Blickbildungen: Ästhetik und Experiment in Goethes Farbstudien 9783412216184, 9783412221409


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Blickbildungen: Ästhetik und Experiment in Goethes Farbstudien
 9783412216184, 9783412221409

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Sabine Schimma

Blickbildungen Ästhetik und Experiment in Goethes Farbstudien

2014 BÖHLAU VERLAG   KÖLN   WEIMAR   WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Johann Wolfgang von Goethe, Vignette des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beyträge zur Optik, 1791. Klassik Stiftung Weimar, Goethe-Nationalmuseum.

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Charlotte Bensch, Weimar Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Česky T ěšíin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-22140-9

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Inhalt Danksagung  ..............................................................................................................  7 0. Einblicke  ...............................................................................................................  9 1. Natur und Kunst der Farben  . . ...............................................................................  23 1.1 Die Farben als Zeichen des Unverfälschten  .. ..............................................  23 1.2 Laokoon als Konkurrent der Farben?  . . ........................................................  36 2. Die Medialität des physikalischen Versuchs  ........................................................  51 2.1 Blick für Blick zur Abstraktion – ­Goethes experimentelle Methode  ........  51 2.2 Darstellungen des Versuchs  .........................................................................  64 2.3 Das wissenschaftliche Selbst und seine Sinnesleistung  ..............................  78 2.4 Newtons Bilder – G ­ oethes Bilder  ...............................................................  97 2.5 Experimentelle Bilder der Phantasie  . . ......................................................... 112 3. Körper-Bilder des Subjekts  ................................................................................... 125 3.1 Die Farben des ganzen Menschen  .............................................................. 125 3.2 Augenzeugen – Augen zeugen  .................................................................... 128 3.2.1 Das Forschungskollektiv als Medium der Erkenntnissicherung  .. .... 128 3.2.2 Das Auge im Schatten Lichtenbergs und Soemmerrings  ................ 134 3.2.3 Die farbigen Schatten des Blicks  . . ..................................................... 144 3.2.4 Goethes Farbentheorie in der Ophthalmologie um 1800  . . ............... 153 3.3 Das Auge als Medium der Welterfahrung  .................................................. 159 3.3.1 Die farbigen Gespenster des Auges  .. ................................................. 159 3.3.2 Die chromatischen Bilder der Seele  .................................................. 177 3.4 Wo ist das Blau geblieben? – G ­ oethes Versuche mit Farbenblinden  . . ....... 190 3.5 Klingende Bilder und Farben für das Ohr  .................................................. 205 3.6 Der Körper als Schau-Platz des Experiments  ............................................ 223 3.6.1 Der elektrisierte Blick – G ­ oethe, Ritter und der Galvanismus  ........ 223 3.6.2 Das potenzierte Auge – ­Goethes entoptische Studien  . . ................... 245 4. ­Goethes Urphänomen erobert das Auge  ............................................................. 265 4.1 Schopenhauers Philosophie des Urphänomens  .......................................... 265 4.2 Das abstrahierende Auge – Purkinjes subjektive Bilder  ............................. 283 4.3 Die farbige Struktur des Blicks – G ­ oethe und Johannes Müller  ............... 303

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Inhalt

5. Kolorierte Augenblicke – Die Zeichnungen zu ­Goethes Farbstudien  ................... 353 5.1 Wissenschaftliche Zeichnung und Schrift – Intermediale Verhältnisse  .... 353 5.2 Die Meisterschaft der Abstraktion – Bilder des Experiments  ................... 362 5.3 Die bildliche Ordnung des Farbenkreises  ................................................... 385 5.4 Subjektkonzepte in Farbschemata  . . ............................................................. 405 6. ­Goethes Theorie der Wahrnehmung  . . .................................................................. 425 Abbildungsverzeichnis  .. ............................................................................................. 435 Literaturverzeichnis  ................................................................................................... 439 Namensregister  ......................................................................................................... 463

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Danksagung Ich danke allen, die zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben, vor allem Joseph Vogl und Armin Schäfer, die mir mit wertvollen Anregungen und Hinweisen zur Seite standen. Mein Dank gilt ebenso Gisela Maul, Kustodin der naturwissenschaftlichen Sammlungen im G ­ oethe-Nationalmuseum, die mir stets Zugang zu G ­ oethes Apparaturen und Zeichnungen gewährte. Die Arbeit wurde an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar als Dissertation angenommen. Der vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung dieser Promotionsschrift. Die Arbeit entstand im Rahmen eines Teilprojekts des Sonderforschungsbereichs „Ereignis Weimar – Jena. Kultur um 1800“ von 2004 – 2007 an der Bauhaus-Universität Weimar sowie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Die Klassik Stiftung Weimar gewährte mir im Juli /August 2007 ein Forschungsstipendium. Ich danke allen Beteiligten. Verbunden bin ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, des G ­ oethe- und Schiller-Archivs sowie der Universitätsbibliothek in Weimar für ihre unermüdliche Hilfe. Ein herzlicher Dank geht an meine Eltern, Anneliese und Dieter Kulf und besonders an Thomas Kieck, der mich immer wieder in die Farben des Lebens zurückholte.

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0. Einblicke Der ersten Publikation seiner Farbstudien, dem 1791 erschienenen ersten Stück der Beiträge zur Optik, fügte ­Goethe ein optisches Kartenspiel mit unterschiedlichen Bildmotiven bei. Es sollte den Lesern den sinnlichen Nachvollzug der beschriebenen Experimente ermöglichen. Für den Umschlag dieses Spiels entwarf G ­ oethe eine Titelvignette, deren Mittelpunkt ein aus Wolken hervorschauendes, Strahlen sendendes Auge zeigt (vgl. Abb. 1). Kein anderes Bildmotiv veranschaulicht so einprägsam wie dieses die herausgehobene Bedeutung, die G ­ oethe der optischen Wahrnehmung im Erkenntnisprozess beimisst. In seiner Bildkomposition bezieht er sich zum einen auf Newtons Opticks, deren Titelvignette ein von Fernrohren umrahmtes Auge präsentiert (vgl. Abb. 2), zum anderen auf eine lange abendländische Tradition, in der spätestens seit Platons Ideenlehre das Auge als Erkenntnisorgan metaphorisiert wird und die ikonische Darstellung eines Strahlen werfenden Auges als Symbol religiöser Erleuchtung und göttlicher Erkenntnis gilt. Ein solches Auge war Ende des 18. Jahrhunderts, in der Zeit der Spätaufklärung, ein weit verbreitetes Motiv auf Ansichtskarten.1 Den Verweis auf diese Darstellungen benutzt ­Goethe, um sich zugleich von ihnen abzugrenzen und die Besonderheit seiner eigenen Erkenntnislehre zu unterstreichen. Der Holzschnitt, der nach einer Zeichnung ­Goethes gefertigt wurde, zeigt dessen gespiegeltes rechtes Sehorgan,2 so dass das symbolische Auge Gottes durch das reale Auge ­Goethes ersetzt wurde. Nach oben umschließt es ein Regenbogen, vor ihm auf dem Boden liegen ein Prisma und ein Spiegel. Die rahmende Anordnung der Attribute verweist sowohl auf die natürliche Sichtbarkeit als auch die künstliche Sichtbarmachung der Erscheinungen, nicht aber auf die ausschließlich instrumentelle Verstärkung des Blicks wie in Newtons Opticks. Die den Rahmen überragenden Strahlen symbolisieren das gewonnene Wissen über die Welt. Während sich bereits früh in der abendländischen Geschichte eine „Distinktionskunst“ 3 entwickelte, die eine Hierarchie zwischen einem höheren geistigen Sehen und einer niederen empirischen Sinnestätigkeit schuf, zielt ­Goethes Bemühen auf eine Aufwertung der Sinneswahrnehmung und der ihr korrelierenden phänomenalen Welt, die er als Basis jedes Erkenntnisprozesses konzipiert. Ihre Relevanz zeigt sich 1 2 3

Vgl. Konersmann, Ralf, Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts, Frankfurt am Main 1991, S. 190. Vgl. auch Völcker, Matthias, Blick und Bild. Das Augenmotiv von Platon bis G ­ oethe, Bielefeld 1996, S. 9 – 10. Vgl. Matthaei, Rupprecht, ­Goethes Augen, in: ­Goethe. Viermonatsschrift der ­Goethe-Gesellschaft 5 (1940), S. 265 – 274. Boehm, Gottfried, Sehen. Hermeneutische Reflexionen, in: Konersmann, Ralf (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 272 – 298, hier S. 272.

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nicht zuletzt in seiner Forderung, nach dem Vorbild der kantischen Kritik der reinen Vernunft eine „Kritik der Sinne und des Menschenverstandes“ 4 zu entwerfen. In ihrer Ausrichtung an der Sinneswahrnehmung basieren die meisten naturwissenschaftlichen und experimentellen Arbeiten G ­ oethes auf einem ästhetischen Verständnis der Natur. Diese Ästhetisierung entwirft ­Goethe erstens als synthetisierenden Gegenpol einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Welt, die sich spätestens in der Mitte des 19. Jahrhunderts in die zwei Kulturen 5 von Künsten und Geisteswissenschaften sowie Naturwissenschaften separiert haben wird. Sein Konzept einer ästhetisch ausgerichteten Erkenntnismethode setzt ­Goethe zweitens gegen die Entfremdung des Menschen von sich selbst und der Natur, einer Entfremdung, die durch zahlreiche technische Neuerungen ausgelöst wurde. Dampfmaschinen, mechanische Webstühle, Dampfschiffe und andere Errungenschaften der um 1800 einsetzenden industriellen Revolution führten zu einer Entkopplung zahlreicher Verrichtungen vom menschlichen Körper, die dessen Einsatz obsolet machten, und zu einer Beschleunigung zahlreicher Prozesse, deren schnellem Verlauf die menschliche Auffassungsgabe nicht mehr folgen konnte. Besonders in seinen Farbstudien benutzt ­Goethe die Inszenierung ästhetischer Ereignisse als bevorzugte Strategie der Wissensgewinnung, denn wie kein anderer seiner Untersuchungsgegenstände ist die Farbe auf die optische Sinneswahrnehmung angewiesen. Seinem erkenntnistheoretischen Zugang legt G ­ oethe primär kein exaktes, rationales Wissen zugrunde, das auf einer begrifflichen Ebene erworben wird, sondern hauptsächlich ein ästhetisches, intuitives Wissen, das durch die Evidenz der Untersuchungsgegenstände generiert wird.6 Farben können nicht erklärt, sie müssen betrachtet werden.7 „Die Farbe“ – so ­Goethe – „sei ein elementares Naturphänomen für den Sinn des Auges“.8 Ihre erkenntnistheoretische Aufwertung hat sich ­Goethe im herrschenden Paradigma einer mathematisierten Experimentalphysik zum Ziel gesetzt. In seinem semiotischen Konzept begreift er die Farbphänomene als natürliche, an den

4 ­Goethe zu Eckermann am 17. Februar 1829, in: Eckermann, Johann Peter, Gespräche mit G ­ oethe in den letzten Jahren seines Lebens, Frankfurt am Main / Leipzig 1981, S. 297. 5 Vgl. Snow, Charles Percy, The Two Cultures and the Scientific Revolution, Cambridge 1961. 6 Vgl. Bies, Michael, Im Grunde ein Bild. Die Darstellung der Naturforschung bei Kant, G ­ oethe und Alexander von Humboldt, Göttingen 2011, S. 12 – 13. 7 Vgl. hierzu die Aussage des Physikers und Mathematikers Johann Heinrich Lambert: „Man versuche es nämlich, ob man wachend von Licht, Farben, Schall, und jeden andern Gegenständen der äußern Sinnen, ohne die Erneuerung der Empfindung, den klaren Begriff erneuern könne. Es wird nicht angehen.“ Lambert, Johann Heinrich, Semiotik oder Lehre von der Bezeichnung der Gedanken und Dinge, in: ders., Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrtum und Schein, nach der bei Johann Wendler 1764 erschienenen ersten Auflage, unter Mitarbeit von Peter Heyl hg., bearbeitet und mit einem Anhang versehen von Günter Schenk, Zwei Bde. und ein Appendix, Berlin 1990, Zweiter Bd., S. 463 – 642, hier S. 467. 8 LA I.4, S. 19 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Einleitung).

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Gesichtssinn adressierte Zeichen, die er gegen das arbiträre mathematische System der newtonischen Physik setzt. Dem Studium der Farben widmete ­Goethe über 40 Jahre seines Lebens. In den ersten publizierten Vorarbeiten, den 1791 und 1792 erschienenen beiden Stücken der Beiträge zur Optik stellt er die ästhetischen Erscheinungen prismatisch erzeugter Farben vor. Die Reaktionen verschiedener Wissenschaftler auf seinen 1792 entworfenen Text Von den farbigen Schatten führen ­Goethe zur Erkenntnis der physiologischen Farberzeugung durch das Auge. In der zwei Jahre später entstandenen Schrift Versuch die Elemente der Farbenlehre zu entdecken beschäftigt er sich primär mit den Pigmentfarben und ihren Mischungen. All diese unterschiedlichen Ansätze verbindet ­Goethe in seinem 1810 erschienenen Werk Zur Farbenlehre, dessen Erstausgabe mit einem Umfang von ca. 1.400 Seiten zur umfassendsten Schrift seines Lebens wird. G ­ oethe gliedert sie in drei Teile. Im ersten, dem didaktischen Teil, entwirft er ein dichtes Netz diskursiver und nichtdiskursiver Strategien zur Entdeckung und Anwendung der Farbgesetze, das wissenschaftliche und Alltagspraktiken gleichermaßen thematisiert. Er untersucht die chromatischen Erscheinungen als physiologische, physikalische und chemische Farben ebenso wie ihre psychologischen Effekte. Während er im zweiten, polemischen Teil gegen die komplizierte Versuchsmethodik von Newtons physikalisch-mathematischer Optik zu Felde zieht, versammelt er im historischen und dritten Teil chronologisch geordnete, von ihm jedoch selektiv zusammengestellte Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, die auf die Bestätigung seiner eigenen, im letzten Kapitel dargelegten Theorie zielen. Dieser Teil ist nach der altgriechischen Schrift Über die Farben, deren Urheberschaft sowohl Theophrast als auch Aristoteles zugeschrieben wird,9 und Robert Boyles Experimenta et considerationes de coloribus (1665) die dritte umfassende Monographie zum Thema der Farbe. G ­ oethe beabsichtigte damit jedoch, weniger eine Fachgeschichte der Farbe als eine Geistesgeschichte der Naturbetrachtung zu schreiben.10 Auch nach der Fertigstellung des Hauptwerks Zur Farbenlehre schlagen G ­ oethe die chromatischen Phäno­ mene in ihren Bann: Im größten Nachtrag beschäftigt er sich mit den entoptischen Farben – Erscheinungen, die bei der Polarisation des Lichts auftreten. Wie der didaktische Teil der Farbenlehre eindrucksvoll zeigt, richtet sich G ­ oethes primäres Augenmerk auf die Untersuchung der „verschiedenen Bedingungen, unter welchen die Farbe sich zeigen mag“,11 auf ihren sichtbaren Entstehungskontext und die sie erzeugenden Parameter. Damit steht in G ­ oethes Farbstudien nicht wie in N ­ ewtons 9 Plutarch und andere antike Autoren gehen von einer Urheberschaft des Aristoteles aus. Simon Portius, der die Schrift 1548 unter dem Titel De coloribus publizierte, schreibt sie Theophrast zu, der ein Schüler von Aristoteles war. Vgl. MA 10, S. 1142 (Kommentar von Peter Schmidt). 10 Vgl. LA II.6, S. IX. Auf Boyles Werk nimmt G ­ oethe ausführlich im historischen Teil der Farbenlehre Bezug, indem er es passagenweise zitiert, Boyles atomistische Theorie jedoch kritisiert. 11 LA I.4, S. 19 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Einleitung).

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Physik das manifeste Versuchsergebnis im Vordergrund. Relevant für ­Goethe ist allein die Frage nach der Konstituierung wissenschaftlicher Resultate und nach den Verfahren ihrer Bedeutungsgebung, die immer schon vom zeitgenössischen Wissen und dessen wissenschaftlichen Entwürfen geprägt sind. Dieses Konzept erfordert eine wissenschaftshistorische Analyse von ­Goethes Farbstudien, die nach den komplexen Entstehungskonstellationen dieses Wissens ebenso fragt wie nach den erforderlichen Praktiken, Techniken und Wahrnehmungstheorien des Experimentierenden selbst. „Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte“  – so formuliert es Georges ­Canguilhem – „hat mit dem Gegenstand der Wissenschaft nichts gemeinsam.“ Jener bezieht sich auf die Geschichtlichkeit des wissenschaftlichen Diskurses, sein Erscheinen, Konsolidieren und Vergehen, nicht aber auf die beschriebenen Gegenstände der Wissenschaft selbst.12 Während Canguilhem das positive Wissen von dessen diskursiver geschichtlicher Konstituierung trennt, postuliert G ­ oethe, dass „die Geschichte der Wissenschaft die Wissenschaft selbst sei“.13 Damit erklärt er die Relativität jedes Wissens und die Bedingungen seines Entstehens zum eigentlichen Gegenstand der Wissenschaft. ­Goethes Interesse für die Entstehungsbedingungen der Farben und des Wissens über sie legt zwei methodische Ansätze nahe: einen wissenspoetologischen und einen medienhistorischen. Der wissenspoetologische Zugang bietet sich an, um den Einfluss zeitgenössischer wie historischer Denkweisen und -systeme auf die Bedeutungszuweisung zu hinterfragen, die G ­ oethe an seinen Untersuchungsobjekten vornimmt. Mit diesem Verfahren gelingt es, sowohl intendierte als auch nicht intendierte Aspekte dieser Zuschreibungen herauszustellen. Eine Poetologie des Wissens – so Joseph Vogl – konzentriere sich nicht auf die Wahrheitsfähigkeit der Aussagen, sondern auf „die Regeln und Verfahren, nach denen sich ein Äußerungszusammenhang ausbildet und abschließt und die Darstellungen diktiert, in denen er seine performative Kraft sichert“.14 Ihr liegt die These zugrunde, dass jeder Wissensordnung bestimmte Darstellungsoptionen und Verfahren eigen sind, welche die Objekte des Wissens als solche konstituieren. Ein wissenspoetologischer Zugang analysiert Diskontinuitäten und Brüche in den Wissensformationen ebenso wie ihre Kontinuitäten, Verschiebungen und Übertragungen. Er erlaubt es in besonderem Maße, die Entwicklungen und Interdependenzen von Aussagen über die Disziplinengrenzen hinweg zu analysieren – Aussagen, die in unterschiedlichen Formen wie Techniken, Metaphern, Denkfiguren, Bildern, Diskursen und Paradigmen erscheinen. Aus diesem Grund ist der wissenspoetologische Ansatz 12 Canguilhem, Georges, Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt am Main 1979, S. 22 – 37, hier S. 29 – 30, Zitat S. 29. 13 LA I.4, S. 7 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Vorwort). 14 Vogl,  Joseph, Einleitung, in: ders. (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 7 – 16, hier S. 13. Vgl. auch ders., Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002, S.  13 – 14.

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besonders für den Untersuchungsgegenstand Farbe geeignet, da diese um 1800 – ebenso wie heute – keinen eindeutigen disziplinären Ort hatte. Keiner der sich in jener Zeit ausdifferenzierenden Disziplinen gelang es, die Farbe für sich allein zu beanspruchen. Sie war und ist interdisziplinär. Sie prägte nicht nur die physikalische Optik, sondern war auch in den ästhetischen Betrachtungen der Maler und Kunsttheoretiker zu Hause. Sie spielte nicht nur in den handwerklichen Techniken der Färber, Tuchmacher und Weber eine entscheidende Rolle, sondern beeinflusste auch die Diskurse der Philosophen. Der wissenspoetologische Zugang gestattet es, Transformationen von Epistemen bzw. den Wechsel geltender Lehrmeinungen und Theorien ebenso zu analysieren wie Veränderungen in den individuellen Experimentalpraktiken und -strategien ­Goethes. Er erlaubt es auch, die zwischen dieser Makro- und Mikroebene auftretenden Interdependenzen, Konvergenzen und Brüche herauszustellen. ­­Goethes Interesse an den Entstehungsbedingungen der Farben und der damit verbundenen Genese des Wissens wirft unweigerlich die Frage nach der Wirkungsweise von Medien auf. Diese machen das Untersuchungsobjekt oft erst empirisch zugänglich, teilweise generieren sie es sogar. Ihre konkreten Konstellationen werden stets von zeitgenössischen Einflüssen geprägt, die Analyse ihrer Funktionen ist immer in historische Diskurse eingebunden. Medien unterschiedlicher Art erfüllen in Goethes ­­ Farbstudien vielfältige Funktionen: Sie fungieren nicht nur in einer Vermittlerrolle zwischen zwei Entitäten bzw. Phänomenen, sie transportieren, speichern und verarbeiten nicht nur einmal gewonnene Daten, sondern agieren primär als Produzenten von etwas Eigenem, in diesem Fall: der Farbe. Ein Medium zeigt sich immer als eine komplexe Ordnung materieller und ideeller, praktischer und theoretischer Bedingungen und Sachverhalte, die je nach Kontext variiert. Von diesem kulturwissenschaftlichen Medienbegriff geht die vorliegende Studie aus. Er basiert auf der Annahme, dass Medien in einem substanziellen und dauerhaften Sinn nicht existieren, sondern dass sie das, „was sie speichern, verarbeiten und vermitteln, jeweils unter Bedingungen stellen, die sie selbst schaffen und sind“.15 Der kontextuelle Bezug des Medienwirkens und die damit verbundene Forderung nach seiner individuellen Analyse unterstreichen umgekehrt einmal mehr die Notwendigkeit einer wissenschaftshistorischen Untersuchung von ­Goethes Farbstudien. Ebenso können medienwissenschaftlicher und wissenspoetologischer Zugang identisch sein, da Medien durchaus auch als Träger wissenspoetologischer Aussagen fungieren. Dafür steht der programmatische Ausspruch des Medienwissenschaftlers Marshall McLuhan, dass das Medium selbst die Botschaft sei, die wiederum auf tiefgreifende historische Übergänge verweist.16

15 Engell, Lorenz / Vogl, Joseph, Einführung, in: Pias, Claus u. a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 1999, S. 8 – 11, hier S. 10. 16 McLuhan, Marshall, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Basel 1995, S. 21 – 23.

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Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, G ­ oethes Entwurf einer Wahrnehmungstheorie, die zugleich eine Theorie der Sinnlichkeit ist, als komplexes Netzwerk unterschiedlicher ineinanderwirkender Konstituenten herauszuarbeiten: des Körperkonzepts bzw. Betrachtermodells, der Tätigkeit des Gesichtssinns, des Einsatzes technischer Apparaturen und der Präsentations- bzw. Darstellungsformen der Versuchsprozesse und -ergebnisse. Als wichtigste Figuren des Wissens fungieren in ­Goethes Farbstudien Bilder unterschiedlicher Art: Sie sind mediale Produkte wie die im Experiment durch technische Apparaturen hervorgebrachten physika­lischen Farben oder die physiologischen Farben des Auges. Diese Bilder verbleiben direkt im Gegenständlichen und sind identisch mit den von ­Goethe untersuchten Farb­ phäno­menen selbst. Die Bilder können aber auch als von den ursprünglichen Erscheinungen gelöste Speichermedien agieren wie die wissenschaftlichen Zeichnungen, die G ­ oethe in seinen Farbstudien entwirft. An all diesen Bildern manifestiert sich ­Goethes Ästhetisierung der Natur auf besonders anschauliche Weise – eine Ästhetisierung, die ihm den Vorwurf einbrachte, die Mathematisierung der Physik blockiert zu haben, die um 1800 elementar auf die Verwissenschaftlichung dieser Disziplin in Deutschland wirkte.17 Mit dem erkenntnistheoretisch ausgerichteten Bildkonzept seiner Farbentheorie, die viele szientifisch-mathematisch agierende Wissenschaftler ablehnten, wird G ­ oethe auf besondere Weise zum Kronzeugen und Mitgestalter einer „ikonische[n] Wendung“,18 die um 1800 in unterschiedlichen Bereichen einsetzte. Durch die im späten 18. Jahrhundert erkannte Zeitabhängigkeit der Naturphänomene, die in einen tiefgreifenden Kontext umfassender epistemologischer Um- und Neuordnungen eingebunden war, gelangten jene naturwissenschaftlichen Darstellungssysteme an ihre Grenzen, die ausschließlich in diskursiven Zeichensystemen die Realität abzubilden versuchten.19 Mit seinem komplexen, simultan wie sukzessiv zu erfassenden Zeichensystem besitzt das Medium des Bildes einen dynamischeren Charakter, da diese Zeichen Bedingungen für ihre Interpretation schaffen, die in starkem Maße die intuitiven Kräfte des Menschen ansprechen. Diese Kräfte, so stellten neuere Forschungen heraus, fungierten als „konstitutives Element des Wissensdiskurses der Aufklärung“.20 In diesem

17 Vgl. Stichweh, Rudolf, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740 – 1890, Frankfurt am Main 1984, S. 208. Eine solche Ästhetisierung der Naturerscheinungen kritisiert Stichweh auch an Johann Gottfried Herders und Alexander von Humboldts erkenntnistheoretischem Weltzugang. 18 Boehm, Gottfried, Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11 – 38, hier S. 13. 19 Vgl. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974, S. 269 – 306. 20 Vgl. hierzu exemplarisch Adler, Hans / Godel, Rainer, Einleitung. Formen des Nichtwissens im Zeitalter des Fragens, in: dies. (Hg.), Formen des Nichtwissens der Aufklärung, München 2010,

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epistemologischen Zugang beziehen sich Bilder deshalb nicht nur auf die Naturphänomene selbst, sondern ebenso auf die Leistung des Betrachters. Wie in keiner anderen Farbentheorie dienen in derjenigen G ­ oethes die Bilder als gegenständliche Verweise auf die epistemologische Unabdingbarkeit des jedem Erkenntnisprozess immanenten intuitiven Wissens. Dieses implizite Wissen ist nach Michael Polanyi nicht nur der emotionale Überschuss jeder Information, sondern die Basis jedes Erkenntnisprozesses überhaupt, die „unentbehrliche stumme Macht“, die jedes Wissen erst ermöglicht.21 In seiner wie in G ­ oethes Erkenntnistheorie ist die Wissensgenerierung nur durch die emotionale Aufladung der Untersuchungsobjekte möglich, anhand derer wiederum die aktive Rolle des Menschen in ­Goethes Farbstudien herausgestellt werden kann. Viele dieser Farben-Bilder sind keine Abbilder der äußeren Welt, sondern entstehen erst durch die schöpferische Mitwirkung des menschlichen Auges. In dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass G ­ oethe in seinen Beobachtungen und Experimenten nicht nur das im Bild (bereits abgeschiedene) Dargestellte zu beleben versucht, in dem die Absenz zur Voraussetzung für eine neue, eine gewandelte Präsenz wird.22 Es soll auch dargelegt werden, wie ­Goethe die Wirkungen des Lebendigen im menschlichen Blick nutzt, um in direkter Auseinandersetzung mit den Phänomenen Bilder zu erzeugen. In diesem Sinne ist der Titel Blickbildungen, den die vorliegende Arbeit trägt, mehrfach konnotiert. Er bezieht sich auf die Genese der Bilder und auf ihr Ergebnis, auf ihre Funktion im Erkenntnisprozess und als didaktisches Mittel, das die Wahrnehmung der Leser von ­Goethes Schriften schulen soll. Rekursiv verweisen diese Bilder darauf, dass G ­ oethes Wahrnehmungskonzept selbst ein komplexes Konstrukt aus ästhetischen, technischen, physiologischen und theoretischen Elementen ist, die im benjaminschen Sinne niemals unabhängig vom zeithistorischen Kontext existieren: „Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt.“ 23

S. 9 – 19, hier S. 18, Zitat ebd. Vgl. zum gesamten Absatz ausführlicher Bies, Im Grunde ein Bild, a. a. O., S. 9 und S. 13. 21 Vgl. Polanyi, Michael, Implizites Wissen, Frankfurt am Main 1985, besonders S. 9 – 15 sowie S. 21 – 25, Zitat S. 15. 22 Zu diesem Charakteristikum des Bildes vgl. Boehm, Gottfried, Repräsentation – Präsentation – Präsenz. Auf den Spuren des homo pictor, in: ders. (Hg.), Homo Pictor, Leipzig 2001, S. 3 – 31, hier S.  4 – 5. 23 Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Zweite Fassung, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1.2, Frankfurt am Main 1974, S. 471 – 509, hier S. 478.

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Nachfolgend wird gezeigt – und das ist die erste These der Arbeit –, dass in ­Goethes chromatischen Studien die Bilder der Farbe stets durch Medien erzeugt werden, die in diesem Vorgang wissensproduzierend wirken, so dass durchaus von einem medialen Apriori in seinen Farbstudien gesprochen werden kann. ­Goethes empiristischem Erkenntnisweg folgend, wird in dieser Studie das Zusammenwirken von visueller Sinneswahrnehmung und optischen Instrumenten, Geräten und Versuchsanordnungen analysiert, die zur Konstituierung, Ordnung, Zirkulation und Speicherung neuer Erkenntnisdaten führen. ­Goethe beschreibt das menschliche Auge, die optischen Artefakte von Prismen, Linsen und Spiegeln sowie das Experiment als wichtigste Medien seiner Farbversuche. Indem er sowohl den lebendigen Gesichtssinn als auch technische Artefakte als ein Medium betrachtet, impliziert dieser Begriff die natürliche Sichtbarkeit und die instrumentelle Sichtbarmachung gleichermaßen. Obwohl das wichtigste Medium in ­Goethes Farbforschungen das menschliche Auge ist, orientiert er nicht auf die ausschließliche Beobachtung, sondern benutzt ebenso diverse technische Apparturen. Neben dem Aufzeigen medialer Produktions-, Vermittlungs-, Speicher- und Verarbeitungsfiguren von Sinnesdaten wird ebenso die autopoietische Wirkungsweise der Medien thematisiert. Konstituiert sich das Wissen von der Welt in G ­ oethes Farbstudien nur durch Medien, schaffen diese ihre eigenen Wirklichkeiten unabhängig von den Lenkungsversuchen des sie nutzenden Subjekts. Richtet ­Goethe sein epistemolo­ gisches Konzept zwar an der Sinneswahrnehmung aus, kann deren Funktion durch das Eigenleben der Medien – auch durch dasjenige des menschlichen Auges selbst – entscheidend gestört werden. Bemüht sich ­Goethe um den gezielten Einsatz von Auge, Apparaturen und Experiment zur Sicherung objektiver Versuchsergebnisse, zeigt sich, dass die medialen Funktionen jener niemals vollständig regulier- und steuerbar sind. Kommunizieren sich Medien im Vorgang der Datenerzeugung stets auf spezifische Weise mit, indem sie Sinnesqualitäten sicht- oder hörbar machen, entzieht sich ihre Wirkungsweise zugleich jeglicher Wahrnehmbarkeit.24 Der empirische Blick des Naturforschers ist in der Farbenlehre immer schon vom ästhetischen Blick des Künstlers durchdrungen, da in ­Goethes Wahrnehmungstheo­rie allein dieser doppelte Blick eine fundierte Naturerkenntnis ermöglicht. Erfuhr der Begriff der Ästhetik im 18. Jahrhundert eine tiefgreifende Bedeutungsverschiebung von der aisthēsis als Theorie der Wahrnehmung zur Ästhetik als einer Theorie der Künste, bemüht sich ­Goethe – und das ist die zweite These der Arbeit –, beide Entwürfe untrennbar in den Bildern seiner Farbstudien zu verbinden, an und mit denen er wissenschaftliche Konzepte generiert. An konkreten Experimentalkonstellationen wird unter Berücksichtigung der autopoietischen Wirkungsweise der Medien aufgezeigt, dass beide ästhetischen Konzepte identisch sein, ineinandergreifen oder einander widersprechen und zu falschen Resultaten führen können.

24 Vgl. Vogl,  Joseph, Medien-Werden: Galileis Fernrohr, in: Engell, Lorenz u. a. (Hg.), Mediale Historiographien, Weimar 2001 (= Archiv für Mediengeschichte 1), S. 115 – 123, hier S. 122.

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Seine Versuchsergebnisse gewinnt G ­ oethe durch eine Abstraktion im Gegenständlichen. Er überführt diese nicht auf eine von der Wahrnehmung gelöste Ebene rationaler Begriffe, sondern belässt die Objektivitätssicherung wissenschaftlicher Aussagen selbst im phänomenalen Reich der Bilder. Indem er beispielsweise im physikalischen Experiment unterschiedliche empirische Perspektiven auf ein Versuchsobjekt sammelt und das ihnen Gemeinsame als allgemeine Regel herausarbeitet, die selbst im Gegenständlichen überprüfbar bleibt, wahrt er die sinnliche Verbindung zwischen der optischen Wahrnehmung und einer Natur, die nach seiner pantheistischen Auffassung ihre Gesetze in sich trägt. Mit und in seinen bildlichen Verfahren der Bedeutungsgebung – und das ist die dritte These der Arbeit – entwertet G ­ oethe den Raum, indem er die sichtbaren Oberflächen der Erscheinungen als alleinige heuristische Basis konzipiert. Hinter diesem Ansatz verbirgt sich G ­ oethes Bemühen, die Farben, die in empiristischer Tradition als sekundäre Wahrnehmungsqualitäten abgewertet wurden, der erkenntnistheoretischen Bedeutung des Raumes gleichzustellen, der wegen seiner mathematisch-geometrischen Erfassbarkeit zu den primären Wahrnehmungsqualitäten gezählt wurde. Diese Strategie gibt G ­ oethe erst auf, als die Vertreter der frühen Sinnesphysiologie Raum und Farbe gleichermaßen als physiologisch konstituiert und damit subjektiv generiert definieren. Der Abwertung des Raums stellt er die Betonung der Zeit gegenüber – eine Aufwertung, die vom sich wandelnden Natur- und Selbstverständnis des Menschen im späten 18. Jahrhundert beeinflusst wurde. In jener Zeit wurde die Naturgeschichte nicht mehr als eine Erzählung über die Natur verstanden, sondern als ein prozessuales Ereignis neu definiert,25 wurde die Vergänglichkeit des Lebens selbst durch die noch junge Wissenschaft der Biologie exponiert. Auch in G ­ oethes Farbstudien ist die Struktur der Zeit primär prozessual ausgerichtet. So ist beispielsweise nicht nur seine physikalische Versuchsmethode der seriellen Vermannigfaltigung temporal geprägt, sondern sind es auch die physiologisch erzeugten Nach-, Blendungs- und Phantasiebilder, deren Verlaufscharakter ­Goethe besonders herausstellt. Um die Komplexität der g­ oetheschen Farbenlehre, die in ihr enthaltenen Interdependenzen und Überlagerungen zwischen Ästhetik und Experiment, Kunst und Naturwissenschaft adäquat erfassen zu können, lehnen sich der wissenspoetologische und der medienhistorische Zugriff dieser Studie an neuere wissenschaftstheoretische Arbeiten an, die unter Termini wie science in the making 26 oder science in context 27 bekannt wurden. Diese Studien gehen davon aus, dass das Erkenntnisresultat entscheidend 25 Vgl. dazu ausführlich Lepenies, Wolf, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München / W ien 1976. 26 Vgl. Shapin, Steven / Schaffer, Simon, Leviathan and the Air-pump. Hobbes, Boyle, and the experimental life, Princeton 1985. 27 Vgl. Lenoir, Timothy, The Dialogue Between Theory and Experiment. Practice, Reason, Context, in: Science in Context 2, 1 (1988), S. 3 – 22.

