folgenden genauer untersucht werden. Dass er hier begründete Hoffnungen darauf setzen kann, für sein auf diese Weise selbst inszeniertes literarisches „Denkmal“ ein ausreichend großes Publikum zu finden, damit sein Konzept aufgeht und er sich nach seinen eigenen Vorstellungen einen Platz im Gedächtnis von Zeitgenossen und Nachwelt – als der k l a s s i s c h e Dichter, nicht als der Dichter des Werthers – sichern kann, dafür bürgt das ungebrochen große Interesse der Leserschaft an eben dieser literaturgeschichtlichen Sensation. Zu vermuten ist, dass etwa gerade der Schilderung der Werther-Entstehung und Werther-Wirkung im Dreizehnten Buch von Dichtung und Wahrheit vom Publikum ungleich größere Aufmerksamkeit entgegengebracht wird als anderen Passagen der Autobiographischen Schriften.43 Bekanntermaßen setzte Goethes Distanzierung von seinem 1774 erschienenen Roman schon früh ein und er bereitete für die Herausgabe seiner Schriften 1787 bei Göschen – dort erschien der Werther im ersten Band – schließlich eine Neufassung vor, um so in dem Streit um Werther, der „seit seinem Erscheinen durch die heftigsten sei’s bestätigenden, sei’s polemischen Reaktionen, durch Bearbeitungen und Parodien, Übersetzungen und Echos in anderen Künsten nicht nur L i t e r a t u r geschichte gemacht hatte“44, selbst Stellung zu beziehen. An dieser _____________ 43
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Dies kontrastiert allerdings mit der vergleichsweise geringen Beachtung des Dreizehnten Buches von Dichtung und Wahrheit in der Goethe-Forschung, jedenfalls was neuere Arbeiten anbelangt. Die zwei älteren Arbeiten von Kayser (Wolfgang Kayser, Die Entstehung von Goethes Werther. In: Kayser, Kunst und Spiel. Fünf Goethe-Studien, Göttingen 1961, S.5–29. Zuerst veröffentlicht in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 19 (1941), S.430–457) und Graham (Ilse Graham, Goethes eigener Werther. Eines Künstlers Wahrheit über seine Dichtung. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 18 (1974), S.268–303) untersuchen die rückblickende Darstellung auf die Werther-Epoche vor allem unter vorwiegend biographisch-historischen Gesichtspunkten. Kayser deckt so z.B. auf, inwiefern die Darstellung der Entstehung des Werthers historisch ‚falsch’ sei und Erfahrungen des alten Goethe in den Text einfließen (so v.a. der Selbstmord von Zelters Stiefsohn, von dem der Freund Goethe in einem Brief gerade vor Beginn von dessen Arbeit am Dreizehnten Buch berichtet hatte), fragt aber nicht, welche Funktion diese ‚umgedeutete’ Version der Entstehungsgeschichte des Romans besitzt, d.h. warum und wozu diese Schreibstrategien eines corriger l’histoire angewendet werden. Für die Fragestellung dieses Kapitels sind die Ergebnisse der beiden Aufsätze daher recht unergiebig. Mattenklott, Artikel ‚Die Leiden des jungen Werthers’, S.60.
Stelle kann natürlich kein Vergleich der beiden Fassungen geboten werden;45 es sei lediglich darauf hingewiesen, dass schon die in der Überarbeitung vorgenommenen Änderungen die eindeutiger gegen Werthers Persönlichkeit und Verhalten eintretenden Tendenzen vorwegnehmen, die dann in der autobiographischen Rückschau sehr viel deutlicher ausgestaltet werden: „Die Transformation des Frühwerks in die Ausgabe der Schriften kommt […] dem Einlesen einer literarischen Revolutionsschrift in den Kontext des Weimarer Bildungsprogramms gleich.“46 Die Neufassung erscheint nicht nur sprachlich geglättet, sondern nimmt eine Perspektive ein, bei der Werthers Entwicklung und Verhalten weit deutlicher als mahnendes Beispiel vorgeführt (und keineswegs enthusiastisch idolisiert) werden. Schon der dem zweiten Teil vorangestellte Appell „Sey ein Mann, und folge mir nicht nach“47, den Goethe bereits 1775 für die zweite Auflage einfügt, ist als Reaktion auf dessen kontroverse und skandalträchtige Aufnahme zu lesen und versucht entsprechend die Rezeption des Werkes zu steuern sowie Goethes eigene Sicht auf seinen Romanhelden zu demonstrieren, den er selbst keineswegs zum Idol erhebt und sich als Autor schon gar nicht im Sinne einer rein biographistischen Rezeption mit ihm identifiziert wissen will.48 Signifikanterweise einen Tag vor dem in der autobiographischen Rückschau als ‚Flucht’ stilisierten Aufbruch nach Italien – am 02. September 1786 – vermeldet Goethe in einem Brief an seinen Verleger _____________ 45
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Vgl. dazu Jäger, Wertherwirkung, S.407–409; ausführlicher dann auch die älteren Arbeiten Martin Lauterbach, Das Verhältnis der zweiten zur ersten Ausgabe von Werthers Leiden, Straßburg 1910; Gertrud Rieß, Die beiden Fassungen von Goethes Die Leiden des jungen Werthers, Breslau 1924. Mattenklott, Artikel ‚Die Leiden des jungen Werthers’, S.61. Jäger betont die Bedeutung, die den Publikumsreaktionen für Goethes Umarbeitung zukomme und die in der Goethe-Philologie bislang zu wenig berücksichtigt worden sei: „Die Literaturgeschichte hat bislang einseitig den Autor, seine klassischen Anschauungen und seine veränderte soziale Lage (Weimarer Staatsdienst ab 1776, Erhebung in den Adelsstand 1782) in Rechnung gestellt“. Dagegen „stellt sich die Umarbeitung als ein Rückkopplungsprozeß dar, bei dem Goethe auf die Erfahrungen mit der Erstfassung reagiert“ (Jäger, Wertherwirkung, S.396f.). Ausführliche Informationen über die einzelnen Stufen der Umarbeitung der ersten in die zweite Fassung zwischen 1781 und 1786, für die Goethe sich unter anderem mit Wieland und Herder beriet, bieten die Erläuterungen zu den Lesarten bzw. diese selbst in WA I/19, S.309–434. WA I/19, S.388. Entsprechend weist Jäger in einem Vergleich der ersten mit der zweiten Fassung des Romans nach, dass „[e]ine Reihe von Lesehinweisen, welche die Gestalt Werthers problematisieren und die distanzlose Identifikation mit ihm erschweren, […] jetzt [i.e. in der Fassung von 1787] der Lenkung der Leserperspektive“ dienen (Jäger, Wertherwirkung, S.396).
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Göschen die Fertigstellung der Druckvorlage für die beiden ersten Bände der Schriften (und damit auch der Neufassung des Werthers).49 Dass sozusagen ein doppelter Schlussstrich unter die erneute Auseinandersetzung mit der Werther-Epoche gezogen wird, markiert die Entscheidung, in Italien inkognito zu reisen, um nicht ständig als der Dichter des Werthers identifiziert zu werden, die den Abschluss der Neufassung ergänzt. In der autobiographischen Rückschau der Italienischen Reise zieht sich die Distanzierung von der Werther-Vergangenheit als Motiv durch den gesamten Text.50 Besonders signifikant ist dabei eine episodenhaft ausgestaltete Begegnung mit einem Malteser in Palermo. Der Ordensmann, der einige Zeit in Erfurt zugebracht hat, erkundigt sich, nachdem der Fremde, dem er im Palast des Vizekönigs begegnet, als Deutscher identifiziert wurde, nach Thüringen, speziell nach der von Dacherödischen Familie und dem Koadjutor von Dalberg, schließlich dann auch „[m]it bedenklichem Anteil“ nach Weimar: Wie steht es denn, sagte er, ‚mit dem Manne, der, zu meiner Zeit jung und lebhaft, daselbst Regen und schönes Wetter machte? Ich habe seinen Namen vergessen, genug aber, es ist der Verfasser des Werthers (IR, S.260).
Genau diese Art der ‚Würdigung’ seiner Person und seiner Lebensleistungen muss zumindest dem späten Goethe in höchstem Maße unangenehm, wenn nicht sogar mit Angst verbunden sein.51 Denn wenn man „seinen Namen vergessen“ hat, dann ist das eingetreten, was schon 1812 im Brief an Reinhard als negative Perspektive für die noch kommenden Lebensjahre entworfen wird: Man ist ‚bei Lebzeiten abge_____________ 49 50
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Vgl. WA IV/8, S.14–16: Brief an Georg Joachim Göschen, 02. 09. 1786. Vgl. IR, S.152, 240, 260, 346f., 457, 474f. und 553. Bei all diesen Erwähnungen des Romans in der Italienischen Reise – meist handelt sich es sich um Begegnungen mit ‚Werther-Fans’, die unbedingt den Verfasser dieses Kultbuchs kennen lernen wollen, nachdem sie das Inkognito des erzählten Ichs aufgedeckt hatten – wehrt sich das erzählte Ich mehr oder weniger deutlich gegen eine Identifikation mit dem Werther-Autor. Inwiefern dieses Gefühl auch auf den 37jährigen Reisenden in Italien schon gleichermaßen zugetroffen hat, kann und soll hier nicht untersucht werden, zumal die zu erwartenden Ergebnisse aufgrund der schwierigen Quellenlage recht spekulativ bleiben müssten: Gerade die Dokumente, die Goethe für die Redaktion des Zweiten Teils der Italienischen Reise (sowie dann auch für den „Zweiten Römischen Aufenthalt“) zur Verfügung standen – vor allem seine Korrespondenz und Tagebuchaufzeichnungen – hat er nach Abschluss der Arbeit fast vollständig vernichtet. So lässt sich auch nicht nachweisen, ob sich die Werther-Episode mit dem Malteser in Palermo historisch überhaupt so oder ähnlich zugetragen hat, was für die Interpretation des 1817 (30 Jahre nach der historischen Reise!) veröffentlichten Texts als Werk des s p ä t e n Goethe ohnehin nicht von Belang ist.
storben’.52 Wenn man ihn zudem nur noch als den „Verfasser des Werthers“ in Erinnerung hat, als denjenigen, der als der „jung[e]“ Sturm-und-Drang-Dichter im Gespann mit dem ebenso jugendlichen und „lebhaft[en]“ Herzog am Weimarer Hof für Furore sorgte, dann errichtet man ihm ein gedankliches Monument, mit dem er ebenso wenig einverstanden ist wie mit dem materiellen, das in Frankfurt vom Kreis um Boisserée geplant wurde, weil es ihm einen Platz in der (Literatur-)Geschichte zuweist, den er nicht einnehmen möchte. Entsprechend deutlich fällt gegenüber dem palermitanischen Malteser die Zurechtweisung aus. Das erzählte Ich gibt sich selbst als der Verfasser des Werthers zu erkennen, was sein Gegenüber offensichtlich kaum für möglich hält: „Mit dem sichtbarsten Zeichen des Erstaunens fuhr er [i.e. der Malteser] zurück und rief aus: da muß sich viel verändert haben! O ja! versetzte ich, zwischen Weimar und Palermo hab’ ich manche Veränderung gehabt.“ (ebd.). Goethe selbst, seine Persönlichkeit wie seine kunst- und literaturtheoretischen Überzeugungen haben sich gerade während und durch die Reise verändert und seines Erachtens im positiven Sinne weiterentwickelt, ihn nämlich auf eine höhere Stufe seiner Entwicklung, in eine andere ‚Epoche’ gehoben – bekanntermaßen inszeniert das erzählende Ich seine Reise nach Italien in der autobiographischen Rückschau als „Wiedergeburt“, die nicht nur ihm selbst, sondern durch ihn auch der deutschen Literatur zum ‚Durchbruch’ zur Klassik verholfen habe. Vor diesem Hintergrund markiert die Werther-Episode in Palermo in zweierlei Hinsicht eine Schlüsselstelle der Italienischen Reise – sie steht an exponierter Stelle des Textes, im Bericht über den Aufenthalt auf Sizilien als dem am weitesten von Weimar entfernten Punkt der Reise, der zugleich das Ziel und die Wendestelle des Unternehmens markiert. Die Entwicklung, die das erzählte Ich seit der Veröffentlichung des Werthers durchlaufen hat, besonders dann die Erfahrungen „zwischen Weimar und Palermo“ haben es so verändert, dass es nicht nur für es selbst, sondern auch für Außenstehende ein ganz anderer Mensch geworden ist. Der Malteser, der nach der kurzen Unterhaltung mit dem Fremden kaum mehr als einen ersten Eindruck von dessen Person gewonnen haben kann, hat von dem Verfasser des Werthers ein Bild, das keinesfalls auf diesen deutschen Reisenden passt, und das erzählte Ich bestätigt ihm, dass er sich auch selbst kaum mehr Gemeinsamkeiten mit dem Verfasser des Werthers zuschreibt. Die direkt vor der ‚Flucht’ nach Italien abgeschlossene Neu_____________ 52
Vgl. die entsprechende Formulierung im bereits zitierten Brief: FA II/7, S.86: Brief an Carl Friedrich von Reinhard, 13. 08. 1812.
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fassung des Romans sollte dem Publikum 1787 ein unmissverständliches Signal geben, dass der Autor diesen Roman inzwischen so längst nicht mehr schreiben würde; mit der autobiographischen Ausgestaltung der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit verfolgt Goethe 30 Jahre später u.a. noch deutlicher die Intention, schon von seiner italienischen Existenz ein Bild zu entwerfen, mit dem er sich von dem Dichter des Werthers deutlich distanzieren will. Wie eine Abrechnung – sowohl mit dem eigenen Lebensabschnitt, in dem der Werther verfasst wurde, als auch mit dem Echo, das der Roman vom Publikum erfahren hat – liest sich dann die Darstellung der Werther-Epoche im Dreizehnten Buch von Dichtung und Wahrheit. Hier nutzt der späte Goethe die Möglichkeit, vor einem breiten Lesepublikum seine Alterssicht auf den Roman zu präsentieren, der ihn berühmt gemacht hat. Aus dem Abstand von vierzig Jahren kommentiert und interpretiert er seinen eigenen Text, kritisiert die Rezeption des Publikums und versucht den Werther als das auszuweisen, als was er ihn von Gegenwart und Nachwelt gesehen wissen will: gerade nicht als das größte und bedeutendste Werk seiner Schriftstellerkarriere, sondern als eine längst überwundene und inzwischen durchaus kritisch zu beurteilende Zwischenstufe, die er auf dem Weg zu einem höheren und wertvolleren Ziel – nämlich der Ausbildung und Umsetzung des k l a s s i s c h e n Kunst- und Literaturprogramms – durchlaufen habe. Deutlich wird diese Darstellungsabsicht bereits im Zwölften Buch von Dichtung und Wahrheit, in welchem es zunächst nur um Goethes Aufenthalt in Wetzlar und die dortige Bekanntschaft mit Charlotte Buff geht. Schon hier wird eine programmatisch zu lesende Zwischenbemerkung eingeschaltet, die sich unmissverständlich an das Publikum richtet und als Antwort auf den fiktiven Brief des Freundes im Vorwort zu lesen ist: Erst jetzt werde dem „Verfasser“ „bei der Arbeit leicht ums Herz: denn von nun an wird dieses Buch erst was es eigentlich sein soll“. Schließlich sei es ja bestimmt dazu, „die Lücken eines Autorlebens auszufüllen, manches Bruchstück zu ergänzen“ (DuW III, S.589). Entscheidend ist jedoch die Einschränkung, die im Folgenden – und nun explizit bezogen auf den Werther – formuliert wird: „Was aber schon getan ist, soll und kann nicht wiederholt werden; auch würde der Dichter jetzt die verdüsterten Seelenkräfte vergebens aufrufen, umsonst von ihnen fordern, daß sie jene lieblichen Verhältnisse wieder vergegenwärtigen möchten […]“ (ebd.). Goethe hat sich so weit von dem Dichter des Werthers entfernt, dass es seinem erzählenden Ich kaum mehr möglich ist, sich in diese überwundene ‚Epoche’ seines Lebens hineinzuversetzen – gerade von der psychischen Disposition, den „verdüsterten Seelenkräften“, mit denen die Entstehung des Romans in 136
Verbindung gebracht und sogleich in ein negatives Licht gerückt wird, distanziert es sich explizit. Dennoch – oder gerade deswegen? – habe es „von den darin [i.e. im Roman] aufgeführten Personen […], so wie von den dargestellten Gesinnungen, […] nach und nach einiges zu eröffnen“ (ebd.) – präsentiert wird von dem späten Goethe also eine neue, die Ereignisse relativierende oder womöglich anders bewertende Sicht auf die eigene Werther-Vergangenheit. Auffällig ist, dass bei diesen ‚Eröffnungen’ im Dreizehnten Buch dann sowohl die eigene seelische Verfassung, in deren Kontext die Entstehung des Romans situiert wird, als auch die „allgemein[e]“, besonders in der jungen Generation verbreitete „Gesinnung“ (DuW III, S.634) der Zeit, die überhaupt erst die Voraussetzung für den phänomenalen Erfolg des Werkes geschaffen habe, als ‚krank’ stigmatisiert werden.53 Die eigene ‚Genesung’ vollzieht sich dabei sehr viel schneller als diejenige der vielen anderen, bei denen der Werther auf fruchtbaren Boden fällt und erst das „Zündkraut[…]“ für eine gewaltige „Explosion“ (DuW III, S.641) bietet, die eine ganze Generation mit dem so genannten ‚Wertherfieber’ infiziert. Die Bedeutung, die der Werther für Goethes eigene Entwicklung hatte, und die Wirkung, die er auf das Publikum ausübte, werden vom erzählenden Ich als diametral entgegengesetzt ausgestaltet: Während sich das erzählte Ich gerade durch die Abfassung des Romans von all seinen „hypochondrische[n] Fratzen“ (DuW III, S.636) befreit habe, habe der Romanheld der „junge[n] Welt“, die „sich schon selbst untergraben hatte“, eine Projektionsfläche geboten „und die Erschütterung [war] deswegen so groß, weil ein Jeder mit seinen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam“ (DuW III, S.641). Das Bild, das von der Jugend im Deutschland der 1770er Jahre entworfen wird – und in das sich das erzählte Ich zunächst durchaus einschließt54 – zeigt eine Generation, die gefährlich erkrankt ist und sich in eine bedenkliche, ungesunde Richtung zu entwickeln droht: „düstere Betrachtungen“ verbreiteten sich „in den Gemütern deutscher Jünglinge“ (DuW III, S.630), ausführlich geschildert werden die _____________ 53
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Schon Klaus-Detlef Müller weist im Kommentar der Frankfurter Ausgabe entsprechend darauf hin, dass „[i]m autobiographischen Bericht […] Genese und Wirkung zusammen [hängen], indem sie ein Zeitproblem veranschaulichen“ (FA I/14, S.1221). Gerade an zentralen Stellen des Textes – z.B. bei der Schilderung der Begeisterung für die englische Literatur, die allen Lebensüberdruss noch befördert habe – wird in der 1. Person Plural gesprochen: „Damit aber ja allem diesem Trübsinn nicht ein vollkommen passendes Lokal abgehe, so hatte u n s Ossian bis ans letzte Thule gelockt, wo w i r denn […] einen schwer bewölkten Himmel über u n s erblickten“ (DuW III, S.633; Hervorhebungen durch Sperrung W.H.).
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Langeweile und Melancholie, die angesichts der „regelmäßige[n] Wiederkehr der äußeren Dinge“ (DuW III, S.628) – z.B. der Jahreszeiten –, ebenso aber der Liebe, die so ihren „höchste[n] Sinn“, nämlich den „Begriff des Ewigen und Unendlichen“ (DuW III, S.629) verliere, und schließlich der eigenen Fehler, deren Wiederholung „den fühlenden Jüngling am meisten ängstigt“ (DuW III, S.630), begegnen. Am Ende „tritt das größte Übel, die schwerste Krankheit ein, man betrachtet das Leben als eine ekelhafte Last“ (DuW III, S.629), „Symptome des Lebensüberdrusses, der nicht selten in den Selbstmord ausläuft, [waren...] bei denkenden in sich gekehrten Menschen häufiger […] als man glauben kann“ (DuW III, S.629). Die Ursachen für diese Krankheit werden in den „rückständigen und stockenden deutschen Lebensverhältnissen“55 gesehen, die die junge Generation keineswegs „zu bedeutenden Handlungen“ anregten und ihr die „einzige[…] Aussicht“ boten, sich „in einem schleppenden, geistlosen, bürgerlichen Leben hinhalten zu müssen“ (DuW III, S.634); befördert wird sie durch die Hinwendung und Beschäftigung mit der englischen Literatur, die den jungen Goethe seinerzeit ebenfalls fasziniert und seine literarische Entwicklung geprägt habe, über die der späte Goethe nun aber ein vernichtendes Urteil fällt. Zu Gegenpolen werden die Tendenzen der englischen Literatur und das aktuelle, (nach-) klassische Kunst- und Literaturideal des erzählenden Ichs ausgestaltet: Was im Text programmatisch von „wahre[r] Poesie“ gefordert wird – nämlich „durch eine glückliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmerz zu m ä ß i g e n “ (DuW III, S.631; Hervorhebung W.H.) – treffe auf die englische Literatur ganz und gar nicht zu, die im Gegenteil „nur einen düstern Überdruß des Lebens zeig[t…]“ (ebd.) und die schon von der Krankheit des Lebensüberdrusses befallene Jugend seinerzeit noch weiter zu melancholischen Betrachtungen angeregt habe. Namentlich Youngs Nachtgedanken, die Werke Miltons, Grays und Goldsmiths werden als „die menschliche Natur untergrabende[…] Gedichte“ (DuW III, S.633) und damit als schädigend, ja als wider-natürlich klassifiziert. Selbst von „unser[em] Vater und Lehrer Shakspeare“ (DuW III, S.633) seien schließlich nicht die Werke rezipiert worden, die durchaus „reine Heiterkeit […] verbreiten“ (ebd.), sondern die, die tief verzweifelte, melancholische Helden vorführten – und mit einem die gerade in der jungen Generation weit verbreitete zeitgenössische Leseweise deutlich ironisierenden Unterton wird vermerkt, dass damals „Jedermann glaubte, er dürfe eben so melancholisch sein, als der Prinz von Dänemark, _____________ 55
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FA I/14, S.1221.
ob er gleich keinen Geist gesehn und keinen königlichen Vater zu rächen hatte“ (ebd.) und zudem noch Ossian uns „bis ans letzte Thule gelockt“ hatte, „[d]amit aber ja allem diesem Trübsinn nicht ein vollkommen passendes Lokal abgehe“ (ebd.). Die Gefahren dieser literarischen Identifikationsangebote für die jugendlichen Leser werden unmissverständlich benannt, ironische Distanzierung und scharfe Kritik, vor allem die zahlreichen Formulierungen, die dem medizinischen Bereich entlehnt sind und auf eine pathologische Entwicklung – die „Krankheit zum Todte“56 – verweisen, zeigen in aller Deutlichkeit, dass der späte Goethe im autobiographischen Rückblick seine eigene Werther-Vergangenheit kaum noch positiv beurteilt und so sicher auch von seinem Publikum nicht als den Hochpunkt seiner (literarischen) Entwicklung erinnert wissen will. Tatsächlich gesteht das erzählende Ich zunächst ein, damals selbst von genau diesem „Ekel vor dem Leben“ (DuW III, S.628) angesteckt gewesen zu sein und alle Krankheitssymptome ebenfalls aufgewiesen zu haben – allerdings nicht ohne sogleich deutlich zu machen, was es jetzt von der Erwägung sich umzubringen hält: Sie wird im Abstand von vierzig Jahren als „Grille“ belächelt, „welche sich in jenen herrlichen Friedenszeiten bei einer müßigen Jugend eingeschlichen hatte“ (DuW III, S.636). Bezeichnend dabei ist, dass er Ursachen und Symptome der ‚Krankheit’ recht allgemein – weitgehend bezogen auf die gesamte Generation – schildert, auf seine persönliche Situation und Befindlichkeit dann aber vor allem eingeht, wenn es um die – im medizinischen Sinne als Wendepunkt im Krankheitsgeschehen zu verstehende – Krise bzw. genauer: um seine schließlich erfolgreichen Anstrengungen, die Krise zu überwinden, geht. Genau in dieser Hinsicht ragt das erzählte Ich nämlich aus der breiten Masse heraus. Bei der Grübelei über verschiedene Selbstmordarten erscheint ihm schließlich allein das Beispiel des römischen Kaisers Otto als nachahmungswürdiges Vorbild. Denn wenn man sich nicht zu einer solchen „Großheit und Freiheit des Geistes“ (DuW III, S.635) erheben und „sich einen scharfen Dolch mit eigner Hand in das Herz […]stoßen“ könne, so dürfe man „sich nicht erlauben […], freiwillig aus der Welt zu gehn“ (DuW III, S.636). Der wiederholt misslingende Versuch es Otto gleich zu tun, fungiert für das _____________ 56
So heißt es schon in Die Leiden des jungen Werthers [1774] selbst (FA 8, S.98), wenngleich durch Werthers Verteidigung des Selbstmords im Gespräch mit Albert – anders als in Dichtung und Wahrheit – von dem Helden des Romans (wohlbemerkt nicht von seinem Autor!) eine verständnis- und mitleidsvolle Perspektive auf diese „Krankheit“ und ihre Opfer entworfen wird.
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erzählte Ich als Anlass zur Selbsttherapie: Es vermag nicht einmal, sich „die scharfe Spitze ein paar Zoll tief in die Brust zu senken“ und „so lachte ich mich zuletzt selbst aus, warf alle hypochondrischen Fratzen hinweg, und beschloß zu leben“ (ebd.). Durch diese missglückte Anstrengung gelingt es dem erzählten Ich, sich selbst ‚von außen’ zu betrachten und sein Leiden aus kritisch-ironischer Distanz zu reflektieren: Wenn es soviel Mut und Überwindung nicht aufbringen kann, dann scheint es ihm wohl doch nicht ernst genug mit seinem Entschluss und sein Leiden am Leben nicht drückend genug zu sein. Um mit dieser ‚Epoche’ des „Ekels vor dem Leben“ jedoch endgültig abschließen, die Krankheit vollends kurieren zu können, bedarf es des „alte[n] Hausmittel[s]“ (DuW III, S.639) und genau diese therapeutische Bedeutung schreibt Goethe dem Werther für sein eigenes Leben zu. Den ästhetischen Wert des Romans, der ohne Plan oder Konzept in vier Wochen von Goethe „ziemlich unbewußt, einem Nachtwandler ähnlich“ (ebd.) geschrieben worden sei, auch seine Originalität – schließlich werden Tendenzen der englischen Poesie aufgegriffen und der Roman spiegele genau die Stimmung der Zeit wider – veranschlagt der späte Goethe dagegen offensichtlich gering, jedenfalls wird auf die literarischen Qualitäten des Werks an keiner Stelle eingegangen. Hervorgehoben werden vielmehr die entgegengesetzten Funktionen, die der Roman zum einen für Goethes eigene Entwicklung, zum anderen für seine Wirkung auf das Publikum zukomme. Auf der einen Seite sei die Abfassung des Werks, das d i e literarische Sensation des späten 18. Jahrhunderts war, für den 24jährigen Autor sehr heilsam gewesen, auf der anderen Seite habe es der Krankheit, die unter der jungen Generation bereits um sich gegriffen hatte, noch eine neue Projektionsfläche geboten und damit „höchst schädlich“ (DuW III, S.640) auf das Publikum gewirkt. Nach der Veröffentlichung ist die „Sache“ für das erzählte Ich „völlig abgetan“ (DuW III, S.641) – für es zählt allein das Ergebnis, durch das Schreiben habe es sich selbst (aus eigenem Entschluss und vermögens seiner eigenen Kraft!) „aus einem stürmischen Elemente gerettet“ (DuW III, S.639), es „mußte […] eine dichterische Aufgabe zur Ausführung bringen, wo alles was ich über diesen wichtigen Punkt [i.e. den Selbstmord] empfunden, gedacht und gewähnt, zur Sprache kommen sollte“ (DuW III, S.636). So habe es das Schreiben als „Generalbeichte“ (DuW III, S.639), als – die religiös-pietistische Konnotation der Formulierung macht dies deutlich – eine Befreiung von Sünden, die es (vom theologischen Standpunkt betrachtet schon durch die Erwägung des Selbstmords) auf sich geladen hatte, empfunden. Das Produkt 140
dieses für das erzählte Ich höchst heilsamen Prozesses sei nun aber vom Publikum in gefährlicher Weise und z.T. mit fatalen Folgen rezipiert worden. Als eine Schlüsselstelle des Dreizehnten Buchs, die sich nicht allein auf den Umgang der Leserschaft mit dem Werther, sondern vielmehr mit Literatur im Allgemeinem, vor allem aber, wie die leicht auf den Titel Dichtung und Wahrheit zu beziehenden Begriffe „Poesie“ und „Wirklichkeit“ nahe legen, sicher auch auf Goethes Autobiographie anspielt und damit selbstreferentiellen Charakter hat, ist folgende Formulierung zu lesen: Wie ich mich nun aber dadurch [i.e. durch die Abfassung des Werthers] erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls selbst erschießen; und was hier im Anfang unter wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen Publikum, und dieses Büchlein, was mir so viel genützt hatte, ward als höchst schädlich verrufen (DuW III, S.639f.).
Zum einen wird hier erneut versucht, rezeptionssteuernd zu wirken und das primär biographische Interesse des Publikums in Frage zu stellen, das dem fiktiven Vorwort-Brief zugrunde liegt und das immer nur wissen will, „was denn eigentlich an der Sache wahr sei“ (DuW III, S.644), anstatt den literarischen Wert des Romans zu beachten und zu schätzen. Dieser neugierigen Rezeptionshaltung wird nun in der autobiographischen Rückschau eine Absage erteilt, „denn was ich von meinem Leben und Leiden der Komposition zugewendet hatte, ließ sich nicht entziffern“ (ebd.), die „Wirklichkeit“ von der „Poesie“ nicht trennen.57 Vor allem aber wird Werther hier – noch deutlicher als in der Neufassung von 1786 – gerade nicht als Vorbild ausgegeben, dem der Leser nacheifern müsse, vielmehr wird genau diese Art der Rezeption – das später so genannte ‚Wertherfieber’ – als gefährlich und die psychische Disposition des Romanhelden und seine Konsequenzen als ‚krank’58 entlarvt. _____________ 57
58
Tatsächlich wird die plötzliche Berühmtheit, zu der das erzählte Ich durch die Veröffentlichung des Werthers gelangte und die mit „peinliche[n] Forschungen“ einher ging, die ihn „durch’s ganze Leben“ (DuW III, S.645) begleiteten, im Rückblick geradezu als ‚Strafe’ ausgewiesen: Zwar gesteht das erzählende Ich noch ein, dass es „dem jungen Autor“ keineswegs missfallen habe, „als ein literarisches Meteor angestaunt zu werden“ (DuW III, S.647), aber es schreibt dem „zerstreuenden Zudrang“ (DuW III, S.646) durch das neugierige Publikum doch vor allem das zweifelhafte Verdienst zu, das erzählte Ich von einer geregelten Tätigkeit abgelenkt, ja „irre gemacht“ (DuW III, S.646) und seiner Entwicklung so geschadet zu haben. Zu Goethes Gebrauch des Begriffs ‚krank’, der meist im dualen Gegensatz ‚krank’ versus ‚gesund’ begegnet, als ein Abkommen vom richtigen, ‚gesunden’ Weg verstanden und in den letzten Lebensjahrzehnten häufig auf gesellschaftliche und kulturelle Ent-
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Der späte Goethe will daher keineswegs als der Dichter des Werthers, der mit seinem Roman eine literarische Sensation hervorgebracht hat, von Gegenwart und Nachwelt geehrt und erinnert werden, denn gerade ästhetische Gestaltung und Originalität des Werkes werden eher geschmälert als etwa besonders herausgestellt. Wenn er dagegen überhaupt mit seinem Erstlingsroman identifiziert werden möchte, dann dafür, dass er sich durch die Abfassung dieses Romans von der im autobiographischen Rückblick deutlich als ‚krank’ kritisierten Geisteshaltung befreit habe. Als gesund und heilsam wird signifikanterweise das ‚Tätigkeitsprogramm’ des späten Goethe schon auf das erzählte Ich projiziert: Nicht Melancholie und Trübsinn, ständig nur nach innen, auf das eigene Leben und Leiden gerichtete Beschäftigung, sondern „Heiterkeit“ (DuW III, S.633), ein aktives Leben, das für die Umwelt „bedeutende[…] Handlungen“ (DuW III, S.634) hervorbringt – das ist das Rezept, das der autobiographischen Darstellung zufolge schon den 24jährigen Goethe geheilt habe und das dann noch deutlicher als ‚Lebensdevise’ des erzählten Ichs in den Texten präsentiert wird, die späteren ‚Epochen’ gewidmet sind. Weniger für den Roman selbst und den Lebensabschnitt, in dessen Kontext dieser angesiedelt ist, errichtet er sich in seinen Autobiographischen Schriften ein literarisches „Denkmal“, sondern vielmehr für das Rezept, das ihm geholfen habe, diese ‚Krankheit’ schließlich zu überwinden. Eine zentrale Rolle bei all seinen (literarischen) Bemühungen nimmt daher der Versuch ein, seine eigene Person gerade als ‚Anti-Werther’ in die Geschichte einzuschreiben, die sich genau durch solche Charakterdispositionen und Verhaltensweisen auszeichnet, die denjenigen des Romanhelden geradezu diametral entgegengesetzt sind: Im Gedächtnis von Gegenwart und Nachwelt behalten werden will Goethe als der k l a s s i s c h e Autor, der vielseitig interessiert im Austausch mit zahlreichen bedeutenden Zeitgenossen steht, Anteil nimmt an dem, was in seiner näheren Umgebung wie in Literatur, Wissenschaft und Gesellschaft passiert und vor allem beständig ‚tätig’ und bestrebt ist, „durch eine ernste, treue, redliche Wirkung nach außen, die sowohl meinem Vaterland als dem Auslande zu Gute käme“ (DbGgw, S.374), nützlich und in der Geschichte wichtig – d. h. erinnernswert – zu sein. Das „Denkmal“, das Goethe sich selbst setzen möchte, statuiert deswegen konsequent gerade diese – von Goethe selbst als die ‚gesunde’ ausgewiesene – spätere Entwicklungsstufe seines Lebens, nicht die längst überwundene ‚kranke’ Werther-Epoche. _____________ wicklungen bezogen wird, die dabei scharf kritisiert werden, vgl. die Ausführungen in Kap. 2.1.
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3.2
Das erzählte Ich als ein „neuer Kolumbus“ – ein ‚Genie’ weist der (Literatur-)Geschichte seiner ‚Epoche’ neue Wege
3.2.1
Die Darstellung eines „tüchtige[n]“ „Menschen in seinen Zeitverhältnissen“ – Winkelmann und sein Jahrhundert
Schon in Goethes frühen Dramen manifestiert sich ein spezifisches historisches Interesse, das besonders die aus ihrer Epoche herausragenden Individuen in den Blick nimmt – Gestalten, die sich wie Götz und Egmont im Konflikt mit ihrer Zeit befinden, sich gegen politische und gesellschaftliche Zwänge auflehnen und diesen Kampf gegen die Geschichte nur verlieren können. Auf dem Feld der als ‚inkalkulabel’, als zerstörerisch und die individuelle Entwicklung gerade von etwa besonders ‚fortschrittlich’ denkenden Persönlichkeiten hemmend erlebten Politik- und Gesellschaftsgeschichte werden die Wirkungsmöglichkeiten des Einzelnen als sehr gering eingeschätzt, er ist gegenüber dem unabänderlichen Lauf der Geschichte machtlos.59 Auf einem anderen Gebiet dagegen schätzt Goethe die Möglichkeiten des Einzelnen auf die Geschichte einzuwirken und die Entwicklung der Menschheit voranzubringen weit höher ein: auf dem Gebiet der Kulturgeschichte (verstanden im umfassenden Sinne als Kunst-, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte), in dem er schließlich seine eigenen Leistungen für die Zeitgenossen und die Nachwelt als besonders bedeutsam und erinnernswert ausgibt. Seine Autobiographischen Schriften zeigen daher auch, inwiefern er das erzählte Ich nicht nur als ‚Spiegel’ ausgestaltet, das in seiner persönlichen Entwicklung exemplarisch zentrale und für die eigene ‚Epoche’ typische Phänomene auffängt und reflektiert, sondern darüber hinaus gerade als ‚Motor’ für die kulturgeschichtliche Entwicklung der Menschheit fungiert. Kulturgeschichtliche Phänomene und biographische Geschichte sind daher womöglich mehr als bisher in der Goethe-Forschung in einem engen Zusammenhang zu sehen,60 da sie Goethe vor allem in ihrem Zusammenspiel zum einen _____________ 59
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Vgl. dazu ausführlicher – gerade auch im Hinblick auf die Frage, inwiefern Goethes Einschätzung an den Geschichtsdiskurs seiner Zeit angebunden ist – die grundlegenden Überlegungen im methodisch-theoretischen Teil dieser Arbeit, hier besonders Kap. 2.1. Mir ist bislang keine Arbeit bekannt, die den Zusammenhang zwischen diesen beiden ‚Zugängen‘, die Goethe einen Weg zu historischer Erkenntnis vermitteln – Kulturgeschichte auf der einen, biographische Geschichte auf der anderen Seite –, gezielt untersuchte.
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überhaupt erst einen Zugang zu intensiverer historischer Betrachtung eröffnen, zum anderen sogar auch zu einer womöglich positiveren Sicht auf die Möglichkeit historischen Fortschritts führen. Bevor Goethe mit seinem Autobiographieprojekt begann, war er zunächst mit biographischen Arbeiten beschäftigt. Diese in der Goethe-Philologie vergleichsweise wenig, von einem breiteren Lesepublikum kaum überhaupt beachteten Texte – Das Leben des Benvenuto Cellini (1803), Winkelmann und sein Jahrhundert61 (1805), die Anmerkungen zur Übersetzung von Denis Diderots Rameaus Neffe (1805) sowie Philipp Hackert (1811) – rücken jeweils solche aus dem Kontext ihrer ‚Epoche’ herausgehobenen Persönlichkeiten in den Vordergrund, die Goethe zufolge aufgrund ihrer kulturellen Leistungen und Verdienste von der Nachwelt in Erinnerung behalten werden sollten. Die bekannte These, dass Goethes Autobiographische Schriften aus seinen biographischen Arbeiten hervorgegangen seien,62 lässt sich insofern spezifizieren, als die Verbindung zwischen diesen beiden Textgattungen, die vor allem die Intention wie die Gestaltung der Texte betrifft, noch genauer aufzuzeigen ist, als dies bislang von der Forschung geleistet wurde. Interessant gerade im Hinblick auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Goethes Geschichtsdenken und seinem Autobiographiekonzept ist nicht zuletzt eine Überzeugung, die sich schon in Goethes biographischen Arbeiten nachweisen lässt: dass nämlich herausragende Individuen zwar sehr von ihrer ‚Epoche’ geprägt, zum Teil auch in ihrer persönlichen Entwicklung gehemmt werden, schließlich aber als ‚Motor’ fungieren und die Geschichte voranbringen können – wohlbemerkt wegen ihrer Leistungen auf dem Feld der K u l t u r geschichte. Als solche werden Cellini, Winckelmann, Diderot und Hackert jeweils mit einem besonderen Fokus auf ihren Leistungen in ihrer und für ihre Epoche geschildert und eben für ihr Wirken in Goethes Text geehrt. Die gleiche Aussageabsicht – das erzählte Ich als eine Ausnahmegestalt darzustellen, die ‚Epoche gemacht’ hat – spielt schließlich bei der litera_____________ 61
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Die Frankfurter Ausgabe, nach der der Text in dieser Arbeit zitiert wird, schreibt Winckelmanns Namen dem Erstdruck von 1805 folgend ohne ‚c’ als „Winkelmann“. „Auch die Winckelmann-Studie erwies sich als neue und entscheidende Etappe Goethes auf dem Wege zur Selbstdarstellung“, formuliert z.B. Hans Mayer (Hans Mayer, Goethe. Ein Versuch über den Erfolg, Frankfurt a.M. 1973 (Bibliothek Suhrkamp, Bd. 367), S.119) und zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Angelika Jacobs: „Aus diesem Studium [von Leben und Werk Winckelmanns] entwickelt sich das Konzept der ‚Wechselwirkung von Individuum und Jahrhundert’, mit dem Goethe nach der Winckelmannschrift in Dichtung und Wahrheit die erste historische Autobiographie-Konzeption begründet“ (Angelika Jacobs, Empfindliches Gleichgewicht. Zum Antike-Bild in Goethes „Winckelmann und sein Jahrhundert“. In: GJb 123 (2006), S.100–114, hier S.104).
rischen Ausgestaltung der eigenen Lebensleistungen in den Autobiographischen Schriften eine zentrale Rolle. Sehr deutlich wird dieser Ansatz, das Individuum in seinem zeitlichen Kontext darzustellen, um gerade seine Ausnahmestellung herauszuarbeiten, in dem von Goethe 1805 als gemeinsame Manifestation der ‚Weimarischen Kunstfreunde’ herausgegebenen Sammelband Winkelmann und sein Jahrhundert – bei dieser Schrift streichen schon der Titel und schließlich auch die Konzeption als Sammelband den engen Zusammenhang zwischen dem Schriftsteller, Kunstwissenschaftler und Altertumsforscher und seinem „Jahrhundert“ heraus, der Goethe wichtig ist. Er scheint für eine exemplarische Interpretation eines Textes von Goethes biographischen Arbeiten in dieser Arbeit deswegen besonders geeignet, weil er – und das hebt ihn gegenüber Benvenuto Cellini, Diderots Versuch über die Malerei und Philipp Hackert ab – eine historische Persönlichkeit in den Blick nimmt, die Goethe zeitlich nahe steht sowie im Hinblick auf dessen eigene kunsttheoretische Positionen eine zentrale Bedeutung besitzt und eine gewisse Vorbildfunktion nicht nur für Goethe selbst, sondern auch für eine ganze ‚Epoche’ einnimmt:63 Mit Winckelmanns „Jahrhundert“ fokussiert Goethe bereits sein eigenes ‚saeculum’.64 Außerdem lassen sich die Winckelmann-Skizzen als kunsttheoretische Programmschrift lesen, die (hierin Goethes Autobiographischen Schriften ähnlich) mit einer entschiedenen Propagierung klassischer Ideale post festum versucht, die Position ihres Autors im literarischen Feld gegenüber der aufstrebenden romantischen Avantgarde zu verteidigen: Die Auseinandersetzung mit Geschichte beschränkt sich somit nicht allein auf ‚Vergangenes’, sondern reklamiert eine Bedeutung für die Gegenwart.65 In dem Sammelband sind als erstes 27 Briefe Winckelmanns abgedruckt, die dieser zwischen 1752 und 1767 an seinen Freund Hierony_____________ 63 64
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Vgl. dazu entsprechend Mayer, Goethe, S.119. Goethes Verständnis und Gebrauch des Begriffs ‚Jahrhundert’ ist noch die Bedeutung des lateinischen ‚saeculum’ impliziert, die wiederum dem Goetheschen Epochenbegriff recht nah ist. Herbert von Einem formuliert in diesem Zusammenhang im Kommentar der Hamburger Ausgabe: „Indem Winckelmann (unser Winckelmann) als Zeuge der eigenen klassischen Kunstrichtung aufgerufen wird, wird das Denkmal zugleich Bekenntnisschrift“ (HA 12, S.610). Auch Philipp Mehne betont in diesem Sinne, dass die Winckelmann-Schrift keineswegs als „Abgesang“ zu verstehen sei, sondern dass Winckelmann hier zwar als „historische Figur“ präsentiert, gleichwohl aber „in einem bestimmten Sinn als Vorbild“ empfohlen wird, dessen Ideale für die ‚Weimarischen Kunstfreunde’ nach wie vor Gültigkeit haben (Philipp Mehne, Bildung versus Self-Reliance? Selbstkultur bei Goethe und Emerson, Würzburg 2008 (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 605), S.75).
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mus Dieterich Berendis66 geschrieben hat; es schließen sich der „Entwurf einer Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts“ und die dazu gehörige „Bemerkung eines Freundes“ an, die von Johann Heinrich Meyer verfasst sind, mit dem Goethe in dieser Zeit eng zusammenarbeitete sowie zahlreiche Schriften gemeinsam herausgab und der ihm besonders bei kunsthistorischen oder -theoretischen Fragestellungen behilflich war. Der dritte Abschnitt des Werkes enthält die zum überwiegenden Teil von Goethe selbst stammenden „Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns“, die von dem Winckelmann als Kunsthistoriker gewidmeten Beitrag Meyers und dem Beitrag des Hallenser Altphilologens Friedrich August Wolf über Winckelmanns Leistungen als Philologe ergänzt werden. Es folgt zum Schluss ein 425 Titel umfassendes „Verzeichnis sämtlicher Winckelmannischen Briefe in chronologischer Ordnung“. Diesem höchst heterogene Teile umfassenden Sammelband stellt der Herausgeber Goethe eine „Vorrede“ voran, die programmatisch formuliert, was Anlage und Struktur des Werkes in seiner Gesamtheit als auch einzelne Texte widerspiegeln: Die ‚lockere’ Form steht zum Teil schon antizipatorisch für Schreibverfahren, die Goethe später bei einzelnen autobiographischen Texten anwendet – erinnert sei hier etwa nur an den „Zweiten Römischen Aufenthalt“, den dritten Teil der Italienischen Reise. Ganz ähnlich wie hier handelt es sich nämlich bei der Winckelmann-Schrift keineswegs um ein zusammenhängendes und in sich abgeschlossenes Werk nur eines Verfassers, das sich etwa ‚nur’ auf eine ausschließlich auf die Person Winckelmanns konzentrierte Darstellung beschränkte, sondern „das Sammelwerk [wird] als gemeinsame Manifestation der ‚Weimarischen Kunstfreunde’ herausgestellt und [es wird] auf den kunst- und kulturpolitischen Zusammenhang hingewiesen, in dem das Werk steht.“67 An Arbeit und Wirken der ‚Weimarischen Kunstfreunde’ in den vergangenen Jahren wird „mit einem heitern Bewußtsein“68 erinnert: „an die Propyläen, an die nunmehr schon sechs Ausstellungen kommentierenden Programme, an manche Äußerungen in der Jenaischen Literaturzeitung, an die Bearbeitung der Celli_____________ 66
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Berendis war als Sekretär der Herzoginmutter Anna Amalia tätig, er starb 1783 in Weimar. Die Briefe, die er von Winckelmann erhalten hatte, gingen nach seinem Tod in den Besitz Anna Amalias über, die sie 1799 an Goethe weitergab (vgl. den Kommentar in FA 19, S.762). Wilhelm Voßkamp, Artikel ‚Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns’. In: GHb 3, S.612–619, hier S.612. FA 19, S.12. Auch im Folgenden wird Winkelmann und sein Jahrhundert nach der Frankfurter Ausgabe zitiert; Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle Winkelmann nachgewiesen.
nischen Lebensbeschreibung“ (Winkelmann, S.12). All diese Texte und nicht zuletzt die Winckelmann-Schrift, die sich „[u]nmittelbar […] an die übrigen Arbeiten an[schließt]“ (Winkelmann, S.12), seien „aus eben demselben Geiste hervorgegangen“ und damit Zeugnis eines „immer […] gleiche[n…] Sinn[s]“ und der „gleichen wohlerprobten Grundsätze[…]“ (Winkelmann, S.11f.). Eben diese kunsttheoretischen Überzeugungen haben in der Vergangenheit durchaus „auf das Ganze gewirkt, wie uns zwar langsam, aber doch erfreulich genug, nach und nach bekannt geworden“ und zur „in Deutschland immer allgemeiner werdende[n] höhere[n] Bildung“ (Winkelmann, S.12) beigetragen, also durch eine kontinuierliche ‚Wirkung nach außen’ einen in Goethes Sicht ‚typischen’ Erkenntnisprozess initiiert – im ‚klassischen’ Jahrzehnt, in dem sich Schiller und Goethe am dominanten Pol des literarischen Feldes befanden und dessen Literatur- und Kunstideal inzwischen langsam an Bedeutung verlor. Goethe und die ‚Weimarischen Kunstfreunde’ sahen sich dadurch in ihrer ehemals unangefochtenen Stellung bedroht – nun erst recht nach Schillers Tod. Genau diese Umbruchsituation, in der sich die Machtstrukturen des literarischen Feldes grundlegend zu verschieben beginnen, benennt Goethe in seinem Vorwort: Noch sei die Position der Weimarer Klassiker zwar nicht ernstlich gefährdet, „so daß wir eines mannigfaltig erfahrnen Undanks, eines lauten und schweigenden Gegenwirkens wohl kaum gedenken sollten“ (Winkelmann, S.12), die aufziehende Gefahr noch zu vernachlässigen sei, dennoch aber – wenn der „Undank“ schon „mannigfaltig“ sei, sich das „Gegenwirken[…]“ zum Teil schon „laut[…]“ vollziehe – sieht sich Goethe herausgefordert, sein Kunst- und Literaturideal gegen die neu aufstrebenden frühromantischen Positionen zu verteidigen. Entscheidend dabei ist, dass Winckelmann – ähnlich wie dem erzählten Ich in Goethes Autobiographischen Schriften – dabei nicht nur um seiner selbst willen bzw. aufgrund seiner herausragenden Leistungen in der Vergangenheit mit dem Sammelband geehrt werden soll, weil es nötig und wichtig sei, „das Andenken solcher Männer, deren Geist uns unerschöpfliche Stiftungen bereitet, auch von Zeit zu Zeit wieder zu feiern und ihnen ein wohlgemeintes Opfer darzubringen“ (Winkelmann, S.16). Vielmehr wird diese – mit dem Opfer-Begriff fast religiössakrale Dimensionen evozierende – Würdigung Winckelmanns von den „gleichdenkende[n] Freunde[n]“ (Winkelmann, S.16f.) dazu genutzt, um damit ein durch den Bezug auf Winckelmann und die demonstrierte Übereinstimmung mit dessen Positionen ein autorisiertes „Zeugnis ihrer [eigenen] Gesinnungen“ (Winkelmann, S.17) darzubringen, und diese Absicht wird auch offen als ‚Programm’ der Gemeinschaftsarbeit der ‚Weimarischen Kunstfreunde’ ausgewiesen. 147
Ferner gibt der Herausgeber Goethe einen kurzen Überblick über die einzelnen Teile des Sammelbandes. Im Abschnitt, der in Meyers „Entwurf einer Geschichte der Kunst des achtzehnten Jahrhunderts“ einführt, wird das angewandte Verfahren begründet, den „Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen“, das schließlich – sechs Jahre später – im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit als „Hauptaufgabe der Biographie“ (DuW I, S.13) ausgewiesen wird. Entsprechend werden hier Aspekte angesprochen, die auch bei der Konzeption von Goethes autobiographischen Arbeiten eine zentrale Rolle spielen. Grundsätzlich sei „[f]ür den Künstler, wie für den Menschen, […] eine geschichtliche Ansicht verwandter Zustände zu schnellerer Bildung höchst vorteilhaft“ (Winkelmann, S.12), indem sie ihm – und zwar ganz besonders dem „tüchtige[n]“ Menschen, dem herausgehobenen Individuum, das sich besonders leicht „früher viel zu bedeutend vor[kommt]“ (Winkelmann, S.12) – durch die Auseinandersetzung mit den „Irrtümer[n] unserer Vorfahren“ (Winkelmann, S.13) zu der Erkenntnis auch der eigenen „Einseitigkeit“ und des eigenen „Irrtum[s]“ (Winkelmann, S.12) verhelfe. Tatsächlich sei die Bildung gerade eines Künstlers, der hier von der Masse der ‚gewöhnlichen’ Menschen als besonders begabtes Individuum abgehoben wird, nämlich leider oft gerade nicht „stetig“ – wenngleich er dann oft „spät […] seine Geschichte gewahr [wird] und […] einsehen [lernt], wie viel weiter ihn eine stetige Bildung nach einem geprüften Leitfaden hätte führen können“ (Winkelmann, S.13) –, sondern vielmehr gekennzeichnet von viel zu schnellem und heftigem Kurswechsel und einer mitunter unreflektierten Parteinahme „für diese oder jene Maxime“ (Winkelmann, S.12).69 Meyers Darstellung der Kunst des achtzehnten Jahrhunderts dient daher nicht nur dazu, dem Leser die Leistungen Winckelmanns in ihrem historischen Kontext vorzustellen und seine Verdienste vor diesem Hintergrund angemessener beurteilen zu können, sondern im doppelten Sinne dazu, dass sich der Leser „selbst auf seinem Standpunkt, in seiner Beschränkung gleichnisweise gewahr werde[…]“ (Winkelmann, S.13); ihr kommt also implizit eine didaktische Funktion zu. Durch die Irrtümer und die „fehlerhaft[… eingeschlagenen] Richtung[en]“ (Winkelmann, S.13) sowohl der gesamten (Kunst-)Geschichte des eben ver_____________ 69
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All dies sind Formulierungen und Vorstellungen, die sich – bis zu den auf das Bild der ‚Lebensreise’ anspielenden Metaphern – nicht nur auf Winckelmann, sondern zumindest dezidiert auch noch auf einen weiteren Künstler beziehen lassen: nämlich auf Goethe selbst. Dieser Charakterisierung Winckelmanns kommt daher auch eine selbstbespiegelnde Funktion zu, die antizipatorisch auf das Ich der Autobiographischen Schriften verweist.
gangenen Jahrhunderts, von denen einige Entwicklungen in der Darstellung Meyers und konform mit den Überzeugungen der ‚Weimarischen Kunstfreunde’ rückblickend als ‚falsch’ ausgewiesen werden, als auch durch diejenigen, die ein herausragendes und für die Entwicklung der Kunst bedeutendes Individuum während seines Lebens durchlaufen habe. Entscheidend für den Umgang mit Geschichte – gerade mit der eigenen Geschichte – sei entsprechend eine kritische und reflektierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die bereit sei, eigene ‚Fehler’ einzugestehen und gegebenenfalls zu korrigieren. Schon Ludwig Uhlig weist in seinem Aufsatz auf eine Auffälligkeit von Goethes Winckelmann-Schilderung im dritten Teil des Sammelbandes hin: Winckelmanns einzelnen Werken wird keineswegs – weder quantitativ noch qualitativ – die gleiche Beachtung zuteil, sodass etwa alle seine Schriften gleichermaßen geschätzt werden.70 Vor dem Hintergrund der Winckelmann-Rezeption des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die mit Winckelmann vor allem anderen die heute noch „zum Schlagwort reduzierte und aus dem Zusammenhang gerissene“71 Formel der ‚edlen Einfalt und stillen Größe’ verbindet und ihn zu einem der entscheidenden Anreger des Klassizismus werden ließ, verwundert, dass die Gedanken über die Nachahmung verhältnismäßig beiläufig erwähnt und dazu sogar noch mit zum Teil deutlich abwertenden Urteilen belegt werden: „barock und wunderlich“ (Winkelmann, S.188) sei die Schrift und der „Zugang zu ihr versperrt durch die – in Wirklichkeit doch nur peripheren – Anspielungen auf die damalige Dresdner Kunstwelt“.72 _____________ 70
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Vgl. Uhlig Ludwig, Klassik und Geschichtsbewußtsein in Goethes WinckelmannSchrift. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 62 (1981), S.143–155, zum oben genannten Aspekt besonders S.147f. Thomas W. Gaehtgens, Zur Einführung. In: Johann Joachim Winckelmann. 1717–1768, hg. von Thomas W. Gaehtgens, Hamburg 1986, S.1–9 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 7), hier S.4. Uhlig, Klassik und Geschichtsbewußtsein, S.147. Vgl. entsprechend auch noch Goethes Urteil im Achten Buch von Dichtung und Wahrheit; hier werden Winckelmanns „Schriften“, die das erzählte Ich unter der Anleitung seines Leipziger Mentors Oeser studiert, als „merkwürdig[…]“ und „rätselhaft[…]“, ja als „sybillinische[…] Blätter“ bezeichnet (DuW II, S.358). Anzumerken bleibt hier, dass die Fixierung auf Dresden zwar dem direkten Zugang zu Winckelmanns Schrift eher hinderlich sein mag, dass sie aber in Dichtung und Wahrheit zumindest in zweierlei Hinsicht wichtig ist: zum einen, weil auch hier wieder das für Goethes (auto)biographische Arbeiten zentrale Darstellungsprinzip eine Rolle spielt, Ereignisse und Entwicklungen in ihren ‚Zeitverhältnissen’ zu betrachten – und insofern sind die Informationen zur Dresdner Kunstwelt wichtig, um die Entstehung der Gedanken über die Nachahmung historisch zu kontextualisieren –, zum anderen übernimmt Dresden als fürstliche Residenzstadt als ‚Gegenpol’ zur Universitäts- und Handelsstadt Leipzig, dem Epochenzentrum der Aufklärung, auch symbolische Funktionen.
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Nach den programmatischen Überlegungen zur Bildung, zur Weiterentwicklung des Individuums gerade durch die Korrektur früherer Irrtümer leuchtet dies jedoch unmittelbar ein. Winckelmann habe nämlich die Gedanken über die Nachahmung „gar bald selbst unzulänglich“ (Winkelmann, S.188) gefunden und selbst noch sein in Rom kurz vor seinem Tode verfasster „Trattato preliminare“ der Monumenti antichi inediti habe die Absicht verfolgt, die von ihm in der Kunstgeschichte einmal aufgestellte Methode auch hier an Gegenständen, die er dem Leser vor Augen legt, zu prüfen, da denn zuletzt der glückliche Vorsatz sich entwickelte, in der vorausgeschickten Abhandlung das Werk über die Kunstgeschichte, das ihm schon im Rücken lag, stillschweigend zu verbessern, zu reinigen, zusammenzudrängen und vielleicht sogar teilweise aufzuheben (Winkelmann, S.204).
Es kann hier nur angedeutet bleiben, worin im Einzelnen die Unterschiede zwischen den Gedanken über die Nachahmung und der Geschichte der Kunst des Altertums bzw. die ‚Revision’ oder ‚Korrektur’ der in der ersten Schrift formulierten Gedanken und Positionen liegen. Im Grunde hatte Winckelmann in den Gedanken mit einem – angesichts der gleichzeitig deklarierten Einzigartigkeit der griechischen Kunst paradoxen – Aufruf zur Nachahmung der Griechen begonnen. Bei der später in der Geschichte der Kunst des Altertums angewandten Methode einer historischen Kunstbetrachtung erfährt er dann, „daß sich in der Nachahmung klassischer Vorbilder nur epigonale Unfruchtbarkeit und beginnender Niedergang der Kunst äußern […]. Die Hoffnung auf Wiederherstellung der griechischen Kultur wandelt sich in einen trauernden Rückblick.“73 An dieser Stelle sei nur kurz darauf hingewiesen, dass Winckelmann hier eben die Strategie eines corriger l’histoire zugeschrieben wird, die Goethe selbst – wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde – in seinen Autobiographischen Schriften anwendet, um sich ein selbst inszeniertes literarisches Denkmal zu setzen. Genau wie Goethe sich später selbst – ganz besonders deutlich schließlich in den Tag- und Jah_____________ 73
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Ludwig Uhlig, Einleitung. In: Griechenland als Ideal. Winckelmann und seine Rezeption in Deutschland, hg. von Ludwig Uhlig, Tübingen 1998, S.7–19 (Deutsche Text-Bibliothek, Bd. 4), hier S.11. Die zwei Rezeptionsstränge, zwischen denen Hinrich C. Seeba unterscheidet – ästhetisch-idealistisch mit Winckelmann als Anreger des Klassizismus auf der einen, historisch-kritisch mit Winckelmann als Begründer von Kunstgeschichte und Archäologie auf der anderen Seite –, leiten sich daher vor allem aus einer isolierten Aufnahme entweder des frühen oder des späten Werks her (vgl. ausführlich Hinrich C. Seeba, Johann Joachim Winckelmann. Zur Wirkungsgeschichte eines ‚unhistorischen’ Historikers zwischen Ästhetik und Geschichte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 56 (1982), S.168–201).
resheften – als einen Menschen vorführt, der unermüdlich ‚tätig’ ist, in den unterschiedlichsten Bereichen beständig Neues schafft (um es dann womöglich später noch einmal oder wiederholt umzuarbeiten, zu korrigieren), rühmt er an Winckelmann, dass dieser „im Entwerfen und Schreiben“ lernte: Wir finden ihn immer in Tätigkeit, mit dem Augenblick beschäftigt, ihn dergestalt ergreifend und festhaltend, als wenn der Augenblick vollständig und befriedigend sein könnte, und ebenso ließ er sich wieder vom nächsten Augenblicke belehren (Winkelmann, S.199).74
Für diese Lebenshaltung, deren Beschreibung fast schon einem Goetheschen Selbstporträt gleichkommt, wird er hier explizit geehrt – der Abschnitt schließt mit der Formulierung: „Diese Ansicht dient zu Würdigung seiner Werke“ (Winkelmann, S.199). Wichtig ist in diesem Kontext, dass Goethe durch die nebensächliche Behandlung der Gedanken über die Nachahmung als eines „schnell überholte[n...] Anfangsstadiums in Winckelmanns Entwicklung“ und durch die Fokussierung der Geschichte der Kunst des Altertums, die „[v]iel intensiver […] und mit uneingeschränkter Bewunderung behandelt“75 wird, zum einen gezielt dem späten Winckelmann huldigt, der seine früheren ‚Fehler’ schon einzusehen vermag und sie zum Teil korrigiert. Zum anderen rückt er gerade seine Verdienste um die Entwicklung der Kunstgeschichte als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin in den Vordergrund: Hier – auf dem Feld der Kunsthistorie – siedelt Goethe Winckelmanns größte Leistungen an. Was Winckelmann in Goethes Augen zu einer herausragenden Persönlichkeit macht, die als ‚Motor’ fungiert und die Geschichte voranbringt, ist demnach dreierlei: Erstens seine Erkenntnis der Geschicht_____________ 74
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Vgl. dazu auch den in diesem Zusammenhang wichtigen Abschnitt „Erlangte Einsicht“ (Winkelmann, S.203), in dem Goethe noch einmal auf Winckelmanns ständiges Bestreben, jeglichen möglichen „Irrtum“ in seinen Schriften durch spätere wiederholte Durchsicht aufzufinden und zu korrigieren, wenn nötig „Reuschritte[…]“ zu unternehmen, weil „auf Wahrheit, Geradheit, Derbheit und Redlichkeit […] sein ganzes Wesen gegründet“ stand, ausführlich eingeht. Uhlig, Klassik und Geschichtsbewußtsein, S.148. Vgl. als Beleg dazu auch Goethes Formulierung im Abschnitt „Welt“, in der er gerade dieses späte Werk – mehr als die Gedanken über die Nachahmung – als Winckelmanns wirkungsmächtigste und wichtigste Schrift ausgibt: „Am meisten aber förderte ihn [i.e. Winckelmann] das im Stillen mit großem Fleiß ausgearbeitete Dokument seines Verdienstes, ich meine die Geschichte der Kunst. Sie ward sogleich ins Französische übersetzt, und er dadurch weit und breit bekannt“ (Winkelmann, S.209). Entsprechend wertet auch Meyer in seinem Beitrag zum Sammelband die Geschichte der Kunst des Altertums als Winckelmanns „Hauptwerk“, in dem „große Grundlagen“ gelegt seien, „welche unbeweglich feste stehen“ (Winkelmann, S.218).
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lichkeit der Kunst, die für Goethe „die Achse der ganzen Kunstkenntnis“ ist, weil man eben berücksichtigen müsse, dass Kunstwerke „nicht allein von verschiedenen Künstlern, sondern auch aus verschiedenen Zeiten herrühren, und daß sämtliche Betrachtungen des Ortes, des Zeitalters, des individuellen Verdienstes zugleich angestellt werden müssen“ (Winkelmann, S.191). In dieser Hinsicht habe Winckelmann in seiner und für seine ‚Epoche’ wissenschaftsgeschichtlich Herausragendes geleistet (und im Übrigen freilich genau die Art einer historischen Kunstbetrachtung initiiert, die für Goethe selbst prägend und vorbildhaft war). Zweitens ist es die Art seines Arbeitens, oder vielmehr eine grundsätzliche Lebenshaltung, die Winckelmann für seine Zeit so bedeutend macht und die Goethe in seiner Winckelmann-Schilderung wiederholt betont: das Prinzip des „ständig fortschreitende[n...] Forschen[s...], das bereit ist, frühere Stufen zurückzulassen und neue Einsichten zu gewinnen: ‚Seine Freude an jedem Gefundenen ist heftig, daher Irrthümer unvermeidlich, die er jedoch bey lebhaftem Vorschreiten eben so geschwind zurücknimmt als einsieht’“.76 Wieder wird deutlich, dass Goethe hier an Winckelmann genau das Verfahren im Umgang mit seinen eigenen früheren Texten bzw. Ideen und Überzeugungen hervorhebt, das er selbst – wie am Beispiel der Auseinandersetzung mit der eigenen Werther-Vergangenheit im Achten Buch von Dichtung und Wahrheit gezeigt wurde – praktiziert. Sowohl Winckelmanns Lebensleistungen selbst als aber auch die Art, w i e er sie vollbringt, weisen ihn als einen „neue[n...] Kolumbus“ aus, als eine Persönlichkeit, die „ein lange geahndetes, gedeutetes und besprochenes, ja man kann sagen, ein früher schon gekanntes und wieder verlorenes Land“ (Winkelmann, S.191) betritt77 – nämlich die zum Kunstideal erhobene Welt des klassischen Griechenlands, aber (und diesem zweiten Aspekt kommt in Goethes Augen die größere Bedeutung zu) auch die von ihm an Kunstgeschichte und Archäologie herangetragenen Forderungen einer historischen Darstellung der Zusammenhänge und damit einer dezidiert historischen _____________ 76
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Uhlig, Klassik und Geschichtsbewußtsein, S.148 (zu der von Uhlig nach der Originalausgabe zitierten Formulierung aus dem Abschnitt „Charakter“ vgl. in der Frankfurter Ausgabe – in der Orthographie leicht abweichend – Winkelmann, S.206). Freilich wird Griechenland dabei nur imaginiert und ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, der griechische Boden nicht wirklich betreten – und zwar unterließ im Übrigen nicht nur Winckelmann trotz der geographischen Nähe Italiens ein ‚Übersetzen’ nach Griechenland, sondern zwei Jahrzehnte später dann ebenso Goethe, als er von Italien aus leicht die Möglichkeit dazu gehabt hätte.
Ausrichtung dieser beiden Disziplinen, als dessen „Begründer“78 er gilt. Dadurch eröffnet er neue Horizonte und legt durch die Möglichkeit, dass andere seine Ideen weiterführen, den Grundstein für geschichtlichen Fortschritt – wohlbemerkt auf dem Gebiet der Kulturgeschichte. Hinzu kommt noch ein dritter Punkt: Winckelmanns Werk ist nicht allein ‚historisch’ – als etwas ‚Vergangenes’ und ‚Abgeschlossenes’ – relevant, sondern sie bleiben produktiv und seine Auffassungen und Ideen wirken bis in die Gegenwart der ‚Weimarischen Kunstfreunde’ hinein. Ihnen wird gerade deswegen ein großer Wert zugeschrieben, weil sie nun in einem ganz neuen, aktuell brisanten Kontext, nämlich in der Auseinandersetzung zwischen ‚Klassikern’ und ‚Romantikern’, auf die in Goethes Vorwort unmissverständlich Bezug genommen wird, dazu eingesetzt werden können, die Position der ‚Klassiker’ zu untermauern. An Winckelmann anzuknüpfen, seine Gedanken weiterzuentwickeln, das machen sich entsprechend die Verfasser der einzelnen Beiträge des Sammelbandes zum Ziel und das fordern sie ebenso von den Lesern. Schließlich habe er Bedeutendes geleistet, Grundlagen geliefert, auf denen es sich aufzubauen lohnt, zumal […] alles, was er uns hinterlassen, als ein Lebendiges für die Lebendigen, nicht für die im Buchstaben Toten geschrieben [ist]. Seine Werke, verbunden mit seinen Briefen, sind eine Lebensdarstellung, sind ein Leben selbst. Sie sehen, wie das Leben der meisten Menschen, nur einer Vorbereitung, nicht einem Werke gleich (Winkelmann, S.200).
Gerade die Winckelmann-Schrift der ‚Weimarischen Kunstfreude’ ist signifikanterweise ein solches Werk, das mehr „einer Vorbereitung“ als „einem Werke gleich[t]“ und auf deren – im Übrigen eher an typisch romantische (!) denn an klassische Schreibverfahren erinnernden – fragmentarischen Charakter Goethe in seinem Vorwort explizit hinweist: Die „Unvollständigkeit“ des Sammelbands, die „Schwierigkeiten“ und „Mängel“ des Werks gesteht er ein und appelliert an die „Kenner“, dass sie diesen ersten Schritten nachfolgen „und dadurch die Möglichkeit vorbereiten mögen, daß aus diesem Entwurf künftig ein Werk entstehen könne“ (Winkelmann, S.13). Einige bereits zitierte Formulierungen und Begriffe – wie etwa das „lebhafte[…] Vorschreiten“, das „ständig fortschreitende[…] Forschen[…]“, die „fehlerhaft[... eingeschlagenen] Richtung[en]“ – verweisen auf eine Wegemetaphorik, mit der Winckelmanns Entwicklung als ‚Lebensreise’ ausgestaltet wird – _____________ 78
Gaehtgens, Zur Einführung, S.1. Vgl. zu dieser – selbst außerhalb Deutschlands geläufigen – Aufnahme und Bewertung der Leistungen Winckelmanns auch den symptomatischen Titel einer vor kurzem in Frankreich erschienenen Monographie: Édouard Pommier, Winckelmann, l’inventeur de l’histoire de l’art, Paris 2003.
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eine Technik, die sich später wiederum in Goethes Autobiographischen Schriften wiederfindet und die in der Bezeichnung Winckelmanns als eines „neue[n...] Kolumbus[’]“ kulminiert. An seine Pionierleistungen knüpft der Sammelband an, deren Verfasser sich die „Pflicht“ auferlegt haben, „die Klarheit der Ansichten in [ihrem] Fache nach Möglichkeit zu verbreiten“. Dennoch aber wird dieses Werk und das in ihm propagierte Kunstideal gerade nicht als d a s ‚abgeschlossene’ und für alle Zukunft unverrückbare Programm ausgewiesen, sondern gegenwärtige und nachfolgende Lesergenerationen werden geradezu aufgefordert, auf dem über den Bezug auf die Autorität Winckelmann von den ‚Weimarischen Kunstfreunden’ ausgewiesenen Weg weiterzugehen, die Gedanken weiterzuführen, zu präzisieren und gegebenenfalls zu korrigieren – ein Appell, der von der fragmentarischen Form des Werks noch unterstützt wird. Sie führt deutlich vor Augen, was Goethe als eine für sein Geschichtsdenken zentrale Einsicht im Abschnitt „Glücksfälle“ seiner Winckelmann-Schilderung formuliert: „[…] daß in der Kunst, wie im Leben, kein Abgeschlossenes beharre, sondern ein Unendliches in Bewegung sei“ (Winkelmann, S.198). Die „Bewegung“ „in der Kunst, wie im Leben“ bringen in Goethes Texten vor allem die herausragenden Individuen – wie etwa Winckelmann und Goethe selbst – auf den Weg, die jeweils als Initiatoren in der Geschichte wirken, womöglich gar durch ihre Leistungen und Ideen Epochengrenzen setzen und so neue Wege weisen. In seinen Autobiographischen Schriften schreibt Goethe sich nun selbst die Rolle eines „neue[n...] Kolumbus“ für die deutsche Literaturgeschichte zu (und eine, wenn nicht d i e herausgehobene Position nimmt er als d e r ‚klassische’ Autor der deutschen Literatur bis heute ein): Zum einen, indem er bei der rückblickenden Schilderung seiner Jugendjahre seine persönliche Entwicklung als Dichter mit dem literaturgeschichtlichen ‚Durchbruch’ einer ganzen Generation zum Sturm und Drang korrelieren lässt, ja seinen eigenen schöpferischen Durchbruch gleichsam als Epochenumbruch inszeniert (um sich von diesem im autobiographischen Rückblick dann gleich wieder zu distanzieren), zum anderen, indem er sein erzähltes Ich noch ein zweites Mal, dem im Rahmen seiner teleologischen Deutung der individuellen Entwicklung die noch größere Bedeutung zukommt, als den ‚Motor’ fungieren lässt, der der deutschen Literatur durch und während seiner Reise nach Italien nun wiederum eine neue Epochenwende – den endgültigen Umschwung vom Sturm und Drang zur Klassik – bringt. Dabei sind gerade in den Passagen, in denen es um diese schöpferischen ‚Durchbrüche’ geht, Parallelen zur literarischen Ausgestaltung Winckelmanns im Sammelband der ‚Weimarischen Kunstfreunde’ nachweisbar, die auf154
schlussreich sind dafür, wie groß die Einflussmöglichkeit ist, die Goethe im Allgemeinen dem herausgehobenen Individuum auf den Prozess der Kulturgeschichte beimisst und die er speziell sich selbst bei der Überschreitung der literaturgeschichtlichen Epochengrenzen zunächst zum Sturm und Drang, später zur Klassik in seinen Autobiographischen Schriften zuschreiben will. Am Beispiel der ersten ‚Pioniertat’, die in diesem Sinne mit dem Betreten des neuen Kontinents Amerika durch Christopher Kolumbus verglichen werden kann – dem ‚Durchbruch’ zum Sturm und Drang, der sich im Zweiten Teil von Dichtung und Wahrheit vorbereitet, im Elften Buch, dem ersten des Dritten Teils, dann gelingt – soll dies genauer untersucht werden. 3.2.2
Die Leipziger ‚Irrfahrt’ im Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit
Ganz ähnlich wie in der Winckelmann-Schrift, in die Meyers „Entwurf einer Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts“ integriert ist, und entsprechend der programmatischen Ankündigung im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit, die Entwicklung des Menschen in seinen „Zeitverhältnissen“ darstellen zu wollen, um nicht nur deutlich zu machen, wie das „Jahrhundert“ das Individuum geprägt hat, sondern auch dessen – herausgehobene – „Wirkung nach außen“ zu beleuchten (DuW I, S.13f.), gibt Goethe im Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit ein Bild vom „Zustand der deutschen Literatur jener Zeit“, von der „literarische[n] Epoche, in der ich geboren bin“. Allerdings geht es ihm dabei weniger darum, „wie sie an und für sich beschaffen sein mochte, als vielmehr [darum,] wie sie sich zu mir verhielt“ (DuW II, S.283) – was wiederum impliziert, wie sie auf ihn ‚wirkt’. Ein ‚objektives’ Bild, das man etwa als ‚Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts’ lesen könnte – wie von der Forschung lange Zeit und mit schwer wiegenden Folgen für die Bewertung der Literatur der Aufklärung angenommen –, ist demnach gar nicht zu zeigen beabsichtigt.79 _____________ 79
Den ersten gezielten Versuch, die Goethesche Sicht der Aufklärungsepoche einer kritischen Prüfung zu unterziehen und nachzuweisen, dass es sich beim Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit wohl kaum um eine (‚objektive’) historiographische Darstellung des „Zustand[s] der deutschen Literatur jener Zeit“ (DuW II, S.283), sondern vielmehr um ein „Bildungserlebnis“ handelt, unternimmt Carl Jr. Hammer, Goethes Dichtung und Wahrheit. 7. Buch. Literaturgeschichte oder Bildungserlebnis? Urbana, Illinois 1945. Vgl. dazu außerdem Helmut Schanze, Goethe: ‚Dichtung und Wahrheit’, 7. Buch. Prinzipien und Probleme einer Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. In: GermanischRomanische Monatsschrift. Neue Folge 24 (1974), S.44–56. Der jüngere Aufsatz von Roger
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Der Schwerpunkt liegt vielmehr darauf, das Epochenpanorama nicht um seiner selbst willen, sondern als dualen „Bedingungszusammenhang“80 für die zum Teil positiv, zum Teil negativ beeinflusste Entwicklung des erzählten Ichs auszugestalten und dabei entsprechend aufzuzeigen, „in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt“ hat (DuW I, S.13). Wenn dabei – ähnlich wie in der Winckelmann-Schrift – die Leistungen nun auch der eigenen Person als die eines „neue[n...] Kolumbus“ gewertet werden sollen, der literaturgeschichtliches Neuland betritt, den Zeitgenossen wie den nachfolgenden Generationen bislang noch völlig unbekannte Wege weist, so m ü s s e n – um die Einzigartig- und Eigenständigkeit seiner Leistungen als etwas Singuläres, ‚Geniales’ gebührend würdigen zu können – das, was ihm an Leit- und Orientierungsbildern vorgegeben wird, als kaum wirkliche Anknüpfungsmöglichkeiten bietende, ja als zumindest deutlich mehr ‚widerstrebende’ denn ‚begünstigende’ ausgewiesen werden. Bei diesem „leitmotivische[n] Abrechnen mit den Kunstrichtern“81 der Aufklärung muss zwangsläufig verdeckt bleiben, dass sich eine in dieser Überzeichnung tendenziöse Charakterisierung des Zeitalters als „nulle[…] Epoche“, aus der es „sich herauszuretten“ (DuW II, S.295) gilt, in der Goethes Schilderung schließlich kulminiert, bei einer ‚objektiven’ historischen Prüfung gar nicht halten lässt und Goethe ihr – wenigstens einzelnen Gestalten der Epoche – deutlich mehr zu verdanken hat, als er im Rückblick von Dichtung und Wahrheit eingesteht.82 _____________
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Paulin reflektiert ebenso die Funktion, die dieser „Art Literaturchronik“ (Roger Paulin, „im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorbringen“. Bemerkungen zu Goethes biographischer Praxis in ‚Dichtung und Wahrheit’ VII und XI. In: Goethezeit – Zeit für Goethe. Auf den Spuren deutscher Lyriküberlieferung in die Moderne. Festschrift für Christoph Perels zum 65. Geburtstag, hg. von Konrad Feilchenfeldt u.a., Tübingen 2003, S.99–110, hier S.103) sowie dann auch der ausführlichen biographischen Porträts „verschiedene[r] Dichterpersönlichkeiten“ (Paulin, „im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorbringen“, S.103) zukomme. Wenn Paulin dabei jedoch zu dem Ergebnis gelangt, Dichtung und Wahrheit „als Biographie im Gegensatz zu Autobiographie“ (Paulin, „im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorbringen“, S.102) zu lesen, so überzeugt dies nicht, denn schließlich sind doch alle „Beziehungen nach Außen, zum größeren Weltgeschehen“ immer eben als „B e z i e h u n g e n “ zu Goethe selbst ausgewiesen und niemals als Selbstzweck, einmal abgesehen von der Gattungsbezeichnung Autobiographie, die Goethe für Dichtung und Wahrheit selbst verwendet. Barner, Goethes Bild von der deutschen Literatur der Aufklärung, S.301. Barner, Goethes Bild von der deutschen Literatur der Aufklärung, S.286. Neue Ansätze zu einer ‚objektiven’ und differenzierten Einschätzung von Goethes Verhältnis zur Aufklärung – im umfassenden Sinne als ideengeschichtliche (nicht nur literarische) Bewegung des 18. Jahrhunderts verstanden – liefern die auf der 77. Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft gehaltenen Vorträge, die im Goethe-Jahrbuch 118 veröffentlicht sind: „Goethe und die europäische Aufklärung“ lautete das Thema der
Entsprechend weist schon Wilfried Barner in zwei Arbeiten nach, dass es sich bei dem ‚Literaturüberblick’ im Siebenten Buch um eine „funktionsbestimmte Negativfolie“83 handelt und der späte Goethe im autobiographischen Rückblick seine literaturgeschichtliche Leistung öffentlich als „Akt der Traditionsablösung, sogar des Traditionsbruchs“ inszenieren muss, um selbst „‚Epoche’ zu machen“.84 Dem, was in diesen beiden Aufsätzen herausgearbeitet wird, bleibt für das Siebente Buch von Dichtung und Wahrheit kaum noch etwas hinzuzufügen. Daher sollen im Folgenden die für die Fragestellung dieses Kapitels zentralen Ergebnisse knapp dargestellt und dann vor allem in Zusammenhang mit dem Eilften Buch von Dichtung und Wahrheit gebracht werden, in dem sich der schöpferische Durchbruch des erzählten Ichs und damit die ‚Epochenwende’ der deutschen Literatur von der Aufklärung zum Sturm und Drang schließlich vollzieht. Der Querschnitt der zeitgenössischen Literatur im Siebenten Buch nimmt schon kompositionell eine zentrale Position mit Verweisfunktion in Dichtung und Wahrheit ein: Er folgt dem als ‚Befreiung’ von der _____________
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Tagung. Dass gerade die beiden Beiträge, die sich im engeren Sinne (auch) darum bemühen, Goethes Beziehung zu denjenigen Vertretern der deutschen literarischen Aufklärung zu untersuchen, mit denen Goethe selbst im Siebenten Buch so radikal bricht, zu den Ergebnissen gelangen, dass der junge Goethe durchaus „Impulse der deutschen und europäischen Aufklärung“ aufnimmt, sein „Verhältnis zur Aufklärung […] also durch Nähe und Distanz geprägt“ ist (Martin Bollacher, Aufklärungspositionen des jungen Goethe. In: GJb 118 (2001), S.158–170, hier S.170) – keineswegs nur durch Distanz! – und man sogar die These wagen könne, „im Ereignis Weimar-Jena kulminiere die Aufklärung“ (Klaus Manger, Goethe und die deutschen Aufklärer. In: GJb 118 (2001), S.46–57, hier S.57), weist Goethes eigene Darstellung im autobiographischen Rückblick noch einmal deutlich als historisch nicht ‚korrekt’ aus. Barner, Goethes Bild von der deutschen Literatur der Aufklärung, S.302. Barner, Wilfried: Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. von Reinhart Herzog und Koselleck Reinhart, München 1987, S.3–51 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 12), hier S.14. Barner verweist hier auf die Feldtheorie Bourdieus und mit dieser darauf, dass es „in bestimmten geschichtlichen Konstellationen“ nicht ausreiche, durch ein „normdurchbrechendes, traditionsnegierendes Werk“ – wie es etwa Goethes Werther war – ein „neue[s…] literarische[s…] ‚Muster[…]’“ zu setzen, „sondern das Neue der Propagierung bedarf, ja daß ein solcher programmatischer Akt dem ‚Muster’ selbst voraus oder parallel läuft“, um selbst normbildend zu wirken und seinem Autor zu einer Position am dominanten Pol des literarischen Feldes zu verhelfen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der unlängst erschienene Aufsatz von Kohl, die untersucht, inwiefern das Bild, das Goethe von sich selbst gerade auch in Dichtung und Wahrheit als „heroic protagonist who can constitute the beginning, end, and salient caesura of any linear account of German literary history“ (Katrin Kohl, No Escape? Goethe’s Strategies of Self-Projection and Their Role in German Literary Historiography. In: Goethe Yearbook 16 (2009), S.173–191, hier S.180) inszeniert, tatsächlich auch die deutsche Literaturgeschichtsschreibung geprägt hat.