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vom Wie seiner Generierung abhängt. Sie fassen die wissenschaftliche Praxis als ein umfassendes Netz sich wechselseitig beeinflussender Bedingungen auf, die durch ihr beständiges Aufeinanderwirken den Erkenntnisprozess vorantreiben und in diesem ihre Eigenschaften ändern. Erkennender, Erkenntnisobjekt, technische, kulturelle und soziale Bedingungen sind hier in einem komplexen Verhältnis aktiv miteinander verwoben. Dieser Zugriff gestattet es, den Einfluss des Subjektbegriffs und der Wahrnehmungstheorie auf die Experimentalkonstellationen und ästhetischen Entwürfe in ­Goethes Farbstudien ebenso zu untersuchen wie deren Rückwirkungen auf das Handeln des Forschers. Demgegenüber spielt die ausschließliche Frage nach den faktischen Versuchsergebnissen in der vorliegenden Arbeit nur eine untergeordnete Rolle. Sie werden lediglich an Stellen relevant, an denen ihre Abhängigkeit von der Art ihrer Generierung thematisiert wird. Durch die Beschäftigung mit Newtons optischen Experimentalkonstellationen, die der Aktivität des Subjekts erkenntnistheoretisch nur eine geringe Beachtung schenken, entdeckt G ­ oethe die Bedeutung eines aktiv-farbenproduzierenden Auges und wird dadurch zum wichtigsten Wegbereiter der Sinnesphysiologie in Deutschland.28 Der veränderte Medieneinsatz G ­ oethes lässt anschaulich den Einfluss einer tiefgreifenden Transformation des Wahrnehmungsmodells erkennen, in der sich die Zuständigkeit für die Erklärung der Farbentstehung im Auge von der geometrischen Optik in den Bereich der Medizin und der in jener Zeit entstehenden Sinnesphysiologie verschob. In Zeiten solcher Umstrukturierungen entwickeln sich neue Theorien niemals komplett unabhängig von alten Begründungsmustern, werden bereits bekannte Fakten neu interpretiert und in ein verändertes Verhältnis zueinander gesetzt. Oft nehmen neue Theorien anfänglich tradierte Vorstellungen auf, um sich später gegen sie durchzusetzen und abzugrenzen,29 so dass gerade die in ­Goethes Farbstudien enthaltenen Anschlüsse und Brüche zwischen der physikalischen, physiologischen und ästhetischen chromatischen Theorie ein aussagekräftiges Licht auf den wissenschaftshistorischen Wandel jener Zeit werfen. ­Goethes Weg von der Beschäftigung mit der geometrischen Optik zur Entdeckung und Bewertung der Farbenproduktion als gesunde Tätigkeit des Auges, 28 Vgl. hierzu die erkenntnistheoretische Einordnung von G ­ oethes Farbstudien in den zu Beginn des 19. Jahrhunderts stattfindenden fundamentalen Wandel der Wahrnehmungstheorie in: Crary, Jonathan, Techniken des Betrachters, Dresden / Basel 1996, besonders S. 75 – 102. 29 Vgl. Bachelard, Gaston, Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt am Main 1988, S. 56 sowie Kuhn, Thomas, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1976, S. 21 und S. 160. Auch wenn Kuhn von der völligen Ablösung eines Paradigmas durch ein anderes in einem wissenschaftlichen Fachbereich ausgeht, was auf das Gebiet der Farbforschung um 1800 nicht zutrifft, da die ausschließlich physikalische Erklärung der Farbentstehung neben der sich herausbildenden Sinnesphysiologie bestehen bleibt, sei an dieser Stelle auf seine Studie Bezug genommen. Begründet sei dieser Rückgriff damit, dass sich Kuhns Mikroanalyse wissenschaftlicher Umstrukturierungen m. E. auch auf ein Gebiet wie die Farbforschung anwenden lässt, das von Vertretern verschiedener Wissenschaften bearbeitet wurde. Vgl. dazu ausführlich Kapitel 3.2.1 dieser Arbeit.

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­ oethes eigene Funktion als Medium, das zwischen newtonischer Experimentalphysik G und früher Sinnesphysiologie durchaus eine eigenständige Position behauptet, ist die Folie, vor der diese Arbeit entwickelt wird. Die Studie ist in fünf Teile gegliedert: Als thematischer Einstieg werden im ersten Teil Einblicke theoretische Reflexionen und praktische Anwendungen der Farbe um 1800 exemplarisch auf den Gebieten der Physik, der Philosophie und der Kunsttheorie herausgearbeitet, um vor diesem Hintergrund die Besonderheit von G ­ oethes Farbstudien wissenschafts-, wissens- und kunsthistorisch herausstellen zu können. Da ­Goethe sowohl in seinen physikalischen Experimenten als auch physiologischen Selbstbeobachtungen die Farben in Bilder fasst, sei anschließend zu Vergleichszwecken ein Blick auf seine kunsttheoretischen Reflexionen zu kolorierten Bilddarstellungen und dem mit ihnen verbundenen Farbeinsatz geworfen. Oft wertet er diese unter Zugrundelegung eines mimetischen Bildbegriffs gegenüber der Plastik und graphischen Linie ab, da die beiden Letztgenannten eine höhere Abstraktionsleistung und geistige Durchdringung der Natur vom Künstler verlangen. Im Gegensatz zur Individualität der Künstlerperspektive richtet ­Goethe seine physikalische Versuchsmethode auf eine Strategie multiplikativer Blicke, die im zweiten Teil Die Physik der Farben vorgestellt wird. Es soll gezeigt werden, dass ­Goethe seine Versuche nicht – wie oft behauptet wurde – ausschließlich ästhetisch anlegt, sondern sich der zeitgenössischen, von zahlreichen Naturwissenschaftlern praktizierten Experimentalmethode der Reihenbildung bedient, in der immer wieder neue Perspektiven aufs Objekt ermöglicht werden. Erst durch die auf diese Weise generierten Bilder kann die Ästhetik zu einer Erkenntnisgrundlage in G ­ oethes physikalischen Farbversuchen werden. Bei der Entstehung dieser Bilder stellt G ­ oethe die Mitwirkung eines aktiven Auges heraus. Er trennt die speziell auf die Tätigkeit des Gesichtssinns ausgerichteten subjektiven Versuche von den objektiven, den Subjekteinfluss ausblendenden Cameraobscura-Experimenten Newtons und stellt jene an die Spitze der physikalischen Abteilung des didaktischen Teils. Neben der Analyse des medialen Verbundes von Auge und optischen Instrumenten werden in diesem Teil der Arbeit kunsttheoretische Einflüsse auf ­Goethes Darstellung der prismatischen Bilder herausgearbeitet, die an einer Grenze zwischen Hell und Dunkel, Weiß und Schwarz im trüben Mittel entstehen und die er als Urphänomen der Farbe bezeichnet. Darüber hinaus wird das von ­Goethe diesen Versuchen zugrundegelegte Subjektmodell des Forschers vorgestellt, das stark von der philosophisch inspirierten Vermögenspsychologie beeinflusst wurde, jedoch – anders als in den meisten zeitgenössischen Entwürfen – keine hierarchische Struktur der Seelenkräfte aufweist. Bleibt der Subjektbegriff in G ­ oethes frühen erkenntnistheoretischen Schriften und seinen physikalischen Studien noch der Vermögenspsychologie verhaftet, zeigt sich der Einfluss der um 1800 einsetzenden intensiven biologischen Erschließung des Menschen in G ­ oethes Versuchen und Diskursen zur physiologischen Farberzeugung. In diesem Kontext geht er von einem anthropologischen Modell des Subjekts aus, das

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er – naturphilosophisch inspiriert – in eine Harmonie zur Natur stellt. G ­ oethe reflektiert die physiologischen Aktivitäten des Auges nicht, sondern versucht, das Wirken der Retina ästhetisch über die vom Gesichtssinn wahrgenommenen und produzierten Farben-Bilder zu erschließen. Die raumerfassende Funktion der Linse beachtet er dabei kaum. In seinem erkenntnistheoretischen Zugriff bleibt er einem dualen Subjektkonzept verhaftet, da er die Instanz des Denkens nicht empirisch betrachtet, sondern als ideelles Konstrukt begreift – eine Dualität, die wiederum die Art der Versuche beeinflusst. Von diesen Punkten handelt der dritte und ausführlichste Teil der Arbeit Körper-Bilder des Subjekts, der den Leib als Topos der Wissensgenerierung beleuchtet. Zu Beginn dieses Teils werden für ­Goethe relevante Vorläuferstudien zur physiologischen Farberzeugung skizziert – Studien, in denen die physiologischen Farben durch das herrschende Paradigma der newtonischen Optik zu erklären versucht und aufgrund ihrer Inkompatibilität mit diesem als Pathologien begriffen wurden. Anschließend zeigt dieser Teil, wie G ­ oethe die vom Auge erzeugten Farben in die Norm des gesunden Sehens integriert, in welcher Weise sein Körperkonzept das psychologische Farbempfinden mit der Sinneswahrnehmung verknüpft und mit welchen Methoden er als einer der ersten in der Wissenschaftsgeschichte die Anomalie der Farbenblindheit systematisch untersucht. Im Vergleich mit ­Goethes Reflexion des Gehörs soll unterstrichen werden, dass er zwar auf eine Spezifizierung der Sinne setzt, diese aber wie beim Auge nicht physiologisch, sondern ästhetisch über das dem Ohr korrespondierende Objekt, die Akustik, herausarbeitet. Zum Abschluss des Kapitels wird an zwei um 1800 populären Untersuchungsobjekten und den zu ihrer Erkenntnis erforderlichen Experimentalpraktiken vorgestellt, wie ­Goethe das Verhältnis von Auge und einer komplexeren Apparatur bewertet: Es handelt sich hierbei um galvanische Selbstexperimente, in denen die Farben nur durch eine künstliche Potenzierung der Sinnesleistung entstehen, sowie um die entoptischen Farben, denen ­Goethe seine umfassendsten Studien nach Erscheinen der Farbenlehre widmete. Der vierte Teil der Arbeit ­Goethes Urphänomen erobert das Auge stellt vor, wie der von den Physikern am heftigsten kritisierte Punkt der Farbenlehre, die physika­lische Farberzeugung zwischen Hell und Dunkel in einem trüben Mittel, von anderen Forschern auf die Physiologie des Auges übertragen wurde und dieser Transfer zur Konstituierung der Sinnesphysiologie in Deutschland beitrug. Mit unterschiedlichen Strategien versuchten die frühen Sinnesphysiologen Johann Evangelista Purkinje und Johannes Müller sowie der Philosoph Arthur Schopenhauer die Entstehung des Urphänomens in Materialität und Aktivität des Gesichtssinns zu erkennen. Selbstredend wird in ihren Ansätzen durch die Eigengesetzlichkeit der Phänomenbereiche jede Übertragung zu einer Transformation. Während Schopenhauer basierend auf seiner empirisch legitimierten Transzendentalphilosophie die Farbentstehung an einer geteilten Aktivität der Retina festmachte, die er lediglich mathematisch bestätigte, gelang es Purkinje und Müller, Farben und Raum gleichermaßen als physiologisch

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bedingt nachzuweisen, so dass die einstige empiristische, auf die Außenwelt bezogene Hierarchie der Sinnesqualitäten obsolet wurde. Auf diese subjektivistischen Konzepte reagierte ­Goethe unterschiedlich. Auf welche Weise beeinflussen G ­ oethes Experimentalpraxis und sein Subjektmodell des Forschers den Gestaltungsstil des wissenschaftlichen Bildes? Dieser Frage widmet sich der fünfte Teil Kolorierte Augenblicke. Das Speichermedium des wissenschaftlichen Bildes erfüllt in ­Goethes Schriften nicht nur eine erkenntnistheoretische, sondern auch eine didaktische Funktion, die dem Leser das Beschriebene auf unterschiedliche Weise versinnlichen soll. Anders als die gängigen Physikkompendien seiner Zeit, die sich primär auf die mathematische Optik, weniger auf die Farben in ihrer Eigenständigkeit beziehen, benutzt ­Goethe zur Darstellung physikalischer Vorgänge kolorierte Illustra­ tionen, womit er den Darstellungsgegenstand zum Darstellungsmittel macht. In diesem Kapitel wird nicht nur gezeigt, dass und aus welchen Gründen der Abstrak­tionsgrad der Bildmotive von den Vorarbeiten zum Hauptwerk der Farbenlehre zunimmt und diese damit teilweise ihrem eigentlichen Zweck der Veranschaulichung des Beschriebenen zuwiderlaufen, sondern auch, dass das kompakteste Ergebnis von ­Goethes Farbstudien, der Farbenkreis, auf Harmonieregeln basiert, die das Auge erzeugt.

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1.

Natur und Kunst der Farben

1.1

Die Farben als Zeichen des Unverfälschten

Zum besseren Verständnis der in G ­ oethes Farbstudien entwickelten Wahrnehmungstheorie sei nachfolgend ein Blick auf seinen Naturbegriff und die damit verbundene epistemologische Bedeutung der Farbe geworfen. In diesen Ausführungen, die lediglich eine orientierende Funktion erhalten, nicht aber den Anspruch auf Vollständigkeit erheben, wird das Verhältnis von G ­ oethes Ansichten zu einschlägigen wissenschaftshistorischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorien seiner Zeit skizziert. In der Zeit, in der G ­ oethe seine Farbstudien betrieb, an der Epochenschwelle um 1800, ereignete sich eine umfassende Transformation der Episteme. Eingebunden in diese Entwicklung, führte die Anwendung sensualistischer und empiristischer Methoden zu einem enorm beschleunigten Wissens- und Erfahrungszuwachs. Dieser wurde – so Wolf Lepenies – primär durch Verzeitlichungen und die Übernahme geschichtlicher Denkweisen auf unterschiedlichen Ebenen zu bewältigen versucht: in der Behandlung der Objektbereiche, der Theoriebildung und den Organisationsformen wissenschaftlicher Disziplinen selbst. Die Art dieser Ordnungsversuche forcierte einen veränderten Naturbegriff. Die Natur wurde nun nicht mehr wie in der klassischen Naturgeschichte als ein (ab)geschlossenes System begriffen, das sich in räumlichen Klassifikationssystemen und diversen Forschererzählungen abbilden ließ. Sie wurde in ihrer unendlichen Komplexität als offener, stets vorläufiger, sich permanent selbst aktualisierender Prozess verstanden, dessen zeitliche Differenzen durch empirische Verfahrensweisen erfahrbar gemacht werden konnten. Die Metapher vom Buch der Natur, das in seiner Geschlossenheit eine als total angenommene Welt abbildete, die nur gelesen zu werden bräuchte, um sie verstehen zu können, verlor damit zunehmend ihre Gültigkeit.1 Auch G ­ oethes naturwissenschaftliche Arbeiten zeugen von den Wirkungen dieses gewandelten Naturverständnisses. In ihnen spricht er sich klar gegen einen 1

Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, a. a. O., besonders S. 269 – 306 sowie S. 413 – 462. Zum Absatz insgesamt vgl. Lepenies, Ende der Naturgeschichte, a. a. O., S. 13 – 40. Vgl. auch die umfassende Analyse des Einflusses der Wissensumstrukturierung auf G ­ oethes Naturverständnis in: Thadden, Elisabeth von, Erzählen als Naturverhältnis – „Die Wahlverwandtschaften“. Zum Problem der Darstellbarkeit von Natur und Gesellschaft seit G ­ oethes Plan eines „Roman über das Weltall“, München 1993, S. 38 – 49. Vgl. zum Obsoletwerden der Metapher vom Buch der Natur, das mit dem Erstarken von Empirismus und Sensualismus einsetzte, Blumenberg, Hans, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1996.

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1.  Natur und Kunst der Farben

geschlossenen Systembegriff der Natur aus, wenn er diese metaphorisch als ein „Buch lebendig“ 2 bezeichnet und damit implizit ihre unablässige zeitabhängige Veränderung thematisiert. Für das Ergründen ihrer Gesetze bedürfe es – so ­Goethe – des direkten Blicks auf die Phänomene, der nicht durch ein komplexes, rational begründetes System auf Objekt- oder Subjektseite verstellt werden solle. Dessen jeweilige Struktur sei zwar in sich stringent, habe jedoch keinen unmittelbaren Bezug zur Natur. ­Goethes Kritik richtet sich in Sonderheit auf die exponierte erkenntnistheoretische Rolle des Subjekts in Kants Transzendentalphilosophie und die mathematische Optik Newtons, in der jeder Farbe eine Brechungszahl zugeordnet wird und in deren Versuchen die epistemologische Bedeutung des menschlichen Körpers zweitrangig ist. Bezeichnenderweise beschreibt G ­ oethe die Kritik an den Erkenntnismethoden beider Männer jeweils in der Metapher der Festung: als „Drohburg“ und „Zwingfeste“ bei Kant,3 als „alte Burg“ bei Newton, die G ­ oethe im Begriff steht, „von Giebel und Dach herab […] abzutragen“.4 Im Kontext beider Metaphern thematisiert ­Goethe die Einengung des menschlichen Blicks bei Betrachtung der Naturphänomene. Macht ihn Kants Kritik der reinen Vernunft überhaupt auf die herausgehobene erkenntnistheoretische Position des Subjekts aufmerksam,5 so ruft die erkenntniskonstituierende Funktion, die Kant allein dem Menschen zuschreibt, ­Goethes Misstrauen hervor. Alle Aussagen über die Dinge erfolgen in der kritischen Philosophie nur über die Analyse der Struktur und der Modalitäten des menschlichen Erkenntnisapparates. Dieser verfügt mit den reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit über elementare Strukturen, die schon vor aller Erfahrung gegeben sind. Die Welt bzw. Natur an sich ist nach Kant nicht erkennbar: „Die Vernunft muß mit ihren Principien, nach denen allein übereinstimmende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nöthigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat die Physik die so vortheilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineingelegt,

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MA 1.1, S. 253 (Briefgedicht An Merck vom 4. Dezember 1774). Vgl. auch folgende Aussage ­Goethes: „Natürlich System, ein widersprechender Ausdruck. Die Natur hat kein System, sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum, zu einer nicht erkennbaren Grenze. Naturbetrachtung ist daher endlos, man mag in’s einzelne teilend verfahren, oder im ganzen, nach Breite und Höhe die Spur verfolgen.“ LA I.9, S. 296 (Problem und Erwiderung). MA 9.2, S. 961 (Zu brüderlichem Andenken Wielands 1813). LA I.4, S. 6 (Didaktischer Teil der Farbenlehre, Vorwort). Dieser Punkt wird in Kapitel 2.3 ausführlicher dargelegt.

1.1  Die Farben als Zeichen des Unverfälschten

gemäß dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß, und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde.“ 6

Ist für die Objektivitätssicherung des Wissens in Kants Transzendentalphilosophie allein das System des Erkenntnisapparats verantwortlich, bemüht sich Newton um eine Objektivierung der optischen Versuchsergebnisse durch mathematisch-erklärende Beschreibungen, die auf unterschiedliche Phänomene anwendbar sind und damit ein intersubjektiv verständliches System schaffen. Sein Ansatz liegt auf Seiten des Objekts. ­Goethe begründet seine Ablehnung dieser Erkenntnismethode mit dem künstlichen Charakter, den er in den arbiträren Zeichen und theoretischen Systemen zu erkennen meint.7 In seiner Kritik an Newton sind drei wesentliche zeichentheoretische Schwerpunkte auszumachen: Erstens betrachte er die willkürlichen Zeichen 6

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Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Wilhelm Weischedel, Teil 1, Frankfurt am Main 1974 (= ders., Werkausgabe in zwölf Bdn., Bd. III), S. 23 – 24. Zur differenzierteren Kant-Rezeption ­Goethes seien hier exemplarisch folgende Analysen empfohlen: Schieren, Jost, Anschauende Urteilskraft. Methodische und philosophische Grundlagen von G ­ oethes naturwissenschaftlichem Erkennen, Düsseldorf / Bonn 1998, S. 29 – 80; Hofmann, Peter, ­Goethes Theologie, Paderborn u. a. 2000, S. 113 – 137 und Molnár, Géza von, ­Goethes Kantstudien, Weimar 1994. ­Goethe beschäftigte sich mit Kants Philosophie sporadisch in Abhängigkeit von seinen eigenen Forschungsinteressen. Während er der Kritik der reinen Vernunft zeitlebens kritisch gegenüberstand, sprach er sich positiv über die Kritik der Urteilskraft aus. An ihr befürwortete er besonders Kants Auffassung der Funktionen von Natur und Kunst als zweckfrei handelnde, sich selbst regulierende und damit gleichberechtigt wirkende Systeme und dessen Begriff von der Rolle der Einbildungskraft als Mittlerin zwischen Sinnlichkeit und Denken. Vgl. zum letzten Punkt ausführlich Kapitel 2.5 dieser Arbeit. Kants farbtheoretischen Diskursen widmet ­Goethe allerdings keine explizite Aufmerksamkeit bzw. keine eigene Schrift. In Kants Arbeiten erhalten die Farben einen ambivalenten Charakter. Erkenntnistheoretisch wertet er sie als bloße Empfindungen ab, kunsttheoretisch ordnet er sie der Linie unter. Andererseits verleiht er ihnen als verbindlichen Momenten des Schönen eine symbolische Bedeutung, die er aus den empirischen Reizen der Farbqualitäten abstrahiert. Durch diese Zuschreibung unterwandert er die Hierarchie zwischen dem Sinnesurteil und dem reinen Geschmacksurteil und durchbricht damit die Grenzen seines eigenen Denksystems. Vgl. hierzu in der Reihenfolge der indirekten Zitate Kant, Kritik der reinen Vernunft, Teil 1, a. a. O., S. 74 – 78; vgl. ders., Kritik der Urteilskraft, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974 (= ders., Werkausgabe in zwölf Bdn., Bd. X), S. 138 – 142 sowie S. 235 – 236. Zur Verleihung der symbolischen Bedeutung der Farbe und der damit verbundenen Engführung von Sinnen- und reinem Geschmacksurteil vgl. ausführlich Schröter, Jens, Die Form der Farbe. Zu einem Parergon in Kants „Kritik der Urteilskraft“, in: Franke, Ursula (Hg.), Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks. Ästhetische Erfahrung heute – Studien zur Aktualität von Kants „Kritik der Urteilskraft“, Hamburg 2000, S. 135 – 154. Der Bruch zwischen Zeichen und Bezeichnetem begann am Anfang des 17. Jahrhunderts, die bis dahin existierende Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Gegenstand und Zeichen abzulösen. Galten bis zu dieser Zeit in Zeichensystemen und Natur die gleichen vom Menschen unabhängigen Gesetze, wurden nun die von diesem geschaffenen Systeme von Mathematik und Sprache zu Repräsentanten der von ihnen autonom existierenden Phänomene. Vgl. hierzu ausführlicher Foucault, Ordnung der Dinge, a. a. O., S.  91 – 97.

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1.  Natur und Kunst der Farben

lediglich als intellektuelle Produkte, die aufgrund ihrer Spaltung zwischen Signifikat und Signifikant selbstreferentiell und phänomenunabhängig funktionieren: „[…] er [der Praktiker – S. Sch.] empfindet viel geschwinder das Hohle, das Falsche einer Theorie, als der Gelehrte, dem zuletzt die hergebrachten Worte für bare Münze gelten, als der Mathematiker, dessen Formel immer noch richtig bleibt, wenn auch die Unterlage nicht zu ihr paßt, auf die sie angewendet worden.“ 8 Als zweite Gefahr apostrophiert ­Goethe das Eigenleben der Zeichen, das zu einer Verwechslung von Natur und künstlichem System, d. h. von Signifikat und Signifikant, von Darstellungsgegenstand und Darstellungsmedium führen kann. Das Zeichen entfalte eine mediale Eigendynamik, mit dem es sich an die Stelle der Phänomene setze und einen realen Status beanspruche – eine Reduktion, die zu einseitig-verfälschenden Erklärungsmodellen führe. So ist nach G ­ oethe in Newtons Strahlenauffassung von Licht und Farben „dadurch eine große Verwirrung entstanden […], daß man diese abstrakten Geistesprodukte als wirklich existierende physische Wesen ansah“.9 Seinen dritten Kritikpunkt richtet G ­ oethe auf die Struktur der Zeichensysteme von Mathematik und Schrift selbst, die nach seiner Meinung wegen ihres diskontinuierlichen Charakters die lebendige, dynamische Natur nicht adäquat erfassen können.10 Diesen Gegensatz unterstreicht er metaphorisch, indem er die zergliedernden Zeichensysteme mit anatomischen Sektionen und dem Tod engführt – wie er nach der Lektüre der Schrift Précis Élémentaire de Physique Expérimentale des französischen Physikers und Mathematikers Jean Baptiste Biot, einem Verfechter der Korpuskulartheorie, beschreibt: 8 9

LA I.4, S. 23 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Einleitung). LA  I.3, S. 298 (Lichtstrahlen). Vgl. hierzu auch die Interpretation von Rehbock, Theda, G ­ oethe und die ,Rettung der Phänomene‘. Philosophische Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbilds am Beispiel der Farbenlehre, Konstanz 1995, S. 154 – 156. 10 Zu ­Goethes Verhältnis zur Schrift vgl. Kapitel 5.1 dieser Arbeit. Zu ­Goethes Auseinandersetzung mit der Mathematik vgl. Cassirer, Ernst, G ­ oethe und die mathematische Physik. Eine erkenntnistheoretische Betrachtung, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Birgit Recki, Bd. 9: Aufsätze und kleinere Schriften (1902 – 1921), Hamburg 2001, S. 268 – 315; vgl. Dyck, Martin, ­Goethes Verhältnis zur Mathematik, in: Jahrbuch der G ­ oethe-Gesellschaft 23 (1961), S. 49 – 71 sowie vgl. Neubauer, John, „Die Abstraktion, vor der wir uns fürchten“. ­Goethes Auffassung der Mathematik und das ­Goethebild in der Geschichte der Naturwissenschaften, in: Dürr, Volker / Molnár, Géza von (Hg.), Versuche zu ­Goethe, Festschrift für Erich Heller, Heidelberg 1976, S. 305 – 320. G ­ oethe, der sich mit den mathematischen Theorien von Euler, Laplace und Lagrange auseinandersetzte, lehnt die Mathematik nicht durchweg ab. Er spricht sich jedoch gegen ihre einseitige Anwendung aus, welche die Phänomene in abstrakten, von ihnen gelösten Deskriptionssystemen zu erfassen sucht. Vgl. die zusammenfassende Analyse der einschlägigen Sekundärliteratur von Manfred Wenzel in: FA I.25, S. 908 – 912 (Kommentar zu ­Goethes Schrift „Über Mathematik und deren Missbrauch“). ­Goethes Urteile über die Mathematik sind äußerst heterogen und erstrecken sich von ihrer kompletten Ablehnung bis zu vorbehaltlosem Lob. Diese Vielschichtigkeit spiegele – so Wenzel – auch die Sekundärliteratur wider, die von einer strikten Ablehnung bis zu kontextabhängigen Standpunkten unterschiedliche Einstellungen ­Goethes zur Mathematik konstatiere. Vgl. ebd., S. 911.

1.1  Die Farben als Zeichen des Unverfälschten

„Ich habe Biots Kapitel, wo er Licht und Farben behandelt, wieder angesehen; man fühlt sich, wie in ägyptischen Gräbern. Die Phänomene sind ausgeweidet und mit Zahlen und Zeichen einbalsamiert, der wissenschaftliche Sarg mit bunten Gestalten bemalt, welche die Experimente vorstellen, wodurch man das Unermeßliche, Ewige im einzeln zu Grabe brachte. Jeder Freund der Naturlehre hat stündlich zu rufen und zu seufzen: wer errettet mich aus dem Leibe dieses Todes.“ 11

Die auf die mathematische Erschließung der Farben setzende Optik Newtons, die um 1800 als herrschendes Paradigma galt, konnte die Kraft der Farben und die unabdingbar mit ihr verbundenen Wahrnehmungsvorgänge erkenntnistheoretisch allerdings nicht negieren: Newton beschreibt die Farben als im weißen Licht enthalten und weist jeder einen eindeutigen Brechungsgrad zu. Diesen postuliert er wiederum als abstrahierte Kausalursache der Farberscheinungen. Entging auch ihm nicht, dass die Farben nur über die Sinneswahrnehmung wirksam werden – er konstatiert, dass in den Lichtstrahlen nichts liege „als eine gewisse Kraft und Fähigkeit, die Empfindung dieser oder jener Farbe zu erregen“ 12 –, diente ihm die Farbrezeption jedoch lediglich als Indikator unsichtbarer äußerer Wirklichkeiten. Als Basis seines erkenntnistheoretischen Gegenentwurfs zu Newtons mathematischer Optik konzipiert G ­ oethe die unverfälschten Zeichen der Natur. Bereits vor seinen um 1790 beginnenden intensiven Farbstudien postuliert er in Anlehnung an Spinozas Pantheismus die Sichtbarkeit der empirischen Phänomene und damit implizit den Sinn des Auges als Ausgangspunkt des Erkenntnisprozesses. In all ihren vielfältigen Erscheinungen, die je nach aktuellem Kontext variieren, tragen die Phänomene ihr Gesetz in sich, das in einer großen beständigen Einheit der Natur aufgeht. Die Differenz in der Einheit ist das Kennzeichen dieser neoplatonistisch tradierten Immanenztheorie: „Man kann nicht sagen daß das Unendliche Teile habe. Alle beschränkte Existenzen sind im Unendlichen sind aber keine Teile des Unendlichen sie nehmen vielmehr Teil an der Unendlichkeit. Wir können uns nicht denken daß etwas Beschränktes durch sich selbst existiere und doch existiert alles wirklich durch sich selbst ob gleich die Zustände so verkettet sind daß einer aus den andern sich entwickeln muß und es also scheint daß ein Ding vom andern hervorgebracht werde welches aber nicht ist, sondern ein lebendiges Wesen gibt dem andern Anlaß zu sein und nötigt es in einem bestimmten Zustand zu existieren. Jedes existierende Ding hat also sein Dasein in sich, und so auch die Übereinstimmung nach der es existiert.“ 13 11 LA II.5B.1, S. 815 (­Goethe an Christoph Ludwig Friedrich Schultz am 24. November 1817). 12 Newton, Isaac, Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts, Frankfurt am Main 1996 (= Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Bd. 96), Erstes Buch, Erster Teil, Prop. II, Lehrsatz 2, S. 81. 13 FA I.18, S. 188 (Aus der Zeit der Spinoza-Studien ­Goethes 1784 – 1785).

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1.  Natur und Kunst der Farben

Die mit Gott gleichgesetzte Natur, die identisch mit dem ewigen Einen, dem unsichtbaren Gesetz ist und von Spinoza als Substanz bezeichnet wird, sucht ihren Ausdruck im Endlichen der wahrnehmbaren Phänomene – dem Modus. Dieser besteht nicht wie die Substanz aus sich selbst heraus, sondern ist ein Zustand von ihr. In diesem Konzept definieren die Phänomene durch ihr Zusammenwirken ihren wechselseitigen Bezug zueinander. In dieser Funktion agieren sie nicht nur als Mittler zwischen mindestens zwei anderen Entitäten, sondern ebenso als Medien, in denen sich das absolute Göttliche dem sehenden und denkenden Subjekt in der phänomenalen Vielfalt vermittelt. Das ewige Eine ist nicht der von den Medien gelöste Inhalt, sondern mit diesen selbst identisch, in diese eingeschlossen. Dessen zwei Attribute, das Denken und die Ausdehnung, sind ebenfalls unendlich. Da Gott in allem ist, kann jedes Phänomen unter zwei Aspekten betrachtet werden: als Idee unter dem Gesichtspunkt des Denkens, als Körper unter dem Gesichtspunkt der Ausdehnung. Auf diese Weise ist die Gott-Natur Spinozas ideell und materiell zugleich.14 Spinoza unterscheidet drei Arten der Erkenntnis: Auf der untersten Ebene siedelt er die Meinung oder Vorstellung an, die auf der Sinneswahrnehmung und der reproduktiven Einbildungskraft basiert, darüber die Vernunft, die Ideen und Allgemeinbegriffe der betrachteten Dinge bildet. Als höchste Gattung begreift er die scientia intuitiva, die intuitive Erkenntnis. Sie allein ist zur adäquaten Erkenntnis der Natur fähig, da sie das Wesen der Einzeldinge in Bezug zum Ganzen der Gott-Natur erfasst.15 ­Goethe übernimmt Spinozas Entwurf der intuitiven Erkenntnis, modifiziert dessen Erkenntnistheorie jedoch vor dem Hintergrund des gewandelten Naturbegriffs um 1800: Erstens stellt er – wie Peter Hofmann konstatiert – „Spinozas Denken vom ideellen Kopf auf die materiellen Füße“.16 ­Goethes Erkenntnis der Dinge basiert nicht wie bei Spinoza auf dem eingehenden Verständnis der Idee der Attribute Gottes, mit deren Hilfe er das Wesen der Dinge erkennt. G ­ oethe beschreitet den entgegengesetzten Weg: Nach seiner Auffassung konstituieren erst die Differenzen der einzelnen Phänomene, ihre Verschiedenartigkeit die Einheit der Substanz. Die natürlichen Zeichen der sichtbaren Phänomene, die ideal-realen Gegenstände in ihrer Funktion als datenproduzierende Medien dienen G ­ oethe als alleinige Erkenntnisbasis der in ihnen wirkenden und diese zugleich transzendierenden Gott-Natur, d. h. dem ewigen Einen.17

14 Vgl. zu diesem und dem vorhergehenden Absatz insgesamt ausführlicher Spinoza, Die Ethik. Schriften und Briefe, Stuttgart 1955, besonders S. 1 – 19. 15 „Und diese Gattung des Erkennens schreitet fort von der vollentsprechenden Idee des wirklichen Wesens gewisser Attribute Gottes zur vollentsprechenden Erkenntnis des Wesens der Dinge.“ Ebd., S. 92; vgl. zum Absatz insgesamt ebd., S. 91 – 92. Vgl. auch Bies, Im Grunde ein Bild, a. a. O., S.  140 – 141. 16 Hofmann, G ­ oethes Theologie, a. a. O., S. 108. 17 Vgl. zu G ­ oethes Medientheorie der Phänomene im Allgemeinen ausführlich Han, Chol, Ästhetik der Oberfläche. Die Medialitätskonzeption ­Goethes, Würzburg 2007, S. 41 – 48.

1.1  Die Farben als Zeichen des Unverfälschten

Das sinnlich erfahrbare Phänomen steht in seiner Erkennbarkeit für sich allein, nimmt jedoch zugleich Teil an der Unendlichkeit der Natur. Nur auf der Ebene der Phänomene kann – so ­Goethe – der Beobachter durch sein denkendes Erschließen in Kontakt zum ideellen Unendlichen treten: „Und so ist wieder iede Creatur nur ein Ton eine Schattierung einer grosen Harmonie, die man auch im ganzen und grosen studieren muß sonst ist iedes Einzelne ein todter Buchstabe.“ 18 In ­Goethes Naturbegriff ist das Unendliche per se für den Menschen allerdings nicht erkennbar. Das einzelne Phänomen wiederum definiert ­Goethe nicht teleologisch; es besteht ohne äußere Zwecksetzung lediglich um seiner selbst willen, wie der folgende, bereits angeführte Satz belegt: „Jedes existierende Ding hat also sein Dasein in sich, und so auch die Übereinstimmung nach der es existiert.“ 19 Aus diesem Grunde betrachtet ­Goethe das Messen von lebendigen Phänomenen als eine ungeeignete Erkenntnismethode, da es äußere Maßstäbe zugrunde legt.20 Während zweitens bei Spinoza die Substanz, die er in seinem Hauptwerk Die Ethik aus geometrischen Grundsätzen ableitet, statisch und nicht entwicklungsgeschichtlich ist und lediglich einen Wandel der Formen zulässt,21 geht ­Goethes Pantheismus von einer progressiven Dynamik der Naturerscheinungen aus. ­Goethe betrachtet die gesamte Natur als einen zeitabhängig agierenden Organismus, dessen Teile durch ihnen jeweils immanente Kräfte aktiv aufeinander einwirken: „[…] die Gesetze hingegen, nach denen die Natur wirkt, fordern den strengsten, innern organischen Zusammenhang. […] Die Natur arbeitet auf Leben und Dasein, auf Erhaltung und Fortpflanzung ihres Geschöpfes, unbekümmert ob es schön oder häßlich erscheine.“ 22 Betrachtet Spinoza drittens den Menschen nur als einen Modus der Substanz unter anderen, spielt dieser bei G ­ oethe eine herausragende, aktive Rolle im Vorgang der Naturerkenntnis – eine Rolle, die in den Farbstudien besonders über die Funktion des Auges exponiert wird. Anders als Newton, der die Eigenaktivität des Auges als poten­tiellen Störfaktor betrachtet und aus seinen Experimenten auszuschließen versucht, und anders als Kant, der die Erkennbarkeit der Natur ausschließlich an die Konstitution subjektiver Vermögen bindet, bemüht sich G ­ oethe nicht um eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt im praktischen Erkenntnisprozess. In ­Goethes Farbstudien verbinden sich im Vorgang der allein an den menschlichen Körper gebundenen

18 WA IV,6, S. 390 (­Goethe an Carl Ludwig von Knebel am 17. November 1784). 19 FA I.18, S. 188 (Aus der Zeit der Spinoza-Studien ­Goethes 1784 – 85). 20 Vgl. ebd., S. 189. ­Goethe ist nicht gegen das Messen im Allgemeinen. Er wandte dieses z. B. in seinen meteorologischen Studien an. Vgl. exemplarisch WA II,12, S. 61 – 62 (Über die Ursache der Barometerschwankungen). Vgl. ebenfalls Hofmann, G ­ oethes Theologie, a. a. O., S. 107. 21 Vgl. Hofmann, ­Goethes Theologie, a. a. O., S. 95. Vgl. ebenfalls Schmidt, Alfred, Natur, in: ­Goethe-Handbuch in vier Bänden, Bd. 4 /2: Personen – Sachen – Begriffe L – Z, hg. v. Hans-­ Dietrich Dahnke / Regine Otto, Stuttgart / Weimar 1998, S. 755 – 776, hier S. 770 – 771. 22 FA I.18, S. 562 (Diderots Versuch über die Malerei).