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rigiden erzieherischen Aufsicht des Vaters empfundenen Aufbruch aus der Heimatstadt Frankfurt am Main am Ende des Sechsten Buches und deutet sogleich das an, was im Achten Buch als Fazit des Leipziger Studienaufenthalts steht: die als ‚Schiffbruch’ apostrophierte Rückkehr in das Frankfurter Elternhaus mit dem Gefühl, sich in kaum einer Hinsicht weiterentwickelt, ja geradezu versagt zu haben, das dem erzählten Ich dann zugeschrieben wird – ganz besonders, was die in Leipzig meist nur begonnenen und fragmentarisch vorliegenden schriftstellerischen Arbeiten anbelangt, die nach erneuter Durchsicht in Frankfurt schließlich verbrannt werden. Das erzählte Ich selbst ist vor der Reise nach Leipzig zwar erleichtert darüber, aus Frankfurt fortzukommen – die „heimliche Freude eines Gefangenen, wenn er seine Ketten abgelöst und die Kerkergitter bald durchgefeilt hat, kann nicht größer sein“ (DuW II, S.265) –, dem vom Vater favorisierten und schließlich gegen den Willen des Sohnes durchgesetzten Studienort Leipzig begegnet es jedoch von vornherein mit Skepsis und hat statt dessen die neu gegründete Reformuniversität Göttingen im Blick, wo es – ebenfalls gegen den vom Vater vorgegebenen Werdegang – nicht Jura, sondern Altertumswissenschaften studieren will. Schon die Reise von Frankfurt nach Leipzig wird dann symptomatisch als beschwerlich und geradezu unheimlich inszeniert: Ein anhaltender Regen hatte die Wege äußerst verdorben, welche überhaupt noch nicht in den guten Stand gesetzt waren, in welchem wir sie nachmals finden; und unsere Reise war daher weder angenehm noch glücklich (DuW II, S.266).
Von dem „Anblick eines Naturphänomens, das wohl höchst selten sein mag“ (ebd.) wird berichtet und die nächtliche „Erscheinung“ mit einem „Pandämonium von Irrlichtern“ verglichen, dann bleibt die Kutsche „von allen Menschen entfernt“ „bei einbrechender Nacht stecken“ und das erzählende Ich zieht sich bei dem schließlich erfolgreichen Versuch der Reisegesellschaft, die allein auf sich gestellt ist und „das Mögliche [tut,] uns los zu arbeiten“, „einen Schmerz [zu], der verschwand und wiederkehrte und erst nach vielen Jahren mich völlig verließ“ (DuW II, S.267). Das, was sich von der ‚Befreiung’ von der Kontrolle und Lenkung des Vaters erhofft wird – nämlich andere Leitbilder, neue Anregungen und produktive Anknüpfungsmöglichkeiten insbesondere im Hinblick auf sein dichterisches Schaffen – kann Leipzig dann gerade nicht bieten. Vielmehr wird der Studienaufenthalt im autobiographischen Rückblick – wie schon die Reise dorthin – zu einer Irrfahrt ausgestaltet und die bereits für die Winckelmann-Skizzen wichtige Wege-Metaphorik noch deutlicher an das Odysseus-Modell angelehnt: Auch im homeri158
schen Epos verläuft die Reise scheinbar chaotisch, birgt gefährliche Momente in sich und stellt den Helden so auf Proben, die es zu bestehen gilt, zudem wird er mehrfach vom rechten Weg abgebracht – dennoch nimmt die Reise schließlich ein gutes Ende und Odysseus kommt – im Geheimen von Athene beschützt – am Ziel an. Bevor der jugendliche Held in Dichtung und Wahrheit schließlich an seinem Ziel ankommt und ihm der epochengeschichtliche Durchbruch zum Sturm und Drang – dann erst in Straßburg – gelingt, mündet der erste Teil der Irrfahrt zunächst mit der schweren Erkrankung, dem Abbruch des Studiums und der Rückkehr nach Frankfurt in einer Sackgasse und bringt den Studenten zunächst in das ‚Gefängnis’ des Elternhauses zurück. Tatsächlich erweist sich das nach außen hin ‚glänzende’ Epochenzentrum Leipzig, die reiche Handels- und Universitätsstadt innerhalb des Odysseus-Modells für das junge Genie als ein ‚Irrgarten’, als der verlängerte und womöglich noch wirkungsmächtigere Arm des Vaters, der den Sohn durch und durch in aufklärerischer Tradition erzogen wissen will und diese Ausbildung in den Grundzügen in den Frankfurter Kindheits- und Jugendjahren schon angelegt hat. Entsprechend fungieren die frühen Frankfurter Jahre und die Leipziger Zeit als Einheit: Goethe beschreibt im Siebenten Buch, ansatzweise auch schon in den vorausgehenden – für die erste Frankfurter Zeit – den Prozeß des autoritätsgelenkten Hineinwachsens in eine vorfindliche literarische Tradition,85
von der die eigentlich erhoffte und angestrebte radikale Ablösung, der eigenständige schöpferische Durchbruch schließlich erst in Straßburg gelingt. Im Rahmen eben dieser Leipziger Irrfahrt wird die „nulle[…] Epoche“ (re-)konstruiert – dass es sich dabei um ‚(Re-)Konstruktion’, um ‚Inszenierung’, jedenfalls um eine subjektive Perspektivierung handelt, die den zu Beginn dieser Arbeit dargestellten Bedingungen autobiographischen Schreibens unterworfen ist und daher z.T. bewusst, z.T. unbewusst auswählend und auslassend, „sprunghaft und unsystematisch“86 und so sicherlich den Ansprüchen einer historiographischen Darstellung – auch der Goethezeit – kaum genügend vorgeht, wird zum Abschluss des ‚Epochenüberblicks’ noch einmal explizit formuliert: Habe ich durch diese kursorischen und desultorischen Bemerkungen über deutsche Literatur meine Leser in einige Verwirrung gesetzt, so ist es mir geglückt, eine Vorstellung von jenem chaotischen Zustande zu geben, in welchem sich mein armes Gehirn befand (DuW II, S.308).
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Barner, Über das Negieren von Tradition, S.10. So die im Goethe-Wörterbuch angegebene Wortbedeutung: Elke Umbach, Artikel ‚desultorisch’. In: GWb 2, Sp. 1156.
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Als Ziel der autobiographischen Darstellung wird hier mit Blick auf das Lesepublikum genau das bezeichnet, wozu das als ‚objektive’ und historisch ‚korrekte’ ‚Literaturgeschichte’ rezipierte Siebente Buch schließlich entschieden beigetragen hat:87 dass die Epoche der Aufklärung – gerade gemessen an dem, was ihr mit Sturm und Drang und Klassik literaturgeschichtlich nachfolgte – weitgehend unterschätzt und mit den Vorwürfen belegt wurde, die das erzählende Ich hier gegen sie richtet. Seiner Darstellung zufolge ‚fehlt’ ihr eigentlich alles, was ihm ein produktives Anknüpfen ermöglicht hätte. Es konstatiert der „literarische[n] Epoche, in der ich geboren bin“ (DuW II, S.283) das Fehlen eines „inneren Begriff[s] von Poesie“ (DuW II, S.298), Weitschweifigkeit und Mittelmäßigkeit sowie das Fehlen eines eigentlichen ‚nationellen Gehalts’,88 besonders hart ins Gericht geht er mit der ästhetischen Theorie und Poetik Bodmers, Breitingers und Gottscheds89, der Literaturkritik – namentlich der „Allgemeinen deutschen Bibliothek“, den „Literaturbriefen“ und der „Bibliothek der schönen Wissenschaften“ –, der Satire; schon hierbei einseitig auswählend, da er sich nicht etwa auf Drama oder Lyrik bezieht, sondern vielmehr gerade nur die eigentlich ‚unpoetischen’ Sparten beachtet. Scharf kritisiert werden neben den Schweizern und Gottsched Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, Karl _____________ 87
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Es kann hier auf der Grundlage der Ergebnisse von Barner, Goethes Bild von der deutschen Literatur der Aufklärung, hier v.a. S.288f., nur angedeutet bleiben, dass zu diesem wirkungsgeschichtlichen ‚Erfolg’ vor allem viererlei beigetragen hat: erstens die zahlreichen ‚Objektivität’ suggerierenden Wir- und Man-Formulierungen, die die Darstellung des erzählenden Ichs „als Äußerung einer Gruppe, ja einer Generation“ (S.289) ausweisen sollen, zweitens die ‚Authentizität’ verbürgende ‚Zeitzeugenschaft’ desjenigen, der schließlich ‚dabeigewesen’ ist, drittens die Leistung, immerhin den ersten Literaturüberblick zu liefern, der nicht nur Zahlen und Fakten, sondern „einen inneren, sinnhaften Zusammenhang über die herkömmliche ‚historia litteraria’ bietet“ (S.288), und viertens die Tatsache, dass dem Verfasser Goethe selbst eine kaum zu überbietende Autorität beigemessen wurde und wird, weil er selbst auf der Seite der ‚Sieger’ steht: Er selbst ist mit seinen zahlreichen „epochemachenden Schöpfung[en]“ des Sturm und Drang (und dann auch der Klassik) derjenige, der „zugleich agierendes Subjekt und wirkungsmächtiges Symbol einer tief verändernden geschichtlichen Bewegung“ (S.289) ist, die die Aufklärung ‚abgelöst’ hat. „Betrachtet man genau, was der deutschen Poesie fehlte, so war es ein Gehalt, und zwar ein nationeller“ (DuW II, S.289f.). Auf die vielbesprochene Anekdote, mit der das erzählende Ich den Höflichkeitsbesuch schildert, den Goethe im Frühjahr 1766 zusammen mit seinem späteren Schwager Johann Georg Schlosser dem ‚Literaturgesetzgeber’ Gottsched abstattet – wenige Monate vor dessen Tod –, und in der er den 66Jährigen in seiner überlebten Autorität und Überheblichkeit der Lächerlichkeit preisgibt, sei hier nicht weiter eingegangen – sie bringt in dem literarischen Porträt Gottscheds das Bild der „nullen Epoche“, die jeglichen ‚Gehalts’ entbehrt und dem jungen Genie daher keinerlei Anknüpfungsmöglichkeiten bietet, symbolisch auf den Punkt.
Wilhelm Ramler und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Um bei dem vernichtenden Urteil einer auf diese Weise zur „nullen Epoche“ degradierten Zeit bleiben zu können, müssen die herausragenden Leistungen derjenigen Autoren, auf die diese Kardinalvorwürfe gerade nicht zutreffen und die auf den jungen Goethe nachweislich zum Teil sogar begeisternd gewirkt haben, schlicht ausgespart bleiben und „die literarisch prägenden Gestalten Klopstock, Wieland und Lessing werden deswegen nur schemenhaft konturiert.“90 Im autobiographischen Rückblick hat die so als „aporetisch weitgehend stillstehende Literatur“91 der Aufklärung – symbolisch auf das Epochenzentrum Leipzig bezogen – nicht nur dem jungen Goethe, sondern mit ihm einer ganzen Generation, nichts als „Irrlichter“ und damit ‚falsche’, nicht weiterführende Richtungen gewiesen. Immer wieder werden in den Literaturüberblick Formulierungen eingeschoben, die zum einen die Wir-Perspektive betonen, mit der das erzählte Ich als Repräsentant seiner Generation ausgewiesen wird, zum anderen die _____________ 90
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Benedikt Jeßing, Artikel ‚Dichtung und Wahrheit’. In: GHb 3, S.278–330, hier S.295. Barner weist all das überzeugend nach, was hier nur angedeutet werden kann: wie das erzählende Ich seine vier Vorwürfe im Einzelnen ausgestaltet und begründet, und was es dabei an wichtigen (positiven!) Einflüssen – gerade, was die Prägungen etwa durch Wieland, Lessing, Klopstock anbelangt – ausblendet, um überhaupt zu dieser negativen Wertung gelangen zu können. Vgl. entsprechend Barner, Goethes Bild von der deutschen Literatur der Aufklärung. Gerade zum Verhältnis Goethes gegenüber Lessing und Klopstock sind in jüngerer Zeit mehrere Arbeiten erschienen, die viel mehr produktive Anknüpfungspunkte aufzeigen, als Goethes ‚Literaturüberblick’ nahe legt. Verwiesen sei hier zu Lessing nur auf Wilfried Barner, Goethe und Lessing. Eine schwierige Konstellation, Göttingen 2001 (Kleine Schriften zur Aufklärung, Bd. 10); Wolfgang Albrecht, Distanzierte Wertschätzung. Der junge Goethe und Lessing, Hamburg 1999 (Schriftenreihe der Lessing-Gesellschaft zu Hamburg, Bd. 4); Günter Hartung, Goethe und Lessing. In: Hartung, Literatur und Welt. Vorträge, Leipzig 2002, S.69–81; zu Klopstock auf Klaus Hurlebusch, Klopstock und Goethe oder die „Erweckung des Genies“. Eine Revision ihres geistigen Verhältnisses, Halle an der Saale 2000 (Schriftenreihe des Klopstock-Hauses Quedlinburg, Bd. 5); Meredith Lee, Displacing authority. Goethe’s poetic reception of Klopstock, Heidelberg 1999 (Neue Bremer Beiträge, Bd. 10). Auch die Arbeiten, die sich – noch vor der diesem Themenbereich gewidmeten Tagung der Goethe-Gesellschaft im Jahr 2001 – mit Goethes Verhältnis zur Aufklärung beschäftigen, belegen allgemeiner, dass Goethe dieser philosophischen und literarischen Tradition weit mehr zu verdanken hat, als er im Siebenten Buch eingesteht; vgl. etwa allein die programmatische Titelformulierung bei Gottfried Willems, Goethe – ein „Überwinder der Aufklärung“? Thesen zur Revision des Klassik-Bildes. Germanisch-Romanische Monatsschrift. Neue Folge 40 (1990), S.22–40; an älteren Arbeiten auch schon Wolfdietrich Rasch, Der junge Goethe und die Aufklärung. In: Literatur und Geistesgeschichte, hg. von Reinhold Grimm und Conrad Wiedemann, Berlin 1968, S.127–139; Rudolf Vierhaus, Goethe und die Aufklärung. In: Allerhand Goethe, hg. von Dieter Kimpel und Jörg Pompetzki , Frankfurt a.M. 1985, S.11–29; Günther, Vincent J., Johann Wolfgang Goethe. Ein Repräsentant der Aufklärung, Berlin 1982. Jeßing, Artikel ‚Dichtung und Wahrheit’, S.295.
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Symbolik der zur ‚Irrfahrt’ ausgestalteten Reise nach Leipzig, die den dortigen Studienaufenthalt von vornherein unter schlechte Vorzeichen stellte, aufgegriffen: Im Hinblick auf die aufklärerische Poetik zum Beispiel wird auf die „Verwirrung“ hingewiesen, in welche „junge Geister durch solche ausgerenkte Maximen, halb verstandene Gesetze und zersplitterte Lehren sich versetzt fühlten“ (DuW II, S.289) und Breitingers „Kritische Dichtkunst“ selbst wird als „Irrgarten“ (DuW II, S.287) bezeichnet. Ebenso etwa durch die „wo nicht erbärmlich[en], doch wenigstens sehr schwach[en]“ Beiträge in den führenden Rezensionsorganen konnte keine klare Linie, keine Orientierung vermittelt werden, sondern „[a]uch hier wurden wir sehr in der Irre herumgeführt“, denn „[d]ieses alles mochte […] so bunt durch einander gehen als es wollte“ (DuW II, S.304). Welcher Weg hinaus aus dieser ‚Sackgasse’ führt, deutet das erzählende Ich im Siebenten Buch zwar schon an – nämlich der Mut und die Kraft, sich von der Übermacht der ‚beengenden’ literarischen Autoritäten zu lösen und statt dessen „alles in mir selbst zu suchen“, denn „[v]erlangte ich […] zu meinen Gedichten eine wahre Unterlage, Empfindung oder Reflexion, so mußte ich in meinen Busen greifen“ (DuW II, S.309). Diese „radikal individualisiert[e]“92 Poetik, der endgültige Bruch mit der literarischen Tradition und der damit verbundene epochengeschichtliche Durchbruch zum Sturm und Drang vollzieht sich in Dichtung und Wahrheit jedoch erst in Straßburg, auf der Grenzscheide zwischen der deutschen und der französischen Sprache und Kultur. Schon Barner spricht in diesem Kontext von einem „corriger l’histoire“, einem „Umarrangieren wichtiger früher Prägungen“93 – zu denken ist etwa an die Shakespeare-Rezeption, die sich nach Goethes Briefen aus den 1760er Jahren durchaus schon in Leipzig nachweisen lässt, in Dichtung und Wahrheit aber erst in den Straßburg-Büchern zum prägenden Erlebnis inszeniert wird. Gleichwohl deutet sich im Siebenten Buch schon an, dass Goethes schöpferischer ‚Neubeginn’ in der autobiographischen (Re-)Konstruktion erst mit dem ‚Umweg’ über Frankreich gelingen kann, weil dazu nicht nur die Ablösung von der deutschen Literatur, sondern außerdem ein Sich-Abwenden von der französischen Tradition erforderlich ist. Dahinter steht die Intention aufzuzeigen, dass Goethe als der „neue[…] Kolumbus“ der deutschen Literatur endlich ihren eigenen ‚nationellen Gehalt’ gegeben habe, dessen Fehlen im Literaturüberblick des Siebenten Buches noch beklagt _____________ 92 93
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Jeßing, Artikel ‚Dichtung und Wahrheit’, S.295. Barner, Goethes Bild von der deutschen Literatur der Aufklärung, S.295.
wird. Gleich zu Beginn des Dritten Teils von Dichtung und Wahrheit vollzieht sich dann entsprechend – im autobiographischen Rückblick auf die Erlebnisse in Straßburg projiziert – ein zweiter „Traditionsbruch[…]“,94 mit dem die Leistungen des jungen Genies nicht nur vor dem Hintergrund der deutschen Literatur als herausragend präsentiert werden, sondern vielmehr für sich beanspruchen, auch der europäischen Literatur eine neue Richtung gewiesen zu haben. 3.2.3
Die Inszenierung des epochengeschichtlichen Durchbruchs zum Sturm und Drang im Eilften Buch von Dichtung und Wahrheit
Der Deutsche, seit beinahe zwei Jahrhunderten, in einem unglücklichen, tumultuarischen Zustande verwildert, begab sich bei den Franzosen in die Schule, um lebensartig zu werden, und bei den Römern, um sich würdig auszudrücken (DuW II, S.284).
Mit dieser Diagnose wird der Literaturüberblick im Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit eingeleitet: Man habe sich an Fremdem orientiert, gerade die französische Kultur und Literatur als Leit- und Vorbild akzeptiert, nichts Originäres zu entgegnen gehabt, man „war eben nirgends, am wenigsten bei sich zu Hause“ (ebd.) – und diese Perspektive schließt den jungen Goethe zunächst durchaus ein. In den ersten Büchern von Dichtung und Wahrheit übt das Französische eine immense Anziehungskraft auf ihn aus: Das frühe Erlernen der französischen Sprache, die französische Einquartierung im Frankfurter Elternhaus während des Siebenjährigen Kriegs, die Begegnung mit dem französischen Grafen Thoranc, dessen Erscheinung den jungen Knaben fasziniert, die Begeisterung für das französische Theater – ihr folgt ein erster Dramenversuch im französischen Stil –,95 belegen dies eindrücklich, schon bevor Goethe Straßburg gerade deswegen „vor andern hohen Schulen“ als den Ort wählt, in dem er sein Studium wieder aufnehmen und zu einem Abschluss bringen will, weil er sich der französischen Sprache, die ihm schon in seiner Kindheit „wie eine zweite Mutterspra_____________ 94 95
Barner, Goethes Bild von der deutschen Literatur der Aufklärung, S.305. Etwa auch die zahlreichen aus der Leipziger Zeit überlieferten auf Französisch verfassten Briefe zeigen deutlich, dass es sich bei dem ‚Angezogensein’ durch die französische Sprache und Kultur nicht um eine rückblickende Inszenierung handelt, sondern dass der Einfluss Frankreichs auf den jungen Goethe – ganz gemäß der allgemeinen Orientierung der deutschen Nation und vor allem Kultur an der französischen als ‚Leitbild’ – auch tatsächlich sehr prägend war.
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che zu eigen geworden“ war, „mit größerer Leichtigkeit zu bedienen“ wünschte (DuW III, S.522).96 Das, was ihm vor seiner Straßburger Zeit selbst nicht gelungen war und was er im autobiographischen Rückblick der gesamten deutschen Literatur und Kultur vorwirft, fasst Barner treffend unter den Begriff der „nationalen Defizienzthese. Sie artikuliert sich als negative Deskription des Eigenen in seiner Überdecktheit durch das Fremde.“97 Als einen ‚Fehler’, einen ‚Irrweg’ weist der Autobiograph die Haltung der Deutschen aus (und damit auch seine eigene, die er dabei indirekt, dem schon Winckelmann als positive Eigenschaft zugeschriebenen Verfahren gleich, rückblickend korrigiert), sich eben nicht auf ihre eigenen Wurzeln zu besinnen, sondern vielmehr zu versuchen, durch die Nachahmung von Fremdem den Anschluss an die europäischen Nachbarnationen zu finden, deren Literatur und Kultur gegenüber die Leistungen, die die Deutschen bislang auf diesem Gebiet erbracht haben, als defizitär empfunden werden. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der westlichen Nachbarnation, die mindestens seit Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey (1624) explizit als Vor- und Leitbild fungierte und deren herausragende Leistungen – vor allem auf dem Gebiet des Dramas, das mit der klassischen französischen Tragödie bereits um 1650 seinen Höhepunkt erreicht hatte – es in deutscher Sprache nachzueifern galt. Konsequenterweise folgt der auf die Leipziger Jahre projizierten ‚Abrechnung’ mit der deutschen Literatur der Aufklärung und der als ‚Schiffbruch’ ausgestalteten Rückkehr in die Heimatstadt in der autobiographischen Rückschau daher ein zweiter ‚Traditionsbruch’, der parallel zum ersten ausgestaltet wird und als ‚Befreiungsakt’ um so nötiger ist, um das erzählte Ich als einen „neue[n…] Kolumbus“ nun endlich literarisches Neuland betreten und der deutschen Literatur zu all dem verhelfen zu lassen, was ihr dem Literaturüberblick im Siebenten Buch zufolge ermangelt: Der endgültige ‚Durchbruch’ zum Sturm und Drang kann sich nur durch eine radikale Abkehr vom zuvor als höherwertig und anziehend empfundenen Französischen vollziehen und dabei spiegelt sich in der individuellen Entwicklung bereits eine national_____________ 96
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Der reife Goethe begründet seine Entscheidung für Straßburg in Übereinstimmung mit den Quellen aus der Jugendzeit, als sie offensichtlich tatsächlich dadurch motiviert war, sich ‚dem Französischen’ anzunähern. In einem Brief an Langer vom 30. 11. 1769 heißt es entsprechend: „Mais quoiqu’il en soit, il faut que je m’approche de la France peu a peu, et le ton batard de Strasbourg dont Vous me parles, pourra fournir une ample matiere a des speculations du moins, s’il n’en fournit pas a des plaisirs“ (FA II/1, S.173). Barner, Über das Negieren von Tradition, S.6.
deutsche, der als solcher dann auch eine ‚Geschichtsdimension’ zukommt. Dass der in das Eilfte Buch von Dichtung und Wahrheit integrierte Überblick über die französische Literatur entsprechend ebenfalls „funktionsbestimmte Negativfolie“98 ist, deuten die einleitenden Bemerkungen sogleich an, denn die Passage über ‚das Französische’ habe die Funktion zu erklären, „wie es gekommen, daß ich wieder von der französischen Seite auf die deutsche herübergetreten“ (DuW III, S.522), und erscheint so von vornherein unter einem negativen Vorzeichen. Die Hoffnung, sich der frankophonen Welt erfolgreich anzunähern, wird enttäuscht: Zwar geht die autobiographische Darstellung nicht so weit, auch die zeitgenössische französische Literatur explizit als eine „nulle[…] Epoche“ zu bezeichnen, als zentrales Ergebnis des Straßburg-Aufenthalts wird jedoch die Erkenntnis präsentiert, dass die französische – ebenso wie die deutsche – Tradition dem jungen Genie keinerlei produktive Anknüpfungsmöglichkeiten bieten kann. Zunächst – bevor sich das erzählende Ich gezielt der französischen L i t e r a t u r zuwendet – geht es allgemeiner um die Erfahrungen, die das erzählte Ich im französischsprachigen Ausland, im Umgang mit den Franzosen gesammelt hat, und diese Erfahrungen tragen entscheidend zu dem Entschluss bei, sich mit der Rückkehr nach Deutschland nicht nur geographisch wieder von Frankreich und der französischen Kultur zu entfernen – nun endgültig und bewusst. Prägend für den gesamten Straßburger Aufenthalt ist im Eilften Buch das Gefühl der Fremdheit und des Ausgeschlossenseins – ganz gleich, wie sehr sich der junge Student darum bemühe, seine Fähigkeiten in der Fremdsprache zu verbessern, er werde von den Frankophonen niemals als einer der ihren akzeptiert: „geduldet werde man, aber keineswegs in den Schoß der einzig sprachseligen Kirche aufgenommen“ (DuW III, S.524). Argumentiert wird in diesem Zusammenhang wieder – wie besonders deutlich schon bei der Darstellung des ‚Erstkontakts’ mit Französischem bei der Einquartierung des Grafen Thoranc im Dritten Buch – mit nationalen Stereotypen: Diskutiert wird etwa das Klischee, dass es den Deutschen im Vergleich zu den Franzosen grundsätzlich an gutem ‚Geschmack’ ermangele.99 Ferner fällt unter die Kategorie der nationalen _____________ 98 99
Barner, Goethes Bild von der deutschen Literatur der Aufklärung, S.302. Vgl. DuW III, S.526f. Derzeit sind für die Erforschung nationaler Stereotype von der Arbeit einer Projektgruppe der Universität Stuttgart mit dem Titel „Ursprung und Funktion nationaler Klischees in der französischen und in der deutschen Literatur vom 16. bis zum 19. Jahrhundert“ interessante Ergebnisse zu erwarten. Erste gezieltere Untersuchungen zu diesem Themenkomplex, in denen z.T. auch die von Goethe hier ver-
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Stereotype, dass die Franzosen zwar entschieden höflich seien und so niemals einen Fremden um seiner sprachlichen Unkorrektheiten willen tadelten, aber dagegen mehr als auf den Inhalt der Rede auf einen perfekten Ausdruck achteten. Den Deutschen komme es dagegen mehr darauf an, was gesagt wird, als darauf, wie es gesagt wird, und auf den Inhalt, der etwas „Interessantes“ und „Bedeutendes“ (DuW III, S.523) bereithalten muss, legt auch das erzählte Ich die Priorität der Kommunikation. Ein wirklicher Austausch in diesem Sinne sei ihm jedoch aufgrund seines unvollkommenen sprachlichen Ausdrucks, an dem sich der französische Gesprächspartner störe, nicht möglich, und so fasst es in Straßburg schließlich den „Entschluß, die französische Sprache gänzlich abzulehnen und [sich…] mehr als bisher mit Gewalt und Ernst der Muttersprache zu widmen“ (DuW III, S.525) – ein Entschluss, der sich freilich nicht in jeder anderen Stadt sogleich in die Tat umsetzen lässt, weil dort auf der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich – damals noch mehr als heute – tatsächlich zwei Sprachen und Kulturen ‚nebeneinander’ existierten. Straßburg kommt hier als in dieser Hinsicht besondere Stadt eine symbolische Funktion zu: Sie fungiert für das junge Genie als Glücksquell, indem die dort erlebte Zweisprachigkeit für ihn zu einer seine individuelle Entwicklung ‚begünstigenden’ Erfahrung wird. Am Ende der Straßburger Studienzeit steht so – nach der ursprünglichen Faszination in den ersten Büchern von Dichtung und Wahrheit – die Enttäuschung von allem ‚Französischen’.100 Gerade die Erfahrungen in Straßburg tragen so entscheidend zu einem erhöhten Interesse an der deutschen Sprache und Kultur und schließlich zu einem gesteigerten Zugehörigkeitsgefühl zu dieser bei. Anschließend wird der Überblick über die französische Literatur unmissverständlich negativ eingeleitet: Ihr eigneten nämlich „gewisse Eigenschaften, welche den strebenden Jüngling mehr abstoßen als anziehn mußten.“ Um mit den Worten des Vorworts zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit zu sprechen: die ihm mehr ‚widerstreben’ als ihn ‚begünstigen’ müssen. „Sie [i.e. die französische Literatur] war nämlich bejahrt und vornehm, und durch beides kann die nach Lebensge_____________
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wendeten Klischees beleuchtet werden, finden sich in dem Sammelband Ruth Florack (Hg.), Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur, Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 76). Vgl. zu diesem Wechselverhältnis zwischen Anziehung und Abstoßung, zu dieser „komplizierte[n] Choreographie, wo sich Nähe und Ferne dialektisch ablösen“, in Goethes Gesamtwerk den Aufsatz von Mondot: Jean Mondot, Goethe und die französischen Lumières oder Voltaire und kein Ende. In: GJb 118 (2001), S.75–90.
nuß und Freiheit umschauende Jugend nicht ergetzt werden“ (DuW III, S.527). Dabei wird eine dezidiert historisch argumentierende Perspektive eingenommen, die – ähnlich wie im Winckelmann-Sammelband, in dem Winckelmanns Ideen vor dem Hintergrund von Meyers „Entwurf einer Geschichte der Kunst des achtzehnten Jahrhunderts“ dargestellt und beurteilt werden – den Ist-Zustand der französischen Literatur daran misst, was ihr an Leistungen und Entwicklungen schon vorangegangen war. Als „bejahrt“ wird sie dabei klassifiziert, weil sie ihren Höhepunkt als den Zeitraum um 1650, den man üblicherweise als die französische Klassik bezeichnet, bereits seit hundert Jahren hinter sich gelassen hat: Die zeitgenössische Literatur lasse sich daher als epigonal kennzeichnen, zumal es ihr seitdem an entscheidenden Neuansätzen fehle, so dass von ihr auch kein neuer Impuls auf das junge ‚Genie’ Goethe ausgehen könne. „Vornehm“ sei die französische Literatur außerdem, da ihre Schriftsteller sich immer mehr in ein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber gesellschaftlichen Mächten begeben (Voltaire dient Goethe hier als Musterbeispiel par excellence); sie sei daher keineswegs frei und unabhängig – etwa im Sinne einer l’art pour l’art – sondern der „Einfluß der Sozietät auf die Schriftsteller nahm immer mehr überhand“ (DuW III, S.528).101 Als weitere zentrale Kritikpunkte an der französischen Literatur werden die Mächtigkeit ihrer immer nur vernichtenden Literaturkritik genannt – und hier wird wiederum ein nationales Stereotyp zitiert – sowie auch ihr ‚verbildeter’, d. h. vorwiegend rational und gelehrsam erscheinender Charakter, der für ‚Gefühl’ und ‚Leidenschaft’ keinen Platz biete. Besonders am Beispiel der Schilderung der Theatersituation wird zudem deutlich, dass das erzählende Ich die ‚Künstlichkeit’ der französischen Literatur, ihre Orientierung an strengen Regeln negativ bewertet – und damit gezielt diejenigen Formen und Stilelemente, von deren bislang akzeptierter Vorbildfunktion es sich zu emanzipieren gilt, um der Literatur im Sinne der sich epochengeschichtlich anschließenden Sturm-und-Drang-Poetik neue Richtungen weisen zu können, die sich mit der Ausrichtung des künstlerischen Schaffens an der Natur und der sinnlichen und lebendigen Welt sowie am eigenen, individuellen ‚Gefühl’ deutlich von dieser Tradition abgrenzt. Als rühmliche Ausnahme wird aus der Masse der negativ gekennzeichneten französischen Literatur lediglich Rousseau genannt, dessen Werke schließlich für die Hin_____________ 101
Vgl. ausführlicher zu Goethes Kritik an Voltaire und ihrer Begründung Mondot, Goethe und die französischen Lumières, bes. S.82–90.
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wendung zur Natur eine wegweisende Rolle einnehmen – hier ließe sich im Einzelnen nachweisen, dass das Ich genau wie im Literaturüberblick des Siebenten Buches die auch im Hinblick auf die französische Literatur der Aufklärung wohl kaum mit ‚null’ zu bilanzierenden positiven Anknüpfungspunkte gezielt verschweigt und die pauschale ‚Abrechnung’ mit der französischen Literatur so ähnlich tendenziös ist wie die Kritik an der deutschen Literatur der Aufklärung im Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit,102 zumal sie wieder nicht nur in ihrer Wirkung auf das erzählte Ich Goethe, sondern darüber hinaus auf die ganze junge Generation, sogar auf eine ganze Nation als positive, originäre Entwicklungen hemmend bzw. zunächst sogar verhindernd präsentiert wird. Im Übrigen sind es recht ähnliche Kritikpunkte, die sowohl gegen die deutsche als auch gegen die französische Tradition angeführt werden – ‚Kälte’ und ‚Unnatürlichkeit’ und eine jeweils von einem übertriebenen Regelsystem beförderte Normativität – was nicht zuletzt deswegen überzeugt, weil sich die deutsche Literatur die westliche Nachbarnation Jahrzehnte lang zum Vorbild nahm. Zudem erinnern die zahlreichen ‚wir’-Formulierungen, mit denen das erzählte Ich sich zum Repräsentanten einer Gruppe, ja einer Generation stilisiert, an den Literaturüberblick im Siebenten Buch, zumal die Wirkung, die die französische Tradition auf diese Gruppe ausübte, wieder mit den gleichen Begriffen apostrophiert wird wie diejenige der deutschen Aufklärung dort. Auch sie bietet nichts als ‚chaotische Zustände’ und neben einigem Brauchbaren und ‚Richtigen’ vieles Unnütze und ‚Falsche’ und damit ‚Irrwege’, die für Verwirrung und Orientierungslosigkeit sorgen: Alles dieses und manches andere, recht und törigt, wahr und halbwahr, das auf uns einwirkte, trug noch mehr bei, die Begriffe zu verwirren; wir trieben uns auf mancherlei Abwegen und Umwegen herum, und so ward von vielen Seiten auch jene deutsche literarische Revolution vorbereitet, von der wir Zeugen waren, und wozu wir, bewußt und unbewußt, willig oder unwillig, unaufhaltsam mitwirkten (DuW III, S.534).
Die Konsequenzen, die das erzählte Ich unmittelbar aus den jeweiligen ‚Enttäuschungen’ zieht, sind – obwohl wechselseitig aufeinander bezogen – diametral entgegengesetzt: Die Leipziger ‚Irrfahrt’ mündet tatsächlich in einer Sackgasse, in physischer und psychischer Erschütte_____________ 102
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Zu untersuchen bliebe auch, inwiefern die Vorwürfe, die das erzählende Ich hier gegen die französische Literatur richtet, zumindest im Bezug auf das Publikum in Deutschland so wirkungsmächtig waren, dass sie das deutsche Bild von der französischen Literatur der Aufklärung und des Klassizismus bis heute prägten.
rung, die erst im autobiographischen Rückblick als notwendige Voraussetzung für das sich hier vorbereitende spätere Durchbrechen der deutschen literarischen Tradition gewertet werden kann. Für den jungen Goethe bedeutet sie im Achten Buch zunächst die Erfahrung einer Niederlage, eines ‚Schiffsbruchs’. Am Ende der Straßburger ‚Irrfahrt’ hingegen steht der endgültige ‚Befreiungsschlag’: von der noch wirkungsmächtigeren französischen Literaturautorität, der dazu führt, dass er als „neuer Kolumbus“ und Vorreiter einer ganzen Generation den entscheidenden Schritt wagt, alle Bindungen hinter sich zu lassen und mit „jene[r] deutsche[n] literarische[n] Revolution“ etwas ganz Neues zu initiieren.103 Der Sturm und Drang nimmt damit in Straßburg seinen Ausgangspunkt und erscheint als doppelte ‚Abrechnung’ der Jugend mit der Generation der ‚Väter’: mit dem dominanten Pol des deutschen wie des französischen literarischen Felds, das der aufstrebenden Avantgarde keinerlei Orientierung mehr bieten kann. ‚Begünstigende’ Einflüsse werden jetzt erst – in Straßburg – genannt (der Mentor Herder, Justus Möser, das Münster-Erlebnis, schließlich Shakespeare) und zwar als die eigene Entwicklung befördernd gewürdigt, gegenüber den ‚widerstrebenden’ Einflüssen, von denen es sich zunächst und vor allem zu befreien gilt, treten sie jedoch im Eilften Buch, in dem der epochengeschichtliche Durchbruch zum Sturm und Drang inszeniert wird, quantitativ wie qualitativ deutlich zurück. Goethe schreibt sich selbst auf diese Weise zu, wie Winckelmann vor dem Hintergrund seines ‚Jahrhunderts’ als singuläre Gestalt auf seine Zeit gewirkt und der Kulturgeschichte als ein „neuer Kolumbus“ neue Wege gewiesen zu haben. In der Winckelmann-Schrift dient dazu vor allem Meyers „Entwurf einer Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts“ als „funktionsbestimmte Negativfolie“,104 von der sich der herausragende Künstler und Wissenschaftler Winckelmann absetzt. Bei der Darstellung von Goethes schöpferischem Neubeginn, der als Beginn einer neuen Epoche der deutschen Literaturgeschichte inszeniert wird und so durch eine individuelle Leistung zum kulturellen Fortschritt beiträgt, bedarf es des doppelten ‚Traditionsbruchs’, der _____________ 103
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Es klingt, als ob ein beengender Panzer plötzlich und endlich abgestreift werden konnte: „So waren wir denn an der Grenze von Frankreich alles französischen Wesens auf einmal bar und ledig. Ihre Lebensweise fanden wir zu bestimmt und zu vornehm, ihre Dichtung kalt, ihre Kritik vernichtend, ihre Philosophie abstrus und unzulänglich, so daß wir auf dem Punkte standen, uns der rohen Natur wenigstens versuchsweise hinzugeben […]“ (DuW III, S.536). Barner, Goethes Bild von der deutschen Literatur der Aufklärung, S.302.
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‚Abrechnung’ mit und der Ablösung von den literarischen Traditionen der deutschen Aufklärung und des französischen Klassizismus. Das ‚Grenzüberschreitende’, das durch den Bruch mit Traditionen den Horizont des eigenen „Jahrhunderts“ Transzendierende ist demnach etwas, das Goethe den herausragenden Individuen zuschreibt, die Fortschritte im Bereich der Kulturgeschichte befördern, und das er sowohl auf Winckelmann wie auf die eigene Person appliziert. Zusätzlich lässt sich in Dichtung und Wahrheit eine weitere Parallele zwischen dem erzählten Ich und Goethes Winckelmann-Bild aufzeigen: Beiden Gestalten eignet die Eigenschaft, während ihres gesamten Lebens beständig nach Neuem zu suchen, bei einmal erlangten Überzeugungen nicht stehen zu bleiben, sondern sie immer wieder einer kritischen Prüfung zu unterziehen, sie weiterzuentwickeln und sie gegebenenfalls zu revidieren. Im Kontext des Eilften Buchs kommt hier vor allem dem Besuch im Mannheimer Antikensaal eine besondere Funktion zu, die auf Späteres verweist, das im autobiographischen Rückblick als eine höhere Entwicklungsstufe präsentiert werden soll. 3.2.4
„[N]ur erst durch einen großen Umweg sollte ich in diesen Kreis zurückgeführt werden“ – der Besuch im Mannheimer Antikensaal
Die Sammlungen in Mannheim und in Dresden waren im 18. Jahrhundert für sehr viele Deutsche das Tor zur Antike – sei es, weil sie hier zum ersten Mal mit antiker Kunst in Berührung kamen, bevor sie (zunehmend in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts) zu den bürgerlichgelehrten Bildungsreisen nach Italien aufbrachen, sei es, weil sich ihr Kontakt mit griechischer und römischer Plastik überhaupt auf ihre Besuche in diesen beiden wichtigsten und größten Antikensammlungen nördlich der Alpen beschränkte. Entsprechend kommt der Bedeutung dieser beiden Kunstsammlungen – gerade, was ihre Wirkung auf die Zeitgenossen anbelangt – eine beinahe nationale Dimension zu. Dass der Besuch im Mannheimer Antikensaal aber auch für den jungen Goethe so einen großen Stellenwert besessen hat, wie ihm in Dichtung und Wahrheit zugeschrieben wird, mag nicht nur deswegen bezweifelt werden, weil sich der späte Goethe bei der Arbeit am Dritten Teil von Dichtung und Wahrheit nachweislich wieder einen Akt des Umarrangierens, des corriger l’histoire erlaubt, indem er sich hier schon allein in der zeitlichen Einordnung des Aufenthalts in Mannheim über die histori-
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schen Fakten hinwegsetzt: Tatsächlich fand der Besuch dort nämlich bereits im Herbst 1769 von Frankfurt aus statt105 und nicht, wie Dichtung und Wahrheit vorgibt, auf der Rückreise von Straßburg im August 1771. Betrachtet man die Passage über den Antikensaal außerdem vor dem Hintergrund der Arbeiten, die der junge Goethe in Straßburg und kurze Zeit darauf verfasst hat – zu erinnern sei etwa nur an den Aufsatz Von deutscher Baukunst, in dem das gotische Straßburger Münster und der „Genius“106 seines Erbauers, Erwin von Steinbach, als Gegenbilder einer französischen und italienischen Architektur und als Leistung einer deutschen Nationalkultur begeistert gefeiert werden –, so drängt sich die Vermutung auf, dass es sich hier um eine Passage handelt, die der späte Goethe gezielt deswegen eingefügt hat, um dem Leser gerade im „kompositorische[n] Zentrum von Dichtung und Wahrheit“107 und damit an exponierter Stelle daran zu erinnern, dass er selbst bei den kunsttheoretischen Überzeugungen des Sturm und Drang nicht stehen geblieben ist, sondern dass im Sinne einer teleologischen Deutung der eigenen Existenz seinem später entwickelten klassischen Kunstprogramm der eindeutig höhere Wert zukommt: Hier handelt es sich um Ideale, denen das erzählende Ich anhängt – der sich in Straßburg vollziehende schöpferische Durchbruch zum Sturm und Drang dagegen hatte zwar literaturgeschichtlich eine große Bedeutung, dennoch wird diese ‚Epoche’ aber als eine längst überwundene und ‚korrigierte’ Entwicklungsstufe ausgegeben. Tatsächlich nahm Goethe die Gelegenheit zum intensiveren Studium antiker Plastiken zum ersten Mal in Mannheim wahr,108 wo er den _____________ 105
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Vgl. den Brief an Ernst Theodor Langer vom 30. 11. 1769: „Sur la fin du mois passé, j’ai fait un tour bien agreable dont le but etoit Mannheim. Entre bien de jolies choses que j’y ai rencontré, entre bien de magnifiques qui frappent les yeux, rien n’a pu tant attirer tout mon etre, que la Grouppe de Laokoon, nouvellement moulee sur l’original de Rome. J’en ai eté extasie, pour oublier presque touttes les autres statues qui ont ete moulies avec elle, et qui sont dans la meme salle“ (FA II/1, S.172–175, hier S.174). Ob Goethe auf der Rückreise von Straßburg den Mannheimer Antikensaal eventuell ein zweites Mal besucht hat, lässt sich nicht belegen. FA I/18, S.111 u.ö. Jeßing, Artikel ‚Dichtung und Wahrheit’, S.303. Bereits seit frühester Kindheit waren Goethe einzelne antike Kunstwerke zwar durch die Stiche präsent, die sein Vater von seiner Reise nach Italien im Jahre 1740 mitgebracht und im Frankfurter Wohnhaus der Familie aufgehängt hatte. Großen Eindruck hatten auch theoretische Schriften über antike Kunst, namentlich Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) und Lessings Laokoon (1766) auf den jungen Goethe gemacht, dennoch aber beschränkte er sich auf seiner kurzen Reise nach Dresden auf den mehrfachen Besuch der Gemäldegalerie und verzichtete auf eine Besichtigung der dortigen Antikensammlung: „Die wenigen Tage meines Aufenthalts in Dresden waren allein der Gemäldegalerie
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dortigen Antikensaal besuchte: Dieser war seit 1753 unter Karl Theodor von der Pfalz und dem eigens zu diesem Zweck von ihm berufenen Bildhauer Verschaffelt gebaut und mit sämtlichen Gipsabgüssen gefüllt worden, die sich im Besitz des Kurfürsten befanden. Zusätzlich wurden neue Kopien aus Italien beschafft. Der Mannheimer Antikensaal stellte in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neben der Sammlung in Dresden die beste Möglichkeit dar, antike Kunstwerke zu studieren.109 Diese ‚Erstbegegnung’ mit antiker Plastik und Architektur wird im autobiographischen Rückblick als d i e Initiationserfahrung ausgestaltet, die bereits keimhaft die Gedanken und Überzeugungen anlegt, die Goethe den Weg nach Italien und damit der deutschen Literaturgeschichte den Weg zum nächsten Epochendurchbruch weisen: Schließlich ist ein zentraler Faktor der „Wiedergeburt“, die Goethe in Italien erfährt, die Anschauung,110 die sinnliche Erfahrung der antiken Kunst (dann allerdings – als ganz neue Stufe ausgewiesen – im Original und nicht etwa in Gipsabdrücken oder Zeichnungen), die ihm wichtige Impulse für die Entwicklung seines ‚klassischen’ Stilideals vermittelt, und nach allgemeinem Konsens datiert man mit Goethes Reise nach Italien den ‚Epochenumbruch’ vom ‚Sturm und Drang’ zur ‚Klassik’. Erst ab hier lässt sich die uneingeschränkte Vorbildlichkeit der antiken Kunst für Goethe, die während seines gesamten Lebens andauert, in zahlreichen programmatischen Texten und Äußerungen belegen. Das erzählte Ich wird beim Besuch im Mannheimer Antikensaal als ein „Anfänger[…]“ dargestellt, der „von dem Ende der Kunst“ – als ein solcher ‚Hochpunkt’ der Kunst wird die antike Plastik vom erzählenden Ich sogleich ausgewiesen – noch gar keinen „Begriff“ habe (DuW III, S.545), von den später mit Selbstsicherheit vertretenen und entschieden gegen abweichende Auffassungen – v.a. gegen die ‚kranken’ romanti_____________ 109
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gewidmet. Die Antiken standen noch in den Pavillons des großen Gartens, ich lehnte ab sie zu sehen […]“ (DuW II, S.352). Vgl. dazu die Kommentare der verschiedenen Goethe-Ausgaben, mit nach wie vor aufschlussreichen Informationen zur allgemeinen Bedeutung der Mannheimer Sammlung z.B. Erich Trunz’ Kommentar in der Hamburger Ausgabe: HA 9, S.799. Dass der Passage über den Mannheimer Antikensaal meines Wissens immer noch keine eigene Untersuchung gewidmet ist, scheint angesichts der zentralen Bedeutung, die er im Kontext des Eilften Buchs von Dichtung und Wahrheit einnimmt, verwunderlich. Zur Bedeutung der ‚Anschauung’ für Goethe sei an dieser Stelle zunächst nur auf den entsprechenden Artikel des Goethe-Handbuchs verwiesen (Waltraud Naumann-Beyer, Artikel ‚Anschauung’. In: GHb 4.1, S.50–52), der eine erste Orientierung in diesem komplexen Themenbereich (mit weiterführenden Literaturangaben) bietet, auf den in dieser Arbeit im Zusammenhang mit der Frage, w i e sich Goethe einen Zugang zur Geschichte verschafft – gerade während seiner Reise durch Italien – an anderer Stelle noch ausführlich eingegangen wird.
schen – verteidigten Werturteilen des klassischen und nachklassischen Goethe also noch weit entfernt ist. Ganz allein auf sich gestellt lässt Direktor Verschaffelt diesen „Anfänger[…]“ im Saal zurück, in dem „die herrlichsten Statuen des Altertums nicht allein an den Wänden gereiht, sondern auch innerhalb der ganzen Fläche durch einander aufgestellt“ sind. Den Weg durch diesen „Wald von Statuen, durch den man sich durchwinden, eine große ideale Volksgesellschaft, zwischen der man sich durchdrängen mußte“ (DuW III, S.546), muss sich das erzählte Ich daher ganz allein erschließen – und es gelingt ihm gerade deshalb umso besser, weil es sich hier von vornherein auf sich selbst besinnt, sich eben nicht von einem „zersplitternde[n…] Urteil“ (DuW III, S.547) beeinflussen und (fehl-)leiten lässt (wie etwa auf dem Gebiet der Literatur zuvor von den deutschen und französischen Traditionen, von deren autoritativen Maßstäben es sich zunächst zu befreien gilt), sondern die „Eindrücke […] genießend […] in sich aufnimmt“ (ebd.). Fremde Werturteile, selbst diejenigen höchster Autoritäten, werden dabei als hinderlich ausgewiesen: „Schon in Leipzig, bei Gelegenheit der Winkelmannschen und Lessingschen Schriften, hatte ich viel von diesen bedeutenden Kunstwerken reden hören, desto weniger aber gesehn“ (DuW III, S.545) – angedeutet wird bereits hier, was dann in der Italienischen Reise zu einem festen Grundsatz der Annäherung an antike Kunst ausgestaltet wird: dass der Weg zu wahrer Erkenntnis zunächst über das unverstellte und genießende Sehen, über unmittelbare Anschauung und genaue Betrachtung geht. Allerdings wird wiederum deutlich gemacht, dass der junge Goethe von dieser – späteren – Einsicht noch weit entfernt gewesen sei: „Ich wußte noch nicht, wie unmöglich es sei, sich von einem genießenden Anschaun sogleich Rechenschaft zu geben. Ich zwang mich zu reflektieren“ (DuW III, S.546). Dennoch wird dem erzählten Ich im autobiographischen Rückblick zugeschrieben, gleichsam mit intuitiver Sicherheit ‚gefühlt’ zu haben, welche Statuen in dem zunächst undurchdringlich erscheinenden „Wald“ die bedeutendsten waren: „Nachdem ich die erste Wirkung dieser unwiderstehlichen Masse eine Zeit lang geduldet hatte, wendete ich mich zu denen Gestalten, die mich am meisten anzogen“ (ebd.) – zum Apoll von Belvedere und zur Laokoon-Gruppe. Angedeutet werden im Folgenden – bezogen auf diese beiden Statuen – einige zentrale Elemente von Goethes ‚klassischer’ Ästhetik. Schließlich verweist das erzählende Ich am Ende des Abschnitts selbst explizit auf den im ‚Höhepunkt’ der klassischen Zeit entstandenen Aufsatz Über Laokoon, den
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Goethe 1798 in den Propyläen veröffentlichte und in dem am Beispiel der Laokoon-Plastik als eines „höchsten Kunstwerk[s…]“111 das klassische Stilideal exemplifiziert wird: Der Grundstein dafür sei bereits bei der ersten Begegnung mit dieser Statue durch die Betrachtung der Mannheimer Kopie gelegt worden; auch habe Goethe bereits direkt im Anschluss an den Aufenthalt in Mannheim einen ersten LaokoonAufsatz geschrieben, welcher allerdings nur als sehr kurzes Fragment überliefert ist, in dem vor allem die Köpfe der beiden Söhne beschrieben werden und sich klassische Ideen noch keineswegs nachweisen lassen.112 In Dichtung und Wahrheit wird schon durch die wertenden Attribute deutlich, dass das erzählende Ich die griechische Kunst zu einem Vorund Leitbild erhebt: Von „wundersamsten Eindrücken“ (DuW III, S.545), von „diesen bedeutenden Kunstwerken“ (ebd.), vom „Ende der Kunst“ (im Sinne eines ‚Höhepunkts’ der Kunst) ist die Rede (ebd.). Obwohl sich Goethe in der Straßburger Zeit sehr von der gotischen Baukunst angezogen fühlte und von der Architektur des Straßburger Münsters tief beeindruckt war, lässt der reife Goethe im Zusammenhang mit der Betrachtung eines Kapitellabgusses des Pantheons nicht leugnen, „daß beim Anblick jener so ungeheuren als eleganten Akanthblätter mein Glaube an die nordische Baukunst etwas zu wanken anfing“ (DuW III, S.547) – ein erneuter Versuch der Korrektur früherer durch die Erinnerung des Lesers an spätere Überzeugungen. Zentral für Goethes in klassischer und nachklassischer Zeit propagiertes Kunstideal ist die Formulierung, dass jede einzelne betrachtete antike Plastik, „ein jeder Gegenstand natürlich und in sich selbst bedeutend sei“ (DuW III, S.546). Zum einen ruft sie das Stilideal einer an der Natur orientierten Kunst auf den Plan, zum anderen deutet sie den Grundsatz der Autonomieästhetik an, die eine in sich geschlossene Kunst favorisiert. Ein ‚echtes’ Kunstwerk ist in diesem Sinne nicht etwa durch seine Verweisfunktion in einem übergeordneten System definiert, sondern es müsse allein für sich, in seiner Abgeschlossenheit, seine ganze Wirkung entfalten können – klarer ausformuliert wird diese Vorstellung etwa im Laokoon-Aufsatz, in dem es über diese Statuengruppe heißt: „Wenn man von einem trefflichen Kunstwerke sprechen will, so ist es fast nötig von der ganzen Kunst zu reden, denn es enthält sie ganz, und jeder kann, soviel in seinen Kräften steht, auch das Allgemei_____________ 111 112
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FA I/18, S.489. Vgl. den kurzen Text „Paralipomenon ‚Zu Laocoon’“ in FA I/18, S.500.
ne aus einem solchen besondern Fall entwickeln“.113 Dem „hohe[n] Kunstwerk[…]“114 kommt so die Funktion eines Symbols im Sinne von Goethes Gebrauch des Begriffs zu, der zunächst nicht so sehr ästhetisch motiviert ist, sondern für eine Wirklichkeitserfahrung steht, die sich wiederum (ähnlich wie beim Begriff der ‚Wiederholten Spiegelungen’) aus Goethes naturwissenschaftlichen Studien herleitet:115 Er verwendet den Terminus ‚Symbol’ – abweichend von seiner ursprünglichen Bedeutung in der griechischen Rhetorik, in der er dem konventionellen Zeichenbegriff sehr nahe ist und das Symbol daher erst durch seine Verweisfunktion sinnstiftend wirkt – gerade dann, wenn „das Für-sich-Sein eines Bedeutungsträgers gegenüber seiner Verweisfunktion“116 betont werden soll, der (Kunst-)Gegenstand aber dennoch „bloß für sich zu stehen [scheint] und […] doch wieder im Tiefsten bedeutend“117 ist. _____________ 113 114 115
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FA I/18, S.489. FA I/18, S.489. Im Kontext von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten ist der Begriff ‚Symbol’ vor allem deswegen wichtig, weil er ihm die Möglichkeit bietet, Empirie und Naturphilosophie, Erfahrung und Idee miteinander vereinbaren zu können. Vgl. zur Bedeutung des Symbolbegriffs in Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten Karl Richter, Naturwissenschaftliche Voraussetzungen der Symbolik am Beispiel von Goethes Alterslyrik. In: Jahrbuch der Wiener Goethe-Gesellschaft 92/93 (1988/89), S.9–24. Robert Stockhammer, Artikel ‚Symbol’. In: GHb 4.2, S.1030–1033, hier S.1030. So eine bezeichnende Formulierung Goethes in dem kurzen Aufsatz Über die Gegenstände der bildenden Kunst vom September 1797, der erst aus dem Nachlass publiziert wurde: FA I/18, S.443. Stockhammer weist darauf hin, dass sich der erste Beleg für das Wort ‚Symbol’ in einer auch für später Entwickeltes sehr aufschlussreichen Passage in einem Brief an Schiller aus demselben Jahr findet: „G[oethe] berichtet dort aus Frankfurt über seine Begegnung mit Gegenständen, die ‚eigentlich symbolisch sind. Das heißt, wie ich kaum zu sagen brauche, es sind eminente Fälle, die, in einer characteristischen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten von vielen andern dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, ähnliches und fremdes in meinem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen’“ (Stockhammer, Artikel ‚Symbol’, S.1031; vgl. FA II/4, S.389, hier in der Orthographie leicht abweichend „charakteristischen“ statt „characteristischen“). Zu Gebrauch und Bedeutung von Goethes Symbolbegriff – auch weiter gefasst im Kontext der Ästhetik um 1800 – sind zahlreiche Arbeiten erschienen. Verwiesen sei hier nur auf die grundlegenden Arbeit und den Sammelband von Sørensen und – für knapper gehaltene Informationen – den Aufsatz von Binder: Bengt Algot Sørensen (Hg.), Allegorie und Symbol. Texte zur Theorie des dichterischen Bildes im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1972; Bengt Algot Sørensen, Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik, Kopenhagen 1963; Wolfgang Binder, Das ‚offenbare Geheimnis’. Goethes Symbolverständnis. In: Welt der Symbole. Internationale Aspekte des Symbolverständnisses, hg. von Gaetano Benedetti und Udo Rauchfleisch, Göttingen 1988, S.146–163.
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In der Passage über den Besuch im Mannheimer Antikensaal lassen sich demnach zentrale Konstanten von Goethes ‚klassischer’ Ästhetik festmachen: Zu nennen sind in diesem Zusammenhang der Primat der eigenen Anschauung bei der Auseinandersetzung mit bildender Kunst und Architektur, die Vorbildfunktion der Griechen sowie die Idealisierung einer Kunst, die sich an der Natur orientiert und die Kunstwerke schafft, die „in sich selbst bedeutend“ (DuW III, S.546) sind. Die Entwicklung des erzählten Ichs wird auf diese Weise teleologisch ausgestaltet: Es wird als ein Individuum vorgeführt, das die Keime für spätere Entwicklungsstufen bereits in sich trägt und schließlich – darin anderen „tüchtige[n]“ Gestalten gleich, die jeweils als ein „neuer Kolumbus“ die (Kultur-)Geschichte voranbringen und die ‚Helden’ von Goethes biographischer Geschichtsschreibung darstellen – dazu bereit ist, einmal erlangte Überzeugungen und Ideen beständig weiter zu prüfen und weiterzuentwickeln. Am Ende des Eilften Buchs, als dem erzählten Ich der erste literaturgeschichtlich wichtige ‚Durchbruch’ gelingt, wird deswegen programmatisch auf Späteres, vom Standpunkt des erzählenden Ichs aus Höherwertigeres verwiesen, das dann in der Italienischen Reise als „Wiedergeburt“ für das Ich und als literaturgeschichtlicher ‚Epochenschnitt’ zwischen Sturm und Drang und Klassik inszeniert wird. Nach der Darstellung des Besuchs in Mannheim wird der Leser entsprechend auf Späteres vertröstet: Dieses große und bei mir durchs ganze Leben wirksame frühzeitige Schauen war dennoch für die nächste Zeit von geringen Folgen. Wie gern hätte ich mit dieser Darstellung ein Buch angefangen, anstatt daß ich’s damit ende: denn kaum war die Türe des herrlichen Saals hinter mir zugeschlossen, so wünschte ich mich selbst wieder zu finden, ja ich suchte jene Gestalten eher, als lästig, aus meiner Einbildungskraft zu entfernen, und nur erst durch einen großen Umweg sollte ich in diesen Kreis zurückgeführt werden (DuW III, S.547).
Der Leser weiß, dass als Ziel damit Italien anvisiert ist, das dann schließlich am Endpunkt des „großen Umweg[s]“ steht und den „neue[n] Kolumbus“ ein zweites Mal zu ‚neuen Ufern’ bringen wird, die der Literaturgeschichte neue Richtungen weisen. Diese – spätere – Leistung ist vom Standpunkt des erzählenden Ichs aus noch größer als das Erreichen des ersten ‚neuen Kontinents’ – der Epoche des Sturm und Drangs –, zu dem er der deutschen Literatur durch das ‚Herausretten’ aus einer „nullen Epoche“, durch die als radikalen Traditionsbruch inszenierte Ablösung von der deutschen wie von der französischen Literatur, den Weg bahnte. Insgesamt wird deutlich – und dies ist im Hinblick auf die Frage, inwiefern in Goethes Geschichtsdenken das herausgehobene Individuum historische Prozesse initiiert und voranbringt, entscheidend –, dass 176
sich in der individuellen Entwicklung des jungen Genies im Siebenten bzw. im Eilften Buch von Dichtung und Wahrheit nicht allein eine kulturelle Entwicklung mit nationalen Dimensionen widerspiegelt. Darüber hinaus wird dem herausgehobenen Individuum das Verdienst zugesprochen, die deutsche Literatur überhaupt erst auf den ‚richtigen’ Weg gebracht zu haben: zum einen, indem es sie in einem ersten Schritt – symbolisch dargestellt anhand seiner ‚Irrfahrt’ durch das Epochenzentrum Leipzig – von der Orientierung an den das literarische Feld um die Jahrhundertmitte beherrschenden Traditionen der deutschen Aufklärung loslösen konnte, zum anderen, indem es sie in einem zweiten Schritt von der Übermacht der französischen Kultur befreit hat. Welchen entscheidenden Weg, dem dann wiederum in seiner Bedeutung für die gesamte deutsche Literatur- und Ideengeschichte nationale Dimensionen beigemessen wird, das Ich Goethe später einschlägt, wird in der Passage über den Mannheimer Antikensaal bereits antizipiert: Vorausgewiesen wird hier auf die Reise nach Italien, die nicht nur dem autobiographischen Helden selbst, dessen Entwicklung die Verhältnisse in Weimar mehr ‚widerstreben’ als ‚begünstigen’, zu einer „Wiedergeburt“ verhilft, sondern darüber hinaus (aus der Sicht des alten Goethe, der immer noch – und gerade in seinen Autobiographischen Schriften – das klassische Kunstprogramm verteidigt) die deutsche Kulturgeschichte zu ihrem Telos führt: zur Epoche der Weimarer Klassik, die ohne ihn selbst nicht denkbar ist. Historischer Fortschritt scheint demnach – in begrenztem Rahmen, nämlich bezogen auf das Feld der Kulturgeschichte – möglich: durch die Leistungen herausgehobener Individuen, die die Kraft und die Fähigkeit besitzen und nutzen, sich – selbst wenn ihnen ihre „Zeitverhältnisse[…]“ „widerstreb[en…]“ (DuW I, S.13): sei es im Leipziger ‚Irrgarten’, sei es vor dem Hintergrund der Übermacht der ‚fremden’ französischen Kultur und Sprache in Straßburg, sei es später – im ersten Weimarer Jahrzehnt – schließlich angesichts der die Konzentration auf literarische Arbeiten kaum ermöglichenden erdrückenden Amtsaufgaben wie belastenden privaten Verhältnissen – auf sich selbst zu besinnen, ‚in den eigenen Busen zu greifen’118 und sich von den ‚verwirrenden’ und keine produktiven Anknüpfungsmöglichkeiten bietenden Einflüssen zu befreien. Weil diese ‚Befreiung’ sich in Goethes Texten nie nur auf die eigene Entwicklung bezieht und dem Genie selbst schöpferische Neuanfänge ermöglicht, sondern immer nach außen _____________ 118
Vgl. die bereits zitierte Formulierung im Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit: DuW II, S.309.
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‚wirkt’, wird durch die Leistungen des herausragenden Individuums die Geschichte geprägt.
3.3
Der Blick auf das Individuum: die Geschichte des erzählten Ichs
3.3.1
Die Bedeutung der Sterne – in der Eingangspassage von Dichtung und Wahrheit und in Urworte. Orphisch
„Am 28. August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt“ (DuW I, S.15) – diesem bekannten, betont sachlich-nüchternen ersten Satz von Dichtung und Wahrheit folgt nur ein kurzer Absatz, der dem Tag der Geburt des erzählten Ichs gewidmet ist. In diesen wenigen Zeilen ist jedoch vor allem zweierlei bemerkenswert: zum einen die Behauptung, dass schon von Goethes Geburt etwas ausgegangen sei, das „manchem der Nachgebornen mag zu Gute gekommen sein“ (ebd.), weil sein Großvater, nachdem „Ungeschicklichkeit der Hebamme“ (ebd.) bei der Geburt den Enkelsohn beinahe das Leben gekostet hätten, als Frankfurter Ratsmitglied sofort Maßnahmen einleitete, um die Geburtsversorgung zu verbessern. Gleich hier wird also das betont, was eine zentrale Darstellungsintention des gesamten Autobiographieprojekts ausmacht:119 Der „neue[…] Kolumbus“ (Winkelmann, S.191), der später der Literaturgeschichte neue Wege weisen wird, bringt mit dem Tag seiner Geburt zunächst einmal der Stadt Frankfurt etwas Gutes und die hygienischmedizinische Versorgung der Bevölkerung voran. Zum anderen mögen ganz ohne Verweis auf intertextuelle Bezüge und ohne Aufschlüsselung des Symbolwerts der Eingangspassage die scheinbar ‚astrologischen’ Bemerkungen zur „glücklich[en]“ „Konstellation“ des 28. August 1749 – diese „guten Aspekten [sic!], welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten“ (ebd.) – rätselhaft anmuten: […] die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der so eben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen (ebd.).
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Vgl. dazu ausführlich das vorangegangene Kapitel dieser Arbeit.
Während Klaus-Detlef Müller in der Frankfurter Ausgabe diesen Einstieg als „ironisches Zitat“120 wertet und mit dem Vermerk darauf kommentiert, dass das „astrologische Motiv“ einen „autobiographischen Topos“121 tradiere, denn im Gegensatz zu früheren Autobiographen122 sei die Astrologie für Goethe „ein allenfalls subjektiv verbindlicher ‚Aberglaube’“123 gewesen, führen Erich Trunz’ Hinweise im Kommentar der Hamburger Ausgabe einen Schritt weiter: Sicherlich sei Goethe keineswegs ‚Astrologe’ gewesen, vielmehr sei das SternenMotiv „nur als Symbol benutzt“, mit dem im Übrigen „[a]uch das Gedicht Urworte, orphisch beginnt“.124 Der intertextuelle Bezug zu dem sechs Jahre später entstandenen Gedicht kann im Rahmen des Trunzschen Kommentars nur angedeutet bleiben – auch die Ausdeutung des „Sternen-Symbol[s]“ beschränkt sich auf die Bemerkung, dass darin „die Einmaligkeit des Individuums und Bedingtheit durch Ort und Zeit“125 ausgesprochen werde. Es lohnt sich allerdings, den intertextuellen Bezügen genauer nachzugehen, zumal diese sich nicht nur auf die eine Gemeinsamkeit beschränken, die sofort ins Auge sticht – nämlich dass beide Texte ihren Ausgangspunkt von der Sternenkonstellation nehmen –, sondern sich weitere Parallelen zwischen dem Gedicht und Dichtung und Wahrheit, ja noch allgemeiner gefasst: zwischen dem Gedicht und Goethes Autobiographischen Schriften nachweisen lassen. Denn wenn in den Urworten allgemeine Gesetzmäßigkeiten und Bedingungsfaktoren präsentiert werden, die j e d e menschliche Existenz prägen, so ist anzunehmen, dass gerade auch die Geschichte des erzählten Ichs durch eben diese fünf Ur-Kräfte bestimmt wird und die Autobiographischen Schriften sie und ihre (Ein-)Wirkung auf die Entwicklung des Individuums an einem beispielhaften Lebenslauf illustrieren. Daimon, Tyche, Eros, Anangke und Elpis müssten sich dabei – so die Ausgangsthese dieses Kapitels – als Bedingungsfaktoren für die Entwicklung des Individuums entsprechend in Goethes eigener ‚Geschichte’ nachweisen lassen und eine Re-Lektüre seiner Autobiographischen _____________ 120 121 122
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Kommentar von Klaus-Detlef Müller in FA 14, S.1076. Kommentar von Klaus-Detlef Müller in FA 14, S.1075. Erwähnt wird Geronimo Cardanos Autobiographie De propria vita (1643), die Goethe nachweislich 1808 erneut gelesen hat und in der der „[…] Sternenkonstellation, die er [i.e. Cardano] als bedrohlich auslegte, eine ernstzunehmende wissenschaftliche Bedeutung“ (Kommentar von Klaus-Detlef Müller in FA 14, S.1076) beigemessen wird. Kommentar von Klaus-Detlef Müller in FA 14, S.1076. Kommentar von Erich Trunz in HA 9, S.644. Kommentar von Erich Trunz in HA 9, S.644.
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Schriften vor dem Hintergrund der Urworte. Orphisch könnte so einen neuen Schlüssel zum Verständnis dieser Texte liefern. Durch den Gedichttitel werden die Überschriften der fünf Strophen – die griechischen Begriffe ΔΑΙΜΩΝ, ΤΥΧΗ, ΕΡΩΣ, ΑΝΑΓΚΗ, ΕΛΠΙΣ, im Gedicht übersetzt mit „Dämon“, „Das Zufällige“, „Liebe“, „Nötigung“ und „Hoffnung“ – als ‚Urworte’ ausgewiesen, die – wie bereits in der antiken Religion – in den jeweiligen Strophen als Grundmächte des Lebens vorgestellt werden. Schon Goethes eigener Umgang mit diesem Gedicht zeigt zweierlei: zum einen, dass der Autor selbst dem Text innerhalb seines eigenen Werkes eine besonders hohe Bedeutung zumaß, denn er erwähnt die Urworte in zahlreichen Briefen und überarbeitete sie mehrfach. Bei der zweiten Veröffentlichung – 1820 in Über Kunst und Altertum –,126 die das Ziel verfolgt, mit dem Text doch „ein[…] größere[s…] Publicum“127 zu erreichen als mit seinem Erstdruck in der von Goethe selbst herausgegebenen Zeitschrift Zur Morphologie, fügte er einen Kommentar hinzu, „[…] damit dasjenige was sich hier fast nur ahnen läßt auch einem klaren Sinne gemäß und einer reinen Erkenntniß übergeben sey“ (Urworte-Kommentar, S.491f.).128 Goethe räumt also selbst schon ein, dass er sich ebenfalls der Schwierigkeit _____________ 126
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Es kann hier weder ein Überblick über die Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Gedichts gegeben werden, auch nicht über seine verschiedenen Fassungen (die sich allerdings v.a. auf Änderungen in der ΔΑΙΜΩΝ-Strophe beziehen), noch über die vielen mündlichen wie schriftlichen Erwähnungen, die der Text in Goethes Gesprächen, v.a. aber in seinen Briefen erfährt. Vgl. in diesem Zusammenhang zur ersten Orientierung die informationsreichen Kommentare von Erich Trunz in der Hamburger Ausgabe (HA 1, S.721–724) und Karl Eibl in der Frankfurter Ausgabe (FA I/2, S.1092– 1098). Zitiert wird das Gedicht, der Argumentation von Theo Buck und Walter Dietze folgend, nach der Weimarer Ausgabe (WA I/3, S.95f.), da diese – im Unterschied zu Hamburger und Frankfurter Ausgabe – nicht nur die authentische Schreibweise weitestgehend beibehält, sondern auch „den von G.[oethe] absichtsvoll herbeigeführten Veränderungen in der Eingangsstrophe Rechnung“ trägt, auf die der Autor „beträchtlichen Wert“ legte (Theo Buck, Artikel ‚Urworte. Orphisch’. In: GHb 1, S.354–365, hier S.355; vgl. entsprechend auch Walter Dietze, Urworte, nicht sonderlich orphisch. In: GJb 94 (1977), S.11–37, hier S.15). Wird im Folgenden aus dem Gedicht zitiert, so wird also die Weimarer Ausgabe zugrunde gelegt und im fortlaufenden Text lediglich Urworte als Sigle sowie die jeweilige Verszahl angegeben. FA I/20, S.491. Auch im Folgenden wird Goethes Prosa-Kommentar zu seinem Gedicht Urworte. Orphisch in der Zeitschrift Über Kunst und Altertum II/3 aus dem Jahr 1820 nach der Frankfurter Ausgabe zitiert; Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle Urworte-Kommentar nachgewiesen. Eine weitere bezeichnende Parallele zwischen dem Gedicht bzw. dessen ProsaKommentar und Dichtung und Wahrheit besteht im Übrigen darin, dass in beiden Fällen der Wunsch von „Freunde[n]“, nähere Erläuterungen des Autors zu seinem Gedicht bzw. – im Falle von Dichtung und Wahrheit – zu seinem Werk im Allgemeinen zu erhalten, als Movens für die Abfassung und Veröffentlichung des Textes ausgegeben wird.
des Gedichts bewusst war und dass „für ein genaues Verstehen dieses komplexen Textes“ ein erheblicher „hermeneutische[r…] Aufwand zu leisten“129 sei und heute noch resümiert Buck den Forschungsstand treffend, indem er konzediert, dass kaum eine – selbst der neueren – zahlreichen Arbeiten zu den Urworten über den Goetheschen Eigenkommentar hinausgehe und in der Forschung bislang „positivistische Reproduktionen der Grundgegebenheiten oder paraphrasierende Ausmalungen der thematischen Leitlinien“130 dominierten. Im Folgenden soll ein anderer heuristischer Weg beschritten werden, indem anhand einer näheren Bestimmung der fünf Urworte versucht wird, das Bedingungsverhältnis der Entwicklung des Individuums zwischen diesen fünf ‚Lebenskonstanten’ näher zu definieren, um auf dieser Grundlage im weiteren Verlauf dieses Kapitels untersuchen zu können, dass – so die zentrale These dieses Kapitels – diesen fünf Bedingungsfaktoren auch in Goethes autobiographischer Rückschau auf das eigene Leben eine zentrale Rolle zukommt, die die ‚Geschichte’ des erzählten Ichs prägen.131 Sollte nämlich die bereits von Max Kommerell und Johannes Hoffmeister aufgestellte These zutreffen, dass es sich bei Goethes (Um-)Deutung der ‚orphischen’ ίεροί λόγοι132 nicht um Bedingungsfak_____________ 129 130 131
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Buck, Artikel ‚Urworte. Orphisch’, S.364. Buck, Artikel ‚Urworte. Orphisch’, S.364. Nützlich für die folgenden Überlegungen waren die Aufsätze von Dietze, Urworte, nicht sonderlich orphisch, und Hoffmeister (Johannes Hoffmeister, Goethes ‚Urworte – orphisch.’ Eine Interpretation. In: Logos 19 (1930), S.173–212) sowie das Kapitel „Die Kräfte des menschlichen Lebenslaufs und die ‚ewigen’ Augenblicke der ‚Urworte. Orphisch’ (1817)“ aus der Dissertation von Anglet (Andreas Anglet, Der „ewige“ Augenblick. Studien zur Struktur und Funktion eines Denkbildes bei Goethe, Köln, Weimar und Wien 1991 (Kölner Germanistische Studien, Bd. 33), S.47–57). Die beiden wohl jüngsten ausführlicheren Interpretationen des Gedichts entsprechen dagegen leider etwas zu sehr ihren Titelformulierungen, die beide den Begriff „Orakel“ verwenden: Ihre Ausführungen führen in so viele – mythologische, hermeneutische und philosophische – Richtungen und greifen dabei – jedenfalls, was den Aufsatz von Anton anbelangt – immer wieder auch auf andere (nicht nur Goethe-) Texte aus, dass sie methodisch fragwürdig erscheinen und insgesamt wenig erhellende Ergebnisse offerieren: Anton, Herbert, Orakel der Existenz. „Urworte. Orphisch.“ In: Gedichte von Johann Wolfgang Goethe, hg. von Bernd Witte, Stuttgart 1998, S.169–185; Christian Schärf, Orpheus als Orakel. Metamorphose und Kosmogonie beim späten Goethe im Hinblick auf „Urworte. Orphisch“. In: GJb 117 (2000), S.154–164. Auf den aktuellen Anlass von Goethes Gedicht kann hier nicht eingegangen werden. Es handelt sich dabei um einen von einer Kontroverse des Leipziger Altphilologen Gottfried Hermann und Georg Friedrich Creuzer, dem Heidelberger Autor der vierbändigen Symbolik und Mythologie der alten Völker (1810–1812), das seinerzeit für Aufsehen gesorgt hatte, ausgegangenen Gelehrtenstreit um eine ‚Urmythologie’, bei dem von Creuzer schließlich auch die These vertreten wurde, dass „Orpheus heilige Offenbarungsschrif-
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toren handelt, die im Laufe des Lebens mit gleichbleibender Stärke und damit synchron auf die Entwicklung des Individuums einwirken, sondern vielmehr um Kräfte, die eine „zeitliche Ordnung“133 vorgeben und daher sukzessive eine Stufenfolge darstellen, bei der „[j]edem Urwort […] dann eine Stufe im Menschenleben von der Geburt bis zum Greisenalter [entspricht],“134 so müssten diese „Kräfte des menschlichen Lebenslaufes“135 schließlich bzw. gerade einen Schlüssel zum Verständnis von Goethes Autobiographischen Schriften bieten – und zwar insofern, dass sich in jeder ‚Epoche’ des Goetheschen Lebenslaufes jeweils eine Ur-Kraft besonders prägend auf die Entwicklung des erzählten Ichs auswirkt.136 3.3.2
Urworte. Orphisch als Programm-Gedicht der Alterslyrik – der Blick auf den menschlichen Lebenslauf
Die erste Stanze der Urworte verweist mit dem Bild der festen, vorgegebenen Sternenkonstellation, die der Mensch so hinnehmen muss, wie sie nun einmal „an dem Tag, der dich der Welt verliehen“ (Urworte, V. 1) ist, auf ein „Gesetz“ (Urworte, V. 4), das für das Individuum und dessen Entwicklung bindend ist. Auf dieses „Gesetz“ kann es sich berufen, es verleiht ihm Sicherheit und Beständigkeit, aber es gibt ihm auch verbindliche Regeln und setzt unüberwindbare Schranken. Entsprechend bestimmt Goethe in seinem Selbstkommentar den ΔΑΙΜΩΝ als die „Bestimmung“, „das Charakteristische“ eines jeden Menschen, die „bey der Geburt unmittelbar ausgesprochene, begränzte Individualität der Person“ (Urworte-Kommentar, S.492) – in diesen For_____________
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ten (ίεροί λόγοι, ‚heilige Worte’: ‚Urworte’) hinterlassen habe, von denen Fragmente durch die Neuplatoniker überliefert waren“ (Kommentar von Karl Eibl in FA, S.1095). Vgl. dazu die ausführlichen Informationen im Kommentar der FA, S.1093–1096. Max Kommerell, Gedanken über Gedichte. 4. Auflage, Frankfurt a.M. 1985 [1. Auflage 1943], S.200. Hoffmeister, Goethes ‚Urworte – orphisch.’, S.180. Anglet, Der „ewige“ Augenblick, S.47. Eine ähnliche These, die die Analogien zwischen dem „in DuW realisierte[n] Entwicklungsschema […] zu allgemeinen organischen Wachstumsvorgängen“ und dann auch zu Goethes Gedicht Urworte. Orphisch betont, stellt Detlev Gwosc auf, allerdings ohne sie in seinem Aufsatz dann konsequent und textnah zu verfolgen: Detlev Gwosc, ‚... um mir meinen Gang synchronistisch, in dem Gange der Umgebung zu denken.’ Zum Grundansatz von Goethes autobiographischem Hauptwerk Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Nachdenklicher Leichtsinn. Essays on Goethe and Goethe reception, hg. von Heike Bartel und Brian Keith-Smith, Lewiston u.a. 2000 (=Studies in German language and literature, Bd. 26), S.13–28, hier S.16.
mulierungen wie in der Gedichtstrophe werden zwei, durchaus als polar entgegengesetzt zu verstehende Facetten dieses Daimon angedeutet: Zunächst eröffnet er dem Individuum Möglichkeiten, die nur ihm allein gegeben sind und ihm einzigartige Entfaltungsspielräume bieten – Möglichkeiten, durch die „sich der Einzelne von jedem andern, bey noch so großer Aehnlichkeit unterscheidet“ (ebd.). Allerdings setzt er dabei „strenge Gränze[n]“ (Urworte, V. 9): „So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen“ (Urworte, V. 5) – die größte Beschränkung ist dem Menschen von Geburt an durch seine ihm „angeborne Kraft und Eigenheit“, die „des Menschen Schicksal“ „mehr als alles Uebrige“ (Urworte-Kommentar, S.492) bestimmt, auferlegt. Wie das Mosaik am Ende zusammengesetzt wird, welches Bild sich schließlich ergibt, hängt von weiteren Faktoren ab; die Steinchen, aus denen es zusammengefügt werden muss, sind jedoch von Anfang an vorgegeben. Die letzten beiden Verse der Daimon-Strophe klingen danach wie ein Trost: „Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form die lebend sich entwickelt“ (Urworte, V. 7f.). Auf das Gesetz, den Daimon ist unbedingter Verlass; er sorgt für „die Unveränderlichkeit des Individuums“ (Urworte-Kommentar, S.492), ganz unabhängig von allen noch so unberechenbaren Wendungen der Geschichte und einschneidenden Gesellschaftsumwälzungen, die sich im Laufe eines Lebens womöglich ereignen mögen. In dieser Gegenüberstellung von der ‚zerstörenden’, ‚zersplitternden’ und ‚zerstückelnden’137 Macht der gesamten Menschheitsgeschichte auf der einen, der Kontinuität und Konstanz der Geschichte des einzelnen Individuums auf der anderen Seite zeigt sich einmal mehr Goethes Abneigung gegen Gesellschafts- und Politikgeschichte, denen er biographische Zugänge zur Geschichte vorzieht. Darüber hinaus klingt im letzten Vers sowie in der Applikation des Verbs ‚gedeihen’138 auf die Entwicklung des Menschen noch etwas anderes an: Er verweist auf den Kontext organologischen Wachsens, bei dem „das Leben als Naturprozeß“139 erscheint. Im Spannungsfeld zwischen Natur und Geschichte sieht er die menschliche Entwicklung eindeutig mehr von den natürlichen Voraussetzungen des Menschen
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Vgl. die entsprechenden Formulierungen in Urworte-Kommentar, S.493. „Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, / Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, / Bist alsobald und fort und fort g e d i e h e n “ (Urworte, V. 1–3; Hervorhebung W. H.). Anglet, Der „ewige“ Augenblick, S.49.
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determiniert als von den – mehr oder weniger ‚zufälligen’ – Einflüssen von Zeit und Umwelt.140 Dennoch werden in der ‚Epoche’ des Heranwachsens immer wieder Möglichkeiten gesucht, die „strenge Gränze“ des Daimons zu „umgeh[en…]“ (Urworte, V. 9), und schließlich werden sie mit Hilfe der zweiten Kraft, die auf das Leben eines jeden Menschen einwirkt, der ΤΥΧΗ, gefunden. Denn das Kind und der Jugendliche müssen sich auf die Außenwelt einlassen, sind dabei noch auf der Suche nach ihrer Bestimmung, sind sich ihrer selbst noch nicht bewusst, suchen statt dessen fremde Vor- und Leitbilder und werden so von zahlreichen gesellschaftlichen Einflüssen geprägt.141 Dies bietet dem Individuum jedoch keinerlei Vorteile, ganz im Gegenteil: Die vielen neuen Möglichkeiten, die deswegen verlockend erscheinen, weil sie vorgeben, die engen Grenzen des Ichs durch Anregungen von außen sprengen zu können, eröffnen nur scheinbar neue Wege und erweisen sich auf lange Sicht als Sackgassen. Denn sie sind doch nichts als „[e]in Wandelndes, das mit und um uns wandelt“ (Urworte, V. 10) und haben keinen Bestand, weil das, was man unter dem ‚zufälligen’ Einfluss anderer und seiner jeweiligen, mitunter häufig wechselnden Umgebung vollbringt, „bald hin= bald wiederfällig“ (Urworte, V. 13) ist: „Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt“ (Urworte, V. 14). Noch deutlicher als ‚Störfaktor’ ausgewiesen, der das Individuum gerade in der Jugend, in der es noch leicht beeinflussbar ist, von seinem durch den Daimon vorgegebenen Telos abzubringen sucht, wird die Macht der Tyche wiederum in Goethes Selbstkommentar. Dort wird ihr zugeschrieben, das „feste, zähe, […] nur aus sich selbst zu entwicklende Wesen […] in mancherley Beziehungen [zu bringen], wodurch sein erster und ursprünglicher Charakter in seinen Wirkungen gehemmt, in seinen Neigungen gehindert wird“ (Urworte-Kommentar, S.493). So verstanden erscheint der Daimon, „der [sich] freylich […] durch alles durch [hält]“ (Urworte-Kommentar, S.494), nun wieder als rettende Instanz: Er ist die stärkere Kraft, diejenige, die sich am Ende durchsetzt und das Individuum zu seinem vorbestimmten Telos führt, weil er, so sehr Tyche _____________ 140
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Auf diese ‚organologische Lesart’ verweisen außerdem die Erstveröffentlichung der Urworte. Orphisch in der Zeitschrift Zur Morphologie sowie die deutlichen Analogien zu den Vorstellungen, die in den Lehrelegien Die Metamorphose der Pflanzen und Metamorphose der Tiere entwickelt werden. Beide Texte sind sicherlich nicht zufällig in derselben Zeitschrift veröffentlicht worden wie die Urworte – die Metamorphose der Tiere sogar im selben Heft des Jahrgangs 1820 – hier (im Erstdruck) allerdings noch unter dem Titel ΑΘΡΟΙΣΜΟΣ –, Die Metamorphose der Pflanzen drei Jahre zuvor. „Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig“ (Urworte, V. 11).
sich bemühen mag und „so oft auch ausgetrieben, immer wieder unbezwinglicher zurückkehrt“ (ebd.) – mit den Worten der ersten Stanze: So, wie das „Gesetz wonach du angetreten [vorgibt, ...] „mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen“ (Urworte, V. 5). Im Zentrum des Gedichts steht die ΕΡΩΣ-Strophe: dass diese „Ankunft eines neuen Göttlichen“ (Urworte-Kommentar, S.494) zeitlich recht genau terminiert ist, legt schon seine Ankündigung in den letzten beiden Versen der Tyche-Strophe nahe: „Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet, / Die Lampe harrt der Flamme die entzündet“ (Urworte, V. 15f.). Nun erst wird vollends deutlich, dass die fünf Stanzen tatsächlich das menschliche Leben in seiner chronologischen Ausdehnung beschreiben. Hier – am Ende der Jugendzeit, wenn die „alte[…] Öde“ (Urworte, V. 18) überwunden ist und der „Frühlingstag“ (Urworte, V. 20) anbricht142 – kommt ganz plötzlich eine neue Lebensmacht ins Spiel, die dann aber umso einschneidender und nachhaltiger wirkt. Schon im Motiv der „Flamme“ werden die verschiedenen Facetten des Eros angedeutet: Sie kann wärmen, aber auch verletzen und zerstören. Diese Doppelfunktion spiegelt sich zudem in der Charakterisierung des Eros wider, der einerseits „vom Himmel nieder[stürzt]“ (Urworte, V. 17) und in diesem Bild gewaltsam in das Leben des Menschen einfällt, andererseits – wenn er „auf luftigem Gefieder“ „heran[schwebt]“ (Urworte, V. 19) – ganz unbeschwert und harmlos wirkt und an den rokokohaftspielerische Züge aufweisenden Amor des in Italien entstandenen Cupido-Gedichts erinnert. Schließlich sei zunächst – wie der ProsaKommentar erklärt – unter dem Eros auch „alles begriffen was man, von der leisesten Neigung bis zur leidenschaftlichsten Raserey, nur denken möchte“ (Urworte-Kommentar, S.494), und so zeigt die Stanze wiederum mehrere Möglichkeiten auf, wie mit der neuen Lebenskraft umzugehen sei und welche Auswirkungen sie auf die Entwicklung des Individuums haben kann. Dass die „verführende Tyche“ (ebd.) hier wieder ihren Einfluss geltend macht und mit dem Eros zunächst eine enge Verbindung eingeht, zeigt sich in dem in der Eros-Stanze wiederkehrenden Bild des Her und Hins, des Unentschiedenseins und des Wechselbads der Gefühle: „[Eros] Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder, / Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang“ (Urworte, V. 21f.). Sowohl im Gedicht selbst als auch in Goethes Kommentar dazu wird nun noch deutlicher ausgesprochen, auf welche gefährlichen Abwege die Tyche den Menschen führen kann, wenn der Eros nun _____________ 142
Auf das Jahreszeitenmotiv, das auf die menschlichen Lebensalter übertragen wird, weist schon Anglet hin: Vgl. Anglet, Der „ewige“ Augenblick, S.52.
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schließlich als treibende Kraft hinzukommt und im Hintergrund seiner Wünsche und Sehnsüchte steht: „[S]ie lockt den Verirrten zu neuen Labyrinthen, hier ist keine Gränze des Irrens: denn der Weg ist ein Irrthum“ (Urworte-Kommentar, S.495). Wie man sich nun aber aus dem Gefühlslabyrinth, in das der Eros entführt und das die Gefahr in sich birgt, sich nicht festlegen zu können, sich „in der Betrachtung zu verlieren“ (ebd.) und schließlich vielleicht gar nicht mehr zu wissen, was man auf immer neuen Wegen eigentlich sucht, retten kann und soll, wird hier formuliert. Es wird dazu eine Gegenüberstellung formuliert, die eine unmissverständliche Wertung impliziert und dem Individuum wieder Beschränkung auf ‚das Eine’ und damit Entsagung und das freiwillige Anerkennen einer nun selbst gesetzten „Gränze“ abverlangt:143 „Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen, / Doch widmet sich das edelste dem Einen“ (Urworte, V. 23f.). Die Eros-Strophe endet so mit der wohl normativsten Passage des gesamten Gedichts, das sonst rein deskriptiv gehalten ist und zeigt, wie die fünf ‚Urkräfte’ die ‚Geschichte’ eines jeden Menschen mitschreiben, nicht etwa, wie der Mensch selbst mit diesen Kräften (am besten) umgehen sollte, und sich mit dem Erteilen von Verhaltensanweisungen entsprechend zurückhält. Anglet führt in diesem Zusammenhang aus, dass das „Ausleben der körperlichen Reife […] von Goethe mit dem Erreichen einer sittlichen Reife verknüpft [wird]“,144 die es dem Menschen erst ermögliche, der Liebe „den Charakter einer dauerhaft wirksamen Kraft“145 zu verleihen – verbunden entsprechend mit dem Aufgeben vorher genossener Freiheit(en). Ob allerdings seine Interpretation, dass die Liebesbeziehung hier nur beispielhaft für andere „Lebensaufgabe[n]“ stehe, denen „sich der Mensch mit Hingabe ‚widmen’ kann“ – und zwar ausschließlich, d.h. der Ehe ähnlich in einer „monogamen Konstellation“ –,146 erscheint mir fraglich; jedenfalls, wenn man den Prosa-Kommentar als _____________ 143
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Auch der Goethesche Kommentar zur Eros-Strophe weist explizit auf die didaktische Funktion der beiden Schlussverse hin: „Daher will das rasche Eintreten der zwey letzten Zeilen uns einen entscheidenden Wink geben, wie man allein diesem Irrsal entkommen und davor lebenslängliche Sicherheit gewinnen möge“ (Urworte-Kommentar, S.495). Anglet, Der „ewige“ Augenblick, S.53. Anglet, Der „ewige“ Augenblick, S.53. Anglet begründet seine Auffassung damit, dass Goethe das griechische ερως in einer Handschrift schließlich auch mit ‚Leidenschaft’ übersetzt habe und auch die unpersönliche Formulierung, man solle sich „dem Einen“ widmen, diese Deutung nahe lege, zumal nach Platons Liebeskonzeption der Eros auch nicht ausschließlich für die zwischenmenschliche Liebe stehe, sondern als universales Prinzip fungiere.
Auslegung des Gedichts gelten lässt. Hier ist nicht nur von „zwei Seelen“, die „sich in einen Leib“, von „zwei Leiber[n]“, die sich „in eine Seele schicken“, die Rede – Formulierungen, die an die Liebeskonzeption erinnern, wie sie in dem Diwan-Gedicht Gingko Biloba ausgeführt wird –, sondern auch von „Familie“ (Urworte-Kommentar, S.496), von „Eltern und Kinder[n]“, die „sich abermals zu einem Ganzen bilden“ (Urworte-Kommentar, S.495). Ebenso zeigt der Hinweis auf gesellschaftliche Sanktionen, auf „Zeremonien“, „Gesetz“ und „Contracte“ von „Staat“ und „Kirche“, „damit alles ja für Zeit und Ewigkeit abgeschlossen sey“ (Urworte-Kommentar, S.496), dass es sich nicht etwa um eine beliebige Lebensaufgabe handelt, für die der Mensch sich bewusst entscheiden sollte, sondern um die Ehe. Zwar wird die Formulierung von einem ironischen Unterton begleitet und bereitet damit auf die „Nachteile“ einer solchen dauerhaften Bindung vor, die dann in der ΑΝΑΓΚΗ-Strophe ausgeführt werden und die mit dem „Vortheil“, das „einen jeden an[zieht]“, einhergehen (Urworte-Kommentar, S.495). Doch nur so – in dem „freyen Entschluß“, sich „ein zweytes Wesen, eben wie sich selbst, mit ewiger unzerstörlicher Neigung“ (ebd.) zu eigen zu machen – sei der wankelmütige und willkürliche Eros in geregelte Bahnen zu lenken. Ist diese Entscheidung erst einmal getroffen, so schlägt „alles was liebevolle Neigung freywillig gewährte“, um in „Pflicht“ (UrworteKommentar, S.496), in „Bedingung und Gesetz“ (Urworte, V. 26) und „harte[s…] Muß“ (Urworte, V. 30). Resignativ klingt der Beginn der Anangke-Stanze, der den Menschen in seine Schranken weist und mit dem erneuten Bezug auf die astrologische Konstellation der Geburtsstunde wieder daran erinnert, dass er seinem Daimon nicht entfliehen kann: „Da ist’s denn wieder wie die Sterne wollten; / Bedingung und Gesetz […]“ (Urworte, V. 25–27). Noch deutlicher als im Gedicht selbst wird der desillusionierte Unterton, mit dem diese Lebensstufe kommentiert wird, in den wenigen Sätzen des im Vergleich zu den Erläuterungen der vorangegangenen Strophen sehr knapp gehaltenen ProsaKommentars, in dem der Autor das Gebundensein an familiäre (und damit gesellschaftliche) Verpflichtungen als ‚peinlichen Zwang’, ja als ‚Gefangenschaft’ ausweist, die „[k]einer Anmerkungen [weiter] bedarf“, weil es „niemand [gibt] der sich nicht peinlich gezwängt fühlte wenn er nur erinnerungsweise sich solche Zustände hervorruft, gar mancher der verzweifeln möchte wenn ihn die Gegenwart also gefangen hält“ (Urworte-Kommentar, S.496). Das bezieht sich auf die Metaphern des Textes, die die Stufe der Anangke gleichfalls in Bilder der ‚Gefangenschaft’ kleiden, wenn etwa von „[E]nge[…]“ (Urworte, V. 32), von „solcher Gränze, solcher ehrnen Mauer“ (Urworte, V. 33), von einer „[h]öchst wider187
wärt’ge[n] Pforte“, die erst die fünfte Lebenskraft ΕΛΠΙΣ „entriegel[n…]“ (Urworte, V. 34) kann, die Rede ist. Aber es klingt gleichfalls das in den Werken des späten Goethe zentrale Motiv der Entsagung, des Verzichts, der mit der Übernahme von Verantwortung einhergeht, an: „Das Liebste wird vom Herzen weggescholten“, weil sich „Will’ und Grille“ nun einmal dem „harten Muß bequem[en…]“ (Urworte, V. 29f.). Die Gebrochenheit, mit der diese Lebensentscheidung für ‚das Eine’, die in der Eros-Strophe als die beste und richtige ausgegeben wird, weil sie nur „das edelste“ „Herz“ zu treffen fähig und bereit sei, beurteilt wird, wird im Begriff der ‚Scheinfreiheit’147 zum Ausdruck gebracht, mit der sie gefällt wurde. Sie bleibt dann prägend für die aus der Entscheidung resultierende Anangke-Stufe des menschlichen Lebenslaufes, in der doch alles „nur ein Wollen [ist], weil wir eben sollten“ (Urworte, V. 27). Korrespondiert die Anangke- mit der Daimon-Strophe, die beide die „Gränze[n]“ des Menschen in den Vordergrund stellen, so findet die Tyche-Strophe ihre Analogie in der Schlussstanze des Gedichts:148 Die fünfte Lebenskraft weist dem Menschen wieder einen Weg, der ihn – nun im Herbst des Lebens – „[a]us Wolkendecke, Nebel, Regenschauer“ (Urworte, V. 37) „[e]rhebt“ (Urworte, V. 38). Elpis vermag es, den Menschen aus der ‚Gefangenschaft’ der Anangke zu befreien, ihm ‚Flügel’ zu verleihen – ähnlich wie zuvor der „auf luftigem Gefieder“ von oben „heran[schwebende]“ (Urworte, V. 19) Eros wird nun Elpis als „leicht und ungezügelt“ (Urworte, V. 31) charakterisiert und gleichfalls eine Perspektive angedeutet, die irdischen Beschränkungen enthoben ist, über ihnen ‚schwebt’ – und diesmal (anders als der Eros, der nur „vom Himmel nieder[stürzt]“) sogar vermag, den Menschen auf ihren Flügeln mitzunehmen: „Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen!“ (Urworte, V. 40). Nach der resignativ-desillusionierenden Darstellung der Anangke-Stufe schließt das Gedicht tröstlich – und „[w]ie froh eilen wir daher zu den letzten Zeilen“ (Urworte-Kommentar, S.496) – mit einer ‚Öffnung’, die dem Menschen gegen Ende seines Lebenslaufes wieder eine Fluchtmöglichkeit vor dem Gesetz des Daimons sowie Entsagung und Gefangenschaft der Anangke bietet – oder vielmehr gleich unbestimmt viele Fluchtmöglichkeiten, denn die Hoffnung „schwärmt _____________ 147
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„So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren / Nur enger dran als wir am Anfang waren“ (Urworte,V. 31f.). Vgl. zum zyklischen Aufbau des Gedichts und zur Kontrastierung und notwendigen Ergänzung von Daimon und Tyche einerseits, Anangke und Elpis andererseits auch Buck, Artikel ‚Urworte. Orphisch’, S.362.
durch alle Zonen“ (Urworte, V. 39)149 und vermittelt dem Individuum neue Zuversicht und Kraft, damit der Mensch „mit ihr, durch sie beflügelt“ (Urworte, V. 38) im diesseitigen Leben weiter wirken und tätig sein kann. Doch in der Abschlussstanze der Urworte bleibt noch mehr offen: Konsens besteht darüber, dass Elpis die Qualität zugeschrieben wird, den Menschen selbst über die Grenzen der Zeit zu erheben, da mit „Äonen“ „Weltalter“,150 „ganz im biblischen Sinne […] die flüchtige Weltzeit gemeint ist“.151 Goethe selbst verzichtet nach der schon sehr knappen Kommentierung der Anangke-Strophe auf eine Erläuterung seiner letzten Stanze vollständig, da sich „jedes feine Gemüth […] gern den Commentar sittlich und religios zu bilden übernehmen wird“ (Urworte-Kommentar, S.496). Die ‚religiöse’ Deutung öffnet mit der Überwindung der „Äonen“ den Blick in die Ewigkeit, über den Tod hinaus – wenngleich dieser im Gedicht selbst ganz ausgespart bleibt.152 Entsprechend dem Goetheschen Eigenkommentar bleiben die Interpretationsversuche dieser Strophe in der Forschung vergleichsweise offen153 bzw. sind am Text des Gedichts nur schwer hinreichend zu belegen. So bemüht Anglet in seiner Deutung, die die Elpis-Strophe als Aufforderung zu unermüdlicher Tätigkeit liest, intertextuelle Bezüge zu den „Worte[n] der ‚Hoffnung’ in ‚Des Epimenides Erwachen’“154 und betont, dass die Überwindung der diesseitigen Beschränkung durch den Tod und den Eingang in die Ewigkeit zwar „mitgedacht“ sei, jedoch keineswegs den gedanklichen Schwerpunkt ausmache, denn die Hoffnung sei vor allem als „eine im diesseitigen Leben wirksame, zu neuer Tätigkeit ‚erheben_____________ 149
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Noch deutlicher auch die Zielperspektive in den Blick nehmend formuliert die Fassung der Urworte, die Goethes Prosakommentar beim Abdruck des Gedichts in der Zeitschrift Über Kunst und Alterthum (1820) beigegeben ist: „[…] sie schwärmt n a c h allen Zonen“ ((Urworte-Kommentar, S.497; Hervorhebung W.H.). Goethe nimmt hier die Ambivalenz von Elpis im Griechischen auf, die vorwiegend ‚Täuschung‘ und ‚Illusion‘, dann aber auch (vor allem im Neuen Testament) christlich-positiv ‚Hoffnung‘ symbolisiert. Buck, Artikel ‚Urworte. Orphisch’, S.363. Anglet, Der „ewige“ Augenblick, S.56. Vgl. zu dieser religiösen Dimension ausführlicher Anglet, Der „ewige“ Augenblick, S.56f. Auch Ruth Klüger spricht sich in ihren kurzen Anmerkungen zu den Urworten für eine Deutung der fünften Stanze aus, der zufolge Elpis eine Freiheit verheißt, die keineswegs „in dieser Welt“ anzusiedeln sei: „Typisch für Goethe, dass er das Wort ‚Tod,’ auch im Kommentar, ausspart, obwohl doch nur er die ‚widerwärt’ge’ (im Sinne von Widerstand leistende) Pforte zu entriegeln vermag“ (Ruth Klüger, Die Pforte entriegeln: Goethes „Urworte. Orphisch“. In: Goethe Yearbook 12 (2004), S.185–187, hier S.187). Beispielsweise weist Anglet darauf hin, dass es „[f]ür die ‚leichte’ und ‚ungezügelte’ Phantasie der Menschen […] ganz verschiedene Gegenstände der Hoffnung“ gebe (Anglet, Der „ewige“ Augenblick, S.56). Anglet, Der „ewige“ Augenblick, S.56.
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de’ Kraft“155 zu sehen.156 Ob mit dieser ‚Tätigkeit’ das Dichten gemeint sein kann oder muss und so ein „gedanklicher Zusammenhang zwischen Dichtkunst und Hoffnungsmetapher“ hergestellt wird, wie Buck mit dem Verweis einerseits auf die Überschrift, die das Gedicht schließlich Orpheus, dem göttlichen Sänger zuschreibt, und andererseits darauf, dass sich „der ‚Flügelschlag’ auch auf Pegasus beziehen [lässt], der als geflügeltes Pferd zum Sinnbild der Dichtkunst wurde“, sei dahingestellt, wenngleich diese Lesart im Kontext von Goethes Leben und Werk dieser Schaffensperiode sicherlich nicht abwegig erscheint. Mit Blick auf den Text, der für keine der vorgestellten Deutungen abschließend überzeugende Belege liefert, erscheint jedoch die Offenheit der letzten Stanze Programm zu sein – eine Öffnung im doppelten Sinne bietend, indem sie zum einen den Begriff der Hoffnung selbst bzw. ihre Zielperspektive weitgehend unbestimmt lässt, zum anderen auf einer Metaebene Deutungsspielräume eröffnet –, zumal Goethe sie in seinem Prosakommentar eben gerade n i c h t auflöst. Inwiefern diese fünf Urworte als Bedingungsfaktoren der menschlichen Existenz Goethes autobiographische Perspektive geprägt haben – und zwar nicht in dem Sinne, dass sie autobiographisch zu lesen seien, sondern vielmehr so, dass die einzelnen Urworte als Kräfte verstanden werden, die gerade den eigenen Lebensweg geprägt haben und die entsprechend als Gestaltungsprinzipien auf die autobiographischen Texte übertragen werden und also bei der Interpretation der Geschichte des erzählten Ichs eine zentrale Rolle spielen, wird im Folgenden zu untersuchen sein. Liest man dabei die fünf Strophen der Urworte als Stufenfolge, die Kräfte beschreiben, die während eines gesamten Lebenslaufes nicht etwa parallel, sondern sukzessive auf die Geschichte eines jeden Menschen einwirken, so müssten die fünf ‚Urkräfte’ auch in den autobiographischen Texten jeweils in unterschiedlichem Maße deutlich werden – je nachdem, welcher Entwicklungsstufe der Text(abschnitt) jeweils gewidmet ist.
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Anglet, Der „ewige“ Augenblick, S.56. Auch Schärf deutet in diesem Sinne Elpis als „alles entscheidende[s] Moment“, das „für Goethe nicht ins Reich des Illusionismus gehört“, sondern „als Schlüssel für seine lebenslange Produktivität“ fungiert (Schärf, Orpheus als Orakel, S.160).
3.3.3
„Jugend=Epoche“: das erzählte Ich im Widerstreit von Daimon und Tyche im Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit
Die Geschichte der Kindheit und Jugend, wie sie im Ersten Buch entworfen wird, führt konsequent das fort, was im Bild der „guten Aspekte[…]“ der Geburtsstunde, „welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten“ (DuW I, S.15) schon angedeutet ist: dass der Daimon dem Individuum im Falle Goethes nämlich außerordentlich vielversprechende Anlagen, „positive[…], glückhafte[…] Auspizien“157 beschert: „Die Konstellation war glücklich“ (ebd.) – und dass es sich bei der Tyche dementsprechend um eine weitestgehend negative Kraft handelt, jedenfalls was ihren Einfluss auf diese durch seine Vielzahl an besonderen ‚eingeborenen’ Fähigkeiten herausgehobene Existenz anbelangt. Als Ziel der Jugendjahre muss konsequenterweise im autobiographischen Rückblick die Einsicht in die Notwendigkeit ausgewiesen werden, sich von den eher verwirrenden Einflüssen der Tyche zu befreien, um den – in Goethes Fall – so positiven Daimon ganz zur Ausbildung gelangen lassen zu können. Entsprechend endet das kurze, erst posthum veröffentlichte Fragment „Jugend-Epoche“158 mit der Erkenntnis, „dass uns die Umgebungen, wir mögen uns stellen wie wir wollen, immer beschränken, und ich fiel daher auf den Gedanken, es sei das Beste uns wenigstens innerlich unabhängig zu machen“ (Jugend=Epoche, S.226). Dabei werden die Jugendjahre als eine beständige Suche nach der wahren Bestimmung ausgewiesen, die dem erzählten Ich zwar schon eingeboren ist, die es aber selbst noch nicht erkennen kann: Dieses Bedürfnis fühlte ich freilich nicht in der Deutlichkeit wie ich es gegenwärtig ausspreche; aber je unbewusster ich mir bei einer solchen Richtung war, desto ernstlicher, leidenschaftlicher, unruhiger, emsiger ging ich dabei zu Werke; und weil ich nirgends eine Anleitung fand, die mich auf meiner Bildungsstufe bequem gefördert hätte, so machte ich den Weg unzählige Mal vor= und rückwärts, wie es uns in einem künstlichen Labyrinth, oder in einer natürlichen Wildniß wohl begegnen mag (Jugend=Epoche, S.223).
Die Metaphorik, die hier wieder das Bild des „Labyrinth[s]“, der „Wildniß“ bemüht, die schon im Zusammenhang mit der Literatur der deut_____________ 157 158
Jeßing, Artikel ‚Dichtung und Wahrheit’, S.281. Das kurze Fragment wurde erstmals 1839 in der Quartausgabe von Goethes Werken veröffentlicht und ist hier zitiert nach WA I/36, S.223–226. Wird im Folgenden aus diesem Text zitiert, so wird im fortlaufenden Text lediglich der Titel als Sigle sowie die jeweilige Seitenzahl angegeben, die sich auf die Edition der Weimarer Ausgabe bezieht. In die neueren Goethe-Ausgaben ist der Text nicht aufgenommen.
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schen Aufklärung im Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit sowie des französischen Klassizismus bekannt ist und von deren Traditionen sich das erzählte Ich befreien muss, um mit seiner persönlichen Entwicklung der gesamten deutschen Literatur den Weg zu einer neuen Epoche, zum Sturm und Drang aufzuweisen, begegnet nicht nur hier in diesem fragmentarischen Text wieder, sondern sie bestimmt die gesamte Darstellung der Frankfurter Kindheit- und Jugendjahre im Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit. Zunächst einmal werden in den ersten Büchern das „Gesetz wonach du angetreten“ (Urworte, V. 4) konkretisiert und die außerordentlichen „angebornen Gaben“ (DuW I, S.38) genauer vorgestellt. Diesen zur Entfaltung zu verhelfen, macht sich der Vater zur Aufgabe, der die besonderen Begabungen seines Sohnes schnell erkennt und ihn zunächst selbst unterrichtet. Schon im Vergleich mit dem Vater, dem zwar „sein eigner Lebensgang bis dahin ziemlich nach Wunsch gelungen“ war, der allerdings „alles nur durch unsäglichen Fleiß, Anhaltsamkeit und Wiederholung erworben“ (ebd.) hatte, werden die vielversprechenden Anlagen als eine besondere Begünstigung durch den Daimon herausgestellt, die auch der Vater anerkennt, welcher dem Sohn öfters versichert, „daß er mit meinen Anlagen sich ganz anders würde benommen, und nicht so liederlich damit würde gewirtschaftet haben“ (ebd.). Der Sohn selbst jedoch ist sehr schnell so weit, dass er seine Lehrer – den Vater wie die weiteren Privatlehrer, die für die Ausbildung des jungen Goethe noch engagiert werden – bald überflügelt hat. Was dann im Einzelnen über die Interessen und Fähigkeiten, über den Umgang mit den verschiedenen Lerninhalten ausgesagt wird, ist außerordentlich aufschlussreich, indem es zum einen als angeborene Anlage ausgewiesen wird, zum anderen auf Späteres verweist. Zuerst wird die schnell vollzogene Abgrenzung von Autoritäten als besonderes Merkmal des jungen Ich herausgestellt, das mit einem Besinnen und Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten einhergeht: Nicht nur Autoritätspersonen – nämlich „dem Unterricht, den mir mein Vater und die übrigen Lehrmeister geben konnten“ –, ist der Knabe „[d]urch schnelles Ergreifen, Verarbeiten und Festhalten“ (DuW I, S.32) sehr schnell entwachsen, ebenso hat er mit zu lernenden – und damit als verbindlich zu akzeptierenden – Regeln seine Schwierigkeiten: „Die Grammatik mißfiel mir, weil ich sie nur als ein willkürliches Gesetz ansah; die Regeln schienen mir lächerlich, weil sie durch so viele Ausnahmen aufgehoben wurden, die ich alle wieder besonders lernen sollte“ (DuW I, S.32f.). Ebenso stößt das erzählte Ich alles ab, was trocken und verstaubt auf es wirkt und nicht mit ‚Leben’ gefüllt ist, womöglich 192
auch zu wenig Herausforderung bietet, jedenfalls keinen Bezug zu seinen eigenen Gedanken und Gefühlen aufweist: Der für junge Leute so starre Cornelius Nepos, das allzu leichte, und durch Predigten und Religions-Unterricht sogar trivial gewordne Neue Testament, Cellarius und Pasor konnten uns kein Interesse geben (DuW I, S.40).
Diese Züge des Knaben verweisen schon deutlich auf Späteres, etwa auf den Bruch mit der als starr und gefühllos belegten Literatur der deutschen Aufklärung im Siebenten Buch oder auf die Ablehnung der ‚kalten’ und sklavisch mit Regeln belegten Tradition der französischen Klassik im Zehnten und Eilften Buch. Was ihm dagegen einen Zugang zu den Lerninhalten vermittelt – sei es in den antiken Sprachen, sei es in Geographie – sind poetische Formen: gereimte Inhalte lassen sich viel einfacher behalten, egal, wie „abgeschmackt[…]“ (DuW I, S.39.) sie sein mögen; sowieso wird die außergewöhnliche Begabung für das Lernen von (Fremd-)Sprachen und für den Umgang mit Sprache, mit Rhetorik allgemein, im autobiographischen Rückblick hervorgehoben: Italienisch z.B. eignet sich das erzählte Ich durch bloßes Zuhören ‚nebenbei’ an, weil der Vater der Schwester Italienischlektionen im selben Raum erteilt: Indem ich nun mit meinem Pensum bald fertig war und doch still sitzen sollte, horchte ich über das Buch [er sollte unterdessen den Cellarius auswendig lernen] weg und faßte das Italiänische, das mir als eine lustige Abweichung des Lateinischen auffiel, sehr behende (ebd.).
Sowieso spielt die vom Vater angeregte Begeisterung für Italien schon früh eine Rolle: Die einzige Gelegenheit, bei der sich dessen „sonstiger Ernst und Trockenheit […] aufzulösen und zu beleben“ (DuW I, S.40) scheint, sind die Momente, in denen er von seiner eigenen Reise nach Italien erzählt, sodass sich bei dem Sohn schon früh „der leidenschaftliche Wunsch [ausbildete], auch dieser Paradiese teilhaft zu werden“ (ebd.). Einen ausführlichen Abschnitt widmet der Autobiograph der Darstellung der frühen Begeisterung für Literatur. Dabei fällt der scheinbar wahllose Zugang zu Büchern jedweder Art und Herkunft auf, mit denen sich das erzählte Ich nahezu alle für die Literatur und Kultur seiner Epoche wirkungsmächtigen Traditionen aneignet, und zwar selbstbestimmt und gerade nicht angeleitet von etwaigen Lektürevorgaben des Vaters oder anderer Autoritäten. Dabei verschlingt es – zumal man „zu der Zeit noch keine Bibliotheken für Kinder veranstaltet“ (DuW I, S.41) hatte – alle Literatur, die es im Bücherregal des Vaters vorfindet oder bei fahrenden Straßenhändlern erwerben kann. Seine literarische Sozialisation umfasst so gleichermaßen die antike wie die klassische 193
französische Literatur – angedeutet über Ovids Metamorphosen und Fénelons Télémaque –, genauso rezipiert er die Anfänge einer bürgerlichen Prosaliteratur – z.B. Robinson Crusoe und die Insel Felsenburg – und populäre Lesestoffe wie etwa die Volksbücher von Doktor Faustus oder der schönen Magelone.159 Für seine Entwicklung entscheidend ist dabei, dass dieses umfassende Interesse von Anfang an nicht passiv bleibt, sondern alle literarische Sozialisation von vornherein auf eigene Produktion angelegt erscheint: Von den vielen Anregungen war mein junges Gehirn schnell genug mit einer Masse von Bildern und Begebenheiten, von bedeutenden und wunderbaren Gestalten und Ereignissen angefüllt, und ich konnte niemals lange Weile haben, indem ich mich immerfort beschäftigte, diesen Erwerb zu verarbeiten, zu wiederholen, wieder hervorzubringen (DuW I, S.41f.).
Schon zur Zeit des ersten Unterrichts beim Vater sei der Junge so wie selbstverständlich „von der rhetorischen Behandlung der Aufgaben zu der poetischen“ übergegangen und „eine gewisse Reim- und Versewut“ (DuW I, S.40) habe ihn ergriffen, bei der er in literarischen Wettstreiten mit Gleichaltrigen reüssiert160 sowie bei der Produktion von Gelegenheitsgedichten, die meist im Familienkreis vorgetragen werden, großes Lob erntet. Ebenfalls schon früh begegnet das Interesse für die Natur, deren heilsame, ‚befreiende’ Wirkung das erzählte Ich bald erkennt: Gleich in den ersten Lebensjahren ist sein „liebster, zwar nicht trauriger, aber doch sehnsüchtiger Aufenthalt“ im Elternhaus das so genannte „Gartenzimmer“, das diesen Namen trägt, „weil man sich daselbst durch wenige Gewächse vor dem Fenster den Mangel eines Gartens zu ersetzen gesucht hatte“. Dort erfreut er sich an dem Ausblick auf die umliegenden Gärten und auf die „schöne fruchtbare Ebene“, die in der Ferne liegt, wie auf die Sonnenuntergänge, an denen er sich „nicht satt genug sehen“ kann (DuW I, S.18). Vor den „didaktischen und pädago_____________ 159
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Vgl. ähnlich zur Darstellung der literarischen Sozialisation des erzählten Ichs im Ersten Buch von Dichtung und Wahrheit Jeßing, Artikel ‚Dichtung und Wahrheit’, S.283. Vgl. zu diesen „sonntägliche[n] Zusammenk[ünften...], wo jeder [Knabe] von ihm selbst verfertigte Verse produzieren sollte“, DuW I, S.40. Interessant ist bei der Darstellung dieser literarischen Wettstreite vor allem auch, dass hier Charakterdispositionen zu Tage treten, die während Goethes gesamten weiteren Lebens bzw. in all seinen auf spätere Lebensabschnitte verweisenden autobiographischen Texten eine Rolle spielen: zum einen die Unsicherheit, was die Qualität der eigenen literarischen Arbeiten anbelangt – eine Anlage, die später zu einem fortwährenden Umarbeiten bereits zunächst abgeschlossener Texte oder gar zu den diversen Autodafés führt –, zum anderen der große Ehrgeiz, der von dem Bestreben genährt wird, unbedingt ‚besser’ sein zu wollen als andere.
gischen Bedrängnissen“, mit denen der Vater den Sohn belegt und gerade nach „Krankheiten und andere[n] unangenehme[n] Störungen“ seine Lektionen verdoppelt, um das Versäumte möglichst schnell aufholen zu können, „flüchteten wir gewöhnlich zu den Großeltern“, um dort „sogleich in den Garten“ zu eilen (DuW I, S.44f.), dessen Anlage und Vegetation wie die rührende Sorge des Großvaters um den Garten im Folgenden ausführlich beschrieben werden. Noch deutlicher wird die Beschäftigung mit Naturgegenständen als wesentlicher Bestandteil der durch den Daimon vorgegebenen individuellen Anlagen im Vierten Buch ausgewiesen, habe das Ich doch „seit meinen frühsten Zeiten […] einen Untersuchungstrieb gegen natürliche Dinge“ (DuW I, S.131) gefühlt. Sie ist dann mehr auf ein wissenschaftliches Interesse an natürlichen Phänomenen ausgerichtet als auf die kompensatorische Funktion, die der Trost und Zuflucht spendenden Natur zuvor zugeschrieben wird. Wieder ist dabei bedeutsam, dass nicht nur das, was über die konkreten Gegenstände des Interesses ausgesagt wird, auf naturwissenschaftliche Fragestellungen verweist, mit denen sich Goethe im Laufe seines Lebens noch eingehender beschäftigt – explizit genannt werden vor allem erste botanische und geologische ‚Studien’ des erzählten Ichs –, sondern auch die Methode schon auf spätere Verfahren wie auf spätere wissenschaftliche Dispute verweist: Man legt es manchmal als eine Anlage zur Grausamkeit aus, daß Kinder solche Gegenstände, mit denen sie eine Zeit lang gespielt, die sie bald so, bald so gehandhabt, endlich zerstücken, zerreißen und zerfetzen. Doch pflegt sich auch die Neugierde, das Verlangen, zu erfahren wie solche Dinge zusammenhängen, wie sie inwendig aussehen, auf diese Weise an den Tag zu legen. Ich erinnere mich, daß ich als Kind Blumen zerpflückt, um zu sehen, wie die Blätter in den Kelch, oder auch Vögel berupft, um zu beobachten, wie die Federn in die Flügel eingefügt waren. Ist doch Kindern dieses nicht zu verdenken, da ja selbst Naturforscher öfter durch Trennen und Sondern als durch Vereinigen und Verknüpfen, mehr durch Töten als durch Beleben, sich zu unterrichten glauben (DuW I, S.131).
Hier wird eine Methode mit kindlichem Wissensdrang entschuldigt, mit dem Wunsch zu erkennen, „was die Welt / Im Innersten zusammenhält“,161 die später verworfen und, sofern sie von „Naturforscher[n]“ angewendet wird, eine in der polaren Gegenüberstellung von „Trennen“, „Sondern“ und „Töten“ auf der einen, „Vereinigen“, „Verknüpfen“ und „Beleben“ auf der anderen Seite an dieser Stelle nur
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FA I/7,1, S.34: Faust. Der Tragödie erster Teil, V. 382f.
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angedeutete, im Kontext von Goethes eigener naturwissenschaftlicher Betätigung dann aber deutlich schärfer ausgeführte Kritik erfährt.162 Entsprechend Goethes Entelechie-Konzept werden als feste, unumstößliche, von Geburt angelegte Dispositionen, denen das Ich „nicht entfliehen“ (Urworte, V. 5) kann, all solche Eigenschaften und Verhaltensweisen ausgegeben, die, wenn sie – wie in den folgenden Büchern von Dichtung und Wahrheit gezeigt wird – „lebend sich entwickel[n…] (Urworte, V. 8), für das erzählte Ich und seine ‚Epoche’ später nur Positives hervorbringen: neben herausragenden allgemeinen geistigen Fähigkeiten, die auf eine überdurchschnittlich hohe Intelligenz schließen lassen, sind das vor allem das Interesse und die Begabung für Sprache(n) und Literatur, die Begeisterung für Italien – symbolisch zu verstehen als das frühe Interesse nicht nur, aber auch an der Antike –, das grundsätzliche kritische Hinterfragen von Autoritäten (das die Voraussetzung bietet für die später vollzogenen literarischen ‚Traditionsbrüche’) und die Suche nach Zerstreuung und Trost in der Natur als ‚Heilmittel’ und Fluchtmöglichkeit. Daher zeigt der Daimon zwar sicherlich dem erzählten Ich der Autobiographischen Schriften – wie jedem anderen Menschen auch – eine „strenge Gränze“ (Urworte, V. 9) auf, indem ihm keineswegs alle denkbaren Lebenswege und Entfaltungsmöglichkeiten offen stehen, dennoch bietet das „Gesetz“, nach dem der junge Goethe „angetreten“ sei (Urworte, V. 4), dem Individuum weit mehr Möglichkeiten als den meisten anderen Menschen, in den Bereichen, in denen es von Geburt an besonders begünstigt ist, als „neuer _____________ 162
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Nur verwiesen werden kann hier auf seine zahlreichen z.T. polemisch scharfen Äußerungen vor allem gegenüber Newton und seinen Anhängern wie etwa auch gegenüber Carl von Linné, an deren Theorien Goethe vor allem die methodische Herangehensweise störte, die – in Newtons Optik – durch das Z e r l e g e n des Lichts in seine einzelnen Bestandteile, nämlich die Spektralfarben mittels eines Prismas, in Linnés Schema zur Klassifizierung der Pflanzenwelt durch das schematische T r e n n e n der Merkmale nach einem künstlichen System gekennzeichnet ist. Goethe ging es dagegen stets um die Komplexität, um eine ganzheitliche, morphologische Betrachtung der Natur und ihrer Phänomene, die eben nicht – etwa mittels komplizierter und künstlich angelegter Experimente – in ihre Einzelteile untergliedert, zerstört werden, sondern als Ganzes und in ihrer natürlichen Umgebung betrachtet werden sollten, um so ‚von außen nach innen’, „das Urphänomen im Phänomen zu schauen“ (Wenzel, Artikel ‚Naturwissenschaften’, S.793). In diesem Zusammenhang sei auf eine neuere Arbeit verwiesen, die im Vergleich zwischen Rousseau, Goethe und Thoreau den Zusammenhang zwischen Autobiographie und Naturwissenschaften untersucht; für die Frage nach dem spezifisch Goetheschen autobiographischen Schreiben und dessen Zusammenhang mit seinem Geschichtsdenken allerdings keine weiterführenden Ergebnisse bietet: Bernhard Kuhn, Autobiography and Natural Science in the Age of Romanticism. Rousseau, Goethe, Thoreau, Farnham, Surrey u.a. 2009.
Kolumbus“ einzigartige und seine Zeit vorantreibende Leistungen zu vollbringen. Bevor im Fünften Buch zum ersten Mal ganz unmissverständlich und mit deutlich ‚hemmenden’ Konsequenzen für die Entwicklung des erzählten Ichs die Tyche ins Spiel kommt, erscheint der junge Goethe im autobiographischen Rückblick jedoch seinem vom Daimon vorbestimmten Telos schon ein ganzes Stück näher gekommen zu sein: In den drei folgenden Büchern wird das im Ersten Buch entwickelte zentrale Motiv der literarischen Sozialisation fortgeführt – und zwar konsequent mit dem Fokus auf einer produktiven Erschließung der literarischen Traditionen, sei es noch im Bereich ‚kindgerechter’ Formen wie dem Puppentheater oder dem ‚Knabenmärchen’ im Zweiten Buch, sei es dann bei der Aneignung des Dramatischen, die noch ganz im Zeichen des französischen Theaters steht, im Dritten oder schließlich der ersten eigenen Romanproduktion im Vierten Buch – und schließlich wird der Berufswunsch ‚Dichter’ formuliert: Was mich betrifft, so hatte ich auch wohl im Sinne, etwas Außerordentliches hervorzubringen; worin es aber bestehen könne, wollte mir nicht deutlich werden. Wie man jedoch eher an den Lohn denkt, den man erhalten möchte, als an das Verdienst, das man sich erwerben sollte; so leugne ich nicht, daß wenn ich an ein wünschenswertes Glück dachte, dieses mir am reizendsten in der Gestalt des Lorbeerkranzes erschien, der den Dichter zu zieren geflochten ist (DuW I, S.180).
Gerade dieser Berufswunsch – oder genauer: der Wunsch nach dem „Lorbeerkranz“, nämlich dem Ansehen und Ruhm, der mit einer erfolgreichen Tätigkeit als Dichter verbunden ist – macht das erzählte Ich jedoch anfällig gegenüber den ‚Verlockungen’ und ‚Verleitungen’ der Tyche, die in der Eingangspassage des Fünften Buchs programmatisch angekündigt werden: „Für alle Vögel gibt es Lockspeisen, und jeder Mensch wird auf seine eigene Art geleitet und verleitet“ (DuW I, S.181). Das, was dann folgt – dass das jugendliche Ich „auf eine völlig unerwartete Weise in Verhältnisse verwickelt [wurde], die mich ganz nahe an große Gefahr, und wenigstens für eine Zeit lang in Verlegenheit und Not brachten“ (ebd.) –, ist nämlich auch dem Wunsch geschuldet, mit seinen literarischen Produktionen Beifall zu erzielen, einem größeren Publikum bekannt zu werden. Derjenige, der das erzählte Ich in die Gesellschaft einführt, die es auf ‚Irrwege’ bringt, ist der inzwischen zum jungen Mann herangewachsene Knabe Pylades, der bereits aus den literarischen Wettstreiten des Ersten Buchs bekannt ist und dem schon dort – wenngleich das kindliche Ich ihm da bereits „übrigens gewogen war“ – der Geruch der Unehrlichkeit und des Betrugs anhaftete, weil er sich „seine Reime […] vom Hofmeister machen ließ“ (DuW I, S.41). 197
Der Kontakt, der sich sodann im Fünften Buch intensiviert, beginnt mit einer Provokation, auf die das Ich deswegen eingeht, weil sie es „auf seine [ganz] eigene Art“ bei seinem Ehrgeiz packt, nämlich seine poetischen Fähigkeiten in Frage stellt: ’Es geht mir mit deinen Versen noch immer wie sonst. Diejenigen die du mir neulich mitteiltest, habe ich einigen lustigen Gesellen vorgelesen, und keiner will glauben, daß du sie gemacht habest.’ (DuW I, S.181).
Nach einigem Zögern nimmt das erzählte Ich die Herausforderung an und beeindruckt mit dem Gelegenheitsgedicht, das ihm als Aufgabe gestellt wird – es soll ein Rollengedicht verfassen, „einen recht artigen Liebesbrief in Versen […], den ein verschämtes junges Mädchen an einen Jüngling schriebe, um ihre Neigung zu offenbaren“ (DuW I, S.182) –, um einen öffentlichen Beweis seines außergewöhnlichen Talents zu geben. Beeindruckt wird mit dieser ‚Stegreifproduktion’ nicht nur Pylades selbst, sondern auch dessen Freund, welcher dem jungen Autor anschließend nicht nur seine „Bewunderung und Neigung“ (ebd.) versichert, sondern von der fingierten „Liebesepistel“ auch „einen sehr lustigen Gebrauch“ (DuW I, S.183) macht und sie tatsächlich einem jungen Mann unterschiebt, der schließlich auf den Schwindel hereinfällt und den Brief für echt hält. Der Ankündigung, den Leser nun „in den Abgrund sozialer und moralischer Existenz“ hinabzuführen, mit dem das Fünfte Buch beginnt, folgt also „die (wie sich später zeigen wird: verunglückte) Initiation eines Schriftstellers in der Mitte des 18. Jahrhunderts“,163 handelt es sich doch um den ersten – zumindest kurzzeitigen – öffentlichen Erfolg, den das Ich mit seinen angeborenen Fähigkeiten erzielt, die nun schon „fort und fort gediehen“ (Urworte, V. 3) sind, obwohl ihn die ‚Verlockungen’ der Tyche dabei zunächst in eine Sackgasse führen. Auch für die Frage nach der von den fünf Bedingungskräften gesteuerten Entwicklung des Individuums sind daher die Überlegungen von Uwe-K. Ketelsen ertragreich: Er arbeitet in seinem Aufsatz heraus, dass das Fünfte Buch von Dichtung und Wahrheit keineswegs nur in den Zusammenhängen von Bedeutung ist, in denen es von der GoethePhilologie bislang rezipiert wurde, nämlich vor allem im Hinblick auf die Darstellung der Kaiserkrönung Josephs II. im Jahre 1764 und – dann vergleichsweise eher beiläufig – im Hinblick auf das ‚Gretchenabenteuer’. Ketelsen dagegen liest das Fünfte Buch als notwendige _____________ 163
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Uwe-K. Ketelsen, Ein anderes Gretchen-Abenteuer: Das Ende der rhetorischen Poesiekonzeption und das fünfte Buch von Goethes Dichtung und Wahrheit. In: Goethe Yearbook 12 (2004), S.141–159, hier S.146.
Voraussetzung zu den im Siebenten und Eilften Buch inszenierten literarischen Traditionsbrüchen: Es sei für die Entwicklung des erzählten Ichs zum Dichter von essentieller Bedeutung – nicht nur, weil hier – wie oben angedeutet – dessen schriftstellerische Initiation dargestellt wird, sondern auch, weil das junge Ich sich hier zunächst einer literarischen Tradition – nämlich einer noch eher den Vorstellungen der Frühen Neuzeit verhafteten „rhetorischen Poesiekonzeption“ – zuwendet, die schließlich nicht nur für den jungen Goethe keine produktiven Anknüpfungspunkte mehr bietet, sondern auch literaturhistorisch eigentlich überholt, am „Ende“ ist.164 Dem ersten „Entwicklungsschritt“ in der Karriere als Dichter, nämlich der Station des „schulmäßig[…] occasionellen ‚Scribenten’ in Frankfurt“, folgen die Entwicklungen „zum ‚Altdeutschen’ aus Frankfurt, zum ‚Stutzer’ in Leipzig und schließlich zum ‚Genie’ in Frankfurt und Straßburg.“165 Um zum einen zu untersuchen, mit welchen „Lockspeisen“ die Tyche eigentlich arbeitet, um das erzählte Ich „auf seine eigene Art“ zu leiten und zu verleiten und es so erst über mehrere krisenhaft ausgestaltete Umwege zu seinem Telos zu führen (das zunächst – literaturhistorisch gesehen – den Goethe als Autor des Werther und des Götz anvisiert), zum anderen, um dann die schädigenden Konsequenzen ihres Einflusses auf die Entwicklung des Individuums aufzeigen zu können, ist das Fünfte Buch jedoch sogar besser geeignet als die späteren Bücher, weil es deutlicher noch nicht nur literatur-, sondern auch lebensgeschichtlich zeigt, auf welche ‚Abwege’ sie das erzählte Ich führt, denn: Je jünger und damit unsicherer es ist, desto mehr ist es von äußeren Einflüssen, von der Anerkennung und Bestätigung anderer abhängig. Entscheidend ist dabei zunächst einmal, dass diese Aufmerksamkeit, die dem jungen, aufstrebenden Ich zuteil wird, eben gerade auf seinen Fähigkeiten zum Dichten basieren und damit seine Hoffnung auf poetischen Erfolg, auf eine Zukunft als Schriftsteller nähren: Dank der Begeisterung, die seine erste „Liebesepistel“ bei Pylades und seinem Freund auslöst, findet der junge Dichter bei einer Landpartie mit „noch mehrere[n] junge[n] Leute[n] von jenem Schlage“ (DuW I, S.183) bald schon ein größeres Publikum, das seine Leistungen bestaunt und ihm _____________ 164
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Vgl. den Titel von Ketelsens Aufsatz: „Das Ende der rhetorischen Poesiekonzeption und das fünfte Buch von Goethes Dichtung und Wahrheit.“ Ketelsen, Ein anderes Gretchen-Abenteuer, S.146. Vgl. zu den Etikettierungen der poetischen ‚Entwicklungsstufen’ des jungen Goethe ausführlicher den Artikel von Ketelsen über Goethes Frühe Lyrik im Goethe-Handbuch: Uwe-K. Ketelsen, Artikel ‚Frühe Lyrik. 1767–1770’. In: GHb 1, S.32–44.
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sogleich eine weitere Auftragsdichtung anträgt, nämlich den Antwortbrief des jungen Mannes zu schreiben, der den ‚Initiationsbrief’ für echt gehalten und auf die versifizierte Liebeserklärung des Mädchens hereingefallen war. Seine Qualitäten auf diesem Gebiet sind es, die ihm die Tür zu neuen Bekanntschaften und Kontakten öffnen und ihm eine Einladung zu einem abendlichen Fest in diesem Kreis verschaffen, auf dem der „Liebhaber“ „dem Freunde [...] danken [will], der sich so vortrefflich als poetischer Sekretär erwiesen“ (DuW I, S.184). Zwar noch kein Garant für späteren ‚Weltruhm’ als Dichter, jedoch in den Augen des Vierzehnjährigen schon ein beachtlicher Schritt auf der Leiter zum Erfolg – zumal gemessen an rhetorischen Stilidealen orientierten Literaturtraditionen, die in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts – wie Ketelsen überzeugend und ausführlich erläutert – zwar sicherlich „nicht mehr ganz au courant“ waren,166 dennoch aber in den Poetiken, den Hand- und Lehrbüchern lange Zeit als verbindliche Normen verbreitet wurden und auch dem erzählten Ich geläufig sind, da sie – dem Ersten Buch von Dichtung und Wahrheit zufolge – einen zentralen Bestandteil schon seines allerersten Unterrichts ausmachen.167 Gerade das Schema, das dort – etwa in Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey – für eine solche Kunstübung angepriesen wird, beherrscht der Junge vorbildlich: Er fertigt für seine verblüfften Auftraggeber mühelos Kasualcarmina an und erntet dafür Lob und Anerkennung. Noch verheißungsvoller erscheint ihm dann das Angebot, seine Arbeiten gewinnbringend einzusetzen, das ihm kurze Zeit später von seinen neuen Freunden offeriert wird und mit der Ökonomisierung seines Talents eine nächste Stufe des schriftstellerischen Erfolgs verheißt: ein Hochzeitgedicht sowie ein Leichencarmen seien anzufertigen und von dem Honorar wolle sich die Gesellschaft einen weiteren „lustigen Abend […] verschaffen“ (DuW I, S.190). Die Gründe dafür, dass das erzählte Ich sofort und mit „unsäglich[er]“ „Freude“ (ebd.) einwilligt, sind höchst aufschlussreich für die Möglichkeiten, die die Tyche ihm in Aussicht stellen muss, um ihn vom rechten Wege abzubringen: Erstens packt den jungen Dichter wiederum der Ehrgeiz, denn er ist überzeugt davon, dass er „solche Dinge eben so gut ja noch besser“ machen könne als namhafte Poeten, die sich mit Gelegenheitsdichtungen schon hervorgetan haben und die er deswegen stets „mit einem gewissen Neid betrachtet“ habe. Zweitens _____________ 166 167
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Vgl. dazu Ketelsen, Ein anderes Gretchen-Abenteuer, besonders S.146f. „In rhetorischen Dingen, Chrieen und dergleichen tat es mir Niemand zuvor […]. Solche Aufsätze waren es jedoch, die meinem Vater besondre Freude machten, und wegen deren er mich mit manchem, für einen Knaben bedeutenden, Geldgeschenk belohnte“ (DuW I, S.39).
verspricht er sich davon, sich „zu zeigen“ – bekannter zu werden und bei einem größeren Publikum Erfolg zu haben – und drittens „und besonders, mich gedruckt zu sehen“ (ebd.); der wichtigste Schritt, um seine Hoffnung nähren zu können, später einmal seinen Wunsch nach dem ‚Lorbeerkranz’ befriedigt zu sehen. Dass das junge Ich nicht erkennt, dass es die Tyche dabei zumindest in zweierlei Hinsicht auf ‚Abwege’ führt – nämlich zum einen in eine Gesellschaft, die in betrügerische Machenschaften verwickelt ist, zum anderen selbst für eine erfolgreiche Zukunft als Dichter auf eine falsche Fährte, weil die ‚Epoche’ der Kasualpoesie bereits von anderen Stilidealen abgelöst wird –,168 liegt zunächst einmal daran, dass es ihm nicht gelingt, zwischen Schein und Sein zu unterscheiden. Das Motiv der Täuschung zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Fünfte Buch: Die Krönungsfeierlichkeiten für Joseph II. werden inszeniert, a l s o b das Heilige Römische Reich deutscher Nation sich noch auf dem Höhepunkt seiner Macht und seines Glanzes befände (und dabei ist es längst im Niedergang begriffen) – es handelt sich um ein so durch und durch „überlegtes Kunstwerk“, „daß zuletzt auch ein vorbereitetes gefaßtes Auge in Verwirrung geriet“ (DuW I, S.208f.). Die fingierten Liebesbriefe werden von den Empfängern gelesen, a l s o b hier echte Gefühle ihren Ausdruck fänden, schließlich täuscht sich das Ich damit sogar selbst, indem es durch die Unterschrift, die Gretchen unter den von ihm verfassten Auftrags-Liebesbrief setzt, den Brief auf einmal so liest, a l s o b es sich um ein wahres Gefühlsbekenntnis des Mädchens handle. Es verwundert nicht, dass es dem jungen Ich dann gleichfalls nicht gelingt, die betrügerischen Machenschaften, in die seine neuen Freunde verwickelt sind, zu durchschauen. Anfangs – als seine „Liebesepistel“ missbraucht wird, um sich über einen jungen Mann lustig zu machen – vermag es weder „Spiel[…]“ und „Scherz“, die „auf solchen Mystifikationen und Attrappen [beruhen]“ (DuW I, S.183), von einer eigentlich „boshaften Verstellung“ (DuW I, S.184) zu unterscheiden. _____________ 168
Grundlegende Informationen zum Gelegenheitsgedicht finden sich bei Wulf Segebrecht, Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik, Stuttgart 1977. Vgl. darüber hinaus speziell zu Goethes Umgang mit der Gattung die Dissertation von Stefanie Stockhorst, die nachweist, dass sich in Goethes eigenen Gelegenheitsgedichten für den Weimarer Hof „[n]eben einer starken Individualisierung und Instrumentalisierung der Gattung […] eine Verschiebung des Funktionsbereichs aus der repräsentativen Adelskultur in die literarische Öffentlichkeit ab[zeichnet]“ und so „die Casualdichtung letztmalig als künstlerisch hochrangige Gattung (wieder-) entdeckt und begründet“ wurde (Stefanie Stockhorst, Fürstenpreis und Kunstprogramm. Sozialund gattungsgeschichtliche Studien zu Goethes Gelegenheitsdichtungen für den Weimarer Hof, Tübingen 2002 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 167), S.4f.).
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Am Ende entgegnet das erzählte Ich dem Rat Schneider, der zu ihm geschickt wird, um es zu verhören, nachdem die kriminellen Aktivitäten von Pylades und seinen Bekannten aufgedeckt wurden, dass es sich selbst „keines Verbrechens bewußt“ sei, „so wenig als schlechte Gesellschaft besucht zu haben“ (DuW I, S.230). Dies wird sicher nicht (nur) geäußert, um sich selbst zu schützen oder die Freunde zu decken, sondern tatsächlich deswegen, weil der junge Dichter zu sehr von der ihm entgegengebrachten Anerkennung geblendet ist und das falsche Spiel nicht durchschaut hat. Schneider erklärt dies gegenüber dem Protagonisten selbst: „Ich hätte nicht gedacht, daß Sie sich so weit verirren könnten. Aber was tut nicht schlechte Gesellschaft und böses Beispiel; und so kann ein junger unerfahrner Mensch Schritt vor Schritt bis zum Verbrechen geführt werden.“ (ebd.) – Formulierungen, die an Goethes Prosakommentar zur Tyche-Stanze der Urworte erinnern: „Allein Tyche läßt nicht nach und wirkt besonders auf die Jugend immerfort, die sich, mit ihren Neigungen, Spielen, Geselligkeiten und flüchtigem Wesen bald da bald dorthin wirft und nirgends Halt noch Befriedigung findet“ (Urworte-Kommentar, S.494). Eine Gelenkfunktion innerhalb der Konzeption des Fünften Buches kommt der Gretchen-Figur zu: Sie arbeitet der Tyche zu und trägt entscheidend dazu bei, das erzählte Ich noch mehr zu verwirren und in eine ‚falsche’ Richtung zu leiten. Sicherlich handelt es sich eher um eine „leiseste[…] Neigung“ als um „leidenschaftlichste[…] Raserei“, zumal Gretchen dem autobiographischen Rückblick zufolge „der erste bleibende Eindruck [ist], den ein weibliches Wesen auf mich gemacht hatte“ (DuW I, S.185),169 und doch kommt hier schon die dritte Lebenskraft, der Eros, ins Spiel, unterstützt die Tyche und bringt den Protagonisten noch weiter von seinem Wege ab. Mit seinen Gedichten beeindruckt er nicht nur Pylades und seine Freunde, sondern auch das Mädchen, das „von ungemeiner, und wenn man sie in ihrer Umgebung _____________ 169
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Mit der Frage, ob es ein historisch-biographisch bezeugtes Vorbild zur Gretchen-Figur des Fünften Buches in Goethes Frankfurter Jugendzeit gegeben habe, hat sich die Goethe-Philologie in zahlreichen Arbeiten beschäftigt. Jeßings Resümee der Forschungsergebnisse, dass dies „ganz gleichgültig“ sei, die Hinweise Bettina Brentanos auf eine realhistorische Entsprechung „höchst zweifelhaft“ anmuteten und Gretchen wohl vielmehr „ganz Figur des Romans [ist], den das Fünfte Buch bildet“ (Jeßing, Artikel ‚Dichtung und Wahrheit’, S.291), ist insofern zuzustimmen, als sie zum einen Ketelsens These untermauert, dass die Gretchen-Figur erst dann „eine aktive Rolle in der erzählten Geschichte“ übernimmt, „wo sie im poetologischen ‚Tiefendiskurs’ gebraucht wird“ (Ketelsen, Ein anderes Gretchen-Abenteuer, S.148), zum anderen als erzählerisches Konstrukt schon jetzt dazu dient, um auf die in späteren Büchern von Dichtung und Wahrheit ausführlicher dargelegte Macht des Eros vorauszuweisen, der dem Individuum höchstes Glück wie tiefstes Unglück bescheren kann.
sah, von unglaublicher Schönheit“ (DuW I, S.184) war.170 Ein besonderer Ansporn ist es, mit seinen Arbeiten bei ihr Anklang zu finden. Zugleich aber ist sie es, die den erfolgreichen Gelegenheitsdichter daran gemahnt, sich nicht „zum Werkzeug in einer Sache gebrauchen [zu] lassen, aus der gewiß nichts Gutes und vielleicht manches Unangenehme […] entspringen kann“ (DuW I, S.187). Auch erahnt er durch sie, was ‚wahre’ Dichtung ausmacht, die – im Gegensatz zur rhetorischen Poesiekonzeption der Frühen Neuzeit und schon mit Vorverweis auf die Literaturideale des Sturm und Drang und der Empfindsamkeit – eben gerade nicht als Auftragsarbeit für einen bestimmten Zweck gedichtet wird, sondern die ehrliche Gefühle enthält: Das junge Ich scheint einerseits durch seine Beziehung zu Gretchen diese poetologischen Normen schon selbst zu erahnen und die Vorstellung, es sei sie, die ihm schriebe, beflügelt seine dichterische Fantasie: „In Hoffnung meine Schöne wiederzusehen, machte ich mich sogleich ans Werk, und dachte mir nun alles was mir höchst wohlgefällig sein würde, wenn Gretchen es mir schriebe“ (DuW I, S.185f.). Andererseits weist Gretchen selbst den Briefschreiber bei der gemeinsamen Lektüre seines „Konzept[s] der poetischen Epistel“ explizit darauf hin, dass der Text zwar „recht hübsch“, es aber „nur Schade [ist], daß […er] nicht zu einem bessern, zu einem wahren Gebrauch bestimmt ist“ (DuW I, S.187). Sicherlich ist Ketelsens Beobachtung zuzustimmen, dass Goethe sein Gretchen hier „nicht als ein Gegenkonzept zur Auffassung einer rhetorisch fundierten Poesie auftreten“171 lässt, da auch sie ja wie selbstverständlich von dem ‚Gebrauchswert’ von Literatur ausgeht (wenngleich sie einen „wahren Gebrauch“ fordert) und Wirkungsabsicht des Autors wie Adressatenbezogenheit des literarischen ‚Produkts’ nicht in Frage stellt. Poetologische Argumente sind es daher nicht, mit denen sie versucht, ihn von der Zustimmung zur weiteren Verwendung seiner Arbeiten für diesen in ihren Augen keineswegs „unschuldig[en]“, ja einem „Frevel[…]“ gleichkommenden „Scherz“ (DuW I, S.187) abzubringen. Vielmehr markiert schon das Etikett, mit dem der Erzähler Gretchens _____________ 170
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Schon in dieser Formulierung, mit der Gretchen in die Handlung eingeführt wird, fällt ihre herausgehobene Rolle ins Auge: Zum einen hebt sie sich schon durch ihr Äußeres von ihrer ‚gemeinen’ Umgebung ab (und später auch durch ihr Verhalten, indem sie den Aktivitäten der Gruppe und den für betrügerische Zwecke missbrauchten Kasualcarmina des jungen Ich ablehnend gegenübersteht), zum anderen aber ist dies der soziale Stand, dem sie angehört und dem sie nicht entfliehen kann, ja als dessen Kind sie durch ihre spätere Beschäftigung bei der Putzmacherin noch deutlicher vorgeführt wird und sogar – den Moralvorstellungen der Zeit entsprechend – in ein noch zweifelhafteres Licht gerückt wird. Ketelsen, Ein anderes Gretchen-Abenteuer, S.149.
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Vortrag belegt – „sie [hielt] mir mit viel Verstand und Freundlichkeit eine S t r a f p r e d i g t “ (ebd., Hervorhebung W.H.) –, die moralische Dimension ihrer Kritik, die vor allem an den sozialen Stand ihres Gegenübers appelliert. Denn „ein junger Mann aus gutem Hause, wohlhabend, unabhängig“ müsse und solle sich keineswegs an solche Leute binden, „die zwar nichts Böses tun, aber doch oft um der Lust und des Gewinns willen, manches Wagehalsige vornehmen“ (ebd.). Zwar gelingt es Gretchen, den jungen Dichter zunächst dazu zu bringen, sein Produkt nicht – wie die ‚Freunde’ gefordert hatten – noch einmal umzuarbeiten und ihnen dann in die Hände zu geben, dennoch konzediert das erzählende Ich im Anschluss an diese „Rettung“ (DuW I, S.188) und den Abschied172 von dem Mädchen, sich noch nie „[i]n meinem Leben […] in einer solchen Verwirrung befunden“ (DuW I, S.188) zu haben. Tatsächlich nimmt die Geschichte des Fünften Buches erst von hier an ihre Wendung zum Schlechteren, denn „Verwirrung“ bringt als Tyche selten etwas Gutes. Zunächst jedoch – und genau das ist das Verwirrende ebenso des Eros, der hier unterstützend eingreift – geht dem erzählten Ich „durch den Anblick dieses Mädchens, durch meine Neigung zu ihr, eine neue Welt des Schönen und Vortrefflichen auf[…]“ (ebd.) – und zwar wiederum lebens- als auch literaturgeschichtlich. Denn die Gretchen-Figur ist äußerlich wie innerlich mit solchen Zügen ausgestattet, die auf Frauen verweisen, die in späteren Stadien von Goethes Leben und Werk eine Rolle spielen, namentlich auf die natürlichen, empfindsamen und moralisch-‚reinen’ Züge der Werther-Lotte oder – dem autobiographischen Rückblick zufolge – der Sesenheimer Friederike. Das erste Entflammen des Eros, des ‚wahren’ Gefühls und die – wenngleich noch verwirrende und unbewusste – Projektion auf die eigenen literarischen Versuche deuten so teleologisch spätere literarische Konzepte an und lassen das Frankfurter Gretchen „als eine vorzeitige Verkünderin von ‚Naturpoesie’, von ‚Ausdruckskunst’, von ‚Erlebnislyrik’ erscheinen.“173 Allerdings trägt sie gerade durch die Anziehungskraft, die sie nicht zuletzt deswegen auf das junge Ich ausübt, entscheidend (wenn auch sicher nicht durch eigenes Zutun!) dazu bei, dass der „junge[...] Mann aus gutem Hause“ nur noch weiter in die für ihn unstandesgemäße Gesellschaft und ihre – wie sich dann herausstellt – kriminellen Aktivitäten verwickelt wird. Wie es nämlich _____________ 172
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Dass dieser Abschied im Übrigen so ausgestaltet ist, dass er an Goethes Sturm-undDrang-Gedicht Es schlug mein Herz... – nach der späteren Fassung Willkomm und Abschied betitelt – erinnert, verwundert im Kontext der zahlreichen teleologischen Vorausdeutungen gerade innerhalb des Fünften Buches keinesfalls. Ketelsen, Ein anderes Gretchen-Abenteuer, S.149.
nun genau um Gretchens Verstrickung darin bestellt ist, bleibt am Ende des Buches offen – sowohl für den autobiographischen Helden als auch für den Leser, da lediglich mitgeteilt wird, dass Gretchen die Stadt verlassen und wieder in ihre Heimat gezogen sei. Schon allein der folgende Kommentar hinterlässt allerdings Zweifel an der gänzlichen Unschuld des Mädchens: Die Informationen über Gretchens Schicksal habe man dem jungen Goethe „am längsten“ vorenthalten und dieser habe sie auch „nicht zum besten auf[genommen]: denn ich konnte darin keine freiwillige Abreise, sondern nur eine schmähliche Verbannung entdecken“ (DuW I, S.236). Die Verwirrung, in die die erste „leiseste[…] Neigung“ das junge Ich gestürzt hat, wird so, was ihren Auslöser – die Gretchen-Figur – anbelangt, selbst für den Leser nicht aufgelöst. Als Resultat des erfolgreichen Einwirkens der zweiten Lebenskraft auf die Geschichte des erzählten Ichs steht am Ende des Fünften Buchs – und damit als Fazit des Ersten Teils von Dichtung und Wahrheit – eine vom erzählenden Ich als „Krankheit“ apostrophierte und damit in Goethes Begriffsverwendung deutlich als negativ, als ‚abnorm’ ausgewiesene psychische wie physische Krise: Ich empfand nun keine Zufriedenheit, als im Wiederkäuen meines Elends und in der tausendfachen imaginären Vervielfältigung desselben. Meine ganze Erfindungsgabe, meine Poesie und Rhetorik hatten sich auf diesen kranken Fleck geworfen, und drohten, gerade durch diese Lebensgewalt, Leib und Seele in eine unheilbare Krankheit zu verwickeln (DuW I, S.235f.).
Gerade das, was das junge Ich auszeichnet – seine besonderen Begabungen, seine rege Fantasie und poetische Schaffenskraft – werden ihm jetzt zum Verhängnis, weil es ihm nicht gelingt, sich gedanklich von der Beschäftigung mit seinem Unglück loszureißen und seine Energie in „diesem traurigen Zustande“ (DuW I, S.236) auf etwas anderes zu konzentrieren als auf die ständig wiederholte und „selbstquälerisch[e]“ Ausmalung des „seltsamsten Roman[s] von traurigen Ereignissen und einer unvermeidlich tragischen Katastrophe“ (ebd.). Auch diese „Krankheit“ weist in ihrer Symptomatik auf Späteres voraus – und zwar sowohl auf die in der Autobiographie auf die eigene Lebensgeschichte bezogenen Krisen wie den mit der Rückkehr ins Frankfurter Elternhaus endenden Leipziger ‚Schiffbruch’174 oder die im Kontext des Rückblicks auf die Entstehung des Werther-Romans dargestellte ‚Epoche’ des „Ekel[s] vor dem Leben“ (DuW III, S.628) wie schließlich und gerade auf die an der Werther-Figur exemplifizierte _____________ 174
Vgl. dazu ausführlich den Abschnitt 3.2 dieser Arbeit.
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„Krankheit zum Todte“.175 Hier am Ende des Ersten Teils des autobiographischen Rückblicks wird der Tyche im Hinblick auf den eigenen Lebensgang eine deutlich hemmende, den so vielversprechenden Anlagen des Daimon entgegenwirkende Funktion zugeschrieben, die zunächst zu einer Stockung, zu einer ‚krankhaften’ Retardierung der Entwicklung des erzählten Ichs beiträgt. 3.3.4
Die Flucht vor Lili: die „leidenschaftlichste Raserei“ des Eros und die Angst vor der „Gefangenschaft“ der Anangke
Herz, mein Herz, was soll das geben? – Dieses in das 17. Buch von Dichtung und Wahrheit „eingeschaltet[e]“, zu Beginn des Jahres 1775 entstandene und unter dem Titel Neue Liebe, neues Leben noch im selben Jahr veröffentlichte Gedicht, das – so das erzählende Ich – dem Leser „zwar bekannt, aber vielleicht besonders hier eindrücklich“ (DuW IV, S.749) sein möge, spiegelt in konzentrierter Form wesentliche Facetten der Lili-Liebe wider, wie sie Goethe im autobiographischen Rückblick darstellt. In dem Gedicht wie in den der Beziehung zu Lili gewidmeten Passagen des Vierten Teils von Dichtung und Wahrheit stechen dabei nicht nur deutliche Parallelen zur Eros-Konzeption ins Auge, wie sie in der dritten Stanze der Urworte entworfen wird, sondern es wird gleichfalls schon eine – negativ konnotierte – Zukunftsperspektive imaginiert, die eine dauerhafte Bindung an die Geliebte mit sich brächte. Wieder lässt sich hier die autobiographische Darstellung als individuell gefärbte, am Beispiel der eigenen Lebensgeschichte exemplifizierte ‚Illustration’ zu den sehr abstrakt gehaltenen Ausführungen der Urworte lesen, die zeigt, wie auf dieser späteren Entwicklungsstufe nun vor allem die Bedingungsfaktoren Eros und Anangke das eigene Leben steuern: Die „leidenschaftlichste[…] Raserei“ des Eros, eine für das Ich selbst unerklärliche, wiederum ‚verwirrend’ wirkende Kraft bindet es an Lili; aus Angst vor der ‚Gefangenschaft’ der Anangke wird die Beziehung schließlich abrupt – mit der Flucht nach Weimar – beendet, die eingegangene Verlobung gelöst. In Herz, mein Herz, was soll das geben? fällt zunächst die immense Macht des Eros auf, die das lyrische Ich in seinen Bann reißt, ihm völlig neue, unbekannte Züge an der Welt und an sich selbst aufschließt, es dabei aber auch aus der Bahn wirft, es sich selbst nicht mehr verstehen lässt: „Welch ein fremdes neues Leben! / Ich erkenne dich nicht _____________ 175
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FA I/8, S.98: Die Leiden des jungen Werthers [1774].
mehr.“176 Die Ursachen für diese tiefe, verstörend wirkende Erschütterung kann es sich selbst nicht erklären – auf die Eingangsfragen der ersten zwei Verse „Herz, mein Herz, was soll das geben? / Was bedranget dich so sehr?“ (Herz, mein Herz, V. 1f.), gibt der Text im weiteren Verlauf keine Antwort. Konstatiert wird nur die „groß[e]“ „Verändrung“ (Herz, mein Herz, V. 23), die als abrupter, alles Bekannte umstürzender Einschnitt in ein Gefühlsleben ausgegeben wird, das zuvor recht ausgeglichen oder dem Individuum zumindest in seinen Reaktionen und Empfindungen vertraut war. Doch jetzt ist nichts mehr wie vorher; alles, was ihm bislang wichtig war, ihn beschäftigt hat – im positiven wie im negativen Sinne – ist unbedeutend geworden, die Fähigkeit, sich konzentriert auf etwas einzulassen, ist dahin: „Weg ist Alles, was du liebtest, / Weg warum du dich betrübtest, / Weg dein Fleiß und deine Ruh’“ (Herz, mein Herz, V. 5–7). Das, was hier „[m]it unendlicher Gewalt“ (Herz, mein Herz, V. 12) „vom Himmel nieder[stürzt]“ (Urworte, V. 17) und das lyrische Ich – und ebenso (wie zu zeigen sein wird) das erzählte Ich der Autobiographie – an seine Geliebte „[f]esselt“ (Herz, mein Herz, V. 9), ist keineswegs mehr mit der „leisesten Neigung“ zu vergleichen, in deren Gestalt das erste, ‚luftig-schwebende’ Eindringen des Eros im Kontext der Gretchen-Episode des Fünften Buchs von Dichtung und Wahrheit begegnet, sondern gewinnt eine – selbst vor der Folie der anderen „früheren Verhältnisse[…]“ (DuW IV, S.749)177 – ganz neue Dimension. Im Gedicht wird schon dem Eros selbst eine bedrohliche Komponente zugeschrieben: Eben weil die Anziehungskraft, die „die Jugendblüte, / Diese liebliche Gestalt, / Dieser Blick voll Treu’ und Güte“ (Herz, mein Herz, V. 12–14) auf das lyrische Ich ausüben, rational nicht erklärbar ist, bleibt sie auch nicht kontrollierbar – von einem „Zauberfädchen“ (Herz, mein Herz, V. 17), vom „Zauberkreise“ (Herz, mein Herz, V. 21) des Mädchens ist die Rede; Formulierungen, die zum einen die magische, für den menschlichen Verstand nicht fassbare Macht des Eros in den Vordergrund rücken, zum anderen auf die Doppelbödigkeit der Liebe hinweisen: Sie besitzt einerseits etwas ‚Zauberhaftes’, Wunderschönes, andererseits kann sie den Liebenden in dem Sinne ‚verzau_____________ 176
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Herz, mein Herz, was soll das geben?, V. 3f.; zitiert nach DuW IV, S.749f. Wird im Folgenden – wie gewöhnlich bei Zitaten aus Dichtung und Wahrheit nach der Frankfurter Ausgabe – aus dem Gedicht zitiert, so wird die in das Siebzehnte Buch von Dichtung und Wahrheit eingeschaltete Fassung zugrunde gelegt und im fortlaufenden Text lediglich Herz, mein Herz als Sigle sowie die jeweilige Verszahl angegeben. Gemeint sind die Liebesbeziehungen zu Käthchen Schönkopf (Siebentes Buch) und Friederike Brion (Zehntes und Eilftes Buch).
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bern’, dass er seiner selbst nicht mehr Herr ist. Das Gedicht geht sogar so weit, dass sich schon hier die Konnotation des ‚Gefangenseins’ aufdrängt: Es ist dem lyrischen Ich nicht möglich, sich der Geliebten zu „entziehen“, sich zu „ermannen, ihr [zu] entfliehen“ (Herz, mein Herz, V. 13f.), ja, sie hält ihn „wider Willen“ (Herz, mein Herz, V. 20) fest und die letzte Strophe endet mit einem Hilferuf: „Liebe! Liebe! laß mich los!“ (Herz, mein Herz, V. 24). Motiviert ist der Wunsch, dem Bannkreis der Geliebten zu entfliehen, die ‚Fesseln’ zu lösen, nicht nur von den in ihrer Übermacht und Unkontrollierbarkeit j e t z t als bedrohlich empfundenen Gefühlen, sondern auch von einer ganz konkreten, auf eine gemeinsame Zukunft bezogenen Angst. Diese wird schon im Eingangsvers als Leitfrage des gesamten Textes formuliert, wenn dort das „Herz“ – in einer Perspektive, die nicht etwa nur die Gegenwart, sondern in einer futurischen Formulierung ganz explizit die Zukunft in den Blick nimmt – gefragt wird, „was [...] das geben [soll]?“ Was damit gemeint ist, verrät die letzte Strophe: Eine dauerhafte Bindung an die Geliebte bedeutete „groß[e]“ „Verändrung“ für das lyrische Ich, das sein Leben „nun auf ihre Weise“ führen „[m]uß“ (Herz, mein Herz, V. 21–23). Anpassung zweier Individuen und ihrer jeweiligen Lebensläufe ist erforderlich, eine Anpassung, die das lyrische Ich als ‚Einschränkung’ seiner individuellen Freiheit, als ‚Zwang’ empfindet – Anforderungen, die an das „harte[…] Muß“ (Urworte, V. 30) der Anangke-Stanze erinnern und auf die es zunächst mit dem Wunsch zu fliehen reagiert. In Dichtung und Wahrheit folgt dem Text noch ein zweites Gedicht des Jahres 1775 Warum ziehst du mich unwiderstehlich – in den Drucken unter dem Titel An Belinden178 veröffentlicht –, das das Eros-Thema wiederum variiert, den Gegensatz zwischen der Welt des lyrischen Ichs und dem gesellschaftlich-familiären Umfeld der Geliebten und vor allem die Schwierigkeiten der Beziehung noch deutlicher betont als Herz, mein Herz. Entsprechend wirkt der Kommentar, den das erzählende Ich seinen „eingeschaltet[en]“ Texten folgen lässt, beinahe ironisch: „Hat man sich diese Lieder aufmerksam vorgelesen lieber noch mit Gefühl vorgesungen, so wird ein Hauch jener Fülle glücklicher Stunden gewiß vorüber wehen“ (DuW IV, S.751). Denn sicherlich scheinen auch in den Lili-Passagen des Sechzehnten bis Zwanzigsten Buchs jene „vollen goldnen Stunden“179 durch, die Goethe mit der _____________ 178
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Vgl. auch FA I/1, S.166 (Fassung von 1775) und S.287 (Fassung der ersten ‚Gesamtausgabe’ von 1789) und die dazugehörigen Kommentare, S.889f. und S.1015. Warum ziehst du mich unwiderstehlich, V. 9; zitiert nach DuW IV, S.750f. Wird im Folgenden – wie gewöhnlich bei Zitaten aus Dichtung und Wahrheit nach der Frankfurter Ausgabe – aus dem Gedicht zitiert, so wird die in das Siebzehnte Buch von Dichtung und
jungen und wohlhabenden Bankierstochter Anna Elisabeth Schönemann, genannt Lili, in Frankfurt genießen konnte und die er noch mehr als dreißig Jahre später in einem Brief an sie „unter die glücklichsten meines Lebens“180 zählte, stärker aber sind von Anfang an die negative, bedrohliche Komponente des Eros und die Angst vor den Konsequenzen für die eigene Entwicklung – gerade als Dichter –, die eine Ehe mit Lili mit sich brächte und die dann zur Lösung der Verlobung führt. Was genau das Ich an dem jungen Mädchen fasziniert, bleibt im autobiographischen Rückblick weitestgehend offen, auch hier wird – wie in der Lili-Lyrik – die magische Anziehungskraft zwischen den beiden Liebenden nicht erklärt. Bei der Schilderung der ersten Begegnung, bei der Lili im Rahmen eines kleinen Hauskonzerts in ihrem Elternhaus „mit bedeutender Fertigkeit und Anmut“ (DuW IV, S.739) Klavier spielt, betont das erzählende Ich zwar ihre einnehmende äußere Erscheinung – das „Kindartige[…] in ihrem Betragen“ und die „ungezwungen[en] und leicht[en]“ „Bewegungen“ – sowie ihr „artig[es]“ Benehmen (ebd.) bei der ersten Konversation zwischen den beiden, dennoch aber reichen diese recht unspezifischen Charakterisierungen kaum aus zu erklären, warum schon von dieser ersten kurzen Zusammenkunft, von dem ersten Blickwechsel der beiden eine solche Attraktion ausgeht: „Indessen blickten wir einander an, und ich will nicht leugnen daß ich eine Anziehungskraft von der sanftesten Art zu empfinden glaubte“ (ebd.). Die vorsichtige Formulierung, die die weitere Entwicklung noch sehr in der Schwebe hält, findet ihre Entsprechung in dem recht unverbindlichen Fazit, das das Ich nach der ersten Erwähnung Lilis im Sechzehnten Buch zieht und das den Eros eher mit dem „auf luftigem Gefieder“ (Urworte, V. 19) ‚heranschwebenden’ Cupido-Knaben assoziieren lässt und seine Bedrohlichkeit noch keineswegs in den Blick nimmt: Bei weiteren Besuchen des jungen Goethe im Hause Schönemann habe sich „ein heiteres verständiges Gespräch [ge]bildet[…], welches kein leidenschaftliches Verhältnis zu weissagen schien“ (DuW IV, S.740). Gleich bei der nächsten, dann ausführlicheren Erwähnung Lilis, mit der das Siebzehnte Buch eingeleitet wird, wird sowohl deutlicher, was eigentlich die emotionale Tiefe der Beziehung ausmacht, als auch, welche Gefahren und Schwierigkeiten sie in sich birgt. Hervorgehoben wird die Wechselseitigkeit des Verhältnisses, der von Vertrauen und _____________ 180
Wahrheit eingeschaltete Fassung zugrunde gelegt und im fortlaufenden Text lediglich Warum ziehst du mich unwiderstehlich als Sigle sowie die jeweilige Verszahl angegeben. FA II/6, S.258: Brief an Anna Elisabeth von Türckheim (geb. Schönemann), 14. 12. 1807.