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optischen Wahrnehmung die Größen Subjekt und Objekt zu einer komplexen Einheit, sie amalgamieren einander im Blick, wie Carl Friedrich von Weizsäcker treffend beschreibt: „Phänomen heißt etwas, was erscheint, was sich zeigt. Etwas zeigt sich jemandem: Objekt und Subjekt sind schon verbunden, wenn ein Phänomen sich ereignet.“ 23 ­Goethe macht die menschliche Wahrnehmung zum epistemologischen Ausgangspunkt, seine wissenschaftliche Beweisführung basiert nicht auf physikalischen Quantitäten, sondern allein auf der sinnlich erfahrbaren Qualität der Farbe. Diesen Zugang setzt ­Goethe – so wird im weiteren Verlauf der Arbeit gezeigt – gezielt ein, um die Farbe in ihrem eigenen erkenntnistheoretischen Recht aufzuwerten. Bis zum 18. Jahrhundert wurde sie gegenüber mathematischen Beschreibungen, geometrischen Formen und der künstlerischen Linie als zweitrangig eingestuft, worauf anschaulich der Stellenwert verweist, den die Farbe in Newtons optischen Experimenten einnimmt. Newton betrachtet sie lediglich als einen Teilbereich der Optik. Die Farbe fesselte erstmalig als chromatische Aberration an Linsenfernrohren seine Aufmerksamkeit, welche die Klarheit des Blicks behinderte.24 So diente lediglich ihr störender Charakter als Initialzündung für seine Farbforschungen. ­Goethe hingegen behandelt die Farbe als eigenständiges Forschungsthema, indem er mit der Untersuchung ihrer Entstehungsbedingungen der Vielfalt ihrer Erscheinungen Rechnung trägt. Die oben beschriebene Zweiteilung von Quantität und Qualität der Farbe steht für eine erkenntnistheoretische Hierarchie der wahrnehmbaren Dingeigenschaften. Sie begann, sich im 17. Jahrhundert zu manifestieren, als der Empirismus in Gegenbewegung zum cartesianischen Rationalismus einen erfahrungsbasierten, begriffsfreien Wissenszugang anstrebte. Die nun auf die experimentelle Wiederholbarkeit von Erfahrungen setzende Wissenschaft strukturierte die Qualitäten über die Art ihrer Erkenntnissicherung: Als primäre Qualitäten wurden fortan diejenigen Eigenschaften der Dinge bezeichnet, die quantitativ beschreib-, berechen- und messbar sind und durch ihre Konstanz eine sichere experimentelle Wiederholbarkeit gewährleisten. So zählen Robert Boyle und John Locke die Ausdehnung und Gestalt, Bewegung und Ruhe, Solidität, das Gefüge und die Zahl zu den primären Qualitäten. Sekundär sind Qualitäten, die ausschließlich durch die „unberechenbare“ individuelle Sinneswahrnehmung erfahrbar werden, wie Farbe, Geruch und Geschmack, und denen dadurch der Charakter des Akzidentellen anhaftet. Diesen Qualitäten ist von vornherein nur ein individueller Subjektbezug eigen, der keine interpersonalen Vergleichsmöglichkeiten zulässt. Als kurzes Beispiel sei die empiristische Auffassung John Lockes vorgestellt und mit George Berkeleys Erkenntnistheorie verglichen, welche die Qualitätenhierarchie negiert: Locke betrachtet lediglich die primären Qualitäten als real, da deren konstante

23 HA 13, S. 552 (Weizsäcker, Carl Friedrich von, Kommentar zur Farbenlehre). 24 Bei der chromatischen Aberration erzeugt der Linsenrand durch Brechung des weißen Lichts Spektralfarben.

1.1  Die Farben als Zeichen des Unverfälschten

Eigenschaften zu einer unabhängigen Existenz von der Sinneswahrnehmung führen können. Es sind Qualitäten, die allein konzeptuell mit dem betrachteten Körper verhaftet sind, „[…] die er bei allen Veränderungen und Verwandlungen, die er erfährt, bei aller Gewalt, die auf ihn ausgeübt wird, dauernd beibehält, die die Sinne stets in jedem Partikel der Materie entdecken, das groß genug ist, um wahrgenommen zu werden, und die auch der Geist mit jedem Partikel untrennbar verbunden findet […]“.25

Locke definiert die Vorrangigkeit der primären Qualitäten über ein Abbildmodell, in welchem durch die Perzeption im Betrachter ebenbildliche Ideen hervorgerufen werden, so dass Wirklichkeit und Wahrnehmung in einem direkten Korrespondenzverhältnis stehen. Die Kombinationen der primären Qualitäten von Größe, Gestalt, Beschaffenheit und Teilchenbewegung beschreibt Locke als Kausalursache der sekundären Qualitäten, die im Betrachter Sensationen wie die Farbwahrnehmung erzeugen. Sie weisen lediglich attributiven Charakter auf. Durch ihren unabdingbaren Subjektverweis und ihre Relationalität besitzen die Sekundärqualitäten einen kontextuellen Aktualitätsbezug, jedoch keine mimetischen Eigenschaften.26 Im Gegensatz zu Locke hebt George Berkeley das hierarchische Konzept der Qualitätenteilung auf, indem er alles Wahrgenommene und Erkannte als ein Geistesprodukt, einen Zustand des Bewusstseins auffasst: „Ich für meine Person sehe deutlich, daß es nicht in meiner Macht steht, die Idee eines ausgedehnten und bewegten Körpers zu bilden, ohne ihm zugleich eine Farbe oder eine andere sinnliche Qualität zuzuschreiben, welche anerkanntermaßen nur im Geist existiert. Kurz, Ausdehnung, Figur und Bewegung sind undenkbar, wenn sie von allen anderen Eigenschaften durch Abstraktion gesondert werden. Wo also die anderen sinnlichen Eigenschaften sind, da müssen sie auch sein, d. h. im Geist und nirgendwo anders.“ 27

Eine an sich seiende Körperwelt existiert nach Berkeley nicht. Indem er die mess- und berechenbaren Qualitäten von Gestalt und Ausdehnung als ausschließlich sinnlich erzeugte betrachtet, negiert er Lockes Abbildmodell zwischen äußeren Gegenständen und Ideen. Doch da in Berkeleys idealistischem Konzept das Wissen von den äußeren Dingen nur durch das Denken entsteht und die Sinne lediglich Ideen liefern,28 entwertet er deren erkenntnistheoretische Funktion ebenfalls. 25 Locke, John, Über den menschlichen Verstand, II Bde., Berlin 1968, Bd. I, S. 147. 26 Vgl. ebd., S. 147 – 158. Den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, zwischen der Beschaffenheit der kleinsten Teilchen und den sekundären Qualitäten kann Locke jedoch nicht empirisch nachweisen. Vgl. Locke, Über den menschlichen Verstand, a. a. O., Bd. II, S. 195. 27 Berkeley, George, Die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Hamburg 1957, S. 30. 28 Vgl. ebd., S. 33 – 37.

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Mit der Hierarchisierung der wahrnehmbaren Qualitäten ging eine Hierarchisierung der einzelnen Sinnesleistungen einher: In den einschlägigen Konzepten erfordern die besonders auf den dreidimensionalen Raum und seine konstanten Größen bezogenen primären Qualitäten den Tastsinn, die sekundären Qualitäten den Einsatz der anderen Sinne. Trotz ihrer unterschiedlichen Korrespondenzobjekte wurden in den gängigen Wahrnehmungstheorien jener Zeit alle Sinne in ein gemeinsames Ordnungssystem integriert, an dem besonders die Art ihres Zusammenwirkens und die Transformierbarkeit ihrer Leistungen ineinander interessierte.29 In den meisten Entwürfen agiert die Hand als Führerin des Auges, wird der Tastsinn in den Gesichtssinn integriert, ohne den das Auge nicht in vollem Umfang leistungsfähig wäre. Die prominenteste Diskussion um das Verhältnis von Tasten und Sehen manifestierte sich an der Urszene der Aufklärung: dem sehend gewordenen Blinden. Symbolisierte das geheilte Auge die intellektuelle Erkenntnis der Welt, schieden sich in der Diskussion um die empi­ rischen Sinnesfähigkeiten, die im sogenannten Molyneux-Problem gipfelte, die Gemüter: William Molyneux hatte die Frage gestellt, ob ein sehend gewordener Blinder, der zuvor verschiedene Körper lediglich durch den Tastsinn unterscheiden konnte, nun mit dem bloßen Sehsinn einen Würfel und eine Kugel erkennen kann. Die hier aufgeworfene Frage nach einer adäquaten Transformierbarkeit sinnlicher Leistungen ineinander implizierte die Frage nach der erkenntnistheoretischen Gleichwertigkeit des optischen und des taktilen Sinns. Die Antworten differierten je nach dem psycho­ logischen und philosophischen Grundverständnis des Betreffenden und der damit verbundenen Auffassung über die Art der subjektiven Urteilsbildung: Der Empirist John Locke verneinte die Frage. Weil nach seiner Meinung die unterschiedlichen Erfahrungen von Tasten und Sehen erst im Urteil über neu gewonnene Eindrücke verbunden werden, wird bei der Sensation eines Sinnes immer die des anderen mit vorgestellt. Da aktuelle Empfindungen stets im Licht bereits getätigter Erfahrungen interpretiert werden und diese Verbindung beim ehemaligen Blinden noch nicht existiert, kann er die Gegenstände optisch nicht erkennen.30 Dieser Ansicht stimmte auch George Berkeley zu. Er radikalisierte seine idealistische Auffassung zwar, indem er die Ideen des Sehens und des Tastens als reine Zeichenprodukte verschiedener von Gott gegebener Sprachen betrachtet, die keinen gemeinsamen Gegenstand besitzen können. Letztendlich geht jedoch auch er von einer empiristischen konstanten Verknüpfung taktiler und visueller Eindrücke aus. Weil aus seiner Sicht die Vorstellungen des Gesichtssinns neue Wahrnehmungen sind, zu denen es im Geist des sehend Gewordenen keine an sie geknüpften Begriffe gibt, verneinte auch er Molyneux’ Frage.31 29 Vgl. Crary, Techniken des Betrachters, a. a. O., S. 66. 30 Vgl. Locke, Über den menschlichen Verstand, a. a. O., Bd. I, S. 161 – 163. 31 „Doch wenn wir die Dinge scharf und genau in den Blick nehmen, muß man zugeben, daß wir niemals ein und dasselbe Objekt sehen und fühlen. Was gesehen wird, ist ein Ding und, was gefühlt

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Der Chirurg William Cheselden beantwortete die Frage experimentell, wählte allerdings einen staroperierten Jungen, der zuvor nicht vollkommen erblindet war, sondern bei starkem Lichteinfall noch gewisse Farben unterscheiden konnte. Der Testant bestätigte Lockes Antwort: Als er die Gegenstände „lediglich“ sah, konnte er sie nicht nach Größe und Form unterscheiden, sondern erst, nachdem er die taktilen mit den visuellen Empfindungen verglichen hatte.32 Etienne Bonnot de Condillac, der als bedeutendster Vertreter der sensualistischen Theorie gilt,33 beantwortete die Molyneux-Frage positiv: Er nahm an, dass der sehend Gewordene die durch den Tastsinn entwickelten Ideen der Ausdehnung mit den durch den Gesichtssinn erzeugten Ideen vergleichen und Übereinstimmungen feststellen kann. Im Gegensatz zu Berkeleys zeichentheoretischer Auffassung begründete ­Condillac diese Vergleichsmöglichkeit ontologisch damit, dass der Betrachter den äußeren Gegenstand aufgrund von dessen Eigenschaften als ein und dasselbe Objekt wahrnimmt.34 Steht hinter dieser Auffassung die Annahme einer erkenntnistheore­tischen Gleichwertigkeit der Sinne, konzipierte Condillac an anderer Stelle den Tastsinn als Basis aller übrigen Sinne – in seinem berühmten Gedankenexperiment einer Statue, die er nach und nach mit allen sinnlichen Funktionen ausstattete. Diese besitzt bereits vor dem ersten In-Kontakt-Treten mit der Welt ein Grundgefühl, das einzig und allein haptisch spürbar wird – durch die Einwirkung der Körperteile aufeinander sowie die Atmungsbewegungen. Diesen Sinn erhebt Condillac zum Mentor aller anderen Sinne, besonders als Strukturierungshilfe der visuellen Wahrnehmung, durch deren alleiniges Wirken kein räumlicher Eindruck entstehen kann.35

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wird, ein anderes. […] Die richtige Konsequenz ist: Die Objekte des Gesichts- und Tastsinns sind zwei verschiedene Dinge. Es mag vielleicht einiges Denken erfordern, diesen Unterschied richtig zu begreifen. Und die Schwierigkeit scheint nicht wenig dadurch zugenommen zu haben, daß eine Kombination sichtbarer Vorstellungen stets denselben Namen trägt wie die mit ihr verknüpfte Kombination der tastbaren Vorstellungen, ein Umstand, der sich mit Notwendigkeit aus dem Gebrauch und dem Zweck der Sprache ergibt.“ Berkeley, George, Versuch über eine neue Theorie des Sehens und Die Theorie des Sehens oder der visuellen Sprache verteidigt und erklärt, Hamburg 1987, S.  33 – 34. Die Interpretation des Molyneux-Problems erfolgte in Anlehnung an die überzeugende Darlegung von Baxandall, Michael, Löcher im Licht. Der Schatten und Aufklärung, München 1998, S. 33 – 38. Vgl. exemplarisch Vollmer, M. / Red., Sensualismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried, Bd. 9: Se – Sp, Basel 1995, S. 614 – 618, hier S. 615. „[…] denn durch welchen Sinn wir auch die Ausdehnung erkennen mögen, sie kann nicht auf zwei verschiedene Arten dargestellt werden.“ Condillac, Etienne Bonnot de, Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. Ein Werk, das alles, was den menschlichen Verstand betrifft, auf ein einziges Prinzip zurückführt, Würzburg 2006, S. 166. Vgl. Condillac, Etienne Bonnot de, Abhandlung über die Empfindungen, Hamburg 1983, S. 37 – 38, 66 und S. 91.

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Denis Diderot ging in seinem empiristischen Konzept von einer strikten Trennung der Sinnesfunktionen aus: Jeder Sinn kann nur durch Erfahrung zu seiner spezifischen Ausprägung gelangen. So ist auch das Auge zu einem selbstständigen Erlernen der Wahrnehmung in der Lage, ohne den Tastsinn zu beanspruchen. Nach Diderot bildet sogar „die Hilfe, welche unsere Sinne sich gegenseitig leihen, dem einzelnen Sinn ein Hemmnis, sich zu vervollkommnen“.36 Spätestens bei der Farbwahrnehmung versagt der Tastsinn als Lehrer des Auges: „Wie sollte es möglich sein, daß der Tastsinn das Auge lehrt, Farben zu erkennen, und wie sollte er es anfangen, das Auge anzuleiten, überhaupt wahrzunehmen. Zwischen den Funktionen der beiden Sinne gibt es keine solche Abhängigkeit, und niemals vermag der Tastsinn dem Auge die Fähigkeit zu geben, zum Sehen tauglich zu werden. Dieses Organ wird ohne Hilfe eines anderen dazu gelangen, die Bilder, die sich auf seinem Hintergrunde malen, zu erkennen und zu unterscheiden.“ 37

Letztendlich ging Diderot noch einen Schritt weiter und definierte die Wahrnehmung der Form über die visuelle Perzeption der Farbe: „Die Farbenvorstellung ist für uns so stetig, daß wir uns ohne sie keine Formen denken können. Wenn man uns in der Dunkelheit kleine Körper zum Betasten gibt, deren Stoff und Farbe wir nicht kennen, stellen wir uns dieselben bald schwarz, bald weiß oder in irgendeiner anderen Farbe vor, und wenn wir keine Farben sehen, werden wir auch nur wie der Blindgeborene die Erinnerung von Eindrücken haben, die an den Fingerspitzen erfolgen.“ 38

Wie das Beispiel Diderots zeigt, wurde seit dem späten 18. Jahrhundert – empiristisch und sensualistisch inspiriert – das individuelle Verhalten der Sinne erkenntnistheoretisch zunehmend beachtet. Das sich langsam durchsetzende Modell ihrer Trennung begreift den Sehsinn als vom Tastsinn unabhängig. Auch G ­ oethe wählt in seiner Farbenlehre diesen Weg. Er entwertet den Raum, indem er das Erscheinen der Farben in zwei­ dimensionalen Phänomenen beschreibt: in physikalischen und physiologischen Bildern sowie den Erscheinungen der Phantasie, um die im Empirismus erkenntnistheoretisch lediglich als sekundär bewertete Qualität der Farbe gegenüber der als primär eingestuften Qualität des Raums aufzuwerten. Im didaktischen Teil der Farbenlehre setzt er den Diskurs über die flüchtigen physiologischen Phänomene an den Anfang, fügt an diese die Betrachtung der dauerhafteren physischen, d. h. physikalischen, Farben, bevor er die chemischen Mischungen diskutiert, die sich an dreidimensionalen unbelebten

36 Diderot, Denis, Brief über die Blinden – für Sehende, Düren 1949, S. 7. 37 Ebd., S. 17. 38 Ebd., S. 24.

1.1  Die Farben als Zeichen des Unverfälschten

und belebten Phänomenen zeigen. Damit verfolgt er den Weg von den immateriellen Farben zur materialen Form geometrisch fixierbarer Körper, beachtet jedoch ihre Dreidimensionalität nicht. Er betrachtet ausschließlich die farbigen Oberflächen der Phänomene. Ähnlich dem Ansatz Diderots und Descartes stocktastendem Blinden geradezu konträr, der „mit den Händen sehen[d]“ den Stock zu seinem sechsten Sinn macht 39 und die Taktilität als vollständigen Ersatz des optischen Sinns auffasst, setzt ­Goethe – wie im Verlauf der Arbeit gezeigt werden soll – der geometrisch bereinigten Farbe einen autonomen Sehsinn entgegen, der den Tastsinn erkenntnistheoretisch obsolet macht: „Nunmehr behaupten wir, wenn es auch einigermaßen sonderbar klingen mag, daß das Auge keine Form sehe, indem Hell, Dunkel und Farbe zusammen allein dasjenige ausmachen, was den Gegenstand vom Gegenstand, die Teile des Gegenstandes voneinander fürs Auge unterscheidet.“ 40 Bevor im frühen 19. Jahrhundert die Sinnesphysiologen die Trennung der Sinne endgültig anatomisch-physiologisch legitimierten und diese von der in jener Zeit einsetzenden industriell-arbeitsteiligen Neuerfassung des Körpers forciert wurde,41 wurde ihre Separierung bereits im späten 18. Jahrhundert auf andere Weise angestrebt: In jener Zeit wurde die Spezifik der Sinnesfunktionen durch ihre Ausrichtung an den Qualitäten der ihnen korrespondierenden Objekte in den Einzelkünsten zu begründen versucht – eine Ausrichtung, die sich in der zunehmenden Zahl einschlägiger Diskurse niederschlug.42 Als Dispositiv, an dem sich der menschliche Blick konstituieren konnte, wurde in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts das Bild betrachtet, das zugleich als Speichermedium der Farbe fungiert. Obwohl Goethe in seiner Farbenlehre den Raum entwertet 39 Vgl. Descartes, René, Dioptrik, Meisenheim am Glan 1954, S. 70, Zitat ebd. 40 LA I.4, S. 18 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Einleitung). In diesem Sinne beschreibt Gilles Deleuze ­Goethes Farbenlehre als kunsthistorischen Wegweiser für den Kolorismus eines William Turner und der Impressionisten Claude Monet und Paul Cézanne, die räumliche Komponenten ausschließlich durch die von Weiß- und Schwarzwerten bereinigten Farben zeigen. Der optisch-taktile, eng mit der Strahlentheorie Newtons verbundene Raum erfordert bedingt durch die zentralperspektivische Unterscheidung von Form und Grund die Fernsicht des Auges in die Bildtiefe. Die reinen Tonalitätsverhältnisse der Farben hingegen beanspruchen auf einer ebenen, nicht-linear strukturierten Fläche den visuellen Nahsinn: „Der Kolorismus will einen besonderen Sinn des Sehens freisetzen: ein haptisches Sehen der Raum-Farbe, im Unterschied zum optischen Sehen des Zeit-Lichts. Gegen die newtonsche Konzeption der optischen Farbe hat G ­ oethe die ersten Grundsätze eines derartigen haptischen Sehens herausgestellt.“ Vgl. Deleuze, Gilles, Francis Bacon – Logik der Sensation, München 1995, S. 75 – 88, Zitat S. 85. 41 Vgl. Crary, Techniken des Betrachters, a. a. O., S. 30. 42 Exemplarisch seien an dieser Stelle Sulzers und Herders kunsttheoretische Schriften genannt: ­Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der schönen Künste, 4 Bde. (= Teile) und ein Registerbd., Leipzig 1792 – 1799 sowie Herder, Johann Gottfried, Die Plastik, in: ders., Werke in zehn Bdn., hg. v. Günter Arnold u. a., Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774 – 1787, Frankfurt am Main 1994, S. 243 – 326.

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und die Zweidimensionalität chromatischer Bilder herausstellt, misst er in seiner Kunsttheorie Farbgebung und Malerei gegenüber Plastik und graphischer Linie mehr oder weniger explizit eine nachrangige Bedeutung bei. Mehrfach thematisiert er an der Farbgebung die einfache Nachahmung der Natur, die er als niedrigste Stufe der künstlerischen Darstellung betrachtet.

1.2 Laokoon als Konkurrent der Farben? In seinen kunsttheoretischen Schriften, die vor und während seiner intensiven Farbstudien entstanden, bewertet Goethe die Plastik und die graphische Linie als künstlerische Darstellungsmittel höher als die Farbgebung in der Malerei. Hinter dieser Hierarchie verbirgt sich – wie nachfolgend zu zeigen ist – das höhere Potential zur Abstraktion, das Goethe den beiden Erstgenannten zuspricht. Dennoch unterwandert in seinen Diskursen die Eigenmacht der Farben immer wieder die o.g. Hierarchie. Goethes nachfolgend vorgestelltes kunsttheoretisches Konzept der Farbgebung wird in eine skizzenhafte Darstellung seiner allgemeinen Kunstauffassung eingebunden und zur besseren historischen Einordnung mit einer programmatischen Kunsttheorie jener Zeit verglichen – Johann Gottfried Herders Ausführungen zu Plastik und Malerei. In G ­ oethes Kunstauffassung beginnt die künstlerische Formgebung bereits mit dem Blick auf die Phänomene, nicht erst mit der schöpferischen Tätigkeit der Hand. Dieser Blick auf die Natur ist es, der die Art des zu schaffenden Kunstwerks festlegt, indem er ausgehend von ihrem Original die bestmögliche Wiedergabe ihrer äußeren Form als Bild oder Plastik antizipiert: „Den Gegenstand in ein Bild verwandeln, d. h. die sichtbare Raumerfüllung insofern sie gleichgültig ist. Die Formen erkennen, d. h. die Raumerfüllung, insofern sie bedeutend ist.“ 43 Wenn ­Goethe den künstlerischen Blick als Initialzündung des kreativen Schaffens­ prozesses gewichtet, so ist diese Methode einmal mehr mit dem sich wandelnden Naturverständnis jener Zeit verknüpft. Die in ihrer Prozessualität und Unabgeschlossenheit entdeckte Natur ließ um 1800 die aristotelische Mimesis-Lehre vom nachahmenden Charakter der Kunstwerke 44 zunehmend fragwürdiger erscheinen. Hans Blumenberg führt dafür zwei Gründe an: Zum einen war – wie im vorigen Kapitel dargelegt – „die Vollständigkeit dieses Bereiches hinsichtlich aller möglichen Gehalte und Gestalten von Wirklichkeit“ aufgebrochen worden, zum anderen wurde die Natur nicht mehr als das Reich „eigentlicher und aus sich einleuchtender exemplarischer Realität“ angenommen,

43 WA I,47, S. 302 (Über den Dilettantismus). 44 Vgl. hierzu ausführlich die Interpretation von Blumenberg, Hans, „Nachahmung der Natur“. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und Reden, Stuttgart 1999, S. 55 – 103.

1.2  Laokoon als Konkurrent der Farben?

da ihre Beeinflussung durch das Experiment selbst als artifiziell erkannt wurde.45 Verschob sich nun die Erkenntnispriorität zusehends vom phänomenalen Ausdruck der Natur auf die erkennenden Kräfte des Subjekts, so oblag es diesem, das Wesen des von ihr stets neu Hervorgebrachten zu erkennen und diese Erfahrung kreativ-künstlerisch auszudrücken. „Was wir von Natur sehn, ist Kraft, die Kraft verschlingt; nichts ist gegenwärtig, alles vor­ übergehend, tausend Keime zertreten, jeden Augenblick tausend geboren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und häßlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte nebeneinander existierend. Und die Kunst ist gerade das Widerspiel; sie entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft zu erhalten.“ 46

Spiegelt diese Auffassung die Ansicht des jungen Goethe der Sturm-und-Drang-Zeit wider, in der allein das schöpferische Genie wie die Natur selbst ein organisch-ganzes Werk erzeugen kann und die Kunst als Gegenpart und Bändigungsmittel einer allmächtigen Natur gilt, begreift Goethe in seinem späteren klassizistischen Konzept die Kunst als erweiterte zweite Natur. Nun basiert das künstlerische Schaffen auf der fundierten Erkenntnis ihrer Regeln, damit der Künstler eine „zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menschlich vollendete“ 47 hervorbringe. Nicht mehr die intuitiv tätige Kraft des Genies, sondern die geistige Durchdringung der Natur ist nun ausschlaggebend für ein gelungenes Kunstwerk, weshalb Goethe auf der umfassenden theoretischen und praktischen Schulung des Künstlers insistiert, um dessen Blick für die Natur zu öffnen. In seinem 1789 erschienenen Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier und Stil beschreibt ­Goethe drei Stufen künstlerischer Darstellungsformen, deren graduell gesteigerter Wert an den jeweils beteiligten menschlichen Erkenntniskräften festgemacht werden kann. Während die einfache Nachahmung ohne tiefgründige Reflexionen überwiegend auf der Sinneswahrnehmung der Phänomene beruht und mimetische Darstellungen zeigt, ist die subjektiv ausgerichtete Manier in starkem Maße an die Beteiligung der Einbildungskraft gebunden. Mit ihrer Hilfe verändert der Künstler die Gegenstände beliebig nach seinem Geschmack, ohne jedoch die höhere Notwendigkeit der Natur zu erkennen. Erst die auf der Wahrnehmung basierende fundierte geistige Durchdringung der Gestalten, das Erkennen ihrer objektiven Gesetze ermöglicht in ­Goethes klassischer, werkästhetisch ausgerichteter Kunstanschauung die Anwendung des höchsten Darstellungsmittels – des künstlerischen Stils: 45 Ders., Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: Jauß, H. R. (Hg.), Nachahmung und Illusion, München 1969, S. 9 – 27, hier S. 15. Vgl. auch die Interpretation von von Thadden, Erzählen als Naturverhältnis, a. a. O., S.  46 – 47. 46 FA I.18, S. 99 (Sulzer-Rezension). 47 FA I.18, S. 567 – 568 (Diderots Versuch).

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„Wie die einfache Nachahmung auf dem ruhigen Dasein und einer liebevollen Gegenwart beruht, die Manier eine Erscheinung mit einem leichten fähigen Gemüth ergreift, so ruht der Stil auf den tieffsten Grundfesten der Erkenntniß, auf dem Wesen der Dinge, in so fern uns erlaubt ist es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.“ 48

Dieses Konzept zeigt deutlich den Einfluss von Spinozas Erkenntnistheorie. Der Stil, der auf Wahrnehmung und geistiger Durchdringung der Gegenstände gleichermaßen fußt, fungiert als künstlerisches Ausdrucksmittel und damit als Medium der intuitiven Erkenntniskraft, der scientia intuitiva.49 Die Stellung des schaffenden Subjekts zwischen Kunst und Natur gestaltet sich bei ­Goethe jedoch ambivalent: Gilt der Künstler einerseits als Teil und Leser der Natur, dessen kreatives Schaffen nach Georg Simmel „ein bloßes Sich-Ausprägen, Sich-Umsetzen einer tiefer gelegenen Realität“ ist,50 produziert andererseits jeder Künstlerblick als Schnittstelle von Wahrnehmung, Rationalität und produktiver Einbildungskraft immer schon eine naturunabhängige Leistung. In diese bringt der kreativ Schaffende seine Individualität ein, um die Trennung zwischen Kunst und Natur zu vollenden. Dieser Fakt war auch ­Goethe bewusst.51 So betrachtet er als größten Nutzen der bildenden Künste die ihnen inhärente Reflexionsmöglichkeit ihres eigenen Entstehungsprozesses: „Sehen lernen. Die Gesetze kennenlernen, wornach wir sehen.“ 52 ­Goethe praktizierte nicht nur den künstlerischen Blick auf die Natur, sondern auch den Nachvollzug der Blicke anderer. Er übte sich beispielsweise im Nachzeichnen berühmter Landschaftsgemälde, indem er in der Fertigung einzelner Elemente den ursprünglichen Zeichenakt des Künstlers nachzuerleben und auf diese Weise transparent zu machen versuchte.53 Das Kunstwerk wiederum dient Goethe als „symbolisches Kommunikationsmedium“,54 das vom gelungenen Zusammenwirken der Seelenkräfte Verstand, Sinnlichkeit und 48 WA I,47, S. 80 (Einfache Nachahmung der Natur, Manier und Stil). 49 Vgl. dazu ausführlich Wolf, Norbert Christian, Streitbare Ästhetik. G ­ oethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771 – 1789, Tübingen 2001, besonders S. 409 – 419 und S. 463 – 467. Vgl. auch Bies, Im Grunde ein Bild, a. a. O., S. 177 – 178. 50 Simmel, Georg, Kant und ­Goethe, in: ders., Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, 23 Bde., Bd. 10: Philosophie der Mode. Die Religion. etc., Frankfurt am Main 1995, S. 119 – 166, hier S. 161. 51 „Indem der Künstler irgend einen Gegenstand der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur an, ja man kann sagen: daß der Künstler ihn in diesem Augenblicke erschaffe, indem er ihm das Bedeutende, Charakteristische, Interessante abgewinnt, oder vielmehr erst den höhern Wert hineinlegt.“ FA I.18, S. 465 (Einleitung in die Propyläen). 52 WA I,47, S. 302 (Über den Dilettantismus). 53 Zu diesem Vorgehen wurde er vermutlich durch Konrad Geßners Brief über die Landschaftsmahlerey inspiriert, den er 1772 in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen rezensiert hatte. Vgl. Grave, Johannes, „Sehen lernen“. Über ­Goethes dilettantische Arbeit am Bild, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 80 (2006), Heft 3, S. 357 – 377, hier S. 365 – 367. 54 FA I.18, S. 1015 (Kommentar von Friedmar Apel, Die Wiederherstellung der Wirklichkeit. Goethes Kunstanschauung 1771 – 1805).

1.2  Laokoon als Konkurrent der Farben?

Einbildungskraft zeugt, das in der Stillstellung der Idee seinen Schöpfer überlebt. In ihm stellt der Künstler die erkannten Kräfte der Natur gelöst von ihr sinnlich potenziert und konzentriert dar.55 Nach Goethe besteht das Talent des stilbeherrschenden Künstlers darin, dass er die erkannten Gesetze des Naturganzen im individuellen Werk darzustellen vermag, dass er „anzuschauen, festzuhalten, zu verallgemeinern, zu symbolisieren, zu charakterisieren weiß, und zwar in jedem Teile der Kunst, in Form sowohl als Farbe“,56 weshalb dem Stil ein objektiver Charakter eigen ist. In diesem Kontext spricht Goethe der Abstraktion eine besondere Bedeutung zu. Durch sie setzt der Künstler die zuvor gewonnene Erkenntnis des Charakteristischen und Allgemeinen der Natur im Kunstwerk um und stellt dieses damit selbst als ein Artefakt heraus. Auf diese Weise markiert das Mittel der Abstraktion den Unterschied zwischen Natur und Kunst, die Goethe aufgrund ihrer Eigengesetzlichkeiten voneinander trennt. Er differenziert beide Bereiche über den Begriff des Lebens und ihren Wirklichkeitsgehalt – wie er im 1798/99 entstandenen Aufsatz Diderots Versuch über die Malerei beschreibt: „Die Neigung aller seiner [Diderots – S. Sch.] theoretischen Äußerungen geht dahin, Natur und Kunst zu konfundieren, Natur und Kunst völlig zu amalgamieren, unsere Sorge muß sein, beide in ihren Wirkungen getrennt darzustellen. Die Natur organisiert ein lebendiges, gleichgültiges Wesen, der Künstler ein totes, aber ein bedeutendes, die Natur ein wirkliches, der Künstler ein scheinbares. Zu den Werken der Natur muß der Beschauer erst Bedeutsamkeit, Gefühl, Gedanken, Effekt, Wirkung auf das Gemüt selbst hinbringen, im Kunstwerke will und muß er das alles schon finden.“ 57

Die Abstraktion erfüllt in Goethes Kunsttheorie noch eine weitere Funktion: Obwohl er im Stil-Aufsatz keiner der drei künstlerischen Kategorien jeweils eine dafür prädestinierte Kunst zuordnet, ist in seinen kunsttheoretischen Diskursen dennoch die generelle Tendenz erkennbar, über das Medium der Abstraktion Gemälde und Plastik in eine hierarchische Darstellungsordnung zu bringen. Wie Johann Gottfried ­Herder in seiner breit rezipierten Schrift Die Plastik setzt auch Goethe die Wahrheit der Bildhauerei über die der Malerei: „Das allerhöchste, einfachste, würdigste in der Kunst scheint vorzüglich der Bildnerei in Statuen anzugehören. Freilich läßt sich mit strenger Genauigkeit nicht bestimmen, was und wie viel in jedem Fache vom Genie kann geleistet werden; doch würde nach unserem Ermessen ein gemalter ­Jupiter ­Olympus kaum das sein können, was des Phidias Statue desselben war.“58 Diese Hierarchie 55 Vgl. Apel, Friedmar, Der lebendige Blick. Goethes Kunstanschauung, in: Schulze, Sabine (Hg.), Goethe und die Kunst, Ostfildern-Ruit 1994, S. 571 – 578, hier S. 572. 56 FA I.18, S. 593 (Diderots Versuch). Vgl. Wolf, Streitbare Ästhetik, a.a.O., S. 506. 57 FA I.18, S. 563 – 564 (Diderots Versuch). 58 FA I.19, S. 362 – 363 (Neue Unterhaltungen über verschiedene Gegenstände der Kunst).

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legitimiert Goethe jedoch nicht wie Herder wirkungsästhetisch mit dem Ansprechen des der jeweiligen Kunst korrespondierenden Sinns. Während Herder den für das Erfassen der Plastik erforderlichen Tastsinn als Basis des Realitätsempfindens begreift, das für die Bildrezeption benötigte Sehen jedoch als von den anderen Sinnen abhängig,59 argumentiert Goethe werkästhetisch: Er hält die Plastik geeigneter dafür, das in der klassizistischen Kunsttheorie höchste Sujet – den Menschen60 – darzustellen: „Die Bildhauerkunst wird mit Recht so hoch gehalten, weil sie die Darstellung auf ihren höchsten Gipfel bringen kann und muß, weil sie den Menschen von allem, was ihm nicht wesentlich ist, entblößt.“61 Wie dieses Zitat impliziert, ist nach Goethe die Plastik anders als die Malerei bereits von vornherein auf die Abstraktionsleistung des Künstlers angewiesen, die von der gelungenen Erkenntnis der Naturgesetze zeugt.62 Diese Fähigkeit würdigt Novalis auch an Goethes eigenem künstlerischen Blick: „An ihm kann man die Gabe zu abstrahiren in einem neuen Lichte kennen lernen. Er abstra­ hirt mit einer seltnen Genauigkeit, aber nie ohne das Object zugleich zu construiren, dem die Abstraction entspricht.“63 Die Abstraktion untersucht Goethe auch auf dem Gebiet der Farbgebung. So konstatiert er z.B., große Künstler würden sich einander dadurch nähern, dass sie die Natur geistig durchdringen und diese Erkenntnisse adäquat im Kunstwerk darstellen, wofür er exemplarisch die Kolorierungen Raffaels und Tizians anführt.64 Öfter diskutiert er 59 Vgl. Herder, Plastik, a.a.O., S. 249 – 253. In der Bewertung der Sinneshierarchie verfährt Herder nicht stringent: Obwohl er den Tastsinn als Sinn der Wahrheitsfindung auffasst, betrachtet er andererseits Gesicht und Gehör als Hauptsinne, nach denen die schönen Künste zu klassifizieren seien. 60 Vgl. z.B. Goethes Aussage in: FA I.18, S. 462 (Einleitung in die Propyläen): „Der Mensch ist der höchste, ja der eigentliche Gegenstand bildender Kunst!“ Vgl. ebenso ebd., S. 489 (Über Laokoon): „Alle hohe Kunstwerke stellen die menschliche Natur dar, die bildenden Künste beschäftigen sich besonders mit dem menschlichen Körper; [...].“ Bereits in Winckelmanns Kunsttheorie ist der Mensch das wichtigste Objekt der künstlerischen Darstellung. Vgl. exemplarisch Winckelmann, Johann Joachim, Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764. Vgl. ebenfalls Wolf, Streitbare Ästhetik, a.a.O., S. 509 – 510. 61 FA I.18, S. 492 (Über Laokoon). 62 Die Plastik betrachtet Goethe auch dann noch als Beweismittel einer gelungenen Naturreflexion, als Anfang des 19. Jahrhunderts polychrome Statuen entdeckt wurden, in denen Dreidimensionalität und Farbgebung unmittelbar miteinander verbunden waren: „Wir sind nun unterrichtet, daß die Metopen der erstesten sicilischen Gebäude hie und da gefärbt waren, und daß man selbst im griechischen Alterthume einer gewissen Wirklichkeitsforderung nachzugeben sich nicht enthalten kann. So viel aber möchten wir behaupten, daß der köstliche Stoff des pentelischen Marmors sowie der ernste Ton eherner Statuen einer höher und zarter gesinnten Menschheit den Anlaß gegeben, die reine Form über alles zu schätzen und sie dadurch dem inneren Sinne abgesondert von allen empirischen Reizen ausschließlich anzueignen.“ WA I,49.I, S. 183 (Die schönsten Ornamente und merkwürdigsten Gemälde aus Pompeji, Herculanum und Stabia). 63 Novalis, [Über Goethe], in: ders., Schriften, Historisch-kritische Ausgabe in 4 Bdn., hg. v. Richard Samuel u.a., Zweiter Bd: Das philosophische Werk I, Stuttgart 1965, S. 640 – 642, hier S. 641. 64 Vgl. FA I.18, S. 600 – 601 (Diderots Versuch).