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Offenheit geprägte Umgang miteinander – denn „[w]ie wollte man sich von dem Innern unterhalten, ohne es aufzuschließen“ (DuW IV, S.748) –, das Gefühl, den Partner zu verstehen und selbst verstanden zu werden, sei es im Gespräch unter vier Augen, in dem Lili ihm früh „die Geschichte ihrer Jugend“ (ebd.) erzählt, sei es durch ein geheimes Einverständnis in Gesellschaft: „Jeder wechselseitige Blick, jedes begleitende Lächeln sprach ein verborgnes edles Verständnis aus“ (DuW IV, S.751). Selbst hier – bei der Darstellung der ersten sich entwickelnden, wachsenden Zuneigung füreinander – deutet sich jedoch eine negative Komponente an, die die Einschränkung der eigenen Autonomie, das Gekettetsein an die Geliebte mit sich bringt: Schon hier ist davon die Rede, dass Lili ihn „aufs allerstrengste s i c h z u e i g e n machte“, dass sie aber im Gegenzug dafür gleichsam „b e s t r a f t sei daß sie auch von mir angezogen worden“ (DuW IV, S.748, Hervorhebungen W.H.) – wie in Herz, mein Herz wird ein „Zauberfädchen“ gespannt, „[d]as sich nicht zerreißen läßt“ (Herz, mein Herz, V. 17) und das das Ich untrennbar an die „schöne[…] liebenwürdige[…] gebildete[…] Tochter“ knüpft, die es „von Person zu Person“ wertschätzt (DuW IV, S.749). Dabei ist es ihm gerade nicht um „das Zufällige“ zu tun, das die Geliebte umgibt, an „die Äußerlichkeiten“, um die familiären und sozialen Bande, die als Tyche auf Lili eingewirkt haben und die noch immer ihr vertrautes Umfeld bestimmen, sondern um ihre „Natur“, um ihren Daimon, der sich – in welcher Umgebung auch immer er sich präsentiert – immer gleich bleibt: War es doch derselbige nun durch Putz verhüllte Busen der sein Innres mir geöffnet hatte und in den ich so klar wie in den meinigen hineinsah; waren es doch die selben Lippen, die mir so früh den Zustand schilderten in dem Sie herangewachsen, in dem Sie ihre Jahre verbracht hatte (DuW IV, S.751).
Doch dieses Mädchen bewegt sich nun inmitten der ihm vertrauten und seiner familiären Herkunft entsprechenden Gesellschaft des reichen Frankfurter Geldadels, die dem jungen Goethe nicht nur fremd, sondern – dem autobiographischen Rückblick zufolge – auch nicht angenehm ist. Gerade „an die Äußerlichkeiten an das Mischen und Wiedermischen eines geselligen Zustandes“ (DuW IV, S.749) habe er nicht gedacht gehabt, und das Dilemma, das schließlich zu Krise und Trennung führt und „rückblickend mit der zunehmenden Wahrnehmung der Inkongruenz der familiären Zustände, der Herkunft und der Perspektiven beider“181 begründet wird, deutet sich bereits an: „Ein _____________ 181
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Benedikt Jeßing, Artikel ‚Schönemann, Anna Elisabeth (gen. Lili)’. In: GHb 4.2, S.960f, hier S.961.
unbezwingliches Verlangen war eingetreten; ich konnte nicht ohne sie, sie nicht ohne mich sein; aber was ergaben sich da für Mißtage und Stunden“ (DuW IV, S.749). Zunächst jedoch überwiegt das Glücksgefühl, das die Stunden mit Lili hervorbringen und das alle Zweifel vergessen macht: das Gefühl eines wechselseitigen unbedingten Behagens, die volle Überzeugung eine Trennung sei unmöglich, das ineinander gleichmäßig gesetzte Vertrauen, das alles brachte einen solchen Ernst hervor (DuW IV, S.764),
dass das Ich sich „wieder verwickelt fand“ (ebd.). Mit den Worten der Goetheschen Erläuterungen zu den Urworten: Die Kraft des Eros ist so stark, dass bald „keine Gränze des Irrens“ (Urworte-Kommentar, S.495) mehr ist, das Ich über alle Schwierigkeiten hinweggetäuscht wird und sich in der Lage glaubt – denn „die Zuversicht der Leidenschaft ist groß“ (DuW IV, S.766) – ungeachtet aller Probleme den Schritt zu wagen, sich „dem Einen“ zu „widme[n…]“ (Urworte, V. 24) und eine Ehe mit Lili einzugehen. Im Rückblick lässt der Autobiograph die Wirkung der Anangke auf die Geschichte des erzählten Ichs nicht erst durch Heirat und Eintritt ins Eheleben beginnen – weil dieser geplante Schritt dann ja gar nicht vollzogen wird –, sondern bereits mit der Verlobung. Sie wird als so bedrückend und einschränkend empfunden, dass am Ende nur noch die Trennung als Ausweg erscheint. Zunächst wird mehrfach betont, welch einschneidende Veränderungen die vollzogene Verlobung mit sich bringt, gerade, was die Gefühle des Bräutigams anbelangt, in dem „von dem Augenblick an eine gewisse Sinnes-Veränderung […] vorging“ (DuW IV, S.766). Eingeschaltet in die Schilderung des persönlichen Zustands – die sich zunächst auf die Darstellung der veränderten Wahrnehmung der Geliebten beschränkt, welche nun plötzlich als ein „Kapital[…]“ angesehen wird, „von dem ich zeitlebens die Zinsen mit zu genießen hätte“ (DuW IV, S.766), wobei sich erneut Assoziationen des Besitzens aufdrängen – werden allgemeine Reflexionen über den Brautstand, die schon auf die Zwänge und auf die „Krise“ (ebd.) vorbereiten, in die das junge Paar dann gerät. Nicht nur sei es generell unvermeidlich, dass man sich „auf dem Gipfel der Zustände […] nicht lange“ (ebd.) halte; als ebenso allgemein gültig werden zudem die Schwierigkeiten ausgewiesen, die sich einer glücklichen Partnerschaft in den Weg stellten. Sobald diese nämlich mit der „Wirklichkeit“ konfrontiert werde, müssten die Liebenden erkennen, dass die „Außenwelt“ immer „unbarmherzig“ ist und dem „Ideelle[n]“, das „ein solches Verlöbnis“ eigentlich sei, „entgegen steh[t…]“ (DuW IV, S.766), jedenfalls ganz konkrete Entscheidungen und Schritte abverlange, die von 211
den Partnern die Bereitschaft zur Einschränkung, zur Angleichung des eigenen Lebensweges an den des Partners fordert. Vor einer speziellen Konstellation, die dann genau die Situation widerspiegelt, in der das erzählte Ich, der mit einer Tochter des reichen Finanz-Bürgertums verlobte junge Mann aus weitaus weniger wohlhabenden bürgerlichen Verhältnissen, sich wiederfindet, wird dabei ganz besonders gewarnt: Junge Gatten, die, besonders in der späteren Zeit mit nicht genugsamen Gütern versehen in diese Zustände sich einlassen, mögen ja sich keine Honigmonde versprechen; unmittelbar droht ihnen eine Welt mit unverträglichen Forderungen, welche, nicht befriedigt ein junges Ehepaar absurd erscheinen lassen (ebd.).
Der Zwang, diesen „unverträglichen Forderungen“ doch gerecht zu werden, bestimmt im Folgenden die rückblickende Darstellung der Beziehung zwischen Lili und dem Ich und entsprechend deutlich sind die Anklänge an die Anangke-Konzeption der Urworte im Siebzehnten bis Zwanzigsten Buch. Schon um überhaupt eine Heirat mit Lili zu ermöglichen bzw. die Einwilligung der Familien zu erlangen, die dadurch zusammengeführt werden müssen, wird von „dem Genie“, dem „man alles zu[traut]“ (DuW IV, S.768), einiges verlangt, das seinem Daimon widerstrebt. Dessen wird der frisch Verlobte, der „bisher von allem diesen abgesehen“ (DuW IV, S.767) hatte, nun nach und nach gewahr. Mit dem „Trugschluß, den die Leidenschaft so bequem findet“ (ebd.), kann er nicht mehr länger leben und seine Zukunft auf der Grundlage von „etwas Unwahre[m…]“ (DuW IV, S.768) planen. Um die „völlige[…] Inkongruenz“ (DuW IV, S.767) zwischen ihrem und seinem Elternhause zu überbrücken, Lili nur annähernd das bieten zu können, was sie seit frühester Kindheit gewohnt ist, ist mehr erforderlich, als die eigene „Kleidung von Zeit zu Zeit [zu] verändern“, „um gegen die Tags- und Modemenschen nicht abzustechen“ (ebd.). Schon das allein widerstrebt dem jungen Ich. Unerträglich erscheint ihm aber die Lebensperspektive einer finanziell und beruflich gesicherten bürgerlichen Existenz, die die eigene Weiterentwicklung als Dichter erschwerte, wenn nicht ganz unmöglich machte. Tatsächlich wird ihm eine für diese Zwecke geeignete, „beim ersten Anblick vorteilhaft[e] und ehrenhaft[e]“ (DuW IV, S.768) Stelle angeboten – eine Aussicht, mit der sich das Ich zunächst jedoch nur noch mehr über alle „Zweifel“ und alles „Schwanken“ (ebd.) hinwegtäuschen lässt, denn all die „weltliche[n] Geschäfte“, in die es sich „verwickelt fand“, sind ihm im Grunde völlig „gleichgültig[…]“ (DuW IV, S.764). In die Lili-Handlung sind am Ende des Siebzehnten und zu Beginn des Achtzehnten Buchs Abschnitte eingefügt, die dem ‚Genie-Leben’ des jungen Goethe gewidmet sind – die eigenen literarischen Produkti212
onen dieser ‚Epoche’ geraten wieder ausführlicher in den Blick, die Freundschaft mit den Grafen Stolberg und dem Umkreis des Göttinger Hains, später der Besuch bei Lavater in Zürich stehen symbolisch für die Integration in den Sturm-und-Drang-Kreis. All dies bietet einen deutlichen Kontrast zu der Lebensperspektive eines in die Kreise des Frankfurter Finanzbürgertums einheiratenden zukünftigen Ehemanns und Familienvaters. Motiviert von einem immer stärker werdenden Zweifel an der Beziehung zu Lili nimmt das Ich die Aufforderung der Stolberg-Brüder an, sie auf einer Reise in die Schweiz zu begleiten, verfolgt diese Entscheidung doch nur ein einziges Ziel: nämlich den „Versuch zu machen ob man Lilli entbehren könne“ (DuW IV, S.785). Im scheinbaren Widerspruch zu diesem „Versuch“ steht die Einschätzung, dass „sie […] mir so ins Herz gewachsen [war] daß ich mich gar nicht von ihr zu entfernen glaubte“ (DuW IV, S.786), mit der erklärt wird, warum das Ich sich „ohne Abschied“ (ebd.) von seiner Verlobten trennt. Unbewusst ist hiermit jedoch ein entscheidender Schritt zur ‚Ablösung’ bereits vollzogen und der Wille, sich der Kraft des Eros zu widersetzen, muss sehr bestimmend sein: Schließlich wird die Reise gezielt als ‚Test’ ausgewiesen, ohne Lili leben zu können, und mit der plötzlichen Flucht, die die Geliebte vollends im Unklaren darüber lässt, wie sie sich diese zu erklären habe, wird auch sie in Unsicherheit und Zweifel versetzt. Gerade der Schwester Cornelia, die ihrem Bruder „auf das Ernsteste eine Trennung von Lilli empfohlen ja befohlen hatte“ (DuW IV, S.791), kommt in der autobiographischen Rückschau eine besonders große Wirkung auf das erzählte Ich zu, was seine Entscheidung für oder gegen die Heirat anbelangt, denn ihr Rat lag ihm „noch schwerer […] auf dem Herzen“ (ebd.) – und zwar sicherlich nicht nur deswegen, weil die Beziehung der Geschwister als geradezu symbiotisch ausgewiesen wird.182 Vielmehr sollen die Konsequenzen, die sich aus Cornelias Heirat ergeben haben, veranschaulichen, was die Macht der Anangke auf dieser Stufe des Lebens bewirken kann: Gezielt wird an dieser Stelle Cornelias Eheleben als negative Spiegelfolie ausgestaltet, das ihr nichts als „Entbehrung“ und „Einsamkeit“ (DuW IV, S.792) bringt, gerade weil es sie in eine gänzlich andere soziale Umgebung versetzt als die ihres Elternhauses. Wie viel also Cornelia zweifelsohne von ihren eigenen ehelichen Erfahrungen auf die Beziehung des Bruder projiziert, klingt in der Einschätzung des erzählenden Ichs durchaus mit einem _____________ 182
„Wir waren, nach meiner Rückkunft von der Akademie, unzertrennlich geblieben, im innersten Vertrauen hatten wir Gedanken, Empfindungen und Grillen, die Eindrücke alles Zufälligen in Gemeinschaft“ (DuW IV, S.790).
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kritischen Unterton an: „Diese [ihre eigenen] Zustände, diese Erfahrungen waren es wodurch sie sich berechtigt glaubte mir aufs ernsteste eine Trennung von Lilli zu befehlen“ (ebd.). Dennoch aber gelingt es ihr, ihrem Bruder aus der Perspektive der Frau begreiflich zu machen, dass eine Ehe nicht nur ihn selbst, sondern ebenso Lili unzufrieden machen würde, die im Goetheschen Elternhaus niemals glücklich werden könnte. Anangke drohte also – schenkt man dem Rat der Schwester Glauben – in jedem Fall: Für Lili, weil sie „aus einer wo nicht glänzenden doch lebhaft bewegten Existenz heraus[gezerrt]“ (ebd.) würde, für den Bruder, weil er sich von seinem eigentlichen Telos – als Dichter Erfolg zu haben – entfernte und diese Entfernung von der eigentlichen Bestimmung früher oder später als ‚Zwang’, als ‚Gefangenschaft’ erlebte. Freilich muss offen bleiben, ob Cornelia tatsächlich so geraten hat, doch ist diese Frage für die Interpretation des autobiographischen Textes unerheblich: Wichtig ist vielmehr, dass der rückblickende Goethe seine Vita als Weg zwischen Eros und Anangke verstanden wissen will, dem Telos der Dichter-Existenz zulaufend. Folgerichtig empfindet das erzählte Ich nach der Rückkehr aus der Schweiz die Trennung von Lili zwar als „fürchterliche Lücke“ (DuW IV, S.834), jedoch als eine „Lücke“, die „durch Geistreiches und Seelenvolles auszufüllen“ (ebd.) war: Mit der Arbeit an Egmont wird ein neues schriftstellerisches Projekt aufgenommen und mit der ‚Befreiung’ von den Zwängen, die schon die Vorbereitung des Ehestandes mit sich gebracht hatten, als die „ganze Tätigkeit auf Einsicht und Ausübung bürgerlicher Geschäfte gewendet“ (ebd.) war, wird der Lebensweg frei gemacht für das, was der Daimon von vornherein als die ‚ZielBestimmung’ des Ichs ausgewiesen hatte: für ein gerade nichtbürgerliches Leben, das vor allem dem Schreiben gewidmet ist und für das mit dem Verlassen der Heimatstadt Frankfurt und dem Abreise nach Weimar eine neue ‚Epoche’ der eigenen Lebensgeschichte beginnt. 3.3.5
Das programmatische Nicht-Erklären von Elpis in der Gesamtkonzeption des Autobiographieprojekts
Mit den Worten Egmonts beendet das erzählende Ich – am Ende des Vierten Teils von Dichtung und Wahrheit – die Rückschau auf das eigene Leben: Kind, Kind! nicht weiter! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts, als mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald
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links, vom Steine hier, vom Sturze da die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam (DuW IV, S.852).
Das erzählte Ich kann an dieser Stelle nicht wissen, wohin es – im übertragenen Sinne – die Reise führen, welche Konsequenzen der Neubeginn in Weimar für sein weiteres Leben haben wird. Es ist gerade von dieser Ungewissheit einerseits ein wenig verunsichert, gerade weil sich das Gefühl beimischt, die Route nicht allein bestimmen zu können, andererseits aber auch ‚beflügelt’ und gespannt auf Neues. Der Autobiograph gestaltet den ‚Epochenumbruch’ im Text gezielt als ‚Abbruch’ der (Lebens-)Geschichte, deren Fortsetzung in den anderen Autobiographischen Schriften nur noch schlaglichtartig, nicht mehr aber im Gesamtverlauf beleuchtet wird (wie vor allem in der Italienischen Reise und der Campagne in Frankreich), oder aber die gerade das nicht thematisieren, was eine zentrale Intention von Dichtung und Wahrheit ausmacht – nämlich die Entwicklung des Individuums darzustellen –, sondern dagegen (zumindest auf den ersten Blick) ganz andere Schreibverfahren anwenden.183 Auffällig dabei ist, dass die Konzeption der Autobiographischen Schriften so in gewisser Hinsicht mit den Urworten – bzw. genauer: mit dem Prosakommentar zu dem Gedicht – korrespondiert: Als zusammenhängende Entwicklungslinie werden nur – in den vier Büchern von Dichtung und Wahrheit – die Geschichte des Ichs von der Geburt bis zum Aufbruch nach Weimar und damit die ersten 26 Jahre von Goethes Leben dargestellt. Die Textanalysen konnten – anhand ausgewählter Textpassagen des Ersten Buches – entsprechend nur nachweisen, dass Goethe die Geschichte seiner Kindheit und Jugend als ein Wechselspiel zwischen Daimon und Tyche präsentiert, und anschließend noch die dritte sowie indirekt die vierte Ur-Kraft in den Blick nehmen, wenn – wie schon mit den Liebesbeziehungen zum Frankfurter Gretchen, zu Käthchen Schönkopf in Leipzig, zur Sesenheimer Friederike, dann aber vor allem zu Lili Schönemann – der Eros in das Leben des erzählten Ichs „vom Himmel nieder[stürzt]“ (Urworte, V. 17) und damit die Angst vor der Anangke mit sich bringt. Schon diese vierte Ur-Kraft wird dabei nur als drohende Gefahr deutlich: in der Angst vor einer festen Bindung, die schließlich zur Lösung der Verlobung mit Lili führt. Auf eine Ausgestaltung der Lebensstufen, die von Anangke und dann – noch später – von Elpis bestimmt werden, verzichtet der Autobiograph und übernimmt dabei das gleiche – nämlich nur andeutende oder gar ganz offen lassende – Schreibverfahren wie im Prosakommentar zu den Urworten, _____________ 183
Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel 3.6 dieser Arbeit.
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in dem er ähnlich ausführliche Erläuterungen wie zu Daimon, Tyche und Eros bei den letzten beiden Stanzen bewusst auslässt: In den Autobiographischen Schriften, die späteren Lebensabschnitten gewidmet sind, geht es gerade jeweils um das ‚Ausbrechen’ aus den Zwängen des Alltags wie v.a. in der Italienischen Reise – Anangke wird also höchstens als Negativfolie deutlich, vor der das Ich flieht – oder aber die Aspekte der inneren Entwicklung werden konsequent ausgespart und der Autobiograph beschränkt sich auf die Auflistung seiner Tätigkeit, seines ‚Wirkens nach außen’ wie in den Tag- und Jahresheften, sodass zumindest die Macht von Elpis in den Autobiographischen Schriften genauso unbestimmt bleibt und auch in dieser Arbeit nur so unbestimmt bleiben kann wie in der wohl am offensten gestalteten Strophe der Urworte.184
3.4
Der Blick auf die vom erzählten Ich erlebte Zeit: die Geschichte eines ‚Jahrhunderts’
3.4.1
Die Zeitgeschichte als Tyche-Kraft, die „sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt“
In den vorangegangenen Kapiteln standen vor allem diejenigen Aspekte von Goethes Geschichtsdenken im Zentrum, die sich historischen Fragestellungen über die ‚Brücke’ des Individuums nähern: Untersucht _____________ 184
216
Günter Niggl kommt es in seinem Aufsatz zwar nicht primär auf die Analogien zwischen Urworte. Orphisch und Dichtung und Wahrheit, sondern auf etwas anderes an – nämlich darauf nachzuweisen, dass eine rein morphologische, an biologischen Wachstumsvorgängen orientierte Lesart von Goethes Sicht auf die Entwicklung des Individuums zu kurz greife – er gelangt aber gerade im Hinblick auf den Schluss von Dichtung und Wahrheit zu einem ähnlichen Ergebnis, indem er betont, dass Goethe spätestens hier das „modèle morphologique lui paraissait trop rigide et trop schématique pour une représentation biographique et que, avec lui, il stylisait trop sa propre personne, ses expériences du monde, en vertu d’une conception du développement et de la formation préconçue, si bien que, de cette manière, il ne pouvait rendre compte de la ‚vérité fondamentale’ de sa vie“ (Günter Niggl, Le problème de l’interprétation morphologique de la vie dans ‚Poésie et Vérité’. In: Johann Wolfgang Goethe. L’Un, L’Autre et le Tout, hg. von Jean-Marie Valentin, o.O. 2000, S.633–646, hier S.646). Eine lineare, sich ohne Brüche und ‚Verirrungen’ vollziehende, vorherbestimmte Entwicklung des Individuums wurde – so die Ergebnisse dieses Kapitels – schon in Dichtung und Wahrheit nicht gezeichnet, spätestens aber mit Blick auf die Gestaltung von Goethes gesamtem Autobiographieprojekt und seinen großen Lücken in der Darstellung der eigenen Lebensgeschichte sowie mit den ganz unterschiedlichen Schreibverfahren, die im Vergleich der einzelnen Texte miteinander deutlich werden, kann von einer solchen Darstellungsabsicht nicht ausgegangen werden.
wurden die Schreibverfahren, die Goethe selbst dazu nutzte, um sich in seinen Autobiographischen Schriften ein Denkmal zu setzen, das ihm in der ‚Geschichte’ – in Gegenwart und Nachwelt – einen festen Platz sichert, und die Rezeption seines Lebens und seiner Werke seinen Intentionen gemäß zu steuern (Kap. 3.1). Ausgehend von der Beobachtung, dass gerade dem – womöglich durch besondere Begabung(en) – herausgehobenen Individuum nicht nur in Goethes Autobiographieprojekt, sondern auch in seinen biographischen Arbeiten eine besondere Bedeutung für die k u l t u r - (nicht etwa die p o l i t i k -)geschichtliche Entwicklung zukommt, ging es anschließend darum, das Wechselverhältnis zwischen dem „Menschen“ und „seinen Zeitverhältnissen“, das im Vorwort von Dichtung und Wahrheit zum ‚Programm’ des autobiographischen Schreibens erhoben wird, von der Seite des „Individuum[s]“ aus zu betrachten und zu fragen, inwiefern ein Einzelner sein „Jahrhundert“ (DuW I, S.13) vorangebracht hat (Kap. 3.2). Das folgende Kapitel nimmt nun dieses Wechselverhältnis von der anderen Seite genauer in den Blick und so auch das, was allgemein mit ‚Geschichte’ zuallererst assoziiert wird: nämlich die (welt-)historischen Ereignisse und Entwicklungen, die die Epoche geprägt und damit die Entwicklung des Individuums beeinflusst haben – und zwar dem Vorwort von Dichtung und Wahrheit zufolge in so entscheidendem Maße, dass „[…] ein Jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, […] was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein“ (DuW I, S.13f.) dürfte. Denn im Zusammenhang mit dem Gedicht Urworte. Orphisch bzw. mit der sich durch Goethes autobiographische Texte ziehenden Entelechie-Vorstellung wurde die Tyche als Einfluss der Umgebung auf das Individuum bislang ausschließlich ad personam gedeutet: am Beispiel des Fünften Buches des Ersten Teils von Dichtung und Wahrheit als Einfluss anderer Menschen, hier der Gesellschaft um Pylades und Gretchen, die das erzählte Ich von seinem rechten Weg, seiner von seinem Daimon angelegten eigentlichen Bestimmung abzubringen versuchen (Kap. 3.3). Dabei manifestiert sich die Kraft der Tyche besonders als die Wirkung, die die ‚Epoche’, das „Jahrhundert“ (DuW I, S.13) auf das Ich ausüben. Die folgenden Ausführungen stellen damit das Äquivalent zu Kapitel 3.2 dar: Während dort gezeigt wurde, wie das Individuum, wenn es „Künstler, Dichter, Schriftsteller ist“ (ebd.), seine ‚Epoche’ voran-, seiner Zeit in kulturgeschichtlicher Hinsicht etwas Positives bringt, soll nun untersucht werden, wie das „Jahrhundert“ den Einzelnen prägt. Dabei wird zu klären sein, ob und inwiefern dabei den „Zeitverhältnissen“ (ebd.), den gesellschaftlichen und politischen Umständen wie den (welt-)geschichtlich wichtigen Ereignissen und Entwicklungen, tatsäch217
lich eine ausschließlich negative Komponente zugeschrieben wird. Die Formulierung des Vorworts zu Dichtung und Wahrheit, dass das Jahrhundert „sowohl den willigen als unwilligen mit sich fortreißt“ (ebd.) weist die Zeitgeschichte nämlich als einen sehr mächtigen und entsprechend wichtigen Faktor für die Entwicklung des Individuums aus. Dass sie jedoch dabei ihr Recht gewaltsam zu behaupten scheint und jeden mit sich „fortreißt“ – ob er will oder nicht – lässt die Zeitgeschichte jedenfalls zunächst nicht in einem positiven Licht erscheinen; ein Eindruck, der allerdings anhand differenzierterer Auseinandersetzung mit ausgewählten Passagen der Autobiographischen Schriften zu überprüfen bzw. zu spezifizieren bleibt. 3.4.2
Erste Konfrontationen mit der Geschichte als Erschütterung: das Erdbeben von Lissabon und der Siebenjährige Krieg
Schon bei der Lektüre des ersten Kapitels des Ersten Buches von Dichtung und Wahrheit regen sich Zweifel an der in einigen Arbeiten vertretenen These, dass Goethe sich für Geschichte grundsätzlich nicht oder jedenfalls kaum interessiert habe, zumindest anders als „[a]lle großen Dichter und Denker der Goethezeit [kein...] ausgeprägtes Verhältnis zur Geschichte“185 hatte. Dem autobiographischen Rückblick zufolge hat sich gerade der junge Goethe besonders für das begeistern können, was man seiner Zeit – in der Mitte des 18. Jahrhunderts – unter ‚Historie’ verstand, nämlich vergangene Begebenheiten bzw. Vergangenes im Allgemeinen.186 Und zwar gilt sein Interesse dabei zum einen denjenigen Phänomenen, die Aufschluss über die Vergangenheit seiner Heimatstadt geben können, zum anderen denen, die „[…] bloß menschliche Zustände in ihrer Mannigfaltigkeit und Natürlichkeit, ohne weitern Anspruch auf Interesse oder Schönheit […]“ (DuW I, S.24) betreffen. Nicht nur für die Frage nach dem Denken v o n Geschichte in dem Sinne, w i e sich Geschichte erschließt bzw. w i e sie (re-)konstruiert werden kann,187 sondern auch für das Denken ü b e r Geschichte sind die frühen Stadtspaziergänge des Jungen aufschlussreich. Sie bieten _____________ 185
186
187
218
Dies formuliert Demandt in der Einleitung zu seinem kurzen Aufsatz, der den wohl neuesten Beitrag zur Forschungsdiskussion darstellt: Alexander Demandt, Geschichte bei Goethe. In: Merkur 60 (2006), S.317–327, hier S.317. Vgl. zum Begriff ‚Historie’ bzw. zum terminologiegeschichtlichen Hintergrund der Begriffe ‚Historie’ und ‚Geschichte’ ausführlich das theoretisch-methodische Fundament dieser Arbeit, hier besonders Kapitel 2.1.2. Vgl. dazu ausführlich das folgende Kapitel dieser Arbeit.
Hinweise darauf, inwiefern einzelne geschichtliche Ereignisse oder Entwicklungen oder sogar der gesamte geschichtliche Entwicklungsprozess einer expliziten oder impliziten Bewertung unterzogen werden. Das, was das erzählte Ich mit eigenen Augen sieht, wenn es Anlage und Bebauung der Stadt betrachtet, deutet keineswegs auf eine planvolle, geregelte oder gar stetig ‚fortschreitende’, womöglich teleologische Entwicklung des Stadtbildes hin. Vielmehr fallen überall Festungs- und Verteidigungsanlagen auf und alles scheint darauf abgestimmt, die Stadt und ihre Bewohner vor Angriffen zu schützen, nicht etwa, etwas „architektonisch Erhebendes“ (DuW I, S.23) hervorzubringen. Die historische Erkenntnis, die aus dem, was hier ‚mit Augen erlebt’ wird, gezogen werden könne, formuliert der Autobiograph wie folgt: „[…] alles deutete auf eine längst vergangne, für Stadt und Gegend sehr unruhige Zeit“ (DuW I, S.24) – ein Hinweis darauf, dass die Politikgeschichte mit all ihren Verfeindungen und kriegerischen Auseinandersetzungen kaum dazu beiträgt, die kulturellen – hier: architektonischen – Leistungen positiv zu befördern, sondern vielmehr mit „Zufall“ und „Willkür“ – und eben nicht mit einem „regelnden Geiste“ – (ebd.) in Verbindung zu bringen ist, und dass sie so im Frankfurter Stadtbild deutlich negative Spuren hinterlassen hat. Diese willkürliche, ungeordnete Komponente der Geschichte, die das Ich hier – bezogen auf die Vergangenheit seiner Heimatstadt – zunächst nur erahnen kann, wird ihm wenig später auf eindrucksvolle Weise gegenwärtig. Sicherlich nicht zufällig wird im autobiographischen Rückblick ein Naturphänomen – und nicht etwa eine von Menschen verursachte Begebenheit – als das „außerordentliche[…] Weltereignis“ dargestellt, von dem „die Gemütsruhe des Knaben zum ersten Mal im Tiefsten erschüttert“ wurde und das „über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken“ verbreitete (DuW I, S.36): nämlich das Erdbeben von Lissabon vom 1. November 1755. Wenngleich das erzählende Ich selbst darauf hinweist, dass „[…] vielleicht […] der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet“ (DuW I, S.37) hat und damit besonders die ideengeschichtlichen Folgen des Ereignisses andeutet, das die intellektuelle Welt im Hinblick auf die TheodizeeFrage erschütterte,188 da „die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich _____________ 188
Der (gesamteuropäischen) Rezeption des Erdbebens von Lissabon im 18. Jahrhundert – vor allem in ihrer Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und Kultur im Allgemeinen, der Philosophie und Theologie im Besonderen – widmen sich zahlreiche Arbeiten. Gerade auch aus Anlass des 250. Jahrestags sind Arbeiten entstanden, die einen Überblick über die Forschungsdiskussion geben und auf Spezialprobleme verwei-
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über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten“ (DuW I, S.37) und wohl deswegen eine Würdigung dieser „Erschütterung“ im autobiographischen Rückblick nicht fehlen darf, soll denn das Programm eingelöst werden, das „Individuum“ und „sein Jahrhundert“ (DuW I, S.13) darstellen zu wollen, so ist gleichwohl bemerkenswert, dass die „Erschütterung“ eben nicht ‚nur’ als eine solche für die ‚Welt’ bewertet wird, sondern dass ihr gerade in ihrer Wirkung auf das Individuum eine besondere Bedeutung zukommt: Der gerade mal sechsjährige (!) Goethe sei in seinem Gottesbild zutiefst verunsichert gewesen, weil sich nun Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubens-Artikels so weise und gnädig vorstellte, […] indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preis gab, keineswegs väterlich bewiesen (DuW I, S.37)
hatte. Der Junge sucht in der folgenden Zeit nach weiteren Zeugnissen eines eher dem Gottesbild des Alten Testamentes entsprechenden „zornigen Gott[es]“ und deutet ein sommerliches Unwetter mit Hagel und Regen – im Rückblick als ein die Entwicklung des Individuums „störend[er]“ (ebd.) Vorfall gewertet –, das das Elternhaus beschädigt und dessen Bewohner in Angst und Schrecken versetzt, entsprechend als Strafe des erzürnten Gottes für die Erdenbewohner. Der späte Goethe hingegen wird vermutlich auch dieses heftige Sommergewitter anders bewerten als der Knabe; das Erdbeben interpretiert er jedenfalls retrospektiv gerade nicht mehr als ein Zeichen Gottes, sondern er schließt seine Schilderung der verheerenden Folgen dieses „furchtbarsten Unglück[s]“ (DuW I, S.36) für die vollständig zerstörte, vormals „große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt“ (ebd.) mit der thesenartig formulierten Bemerkung: „[…] und so behauptet von allen Seiten die N a t u r ihre schrankenlose Willkür“ (ebd., Hervorhebung WH).189 Ob von den Naturgewalten also _____________
189
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sen wie auch weiterführende Literaturangaben bieten, wie etwa die Monographie von Günther (Horst Günther, Das Erdbeben von Lissabon und die Erschütterung des aufgeklärten Europa, Frankfurt a.M. 2005) sowie die Sammelbände von Braun und Radner (Theodore E. D. Braun und John B. Radner (Hgg), The Lisbon earthquake of 1755. Representations and reactions, Oxford 2005) oder von Lauer und Unger (Gerhard Lauer und Thorsten Unger (Hgg.), Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, Göttingen 2008 (Das achtzehnte Jahrhundert, Bd. 15). Auch Bernd Hamacher weist gerade im Hinblick auf das Erdbeben von Lissabon auf die „narrative Distanzierungsleistung“ hin, so dass in der entsprechenden Passage von Dichtung und Wahrheit die Deutung des über 60jährigen Autobiographen vom Erleben des sechsjährigen Kindes abgegrenzt werden müsse: Als „Ausgangsthese seiner Überlegungen“ formuliert er, dass es sich bei „der Darstellung des Autobiografen Goethe […] um eine späte Inszenierung des Lissabonner Erdbebens als Kulturschock und Zivilisa-
eine mächtigere – und gerade: unkontrollierbarere, zerstörerischere – Wirkung auf die Geschichte, auf den Lauf der Welt ausgeht als von allem, was die Menschheit selbst bestimmen und bewirken kann, wird im Verlauf dieses Kapitels auch genauer zu untersuchen sein. Bleibt man zunächst einmal nur bei den ersten Büchern von Dichtung und Wahrheit, so ist in dieser Hinsicht interessant, dass die geschilderte ‚Naturerschütterung’ mit dem ersten „weltbekannte[n]“ (DuW I, S.53) politikgeschichtlichen Ereignis parallelisiert wird, dessen der dann gerade sieben Jahre alte Goethe ein Jahr ‚nach Lissabon’ Zeuge wird: dem Siebenjährigen Krieg. Den Erfahrungen, die das Ich im Umfeld dieses Krieges macht, spricht es gleichfalls einen prägenden Einfluss auf seine Entwicklung zu, den es explizit mit der Wirkung des Erdbebens vergleicht: […] wie mir in meinem sechsten Jahre, nach dem Erdbeben von Lissabon, die Güte Gottes einigermaßen verdächtig geworden war, so fing ich nun, wegen Friedrichs des zweiten, die Gerechtigkeit des Publikums zu bezweifeln an (DuW I, S.55).
Der Krieg unterbricht nämlich nicht ‚nur’ den „glücklichen und gemächlichen Zustand, in welchem sich die Länder während eines langen Friedens“ (DuW I, S.53) befunden haben, und bringt Unruhe, Gewalt und Zerstörung in die Freie Reichsstadt Frankfurt, als das Kriegsgeschehen auf die Stadt übergreift und diese von den Franzosen besetzt wird. Im autobiographischen Rückblick werden noch andere Auswirkungen des Krieges ganz besonders betont: „Die Welt, die sich nicht nur als Zuschauer, sondern auch als Richter aufgefordert fand, spaltete sich sogleich in zwei Parteien, und unsere Familie war ein Bild des großen Ganzen“ (ebd.). Innerhalb des Mikrokosmos der eigenen „Familie“ erlebt der kleine Junge, wie politikgeschichtliche Entwicklungen die ganze „Welt“ entzweien können und mit der Zuschauer-Metaphorik drängt sich ein Vergleich unmissverständlich auf: Die weltgeschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen werden in die Nähe eines Theaterstücks gerückt, das man (ob ‚nur’ zur Unterhaltung oder auch zur Belehrung, bleibt hier offen) anschaut und über das man sich ein Urteil bildet. Dies fällt dann besonders leicht, wenn einen das dargebotene Spektakel selbst noch nicht wirklich tangiert – für die Frankfurter heißt das: bevor ihnen selbst durch die Einquartierung der Franzosen „wahre Unbequemlichkeit in die Häuser“ (DuW I, S.56) kam. Zum Zeitpunkt _____________ tionsbruch, es handelt sich um eine konstruierte Urszene“ (Bernd Hamacher, Strategien narrativen Katastrophenmanagements. Goethe und die ‚Erfindung’ des Erdbebens von Lissabon. In: Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, hg. von Gerhard Lauer und Thorsten Unger, Göttingen 2008, S.162–172, hier S.163).
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des Kriegsausbruchs bewirkt die (Kriegs-)Geschichte zunächst, dass die politischen Konflikte zwischen den konkurrierenden Staaten sich auf familiärer Ebene im Hause Goethe widerspiegeln, indem sie auch hier Streit und Uneinigkeit stiften, weil teils vehemente Anhänger des Preußenkönigs Friedrich II., teils ebenso überzeugte Verfechter der österreichischen Interessen die Familie in zwei Lager teilt. Die sonst friedlichen sonntäglichen Zusammenkünfte werden „gestört“ und es ereignen sich ganz „unangenehme[…] Szenen“ (DuW I, S.54),190 bei denen das erzählte Ich zunächst zwischen den Fronten steht und vor allem gar nicht verstehen kann, dass der von ihm bislang sehr geschätzte und verehrte Großvater den Preußenkönig öffentlich schmäht und anfeindet. Denn „[d]aß es Parteien geben könne, ja daß er selbst zu einer Partei gehörte, davon hatte der Knabe keinen Begriff […]“ (DuW I, S.55). Politische Belange – die wie in diesem Fall sogar von weltgeschichtlicher Bedeutung sind – werden hier nicht als etwas dargestellt, über das man sich sachlich und neutral eine Meinung bilden oder über die es womöglich gar so etwas wie die ‚richtige’ Meinung, ein allgemein gültiges Urteil geben könne, sondern als etwas, dessen Bewertung sich im Kopf jedes Menschen ganz unterschiedlich, vor allem aber eher emotional statt rational vollzieht. So gesteht das erzählende Ich selbst ein, dass die Seinen wohl kaum ausschließlich aufgrund einer objektiven Abwägung der politischen Situation auf der Seite Preußens standen, sondern dass es vielmehr „die Persönlichkeit des großen Königs [war], die auf alle Gemüter wirkte“ – „denn was ging uns Preußen an“ (DuW I, S.54). Im Übrigen stellt dies wieder ein Beispiel dafür dar, dass ein herausgehobenes Individuum den Anlass dafür bietet, sich überhaupt für politische Geschichte zu interessieren. Die Wirkung dieser ersten Konfrontation mit politischen Divergenzen wird im autobiographischen Rückblick als ähnlich einschneidend und (ver-)störend für die Entwicklung des erzählten Ichs gewertet wie das Lissaboner Theodizee-Erlebnis: „[D]as Gewahrwerden parteiischer Ungerechtigkeit [war] dem Knaben sehr unangenehm, ja schädlich, indem es ihn gewöhnte, sich von geliebten und geschätzten Personen zu entfernen“ (DuW I, S.56). Zudem noch schreibt der _____________ 190
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Wieder fällt ein aus dem Bereich des Dramas bzw. Theaters entlehnter Begriff auf; noch deutlicher unterstrichen wird die Parallelisierung später mittels eines Vergleichs der politisch motivierten Familienstreitigkeiten mit Shakespeares Tragödie Romeo und Julia: „Alles was zum Vorteil der Gegner angeführt werden konnte, wurde geleugnet oder verkleinert, und da die entgegengesetzten Familienglieder das Gleiche taten; so konnten sie einander nicht auf der Straße begegnen, ohne daß es Händel setzte, wie in Romeo und Julie“ (DuW I, S.54).
Autobiograph dieser Erfahrung den „Keim der Nichtachtung, ja der Verachtung des Publikums, die mir eine ganze Zeit meines Lebens anhing und nur spät durch Einsicht und Bildung ins Gleiche gebracht werden konnte“ (DuW I, S.56), zu. Das Publikum – ganz gleich, ob es sich um ‚Zuschauer’ von politikgeschichtlichen Begebenheiten oder um ein literarisches Publikum handelt – maßt sich an, sich über das, was ihm ‚vorgeführt’ wird, ein Urteil erlauben zu können, ergreift dabei sogar vehement und kompromisslos Partei für die eine oder andere politische oder literarische Seite, ohne sich sachlich-objektiv mit der jeweils zu beurteilenden Angelegenheit auseinandergesetzt zu haben. Wieder sind es also die Entwicklung des Individuums negativ beeinflussende Einwirkungen, die die Konfrontation mit Geschichte mit sich bringt. Der Problemhorizont, den die Auseinandersetzung mit und die Darstellung von Zeitgeschichte bereits in den ersten beiden Büchern von Dichtung und Wahrheit aufwirft, soll im weiteren Verlauf dieses Kapitels anhand exemplarischer Textanalysen auch aus anderen autobiographischen Texten differenzierter bestimmt werden. Dabei sind vor allem zwei Aspekte wieder aufzugreifen und genauer zu untersuchen: 1. Die Erlebnisse des Erdbebens von Lissabon und des Ausbruchs des Siebenjährigen Krieges – das eine aus dem Bereich der Natur-, das andere aus dem der Politikgeschichte – werden beide als ‚Erschütterungen’ gewertet, die die Entwicklung des erzählten Ichs (in je unterschiedlicher Weise) nachhaltig geprägt bzw. „gestört“ haben. Welche Analogien, welche Divergenzen lassen sich in der Darstellung und Bewertung natur- und humangeschichtlicher Phänomene in Goethes Autobiographischen Schriften nachweisen? Und: Welchem Bereich wird im Hinblick auf die Entwicklung des (einzelnen) Menschen wie auch der Menschheit der größere Einfluss zugeschrieben? 2. Wie bewertet der Autobiograph die Geschichte seiner ‚Epoche’? Aus welcher Perspektive werden wichtige historische Ereignisse und Entwicklungen wahrgenommen und im Rückblick auf das eigene Leben beurteilt? Am Anfang von Dichtung und Wahrheit wird der Siebenjährige Krieg deutlich negativ als Einschnitt und Unterbrechung der ruhigen und friedlichen Geschichte der kulturell und wirtschaftlich florierenden Freien Reichsstadt Frankfurt verurteilt – wie stellt der Autobiograph spätere zentrale Umbrüche dar, etwa und vor allem die Französische Revolution und die sich anschließenden Revolutionskriege?
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3.4.3
Ordnungsversuche und Kapitulation vor dem Chaos? Natur und Geschichte in der Italienischen Reise
„Italien ohne Sicilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu Allem“ (IR, S.271). Dieser Satz aus dem PalermoAbschnitt der Italienischen Reise, den der Autobiograph rückblickend dem 13. April 1787 zuschreibt, ist zwar wohl bekannt und viel zitiert, denn er begegnet in fast jedem deutschsprachigen Sizilien-Reiseführer und selbst in Werbeprospekten der Tourismusbranche. In der Forschung zu Goethes Italienischer Reise bilden jedoch nach wie vor die Arbeiten, die sich entweder übergreifenden Fragestellungen zu allen drei Teilen der Italienischen Reise widmen und bei denen dann die süditalienischen Reiseabschnitte eine meist eher untergeordnete Rolle spielen oder aber die sich gezielt den Rom-Abschnitten zuwenden, den deutlichen Schwerpunkt des wissenschaftlichen Interesses.191 Dabei deutet gerade ein Vergleich der – für den Zeitraum nach der Weiterreise in den Süden nur noch spärlich erhaltenen – Originaldokumente mit dem schließlich veröffentlichten autobiographischen Text an,192 dass es Goethe bei der Redaktion seiner ‚italienischen’ Aufzeichnungen u.a. gezielt darum ging, die während des Aufenthalts im Süden gesammelten Eindrücke und Erfahrungen von den Monaten in Rom abzusetzen und _____________ 191
192
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Auch Millers umfangreiche Monographie (Norbert Miller, Der Wanderer. Goethe in Italien, München 2002) bildet hier keine Ausnahme: Sie bietet zwar eine detailreiche und sehr gut recherchierte Darstellung von Goethes Italienaufenthalt von 1786 bis 1788 sowie seiner zweiten, viel kürzeren und auch sonst unter gänzlich anderen Vorzeichen stehenden Reise nach Venedig 1790; Miller interessiert sich in seiner Untersuchung jedoch nicht (primär) für Goethes spätere autobiographische Auseinandersetzung mit seinen Reiseerlebnissen. Zur Textgenese der Italienischen Reise bzw. zu Goethes Umgang mit den Originaldokumenten aus den Jahren 1786 bis 1788 bei seiner Arbeit an den drei Teilen der Italienischen Reise gibt es zwei Arbeiten älterer Provenienz, nämlich die Dissertation von Wauer und Gerhards Aufsatz: Gustav Adolf Wauer, Die Redaktion von Goethes „Italienischer Reise”. Dissertation, Leipzig 1904; Melitta Gerhard, Die Redaktion der „Italienischen Reise” im Lichte von Goethes autobiographischem Gesamtwerk (1930). In: Gerhard, Leben im Gesetz. 5 Goethe-Aufsätze, Bern und München 1966, S.34–51. Darüber hinaus sind naturgemäß vor allem solche Arbeiten erschienen, die sich auf den Vergleich des Reisetagebuchs für Frau von Stein mit dem Ersten Teil der Italienischen Reise konzentrieren, etwa Michel und Santoro: Christoph Michel, Goethes italienisches Tagebuch. Dokument einer Lebenskrise. In: Frankfurter Hefte 30 (1975), S.49–62; Verio Santoro, Il „Tagebuch” italiano e la „Italienische Reise” di Goethe. In: Istituto Universitario Orientale. Annali. Studi tedeschi 29/1–3 (1986), S.427–440. Die Aufzeichnungen, die Goethe während seiner Zeit in Neapel und Sizilien sowie während seines zweiten – längeren – Aufenthalts in Rom anfertigte, sind bis auf wenige Briefe einem umfangreichen Autodafé zum Opfer gefallen, sodass vergleichende Untersuchungen kaum auf einer sinnvollen Textbasis möglich sind.
gerade Sizilien als das prägende und für die weitere – persönliche wie künstlerisch-literarische – Entwicklung wichtigere ‚Schlüsselerlebnis’ herauszupräparieren.193 Dieser sizilianische „Schlüssel zu Allem“ (IR, S.271) liefert nicht zuletzt – konkreter als in dieser ganz allgemeinen Formulierung gefasst – Hinweise darauf, w i e sich Goethe gerade Geschichtliches erschließt.194 Im Kontext dieses Kapitels ist jedoch noch wichtiger, dass das sizilianische Schlüsselerlebnis zu illustrieren vermag, zu welchen historischen Phänomenen das Ich überhaupt einen ‚Schlüssel’ finden will, worauf also überhaupt sein historisches Interesse fokussiert ist. Dabei wird der Zusammenhang zwischen Natur- und Humangeschichtlichem eine Rolle spielen und Fragestellungen wieder aufgegriffen werden, die sich bei der vergleichenden Untersuchung der Darstellung des Erdbebens von Lissabon und des Siebenjährigen Krieges im Ersten Buch von Dichtung und Wahrheit als wichtig für die Bestimmung von Goethes Bewertung der Human-, besonders der Politikgeschichte vor dem Hintergrund seines Interesses für die Natur und ihrer Auswirkungen auf den und die Menschen herauskristallisiert haben. Im Reisetagebuch an Frau von Stein und in den Briefen aus Italien stellt sich zunächst Rom als das erklärte Ziel der Flucht aus der Weimarer Existenz mit all ihren Zwängen und Bedrängnissen dar und erst nach einigen Wochen dort reift die Idee, die Reise über Neapel hinaus, das ursprünglich der Endpunkt der Italienreise sein sollte, mit einer Überfahrt nach Sizilien schließlich doch noch weiter nach Süden auszudehnen – ein Gedanke, dem zunächst nur zögernd nachgegangen wird, sicherlich auch deswegen, weil schon alleine diese Ausdehnung der Reiseroute einen Bruch mit der Tradition der Italienreisenden markiert, von denen sich kaum jemand vor Goethe weiter in den Süden hinausgewagt hatte. Süditalien und Sizilien waren nämlich bis zu diesem Zeitpunkt noch kaum ‚touristisch’ erschlossen, zumal diese Regionen neben den bedeutenden Kunstschätzen und historisch wichtigen Überresten Roms in den Augen der aufgeklärten Bildungsreisenden wenig Interessantes zu bieten hatten. Was allerdings Goethe sich gerade von _____________ 193
194
Vgl. zu hilfreichen, wenngleich etwas anders akzentuierenden Deutungen des sizilianischen „Schlüssel[s]“ (IR, S.271) die Aufsätze von Schanze und Sroka: Helmut Schanze, „Der Schlüssel zu allem.“ Anmerkungen zu Goethes Lehre von der Metamorphose und den ‚Anzeichen’ der Französischen Revolution in der „Italienischen Reise“. In: Diagonal 1995/2, S.53–62; Gundula Sroka, In Sizilien liegt der Schlüssel zu allem – Zu einigen Naturbeobachtungen Goethes während der italienischen Reise. In: Goethe in Italien. Eine Ausstellung des Goethe-Museums Düsseldorf, hg. von Jörn Göres, Mainz 1986, S.33–39. Vgl. zu der Frage, wie sich Goethe historische Fragestellungen erschließt, ausführlich das folgende Kapitel dieser Arbeit.
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Süditalien verspricht und ihn das Wagnis einer – für damalige Verhältnisse nicht ungefährlichen – Schiffsüberfahrt von Neapel nach Palermo lohnend macht, scheint schon in den letzten Briefen aus Rom durch: Immer wieder weist Goethe darauf hin, dass er des Kunststudiums in Rom müde und es nun Zeit sei, „daß ich aus Rom gehe, und eine Pause der allzustrengen Betrachtung mache“,195 und er begründet seine Vorfreude auf Neapel damit, dass ihn dort „eine neue Welt [erwartet], die ich, wie die zerstückte hier, mit offnen und gesunden Augen anzusehen hoffe“.196 Noch signifikanter für das einschneidende Erlebnis des Südens ist jedoch die zwischen Rom und dem Süden Italiens polarisierende Formulierung, die so pointiert erst bei der Arbeit an der Italienischen Reise entstanden ist: „Morgen gehn wir nach Neapel. Ich freue mich auf das Neue, das unaussprechlich schön sein soll, und hoffe in jener paradiesischen Natur wieder neue Freiheit und Lust zu gewinnen, hier, im ernsten Rom, wieder an das Studium der Kunst zu gehen“ (IR, S.187). Im Brief an Frau von Stein lautet der entsprechende Abschnitt noch: „Morgen gehe ich weg und freue mich auf das Neue, das unaussprechlich schön seyn soll. Ich bin wohl und hoffe in Neapel erst wieder Lust Rom anzusehen mir anzuschaffen“.197 Worin also genau die entscheidende Differenz zwischen Rom und dem Süden besteht, der in der Italienischen Reise in der polarisierenden, geradezu klischeeartig prononcierten Gegenüberstellung von ‚paradiesischer Naturerfahrung’ im Süden und ‚ernstem Kunststudium’ in Rom begegnet, kann erst in der Rückschau so pointiert auf den Punkt gebracht werden. Aussagekräftig ist in dieser Hinsicht schon der kurze Abschnitt zum 13. April 1787, der mit dem bereits erwähnten ‚Schlüssel’-Zitat eingeleitet wird. Zwar mutet dieses womöglich an dieser Stelle als nicht viel mehr als ein begeisterter Ausruf des Lobes an, weil anschließend scheinbar ohne direkten Anschluss Ausführungen zum „Klima“ der Insel, zum „Essen und Trinken hier zu Land“ (IR, S.271) folgen und dann die kurze Anekdote der Begnadigung eines „Missetäter[s]“ (ebd.) erzählt wird, deren Zeuge das erzählte Ich bei einem Spaziergang nach dem Mittagessen wurde. Wenngleich keineswegs explizit gemacht wird, wie diese Schlüssel-Metapher zu verstehen sei, so machen doch bei näherem Hinsehen diese Ausführungen unmissverständlich klar, dass es nicht zuletzt die hier angesprochenen Eindrücke sind, die den Reisen_____________ 195
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FA II/3, S.240: Brief an Charlotte von Stein, 01.–03. 02. 1787. Vgl. ähnlich auch FA II/3, S.242: Brief an das Ehepaar Herder, 03. 02. 1787; FA II/3, S.247–249: Brief an Herzog Carl August, 03. 02. 1787. FA II/3, S.264: Brief an Knebel, 19. 02. 1787. FA II/3, S.271: Brief an Charlotte von Stein, 19.–21. 02. 1787.
den zum einen eine ‚paradiesische Natur’ erfahrbar machen, d. h. ganz grundsätzlich zu seinem Wohlbefinden beitragen. Zum anderen helfen ihm eben diese Komponenten mehr als alle historisch bedeutenden, gleichfalls aber ‚zerstückten’ Relikte Roms, die er – zunächst noch ganz in der Tradition Winckelmanns und anknüpfend an die bildungsbeflissenen Italienreisenden des 18. Jahrhunderts – während seines Aufenthalts dort mit Ernst und Mühe zu studieren versucht hat, dabei, sich ein ganzheitliches „Bild in der Seele“ zu verschaffen. Sie bieten so auch einen „Schlüssel“ zur Geschichte, gerade zu überzeitlich gültigen Phänomenen, die das erzählende Ich hier in den Blick nimmt. Das Klima, die Vegetation und damit verbunden die Esskultur der Bevölkerung, ihre Mentalität, für die die Anekdote über den zu begnadigenden Missetäter ein Beispiel bietet, all dieses, das sich über die Jahrhunderte hinweg gerade n i c h t verändert – das also noch das Gleiche ist wie in der Antike – und dennoch das Leben und die Entwicklung der Menschen nachhaltig prägt, ist es, was Goethe auf Sizilien besonders interessiert und was ihm einen Zugang zu historischer Erkenntnis verschafft. Vor allem steht dabei – gerade auf Sizilien – die Antike im Zentrum des Interesses, ganz besonders die griechische Antike. Entsprechend ist in besagtem Palermo-Abschnitt die Bemerkung über den „Salat“, der „von Zartheit und Geschmack wie eine Milch“ ist, von Bedeutung: „man begreift warum ihn die Alten Lactuca genannt haben“ (ebd.). Erkenntnis über Vergangenes bietet das, was aus der Vergangenheit die Zeiten überdauert hat, was in der eigenen Gegenwart noch genauso ist oder zumindest die gleiche Atmosphäre vermittelt wie zu der Zeit, in der es geschichtlich bedeutsam war. Entschiedene Ablehnung erfahren in der Konsequenz dann jegliche Arten von ‚Trümmern’, weil sie Goethe den Zugang zu historischer Erkenntnis geradezu verstellen und weil sie ein Zeichen für bzw. eine Folge von Zerstörung und Vergänglichkeit sind. Und hier spielt nicht nur die Gewalt eine Rolle, die von den Menschen ausgeht und in diesem Sinne ‚Geschichte schreibt’, sondern auch die Natur, wie bereits im Zusammenhang mit dem Ersten Buch von Dichtung und Wahrheit herausgearbeitet wurde, in dem sowohl die Konsequenzen des Erdbebens von Lissabon wie auch diejenigen des Siebenjährigen Krieges zunächst einmal ganz konkret für die Entwicklung des Ichs als (zer-)störende, hemmende aufgezeigt wurden. Im Sizilienteil der Italienischen Reise fallen besonders zweierlei Perspektiven auf Naturphänomene auf, die sich mit dem Blick auf Historisches vergleichen lassen. Zum einen konstatiert das Ich – beinahe mit Entsetzen – die Bedrohung und Gefahr, die für die Menschheit von den Naturgewalten ausgeht und die auf Sizilien wegen der unmittelbaren Nähe des Ätnas ständig präsent ist, zum ande227
ren geht es ausgerechnet hier seinen Untersuchungen zur „Urpflanze“ intensiv nach. Doch zunächst zum Ätna: Auffällig ist, dass die Verwüstungen, die das Erdbeben von 1783 in der „Trümmerwüste“ (IR, S.324) Messina angerichtet hat, mit Formulierungen belegt werden, die bereits in ganz anderem Kontext, z.B. im Zusammenhang mit den Ausgrabungen in Agrigento, begegnet sind. Die Darstellung der Messina-Abschnitte vom Mai 1787 entwirft „den fürchterlichsten Begriff einer zerstörten Stadt“ (IR, S.323), ein Bild von Zerstörung und Trostlosigkeit: […] wir ritten eine Viertelstunde lang an Trümmern nach Trümmern vorbei, ehe wir zur Herberge kamen, die, in diesem ganzen Revier allein wieder aufgebaut, aus den Fenstern des obern Stocks nur eine zackige Ruinenwüste übersehen ließ. Außer dem Bezirk dieses Gehöfdes spürte man weder Mensch noch Tier, es war nachts eine furchtbare Stille (IR, S.323).
In den Vordergrund rückt also nicht etwa die historische Bedeutung der jeweiligen ‚Trümmer’ – möglicherweise bedeutende historische Relikte antiker Bauwerke auf der einen, die Ruinen einer ganz gewöhnlichen zeitgenössischen Stadt auf der anderen Seite. Fokussiert wird vielmehr mit dem ‚Trümmer’-Begriff vor allem die rücksichtslose Energie, die von den Naturgewalten ausgeht und die sich vollkommen unangekündigt entladen kann. Dass die Menschen in permanenter Angst vor der unbezähmbaren Natur leben und diese ständige Bedrohung ihren Lebensalltag wie ihre Mentalität bestimmt, illustriert gerade der Messina-Abschnitt: Das Entsetzen über jenes ungeheure Ereignis [gemeint ist das Erdbeben von 1783], die Furcht vor einem ähnlichen, treibt sie der Freuden des Augenblicks mit gutmütigem Frohsinn zu genießen. Die Sorge vor neuem Unheil ward am einundzwanzigsten April, also ohngefähr vor zwanzig Tagen, erneuert, ein merklicher Erdstoß erschütterte den Boden abermals. Man zeigte uns eine kleine Kirche, wo eine Masse Menschen, gerade in dem Augenblick zusammengedrängt, diese Erschütterung empfanden. Einige Personen die darin gewesen schienen sich von ihrem Schrecken noch nicht erholt zu haben (IR, S.324).
Mit einem vernichtenden Urteil schließt der Autobiograph den Bericht über seinen Aufenthalt in dem „unseligen Messina“ (IR, S.327), das aufgrund der katastrophalen Verwüstung in Folge des Erdbebens noch zahlreiche „unangenehm[e…] Anblick[e]“ (ebd.) bietet, die zuvor eingehend beschrieben werden: „Messinas Anblick ist äußerst verdrießlich und erinnert an die Urzeiten wo Sikaner und Sikuler diesen unruhigen Erdboden verließen und die westliche Küste Siciliens bebauten“ (IR, S.328). Über die Zeiten hinweg, in allen Stadien der Menschheitsentwicklung, die sich auf dieser Insel, auf diesem „wundersamen Punkte, 228
wohin so viele Radien der Weltgeschichte gerichtet sind“ (IR, S.239), vollzogen haben, bestimmt in besonderem Maße die Macht der Natur das Schicksal der Menschen und ist imstande, alle kulturellen Leistungen – Kunst, Architektur, intellektuelles wie geselliges Leben, Infrastruktur – auf einen Schlag zunichtezumachen und Chaos und Zerstörung zu hinterlassen. Warum dem Ich jegliche Arten von ‚Trümmern’ „verdrießlich“ (IR, S.328), also geradezu physisch zuwider sind, ist nicht nur auf die Schwierigkeit zurückzuführen, sie als Mittel zu historischer Erkenntnis zu nutzen, sondern vor allem auch darauf, dass sie als Sinnbild für menschliche wie natürliche Gewalt stehen, die keinerlei Rücksicht nimmt auf das, was sich zuvor – womöglich über Jahrhunderte – nach einer gewissen Ordnung entwickelt hat, nach einem Plan gewachsen ist: sei es im kulturell-historischen Bereich, sei es im Sinne von natürlichen Evolutionsprozessen. In diesem Zusammenhang sind die vielen Hinweise auf Lavagestein zu deuten, die sich durch die geologischen Ausführungen im Sizilienteil ziehen und denen darüber hinaus in den Neapel gewidmeten Abschnitten der Italienischen Reise ein großes Gewicht zukommt, wenn der Vesuv in den Fokus der Betrachtung gerät. Von Südwesten in Richtung Ätna reisend, wird das erzählte Ich erstmals in Agrigento, das immerhin gut 140 Kilometer vom Krater des Ätna entfernt liegt, „auf schwarze feste Steine aufmerksam […], die einer Lava glichen“ und über die „der Antiquar [sagte]: sie seien vom Ätna, auch am Hafen oder vielmehr Ladungsplatz stünden solche“ (IR, S.300). Das Vulkangestein steht als Symbol für die Bedrohung, der die Menschheit trotz aller kulturellen Errungenschaften und allen gesellschaftlichen Fortschritts permanent ausgesetzt ist. Ein Gegenbild zu und damit einen Zufluchtsort vor den zerstörerischen Kräften der Natur bilden die botanischen Studien, denen sich das erzählte Ich auf Sizilien intensiv widmet – und zwar mit großem Erfolg, gelingt es ihm hier doch, dem „Modell und dem Schlüssel“ (IR, S.346 und S.402) aller Pflanzen auf die Spur zu kommen, nach dem es schon zu Beginn seiner Italienreise Ausschau hält.198 Im öffentlichen Garten von Palermo, den das Ich „mit dem festen, ruhigen Vorsatz“ aufsucht, „meine dichterischen Träume fortzusetzen“ – gemeint ist die Arbeit am Nausikaa-Projekt –, verfolgt es „ein anderes Gespenst, das mir schon diese Tage nachgeschlichen“ (IR, S.285 und S.401). Und tatsächlich tut sich ihm hier, wo _____________ 198
Erstmals ist schon im Abschnitt „Karlsbad bis auf den Brenner“ die Rede von einem auf die „Welterschaffung“ bezogenen „Modell, wovon ich so lange rede, woran ich so gern anschaulich machen möchte, was in meinem Innern herumzieht, und was ich nicht jedem in der Natur vor Augen stellen kann“ (IR, S.19).
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[d]ie vielen Pflanzen, die ich sonst nur in Kübeln und Töpfen, ja die größte Zeit des Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt war, […] froh und frisch unter freiem Himmel [stehen] und, indem sie ihre Bestimmung vollkommen erfüllen (IR, S.285f. und S.401)
„ein Weltgarten“ (IR, S.286 und S.401) auf. Bei der vergleichenden Untersuchung dieses Vegetations-Kosmos empfindet das Ich nicht nur seine „botanische Terminologie“ (IR, S.286 und S.401) als defizitär,199 vielmehr bemerkt es weit mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede zwischen den verschiedenen Pflanzen und propagiert schließlich die Existenz einer „Urpflanze“, einen Grundtypus, auf den sich alle Pflanzen zurückführen lassen: „Eine solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären“ (IR, S.286).200 Dieser Idee liegt der „Grundsatz“ zugrunde, „daß die Natur keine Sprünge mache. Ihr Fortgang ist der einer Evolution, einer stetigen Verwandlung.“201 Es ist hier nicht der Ort, um Goethes Theorie der Gesetzlichkeit der Pflanzenorganisation ausführlich zu erläutern,202 zumal der Autobiograph in der Italienischen Reise selbst nur wenig andeutet, um „ferneres Verständnis vorzubereiten“ (IR, S.402) – zu denken ist etwa an Goethes 1790 erschienene Abhandlung „Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären“ oder an sein Lehrgedicht „Die Metamorphose der Pflanzen“ von 1799, in dem er den Versuch unternimmt, „Naturwissenschaft und Dichtung endgültig miteinander zu verbinden“203 und seine botanische Theorie in literarischer Form darzustellen, später dann _____________ 199
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Dass dieses diagnostizierte Defizit in der „botanische[n] Terminologie“ (IR, S.286 und S.401) als eine implizite Kritik an dem Pflanzensystem Carl von Linnés zu verstehen ist, dem Goethe mehr und mehr skeptisch gegenüberstand, zumal es mit seiner Theorie der „Urpflanze“ nicht in Einklang zu bringen ist, wurde an anderer Stelle schon formuliert: Vgl. Sroka, In Sizilien liegt der Schlüssel zu allem, S.36. Im entsprechenden Abschnitt des „Zweiten Römischen Aufenthalts“ wird die Schreibweise an zwei Stellen leicht verändert: „Eine solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde Eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?“ (IR, S.401). Schanze, „Der Schlüssel zu allem“, S.54. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten, die sich explizit mit Goethe als Naturwissenschaftler auseinandersetzen, z.B. auf den Ausstellungsband zur Münchner Ausstellung „Goethe und die Naturwissenschaften“ von 1999/2000 oder auf die Arbeit von Kuhn, jeweils mit weiterführenden Literaturangaben: Otto Krätz (Hg.), Goethe und die Naturwissenschaften. Sonderausgabe anläßlich der Ausstellung „Goethe und die Naturwissenschaften“ im Deutschen Museum München vom 27. August 1999 bis zum 19. März 2000. 2., korrigierte Auflage, München 1998; Dorothea Kuhn, Typus und Metamorphose. Goethe-Studien, Marbach am Neckar 1988 (Marbacher Schriften, Bd. 30). Sroka, In Sizilien liegt der Schlüssel zu allem, S.39.
in den Heften „Zur Morphologie“, die zwischen 1817 und 1824 – also im direkten Anschluss an die Redaktion und Veröffentlichung des Sizilien-Abschnitts im Zweiten Teil der Italienischen Reise – in loser Folge erschienen. Wichtig ist in unserem Zusammenhang vor allem zweierlei: Zum einen, dass das Ich den „Schlüssel“ gerade auf Sizilien zu finden meint – dort, wo in der Nähe des Ätna und in der Trümmerwüste von Messina die zerstörerische Kraft der Natur besonders augenfällig ist und wo nun trotzdem oder gerade mit der Symbolik der „Urpflanze“ das evolutionäre Wachstum der Welt betont wird. Zum anderen deuten zahlreiche Formulierungen an, dass es ihm hier keineswegs nur um Überlegungen zu tun ist, die allein auf dem Gebiet der Botanik ihre Relevanz haben. Wie wichtig ihm seine Erkenntnisse sind, unterstreicht die – im Kontext der Italienischen Reise einzigartige – redaktionelle Entscheidung, die beiden zentralen Passagen zur „Urpflanze“ doppelt in die Italienische Reise aufzunehmen und sie im Juli-Bericht des „Zweiten Römischen Aufenthalts“ dem Aufsatz „Störende Naturbetrachtungen“204 noch einmal voranzuschalten – nämlich den Bericht über den Besuch im öffentlichen Garten in Palermo sowie einen Auszug aus einem Brief an Herder, dem Goethe einen Monat nach der ‚Entdeckung’ der „Urpflanze“ aus Neapel mitteilt, „daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin und daß es das einfachste ist was nur gedacht werden kann“ (IR, S.346).205 Seine redaktionelle Entscheidung begründet das erzählende Ich damit, dass es „die mir so wichtige Angelegenheit den Freunden der Naturwissenschaft […] abermals [...] empfehlen“ (IR, S.401) möchte, zumal sich die „innerliche Wahrheit und Notwendigkeit“, die in der „Urpflanze“ liege, nach seiner Überzeugung als „[d]asselbe Gesetz […] auf alles übrige Lebendige anwenden lassen“ (IR, S.346 und S.402) werde. In der Forschung wurde in diesem Zusammenhang bereits ganz zutreffend formuliert, dass der „Schlüssel zur Urpflanze […] über seinen botanischen Sinn hinaus zum _____________ 204
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Dass die „Naturbetrachtungen“ als „[s]törend[…]“ bezeichnet werden, mag als versteckter Seitenhieb auf das Publikum zu lesen sein, das Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten nicht diejenige Beachtung zuteil werden ließ, die der Autor sich wünschte – ein Aspekt, auf den auch im Zusammenhang mit dem Wiedersehen mit dem Freundeskreis um Jacobi noch eingegangen wird, dem Goethe auf dem Rückweg vom Frankreich-Feldzug einen Besuch abstattet, den er in der Campagne in Frankreich autobiographisch ausgestaltet. Im entsprechenden Abschnitt des „Zweiten Römischen Aufenthalts“ wird die Schreibweise an zwei Stellen leicht verändert: „daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin, und daß es das Einfachste ist was nur gedacht werden kann“ (IR, S.401).
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Schlüssel des Lebens“206 wird, ja als „’clavis universalis’“ im Sinne der Alchimie […] auf die Natur wie auf den Menschen passen“207 soll. Im Wechselspiel zwischen einer planmäßigen, teleologischen Entwicklung der Welt und den unberechenbaren – vernichtenden – Folgen, die von plötzlichen naturhistorischen Ereignissen ausgehen und die eine blühende Gesellschaft – wie gerade in Messina geschehen – in Chaos und Niedergang stürzen kann, ist es die Ordnung des organischevolutionären Wachstums, die Goethe im Sizilienteil der Italienischen Reise zwischen ‚Trümmern’ und „Urpflanze“ interessiert und die er in seiner Metamorphosen-Idee verwirklicht sieht. Während alles, was als chaotisch und willkürlich erlebt wird, was zerstört und nichts als ‚Trümmer’ übrig lässt – vor allem kriegerische Auseinandersetzungen und andere eruptive, gewaltsame Umbrüche in der Natur- und Menschheitsgeschichte –, abgelehnt wird, ist es gerade das, was auf „Epigenese und Evolution, Gestaltung, Umgestaltung’“208 schließen lässt, was Goethes Interesse gilt. In der Italienischen Reise und besonders mit dem Ziel- und Wendepunkt Sizilien wird das in der Ablehnung der Auseinandersetzung mit den ‚Bruchstücken’, den gestaltlosen ‚Trümmern’ der Antike und der Hinwendung zu all dem deutlich, das die Zeiten überdauert. Deswegen rückt das Naturerlebnis und –interesse – vor dem, was in einem ‚Reisebericht’ über Italien eigentlich erwartet wird – gezielt in den Vordergrund und ‚verdrängt’ das genuin Historische bzw. historiographisch Interessante: Die Symbolik der Urpflanze betont das evolutionäre Wachstum der Welt; eben diese Regelmäßigkeiten, Gesetzmäßigkeiten können und müssen erforscht werden, die Beschäftigung mit der chaotischen und willkürlichen Menschheitsgeschichte, in der ohnehin keine Ordnungsmuster zu finden sind, ist dagegen – wörtlich verstanden – sinnlos.209 Auch deswegen ist hier „der Schlüssel zu Allem“, weil der Autobiograph den ‚Gesetzen’ allen Le_____________ 206 207 208 209
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Sroka, In Sizilien liegt der Schlüssel zu allem, S.38. Schanze, „Der Schlüssel zu allem“, S.53. Schanze, „Der Schlüssel zu allem“, S.62. Eine ähnliche Beobachtung formuliert Schulz, wenn er „Goethes Metamorphosenlehre“ als „eines der markantesten Zeugnisse“ für „die vielfältigen Studien zur Dialektik oder Polarität als einem Grundgesetz alles Lebens“ ausweist, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts populär waren und im Zusammenhang mit den großen Systematisierungsprojekten der Aufklärung zu sehen sind: „Ordnung […] bedeutet die Akzeptierung der Existenz von Gesetzmäßigkeiten, und es war ein besonderes Ziel der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts, solche Gesetzmäßigkeiten in vielen Bereichen aufzuspüren, ihnen nachzugehen und sie zu formulieren“ (vgl. Gerhard Schulz, Chaos und Ordnung in Goethes Verständnis von Kunst und Geschichte. In: GJb 110 (1993), S.173–184, hier S.177).
bens und damit demjenigen ein Stück näher zu kommen glaubt, „was die Welt / Im Innersten zusammenhält“.210 Um diesem immerwährenden Zyklus von Zerstörung und (neuen) kulturellen Leistungen etwas ‚Dauerhaftes’, ‚Ewiges’ entgegensetzen zu können, nehmen die botanischen Studien mit der Suche nach der „Urpflanze“ im Sizilienteil eine so zentrale Rolle ein. In diesen Zusammenhang passen einige Beobachtungen zu dem umfangreichsten autonomen Text, den Goethe in den „Zweiten Römischen Aufenthalt“ eingefügt hat: „Das Römische Karneval“ erscheint autonom bereits 1789 – direkt im Anschluss an die Rückkehr aus Italien und wohlbemerkt im Initiationsjahr der Französischen Revolution – und hat vor allem in den letzten Jahrzehnten erhöhte Aufmerksamkeit in der Goethe-Philologie erfahren,211 was sicher nicht zuletzt mit der „Diskrepanz zwischen brüsker Ablehnung und intensiver Aneignung“ des ‚Phänomens Karneval‘ zu tun hat, das nach Eckart Ohlenschläger „bei keinem anderen Gegenstand der Italienischen Reise zu verzeichnen [ist]“.212 Ihm ist insofern zuzustimmen, dass die so umfangreiche Darstellung eines Ereignisses, das das erzählende Ich unmissverständlich ablehnt, gerade vor dem Hintergrund der Tendenz, Unbequemes, die natürliche Ordnung Störendes auszublenden, zunächst verwundert, fällt doch das explizite Urteil über das Karneval sowohl in der kurzen Erwähnung zum Frühjahr 1787 als auch in den einleitenden Bemerkungen zu „Das Römische Karneval“ explizit und programmatisch negativ aus: „Das Karnaval in Rom muß man gesehen haben, um den Wunsch völlig loszuwerden, es je wieder zu sehen“ (IR, _____________ 210 211
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FA I/7,1, S.34: Faust. Der Tragödie erster Teil, V. 382f. An dieser Stelle sei nur auf ausgewählte Arbeiten verwiesen, die wichtige Ergebnisse zu „Das Römische Karneval“ liefern und jeweils auch weiterführende Literaturangaben bieten: Werner Ross, Filangieri, Cagliostro und das römische Carneval. Politische und soziale Aspekte von Goethes „Italienischer Reise“. In: Goethe – Stendhal. Mito e immagine del lago tra settecento ed ottocento. A cura di Emanuele Kanceff, Genève 1988, S.93–103 (=Biblioteca del viaggio in Italia 29); Edward M. Batley, „Das Römische Carneval” oder Gesellschaft und Geschichte. In: GJb 105 (1988), S.128–143; Christine HedingerJouanneau, „… es scheint das ganze Jahr Carneval zu sein“. La fête et la vie dans le Voyage d’Italie de Goethe. In: Jeux et fêtes dans l’œuvre de J.W. Goethe. Fest und Spiel im Werk Goethes, hg. von Denise Blondeau, Gilles Buscot und Christine Maillard, Strasbourg 2000, S.79–92; Rolf Jucker, „Das römische Karneval“. Mit Gesetz und Ordnung gegen das Gedränge. In: GJb 111 (1994), S.35–44; Eckart Oehlenschläger, Goethes Schrift „Das Römische Carneval“. Ein Versuch über die Formalisierbarkeit des Tumults. In: Goethe und Italien, hg. von Willi Hirdt und Birgit Tappert, Bonn 2001, S.221–239; Irmgard Egger, Bewegung im Raum. Goethe und Hoffmann in Rom. In: E.-T.-A.Hoffmann-Jahrbuch 13 (2005), S.47–58. Oehlenschläger, Goethes Schrift „Das Römische Carneval“, S.222.
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S.175) heißt es zuerst, „daß das Römische Karneval einem fremden Zuschauer […] weder einen ganzen noch einen erfreulichen Eindruck gebe, weder das Auge sonderlich ergötze, noch das Gemüt befriedige“ (IR, S.484), dann im Zusammenhang mit der ausführlichen Schilderung. Ähnlich wie bei der Auseinandersetzung mit den gestaltlosen Trümmern, die das Erdbeben in Messina hinterlassen hat, wird auch hier moniert, dass bei dem „Fest, […] das sich das Volk selbst gibt“ (ebd.) und dem jegliche Regie fehlt, Zufälliges, Chaotisches (und damit keinesfalls etwas, das den Idealen der klassizistischen Ästhetik entspricht) entsteht und – wenn auch nur für eine kurze und mit dem Aschermittwoch klar terminierte Zeitspanne – die Ordnung der Welt ‚aus den Fugen hebt‘. Mehrfach wurde „Das Römische Karneval“ als Spiegel von Goethes Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution gelesen: Er habe u.a. aufzeigen wollen, welch zerstörerische Energie das Volk hervorbringen, mit welcher Radikalität es die bestehende Ordnung umstürzen könne213 – unter der spielerisch-theatralischen Maske des Karnevals, einem „groteske[n...] Fest der Umstülpung und Parodie der Hochkultur“214. Neuere Arbeiten heben hervor, dass es Goethe nicht um „die motivische Besonderheit“ gegangen sein kann, sondern seine Schrift über das Karneval vielmehr als „Etüde der Darstellung von nicht Darstellbarem“215 zu lesen sei und Goethe hier „das Versagen der Schrift vor dem Chaos thematisiert“216. Wenn diese „Etüde“ im Zusammenhang mit dem Karneval zwar noch gelingt und die Festivitäten in Rom umfangreichen Eingang in die Italienische Reise finden, so ‚versagt‘ Goethes „Schrift“ dann tatsächlich, wenn es um die Darstellung humangeschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen geht, die gravierende Folgen für Europa und seine Bewohner haben und eben nicht – anders als die Unordnung des Karnevals – mit einem vorher festgesetzten Datum ohne weitere Spuren mit Ende der Feier vorbei sind: die Französische Revolution und die sich anschließenden Revolutionskriege.
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Beispiele für diese Deutungslinie sind die bereits erwähnten Aufsätze Batley, „Das Römische Carneval“ und Jucker, „Das Römische Carneval“. Lieb, Claudia: Crash. Der Unfall der Moderne. Bielefeld 2009 (Münstersche Arbeiten zur Internationalen Literatur, Bd. 3), S.24. Egger, Bewegung im Raum, S.47. Lieb, Crash, S.23.
3.4.4
Die Konfrontation mit Krieg und Zerstörung und der „Leuchtturm“ des Monuments von Igel
Innerhalb von Goethes Autobiographieprojekt sind die Campagne in Frankreich und die Belagerung von Mainz diejenigen Werke, in denen sich der Autor mit den Erfahrungen auseinandersetzt, die er im Gefolge Carl Augusts im Frankreichfeldzug 1792/93 gemacht und die ihn entsprechend direkt mit dem Krieg und den Folgen der Französischen Revolution in Berührung gebracht haben. Befragt man die Campagne in Frankreich, auf der in diesem Kapitel der Schwerpunkt der Untersuchung liegen soll, daraufhin, wie er die Politik seines Herzogs, den Krieg grundsätzlich oder einzelne Entscheidungen der Kriegsführung im Rückblick bewertet, so wird man dennoch – darauf wurde in der Goethe-Philologie bereits mehrfach hingewiesen – zumindest keine expliziten Stellungnahmen erwarten dürfen.217 Schließlich veröffentlicht Goethe die Campagne in Frankreich (und die Belagerung von Mainz) 1822 zu einem Zeitpunkt, als das politische Klima europäisch gesehen von den Karlsbader Beschlüssen geprägt und die schriftstellerische Produktion von der Zensur beschnitten war; in Weimar selbst hatte Goethe darüber hinaus „sowohl politisch als auch persönlich auf seinen Freund, den Herzog Carl August, Rücksicht zu nehmen.“218 Der Autor bedient sich hier also sehr versteckter, indirekter Schreibverfahren, um seine persönliche Bewertung der Erlebnisse deutlich zu machen – allerdings nicht ausschließlich aus diesen Gründen, wie noch zu zeigen sein wird. Dass diese Bewertung womöglich leichter zu entschlüsseln sein wird, wenn man die Campagne in Frankreich in Relation mit anderen autobiographischen Texten betrachtet, veranschaulicht das in dieser Hinsicht aufschlussreiche Motto: Der Ausruf „Auch ich in der Champagne!“, der dem ersten, im Rückblick von 30 Jahren auf den 23. August 1792 datierten Eintrag vorangestellt ist, verweist auf das Wort „Auch ich in Arkadien“, mit dem die Italienische Reise schon in der Erstausgabe überschrieben war. Bereits an anderer Stelle ist dies als _____________ 217
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Das betont u.a. auch Dieter Borchmeyer, der die „Tonart“ der Campagne unter die Schlagworte „stillschweigende Toleranz“, „Humor und unparteiische Intellektualität“ subsumiert (Dieter Borchmeyer, Goethe. Der Zeitbürger, München 1999, S.198). Jens Kruse, Flamme im Wasser, Schimmel im Kalk: Französische Revolution und Naturwissenschaft im Werk Goethes. In: Goethe Yearbook IV (1988), S.209–234, hier S.214. Ähnlich weist auch Reiss darauf hin, dass es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Campagne „ganz und gar nicht ungefährlich [war], sich zur Politik zu äußern“, sodass Goethe „diplomatisch schreiben“ musste: Hans Siegbert Reiss, Goethe über den Krieg. Zur „Campagne in Frankreich“. In: Goethe-Jahrbuch 104 (1987), S.11–30, hier S.13.
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ironische Bezugnahme gedeutet worden – insofern, dass Goethe hier die „Glückserfahrung des Aufenthaltes auf klassischem Boden (‚Et in Arcadia ego’) […] ironisch mit der Erfahrung des Kriegselends in Beziehung […]setzt“219 oder auch so, dass „die Italienische Reise [sic!] ein Bildungserlebnis [war], das für den Dichter die Befreiung von seinen Pflichten als Hofmann und Minister wie auch von der Enge des Weimarer Lebenskreises bedeutete“, während „die ‚Campagne in Frankreich‘ von der Befreiung Frankreichs durch die Revolution oder von dem fehlgeschlagenen Versuch [handelt], ein von den Fesseln des Ancien Régimes befreites Land zu unterdrücken.“220 Über diese ironischen Brechungen hinaus, die von den Motti der Texte ausgehen, lassen sich allerdings noch weitere wechselseitige Bezüge zwischen der Campagne und der Italienischen Reise aufweisen – und zwar besonders im Hinblick darauf, wie historisch wichtige und einschneidende Ereignisse wahrgenommen und bewertet werden und welche Bedeutung ihnen für die Entwicklung des eigenen Lebens zugesprochen wird. Zunächst einmal fällt auf, dass genau die Themenbereiche und Motive, die im Sizilien-Teil der Italienischen Reise zu Kristallisationspunkten der Untersuchung wurden, auch bei der Lektüre der Campagne wieder begegnen, was so erst einmal verwundern mag, handelt es sich doch um ganz unterschiedliche Lebensabschnitte mit ebenso unterschiedlichen Tätigkeitsschwerpunkten und Aufgaben, so sollte man jedenfalls meinen. Auf Sizilien begegnet ein erzähltes Ich, das sich von den – gleichwohl als verwirrende, störende Einflüsse der Tyche zu deutenden – Weimarer Zwängen und Verpflichtungen befreit hat und die Reise dazu nutzen will, wieder zu seiner ursprünglichen Bestimmung, zu seinem Daimon zurückzufinden. Hingegen ist es beim Frankreichfeldzug „als eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte gezwungen […], im Troß des Herzogs von Weimar an Aktionen teilzunehmen, in denen er [i.e. Goethe] keine vernünftige Funktion erfüllen kann“.221 Das Ich wird so aus seiner gewohnten, seiner Bestimmung gemäßen und entsprechend als friedvoll und angenehm erlebten Umgebung herausgerissen und mit Zusammenhängen konfrontiert, in denen die Weltgeschichte als TycheKraft wirkt und in eine geordnete Entwicklung eingreift. Dabei stehen in der Campagne gerade nicht die Schilderungen der Kriegshandlungen im Vordergrund, sondern vielmehr nimmt all das einen größeren Stel_____________ 219
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So die entsprechende Anmerkung von Klaus-Detlef Müller im Kommentar der Frankfurter Ausgabe: FA I/16, S.923. Reiss, Goethe über den Krieg, S.14. Klaus-Detlef Müller, Goethes „Campagne in Frankreich“ – Innenansicht eines Krieges. In: GJb 107 (1990), S.115–126, hier S.117.
lenwert ein, was das Ich von den Kriegseindrücken abzulenken vermag: die Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Phänomenen, die Wahrnehmung von Land und Leuten und die damit verbundenen Rückschlüsse auf das Alltagsleben der Bevölkerung in friedlichen Zeiten – eben dann, wenn sie nicht mit Krieg und Zerstörung konfrontiert und in ihrem normalen Leben gestört werden. Die Darstellung scheint gerade darauf ausgerichtet zu sein, die Kriegserfahrungen und die Folgen, die der Feldzug für alle Beteiligten, besonders aber für das eigene Leben hat, nur ex negativo zu vermitteln, was als erzählerisches Programm an mehreren Stellen, an denen sich das erzählende Ich in reflexiv-selbstreferentiellen Passagen zu Wort meldet, angekündigt wird. Signifikant ist in diesem Zusammenhang etwa die Bemerkung, mit der die Schilderung der Kanonade von Valmy vom 20. September 1792 eingeleitet wird: „[…] und nun begann die Kanonade von der man viel erzählt, deren augenblickliche Gewaltsamkeit jedoch man nicht beschreiben, nicht einmal in der Einbildungskraft zurückrufen kann.“222 Gerade das, was bei der Darstellung von Geschichte als besonders wichtig hervorgehoben und auch umgesetzt wird – nämlich ein besonders lebendiges, anschauliches Erzählen, wie es etwa im Fünften Buch von Dichtung und Wahrheit im Zusammenhang mit der Kaiserkrönung Josephs II. begegnet223 – sei angesichts dieses Gegenstandes nicht einzulösen, die historische Imagination selbst der Zeitzeugen, die das Ereignis persönlich miterlebt haben, erst recht aber deren Vermögen, die Schlacht erzählerisch zu vergegenwärtigen, versage vor ihrer „augenblickliche[n] Gewaltsamkeit“ (CiF, S.431). Tatsächlich mag diese Einleitung als Versuch fungieren, die Lesererwartungen zu lenken und die sich anschließende Schlachtendarstellung zu erklären bzw. zu legitimieren: Wer nämlich auf den nächsten Seiten eine Schilderung erwartet, die auch nur auf der Ebene des bloßen Verlaufs der Schlacht nachvollziehbar machte, was sich wann und wie in Valmy ereignete,224 der wird sehr irritiert, wenn nicht enttäuscht sein.225 Noch weniger werden etwa die Angst und das Leiden der Soldaten beschrieben, die sich während der Schlacht, die mehrere hundert Männer das _____________ 222
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FA I/16, S.431. Auch im Folgenden wird Campagne in Frankreich nach der Frankfurter Ausgabe zitiert; Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle CiF nachgewiesen. Vgl. hierzu ausführlich das folgende Kapitel dieser Arbeit. Ohne zumindest die hier nahezu unentbehrlichen Stellenkommentare der verschiedenen Goethe-Ausgaben heranzuziehen, ist dies nahezu unmöglich. Ähnliche Reaktionen lassen sich auch in diversen Arbeiten zur Campagne in Frankreich – besonders in solchen älterer Provenienz – nachlesen, vgl. z.B.: Gustav Roethe, Goethes Campagne in Frankreich 1792. Eine philologische Untersuchung aus dem Weltkrieg, Berlin 1919.
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Leben kostete, in großer Gefahr befanden; dagegen weist der Text scheinbar beiläufig auf die Sinnlosigkeit der Opfer hin: „Von jeder Seite wurden an diesem Tage zehntausend Schüsse verschwendet, wobei auf unserer Seite nur zwölfhundert Mann und auch diese ganz unnütz fielen“ (CiF, S.434). Auf die Anblicke von Tod und Zerstörung werden nur hin und wieder und dann nur sehr kurze, betont sachlich-nüchterne Ausblicke gewährt: Die zerschossenen Dächer, die herumgestreuten Weizenbündel, die darauf hie und da ausgestreckten tötlich Verwundeten und dazwischen noch manchmal eine Kanonenkugel, die sich herüberverirrend in den Überresten der Ziegeldächer klapperte (ebd.).226
Sogar die Tatsache, dass das Ich inmitten des „Kanonendonners“ (ebd.) selbst Todesgefahr ausgesetzt war, lässt sich – mit allen Konsequenzen, die das für seine Gedanken und Gefühle gehabt haben mag – allein textimmanent kaum erahnen, geschweige denn, dass die Darstellung dazu geeignet wäre, Goethes eigenes oder das Erleben der Soldaten nachzuempfinden.227 Vielmehr sind es Gegenbilder zum kriegerischen Geschehen, auf die ein besonderes Augenmerk gerichtet wird – und dabei vermittelt der Autobiograph den Eindruck, als sei dies nun nicht nur ein erzählerisches Programm des Rückblicks, sondern als spiegele dies auch besonders authentisch das Verhalten und die spezifischen Interessen des erzählten Ichs wider, dem es ebenso darum zu tun gewesen sei, eine größtmögliche Distanz zum Geschehen zu bewahren, sich von der Macht und Gewalt der Geschichte nicht aus der Bahn bringen zu lassen und die Kohärenz des eigenen Ich-Entwurfs gegen alle Zerstörung und Gefahr zu behaupten. Nur so lassen sich die proklamierte „Lange Weile und ein Geist [erklären] den jede Gefahr zur Kühnheit, ja zur Verwegenheit aufruft“ (CiF, S.434) und der das Ich dazu „verleitete […] ganz gelassen nach dem Vorwerk la Lune hinaufzureiten“ (ebd.), um inmit_____________ 226
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Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang auch eine Bemerkung zu der Darstellbarkeit bzw. Erinnerung solch schrecklicher Erfahrungen, die jeweils nur eingeschränkt möglich seien, in einer Passage, in der es um den Rückzug geht und das Heer Longwy passiert: „[…] hier muß man, indem die Bilder bedeutender Freudenszenen aus dem Gedächtnis verschwinden, sich glücklich schätzen daß auch widerwärtige Greuelbilder sich vor der Einbildungskraft abstumpfen. Was soll ich also wiederholen, daß die Wege nicht besser wurden, daß man nach wie vor, zwischen umgestürzten Wagen, abgedeckte und frischausgeschnittene Pferde aber und abermals rechts und links verabscheute. Von Büschen schlecht bedeckte, geplünderte und ausgezogene Menschen konnte man oft genug bemerken, und endlich lagen auch die vor dem offenen Blick neben der Straße“ (CiF, S.481). Vgl. dazu mit ähnlichen Befunden auch Reiss, Goethe über den Krieg, S.22f.
ten des Kanonendonners durch die Landschaft zu reiten und dem – optischen – Phänomen des „Kanonenfieber[s]“ (ebd.) nachzugehen, von dem er bereits „soviel […] gehört“ (ebd.) habe und zu wissen wünschte, „wie es eigentlich damit beschaffen sei“ (ebd.). Versuchen zwar zunächst noch einige Offiziere, das Ich von seinem gefährlichen Unterfangen abzubringen und es „wieder mit sich zurück[zu]nehmen“ (CiF, S.435), so akzeptieren sie dann seine „besondern Absichten“ und „überließen mich ohne Weiteres meinem bekannten, wunderlichen Eigensinn“ (ebd.). Es scheint also nicht ungewöhnlich zu sein, dass das erzählte Ich andere Interessen vor den eigentlichen Auftrag der Truppe stellt, sich selbst in dieser militärischen Entscheidungssituation mit anderem – für ihn offensichtlich Wichtigerem – beschäftigt und sich dabei in große Gefahr begibt. Und tatsächlich werden die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die das Ich auf diesem „törichte[n…] Versuchsritt“ (ebd.) gewinnt, im autobiographischen Rückblick als „etwas Ungewöhnliches“ (ebd.) herauspräpariert, kann es doch hier Beobachtungen machen, die seine theoretischen Überlegungen im Bereich der Optik bestätigen und die so besonders sind, dass sie sich wieder nur schwer erzählen ließen – im Übrigen ähnlich wie die Erlebnisse der Schlacht selbst. Diesmal wird angekündigt, dass „sich die Empfindung nur gleichnisweise mitteilen lassen“ (ebd.) werde: Es schien als wäre man an einem sehr heißen Orte, und zugleich von derselben Hitze völlig durchdrungen, so daß man sich mit demselben Element, in welchem man sich befindet, vollkommen gleich fühlt. Die Augen verlieren nichts an ihrer Stärke, noch Deutlichkeit; aber es ist doch als wenn die Welt einen gewissen braunrötlichen Ton hätte, der den Zustand so wie die Gegenstände noch apprehensiver macht. Von Bewegung des Blutes habe ich nichts bemerken können, sondern mir schien vielmehr alles in jener Glut verschlungen zu sein (ebd.).
Schon Reiss merkt in diesem Zusammenhang an, dass Goethe die „Bestätigung seiner naturwissenschaftlichen Theorie […] so viel zu bedeuten [scheint], wenn nicht mehr, als die Schlacht selbst.“228 Er betont abschließend, dass das Ich aus eben „diesen wissenschaftlichen Studien […], in einer aus den Fugen geratenen Welt, in der die Revolution eine ganze Reihe von Tragödien hervorgerufen hat, die Kraft, weiter zu existieren“,229 gewinne. Schließlich bemerkt der Autobiograph in der Campagne selbst, dass „[g]lückselig aber der [ist], dem eine höhere Leidenschaft den Busen füllte“ (CiF, S.419) – und zwar nicht zufällig erneut in einem Zusammenhang, in dem es von seinen naturwissen_____________ 228 229
Reiss, Goethe über den Krieg, S.25. Reiss, Goethe über den Krieg, S.25.
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schaftlichen Arbeiten berichtet, hier von der „Farbenerscheinung“ einer „Quelle“, anhand derer es optische Phänomene studiert hat. Interessant ist, dass sich im Rückblick auf die Kanonade von Valmy eine aufschlussreiche Parallele zu einer Passage der Italienischen Reise aufzeigen lässt und der autobiographische Erzähler in der Campagne nun konsequenterweise eben nicht denselben Fehler begeht wie „der ungeschickte Führer“ (IR, S.250) im Oreto-Tal in der Nähe von Palermo. Diesem wirft er ein ‚falsches‘ historiographisches Interesse vor, das ihm mit dem Fokus auf Militärgeschichtlichem, also auf Krieg und Zerstörung, das Erlebnis und den Genuss einer wunderschönen Natur und „das Gefühl eines belebenden Friedens“ (ebd.)“ verdorben habe, indem er „umständlich erzähl[te…], wie Hannibal hier vormals eine Schlacht geliefert und was für ungeheure Kriegstaten an dieser Stelle geschehen“ (ebd.). Schon in der Italienischen Reise widmet sich das erzählte Ich im Oreto-Tal dann – gegenüber dem Fremdenführer eine provokative Geste auch oder gerade im autobiographischen Rückblick inszenierend – ostentativ mineralogischen und geologischen Betrachtungen, um Willkür, Zufall und vor allem Zerstörung und Leid der (Kriegs-)Historie nicht ‚unnötig‘ wieder in die erzählte Gegenwart heraufzubeschwören. Entsprechend verfährt der Erzähler in der Campagne: Er präsentiert seinem Lesepublikum nicht etwa eine minutiös auf Einzelheiten abhebende Schlachtendarstellung, sondern setzt dem Krieg mit der „Naturwissenschaft“ „eine humane Gegenkraft“230, etwas überzeitlich Gültiges entgegen – selbst wenn das erzählte Ich hier tatsächlich direkt mit dem Kriegsgeschehen konfrontiert ist. Womöglich lässt sich im Hinblick auf die Frage, welche Bewertung hier die Geschichte erfährt, noch einen Schritt weiterdenken, denn offen bleibt bei allen Überlegungen, warum eine ausführlichere, dem Leser ein genaueres Bild von den Ereignissen vermittelnde Darstellung gerade eines Ereignisses abgelehnt wird, das kriegsentscheidend war und so im Rückblick auch bewertet wird – im Kontext der Kanonade von Valmy fällt die sprichwörtlich gewordene Redewendung: „von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“ (CiF, S.436), mit dem das erzählte Ich die entmutigten Soldaten „erheiter[n…] und erquick[en…]“ (ebd.) will.231 Gerade vor dem Hintergrund der Parallel-Passage in der Italieni_____________ 230 231
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Reiss, Goethe über den Krieg, S.26. Zu betonen bleibt allerdings, dass diese Redewendung durchaus einen ironischen Beiklang erhält, wenn Goethe hier inmitten der allgemein resignierten und verstörten Stimmung nach der verlorenen Schlacht aufgefordert wird, die Soldaten wie „gewöhnlich mit kurzen Sprüchen“ (CiF, S.436) aufzumuntern. Und gerade auch vor dem Hin-
schen Reise erscheint die Erklärung Jens Kruses, der vor allem den Umstand, dass Goethe zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Campagne wegen der Zensurvorschriften der Restaurationszeit keine direktere und dann auch direkter kritisierende Darstellung wagen konnte oder wollte, nicht vollständig als Erklärungsmuster für die drei ‚Techniken‘ auszureichen, die Kruse auf der Textebene nachweist. Von ihnen ist für unseren Zusammenhang vor allem die „Technik der Verschiebung in den naturwissenschaftlichen Diskurs“232 relevant. Es handelt sich Kruse zufolge nämlich nicht etwa darum, dass hier das eine – die Naturwissenschaft – gegen das andere – die Geschichte – ausgespielt und als interessanter oder bedeutender ausgewiesen werden solle,233 vielmehr habe der Erzähler „historische Ereignisse in den naturwissenschaftlichen Diskurs“ verschoben und sich so des „historischen Zeichencharakters“ naturwissenschaftlicher Phänomene bedient, um gleichsam ‚versteckt‘ und hinter dem Deckmantel der naturwissenschaftlichen Auseinandersetzung doch Stellung zu beziehen zu den zeitgeschichtlichen Entwicklungen: g e g e n Krieg, Gewalt und Revolution.234 Noch wichtiger erscheint mir dabei allerdings, eine Antwort auf die Frage zu finden, was diese offensichtlich programmatische Überblendung historischer Ereignisse, denen einen zerstörende Dimension innewohnt wie etwa der längst vergangenen Schlacht zwischen Römern und Karthagern im Oreto-Tal oder der selbst miterlebten Kanonade von Valmy, mit naturwissenschaftlichen Beobachtungen für das Verhältnis zwischen dem „Individuum“ und seinem „Jahrhundert“ (DuW I, S.13) aussagt. Stellen zwar die Erschütterungen, die Gewalt, die die _____________
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tergrund der Bewertung, die die „Weltgeschichte“ in ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Individuums im Kontext von Goethes Autobiographieprojekts erfährt, bleibt fraglich, was eben die Tatsache, „sagen“ zu können, man sei „dabei gewesen“, für den Einzelnen austrägt. Kruse, Jens: Flamme im Wasser, S.228. Er weist hier zu Recht solche Deutungen zurück, die sicher zu kurz greifen, wenn sie die Natur (und dann ähnlich auch die Kunst) lediglich als „Fluchtpunkte“ begreifen, „auf die er [i.e. Goethe] sich vor den Unbilden des Krieges zurückzieht“ (Gisela Horn, Goethes autobiographische Schriften „Kampagne in Frankreich“ und „Belagerung von Mainz“. Historische Tatsachen und ästhetische Struktur. In: Ansichten der deutschen Klassik, hg. von Helmut Brandt und Manfred Beyer, Berlin [Ost] u.a. 1981, S.233–249, hier S.239). Dass es innerhalb des naturwissenschaftlichen Diskurses auch wieder um den Kampf zwischen Vulkanisten und Neptunisten geht, in dem sich Goethe Zeit seines Lebens engagierte, sodass die naturwissenschaftlichen Beschäftigungen auch hier „durchaus keine Ruhe vor den turbulenten historischen Ereignissen [bieten], sondern […] den Kampf zwischen Revolution und Evolution nur noch einmal zu reduplizieren [scheinen]“, erläutert Kruse ausführlicher. Vgl. Kruse, Flamme im Wasser, besonders S.223– 228.
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kriegerischen Auseinandersetzungen mit sich bringen, die gleichsam eruptiven Umbrüche, die von einer Revolution ausgehen, Bedrohungen nicht nur für eine jede Gesellschaft und Zivilisation, sondern auch für jeden Einzelnen dar, so wird hier doch eine Möglichkeit aufgezeigt, wie es zumindest einem solch ‚herausgehobenen‘ Individuum wie das, zu dem Goethe sich in der Darstellung seines Lebens inszeniert, gelingen kann, seinen Daimon gegen die Angriffe der Tyche zu behaupten. Eng verknüpft mit der Intention von Goethes Autobiographieprojekt, sich selbst ein Denkmal zu setzen und einen festen Platz in der Gegenwart und Nachwelt zu erschreiben, erscheint das Licht, das auf die einschneidendsten historischen Ereignisse seiner ‚Epoche‘ geworfen wird: Das Erdbeben von Lissabon, der Siebenjährige Krieg, die Französische Revolution, schließlich die Kriegserlebnisse beim Frankreichfeldzug von 1792 – all diese werden zwar nicht in allen Einzelheiten und Abläufen beschrieben, doch unmissverständlich als potentiell verstörende und verunsichernde geschichtliche Ereignisse bzw. Entwicklungen und so als Gefahr für das Ich ausgewiesen, wenn es in der Campagne etwa heißt: So zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Erhalten und Verderben, zwischen Rauben und Bezahlen lebte man immer hin, und dies mag es wohl sein was den Krieg für das Gemüt eigentlich verderblich macht. Man spielt den Kühnen, Zerstörenden, dann wieder den Sanften, Belebenden; man gewöhnt sich an Phrasen, mitten in dem verzweifeltsten Zustand Hoffnung zu erregen und zu beleben; hierdurch entsteht nun eine Art von Heuchelei, die einen besondern Charakter hat (CiF, S.413).
Man „spielt“ etwas, das man eigentlich nicht ist, man „lebte […] immer hin“ z w i s c h e n geordneten und chaotischen Umständen, ohne irgendwo wirklich angekommen zu sein, ja die brutalen Verhältnisse wirken sich „verderblich“ auf die Entwicklung aus, schließlich „spielt“ man nur noch – je nach Situationsvorgabe – verschiedene, zum Teil sogar ganz gegenläufige Rollen, „Heuchelei“, Verstellung und Lüge scheinen in solchen Situationen adäquate Mittel zu sein. Aber diese Methoden scheinen nur diejenigen zu adaptieren, denen es nicht gelingt, der Macht der Tyche etwas entgegenzustellen und die ihr „Jahrhundert“ „mit sich fortreißt“ (DuW I, S.13) und so von ihrer ursprünglich vom Daimon festgelegten Bestimmung abbringt. Dass es dem erzählten Ich hingegen gelingt, trotz und in all diesen so widrigen Umständen, die „die ungeheuren Bewegungen des allgemeinen politischen Weltlaufs“ (ebd.) mit sich bringen, seinen Interessen und Überzeugungen treu zu bleiben und denjenigen Tätigkeiten nachzugehen, die es auch in ungestörten Zeiten des Friedens beschäftigt hätten, zeigt deswegen weder, dass Goethe sich für zentrale zeitge242
schichtliche Entwicklungen – in unserem Zusammenhang konkret für die Kriegserlebnisse während des Frankreichsfeldzugs – nicht interessiert habe, noch dass er sie als unwichtig oder gar als ‚harmlos‘ ausweisen wollte. Vielmehr ist die Darstellung, die die Schrecken oder auch nur die sachlichen Fakten des Kriegsverlaufs hinter die naturwissenschaftlichen Beobachtungen des Ichs stellt, erneut dem Erzählprogramm geschuldet, das im autobiographischen Rückblick ein Ich inszenieren will, welches während seines Lebens zwar zahlreichen Gefährdungen ausgesetzt war, welches aber von der Tyche höchstens kurzzeitig vom rechten Weg abgebracht werden kann – so geschehen in seiner Jugend wegen der schlechten Gesellschaft im Umfeld von Pylades, nun wegen der ‚Störungen‘ und ‚Verwirrungen‘ der Kriegserfahrungen – schließlich aber sein vorbestimmtes Telos erreichen wird.235 Unterstützt wird diese These von der Tatsache, dass die Kriegserlebnisse immer wieder mit Ausblicken auf idealisierte Existenzformen konfrontiert werden. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Beschreibung des Monuments von Igel – oder genauer: die zweifache Beschreibung dieses in einem Moseldorf in der Nähe von Trier gelegenen antiken Relikts, welches das Ich sowohl auf dem Hinweg nach Frankreich als auch auf dem Rückzug passiert. Bei der Erstbegegnung wird – wobei die Art der Darstellung an die ‚typische‘ Kunstbetrachtung der Italienischen Reise erinnert – das Bauwerk zunächst genau beschrieben und ein besonderes Augenmerk darauf gerichtet, wie geschickt es den „Alten“ (CiF, S.390) gelungen sei, das Monument in die Landschaft zu integrieren und es „an dem würdigsten Platze“ (ebd.) zu erbauen. Gerühmt werden „die Lust und Liebe seine persönliche Gegenwart, mit aller Umgebung und den Zeugnissen von Tätigkeit, sinnlich auf die Nachwelt zu bringen“ (ebd.) und sich damit – ähnlich wie der Autobiograph selbst – sein eigenes Denkmal zu schaffen und es nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Das, was überliefert werden soll, ist das ‚tätige‘ Leben der Erbauer bzw. ihrer Auftraggeber: Die Harmonie, die Eintracht und der Wohlstand des Familienlebens, die _____________ 235
Einen ähnlichen Deutungsansatz formuliert bereits Müller einleitend in seinem Aufsatz zur Campagne, allerdings ohne ihn in seiner Arbeit dann genauer weiterzuverfolgen, um seine These zu belegen: „Die ‚Campagne in Frankreich’ muß denn auch als autobiographisches Zeugnis gelesen werden, wie sehr auch zumindest streckenweise die „Zeitverhältnisse“ und das „Jahrhundert“ den „Menschen“ zu beherrschen scheinen, so daß er Mühe hat, sich eine „Welt- und Menschenansicht“ daraus zu bilden“ (Müller, Innenansicht eines Krieges, S.115). Es handle sich deswegen um eine „Zusammenschau von Weltgeschichte und Biographie im Sinne einer prägenden Epochenerfahrung. Nicht die Ereignisgeschichte des Krieges ist wichtig, sondern seine Innenansicht“ (Müller, Innenansicht eines Krieges, S.116).
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der Betrachter in der gemeinsam „im Familien-Kreise“ (ebd.) eingenommenen Mahlzeit figuriert sieht, werden ermöglicht durch „Gewerb und Handel“ (ebd.), dem die Männer der Familie nachgehen. Schon hier – bei der ersten Beschreibung des Igel-Monuments – wird auf dessen Beziehung zum Krieg hingewiesen, wenn die Gewerbetreibenden als „Kriegs-Kommissarien“ (CiF, S.391) identifiziert werden, „die sich und den ihrigen dies Monument errichteten, zum Zeugnis, daß damals wie jetzt an solcher Stelle genugsamer Wohlstand zu erringen sei“ (ebd.). Insbesondere beim zweiten Mal aber wird das Monument als Mahnmal gegen den Krieg gedeutet, das dem Ich – n a c h den Erlebnissen während des Feldzugs und auf dem Rückweg in die ersehnte Heimat – bei „herrliche[m…] Sonnenblick […] wie der Leuchtturm einem nächtlich Schiffenden, entgegen glänzte“ (CiF, S.487).236 Als Rettung und als Wegweiser erscheint das Monument, das mit seinen Reliefdarstellungen ein Gegenprogramm zu den soeben selbst erfahrenen Verirrungen des Krieges aufzeigt: „Vielleicht war die Macht des Altertums nie so gefühlt worden als an diesem Kontrast. Ein Monument, zwar auch kriegerischer Zeiten, aber doch glücklicher, siegreicher Tage und eines dauernden Wohlbefindens rühriger Menschen in dieser Gegend“ (CiF, S.487). In der folgenden, weit ausführlicher als in der Hinwegs-Passage angelegten Beschreibung ist es dem Ich vor allem darum zu tun, seine Interpretation des Denkmals als Gegenbild zu seiner eigenen aktuellen Existenz auszuweisen237, dessen Betrachtung _____________ 236
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Dies ist nicht die einzige Stelle in der Campagne in Frankreich, in denen Ilias-Bezüge anklingen und das Ich sich direkt oder indirekt mit Odysseus vergleicht – hier, indem er sich aus der Kriegswelt ‚an Land rettet‘ wie Odysseus zu Nausikaa an den Strand der Insel der Phäaken. Zur Bedeutung dieser Odysseus-Bezüge, die im Übrigen auch wieder intertextuelle Bezüge zur Italienischen Reise aufweisen, vgl. die Überlegungen von Richard Fisher, “Dichter” and “Geschichte”: Goethe’s Campagne in Frankreich. In: Goethe Yearbook 4 (1988), S.235–274, insbesondere S.265–267. Interessant in diesem Zusammenhang sind die Ausführungen von Lothar Pikulik, der das subjektive Moment von Goethes Interpretation des Monuments von Igel betont, denn Goethe „sieht vor allem, was ihn sein inneres Befinden und die äußere Situation zu sehen motivieren, und übersieht, worauf er seinerzeit, aber auch wegen seiner grundsätzlichen Einstellung zur Kunst und zum Leben nicht gestimmt ist“ (Lothar Pikulik, Begegnung mit dem Leben im Kunstgebilde. Zu Goethes Betrachtung der Igeler Säule und Stefan Georges Gedicht ‚Porta Nigra’. In: Pikulik, Signatur einer Zeitenwende. Studien zur Literatur der frühen Moderne von Lessing bis Eichendorff, Göttingen 2001, S.89–102, hier S.91), so habe er etwa für „den religiösen Aspekt der Transzendenz, der in die Säule so deutlich eingeschrieben ist, keinen Blick“ (Pikulik, Begegnung mit dem Leben im Kunstgebilde, S.91) und zudem habe er „das Monument eher als Vergegenwärtigung des Lebens denn als Todes- und Grabmal erlebt“ (Pikulik, Begegnung mit dem Leben im Kunstgebilde, S.92).
ihm „das Gefühl eines fröhlich-tätigen Daseins mitteilt“, um es dann „desto unbehaglicher in meinem erbärmlichen Zustande“ (ebd.) zurückzulassen, als es sich von dem Monument wieder lösen muss. Zwei Tage später nutzt das Ich einige „ruhige[…] Stunden“ (CiF, S.488), um die während der Betrachtung des Denkmals angefertigten Notizen zu einer zusammenhängenden Beschreibung auszuformulieren, die in der Campagne auf den 24. Oktober datiert ist. Gerühmt wird – ganz in der Tradition einer Propagierung klassischer Ideale post festum – „der antike Sinn in dem das wirkliche Leben dargestellt wird, allegorisch gewürzt durch mythologische Andeutungen“ (CiF, S.489), und der durchaus noch der eigenen Gegenwart zum Vorbild gereichen könne, denn „man könnte, auf der Stufe wo heut zu Tag Bau- und Bildkunst stehen, in diesem Sinne ein herrliches Denkmal den würdigsten Menschen, ihren Lebensgenüssen und Verdiensten gar wohl errichten“ (CiF, S.490).238 Inhaltlich ist es dabei zweierlei, was die explizite Bewunderung des Ichs erfährt: zum einen „die glücklichsten Familien-Verhältnisse, übereindenkende und wirkende Verwandte, redliches genußreiches Zusammenleben“ (CiF, S.489), kurz: von Harmonie und Vertrauen geprägte Privatheit, zum anderen die auf den Reliefdarstellungen „überall“ vorwaltende „Tätigkeit“, die so vielfältige Handels- und Geschäftsbereiche berühre, dass der Autobiograph sich „jedoch nicht [getraue] alles zu erklären“ (ebd.). Zuzustimmen ist in diesem Zusammenhang sicherlich der Deutung von Gisela Horn, die in ihrer Analyse ebenfalls herausarbeitet, dass „Goethe […] das Römische Denkmal in Igel als Gegenbild zu seiner eigenen Erfahrung [zeigt].“ Sie betont, dass in Goethes Darstellung des Monuments der „Zusammenhang von Familie und Amt […] noch nicht zerrissen [ist], der aktiv tätige Mensch […] sich noch uneingeschränkt in allen Bereichen entfalten [kann]“.239 Von dem Bruch, den das Ich in seinem eigenen Leben aufgrund der Kriegserfahrung erfährt, die ihn monatelang von der Möglichkeit, wirkend tätig zu sein, abschneidet und – solange man nicht versucht, der zerstörenden Macht des Krieges die Kraft des eigenen Daimons entgegenzusetzen – nichts als Leiden und Vernichtung zur Folge hat, findet sich in den Reliefdarstellungen nichts wieder. Sie fungieren als Idealbild, das sich das Ich zum Vorbild nimmt, weil es ein intakt-harmonisches, auf produktives Wirken ausgerichtetes Gemeinleben präsentiert – und das, _____________ 238
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Zumindest gedanklich setzt das Ich diesen Vorschlag gleich in die Tat um, indem es anlässlich des Geburtstags Anna Amalias sogleich damit beginnt, „ihr in Gedanken einen gleichen Obelisk zu widmen, und die sämtlichen Räume mit ihren individuellen Schicksalen und Tugenden charakteristisch zu verzieren“ (CiF, S.490). Horn, Historische Tatsachen und ästhetische Struktur, S.248.
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obwohl auch die dargestellte Familie über die „Kriegskommissarien“ durchaus mit dem Krieg in Berührung kommt, dem es hier gerade nicht gelingt, die Einheit des Lebens zu zerstören. In der erzählten Gegenwart profitiert das Ich – nach der kurzen erneuten Entmutigung beim Aufbruch in Igel – so auch langfristig von dem Eindruck, der ihm „eine freudige Aussicht in der Seele“ bietet, „die bald darauf zur Wirklichkeit gelangte“ (CiF, S.487), also einen Ausblick auf die gesellig-kommunikative Umgebung zu Hause liefert, die dem Ich die notwendige Voraussetzung für ein produktives, auf Tätigkeit ausgerichtetes Leben schafft. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Text gerade nicht mit dem Ende der militärischen Aktionen schließt, sondern dass der Besuch des Jacobi-Kreises in Pempelfort und Münster, der kurze Aufenthalt bei der Fürstin Gallitzin auf dem Rückweg und schließlich die erste Zeit nach der Ankunft in Weimar Eingang in die Darstellung finden. Der Leser erhält so einen Eindruck davon, inwiefern es dem Ich gelingt, die verstörenden Erlebnisse so in sein Leben zu integrieren, dass dieses sich wieder dem Ideal annähert, das das Igel-Monument präsentiert. Mehr als ein Drittel der Campagne in Frankreich ist daher nicht Schilderung des Feldzugs, „sondern auch in Goethes Verständnis Bericht über eine Flucht aus dem Krieg, der dennoch allgegenwärtig bleibt.“240 Zum einen wird hier auf der Makrostruktur des Textes an das „Formprinzip des Kontrastes“241 angeknüpft, das sich bereits bei der Beschreibung des Monumentes von Igel nachweisen ließ und das dem Krieg den Bereich des ‚Hauses‘, der ‚geselligen Zirkel‘ […] und der Familie entgegensetzt, ein[en] Bereich des Privaten, in dem sich in geselligem und höflichem Umgang der Menschen miteinander – anders als in den Zuständen des Krieges – Humanität zu entfalten vermag; zugleich ist dieser Bereich der Ort eines allgemeinen gesellschaftlichen Fortschreitens, in Wissenschaft und Kunst, aber ebenso in der Ökonomie.242
Zum anderen präsentieren diese Passagen gerade die Schwierigkeiten des Wiederanknüpfens an die ehemals intakten freundschaftlichen Beziehungen, so besonders auffällig im Umgang mit der Gesellschaft um Jacobi. Entscheidend ist allerdings, dass der Autobiograph an dieser Stelle wieder einmal mit dem Wissen um Späteres seinen Aufenthalt in _____________ 240 241
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Müller, Innenansicht eines Krieges, S.125. Reiner Wild, Krieg und Frieden, Gewalt und Recht. Zu Goethes Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution in Campagne in Frankreich 1792 und Belagerung von Maynz. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 92/93 (1988/1989), S.67–79, hier S.74. Wild, Krieg und Frieden, S.75.
Pempelfort in ein Licht rückt, das den Quellen des Jahres 1792 nicht entspricht: Zwar ist Goethes Beziehung zu Friedrich Heinrich Jacobi, dem er erstmals 1774 begegnete und mit dem er seitdem in engem Briefaustausch stand, von zahlreichen Irritationen auf beiden Seiten, Kontaktabbrüchen und –wiederaufnahmen geprägt,243 die Briefe des Jahres 1792 zeugen jedoch von harmonischen Tagen, die Goethe als Gast im Hause Jacobi nach der Rückkehr aus Frankreich verlebte. Erst später kam es wiederholt zu schwerwiegenden Differenzen und damit verbunden zu einer zunehmenden und endgültigen Entfremdung, vor allem im Zusammenhang mit Jacobis Schrift Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811), der ein Naturverständnis zugrunde liegt, das Goethes vehementen Widerspruch hervorrief. Bei der Niederschrift der Campagne war Goethe diese Entwicklung bewusst – die Differenzen, die er in den Aufenthalt in Pempelfort hineinprojiziert, nutzt er dazu zu illustrieren, dass die Kriegserfahrungen eben doch nicht spurlos an dem erzählten Ich vorübergegangen sind, dass es sich verändert hat, und gleichfalls, dass die zeitgeschichtlichen Entwicklungen ebenso die (politischen) Einstellungen der Freunde sowie ihr Verhalten gegenüber dem ‚Kriegsheimkehrer‘ beeinflussen, wenngleich die Dokumente des Jahres 1792 davon keine Spur aufweisen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang schon die „Zwischen-Rede“, mit der diese Passagen eingeleitet werden – symbolisch an der Stelle der erzählten Gegenwart eingeschaltet, an der das Ich „den Rhein“, den Grenzfluss zwischen Deutschland und Frankreich, „hinunter schwimm[t…]“ (CiF, S.512) – und in denen erneut auf den Kontrast zwischen den Kriegserlebnissen als dem „bösen Traum, von dem ich mich so eben erwacht fände“ (ebd.) und „den heitersten Hoffnungen eines nächsten gemütlichen Zusammenseins“ (ebd.) hingewiesen und mit diesem Kontrast die veränderten Schreibverfahren begründet werden: Nun aber, wenn ich mitzuteilen fortfahren soll, muß ich eine andere Behandlung wählen, als dem bisherigen Vortrag wohl geziemte: denn wo Tag für Tag das Bedeutendste vor unsern Augen vorgeht, wenn wir mit so viel Tausenden leiden und fürchten und nur furchtsam hoffen, dann hat die Gegenwart ihren
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Vgl. zum spannungsreichen Verhältnis zwischen Goethe und seinem Jugendfreund Jacobi über die Jahrzehnte hinweg den Aufsatz von Christ: Kurt Christ, Antinomien der Überzeugung oder Wunderlicher Zwiespalt. Ein Beitrag zur Freundschaftsbeziehung zwischen Goethe und Jacobi und ihrer Rückwirkung auf das Werk Goethes. In: Euphorion 88 (1994), S.390–405. Goethe selbst lässt sein Verhältniss zu Jacobi in dem gleichnamigen Fragment Revue passieren, dessen Entstehungszeit sich nicht genau datieren lässt, wohl aber aus den Jahren 1812–1814 stammt (vgl. zur Entstehung den Kommentar in FA I/17, S.692–694).
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entschiedenen Wert und, Schritt vor Schritt vorgetragen, erneut sie das Vergangene indem sie auf die Zukunft hindeutet. Was aber in geselligen Zirkeln sich ereignet, kann nur aus einer sittlichen Folge der Äußerungen innerlicher Zustände begriffen werden; die Reflexion ist hier an ihrer Stelle, der Augenblick spricht nicht für sich selbst, Andenken an das Vergangene, spätere Betrachtungen müssen ihn dolmetschen (ebd.).
Schon in der „Zwischen-Rede“ wird dann angekündigt, was in den dem Jacobi-Kreis gewidmeten Passagen zur Leitlinie der Darstellung wird: dass die Begegnung mit den alten Freunden zur Enttäuschung gerät – für beide Seiten –, die „in das Zeichen einer Entfremdung“244 gestellt wird. Das Ich führt hier mehrere Gründe für dieses Fremdheitsgefühl an und betont, dass ihm dieses erst mit dem Abstand des autobiographischen Rückblicks so recht deutlich geworden sei und es sich in der – vorgeblich authentischen – Darstellung der Campagne nur erahnen ließe.245 Während das Ich seine alten Freunde als unverändert erlebt, weil sie sich „getreu an ihrem Lebensgange gehalten“ (CiF, S.513) haben, sei dem erzählten Ich selbst dagegen „das wunderbare Los beschieden […], durch manche Stufen der Prüfung, des Tuns und Duldens durchzugehen“ (ebd.) – mit den Worten der Urworte. Orphisch: auf vielfältige Weise mit den Anfechtungen der Tyche konfrontiert worden zu sein. Das erzählende Ich nennt die Reise nach Italien und die dort gewonnenen Einsichten, das Studium der antiken Kunst und Literatur, dann sein Interesse und seine Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften sowie schließlich – und dies ist in unserem Zusammenhang sowie für die Gesamtkonzeption seines Textes von herausgehobener Bedeutung – die Erfahrungen, die es im Krieg machen musste, als Faktoren, die dazu geführt haben, dass es „in eben der Person beharrrend, ein ganz anderer Mensch geworden, meinen alten Freunden fast unkenntlich auftrat“ (ebd.). Die Passagen, in denen dann der Aufenthalt in Pempelfort als gescheiterter Versuch des Wiederanknüpfens an alte, enge Freundschaf_____________ 244 245
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Müller, Innenansicht eines Krieges, S.120. Interessant in diesem Zusammenhang ist übrigens die Tatsache, dass von diesem Fremdheitsgefühl der Analyse von Müller zu Folge (vgl. Müller, Innenansicht eines Krieges, S.120) in den brieflichen Zeugnissen von 1792 nicht die Rede ist und die Wiederbegegnung mit dem Jacobi-Kreis dort in einem recht harmonischen Licht erscheint, sodass davon auszugehen ist, dass der Autobiograph in der Campagne sehr wohl rückblickend eingegriffen und die aus der Zeit vorhandenen Originaldokumente seinen Intentionen entsprechend redigiert hat – anders, als er selbst vorgibt, wenn er die „Zwischen-Rede“ mit der Formulierung beschließt, dass er „ungern dem Trieb widerstehe diese, vor vielen Jahren flüchtig verfaßten Blätter, nach gegenwärtiger Einsicht und Überzeugung umzuschreiben“ (CiF, S.515).
ten präsentiert wird, kulminiert in dem Resümee, dass man „sich keinen isoliertern Menschen denken [kann] als ich damals war und lange Zeit blieb“ (CiF, S.520). Die Freunde zeigen kein Verständnis für die naturwissenschaftlichen Interessen ihres Gastes und raten ihm, „was Besseres [zu] tun und meinem Talent die alte Richtung [zu] lassen und [zu] geben“ (CiF, S.519), auch seine neueren literarischen Arbeiten finden keinen Beifall, sodass die Lesung aus dem dann erst 1837 unvollendet veröffentlichten Roman „Reise der Söhne Megapranzons“, an dem Goethe 1792 gerade schrieb, schnell wieder abgebrochen wird. Das erzählte Ich selbst wiederum lehnt es jedoch ab, gerade jetzt – in direktem Anschluss an die Erfahrungen der Leiden und Zerstörungen des Krieges – aus älteren Werken zu lesen (angeführt wird Iphigenie – d a s Paradigma für Humanität und Toleranz): „das wollte mir aber gar nicht munden, dem zarten Sinne fühlt‘ ich mich entfremdet, auch von andern vorgetragen war mir ein solcher Anklang lästig“ (CiF, S.516f.). Zudem kann gerade in politischen Fragen keine Einigkeit erzielt werden – das „Unheil der französischen Staats-Umwälzung“ (CiF, S.515) wird explizit als Beispiel für die Uneinigkeiten angeführt. Auch die Tatsache, dass hier jemand, der sich im Krieg direkt am Schauplatz des Geschehens befunden hat, auf Menschen trifft, die eben diese „bedenklichen“ und „traurigen Ereignisse des Tags“ (ebd.) nur aus der Ferne verfolgt haben, zieht in Goethes Darstellung eine vollkommen unterschiedliche Sicht auf das Tagesgeschehen nach sich.246 In Pempelfort gelingt dann genau das nicht, was das Ich beim Anblick des Monuments in Igel zu hoffen gewagt hat, nämlich die Wiedereingliederung in ein von Akzeptanz und freundschaftlichem, wechselseitigem Interesse und Verständnis geprägtes Umfeld. Nach den Erfahrungen des Feldzugs, in dem sich das Ich als Statist erlebt bzw. sich zu einem solchen im autobiographischen Rückblick stilisiert, der nur gezwungen teilnimmt, keine rechte Funktion erfüllt und deswegen so gut es geht versucht, seine ihm gemäßen Interessen und Ideale gegen die zer- und verstörenden Einflüsse des Kriegs zu behaupten, kann das Leben nicht genauso weitergehen wie zuvor. Das, was das Monument von Igel in Goethes Darstellung vorführt – nämlich die Harmonie eines tätigen und von Toleranz und gegenseitigem Interesse geprägten Lebens, das trotz vielfältigster Betätigungsfelder als kohärente Einheit erlebt wird – gelingt an diesem Punkt von Goethes Autobiographie zunächst nicht. Tatsächlich habe das Ich in Pempelfort selbst auf „manche gehässige Ungezogenheit“ (CiF, S.518) nicht verzichten können und den „Streit durch ge_____________ 246
Vgl. dazu auch Müller, Innenansicht eines Krieges, S.121.
249
waltsame Paradoxe aufzuregen und an’s Äußerste zu führen“ (CiF, S.521) versucht und auf diese Weise angesichts der Zeitumstände zumindest kurzzeitig den Pfad der „Vermittlung“ (CiF, S.571) verlassen, den es sowohl zu Anfang als auch am Ende der Campagne als Ideal eines Dichters propagiert, „der seiner Natur nach unparteiisch sein und bleiben muß“ (ebd.). Die Schilderung des Entfremdungserlebnisses innerhalb des Jacobi-Kreises gehört deswegen entscheidend zu den Kriegserfahrungen, indem es die Gefühle von Isolation und Zerstörung zumindest teilweise selbst der eigenen Identität auch außerhalb des Schlachtfelds und des Truppenelends fortsetzt und damit zeigt, dass der Krieg im Kontext von Goethes Autobiographieprojekt nicht nur oder explizit sogar weniger als zeitgeschichtlich bedeutsamer Einschnitt empfunden wird, sondern vielmehr tiefgreifende Folgen im Erleben und in der Entwicklung des Ichs mit sich bringt. Dennoch gelingt es d i e s e m Ich, sich im weiteren Reiseverlauf und dann schließlich in Weimar wieder einem Leben nach dem Vorbild des Igel-Monuments anzunähern: Schon der kurze Aufenthalt in Münster bei der Fürstin Gallitzin steht in deutlichem Kontrast zu der Begegnung mit Jacobi und dessen Freunden. Es wird uns hier geradezu ein „Muster geselliger Toleranz“247 präsentiert, indem im Umgang miteinander – ganz anders als in den Diskussionen mit Jacobi – konfliktträchtige Themen gezielt ausgespart werden, sondern man sich friedfertig und höflich über solches austauscht, das den Interessen und Positionen aller Gesprächspartner gemäß ist. Der ganze kurze Aufenthalt steht im Zeichen eines bedeutenden Gegenbildes, eines Bildes von Friedfertigkeit, das in der Campagne so auf den Punkt gebracht wird: „es hätte mir wohl kein größeres Glück begegnen können, als daß ich nach dem schrecklichen Kriegs- und Fluchtwesen endlich wieder fromme menschliche Sitte auf mich einwirken fühlte“ (CiF, S.553). Von ähnlicher, womöglich noch gesteigerter Qualität sind dann die Erfahrungen im „stille[n…] häusliche[n…] Kreis“ (CiF, S.557) in Weimar, die den Schluss der Campagne bilden und ein Ich präsentieren, das nach allen Erschütterungen nicht nur zu seiner Identität wiedergefunden hat und sogleich seine vielfältigen Tätigkeiten in den Bereichen des Theaters und der amtlichen Geschäfte wieder aufnimmt, seinen naturwissenschaftlichen Interessen nachgeht, an seinen literarischen Arbeiten schreibt und seine gesellschaftlich-freundschaftlichen Kontakte pflegt, sondern das darüber hinaus zu einer neuen Urteilssicherheit gelangt ist, was die Bewertung zeitgeschichtlicher Probleme anbelangt. Über die _____________ 247
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Müller, Innenansicht eines Krieges, S.122.
Stationen Pempelfort und Münster bis hin nach Weimar ist die Annäherung an das Ideal des Igel-Monuments und so die ‚Heilung’ von den (ver-)störenden Kriegserfahrungen schrittweise – in drei Stufen – erfolgt. Sicherlich nicht zufällig bildet das Motiv der ‚Parteiungen‘, das auch im Ersten Buch von Dichtung und Wahrheit begegnet,248 eine Klammer in der Campagne: Auf dem Hinweg nach Frankreich ist das erzählte Ich am Mittag des ersten Tages, mit dem der Text beginnt, zu Gast bei Johann Friedrich von Stein, der „sich im Haß gegen alles Revolutionäre gewaltsam auszeichnete“ (CiF, S.386), denselben und den nächsten Abend verlebt er mit „Sömmerrings, Huber, Forsters und andern Freunden“, die ihre „republikanische[n] Gesinnungen nicht ganz verleugneten“ (CiF, S.387). Dennoch zeichnen sich die Zusammenkünfte durch „heiterste Stimmung“ (ebd.) aus und man akzeptiert die unterschiedlichen Meinungen im Bereich der Politik und klammert zeitgeschichtliche Themen aus, weil „man fühlte, daß man sich wechselseitig zu schonen habe“ (ebd.). Im letzten Abschnitt der Campagne, bereits nach Weimar zurückgekehrt, resümiert das Ich die politischen Entwicklungen der letzten Monate und kommt dabei im Kontext der Ausbreitung revolutionärer Gesinnungen, von denen es berichtet, wieder auf das Thema der Parteiungen zurück: Übrigens läßt sich hiebei bemerken daß in allen wichtigen politischen Fällen immer diejenigen Zuschauer am besten dran sind, welche Partei nehmen; was ihnen wahrhaft günstig ist ergreifen sie mit Freuden, das Ungünstige ignorieren sie, lehnen’s ab, oder legen’s wohl gar zu ihrem Vorteil aus (CiF, S.571).
Dieser ironischen Kommentierung, die deutlich macht, dass jede Art der Parteinahme immer eine Art von Einseitigkeit und damit Ignoranz oder gar eine Umdeutung der Geschichte zur Folge habe, wird das Ideal des Dichters entgegengestellt, der gerade angesichts des „Zyklus von Tragödien“, mit dem „wir uns von der tosenden Weltbewegung bedroht [sahen]“, „seiner Natur nach unparteiisch sein und bleiben muß“ (ebd.). Zur Aufgabe wird damit das ernannt, was schon in der Campagne eine Leitlinie der Darstellung war und was sehr eng mit Goethes Sicht auf historische Abläufe überhaupt zu tun hat: „Vermittlung“ (ebd.) als poetisches Prinzip bedeutet, gerade nicht Partei zu nehmen, sondern ausgleichend zu wirken und sich für die „Bewahrung _____________ 248
Dass Parteiungen, Differenzen besonders in politischen, zeitgeschichtlichen Fragen Zwietracht selbst in enge Familienbande bringen kann, irritiert schon den kleinen Jungen des Ersten Buches von Dichtung und Wahrheit; vgl. dazu auch den Beginn dieses Kapitels.
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der Einheit oder des Ganzen“249 einzusetzen. Das hat keineswegs Desinteresse an oder Abwendung von historischen und politischen Fragen zur Folge, sondern vielmehr eine klare Stellungnahme gegen gewaltsame Umbrüche in Form von Revolutionen oder Kriegen, die mit der Zerstörungskraft von Naturphänomenen gleichgesetzt werden, zumal sie nicht nur gesellschaftliche Brüche hervorrufen, sondern auch als verirrende Kraft der Tyche einer teleologischen Entwicklung des Individuums entgegenstehen. Die einschneidenden Ereignisse seiner Epoche – eben vor allem die Französische Revolution und die Revolutionskriege – werden negativ beurteilt, weil sie historische Kontinuität zerstören. Historisch verantwortungsvolles Handeln zeichnet sich deswegen durch Weiterentwicklung und den Ausgleich zwischen dem Bestehenden und den neuen Erfordernissen der Zeit aus – durch Reformen, nicht durch plötzliche und gewaltsame Umbrüche. Die Ablehnung der Auseinandersetzung mit jeglicher Form von ‚Trümmern‘ in der Italienischen Reise und der Verzicht auf eine detailreichere oder eindrucksvollere Beschreibung von Krieg und Zerstörung in der Campagne in Frankreich, während naturwissenschaftlichen Beobachtungen, den Eindrücken von Landschaft und Atmosphärischem sowie – auf Sizilien – der Suche nach der „Urpflanze“ in der autobiographischen Darstellung der Vorzug gegeben wird, inszeniert ein Individuum, dem es gelingt, trotz aller (zer-)störenden Einflüsse der Geschichte seinem Daimon treu zu bleiben, gerade in seiner „Tätigkeit“ als Dichter und Wissenschaftler sein Jahrhundert voranzubringen und sich so über die Macht der Geschichte zu behaupten.250
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252
Wild, Krieg und Frieden, S.70. Zu einem ähnlichen Ergebnis, was den Zusammenhang zwischen Goethes Kunstideal und seiner Sicht auf Geschichte anbelangt, kommt Fisher (allerdings ohne dabei die besondere Rolle in den Blick zu nehmen, die die Campagne als autobiographischer Text gerade auch für die Selbstinszenierung ihres Autors spielt): „As part of the retrospective vision, Goethe’s conception of art as a defiant creative gesture in the face of disruptive historical and political circumstances holds true for the text as a whole as well as for the biographic-historical period it covers – in its way the Campagne contributes to the ongoing process of ‘Gewältigung’ of a persistent post-Revolutionary dynamic of political violence and counter-violence. Goethe’s form of self-affirmation – ‘[die] einzelne Thätigkeit, die sich mit der Welt mißt’ – is the ‘peaceful counteraction’ of poetry against the blind force of a reality it cannot change, but merely oppose. The document recording this assertion of the individual creative and cognitive life against one aspect of modern history, and the profane cycle of all history, is the Campagne” (Fisher, “Dichter” and “Geschichte”, S.267).
3.5
Sehen, Erinnern und Erzählen: der „Schlüssel“ zur Geschichte
3.5.1
‚Verunstaltendes’ „Gesperr“ und ‚märchenhafte’ Erzählungen – die ersten Zugänge des jungen Goethe zur Geschichte
Im ersten Buch von Dichtung und Wahrheit wird ein kleiner Junge präsentiert, der wissbegierig, hochintelligent und begabt ist und der vor allem mit offenen Augen auf die Welt schaut, die ihn umgibt. Dass er sich dabei für historische Fragestellungen, insbesondere für die Geschichte seiner Heimatstadt, nicht interessiert habe, wurde bereits im vorangegangenen Kapitel dieser Arbeit widerlegt. Darüber hinaus scheint das, was der Autobiograph auf sein erzähltes Ich projiziert, programmatisch zu sein dafür, wie hier Zugänge zur Geschichte gesucht werden – und zwar im Spiegel eines Textes, der von einem Konzept der „höhere[n] Wahrheit“ ausgeht, was die Darstellung von Vergangenem anbelangt, und so als literarisch erzählte Geschichte zu begreifen ist. Schließlich bedeutet das ‚Erschließen‘ von Geschichte, das das erzählte Ich vollzieht, immer ein ‚Erschreiben‘ von Geschichte, eine Rekonstruktionsund Imaginationsarbeit, die der Autor leistet, indem er einen autobiographischen Text verfasst, der Vergangenes literarisiert und dessen Besonderheit gerade das ‚Grenzgängertum‘ zwischen Historiographie und Dichtung ist.251 Zunächst jedoch nutzt das Kind bei seinen ersten Annäherungen an die Geschichte im Ersten Buch von Dichtung und Wahrheit zwar gedruckte Text- und Bildquellen – „[…] alte Chroniken, Holzschnitte, wie z.B. den Grave’schen von der Belagerung von Frankfurt […]“ (DuW I, S.24) – und versucht so zumindest, die traditionellen, seiner Zeit gemäßen Wege der Aufklärungshistorie zu beschreiten. Vor allem aber dienen ihm ausgedehnte und wiederholte „Promenaden“ (ebd.) durch die Stadt als Erkundungsgänge, um sich die Geschichte seiner Heimatstadt mit eigenen Augen zu erschließen – sofern davon eben noch etwas zu sehen ist. Schon hier deutet sich – vom erzählenden Ich rückblickend auf das ganz junge erzählte Ich projiziert – der Primat der eigenen Anschauung an, der sich als ein Schlüssel zur Geschichte durch die gesamten Autobiographischen Schriften zieht: Von der Geschichte muss noch etwas gesehen werden können, etwas vorhanden sein von dem, _____________ 251
Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die methodisch-theoretischen Vorüberlegungen im Kapitel 2.2 dieser Arbeit.
253
das einen historisch wichtigen Ort ausmacht und das dazu geeignet ist, die historische Imagination anzuregen, sonst ist es als Quelle für Goethe funktions- und damit wertlos. Deshalb erscheint dem erzählten Ich weitaus interessanter als die schriftlichen Sammlungen von Daten und Fakten, wie sie in den studierten Quellenbänden zu finden sind, das, was aus der Vergangenheit in die Gegenwart herüberreicht, was etwa auf den Spaziergängen durch Frankfurt an alten Bauten zu finden ist, sei es an Überresten der mittelalterlichen Stadtbefestigung oder auch an der Gesamtanlage der Stadt. Dies gilt selbst oder gerade, wenn das, was hier zu sehen ist, sicherlich weniger detailliert und genau ist als die schriftlichen Quellen und Spielräume lässt, um die eventuellen Lücken der Überlieferung mit der eigenen Imagination auszufüllen. Sogleich beginnt das Ich hier, Rückschlüsse auf die bewegte Vergangenheit der Stadt zu ziehen, aus der Art der Bebauung kriegerische Auseinandersetzungen und Zerstörung zu rekonstruieren. Das erzählte Ich, das mit offenen Augen durch das Frankfurt der 1760er Jahre geht, bekommt so einen Eindruck davon, wie sich die Stadt zu dem entwickeln konnte, was sie damals darstellte, es erfährt die Vergangenheit als etwas, das Spuren in der Gegenwart hinterlässt. Einen deutlichen Kontrast zu diesen Stadtspaziergängen bietet die Enttäuschung des Konklave-Erlebnisses. Nachdem das Interesse an der Geschichte seiner Heimatstadt entfacht ist, gelingt es dem erzählten Ich, zusammen mit einigen Freunden Zutritt zum Konklave des Frankfurter Doms zu erhalten. Die Besichtigung mündet jedoch in Resignation: Allein wir hätten besser getan, ihn [i.e. diesen so bedeutenden Ort] durch unsre Einbildungskraft, wie bisher, auszumalen: denn wir fanden diesen in der deutschen Geschichte so merkwürdigen Raum, wo die mächtigsten Fürsten sich zu einer Handlung von solcher Wichtigkeit zu versammlen pflegten, keineswegs würdig ausgeziert, sondern noch obenein mit Balken, Stangen, Gerüsten und anderem solchen Gesperr, das man bei Seite setzen wollte, verunstaltet (DuW I, S.27).
Das, was sich die Kinder von dem Besuch des Ortes erhoffen, an dem die Kurfürsten tagen, um die Könige des Deutschen Reiches zu wählen – nämlich dass sie sich vorstellen können, was sich hier in der Vergangenheit ereignet hat, indem die Anwesenheit an diesem eben so „bedeutenden Ort“ (ebd.) etwa ein ebenso ehrwürdiges Gefühl vermittelte –, kann nicht eingelöst werden: Keinesfalls seinem historischen Wert entsprechend „ausgeziert“ ist er, sondern sogar „verunstaltet“. Die Wirklichkeit – das, was von der Geschichte in der Realität „mit Augen zu erleben“ (DuW I, S.26) ist – kann der „Einbildungskraft“ (DuW I, S.27) in diesem Fall nicht nachkommen, wenn es um die Vergegenwärtigung 254
von Geschichte geht: Was an anderen Stellen im Frankfurter Stadtbild an immer noch in das alltägliche Leben integrierten Überresten der Vergangenheit zu sehen ist und eine Funktion in der Gegenwart hat, ist im Konklave des Doms Gerümpel, das seine Zeiten überlebt hat und nichts mehr von dem damaligen Wert dieses Ortes vermitteln kann. Es illustriert vielmehr, dass eine Zeit unwiederbringlich vergangen ist. Zu betonen bleibt, dass für den Jungen – jedenfalls dem autobiographischen Rückblick zu Folge – tatsächlich besonders entscheidend ist, w i e ihm Geschichte begegnet. So führt das enttäuschende Konklave-Erlebnis nicht etwa dazu, dass er das Interesse an den Kaiserwahlen und -krönungen überhaupt verlöre, sondern er sucht sich einen zweiten Weg, der seine historische Imagination anregen kann. Viel mehr als diese wenig bedeutend erscheinende Lokalität kann dann nämlich anderes das Interesse an den in der eigenen Heimatstadt stattfindenden Kaiserwahlen und -krönungen befördern und die Hoffnung hervorrufen, „wohl auch noch einmal eine Krönung mit Augen zu erleben“ (DuW I, S.26): und zwar das, was von den Kaiserkrönungen bzw. von den einzelnen Kaisern durch mündliche Überlieferung zu erfahren ist. Dies fasziniert das Ich mehr noch als die Bewunderung der Goldenen Bulle und des tatsächlich – anders als das Dom-Konklave – besonders prunkvoll ausstaffierten Wahlzimmers und des Kaisersaales im Römer. Entsprechend hielten wir denjenigen […] für unsern wahrsten Freund, der uns bei den Brustbildern der sämtlichen Kaiser, die in einer gewissen Höhe [im Kaisersaal des Römers] umher gemalt waren, etwas von ihren Taten e r z ä h l e n mochte (ebd.; Hervorhebung WH).
Hier ist gerade das Ausschmücken besonderer Taten, „manches M ä r c h e n h a f t e “ (ebd.; Hervorhebung WH) geeignet, um ein gesteigertes Interesse hervorzurufen. Auf die Art der Überlieferung scheint es also in besonderem Maße anzukommen und schon hier lassen die verwendeten Begriffe sicherlich nicht zufällig poetische (Erzähl-)Verfahren assoziieren, die kaum mehr etwas mit der an den reinen Fakten orientierten ‚Historie’ des frühen 18. Jahrhunderts zu tun haben. Sie wollen vielmehr Zusammenhänge herstellen, in die Gegenwart und Zukunft verweisen und womöglich auch subjektive Deutungen und Wertungen nahe legen. So sei etwa nicht nur von Maximilian I. – zurecht – vorhergesagt worden, dass er „der letzte Kaiser aus einem deutschen Hause sein“ (ebd.) werde, sondern jetzt gehe „abermals eine solche Weissagung oder vielmehr Vorbedeutung um[…]: denn es sei augenfällig, daß nur noch Platz für das Bild eines Kaisers übrig bleibe“ (ebd.) – eine „Vorbedeutung“, die sich – wie der zeitgenössische Leser schon hier weiß – ebenfalls bewahrheiten sollte. Die Erzählungen zu der Bilderga255
lerie der deutschen Kaiser werden auf diese Weise mit Anekdotenhaftem ausgeschmückt oder es werden Parallelisierungen von historischen und gegenwärtigen Persönlichkeiten und Entwicklungen vorgenommen. Nicht zuletzt scheint die Geschichte der deutschen Kaiser und ihrer Krönungen – über ihren lokalgeschichtlichen Bezug hinaus – deswegen interessant, weil sie nicht nur von dem Führer im Kaisersaal des Römers, der so „märchenhaft“ zu erzählen versteht, sondern von den Frankfurter Bürgern überhaupt als Ereignisse bewertet werden, denen neben ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung auch und gerade ein Einfluss auf ihr eigenes Leben beigemessen wird. Sie haben deswegen einen Bezug zum Leben des Ichs, das [m]it vieler Begierde vernahm […], was ihm die Seinigen so wie ältere Verwandte und Bekannte gern erzählten und wiederholten, die Geschichten der zuletzt kurz auf einander gefolgten Krönungen: denn es war kein Frankfurter von einem gewissen Alter, der nicht diese beiden Ereignisse und was sie begleitete, für den Gipfel seines Lebens gehalten hätte (DuW I, S.27).
Der Begriff des „Märchenhafte[n]“ (DuW I, S.26) an dieser Stelle deutet an, dass es womöglich um mehr geht als um bloßes mündliches (Nach-) Erzählen. Noch deutlicher wird die Tendenz zur Literarisierung von Geschichte in der Passage, in der die Auswirkungen des Siebenjährigen Krieges beschrieben werden.252 Bei der Darstellung der politischen Differenzen, die die Familie Goethe anlässlich des Siebenjährigen Kriegs in zwei Parteien spaltet (der Großvater steht auf der Seite Österreichs, Vater Johann Caspar ist ein vehementer Anhänger des Preußenkönigs) werden Begriffe verwendet, die dem Bereich von Drama und Theater entnommen sind: von „Zuschauer[n]“ (DuW I, S.53) ist die Rede, die die politischen Ereignisse – zunächst unbeteiligt – wie ein Theaterstück betrachten und die, sobald sie sich dann engagieren und Partei ergreifen, selbst eine Rolle in diesem Stück einnehmen: Alles was zum Vorteil der Gegner angeführt werden konnte, wurde geleugnet oder verkleinert, und da die entgegengesetzten Familienglieder das Gleiche taten; so konnten sie einander nicht auf der Straße begegnen, ohne daß es Händel setzte, wie in Romeo und Julie (DuW I, S.54).
Wie Geschichtliches überhaupt zugänglich wird (und damit eng zusammenhängend: wie geschichtliche Zusammenhänge in der autobiographischen Rückschau dem Leser vermittelt werden), deutet sich so _____________ 252
256
Vgl. zu den – im Rückblick als verstörend ausgewiesenen – Folgen, die die Familienzwistigkeiten aufgrund unterschiedlicher politischer Überzeugungen für den jungen Goethe hatten, ausführlicher auch den Eingangsabschnitt des vorangegangenen Kapitels dieser Arbeit.
schon auf den ersten Seiten von Dichtung und Wahrheit an: zum einen vor allem durch das ‚Sehen mit eigenen Augen’, zum anderen durch die ‚Brücke’ des (hier zunächst mündlichen) Erzählens, das immer bedeutet, dass etwas in der und für die eigene Gegenwart noch relevant ist, einen Bezug besitzt zum eigenen Leben, ja womöglich identitätsstiftend wirkt, wie am Beispiel der Erzählungen der Frankfurter Bürger deutlich wird, die sich gerne und oft die Krönungsfeierlichkeiten des 18. Jahrhunderts, deren Zeuge sie wurden, erzählend vergegenwärtigen. Es ergeben sich daher zwei zentrale Fragestellungen, die es in diesem Kapitel differenzierter zu untersuchen gilt: 1. W e l c h e M e t h o d e n n u t z t d a s e r z ä h l t e I c h , u m z u h i s t o r i s c h e r E r k e n n t n i s z u g e l a n g e n ? Und inwiefern lassen sie sich womöglich programmatisch als Abkehr bzw. als Weiterentwicklung traditioneller Verfahren lesen, die für die Historiographie des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ein Novum darstellen? 2. W e l c h e E r z ä h l v e r f a h r e n w e r d e n a n g e w a n d t , u m G e s c h i c h t e d a r z u s t e l l e n – und zwar gerade Ereignisse und Entwicklungen von weltgeschichtlicher Bedeutung, die die ‚Epoche’ geprägt haben? Etwa: Werden die Andeutungen, die Historisch-Politisches in die Nähe von Drama und Theater rücken, an anderen Stellen womöglich zu gezielten Parallelisierungen von realer und fiktionaler ‚Inszenierung’ weiter ausgebaut? 3.5.2
Auch ein in Italien gefundener „Schlüssel“: die bewusste Abkehr von der Tradition der Aufklärungshistorie
Der Wunsch, nach Italien zu reisen, der schon während Goethes Kindheit entsteht, ist im Kontext seiner Zeit keineswegs ein individueller. Auch die Motivation, die der Junge für eine Reise in den Süden entwickelt, scheint sich ganz darauf auszurichten, was eine Italienreise in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausmacht. Dabei ging es traditionell darum, ein umfangreiches Reiseprogramm abzuarbeiten, das sich vor allem darauf konzentrierte, dem Reisenden einen möglichst umfassenden Einblick in die Geschichte und Kunst des Altertums zu liefern. Schon als kleiner Junge bestaunt Goethe die Prospekte, die der Vater von dessen Italienreise in den 1730er Jahren mitgebracht und im Elternhaus aufgehängt hat und hört seinem Vater begeistert zu, wenn dieser von seiner Reise erzählt. Wirft man einen Blick in den Reisebericht, den der Vater – ebenfalls so, wie es sich für einen aufgeklärten Bildungsbürger gehörte, der alles Besichtigte genau zu dokumentieren 257
hatte253 – verfasst hat,254 so erhält man einen Eindruck davon, was dieser sich als Programm für seinen Sohn vorgestellt hat, als er ihn 1776 auf den Weg über die Alpen schickt, um „dort [s]eine Einsicht in dem Kunstfach aus[zu]bilden“ (DuW IV, S.850). Der junge Goethe selbst scheint diesem Vorhaben gegenüber nicht abgeneigt zu sein: Zwar hofft er immer noch darauf, dass Herzog Carl August sein Angebot einlösen und der angekündigte Wagen ihn abholen und an den Weimarer Hof bringen würde, dennoch betont der Autobiograph im Rückblick den Zwiespalt, der ihm zum einen zwar die neuen Perspektiven in Weimar, zum anderen aber auch die Erfüllung des lang gehegten Traumes, die Reise nach Italien, verlockend erscheinen lässt: Mein Vater hatte mir einen gar hübschen Reiseplan aufgesetzt und mir eine kleine Bibliothek mitgegeben, durch die ich mich vorbereiten und an Ort und Stelle leiten könnte. In müßigen Stunden hatte ich bisher keine andere Unterhaltung gehabt, sogar auf meiner letzten kleinen Reise im Wagen nichts anders gedacht. Jene herrlichen Gegenstände, die ich von Jugend auf durch Erzählung und Nachbildung aller Art kennen gelernt, sammelten sich vor meiner Seele und ich kannte nichts Erwünschteres als mich ihnen zu nähern […] (DuW IV, S.851).
Dass Vater und Sohn hier beide noch dem Konzept einer Bildungsreise in aufklärerischer Tradition anhängen, wird nicht allein in dem planvollen Vorgehen, den intensiven Vorbereitungen und der „kleine[n] Bibliothek“ im Gepäck deutlich, mit Hilfe derer die Überreste des Altertums entschlüsselt werden sollen, sondern auch darin, dass das Reiseprojekt rückblickend gegenüber „meiner neuen Richtung“ zum „bedeutenden Gegengewicht“ (ebd.) erklärt, in diesem Sinne als rückwärts gewandte Bewegung ausgewiesen wird. Intendiert die Überlegung, der Einladung Carl Augusts zu folgen und eine Tätigkeit am Weimarer Hof anzunehmen, tatsächlich einen ganz selbst bestimmten, neuen Ansatz, das eigene Leben zu gestalten und sich von der Autorität des Vaters zu lösen, so bedeutete die Italienreise – gerade in der skizzierten Konzeption – ein Nicht-Verlassen des Pfades, den der Vater für den Sohn angelegt _____________ 253
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258
Einen Überblick zur Tradition der Italienreisen des 18. Jahrhunderts bzw. zu den Reiseberichten der Aufklärung geben z.B. die Dissertation von van de Moetter sowie die Arbeit von Brilli: Gerd van de Moetter, Soziologie des ReisenS.Kulturgeschichte deutscher Italienreisen im 17. und 18. Jahrhundert, Paderborn 1989; Attilio Brilli, Reisen in Italien. Die Kulturgeschichte der klassischen Italienreise vom 16. bis 19. Jahrhundert, Köln 1989. Hilfreich ist darüber hinaus die Bibliographie von Kraemer: Kraemer, Stefanie (Hg.), Italien. Eine Bibliographie zu Italienreisen in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M. u.a. 2003. Der Vater unterstreicht diesen gelehrten Impetus, der den Italienreisen der Aufklärung innewohnt, noch zusätzlich, indem er den Bericht über seine Reise des Jahres 1740 als Viaggio per l’Italia in italienischer Sprache abfasst.
hat und der von der bürgerlich-gelehrten Tradition der Aufklärung vorbestimmt ist. In der Italienischen Reise zeigt sich, welche Zugangsmöglichkeiten Goethe dann zehn Jahre später, als er tatsächlich nach Italien aufbricht, zur Antike sucht, ob und wie es ihm gelingt, „an Ort und Stelle“ (DuW IV, S.851) historische Einsichten zu gewinnen – oder genauer: wie er diese Suche nach einer „Wiedergeburt“ im autobiographischen Rückblick darstellt. Zunächst einmal – zumindest bis Ende des ersten RomAufenthalts – sieht es so aus, als setze das erzählte Ich tatsächlich das Programm um, das der Vater bereits 1776 für ihn entworfen hatte. Das erklärte Ziel seiner Reise ist Rom, so schnell wie möglich reist es über die Alpen und durch Oberitalien. Ebenso beginnt es in Rom mit dem Studium der Altertümer: „Ich bin nicht hier um nach meiner Art zu genießen; befleißigen will ich mich der großen Gegenstände, lernen und mich ausbilden, ehe ich vierzig Jahr alt werde“ (IR, S.145). Auf der einen Seite scheint der Reisende in Rom tatsächlich zunächst ganz traditionell zu studieren. In der Italienischen Reise nennt er die Werke, die er dabei zur Hand nimmt – Volkmann, Winckelmann, Archenholtz und andere mehr –, und zollt so eben dieser gelehrten Tradition seinen Tribut, wenn er etwa bemerkt, dass man anders bei der Betrachtung der Kunstschätze Roms nichts lernen könne, „als daß man es geduldig wirken und wachsen lässt, und auch fleißig auf das merkt, was andere zu unsern Gunsten gearbeitet haben“ (IR, S.157), zwischenzeitlich an den „römischen Altertümer[n]“ (ebd.) Gefallen findet, an „Geschichte, Inschriften, Münzen, von denen ich sonst nichts wissen mochte“ (IR, S.158). Auf der anderen Seite finden sich hier schon kritisch-skeptische Untertöne, die sich auf die Art beziehen, wie sich eigentlich historische Erkenntnis erlangen lässt: Vehement abgelehnt wird in diesem Zusammenhang Archenholtz‘ Reisebeschreibung: Wie so ein Geschreibe am Ort selbst zusammenschrumpft, eben als wenn man das Büchlein auf Kohlen legte, daß es nach und nach braun und schwarz würde, die Blätter sich krümmten und in Rauch aufgingen. Freilich hat er die Sachen gesehen; aber, um eine großtuige, verachtende Manier gelten zu machen, besitzt er viel zu wenig Kenntnisse und stolpert lobend und tadelnd (IR, S.155).
Sogar der so geschätzte Winckelmann wird mit beinahe ironisch klingenden Attributen belegt, wenn es ihm „auch so deutsch Ernst um das Gründliche und Sichre der Altertümer und der Kunst“ (IR, S.159) gewesen sei. An Stelle der ‚deutsch ernsten‘, gründlich-genauen Kunstbetrachtungen, die alles in seine Einzelheiten zerlegen, setzt der Autobiograph schon im Bezug auf seine ersten Monate in Rom seine eigene Herangehensweise: Eine herausgehobene Bedeutung kommt immer 259
mehr der eigenen Anschauung zu. Nicht die Lektüre kunsthistorischer Abhandlungen, sondern das Sehen mit eigenen Augen bildet die notwendige Voraussetzung für die „Wiedergeburt“. Diese ist vor allem als Loslösung von derjenigen Tradition zu verstehen, die historische Erkenntnis über das Studium gelehrter Abhandlungen und kleinster Einzelheiten, ja fragmentarischer und so gestaltloser ‚Trümmer‘255 zu erlangen versucht. „[M]an hat außer Rom keinen Begriff, wie man hier geschult wird. Man muß, so zu sagen, wiedergeboren werden, und man sieht auf seine vorigen Begriffe, wie auf Kinderschuhe zurück“ (ebd.). Dass in diesem Sinne bereits während der ersten Monate in Rom der Grundstein dafür gelegt wird, sich mehr und mehr von der Tradition der aufgeklärt-bürgerlichen Bildungsreise zu lösen und schließlich dann im Rückblick der Italienischen Reise ganz selbstbewusst einen neuen Zugang zur antiken Geschichte zu behaupten, demonstriert im Ansatz schon die Entscheidung, die Reiseroute weiter nach Süden auszudehnen: Stand etwa Neapel gerade noch im Horizont der Reisenden des 18. Jahrhunderts – auch Goethes Vater hatte die Stadt besucht –, so markierte die Stadt in jedem Fall den Endpunkt der Reise, von dem aus der Rückweg nach Norden angetreten wurde. Dass Goethe sich überhaupt dazu aufmacht, die – damals nicht ungefährliche – Überfahrt nach Sizilien anzutreten, ist daher als Traditionsbruch zu werten. Dass er darüber hinaus den „Schlüssel“ (IR, S.271) seiner Italienerfahrung explizit auf Sizilien verortet und entsprechend die „paradiesische[…] Natur“, „Freiheit und Lust“ (IR, S.187) des Südens gegen „das S t u d i u m der Kunst“ „im ernsten Rom“ (ebd.; Hervorhebung WH) setzt, deutet darauf hin, dass womöglich insbesondere aus der autobiographischen Darstellung des südlichen Abschnitts der Italienreise wichtige Rückschlüsse darauf möglich sind, w i e sich Goethe Geschichtliches erschließt. Tatsächlich werden im weiteren Verlauf der Italienischen Reise immer wieder die Zugangsmöglichkeiten zu Geschichte gezielt aufgegriffen, die in Dichtung und Wahrheit bei der enttäuschenden Besichtigung des Konklave im Frankfurter Dom schon auf den kleinen Jungen projiziert werden. Geschichte erschließt sich im autobiographischen Rückblick _____________ 255
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Verwiesen sei hier neben dem bereits erwähnten Aufsatz von Barner, Die Trümmer der Geschichte, der Goethes – schwieriges – Verhältnis zu ‚Trümmern’ in den Blick nimmt, auch auf Katharina Grätz, „Erhabne Trümmer“. Zur kulturpoetischen Funktion der Ruine bei Goethe. In: „… auf klassischem Boden begeistert“. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. Festschrift für Jochen Schmidt zum 65. Geburtstag, hg. von Olaf Hildebrand und Thomas Pittrof, Freiburg im Breisgau 2004, S.145–169. Grätz’ Arbeit geht dabei allerdings mehr auf den Stellenwert von ‚Trümmern’ in Goethes literarischen Werken als in seinen autobiographischen Texten ein.
für den siebenjährigen wie für den 38jährigen Goethe eben nicht über historische Relikte – weder über den „mit Balken, Stangen, Gerüsten und anderem solchen Gesperr, das man bei Seite setzen wollte, verunstaltet[en]“ (DuW I, S.27) Raum, in dem die Könige des Deutschen Reiches gewählt wurden, noch über die (zu Goethes Gegenwart) halb verschütteten Trümmer des Forum Romanum oder des Kolosseum. Wie historische Imagination aber gelingen kann, zeigt sich besonders deutlich auf Sizilien, wenn nämlich auf der einen Seite im weitesten Sinne ‚Atmosphärisches’, auf der anderen Seite ‚Erzähltes’ eine herausgehobene Rolle einnimmt. Das ‚Atmosphärische’ ist in Sizilien v.a. die Landschaft und die üppige Vegetation, in denen Goethe die Antike gegenwärtig wird. Schon in den Briefen aus Italien fällt in diesem Zusammenhang die Fokussierung des ‚Himmels’ auf: „Unter diesem Himmel kann man die schönsten Beobachtungen machen”,256 wird im Kontext der Entdeckung der „Urpflanze“ bemerkt, in anderen Aufzeichnungen dieses Zeitraums finden sich wiederholt ähnliche Bemerkungen, so zum Beispiel im Brief an den Herzog, dem er schreibt, dass man in Neapel „unter dem schönsten Himmel von den manigfaltig zubereiteten Ergötzlichkeiten sein Teil wegnehmen [könne ]”.257 Neben der südlichen Landschaft und Vegetation wird also immer wieder auf die Bedeutung des südlichen ‚Himmels’ hingewiesen – eine Tendenz, die in der späteren Redaktion der Italienischen Reise verstärkt wird. Goethe verwendet das Wort hier im antiken Sprachgebrauch – lateinisch caelum umfasst im weiteren Sinne noch die Bedeutung von ‚Klima’ und ‚Wetter’ –, und spielt damit auf die im 18. Jahrhundert – gerade von Herder – vertretene Klimatheorie an. Vor allem Goethes ethnologisches Interesse, die Beobachtung des italienischen Volkes, die im Neapel-Teil einen breiten Raum einnimmt,258 fokussiert so immer die Beeinflussung des südlichen Volkes _____________ 256 257 258
FA II/3, S.305: Brief an Charlotte von Stein, 08. 06. 1787. FA II/3, S.298: Brief an Herzog Carl August, 27.–29. 05. 1787. Zu Goethes sozialen Erkundungen in Neapel und Sizilien vgl. ausführlich – auch in Verbindung mit seinem politischen Interesse – den bereits erwähnten Aufsatz Ross, Filangieri, Cagliostro und das römische Carneval, und Hans-Georg Werner, Goethes Reise durch Italien als soziale Erkundung. In: GJb 105 (1988), S.32–36. Im Rahmen dieser Arbeit kann auf Goethes Wahrnehmung und Darstellung des italienischen Volkes nicht näher eingegangen werden, obwohl diese gerade vor dem Hintergrund nationaler Imagologie interessant wären (dabei könnte etwa gefragt werden, ob und inwiefern auch Goethes Sichtweise des italienischen Volkes traditionellen und im 18. Jahrhundert (noch) weit verbreiteten Heterostereotypen verhaftet ist). Anzumerken ist nur, dass von einer Verdrängung sämtlicher sinnlicher Eindrücke, wie sie Breuer in seiner sehr schematisch polarisierenden Gegenüberstellung von Heinses und Goethes Italienwahrnehmungen Goethe unterstellt, dem es in Italien ausschließlich um die „objektivierende[…]
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durch das günstige Klima. Dieses markiere einen wesentlichen Unterschied zum Leben der „Cimmerier” (IR, S.51) – der Autobiograph greift hier den Begriff auf, mit dem in der Odyssee das nördlichste, im Nebel lebende Volk bezeichnet wird – und habe nicht zuletzt die großen Leistungen der Griechen und Römer in der Kunst begünstigt. Über den Himmel wird dem Ich die Antike ‚begreifbar’: Bei aller ‚Trümmerhaftigkeit’ der Überlieferung auch in Italien, aller ‚diversitas temporum’, aller Strittigkeit der ‚Kluft’ zwischen Altertum und Moderne - der südliche Himmel ist für Goethe noch derjenige der Alten, ob nun der Römer oder der Griechen. Seine Physikalität in ihrer prägenden Wirkung auf das Leben der Menschen – und hier ist das Thema ‚Sozialerkundung’ in der ‚Italienischen Reise’ kaum abtrennbar – ist identische ‚Natur’. Insofern sie wirkt, ist in Italien Altertum anwesend.259
Womöglich genauer zu spezifizieren, wenn nicht zu korrigieren bleibt vor diesem Hintergrund die Interpretationstendenz, das Interesse an der Natur, das sich im Sizilienteil vor allem manifestiere, gegen das entsprechend dieser Deutungslinie untergeordnete, wenn nicht gar überhaupt nicht vorhandene Interesse an Historischem auszuspielen. Ross etwa weist im Sizilienteil der Italienischen Reise eine „ahistorische, gelegentlich antihistorische Tendenz“260 nach. Er geht dabei von der Schilderung des Aufenthalts im Oretotal bei Palermo aus, einem „fruchtreiche[n] und angenehme[n] Tal, welches die südlichen Berge herab an Palermo vorbeizieht, durchschlängelt von dem Fluß Orete“ (IR, S.250), welches das erzählte Ich an einem Frühlingsnachmittag besucht. Das „Gefühl eines belebenden Friedens“ (ebd.), das sich dort einstellt, verkümmerte […ihm] der ungeschickte Führer durch seine Gelehrsamkeit […], umständlich erzählend, wie Hannibal hier vormals eine Schlacht geliefert und was für ungeheure Kriegstaten an dieser Stelle geschehen (ebd.)261
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Kunstbegegnung” (Dieter Breuer, Sinnenlust und Entsagung. Goethes Versuche, Heinses Italiendarstellung zu korrigieren. In: Italienische Reise. Reisen nach Italien, hg. von Italo Michele Battafarano, Gardolo di Trento 1988, S.153–175, hier S.157) gegangen sei, gerade in bezug auf Neapel keine Rede sein kann – nimmt Goethe hier doch regen Anteil am Leben und auch an den sinnlichen Genüssen des italienischen VolkeS. Wilfried Barner, Altertum, Überlieferung, Natur. Über Klassizität und autobiographische Konstruktion in Goethes „Italienischer Reise“. In: GJb 105 (1988), S.64–92, hier S.76. Werner Ross, Von der Hinfälligkeit der Geschichte. Über eine Stelle aus der „Italienischen Reise“. In: Bibliothekswelt und Kulturgeschichte. Eine internationale Festgabe für Joachim Wieder, hg. von Peter Schweigler, München 1977, S.99–102, hier S.101. Gemeint sein muss die Schlacht bei Panormus im Jahr 251 v. Chr., in der Caecilius Metellus den karthagischen Feldherrn Hasdrubal (nicht Hannibal!) schlug.
seien. Dabei vernachlässigt Ross’ so sicherlich zu radikaler Befund, dass das erzählende Ich sich in eben diesem Abschnitt zum 4. April 1787 sehr wohl dezidiert kritisch gegenüber den Ausführungen des Fremdenführers äußert und zwar vor allem, was dessen Interesse und Herangehensweise an geschichtliche Phänomene betrifft. Das, was der Autobiograph hier ablehnt, ist aber nicht die Vergangenheit oder Historisches per se, sondern zum einen die „Gelehrsamkeit“, das „umständlich[e]“ Anhäufen von Daten- und Faktenwissen, zum anderen die spezifisch ‚unorganische‘ Stoßrichtung eben dieses historiographischen Interesses, das Militärgeschichtliches und damit Krieg und Zerstörung fokussiert. Nicht eine jede, sondern „eine s o l c h e […] Vermischung des Vergangenen und des Gegenwärtigen“ (IR, S.251), die wegen der Evokation längst vergangener Schlachten „das Gefühl eines belebenden Friedens“ (IR, S.250) stört, das sich bei dem erzählten Ich durch „[d]ie schönste Frühlingswitterung und eine hervorquellende Fruchtbarkeit“ in dem so „fruchtreiche[n] und angenehme[n] Tal“ (ebd.) einstellt. Dass allerdings der spezifisch Goethesche „Schlüssel zu Allem“ (IR, S.271), der den Zugang zur Geschichte über ‚Ganzheitliches’, Atmosphärisches, die Zeiten Überdauerndes und gerade nicht über Zerstörendes wählt, ist für jemanden, der sich im 18. Jahrhundert professionell – wenigstens als Fremdenführer – mit ‚Historie’ beschäftigt, sicherlich noch weniger nachvollziehbar als für diejenigen heutigen Leser, die in der Italienischen Reise ein generelles Desinteresse an Geschichte figuriert sehen. Die Reaktion des erzählte Ichs ist im Zeitkontext – Goethe war 1787 auf Sizilien – so ungewöhnlich und erscheint seinem Begleiter höchst „wunderlich[…]“ (IR, S.251), dass jeder Versuch, ihm diese zu erklären, von vornherein als hoffnungslos ausgewiesen wird. Dies arbeitet der Autobiograph mehrfach deutlich heraus: Der Führer „verwunderte sich sehr, daß ich das klassische Andenken an so einer Stelle verschmähte“ (ebd.) und als das Ich im Fluss „nach Steinchen suchte“, konnte es ihm abermals nicht erklären, daß man sich von einer gebirgigen Gegend nicht schneller einen Begriff machen kann, als wenn man die Gesteinarten untersucht die in den Bächen herabgeschoben werden (ebd.).