1.2  Laokoon als Konkurrent der Farben?

die Farbgebung jedoch im Kontext der naturalistischen Malerei – so auch im didaktischen Teil der Farbenlehre, in dem er über den Charakter mimetischer Gemälde die aus seiner Sicht defizitären Techniken der Farbgebung herausstellt: „Die wenigen spezifizierten Farben standen fest, und dennoch kamen durch künstliche Mischungen unzählige Schattierungen hervor, welche die Oberfläche der natürlichen Gegenstände nachahmten. […] Man fragte nicht: wie geht die Natur zu Werke, um diese und jene Farbe auf ihrem innern, lebendigen Werke hervorzubringen, sondern: wie belebt der Maler das Tote, um ein dem Lebendigen ähnliches Scheinbild darzustellen?“ 65

Besonders solche und andere mimetische Darstellungen sind es, die nach Goethe die Gefahr einer Verwechslung von Original und Bild, Natur und Kunst in sich bergen – ein Fehler, den er mit einer medizinischen Metapher als „Hauptkrankheit“ 66 seiner Zeit bezeichnet. Sieht Goethe diese Gefahr an naturalistischen Kunstwerken im Allgemeinen gegeben, macht er später pauschal an jedem Gemälde einen manifesten Täuschungscharakter aus, um einmal mehr die von vornherein für die Plastik aufzuwendende Abstraktionsleistung des Künstlers herauszustellen: „Ein Gemälde bleibt seiner Natur nach immer eine Art von Betrug und Hexerei, und stimmt darum mit jener hohen Würde, Ernst und Wahrheit [die ­Goethe der Bildhauerei zuschreibt – S. Sch.] nicht recht überein. Es prätendiert nicht nur die Sache vorzustellen, sondern wirklich Sie selbst zu sein, und je besser es ist, desto stärker wird die Täuschung, die aber eben darum, weil sie Täuschung ist, nicht länger als einen Moment dauern kann; so bald sie verschwunden, bewundern wir nur noch das Kunststück, und die Gestalt imponiert uns nicht mehr. – Bei der Statue hingegen bedarf es schon einer gewissen Abstraktion, um auf die Kunst an derselben überzugehen. Als Gestalt, als Vorstellung, kann eine Statue die möglichst vollkommene sein. Als wirkliche Darstellung ist ein jedes Gemälde immer noch schwach, Nachahmung des Unerreichbaren, ein bloßer Schatten.“ 67

Diese Auffassung steht derjenigen Herders geradezu entgegen, welcher der Plastik einen mimetischen Charakter zuschreibt, die Fläche des Bildes hingegen als Abstrak­tum des Räumlichen begreift.68 Doch ist es gerade das Merkmal des nicht der Formwahrheit Verpflichteten, das nach Herder das kreative Potential der Malerei freisetzt – einer Kunst, die in starkem Maße die Einbildungskraft anspricht: „Endlich, die Bildnerei ist Wahrheit, die Malerei Traum; jene ganz Darstellung, diese erzählender Zauber.

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LA I.4, § 615, S. 184 – 185 (­Goethe, Farbenlehre, Didaktischer Teil). FA I.18, S. 570 (Diderots Versuch). FA I.19, S. 363 (Neue Unterhaltungen). Vgl. Herder, Plastik, a. a. O., S. 276 und S. 280.

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[…] Die schönste Malerei ist Roman, Traum eines Traumes. Sie kann mich mit sich verschweben.“ 69 Wie Herder unterwandert auch Goethe die in seiner ästhetischen Theorie aufscheinende Hierarchie von Bildhauerei und Malerei. Spricht er sich zwar aufgrund der erkannten Eigengesetzlichkeit jeder Kunst gegen die Vermischung ihrer Arten aus,70 nähert er Plastik und Gemälde – wie nachfolgend gezeigt wird – über einen doppelten Zugriff einander an: Erstens berücksichtigt Goethe die Dreidimensionalität der Plastik nicht, sondern konzentriert seine Erörterungen hauptsächlich auf ihre Oberfläche. Zweitens betrachtet er beide Künste als Darstellungsmittel der Zeit. Die Räumlichkeit der Plastik entwertet Goethe, indem er die Oberfläche des Kunstwerks zum ausschließlichen Medium macht, an dem die gelungene geistige Formgebung des Künstlers erkennbar ist: „Eine vollkommne Nachahmung der Natur ist in keinem Sinne möglich, der Künstler ist nur zur Darstellung der Oberfläche einer Erscheinung berufen. Das Äußere des Gefäßes, das lebendige Ganze, das zu allen unsern geistigen und sinnlichen Kräften spricht, unser Verlangen reizt, unsern Geist erhebt, dessen Besitz uns glücklich macht, das Lebevolle, Kräftige, Ausgebildete, Schöne, dahin ist der Künstler angewiesen.“ 71

Das dreidimensionale Innenleben der Plastik wird von ­Goethe nicht reflektiert, wohl aber deren sichtbare Oberflächenbeschaffenheit, die für das Wesen der gesamten Erscheinung steht. Beispielgebend sei dafür folgendes Zitat angeführt, in dem ­Goethe – kunstakademisch beeinflusst – jungen Malern rät, die Proportionen- und Formenlehre bei einem Bildhauer zu erlernen. Thematisiert G ­ oethe hier zwar die Körperlichkeit der Plastik, interessiert ihn jedoch eher deren sichtbare Oberflächenbeschaffenheit: „Denn wie der Maler es mit der Richtigkeit seiner Teile oft nicht so genau nimmt, so pflegt er auch nur die eine Seite der Erscheinung zu betrachten; beim Modellieren hingegen, besonders des Runden, lernt er den körperlichen Wert des Inhalts schätzen; er lernt die einzelnen Teile nicht nach dem aufsuchen was sie scheinen, sondern nach dem was sie sind; er wird auf die unzähligen kleinen Vertiefungen und Erhöhungen aufmerksam die über die Oberfläche des Körpers gleichsam ausgesäet sind und die er bei einem einfachen malerischen Lichte nicht einmal bemerken kann.“ 72

69 Ebd., S. 259. 70 Vgl. FA I.18, S. 468 (Einleitung in die Propyläen). 71 FA I.18, S. 564 (Diderots Versuch). 72 FA I.18, S. 435 (Vorteil, den ein junger Maler haben könnte, der sich zuerst bei einem Bildhauer in die Lehre begäbe).

1.2  Laokoon als Konkurrent der Farben?

Um die Spezifik von Goethes Konzept der Plastik herauszustellen, seien vergleichsweise Condillacs und Diderots einschlägige Gedankenexperimente angeführt. Beide schließen nicht vom sichtbaren Äußeren auf die Gesetze eines Kunstwerks, sondern wählen den umgekehrten Weg: Condillac empfiehlt dem Betrachter, sich in die zum Leben erweckte Statue hineinzuversetzen, um das Erwachen ihrer Sinne plastisch nachvollziehen zu können. Diderot rät dem Maler, sich die zu zeigende Figur durchsichtig vorzustellen und sein Auge fiktiv in deren Mitte zu platzieren, um Gesamtproportionen und Details des Gegenstandes ausführen zu können.73 Das Nichtbeachten des Dreidimensionalen und die Aufwertung der Oberfläche als Prüfinstanz für die gelungene abstrakt-künstlerische Reflexion der Natur transferiert Goethe aus der von ihm entwickelten naturwissenschaftlichen Methode der genetischen Morphologie in die Kunst. Unter dieser Methode versteht er die Lehre von der dynamischen Gestaltbildung, in der er die sichtbaren Phänomenoberflächen als kontinuierliche Fortsetzung des unsichtbaren Körperinneren auffasst. Aus diesem Grunde betrachtet Goethe die genauen Kenntnisse der inneren Organisation des lebenden Organismus als Voraussetzung für die Schaffung eines gelungenen Kunstwerks.74 Die Darstellung der Zeit in der Plastik thematisiert ­Goethe explizit in seinem 1797 entstandenen kunsttheoretischen Aufsatz Über Laokoon, in dem er die berühmte gleichnamige antike Gruppe analysiert. Mit seinem Konzept unterscheidet er sich wesentlich von demjenigen Lessings, der in seinem programmatischen medientheoretischen Werk Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) bildende Kunst und Dichtkunst über die Ordnung ihrer Zeichen voneinander differenziert und in ein hierarchisches Verhältnis setzt. Lessing bewertet die an die Sukzessivität von Schrift und Rede gebundene Poesie höher als die statischen Darstellungen der bildenden Kunst, die den Raum zum fixierten Zeitpunkt, zum stillgestellten Augenblick degradieren.75 ­Goethe hingegen betrachtet in Anlehnung an Winckelmann auch die Werke der bildenden Kunst als sukzessive, die Zeit visualisierende Objekte: „[…] der höchste pathetische Ausdruck, den sie [die bildende Kunst – S. Sch.] darstellen kann, schwebt auf dem Übergange eines Zustandes in den andern.“ 76 Allein dem Bildhauer obliege es, den richtigen Moment zu finden, um in der Plastik die 73 Vgl. Condillac, Abhandlung über die Empfindungen, a.a.O., besonders S. 66 – 120. Vgl. Diderot, Denis, Versuch über die Malerei (1765), in: ders., Ästhetische Schriften, 2 Bde., Erster Bd., Berlin/ Weimar 1967, S. 635 – 657, hier S. 640. 74 Vgl. FA I.18, S. 574 (Diderots Versuch). 75 Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 1980. 76 FA I.18, S. 495 (Über Laokoon). Johann Joachim Winckelmann differenziert innerhalb der bildenden Kunst zwischen bewegten Darstellungsmitteln (Linie, Form) und statischem Darstellungsmaterial. Aus seiner Sicht impliziert der Begriff des Ruhend-Plastischen das Element der Bewegung, z. B. in der bewegten Kontur. Vgl. Kreuzer, Ingrid, Nachwort, in: Lessing, Gotthold Ephraim, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 1980, S. 215 – 230, hier S. 222.

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Zeit im intensivsten Ausdruck stillzustellen. Im Unterschied zu zahlreichen früheren Interpretationen dieser Figurengruppe – so stellt Inka Mülder-Bach heraus – zeigt ­Goethes Analyse jedoch ein Novum: Nicht die Darstellung des entscheidenden Augenblicks innerhalb eines zeitlichen Verlaufs ist bei ihm wesentlich, sondern die Frage, auf welche Weise die Skulptur selbst zum Darstellungsmittel der Momentaneität avanciert. Diese Frage begreift das Medium der Plastik primär in einer produktiven Funktion, dessen Darstellungsart die Erschaffung des prägnanten Moments erst ermöglicht, um ihn rekursiv als Dispositiv vor die Betrachteraugen zu bringen.77 Denn deren Mitwirkung erbittet ­Goethe ausdrücklich, um den in der Skulptur gezeigten Augenblick zeitlich zu beleben, das Vor- und Nachher imaginativ zu ergänzen. Es wirkt wie ein früher Anklang an den Film, wenn ­Goethe ein schnelles Öffnen und Schließen der Augen empfiehlt, um einen lebendigen Eindruck von der Figurengruppe zu erhalten.78 Führt Goethe zwar im Laokoon-Aufsatz anschaulich vor Augen, dass auch die Plastik zeitliche Abläufe visualisieren kann, betrachtet er als „eigentliches“ Medium für die künstlerische Darstellung des Naturdynamischen allerdings die Malerei. Hier verstrickt er sich in einen argumentativen Widerspruch: Entwertet er diese Kunst aufgrund des ihr pauschal unterstellten Täuschungsvermögens, betrachtet er sie für die Darstellung zeitabhängiger Bewegungen als besonders geeignet, womit er ihr letztendlich indirekt den mimetischen Aspekt abspricht: „Die Malerei hat ein viel weiteres Reich, eine freiere Natur, als die Plastik. Der Stoff, womit sie arbeitet, ist ungleich williger; und da überdem noch Farben, Licht und Schatten ganz in ihrer Macht sind, so kann sie jeden Naturgegenstand, oder wenigstens den Schein desselben täuschend nachahmen. Daher kömmt es auch, daß alles scheinbar lebendige, bewegliche, alles schwebende und leichte, bei gleichem Aufwand von Kunst und Fertigkeit allemal dem Maler besser als dem Bildhauer gelingen wird.“ 79

Das Kolorit als Gestaltungsmittel der Malerei hatte um 1800 eine ambivalente kunsttheoretische Position, gewann jedoch nach und nach an künstlerischem Eigenwert. Knapp 100 Jahre zuvor hatten sich im sogenannten Pariser Akademiestreit ­Poussinisten und Rubenisten gegenübergestanden, deren Auseinandersetzung sich an der Frage nach dem Vorrang von Farbe oder Linie entzündet hatte. Eng damit verbunden war die Frage nach der Hierarchie der dahinter stehenden Erkenntniskräfte. Die Linie, die der Poussinist Charles Le Brun verteidigte, stand für die Form, die dem Wesen, 77 Vgl. Mülder-Bach, Inka, Sichtbarkeit und Lesbarkeit. ­Goethes Aufsatz Über Laokoon, in: Baxmann, Inge / Franz, Michael / Schäffner, Wolfgang (Hg.), Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 465 – 479, hier S. 474. 78 Vgl. FA I.18, S.493 (Über Laokoon). 79 FA I.19, S. 364 (Neue Unterhaltungen).

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dem Geist und dem Sein zugeordnet wurde. Die Farbe, für die sich Roger de Piles als Vertreter der Rubenisten stark machte, symbolisierte Sinnlichkeit und Leben. Den Sieg, den die Rubenisten davontrugen, war eindeutig der farbenfrohen Malerei des Barock geschuldet. Die Mitte des 18. Jahrhunderts erneut entflammende, nun aber von den Klassizisten initiierte Diskussion um Linie und Farbe, Geist und Sinnlichkeit führte gegen Ende des Jahrhunderts zum Erstarken der Zeichnung als Leitmedium der bildenden Kunst, die Linie und Umriss besonders verpflichtet war.80 In den Kunsttheorien jener Zeit hatte die Farbe lediglich einen attributiven, der Form untergeordneten Charakter. So diente auch die Suche nach den Gesetzen der Farbgebung, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt betrieben wurde, primär dem Ziel, die lineare Formgebung durch den zweckgerichteten Einsatz des Kolorits zu unterstützen: „Daß in der Form der Körper überhaupt mehr Kraft liege als in ihrer Farbe, ist wol keinem Zweifel unterworfen. Die Form hängt aber größtentheils von der Zeichnung ab. Aber in den Gemählden scheinet eben diese Kraft der Form ihren Nachdruk vom Colorit zu bekommen. Die vollkommene Täuschung, der zufolge man im Gemählde nicht einen blos abgebildeten, sondern vorhandenen Gegenstand zu sehen glaubt, erhöhet und vollendet die Kraft der Formen. Wer wird sagen können, daß ein blos gezeichnetes Portrait bey der höchsten Vollkommenheit der Zeichnung so viel Eindruk auf ihn mache, als wenn zu dieser Zeichnung die völlige Wahrheit der Farben, und die daher entspringende Haltung und das Leben noch hinzukömmt? Man kann das Colorit mit der Schönheit des Ausdruks, die Zeichnung aber mit dem Sinn, oder dem nakenden Gedanken vergleichen. […] Wir wollen hier nur so viel anmerken, daß dem Mahler Zeichnung und Colorit, eines so wichtig wie das andere seyn müsse, und daß er bey merklichem Mangel sowol des einen, als des andern, kein vollkommener Mahler seyn könne.“ 81

Wie in diesem Zitat angedeutet, führte die von der klassizistischen Kunsttheorie angestrebte rationale Erfassbarkeit des Raums jedoch zu einem Nebeneffekt von unbeabsichtigter Tragweite, verschaffte sich das untergeordnete Darstellungsmittel der Farbe sein Recht: In der Forderung von klaren Einzeldarstellungen wurde es in Form des Gegenstands- und Lokalkolorits aufgewertet. Je klarer der Farbenwert nun definiert, je präziser er auf einen Gegenstand bezogen werden konnte, umso effektiver optimierten 80 Vgl. Rehfus-Dechêne, Birgit, Farbengebung und Farbenlehre in der deutschen Malerei um 1800, München 1982, S. 23 – 26. Vgl. zur Zeichnung als Leitmedium um 1800 die ausführliche Darstellung von Grave, Johannes, Medien der Reflexion. Die graphischen Künste im Zeitalter von Klassizismus und Romantik, in: Beyer, Andreas (Hg.), Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, 8 Bde., Bd. 6: Klassik und Romantik, München u.a. 2006, S. 439 – 454, hier S. 439 – 443. 81 Sulzer,  Johann Georg, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Vierter Theil, Hildesheim u. a. 1994 (Erstausgabe Leipzig 1794), S. 749.

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sich Umriss und Gegenstandsfarbe wechselseitig – besonders in der Historienmalerei. Während das auf Einzelgegenstände bezogene, Plastizität erzeugende Helldunkel beibehalten wurde, lösten die Klassizisten durch Reduzierung des bildumfassenden Helldunkels, das die Einheit aller Elemente des Gemäldes bewirkte, den malerischen Zusammenhang auf. In der Folge wurden Farbe, Licht und Schatten im Gesamtmotiv getrennt. In zahlreichen Gemälden führte die Reduktion von Reflexen, Farbabstufungen und anderen verbindenden Elementen zu einer verstärkten Kontrastwirkung, die dem Kolorit einen abstrakten und allgemeinen Charakter gab. Vielfach wurden reine Buntwerte nach dem Gesetz der Komplementärfarben kombiniert. Die Lösung fester Bildbezüge, die Heraushebung von Einzelobjekten durch Farbe und z. T. durch gegenstandsbezogenes Helldunkel sowie ein verändertes Verhältnis der Gegenstände untereinander durchbrachen und unterwanderten die zentralperspektivische Darstellung. Diese Phänomene brachten eine Dissoziation des Räumlichen mit sich, die auch als pictoral holes bezeichnet wird.82 In der Bildgestaltung begann die Macht der Farben, die geometrische Ordnung des Raums zu sprengen und sich an ihre Stelle zu setzen. Wie für viele klassizistische Kunsttheoretiker seiner Zeit war für Goethe nicht die Farbe, sondern das Disegno entscheidend. Er sah nicht sie, sondern die Linie als primäres Gestaltungsmittel des Bildes an. Diese Rangfolge begründet er wie bei der Plastik ebenfalls mit dem Abstraktionspotential dieses Darstellungsmittels, das er in einer biologischen Metapher mit der intellektuellen Leistung des Künstlers engführt: „Der Charakter [eines Werkes – S. Sch.] erscheint nur noch in den allgemeinsten Linien, welche durch die Werke, gleichsam wie ein geistiger Knochenbau, durchgezogen sind.“ 83 Der Vollendung des Bildeindrucks, der Kennzeichnung des Bildes als ein solches dient nach seiner Meinung jedoch allein die Farbe, womit er das künstlerische Primat der Linie entwertet: „Alle Darstellung der Form ohne Farbe ist symbolisch, die Farbe allein macht das Kunstwerk wahr.“ 84 Mit der Farbgebung und ihren Wirkungen setzte sich Goethe außerhalb seiner Arbeiten zur Farbenlehre explizit in der kunsttheoretischen Schrift Diderots Versuch über die Malerei auseinander. In diesem Text zieht er gegen dessen Auffassung des Natürlichen und die Naturnachahmung zu Felde, die er in Diderots Konzept auszumachen glaubt. Goethe beschreibt in dieser Arbeit die Farbe als ein Oberflächenphänomen und bindet sie rezeptionsästhetisch an die Wahrnehmung und Empfindung – die Farbe, „die nur ans Gefühl Anspruch macht und also auch durchs Gefühl gleichsam instinktmäßig 82 Vgl. Rehfus-Dechêne, Birgit, Farbengebung und Farbenlehre, a. a. O., S. 23 – 29, 39, 72, 80 und S. 87. Gemälde mit fließenden Übergängen verschwanden jedoch keineswegs, noch im späten Klassizismus lassen sich zwei Hauptarten der Helldunkel-Farbe-Konstruktion ausmachen: Die Farbe steht – wie eben dargelegt – isoliert in starkem Gegensatz zwischen Licht und Schatten, oder Licht und Schatten gleiten in die Buntfarben über, bis sie diese ganz absorbieren. Vgl. ebd., S. 69. 83 FA I.18, S. 704 (Der Sammler und die Seinigen). 84 FA I.18, S. 590 (Diderots Versuch).

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hervorgebracht werden kann“.85 Wie in diesem Zitat angedeutet und im Verlauf der vorliegenden Arbeit noch ausführlich dargelegt wird, sieht er die Harmonie des Kolorits in der Aktivität des Auges begründet, das auf eine bestimmte äußere Farbe gesetzmäßig eine andere erzeugt. Er beklagt die mangelhafte Theorie der Farbgebung und fordert die Maler auf, ihren Blick an den Gegenständen zu bilden, um deren richtige und reine Farbe unter wandelnden Bedingungen erkennen und künstlerisch darstellen zu können. Anders als Goethe wertet Diderot die Linearität der Zeichnung niedriger als die Farbgebung, verdrängt diese aber als „der göttliche Hauch, der alles belebt“,86 letztendlich ins Reich der Metaphysik. Indem Goethe und Diderot die Farbe – physisch wie metaphysisch – als vitale Erscheinung beschreiben, setzen sie indirekt die Linie mit einem toten, weil abstrakten Zeichen gleich – eine Ansicht, die nicht zuletzt durch die oben zitierte Symbolhaftigkeit der reinen Form bestätigt wird. Bei der Kompetenzzuweisung für eine gelungene Farbgebung scheiden sich die Geister: Während Diderot jedem Menschen die Fähigkeit zugesteht, über die Farbe zu urteilen, ist nach Goethe nur der Meister zur wahren Farbgestaltung und -bewertung in der Lage. Obwohl Goethe erkennt, dass es in puncto Farbgebung besondere Talente gibt, setzt er auf die Schulung des Künstlerauges, die eine Brücke von den Toten zu den Lebenden schlägt: Neben dem Blick auf die Phänomene empfiehlt er den Malern sowohl das Farbstudium an den Werken berühmter Meister als auch die Lehre bei einem guten Koloristen, um deren Methoden der Naturerkenntnis und ihrer künstlerischen Reflexion kennenzulernen.87 Mit diesem Ansatz widerspricht er Diderots Auffassung, der durch die Schulung den unverfälschten Könnerblick auf die Natur gefährdet sieht. Auch in seiner eigenen Zeichenpraxis ordnet Goethe die Farbe der Linie unter. Mit seiner starken eidetischen Veranlagung war er selbst in der Lage, die Natur künstlerisch zu erschließen, wie er in Dichtung und Wahrheit schreibt: „Das Auge war vor allen anderen das Organ, womit ich die Welt fasste. […] wo ich hinsah, erblickte ich ein Bild“.88 Von seiner intensiven Zeichenpraxis zeugen die ca. 2.000 Zeichnungen, die er bei seinem Tod hinterließ. Es erstaunt allerdings, dass die praktische Farbgebung bei ­Goethe nur eine unbedeutende Rolle spielte. 1774 bemühte er sich, in der Frankfurter Malerwerkstatt des Dekorateurs Johann Andreas Benjamin Nothnagel die Ölmalerei zu erlernen, beendete diese Versuche jedoch erfolglos. Auf seiner ersten italienischen Reise erlernte er das Kolorieren bei Albert Christoph Dies, einem Hannoveraner Maler, und bei Jakob Philipp Hackert, der u. a. einige Jahre Hofmaler des Königs von Neapel war. Die ersten farbigen Aquarelle fertigte G ­ oethe 1787 in Rom in

85 Ebd., S. 586. 86 Ebd., S. 585. 87 Vgl. FA I.18, S. 516 – 519 (Gutachten über die Ausbildung eines jungen Malers). 88 WA I,27, S. 16 (Dichtung und Wahrheit).

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einer Serie von mehr als 12 Blättern.89 Obwohl er in diesem Kontext den Umgang mit dem Kolorit als „Lust mit Farben zu spielen“ 90 bezeichnete, kann dieser keinesfalls als kreatives Experiment betrachtet werden. Wie Werner Busch herausarbeitet, schulte ­Goethe bei diesem Italienaufenthalt seinen künstlerischen Blick nicht nur unvermittelt an den Naturgegenständen, sondern durchlief bei mehreren klassizistischen Malern wie Johann Heinrich Wilhelm Tischbein und Angelika Kauffmann eine kunstakademisch geprägte Ausbildung, in der er die traditionelle rational-lineare Bildgestaltung erlernte. Dieser Unterricht führte dazu, dass er durch die Perspektive anderer, die sich vor seinen unverfälschten Blick auf die Natur schob, auf die Phänomene blickte: „Es ist geradezu tragisch zu beobachten, wie ­Goethe sich an konventionellen Formen und vor allem Ausbildungsprinzipien abmüht und nicht erkennt, daß gerade ihr Verfolg es ist, der die so sehr erstrebte anschauende Kenntnis in Sachen bildender Kunst verhindert.“ 91 In ­Goethes italienischen Motiven hatte sich das Kolorit dem Umriss zu fügen, stellten Formfindung und Farbgebung zwei getrennte Schritte dar. Das Kolorieren selbst begriff ­Goethe als etwas Akzidentelles, das den Charakter des Motivs nicht beeinflusste. Das Darstellungsmittel der Farbe richtete sich lediglich nach der künstlerischen Gesamtkomposition des Bildes, reflektierte jedoch G ­ oethes Naturerfahrung nicht. Diese traditionelle Herangehensweise verhielt sich geradezu anachronistisch gegenüber der oben beschriebenen allgemeinen Emanzipation der Farbe in der Kunst: „Um es in einem Satz zu sagen: ­Goethes Kunstbegriff mit seinem letztlichen Zielen auf klassische Vollkommenheit und die Konvention klassischer Landschaftsauffassung läßt ein unmittelbares bildkünstlerisches Äquivalent für Natur- und Farberfahrung weder denkbar noch erstrebenswert erscheinen.“ 92 Trotz seiner kunstakademisch orientierten Ausbildung in Italien blieb für ­Goethe eine bereits früh erlernte zeichnerische Darstellungsart bis zu seinem Tode die wichtigste: die rasche Skizze eines unvermittelt wahrgenommenen Totaleindrucks einer Landschaft. In seinen ersten Weimarer Jahren entstanden zahlreiche, noch dem Sturm und Drang verpflichtete Zeichnungen, deren flüchtige Skizzen die natürlichen Impressionen so unverfälscht wie möglich wiederzugeben versuchten. Nicht das vollendet-harmo­ nische Kunstschöne, sondern das Charakteristische und Besondere hob G ­ oethe hervor, womit er sich bereits in dieser frühen Zeit der Abstraktion bediente. Von den damals

89 Von diesen Blättern schickte er zehn an Charlotte von Stein nach Weimar. Vgl. Bergmann, Günther, ­Goethe – Der Zeichner und Maler. Ein Porträt, München 1999, S. 96 – 102 sowie S. 137 – 162; vgl. Maisak, Petra, Johann Wolfgang von G ­ oethe. Zeichnungen, Stuttgart 1996, S. 10 sowie S. 22 – 23; vgl. auch Busch, Werner, Die „große, simple Linie“ und die „allgemeine Harmonie“ der Farben. Zum Konflikt zwischen G ­ oethes Kunstbegriff, seiner Naturerfahrung und seiner künstlerischen Praxis auf der italienischen Reise, in: G ­ oethe-Jahrbuch 105 (1988), S. 144 – 164, hier S. 149. 90 WA IV,8, S. 184 (­Goethe an Charlotte von Stein vom 13. – 17. Februar 1787). 91 Busch, Die „große, simple Linie“, a. a. O., S. 148. 92 Ebd., S. 149 – 150 sowie S. 158 – 159, Zitat S. 152.

1.2  Laokoon als Konkurrent der Farben?

gefertigten Skizzen, die eindrucksvoll Augenblicksstimmungen der Natur festhielten, existieren heute noch ca. 280 kleine Bilder.93 Unter diesen Bildern befinden sich zahlreiche Mondlandschaften und fixierte Blicke in die Dämmerung, die im Sturm und Drang als Symbol für Chaos und Schöpferkraft, für den „Nullpunkt“ der Unordnung und das ihm implizite Gestaltungspotential standen. Der in diesen Motiven dominierende Totaleindruck zeigt z. T. unscharfe Umrisse, denen ­Goethe alles Zufällige, Abweichende und Detaillierte subsumierte. Die Zeichnung war bei G ­ oethe nicht Teil eines längeren Werkprozesses, sondern Produkt des ersten Anlaufs, des Zusammentreffens von Landschaft und zeichne­ rischer Intuition auf dem Papier. ­Goethes Auge und Hand gingen eine schöpferische, vom Moment der Betrachtung untrennbare Allianz ein, so dass Sehen und Zeichnen in ein interdependentes Verhältnis traten. Die skizzenhaft gestalteten Zeichnungen zeigen nicht nur die gelungene geistige Durchdringung der Natur, sondern sprechen auch die visuelle, nicht aber die haptische Imaginationskraft des Betrachters an. Die Gegenstände gestaltet G ­ oethe nicht plastisch-konturiert und sinnlich-anschaulich im Raum, sondern in Hell-Dunkel-Flächen, die ein lockeres Bildmuster ergeben.94 Drei Gründe könnten für Goethes Beibehaltung des Skizzenhaften ausschlaggebend sein: Da erstens im Medium der Zeichnung die Spanne zwischen Idee und Ausführung am geringsten ist, erwies sich die spontane Skizze als adäquatestes Darstellungsmittel auf Goethes Reisen und für andere Momentaufnahmen – auch in seinen Experimenten zur Farbenlehre, wie in Kapitel 5.2 gezeigt wird. Zweitens führte in der allgemeinen Kunstpraxis Ende des 18. Jahrhunderts die klassizistische Vorherrschaft der Linie zu farblich zurückhaltenden Handzeichnungen – eine Entwicklung, die sich sicherlich auch auf Goethes Zeichenpraxis auswirkte. Die Handzeichnung hatte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus ihrer servilen Funktion im umfassenderen Werkprozess herausgelöst. Sie wurde nicht nur zu einer eigenständigen Gattung, sondern zum bedeutendsten zeitgenössischen Medium in der bildenden Kunst. Ein dritter Grund könnte darin zu suchen sein, dass sich Goethe seines mangelnden Kolorierungstalents durchaus bewusst war. Vielleicht gab er aus diesem Grund zahlreiche farbenprächtige Vor-Bilder von vornherein nur in Linien und Hell-Dunkel-Darstellungen wieder.95 Die Farbe diente Goethe ursprünglich nicht als eigenständiges Untersuchungsobjekt, sondern war für ihn nur Mittel zum Zweck: Entsprechend der um 1800 postulierten Verwandtschaft der Künste suchte er nach den Regeln poetischer Formgebung und hoffte, diese über ein Vergleichsmedium zu finden: die Malerei. Anders als die Poesie zeigte diese ihre Gestaltungsregeln in sichtbaren Resultaten. Im Rückgriff auf die Malerei suchte Goethe nach der erforderlichen analytischen Distanz, um literarische

93 Vgl. Maisak, G ­ oethe Zeichnungen, a. a. O., S. 9. Vgl. Bergmann, ­Goethe, a. a. O., S. 43. 94 Vgl. Bergmann, G ­ oethe, a. a. O., S. 150 – 151. Vgl. Maisak, G ­ oethe Zeichnungen, a. a. O., S. 25. 95 Diese Interpretation erfolgte in Anlehnung an Maisak, Goethe Zeichnungen, a.a.O., S. 10 – 11.

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1.  Natur und Kunst der Farben

Kompositionsmittel zu finden und Stiltechniken zu erlernen. Bald musste er jedoch die Farbgebung als blinden Fleck der Malerei ausmachen, da sie nicht nach objektiven Kriterien erfassbar war: „Aber ich konnte nur bemerken, daß die lebenden Künstler bloß aus schwankenden Überlieferungen und einem gewissen Impuls handelten, daß Helldunkel, Kolorit, Harmonie der Farben immer in einem wunderlichen Kreise sich durcheinander drehten. Keins entwickelte sich aus dem andern, keins griff notwendig ein in das andere. Was man ausübte, sprach man als technischen Kunstgriff, nicht als Grundsatz aus.“ 96

Die von ­Goethe erkannte Leerstelle fehlender Kolorierungsregeln führte ihn zur bis heute umfangreichsten und differenziertesten Studie über die Farben. Musste sich die Farbe in seiner Kunsttheorie und italienischen Kunstpraxis der Linie fügen und hatte in diesem Bereich keine eigenständige Daseinsberechtigung, inspirierte sie G ­ oethe zu einer epistemologischen Theorie des Sinnlichen, die den physika­lischen Versuch, die physiologischen Farben und die psychologischen Farbwirkungen gleichermaßen integriert und im Werk Zur Farbenlehre ihre diskursive Macht entfaltet. In seinen Farbstudien erkannte ­Goethe, dass sich Harmonie und Wahrheit des Kolorits – wie er in Diderots Versuch über die Malerei postuliert –, nicht über die künstlerische Nachahmung der dargestellten Gegenstände finden lassen, sondern nur durch Harmonieregeln, die auf den Vollzügen des Sehens und der menschlichen Empfindung basieren.97 Zu diesen physiologischen und psychologischen Farbstudien gelangte G ­ oethe durch seine physikalische Beschäftigung mit den chromatischen Erscheinungen. Beginnt bei ­Goethe die Schaffung des Kunstwerks bereits im menschlichen Blick, erzeugt der Beobachter in dessen physikalischen Experimenten die Farbe ebenfalls durch ein tätiges Auge, das mit einem trüben Mittel zusammenwirkt. Steht das Chaos des Trüben in ­Goethes Landschaftszeichnungen lediglich als Symbol für ein schöpferisches Potential, wirkt es in dessen physikalischen Versuchen als produktives Medium für die sichtbare Gestaltung der Farben. Exponiert die Abstraktion in G ­ oethes ästhetischen Schriften den Unterschied zwischen Artefakt und Natur, bereinigt und abstrahiert er die physikalischen Versuchsergebnisse anders als in der Kunst durch wiederholte Vergleiche dieser Resultate mit einer gegenständlichen Natur. In seinen Versuchen richtet er eine zeitgenössische experimentelle Methode an einer Ästhetik der Bilder aus.

96 LA I.6, S. 416 (Farbenlehre, Historischer Teil, Konfession des Verfassers). 97 Vgl. FA I.18, S. 589 (Diderots Versuch). Vgl. Pietsch, Annik, Gesetze der Farbe um 1800 – Johann Wolfgang ­Goethes Farbenlehre und die Farben-Kugel von Philipp Otto Runge im Spiegel der Kunst ihrer Zeit, in: color continuo. 1810 … 2010 … System und Kunst der Farbe, hg. v. Konrad Scheurmann, Dresden 2009, S. 54 – 61, hier S. 56 – 57.

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2.