Ganz offensichtlich treffen hier zwei ‚Typen’ aufeinander, deren Annäherungsweisen an Geschichte unterschiedlicher kaum sein könnten und die gegenseitig wenig Verständnis füreinander aufbringen können: Auf der einen Seite steht der rein rational-analytisch vorgehende Aufklärungshistoriker, der sein historisches Wissen aus Überlieferung und intensivem Quellenstudium bezieht und der selbst inmitten der wunderschönen Natur keinen Blick hat für diesen lebendigen Ort. Er ist für 263
ihn lediglich als der Ort interessant, an dem vor Jahrtausenden eine wichtige Schlacht stattgefunden hat, deren Bedeutung es durch „klassische[s] Andenken an so einer Stelle“ (ebd.) zu würdigen gelte. Eben diese Formulierung greift das Ich wieder auf, indem es auf der anderen Seite beim Steinchensammeln im Fluss anführt, „daß hier auch die Aufgabe sei, durch Trümmer sich eine Vorstellung von jenen ewig klassischen Höhen des Erdaltertums zu verschaffen“ (ebd.) und damit den Blick auf ‚Ewiges’, gerade nicht durch Krieg oder sonstige vom Menschen verursachte Gewalteinwirkung Zerstörbares262 lenkt und deswegen erst recht ‚klassisch’ sei. Der Fremdenführer versteht diese Anspielung freilich nicht und wird den Reisenden vermutlich als einen Ignoranten in Erinnerung behalten, der lieber Steine sammele und Pflanzen bestaune, die es auch an einem beliebigen anderen Ort zu finden und zu betrachten gebe, anstatt sich für die historische Bedeutung eben dieses Schauplatzes zu interessieren. Er verkennt dabei, dass er hier jemandem begegnet, der sich keinesfalls an der Beschäftigung mit Geschichte generell stört, sondern der ganz konkret d i e s e Herangehensweise – über ‚trockene’ Überlieferung von Daten und Fakten – und ebenso d i e s e n Fokus – auf Krieg und Zerstörung – ablehnt und sich historischen Phänomenen lediglich mit einem neuen „Schlüssel“ nähert: Die Beschäftigung mit der Natur, die Beobachtungen zur Geologie, zu Landschaft, Vegetation und zum Klima, die im Abschnitt über den Besuch im Oreto-Tal begegnen, wie – in vielen anderen dem Sizilien-Aufenthalt gewidmeten Passagen – zur Mentalität der Bevölkerung, sind dabei als der spezifisch auf das Ich projizierte Zugang zur Geschichte zu verstehen, mit dem es sich im autobiographischen Rückblick nicht zuletzt von der Tradition der gelehrten, gerade auf ‚Antiquarisches’ fixierten Italienreisenden und von der Historiographie seiner Zeit abzusetzen versucht.263 Nur so – als gezielter Bruch mit der historiographisch-aufgeklärten Tradition und als selbstbewusste Behauptung eines neuen Zugangs zur _____________ 262
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„Es sei schlimm genug, meinte ich, daß von Zeit zu Zeit die Saaten, wo nicht immer von Elephanten doch von Pferden und Menschen zerstampft werden müßten. Man solle wenigstens die Einbildungskraft nicht mit solchem Nachgetümmel aus ihrem friedlichen Träume aufschrecken“ (IR, S.250f.). Diese Abkehr von der „traditionelle[n] Erfahrungsform der auf Vorbilder, Wissen und Zweck ausgerichteten Bildungsreise“ (Friedmar Apel, Aufmerksamkeit ist Leben. Goethes „Italienische Reise“ als Sehprojekt. In: Literatur ohne Kompromisse. ein buch für jörg drews, hg. von Sabine Kyora, Axel Dunker und Dirk Sangmeister, Bielefeld 2004, S.141– 149, hier S.144) betont auch Friedmar Apel, der im Übrigen auch die herausgehobene Rolle des Sizilien-Abschnitts für Goethes Italienische Reise betont, die Apel als „Sehprojekt“ deutet.
Geschichte – gewinnt die ungewöhnliche sizilianische Reiseroute einen Sinn, die im Großen das widerspiegelt, was das autobiographische Ich im Kleinen anhand seiner Darstellung der ‚Besichtigung’ des OretoTals demonstriert. Nach der Besichtigung der griechischen Tempel in Agrigent wird nicht etwa – wie zu erwarten – der Weg entlang der Küste eingeschlagen, der über die ehemalige griechische Kolonie Syrakus geführt und so die Besichtigung des größten griechischen Theaters der Antike ermöglicht hätte, sondern wieder wird die Einmaligkeit des Landschaftserlebnisses, das die Reise durch das Landesinnere über Enna und Caltanisetta nach Catania verspricht, der traditionellen Route vorgezogen, weil eben diese Landschaft es ist, in der die „Antike nicht als Geschichte, sondern als ‚klassische[…] Gegenwart’“264 erfahrbar wird. Auf der Fahrt durch das Landesinnere gewinnt das erzählte Ich einen „anschauliche[n…] Begriff“ davon, warum Sizilien als „Kornkammer“ des römischen Reiches gepriesen wurde und „Ceres dieses Land so vorzüglich begünstigt“ (IR, S.301) habe. Der zweite Faktor, der dem Ich einen Zugang zur Geschichte eröffnet und der bereits im Zusammenhang mit dem Konklave-Erlebnis des kleinen Jungen in Frankfurt anklingt, dem die Krönungszeremonien erst durch bis ins „Märchenhafte“ (DuW I, S.26) ausgeschmückte, lebendige und fesselnde Erzählungen interessant wurden, kommt nun ganz deutlich zum Zuge: Eben diese im Ersten Buch von Dichtung und Wahrheit nur angedeuteten poetischen Erzählverfahren, die sich bei der Darstellung von Geschichte von den Erzählmethoden der an ‚trockenen’ Daten und Fakten orientierten Aufklärungshistorie abgrenzen, nehmen bei der Erschließung der griechischen Antike auf Sizilien ganz explizit eine zentrale Stellung ein. Die ganze Insel wird als „Homersche[…] Landschaft“265 erlebt und es sind nicht etwa (kunst-)geschichtliche Abhandlungen, die das Ich auf Sizilien studiert, sondern die Odyssee und damit ein poetischer Text, der ihm zum einen einen „Schlüssel“ zur Geschichte liefert – und zwar gerade in Verknüpfung mit dem Landschaftserlebnis, wegen der Möglichkeit, diesen – griechischen – _____________ 264 265
Ross, Von der Hinfälligkeit der Geschichte, S.101. Horst Althaus, Goethes „Römisches Sehen”. In: Althaus, Ästhetik, Ökonomie und Gesellschaft, Bern und München 1971, S.142–162, hier S.153. Einen informativen Überblick über Goethes lebenslange Auseinandersetzung mit Homer, der „unter allen antiken Dichtern derjenige [war], mit dem Goethe am engsten vertraut war und mit dem er sich – als Schriftsteller, als Theoretiker und als Literarhistoriker – am intensivsten beschäftigt hat“ bietet der Aufsatz von Riedel: Volker Riedel, Goethe und Homer. In: Riedel, Aufsätze und Vorträge zur literarischen Antikerezeption II, Jena 2002, S.123–143, S.274–281 (Jenaer Studien. Bd. 5), hier S.123. Auf die sizilianische Homer-Rezeption geht Riedel allerdings nur knapp ein (vgl. Riedel, Goethe und Homer, S.127–129).
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Text in einer Umgebung zu lesen, in der die Welt des Altertums durch die die Zeiten überdauernde Natur noch ‚gegenwärtig’ ist.266 Zum anderen befördert die intensiv erlebte sizilianische Homer-Rezeption in der autobiographischen Darstellung die Goethesche „Wiedergeburt“ als Dichter, der sich – inspiriert von der Atmosphäre Großgriechenlands – gerade hier an die Ausarbeitung eines neuen literarischen Projekts macht, nachdem die schriftstellerische Produktion lange ins Stocken geraten war. In einem öffentlichen Garten in Palermo, den das erzählende Ich als den „wunderbarste[n] Ort von der Welt“ (IR, S.258) preist und bemerkt, dass er geradezu „feenhaft“ (ebd.) sei, reift die Idee, „einen Homer zu kaufen“ (IR, S.259), der fortan in Sizilien seine beständige Reiselektüre bleibt: „Aber der Eindruck jenes Wundergartens war mir zu tief geblieben; die schwärzlichen Wellen am nördlichen Horizonte, ihr Anstreben an die Buchtkrümmungen, selbst der eigene Geruch des dünstenden Meeres, das alles rief mir die Insel der seligen Phäaken in die Sinne so wie ins Gedächtnis“ (ebd.). Bemerkenswert ist dabei die Herangehensweise, die im genau umgekehrten Verhältnis zu derjenigen des gelehrten Fremdenführers im Oreto-Tal steht: Während dieser an einem historisch verbürgten Kriegsschauplatz ein ‚gespenstisches’ Andenken an vergangene Zeiten heraufbeschwören will, gelingt es dem Reisenden, sich mit angenehmen Empfindungen „ins Altertum“ zu „versetz[en…]“ (IR, S.258). Ihm reicht dazu allein die natürliche Atmosphäre eines Gartens, der doch „vor nicht gar langer Zeit gepflanzt“ (ebd.) wurde, also keineswegs historische Authentizität beanspruchen kann, ihm dafür aber – mit dem Umweg über die HomerLektüre – eine doppelte Brücke bietet: zur griechischen Antike einerseits und zu neuer dichterischer Inspiration andererseits. Im Folgenden durchdringen sich unter dem Eindruck der OdysseeLektüre fortwährend Passagen, in denen – ähnlich wie in der eben zitierten – Landschaftsbeschreibungen im engeren und Atmosphärisches im weiteren Sinne mit Bezügen zur griechischen Mythologie unterlegt werden. Immer wieder wird unter dem Eindruck der Reise durch das fruchtbare Landesinnere an Ceres gedacht,267 hinzu kommen Anspielungen auf die Gefahren von Skylla und Charybdis, auf Kyklopen und _____________ 266
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Auch Jutta Linder kommt in ihrem Aufsatz zu dem Ergebnis, dass es „das Lebendige [ist], was im Hinblick auf die Natur die Inselerfahrung zu einem Hellaserlebnis werden ließ“. Ganz im Gegensatz dazu habe ihm „der Eindruck des Toten […] im Falle der griechischen Überreste den Zugang zu den Dingen verperrt“ (Jutta Linder, Totes und LebendigeS.Zu Goethes Begegnung mit der griechischen Antike in Sizilien. In: GJb 120 (2003), S.87–99, hier S.99). Vgl. z.B. die entsprechenden Passagen IR, S.299, 301, 304.
Sirenen,268 die „homerischen Schreckbilder“ (IR, S.310) scheinen in dieser Atmosphäre, die wie in der Odyssee auch anti-idyllische Züge aufweist, noch präsent zu sein. Diese Eindrücke – die Vergegenwärtigung von Geschichte durch lebendige Natur und Atmosphärisches wie durch poetische und so noch auf eine zweite Art ‚lebendige’ Darstellung – sind es, die Goethes historische Imagination anregen und sein Interesse an Geschichte befördern. Dass dieses Interesse an der Geschichte jedoch nie Selbstzweck bleibt, muss dabei freilich betont werden – und womöglich ist zumindest in diesem Sinne an Ross’ Diagnose einer „ahistorischen“ oder zuweilen gar „antihistorischen“ Tendenz in der Italienischen Reise festzuhalten, die in dieser Hinsicht repräsentativ ist für die Gesamtheit von Goethes Autobiographischen Schriften. Auf Sizilien kommt ganz explizit ein zweites Moment hinzu, das Historischem eine ganz individuelle, auf die eigene Person bezogene Bedeutung zumisst, indem nämlich die Odyssee und die „lebendige Umgebung“ (IR, S.320) nicht nur Vergangenes gegenwärtig machen – und in dieser Funktion untrennbar miteinander verschränkt sind –, sondern das Ich darüber hinaus zu eigener Produktion anregen. Aufschlussreich ist dazu der Abschnitt, der als einziger im Sizilienteil der Italienischen Reise explizit „Aus der Erinnerung“ eingefügt ist und so eine herausgehobene Stellung einnimmt, sollte dieses doch für den Leser als Signal zu verstehen sein, dass hier nun – mehr als in den Passagen, die sich durch die Angabe von Ort und Datum als redigierte Originaldokumente ausgeben – der alte Goethe spricht, der im autobiographischen Rückblick die Bedeutung des Italien-Aufenthalts für seine Entwicklung als Mensch und als Künstler herausarbeitet.269 Goethe stellt hier seinen auf der Fahrt durch Sizilien gereiften Plan dar, „eine dramatische Konzentration der Odyssee“ (IR, S.319) auszuarbeiten, sodass schließlich die gelungene Imagination der griechischen Welt in einer produktiven Anverwandlung eines antiken Sujets resultiert. Er greift in seiner Fragment gebliebenen _____________ 268
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Im Abschnitt über den 30. April 1787 berichtet das erzählende Ich von einer Übernachtung in einer Herberge zwischen Enna und Catania, in der ihm eine Inschrift an der Wand auffällt: „Reisende, wer ihr auch seid, hütet euch in Catania vor dem Wirtshause zum goldenen Löwen; es ist schlimmer als wenn ihr Cyklopen, Syrenen und Scyllen zugleich in die Klauen fielet“ (IR, S.308). Auch werden z.B. die sieben Scogli dei Ciclopi, die sich bei Aci Castello, nördlich von Catania, befinden, als die „schroffen im Meere stehenden Felsen unter Jaci“ (IR, S.314; ähnlich dann IR, S.316) erwähnt und zu geologischen Studien verwendet – der Sage nach handelt es sich um die Felsen, die der geblendete Polyphem dem Odysseus nachwarf. Hier greift Goethe auf Textverfahren vor, die erst im „Zweiten Römischen Aufenthalt“ durchgängig die Komposition des Textes bestimmen.
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Tragödie auf eine in der Odyssee nur knapp ausgeführte Begegnung zwischen Odysseus und der phäakischen Königstochter Nausikaa zurück. Die bei Homer nur schemenhaft angedeutete Liebesgeschichte gestaltete Goethe in seiner Konzeption zu einer unglücklichen Liebe zwischen der Prinzessin und dem Fremden aus, welche die enttäuschte Nausikaa schließlich in den Selbstmord treiben sollte. Dass dieser poetischproduktive „Drang[…]“ erst „nach und nach aufleb[te...]“ (ebd.) und zum einen die „Klarheit des Himmels, der Hauch des Meeres, die Düfte, wodurch die Gebirge mit Himmel und Meer gleichsam in Ein Element aufgelöst wurden“ (IR, S.319f.), zum anderen die Homer-Lektüre in eben dieser „lebendige[n] Umgebung“ (IR, S.320) ihn überhaupt erst aufleben lassen habe, hebt das Ich deutlich hervor. Wichtig ist dabei, dass die Wiedererweckung der eigenen schöpferischen Kraft ein wichtiges Moment des sizilianischen „Schlüssel[s]“ darstellt. Als ein zentraler Motor für die ‚Flucht’ aus Weimar wird im autobiographischen Rückblick die zunehmende künstlerische Stagnation in den 1780er Jahren dargestellt und die Reise nach Italien gezielt mit der Hoffnung anvisiert, dort zu neuen literarischen Arbeiten angeregt zu werden. Bis es auf Sizilien gelingt, mit dem Plan der „Nausikaa“ als einer vollständig auf italienischem – genauer auf sizilianischem – Boden entstandenen Konzeption den Grundstein zu einem ganz neuen Werk zu legen, hat er zuvor in Rom und Norditalien lediglich bereits in Deutschland begonnene Werke weitergeführt oder für die geplante Herausgabe seiner Schriften bei Göschen überarbeitet, die dann 1789 erschienen.270 Entsprechend neu für ihn ist auch das Thema, dessen der Autor sich hier annimmt und sich „aus diesem Lokal eine Komposition [bildet...], in einem Sinne und in einem Ton, wie ich sie noch nicht hervorgebracht“ (IR, S.319) und sich dabei von der „gegenwärtige[n] herrliche[n] Umgebung“ (ebd.) wie von ihrer Vergangenheit inspirieren lässt: Und obwohl es sich mit der Odyssee um eine bereits vorgegebene Handlung _____________ 270
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Vgl. ausführlicher allgemein zu den literarischen Arbeiten Goethes in Italien: Robert Daube-Schackat,:Goethes literarisches Schaffen in Italien. In: Goethe in Italien. Eine Ausstellung des Goethe-Museums Düsseldorf, hg. von Jörn Göres, Mainz 1986, S.113–125. Gezielt dem „Nausikaa“-Fragment gewidmet sind wenige Aufsätze älteren Datums: Stuart Atkins, Goethe’s Nausicaa. A figure in fresco. In Studien zur Goethezeit. Festschrift für Erich Trunz, hg. von Hans-Joachim Mähl und Eberhard Mannack, Heidelberg 1981, S.33–44; David Constantine, Goethe in Homer’s world. In: Oxford German Studies 15 (1984), S.95–111; Alain Faure, La femme-île. La part de l’imaginaire dans la genèse du fragment dramatique de Goethe Nausikaa. In: Cahiers d’Études Germaniques 15 (1988), S.93–107; Dieter Lohmeier, Goethes Nausikaa-Fragment. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1974), S.1–16. Unklar ist in der Goethe-Forschung nach wie vor, warum Goethe die Ausarbeitung nicht vollendete, nachdem er der Italienischen Reise zufolge die „Nausikaa“Tragödie auf Sizilien mit so großer Begeisterung konzipiert hatte.
mit einer griechischen Sagenfigur als Helden handelt, die das erzählte Ich hier „als Tragödie […] behandeln“ (IR, S.320) will, so „war in dieser Komposition nichts was ich nicht aus eignen Erfahrungen nach der Natur hätte ausmalen können“ (IR, S.321). Selbst auf der Reise, selbst in Gefahr Neigungen zu erregen, die, wenn sie auch kein tragisches Ende nehmen, doch schmerzlich genug, gefährlich und schädlich werden können; selbst in dem Falle in einer so großen Entfernung von der Heimat abgelegne Gegenstände, Reiseabenteuer, Lebensvorfälle zu Unterhaltung der Gesellschaft mit lebhaften Farben auszumalen, von der Jugend für einen Halbgott, von gesetztern Personen für einen Aufschneider gehalten zu werden, manche unverdiente Gunst, manches unerwartete Hindernis zu erfahren; das alles gab mir ein solches Attachement an diesen Plan, an diesen Vorsatz, daß ich darüber meinen Aufenthalt zu Palermo, ja den größten Teil meiner übrigen sicilianischen Reise verträumte. Weshalb ich denn auch von allen Unbequemlichkeiten wenig empfand, da ich mich auf dem überklassischen Boden in einer poetischen Stimmung fühlte, in der ich das, was ich erfuhr, was ich sah, was ich bemerkte, was mir entgegen kam, alles auffassen und in einem erfreulichen Gefäß bewahren konnte (ebd.).
Das „Attachement an diesen Plan“ wird also nicht zuletzt dadurch befördert, dass sich der Autor mit seinem Helden ‚verwandt’ fühlt – und zwar ganz konkret durch die Erfahrungen während der Reise und durch den Eindruck der Nähe zu der antiken Welt, die auf dem „überklassischen Boden“ – in der immer noch lebendigen Atmosphäre der Magna Graecia – noch präsent erscheint. Um allerdings Goethes ungeliebtem, weil von der Historie um der Historie willen begeisterten Führer im Oreto-Tal wie den Deutungsansätzen in der Forschung, die der Italienischen Reise einen dezidiert antihistorischen Impetus zuschreiben, etwas entgegenzusetzen, darf nicht vergessen werden, dass Goethe sich – auch im autobiographischen Rückblick – trotz allen dominierenden Interesses für Atmosphärisches keineswegs einer Auseinandersetzung mit historischen Relikten, wie sie der traditionelle Bildungsreisende der Aufklärung unternommen hätte, gänzlich verschließt. Wie schon der Begriff des „überklassischen Boden[s]“ (IR, S.321) andeutet, gilt sein Interesse jedoch hier – anders als in Norditalien – gezielt den Überresten Siziliens als griechischer Kolonie.271 Dass es ihm dabei zwar Mühe macht, sich aus den Trümmern _____________ 271
Der herausgehobene Stellenwert alles ‚Griechischen’ (vor dem ‚Römischen’), der für Goethes Interesse an der Antike auf Sizilien kennzeichnend ist, betont auch Volker Riedel in seinem Aufsatz, in dem er einen groben Überblick über „Goethes Beziehung zur Antike“ während seines gesamten Lebens bzw. in seinem Gesamtwerk gibt: Vgl. Volker Riedel, Goethes Beziehung zur Antike. In: Riedel, Aufsätze und Vorträge zur literarischen Antikerezeption II, Jena 2002, S.63–89, S.259–261 (Jenaer Studien. Bd. 5), zur Reise nach Italien besonders S.69–71.
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und Ruinen ein Bild von der Vergangenheit zu machen und es immer wieder des unterstützenden „Schlüssel[s]“ über die Landschaft bedarf, in die diese historischen Überreste eingebettet sind – besonders deutlich z.B. bei der Besichtigung des griechischen Theaters in Taormina272 – bedeutet dennoch nicht, dass diese Mühe gänzlich ertraglos bliebe. Sehr wohl erschließt sich ihm die griechische Geschichte, v.a. aber die Architektur der griechischen Tempel vorklassischer Zeit. Initiiert wird dieser Prozess bereits vor Goethes Überfahrt nach Sizilien bei seinem Besuch in Paestum von Neapel aus. Auf den ersten Blick wirkt die dorische Bauart der „stumpfen, kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen lästig ja furchtbar“ (IR, S.237), zumal „unsere Augen und durch sie unser ganzes inneres Wesen an schlankere Baukunst“ (IR, S.236f.) gewöhnt seien – gerade nach den Eindrücken des Minerva-Tempels in Assisi, der Tempelbauten auf dem Forum oder der Börse in Rom als die römisch-antiken Bauwerke vorwiegend ionischen Stils aus klassischer Zeit, die Goethe bislang in Italien gesehen hat. Am Ende des Tages, nachdem das erzählte Ich sich „um sie her, durch sie durch bewegt“ (IR, S.237) hat, sich ihnen also von allen Seiten genähert und sie sich räumlich erschlossen hat, „erscheinen sie eleganter“ und man fühlt „das eigentliche Leben […] wieder aus ihnen heraus, welches der Baumeister beabsichtigte, ja hinein schuf“ (ebd.). Allerdings betont das Ich hier, dass es sich bei eben diesen Tempeln zu Paestum um „so wohl erhaltene[...] Reste“ (ebd.) handelt – und nicht etwa um gestaltlose Ruinen, um zerstörte ‚Trümmer’, von denen man sich kaum mehr vorstellen kann, wie sie ursprünglich einmal ‚ganz’ aussahen. Und hier knüpfen konsequent seine sizilianischen Begegnungen mit historischen Relikten an: Alles, was keine ganzheitliche Anschauung mehr ermöglicht, bietet Goethe keinen Zugang zur Geschichte, entbehrt deswegen für ihn jeglicher Funktion im historischen Erkenntnisprozess und die Beschäftigung wird als mühsame Arbeit empfunden, wo nicht ganz gemieden. So müssen – augenscheinlich als Pflichtprogramm – in Palermo „in einem unfreundlichen Lokal verschiedene Reste antiker, marmorner Statuen“ betrachtet werden, „die wir aber zu entziffern keine Geduld hatten“ (IR, S.285).273 Ähnlich aufschlussreich ist die _____________ 272
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Vgl. dazu den Absatz „Taormina, “ (IR, S.317f.), in dem das Theater, das besonders harmonisch in die Landschaft eingebettet ist, als „ungeheuerste[s] Natur- und Kunstwerk” gewürdigt wird. Helmut J. Schneider arbeitet in seinem Aufsatz heraus, dass Skulpturen Goethe durchaus einen Zugang zu einer „imaginär-körperhaften Erfahrung der Antike“ (Helmut J.Schneider, Rom als klassischer Kunstkörper. Zu einer Figur der Antikewahrnehmung von Winckelmann bis Goethe. In: Rom – Europa. Treffpunkt der Kulturen: 1780–1820, hg.
Darstellung des Besuchs der Ausgrabungen von Segesta, die dem 20. April 1787 zugeschrieben sind. Keineswegs kann hier davon die Rede sein, dass Goethe sich für Geschichte – hier genauer: für Kunstgeschichte – nicht interessiere, denn der griechische Tempel, dessen Vorzug wohl vor allem auch darin besteht, dass „die Steine in ihrer meist natürlichen Lage [liegen] und man […] keine Trümmer darunter“ (IR, S.289) findet, wird sehr detailliert beschrieben; der Reisende nimmt hier Literatur – „Riedesel“274 erwähnt er explizit – zu Hilfe, um sich besser orientieren zu können und dessen Darstellung mit seinen eigenen Beobachtungen zu vergleichen. Archäologisch vollkommen korrekt erkennt er dabei etwa, dass der Tempel nie fertig gestellt wurde; er liefert sehr genaue Beschreibungen der Säulen, des Fußbodens, des Stucks, der Außenanlage – natürlich auch der landschaftlichen Umgebung, in die der Tempel eingebettet ist – sowie der Restaurationsarbeiten, die 1781 vorgenommen wurden. Bemerkenswert ist dabei, dass – ganz anders als etwa die Ausführungen des Führers im Oreto-Tal – Werk und Person Riedesels, dessen „Büchlein“ das erzählte Ich bei der Besichtigung der Ausgrabungen von Agrigento wieder „wie ein Brevier oder Talisman am Busen“ (IR, S.297) trägt, ganz explizit geschätzt werden: Sehr gern habe ich mich immer in solchen Wesen bespiegelt, die das besitzen was mir abgeht und so ist es grade hier: ruhiger Vorsatz, Sicherheit des Zwecks, reinliche, schickliche Mittel, Vorbereitung und Kenntnis, inniges Verhältnis zu einem meisterhaft Belehrenden, zu Winckelmann; dies alles geht mir ab und alles übrige was daraus entspringt (ebd.).
Jemand, der sich – wie hier Riedesel oder eben Winckelmann, der im Gesamtwerk der Autobiographischen Schriften immer wieder als Vorbild genannt wird275 – wissenschaftlich mit Kunstgeschichte und Archäologie beschäftigt und dem es entsprechend gelingt, sich solche Vorkenntnisse und zielführende Methoden dazu zu erarbeiten, dass _____________
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von Paolo Chiarini und Walter Hinderer, Würzburg 2006, S.15–28, hier S.18) bieten; allerdings eben nur dann, wenn sie noch in ihrer ganzen Gestalt erhalten und nicht etwa – wie etwa die „verschiedene[n] Reste antiker, marmorner Statuen“ (IR, S.285) in Palermo – nur trümmerhaft die Zeiten überstanden haben, denn schließlich besitze „die klassische Statue“ für die Erschließung der Antike eine besondere Bedeutung, „insofern sie das unwiderruflich vergangene (und insofern abstrakte) historische Altertum gestalthaft vergegenwärtigte und dem reisenden Betrachter gewissermaßen körperlich einbildete“ (IR, S.285). Es handelt sich um Johann Hermann von Riedesels Reise durch Sizilien und Großgriechenland, die 1771 erschienen ist. Vgl. zu der ‚Spiegelfunktion’, die Winckelmann für Goethe einnimmt, ausführlicher das Kapitel 3.2 der vorliegenden Arbeit.
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sich ihm selbst ‚gestaltlose Trümmer’ zu einem zusammenhängenden Bild zusammenfügen und so einen Zugang zu historischer Erkenntnis bieten, wird also keineswegs kategorisch abgelehnt. Eingestanden wird nur, dass dem Ich selbst „während meines Lebens auf dem gewöhnlichen Wege versagt war“ (ebd.), diese Voraussetzungen zu erwerben. Er nutze daher nun zwar als „dankbarer Nachfahr“ die „Verdienste“ der ‚Experten’ auf diesem Gebiet und profitiere von ihren Erkenntnissen, „suche“ dabei jedoch selbst auf seinem individuellen Wege den „Schlüssel“ zur Geschichte „zu erschleichen, zu erstürmen, zu erlisten“ (ebd.). Dabei ist er auf die ganzheitliche Anschauung angewiesen und kann aus „Schutthaufen“, aus denen „[a]lles Gebildete […] verschwunden“ (IR, S.296) ist – so eine Bemerkung zum Jupitertempel in Agrigento, der fünf Tage nach dem Aufenthalt in Segesta besichtigt wird –, wenig gewinnbringende Erkenntnis ziehen. Die ausführlichen Beobachtungen zum Tempel in Segesta enden dann entsprechend mit der knappen Bemerkung: „Die Mühseligkeit in den unscheinbaren Trümmern eines Theaters herumzusteigen, benahm uns die Lust die Trümmer der Stadt zu besuchen“ (IR, S.290). ‚Trümmer’, die eine mühselige Rekonstruktionsarbeit erfordern, bieten Goethe keinen Zugang zu historischer Erkenntnis, eine noch beinahe authentisch erhaltene Tempelarchitektur, die eine sinnliche Vergegenwärtigung des ‚Ganzen’ ermöglicht, faszinieren ihn dagegen umso mehr und bieten ihm in Süditalien einen zentralen „Schlüssel“ zur griechischen Geschichte und Kultur.276 So steht am Ende des sizilianischen Schlüsselerlebnisses die selbstbewusste Abkehr von der Tradition – gerade, was den Umgang mit Geschichte und die Auseinandersetzung mit historischen Relikten anbelangt. Nach den zwar vor dem Hintergrund seiner Zeit ganz individuellen, dennoch durchaus erfolgreichen Versuchen, sich auf Sizilien einen Weg zum klassischen Altertum zu bahnen, der den Reisenden nicht über Syrakus, sondern über Enna führt und schon allein mit der Wahl dieser sehr ungewöhnlichen Reiseroute im Hinblick auf die Würdigung der Reisetradition eine Provokation darstellt, beginnt mit der Rückkehr nach Rom eine Existenz, die sich ganz deutlich von derjenigen der ersten Monate in Rom abhebt. Ein Leben als Künstler, der – initiiert von dem Homer-Erlebnis auf Sizilien – sich von einer Umgebung inspirieren lässt, in der vor allem dank der Atmosphäre, der Na_____________ 276
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Eine entsprechend polarisierende Gegenüberstellung der „unscheinbaren Trümmer[…]“ (IR, S.290) und der gut erhaltenen Tempelarchitektur, die Goethe begeistert, findet sich im Abschnitt über den Besuch der Ausgrabungen in Agrigento: Vgl. „Girgent, Mittwoch den 25. April 1787“ (IR, S.294–296).
tur, der Menschen und des immer noch gleichen Himmels das Altertum präsent, lebendig ist, wird im autobiographischen Rückblick des „Zweiten Römischen Aufenthalts“ als Ideal propagiert und immer wieder als eine Zeit erinnert, die einen Höhepunkt des eigenen Lebens ausgemacht habe. Eine produktive Anverwandlung der Antike, die als Klassik verstanden wird, die in die Gegenwart hineinreicht, gelingt: Das erzählte Ich nimmt seine literarischen Arbeiten wieder auf, versucht sich darüber hinaus als Künstler, nimmt Zeichenunterricht, interessiert sich für die Menschen und ihre Lebensart (vor allem, weil sie ihm Rückschlüsse auf Mentalität und Traditionen des Volks des Altertums ermöglichen),277 fährt immer wieder aus der Stadt in die römische Campagna hinaus, um dort die Landschaft zu genießen und zu zeichnen. Die traditionelle, an Daten und Fakten orientierte Historiographie, das mühsame Betrachten von vereinzelten, fragmentarisch erhaltenen Überresten aus der Antike, die mittels gelehrter Abhandlungen erschlossen werden müssen, spielen dagegen – anders noch als während des ersten Aufenthalts in Rom – keine Rolle mehr. 3.5.3
Dreifach präsentierte Zeitgeschichte: Kaiserwahl und -krönung Josephs II. im Fünften Buch von Dichtung und Wahrheit
„Der große Tag nahte heran; ich hatte mehr im Sinne, w i e ich es ihr sagen wollte, als w a s eigentlich zu sagen sei; ich verarbeitete alles was mir unter die Augen und unter die Kanzleifeder kam, nur geschwind zu diesem nächsten und einzigen Gebrauch“ (DuW I, S.215; Hervorhebungen WH). Die Rede ist hier von dem wohl bedeutendsten historischen Ereignis, dessen das erzählte Ich in Dichtung und Wahrheit Zeuge wird: der Krönung Joseph II. zum deutschen Kaiser im Jahre 1764. Die zitierte Formulierung betont den engen Zusammenhang zwischen dem Erleben von Geschichte und ihrer Dokumentation. ‚Sehen‘ – verstanden als (Zeit-)Zeugenschaft – und Schreiben von Geschichte sind hier offenbar untrennbar miteinander verbunden. Aufschlussreich für eben gerade die Frage, „w i e ich es ihr sagen wollte“, d.h. auf welche Weise Geschichte zunächst einmal in mündlichem Vortrag, dann vor allem aber auch in schriftlicher Form dargestellt werden kann, ist die Tatsache, dass das Fünfte Buch von Dichtung und Wahrheit drei Darstellungsebenen unterscheidet, in denen von den weltgeschichtlich bedeutsamen Ereignissen in Frankfurt berichtet wird: Erstens als die Aufsätze des _____________ 277
Vgl. dazu v.a. auch die Passage über das römische Karneval (IR, S.518–552).
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Vierzehnjährigen, die vom Vater und von Baron von Königsthal, der als Vertreter Nürnbergs bei der Kaiserwahl im Goetheschen Hause einquartiert ist, über die Ereignisse angefordert werden, „weil wir nicht nur gaffen, sondern alles wohl bemerken sollten“ (DuW I, S.200), zweitens als die Vorträge, mit denen das erzählte Ich Gretchen die Hintergründe und Zusammenhänge der gemeinsam in der Heimatstadt erlebten Wahl- und Krönungsfeierlichkeiten erläutert, und drittens integriert in die erzählerische Komposition des Fünften Buches von Dichtung und Wahrheit, in dem die zeitgeschichtlichen Ereignisse eng verknüpft sind mit der Gretchen-Handlung.278 Dabei liefern alle drei Darstellungsebenen Hinweise darauf, nach welchen Prinzipien Goethe Geschichte erzählt, Historiographie betreibt.279 Bei der ersten Ebene handelt es sich zunächst um eine reine Auftragsarbeit, die das Ich nur widerwillig beginnt. Der Vater, dem Erziehung und Bildung seines Sohnes wichtig sind, nutzt das „so höchst bedeutende[…] Ereignis“, das sich direkt vor der eigenen Haustür abspielt, als Lernangebot und in gelehrt-aufklärerischer Manier macht er sich noch am selben Tag, an dem bekannt wird, dass „der Erzherzog Joseph zum römischen König gewählt und gekrönt werden solle“ daran, gemeinsam mit seinem Sohn „die Wahl- und Krönungsdiarien der beiden letzten Krönungen […] durchzugehen, nicht weniger die letzten Wahlkapitulationen, um alsdann zu bemerken, was für neue Bedingun_____________ 278
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Auf die Gretchen-Episode wurde im Zusammenhang mit der Untersuchung der Geschichte des erzählten Ichs schon genauer eingegangen. Vgl. dazu ausführlich das Kapitel 3.3 dieser Arbeit. In diesem Sinne wird hier weniger ausführlich im Zentrum des Interesses stehen, w a s eigentlich in der Darstellung des Fünften Buches von den Krönungsfeierlichkeiten berichtet wird. Auch kann nicht untersucht werden, was davon wiederum im Einzelnen exakt der historischen Wirklichkeit entspricht und was womöglich, was einzelne Details anbelangt, davon abweicht. Verwiesen sei zu diesen Fragen auf die Untersuchungen von Buscot und Schieder: Gilles Buscot, Goethe, peintre et acteur de la fête princière. De l’objet décrit à la subjectivité de l’écriture dans Poésie et vérité. In: Jeux et fêtes dans l’œuvre de J.W. Goethe. Fest und Spiel im Werk Goethes, hg. von Denise Blondeau, Gilles Buscot und Christine Maillard, Strasbourg 2000, S.65–78; Theodor Schieder, Der junge Goethe im alten Reich. Historische Fragmente aus „Dichtung und Wahrheit“. In: Staat und Gesellschaft im Zeitalter Goethes. Festschrift für Hans Tümmler zu seinem 70. Geburtstag, hg. von Peter Berglar, Köln und Wien 1977, S.131–145. Insgesamt kommen beide zu dem Ergebnis, dass das, was Goethe im Fünften Buch von Dichtung und Wahrheit erwähnt und berichtet, tatsächlich auch einem Vergleich mit anderen – zeitgenössischen – Quellen standhält; Buscot formuliert in der „Conclusion“ seines Vergleichs der Krönungsdiarien mit der Darstellung in Dichtung und Wahrheit: „La confrontation du témoignage de Goethe sur les fêtes princières francfortoises avec celui d’une chronique officielle a montré que Goethe est un peintre fidèle et d’une exceptionnelle précision“ (Buscot, Goethe, peintre et acteur, S.76).
gen man im gegenwärtigen Falle hinzufügen werde“ (DuW I, S.196). Keinesfalls dürfe man die Krönung „unvorbereitet erwarten, und etwa nur gaffend und staunend an sich vorbei gehen lassen“ (ebd.), vielmehr geht es ihm, dem Juristen, darum, dass sein Sohn über das nötige Wissen verfügt, um genau und in allen Einzelheiten verstehen zu können, was sich vor seinen Augen vollzieht, und das Tagesgeschehen wiederum ins Verhältnis mit der Vergangenheit setzen und vergleichen zu können. Der junge Goethe hingegen empfindet – zumindest der autobiographischen Rückschau zufolge – das Studium der historischen Überlieferung als Belastung, als etwas, das seinen aktuellen Interessen im Wege steht, hat er doch eigentlich nur „das hübsche Mädchen“ – gemeint ist Gretchen – im Kopf, dessen Bekanntschaft er gerade gemacht hat und die „immer zwischen den höchsten Gegenständen des heiligen römischen Reichs hin und wider schwebte“ (ebd.). Vermutlich wird daher der Auftrag, „manchen kleinen Aufsatz“ über die Wahl- und Krönungsereignisse „auszufertigen“ (DuW I, S.200) und dazu ganz genau und auf jedes Detail aufzupassen, auf keine große Begeisterung gestoßen sein. Das erzählende Ich betont diese Ablehnung, macht dabei aber wieder deutlich, dass es ihm vor allem um die Art zu tun ist, die seiner Vorstellung von Geschichtsschreibung diametral entgegensteht – selbst wenn er den Auftrag hat, die historischen Ereignisse als Grundlage für eigenes Schreiben zu nutzen, was seiner Vorliebe für eigene schriftstellerische Produktion zumindest entgegenkommen dürfte. [… Ich konnte] mir ein geheimes Mißfallen nicht verbergen, wenn ich nun zu Hause die innern Verhandlungen zum Behuf meines Vaters abschreiben und dabei bemerken mußte, daß hier mehrere Gewalten einander gegenüber standen, die sich das Gleichgewicht hielten, und nur in sofern einig waren, als sie den neuen Regenten noch mehr als den alten zu beschränken gedachten; daß Jedermann sich nur in sofern seines Einflusses freute, als er seine Privilegien zu erhalten und zu erweitern, und seine Unabhängigkeit mehr zu sichern hoffte (DuW I, S.201).
Das, was dem Ich dann aber „manche Lust“ (ebd.) bei der Auseinandersetzung mit den Ereignissen bereitet, leitet sogleich zur zweiten Darstellungsebene über, zumal die Vorgänge an sich eigentlich dazu geeignet sind, sein historisches Interesse zu befördern, wird doch eingestanden, dass alles was vorging, es mochte sein von welcher Art es wollte, doch immer eine gewisse Deutung verbarg, irgend ein innres Verhältnis anzeigte, und solche symbolische Zeremonien das durch so viele Pergamente, Papiere und Bücher beinah verschüttete deutsche Reich wieder für einen Augenblick lebendig darstellten (ebd.).
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Mehr und mehr mit den Ereignissen und mit seiner Kanzlistenarbeit kann das erzählte Ich sich anfreunden, wenn es den Fokus auf die Lebendigkeit der Darstellung legt und darüber hinaus die zeremoniellen Aspekte, die Symbolik der Kaiserkrönung betont, die es nicht erst auf der dritten Ebene, dem autobiographischen Rückblick von Dichtung und Wahrheit, sondern bereits auf der zweiten Erzählebene der GretchenBelehrung als Deutungsmuster nutzt und so die Grenzen zwischen Historiographie und Literatur verschwimmen lässt: „Hätte man alle diese öffentlichen Feierlichkeiten von Anfang bis hieher als ein überlegtes Kunstwerk angesehen, so würde man nicht viel daran auszusetzen gefunden haben“ (DuW I, S.208). Aus dieser Perspektive nähert es sich im Folgenden den Ereignissen und aus dieser Perspektive erklärt es seiner jungen Begleiterin, was sich vor ihren Augen abspielt. Sie erhält dabei eine besondere Funktion, gibt sie doch ein wichtiges Publikum und damit das zentrale Movens dafür ab, dass sich das Ich dann nicht nur aus Pflichterfüllung gegenüber dem Vater und wegen der ihm gestellten Aufgabe, Aufsätze über das Miterlebte zu verfassen, mit den historisch-politischen Ereignissen auseinandersetzt. Schließlich stürzt sich das junge Ich geradezu mit Begeisterung in die Arbeit, alles mit offenen Augen wahrzunehmen, denn es hatte „keine Neigung als zu Gretchen, und keine andre Absicht als nur alles recht gut zu sehen und zu fassen, um es mit ihr wiederholen und ihr erklären zu können“ (DuW I, S.217). Es rückt dabei etwas in den Vordergrund, was in den vom Vater und Herrn von Königsthal geforderten Abhandlungen sekundär ist, wenn nicht sogar ganz vernachlässigt werden kann, war es ihnen doch wichtig, dass der Junge „den innern Gang der Dinge gewahr“ (ebd.) wurde, sie verstehen und erklären konnte. „[D]as Äußere der Gegenstände“ (ebd.) nämlich, das dann besonders auf der zweiten und dritten Darstellungsebene einen besonderen Stellenwert erhält und das das Ich sogar auf der ersten Ebene schon dazu nutzt, die Arbeiten für den Vater so zu gestalten, dass sie seinem Ideal einer anschaulichen, die Imagination des Lesers anregenden Geschichtsschreibung zumindest etwas mehr entsprechen: „Und wirklich gereichte mir dies zu besondrem Vorteil, indem ich über das Äußerliche so ziemlich ein l e b e n d i g e s Wahl- und Krönungsdiarium vorstellen konnte“ (DuW I, S.200, Hervorhebung WH).280 _____________ 280
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Eine ähnliche Formulierung begegnet später noch einmal: „Indessen betrieb ich meine Kanzelisten-Arbeit zu Hause sehr l e b h a f t […]“ (DuW I, S.203, Hervorhebung WH).
Auf der zweiten, der ‚Gretchen-Ebene‘ kann das Ich dann – losgelöst von den Vorgaben des Vaters – bei der erzählerischen Darstellung von Geschichte ganz so verfahren, wie es ihm beliebt. Vor allem kann es den ‚Erfolg‘ seiner Darbietung sogleich überprüfen, hat es doch mit Gretchen (und zum Teil auch mit den anderen Zuhörern der Gesellschaft um Pylades, mit denen er abends zusammensitzt) ein Publikum, das sofort und unverstellt Rückmeldung gibt und gegebenenfalls Beifall bekundet. Aufschlussreich ist zunächst, wie es überhaupt dazu kommt, dass das Ich die Rolle des Experten übernimmt, der die politischen Ereignisse erklären und historisch kontextualisieren kann. In der abendlichen Runde, in der jeder von den Krönungsfeierlichkeiten „etwas zu erzählen, zu sagen, zu bemerken [hatte]; wie denn dem einen dies, dem andern jenes am meisten aufgefallen war“ (DuW I, S.204), beklagt Gretchen, dass sie gerade diese – gänzlich unzusammenhängenden, einzelne Bruchstücke des Erlebten herausgreifenden – „Reden […] fast noch verworrner [machen] als die Begebenheiten dieser Tage selbst“ (DuW I, S.204f.). Ihr gelinge es nicht – weder vermittels eigener Anschauung, denn auch sie schaut ja den Ereignissen auf der Straße zu, noch vermittels dieser Art von Gesprächen ein kohärentes Bild von den Ereignissen und den historischen Hintergründen zu erlangen: „Was ich gesehen, kann ich nicht z u s a m m e n r e i m e n , und möchte von manchem gar zu gern wissen, wie es sich verhält“ (DuW I, S.205, Hervorhebung WH). Auffällig ist schon hier die Formulierung des ‚Zusammenreimens‘, lässt sie doch poetische Darstellungsverfahren assoziieren, die auf die Erzählung von Geschichte übertragen werden. Und gerade in diesem Kontext wittert und nutzt der junge Goethe der autobiographischen Darstellung zufolge seine Chance, die Angebetete zu beeindrucken: Zum einen orientiert er sich an ihren Bedürfnissen und fragt, was genau sie eigentlich interessiere, zum anderen erkennt er die Wichtigkeit, „in der Ordnung zu verfahren“ (ebd.), weit in die Geschichte zurückzugreifen, um ihr Zusammenhänge und Hintergründe des Gesehenen transparent zu machen. Vor allem aber gelingt es ihm, Gretchens „fortgesetzte Aufmerksamkeit“ (ebd.) auf sich zu ziehen, indem er hier explizit zwei Methoden nutzt, um seinen „Vortrag anschaulicher zu machen“ (ebd.). Neben dem Einsatz „des vorhandenen Griffels und der großen Schiefer-Platte“ (ebd.) zur Visualisierung dient ihm der Vergleich der Krönungsereignisse mit einem Theaterstück dazu, seinem Publikum die Ereignisse nachvollziehbarer zu machen: gerade durch den impliziten Hinweis auf die Notwendigkeit der historischen Imagination, die eingesetzt werden muss, um die Hintergründe des Dramas zu verstehen, eben das, was nicht für das Theaterpublikum 277
sichtbar auf der Bühne gezeigt wird, aber notwendig mit dazu gehört, um die Handlung zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufügen: Ich verglich nicht unschicklich diese Feierlichkeiten und Funktionen mit einem Schauspiel, wo der Vorhang nach Belieben heruntergelassen würde, indessen die Schauspieler fortspielten, dann werde er wieder aufgezogen und der Zuschauer könne an jenen Verhandlungen einigermaßen wieder Teil nehmen (ebd.).
Welch wichtige Funktion für den Geschichtserzähler selbst seine neue Aufgabe hat, dem geliebten Mädchen erzählend eine Ordnung in das Chaos der Geschichte zu bringen, wird an späterer Stelle deutlich, als das Ich anlässlich des Krönungstages seinen zweiten Vortrag für Gretchen vorbereitet: Ja ich beschrieb oft, indem ein solcher Zug vorbei ging, diesen Zug halb laut vor mir selbst, um mich alles Einzelnen zu versichern, und dieser Aufmerksamkeit und Genauigkeit wegen von meiner Schönen gelobt zu werden; und nur als eine Zugabe betrachtete ich den Beifall und die Anerkennung der Anderen (DuW I, S.217).
Neben der Tatsache, dass es ihm wichtig ist, über seine Fähigkeit, Geschichte anschaulich und lebendig narrativ zu vermitteln, Bestätigung zu erfahren, dient ihm das Erzählen offensichtlich selbst als Strategie, um das Miterlebte besser zu verstehen – schon während er selbst als ‚Zuschauer‘ das ‚Schauspiel‘ miterlebt. Viele dieser narrativen Strategien, mit denen das erzählte Ich als junger Mann gegenüber Gretchen Erfolg hat, greift das erzählende Ich dann auf der dritten Ebene, bei der Darstellung der Wahl- und Krönungsereignisse in Dichtung und Wahrheit auf. Auch hier wird der Fokus vor allem auf die Äußerlichkeiten gelegt und die Anschaulichkeit, mit der die Zeremonien und die Atmosphäre in der Stadt beschrieben werden, fällt sofort ins Auge; betont werden der Glanz, Prunk und Pomp, mit dem alles geschmückt ist, die reich ausstaffierte Kleidung und der Schmuck der geistlichen und weltlichen Würdenträger, das feierlich anmutende und bis ins Detail festgelegte Zeremoniell, sodass es dem Leser nicht schwer fallen dürfte, sich etwa den Krönungszug genau vorzustellen.281 Noch auffälliger allerdings als in den mündlichen Vorträgen des erzählten Ichs sind die zahlreichen Formulierungen, die die historischen Ereignisse mit Begriffen zu beschreiben versuchen, die aus den Bereichen von Drama und Theater entlehnt sind: Schon bevor das „Schauspiel“ (DuW I, S.205) beginnt und sich der „Vorhang“ (DuW I, S.208) _____________ 281
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Vgl. z.B. besonders eindrucksvoll die Beschreibung des Einzugs des zu krönenden Kaisers in die Stadt (DuW I, S.206–215).
zum ersten Mal hebt, die Akteure ihre Rollen eingenommen und mit ihren aufwändigen und prunkvollen „Kostüm[en]“ (DuW I, S.207) ausstaffiert sind, wird das Publikum – die Frankfurter Bürger – von „ein[em] von uns noch nie gesehene[n…] Aufzug“ (DuW I, S.198) belehrt, wie es sich während der Wahl- und Krönungsereignisse zu verhalten habe und ihnen „ein geziemendes und den Umständen angemessenes Betragen einschärfte“ (DuW I, S.199) – so, dass es zwar als Zuschauer die Aufführung verfolgen könne, diese aber nicht störe. Zusätzlich zu der veranschaulichenden Funktion, die die Theatermetaphorik bereits gegenüber Gretchen hatte – nämlich die Ereignisse anschaulicher zu gestalten und sie als etwas zu begreifen, das gleich einem Drama die Funktionen des prodesse et delectare erfüllt – leistet die Überblendung der historischen Ereignisse mit der dramatischen Begrifflichkeit auf dieser dritten Darstellungsebene allerdings noch etwas ganz anderes: Es wird suggeriert, dass alle – ob aktiv oder passiv am Geschehen Beteiligten – die Illusion durchschauen und wissen, dass es sich hier um ein Spektakel handelt, das inszeniert wird, um noch einmal ein politisches Konstrukt als mächtig und lebendig zu demonstrieren, das sich eigentlich längst überlebt hat.282 Das klingt in mehreren Passagen an, etwa wenn die Kostümierung der Kurfürsten und Gesandten so beschrieben wird, dass die Brüche in der äußeren Erscheinung der zum Teil gezielt „nach uralter Weise“ (DuW I, S.207) hergerichteten, zum Teil aber dann auch mit modernen Kleidungselementen angezogenen Herrschaften als unstimmig entlarvt wird. Auf der einen Seite lässt der Autobiograph sein Ich die „roten mit Hermelin ausgeschlagenen Fürstenmäntel, die wir sonst nur auf Gemälden zu sehen gewohnt waren“ (ebd.), bewundern, stellt „die großen Federn“ heraus, die „von den altertümlich aufgekrempten Hüten aufs prächtigste“ (ebd.) wehten, und betont, dass „die Botschafter der abwesenden weltlichen Kurfürsten in ihren goldstoffnen, mit Gold überstickten, mit goldnen Spitzen-Tressen reich besetzten spanischen Kleidern […] unsern Augen wohl[taten]“ (ebd.). Doch gelingt die Illusion eben nicht vollkommen: So stechen auf der anderen Seite „die kurzen modernen Beinkleider, die weißseidenen Strümpfe und modischen Schuhe“ (ebd.) von dem so _____________ 282
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Jeßing, wenn er die (Ver-)Kleidung als „Requisiten eines noch staatstragenden zeremoniellen Theaters“ bezeichnet, „das die Brüchigkeit der Reichsidee, die Antiquiertheit der politischen Organisation nur allzu deutlich zu Tage treten lässt“ (Benedikt Jeßing, Der Autobiograph als Zuschauer und Regisseur. Zur Theatralik und literarischen Inszenierung zweier Feste in Dichtung und Wahrheit. In: Jeux et fêtes dans l’œuvre de J.W. Goethe. Fest und Spiel im Werk Goethes, hg. von Denise Blondeau, Gilles Buscot und Christine Maillard, Strasbourg 2000, S.47–64, hier S.53).
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prunkvoll-antiquierten restlichen Habit ab. „Wir hätten Halbstiefelchen, so golden als man gewollt, Sandalen oder dergleichen gewünscht, um nur ein etwas konsequenteres Kostüm zu erblicken“ (ebd.) – der Illusionsbruch gefällt dem Ich auch deswegen nicht, weil auf diese Weise trotz aller Lebendigkeit, mit der diese besonderen Ereignisse gefeiert werden, offensichtlich ist, dass hier etwas wieder ‚belebt‘ werden soll, das eigentlich bereits nicht mehr zeitgemäß ist und der Vergangenheit angehört.283 Vor allem scheinen selbst bzw. gerade den ‚Schauspielern‘, die die Hauptrollen in dem ‚Theaterstück‘ spielen, ihre Kostüme nicht recht zu passen: Der junge König […] schleppte sich in den ungeheuren Gewandstücken mit den Kleinodien Carls des großen, wie in einer Verkleidung einher, so daß er selbst, von Zeit zu Zeit seinen Vater ansehend, sich des Lächelns nicht enthalten konnte. Die Krone, welche man sehr hatte füttern müssen, stand wie ein übergreifendes Dach vom Kopf ab. Die Dalmatika, die Stola, so gut sie auch angepaßt und eingenäht worden, gewährte doch keineswegs ein vorteilhaftes Aussehen. Szepter und Reichsapfel setzten in Verwunderung; aber man konnte sich nicht leugnen, daß man lieber eine mächtige, dem Anzuge gewachsene Gestalt, um der günstigern Wirkung willen, damit bekleidet und ausgeschmückt gesehen hätte (DuW I, S.223).
Es bleibt hier nicht dabei, dass dem Zuschauer die Inkongruenz zwischen dem jungen König und der Last der Tradition des alten Reiches, das – hier schon symbolisch in Form der Reichsinsignien – auf ihm lastet, ins Auge sticht. Vielmehr gelingt es dem zukünftigen Souverän des Deutschen Reiches selbst nicht, seine Rolle auf der Weltbühne zumindest so lange durchzuhalten, bis der Vorhang wieder fällt, um dem Publikum gegenüber eine perfekte Illusion vorzuführen. Er vermag es nicht mehr, seine Rolle anzunehmen, sondern empfindet seine „Verkleidung“ (ebd.) selbst als unangemessen. Deutlich wird, dass sich der Betrachterstandpunkt zwischen dem erzählten und dem erzählenden Ich geändert hat, obwohl die angewandten Erzählverfahren, mit denen Geschichtliches dargestellt und erklärt wird, in gewisser Weise ähnlich sind. So wie der Vierzehnjährige gegenüber Gretchen seinen Wissensvorsprung dazu nutzt, um weit in die Geschichte zurückzugreifen und „alles von Anfang an“ (DuW I, _____________ 283
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Etwa auch die Bemerkungen über den „jetzige[n] kaiserliche[n] Staatswagen“ (DuW I, S.211), der nicht mehr durch die Katharinenpforte passte, durch welche „so mancher Fürst und Kaiser aus und eingezogen“ (DuW I, S.211) war und die nun extra vergrößert wurde, machen deutlich, dass das Alte, Überlebte zwar eigentlich nicht mehr in die Gegenwart des Jahres 1764 passt, aber kein Mittel gescheut wird, damit diese Tatsache verdeckt und die Illusion aufrecht erhalten wird.
S.205) zu erzählen, geht er nun mit dem historischen Abstand zum Geschehen souverän um und deutet aus der Rückschau einer Erfahrung, die bereits um das Ende des Heiligen Römischen Reiches Bescheid weiß und dem entsprechend bewusst ist, dass das, was hier 1764 noch einmal mit großem Prunk zur Schau gestellt wurde, bereits dem Untergang geweiht war. Zu der „Ordnung“ der narrativen Vergegenwärtigung von Geschichte gehört es deswegen, die historische Genese der Ereignisse nicht nur mit Hilfe von Rückblicken auf in der Vergangenheit noch weiter Zurückliegendes in den Blick zu nehmen, sondern gleichfalls Ausblicke auf Zukünftiges zu bieten. Der Autobiograph überträgt diese Perspektive, die Geschichte als Kontinuum begreift und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ihrer wechselseitigen Bedingtheit und Verschränktheit betrachtet, schon auf das erzählte Ich, das sich etwa beim Anblick des Krönungszuges „in die Vergangenheit und Zukunft verloren [hatte], als einige hereintretende Freunde uns wieder in die Gegenwart zurückriefen“ (DuW I, S.214). Im Hinblick auf den Jungen ist damit gemeint, dass er sich zunächst von „bejahrten Personen“ (DuW I, S.212) von vorangegangenen Krönungen berichten lässt.284 Dann stellt er Gedanken über die Zukunft des neuen Herrschers an, „dem Jedermann wegen seiner schönen Jünglingsgestalt geneigt war, und auf den die Welt, bei den hohen Eigenschaften die er ankündigte, die größten Hoffnungen setzte“ (DuW I, S.214). Für die autobiographische Darstellungsebene bedeutet dies, dass hier Historiographie betrieben wird, die – ganz im Sinne des sich im 18. Jahrhundert erst ausbildenden Kollektivsingulars ‚Geschichte‘ – ein einzelnes Ereignis im Zusammenhang des historischen Entwicklungsprozesses betrachten und deuten will. Deswegen ist das „Gespenst Carls des großen“ (DuW I, S.221), das immer wieder zwischen den Akteuren herumgeistert und auf die lange Tradition des Reiches verweist, ebenso wichtig für die narrative Ausgestaltung wie etwa die Hinweise darauf, dass „[…] dieses große Fest […] ja das Pfand eines dauerhaften Friedens werden [sollte], der auch wirklich lange Jahre hindurch Deutschland beglückte“ (DuW I, S.222).285 Geschichte wird so aus der Über_____________ 284
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Auch hier begegnen im Übrigen wieder anekdotenhafte Einschübe, mit denen die Erzählungen ausgeschmückt und lebendig ausgestaltet werden; eine klare Grenze zwischen Fakten und Fiktion ist wieder kaum zu ziehen. Deutlich wird dies etwa daran, dass die Anekdote um die „überraschende[…] Zusammenkunft“ (DuW I, S.213) des verliebten Königspaares Franz I. und Maria Theresia mit dem Begriff „Märchen“ (DuW I, S.213) belegt wird. Vgl. dazu auch die Überlegungen von Beetz, der sich in seiner Untersuchung des Fünften Buchs von Dichtung und Wahrheit auch ausführlich der Bedeutung des „Wiedergänger- und Gespenstermotiv[s]“ widmet: Manfred Beetz, Überlebtes Welttheater. Goethes
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schau und aus einem Abstand heraus erzählt, der es ermöglicht, die Ereignisse distanziert zu überblicken, sie zunächst einmal vor dem eigenen Auge zu ordnen und sie entsprechend dann dem Leser „in der Ordnung“ zu präsentieren. Diese Perspektive überträgt der Autobiograph bereits symbolisch auf das erzählte Ich, das die Krönungsereignisse am 3. April 1764 „von oben, wie in der Vogelperspektive“ (DuW I, S.218) betrachtet, hatte es doch das Privileg, „[…] nebst mehrern Verwandten und Freunden, in dem Römer selbst, in einer der obern Etagen, einen guten Platz angewiesen [bekommen zu haben], wo wir das Ganze vollkommen übersehen konnten“ (ebd.). Bleibt man im Hinblick auf die Ausgestaltung der autobiographischen (Geschichts-)Erzählung im Bild des Theaterstücks, dessen sich der Autor selbst bedient, so wird deutlich, dass auf der dritten Ebene der Historiograph selbst es ist, der die Geschichte inszeniert und sie seinem Lesepublikum als ein Schauspiel vorführt. Er selbst ist es, der darüber entscheidet, wie etwas dargestellt wird, vielmehr, an welcher Stelle des Textes oder gar, was überhaupt dargestellt wird – deutlich zum Beispiel in dem Befund, dass „wir“ den „Einzug des Kurfürsten von Mainz […] ausführlicher zu beschreiben […] abgelehnt“ (DuW I, S.209) hatten, um „später wieder darauf zurückzukommen […], und zwar bei einer Gelegenheit, die Niemand leicht erraten sollte“ (DuW I, S.203). Der sich anschließende Exkurs zeigt, wie sehr sich in Goethes Verständnis historiographische und literarische Erzählverfahren ähneln und es so nicht nur für den Dichter, sondern auch für den Historiker unerlässlich sei, über eine „lebhafte Einbildungskraft“ (DuW I, S.204) zu verfügen, um ein primäres Ziel allen Erzählens zu erreichen und das Interesse des Lesers zu wecken, ihn zu fesseln und ihm Vergangenes wie Fiktives anschaulich auszugestalten. Der Exkurs wird an der Stelle eingeflochten, wo auf die ausführlichere Beschreibung des Einzugs des Mainzer Kurfürsten verzichtet wird, um diesen „so zu sagen inkognito im Compostell eintreffen“ (DuW I, S.204) zu lassen. Verwiesen wird hier – quasi explizit intertextuelle Bezüge aufdeckend – auf eine „poetische Paraphrase, ich glaube der Offenbarung Sankt Johannis“ (ebd.), in der Lavater, der ebenfalls Augenzeuge des Ereignisses in Frankfurt gewesen sei und sich zwar eigentlich für „solche weltliche Äußerlichkeiten“ (DuW I, S.203) überhaupt nicht interessiere, „den Einzug des Antichrist Schritt vor Schritt, Gestalt vor Gestalt, Umstand vor Umstand, _____________ autobiographische Darstellung der Wahl und Krönung Josephs II. in Frankfurt/M. 1764. In: Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn, Tübingen 1995 (Frühe Neuzeit, Bd. 25), S.572–599, hier S.578.
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dem Einzug des Kurfürsten von Mainz in Frankfurt nachgebildet [habe], dergestalt daß sogar die Quasten an den Köpfen der Isabell-Pferde nicht fehlten“ (DuW I, S.204). Das poetologische Konzept, das hinter einem solchen Verfahren stehe, bei dem literarische Texte so deutliche Anleihen in der Geschichte machen, erklärt das erzählende Ich mit der Überzeugung, dass man für die Leser zunächst fremd anmutende und schwer zugängliche Stoffe – hier: die alt- und neutestamentlichen Mythen – „dem Anschauen und Gefühl näher zu bringen glaubte, wenn man sie völlig ins Moderne travestierte, und ihnen aus dem gegenwärtigen Leben, es sei nun gemeiner oder vornehmer, ein Gewand umhinge“ (ebd.). Umgekehrt illustriert dieser Exkurs, dass sich die Historiographie ähnlicher Verfahren bedient wie die Literatur, sich dieser bedienen m u s s , soll denn die intendierte Wirkung auf den Leser erreicht werden, die dessen historische Imagination anregen und ihm so bereits Vergangenes wieder lebendig vor Augen erscheinen lassen will. Geschichtsschreibung wird in Goethes Autobiographischen Schriften also gerade nicht so realisiert, wie sich der Vater Johann Caspar die Aufsätze seines Sohnes über die Krönungsereignisse in aufklärerischgelehrter Manier vorgestellt haben mag – nämlich als möglichst objektive, streng chronologisch verfahrende Ansammlung von Daten und Fakten, die den Beobachter möglichst ausblendet. Vielmehr handelt es sich um eine deutende und poetologischen Erwägungen untergeordnete Darstellung, die den Betrachterstandpunkt immer wieder bewusst macht, gerade in der doppelten Perspektive des erzählten ZeitzeugenIchs und des erzählenden Ichs, das sich aus dem Abstand von Jahren an die Ereignisse erinnert und sie von seinem heutigen Standpunkt aus mit einer bestimmten Darstellungs- und Deutungsabsicht präsentiert. Im Spiegel eigener historiographischer Darstellung, wie sie sich bei der Beschreibung der Krönungsereignisse präsentiert, begegnen so die Konstanten des Umgangs mit Geschichte wieder, die bereits für die Suche nach dem „Schlüssel“ zu Geschichtlichem in der Italienischen Reise kennzeichnend waren: Das ausgeprägte Interesse an Lebendigem und Atmosphärischem, das die Zeiten überdauert, an Natur und Landschaft auf Sizilien sowie die Skepsis gegenüber den ‚Trümmern‘, die dem Ich keinen Zugang zu historischen Phänomenen verschaffen können, werden wieder aufgegriffen in der implizierten Kritik an ‚Überlebtem’, an der Illusion eines noch immer bedeutenden und mächtigen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Ein Theaterstück muss hier inszeniert werden, um dieses Reich noch einmal zum Leben zu erwecken, und dabei vermag es doch nicht mehr ganz zu verdecken, dass das, was hier zelebriert wird, eigentlich schon brüchig und politisch kaum mehr funktionsfähig ist. Im Sizilien-Teil der Italienischen Reise wird 283
im Zusammenhang mit der Homer-Lektüre und -Nachdichtung, die als „Schlüssel“ zur griechischen Antike fungiert, schon angedeutet, welch wichtige Funktion die Poesie für die Frage einnimmt, w i e sich Goethe Geschichtliches erschließt. Bei der Untersuchung der Schreibverfahren, die auf den drei Ebenen angewandt werden, welche die Ereignisse um die Wahl und Krönung Josephs II. im Fünften Buch von Dichtung und Wahrheit darstellen, wird darüber hinaus deutlich, wie sehr die narrativen Verfahren, mit denen hier Geschichtliches erzählt wird, denen eines Schriftstellers ähneln. Die Tätigkeiten des ‚Dichtens‘ und des ‚Geschichte Schreibens‘ sind im Kontext von Goethes Autobiographieprojekt sehr eng aufeinander bezogen und dabei fungiert vor allem erst das eigene Schreiben als Schlüssel zu historischer Erkenntnis.
3.6
Die „höhere Wahrheit“: die Poetologie der disparaten Schreibverfahren
3.6.1
Die Inkongruenz der autobiographischen Erzählweisen und die Konstante ihrer poetologischen Reflexion
Die Darstellung der Kaiserkrönung Josephs II. im Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit präsentiert in der Synthese von drei Erzählebenen einen Schlüssel zur Geschichte, der scheinbar mühelos greift.286 Auf diese Weise entsteht nicht nur ein rundum stimmiges Bild, das einer Überprüfung an zeitgenössischen Quellen standhält. Vielmehr werden darüber hinaus Zusammenhänge verdeutlicht, für das Verständnis der Ereignisse wichtige Hintergrundinformationen geliefert und auch eine eigene Bewertung des Geschehens nicht ausgespart. Umso erstaunlicher ist es da, dass sich ein sehr disparates Bild ergibt, nimmt man die Schreibverfahren in den Blick, die Goethes autobiographische Texte in ihrer Gesamtheit kennzeichnen und die für die Frage nach Goethes Geschichtsdenken wichtig sind; zeigen sie doch, wie Goethe selbst als Historiograph seines eigenen Lebens wie seines „Jahrhundert[s]“ (DuW I, S.13) Geschichte schreibt. Exemplarisch für eine ganz andere, von der Kaiserkrönungs-Passage in Dichtung und Wahrheit abweichende Tendenz der Darstellung kann etwa eine – programmatisch mit der Überschrift „Lücke“ belegte – Passage der _____________ 286
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Vgl. dazu ausführlich das vorangegangene Kapitel dieser Arbeit.
Belagerung von Mainz stehen, in der knapp und nüchtern einige Tage Anfang Juli 1793 ‚abgehandelt’ werden: Den 1. Juli war die dritte Parallele in Tätigkeit und sogleich die Bocksbatterie bombardiert. Den 2. Juli. Bombardement der Zitadelle und Carlsschanze. Den 3. Juli. Neuer Brand in der St. Sebastianskapelle; benachbarte Häuser und Paläste gehen in Flammen auf. Den 6. Juli. Die sogenannte Clubbisten-Schanze, welche den rechten Flügel der dritten Parallele nicht zu Stande kommen ließ, mußte weggenommen werden; allein man verfehlte sie und griff vorliegende Schanzen des Hauptwalles an, da man denn freilich zurückgeschlagen wurde. Den 7. Juli. Endliche Behauptung dieses Terrains; Kostheim wird angegriffen, die Franzosen geben es auf.287
Sicherlich mag ein Grund dafür, dass hier offensichtlich betont sachlich, die Ereignisse bloß chronikartig verzeichnend und ohne eine Bewertung des Geschehens auch nur andeutend berichtet wird, darin liegen, dass der Gegenstand des Erzählens kaum etwas mit den festlichfröhlichen, prächtig und farbenfroh anzusehenden Frankfurter Krönungsfeierlichkeiten gemein hat, sondern es sich vielmehr um die Folgen von Krieg und Gewalt handelt: „Trümmer und Trümmer“ (BvM, S.591), „zusammengebrochene Turmspitzen, lückenhafte Dächer, rauchende Stellen untröstlichen Anblicks“ (ebd.) werden erwähnt und sind genau das, was Goethe grundsätzlich als zerstörerische, plötzliche Einschnitte der ‚unberechenbaren’ Geschichte in organisch gewachsene Strukturen menschlicher Zivilisation ablehnt.288 Genauso wie man „manchem Schwerblessierten […] baldige Erlösung von grimmigen Leiden [… wünschte] und die Toten […] nicht ins Leben zurückgerufen“ (BvM, S.590) hätte, bewahrt der Autor sich selbst und den Leser davor, die Szenerie, die das Ich in Mainz miterleben musste, noch ein_____________ 287
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FA I/16, S.592. Auch im Folgenden wird Belagerung von Mainz nach der Frankfurter Ausgabe zitiert; Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle BvM nachgewiesen. Die Aufzählung ließe sich hier noch fortsetzen; zu noch mehreren Tagen des Juli 1793 bietet die Belagerung von Mainz nichts anderes als eine ähnlich knappe und die Ereignisse chronikartig auflistende Darstellung des Geschehens; über einige Tage wird etwas umfangreicher, dafür zu anderen gar nichts berichtet. Gerade diese über Jahrhunderte gewachsene Stadtanlage ist es, deren vormalige Schönheit besonders betont wird: „Man ging mit Behutsamkeit durch Trümmer und Trümmer und ward endlich eine stehen gebliebene Wendeltreppe hinauf, an das Balkonfenster eines freistehenden Giebels geführt, das freilich in Friedenszeiten dem Besitzer die herrlichste Aussicht gewährt haben mußte. Hier sah man den Zusammenfluß des Mayn- und Rhein-Stroms, und also die Mayn- und Rheinspitze, die Bley-Au, das befestigte Castel, die Schiffbrücke und am linken Ufer sodann die herrliche Stadt“ (BvM, S.591).
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mal vor dem geistigen Auge entstehen zu lassen. Konsequent werden diese und vergleichbare Erfahrungen soweit möglich aus dem Rückblick auf das eigene Leben ausgeblendet – und zwar in der Gesamtheit der Autobiographischen Schriften.289 An dieser Stelle in der Belagerung von Mainz entschuldigt sich das erzählende Ich selbst für solch selektives Verfahren: Bedenkt man nun daß ein solcher Zustand, wo man sich die Angst zu übertäuben jeder Vernichtung aussetzte, bei drei Wochen dauerte, so wird man uns verzeihen, wenn wir über diese schrecklichen Tage wie über einen glühenden Boden hinüber zu eilen trachten (BvM, S.592)290.
In diesem Bestreben, Gewalt und Zerstörung selbst bei diesem Gegenstand aus der Darstellung weitestmöglich auszublenden, lässt sich durchaus ein Grundzug seines autobiographischen Ausdruckswillens sehen, der sich in allen einschlägigen Texten nachweisen lässt. Das gilt auch für die Tag- und Jahreshefte, ein auf den ersten Blick erwarteter Befund, da Goethe hier mit chronikalischer Sparsamkeit lediglich die ‚Erträge’ eines Jahres vergegenwärtigen will. Allerdings sind dies gerade in der Fülle der breit gestreuten Beschäftigungen des erzählten _____________ 289
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Vgl. zu dieser für Goethes Interesse an spezifischen historischen Phänomenen besonders signifikanten Tendenz, die eben gerade auch in seinen Autobiographischen Schriften den Fokus auf die Darstellung organisch gewachsener Strukturen legt und eruptive, gewaltsame Umbrüche in der Menschheitsgeschichte ablehnt und ausblendet, ausführlich das Kapitel 3.4 dieser Arbeit. Diese ‚Entschuldigung’, die das Ich hier selbst formuliert und als Grund für die so verkürzte Darstellungsweise angibt, überzeugt m. E. mehr als der Hinweis, mit dem die „Lücke“ und die hier angewandten Schreibverfahren in einigen Kommentaren zur Belagerung von Mainz erklärt werden, die davon ausgehen, dass Goethe Folgendes andeuten wolle: „[S]ein bisheriges Quellenmaterial, auf dem die Berichte beruhen, versiegt an dieser Stelle, und der Dichter ist anstelle der bisherigen persönlichen Aufzeichnungen wieder stärker auf fremde Darstellungen angewiesen“ (Ilse-Marie Barth, Kommentar in Goethe, Johann Wolfgang: Campagne in Frankreich. Belagerung von Mainz, Stuttgart 1972 (Reclam Universal-Bibliothek Nr. 5808–10), S.273). Freilich schließt die eine die andere Erklärung nicht aus, dennoch aber bleibt – gerade vor dem Hintergrund der vom Ich selbst gegebenen ‚Entschuldigung’ – nicht unwahrscheinlich, dass eine ähnlich knappe Darstellung auch bei einer günstigeren Quellenlage einer breiteren Ausschmückung der Ereignisse vorgezogen worden wäre. Zu dieser Überlegung gelangt auch Sebastian Wilde in seinem kurzen Essay, in dem es ihm darum geht aufzuzeigen, welchen ‚Freiraum’ die Kunst in der ‚realen Welt’ bietet, weswegen er freilich die „Lücke“ nicht vor dem Hintergrund von Goethes autobiographischem Schreiben reflektiert. Er deutet sie als „künstlerische Artikulation“, die deutlich machen soll, dass die „‚Welt’ des Krieges, das Extrem menschlichen Handelns […] überhand [nimmt] und verhindert, dass die Kunst [gemeint ist hier eine literarische Ausgestaltung der Ereignisse] ihr ausweichen und Abstand gewinnen kann“ (Sebastian Wilde, Die artikulierte Lücke. Über die Möglichkeiten der Kunst in Goethes „Campagne in Frankreich 1792“ und „Belagerung von Maynz“. In: GJb 126 (2009), S.349–354, hier S.354).
Ichs beeindruckend reiche und positive Erträge, die sicher nicht vorwiegend an „schreckliche[n] Tage[n]“ erarbeitet worden sind, über die der Autor „wie über einen glühenden Boden hinüberzueilen trachte[te...]“ (ebd.). Deshalb bleibt nicht so leicht zu erklären, warum der Autobiograph auch hier Schreibverfahren anwendet, die nur noch an sehr wenigen Stellen an die breit ausschmückende, souverän Zusammenhänge erläuternde und die eigene Geschichte erklärende und kommentierende Darstellungsweise von Dichtung und Wahrheit erinnert. Wird zwar auf den ersten Blick innerhalb des Corpus von Goethes Autobiographischen Schriften auf ganz unterschiedliche Weise über das eigene Leben berichtet, so finden sich doch in allen Texten Passagen, in denen die angewandten Schreibverfahren reflektiert und in Verbindung gebracht werden mit den Schwierigkeiten autobiographischen Schreibens überhaupt – und hier bilden die Tag- und Jahreshefte keine Ausnahme. So begegnen etwa ausgerechnet dort, wo bei der Darstellung des Jahres 1811 der Entschluss thematisiert wird, mit den Planungen für die Abfassung einer eigenen Autobiographie zu beginnen und schließlich den Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit auszuführen und zu veröffentlichen – Äußerungen zu den Schreibverfahren, die sehr explizit die Probleme und Grenzen autobiographischen Schreibens in den Blick nehmen. Zunächst bedauert das erzählende Ich, sich nicht bereits früher daran gemacht zu haben, seine „eigene frühste Lebensgeschichte“291 zu behandeln, denn [b]ey meiner Mutter Lebzeiten hätt’ ich das Werck unternehmen sollen, damals hätte ich selbst noch jenen Kinderscenen näher gestanden und wäre durch die hohe Kraft ihrer Erinerungsgabe völlig dahin versetzt worden (ebd.).
Es scheint hier also so, als ließe sich die Zeit, über die man berichten wolle, je leichter wieder in Erinnerung rufen, desto näher man selbst dieser Zeit sei, und als ob der Austausch mit Personen, die diese Zeit miterlebt haben, hilfreich dafür sei, die eigene Erinnerung anzuregen und sie, wenn nötig, zu ergänzen. Inzwischen allerdings – im Jahre 1811 – stelle sich die Arbeit am Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit weit schwieriger dar: Nun aber mußte ich diese entschwundenen Geister in mir selbst hervorrufen und manche Erinnerungsmittel gleich einem nothwendigen Zauberapparat mühsam und kunstreich zusammenschaffen. Ich hatte die Entwicklung eines bedeutend gewordenen Kindes, wie sie sich unter gegebenen Umständen her-
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FA I/17, S.239. Auch im Folgenden werden die Tag- und Jahreshefte nach der Frankfurter Ausgabe zitiert; Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle TuJ nachgewiesen.
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vorgethan, aber doch wie sie im allgemeinen dem Menschenkenner und dessen Einsichten gemäß wäre, darzustellen. In diesem Sinne nannt' ich bescheiden genug ein solches mit sorgfältiger Treue behandeltes Werk: Wahrheit und Dichtung, innigst überzeugt daß der Mensch in der Gegenwart ja vielmehr noch in der Erinnerung die Aussenwelt nach seinen Eigenheiten bildend modele (ebd.).