Die Medialität des physikalischen Versuchs

2.1 Blick für Blick zur Abstraktion – ­Goethes experimentelle Methode Am intensivsten beschäftigte sich G ­ oethe in seinen Farbstudien mit der physikalischen Erzeugung der Farben. In Auseinandersetzung mit der newtonischen Strahlenphysik ging er der methodischen Reflexion ihrer experimentellen Produktion nicht nur im gesamten polemischen Teil der Farbenlehre nach. Er widmete diesen Phänomenen auch die umfangreichsten Ausführungen im didaktischen Teil und betrachtet als das wichtigste Medium ihrer Generierung das Experiment. ­Goethes physikalische Farbversuche lassen sich – wie in den Experimentalwissenschaften um 1800 und auch heute noch üblich – unter zwei allgemeinen funktionalen Aspekten betrachten: als Mittel der Erkenntnisgewinnung und als didaktisches Darstellungsmittel. Dieses diente in G ­ oethes Zeit besonders im halböffentlichen Kreis und in der universitären Lehre als praktische Demonstrationsinstanz bereits getätigter Erkenntnisse. Beide Funktionen können auch ineinander umschlagen.1 Der Versuch als didaktisches Darstellungsmittel, das in bestimmten Fällen auch für G ­ oethe eine erkenntnistheoretische Funktion besitzt, wird im Analysekontext der Zeichnungen zu seinen Farbstudien in Kapitel 5.2 thematisiert. Die nachfolgenden Ausführungen hingegen stellen das Experiment als Erkenntnismittel vor. Der physikalische Versuch fungiert in G ­ oethes Farbstudien als Medium zwischen Beobachter und Natur. ­Goethe betrachtet ihn als ein kohärentes Netz ineinander wirkender Faktoren. Auf das Zusammenspiel dieser Entitäten richtet ­Goethe sein Hauptaugenmerk. In diesem Kontext postuliert er zwei epistemologische Aufgaben des Versuchs: Bezüglich des Untersuchungsgegenstandes dient das Experiment der Erkenntnisgewinnung und der Objektivitätssicherung der Versuchsdaten. Es wirkt als datenproduzierendes Medium. Auf Beobachterseite fungiert es als Regulierungsmittel der subjektiven Erkenntnisvermögen und als verhaltensstrukturierendes Dispositiv, wie in Kapitel 2.3 dargelegt. Nachfolgend wird vorgestellt, auf welche Weise ­Goethes prozessuales experimentelles Vorgehen zur Konstituierung zuverlässiger Versuchsergebnisse führt. Ihre Objektivität generiert er – ohne Bruch zwischen Signifikat und 1

Zur oben getroffenen Einteilung vgl. Stichweh, System wissenschaftlicher Disziplinen, a. a. O., S. 269. In seiner Argumentation legt er am Beispiel von Experimenten zur Elektrizität dar, wie eine Funktion auch in die andere umschlagen kann. Beispielsweise werden hier neue Entdeckungen durch Ladungserhöhungen gemacht, die ursprünglich der besseren Veranschaulichung für das Publikum dienen sollten. Vgl. ebd., S. 272 – 273.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

Signifikant – direkt an den Phänomenen. In ihren Entstehungskontext bindet er bewusst die Aktivitäten des Auges ein. Ausgehend vom Immanenzprinzip seiner pantheistischen Naturauffassung, welche die Phänomene als sichtbare Selbstexplikationen des göttlichen Einen und damit als mediale Träger von Botschaften begreift, postuliert G ­ oethe eine generelle Erkenntnismöglichkeit der Natur. Die Farbe beschreibt er als ihr Offenbarungsmittel, das sich speziell an den Sinn des menschlichen Auges richtet.2 Angeregt durch Kants Kritik der reinen Vernunft, die ­Goethe nach seiner ersten Italien-Reise um 1788/1789 rezipierte, an welcher er jedoch die Ausschließlichkeit der erkenntniskonstituierenden Rolle des Subjekts ablehnte,3 konzipiert er den Menschen erkenntnistheoretisch als bedeutendstes Organ der Natur. Nur in ihm als denkendem Wesen vermag diese ihre sich in den Phänomenen explizierenden Regeln zu erkennen.4 Indem G ­ oethe die Kompetenz für die Welterkenntnis dem Menschen zuweist, lenkt auch er den Erkenntnisweg vom experimentellen Untersuchungsgegenstand zum Subjekt – eine Kompetenz, die ex negativo primär die Rolle des Menschen als eines potentiellen Störfaktors der Erkenntnis impliziert. Ein gedankenloses Selbstgespräch zwischen Natur und Mensch ist nach ­Goethe unmöglich, da jederzeit Erkenntnisfehler auftreten können: „[…]; aber die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen. Den Unzulänglichen verschmäht sie, und nur dem Zulänglichen, Wahren und Reinen ergibt sie sich und offenbart ihm ihre Geheimnisse.“ 5 Dieses epistemologische Ungleichgewicht führt G ­ oethes naturphilosophisch geprägte Weltauffassung eines harmonischen MikroMakrokosmos-Verhältnisses zwischen übermächtiger Natur und Mensch ad absurdum, die in ­Goethes Experimentalmethode spannungsreich auf seine transzendentalphilo­ sophisch beeinflusste Subjekttheorie trifft. Versucht der empirische Forscherblick die Naturgesetze zu erkennen, geschieht dies aus Gründen der Verobjektivierung – ­Goethes eigenen Beteuerungen zum Trotz – nicht auf natürliche Weise, sondern im experimentellen und damit künstlich produzierten medialen Vorgang. 2 Vgl. LA I.4, S. 19 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Einleitung). 3 ­Goethe beschäftigte sich von seiner Rückkehr aus Italien bis zu seinem Lebensende mit den Werken Immanuel Kants. Zur zeitlichen Einordnung von ­Goethes Kant-Studien vgl. Vorländer, Karl, Kant. Schiller. ­Goethe. Gesammelte Aufsätze, Leipzig 1907. Zur Bedeutung des Einflusses von Kants kritischer Theorie auf ­Goethes Erkenntnistheorie vgl. folgende Aussage ­Goethes: „Ich danke der kritischen und idealistischen Philosophie, daß sie mich auf mich selbst aufmerksam gemacht hat, das ist ein ungeheurer Gewinn; sie kommt aber nie zum Object, […]“. WA IV,49, S. 82 (­Goethe an Christoph Ludwig Friedrich Schultz am 18. September 1831). 4 Vgl. zur herausgehobenen Position des Menschen in der Natur folgende Aussage ­Goethes: „Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.“ LA I.9, S. 307 (Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort). 5 ­Goethe zu Eckermann am 13. Februar 1829, in: Eckermann, Gespräche mit G ­ oethe, a. a. O., S. 295.

2.1  Blick für Blick zur Abstraktion – ­Goethes experimentelle Methode

Basierend auf der erkenntnistheoretischen Bedeutung des Subjekts benutzt ­Goethe ein Experimentalverfahren, das auf der Methode der Pluralisierung beruht. In der Zusammenstellung von Versuchsreihen werden unterschiedliche Perspektiven auf das zu untersuchende Objekt ermöglicht, um aus der Vielzahl dieser Blicke die Wahrheit der Natur zu extrahieren. Die Wahl dieser Methode wurde sicherlich durch G ­ oethes Bewertung von Sammlungen beeinflusst, die er als entscheidendes Mittel des Wissenserwerbs betrachtete. G ­ oethe, der selbst ein passionierter Sammler war,6 diente das Kollektieren von Gegenständen zur Entwicklung und Beantwortung von Fragen, aber auch zur Schulung des die Objekte vergleichenden Sehens. Diese Methode stellt er in seinem 1792, jedoch erst 31 Jahre später veröffentlichten Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt 7 vor. Der Text entstand wahrscheinlich in indirekter Auseinandersetzung mit der Farbentheorie Newtons.8 Im polemischen Teil der Farbenlehre wirft G ­ oethe Newton drei kardinale methodische Vergehen vor: Erstens gehe Newton von Hypothesen und damit gedanklichen, erfahrungsunabhängigen Konstrukten aus, nach denen er seine Experimente konstruiere und die Phänomene künstlich ordne. Statt sich auf sinnlich wahrnehmbare Dinge zu konzentrieren, argumentiere Newton mit Definitionen, Axiomen und Theo­ remen. Zweitens habe Newton keinen klaren methodischen Weg, der nach ­Goethe von den Erfahrungen zu den Grundsätzen oder umgekehrt sowie vom Einfachen zum Komplexen fortschreite, sondern wechsele nach Belieben zwischen Grundsätzen und Erfahrungen, setze das Komplizierte an die Stelle des Einfachen. Drittens besitze nicht das natürliche und künstliche Sehen bei Newton wissenschaftliche Evidenz, sondern allein die mathematische Behandlung der Phänomene.9 Die bei Newton kritisierte Herrschaft des Geistes über die Sinne führe zu einer Vorherrschaft der zergliedernden

6 ­Goethe sammelte im Laufe seines Lebens 18.000 geowissenschaftliche Objekte, ca. 1.000 anatomischzoologische Gegenstände, 2.500 botanische Belege und 1.100 Objekte inklusive der einschlägigen Graphiken für seine Farbversuche und -studien. Vgl. Maul, Gisela, Die naturwissenschaftlichen Sammlungen ­Goethes, in: Acta Historica Leopoldina 62 (2013), S. 199 – 224. Darüber hinaus sind heute 26.511 in ­Goethes Besitz befindliche Kunstgegenstände katalogisiert. Vgl. Dahnke, HansDietrich, Kunstsammlungen, in: ­Goethe-Handbuch in vier Bänden, Bd. 4/1: Personen – Sachen – Begriffe A–K, hg. v. ders. / Regine Otto, Stuttgart / Weimar 1998, S. 639 – 644, hier S. 639. 7 Der Aufsatz erschien im ersten Heft des zweiten Bandes der Schriftenreihe Zur Naturwissenschaft überhaupt. 8 Der Text ist vermutlich eine Reaktion auf die negative Rezension des ersten Stücks der Beiträge zur Optik in der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 28. Januar 1792, in der ein unbekannter Kritiker darlegt, dass G ­ oethes prismatische Farbphänomene auch mit Newtons Theorie erklärbar seien. Vgl. Engelhardt, Wolf von, „Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt“. ­Goethes Aufsatz im Licht von Kants Vernunftkritik, in: Athenäum 10 (2000), S. 9 – 28, hier S. 10. Vgl. LA I.3, S. 54 – 59 (Erste Rezension). 9 Vgl. in der Reihenfolge der indirekten Zitate LA I.5, §§ 2, 8, 6, 7 und 9, S. 1 – 4 (Farbenlehre, Polemischer Teil).

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

analytischen Methode, die sich in der Dekontextualisierung von Phänomenen in Einzelversuchen und in künstlichen, naturfernen Syntheseleistungen zeige: „Wenn von einer Seite eine jede Erfahrung, ein jeder Versuch ihrer Natur nach als isoliert anzusehen sind, von der andern Seite die Kraft des menschlichen Geistes alles, was außer ihr ist und was ihr bekannt wird, mit einer ungeheuern Gewalt zu verbinden strebt, so sieht man die Gefahr leicht ein, welche man läuft, wenn man mit einer gefaßten Idee eine einzelne Erfahrung verbinden oder irgendein Verhältnis, das nicht ganz sinnlich ist, das aber die bildende Kraft des Geistes schon ausgesprochen hat, durch einzelne Versuche beweisen will.“ 10

In seinem berühmten experimentum crucis hatte Newton durch ein Loch im Fensterladen, vor welches er ein Prisma hielt, Sonnenlicht in ein verdunkeltes Zimmer fallen lassen. Das Bild auf der gegenüberliegenden Wand war nicht – wie die anerkannten Brechungsgesetze es nahelegten – rund wie das Fensterloch, sondern fünfmal so lang wie breit erschienen. Nachdem er verschiedene Teile des Farbenspektrums isoliert hatte und durch ein zweites Prisma brechen ließ, erkannte Newton, dass diese Strahlen zwar unterschiedlich stark refraktiert wurden, dass jedoch kein Spektrum, d. h. kein verlängertes farbiges Lichtbild, entstanden war. Daraus schlussfolgerte er, „daß das Licht aus unterschiedlich brechbaren Strahlen besteht, die, unabhängig von der Verschiedenheit des Einfallswinkels, je nach ihrem Grade der Brechbarkeit zu verschiedenen Stellen der Wand geleitet werden“.11 Mit diesem methodischen Zugriff verlegt er die Begründung der Farbentstehung in den Bereich des Nichtvisuellen. Wurden Ende des 18. Jahrhunderts Prismenversuche als bildhaftes Paradigma des In-Kontakt-Kommens mit dem Unsichtbaren und Unbegreiflichen betrachtet,12 bildet bei Newton der Einsatz des optischen Mittels den Umschlagpunkt von unsichtbaren, lediglich mathematisch „mikroskopierten“ Lichtbestandteilen zur Visualität der Farben. Newton ordnet jeder einzelnen Farbe eine spezifische Brechungszahl zu, die er als Ursache für ihre jeweilige Entstehung begreift. Die Dunkelheit existiert bei ihm nur als Verneinung, als Negation des Lichts, die zwar als dessen gleichberechtigtes Gegenstück gilt, jedoch nur in besonderen Fällen zur Farbentstehung beiträgt.13 10 LA I.3, S. 291 (Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt). 11 Newton, Isaac, New Theory about Light and Colors, zit. n. Lohne, J. A. / Sticker, Bernhard, Newtons Theorie der Prismenfarben. Mit Übersetzung und Erläuterung der Abhandlung von 1672, München 1969, S. 25. Aufgrund dieser Erklärung hielt Newton die chromatischen Fehler der Linsen für unvermeidlich. Vgl. ebd., S. 11. Erst John Dollond gelang es 1757/58, durch Kombination von Glaslinsen verschiedener Brechkraft die Farbentwicklung zu vermeiden. 12 Vgl. Stafford, Barbara Maria, Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment, Art and Medicine, Cambridge (MA) / London 1991, S. 361. 13 Vgl. hierzu die Interpretation Friedrich Steinles: „Shadow is not simply nothing, but in a certain respect it is a symmetrical counterpart to light. It is certainly the case that darkness is to be found where no light is present. It is also the case, however, that every weakening of light by any material

2.1  Blick für Blick zur Abstraktion – ­Goethes experimentelle Methode

Da G ­ oethe allein die sinnliche Präsenz der Phänomene als Erkenntnisbasis versteht, sucht er anders als Newton ausschließlich in der sichtbaren Welt nach dem Wie der Farbentstehung, nach den „verschiedenen Bedingungen, unter welchen die Farbe sich zeigen mag“.14 In seinen physischen, d. i. physikalischen 15 Versuchen erscheinen die meisten Farben an und in einem materiellen Mittel: als Reflexionsphänomene an Spiegelflächen (katoptrische Farben), als Beugungsfarben um Körper herum (parop­ tische Farben) und als Oberflächenphänomene (epoptische Farben). Sein Hauptaugenmerk richtet ­Goethe jedoch auf die Refraktionsphänomene, die dioptrischen Farben. Während Newtons Farbdiskurs von der Transparenz des optischen Systems ausging, stellt ­Goethe bei der Beschäftigung mit den Brechungsfarben neben den „Löchern im Licht“,16 dem schattenhaften Dunkel, besonders das Trübe ins Zentrum seiner Betrachtungen. Er zeigt die dioptrische Farbentwicklung als ein von Differenzen geprägtes Phänomen. An einer Grenze, in einem Zusammenspiel von Hell und Dunkel, Licht und Schatten entwickeln sich die Farben in einem trüben Mittel: „Wir sehen auf der einen Seite das Licht, das Helle, auf der andern die Finsternis, das Dunkle, wir bringen die Trübe zwischen beide, und aus diesen Gegensätzen, mit Hülfe gedachter Vermittlung, entwickeln sich, gleichfalls in einem Gegensatz, die Farben, deuten aber alsbald, durch diesen Wechselbezug, unmittelbar auf ein Gemeinsames wieder zurück.“ 17 Sie können auch nur durch das Zusammenwirken des Trüben mit dem Hellen oder Dunklen allein entstehen. Das Trübe kann sowohl materiell als auch immateriell sein. Die Unschärfe des Phänomens spiegelt sich in G ­ oethes Begriffsbildung, da er das Trübe an keiner Stelle explizit definiert. Er ordnet ihm natürliche und künstliche Erscheinungen gleichermaßen zu. Im didaktischen Teil der Farbenlehre reiht er die trüben Mittel ihren Aggregatzuständen entsprechend vom Gasförmigen zum Festen diskursiv aneinander: von atmosphärischen Erscheinungen über das Meerwasser und das feste Mittel des Opals bis hin zu Gebrauchsgegenständen wie blinden Fensterscheiben

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medium is to be regarded as involving darkness.” Vgl. Steinle, Friedrich, Newton’s Rejection of the Modification Theory of Colour, in: Petry, Michael John (Hg.), Hegel and Newtonianism, Dordrecht u. a. 1993, S. 547 – 556, hier S. 555. LA I.4, S. 19 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Einleitung). Im Kontext der physikalischen Versuche werden die Begriffe physisch und physikalisch identisch verwendet. Vgl. zur Bedeutung des Schattens in der französischen Wahrnehmungspsychologie des 18. Jahrhunderts Baxandall, Löcher im Licht, a. a. O. Vgl. Crary, Techniken des Betrachters, a. a. O., S. 78 – 79. Die Aufwertung des Trüben in ­Goethes Lehre bezieht Crary ausschließlich auf die Lichtundurchlässigkeit des Auges und damit auf die Physiologie des Sehens, nicht aber auf das physikalisch-objektive Medium des Trüben, wie ­Goethe dies tut. Bei der Physiologie des Auges betrachtet G ­ oethe jedoch hauptsächlich die Leistung der Netzhaut, nicht aber – wie in Kapitel 3.2.1 gezeigt wird – die Funktionen von Linse und Glaskörper, welche die Eigenschaft des Trüben besitzen. LA I.4, § 75, S. 71 (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

und Prismen und Linsen in Experimentalkonstellationen.18 In seinen Versuchen setzt ­Goethe das komplexe Trübe als Entstehungsforum der Farben gegen die diskontinuierliche Datenflut des arbiträren Zeichensystems der Mathematik. ­Goethe schuf mit seiner Theorie keinen neuen Entwurf, sondern lehnte sich an bereits bestehende Traditionen an, die durch das herrschende Paradigma der newtonischen Optik entkräftet worden waren. Neben Newtons Theorie, alle Farben des Spektrums überlagern sich im weißen Licht und können durch Brechung eines Lichtstrahls in ihrer Individualität sichtbar gemacht werden, existierten zu Beginn des 18. Jahrhunderts zwei weitere zunehmend verdrängte Theorien: Eine besagte, die Farben seien keine Bestandteile des Lichts, sondern würden durch Interaktionen zwischen diesem und materiellen Medien entstehen, die es auf bestimmte Weise modifizieren. Diese Theorie gilt als grundlegende Modifikationstheorie. Eine weitere ging davon aus, dass die Farbe in einem Medium durch das Zusammenwirken von Licht und Schatten erzeugt wird. An die Tradition dieser Theorie, die ein Sonderfall der zweitgenannten ist, schloss G ­ oethe an.19 Der Erkenntnisprozess der physikalischen Farbgesetze basiert bei ­Goethe auf dem Konzept einer organismisch organisierten Natur. Er begreift diese als eine große Synthese, auf die sich die Analysearbeit des Forschers zu richten hat.20 Die natürliche Verknüpfung der in einem interdependenten Verhältnis stehenden Phänomene betrachtet ­Goethe als Punkte eines Netzes, da man „von einem jeden Phänomene sagen [kann], daß es mit unzähligen andern in Verbindung stehe, wie wir von einem frei schwebenden leuchtenden Punkte sagen, daß er seine Strahlen auf allen Seiten aussendet“.21 Um den Netzcharakter der Natur, um die Verbindungen ihrer Phänomene freizulegen, benutzt ­Goethe eine ihr entsprechende strukturhomolog verfahrende Experimentalmethode der Reihenbildung: „In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe, und wenn uns die Erfahrungen nur isoliert erscheinen, wenn wir die Versuche nur als isolierte Fakta anzusehen haben, so wird dadurch nicht gesagt, daß sie isoliert seien, es ist nur die Frage: wie finden wir die Verbindung dieser Phänomene, dieser Begebenheiten?“ 22

Explizit unterstreicht G ­ oethe, dass der Forscher zu diesem Zweck in den aneinanderschließenden Experimenten nicht verschiedene Phänomene untersucht, sondern jede Erscheinung als komplexes Konstrukt zu betrachten hat, das unterschiedliche Verknüpfungen aufweist. Es verpflichtet ihn, „alle Seiten und Modifikationen einer einzigen 18 Vgl. ebd., §§ 145 – 172, S. 63 – 70. 19 Zu dieser Strukturierung vgl. Steinle, Newton’s Rejection, a. a. O., S. 547. 20 Vgl. LA I.11, S. 302 – 303 (Analyse und Synthese). 21 LA I.3, S. 292 – 293 (Der Versuch als Vermittler). 22 Ebd., S. 292.

2.1  Blick für Blick zur Abstraktion – ­Goethes experimentelle Methode

Erfahrung, eines einzigen Versuches, nach aller Möglichkeit durchzuforschen und durchzuarbeiten“.23 Die Variation eines Grundversuchs sieht ­Goethe als adäquateste Methode an, um die Vielfalt der Phänomene erfassen zu können: „Ich habe in den zwei ersten Stücken meiner optischen Beiträge eine solche Reihe von Versuchen aufzustellen gesucht, die zunächst aneinander grenzen und sich unmittelbar berühren, ja, wenn man sie alle genau kennt und übersieht, gleichsam nur einen Versuch ausmachen, nur eine Erfahrung unter den mannigfaltigsten Ansichten darstellen.“ 24

Diese Versuchsmethode differiert wesentlich von derjenigen Isaac Newtons, dennoch sind beide paradigmatisch für ein unterschiedliches experimentelles Arbeiten innerhalb des Systems der modernen Naturwissenschaft, wie Friedrich Steinle in einer überzeugenden Studie herausstellt. Mit seiner Argumentation unterscheidet sich Steinles Arbeit von früheren ebenfalls erkenntnistheoretisch ausgerichteten Interpretationen, die Newtons und ­Goethes Weltzugriffe als Gegensätze auffassten, jedoch miteinander auszusöhnen versuchten. So konstatierte der Atomphysiker Werner Heisenberg in der Mitte des letzten Jahrhunderts, dass beide Männer von unterschiedlichen Schichten der Wirklichkeit ausgingen – Schichten, die er ontologisch festschrieb, obwohl er sie über den Einsatz des jeweiligen Erkenntnismediums definierte: Aufgrund der von Newton benutzten Messtechnik und dessen Mathematisierung des Lichts sowie des Einsatzes sinneserweiternder Apparaturen, die eine intersubjektive Vergleichbarkeit der Versuchsdaten gewährleisten, besäßen dessen Studien objektive Realität. ­Goethes Farbstudien hingegen seien wegen der Aufwertung des menschlichen Auges lediglich subjektiv real.25 Gernot Böhme sieht – ebenfalls G ­ oethes phänomenologischen Ansatz als Begründung anführend – dessen Farbenlehre als Alternative zum neuzeitlichen System der modernen Wissenschaft.26 Auch wenn Böhme damit ­Goethes Farbstudien erkenntnistheoretisch aufwertet, setzt er genau wie Heisenberg die exakte Wissenschaft als Norm, die mit abstrakten Termini agiert und deren Experimentalpraxis auf elaborierten Theoriegebäuden fußt. Anders als diese früheren Ansätze verzichtet Steinles Studie auf eine positivis­ tische Interpretation und konzentriert sich über die im Versuch eingesetzten Mittel hinaus primär auf die Experimentalmethoden Newtons und G ­ oethes. In Newtons Versuchspraxis, die nach Steinle auf der theorieorientierten Methode basiert, dient der Versuch als praktisches Beweis- und Rechtfertigungsmittel, das zuvor erstellte, klar 23 Ebd. 24 Ebd., S. 293. 25 Vgl. Heisenberg, Werner, Die ­Goethesche und die Newtonsche Farbenlehre im Lichte der modernen Physik, in: Geist der Zeit 19 (1941), Heft 5, S. 261 – 275, besonders S. 267 – 268. 26 Vgl. Böhme, Gernot, Ist ­Goethes Farbenlehre Wissenschaft?, in: ders., Alternativen der Wissenschaft, Frankfurt am Main 1993, S. 123 – 153.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

definierte Theorien bzw. Hypothesen bestätigt, modifiziert oder widerlegt. Zu diesem Zweck werden nur wenige, wohl ausgesuchte Versuchsaufbauten mit spezifischen Anordnungen benutzt. Als Beispiel führt Steinle an, wie Newton in seinen frühen Experimenten – unter Zugrundelegung der Korpuskulartheorie – davon ausging, dass unterschiedliche Geschwindigkeiten und Geschwindigkeitsverteilungen von Lichtkügelchen verschiedene Farbempfindungen hervorrufen. Newton setzte das Prisma als Separierungsinstrument für unterschiedlich brechbare Lichtstrahlen ein und ordnete – wie erwähnt – im Ergebnis des Versuchs verschiedenen Farben unterschied­ liche Brechungszahlen zu. ­Goethe hingegen ersetzt Newtons rationale Produktion der Lichtstrahlen durch eine phänomenorientierte experimentelle Reihenbildung, die wissenschaftshistorisch als Methode des explorativen Experimentierens beschrieben wird und die im 18. Jahrhundert von zahlreichen Naturwissenschaftlern praktiziert wurde. In einer Fülle von aneinandergereihten Versuchen, in denen die jeweiligen Experimentalanordnungen Schritt für Schritt modifiziert werden, werden die empirisch fundierten Regeln erst am Ende des Experimentalprozesses gefunden – Regeln, die wiederum als Basis für neue Versuchsreihen dienen.27 Davon gibt bereits ­Goethes erste publizierte Vorarbeit ein anschauliches Beispiel: das 1791 erschienene erste Stück der Beiträge zur Optik. Indem ­Goethe anfänglich durch ein Prisma, das er in verschiedene Richtungen vertikal und horizontal hielt, auf die Wände und Gegenstände eines Zimmers und in die freie Natur sah, entdeckte er beim Blick auf schmale Objekte an diesen eine bestimmte, jedoch nicht genau bestimmbare Ordnung der Farben. Diese Prismenexperimente wiederholte er mit eigens dafür hergestellten Spielkarten, die unterschiedliche Schwarz-Weiß-­Kon­ traste enthalten. Die erste Karte weist ein irreguläres Muster auf, das Unebenheiten an einer Wand bzw. dunkle Störungen auf weißem Papier abstrakt simuliert (vgl. Abb. 22). Beim Blick durchs Prisma erschienen G ­ oethe diese Kontraste unregelmäßig gefärbt, eine Ordnung erkannte er nicht. Auf weiteren Karten, deren Schwarz-Weiß-Muster immer einfacher werden – von symmetrisch angeordneten Schwarz-Weiß-Karos bis zu einer Karte, die aus einer weißen und einer schwarzen Hälfte besteht (vgl. Abb. 23 und 30) –, erkannte G ­ oethe eine bestimmte Ordnung der Farben, indem er das Prisma in unterschied­lichen Richtungen vors Auge hielt: vertikal, diagonal und horizontal. Befindet sich auf der letztgenannten Karte bei horizontal gehaltener Grenze das Schwarz 27 Vgl. Steinle, Friedrich, „Das Nächste ans Nächste reihen“: ­Goethe, Newton und das Experiment, in: Philosophia naturalis: Archiv für Naturphilosophie und die philosophischen Grenzgebiete der exakten Wissenschaften und Wissenschaftsgeschichte 39/1 (2002), S. 141 – 172, hier S. 146 und S. 151 – 157. Zu den Wissenschaftlern, die diese Methode praktizierten, gehörten Michael Faraday und David Brewster. Vgl. ebd., S. 153 – 154. Vgl. zur Charakterisierung der theorieorientierten und der explorativen Methode auch Steinle, Friedrich, Exploratives vs. theorieorientiertes Experimentieren: Ampères erste Arbeiten zum Elektromagnetismus, in: Heidelberger, Michael / Steinle, Friedrich (Hg.), Experimental Essays – Versuche zum Experiment, Baden-Baden 1998, S. 272 – 297.

2.1  Blick für Blick zur Abstraktion – ­Goethes experimentelle Methode

oben und das Weiß unten, erscheinen beim Blick durchs trübe Mittel die Farben Orange und Gelb, bei umgekehrter Ordnung der Schwarz-Weiß-Flächen die Farben Blau und Violett (vgl. Abb. 31 und 32). Bei vertikal ausgerichteter Grenze, die sich im rechten Winkel zum horizontal gehaltenen Prisma befindet, zeigen sich keine Farben.28 ­Goethes explorative Experimentalmethode richtet sich auf die Ermittlung einer Konstanten, einer Grundfigur in der Variabilität der Erscheinungen: „Die Phänomene, die wir andern auch wohl Fakta nennen, sind gewiß und bestimmt ihrer Natur nach, hingegen oft unbestimmt und schwankend, in so fern sie erscheinen. Der Naturforscher sucht das Bestimmte der Erscheinungen zu fassen und festzuhalten, er ist in einzelnen Fällen aufmerksam, nicht allein wie die Phänomene erscheinen, sondern auch wie sie erscheinen sollten.“ 29

Bei den Refraktionsversuchen ist diese Konstante die bereits beschriebene Farbent­ stehung an einer Hell-Dunkel-Grenze im trüben Mittel, die G ­ oethe als Urphänomen bezeichnet. Die Einzelerscheinungen betrachtend, beginnt der Forscher, Experiment aus Experiment heraus zu entwickeln, um die in allen Fällen identischen Erscheinungsbedingungen herauszuarbeiten. Das auf diese Weise entdeckte Urphänomen ist eine urbildliche, elementare Regel, die G ­ oethe als experimenteller Kulminations- und Umschlagpunkt dient, als sichtbar gewordenes Gesetz, an welchem er weitere Einzelphänomene abgleicht. Zwischen der Regel des Urphänomens und dem individuellen Abbild in Form des aktuell betrachteten Phänomens gibt es keinen Bruch, da das Abbild zugleich ein Teil des Urbilds ist. Anders als in Newtons mathematischer Experimentalphysik, die durch das Festlegen von Brechungsindizes die Erklärung für die Farbentstehung in den Bereich des Unsichtbaren verlagert, können beim Urphänomen Signifikant und Signifikat heuristisch nicht verwechselt werden, da diese ununterscheidbar sind. Jede Erscheinung ist bis zu einem gewissen Grad identisch mit dem Urphänomen, da die summierten Identitäten der Einzelphänomene das Gesetz der physikalischen Farbentwicklung visuell-sinnlich erfahrbar machen. Die selbstreferen­ tiellen Zeichen der Farben explizieren die ihnen immanente Regel auf sichtbare Weise.30 In dieser Doppelfunktion – als Einzelphänomen und allgemeine Regel – führt ­Giorgio Agamben ­Goethes Urphänomen exemplarisch als prominente epistemologische 28 Vgl. LA I.3, §§ 37 – 50, S. 17 – 21 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück). Vgl. auch die Interpretation von Steinle, „Das Nächste ans Nächste reihen“, a. a. O., S. 146 – 149. Zu der von G ­ oethe intendierten Nutzung der Spielkarten durch die Leser vgl. ausführlich Kapitel 5.2 dieser Arbeit. 29 LA I.3, S. 306 (Das reine Phänomen). 30 Hartmut Schönherr konstatierte, dass G ­ oethe, anders als in der üblichen naturwissenschaftlichen Ableitung von Regeln aus Beobachtungen, die Anschauung unmittelbar in eine Regel überträgt. Vgl. Schönherr, Hartmut, Einheit und Werden. G ­ oethes Newton-Polemik als systematische Konsequenz seiner Naturkonzeption, Würzburg 1993, S. 108.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

Figur für ein Paradigma im wissensarchäologischen Sinne Foucaults an. In Abgrenzung von Thomas Kuhns Paradigmen-Konzept, in dem aus Einzelphänomenen zwar Regeln ableitbar sind, sich jedoch allgemeine Paradigmen auch ohne Zugrundelegung von Einzelparadigmen entwickeln können,31 fragt Agamben nach den Regelungsmodi wissenschaftlicher Aussagen in Form ihrer inneren Machtordnung. In seiner Argumentation, die Strukturhomologien zu Steinles experimentaltheoretischen Ausführungen aufweist, konstatiert er, dass jedem Einzelfall eine innere Dynamik, eine Bewegung hin zum nächsten Einzelphänomen inhärent ist, die durch eine erst herzustellende Operation zur Konstituierung einer Klasse von Aussagen führt: „Das Phänomen, sobald es im Medium seiner Erkennbarkeit präsentiert wird, zeigt das Ensemble, dessen Paradigma es ist.“ 32 Da bereits ein einzelnes Paradigma die Form besitzt, die es erst durch die experimentell ermöglichte Multiperspektivität aufs Objekt als allgemeine Regel zu finden gilt, wird die Differenzierung in Allgemeines und Besonderes obsolet, da beide eigenstädig existieren. Weil bei einem Paradigma nicht vom Allgemeinen auf das Besondere und umgekehrt geschlossen werden kann, werden die erkenntnistheo­ retischen Methoden von Induktion und Deduktion außer Kraft gesetzt.33 Mit seinem Konzept des Urphänomens zielt ­Goethe auf „das Etablieren eines Ordnungssystems innerhalb des Erscheinungsfeldes“.34 Das Urphänomen wird weder auf einer begrifflich-mathematischen Ebene vor Augen geführt, in der die Einzelerfahrungen auf einer allgemeinen Ebene abstrahiert werden.35 Es wird auch nicht an artifiziellen, von der Natur gelösten Objekten wie in der Kunst dargestellt, sondern an den Phänomenen selbst visualisiert. Es ist eine Abstraktion im Gegenständlichen. Durch konkrete Einzelerfahrungen soll der Forscher am Gemeinsamen aller Erscheinungen deren übergreifende Idee erkennen. Indem er auf diese Weise Einzelnes und Allgemeines, Empirisches und Ideelles methodisch miteinander verschränkt, gelingt ihm die Erkenntnis der Natur auch auf symbolischer Ebene. In ­Goethes eigenen Worten zusammengefasst, erfüllt das Urphänomen der Farben mehrere Funktionen: „Urphänomene: ideal, real, symbolisch, identisch. Empirie: unbegränzte Vermehrung derselben, Hoffnung der Hülfe daher, Verzweiflung an Vollständigkeit. Urphänomen

31 Vgl. Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, a. a. O. 32 Agamben, Giorgio, Was ist ein Paradigma?, in: ders., Signatura rerum. Zur Methode, Frankfurt am Main 2009, S. 11 – 39, hier S. 33. 33 Vgl. ebd., S. 23 – 33. Ausgehend von dieser epistemologischen und wissenspoetologischen Analyse muss an dieser Stelle Käfers Interpretation zur Genese des Urphänomens widersprochen werden, der die kontingenzgeprägte Experimentalserie als induktiv begreift, den Abgleich des auf diese Weise gewonnenen Urphänomens mit den Einzelphänomenen als deduktive Vorgehensweise. Vgl. Käfer, Dieter, Methodenprobleme und ihre Behandlung in ­Goethes Schriften zur Naturwissenschaft, Köln / Wien 1982, S. 7. 34 Steinle, „Das Nächste ans Nächste reihen“, a. a. O., S. 146. 35 Vgl. hierzu auch Bies, Im Grunde ein Bild, a. a. O., S. 156.

2.1  Blick für Blick zur Abstraktion – ­Goethes experimentelle Methode

ideal als das letzte Erkennbare, real als erkannt, symbolisch, weil es alle Fälle begreift, identisch mit allen Fällen.“ 36 Wie in diesem Zitat angedeutet, zieht ­Goethe an der Sichtbarkeit des Urphänomens eine Grenze, die das phänomenal Begreifbare vom Bereich des Unerforsch­ lichen separiert. Betrachtet Agamben diese Grenzziehung des Urphänomens als Konstituierungsbedingung für dessen o. g. doppelte Funktion als Paradigma,37 versteht ­Goethe das Urphänomen neben dessen epistemologischer Funktion als visualisierte Mahnung an die unzureichende Erkenntniskraft des Menschen, als Denkfigur eines unerforschlich Resthaften, ewigen Geheimnisses der Natur,38 das sich dem Subjekt immer entziehen wird: „Unsere Meinung ist: daß es dem Menschen gezieme ein Unerforschliches anzunehmen, daß er dagegen aber seinem Forschen keine Gränze zu setzen habe; denn wenn auch die Natur gegen den Menschen im Vortheil steht und ihm manches zu verheimlichen scheint, so steht er wieder gegen sie im Vortheil, daß er, wenn auch nicht durch sie durch, doch über sie hinaus denken kann. Wir sind aber schon weit genug gegen sie vorgedrungen, wenn wir zu den Urphänomenen gelangen, welche wir in ihrer unerforschlichen Herrlichkeit von Angesicht zu Angesicht anschauen und uns sodann wieder rückwärts in die Welt der Erscheinungen wenden, wo das in seiner Einfalt Unbegreifliche sich in tausend und abertausend mannichfaltigen Erscheinungen bei aller Veränderlichkeit unveränderlich offenbart.“ 39

Hinter dem Grenzkonzept des Unerforschlichen steht einmal mehr G ­ oethes pantheistischer Naturbegriff. Da der Mensch selbst ein Modus der die Farben explizierenden Gott-Natur ist, bleibt deren Wesen für ihn unergründlich. Verbleibt ­Goethe experimentalmethodisch im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren, transzendiert in seiner naturphilosophischen Theorie die Farbe ihre eigene Sichtbarkeit. Die chromatischen Phänomene fungieren als Medium des sich in ihnen ausdrückenden All-Einen, das der Farbe damit den Doppelcharakter eines „sinnlich-unsinnlichen Zeichens“ 40 verleiht. In diesem Konzept manifestiert sich am Urphänomen gleichermaßen die disziplinäre Grenze und Verbindung zwischen Physik und Philosophie – eine Grenze, die – einmal experimentell generiert – zum Reflexionsobjekt des Philosophen wird.41

36 ­Goethe,  Johann Wolfgang, Maximen und Reflexionen, hg. v. Max Hecker, Frankfurt am Main / Leipzig 1976, Maxime 1369, S. 230. Vgl. hierzu auch Rehbock, ,Rettung der Phänomene‘, a. a. O., S. 232 – 233. 37 Vgl. Agamben, Paradigma, a. a. O., S. 36. 38 Vgl. Jeßing, Benedikt, Urphänomen, in: Metzler G ­ oethe-Lexikon. Personen – Sachen – Begriffe, hg. v. Benedikt Jeßing, Bernd Lutz und Inge Wild, Stuttgart / Weimar 2004, S. 442 – 443. 39 WA II,9, S. 195 (Karl Wilhelm Nose). 40 Vogl, Joseph, Bemerkung über ­Goethes Empirismus, in: Schimma, Sabine / Vogl, Joseph (Hg.), Versuchsanordnungen 1800, Zürich / Berlin 2009, S. 113 – 123, hier S. 119. 41 Vgl. hierzu ausführlich LA I.4, §§ 716 – 721, S. 210 – 211 (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

Wie Lorraine Daston und Peter Galison darlegen, war die synthetisierende Perzeption zur Gewinnung einer Grundfigur, eines Charakteristischen durch das Prinzip der Serialisierung im 18. Jahrhundert weit verbreitet. Sie diente dazu, die Idee in der Beobachtung herauszustellen, die im Falle des Urphänomens sinnlich erfahrbar bleibt.42 Durch seine Genese unterscheidet sich das Urphänomen von einer bedeutenden weiteren naturwissenschaftlichen Grundfigur G ­ oethes: dem Typus, den dieser primär in seinen osteologischen Studien herausarbeitete. Diesen begriff er als ein von allen Phänomenen abstrahiertes Urbild, das er durch tabellarische Vergleiche des Knochenbaus der Lebewesen generierte. Während die individuellen Phänomene die Idee des Typus repräsentieren, tritt dieser allerdings als empirische Entität nicht in Erscheinung. Dies trifft ebenso auf ­Goethes spätes Konzept der Urpflanze zu, die er als eine Art ideeller Gemeinsamkeit aller Pflanzen postulierte.43 In der experimentellen Prozessualität von ­Goethes Versuchsmethode hat das Urphänomen immer nur den Charakter eines sich selbst rektifizierenden Zwischenergebnisses, das die Veränderungen der Erscheinungswelt integriert und zugleich indiziert. Das Prinzip der methodologisch gewonnenen Prozessualität des Versuchs veranschaulicht ­Goethe in unterschiedlichen Kontexten besonders, indem er die physikalische Farbent­ stehung – wie aus den oben beschriebenen Spielkartenversuchen ersichtlich – visuell als ein Werdendes inszeniert. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die mal mehr, mal weniger sichtbare Struktur des trüben Mittels im Urphänomen, dessen besondere Rolle ein Vergleich mit Aristoteles’  Theorie der Farbentstehung herausstellen soll. Bei Aristoteles ist die Farbentstehung ebenfalls medial vermittelt, treffen sich Wahrnehmung und betrachtete Objekte in einem durchscheinenden Medium. Dieses ist nicht per se sichtbar, sondern nur durch die in ihm erzeugte Farbe, die das Durchsichtige in Bewegung versetzt. Aristoteles definiert die Farbe als indexikalischen Verweis, indem bei jeder Wahrnehmung die unsichtbare Existenz des Durchscheinenden mitzudenken ist. Diesem entwächst das Licht bzw. Feuer, die „Farbe des Durchsichtigen“, die dieses erst aktualisiert. Die Dunkelheit betrachtet er lediglich als Negation des Lichts, als dessen „Verschwinden“ aus dem Durchsichtigen.44 Farben und Licht sind in einem interdependenten Verhältnis miteinander verbunden: Das potentiell Durchscheinende kann von den Farben nur in Bewegung versetzt werden, sofern es bereits durch das 42 Vgl. Daston, Lorraine / Galison, Peter, Objektivität, Frankfurt am Main 2007, S. 74 und S. 84. 43 Vgl. zur Herausarbeitung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Typus und physikalischem Urphänomen auch Maatsch, Jonas, „Naturgeschichte der Philosopheme“. Frühromantische Wissensordnungen im Kontext, Heidelberg 2008, S. 91 – 94. 44 Vgl. Aristoteles, Von der Seele, in: ders., Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst, mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar hg. v. Olof Gigon, München 1983, S. 181 – 347, hier S. 302 – 303, Zitate S. 302. Vgl. hierzu auch die ausführliche Interpretation von Walter Seitter, der Aristoteles’ Entwurf das Verdienst einer ersten Medientheorie der Geschichte zuspricht: Seitter, Walter, Vom Licht zum Äther. Der Einfluss einer Medienphysik auf die Elementenlehre, in: Engell, Lorenz u. a. (Hg.), Licht und Leitung, Weimar 2002 (= Archiv für Mediengeschichte 2), S. 047 – 058.

2.1  Blick für Blick zur Abstraktion – ­Goethes experimentelle Methode

Licht bzw. Feuer aktiviert wurde, die Farben hingegen sind wiederum nur im Licht sichtbar, nicht aber in der Dunkelheit.45 Impliziert bei Aristoteles die Farbwahrnehmung zugleich die Präsenz des unsichtbaren Durchsichtigen, die erst durch Licht und Farben in seine Funktion als vermittelndes Medium zwischen Subjekt und Welt gesetzt werden, agiert bei ­Goethe hingegen das Trübe als mediales Entstehungsforum der Farben. Obwohl dieses empirisch nur teilweise sichtbar ist (­Goethe zählt zum Trüben auch das Durchsichtige), inszeniert er es als etwas an sich Wahrnehmbares, indem er dessen eigenständige Struktur herausstellt. Er begreift sie als Chaos, als „eine Versammlung von Ungleichartigem, d. h. von Undurchsichtigem und Durchsichtigem […], wodurch der Anblick eines ungleichartigen Gewebes entspringt“. Aus dieser „Unordnung und Verwirrung“ formt sich wie in antiken und religiösen Schöpfungsmythen zwischen Hell und Dunkel die Ordnung der (Farben-)Welt.46 Das Medium des Trüben entwirft G ­ oethe als graduellen Verlauf, der eine gewisse optische Dynamik impliziert. Dieser Verlauf weist verschiedene Qualitäten auf, die sich vom Durchsichtigen zum Undurchsichtigen des Weißen ziehen, das eine Farbent­ stehung unmöglich macht: „Das Durchsichtige selbst, empirisch betrachtet, ist schon der erste Grad des Trüben. Die ferneren Grade des Trüben bis zum undurchsichtigen Weißen sind unendlich.“ 47 In ­Goethes Farbkonzept entsteht durch die Verdichtung des Trüben in Natur und Experiment ein qualitativer Wandel der chromatischen Phänomene. So beschreibt ­Goethe beispielsweise, wie er durch das Übereinanderlegen von Pergamentblättern 45 Hängen in diesem Konzept Farb- und Lichterscheinungen unter Aussparung der Dunkelheit voneinander ab, erklärt Aristoteles an anderer Stelle die Farben als Mischprodukte aus Schwarz und Weiß. Die von ihm entwickelte chromatische Ordnung, die linear von Weiß, Gelb (manchmal auch Grau), Purpurrot, Violett, Grün, Blau zu Schwarz verläuft, begründet er mit quantitativen Mischungsverhältnissen. Vgl. Aristoteles, Über die Sinneswahrnehmung und ihre Gegenstände, in: ders., Die Lehrschriften 6/2: Kleine Schriften zur Seelenkunde, Bd. 1, Paderborn 1953, S. 22 – 61, hier S. 32 – 33. „Aus seiner [Aristoteles’ – S. Sch.] philosophischen Schule ist die einzige umfassende theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Farbe hervorgegangen, die aus der Antike auf uns gekommen ist.“ Gage, John, Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart, Leipzig 2001, S. 13. Die Bedeutung des Trüben für die Farbentstehung sowie die mathematische Begründung der Farbentstehung durch Aristoteles zitiert ­Goethe im historischen Teil der Farbenlehre passagenweise. Vgl. LA I.6, S. 9 – 13 (Farbenlehre, Historischer Teil). 46 Vgl. LA I.8, S. 226 – 227, beide Zitate S. 227 (Der Ausdruck Trüb). Dieser 1821 entstandene, sich dem Sprachvergleich widmende Aufsatz zur Thematik des Trüben stammt von ­Goethes Mitarbeiter Friedrich Wilhelm Riemer, der sich in dieser Schrift auf ­Goethes Ansichten bezieht. Vgl. hierzu ausführlich LA  II.5B.2, S. 1616 – 1617. Zu den Schöpfungsmythen vgl. z. B. Hesiods Theogonie, die Bibel oder Platons Timaios. Vgl. Hesiod, Theogonie, hg., übersetzt und erläutert v. Karl Albert, Sankt Augustin 1998, S. 53 – 55; vgl. Platon, Timaios, griech. / deutsch, übersetzt v. Thomas Paulsen / Rudolf Rehn, Stuttgart 2003, S. 85 – 101. 47 LA I.4, § 148, S. 65 (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

vor der hellen Öffnung einer Camera obscura eine Reihenfolge unterschiedlicher Farben vom farblosen Hellen über Gelb bis zum Purpur erzielt oder wie das Sonnenlicht durch die immer trüber werdenden atmosphärischen Dünste von Gelb über Orange zu Purpur wird.48 Dieses Prinzip der chromatischen Qualitätenänderungen, mit dem er die Farbentstehung als Dynamisches vor Augen führt, definiert G ­ oethe als Steigerung.49

2.2 Darstellungen des Versuchs Mit der Prozessualität der experimentellen Wissensgewinnung und ihrer phänomenalen Orientierung richtet ­Goethe den Versuch an der Variabilität und Kontextgebundenheit der natürlichen Versuchsobjekte aus und bildet diese Strukturen in seiner Experimentalpraxis ab. Dennoch wird diese Analogie – so soll nachfolgend gezeigt werden – durch zwei Faktoren gestört: zum einen durch den Einsatz von Instrumenten, die in ihrer medialen Wirkungsweise ihre eigenen Realitäten erzeugen, zum anderen durch das nicht vollends steuerbare, jedem Experiment immanente Eigenleben. Wie die oben dargelegten Ausführungen Friedrich Steinles zeigen, betrachtet G ­ oethe das Experiment nicht als praktisches Beweismittel eines zuvor entworfenen Theoriegebäudes, sondern als Entdeckungsmittel noch unbekannter wissenschaftlicher Fakten, die er in der explorativen Experimentalmethode gewinnt. ­Goethe begreift den Versuch – so der Titel seines bedeutendsten erkenntnistheoretischen Aufsatzes – als Vermittler von Objekt und Subjekt, fasst ihn jedoch nicht als bloßen Datenüberträger zwischen Natur und Forscher auf, sondern bemüht sich, die Eigendynamik des Experiments bei der Farberzeugung experimentalmethodisch zu beachten. Aus diesem Grunde richtet sich sein Augenmerk auf das komplexe Verhältnis von Erkenntnisgegenstand und Experimentator sowie von technischen und sozialen Bedingungen. Diese Betrachtungsweise rückt G ­ oethes Versuchsbegriff in die Nähe von neueren experimentalwissenschaftlichen Ansätzen, die unter Bezeichnungen wie science in the making, science in action, new experimentalism oder science in context bekannt wurden.50 Sie alle kritisieren den theorieorientierten Ausgangspunkt von Experimenten im Sinne Isaac Newtons und Karl Poppers 51 und fragen nach dem Wie der Ergebnisgenerierung. 48 Vgl. ebd. in der Reihenfolge der indirekten Zitate § 170, S. 68 und § 154, S. 65. 49 Beim Vorgang der Steigerung entsteht die Farbe Purpur, die ­Goethe als ästhetisch höchste Farbe betrachtet. Sie wird nach seiner Meinung durch eine zunehmende Sättigung bzw. Beschattung der Farben Gelb und Blau hervorgerufen, die einen rötlichen Schimmer erhalten und zu den Farben Orange und Violett werden, deren Vereinigung wiederum das Purpur erzeugt. Vgl. ebd., § 517, S. 162. 50 In der Reihenfolge der Aufzählung vgl. Latour, Bruno, Science in Action, Cambridge / MA 1987; vgl. Shapin / Schaffer, Leviathan and the Air-pump, a. a. O.; vgl. die einschlägige Analyse von Lenoir, The Dialogue Between Theory and Experiment, a. a. O., S. 3 – 22. 51 Vgl. Popper, Karl, Logik der Forschung, Wien 1935. In seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk geht Popper wie Newton vom Primat der Theorie aus, wenn er Hypothesen an den Beginn eines

2.2  Darstellungen des Versuchs

Besonders Hans-Jörg Rheinberger stellt in seinen umfangreichen Untersuchungen die autogenerativen und regulativen Eigenschaften von Experimentalsystemen heraus und nimmt in diesem Kontext sogar mehrfach Bezug auf ­Goethes erkenntnistheoretische Schriften.52 Obwohl sich Rheinbergers Studien hauptsächlich auf moderne bioche­ mische und molekularbiologische Versuchskonstellationen in Laboratorien beziehen und allein schon von der Materialität ihrer Forschungsobjekte und dem technischen Stand der Apparaturen wesentlich von ­Goethes Versuchsbedingungen unterscheiden, sei an dieser Stelle eine vergleichende Analyse der Experimentalpraktiken beider Forscher gestattet. Unter Beachtung der jeweiligen zeitgeschichtlichen Bedingungen soll sie dazu dienen, die übergreifenden Grundzüge der bereits im 18. Jahrhundert zu verzeichnenden methodischen und praktischen Berücksichtigung der Selbstentwicklungskräfte von Experimentalsystemen darzulegen, eine Berücksichtigung, die – bedingt durch die wissenshistorischen Differenzen – damals und heute unterschiedliche Begründungen erfahren. Sie resultieren besonders aus den verschiedenen epistemologischen Gewichtungen, die ­Goethe und Rheinberger dem Verhältnis von Subjekt und technischen Medien verleihen, aber auch aus den unterschiedlich aufgefassten Relationen zwischen Natur und Versuchskonstellation. Der Vergleich der g­ oetheschen mit den modernen Experimentalsystemen soll – ergänzt durch die Gegenüberstellung ausgewählter zeitgenössischer Theorien zum Versuch um 1800 – die prägnante Rolle des Forschers in G ­ oethes Experimentbegriff ebenso herausstellen wie ihre praktische Infragestellung durch das Eigenleben der Versuche. Eine besondere Relevanz erhält in dieser Analyse die erkenntnistheoretische Ebene der Darstellung, zu der Rheinberger ein breites Spektrum zählt: „Die Bedeutung von ‚Darstellung‘ deckt […] einen Bereich ab, der sich von einer Stellvertretung über eine Verkörperung bis hin zur Realisierung einer Sache erstreckt.“ 53 Räumen ­Goethe und Rheinberger den technischen Medien keine mimetisch ausgerichtete Repräsentationsfunktion der Wirklichkeit ein, wie sie die klassische Physik Newtons aufweist, ersetzen sie diese Funktion jedoch – wie nachfolgend zu zeigen ist – auf unterschiedliche Weise: Während G ­ oethe zur Erzeugung der Versuchsobjekte auf die experimentelle Aktivierung des menschlichen Auges setzt, exponiert Rheinbergers Entwurf die Generierung von Versuchswelten unter epistemologischer Aufwertung technischer Medien. Entstehen im Vorgang der experimentellen Darstellung bei ­Goethe und Rheinberger neue Wirklichkeiten, greift G ­ oethe jedoch an anderer Stelle seiner Experimentaltheorie auf ein Abbildmodell zurück: Er richtet seine Versuchsmethode der Reihenbildung am organismischen Modell der Natur aus. Experiments setzt, die in dessen Verlauf falsi- oder verifiziert werden. 52 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg, Experiment – Differenz – Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg an der Lahn 1992, S. 30. Vgl. ders., Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, S. 20 – 21, 194 und S. 199 – 200. 53 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a. a. O., S. 110.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

Unter einem Experimentalsystem versteht Hans-Jörg Rheinberger „die kleinste funktionelle Einheit, […] die Arbeitseinheit eines Wissenschaftlers“ in der Forschung,54 eine Definition, die auch auf G ­ oethes grundlegende physikalische Versuchskonstellation eines Prismas und einer Hell-Dunkel-Grenze zur Erzeugung der dioptrischen Farben zutrifft. Im explorativen Versuch weist ­Goethes physikalisches Objekt der Farbe die Eigenschaften eines epistemischen Dings nach Rheinberger auf: Aufgrund ihrer zu Versuchsbeginn noch unbekannten Entstehungsregeln besitzt die Farbe die Eigenschaften des erkenntnistheoretisch Unscharfen und Vagen und begründet damit die Notwendigkeit des Experiments selbst. Die Sichtbarkeit der Refraktionsfarben umreißt zugleich das Noch-Nicht-Gewusste des Beobachters am Anfang des Experiments, so dass die Verschiebung vom epistemologisch Trüben des Experimentalobjekts zum zunehmend Erkannten die Spannbreite und den Verlauf jedes individuellen Versuchsprozesses markiert. Wie ­Goethe konzipiert auch Rheinberger den Versuch methodisch als ein kom­ plexes Netz, dessen Kriterium die Wiederholbarkeit ist. Während G ­ oethe explizit den Forscher dazu auffordert, an die sorgfältige Analyse eines gemachten Experiments die Entwicklung des nächsten anzuschließen,55 begreift Rheinberger Experimentalsysteme von vornherein als ein Forum für den Auftritt eigenaktiver epistemischer Dinge. Er fordert unter Bezugnahme auf Derridas dekonstruktivistische Philosophie das Schaffen von Bedingungen, in denen Experimentalsysteme einen Raum erhalten, um ihren selbstreproduktiven Charakter im Spiel differentieller Spuren entfalten zu können.56 Die in der Wiederholung konstituierte Differenz 57 bzw. die differenzielle Reproduktion von Wissen treibt bei G ­ oethe und Rheinberger den Experimentalprozess selbst voran. Beide betrachten jedoch unterschiedliche Phänomene als Generatoren dieser Entwicklung. Bei Rheinberger ist die Steuerung des Experimentalprozesses nicht subjektzentriert ausgerichtet. Der Forscher ist hier zwar „autorisierter Sprecher“, aber „nicht Herr des Spiels“, da er wie das epistemische Ding Teil des Experimentalsystems ist. Das Eigenleben der epistemischen Objekte, nicht aber die Intention des Wissenschaftlers gibt den variablen Rahmen für dessen Agieren vor – ein Agieren, das je nach Versuchskontext neuen Erfordernissen genügen muss.58 Auf diese Weise tritt das Subjekt in seiner erkenntnistheoretischen Bedeutung hinter die Versuchsobjekte zurück. 54 Ders., Experiment – Differenz – Schrift, a. a. O., S. 22. 55 Vgl. LA I.3, S. 293 (Der Versuch als Vermittler). 56 Mit dem Begriff der Repräsentation verbindet Rheinberger weder einen Abbildungsmodus noch die Verdopplung eines Phänomens, sondern dessen Herstellung, dessen aktive Erzeugung. Vgl. Rheinberger, Experiment – Differenz – Schrift, a. a. O., S. 73 und ders., Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a. a. O., S.  85 – 86. 57 Vgl. hierzu ausführlich Deleuze, Gilles, Differenz und Wiederholung, München 1992. 58 Vgl. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a. a. O., S. 244 – 247, Zitate S. 247.

2.2  Darstellungen des Versuchs

Anders als Rheinberger spricht ­Goethe dem Forscher die Macht zu richtungsweisenden Änderungen des Versuchsprozesses zu, ist sich aber der Unzulänglichkeit dieser Eingriffe durchaus bewusst, so dass die epistemologische Bedeutung des forschenden Subjekts von einer gewissen Ambivalenz geprägt ist. Das Nichtplanbare, Destabilisierende der Situation ist der subjektiven Erkenntnis immer schon einen Schritt voraus und kann jederzeit zum experimentellen Hauptschauplatz werden. Die ewige Resthaftigkeit der von ­Goethe versuchten, jedoch von ihm als erfolglos erkannten Einebnung dieses Ungleichgewichts fördert die Dynamik des Experimentalprozesses. Im Netz der Kontingenzen, der divergierenden Möglichkeiten dient bei G ­ oethe wie bei Rheinberger als einzige Orientierungshilfe der Bezug auf das bereits vorhandene Komplexe – die explorative Methode. Sie gibt als „Verfahrungsart selbst den Maßstab“ vor,59 an dem sich der Forscher im Schwebezustand zwischen Noch-Nicht-Gewusstem und gewonnener Erkenntnis neu orientieren kann. ­Goethe ist sich bewusst, dass jedes neu gewonnene Wissen zu neuen Unklarheiten führt. Die aus diesem dialektischen Verhältnis resultierenden Unwägbarkeiten plant er von vornherein ein: „Es gibt, wie ich besonders in dem Fache, das ich bearbeite, oft bemerken kann, viele empirische Brüche, die man wegwerfen muß, um ein reines konstantes Phänomen zu erhalten; allein sobald ich mir das erlaube, so stelle ich schon eine Art von Ideal auf.“ 60 Diese von Rheinberger als Konjunkturen bezeichneten unvorhersehbaren Ereignisse können von einer Änderung verschiedener Versuchsparameter bis hin zu einer völligen Neuorganisation der gesamten Experimentalkonstellation führen 61 – so auch bei G ­ oethe: „Passen Gesetz und Erscheinungen in der Folge völlig, so habe ich gewonnen, passen sie nicht ganz, so werde ich auf die Umstände der einzelnen Fälle aufmerksam gemacht und genötigt, neue Bedingungen zu suchen, unter denen ich die widersprechenden Versuche reiner darstellen kann; zeigt sich aber manchmal unter gleichen Umständen, ein Fall, der meinem Gesetze widerspricht, so sehe ich, daß ich mit der ganzen Arbeit vorrucken und mir einen höhern Standpunkt suchen muß.“ 62

Über die Zugehörigkeit eines Elements zur kontinuierlichen Reihe der Erscheinungen wird in ­Goethes ebenso wie in Rheinbergers Experimentalsystemen von Kontext zu Kontext neu entschieden, so dass die Konjunktur letztendlich den Ausschlag dafür gibt, welches Experimentalsystem aus welchem hervorgeht und wie die wissenschaftliche Erkenntnis konstituiert wird. Dieses Vorgehen lässt sich deutlich am bereits 59 LA  I.3, S. 295 (Der Versuch als Vermittler). Vgl. auch Rheinbergers Verweis auf diese Aussage ­Goethes in: ders., Experiment – Differenz – Schrift, a. a. O., S. 30. 60 LA I.3, S. 306 – 307 (Das reine Phänomen). 61 Vgl. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a. a. O., S. 144 – 145. 62 LA I.3, S. 307 (Das reine Phänomen).

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

vorgestellten Beispiel der Spielkartenversuche ­Goethes nachvollziehen. Er entwarf für das optische Kartenspiel zwei Spielkarten: ein Motiv mit weißem Streifen auf schwarzem Grund und eines mit schwarzem Streifen auf weißem Grund (vgl. Abb. 24 und 27). In gewissem Abstand zwischen Spielkarte und Prisma erscheint bei erstgenanntem Muster die Farbreihenfolge Orange – Gelb – keine prismatische Farbe – Blau – Violett, bei letztgenanntem hingegen zeigen sich die sukzessiv geordneten Farben Blau – ­Violett – keine prismatische Farbe – Orange und Gelb. Werden Prisma und Bildmotiv näher aneinandergeführt, so dass sich die unteren und oberen Farbphänomene, die am jeweiligen Streifen erscheinen, nähern, entsteht in der Mitte der ersten Versuchsvorlage aus der Überlagerung von Gelb und Blau Grün (vgl. Abb. 25), bei der zweiten aus der Zusammenführung von Violett und Orange Purpur (vgl. Abb. 28). Der helle Streifen auf dunklem Grund ist die Verbildlichung von Newtons Camera-obscura-Experiment, in dem Sonnenlicht durch eine enge Öffnung fällt. Die hierbei sichtbaren Farben werden Newton-Spektrum genannt. Das zweitgenannte Motiv verbildlicht ­Goethes ersten Blick durchs Prisma auf die weiße Wand eines Zimmers, an deren dunklen Unebenheiten sich die Refraktionsfarben zeigten. Die in diesem Experiment entstehenden Farben werden als ­Goethe- oder inverses Spektrum bezeichnet. Änderte ­Goethe die Versuchskonstellation, indem er die beiden Kartenmotive jeweils vertikal, das Prisma jedoch horizontal hielt, berührten sich die an den schmalen horizontalen Grenzen des Streifens erscheinenden Farben aufgrund seiner Länge nicht, so dass diese Versuche für die Generierung des Urphänomens in der experimentellen Reihe irrelevant waren (vgl. Abb. 26 und 29).63 In modernen Experimentalsystemen bilden allein die technischen Apparaturen bekannte Größen, die den Auftritt des epistemischen Dings und den praktischen Umgang mit ihm bestimmen. Mit fortschreitendem Wissenserwerb des Forschers verschwindet das Vage des epistemischen Dings und damit dieses als solches, überlebt sich der Versuch in seinem explorativen Status selbst. Erst die am Ende der Versuchsreihe möglichen Erkenntnisse erlauben das Stellen bzw. Konkretisieren von Fragen, die damit den Charakter der Nachträglichkeit erhalten.64 63 Vgl. LA I.3, §§ 45, 46, 51, 52, 56 – 59, S. 20 – 25 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück). Die hier lediglich auf dem Papier von ­Goethe gleichgesetzten Versuchskonstellationen beider Forscher verband realiter in jüngerer Zeit unter weiterführender Anwendung von G ­ oethes explorativer Methode Ingo Nussbaumer. Er bewies, dass die Dunkelheit ebenso zerlegbar ist wie in der newtonischen Theorie das Licht. Indem er aus dem G ­ oethe- und dem Newton-Spektrum gleichzeitig jeweils komplementäre Bereiche isolierte und einer erneuten Dispersion zuführte, setzte er an die Stelle der Hell-Dunkel-Grenze in Newtons und ­Goethes Versuchen Farben. Diese erzeugten Spektren, die wiederum Schwarz und Weiß enthielten. Auf diese Weise entdeckte Nussbaumer, dass neben dem ­Goethe- und dem Newton-Spektrum noch sechs weitere Spektren generiert werden können. Ob allerdings die Isolierung einzelner Farben und die „Zerstückelung“ der Dunkelheit im Sinne ­Goethes gewesen wäre, ist zu bezweifeln. Vgl. Nussbaumer, Ingo, Zur Farbenlehre. Entdeckung der unordentlichen Spektren, Wien 2008. 64 Vgl. Rheinberger, Experiment – Differenz – Schrift, a. a. O., S. 70 – 71 und S. 25.

2.2  Darstellungen des Versuchs

Die vagen epistemischen Dinge können jederzeit in kohärente und bekannte technologische Objekte umschlagen, die wiederum Wirkungsräume für neue epistemische Dinge eröffnen.65 Bei G ­ oethes wesentlich einfacheren Apparaturen ist dies nicht der Fall. Um die autoregulativen Funktionen des Versuchs aufrechtzuerhalten, muss das Verhältnis zwischen epistemischen und technischen Konstituenten wiederum selbst ein dynamisches sein. In der epistemologischen Bedeutung, die Rheinberger in diesem Kontext den Apparaturen verleiht, bezieht er sich explizit auf Gaston Bachelards Konzept der Phänomenotechnik, das durch die Philosophie des angewandten Rationalismus geprägt wurde.66 Sie schreibt ausschließlich der Technik eine wissenschaftskonstituierende Funktion zu. Bachelards Konzept basiert auf der Annahme, dass durch den Einsatz von Instrumenten und Apparaturen „neue Phänomene nicht einfach gefunden, sondern erfunden, das heißt, durch und durch [!] konstruiert werden“.67 Er geht davon aus, dass es eine wissenschaftliche Objektivität nur dann geben kann, wenn im Versuch der unmittelbare sinnliche Zugang zum Erkenntnisgegenstand beseitigt wurde. Dieser Bruch entsteht durch den Einsatz der Technik auf doppelte Weise: Nur im Vorgang eines sich selbst rektifizierenden Experimentalprozesses kann diese ihr wissenschaftliches Objekt immer wieder neu konstituieren, formt jedoch auch den erkennenden Geist, dessen rationale Begriffsbildung instrumentell geprägt wird. In diesem doppelten erkenntnistheoretischen Zugriff sind wissenschaftliche Fakten stets ein Konglomerat aus materiellen und diskursiven Elementen. Durch den unabdingbaren Einsatz der Technik konstituiert sich eine Differenz zwischen Alltagserfahrungen, die sich über die unmittelbare wie unvermittelte Tätigkeit der Sinne konstituieren, und wissenschaftlichen Erkenntnissen.68 In Rheinbergers Experimentalsystemen sind die mikroorganismischen Versuchsobjekte zur Visualisierung ihrer Wirkungsweisen auf eine hochkomplexe Apparatur angewiesen. Das Auge des Wissenschaftlers richtet sich deshalb primär auf die technischen Aufzeichnungs- und Visualisierungsgeräte,

65 Neben anderen Beispielen führt Rheinberger hier die enzymatische Sequenzierung von DNA an. In früheren Jahren hatte sie die Funktion eines epistemischen Dings und wurde als eine von mehreren Repräsentationsweisen betrachtet. In den 1980er-Jahren wandelte sie sich zu einem klar definierbaren technologischen Objekt, dessen Sequenzierungsreaktion jedes biochemische Labor steuern konnte. Vgl. ebd., Fußnote 15, S. 70 – 71. 66 Vgl. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a. a. O., S. 28. Vgl. ders., Gaston Bachelard und der Begriff der „Phänomenotechnik“, in: Schalenberg, Marc / Walther, Peter Th. (Hg.), „… immer im Forschen bleiben“. Rüdiger vom Bruch zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2004, S. 297 – 310, hier S. 299. Vgl. Bachelard, Gaston, Le rationalisme appliqué, Paris 1998, S. 5. 67 Ders., Noumène et microphysique, in: ders., Études, Paris 1970, S. 11 – 24, hier S. 19. (Übersetzung: Rheinberger, Bachelard und der Begriff der „Phänomenotechnik“, a. a. O., S. 299). 68 Vgl. Bachelard, Der neue wissenschaftliche Geist, a. a. O., S. 18 – 19. Vgl. ders., Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen wissenschaftlichen Geistes, Frankfurt am Main 1980, S. 17 – 30. Vgl. Rheinberger, Gaston Bachelard und der Begriff der „Phänomenotechnik“, a. a. O., S.  300 – 304.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

welche die sich selbst generierenden Phänomene in Form von Kurven, Algorithmen u. ä. zeigen, nicht aber auf die Erscheinungen selbst. Die Experimentalkonstellation ist vom Körper des Forschers entkoppelt, sein Blick nicht in die unmittelbare Generierung der Versuchsobjekte integriert. Wird in Bachelards Konzept der allein an der Rationalität festgemachte wissenschaftliche Geist ausschließlich durch das Dispositiv der Technik geprägt, bindet ­Goethe die wissenschaftliche Erkenntnis zwar auch an jenes Vermögen, in erster Linie jedoch an die sinnliche Tätigkeit des Auges. Definiert er als grundlegendes Charakteristikum des Versuchs und als Abgrenzungskriterium von der reinen Beobachtung die Wiederholbarkeit des Experiments, die allein die Objektivität der Versuchsergebnisse sichern soll, so verbindet er in dieser Forderung den Einsatz einer bekannten Apparatur mit dem Kollektieren sinnlich erworbener Erkenntnisse: „Wenn wir die Erfahrungen, welche vor uns gemacht worden, die wir selbst oder andere zu gleicher Zeit mit uns machen, vorsätzlich wiederholen und die Phänomene, die teils zufällig, teils künstlich entstanden sind, wieder darstellen, so nennen wir dieses einen Versuch. Der Wert eines Versuchs besteht vorzüglich darinne, daß er, er sei nun einfach oder zusammen gesetzt, unter gewissen Bedingungen mit einem bekannten Apparat und mit erforderlicher Geschicklichkeit jederzeit wieder hervorgebracht werden könne, so oft sich die bedingten Umstände vereinigen lassen.“ 69

Die ausschließliche Beobachtung, die dem von ­Goethe postulierten Selbstoffenbarungscharakter der Natur adäquater wäre, genügt dem Objektivitätsanspruch der Ergebnissicherung also nicht. So entsteht auch in seinen Experimenten ein Bruch zwischen Alltagserfahrung und Versuchen. In G ­ oethes Farbstudien dient die Beobachtung nicht nur als alleiniges Erkenntnismittel, sondern ebenso als Vorstufe und als Teil eines Experiments. Er thematisiert sie im didaktischen Teil der Farbenlehre besonders bei der Farbentwicklung von Naturphänomenen als prädestiniertes Erkenntnismittel, beschreibt die wissenschaftliche Objektivierung dieser Erscheinungen jedoch einige Paragraphen weiter in Form ihrer experimentellen (Nach-)Erzeugung.70

69 LA I.3, S. 289 (Der Versuch als Vermittler). 70 Vgl. exemplarisch folgende Passagen: „Unter den festen Mitteln begegnet uns in der Natur zuerst der Opal, dessen Farben wenigstens zum Teil daraus zu erklären sind, daß er eigentlich ein trübes Mittel sei, wodurch bald helle, bald dunkle Unterlagen sichtbar werden.“ LA I.4, § 165, S. 67 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). Das experimentelle Substitut der natürlich erzeugten Refraktionsfarben zwischen Hell und Dunkel im natürlichen Opal beschreibt ­Goethe wie folgt: „Man kann dieses Glas [einen künstlich gefertigten Opal – S. Sch.] zu Versuchen auf vielerlei Weise zurichten: denn entweder man macht es nur wenig trüb, da man denn durch mehrere Schichten über einander das Licht vom hellsten Gelb bis zum tiefsten Purpur führen kann; oder man kann auch stark getrübtes Glas in dünnern und stärkeren Scheiben anwenden.“ Ebd., § 167, S. 68.