Was diese „Erinnerungsmittel“ seien, teilt das Ich im folgenden Absatz mit, in dem noch einmal – in der bereits angedeuteten knappen Diktion der Tag- und Jahreshefte – von dem „Geschäft“ (TuJ, S.240) die Rede ist, das den Autobiographen „beschäftigte [...], wo ich ging und stand, zu Hause wie auswärts, dergestalt, daß mein wirklicher Zustand den Charakter einer Nebensache annahm“ (ebd.): „durch geschichtliche Studien und sonstige Lokal- und Personen-Vergegenwärtigung [hatte ich] viel Zeit aufzuwenden“ (ebd.). Die „Erinnerungsmittel“ sind also zunächst einmal ganz konkreter, materiell-sachlicher Natur – eben solche, die auch ein Historiker nutzen würde, um zu historischer Kenntnis zu gelangen: Gesucht und ausgewertet werden müssen Quellen – das, was das Ich hier mit „geschichtliche[n] Studien“ bezeichnet – und darüber hinaus kann auf „sonstige“ Mittel zurückgegriffen werden, die einen Schlüssel zur Geschichte bieten, zu denken sind vermutlich vor allem an Gespräche mit Zeitzeugen bzw. an die briefliche Kommunikation mit diesen über Fragen, die die Arbeit an der autobiographischen Darstellung seiner Kinder- und Jugendjahre aufwirft, die Goethe zu diesem Zeitpunkt nachweislich betreibt.292 Der „Zauber“ kommt erst jetzt ins Spiel, wenn es darum geht, auf der Grundlage dieser Quellenarbeit die „entschwundenen Geister“ wieder in sich selbst „hervorzurufen“, längst vergangene Eindrücke und Erlebnisse wieder vor dem geistigen Auge entstehen zu lassen. Die aus dem semantischen Bereich der Magie, des Übernatürlichen entlehnten Begriffe, die das Ich hier verwendet, betonen zum einen die grundsätzlichen Schwierigkeiten, die ein solcher ‚Erinnerungsakt’ in sich birgt, der eben nicht automatisch funktioniert, sondern einer gleichsam magischen Initiierung, beinahe einer Musen-Inspiration bedarf. Zum anderen wird die aktivische, auf die Erinnerungs- bzw. Schreibgegenwart bezogene Komponente betont, bei der es nicht das Ziel sein kann, die Vergangenheit ohne Abstrich oder Zusatz so darzustellen, wie sie gewesen ist – ein solches Ziel könne nämlich niemals eingelöst werden. Vor diesem Hintergrund ist die ‚Bescheidenheit’ zu verstehen, die der Autobiograph hier für sich reklamiert, obwohl oder gerade weil er sein Werk „mit sorgfältiger _____________ 292
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Vgl. dazu genauer Kapitel 2.2 dieser Arbeit.
Treue“ behandelt habe. Eben das soll die Titelformulierung, die hier noch in anderer Reihenfolge als später „Wahrheit und Dichtung“ heißt, zum Ausdruck bringen, denn „innigst überzeugt“ sei er davon, dass das Individuum selbst es sei, das einen zentralen Einfluss auf seine Umgebung habe, sogar sich seine Welt selbst erschaffe, indem es sie nie objektiv wahrnehmen könne, sondern jeweils gefiltert durch die ihm individuell eigene Perspektive. Dies gelte für die „Gegenwart“, mehr noch aber für die „Erinnerung“, denn schließlich bietet im Hinblick auf Vergangenes die „Aussenwelt“ – anders als in der Gegenwart – gar keine Referenz mehr für das, was nun allein im Kopf des Individuums geschaffen (und nicht etwa einfach ‚wiederentstehen’ oder ‚wachgerufen’) werden muss. In diesem – abschließenden – Kapitel bleiben vor diesem einleitend skizzierten Hintergrund vor allem die folgenden beiden Fragen zu klären: 1. Welche Schwierigkeiten und Grenzen der Erinnerung und der Darstellbarkeit des eigenen Lebens in der Retrospektive, ja von Geschichte überhaupt werden in Goethes Autobiographischen Schriften selbst thematisiert? 2. Inwiefern bestimmen solche restriktiven Bedingungen autobiographischen Schreibens die Wahl der angewandten Schreibverfahren und wie lässt sich die beobachtete Inkongruenz der Erzählweisen erklären, obwohl es sich immer um ein und denselben historischen Erzählgegenstand handelt: um Goethe „und sein Jahrhundert“ (DuW I, S.13)? 3.6.2
Skepsis als Programm – poetologische Passagen der Autobiographischen Schriften
Eine Beobachtung vorweg: Häufig werden in Arbeiten der GoethePhilologie Äußerungen von Goethe zitiert, in denen er sich skeptisch gegenüber den Möglichkeiten äußert, mittels der eigenen Erinnerung die Vergangenheit so wiederzugeben, wie sie tatsächlich gewesen ist. Meist handelt es sich hierbei um Auszüge aus Briefen, seltener um Tagebuch-Eintragungen, jedenfalls vor allem um Texte, die in einem konkret-kommunikativen Zusammenhang stehen und nicht etwa in literarische Werke eingebunden sind.293 Dass diese Skepsis allerdings in engem _____________ 293
Auch in dieser Arbeit wurden zahlreiche dieser Äußerungen einleitend dazu genutzt, um überhaupt den Problemhorizont für diese Untersuchung genauer zu konturieren (vgl. Kap. 2.2) und Goethes theoretisch formuliertes Verhältnis zur Autobiographie
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Zusammenhang mit seinen eigenen autobiographischen Arbeiten steht und diese unmittelbar beeinflusst hat, wird oft zu wenig beachtet: Mitunter wurden Goethes autobiographische Texte so gelesen, als gäben sie eine objektiv-direkte Auskunft über das, was der Autor in seinen jüngeren Jahren tatsächlich erlebt hat und nun das erzählte Ich in seinen Texten entsprechend vollkommen realitätsgetreu noch einmal nacherleben lässt.294 Dabei begegnen in den Texten selbst immer wieder reflexiv-poetologische Einschübe, in denen das erzählende Ich seinen Abstand zu den Gedanken und Gefühlen seines jugendlichen Helden markiert, vor allem in Dichtung und Wahrheit. Gerade hier problematisiert der Autor vielerorts, dass ihm die Erinnerung versage – vor allem im Hinblick auf Zeitabschnitte, zu denen nur wenig aussagekräftige Quellen zu finden sind. Genauso kommt es nicht selten vor, dass das erzählende Ich in einzelnen Passagen seiner Werke die Bedingungen autobiographischen Schreibens überhaupt reflektiert, die dabei stets als höchst komplex und schwierig ausgewiesen werden. Als besonders programmatisch und aussagekräftig mag die kurze späte autobiographische Skizze Lebensbekenntnisse im Auszug aus dem Jahr 1822 gelten – ein Text, der sich gleichsam als ‚Leseanleitung’ an die späteren Leser der Tag- und Jahreshefte wendet, an denen Goethe zu diesem Zeitpunkt arbeitet: So oft ich mich entschloß, den Wünschen naher und ferner Freunde gemäß, über einige meiner Gedichte irgend einen Aufschluß, von Lebensereignissen auslangende Rechenschaft zu geben, sah ich mich immer genöthigt in Zeiten zurückzugehen, die mir selbst nicht mehr klar vor der Seele standen und mich deshalb manchen Vorarbeiten zu unterziehen, von denen kaum ein erwünschtes Resultat zu hoffen war. Ich habe es demohngeachtet einigemal gewagt und man ist nicht ganz unzufrieden mit dem Versuch gewesen.295
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vorläufig zu bestimmen – diese Ergebnisse bleiben nun aber in ihrer Umsetzung an seinem autobiographischen Schreiben selbst zu überprüfen. So wird sich vor allem in Goethe-Biographien älteren Datums beinahe ausnahmslos auf Dichtung und Wahrheit bezogen und selbst in der wohl aktuellsten umfassenden GoetheBiographie von Nicholas Boyle wird nicht immer trennscharf zwischen der autobiographischen Darstellung und der historischen Realität unterschieden, vor allem wenn es um Goethes Kindheit geht – um den Zeitraum, für den freilich am wenigsten gesicherte Quellen zu finden sind, wenngleich hier mit Formulierungen wie „wenn wir der Schilderung in Dichtung und Wahrheit glauben dürfen“ (Nicholas Boyle, Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Bd. I. 1749–1790. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Fließbach, München 1995, S.75) meist zumindest auf die Fragwürdigkeit der Autobiographie als historischer Quelle hingewiesen wird. FA I/17, S.368. Auch im Folgenden wird Lebensbekenntnisse im Auszug nach der Frankfurter Ausgabe zitiert; Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle Lebensbekenntnisse nachgewiesen.
Die bereits veröffentlichten früheren autobiographischen Arbeiten werden von ihrem Autor selbst keineswegs als Erfolg gewertet; was er selbst eigentlich über ihre literarische Qualität oder ihren historiographischen Wert denkt, bleibt in den Lebensbekenntnissen offen. Aber immerhin sei das Publikum „nicht ganz unzufrieden mit dem Versuch gewesen“. Sowieso wird hier im Zusammenhang mit dem Anlass, sich wieder mit der eigenen Lebensgeschichte zu beschäftigen, auf einen Topos zurückgegriffen, der schon im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit eine entscheidende Rolle spielt: Der Anlass für die Wieder- bzw. Neuaufnahme des Projekts sei das Insistieren der „Freunde“ gewesen, die die einzelnen literarischen Werke Goethes in ihrem jeweiligen Lebenszusammenhang eingebettet sehen wollten. Als ‚Nöthigung’, als eine mühsame, keineswegs angenehme oder befriedigende Beschäftigung wird die Tätigkeit dann sogar angesehen, zumal „Vorarbeiten“ unerlässlich sind, weil die eigene Erinnerung versage und das erzählende Ich sich kein kohärentes Bild mehr von der Vergangenheit erschaffen könne. Die Skepsis, dass den Bemühungen überhaupt Erfolg beschieden sein könne, geht jedoch noch weiter: Gerade nämlich die „Vorarbeiten“ seien zwar nötig (und sie werden dann im Verlauf der Lebensbekenntnisse noch ausführlicher beschrieben); es bestehe aber so oder so wenig Hoffnung auf ein „erwünschtes Resultat“. Den Wünschen des Publikums wird schließlich dennoch stattgegeben – allerdings zunächst in einer Weise bzw. mit einem Ergebnis, das den Ansprüchen der „liebe[n] Theilnehmende[n]“ (Lebensbekenntnisse, S.368) so jedenfalls nicht genügt. Goethe spielt in seinem Text auf das Werkverzeichnis an, das er zu Beginn des Jahres 1819 an seinen Verleger Cotta gesendet hat und das den Interessierten Gelegenheit gab nachzuvollziehen, welches Werk in welchem Jahr verfasst wurde.296 Doch weder dieses „nackte chronologische Verzeichniß“ (Lebensbekenntnisse, S.269) noch die „sprungweis“ mitgeteilten „treue[n] Bekenntnisse“, „wie ich bisher manchmal gethan“ (ebd.) – gemeint sind Italienische Reise, Campagne in Frankreich und Belagerung von Mainz – leisten den Ansprüchen der Leser Genüge, sie wünschten sich lieber, dass Goethe „in einer Folge, sowohl Arbeiten als Lebensereignisse, wie früher geschehen, darbringen wollte“ (ebd.). Offensichtlich wurde Dichtung und Wahrheit zum Prototyp und Ideal einer Autobiographie erklärt: So, _____________ 296
Ausführlichere Informationen zu Anlage, Entstehungsgeschichte und Intention dieser „Summarischen Jahresfolge Goethescher Schriften“ sowie Auszüge aus der diesbezüglich zwischen Goethe und seinem Verleger Cotta geführten Korrespondenz bietet Wackerl, Goethes Tag- und Jahreshefte, S.18–22; vgl. darüber hinaus auch Text und Kommentar in WA I 42/1, S.77–87 bzw. S.414–419.
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wie Goethe die Darstellung seines Lebens für seine Jugendjahre angelegt hatte, so wünschte man sich eine Fortführung für die vielen Jahre seiner Weimarer Existenz. „Auch hierüber scheint mir gerade bei dieser Gelegenheit eine nähere Erklärung nöthig“ (ebd.), kündigt das erzählende Ich in diesem Zusammenhang die Erläuterungen an, die einer ausführlicheren Darstellung der späteren Lebensjahre entgegenstehen. Dem Drängen der „Freunde“ nachgebend, sei vor einigen Jahren schließlich die Erinnerungsarbeit erneut aufgenommen worden, zunächst einmal mehr zur Abwechslung und Erholung, wie Goethe es 1819 für die chronologische Werkauflistung ebenso schon unternommen hatte. Die „Vorarbeiten“ hätten dann in der Sichtung der „ausführlichere[n] Tagebücher“ sowie vieler anderer „Documente nach vollbrachter archivarischer Ordnung“ (ebd.) bestanden. Auf der Grundlage des hauseigenen Archivs297 zur eigenen Lebensgeschichte, mit dessen Einrichtung und Ordnung sein Bibliothekssekretär Kräuter beauftragt wurde, habe sich das Ich gereizt [befunden] jenen Auszug aus meiner Lebensgeschichte dergestalt auszuarbeiten, daß er das Verlangen meiner Freunde vorläufig befriedige und den Wunsch nach fernerer Ausführung wenigstens gewisser Theile lebhaft errege; woraus denn der Vortheil entspringt, daß ich die gerade jedesmal mir zusagende Epoche vollständig bearbeiten kann und der Leser doch einen Faden hat, woran er sich durch die Lücke folgerecht durchhelfen möge (ebd.).
Das geplante Werk folgt nun einer ganz anderen Konzeption als Dichtung und Wahrheit: „Lebensbekenntnisse im Auszug“ wollte er hier schreiben und einzelne „Epoche[n]“298 des Lebens womöglich – wenn es denn die Freunde wünschten – detaillierter ausführen. An eine „vollständig[e]“ Behandlung des gesamten Lebens sei jedenfalls überhaupt _____________ 297
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Vgl. zu diesem „Archiv“ und seiner Funktion, die vor allem darin zu sehen ist, der Nachwelt sein eigenes Denkmal zu gestalten und die Arbeit eines Nachlassverwalters noch bei Lebzeiten schon selbst in die Hand zu nehmen, auch Goethes autobiographische Skizze Archiv des Dichters und Schriftstellers (FA 17, S.366–368). Ebenfalls einschlägig: Irmtraut Schmid untersucht in einem Aufsatz die Bedeutung von Goethes „Briefregistratur“ gerade auch für seine Tag- und Jahreshefte: Irmtraut Schmid, Goethes Briefregistratur. Eine Quelle zu den „Tag- und Jahresheften“. In: Im Vorfeld der Literatur. Vom Wert archivalischer Überlieferung für das Verständnis von Literatur und ihrer Geschichte, hg. von KarlHeinz Hahn, Weimar 1991, S.108–125. Zu diesem Zeitpunkt hat Goethe noch vor, die Darstellung in den Tag- und Jahresheften – deren endgültiger Titel hier noch gar nicht feststeht – nicht in Jahre, sondern in „Epochen“ seines Lebens zu gliedern; ein Plan, den er dann später verwirft (vgl. dazu Reiner Wilds Kommentar in Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines SchaffenS.21 Bände in 33 Teilen, hg. von Karl Richter, München 1985–1998 [Münchner Ausgabe], Bd. 14, S.617. Im Folgenden: Sigle MA für Münchner Ausgabe.).
nicht zu denken. Offenbar ahnt der Autor hier schon, dass sich das Publikum mit einer solchen Art der Darstellung nicht zufrieden geben würde.299 Er fügt nämlich sogleich eine ‚Rechtfertigung’ für diese nur „theilweise[...] Behandlung“ (ebd.) an, die das Problem der perspektivischen Beschränkung anspricht. Er dürfe sich [...] nur auf einen jeden selbst berufen und er wird mir gestehen, daß, wenn er sein eigenes Leben überdenkt, ihm gewisse Ereignisse lebhaft entgegen treten, andere hingegen vor- und nachzeitige in den Schatten zurück weichen, daß, wenn jene sich leuchtend aufdrängen, diese selbst mit Bemühung kaum aus den Fluten der Lethe wieder hervorzuheben sind (ebd.).
Bezeichnenderweise wird die griechische Mythologie bemüht, um deutlich zu machen, wie aussichtslos letztlich der Kampf des Menschen gegen das eigene Vergessen ist – die „Fluten der Lethe“ können „selbst mit Bemühung“, mit intensiver Erinnerungs- und Rekonstruktionsarbeit – etwa mit genauem Quellenstudium – nicht überwunden werden. Bezweifelt wird hier also ganz explizit, dass es überhaupt möglich sei, einen gesamten Lebensverlauf gleichermaßen treffend autobiographisch darzustellen, so wie es für die Jahre bis 1775 noch den Anschein hat, jedenfalls wenn man die Ausführlichkeit und die Informationsfülle von Dichtung und Wahrheit zum Kriterium nimmt. Aber bereits hier und ebenso in allen anderen Teilen seiner Autobiographischen Schriften fügt das erzählende Ich immer wieder Bemerkungen in seinen Text ein, die auf die Grenzen und Schwierigkeiten der Erinnerung und damit der Darstellbarkeit der eigenen Lebensgeschichte verweisen – und zwar nicht nur in den für diesen Aspekt einschlägigen und programmatisch zu lesenden Vorwort-Passagen. Gerade im Vierten Teil von Dichtung und Wahrheit wird diese Skepsis besonders häufig artikuliert und dem Leser so ins Bewusstsein gerufen, dass es sich hier nicht um eine bloße Wiedergabe von Geschehenem handelt, sondern um einen Text, der zwischen Fiktion und Historiographie anzusiedeln ist. Untrennbar scheinen gerade diese Passagen mit den kommunikativen Absichten verbunden zu sein, die Goethe mit seinem Autobiographieprojekt grundsätzlich verfolgt, in dem er eine Möglichkeit sieht, _____________ 299
Schon Wackerl weist – in seiner Dissertation aus dem Jahre 1970 – darauf hin, dass auch in der Goethe-Philologie die Tendenz bestehe, die Tag- und Jahreshefte kaum als Text mit seinen spezifischen Besonderheiten, was ihre Gestaltung oder ihre Intention anbelangt, zu würdigen, sondern sie vielmehr nur im Vergleich mit Dichtung und Wahrheit zu betrachten und dann negativ zu bewerten (vgl. Wackerl, Tag- und Jahreshefte, S.1– 3). Daran – wie an dem grundsätzlichen Desinteresse der Goethe-Forschung an diesem Teil von Goethes Autobiographischen Schriften – hat sich auch vierzig Jahre nach Wackerls Diagnose nichts geändert.
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sich seine Position am dominanten Pol des literarischen Feldes zurückzuerobern, von seinen Zeitgenossen mit seinen literarischen Werken wieder wahrgenommen und geschätzt zu werden.300 Immer wieder wird so der fiktive Leser direkt angeredet, wie etwa nach der Schilderung des Aufenthalts in Offenbach am Main im Siebzehnten Buch von Dichtung und Wahrheit, als es um die Darstellung der „Geschichte meines Verhältnisses zu Lilli“ (DuW IV, S.748) geht: Sollte jedoch einem ernsten Leser eine solche Lebensweise gar zu lose zu leichtfertig erscheinen, so möge er bedenken daß zwischen dasjenige was hier des Vortrags halben wie im Zusammenhange geschildert ist sich Tage und Wochen des Entbehrens, andere Bestimmungen und Tätigkeiten, sogar unerträgliche Langeweile widerwärtig einstellten (DuW IV, S.754).
Aus literarischen Erwägungen, womöglich um dem Publikum die Darstellung „mit Fleisch und Gewand zu bekleiden“ (Lebensbekenntnisse, S.370), ist hier bewusst von einer historisch ‚korrekteren’, dann aber weniger ‚vergnüglich’ zu lesenden Darstellungsweise abgewichen worden. An anderer Stelle geht es um den Besuch der Brüder Stolberg und des Grafen Haugwitz im Goetheschen Hause in Frankfurt, wo ein unbeschwert-ausgelassener Abend verlebt wird und – ganz in Sturm-undDrang-Manier – „nach ein und der andern genossenen Flasche Wein der poetische Tyrannenhaß zum Vorschein kam“ (DuW IV, S.784). Fröhlich-übermütige Reden werden bei dieser Gelegenheit gehalten, von denen eine des jungen Ichs in direkter Rede wiedergegeben wird. Und wieder findet sich hier ein Hinweis an das Publikum, das die Erzählverfahren offenlegt und gleichzeitig die Distanz zum Geschehen wie auch zum jugendlichen Helden betont: Wenn ich hier, wie die besten Historiker getan, eine fingierte Rede statt jener Unterhaltung einzuschieben in Verdacht geraten könnte, so darf ich den Wunsch aussprechen es möchte gleich ein Geschwindschreiber diese Peroration aufgefaßt und uns überliefert haben. Man würde die Motive genau dieselbigen und den Fluß der Rede vielleicht anmutiger und einladender finden. Überhaupt fehlt dieser gegenwärtigen Darstellung im Ganzen die weitläufige Redseligkeit und Fülle einer Jugend, die sich fühlt und nicht weiß wo sie mit Kraft und Vermögen hinaus soll (DuW IV, S.785).
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Vgl. dazu ausführlich das Kapitel 3.1 dieser Arbeit sowie mit ähnlichen – hier aber gezielt auf die ersten drei Teile von Dichtung und Wahrheit bezogenen – Ergebnissen den Aufsatz von Vincent, der als Ausgangsthese formuliert, dass „Goethe’s life and works were one long, ongoing attempt to define and secure his sense of identity and being in the world“ (Deirdre Vincent, Text as Image and Self-Image. The Contextualization of Goethe’s Dichtung und Wahrheit (1810–1813). In: Goethe Yearbook 10 (2001), S.125– 153, hier S.127).
Sicherlich ist die Rede in ihrem Wortlaut fiktiv – der Hinweis darauf, dass genauso „die besten Historiker“ verführen, legt Goethes Überzeugung offen, dass auch bzw. gerade Historiographie ansprechend und lebendig geschrieben sein müsse, um den Leser zu fesseln, ein Abweichen von den Quellen, ein ‚Hinzudichten’ bisweilen nötig und sinnvoll sei. Dennoch scheint ein solches – genuin literarisches – Verfahren im Bezug auf die Darstellung von etwas, das ‚wirklich’ gewesen ist, in den Augen des fiktiven Lesepublikums etwas ‚Anrüchiges’ zu sein, etwas, was den Verfasser dem „Verdacht“ aussetzt, nicht seriös zu arbeiten. Dabei handelt es sich gerade bei dieser Stelle mehr um eine ‚Notlösung’ und nicht um eine Entscheidung, die etwa bewusst gegen eine authentisch(er)e Überlieferung und für eine (Neu-)Dichtung der 1775 gehaltenen Rede getroffen worden sei. Das erzählende Ich wünscht sich hier stattdessen, jemand hätte den Wortlaut damals aufgezeichnet, denn die verwendeten „Motive“ würden dieselben sein – an diese erinnert sich der alte Goethe offenbar noch genau oder es liegen möglicherweise doch weitere Quellen vor, die von dem Abend berichten –, aber der „Fluß der Rede“, die genaue sprachliche Ausgestaltung seien damals – in der spontanen und unvorbereiteten mündlichen Diktion des jungen Sturm-und-Drang-Genies – ansprechender und eindrucksvoller gewesen, als es der mehr als 70jährige Verfasser301 jetzt zu schreiben vermöge. Betont wird wieder die Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich, die es nicht möglich macht, das gelebte Leben so wiederzugeben, wie es damals wirklich gewesen ist; das darzustellen, was der junge Mensch tatsächlich gedacht und gefühlt haben mag. Wichtig ist, dass sich diese Skepsis nicht etwa gezielt und aussschließlich auf die erwähnte Passage bezieht, sondern auf „diese[...] gegenwärtige Darstellung im Ganzen“. Der alte Goethe fühle sich nicht mehr in der Lage, „weitläufige Redseligkeit“, „Fülle“, „Kraft und Vermögen“ der Jugendjahre in seinem Text zu (re-)konstruieren – und wahrscheinlicher ist, dass er dies gar nicht gewollt hat. „Während nämlich sein Jugendwerk gänzlich aus der individuellen Spontaneität, dem original genius seines Schaffens resultierte, ging es ihm [i.e. Goethe] nun um die Produktion von Musterhaftem“302, merkt Hendrik Birus schon für den Goethe des klassischen Jahrzehnts an, der mit Schiller zusammen _____________ 301
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Das exakte Alter Goethes beim Verfassen dieser Passage lässt sich nicht ermitteln, da Goethe bekanntermaßen am Vierten Teil von Dichtung und Wahrheit seit dem Beginn im Jahr 1816 immer wieder arbeitete und der Text dann erst 1833 posthum erschienen ist. Hendrik Birus, Im Gegenwärtigen VergangneS.Die Wiederbegegnung des alten mit dem jungen Goethe. In: Der junge Goethe. Genese und Konstruktion einer Autorschaft, hg. von Waltraud Wiethölter, Tübingen und Basel 2001, S.9–23, hier S.11.
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versucht, die „‚ästhetische Erziehung’ der Autoren wie des Publikums“303 zu beeinflussen und der die Radikalität, den Gefühlsüberschwang und das Fragmentarische seiner Jugendwerke mehr und mehr ablehnt – erinnert sei an die Ergebnisse, die die Untersuchung von Goethes Darstellung der ‚Werther-Epoche’ im Dritten Teil von Dichtung und Wahrheit erbracht hat, bei der es dem Autor darum geht, sich selbst mittels seiner Autobiographie ein Denkmal zu erschaffen, das gerade die Kunst- und Literaturauffassung des klassischen und späten, keinesfalls aber des Sturm-und-Drang-Genies statuiert. Eine ähnliche Resignation angesichts der Vor- und Darstellbarkeit der Gedanken, Stimmungen und Gefühle, denen sich der junge Goethe seinerzeit hingegeben hat, begegnet im Zusammenhang mit der Schweizer Reise von 1775: Man denke sich den jungen Mann, der etwa vor zwei Jahren den Werther schrieb, einen jüngeren Freund der sich schon an dem Manuskript jenes wunderbaren Werks entzündet hatte, beide ohne Wissen und Wollen gewissermaßen in einen Naturzustand versetzt, lebhaft gedenkend vorübergegangener Leidenschaften, nachhängend den gegenwärtigen, folgelose Plane bildend, im Gefühl behaglicher Kraft das Reich der Phantasie durchschwelgend, – dann nähert man sich der Vorstellung jenes Zustandes, den ich nicht zu schildern wüßte stünde nicht im Tagebuche: ‚Lachen und Jauchzen dauerte bis um Mitternacht’ (DuW IV, S.804).
Geradezu fremd scheint das eigene junge Ich dem Autobiographen zu sein – ohne schriftliche Quellen, mittels derer sich Goethe über seine Jugendjahre informiert und die er hier nicht nur explizit als Hilfsmittel der eigenen Erinnerung nennt,304 sondern sogar direkt zitiert, um seine autobiographische Darstellung mit Rückgriff auf die Methoden eines Historikers abzusichern, sei eine Beschreibung gar nicht möglich. Interessant ist, welche erzählerischen Mittel das erzählende Ich hier einsetzt, um seine Distanz zum „Zustand[...]“ des jugendlichen Helden bewusst zu machen: Erstens „d e n k e [man] sich den jungen Mann“ (Hervorhebung W. H.) – das ist einerseits eine Aufforderung an den fiktiven Leser, andererseits wird mit der Verwendung des unpersönlichen Pronomens ‚man’ der Autor selbst eingeschlossen: Genauso wie ein späterer Leser seines Textes hat er selbst sich vor seinem inneren Auge ein Bild von seinem erzählten Ich zu ‚(er)denken’; ein aktiver geistiger (Re-)Konstruktionsprozess ist dazu erforderlich – beim Leser _____________ 303 304
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Birus, Im Gegenwärtigen Vergangnes, S 11. Auch für die Datierung der Ereignisse sind sie ihm unerlässlich: „Am 16 Juni 1775, denn hier find ich zuerst das Datum verzeichnet, traten wir einen beschwerlichen Weg an“ (DuW IV, S.803), heißt es über den Beginn der Bergwanderung.
wie beim Autor des Textes gleichermaßen. Zweitens kann das Ergebnis dieses imaginativen Prozesses die Vergangenheit, wie sie tatsächlich gewesen ist – hier den jungen Menschen mit seinen „Leidenschaften“, ‚Plänen’, seinem „Gefühl“ – nicht nachbilden, dies gelingt weder auf Seiten des Autors noch auf Seiten des Lesers. Bestenfalls – wiederum in doppelter Distanzierung des ‚Näherns’ und der „Vorstellung“ – „nähert man sich der Vorstellung jenes Zustandes.“ Drittens werden zwei Adjektive in den Versuch eingefügt, den „Zustand[…]“ des jugendlichen Ichs zu beschreiben, die wiederum ausdrücken, dass dieser schreibend darzustellende junge und dieser seine Autobiographie schreibende alte Goethe kaum mehr etwas gemein haben: Der Werther – sowieso schon ein Werk, das bei der ausführlichen Auseinandersetzung mit der ‚Werther-Epoche’ im Dritten Teil von Dichtung und Wahrheit als ‚Jugendsünde’ abgetan wird – wird als „wunderbar[...]“ und so als etwas, was zum einen aus der Perspektive des Schreibenden als etwas Besonderes, zum anderen gleichwohl als etwas, worüber man sich nur erstaunt zeigen, sich wundern kann, bezeichnet. Die „Plane“, die die jungen Männer während ihrer Gebirgswanderung schmiedeten, nennt er „folgelos[…]“, fruchtlos – ein Etikett, das in Sicht und Wortwahl des alten Goethe, für den teleologisches Denken so kennzeichnend ist und der alle Bemühungen und Unternehmungen von ihrem ‚Ertrag’ her beurteilt, beinahe mit ‚wertlos’ gleichzusetzen ist. Vor dem Hintergrund dieser drei exemplarisch angeführten Textstellen aus dem Vierten Teil von Dichtung und Wahrheit wird deutlich, dass Goethes Skepsis, die eigene Lebensgeschichte überhaupt so darstellen zu können, wie sie zum Zeitpunkt des Erlebens tatsächlich gewesen ist, sich nicht nur in den zu Beginn dieser Arbeit untersuchten programmatischen Äußerungen zu Chancen und Grenzen autobiographischen Schreibens überhaupt in Briefen oder Tagebucheinträgen zeigt und dann besonders deutlich Einfluss auf die chronikartig angelegten Tag- und Jahreshefte nimmt. Vielmehr ist diese Skepsis ebenso in den anderen Teilen der Autobiographischen Schriften, ja selbst im vom zeitgenössischen Publikum wie von der Goethe-Philologie als Norm und Ideal angesehenen bekanntesten autobiographischen Text Goethes, in Dichtung und Wahrheit, im Hintergrund immer präsent und fungiert so gleichsam als Warnung für den Leser, das Erzählte mit den tatsächlichen historischen Begebenheiten in Eins zu setzen.
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3.6.3
Geschichtsschreibung als „Dichtung“, „Chronik“ und „Lücke“ – Goethes autobiographische Darstellungsverfahren
3.6.3.1 Dichtung und Wahrheit Mit dem explizitem Zitat eines Tagebucheintrags Goethes vom Juni 1775 „‚Lachen und Jauchzen dauerte bis um Mitternacht’“ (DuW IV, S.804) wird zunächst die historisch verifizierte Referenz für die eigene Darstellung angegeben, die dem Leser die Verlässlichkeit des Erinnerten verbürgt. Darüber hinaus begegnet ein solch quellenbasierter Darstellungsmodus in allen Autobiographischen Schriften, nicht nur in den Tag- und Jahresheften, die auf den ersten Blick konzeptionell von den anderen autobiographischen Texten deutlich abweichen. Für Dichtung und Wahrheit ist zweifellos kennzeichnend, dass in allen vier Teilen die eigene Geschichte chronologisch erzählt und differenziert deutend entworfen wird. Dennoch legen nicht nur die eingeschalteten skeptischen Vorbehalte, sondern ebenso die – vorwiegend im Vierten Teil angewandte – Collagetechnik, die auf eigene wie fremde Texte verweist oder sie gar direkt einschaltet, schon hier nahe, dass der Autobiograph die Möglichkeit einer lückenlosen, die vergangene Wirklichkeit objektiv wiedergebenden Darstellung grundsätzlich bezweifelt. Die Verweise haben dabei zweierlei Funktion: Sie dienen einmal – ähnlich wie das direkte Zitat aus dem Tagebuch der Schweizer Reise – als ‚Quellenbeleg’ des seriös arbeitenden Historikers, darüber hinaus aber verdeutlichen sie die Multiperspektivität, auf der jede verlässliche Konstruktion von Geschichte basieren muss. Im Bezug etwa auf die Brüder Stolberg, von denen in Goethes Text zuvor schon einige Male die Rede war, scheint vor allem Letztes das entscheidende Movens dafür zu sein, ausführliche Passagen aus Lavaters Physiognomik zu zitieren und die eigene – aus der Sicht des Alters formulierte – Bewertung zu relativieren. Auch sollen dem Leser andere zeitgenössische Bewertungen zum Vergleich angeboten werden. Nur scheinbar markiert dabei der Absatz im Text einen gedanklichen Neuanfang. Bevor nämlich explizit von den Brüdern Stolberg die Rede ist, geht es – immer noch im Zusammenhang mit der Schweizer Reise von 1775 – um Johann Caspar Lavater und den Einfluss, den dieser auf das erzählte Ich und seine Sturm-und-Drang-Mitstreiter gehabt habe, mehr noch um die Sicht des Autobiographen auf Lavater und dessen Wirkung. In diesem Zusammenhang wird ausführlich Lavaters wichtigstes Werk, die Physiognomischen Fragmente, angesprochen, die auf den jungen Goethe einen großen Eindruck gemacht haben, jedoch in der Bewer298
tung des erzählenden Ichs keineswegs diese positive Einschätzung behalten.305 Auf die Vorstellung der Physiognomischen Fragmente folgt – mit der Ankündigung, dass „[n]achfolgende Betrachtungen […] wohl gleichfalls auf jene Zustände bezüglich, hier am rechten Orte eingeschaltet stehen [mögen]“ (DuW IV, S.822) – eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Genie-Begriff. Sie kann als Abrechnung mit der Epoche des Sturm und Drang gelten, dessen Begriffsverwendung der späte Goethe grundsätzlich ablehnt. Den Einfluss, den der ‚Genie-Kult’ auf ihn gehabt habe, beurteilt er nun negativ, da „das Wort Genie“ zu „eine[r] allgemeine[n] Losung“ (ebd.), gar zum Zentralbegriff einer ganzen literarischen Strömung erklärt und schlicht alles und jeder als ‚genialisch’ befunden wurde, der sich Regeln widersetzte.306 Wichtig ist in diesem Kontext, dass sowohl die Brüder Stolberg als auch Lavater in engem Zusammenhang mit dem Genie-Begriff stehen – jene als (Mit-)Begründer des Göttinger Hainbunds und dieser als eine der Leitfiguren des Sturm und Drang, die sich in der wohl bekanntesten Passage der Physiognomische[n] Fragmente theoretisch mit dem Begriff auseinandergesetzt hat.307 Direkt im Anschluss an diese ‚Abrechnung’ wird nun nach einem Absatz im Text wieder auf die Brüder Stolberg (und direkt darauf auf Lavater) Bezug genommen: In dem Vorhergehenden ist von dem Jünglingsalter zweier Männer die Rede gewesen, deren Andenken aus der deutschen Literatur- und Sittengeschichte sich nimmer verlieren wird. In gemeldeter Epoche jedoch lernen wir sie gewissermaßen nur aus ihren Irrschritten kennen, zu denen sie durch eine fal-
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U.a. die folgende Bemerkung ist dazu geeignet, die Ablehnung zu illustrieren, die der alte Goethe Lavater und seinem Werk entgegenbringt: „Eben jenes Werk [i.e. die Physiognomischen Fragmente] zeigt uns zum Bedauern, wie ein so scharfsinniger Mann in der gemeinsten Erfahrung umhertappt, alle lebenden Künstler und Pfuscher anruft, für charakterlose Zeichnungen und Kupfer ein unglaubliches Geld ausgibt, um hinterdrein im Buche zu sagen, daß diese und jene Platte mehr oder weniger mißlungen, unbedeutend und unnütz sei“ (DuW IV, S.821f.). Aus der Perspektive des Autobiographen hat sich gerade die Sturm-und-DrangÜberzeugung, dass es nötig sei, als ‚Genie’ alle Regeln zu sprengen, als ‚Irrweg’ erwiesen, und setzt diesem Begriffsverständnis selbst folgende Definition entgegen: „daß Genie diejenige Kraft des Menschen sei, welche durch Handeln und Tun, Gesetze und Regel gibt“ (DuW IV, S.823). Gerade in dieser Tendenz, alle Regeln als ungültig zu erklären, sieht Goethe den die eigene Entwicklung hemmenden Einfluss seiner damaligen Zeitgenossen: „Und so fand ich mich in der Mitte, fast mehr gehindert mich zu entwickeln und zu äußern, durch falsche Mit- und Einwirkung der Sinnesverwandten, als durch den Widerstand der Entgegengesinnten“ (DuW IV, S.823). Vgl. Johann Caspar Lavater, Ausgewählte Werke in vier Bänden, hg. von Ernst Staehelin. Bd. 2. Zürich 1943, S.198–203: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. 4. Versuch, 1. Abschnitt, 10. Fragment.
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sche Tagsmaxime in Gesellschaft ihrer gleichjährigen Zeitgenossen verleitet worden (DuW IV, S.824).
Nicht nur im Hinblick auf die eigene Entwicklung, auch für die „Irrschritte[...]“ der damaligen Freunde wird die Macht der Tyche, die die jungen Menschen von ihrem Daimon abgebracht habe, als Entschuldigung angeführt und das eigene negative Urteil auf diese Weise abgemildert. Damit diese Relativierung nachvollziehbar wird, fügt der Autobiograph einen längeren Auszug aus der Physiognomik direkt und nahezu unkommentiert in die eigene Darstellung ein. So kann er dem Leser neben seiner eigenen die – zahlreiche Vorzüge der jeweiligen äußeren Erscheinung wie des Charakters der beiden Brüder hervorhebende – Sicht der 1770er Jahre auf die beiden Stürmer und Dränger vorzuführen: Nunmehr aber ist nichts billiger als daß wir ihre natürliche Gestalt, ihr eigentliches Wesen geschätzt und geehrt vorführen, wie solches eben damals in unmittelbarer Gegenwart von dem durchdringenden Lavater geschehen, deshalb wir denn, weil die schweren und teuren Bände des großen physiognomischen Werkes nur wenigen unsrer Leser gleich zur Hand sein möchten, die merkwürdigen Stellen welche sich auf beide beziehen, aus dem zweiten Teile gedachten Werkes, und dessen dreißigstem Fragmente, Seite 244. hier einzurücken kein Bedenken tragen (ebd.).
Gelesen werden kann diese Passage als ein latenter Hinweis auf die Multiperspektivität, mit der Geschichte rekonstruiert werden muss: Neben die eigene Bewertung des alten Goethe wird die Sicht der Zeitgenossen der 1770er Jahre gesetzt und darüber hinaus noch eine Erwartung angedeutet, die offensichtlich normalerweise an den fiktiven Leser gestellt wird: Bei weniger umfangreichen und damit weniger „teuren“ Werken, auf die in Dichtung und Wahrheit – oder weiter gefasst: in Goethes Autobiographischen Schriften – Bezug genommen wird, sei es angeraten, selbst einmal diese Texte aufzuschlagen und Goethes spätere Sicht der Dinge mit der Darstellung der Zeitgenossen, mit den Quellen also, zu konstrastieren, um sich ein eigenes Urteil zu bilden. Allerdings wird dieses so scheinbar objektive Leser-Urteil dennoch im Sinne des Autobiographen beeinflusst, obgleich dieser die zitierte Beschreibung der Brüder Stolberg in Lavaters Werk gar nicht kommentiert, sondern im Anschluss an die eingeschobene Passage direkt von der Rückkehr nach Frankfurt aus der Schweiz berichtet und also zu einem neuen Thema überleitet. Denn zuvor hat das Ich ja ausführlich dargelegt, was aus seiner jetzigen Perspektive vom ‚Genie-Kult’ der Sturm-undDrang-Bewegung zu halten ist, und ebenso, wie es nun zu Lavater und seinen Physiognomischen Fragmenten steht. Wenn es nämlich gerade ein Werk ist, dessen Qualität zuvor unmissverständlich in Frage gestellt 300
wurde, in dem die Brüder Stolberg gefeiert werden – und zudem noch enthusiastisch in sprachlich-stilistischer Manier des Sturm und Drang308 –, so mag der Auszug aus diesem Werk zwar als eine zeitgenössische Quelle gelten, die im Sinne multiperspektivischer Darstellung von Geschichte eingefügt wird und die vom Autor durchaus als geeignet dafür erachtet wird, dem Leser Überzeugungen, Ideen und Stimmungen der Zeit nahe zu bringen. Aussage und Wertung dieser Quelle werden aber dennoch als inzwischen ‚überholt’, als nicht mehr gültig vorgeführt: Als etwas so Besonderes – als etwas „schwebendes also, das die Erde nicht berührt“ (DuW IV, S.825) – können die beiden „Jünglinge“ (DuW IV, S.824) aus der Perspektive der Jahre 1830 bis 1832 nicht mehr gelten; weder aus der Sicht des Autobiographen noch aus der Sicht des impliziten Lesers. In grundsätzlich ähnlicher Absicht werden eigene Texte aus der Sturm-und-Drang-Zeit eingefügt und zwar besonders häufig im Zusammenhang mit der Darstellung der Beziehung zu Lili Schönemann. So finden sich zu Beginn des Siebzehnten Buches die „zwar bekannt[en], aber vielleicht besonders hier eindrücklich[en]“ (DuW IV, S.749) Gedichte „Herz, mein Herz, was soll das geben?“ und „Warum ziehst du mich unwiderstehlich“. Gegenübergestellt werden dabei die „betrachtende Darstellung“ des Autobiographen mit der „lebendigen Anschauung“, dem „jugendlichen Mitgefühl“ (ebd.) des erzählten Ichs. In den Passagen, in denen die Verlobungszeit mit der Frankfurter Bankierstochter Lili behandelt wird, scheint die Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich besonders groß: Während der Autobiograph zu erklären versucht, warum und woran die Beziehung gescheitert ist, ja vor allem ob der unterschiedlichen gesellschaftlich-familiären Hintergründe der beiden Liebenden scheitern musste, erlebt das erzählte Ich eine Zeit des Gefühlsüberschwangs mit Momenten großen Glücksgefühls sowie ebensolcher Trauer und Verunsicherung. Wie sehr das junge Ich diese Erfahrungen emotional berührt haben, vermag der „betrachtende“, vom Ergebnis her denkende und klar analysierende Historiograph des eigenen Lebens kaum mehr nachzuempfinden, geschweige denn schreibend wiederzugeben. Eine Möglichkeit, dem Leser eine ‚Ahnung’ dieser Gefühle dennoch zu vermitteln, ist der Rückgriff _____________ 308
Exemplarisch für diese Diktion der eingeschalteten Passagen aus den Physiognomischen Fragmenten kann der Beginn der Beschreibung „des jüngeren“ gelten: „Siehe den blühenden Jüngling von 25 Jahren! das leichtschwebende, schwimmende, elastische Geschöpfe! es liegt nicht; es steht nicht; es stemmt sich nicht; es fliegt nicht; es schwebt oder schwimmt. Zu lebendig, um zu ruhen; zu locker, um festzustehen; zu schwer und zu weich, um zu fliegen“ (DuW IV, S.824).
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auf die eigenen Texte: „Hat man sich diese Lieder aufmerksam vorgelesen lieber noch mit Gefühl vorgesungen, so wird ein Hauch jener Fülle glücklicher Stunden gewiß vorüber wehen“ (DuW IV, S.751).309 Zusätzlich wird hier allerdings – anders als bei der Einschaltung der Physiognomik-Passage als des Textes eines fremden Autors – die Gelegenheit genutzt, die eigenen früheren Texte zu kommentieren, in diesem Fall „besonders den Schluß des zweiten Gedichtes [i.e. „Warum ziehst du mich unwiderstehlich“] zu erläutern“ (ebd.). Die Frage „Bin ich’s noch den du bei so viel Lichtern / An dem Spieltisch hältst? / Oft so unerträglichen Gesichtern / Gegenüber stellst?“ (DuW IV, S.750) des Gedichts wird mit den vielschichtigen und zum Teil widersprüchlichen Erfahrungen unterlegt, die das erzählte Ich in Gesellschaft Lilis in den Kreisen des Frankfurter Großbürgertums gemacht hat. Wenn der Autobiograph so genauere biographische Hintergründe für dieses Beispiel von ‚Erlebnislyrik’ liefert, folgt er damit einer Schreibstrategie, die sich womöglich wieder an den etwa im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit oder in den Lebensbekenntnissen im Auszug zum zentralen Movens des gesamten Autobiographieprojekts erklärten Wünschen des Publikums orientiert, indem genauere Informationen zum biographischen ‚Gehalt’ (gerade der Jugend-)Werke geboten werden. Dieses Verfahren beruhte auf einer bewussten Auswahl aus der Fülle der Texte jener Zeit, das erläutert das erzählende Ich an anderer Stelle: Doch! Wenden wir uns von dieser noch in der Erinnerung beinahe unerträglichen Qual zur Poesie, wodurch einige geistreich herzliche Linderung in den Zustand eingeleitet wurde. Lilis Park mag ohngefähr in diese Epoche gehören; ich füge das Gedicht hier nicht ein, weil es jenen zarten empfindlichen Zustand nicht ausdrückt sondern nur, mit genialer Heftigkeit, das Widerwärtige zu erhöhen und durch komisch ärgerliche Bilder das Entsagen in Verzweiflung umzuwandeln trachtet. Nachstehendes Lied druckt eher die Anmut jenes Unglücks aus, und sei deshalb hier eingeschaltet (DuW IV, S.832).
Es folgt das Gedicht „Ihr verblühet süße Rosen“. Die Begründung der Auswahlentscheidung macht deutlich, dass nicht nur das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte selbst zum Teil bewusst, um ein bestimmtes Bild des Ichs zu entwerfen, zum Teil unbewusst selektiv ist, weil nicht alles, was geschehen ist, erinnert wird, und so keinen Anspruch auf _____________ 309
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Als ganz ähnlich motiviert wird die Aufnahme von „Und frische Nahrung, neues Blut“ in den Bericht über die Bootsfahrt auf dem Zürchersee angekündigt: „Möge ein eingeschaltetes Gedicht von jenen glücklichen Momenten einige A h n u n g herüberbringen“ (DuW IV, S.799; Hervorhebung WH).
Vollständigkeit oder gar Objektivität haben kann. Vielmehr dient die Entscheidung dafür, das eine Gedicht einzufügen und auf das andere zu verzichten, dazu, diejenigen Aspekte des Zustands des erzählten Ichs hervorzuheben, die der Autobiograph hervorgehoben wissen möchte. Darüber hinaus bietet die Auswahl, die an dieser Stelle sogar noch bewertend kommentiert wird, die Möglichkeit, die eigenen literarischen Werke aus der zeitlichen Distanz neu zu bewerten; klarzustellen, welche Jugendwerke der alte Goethe noch schätzt und welche mit seinem (nach-)klassischen Literaturprogramm gar nicht mehr zu vereinbaren sind: „geniale[...] Heftigkeit“ des einen Gedichts wird abgelehnt, die „Anmut“, mit der das damalige „Unglück[...]“ ausgedrückt wird, als Qualität des anderen Gedichts hervorgehoben. An anderer Stelle werden in ähnlicher Funktion verschiedene Fassungen eines Gedichts miteinander verglichen. Der Autobiograph begründet hier explizit, warum er an der entsprechenden Stelle von Dichtung und Wahrheit die Fassung von „Wenn ich liebe Lili dich nicht liebte“ einfügt, wie sie in der Erstfassung überliefert ist, und nicht die Fassung, „wie sie in der Sammlung meiner Gedichte abgedruckt ist“ (DuW IV, S.801): Die ursprüngliche Fassung sei „[a]usdrucksvoller“ (ebd.), sie gebe authentischer und originaler die Situation und die Stimmung des Ichs während der Bergwanderung von Richterswyl nach Maria Einsiedeln wieder, um die es in der entsprechenden Passage gerade geht: „Wie mir zu Mute gewesen, deuten folgende Zeilen an, wie sie d a m a l s geschrieben noch in einem Gedenkheftchen aufbewahrt sind“ (DuW IV, S.800; Hervorhebung W.H.). Autobiographik und – auch hier: nicht neutral-objektive, sondern aus der Perspektive des erzählenden Ichs wertende – Literaturgeschichtsschreibung rücken auf diese Weise bei der Darstellung des eigenen Lebens in einen engen Zusammenhang. 3.6.3.2 Italienische Reise, Teil I und II Nur auf den ersten Blick ganz anders wirkt die Art, in der in den ersten beiden Teilen der Italienischen Reise ein zentraler Abschnitt in der Geschichte des Ichs erzählt wird, denn der Autor wendet hier durchaus Schreibverfahren an, die denen der Integration eigener früherer Texte im Vierten Teil von Dichtung und Wahrheit sehr ähnlich sind. Die eben zitierte Äußerung, die sich auf das Lili-Gedicht bezieht, das während der Alpenwanderung von Richterswyl aus entstanden ist, könnte ebenso gut als Motto den ersten beiden Teilen der Italienischen Reise vorangestellt sein. 303
Die ersten beiden, 1816/1817 erschienenen Teile über die Reiseabschnitte von Karlsbad bis Rom bzw. über die Weiterreise nach Neapel und Sizilien legt der Autor bekanntermaßen in Form eines (Reise-)Tagebuchs vor, in dem sich beinahe zu jedem Tag Eintragungen nachlesen lassen, die die besichtigten Sehenswürdigkeiten, die Erlebnisse, die Beschäftigungen des Reisenden wie vor allem dessen Eindrücke, Gedanken und Gefühle betreffen und sein Italien-Erlebnis als „Wiedergeburt“ präsentieren. Ebenso wie später im Vierten Teil von Dichtung und Wahrheit ergänzt er hier den Bericht über die Jugendjahre um ‚Originaldokumente’, ein Verfahren, das die Gesamtkonzeption des Teils von Goethes Autobiographie kennzeichnet, der dem Reiseabschnitt von Karlsbad bis Sizilien und zurück nach Neapel gewidmet ist. Dabei lässt sich zumindest für den Ersten Teil der Italienischen Reise nachweisen, dass Goethe als seriöser Historiograph seiner eigenen Lebensgeschichte arbeitet. Einerseits hält er sich sehr genau an die Quellen, die ihm für die autobiographische Darstellung dieses Lebensabschnitts zur Verfügung stehen – nämlich das für Charlotte von Stein 1786 verfasste Reisetagebuch und diverse Briefe, die er aus Italien nach Weimar schickte. Andererseits zeigen wiederum die wenigen Änderungen, die der Autobiograph als Redaktor seiner beinahe 30 Jahre alten Aufzeichnungen vornimmt,310 besonders klar, was der späte Goethe nun eigentlich gezielt als ‚Ertrag’ seiner Italienreise verstanden wissen will.311
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In einem Brief an Zelter vom 27. Dezember 1814 beschreibt Goethe selbst seine Redaktionsverfahren beim Umgang mit den Originaldokumenten aus seiner Italien-Zeit: „Dieses Büchlein erhält dadurch einen eignen Charakter, daß Papiere zum Grunde liegen, die im Augenblick geschrieben worden. Ich hüte mich, so wenig als möglich daran zu ändern, ich lösche das Unbedeutende des Tages nur weg, so wie manche Wiederholung; auch läßt sich vieles, ohne dem Ganzen die Naivetät zu nehmen, besser ordnen und ausführlicher darstellen“ (WA IV/25, S.118: Brief an Zelter, 27. 12. 1814). Die Diskussion um die Gattungszugehörigkeit der Italienischen Reise kann an dieser Stelle nicht referiert werden, selbst wenn sich auch noch in jüngerer Zeit Arbeiten finden, die den Text als Reisebeschreibung lesen, so zuletzt wohl Aurnhammers Aufsatz, der „Goethes Reisebeschreibung als einzigartige Synthese konkurrierender Diskurstypen beschreib[t…]“ (Achim Aurnhammer, Goethes „Italienische Reise“ im Kontext der deutschen Italienreisen. In: Goethe-Jahrbuch 12 (2003), S.72–86, hier S.73 (bei Aurnhammer auch Hinweise auf weitere Arbeiten, die die Gattungszugehörigkeit der Italienischen Reise diskutieren)). Sicherlich bietet Goethes Italienische Reise intertextuelle Bezüge zur Reiseliteratur der Aufklärung und prägt wiederum selbst die Tradition nachfolgender Italienreisender und ihrer Reisebeschreibungen, dennoch weist Goethe selbst den Text als Teil seines Autobiographieprojekts aus und die Diskussion um die Gattungszugehörigkeit verkennt, dass eine genauere Betrachtung von Goethes Autobiographischen Texten in ihrer Gesamtheit die einzelnen Teile generell als sehr heterogen ausweist.
Der exemplarische Vergleich des Eintrags im Reisetagebuch aus Terni312 – geschrieben zwei Tage vor der Ankunft in Rom – mit dem entsprechenden Abschnitt der Italienischen Reise (IR, S.129–132) kann diese These verdeutlichen.313 Auf der vorletzten Station vor Rom, „wieder in einer Höle sitzend, die vor einem Jahre vom Erdbeben gelitten“ (Rtb, S.146; ähnlich IR, S.129) schaut Goethe auf seine Reiseroute seit Foligno zurück, fügt Gedanken über die italienische Mentalität und – anlässlich der Besichtigung des römischen Aquädukts bei Spoleto – über die „Werck[e] der Alten“ (Rtb, S.147, ähnlich IR, S.130) sowie über die antike Geschichte ein, nimmt Bezug auf den Nutzen, den ihm die Reise bisher für seine persönliche Entwicklung gebracht hat, und schließt meteorologische und mineralogische Betrachtungen an. Dass bei der Redaktion stilistisch-sprachliche Veränderungen und ‚Glättungen’ vorgenommen und für die Veröffentlichung alles, was im Zusammenhang mit der ursprünglich pragmatischen Kommunikationsfunktion des Reisetagebuchs steht, gelöscht werden, ist vor dem Hintergrund der ‚Gattungstransformation’erklärbar.314 In unserem Zusammenhang ist allerdings weit aussagekräftiger, welche inhaltlichen Änderungen, Streichungen und Ergänzungen er bei der Redaktion dieses Reisebucheintrags vornimmt. _____________ 312
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FA II/3, S.146–148. Auch im Folgenden wird das „Reisetagebuch für Frau von Stein“ nach der Frankfurter Ausgabe zitiert; Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle Rtb nachgewiesen. Dieser Abschnitt scheint für eine exemplarische Analyse gut geeignet, weil sich an ihm bereits besonders viele und vor allem besonders zentrale redaktionelle Verfahrensweisen aufzeigen lassen. Die Arbeiten vorwiegend älteren Datums, die sich mit der Redaktion der Originaldokumente von 1786 bis 1788 für die Veröffentlichung in der Italienischen Reise beschäftigen, nehmen sehr minutiös gerade die Verfahren in den Blick, die SprachlichStilistisches oder aber den Umgang mit persönlich-kommunikativen Bezügen betreffen. Vgl. dazu Wauer, Die Redaktion von Goethes „Italienischer Reise”; Gerhard, Die Redaktion der „Italienischen Reise”; Santoro, Il „Tagebuch” italiano e la „Italienische Reise” di Goethe. Auch der neuere Aufsatz von Helmut Koopmann, der generell „Goethe als Tagebuchschreiber“ gewidmet ist und dessen Schwerpunkt im Hinblick auf Goethes Italientexte daher freilich mehr auf dem Reisetagebuch als auf der Italienischen Reise liegt, sieht das „wichtigste Kriterium“ des „literarischen Produktionsprozesses, der aus einem intimen Tagebuch ein öffentliches Werk mit dem Anspruch einer repräsentativen Lebensdarstellung werden läßt“, in der „Kommunikabilität, wie Goethe das nannte“ (Helmut Koopmann, Goethe als Tagebuchschreiber. In: Goethe. Neue Ansichten – neue Einsichten, hg. von Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann Würzburg 2007, S.169–183, hier S.178). Koopmanns Schlussfolgerung erscheint darüber hinaus allerdings methodisch und terminologisch zu verkürzt, wenn er lediglich „Allgemeingültigkeit“ und „die Verwandlung des Autobiographischen in ein Zeitdokument“ zum „Ziel der Darstellung“( Koopmann, Goethe als Tagebuchschreiber, S.179) der Italienischen Reise erklärt.
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So wird anhand dieses Textabschnitts deutlich, was Goethe im Brief an Zelter vom 27. Dezember 1814 im Hinblick auf die Redaktion des Reisetagebuchs für Frau von Stein mit der Aussage meint, dass er „[…] das Unbedeutende des Tages nur weg[lösche], sowie manche Wiederholung”.315 Ausgelassen sind hier nämlich die mineralogischen Beobachtungen zum Gebirge,316 die im Wesentlichen die Aussagen über die Geologie Ternis wiederholen (beide Male wird auf das in der Gegend verbreitete Kalkgestein hingewiesen) sowie situative Bemerkungen zum Wetter: „Heute früh ging ein recht kalter Wind. Abends war es wieder schön und wird morgen heiter seyn“ (Rtb, S.148). So wie hier stellt das Tilgen situativer Bezüge, denen in der Retrospektive keine größere Bedeutung mehr beigemessen wird, auch anderswo ein fast durchgängiges Prinzip redaktioneller Arbeit dar.317 Im selben Brief an Zelter schreibt Goethe, dass sich bei der Redaktion des Reisetagebuchs „vieles, ohne dem Ganzen die Naivetät zu nehmen, besser ordnen und ausführlicher darstellen”318 lasse – und tatsächlich finden sich gerade im Abschnitt aus Terni nicht nur Beispiele für eine ‚bessere Ordnung’ des dokumentarischen Materials, sondern auch mehrere Belege für eine ‚ausführlichere Darstellung’ einzelner Themen und Gedanken. So wird den schon im Original vorhandenen Überlegungen zur Mentalität der Italiener (Rtb, S.146) eine neue Schlusswendung gegeben, indem das Ich nun auf das Verhalten der Italiener gegenüber den Fremden abhebt und die zuvor beschriebene Zwietracht unter den Landsleuten dadurch abmildert, dass sie sich gegenüber dem Fremden doch immer einig seien: „[…] und doch fassen sie zugleich wieder auf, und merken gleich wo der Fremde sich in ihr Tun und Lassen nicht finden kann“ (IR, S.130). _____________ 315 316
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WA IV/25, S.118: Brief an Zelter, 27. 12. 1814. Gegenüber Charlotte von Stein heißt es dazu noch: „Das Gebirg ist sich bis hierher immer mit wenigen Abweichungen gleich. Immer der alte Kalck, dessen Flötz Lagen auf diesen letzten Stationen immer sichtbarer wurden“ (Rtb, S.148). Zum Beispiel fällt darunter auch der Verzicht auf Überlegungen zur weiteren Reiseoder auch zur jeweiligen Tagesplanung, die Charlotte von Stein noch mitgeteilt werden (z.B. während des Aufenthalts in Venedig in Rtb, S.97 und 110 oder in Bologna in Rtb, S.129), sowie auch einzelne, im Tagebuch nur als Notiz erwähnte Kunstbetrachtungen, wie zum Beispiel kurze, skizzenhaft ausgeführte Bemerkungen zur Kirche St. Giorgio (Rtb, S.91), zum Palazzo Reale (Rtb, S.92), zur Karmeliterkirche S.Maria di Nazareth oder zu Tintorettos „Hochzeit zu Kana“ in Venedig (Rtb, S.93). Auch wird über ‚Annehmlichkeiten’ der Reise kaum mehr berichtet; so fehlen im redigierten Text etwa die Informationen, dass Goethe in Venedig einen Diener einstellt (Rtb, S.97 und 104) oder dass er bei einem Abendspaziergang in Vicenza „für 3 Soldi ein Pfund Trauben“ kauft und „sie unter den Säulengängen des Palladio“ verzehrt (Rtb, S.68). WA IV/25, S.118: Brief an Zelter, 27. 12. 1814.
Neu ist im Abschnitt der Italienischen Reise ein dezidiert antikatholisches Moment, und dies wirft ein deutliches Licht auf die Zeitebene der Veröffentlichung des Textes, demonstriert der Autor doch auf diese Weise seine Oppositionshaltung gegenüber der Romantik. Während im Tagebucheintrag ohne eine weitere Stellungnahme lediglich erwähnt wird, dass ein „Priester […] seit Perugia, da mich der Graf Cesare verlassen mein Gefährte [ist]“ (Rtb, S.146), wird in der Italienischen Reise der ‚Sinn’ dieser Begegnung erklärt: Das erzählte Ich erfährt durch ihn Belehrung „von dem Ritus und andern dahin gehörigen Dingen“ (IR, S.129), obgleich es sich von vornherein offen als „Ketzer“ (ebd.) zu erkennen gibt. Nicht nur hier wird im autobiographischen Rückblick der Anschein erweckt, als ob der Reisende dem Gespräch mit dem Priester nicht mit Offenheit und Unvoreingenommenheit, sondern vielmehr mit einer bereits fest ausgereiften Meinung begegnet. Im Abschnitt über den Aufenthalt in Terni wird dieser Eindruck von dem in der Redaktion neu eingefügten reflexiven Einschub gegen Ende des Eintrags verstärkt, in dem der dreißig Jahre ältere Redaktor – den situativen Rahmen, dem „Mittelpunkte des Katholizismus mich nähernd, von Katholiken umgeben, mit einem Priester in eine Sedie eingesperrt“ (IR, S.131), wieder aufnehmend – seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Katholizismus, in dem ihm „vom ursprünglichen Christentum alle Spur verloschen“ und gegen ein „barockes Heidentum“ (ebd.) eingetauscht scheint, unmissverständlich Ausdruck verleiht.319 _____________ 319
Auf die Veränderung in der Darstellung des Katholizismus, dessen deutlich negativere Wertung in der Italienischen Reise gegenüber den Originaldokumenten auffällig ist, weist Santoro hin und erklärt diese Redaktionstendenz damit, dass diese ablehnende Haltung für die „epoca della redazione della I.R.“ (Santoro, Il „Tagebuch” italiano e la „Italienische Reise” di Goethe, S.439) kennzeichnend sei. Zu ergänzen bleibt jedoch, dass die Kritik am Katholizismus vor allem vor dem Hintergrund der programmatischen Oppositionshaltung gegenüber der romantischen Bewegung zu sehen ist, die auch in neueren Arbeiten überzeugend nachgewiesen wurde, zuletzt von Birus, Hendrik: Goethes Italienische Reise als Einspruch gegen die Romantik (19.01.2004). In: Goethezeitportal. URL: (13. 08. 2010). Eine gezielt anti-katholische Stoßrichtung lässt sich tatsächlich in der Italienischen Reise an mehreren Stellen nachweisen – etwa, wenn es das erzählte Ich der Italienischen Reise in Regensburg nicht mehr „freut […] daß ich nun ganz in den Catholicismus hineinrücke, und ihn in seinem Umfange kennen lerne“ (Rtb, S.12) und dass er den „Jesuitengeneral“ in Trient seiner Gemeinde nicht mehr etwas ‚vorsagen’ (Rtb, S.32), sondern – deutlich negativer – etwas ‚aufbinden’ (IR, S.30) lässt. Auch kann das in der Italienischen Reise neu eingefügte novellistisch ausgeführte Gespräch mit dem päpstlichen Offizier auf der Fahrt nach Perugia, in dem Goethe sich deutlich vom Katholizismus distanziert, als Beleg für Santoros These gelten.
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Einen wichtigen Unterschied weist die Darstellung des bereits erzielten beziehungsweise noch zu erwartenden ‚Nutzens’ der Reise und die damit verbundene Reflexion über die eigene Entwicklung, den Lernund Bildungsprozess in Italien, auf. Im Reisetagebuch steht: Die nächsten vier Wochen werden mir voller Freuden und Mühe seyn, ich will aufpacken was ich kann. Das bin ich gewiß und kann es sagen noch keine falsche Idee hab ich aufgepackt. Es scheint arrogant, aber ich weiß es, und weiß was es mich kostet nur das Wahre zu nehmen und zu fassen (Rtb, S.147).
Die Italienische Reise setzt dafür: Was bin ich nicht den letzten acht Wochen schuldig geworden, an Freuden und Einsicht; aber auch Mühe hat michs genug gekostet. Ich halte die Augen nur immer offen, und drücke mir die Gegenstände recht ein. Urteilen möchte ich gar nicht, wenn es nur möglich wäre (IR, S.130).
Wird während der historischen Reise euphorisch nach vorne geschaut und werden gespannt die neuen Eindrücke erwartet, denen Goethe in Rom ausgesetzt sein wird und von denen er sich wichtige Impulse für seine Persönlichkeitsentwicklung erwartet, so zieht der spätere Redaktor vielmehr ein vorsichtig positives Zwischenfazit über den bisherigen Ertrag seiner Reise. Zwar wird in der Italienischen Reise der Gedanke wieder aufgenommen, dass dieser Gewinn nicht ohne „Mühe“ erlangt werden kann, doch rückt das Moment der Arbeit, der ‚Belastung’ durch die neuen Eindrücke im Gegensatz zum Tagebuch deutlich in den Hintergrund. Während der Reise muss von den neuen Eindrücken zuerst „aufgepackt“ werden, was nur irgend möglich ist, dann müssen sie in einem mühsamen Prozess verarbeitet werden und sich schließlich zu den ‚wahren Ideen’ entwickeln. Später entsteht eher der Eindruck, als ob es nicht mehr ganz so ‚mühsam’ ist, zu „Freuden und Einsicht“ zu gelangen, und der Seh- und Lernprozess verläuft leicht und mühelos: Man müsse nur „die Augen […] immer offen [halten], und [sich] die Gegenstände recht ein[drücken]“ (IR, S.130). Es wird damit weniger der Prozess als der Ertrag der Persönlichkeitsentwicklung gesehen – durchaus im Einklang mit der für autobiographisches Schreiben typischen und gerade von Goethe programmatisch formulierten Tendenz zur teleologischen Ausgestaltung. Im Eintrag aus Terni drängt sich die Hypothese auf, dass die ‚klassischen’ Tendenzen des Textes erst von der Redaktion besonders hervorgehoben werden, wenngleich sie im Reisetagebuch schon angelegt sind, sobald man die Aussagen zu Kunst, Natur und Geschichte und damit zu den zentralen Themenkomplexen der Italienischen Reise in den Blick nimmt. Wichtig sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen zum Aquädukt von Spoleto, das in beiden Fassungen als „das dritte Werck 308
der Alten das ich sehe“ (Rtb, S.147, entsprechend IR, S.130320) gewürdigt wird. Während es im Tagebuch als „schön natürlich, zweckmäßig und wahr“ (Rtb, S.147) beschrieben und daraufhin die Adressatin des Tagebuchs auf weitere mündliche Ausführungen nach der Rückkehr aus Italien vertröstet wird, vermerkt die Italienische Reise anlässlich des Aquädukts sentenzhaft: „Eine zweite Natur die zu bürgerlichen Zwecken handelt, das ist ihre [i.e. der Alten] Baukunst, so steht das Amphitheater, der Tempel und der Aquadukt“ (IR, S.130). Auffällig ist bei dieser redaktionellen Ergänzung zum einen, dass wiederum ein Rückblick eingeschoben wird. Dadurch bezieht sich der Autobiograph bei seiner These nicht allein auf den gerade angeschauten Aquädukt, sondern auch auf die Eindrücke aus der Besichtigung der Arena in Verona und des Minerva-Tempels in Assisi. Er erweitert und ergänzt so die Perspektive, um eine allgemein gültige Aussage treffen zu können. Zum anderen ist wichtig, dass die Bezeichnung der Kunst – in diesem Fall der Baukunst – als einer „zweite[n] Natur“ erst hier, in der redigierten Form, fällt. Betont wird außerdem die Bedeutung der eigenen Anschauung321 für die Entwicklung dieser Kunstauffassung: „Nun fühle ich erst wie mir mit Recht alle Willkürlichkeiten verhaßt waren […]“ (IR, S.130), schreibt der alte Goethe, und es folgen – wie bereits im Tagebuch – negative Bemerkungen zur Architektur des Oktogons im Kasseler Schlosspark Wilhelmshöhe. Die Erkenntnis, dass es diesem barocken Bauwerk an „wahre[r] innere[r] Existenz“ (IR, S.130, entsprechend Rtb, S.147) mangele, erscheint im bearbeiteten Text vor der Reise nach Italien schon latent angelegt zu sein, zur bewussten Idee kann sie jedoch erst im Vergleich mit der eigenen Erfahrung und sinnlichen Wahrnehmung antiker Baukunst werden. Im Geschichtsverständnis und -interesse sind zwischen dem Reisetagebuch und der Italienischen Reise wesentliche Unterschiede festzustellen. Im Tagebuch manifestiert sich ein breites und enthusiastisches Geschichtsinteresse, das durch die Italien-Erfahrung entscheidend potenziert und ausgedehnt wird: Die römische Geschichte wird Goethe, _____________ 320 321
Hier in der Orthographie leicht abweichend: „das dritte Werk der Alten das ich sehe“ (IR, S.130). Auf das Verhältnis von Tradition und eigener Anschauung wurde im Zusammenhang mit der Frage, wie sich Goethe geschichtliche Zusammenhänge und Phänomene erschließt, bereits genauer eingegangen; vgl. dazu Kapitel 3.5 dieser Arbeit. Ergiebig sind im Hinblick auf die Bedeutung des (inneren und äußeren) Sehens sowie der Einbildungskraft (fantasía) und der Erinnerung (mnemosýne) in der Italienischen Reise auch die Überlegungen von Egger: Irmgard Egger, „Aus Wahrheit und Lüge ein Drittes“. Zur Dialektik von Wahrnehmung und Einbildungskraft in Goethes ‚Italienischer Reise’. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (2004), S.70–96.
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„als wenn ich dabey gewesen wäre“, und begeistert nimmt er sich vor, sie nach der Rückkehr aus Italien weiter zu studieren, „da ich nun die Städte und Berge und Thäler kenne“ (Rtb, S.147). Hingegen begegnen in der Italienischen Reise von Anfang an eher geschichtsskeptische Anklänge, jedenfalls was das Verständnis der antiken Geschichte durch die Anschauung der Ruinen betrifft: Und so wird es einem denn doch wunderbar zu Mute, daß uns, indem wir bemüht sind, einen Begriff des Altertums zu erwerben, nur Ruinen entgegen stehen, aus denen man sich nun wieder das kümmerlich aufzuerbauen hätte, wovon man noch keinen Begriff hat (IR, S.130).
Der historische Blick des Ichs ist jetzt nicht mehr so weit gespannt, dass ihm auch die „Etrurier“ als „unendlich interessant“ (Rtb, S.147) erscheinen, es zieht nur noch das klassische Altertum, genauer der „klassische[…] Boden“ (IR, S.130) an. Um zu erklären, was es mit dessen „Bewandnis“ (ebd.) auf sich hat, schiebt der Redaktor einen ganz neuen Abschnitt ein. Dieser schließt mit der Feststellung, dass einem „auf eine wundersame Weise die Geschichte lebendig“ (IR, S.131) wird, doch dies ist nun gerade nur noch möglich, wenn nicht mehr die Betrachtung der antiken Trümmer im Vordergrund steht. Nicht sie sind es nämlich, die Goethe einen Zugang zur Geschichte im distinkten Sinn eröffnen könnten, sondern der „geologische(n) und landschaftliche(n) Blick“ (ebd.)322 und die Poesie. Bezeichnenderweise wird in der Italienischen Reise die Ankunft in Rom nicht mehr ungeduldig herbeigesehnt, um dort etwa die antiken Ruinen zu besichtigen, sondern um „den Tacitus […] zu lesen“ (ebd.). Welch zentrale Voraussetzungen die eigene ganzheitliche Anschauung, Atmosphärisches sowie Poesie und schließlich die eigene Imagination für Goethes Geschichtsinteresse und -verständnis darstellen, wurde in den vorangegangenen Kapiteln bereits gezeigt. An dieser Stelle ist bemerkenswert, dass diese Impulse für den jungen Goethe offensichtlich noch nicht gleichermaßen von Bedeutung sind, sondern er, wenn man dem Reisetagebuch Glauben schenkt, zunächst noch auf weit traditionellerem Wege Zugänge zur Geschichte sucht. Was der Vergleich des Reisetagebucheintrags zu Terni mit dem Text der Italienischen Reise gezeigt hat, erweist sich als Grundtendenz der Bearbeitung der ersten beiden Teile der Italienischen Reise: Goethe nimmt als Redaktor seiner eigenen Texte bei der Darstellung seines eigenen Entwicklungs- und Lernprozesses sowie seines Verhältnisses zu Natur, _____________ 322
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Vgl. zur Rezeption der antiken Trümmer in ihrer (geringen) Bedeutung dafür, wie Goethe sich Geschichte erschließt, ausführlich das Kapitel 3.5 dieser Arbeit.
Kunst und Geschichte entscheidende und daher für die Interpretation der Italienischen Reise zentrale Änderungen vor, die schließlich für die spezifische Rezeptionsgeschichte des Textes wegweisend werden. Auch mit der Entscheidung für eine diarische Darstellungsweise wird ein nur scheinbar authentisches Ich präsentiert; ein Ich, das vielmehr vom Autobiographen neu geschaffen und nur insofern mit dem Ich der Originaldokumente identisch ist, wie es Intentionen und Überzeugungen des Redaktors der Jahre 1816/1817 entspricht. So ist schließlich weniger der Goethe der Jahre 1786 bis 1788 dafür verantwortlich, dass die Italienische Reise immer wieder als der ‚klassische’ Goethe-Text par excellence rezipiert wurde, sondern der dreißig bis (im Hinblick auf den „Zweiten Römischen Aufenthalt“) vierzig Jahre ältere Autobiograph, der diesen Teil seiner Autobiographie gezielt dazu nutzt, dem Italienerlebnis in seiner Bedeutung für seine persönliche und literarische Entwicklung wie für seine kunsttheoretischen Überzeugungen ein Denkmal zu setzen. 3.6.3.3 Italienische Reise, „Zweiter Römischer Aufenthalt“ Anderes gilt für Goethes zweiten Romaufenthalt. Die hier im Vergleich zum ersten Reiseabschnitt als deutlich schlechter befundene Quellenlage war es, die Goethe – einem Bericht Eckermanns zu Folge – dazu bewogen haben soll, andere Schreibverfahren zu wählen: Die Briefe […], die ich während meines zweiten Aufenthalts in Rom geschrieben, sind nicht der Art, um davon vorzüglichen Gebrauch machen zu können; sie enthalten zu viele Bezüge nach Haus, auf meine Weimarischen Verhältnisse, und zeigen zu wenig von meinem italienischen Leben. Aber es finden sich darin manche Äußerungen, die meinen damaligen inneren Zustand ausdrücken. Nun habe ich den Plan, solche Stellen auszuziehen und einzeln über einander zu setzen, und sie so meiner Erzählung einzuschalten, auf welche dadurch eine Art von Ton und Stimmung übergehen wird.323
Vergleichsweise viele Arbeiten haben sich bereits mit der Komposition des „Zweiten Römischen Aufenthalts“ beschäftigt, dessen „erzählerische Einheit [… so sehr] preisgegeben scheint“324 und der schon vom zeitgenössischen Publikum 1829 mehr als zehn Jahre nach Erscheinen der ersten beiden Teile der Italienischen Reise noch negativer aufgenommen wurde als jene. Es liegt nahe, dies nicht zuletzt der Wirkung einer „lässig-souveränen, dem Leser oft willkürlich erscheinenden, ja ihn _____________ 323 324
FA II/12, S.349f.: Gespräch mit Eckermann, 10. April 1829. Herbert von Einem, Kommentar zu Goethes Italienischer Reise. In: HA 11, S.578.
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irritierenden Komposition“325 zuzuschreiben. Robert Gould hat zur Begründung auf die kompositionellen Gemeinsamkeiten zwischen dem „Zweiten Römischen Aufenthalt“ und dem Vierten Teil von Dichtung und Wahrheit hingewiesen – in beiden Texten erkennt er Spezifika von Goethes Spätwerk und grenzt sie von der in den früheren autobiographischen Texten angewandten „autobiographical method“326 deutlich ab. Tatsächlich handelt es sich beim „Zweiten Römischen Aufenthalt“ um eine collagenartige Zusammenstellung von Texten unterschiedlichster Provenienz: Die tagebuchartige Anlage der ersten beiden Teile wird aufgegeben und von einer nach Monaten geordneten Darstellung abgelöst. Zu jedem Monat des Zeitraums zwischen Juni 1787 und April 1788 findet sich zunächst ein „Korrespondenz“-Teil, in dem Goethe wohlgemerkt redigierte (und keineswegs originale!) Briefe aus seiner Zeit in Rom präsentiert; es folgt jeweils ein „Bericht“-Teil, in dem der Autobiograph die Zeit in Rom aus dem Abstand von mehr als 30 Jahren kommentiert, das Erlebte teilweise novellistisch literarisiert327 sowie auch hier die Darstellung um eigene wie fremde Texte ergänzt. Es finden sich beispielsweise Briefe Tischbeins aus Neapel, eigene und an anderer Stelle schon früher veröffentlichte Aufsätze wie Das Römische Karneval oder Philipp Neri, darüber hinaus Texte, die sowohl im Zusammenhang mit Goethes römischer Existenz und seinem dortigen Freundeskreis stehen als auch für das Literaturprogramm der Klassik besonders bedeutsam sind. So propagieren etwa der Aufsatz Heinrich Meyers über die Fackelbeleuchtung antiker Statuen oder Auszüge aus Karl _____________ 325
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Rüdiger, Horst: Zur Komposition von Goethes Zweitem römischen Aufenthalt. Das melodramatische Finale und die Novelle von der „schönen Mailänderin“. In: Aspekte der Goethezeit, hg. von Stanley A. Corngold, Michael Curschmann und Theodore Ziolkowski, Göttingen 1977, S.97–114; hier S.97. Robert Gould, Problems of Reception and Autobiographical Method in the „Zweite Römischer Aufenthalt“ of Goethe's Italienische Reise. In: Carleton Germanic Papers 22 (1994), S.71–85; hier S.72. Diese Gemeinsamkeit macht er vor allem an der herausgehobenen Stellung des (autobiographischen) Erzählers sowie an der Einschaltung fremder wie eigener (früherer) Texte fest: „In addition to the heightened presence of the narrator, the two final parts of the different autobiographies resemble each other also in their frequent recourse to quotations, whether from earlier works by the author or from other writers“ (Gould, Problems of Reception and Autobiographical Method, S.72 ). Vergleichbar etwa mit der Gretchen-Episode im Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit sind in Anlage und Struktur z.B. die mit den „Bericht“-Teilen verwobene Erzählung von der „Schönen Mailänderin“ oder auch das mit den intertextuellen Bezügen auf Ovid gezielt literarisch ‚angereicherte’ Ende der Italienischen Reise, die den eigenen Abschied von Rom mit Ovids Verbannung ans Schwarze Meer gleichsetzt.
Philipp Moritz’ Abhandlung über die Bildende Nachahmung des Schönen in Anschluss an den März-Bericht 1788 in geradezu provokativ gegen die das literarische Feld dominierenden Literaturströmungen der späten 1820er Jahre gerichteter Weise ein klassisches Kunstideal post festum und zeugen von der „antiromantische[n] Konfession“ seines Verfassers.328 Aufschlussreich für die Intention, die der Autobiograph mit solchen geradezu collageartigen Schreibverfahren verfolgt – wie sie sich ähnlich in Wilhelm Meisters Wanderjahren und anderen Schriften des Spätwerks finden –,329 ist die „Bemerkung“ (IR, S.380), mit der er im Anschluss an die Juni-Korrespondenz 1787 die ersten ‚fremden’ eingeschalteten Texte ankündigt: Ähnliche Topoi wie jene, die schon im Kontext von Dichtung und Wahrheit begegnen, vermitteln hier die Skepsis oder gar das Unvermögen, dass „irgend eine spätere Erzählung das Eigentümliche des Augenblicks darstellen“ (ebd.) könnte. Deswegen habe sich der mit der Sichtung der Quellen, unter denen sich Texte unterschiedlichster Provenienz befänden, beschäftigte Autobiograph dazu entschlossen, neben den eigenen fremde „briefliche Dokumente hie und da einzuschalten“ (ebd.), denn [s]ie gewähren den Vorteil, den Leser sogleich in jene Gegenden und in die unmittelbarsten Verhältnisse der Personen zu versetzen, besonders auch den Charakter des Künstlers aufzuklären, der so lange bedeutend gewirkt, und, wenn er auch mitunter gar wunderlich erscheinen mochte, doch immer so in seinem Bestreben als in seinem Leisten ein dankbares Erinnern verdient (ebd).
Zwei Motive für die Einschaltung der fremden Texte werden angeführt: Ein Denkmal nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere, die in Goethes Augen „dankbares Erinnern verdient“ haben, soll der „Zweite _____________ 328
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Birus, Goethes Italienische Reise als Einspruch gegen die Romantik, S.1. Dass die gesamte Italienische Reise – auch schon die ersten beiden Teile – bereits von den Zeitgenossen als Affront gegen die Vertreter einer romantischen Kunst und Literatur gewertet wurde, zeigen die Reaktionen der Nazarener, die bei der gemeinsamen Lektüre der ersten beiden Teile der Italienischen Reise im Palast der preußischen Gesellschaft auf dem Kapitol einem Brief Niebuhrs an Savigny zu Folge entrüstet und enttäuscht waren über das Italien-Bild, das Goethe in seinem Text entwirft: „Als wir geschlossen hatten für dieses Mal und wir noch über das Gelesene redeten, nahm Cornelius das Wort und sagte, wie tief es ihn bekümmere, dass Goethe Italien so gesehen habe. Entweder habe ihm das Herz damals nie geschlagen, das reiche, warme Herz, es sei erstarrt gewesen, oder er habe es fest gekniffen. So ganz und garnicht das Erhabene an sich kommen zu lassen, das Ehrwürdige zu ehren; – aber das Mittelmäßige zu protegieren“ (hier zitiert nach dem Kommentar von von Einem in HA 11, S.580). Vgl. zur ‚Modernität’ der in den Wanderjahren angewandten Schreibverfahren Ehrhard Bahr, Goethe's Wanderjahre as an Experimental Novel. In: Mosaic 5/3 (1971/72), S.61–71 und Norbert Wolf, „Die Wesenheit des Objektes bedingt den Stil“. Zur Modernität des Erzählkonzepts in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“. In: GJb 119 (2002), S.52–65.