2.2  Darstellungen des Versuchs

Im konzeptuellen Verhältnis von Beobachtung und Experiment unterscheidet sich ­ oethes Ansatz auf den ersten Blick von demjenigen des Schweizer Naturforschers G Jean Senebier. In seinem programmatischen Werk L’Art d’Observer trennt dieser beide Erkenntnisformen und bemisst die Erforderlichkeit eines Experiments nicht an der Objektivierbarkeit der Versuchsergebnisse, sondern am erkenntnistheoretischen Potential der Sinnesleistungen des Betrachters. Dies fordert ­Goethe an keiner Stelle explizit. Die Künstlichkeit des Versuchs verurteilend, hält Senebier diesen nur dann für notwendig, wenn die Sinne in ihrer Leistungsfähigkeit überfordert sind.71 Auf den zweiten Blick reduziert sich allerdings der Unterschied zwischen Senebiers und ­Goethes Auffassung, da Senebier diese Trennung nicht durchgängig gelingt. Er beschäftigt sich z. B. in seinem Werk ausführlich mit der Benutzung von Instrumenten und den daraus resultierenden Fehlerquellen oder bezeichnet Newtons Experimente als Beobachtungen. ­Goethes Unterscheidung zwischen Beobachtung und Experiment über die Versuchsmethode der Reihenbildung und den Einsatz von Apparaturen, die dieser Differenzierung zum Trotz dennoch an der Sinneswahrnehmung ausgerichtet sind, sowie Senebiers teilweise nicht gelungene Trennung beider Erkenntniswege verweisen auf einen Wechsel in der Definition des Versuchs um 1800, der an die epistemologische Aufwertung des Subjekts im Experimentalkontext gebunden ist. Bis zum auslaufenden 18. Jahrhundert unterschieden zahlreiche Forscher Beobachtung und Experiment über die Art der kontextuellen Einbindung des Versuchsobjekts voneinander. Davon zeugen der erste und der vierte Band (1787 und 1791) des seinerzeit breit rezipierten Physikalischen Wörterbuchs von J. S. T. Gehler: „Erfahrungen, welche wir vermittelst unserer Sinne an den Körpern anstellen, heißen Beobachtungen, wenn wir dabey die Körper nur blos in dem Zustande betrachten, in welchem sie sich von selbst und ohne unser Zuthun befinden.“ 72 Konträr dazu steht die Definition des Experiments: „Erfahrungen, welche wir vermittelst unserer Sinne an den Körpern anstellen, heißen Versuche, wenn wir dabey die Körper nicht blos in dem Zustande lassen, in welchem sie sich von Natur und ohne unser Zuthun befinden, wenn wir sie vielmehr mit Vorsatz in einen andern Zustand versetzen, um zu sehen, wie sie sich dabey verhalten werden.“ 73 Die experimentelle Künstlichkeit beschreibt Gehler im Sinne Newtons und Kants als Machtinstrument der Naturbeherrschung: „Die Versuche unterwerfen gleichsam die Natur der Herrschaft des Menschen, nöthigen sie, seine Fragen zu beantworten, 71 Vgl. Senebier, Johann, Die Kunst zu beobachten. Aus dem Franz. übersetzt v. Johann Friedrich Gmelin, 2 Bde., Bd. 1, Leipzig 1796, S. 15 und S. 95. 72 Gehler, Johann Samuel Traugott, Physikalisches Wörterbuch oder Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre mit kurzen Nachrichten von der Geschichte der Erfindungen und Beschreibungen der Werkzeuge begleitet, Erster Theil von A bis Epo, Leipzig 1787, S. 290 – 296, hier S. 290. 73 Gehler, Physikalisches Wörterbuch, Vierter Theil von See bis Z, Leipzig 1791, S. 469 – 472, hier S. 469.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

und schreiben ihr sogar Zeit, Ort und Umstände dieser Beantwortung vor. Sie gehen über den gewöhnlichen Lauf der Dinge hinaus, und schaffen neue Ordnungen von Verhältnißen und Wirkungen.“ 74 Im beginnenden 19. Jahrhundert wurden beide Methoden enger aneinandergeführt, indem ihre epistemologische Bedeutung nicht mehr über das Objekt, sondern über die Wahrnehmung des Beobachters / Experimentators definiert wurde. Diese Veränderung ist hauptsächlich auf die erkenntnistheoretische Aufwertung des Subjekts durch Kants kritische Philosophie und die in jener Zeit entstehende Sinnesphysiologie 75 zurückzuführen. Vom Zusammendenken beider Erkenntniswege zeugt der 1825 publizierte erste Band der überarbeiteten Neuauflage von Gehlers Physikalischem Wörterbuch. Der Verfasser des Artikels Beobachtung, Georg Wilhelm Muncke, trennt zwar zu Beginn seines Textes wie in der Erstauflage Beobachtung und Experiment, entwertet diese Separierung jedoch einige Sätze weiter. Die Gemeinsamkeiten beider Erkenntniswege verankert er in der Sinnesleistung des Betrachters, zu der sich im Experiment apparative Konstellationen gesellen: „Zudem sind beide [Beobachtung und Experiment – S. Sch.] so mit einander verbunden, dass sie in der Wirklichkeit nur selten getrennt werden und oft bis zur Unbestimmbarkeit ihres Unterschiedes in einander übergehen. […] Ueberhaupt giebt es wenige Versuche oder überhaupt keinen, bei welchem nicht zugleich auch beobachtet wird, weswegen auch das, was von den Beobachtungen zu sagen ist, zugleich auf die Versuche passt, und der Unterschied beruhet hauptsächlich nur darauf, dass bei jenen mehr die Sinne, bei diesen zugleich auch hauptsächlich die Werkzeuge zu berücksichtigen sind.“ 76

Obwohl ­Goethe im Sinne Munckes den Versuch erkenntnistheoretisch als Erweiterung der Beobachtung betrachtet und im didaktischen Teil der Farbenlehre diskursiv die Refraktionsphänomene von den atmosphärischen Erscheinungen der Natur bis zu den Prismenversuchen aneinanderreiht, beschreibt er diese Farben besonders am prominenten Beispiel des Urphänomens letztendlich als etwas vom Menschen Produziertes: „[…] wir bringen [!] die Trübe zwischen beide [Licht und Finsternis – S. Sch.].“ 77 Die Instrumente, vor allem die Prismen und Linsen in G ­ oethes Refraktionsversuchen, können nur in der Serialität des Experiments bestimmte Darstellungsformen der Farben hervorbringen, um als datenproduzierende Medien die Objektivität der 74 Ebd., S. 470. 75 Zur Entwicklung der Sinnesphysiologie und zum Einfluss von ­Goethes Farbenlehre auf diese vgl. Teil 4 dieser Arbeit. 76 Vgl. Muncke, Georg Wilhelm, Beobachtung, in: Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch, neu bearbeitet v. Heinrich Wilhelm Brandes u. a., Bd. 1, Teil 2, Leipzig 1825, S. 884 – 912, hier S. 885. Zum Bedeutungswandel der Beobachtung vgl. auch Hoffmann, Christoph, Unter Beobachtung. Naturforschung in der Zeit der Sinnesapparate, Göttingen 2006, besonders S. 51 – 53. 77 LA I.4, § 175, S. 71 (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

2.2  Darstellungen des Versuchs

Versuchsergebnisse zu sichern. In den meisten seiner Experimente entdeckt ­Goethe die Naturgesetze durch tätigen Eingriff. Diese Vorgehensweise bezeichnete bereits Novalis als „activen Empirismus“,78 als bewusste Vermittlung zwischen Phänomen und Theorie in Form von Darstellungen. In diesem Kontext zeigt G ­ oethes Konzept Parallelen zur jüngeren Theorie des Wissenschaftsphilosophen Ian Hacking, der den Experimentator als darstellendes Wesen, als homo depictor beschreibt. Wie G ­ oethe bezieht Hacking den Begriff der Darstellung nicht auf medial-„abbildende“ Repräsentationen einer vorausgesetzten Naturwirklichkeit, sondern auf die aktive Schaffung wissenschaftlicher Objekte im Versuchsprozess, die ihre Konturen erst durch die experimentelle Wiederholung gewinnen. Auf diese Weise lässt sich die Wirklichkeit lediglich als Ergebnis eines menschlichen Eingriffs interpretieren. Nur dasjenige ist real, was ein Potential zur Weltveränderung bereithält. Die Realität ist – kurz gesagt – ein Begriff „zweiter Ordnung“, die sich immer an der Möglichkeit ihrer experimentellen Reproduktion orientiert.79 Doch anders als in den Experimentalkonzepten Hackings, Bachelards und ­Rheinbergers ist G ­ oethes experimentell geschaffene Realität nicht durch und durch konstruiert, sondern entsteht durch das Zusammenwirken artifizieller und natür­ licher Parameter auf zwei Ebenen: erstens durch die Art der Blickbildung, das experimentelle Zusammenspiel von Gesichtssinn und Versuchskonstellation. Zielt auch ­Goethes Experimentalpraxis wie diejenige Hackings auf eine potentiell endlose Reihe von Darstellungen, in welcher der Platz des Referenten immer wieder von einer weiteren Darstellung – der Farberzeugung im trüben Mittel – besetzt wird, um das Urphänomen durch die wechselseitige Verweiskette dieser Referenten zu generieren,80 adressiert ­Goethe dessen Produktion an die tätige Mitwirkung des Auges. Zweitens entgrenzt ­Goethe die Experimentalsituation dadurch, dass sich der Blick des Forschers oft auf natürliche Parameter bzw. einen alltagspraktischen Kontext richtet. Während Newton seine Refraktionsversuche oft in einer geschlossenen Camera obscura durchführt und damit die Phänomene von der natürlichen Umgebung separiert, belässt ­Goethe die Erscheinungen häufig in dieser. Er benutzt verstärkt einfache Instrumente wie Prismen und Linsen, die – vors Auge gehalten vielerorts anwendbar – Farben erzeugen können. Rudolf Kötter bezeichnet diese Art der der Alltagswelt entlehnten bzw. nachempfundenen Versuche als 78 Novalis, [Über G ­ oethe], a. a. O., S. 641. Vgl. zur Interpretation der Vermittlung als Darstellung ­Henderson, Fergus, Novalis, Ritter and „Experiment“: A Tradition of „Active Empiricism“, in: ­Shaffer, Elinor S. (Hg.), The Third Culture: Literature and Science, Berlin / New York 1998, S. 153 – 169, hier S.  154 – 155. 79 Vgl. Hacking, Ian, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart 1996, S. 223, 229, 245 – 246 und S. 233. Vgl. hierzu auch die Interpretation von Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a. a. O., S. 120. 80 Vgl. ebd., S. 112.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

Realsimulationen.81 Ihre Parameter sind auf die natürliche Wirklichkeit ausgerichtet. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn ­Goethe die Spiegelungsphänomene an einer zusammengerollten Stahlsaite beschreibt, deren Farbenproduktion er bei unterschiedlicher Sonneneinwirkung, verschiedenen Abständen zum Betrachterauge sowie der Benutzung einer Lorgnette darlegt.82 Durch die in G ­ oethes Versuchsmethode der Reihenbildung immer wieder neu geforderte optisch-empirische Bindung an die in ihrer Umgebung belassenen Versuchsparameter, die erst die Konstituierung des Urphänomens als sinnlich-abstrakte Regel ermöglicht, ist „jedes Phänomen […] Ursprung, jedes Bild archaisch“.83 Während in Rheinbergers autoregulativen und mikroorganismischen Experimentalsystemen – wie dieser unter Berufung auf Gilles Deleuze expliziert – alle Differenzen der Versuchsobjekte in einem Raum verteilt koexistieren können, in dem ihr epistemologisches Gewicht je nach Versuchskontext variieren kann, während diese Experimentalsysteme also „Kerne der Distribution von Differenz“ sind,84 löst sich in ­Goethes Konzept die Perspektivenvielfalt auf das Versuchsobjekt in der Identität des Urphänomens auf – und das allein durch die Regulierungsbemühungen des Subjekts. Zur Erlangung dieser Identität versucht der Forscher, experimentalpraktische Widersprüche um jeden Preis zu lösen, indem er – wie beschrieben – empirische Brüche ignoriert oder mit der Suche eines höheren Standpunktes aktiv auf diese reagiert. Erst am Ende der Experimentalreihe wird die gesuchte Regel als von allen Zufällen bereinigte, direkte Abstraktion im Phänomenalen durch die rationale Synthese der kollektierten Sinneseindrücke generiert und damit wissenschaftlich gesichert. Aus diesem Grunde ist das Urphänomen in seinem koinzidenten Charakter von Idee und Erscheinung stets auf die Objektivierung der Versuchsergebnisse durch die experimentelle Reihenbildung angewiesen.85 Die Unterschiede in der Genierung der Versuchsobjekte schlagen sich auch im Verhältnis von Organismustheorie und Experimentalmethode nieder – Bezüge, die sowohl ­Goethe als auch Rheinberger entwerfen. Rheinberger, der nach eigener Aussage den Begriff des Experimentalsystems selbst den biologischen Wissenschaften 81 Vgl. Kötter, Rudolf, Newton und ­Goethe zur Farbenlehre, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46 (1988), S. 585 – 600, besonders S. 596. Aufbauend auf Kötters Ansatz, begreift Helbig anders als Steinle, der Newtons und ­Goethes unterschiedliche, dennoch um 1800 gleichermaßen praktizierte Versuchsmethoden als epistemologisch gleichwertig erachtet, allein Newtons Vorgehensweise als eigentliches, da auf Abstraktionen im engeren Sinne zielendes Experiment. Vgl. Helbig, Holger, Naturgemäße Ordnung. Darstellung und Methode in ­Goethes Lehre von den Farben, Köln / Weimar / Wien 2004, S. 430 – 431. 82 Vgl. LA I.4, §§ 367 – 368, S. 124 – 125 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 83 Agamben, Was ist ein Paradigma?, a. a. O., S. 37. 84 Vgl. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a. a. O., S. 82 – 83, Zitat S. 83. Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 12. 85 Vgl. hierzu auch Maatsch, „Naturgeschichte der Philosopheme“, a. a. O., S. 93.

2.2  Darstellungen des Versuchs

entlehnt hat,86 trennt Organismus und Experimentalsystem auf ontologischer Ebene explizit, stellt zwischen den autoregulativen Wirkungsweisen beider jedoch einige Gemeinsamkeiten fest. Seinem Ansatz entsprechend, dass Experimentalsysteme sich in unvorhersehbare Richtungen entwickeln, sich mit anderen Experimentalsystemen verbinden und sich auch aus einem größeren Experimentalsystem lösen können, entdeckt er an diesen Systemen und den Organismen die gleichen Wirkungsweisen bei Drift und Konjunkturen, Fusion und Hybridisierungen sowie Spaltung und Verzweigungen.87 Im Experiment selbst kann die phänomenale Differenz zwischen Technik und Natur sogar unterwandert bzw. gänzlich aufgehoben werden. Hier wirken die Entitäten beider Bereiche nicht nur nach gleichen Prinzipien, sondern amalgamieren praktisch miteinander. Diese Vorgänge sind z. B. im Bereich der Gentechnologie zu beobachten, in dem informationstragende Moleküle biochemisch generiert werden, um intrazellulär in einen lebenden Organismus implantiert zu werden. Mit diesem Vorgehen wird der Organismus selbst zu einem technologischen Objekt, in dem sich neue epistemische Dinge herausbilden – ein Prozess, in dem die Technik die Natur okkupiert.88 In Rheinbergers Konzept stellt die Natur keinen stabilen Referenzpunkt dar, auf den die Experimentalsysteme ausgerichtet werden können – im Gegenteil: Das Selbstregulierungsvermögen der mikrobiologischen Experimentalsysteme kann durch ein unplanmäßiges Eindringen natürlicher Faktoren, z. B. im In-Vitro-Verfahren, zum Scheitern verurteilt werden.89 Auch G ­ oethe trennt Experiment und Natur ontologisch und entdeckt in beiden gleiche Wirkungsprinzipien. Er interpretiert den Versuch jedoch nach dem Vor-Bild der Natur und richtet seine Experimentalkonstellationen an ihren Gegebenheiten aus. Um experimentalpraktisch neue Perspektiven auf ein Phänomen zu ermöglichen, bedient sich G ­ oethe also versuchsmethodisch eines Stellvertreter- bzw. Abbildmodells der Natur. In seiner Analyse des experimentellen Eigenlebens scheinen Strukturhomologien zu biologischen Organismustheorien des 18. Jahrhunderts auf, die das Selbstorganisationsvermögen der Lebewesen betonen. In seiner naturwissenschaftlichen Methode der Morphologie, in der ­Goethe die Gestalt der Phänomene und ihre Metamorphosen als Grundlage für die Erkenntnis

86 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg / Hagner, Michael, Experimentalsysteme, in: dies. (Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin 1993, S. 8 – 27, hier S. 8. 87 Vgl. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a. a. O., S. 149. 88 Vgl. ders., Experiment – Differenz – Schrift, a. a. O., S. 81 und S. 86. Vgl. zur Differenzaufhebung zwischen Natur und Technik durch die zunehmende Technisierung von Experimenten auch ­Waldenfels, Bernhard, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt am Main 2002, S. 370 und S. 392. 89 Vgl. dazu ausführlicher Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a. a. O., S. 117.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

der Naturgesetze begreift, entwickelt sich die Natur von einem Punkt, einem Zentrum in alle Richtungen.90 Ihre Entwicklung verläuft von den einfachen Grundelementen zu komplexeren Gesamtphänomenen. In G ­ oethes osteologischen Studien ist es der Wirbel, der zur Skelettbildung der Säugetiere führt, in der Botanik das Blatt, aus dem sich die gesamte Pflanze entwickelt. Zu diesem Ansatz greift ­Goethe auch in seiner Versuchsmethode, indem er den experimentellen Weg von den einfachen zu den komplizierteren Versuchsaufbauten (manchmal auch umgekehrt) wählt, um die einzelnen Experimente – wie er explizit betont – „in eine recht natürliche Verbindung zu bringen“.91 Dieses Vorgehen bezeichnet Manfred Kleinschnieder als Generieren von „metamorphen Reihen“.92 Hinter der hier vorgestellten, auf das Experiment transferierten Organismuskonzeption steht der vitalistische Naturbegriff G ­ oethes. Die Vertreter der sich im 18. Jahrhundert entwickelnden vitalistischen Theorie betrachteten die Erklärungsansätze der Mechanisten, welche die Erscheinungen des Lebens ausschließlich mit den physikalisch-chemischen Gesetzen der Materie begründeten, als unzureichend.93 Die Vitalisten unterschieden die belebte von der unbelebten Materie durch das Merkmal einer nur beim lebenden Organismus vorausgesetzten Lebenskraft, die neben den physikalischchemischen Naturgesetzen wirkt. Besonders die durch den Physiologen Caspar F ­ riedrich Wolff vorgenommene hypothetische Setzung einer vis essentialis war es, die sich prägend auf diese Naturauffassung auswirkte. In seiner epigenetischen Theorie entwarf Wolff im Jahre 1759 den lebenden Organismus als dynamisiertes Produkt einer sich selbst hervorbringenden Lebenskraft. Die Form und Größe lebender Körper begriff er als ein stets wandelbares Produkt, das sich durch Vermehrung und Formung zahlreicher Grundelemente kontinuierlich selbst erzeugt.94 Mit seiner Auffassung setzte sich Wolff klar vom herrschenden Paradigma der Präformationstheorie ab. Sie ging von einer bereits zu Wachstumsbeginn vorhandenen vorgeformten Materie aus, welche sich in diesem Prozess lediglich entfaltet bzw. auswickelt. Indem Wolff sein Hauptaugenmerk 90 „Natürlich System, ein widersprechender Ausdruck. Die Natur hat kein System, sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Centrum zu einer nicht erkennbaren Gränze.“ WA II,7, S. 75 (Problem und Erwiderung). Vgl. hierzu die Ausführungen von Kuhn, Dorothea, Typus und Metamorphose. ­Goethe-Studien, Marbach am Neckar 1988, besonders den Aufsatz Grundzüge der ­Goetheschen Morphologie, S. 133 – 145. Auf die Nutzung der Gestaltoberflächen als heuristisches Mittel in ­Goethes Morphologie wird noch einmal gesondert im Kapitel 3.3.1 eingegangen. 91 LA I.3, S. 289 (Der Versuch als Vermittler). 92 Kleinschnieder, Manfred, G ­ oethes Naturstudien. Wissenschaftstheoretische und geschichtliche Untersuchungen, Bonn 1971, S. 87. 93 La Mettrie schuf mit dem 1748 erschienenen L’homme machine das einschlägigste Werk der mechanistischen Theorie. 94 Vgl. Wolff, Caspar Friedrich, Theoria generationis. Ueber die Entwicklung der Pflanzen und Thiere, Leipzig 1896 (= Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Bd. 24), Nachdruck: Frankfurt am Main 1999, S. 4 – 10.

2.2  Darstellungen des Versuchs

auf die sich aus dem Organismusinneren erzeugende prozessuale Lebenskraft legte, wandte er sich gegen die statisch-abbildhafte Präformationsauffassung, die von einer gottgegebenen oder anderen äußeren Kraft ausging.95 ­Goethe, der sich in seinen naturwissenschaftlichen Schriften als Anhänger des Wolff ’schen Konzepts bekennt,96 richtet sich ebenfalls gegen jegliche teleologische Naturauffassung. Indem er an der Kraft zur Selbsthervorbringung den Begriff des Lebens festmacht, betont er nicht nur die Kräfteverhältnisse zwischen den einzelnen Organen des lebenden Organismus, sondern auch dessen Wechselwirkungen mit der Umgebung.97 Für die Entwicklung des Organismus, der nach ­Goethe immer ein Produkt seiner inneren Kraft und der von außen wirkenden Bedingungen ist, ist der Kontextbezug ebenso entscheidend wie bei den Farbexperimenten. In den Kräften von Naturphänomenen und Versuchsreihen entdeckt ­Goethe gleiche Wirkungsweisen: „Bei physischen Untersuchungen drängte sich mir die Überzeugung auf, daß, bei aller Betrachtung der Gegenstände, die höchste Pflicht sei jede Bedingung unter welcher ein Phänomen erscheint genau aufzusuchen und nach möglichster Vollständigkeit der Phänomene zu trachten; weil sie doch zuletzt sich an einander zu reihen, oder vielmehr über einander zu greifen genötigt [!] werden, und vor dem Anschauen des Forschers auch eine Art Organisation bilden, ihr inneres Gesamtleben manifestieren müssen.“ 98

Vom Standpunkt seiner organismischen Experimentalpraxis bezieht ­Goethe ein Jahr vor seinem Lebensende Newtons monistische Auffassung der Farberzeugung auf die Präformationstheorie, in der der Kontext für die Entstehung der Phänomene bedeutungslos bleibt: „Die Überzeugung, daß alles fertig und vorhanden sein müsse, wenn man ihm die gehörige Aufmerksamkeit schenken solle, hatte das Jahrhundert ganz umnebelt, man mußte sogar die Farben als völlig fertig im Lichte annehmen, wenn man ihnen einige Realität zuschreiben wollte […].“ 99 Setzt G ­ oethe das organismische Verhalten von Natur und Versuch analog, um seine Experimente von der Künstlichkeit der newtonischen Versuche abzusetzen, wirft 95 Zu ­Goethes Konzept des Vitalismus vgl. ausführlicher Kapitel 3.3.1 dieser Arbeit. 96 In den Heften zur Morphologie schreibt G ­ oethe retrospektiv: „[…] und ich freue mich bekennen zu dürfen daß ich, seit mehr als fünfundzwanzig Jahren, von ihm und an ihm [Caspar Friedrich Wolff – S. Sch.] gelernt habe.“ LA I.9, S. 74 (Entdeckung eines trefflichen Vorarbeiters). 97 Vgl. LA I.10, S. 64 (Metamorphose der Pflanzen. Zweiter Versuch) sowie folgende Aussage G ­ oethes: „Der Haupt-Begriff welcher wie mich dünkt bei jeder Betrachtung eines lebendigen Wesens zum Grunde liegen muß, […] ist, daß es mit sich selbst beständig daß seine Teile in ein notwendiges Verhältnis gegen sich selbst bestehn, daß nichts Mechanisches gleichsam von außen gebauet und hervorgebracht werde, obgleich Teile nach außen zu wirken, und von außen Bestimmung annehmen.“ Ebd., S. 66. 98 LA I.9, S. 90 (Einwirkung der neueren Philosophie). 99 LA I.10, S. 295 (Weitere Studien über Jungius).

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ausgerechnet die Argumentation über das autoregulative Prinzip beider Entitäten ein widerspruchsvolles Licht auf ­Goethes Experimentbegriff – und das in zweifacher Hinsicht: Erstens impliziert der Begriff der Lebenskraft, den G ­ oethe auf die Entwicklung natürlicher Organismen anwendet, ein autopoietisches Prinzip fern jeglicher subjektiven Setzung. Das Experiment hingegen wird nach G ­ oethe erst durch den Forscher in Gang gebracht. Dieser Widerspruch steigert sich in der bereits zitierten Passage über ­Goethes Versuchsmethode zur Paradoxie, die Experimente „in eine recht natürliche Verbindung zu bringen [!]“.100 Zweitens führt das autoregulative Vermögen des Experiments zu einem Bruch zwischen der von G ­ oethe angestrebten Naturwahrheit, die der Forscher durch die Freilegung der natürlichen Phänomenketten zu entdecken hat, und dem nur im künstlichen Experimentalprozess generierbaren Urphänomen, das eine „wissenschaftliche Wirklichkeit“ 101 erst konstituiert. Den artifiziellen Charakter des Experiments unterstreicht ­Goethe – der Orientierung seiner Versuchsmethode an den natürlichen Phänomenen zum Trotz – dadurch, dass er zur Legitimierung dieser Methode paradoxerweise das von ihm kritisierte mathematische System zur Hilfe nimmt. Den Rückgriff auf die Mathematik rechtfertigt er, indem er sich ausdrücklich nicht auf ihre Inhalte, sondern ihre Methode der genetischen Reihenbildung, „das Nächste aus dem Nächsten zu folgern“, bezieht.102 Nur durch diese können nach G ­ oethe Diskontinuitäten und Fehler der Experimentalreihe am sichersten entdeckt werden. Auch wenn er die Mathematik nicht zur Beschreibung der Phänomene nutzt, legt er im Endeffekt doch ein künstliches System an, anhand dessen er die natürlichen Erscheinungen beurteilt. Indem ­Goethe seine Experimentalmethode auf die sinnliche Erfahrbarkeit der Phänomene richtet, konzipiert er sie nicht nur als Erkenntnismittel der Natur, sondern auch als Regulierungshilfe der subjektiven Erkenntnisvermögen des Forschers. Jede Erfahrung der Welt wird bei ihm zugleich zu einer Selbsterfahrung.

2.3 Das wissenschaftliche Selbst und seine Sinnesleistung Die Art des herrschenden wissenschaftlichen Paradigmas ist unabdingbar mit dem Subjektmodell des Forschers verknüpft, so dass sich mit der Entwicklung der Wissenschaften das Wie dieser Interdependenz wandelt. Nach Daston / Galison entsprach dem in der Zeit der Aufklärung weit verbreiteten Serialisierungsprinzip zur Entdeckung eines Typus die konzeptionelle Konstitution des Subjekts aus unterschiedlichen 100 LA I.3, S. 289 (Der Versuch als Vermittler). 101 Bachelard, Der neue wissenschaftliche Geist, a. a. O., S. 11. 102 LA I.3, S. 293 (Der Versuch als Vermittler); vgl. Cassirer, G ­ oethe und die mathematische Physik, a. a. O., S.  277 – 278.

2.3  Das wissenschaftliche Selbst und seine Sinnesleistung

Vermögen, die als Vernunft, Einbildungskraft, Verstand und Sinneswahrnehmung zusammenwirkten. Ihre Kohärenz wurde als durch Assoziationen und das Bewusstsein gesichert gedacht.103 In seinen erkenntnistheoretischen Aufsätzen und physikalischen Farbexperimenten greift auch ­Goethe auf diese philosophisch inspirierte Vermögenslehre zurück. Sie prägte die empirische Psychologie des 18. Jahrhunderts maßgeblich, deren primäres Ziel die Suche nach den Gesetzen dieser Vermögen war. Während die meisten einschlägigen Theorien jener Zeit von einer Hierarchie der „oberen“ vernünftigen und der „unteren“ sinnlichen Seelenkräfte ausgingen, durchbrach G ­ oethe dieses Ungleichgewicht. Er lässt Sinneswahrnehmung und Verstandesleistung im Konzept des intuitiven Erkennens untrennbar ineinanderwirken. Wie im Folgenden zu zeigen ist, dient G ­ oethe die Methode des explorativen Versuchs als Regulierungsmittel der Seelenvermögen, deren Zusammenwirken er als paritätische Allianz begreift. In G ­ oethes empiristischem Weltzugang beginnt jeder Erkenntnisprozess mit der Sinneswahrnehmung der Phänomene. Seinem Ansatz getreu, die Natur nicht zu Antworten zu nötigen, die sie ohne das Experiment verweigert hätte, konzipiert er diese als aktiven Impuls- und Auftaktgeber des Erkenntnisprozesses – ein Impuls, der auf Forscherseite ein passioniertes Augenmerk herausfordert – die wissenschaftliche Neugier: „Die Lust zum Wissen wird bei dem Menschen zuerst dadurch angeregt, daß er bedeutende Phänomene gewahr wird, die seine Aufmerksamkeit an sich ziehen.“ 104 Wie Lorraine Daston in einer aufschlussreichen Studie zeigt, wandelte sich das Konzept der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert entscheidend: Fesselte zuvor das Außergewöhnliche wie eine Tiermissgeburt die Aufmerksamkeit des Forschers und weckte seine Neugier, wurde jenes als Ergänzung und Gegensatz zum Gewöhnlichen aufgefasst. Die Beobachtung des Außergewöhnlichen sollte durch Anregung tiefgründiger Verstandesreflexionen voreilige Verallgemeinerungen verhüten. Mit Durchsetzung der empiristischinduktiven Forschungsmethode interessierte sich der Wissenschaftler zunehmend für die Beobachtung von Einzelobjekten, was im 18. Jahrhundert dazu führte, im Alltäglichen und Gewöhnlichen wie in Raupen, Bienen und Blattläusen nach dem Wunderbaren und Besonderen zu suchen. Erst dessen Beobachtung löste Neugier und Staunen aus und inspirierte zu Forschungen, die eine dauerhafte Aufmerksamkeit erforderten. Um in den Versuchsreihen die Gefahr einer zunehmenden emotionalen Verstrickung mit dem Untersuchungsobjekt zu minimieren, wurden nun 103 Vgl. Daston / Galison, Objektivität, a. a. O., S. 232 – 245. Die beiden Autoren untersuchen die Interdependenz von Subjektkonzepten und wissenschaftlichen Praktiken in der historischen Entwicklung der wissenschaftlichen Objektivität, deren Niederschlag und Wandel sie an wissenschaftlichen Bilddarstellungen zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert aufzeigen. 104 LA I.4, S. 17 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Einleitung).

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Verstand und Sinne geschult, um zu einem objektiven, von Leidenschaften befreiten Forschungsergebnis zu führen.105 Wie ­Goethes o. a. Zitat andeutet, reiht auch er sich in jenen Kanon des 18. Jahrhunderts ein, das Besondere im Gewöhnlichen der Farberscheinungen zu entdecken. Seinen ersten Blick durchs Prisma, der auf den Jahresanfang 1790 datiert wird,106 beschreibt er als zufallsbedingte Initialzündung seiner Farbstudien. Er inszeniert ihn – wie A ­ lbrecht Schöne anschaulich darlegt – als geistiges Erweckungserlebnis, das wie eine künstlerisch-geniale Eingebung wirkt.107 Durch die Umstände einer umzugsbedingt fehlenden Camera obscura und die drängende Forderung des in Jena tätigen Hofrats Christian Wilhelm Büttner nach Rückgabe der von ihm geliehenen Prismen macht ­Goethe eine Entdeckung, die ihn irritiert. Bei Betrachtung einer weißen Fläche durch ein Prisma erblickt er nicht wie erwartet ein großes flächendeckendes Farbenspektrum, sondern zahlreiche kleinere: „Eben befand ich mich in einem völlig geweißten Zimmer; ich erwartete, als ich das Prisma vor die Augen nahm, eingedenk der Newtonischen Theorie, die ganze weiße Wand nach verschiedenen Stufen gefärbt, das von da ins Auge zurückkehrende Licht in soviel farbige Lichter zersplittert zu sehen. Aber wie verwundert war ich, als die durchs Prisma angeschaute weiße Wand nach wie vor weiß blieb, daß nur da, wo ein Dunkles dran stieß, sich eine mehr oder weniger entschiedene Farbe zeigte […]. Es bedurfte keiner langen Überlegung, so erkannte ich, [!] daß eine Grenze notwendig sei, um Farben hervorzubringen und ich sprach wie durch einen Instinkt sogleich vor mich laut aus, daß die Newtonische Lehre falsch sei.“ 108

Das kraftvolle In-die-Augen-Fallen des Phänomens, das Erscheinen des Unerwarteten im Bekannten der prismatischen Farben fesselt hier die Aufmerksamkeit des Betrachters, indem es eine plötzliche Idee, eine kairologische Äußerung seiner Geistestätigkeit auslöst, die ­Goethe als Aperçu bezeichnet. Für einen einzigen Augenblick werden Forschergeist und Natur identisch, um den Erkenntnisvorgang selbst transparent zu 105 Vgl. Daston, Lorraine, Eine kurze Geschichte der Aufmerksamkeit, München 2001, in der Reihenfolge der indirekten Zitate S. 19 – 21, 34, 11 – 12 und S. 37. 106 Vgl. LA II.3, S. XVII. 107 Vgl. Schöne, Albrecht, ­Goethes Farbentheologie, München 1987. In diesem Werk belegt Schöne, dass sich die Struktur des historischen Teils der Farbenlehre an theologischen Dogmen- und Glaubenskämpfen orientiert, die G ­ oethe analog zu Gottfried Arnolds Unpartheyischer Kirchen- und Ketzer-Historie aus dem Jahre 1688 gestaltete. 108 LA I.6, S. 419 – 420 (Farbenlehre, Historischer Teil, Konfession des Verfassers). G ­ oethes Erwartungen über das Aussehen des Farbenspektrums sind in den Vorlesungen zur Experimentalphysik des Naturwissenschaftlers Johann Heinrich Winkler geweckt worden, die er in seiner Leipziger Studienzeit hörte. Vgl. ebd., S. 417 – 418. Vgl. auch Stichweh, Entstehung des modernen Systems, a. a. O., S.  269.

2.3  Das wissenschaftliche Selbst und seine Sinnesleistung

machen. Die punktuelle Struktur dieses Ereignisses bindet G ­ oethe neben der Verstandesinstanz an die Sinneswahrnehmung und damit an die körperliche Präsenz des Forschers, denn unter einem Aperçu versteht er das „Gewahrwerden einer großen Maxime, welches immer eine genialische Geistesoperation ist; man kommt durch Anschauen dazu, weder durch Nachdenken noch durch Lehre und Überlieferung“.109 Das Kairologische dieses unerwartet eintretenden Ereignisses enthebt den alles entscheidenden Augenblick der linearen Zeitstruktur und überholt sich im Moment seines Auftretens selbst in seinen unvorhersehbaren Folgen. Es war also nicht – so legt es zumindest G ­ oethes eigene Beschreibung nahe – ein rationaler Entschluss, der ihn zur Erforschung der newtonischen Optik drängte, sondern die jeder Erfahrung immanente Intuition, ein implizites Wissen, das jenseits aller objektiv vermittelbaren wissenschaftlichen Kriterien steht.110 Gerade die Vagheit jenes impliziten Wissens, dessen Unbestimm- und -berechenbarkeit lösten ­Goethes experimentelle Neugier aus, die ihn zur systematischen Erforschung der physikalischen Farbentstehung führte. Die Initialzündung für die Untersuchung der prismatischen Farben, etwas Neues im Bekannten zu entdecken, überträgt ­Goethe in der ersten Publikation seiner chromatischen Studien auf die Beschreibung des Prismas und der mit ihm erzeugten Farben: „Das Prisma, ein Instrument, welches in den Morgenländern so hoch geachtet wird, daß sich der chinesische Kaiser den ausschließlichen Besitz desselben gleichsam als ein Majestätsrecht vorbehält, dessen wunderbare Erscheinungen uns in der ersten Jugend auffallen und in jedem Alter Verwunderung erregen, ein Instrument, auf dem beinahe allein die bisher angenommene Farbentheorie beruht, ist der Gegenstand, mit dem wir uns zuerst beschäftigen.“ 111

109 WA I,29, S. 28 (Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit). 110 Vgl. Polanyi, Implizites Wissen, a. a. O. Dieses Konzept des tacit knowing, das Polanyi unter Zuhilfenahme der Gestaltpsychologie entwickelte, enthält zwei Realitätsebenen: eine erste, proximale, welche sich auf die Erkenntnis von Einzelmerkmalen der Objekte bezieht und die zweite, distale Ebene prägt, auf der synthetisierend die Gesamtbedeutung dieser Merkmale erkannt wird. Verläuft die Bewegung immer von der ersten zur zweiten Ebene, herrschen auf beiden unterschiedliche Gesetze: Lassen sich die Operationen der oberen Ebene mit den Gesetzen der unteren erklären, so sind die Regularien der unteren Ebene nicht durch diejenigen der oberen interpretierbar. Vgl. ebd., S. 18 – 19 sowie S. 37 – 39. Aufgrund der auf beiden Ebenen herrschenden unterschiedlichen Gesetze gilt das Konzept des impliziten Wissens nicht für den gesamten Prozess der systematischen Erforschung des Urphänomens durch die experimentelle Reihenbildung. Dieses wird – wie bereits erläutert – zwar synthetisierend als Regel aus allen Einzelphänomenen gebildet. Vice versa werden mit dieser jedoch alle weiteren Einzelphänomene verglichen bzw. analysiert. Eine strikte Zweiteilung zwischen beiden Ebenen existiert beim Urphänomen ebenfalls nicht, da jedes Einzelphänomen ein Teil von ihm ist. 111 LA I.3, § 33, S. 16 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück).

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

­ oethe betrachtet hier ein altbekanntes Instrument mit neuen Augen. Diesen PersG pektivenwechsel zu einem fragenden und außergewöhnlichen Blick auf das wissenschaftlich unspektakuläre Farbenspektrum unterstreicht er durch den Bezug auf fernöstliche Traditionen. Die systematische Ergebnissicherung sieht er jedoch nur durch einen erfolgreichen Umgang mit dem Instrument gewährleistet. Aus diesem Grund empfiehlt ­Goethe eine Schulung der Sinne an der Versuchskonstellation, um einen emotionsfreien Blick auf die Phänomene zu entwickeln: „Ich muß daher wünschen, daß diejenigen, welche an meinen Bemühungen Anteil nehmen möchten und nicht gewohnt sind, durch ein Prisma zu sehen, zuerst ihr Auge daran üben, teils um sich an die Erscheinung zu gewöhnen, teils die Verwunderung, welche die Neuheit derselben erregt, einigermaßen abzustumpfen. Denn sollen Versuche methodisch angestellt und in einer Reihe vorgetragen werden, so ist es nötig, daß die Seele des Beobachters aus der Zerstreuung sich sammle und von dem Staunen zur Betrachtung übergehe.“ 112

Das Aperçu, das in sinnlicher Form Auge und Geist gleichermaßen herausfordert, begreift ­Goethe als distinguiertes Glied einer Kette,113 welches als besonderer Einzelfall die Existenz allgemeiner Regeln ahnen lässt. Deshalb ist nach diesem Erlebnis ein systematisches Vorgehen in Form des explorativen Experimentierens erforderlich, um die wissenschaftliche Objektivität des Urphänomens zu sichern. ­Goethes erkenntnistheoretische Betrachtungen des Versuchs sind zugleich Selbstreflexionen des forschenden Subjekts. Jeder Blick auf die Phänomene richtet sich immer auch auf die Konstituierung dieses Blicks selbst. Das Experiment fungiert bei ­Goethe als regulierendes Medium der Aufmerksamkeit, das eine affektive, die Erkenntnisfähigkeit behindernde Überfrachtung des Forschungsobjekts vermeiden soll. Er konzipiert es als Steuerungsinstanz der Seelenvermögen, die zu deren diätetischem Einsatz führen soll, um die Objektivität der Versuchsergebnisse zu sichern. Damit das Experiment seiner Visualisierungsfunktion vollständig gerecht wird und die Seelenvermögen adäquat zum Einsatz kommen, empfiehlt G ­ oethe im VermittlerAufsatz zahlreiche Maßnahmen zur Ausräumung potentieller Hindernisse auf Subjektseite. Als Forschungsideal betrachtet er die „Entäußerung“ 114 des Menschen, mit der das überbordende, den Erkenntnisprozess störende Eigenleben der Seelenkräfte bekämpft werden sollte. Wie er später Johann Peter Eckermann mitteilt, basiert diese Forderung auf Kants Definition der Geschmacksurteile, die G ­ oethe vom ästhetischen

112 Ebd., § 36, S. 17. 113 „Alles wahre Apperçu kömmt aus einer Folge und bringt Folge. Es ist ein Mittelglied einer großen productiv auffsteigenden Kette.“ WA II,6, S. 222 (Zur Morphologie. Verfolg). 114 LA I.3, S. 285 (Der Versuch als Vermittler).