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Römische Aufenthalt“ statuieren, indem ihren Schriften und damit ihren Gedanken und Ideen ein Platz in der eigenen Autobiographie eingeräumt werden. Darüber hinaus geht es darum, dem Leser zusätzlich zur Perspektive ex post „unmittelbar[...]“ ein authentisches Bild von der Geschichte zu machen – wohlgemerkt aber wiederum eines, das eben nur scheinbar „unmittelbar[...]“ ist, weil es den Auswahlprozess des Autobiographen durchlaufen hat. Denkt man in diesem Zusammenhang daran, dass der einzige Abschnitt des „Zweiten Römischen Aufenthalts”, der nachweislich direkt und lediglich stilistisch geringfügig überarbeitet aus einem Originaldokument übernommen ist, nicht in die „Korrespondenz”, sondern in einen „Bericht”-Teil Eingang findet – es handelt sich hierbei um die Beschreibungen der Reisezeichnungen von Cassas im SeptemberBericht330 –, so stellt sich die Frage, ob die Trennung in „Korrespondenz”- und „Bericht”-Teil überhaupt eindeutige Rückschlüsse auf die ‚Herkunft’ der dort jeweils eingeordneten Textpassagen ermöglicht. Vielmehr ließe sich spekulieren,331 dass die Originaldokumente der Jahre 1787 und 1788 sowohl bei der Erstellung der „Korrespondenz” als auch bei der des „Berichts” gleichermaßen als Erinnerungshilfen gedient haben. Anders als bei den ersten beiden Teilen der Italienischen Reise hätten sie dann nicht mehr – oder nur sehr selten – eine Textbasis geboten, die für die Veröffentlichung nur noch zu überarbeiten war. Daraus ergäbe sich die Konsequenz, dass auch das scheinbar authentische Ich der „Korrespondenz” – genauso, wie der Erzähler, der im „Bericht” in die Kommunikation mit dem Leser eingeführt wird – nicht mit dem ‚italienischen’ Goethe des zweiten Aufenthalts in Rom gleichzusetzen wäre, sondern ebenfalls eine künstlich geschaffene Instanz darstellt. Dieses zweite fiktive Ich wäre damit vom Autor so gestaltet, wie er sich selbst dem Publikum in einer früheren Entwicklungsstufe rückblickend als ‚authentisch’ präsentieren will. Mehr und mehr drängt sich so der Eindruck auf, dass es dem Autor im „Zweiten Römischen Aufenthalt“ – weit weniger als in den ersten _____________ 330
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Vgl. IR, S.429–432 und die – fast identische – Vorlage in FA II/3, S.325–327: Brief an den Weimarer Freundeskreis, 17. 09. 1787. Auch wird im Dezember-Bericht ein Zitat eingefügt, das der Erzähler als „Auszug aus meinem damaligen Antwortschreiben” (IR, S.491), mit dem er auf „die ersten Briefe aus Weimar über Egmont” (IR, S.491) reagiert habe, ankündigt, für das die vermutlich authentische Vorlage allerdings nicht überliefert ist. Die Tatsache, dass aus dem Zeitraum von Goethes längerem Rom-Aufenthalt 1787/88 kaum noch Originaldokumente vorhanden sind, mit denen man den Dritten Teil der Italienischen Reise vergleichen könnte, ist dafür verantwortlich, dass es sich bei den Befunden letztlich um nicht mehr als Spekulationen handeln kann.
beiden Teilen der Italienischen Reise, womöglich sogar weniger als in Dichtung und Wahrheit und den autobiographischen Texten zu den Revolutionskriegen – nicht darum geht, dem Leser ein Ich zu präsentieren, wie es 1787/88 gewesen ist. Und so kann die im Gespräch mit Eckermann als defizitär bewertete Quellenlage kaum ausschlaggebend dafür gewesen sein, die Arbeit an der Italienischen Reise mit einem Dritten Teil zum Abschluss zu bringen, der in seiner kompositionellen Anlage geradezu innovativ wirkt. Denn dabei handelt es sich keineswegs um einen ‚Neuansatz’ autobiographischen Schreibens oder gar um einen Wandel im Goetheschen Autobiographiekonzept, sondern es wird vielmehr mit besonderer Konsequenz eine Tendenz fortgeführt, die bereits in allen anderen autobiographischen Texten angelegt ist. Neu ist nämlich für sich genommen keines der im „Zweiten Römischen Aufenthalt“ angewandten Schreibverfahren: Zu kleinen ‚Geschichten’ in der großen Geschichte des eigenen Lebens novellistisch ausgestaltete Passagen finden sich besonders in den ersten Büchern von Dichtung und Wahrheit, die Einschaltung von nicht-literarischen Originaldokumenten aus der ‚Epoche’, über die gerade erzählt wird, ist das kennzeichnende Erzähl- bzw. Redaktionsverfahren der ersten Teile der Italienischen Reise. Texte anderer Autoren werden ebenso etwa in den Vierten Teil von Dichtung und Wahrheit integriert wie eigene Werke, die bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurden. Dennoch sticht in keinem anderen autobiographischen Text die Heterogenität des ‚Materials’, das hier schließlich zusammengestellt als ein Werk veröffentlicht wurde, ins Auge. Allein ein genauerer Blick auf die aufgenommenen eigenen Texte vermag diese Diversität zu verdeutlichen. Sie zeigt sich ebenso an den weit auseinander liegenden Entstehungszeiten der einzelnen Texte als auch den unterschiedlichen Inhalten sowie Textgenres: So entstammen das „Cupido”-Gedicht (IR, S.512)332 als lyrischer Einschub sowie Goethes Antwortschreiben auf die Egmont-Kritik in den Briefen aus Weimar (IR, S.491f.) – wenn dieses denn, wie der Erzähler vorgibt, tatsächlich authentisch ist – dem Zeitraum zwischen Juni 1787 und April 1788; die kunsthistorisch beziehungsweise ethnologisch interessierten Aufsätze „Über Christus und die zwölf Apostel nach Raphael von Marc Anton gestochen und von Herrn Professor Langer in Düsseldorf copirt” (IR, S.481–484)333 und „Das Römische Karneval” (IR, S.518–552)334 sind _____________ 332
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Das Gedicht stellt ursprünglich ein „Ständchen” aus dem Zweiten Akt der in Rom mit Philipp Christoph Kayser überarbeiteten Fassung des Singspiels Claudine von Villa Bella dar: vgl. FA I/5, S.684f. Der Aufsatz erschien erstmal in der Ausgabe des Merkur vom Dezember 1789.
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direkt nach der Rückkehr aus Italien verfasst worden und erschienen erstmals jeweils 1789. Die Passagen zur „Urpflanze“, die aus dem Zweiten Teil der Italienischen Reise im „Zweiten Römischen Aufenthalt” ‚zur besseren Erinnerung’ für den Leser noch einmal abgedruckt sind (IR, S.400–402), entstanden in dieser Form bei der Redaktion des Neapelund Sizilien-Teils der Jahre 1816/17,335 und schließlich finden sich hier fünf Aufsätze, die der alte Goethe speziell für die Veröffentlichung im Text des „Zweiten Römischen Aufenthalts” 1829 geschrieben beziehungsweise fertig gestellt hat: „Päpstliche Teppiche” (IR, S.387–390), „Störende Naturbetrachtungen” (IR, S.402–404), „Moritz als Etymolog” (IR, S.492-494), „Philipp Neri, der humoristische Heilige” (IR, S.495–508) und „Aufnahme in die Gesellschaft der Arkadier” (IR, S.513–518). Die Komposition des „Zweiten Römischen Aufenthalts” dokumentiert mit dieser integrativen Struktur noch weniger als die ersten beiden Teile der Italienischen Reise den Entwicklungsprozess des Reisenden der Jahre 1786–1788, sondern demonstriert die nachhaltige Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Italien’ und der eigenen Reiseerfahrung während der Dauer eines ganzen Lebens. Gerade die „relation au passé“336 – um mit Philippe Lejeune zu sprechen –, der ‚Wert’ der italienischen Jahre, wird aus der Sicht des späten Autobiographen in seinem Einfluss auf verschiedene Lebens- und Schaffensperioden der nachitalienischen Zeit präsentiert. Das Nebeneinander der eigenen Italien-Texte deutet in ihrer Diversität – sowohl inhaltlicher als auch formaler Art – an, dass die Wahrnehmung, Bewertung und literarische Gestaltung der Italien-Erfahrung über die Jahre hinweg einem Wandel unterworfen ist. So hat Oswald337 die Arten der Goetheschen Selbstdarstellung in den verschiedenen Italien-Schriften wohl zutreffend gegenübergestellt und dabei zwischen dem Goethe der historischen Reise, demjenigen der direkt nach der Rückkehr verfassten und überwiegend im Merkur publizierten Italien-Aufsätze und schließlich dem der autobiographischen Gestaltung der in den 1816/17 erschienenen Teilen sowie dem des Dritten Teils der Italienischen Reise unterschieden, doch versäumt er bei _____________ 334
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Die Abhandlung wurde von Goethe direkt nach der Rückkehr aus Italien geschrieben; sie erschien dann – mit den Illustrationen von Georg Schütz, in Kupfer gestochen von Georg Melchior Kraus – zunächst als Buch 1789; ein Jahr später wurde sie ohne die Kupfertafeln im Journal des Luxus und der Moden erneut abgedruckt. Vgl. entsprechend die identischen Textpassagen in IR, S.285f. und IR, S.346. Lejeune, Le pacte autobiographique, S.158. Vgl. Stefan Oswald, Italienbilder. Beiträge zur Wandlung der deutschen Italienauffassung 1770– 1840. Heidelberg 1985 (Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beiheft 6); zum „Zweiten Römischen Aufenthalt” vor allem S.98–106.
seiner Analyse des „Zweiten Römischen Aufenthalts” festzustellen, dass der Redaktor hier s ä m t l i c h e Stufen der (nicht nur literarischen) Verarbeitung der Italien-Erfahrung in einem Text nebeneinanderstellt und sie sogar noch um Texte anderer Autoren ergänzt, die zum einen als das eigene Italien-Bild prägende Rezeptionszeugnisse präsentiert werden, zum anderen dazu dienen, ihren Verfassern ein Denkmal zu setzen. Dem Leser des „Zweiten Römischen Aufenthalts” begegnet daher die (literarische) Entwicklung Goethes – als Verfasser eigener Texte wie als Rezipient der Werke anderer – auf fünf verschiedenen Stufen. Indem er dabei fremde Texte einschaltet, präsentiert er sich erstens selbst als jemand, dessen Entwicklung und dessen (literarische und kunsttheoretische) Ideale sich nicht ohne die prägenden Einflüsse und befruchtenden Anregungen, nicht ohne den wechselseitigen Austausch mit anderen vollzogen hat – gerade was das Leben in Rom und die vielfältigen Kontakte dort zu anderen Künstlern anbelangt. Zweitens handelt es sich um den in seiner römischen Korrespondenz als gezielt subjektiv berichtende Erzählinstanz entworfenen Goethe. Drittens erscheint der Goethe, der darum bemüht ist, seine eigene Person so weit wie möglich aus der Darstellung herauszunehmen338 und – wie im „Römischen Karneval” und im Aufsatz „Über Christus und die zwölf Apostel” – „[…] ein gesellschaftliches oder ästhetisches Phänomen, das die Aufmerksamkeit des Reisenden erregt, […] aus seinen Entstehungsbedingungen”339 abzuleiten und verständlich zu machen. Viertens findet sich der Goethe, der (hier in Bezug auf die Idee von der „Urpflanze“) „nach einer übergreifenden ‘Gesetzmäßigkeit’”340 sucht – ein ‚roter Faden’ der ersten beiden Teile der Italienischen Reise –, und schließlich erscheint fünftens der Goethe, der in seiner Funktion als Erzähler der „Bericht”Passagen den alten Goethe des Jahres 1829 repräsentiert und als Redaktor über die Texte aller seiner Schaffensperioden frei verfügen und diese gegebenenfalls in den zahlreichen Selbstkommentaren aus seiner heutigen Sicht erklären kann. Wichtig ist dabei jedoch zu erkennen, dass sich hinter allen fünf Erzählinstanzen der Autor des Jahres 1829 verbirgt, der mittels dieser so divergenten und heterogenen Textkomposition zu steuern versucht, wie das zeitgenössische wie spätere Publikum den ‚Ertrag’ seines ItalienAufenthaltes zu sehen hat. Dabei erscheint diese Zeit in Italien im _____________ 338
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Goethe selbst formuliert diese ‚Subjektverleugnung’ als „Grundsatz” gerade für „Das Römische Karneval” rückblickend in TuJ, S.434. Oswald, Italienbilder, S.89. Oswald, Italienbilder, S.90.
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„Zweiten Römischen Aufenthalt“ als Objekt eines Rezeptionsprozesses, der sich fortwährend verändernde Sichtweisen produziert, die in den literarischen Texten aus den verschiedenen Altersstufen unterschiedlich ausgestaltet werden.341 Dem idealen Leser wird zugetraut, dass er selbst und mit Hilfe der eingeschalteten Erzählerkommentare zwischen den verschiedenen Stufen der Darstellung differenzieren kann, die erst in ihrer Gesamtheit das Bild der Italien-Erfahrung vermitteln können, wie sie sich dem Autor 1829 erschließt. An den realen Leser, der schließlich mit diesem in seiner Heterogenität Wilhelm Meisters Wanderjahren ähnlichen Textgebilde konfrontiert ist, werden so weit höhere Anforderungen gestellt als noch in den ersten beiden Teilen der Italienischen Reise, ja selbst als in allen anderen Texten des autobiographischen Gesamtprojekts.342 Auch scheint das teleologische Moment der Darstellung noch mehr in den Vordergrund zu rücken: Eine historisch verifizierbare Darstellung erscheint dem Autobiographen wohl immer nachrangiger. Dagegen konzentriert er sich darauf, die Zielgerichtetheit des Italien-Erlebnisses herauszuarbeiten und hat dabei vor allem seine gegenwärtige Lage im Blick, über die der Text (noch) mehr Aufschluss gewährt als frühere autobiographische Schriften Goethes. 3.6.3.4 Tag- und Jahreshefte Die Diktion der Tag- und Jahreshefte unterscheidet sich bereits auf den ersten Blick deutlich von Goethes anderen autobiographischen Schriften. Das war ihrem Verfasser sehr bewusst, wie man seinem poetologischen Kommentar in der gleichzeitig entstandenen autobiographischen Skizze Lebensbekenntnisse im Auszug entnehmen kann. Das Ich gibt hier wichtige Hinweise zu Intention, Entstehungsbedingungen und Schreibverfahren der Tag- und Jahreshefte und stellt den gerade in Entstehung _____________ 341
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Dies stellt schon Gould ähnlich fest: Die Form des „Zweiten Römischen Aufenthalts” „[…] demonstrates that the autobiography, as any symbolic depiction of what we perceive, is itself part of a shifting process of reception – of life and its representations” (Gould, Problems of Reception and Autobiographical Method, S.78). Auch Theo Buck betont in dem kurzen Abschnitt, den er in seiner Untersuchung, die „Goethes spezifische Gestaltung von Werk und Leben konkret miteinander […] verbinden“ (Theo Buck, „Der Poet, der sich selbst vollendet“. Goethes Lehr- und Wanderjahre, Köln u.a. 2008, S.IX) will und dazu Goethes literarische Entwicklung bis 1788 in engem Zusammenhang mit seiner Biographie nachzeichnet, dem „Zweiten Römischen Aufenthalt“ widmen kann, dass dieser Teil der Italienischen Reise als „poetisierend gefilterte[r] Bericht des alten Goethe formal ein erstaunlich kühnes Erzählexperiment von überraschender Modernität dar[stellt]“, das „den aktiven Mitvollzug der Leserschaft herausforder[t…]“ (Buck, „Der Poet, der sich selbst vollendet“, S.247).
begriffenen Text als einen konzeptionellen Neuansatz vor. Der spätere Leser wird daher gleichsam vorgewarnt, dass er mit dem Text, den Goethe hier auf der Grundlage „ausführlichere[r] Tagebücher“ sowie „viel[er] andere[r] Documente, nach vollbrachter archivarischer Ordnung“ (Lebensbekenntnisse, S.369) schreibe,343 womöglich nur ein Werk zu erwarten habe, dass „das Verlangen meiner Freunde v o r l ä u f i g befriedige und den Wunsch nach fernerer Ausführung wenigstens gewisser Theile lebhaft errege“ (ebd.; Hervorhebung W. H.). Allerdings biete es doch „einen Faden“ (ebd.), der denjenigen, die sich (mehr) Aufschluss über Goethes Leben und Werk wünschen, die „Lücken“ (ebd.) schließe, die sich zwischen den einzelnen Abschnitten seines Lebens, über die der Autobiograph bislang berichtet hatte, ergeben. Schon hier – als die Arbeit an den Tag- und Jahresheften noch keineswegs abgeschlossen ist, ja gerade erst in ihre intensivere Phase gelangt344 – wird der Text also als Provisorium angekündigt. Diesen vorläufigen Charakter betont das erzählende Ich auch an anderen Stellen, etwa wenn es sich für die betont knapp-nüchterne Darstellung der Reise in die Schweiz im Jahr 1797 entschuldigt. Wohl räumt es ein, dass die Quellenlage für eine detailliertere und ansprechendere Ausführung sehr gute Voraussetzungen biete – „Da ein geschickter Schreiber mich [auf der Reise] begleitete, so ist alles in Akten geheftet, wohl erhalten was damals auffallend und bedeutend seyn konnte“ (TuJ, S.60) –, doch bleibe das einem möglicherweise noch zu schreibenden weiteren Werk vorbehalten: „Da hieraus mit schicklicher Redaction ein ganz unterhaltendes Bändchen sich bilden ließe, so sey von dem ganzen Reiseverlauf nur das Allgemeinste hier angedeutet“ (ebd.).345 In der Konsequenz _____________ 343
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Einen Einblick in Arbeit und Umgang mit den Quellen, die Goethe bei der Ausarbeitung der Tag- und Jahreshefte nutzte, bietet der Aufsatz von Schmid. Irmtraut Schmid, Erhellung autobiographischer Texte durch Aufdeckung ihrer Quellen. Am Beispiel von Goethes Tag- und Jahresheften dargestellt. In: editio 9 (1995), S.105–116. Sie arbeitet dabei auch die besondere Bedeutung der archivierten Briefe heraus, die neben den eigenen Tagebüchern die Quellenbasis der Tag- und Jahreshefte bilden. Vgl. dazu und auch ausführlicher zur „Entstehung der Tag- und Jahreshefte“ das entsprechende Kapitel der Dissertation von Wackerl, Goethes Tag- und Jahreshefte, S.14– 41. Wackerl legt den Beginn der intensiveren Arbeit an den Tag- und Jahresheften in das Jahr 1822 und weist dann die Jahre bis 1825 als die Phase der „hauptsächliche[n] Ausarbeitung der TuJ“ aus (Wackerl, Goethes Tag- und Jahreshefte, S.22). Gerade die Formulierung „mit schicklicher Redaction“ und die Tatsache, dass wiederum eine Reise der Gegenstand des Erzählens wäre, deutet darauf hin, dass an die Abfassung eines Werkes gedacht wird, das im Hinblick auf die Konzeption und die anzuwendenden Schreibverfahren bzw. den Umgang mit den Quellen Ähnlichkeiten mit der Italienischen Reise aufwiese.
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dieses bewussten Willens zur Abbreviatur können die Tag- und Jahreshefte zwar dazu dienen „sich zu unterrichten“ (Lebensbekenntnisse, S.370), womöglich aber weniger dazu, „sich zu vergnügen“ (ebd.), wenngleich der Autobiograph sich dennoch bemühe, die Arbeit „in sofern ich sie skelettartig finde mit Fleisch und Gewand zu bekleiden“ (ebd.). In Anspielung auf die zwei Funktionen, die Horaz in seiner Ars poetica der Literatur zuschreibt und die vor allem in der Literaturtheorie der Aufklärung zum Ideal literarischer Darstellung erhoben wurden, betont Goethe im Hinblick auf seine Tag- und Jahreshefte vor allem den didaktischen Anspruch, die unterrichtende Funktion für den Leser, die sein Text zweifelsohne erfülle. „Aut prodesse volunt aut delectare poetae aut simul et iucunda et idonea dicere vitae“ 346 heißt der vollständige Satz bei Horaz. Er gibt mehr Aufschluss über die Zielsetzung von Goethes Text, als die zu einem zeitgenössischen Topos avancierte Formel vom prodesse et delectare zunächst vermuten lässt. ‚Über das Leben’ soll Erfreuliches und/oder Nützliches gesagt werden – ein Anspruch, der in einer Autobiographie genau dann eingelöst wird, wenn man das Leben des erzählten Ichs zu einem Vorbild stilisiert, das dem Leser als Norm einer gelungenen Lebensführung dienen kann. Die exemplarische Analyse zweier Abschnitte soll verdeutlichen, w a s in den Tag- und Jahresheften ‚über das Leben’ ausgesagt wird und inwiefern es sich hier um das Idealmodell eines erfolgreichen Lebens handelt, zugleich kann gezeigt werden, w i e in diesem Text die eigene Geschichte dargestellt ist. Der mit „Fernere Einsicht ins Leben“ überschriebene Abschnitt etwa, in dem der Zeitraum von 1769 bis 1775 auf gerade einmal einer Seite abgehandelt wird, bildet das Äquivalent zu den Teilen zwei bis vier von Dichtung und Wahrheit, in denen derselbe Zeitraum weit umfangreicher und ausführlicher beschrieben wird. Der Differenziertheit von Dichtung und Wahrheit, mit der gerade die Angriffe der Tyche auf den Daimon und so die ‚Verirrungen’ und Entwicklungskrisen des jungen Helden beschrieben werden, steht hier ein sachlichnüchterner Bericht gegenüber, der allein die ‚Erträge’ dieser Jahre in den Blick nimmt: Die veröffentlichten Werke werden genannt und sehr knapp in ihre literarischen Traditionen eingeordnet und kommentiert; so findet sich zu „Werther, Götz von Berlichingen, Egmont“, deren Entstehungsbedingungen in Dichtung und Wahrheit jeweils ausführlich reflektiert werden, lediglich die Erläuterung: „Man fühlt die Nothwendigkeit einer freyeren Form und schlägt sich auf die englische Seite“ (TuJ, _____________ 346
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Horaz, De arte poetica, V. 333f., hier zitiert nach Horaz, Sämtliche Werke. Teil 2. Übersetzt und zusammen mit Hans Färber bearbeitet von Wilhelm Schöne, München 1964, S.250.
S.12). Dass der Leser die Anspielung auf die für das 18. Jahrhundert typische Anglophilie versteht, wird offensichtlich vorausgesetzt. Die Verwendung des Indefinitpronomens, mit der die Distanz zwischen erzähltem und erzählendem Ich betont wird, könnte im Übrigen ein Hinweis auf den symbolhaft idealischen Wert, den der Autobiograph dem Ich hier zuspricht, sowie auf die objektivierende, persönliche Empfindungen oder gar Privates ganz zurückstellende Darstellungstendenz sein, welche die gesamten Tag- und Jahreshefte prägt. In seinen anderen autobiographischen Texten nutzt Goethe immer wieder die Möglichkeit, seine Jugendwerke aus der Sicht des Alters zu kommentieren und die literarischen Maximen des Sturm und Drang so neu zu reflektieren, v.a. aber klarzustellen, dass sie mit seinen späteren kunst- und literaturtheoretischen Überzeugungen kaum mehr etwas gemein haben – erinnert sei an die ausführliche Auseinandersetzung mit Die Leiden des jungen Werthers nicht nur in den entsprechenden Passagen von Dichtung und Wahrheit, sondern etwa auch in der Italienischen Reise, in der das Inkognito, unter dem Goethe durch Italien reist, v.a. mit der Sorge begründet wird, nicht überall als der Dichter des Werther identifiziert zu werden. In den Tag- und Jahresheften nun wird diese skeptisch-distanzierte Sicht auf die frühen Werke zwar formuliert, sie nimmt aber einen nur sehr knappen Raum ein und ist wenig differenziert formuliert: Inzwischen geschehen kühnere Griffe in die tiefere Menschheit; es entsteht ein leidenschaftlicher Widerwille gegen missleitende, beschränkte Theorien; man widersetzt sich dem Anpreisen falscher Muster. Alles dieses und was daraus folgt war tief und wahr empfunden, oft aber einseitig und ungerecht ausgesprochen (ebd.).
Der Darstellung des ‚Lebensgefühls’ des Sturm und Drang werden gerade noch zwei weitere Sätze zugestanden: In einer für die Tag- und Jahreshefte typischen, elliptisch auflistenden Diktion führt der mit „Von 1769 bis 1775“ überschriebene Abschnitt lakonisch Zentralbegriffe der literarischen Strömung an: „Ereigniß, Leidenschaft, Genuß und Pein“ (ebd.), ohne diese weiter zu erläutern. Am Ende des Abschnitts dann werden die wichtigsten erhaltenen Werke namentlich aufgeführt und der Leser dabei ähnlich wie in Dichtung und Wahrheit angeregt, in diesen womöglich noch einmal selbst nachzulesen („sie [i.e. Faust, die Puppenspiele, Prolog zu Barth] liegen jedermann vor Augen“ (ebd.)), auch auf Nicht-Veröffentlichtes bzw. „verloren [G]egangen[es]“ (ebd.) wird verwiesen. Dann resümiert das erzählende Ich in äußerster Allgemeinheit: „Ein unbedingtes Bestreben alle Begränzungen zu durchbrechen ist bemerkbar“ (ebd.). Anderes ist wichtiger. Könnte man vermuten, dass eine ‚Wiederholung’ dessen, was in den bereits veröffentlichten Teilen der Autobio321
graphischen Schriften ausführlich dargestellt wurde, in den Tag- und Jahresheften schließlich nicht nötig schien und deswegen diese knappe, die Erträge des Lebens auflistende Erzählweise gezielt etwa für diesen exemplarisch untersuchten Abschnitt ausgewählt wurde, so deutet schon der Satz, der den Zeitraum bis 1775 beschließt, an, worin auch für die Darstellung der Weimarer Jahre der Fokus liegt. Die erste Schweizerreise eröffnete mir mannigfaltigen Blick in die Welt; der Besuch in Weimar umschlang mich mit schönen Verhältnissen und drängte mich unversehns auf einen neuen glücklichen Lebensweg (ebd.).
Der „mannigfaltige[…] Blick in die Welt“ wird im Folgenden in all seinen Facetten skizziert und zwar immer in seiner produktiven, die Erträge der ‚Blicke’ herausstellenden Komponente. Den größten Raum nimmt so die Dokumentation der vielseitigen Interessen ein, die Goethes Weimarer Zeit bestimmen – gemeint sind damit sowohl die eigenen Tätigkeiten auf den unterschiedlichsten Gebieten wie auch der Austausch mit anderen – Wissenschaftlern, Künstlern, Staatsmännern – und die Anteilnahme an deren Arbeiten und Gedanken. Darüber hinaus ist der Verweis auf die „schönen Verhältnisse[…]“, von denen sich Goethe in Weimar umgeben gefunden habe, und auf den „glücklichen Lebensweg“, der dort seinen Anfang genommen habe, programmatisch für die „harmonisierende[n], um Ausgleich bemühte[n] Tendenzen innerhalb der Komposition des Werkes“347, in dem Spannungsvolles, Konfliktträchtiges, die eigenen Tätigkeiten womöglich negativ Beeinflussendes wenn überhaupt angedeutet, dann doch „fast durchgängig durch positive Erlebnisse relativiert“348 wird. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Darstellung von Schillers Tod im Bericht über das Jahr 1805. „Bey dem Zustande meines Körpers und Geistes, die um aufrecht zu bleiben aller eigenen Kraft bedurften, wagte niemand die Nachricht von seinem Scheiden in meine Einsamkeit zu bringen“ (TuJ, S.141) – als so fatal schätzten offenbar Goethes Familie und seine engen Vertrauten den tiefen Schmerz und sogar die möglichen gesundheitlichen Folgen ein, die die Nachricht vom Tod des Freundes349 am 9. Mai bei Goethe hervorrufen würde, der _____________ 347 348 349
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Jost, Das Ich als Symbol, S.182. Jost, Das Ich als Symbol, S.182. Eine umfassende Darstellung der Freundschaft zwischen Goethe und Schiller bietet die Monographie von Safranski (Rüdiger Safranski, Goethe und Schiller. Geschichte einer Freundschaft, München 2009); darüber hinaus sei auf den unlängst erschienenen Sammelband von Fischer und Oellers verwiesen, der zahlreiche Einzelaspekte der produktiven Beziehung der beiden ‚Klassiker’ beleuchtet: Bernhard Fischer und Norbert Oellers
zu diesem Zeitpunkt an Nierenkoliken selbst schwer erkrankt war. Doch die Erschütterung findet zunächst nur in einem einzigen Satz Platz, in dem das Ich bemerkt, dass Schiller „am Neunten verschieden [war] und ich nun von allen meinen Uebeln doppelt und dreyfach angefallen“ (ebd.). Sogleich im Anschluss daran wird berichtet, was das Ich unternahm, „[A]ls ich mich ermannt hatte“ (ebd.) – wohlgemerkt eben ohne weitere Worte etwa darauf zu verwenden, wie lange die Phase weiterer Krankheit und Trauer anhielt und was dem Ich in dieser Zeit durch den Kopf ging, das womöglich nicht sogleich in produktive Energie, in Ergebnisse mündete – nämlich „ich [blickt’] nach einer entschiedenen großen Thätigkeit umher; mein erster Gedanke war den Demetrius zu vollenden“ (ebd.). Eine Phase größter Produktivität schließt sich der Darstellung in den Tag- und Jahresheften zufolge an, ein wahrer „Enthusiasmus […] hatte mich ergriffen“ (TuJ, S.142) und „[i]ch schien mir gesund, ich schien mir getröstet“ (ebd.), galt es doch, dem Verstorbenen „das erfreulichste“ „Monument“ (TuJ, S.143) zu stiften, indem der gemeinsam so oft besprochene Plan dieses Dramas, das Schiller nicht mehr zu Ende führen konnte, von Goethe zu einem Abschluss gebracht und – so Goethes Idee – „auf allen Theatern zugleich gespielt“ (TuJ, S.142) werden würde, um so „die herrlichste Todtenfeyer“ zu gestalten, „die er [i.e. Schiller] selbst sich und den Freunden bereitet hätte“ (ebd.). Warum der Plan dann doch nicht zum Abschluss gelangte, wird nur sehr nebulös angedeutet: Es „setzten sich der Ausführung mancherley Hindernisse entgegen“, offensichtlich doch Schwierigkeiten, die das Ich mit sich selbst auszutragen hatte, wenn es dann heißt, dass diese „Hindernisse“ „mit einiger Besonnenheit und Klugheit vielleicht zu beseitigen [gewesen wären], die ich aber durch leidenschaftlichen Sturm und Verworrenheit nur noch vermehrte“ (ebd.). Umso größer war dann die Trauer und Verzweiflung, die das Ich ob des doppelten Verlusts – zum einen des Tods des Freundes, zum anderen der Aufgabe des Planes, der doch ermöglicht hätte, Schiller noch zeitnah zu seinem Tod ein „Denkmal“ zu setzen und die eigene Anteilnahme durch die Weiterarbeit an seinem Dramenfragment produktiv zu bekunden – zu durchleiden hatte: Nun fing er mir erst an zu verwesen; unleidlicher Schmerz ergriff mich, und da mich körperliche Leiden von jeglicher Gesellschaft trennten, so war ich in traurigster Einsamkeit befangen. Meine Tagebücher melden nichts von jener Zeit; die weißen Blätter deuten auf den hohlen Zustand, und was sonst noch an Nachrichten sich findet zeugt nur, daß ich den laufenden Geschäften ohne
_____________ (Hgg.), Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Berlin 2011 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie, Bd. 14).
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weitern Antheil zur Seite ging, und mich von ihnen leiten ließ, anstatt sie zu leiten (TuJ, S.142f.).
Nur etwa ein Zehntel des Umfangs, den der Bericht über das Jahr 1805 einnimmt, ist dieser Darstellung der von der eigenen Krankheit und dem Tod Schillers geprägten ersten fünf Monate des Jahres 1805 gewidmet – auf den weiteren neun Zehnteln werden Schiller bzw. die Folgen der mit seinem Tod verbundenen Verlusterfahrung nicht mehr erwähnt. Vielmehr schildert das Ich in gewohnt heiterer, auf die Erträge der jeweiligen Beschäftigung fokussierender Manier die zahlreichen Tätigkeiten der zweiten Jahreshälfte, die u.a. gekennzeichnet war von dem zweiwöchigen Besuch des Altertumsforschers und Kunsthistorikers Friedrich August Wolf aus Halle in Weimar, dessen 1795 veröffentlichte Prolegomena zu Homer Goethe tief beeindruckt hatten. Mit ihm tauscht er sich in diesen Tagen vor allem über Winckelmann aus, an dessen Lebensbeschreibung Winckelmann und sein Jahrhundert er gerade arbeitet und in die er dann auch Wolfs Beitrag über Winckelmanns Studiengang aufnimmt. Im Bereich der Naturwissenschaften geben die Forschungen Franz Joseph Galls neue Anregungen, dessen Vorträge auf dem Gebiet der vergleichenden Anatomie, besonders der Phrenologie, Goethe begeistert verfolgt, zumal Galls „Lehre […] gleich so wie sie bekannt zu werden anfing mir dem ersten Anblicke nach zusagen [musste]“ (TuJ, S.148). Schließlich schildert das Ich ausführlich ein „eigene[s…] Abenteuer“ (TuJ, S.151), nämlich den Besuch bei Gottfried Christoph Beireis in Helmstedt, den er zusammen mit Wolf unternimmt und den er zu einer der wenigen Episoden innerhalb der Tagund Jahreshefte ausgestaltet, die als in sich abgeschlossene Komposition an die ausführliche und wohlüberlegte erzählerische Ausgestaltung von Dichtung und Wahrheit erinnert und daher als eine Passage gelten mag, in der das ‚Skelett’ der sonst so knapp und chronikartig auflistenden Diktion der Tag- und Jahreshefte entsprechend der Ankündigung in Lebensbekenntnisse im Auszug bereits „mit Fleisch und Gewand bekleidet“ wurde.350 Die getroffene Auswahl benennt lediglich die Schwerpunkte der Beschäftigungen, die Goethe seiner Autobiographie zufolge im Jahr 1805 verfolgt – ungenannt bleiben hier die zahlreichen Interessen, denen er darüber hinaus noch nachgeht, ebenso weitere Persönlichkeiten _____________ 350
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Als solche wird die ‚Beireis-Episode’ in den Kommentaren der verschiedenen GoetheAusgaben immer wieder hervorgehoben; auch ist zu ihr eine eigene Arbeit erschienen: Dieter Matthes, Goethes Reise nach Helmstedt und seine Begegnung mit Gottfried Christoph Beireis. Eine Untersuchung zum Bildstil der ‚Tag- und Jahreshefte’. In: Braunschweigisches Jahrbuch 49 (1968), S.121–211.
seines Weimarer Umfelds und des deutschen Geisteslebens, mit denen er in gedanklichem Austausch steht. Die Darstellung bietet also lediglich einen Ausschnitt dessen, was das erzählende Ich hier als Zeugnisse unermüdlicher Produktivität anführt. Selbst in den Wochen und Monaten nach Schillers Tod werden auf diese Weise – im Einklang mit der programmatischen Ankündigung der Weimarer Existenz am Ende des kurzen mit „Von 1769 bis 1775“ überschriebenen Abschnitts – gezielt „schöne[…] Verhältnisse[…]“ und ein „glückliche[r…] Lebensgang“ (TuJ, S.12) präsentiert und dabei demonstriert, dass das Ich selbst angesichts schwerer emotionaler Erschütterungen351 unentwegt tätig ist und produktiven Anteil nimmt am Geistes- und Kulturleben seiner Zeit.352 Dass dieses chronikartige, die Fülle der Beschäftigungen und Kontakte jeweils nur knapp auflistende Erzählen für den Leser womöglich wenig ‚Vergnügliches’ zu bieten hat, dafür aber im Sinne der zweiten Funktion, die Horaz der Literatur zuschreibt und die Goethe sicher nicht zufällig in Lebensbekenntnisse im Auszug in der Ankündigung der Tag- und Jahreshefte aufgreift, umso mehr ‚Unterrichtendes’ bereithält, machen die beiden exemplarisch untersuchten Abschnitte deutlich. Die Kontakte und Beschäftigungen, die einen Ertrag haben, sind im Hinblick auf das eigene Leben unbedingt berichtenswert, ja geradezu nötig zu berichten. Sie bezeugen, dass Goethes Weimarer Existenz geprägt war von einem beständigen Wirken nach außen, von Teilnahme und Tätigkeit und präsentieren darüber hinaus seinen Lebenslauf als exemplarisch. Ein gelingendes Leben ist in Goethes Deutung das, welches sich durch keinerlei Erschütterung von den Aufgaben des Tages abhalten lässt, welches privaten Verlusten wie dem Tod eines sehr engen Freundes oder auch weltgeschichtlichen Bedrohungen wie den Erfahrungen von Krieg und Gewalt – zu erinnern sei hier an die Darstellung in der Campagne in Frankreich und der Belagerung von Mainz, in der den Beschäftigungen und Interessen des Ichs auf den ersten Blick mehr _____________ 351
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Dass eben diese emotionalen Erschütterungen, ja überhaupt Privates kaum Eingang findet in die Tag- und Jahreshefte, zeigt sich womöglich noch mehr als bei der Darstellung von Schillers Tod in der Tatsache, dass Goethe seine Frau Christiane gar nicht erwähnt – selbst von ihrem Tod im Jahre 1816 ist nicht die Rede – und auch von den Geburten und Todesfällen seiner Kinder, die meist bei oder kurz nach der Geburt verstorben sind, nicht berichtet wird; lediglich Goethes Sohn August, der als einziges Kind Goethes das Erwachsenenalter erreicht, wird in einigen Passagen kurz erwähnt. Als Rechenschaftsbericht von einem tätigen und teilnehmenden Leben kennzeichnet schon Jost Goethes „autobiographische[…] Darstellungsform“ (Jost, Das Ich als Symbol, S.174) in den Tag- und Jahresheften, vgl. dazu besonders Jost, Das Ich als Symbol, S.186– 192.
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Aufmerksamkeit geschenkt wird als den Kriegsereignissen353 – ein unermüdliches Tätigkeitsprogramm entgegensetzt. Implizit erschließt sich über diesen didaktischen Impetus, der das eigene Denkmal zum Vorbild einer aktiven, wirkend-produktiven Lebensführung ausgestaltet, eine Antwort auf die Frage, warum Goethe in den Tag- und Jahresheften eine überwiegend ‚skelettartige’ Darstellungsweise bevorzugt. Dass es sich dabei nicht um einen „new type of autobiography“354, schon gar nicht um ein bewusst als konzeptionellen Neuansatz entworfenes Werk handelt, das den Schreibverfahren, die in den zuvor veröffentlichten autobiographischen Texten angewandt wurden, ein neues Ideal autobiographischen Schreibens entgegensetzt, betont auch Carsten Rohde im den Tag- und Jahresheften gewidmeten Kapitel seiner Dissertation,355 die Goethes autobiographisches Schreiben untersucht. In Übereinstimmung mit seinen Ergebnissen ist unbedingt festzuhalten, dass die Tag- und Jahreshefte mehr noch als die anderen Teile von Goethes Autobiographischen Schriften nicht als Werk zu betrachten sind, das für sich allein erschöpfend zu verstehen ist – jedenfalls nicht, wenn das Interesse weniger einzelnen inhaltlichen Aspekten gilt, sondern der Art, wie Autobiographie geschrieben wird. Entstehungsbedingungen, Goethes eigene Äußerungen wie schließlich der Titel des Werkes, der im Laufe von dessen Entstehung immer wieder geändert wird und dabei Aufschluss gibt über sich verändernde Konzepte des Erzählens, die zeitweise die Darstellung des Lebens in Epochen, zeitweise die Darstellung nach Jahren favorisieren – und _____________ 353 354
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Vgl. dazu ausführlich die Ergebnisse des vorangegangenen Kapitels dieser Arbeit. Hermann Böschenstein, Tag- und Jahreshefte. A new Type of Autobiography. In: Böschenstein, Selected Essays on German Literature, New York, Bern u. Frankfurt a.M. 1986 (Canadian Studies in German Language and Literature, Bd. 34), S.51–60, hier S.51. Auch Stefan Blechschmidt will in seiner jüngst erschienenen Untersuchung eine „zweite Autobiographie“ Goethes erkennen, die 1797 mit Entwürfen für Reiseaufzeichnungen beginne, mit den autobiographischen Notizen in den naturwissenschaftlichen Arbeiten fortgeführt werde und in den Tag- und Jahresheften kulminiere. Diese „neue Form“ (Stefan Blechschmidt, Goethes lebendiges Archiv. Mensch – Morphologie – Geschichte, Heidelberg 2009, hier S.53) autobiographischen Schreibens bezeichnet er als „Archivautobiographie“ (Blechschmidt, Goethes lebendiges Archiv, S.46 u.ö.). Dieser Ansatz ist für die vorliegende Arbeit wenig ergiebig, weil er davon ausgeht, dass die Tag- und Jahreshefte mit Goethes anderen autobiographischen Texten wenig gemein haben – eine Überlegung, die aufgrund der vom Autor selbst vorgenommenen Einordnung des Textes in das Corpus der Autobiographischen Schriften und auch vor dem Hintergrund gattungstheoretischer Überlegungen fraglich ist, zumindest aber für die genauere Bestimmung der in den Tag- und Jahresheften angewendeten Schreibverfahren und ihrer Funktion gerade innerhalb von Goethes Autobiographieprojekt wenig austrägt. Vgl. Carsten Rohde, Spiegeln und Schweben. Goethes autobiographisches Schreiben, Göttingen 2006, hier bes. S.339–352.
schließlich der Zusatz „zur Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse“ weisen den Text als Provisorium aus, als „Auffangbecken für alle Erwartungen […], die an Goethes autobiographisches Projekt herangetragen wurden“356. Sein autobiographisches Gesamtprojekt, das natürlich so angelegt war, dass das g e s a m t e Leben im Sinne der eigenen Überlieferungsintentionen dokumentiert werden sollte, wies 1822, als die Arbeit an den Tag- und Jahresheften intensiver in Angriff genommen wurde, große Lücken auf. Das Vorhaben, diese Lebensabschnitte in ähnlich ausführlicher und durchkomponierter Manier auszugestalten wie in den bereits veröffentlichten Texten, musste aufgegeben werden. Das aber, was Goethe der Nachwelt unbedingt noch überliefern wollte, gelang ihm doch zumindest provisorisch mitzuteilen und damit das Publikum in seinem Sinne über die großen Lebenslinien zu unterrichten. So konnte er sich für seine Weimarer Jahre ständig „in Funktion, als Organ des europäischen Kunst- und Wissenschafts-Lebens“357 präsentieren – und zwar wie in keinem anderen autobiographischen Text sonst. Rohde resümiert in diesem Zusammenhang zutreffend, dass „[i]n der Akzentuierung des Tätigkeitsbegriffs […] in der Tat der genuine Beitrag der Tag- und Jahreshefte zum autobiographischen Gesamtwerk [besteht und nirgends] sonst […] dieses Leitwort Goetheschen Schaffens derart eindrücklich vor Augen geführt [wird]“,358 dennoch aber zwei Deutungslinien in der Goethe-Philologie widersprochen werden muss. Zum einen erscheint die vor allem wertungsästhetisch motivierte und an einer Rehabilitierung des von der Forschung so vernachlässigt erscheinenden Textes interessierte Deutung fraglich, die die Tag- und Jahreshefte als Beispiel für eine besondere Form der Altersästhetik auf eine Stufe mit Dichtung und Wahrheit hebt oder sie gar als „grandiose[n] Schluß der gesamten Autobiographie“359 feiert und so über die anderen autobiographischen Texte stellt.360 Noch wichtiger ist die Einsicht, dass _____________ 356
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Rüdiger Nutt-Kofoth, Varianten der Selbstdarstellung und der Torso des Gesamtprojekts „Aus meinem Leben“: Goethes autobiographische Publikationen. In: Varianten – Variants – Variantes, hg. von Christa Jansohn, und Bodo Plachta, Tübingen 2005, S.137–156, (Beihefte zu editio, Bd. 22), hier S.142. Erich Trunz, Kommentar zu TuJ in HA 9, S.624. Rohde, Spiegeln und Schweben, S.349. Erich Trunz, Kommentar zu TuJ in HA 9, S.624. Nachzuweisen ist diese Tendenz nicht nur in Trunz’ zitiertem Kommentar in der Hamburger Ausgabe, sondern vor allem in der Dissertation von Wackerl, Goethes Tagund Jahreshefte, sowie in der von Stephan Koranyi, Autobiographik und Wissenschaft im Denken Goethes, Bonn 1984. Für alle Drei resümiert Rohde zutreffend: „Mehr noch als Trunz messen die Studien von Georg Wackerl und Stephan Koranyi den Tag- und Jahresheften diese herausragende Bedeutung bei. Ja, Wackerl und Koranyi erheben sie gera-
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die Tag- und Jahreshefte keineswegs einem veränderten oder gar ganz neu konzipierten Autobiographieverständnis entspringen. Vielmehr sind sie als Versuch zu sehen, das Autobiographieprojekt in Gänze noch zu einem Abschluss zu bringen und so das Ziel zu erreichen, dem gesamten Leben ein Denkmal zu setzen und dieses Denkmal vor allem soweit möglich selbst zu gestalten. Dieser Versuch ist insofern gelungen, als die Lücken in der Lebensbeschreibung bis zum Jahr 1822 provisorisch geschlossen werden, dabei muss der Verfasser zwar notgedrungen (nicht etwa einer neuen Sicht auf die Gattung entspringend!) Abstriche machen, was „das Ausmaß der Faktur (des Komponierens, Redigierens, Stilisierens, Inszenierens, Poetisierens)“361 anbelangt, dennoch kann er die „höhere Wahrheit“ der Weimarer Existenz so darstellen, wie er sie überliefert wissen will: als ein Leben, das geprägt ist von den vielfältigsten Interessen, Kontakten zu zahlreichen bedeutenden Persönlichkeiten des Geistes- und Kulturlebens sowie vor allem von unermüdlicher Tätigkeit. Daher gilt Goethes Erkenntnis, die Kramer zunächst nur für „das Modell Dichtung und Wahrheit“ formuliert, für das gesamte Autobiographieprojekt – und also auch für die Tag- und Jahreshefte: „Soll Individualität realisiert und Identität gesichert werden, ohne daß man ständig an Grenzen gerät, bleibt nur der Weg, ein Leben zu schreiben, statt es zu leben“362. Dass dieses Leben überhaupt geschrieben, dass Geschichte überliefert wird und der Leser sich anhand des Geschriebenen über diese Lebensgeschichte „unterrichten“ (Lebensbekenntnisse, S.370) kann, ist wichtiger als die Frage, w i e es geschrieben wird. Deswegen werden die Tag- und Jahreshefte als „Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse“ vorgelegt und das Autobiographieprojekt so zum Abschluss gebracht, selbst wenn Leser wie auch der Autor selbst mit der Gestaltung dieses Textes, der nicht unbedingt „sich zu vergnügen [zu] lesen“ (ebd.) sei, nicht voll zufrieden sind. _____________
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dezu enthusiastisch zu dem autobiographischen Hauptwerk der Spätzeit, Dichtung und Wahrheit durchaus ebenbürtig, kongenialer autobiographischer Ausdruck der Altersästhetik, auf einer Linie mit den Wanderjahren […]“ (Rohde, Spiegeln und Schweben, S.350). Rohde, Spiegeln und Schweben, S.351. Rohde findet hier zwar sehr deutliche, dennoch aber sachlich sicher nicht unzutreffende Worte, wenn er die Leseeindrücke, die ein GoetheLeser („diejenigen, die wissenschaftlich damit befasst sind, einmal beiseite genommen“ (Rohde, Spiegeln und Schweben, S.350)) bei der Lektüre der Tag- und Jahreshefte erhält, als „zäh[…]“ und „spröde“ (Rohde, Spiegeln und Schweben, S.350) und den Text selbst als „kunstlos[…]“ und „langweilig zu lesen[…]“ (Rohde, Spiegeln und Schweben, S.352) charakterisiert und diese den „Lobeshymnen“ (Rohde, Spiegeln und Schweben, S 352) gegenüberstellt, die sich etwa bei Wackerl und Koranyi nachlesen lassen. Kramer, Ein Leben schreiben, S.121.
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Schluss
Ausgangspunkt dieser Studie war eine Beobachtung Nicholas Boyles zu Goethes Autobiographischen Schriften. Der Cambridger Germanist hatte in seinem kurzen Aufsatz „Geschichtsschreibung und Autobiographik bei Goethe (1810–1817)“ einen engen Zusammenhang zwischen Goethes Geschichtsdenken und seiner Autobiographik angenommen und diese Überlegung anhand der autobiographischen Texte der Jahre 1810 bis 1817 entwickelt. In der vorliegenden Arbeit bildete dies die Basis einer umfangreicheren Untersuchung, die Goethes gesamtes Autobiographieprojekt in den Blick nahm. In den einzelnen Kapiteln des Hauptteils konnte der Zusammenhang zwischen Goethes Geschichtsdenken und seinen Autobiographischen Schriften genauer bestimmt werden. Zum einen zeigte die Analyse seiner autobiographischen Texte, dass das in der Forschung häufig vertretene Urteil, Goethe habe sich grundsätzlich nicht für Geschichte interessiert und sei erst recht Geschichtsphilosophie und Historiographie mit skeptischer Distanz begegnet, erheblich differenzierter gefasst werden muss. Zum anderen konnte der Ansatz, die autobiographischen Texte vor dem Hintergrund von Goethes Vorstellungen von Geschichte und seiner spezifischen Wahrnehmung historischer Phänomene zu beleuchten, zu einem weiter reichenden Verständnis von Goethes Autobiographiekonzeption beitragen. Die Voraussetzung für die Ergebnisse der Textanalysen lieferte das theoretisch-methodische Fundament dieser Arbeit, in dem zunächst der Begriff ‚Geschichtsdenken’ terminologisch genauer umrissen und in den theoretischen Diskurs der Zeit um 1800 eingeordnet wurde. Dabei stellte die Vielschichtigkeit des Begriffs ‚Geschichtsdenken’ eine besondere methodische Schwierigkeit dar. Sie ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass der heute in seiner Bedeutung als Kollektivsingular immer noch höchst komplexe und vieldimensionale Terminus ‚Geschichte’ sich gerade um 1800 erst als solcher herausbildete. Auch die Vorstellungen von Geschichte erfahren in dieser Zeit einen Umbruch. Die Untersuchung von Goethes Geschichtsdenken war deswegen nicht etwa in einer einzigen Fragestellung präzise zu fassen, sondern sie 329
musste in mehrere, spezifischere Fragestellungen untergliedert werden. Diese wiederum wurden auf der Grundlage der Ergebnisse der literatur- wie geschichtswissenschaftlichen Autobiographie-Forschung entwickelt, um für die Untersuchung von Goethes Geschichtsdenken gerade in seinen autobiographischen Texten relevante Fragen zu erhalten. Die Abhängigkeit vom Textcorpus schränkte den Blickwinkel notgedrungen ein. Entsprechend ergiebig könnte es sein, diese Perspektive wieder zu erweitern und Goethes Geschichtsdenken anhand anderer Texte zu untersuchen, in denen sich historische Denkmuster nachweisen lassen; lediglich gestreift wurden in dieser Studie zum Beispiel seine biographischen und wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten wie etwa die Materialien zur Geschichte der Farbenlehre oder seine ‚Geschichtsdramen’ wie Götz von Berlichingen und Egmont. Zunächst einmal hat die Untersuchung der Frage, w i e Goethe sich historische Phänomene und Zusammenhänge erschließt, gezeigt, dass ein enger Zusammenhang zwischen seinen eigenen Zugangsweisen zu Geschichte und zu der Art besteht, wie er schließlich selbst Geschichte in seinen autobiographischen Texten schreibt. Goethes Geschichtsd e n k e n ließ sich daher kaum trennscharf von Goethes Geschichtss c h r e i b e n untersuchen, zumal oftmals Erkenntnisse darüber, wie sich Goethe Geschichte d e n k t , nur über den scheinbaren Umweg der Analyse seiner S c h r e i b verfahren zu gewinnen waren. Diese methodische Schwierigkeit resultiert zum einen aus der grundsätzlichen „Inkommensurabilität von geschichtlicher Wirklichkeit und ihrer sprachlichen Verarbeitung“, die zuletzt Reinhart Koselleck in den Theorieskizzen seines posthum veröffentlichten Sammelbandes Vom Sinn und Unsinn der Geschichte beschrieben hat. Zum anderen ist sie wiederum eine Konsequenz, die sich aus der Auswahl des Textcorpus, verbunden mit dem spezifisch Goetheschen Verständnis der Gattung Autobiographie ergibt. Denn Goethe bestimmt die Autobiographie im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Historiographie; wie in der Einleitung dieser Studie dargestellt, präsentiert er sich im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit und damit gleich zu Beginn der Arbeit an seinem Autobiographieprojekt als Geschichtsschreiber des eigenen Lebens mit einer besonderen Gattungstradition, die bis zu Augustin zurückreicht. In dieser ‚Lebens-Geschichtsschreibung’ spiegelt sich wider, welche Auffassung Goethe von den Methoden und Aufgaben eines Historiographen hat, zumal er seine Autobiographie selbst (auch) als Historiographie bestimmt. Diese Sicht ist im Kontext der Auseinandersetzung mit Geschichte und Geschichtsschreibung um 1800 ungewöhnlich, indem sie auf Erkenntnisse von Geschichtstheoretikern wie Koselleck, Hayden White und anderer vorverweist. Sie schließt die Reflexion dar330
über ein, dass Geschichtsschreibung auch Geschichtsdeutung ist, ja Geschichte immer erst im Akt des Schreibens konstruiert wird. Deswegen zeigen sich gerade bei Goethe in der Art, wie er die Geschichte seines Lebens und seiner ‚Epoche’ s c h r e i b t , Konstanten seines Geschichtsd e n k e n s . Sowohl bei Goethes Annäherung an historische Fragestellungen als auch in seiner Darstellung von Geschichte spielen Lebendigkeit und Anschaulichkeit eine herausgehobene Rolle; sie scheinen geradezu notwendig dafür zu sein, dass Goethe sich überhaupt für Geschichte interessiert, genauer: interessieren k a n n . Besonders die Ergebnisse von Kapitel 3.4 zeigen, dass Goethe zunächst die seiner Zeit gemäßen Wege der Aufklärungshistorie beschritten, sich auf traditionelle Bahnen, sich Geschichte zu erschließen, also durchaus eingelassen hat. Vielmehr weist der Autobiograph die Einsicht, dass ihm selbst diese Methoden keinen Zugang zu historischer Erkenntnis verschafft haben, als einen Aspekt der „höhere[n] Wahrheit“ des Rückblicks auf sein Leben aus. Der Widerwille, mit dem der junge Goethe die historischen ‚Hausaufgaben’ des Vaters bearbeitet, deutet in diesem Sinne voraus auf Späteres. Folgerichtig inszeniert der Autobiograph die Reise nach Italien dann in vielerlei Hinsicht als „Wiedergeburt“ und so als Befreiungsschlag und Selbstfindung – freilich nicht nur in der Geschichtsperspektive, aber auch, indem er eigene, im Kontext der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit Geschichte ungewöhnlicher Zugangsweisen zu historischer Erkenntnis selbstbewusst behauptet. Charakteristisch für Goethes spezifischen Zugang zur Geschichte ist sein eminentes Interesse an der Gegenwärtigkeit des Vergangenen: Was aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht und hier noch sinnlich erfahrbar ist, stellt einen ersten Schlüssel zu Goethes Geschichtsverständnis dar. Ein Beispiel dafür bieten Natur, Landschaft und Klima – das caelum – auf Sizilien in der Italienischen Reise. Ihnen schreibt Goethe zum einen deterministische Züge zu, zum anderen sind sie für den Betrachter noch dieselben wie in der Antike und bauen ihm gleichsam eine sinnliche Brücke zur Magna Graecia. Ein weiteres Beispiel ist das Monument von Igel in der Campagne in Frankreich, weil es als noch nahezu vollständig in ihrer ursprünglichen Ausführung erhaltene ‚Quelle’ einen Gegensatz bildet zu manchen gestaltlosen Ruinen. Denn bei der Betrachtung solcher ‚Trümmer’ kann man sich kaum mehr vorstellen, wie die jeweiligen Bauwerke ursprünglich einmal ‚ganz’ aussahen. So wie die ‚Trümmer’ möchte Goethe alle Elemente von Geschichte aus seinen Vorstellungen und aus der Darstellung in den Autobiographischen Schriften ausblenden, die er – auch als Handlungsoption im gegenwärtig-politischen Alltag – kategorisch ablehnt: 331
gewaltsame Umbrüche, eruptive Veränderungen, Eingriffe in lange Zeit gewachsene Strukturen. Dies gilt sowohl für die Weltgeschichte wie für das Individuum, weil dieses – wie etwa das erzählte Ich der Campagne in Frankreich und der Belagerung von Mainz – seine auf friedlich-produktive Tätigkeit angelegte Existenz nur mühsam gegen die unkalkulierbaren und von (einzelnen) Menschen nicht zu beeinflussenden übergeordneten Entwicklungskräfte behaupten kann. Über das Interesse am einzelnen Menschen, an seiner intellektuellen oder künstlerisch wirksamen Entwicklung eröffnet sich für Goethe ein zweiter Schlüssel zur Geschichte. Die Kapitel 3.2 und 3.3 konnten belegen, dass er in der Weltgeschichte zwar kein auf einen Endzweck ausgerichtetes Kontinuum sieht, das Individuum aber für ihn teleologischer Entwicklung unterworfen ist. So hat Goethe die in Urworte. Orphisch umschriebenen Bedingungsfaktoren jeder menschlichen Existenz konsequent auf die Darstellung der Geschichte des erzählten Ichs in den Autobiographischen Schriften übertragen. Das Wechselverhältnis zwischen dem „Individuum“ und „sein[em] Jahrhundert“ (DuW I, S.13) lässt sich demnach, was die Prägung des Einzelnen durch die Zeitverhältnisse anbelangt, zunächst einmal als eine Auseinandersetzung zwischen der natürlichen Anlage, dem Daimon eines Menschen und seiner Umgebung deuten, denn diese hält im Laufe seines Lebens Einflüsse der vier anderen Ur-Kräfte Tyche, Eros, Anangke und Elpis bereit. Dabei ist das Telos einer jeden Existenz dem Individuum mit seinem Daimon schon im Augenblick seiner Geburt eingeschrieben. Während seines Lebens sichert nach Goethes Entelechie-Konzept allein der Daimon eine Konstanz und Zielführung, weil diese in der Weltgeschichte nach Goethes Vorstellung nicht zu finden ist. Gerade für die Wechselwirkung von Individuum und Zeitverhältnissen ist dann wesentlich, welche Rolle dem aus der Masse herausgehobenen Menschen, dem intellektuell oder künstlerisch besonders Begabten zukommt. Diesem von seinem Daimon besonders Begünstigten gilt Goethes primäres Interesse, sowohl in seinen biographischen Arbeiten als auch in seinem Autobiographieprojekt. Deshalb stellt er sich selbst als jemand vor, dessen astrologische „Konstellation […] glücklich“ (DuW I, S.15) war und der den „guten Aspekten“ (ebd.) der Sterne zu seiner Geburtsstunde schon das Überleben nach der schwierigen Geburt, im Verlauf seines Lebens aber noch einiges mehr zu verdanken hat. Diese Stilisierung weiterführend präsentiert er in seinen Texten ein Ich, das seiner Zeit weit voraus ist. Es bringt durch seine ‚Tätigkeit’ und ‚Teilnahme’ am geistigen Leben seiner ‚Epoche’ seine Zeit selbst voran, indem es etwa der Literaturgeschichte als ein „neuer Kolumbus“ (Winkelmann, S.191), als herausgehobenes, geniales Individuum, neue Wege 332
weist. Dieses Genie allerdings muss im Laufe seines Lebens den eigenen Daimon gegen die störenden, die eigene Entwicklung hemmenden anderen vier Ur-Kräfte behaupten, wenn diese immer wieder versuchen, es vom ihm eigenen Weg abzubringen. Diese Ur-Kräfte können in ganz unterschiedlicher Weise begegnen: als Einflüsse einzelner Menschen – zum Beispiel der Gesellschaft um Pylades und Gretchen im Fünften Buch von Dichtung und Wahrheit –, als unberechenbare Macht leidenschaftlicher Gefühle, die das Individuum verwirren, oder aber als historische Größen, die das Leben bestimmten Zwängen aussetzen. Zu denken ist hier auf politischer Ebene etwa an den Frankreich-Feldzug, denn das erzählte Ich nimmt an diesem in der Campagne in Frankreich im Gefolge seines Herzogs vor allem deswegen widerwillig teil, weil die militärische Aktion es von der seiner Bestimmung gemäßen ‚Tätigkeit’ und seinen originären Interessen abhält. Auf geistig-produktiver Ebene ist zum Beispiel die Literatur der Aufklärung gemeint. Von ihrer Tradition muss sich das Ich im Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit erst lösen, um schließlich der deutschen Literatur mit innovativen lyrischen und dramatischen Werken und dann erst recht mit dem Werther eine neue Richtung zu weisen, ihr in der autobiographischen Stilisierung vielmehr überhaupt erst zu einem originären Gehalt zu verhelfen. Gemeinsam ist den verschiedensten Figurationen der Ur-Kräfte allerdings, dass sie im autobiographischen Rückblick stets als negative Einflüsse ausgewiesen werden, weil sie die Entwicklung des ‚Genies’ hemmen. Wichtig ist also, dass Goethe im Hinblick auf die Frage nach dem ‚Fortschritt’ der Geschichte sowieso nur von einem kulturellen und intellektuellen Fortschritt der Menschheit ausgeht und dass eben dieser Fortschritt nur erreicht werden kann über die Leistungen herausgehobener Individuen, denen es gelingt, ihren Daimon gegen die widrigen Zeitumstände zu behaupten. Deshalb auch müsse das ‚Andenken’ an diese Menschen erhalten werden, denn nach seiner Vorstellung sind sie erst dann wirklich tot, wenn ihrer niemand mehr gedenke. Die Frage, wie dieses Vergessen verhindert werden könne, steht im Mittelpunkt von Goethes Auseinandersetzung mit Geschichte. An ihr ist nicht per se das bedeutsam, was vergangen ist, und entsprechend kann es in der Geschichtsschreibung nicht primär darum gehen, Vergangenes zu überliefern. Vielmehr sucht Goethe bei jeder Beschäftigung mit historischen Zusammenhängen und vor allem mit historischen Persönlichkeiten einen Bezug zur eigenen Gegenwart. Um im Bewusstsein der Zeitgenossen lebendig zu bleiben und ebenso zukünftig nicht in Vergessenheit zu geraten, trifft Goethe in seinen letzten Lebensjahrzehnten Vorsorge. In diesem Kontext ist etwa der gescheiterte Versuch zu sehen, die Gestaltung des in Frankfurt geplanten, dann aber nicht ausgeführ333
ten Denkmals in den 1820er Jahren den eigenen Vorstellungen entsprechend zu beeinflussen. Auch hinter der Veröffentlichung des Briefwechsels mit Schiller oder den Bemühungen, das Weimarer Wohnhaus am Frauenplan noch zu Lebzeiten in ein ‚Museum’ umzugestalten, steht diese Intention – und nicht zuletzt erfüllt das gesamte Autobiographieprojekt die Funktion, sich selbst fest in das Gedächtnis der Nachwelt einzuschreiben. Nicht nur, was die Möglichkeit anbelangt, das Andenken an die eigene Person und die eigenen Leistungen durch eine gezielte „halb poetische, halb historische“ (DuW I, S.14) Ausgestaltung zu beeinflussen, indem Strategien des corriger l'histoire geschickt eingesetzt werden, bietet die Autobiographie als T e x t entscheidende Vorteile gegenüber einem Denkmal aus Stein. In Betrachtungen über ein dem Dichter Goethe in seiner Vaterstadt zu errichtendes Denkmal formuliert Goethe die Furcht, das in Frankfurt geplante Denkmal könnte von „Schnee“, „Frost“ (Betrachtungen, S.361) oder „bey Kriegsunruhen“ (Betrachtungen, S.362) beschädigt und verunstaltet werden – einem Text gelingt es hingegen eher, die Zeiten zu überdauern und so seinem Autor einen permanenten und unumstößlichen Platz im Gedächtnis der Nachwelt zu sichern. Eng verknüpft mit der ‚Denkmal-Funktion’ des Textes ist Goethes dritter Schlüssel zur Geschichte. Gemeint ist die herausgehobene Rolle des Erzählvorgangs für den historischen Erkenntnisprozess, die – wie in Kapitel 2.1 dargestellt wurde – in der Genese des Begriffs schon angelegt ist: Geschichte muss für Goethe erzählt werden. Geschichtsschreibung als die Erzählung von ‚wahren’ Begebenheiten wird daher an denselben Kriterien gemessen wie die Erzählung von fiktiven Zusammenhängen. In beiden Fällen ist es wichtig, die Imagination des Lesers oder Zuhörers anzuregen, damit dieser sich überhaupt auf die ‚Geschichte’ (hier beide Seiten des modernen Geschichtsbegriffs umfassend: die objektive, sich tatsächlich ereignete oder ereignende wie auch die subjektive, darstellende) einlässt und die geschilderten Details zu einem kohärenten Bild zusammenfügen kann. So präsentiert das Ich im Rückblick, dass es selbst etwa von den lebendigen Erzählungen zu der Bildergalerie der deutschen Kaiser im Kaisersaal des Römers als Kind für die Geschichte seiner Heimatstadt fasziniert werden konnte oder dass es sich auf Sizilien über die Lektüre Homers der Antike zu nähern vermochte. Im zweiten Fall wird sogar explizit ein l i t e r a r i s c h e r Text als Schlüssel zur Geschichte genutzt. Wiederum spiegeln sich diese Erfahrungen in den Autobiographischen Schriften wider – und zwar nicht nur auf inhaltlicher Ebene, wenn es um die Erschließung von und Auseinandersetzung mit historischen Zusammenhängen geht. Vielmehr werden, was die Gestaltung der eigenen Geschichte 334
anbelangt, in vielen Passagen etwa besonders anschaulich und lebendig ausschmückend literarische Erzählverfahren genutzt, wie vor allem in Kapitel 3.4 gezeigt werden konnte. In der Konsequenz ist der Historiograph nicht bloß ein ‚Diener’ der Fakten und von diesen abhängig, sondern ihm kommt als Erzähler eine für den historischen Erkenntnisprozess zentrale Rolle zu. Er ist derjenige, der aus den Quellen, die nur einen jeweils kleinen Ausschnitt der Vergangenheit bieten, die Geschichte erst in seinem Text zu einem Ganzen (re-)konstruiert, indem er auswählt, neu zusammenstellt und ‚Lücken’ schließt. Dabei schöpft er aus seinem eigenen Fundus an Imagination und historischem Einfühlungsvermögen und arrangiert und inszeniert gezielt, um der in ihrem Vollzug sinnlosen Geschichte überhaupt erst ex post einen Sinn – in Goethes Worten: eine „höhere Wahrheit“ – zuzuschreiben. Vor dem Hintergrund der historiographischen Tradition, die von Lukian über François Fénélon bis zu Leopold von Ranke reicht, ist diese Sicht der Rolle des Geschichtsschreibers ungewöhnlich, weil sie vor allem sein steuerndes und kreatives Potential betont und ihn keinesfalls als einen ‚Diener’ der Fakten sieht, der alles so zeigen soll, ‚wie es eigentlich gewesen ist’. Tatsächlich spiegeln sich – wie in Kapitel 2.1 hypothetisch formuliert wurde – in der Art, wie Goethe in seinen autobiographischen Texten Geschichte schreibt, Gedanken wider, die in der Historikerzunft erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts theoretisch diskutiert werden, etwa in Wilhelm von Humboldts Abhandlung Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers von 1821. Goethes Forderung, dass Geschichtsschreibung zugleich dem Leser ein objektives Urteil über die Vergangenheit ermöglichen und deswegen multiperspektivisch angelegt werden müsse, übersteigt dann erst recht Anspruch und Methodik der Historiographie seiner Zeit bei weitem. Ergiebig könnte es sein, Goethes Position im zeitgenössischen Diskurs auf der Grundlage dieser Ergebnisse genauer zu bestimmen. Denn in der theoretisch-methodischen Grundlegung dieser Arbeit wurde schließlich nur ein grober Überblick über prominente Positionen im Geschichtsdiskurs um 1800 gegeben, welcher der Funktion genügte, überhaupt an diesen Diskurs angebundene und so kontextuell sinnvolle Fragestellungen für die Textanalysen zu gewinnen. Vergleichende Studien, die Goethes Geschichtsdenken in seinem Verhältnis zu anderen Denkern differenzierter zu bestimmen versuchten, könnten daher womöglich darüber hinaus zu ergiebigen Einsichten gelangen. Goethes Tätigkeit als Historiograph seines eigenen Lebens ist also geprägt von einer diffizilen Balance zwischen einem die Geschichte steuernden und inszenierenden, ja zum Teil sogar ‚er-findenden’ Erzähler und den Ansprüchen einer multiperspektivischen Darstellung. Ihm 335
war diese Gratwanderung bewusst – das erklärt nicht zuletzt die während der gesamten Arbeitszeit an seinem Autobiographieprojekt immer wieder auch programmatisch formulierte Skepsis. Zugleich zeigt Goethes Autobiographieprojekt eine unermüdliche Beschäftigung mit der eigenen Geschichte u n d der Geschichte der eigenen ‚Epoche’, zumal beide für ihn ohnehin nur in ihrem Zusammenhang greifbar sind. Diese immanente Spannung erklärt, warum er für seine Zeit ungewöhnliche Wege zu historischer Erkenntnis suchte, die er erst einschlagen konnte, nachdem er mit der historiographischen Tradition gebrochen hatte und seine individuellen Interessen und Zugangsweisen selbstbewusst behauptete. Das, was im Vorwort von Dichtung und Wahrheit als Skepsis gegenüber der Möglichkeit von Geschichtsschreibung und Autobiographie anklingt, schlägt sich nieder in der heterogenen und am Ende doch Fragment gebliebenen Gestaltung einzelner autobiographischer Werke wie des gesamten nicht zum Abschluss gebrachten Autobiographieprojekts. Die Texte legen Zeugnis ab von den Chancen und Grenzen der Gattung, vermitteln in ihrer Praxis aber zugleich eine überaus moderne Auffassung von Aufgaben, Methoden und Anspruch eines Autobiographen, der deswegen Geschichtsschreiber und Dichter in einer Person ist, weil „poetische“ und „historische Behandlung“ (DuW I, S.14), das heißt die narrative Darstellung von res factae und res fictae gar nicht trennscharf voneinander zu unterscheiden sind. Auch im Hinblick auf Goethes Autobiographiekonzeption hat die Arbeit einige Ergebnisse erbracht: Auffällig ist hier die Heterogenität der verwendeten Schreibverfahren, stellt man etwa die ersten drei Teile von Dichtung und Wahrheit den Tag- und Jahresheften gegenüber. Dies allein ist keine neue Erkenntnis. Schwierig ist und bleibt es allerdings, mit dieser disparaten Ausgestaltung der Texte methodisch angemessen umzugehen. Die bisherige Forschung erklärte sie meist mehr oder weniger direkt wertend, indem Dichtung und Wahrheit (genauer: die ersten drei Teile) zum Ideal der Gattung erhoben und die anderen autobiographischen Texte in ihrer Abweichung von diesem Ideal dargestellt wurden oder aber der Fokus von vornherein nur auf e i n e n autobiographischen Text gerichtet war. Dabei wurde oft übersehen, dass novellistisch ausgestaltete Episoden, wie man sie vom Verfasser von Dichtung und Wahrheit kennt, u n d ein chronikalisches, nüchternsachliches Auflisten von Fakten, Ereignissen und ‚Tätigkeit’ sowie knapp oder gar nicht kommentierte eingeschaltete Quellen nebeneinander in a l l e n autobiographischen Texten begegnen. Diese Erkenntnis ist zwar dem Ansatz zu verdanken, die Gesamtheit von Goethes Autobiographischen Schriften in den Blick zu nehmen, derselbe Ansatz birgt aber die Gefahr, die Spezifika der einzelnen Texte nicht in all 336
ihren Facetten und so womöglich auch nicht in ihren Inkongruenzen wahrzunehmen. Eine weitere methodische Entscheidung hat dabei eine differenzierte Wahrnehmung der so unterschiedlich ausgestalteten Texte, die Goethe in das Corpus seiner Autobiographischen Schriften aufnahm, erschwert: Es stand nämlich nicht etwa in den einzelnen Kapiteln je e i n autobiographischer Text im Zentrum der Untersuchung. Hingegen ist der Hauptteil der Arbeit problemorientiert angelegt, indem sechs Einzelaspekte von Goethes Geschichtsdenken an Passagen untersucht wurden, welche jeweils verschiedenen autobiographischen Texten entstammen. Gerade zu den von der Forschung bislang weniger beachteten Texten wie vor allem den Tag- und Jahresheften, der Campagne in Frankreich und der Belagerung von Mainz wären deswegen weitere Einzelstudien wünschenswert, um mehr noch als bisher die angewandten Schreibverfahren vor dem Hintergrund der Zugehörigkeit der Texte zur Gattung Autobiographie bestimmen zu können. Mit Blick auf das Gesamtcorpus von Goethes autobiographischen Texten lassen die Ergebnisse dieser Studie fraglich erscheinen, ob man tatsächlich von einer Entwicklung oder gar von einem Wandel in Goethes Autobiographiekonzept sprechen kann – etwa so, dass Goethe während der mehr als zwanzig Jahre umfassenden Arbeit seinem Projekt und dessen ursprünglicher Intention gegenüber immer skeptischer geworden sei und sich dann schließlich in den Tag- und Jahresheften darauf beschränkt habe, die ‚Erträge des Tages’ zu notieren, weil ihm Anlage und Schreibverfahren von Dichtung und Wahrheit nicht mehr sinnvoll erschienen seien. Diese Einschätzung wurde in Boyles Aufsatz Geschichtsschreibung und Autobiographik sowie in mehreren anderen Arbeiten der Goethe-Philologie formuliert, sie scheint aber aus drei Gründen nicht haltbar zu sein. Erstens ist sich Goethe von vornherein nicht sicher, seinem Vorhaben gewachsen zu sein, denn er äußert Zweifel gegenüber dessen Realisierung schon im Vorwort zu seiner ersten autobiographischen Veröffentlichung, als er das Projekt als ein „immer bedenkliches Unternehmen“ (DuW I, S.11) und „ein kaum Erreichbares“ (DuW I, S.13) ankündigt. Zweitens setzt Goethe seine Skepsis produktiv um, indem er mit den unterschiedlichsten Schreibverfahren experimentiert, dabei aber offensichtlich nicht zu einem Ergebnis kommt, das ihn zufrieden stellt, denn keines der Schreibverfahren scheint für ihn ein Ideal autobiographischen Schreibens zu markieren und als (einzig) ‚richtiger’ Weg der Darstellung des eigenen Lebens zu überzeugen. Und schließlich hat Goethe drittens sein Projekt in der ursprünglichen Konzeption, die sein gesamtes Leben umfassen sollte, nicht verwirklicht und dies auch selbst eingestanden, wenn er etwa in Lebensbekenntnisse im Auszug die Tag- und Jahreshefte als Provisorium be337
zeichnet und sich für die nur „theilweise[...] Behandlung“ (Lebensbekenntnisse, S.269) rechtfertigt. Als zentrales Ergebnis dieser Arbeit ist daher zu nennen, dass die Heterogenität der verwendeten Schreibverfahren ihren festen Platz im Gefüge des Gesamtprojekts einnimmt: Sie spiegelt auf der Ebene der Texte wider, welch spannungsvolles Verhältnis der Autobiograph selbst zu seinem Unternehmen hat, weil er weder zu Beginn noch gegen Ende zu entscheiden vermag, welche Art der Darstellung dem Vorhaben, das „Individuum […] und sein Jahrhundert“ (DuW I, S.13) in ihrer Wechselwirkung darzustellen, angemessen ist. Das gesamte Projekt ist daher nicht so sehr als Präsentation des einen ‚richtigen’ Weges, eine Autobiographie zu schreiben, zu begreifen, vielmehr werden während der mehr als zwanzig Jahre umfassenden Arbeit verschiedene Wege eingeschlagen. Keinen dieser Wege weist der Autor selbst jedoch als den besten oder gar den einzig gangbaren Weg aus. Darüber hinaus änderte sich die Funktion, die Goethe der Autobiographik in seiner literarischen Gesamtbiographie zuwies, über die Jahre hinweg nicht. Sie brachte ihn immer wieder dazu, das so schwierig zu realisierende Projekt nicht aufzugeben. Wie besonders die Ergebnisse des Kapitels 3.1 unterstreichen, ging es ihm nicht nur um Bericht über Vergangenes, sondern mehr darum, die Kommunikation mit dem Publikum wieder zu beleben, über die Darstellung seines eigenen Lebens wieder Interesse an seiner Person zu wecken und sich so – etwa als der europaweit gefeierte Autor des Werthers, aber ebenso in seinem Wandel zu einem anderen ästhetischen Ausdrucksideal – wieder in Erinnerung zu rufen. Mit seinem zwischen Darstellungs- und Metaebene wechselnden Verfahren übt er so durchaus Kritik an der Rezeption der Zeitgenossen, weil diese mehr an den biographischen Bezügen seiner Texte als an den Texten selbst interessiert scheinen. Jedoch bietet das Projekt neben diesem kommunikativen Moment noch eine weitere Chance: Es birgt für den Autor die Möglichkeit, in der Gegenwart und darüber hinaus für die Nachwelt die Darstellung seines eigenen Lebens zu steuern. Durch eine solche vom Autor beglaubigte Interpretation des eigenen Lebens und Wirkens versucht er, sich eine selbst gestaltete Rolle in der Geschichte zu erschreiben. Bei aller Fragilität dieses „immer bedenkliche[n…] Unternehmen[s]“ (DuW I, S.11) präsentiert er dem Leser doch ein Ich, das souverän über die „höhere Wahrheit“ verfügt. Dabei impliziert diese „höhere Wahrheit“ die Deutungshoheit, festlegen zu können, welche Bedeutung dieses Ich-Konstrukt ‚Goethe’ für seine ‚Epoche’ gehabt hat und wie es das Publikum in Erinnerung behalten soll. Das viel zitierte Diktum, dass Goethe sich „selbst historisch gewor338
den“ sei, ist in diesem Zusammenhang ambivalent zu verstehen: einerseits macht es ihn zum Objekt historischer Betrachtung, dessen Wahrheit man sich nur lückenhaft annähern könne, andererseits aber markiert es den Anspruch zu bestimmen, was im Rückblick auf die eigene Geschichte bedeutsam und damit wert sei, überliefert zu werden. Auch hier nimmt Goethe Überlegungen vorweg, die im geschichtstheoretischen Diskurs des 20. und 21. Jahrhunderts eine Rolle spielen und die nicht nur für seine Autobiographiekonzeption aufschlussreich sind, sondern vor allem etwas darüber aussagen, wie sich Goethe Geschichte denkt. In Anlehnung an Theodor Lessing erklärt Reinhart Koselleck in seiner Theorieskizze Vom Sinn und Unsinn der Geschichte die Geschichte als logificatio post festum: Jede Geschichte, die wir als eine tatsächlich abgelaufene analysieren ist eine logificatio post festum. Das aber setzt denknotwendig voraus, daß jede Geschichte in ihrem Vollzug selbst sinnlos ist. Also die wirkliche Geschichte, so lautet die Ironie oder das Paradox dieser Überlegung, zeigt sich in ihrer Wahrheit erst, wenn sie vorbei ist. Anders formuliert, die Wahrheit einer Geschichte ist immer eine Wahrheit ex post. Sie wird überhaupt erst gegenwärtig, wenn sie nicht mehr existent ist. Die Vergangenheit muß also für uns erst vergangen sein, bevor sie ihre historische Wahrheit zu erkennen geben kann.1
Eben diese Überzeugung, dass die Geschichte sinnlos und es gerade die – höchst anspruchsvolle und „kaum […e]rreichbare[…]“ (DuW I, S.13) – Aufgabe des Geschichtsschreibers wie auch des Autobiographen sei, sie als logificatio post festum zu (re-)konstruieren, ihr rückblickend eine „höhere Wahrheit“ zuzuschreiben, ist ein zentraler Aspekt von Goethes Geschichtsdenken.
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Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, S.19.
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Literaturverzeichnis Quellen Ausgaben von Goethes Werken Goethe, Johann Wolfgang von, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände, hg. von Hendrik Birus, Dieter Borchmeyer u.a., Frankfurt a.M. 1985–1999 [Frankfurter Ausgabe]. – Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. 21 Bände in 33 Teilen, hg. von Karl Richter, München 1985–1998 [Münchner Ausgabe]. – Werke. 133 Bände in 143 Teilen, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887–1919 [Reprint München 1987]. Ergänzt durch 3 Nachtrags-Bände zu Abteilung IV: Briefe, hg. von Paul Raabe, München 1990 [Sophienausgabe; Weimarer Ausgabe]. – Werke. 14 Bände. Neu bearbeitete Auflage, hg. von Erich Trunz, München 1984 [Hamburger Ausgabe]. Für Zitate aus Goethe-Texten werden die hier angegebenen Ausgaben mit folgender Priorität herangezogen: a) Frankfurter Ausgabe, b) Hamburger Ausgabe, c) Weimarer Ausgabe, d) Münchner Ausgabe.
Einzelwerke und Werkausgaben anderer Dichter Herder, Johann Gottfried, Herders Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1877–1913. – Werke in zehn Bänden, hg. von Günter Arnold, Martin Bollacher u.a., Frankfurt a.M. 1985–2000. Horaz, Sämtliche Werke. Teil 2. Übersetzt und zusammen mit Hans Färber bearbeitet von Wilhelm Schöne, München 1964. Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in vier Bänden, hg. von Ernst Staehelin, Zürich 1943. Rousseau, Jean-Jacques, Les confessions. Tome 1. Introduction par Philippe van Tieghem, Paris 1962.
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