2.3  Das wissenschaftliche Selbst und seine Sinnesleistung

in den wissenschaftlichen Kontext übertrug.115 Sein Aufruf zu einer kritischen Selbstreflexion des Subjekts in einer Beobachtung zweiter Ordnung, in welcher der Forscher als sein „eigner strengster Beobachter […] immer gegen sich selbst mißtrauisch sein“ sollte,116 zielt auf eine Bereinigung des Blicks von Störungen unterschiedlicher Art wie dem Eigenleben der Einbildungskraft und vorgefassten Meinungen. Mit seinem pädagogischen Anspruch reiht sich G ­ oethes Ansatz in jene allgemeine epistemologische Funktionalisierung der Sinne ein, die die Wahrnehmungsorgane bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als zu beherrschende Erkenntnisinstanzen festschrieb. Dieser Ansatz führt ­Goethes Konzept zwar in die Nähe von Newtons Subjektbegriff, wird von beiden Forschern jedoch unterschiedlich legitimiert. Bemühte sich Newton zwar – wie im nächsten Kapitel ausführlich dargelegt – um eine Entanthropomorphisierung der Experimente, da er die Sinnestätigkeit als erkenntnistheoretischen Unsicherheitsfaktor betrachtete, musste er akzeptieren, dass Versuche im Bereich der Farbforschung ohne den Sinneseinsatz undurchführbar blieben. G ­ oethe hingegen, der in seiner Theorie der Prismenfarben die Mitwirkung des Auges betont, insistiert darauf, alle Umstände auszuräumen, welche dessen Funktion behindern könnten. Zwecks Legitimierung der Wissenschaftlichkeit griffen die Forscher – wie Christoph Hoffmann überzeugend zeigt – bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auf ein Regulierungsmodell zurück, das auf Methode, Übung und Vorschrift basierte. Der Forscher wurde wie in ­Goethes Aufsatz zum Beobachter und „Arrangeur seiner selbst“.117 Er griff zu verschiedenen selbstdisziplinierenden Maßnahmen wie der ausschließlichen Beobachtung mit gesunden und ausgeruhten Augen. Solche Techniken des Selbst beschreibt Michel Foucault als Praktiken körperlicher und geistiger Art, die der selbstreflexiven Beherrschung oder Erkenntnis des Menschen dienen. Sie führen zur Konstituierung, Sicherung oder Veränderung des Selbst unter bestimmten Zielsetzungen.118 Die in diesem Falle wissenschaftlichen Techniken des Selbst waren erforderlich, weil die einzelnen Erkenntnisvermögen des Subjekts nicht als fest gekoppelt, sondern nur als lose aneinandergefügt gedacht wurden und man ihre Kohärenz ständig als gefährdet ansah. Eine übersteigerte Einbildungskraft und ein übereilter Verstand führten ein Ungleichgewicht herbei, das eine wechselseitige Blockade der Seelenkräfte auslösen konnte.119 115 Nach Kant besitzen die reinen Geschmacksurteile keinen sinnlichen bzw. empirischen Bestimmungsgrund. Sie sind gegenüber der Existenz einer Sache gleichgültig. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, a. a. O., S. 116 – 117 sowie S. 136 – 139. Vgl. ­Goethe zu Eckermann am 11. April 1827, in: Eckermann, Gespräche mit ­Goethe, a. a. O., S. 230. Vgl. auch Neubauer, John, Der Schatten als Vermittler von Objekt und Subjekt. Zur Subjektbezogenheit von ­Goethes Naturwissenschaft, in: Böhme, Gernot (Hg.), Phänomenologie der Natur, Frankfurt am Main 1997, S. 64 – 83, hier S. 64. 116 LA I.3, S. 286 (Der Versuch als Vermittler). 117 Hoffmann, Unter Beobachtung, a. a. O., S. 28. 118 Vgl. Foucault, Michel, Subjektivität und Wahrheit, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften, 4 Bde., 4. Bd., Frankfurt am Main 2005, S. 258 – 264, hier S. 261 und S. 259. 119 Vgl. Daston / Galison, Objektivität, a. a. O., S. 237.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

Hinter dem Postulat einer Pädagogisierung der Sinne stand die Hoffnung auf ihr vollkommenes Funktionieren. Die Sinne wurden – wie Hoffmann unter Verweis auf Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht herausstellt 120 – als passive Elemente und als klar von der Verstandesleistung getrennt gedacht, der man die ausschließliche Urteilsfähigkeit zugestand, sie aber auch als alleinige potentielle Fehlerquelle ansah. In den meisten zeitgenössischen Theorien besetzte der Verstand gegenüber der Wahrnehmung deshalb eine Machtposition, weil man ihn als Formgeber der Perzeptionen betrachtete, die durch ihn erst ins Bewusstsein gelangten. Die Forderung nach einer Schulung der Sinne richtete sich deshalb eher auf eine Kontrolle des intellektuellen Urteilsvermögens, das sich primär auf falsche, aus der Wahrnehmung resultierende Schlüsse, nicht aber auf das Wissen über die Organe selbst bezog.121 Indem ­Goethe im Vermittler-Aufsatz die Selbstüberwindung des Forschers als Voraussetzung einer geglückten Welterkenntnis fordert, geht auch er vom Vollkommenheitsideal der Sinne aus. In seinem Konzept werden sie als lediglich durch Schulung zu perfektionierende vermittelnd-mediale Instanzen zwischen äußeren Einflüssen und Verstand tätig. Doch bereits im selben Text muss ­Goethe die Unmöglichkeit seines Anspruchs, allein durch sinnliche Wahrnehmung die „Data der Beurteilung nicht aus sich, sondern aus dem Kreise der Dinge [zu] nehmen, die er beobachtet“,122 erkennen. Dagegen steht zunehmend die Ansicht, dass die Wahrnehmung nicht von der intellektuellen Tätigkeit und den Vorkenntnissen des Betrachters getrennt werden kann, die den Blick auf die Objekte prägen und über diese Außenprojektion rekursiv die Sinnesleistung beeinflussen. Meldete sich dieser frühe Zweifel bereits im Vermittler-Aufsatz, wurde er kurze Zeit später in der Korrespondenz mit Georg Christoph ­Lichtenberg und im Gedankenaustausch mit Friedrich Schiller erhärtet. Lichtenberg, der davon ausging, dass es kein reines empirisches Weiß, sondern nur eine Disposition der Gegenstände dafür gibt, machte für diesen Umstand das menschliche Unvermögen verantwortlich, Urteil und empirisches Sehen auseinanderzuhalten: „Wir merken dieses freylich nicht [das Nichtvorhandensein des empirischen reinen Weiß’ – S. Sch.], weil in allen unsern Urtheilen die sich auf Gesichts Empfindungen gründen, Urtheil und Empfindung so zusammenwachsen, daß es uns in gewissen Jahren kaum möglich ist sie wieder zu trennen; wir glauben jeden Augenblick etwas zu empfinden was wir eigentlich blos schließen.“ 123

120 „Die Sinne betrügen nicht. […] und dieses darum, nicht weil sie immer richtig urtheilen, sondern weil sie gar nicht urteilen; weshalb der Irrtum immer nur dem Verstande zur Last fällt.“ Vgl. Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Hamburg 2000, S. 33. 121 Vgl. Hoffmann, Unter Beobachtung, a. a. O., S. 47. 122 LA I.3, S. 289 – 290 (Der Versuch als Vermittler). 123 Georg Christoph Lichtenberg an G ­ oethe am 7. Oktober 1793, in: Lichtenberg, Georg C ­ hristoph, Briefwechsel, hg. v. Ulrich Joost /Albrecht Schöne, 4 Bde. und 2 Teilbde., Bd. IV: 1793 – 1799 und

2.3  Das wissenschaftliche Selbst und seine Sinnesleistung

Lichtenberg hielt eine klare Trennung zwischen Beobachter und Versuchsgegenstand von vornherein für unmöglich, da die intellektuelle Prädisposition den Blick des Forschers und damit den Wahrnehmungsprozess selbst beeinflusst. In der kurzen methodischen Schrift Das reine Phänomen, die 1798 im Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und G ­ oethe entstand, zeichnet dieser den Erkenntnisweg von der Wahrnehmung zur Erkenntnis der Naturgesetze nach. Die drei Stufen dieses Schemas strukturiert er anhand des Einsatzes der Erkenntnisvermögen: Während sich in Stufe eins das empirische Phänomen in einer natürlichen Beobachtungssituation zuvörderst an die Funktion der Sinne richtet und von jedermann „erkennbar“ ist, zielt das wissenschaftliche Phänomen auf Stufe zwei stärker auf die Verstandesfunktion. Erst durch seine Wiederholung in modifizierten Experimentalkontexten ist die Voraussetzung dafür gegeben, dass die geistige Durchdringung des Wahrgenommenen glückt. So kann in diesem Regulierungsmodell den epistemischen Dingen auch deshalb ihre Unschärfe durch die Wiederholung der Versuche genommen werden, da diese nicht nur die Unwägbarkeiten der natürlichen Umgebung, sondern auch die der Betrachterseite minimieren: „Denn da der Beobachter nie das reine Phänomen [d. i. das Urphänomen – S. Sch.] mit Augen sieht, sondern vieles von seiner Geistesstimmung, von der Stimmung des Organs im Augenblick, von Licht, Luft, Witterung, Körpern, Behandlung und tausend andern Umständen abhängt; so ist ein Meer auszutrinken, wenn man sich an Individualität des Phänomens halten und diese beobachten, messen, wägen und beschreiben will.“ 124

Als Resultat aller Versuchsmodifikationen, an dessen Entstehung Wahrnehmung und Verstand gleichermaßen beteiligt sind, steht in Schritt drei das reine Phänomen, das ­Goethe zur konstanten Grundregel aller Erscheinungen erhebt.125 Rekursiv verweist die Erkenntnis dessen wiederum auf ein gelungenes Zusammenwirken der Seelenkräfte.126 Der von ­Goethe entworfene Erkenntnisweg spiegelt anschaulich die Blickbildungen wider, die er im 1806 entwickelten Schema der ganzen Farbenlehre und einem in diesem Kontext entworfenen Paralipomenon beschreibt (vgl. Abb. 3 und 4). Setzt man das Paralipomenon unter das Schema 127 und rezipiert beide Entwürfe von der Basis zur Spitze, ergibt sich folgende Lesart: Verleiten die Erscheinungen den staunenden Undatiertes, München 1992, S. 160 – 165, hier S. 162. Zu Lichtenbergs Einfluss auf G ­ oethes Farbenlehre vgl. Kapitel 3.2.2. 124 LA I.3, S. 307 (Das reine Phänomen). 125 Vgl. ebd., S. 306 – 308. 126 Nach Jost Schieren bildet die Erkenntnis des Urphänomens „eine Art Übergangs- und Schnittstelle von Idee und Empirie“. Schieren, Anschauende Urteilskraft, a. a. O., S. 175. 127 In dieser Anordnung werden beide Schemata auch in der Leopoldina-Ausgabe von ­Goethes Schriften zur Naturwissenschaft zusammengefügt. Vgl. LA I.3, S. 440 (Schema der ganzen Farbenlehre).

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

Forscher zu Beginn des Erkenntnisprozesses zu einem gaffend-unstrukturierten und oberflächlich-tastenden Blick auf dieselben, gelangt er über die empirische Beobachtung natürlicher Phänomene wie Morgenröte und Regenbogen zu den wissenschaftlichen Rubriken, in denen die Regeln der Natur durch die experimentelle Wiederholung entdeckt werden. Wie im trüben Mittel des Prismas wird im Versuch das Chaos der Affektionen in eine geregelte Ordnung des anschauenden Blicks verwandelt, der erst ein geistiges Durchdringen der Phänomene ermöglicht. Das sinnlich erfahrbare und zugleich abstrakte Ganze, d. h. die Regel des Urphänomens, die sich experimentell-prozessual aus einer Vielzahl von Einzelerscheinungen generiert, zugleich jedoch in jedem individuellen Phänomen erfahrbar wird, kann ­Goethe nur erkennen, weil sich Objekt und Subjekt im menschlichen Blick in einer Ununterscheidbarkeitszone verbinden. Der produktive Blick agiert als Medium, in dem sich Gegenstand und Denken wechselseitig durchdringen, um zu einer höheren Erkenntnis zu gelangen. Seinen epistemologischen Zugriff charakterisiert G ­ oethe nach eigener Aussage wie folgt: „[…], daß mein Denken sich von den Gegenständen nicht sondere, daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden, daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei“.128 Diesen erkenntnistheoretischen Zugang bezeichnet ­Goethe als anschauende Urteilskraft 129 und zarte Empirie,130 der Psychologe Johann Christian Heinroth als gegenständliches Denken 131 und Friedrich Schiller als rationellen Empirism.132 Mit dieser Erkenntnisweise ist G ­ oethe – wie Eckart Förster unter philosophiegeschichtlicher Prämisse herausstellt – der erste, der im Anschluss an Kant die Möglichkeit eines intuitiven Verstandes behauptet. Kant hatte dieses Vermögen auf der Suche nach einer adäquaten Erkenntnismöglichkeit von Organismen im § 77 der Kritik der Urteilskraft in Abgrenzung zum diskursiven Verstand entworfen.133 Dieses allein einer höheren Instanz als dem Menschen vorbehaltene Vermögen, das Kant als Alternative zum humanen Erkenntnisvermögen konzipierte, ist fähig, durch die Anschauung des Ganzen im Synthetisch-Allgemeinen das Besondere zu entdecken und damit wiederum 128 LA I.9, S. 307 (Bedeutende Fördernis). 129 Vgl. WA II,11, S. 54 (Anschauende Urteilskraft). 130 „Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an.“ ­Goethe, Maximen und Reflexionen, a. a. O., Maxime 565, S. 114. 131 Vgl. LA I.9, 307 (Bedeutende Fördernis). Vgl. Heinroth, Johann Christian August, Lehrbuch der Anthropologie: zum Behuf academischer Vorträge, und zum Privatstudium, Leipzig 1822, S. 387 – 388. 132 Vgl. Friedrich Schiller an G ­ oethe am 19. Januar 1798, in: Der Briefwechsel zwischen Schiller und ­Goethe, hg. v. Emil Staiger, Frankfurt am Main / Leipzig 2005, S. 548. 133 Kant sah in diesem Kontext das Problem, dass der Verstand nur durch die Analyse der Teile zur Erkenntnis des Ganzen gelangen könne, die Teile eines Lebewesens jedoch wie durch das Ganze erzeugt wirken. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, a. a. O., S. 358 – 364.

2.3  Das wissenschaftliche Selbst und seine Sinnesleistung

die Abhängigkeit der Teile vom Ganzen zu erkennen. Im Unterschied zu Kant jedoch setzt G ­ oethe diese intuitive Erkenntnis, die er auf den Menschen bezieht, bei der Betrachtung der Einzelphänomene an, um die in ihnen wirkenden Regeln der Natur erkennen zu können. Mit dieser Erkenntnismethode – so Förster weiter – gelinge es ­Goethe, Spinozas Erkenntnisideal einer scientia intuitiva, eines Schauens des Allgemeinen im Einzelnen, das dieser nur auf die Mathematik bezog, auf die kantischen Naturzwecke anzuwenden.134 Das Vermögen des Verstandes bewertet ­Goethe als unabdingbare Strukturierungshilfe des Gesichtssinns, indem er „die Freude an den Farben“ dem „Auge als Organ“ zuspricht, „die Freude an der Form“ jedoch „in des Menschen höherer Natur“ verankert.135 Er benutzt diese Funktion jedoch nicht als Legitimation für eine Höherbewertung der Ratio. Nach G ­ oethe ist der Verstand zur Erkenntnis der Naturgesetze unabdingbar auf die Sinnestätigkeit angewiesen. In der Farbenlehre schließt ­Goethe sinnliche Wahrnehmung und Idee direkt in einer kontinuierlichen Reihe zusammen und überträgt damit seine Methode vom Experimentalkontext auf die mensch­ lichen Erkenntniskräfte: „Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren. Dieses aber mit Bewußtsein, mit Selbstkenntnis, mit Freiheit und, um uns eines gewagten Wortes zu bedienen, mit Ironie zu tun und vorzunehmen, eine solche Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion, vor der wir uns fürchten, unschädlich und das Erfahrungsresultat, das wir hoffen, recht lebendig und nützlich werden soll.“ 136

In der erkenntnistheoretischen Aufwertung der Sinnestätigkeit lässt G ­ oethes Konzept Parallelen zu demjenigen Alexander Gottlieb Baumgartens vermuten, der Mitte des 18. Jahrhunderts mit der von ihm begründeten wissenschaftlichen Disziplin der Ästhetik die Sinnesempfindungen als eigene Erkenntnisart gegenüber der Ratio aufwertete. Baumgarten gelang es allerdings nicht, die Hierarchie der oberen und unteren Erkenntnisvermögen endgültig zu überwinden. Anders als G ­ oethe, bei dem der Erkenntnisprozess unabdingbar mit der Wahrnehmung verbunden ist, betrachtet Baumgarten die Wirkungsweise beider Vermögen als Komplemente und bezieht ihre 134 Vgl. Förster, Eckhart, Die Bedeutung der §§ 76, 77 der Kritik der Urteilskraft für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 56, Heft 2 (2002), S. 169 – 190. Diese Urteilskraft unterscheidet sich von der bestimmenden Urteilskraft, die ein bereits erstelltes Gesetz auf den Einzelfall bezieht, und von der reflektierenden Urteilskraft, die sich lediglich hypothetisch mit einem möglichen Gesetz befasst. Vgl. Maatsch, „Naturgeschichte der Philosopheme“, a. a. O., S. 91. 135 LA I.3, S. 437 (Das Auge). 136 LA I.4, S. 5 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Vorwort).

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Kompetenzen auf unterschiedliche Objektbereiche. Die Verstandeserkenntnis richtet sich auf distinkte, in abstrakte Begriffe fassbare Objektmerkmale und dient der analytischen Ordnung der Dinge. Die sinnliche Erkenntnis ist immer dann gefragt, wenn die Eigenschaften des Objekts unklar sind oder das Zusammenwirken verschiedener Phänomene erfasst werden soll.137 Dieses besondere Vermögen benutzt Baumgarten jedoch an anderer Stelle als Legitimation, um die Sinnlichkeit als nachrangig gegenüber dem Verstand und seiner deutlichen Erkenntnisfähigkeit zu definieren.138 Darüber hinaus entwirft Baumgarten nicht nur den Weg der sinnlichen Erkenntnis analog zur Erlangung der verstandesbasierten formalen Vollkommenheit und erhebt diese damit zum Maßstab des Wissenserwerbs. Er beschreibt auch den Verstand als Leitinstanz, als Kultivierungsmittel der unteren Erkenntnisvermögen.139 Kehren wir zurück zu ­Goethe: Seine versuchsmethodische Erkenntnis, dass der Akt der Beobachtung immer schon das Verhalten des zu erforschenden Objekts und damit das Versuchsergebnis selbst beeinflusst, wird unter den veränderten Prämissen einer apparativen Sichtbarmachung in der Quantenphysik des 20. Jahrhunderts als Heisenberg’sche Unbestimmtheitsrelation noch klarer formuliert werden. Auch wenn in ihr wie in ­Goethes Farbstudien gerade durch die Einbeziehung der Beobachtertätigkeit die Objektivität des Versuchsergebnisses zu sichern versucht wird, kann sich diese Objektivität allein wegen der Größe der Versuchsobjekte nicht über die sinn­ liche Wahrnehmung generieren.140 ­Goethes Erkenntnis der Untrennbarkeit von subjektiver Beobachtung und Erkenntnisgegenstand spiegelt sich anschaulich in der Titeländerung des Vermittler-Aufsatzes wider: Benannte ­Goethe den ursprünglichen Text mit Kautelen des Beobachters und 137 „Die Ästhetik (also Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens) ist die Wissenschaft der sinn­ lichen Erkenntnis.“ Baumgarten, Alexander Gottlieb, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der Aesthetica (1750/1758) Lateinisch – Deutsch, übersetzt u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983, S. 2. Zu den unteren Erkenntnisvermögen zählt Baumgarten neben der Sinnlichkeit die Phantasie, zu den oberen Erkenntnisvermögen den Verstand und die Vernunft. Vgl. Baumgarten, Alexander Gottlieb, Metaphysik, übersetzt v. Georg Friedrich Meier, Jena 2004, §§ 382 – 425, S.  115 – 129 und §§ 462 – 477, S.  143 – 149. 138 „Wer sich eine Sache vorstelt und sie zugleich von andern unterscheidet, der stelt sich mehr vor, als wer die Sache sich vorstelt ohne sie von andern zu unterscheiden, […] Folglich ist die Klarheit ein grösserer, und die Dunkelheit ein kleinerer Grad der Erkenntniß, wenn übrigens alles gleich ist.“ Baumgarten, Metaphysik, a. a. O., § 383, S. 115. 139 Vgl. hierzu auch die Interpretation von Solms, Friedhelm, Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder, Stuttgart 1990, S. 79. Vgl. ebenso Maatsch, „Naturgeschichte der Philosopheme“, a. a. O., S. 57 – 58. 140 Vgl. Heisenberg, Werner, Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik, in: Zeitschrift für Physik 43, Nr. 3 (1927), S. 172 – 198, vgl. auch ders., Physikalische Prinzipien der Quantentheorie, Leipzig 1930; vgl. ebenfalls Höpfner, Felix, Wissenschaft wider die Zeit. G ­ oethes Farbenlehre aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht, Heidelberg 1990, S. 173 – 174.

2.3  Das wissenschaftliche Selbst und seine Sinnesleistung

bezog sich damit auf die vom Experimentator einzuhaltenden Vorsichtsmaßnahmen zur Erlangung wissenschaftlicher Objektivität, erhielt die Schrift ihren endgültigen Namen Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt wahrscheinlich erst kurz vor ihrer Publikation im Jahre 1823. Der Titel stammt vermutlich von G ­ oethes Mitarbeiter, dem Altphilologen Friedrich Wilhelm Riemer, den ­Goethe um eine Neubenennung bat.141 Über den Grund für die Titeländerung existiert kein schriftlicher Nachweis, in späteren Jahren bezeichnete G ­ oethe Kants kritische Philosophie als indirekten Impulsgeber: „Kant […] ist der vorzüglichste, ohne allen Zweifel. […] Die Unterscheidung des Subjekts vom Objekt, und ferner die Ansicht, daß jedes Geschöpf um seiner selbst willen existiert, […]: dieses hatte Kant mit mir gemein, und ich freute mich, ihm hierin zu begegnen. Später schrieb ich die Lehre vom Versuch, welche als Kritik von Subjekt und Objekt und als Vermittlung von beiden anzusehen ist.“ 142

Die ursprüngliche Textfassung wurde nach leichten Überarbeitungen G ­ oethes im Wesentlichen beibehalten. Steht in der Schrift nach wie vor der Mensch als Erkenntnisträger im Mittelpunkt, verweist nun der zweite und publizierte Titel auf die Interdependenz von Beobachter- und Objekteigenschaften, die durch das Medium des Experiments herausgestellt wird. Der 1792 verfasste Text entstand in einer Zeit, in der ­Goethes Auseinandersetzung mit Newtons Experimentalphysik, die auf die apparative Trennung von Beobachter und Untersuchungsgegenstand setzte, noch im Anfangsstadium war. Der neu betitelte Text hingegen erschien, als sich G ­ oethe intensiv mit der Physiologie des Sehens beschäftigt hatte, wovon sein ungebrochenes Interesse an den Arbeiten des Sinnesphysiologen Johann E. Purkinje in jener Zeit zeugte. Obwohl ­Goethe in der Zwischenzeit umfangreiche Kenntnisse über die Physiologie des Auges erworben hatte, arbeitete er diese nicht mehr ein, so dass der Aufsatz bei seinem Erscheinen nach ­Goethes Kenntnisstand bereits veraltet war.143 Die sich nach 1800 herausbildende Sinnesphysiologie, welche die Sinne in ihrem individuellen Eigenleben erforschte, traf auf eine sich in jener Zeit verändernde Strategie der experimentellen Ergebnissicherung. Maßen die Wissenschaftler bis zum Ende des 18. Jahrhunderts den Sinnes- und auch den Instrumenteneinsatz am Ideal der Vollkommenheit, um Fehler zu vermeiden und die Versuchssituation zu beherrschen, deckten nun verbesserte instrumentelle Analysemethoden das Eigenleben der Apparaturen auf, die von Hilfsmitteln der Forschung zu den sie bedingenden Faktoren wurden. Ihr Eigenleben schrieb sich besonders als Messfehler in die Versuchs­ ergebnisse ein und stellte damit die Unzulänglichkeit jeder instrumentell bedingten 141 Vgl. LA II.3, S. 314. 142 ­Goethe zu Eckermann am 20. Juni 1827, in: Eckermann, Gespräche mit G ­ oethe, a. a. O., S. 229 – 230. 143 Über die Gründe kann an dieser Stelle nur spekuliert werden: Es könnte sein, dass G ­ oethe zum Zweck der Selbsthistorisierung die ursprüngliche Textform im Wesentlichen beibehielt.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

Beobachtung heraus. Forscher der messenden Wissenschaften antworteten auf diese erkannte Unvollkommenheit mit der Methode der Probalisierung. Jene epistemologische Verschiebung führte – wie Christoph Hoffmann an zahlreichen Fallbeispielen verdeutlicht – zur verstärkten Beachtung und Einbindung der eigenaktiven Sinnestätigkeit in den experimentellen Kontext. Dies geschah, indem die Forscher jener Zeit die Veränderungen im Instrumentenverständnis auf die Reflexion der Sinnestätigkeit übertrugen. War das Analogiedenken zwischen Apparaturen und Sinnesorganen zum Erwerb neuer Erkenntnisse spätestens seit Keplers Vergleich des Auges mit der Camera obscura bekannt, schlug sich diese Übertragung nun erstmals experimentalpraktisch nieder. Analog den Apparaturen musste das Fehlerpotential der Sinne in jedem Experiment als korrekturbedürftige Größe neu berücksichtigt werden. Da dessen Beachtung grundlegend für die Kombination von Instrument und Sinnesorgan war, bedurfte diese Konstellation in jedem Versuch einer erneuten Hinterfragung und Ausrichtung. Messungen, die an die Sinneswahrnehmung unterschiedlicher Beobachter anschlossen, konnten zu abweichenden Ergebnissen führen, die wiederum – wie im Fall astronomischer Beobachtungen – impulsgebend auf die Fortsetzung des Experimentalprozesses wirkten.144 Neben die als überschau- und beherrschbar gedachte Experimentalsituation der klassischen Physik Newtons war damit endgültig eine offene, unsichere Prozesshaftigkeit getreten, in der nur eine wahrscheinliche Erkenntnis der Wirklichkeit möglich wurde.145 Nachdem die Forscher den Gebrauch der Wahrnehmungsorgane noch eine Zeit lang durch Vorschriften regelten, wurde ab den 1830er-Jahren das experimentell zu berücksichtigende Fehlerpotential der Sinne endgültig akzeptiert. Sie wurden zu physikalistisch betrachteten Sinnesapparaten bzw. appareils des sensations. Diesen Begriff benutzte erstmals der Physiologe François Magendie in seiner 1816 erschienenen Schrift Précis Élémentaire 144 Vgl. hierzu die Analyse von Benzenbergs Fallversuchen und der von ihm benutzten Tertienuhr, die das Versuchsergebnis ohne Beteiligung der Sinne gewinnt, in: Hoffmann, Unter Beobachtung, a. a. O., S. 114 – 129, besonders S. 127 – 128. Zu Unterschieden in der intersubjektiven astronomischen Beobachtung, die Hoffmann als Impulsgeber für das Weiterleben eines Experimentalprozesses herausstellt, vgl. S. 131 – 179, besonders S. 172 – 179. 145 Über die wissenschaftlichen Versuchskonstellationen hinaus richtete sich die prozessuale Funktion zahlreicher optischer Apparaturen wie dem Phenakistiskop, die im 19. Jahrhundert zu Unterhaltungszwecken entwickelt wurden, auf die Aktivität und Empfindungsfähigkeit des Auges aus. Vgl. zu diesem Absatz insgesamt ebd., S. 13, 56, 128 sowie S. 254 – 255. In seiner Habilitationsschrift tritt Christoph Hoffmann den Beweis an, dass in jener Zeit Sinne und Apparaturen lediglich nach den gleichen Prinzipien analysiert und damit epistemologisch als gleichberechtigt angesehen wurden, nicht aber eine direkte Übertragung der Eigenschaften von den Sinnen auf die Apparate und Instrumente oder umgekehrt erfolgte. Vgl. ebd., S. 14. Hoffmann zeigt weiterhin auf, dass nicht die Klarheit und das Wissen um die Funktionsweise der technologischen Objekte die Unschärfe des epistemischen Dings herausstellen und damit indirekt den Erkenntnisprozess vorantreiben wie in Rheinbergers Experimentalsystemen. Im 19. Jahrhundert sind es gerade die Unschärfen und Differenzen der Apparate selbst, die als Generator des Wissens fungieren. Vgl. ebd., S. 87.

2.3  Das wissenschaftliche Selbst und seine Sinnesleistung

de Physiologie 146 – allerdings noch unter einer anderen Prämisse: Trotz der verwendeten Instrumentenmetapher wurde hier unter dem Begriff des „Apparats“ ausschließlich der Körper als physiologisches, arbeitsteilig organisiertes Funktionssystem verstanden, das aus mehreren (Teil-)Organen besteht, die einem gemeinsamen Zweck dienen.147 Entwirft ­Goethe seine erkenntnistheoretischen und Farbdiskurse in der Übergangszeit zwischen Beobachterregime und einsetzender physikalistischer Reflexion der Sinnesapparate, bleibt er in seinen Farbstudien dem Modell der Fehlerfreiheit der Sinne verhaftet. Obwohl er das untrennbare Zusammenwirken von Wahrnehmung und Denken in seiner Erkenntnismethode explizit reflektiert, betrachtet er die Unzulänglichkeiten der Sinne als abwendbare Größen. Mit diesem Ansatz inszeniert er die Tätigkeit des Auges als Primärinstanz der Wahrheitsfindung und potentiell vollkommene Erkenntnisbasis überhaupt, die er als gleichwertige Alternative zur mathematisch-abgeleiteten Wahrheit der klassischen Physik Newtons setzt. Immer wieder betont G ­ oethe das Erfordernis gesunder und wacher Sinne, um deren Fehleranfälligkeit einzudämmen. So stellt G ­ oethe die Darlegung der physikalisch erzeugten Farben im didaktischen Teil der Farbenlehre unter die Prämisse des Vollkommenheitsideals der Sinne: „[…] und wir kommen hier abermals in den Fall, zu Ehren unserer Sinne und zu Bestätigung ihrer Zuverlässigkeit einiges auszuführen.“ 148 Auch in seiner Rolle als prominentester Wegbereiter der Sinnesphysiologie gesteht G ­ oethe dem von ihm aufgewerteten Eigenleben des Auges kein abweichendes Verhalten im Versuch zu. Das Ideal der Fehlerfreiheit der Sinneswahrnehmung transferiert er von der Physik auf den Bereich der physiologischen Farben. Bei deren Beschreibung verweist er immer wieder darauf, dass ein gesundes, entspanntes Auge die Farberscheinungen am ehesten und intensivsten wahrnimmt: „Die Höfe [subjektiv erzeugte Phänomene um einen wahrgenommenen Gegenstand – S. Sch.] erscheinen am lebhaftesten, wenn das Auge ausgeruht und empfänglich ist.“ 149 Pathologien des Auges hingegen erhöhen und verfälschen – so ­Goethe – die Dauer der Nachbilderscheinungen: „Je schwächer das Auge ist, desto länger bleibt das Bild in demselben. Die Retina stellt sich nicht sobald wieder her, und man kann die Wirkung als eine Art von Paralyse ansehen.“ 150 Während seiner Arbeit an der Farbenlehre interpretiert ­Goethe die Organfunktionen nicht wie zahlreiche spätere Sinnesphysiologen nach technischen Versuchsabläufen, 146 Vgl. Magendie, François, Grundriß der Physiologie, übersetzt v. Carl Friedrich Heusinger, 2 Teile, Teil 1, Eisenach 1820, S. 139 (Erstausgabe Paris 1816). 147 Vgl. Hoffmann, Unter Beobachtung, a. a. O., S. 9 – 11. 148 LA I.4, § 180, S. 72 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). Vermutlich ist in diesem generellen Postulat der Grund dafür zu suchen, dass ­Goethe in der Beschreibung der einzelnen Versuche auf die Empfehlung individueller Vorsichtsmaßregeln verzichtet. 149 Ebd., § 92, S. 51. 150 Ebd., § 122, S. 57.

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sondern die von ihm postulierte Wahrheitsfindung des Auges aufwertend den Menschen selbst als vollkommene Apparatur. Diese mache – G ­ oethes eigener Praxis zum Trotz – physikalische Instrumente überflüssig: „Der Mensch an sich selbst, in so fern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will. […] Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt.“ 151

Diese Aussage traf G ­ oethe im Jahre 1808 – ganze acht Jahre, bevor Magendie den physiologisch ausgerichteten Begriff Sinnesapparat in die Wissenschaftssprache einführte. Dachte ­Goethe bereits hier den Menschen allgemein im Verhältnis zur Apparatur und erhebt diese zum ausschlaggebenden Definitionskriterium, wird er erst im Studium der entoptischen Farben, dem er sich nach der Publikation der Farbenlehre widmete, die Funktion spezifischer Geräte und die Farberzeugung des Auges nach gleichen Prinzipien erklären.152 Das Fehlerpotential der Apparaturen wendet G ­ oethe lediglich polemisch gegen Newtons Camera-obscura-Versuche: Denjenigen Prismen, die, vors Auge gehalten, Farben erzeugen, gesteht er eine gewisse Unschärfe zu: „Ferner lassen sich durch geringe Prismen, die nicht von dem reinsten Glase sind, die Erscheinungen noch deutlich genug beobachten.“ 153 Ihr Einsatz in Newtons dunkler Kammer hingegen führe zu fehlerhaften Versuchsergebnissen: „Wenn die Sonne durchs Prisma scheint, so offenbart sie alle Ungleichheiten, innere Fäden und Bläschen des Glases, wodurch die Erscheinung verwirrt, getrübt und mißfärbig gemacht wird.“ 154 Generell diskutiert G ­ oethe die potentielle Fehlerhaftigkeit der Instrumente jedoch nicht, sondern macht – wie in Kapitel 2.2 gezeigt – den Wert eines Versuchs: seine Wiederholbarkeit, unter anderem an einer bekannten und damit implizit als beherrschbar gedachten Apparatur fest. Diese Auffassung unterscheidet ihn von Jean Senebiers generellem Zweifel an der eindeutigen Wiederholbarkeit des Experiments, den dieser unter Bezug auf Johann Heinrich Lamberts Theorie der Zuverlässigkeit der Beobachtungen und Versuche formuliert. Dieser 1765 entstandene kurze Aufsatz Lamberts verweist auf den nahenden Einstellungswandel zur Integration von Fehlern in den Versuchsablauf und ihren Folgen. Lambert konstatiert die Unmöglichkeit, eine und dieselbe Sache mehrmals auf die gleiche Weise zu beobachten. Dafür macht er nicht nur subjektive 151 WA IV,20, S. 90 (­Goethe an Carl Friedrich Zelter am 22. Juni 1808). 152 Vgl. hierzu die ausführlichere Darlegung in den Kapiteln 3.6.2 und 4.2 dieser Arbeit. 153 LA I.4, § 301, S. 105 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 154 Ebd., § 303, S. 105.

2.3  Das wissenschaftliche Selbst und seine Sinnesleistung

Faktoren wie die veränderliche Natur der Sinne und die Nachlässigkeit des Beobachters, sondern auch den Zustand der Werkzeuge verantwortlich.155 Die Zuverlässigkeit der Instrumente differenziert Jean Senebier je nach ihrem Anwendungsbezug zum Betrachter: Die Wirkungen komplexer Apparaturen in künstlich geschaffenen Versuchssituationen beschreibt er als unbeeinflussbar, die Kontrollmacht des Experimentators damit als beschränkt. Tradierte optische Instrumente wie das Mikro- oder das Teleskop, die sich in ihrer Funktionsweise an die Sinnestätigkeiten anpassen und diese unterstützen bzw. verstärken, fasst er als leichter, wenn auch nicht vollständig kontrollierbar auf. Die erkenntnistheoretische Hierarchie dieses Verhältnisses beschreibt Senebier klar, wenn er die Werkzeuge als Hilfsmittel der Sinne, die Sinne als Werkzeuge der Seele definiert.156 Indem er die Notwendigkeit von Werkzeugen für detaillierte Beobachtungen thematisiert, bewertet er die Sinnestätigkeiten allerdings als defizitär. Hier steht „der logischen [d. h. epistemologisch gewichteten – S. Sch.] Nachordnung der Werkzeuge hinter die Sinne […] in der Praxis des Beobachtens die Nachordnung der Sinne hinter die Werkzeuge gegenüber“.157 Eine solche Ambivalenz zeigt sich auch in G ­ oethes Bewertung des Verhältnisses von Instrumenten und Sinnen. G ­ oethes Kritik der optischen Geräte ist allgemein bekannt. Sie richtete sich in Sonderheit auf Mikro- und Teleskope sowie Brillen und damit auf Instrumente, welche die Raumwahrnehmung unterstützen. Allen Einwänden zum Trotz musste G ­ oethe diese Geräte dennoch benutzen, da sich die Phänomene wegen ihrer Größe der natürlichen Sichtbarkeit entzogen. Er mikroskopierte beispielsweise nicht nur in seinen botanischen, mineralogischen und zoologischen Studien, sondern empfahl auch in der Farbenlehre die Anwendung von Lorgnette und Mikroskop.158 Allein die Brille verurteilte er aufs Schärfste, da er sie in doppelter Weise als Störfaktor des von ihm postulierten Harmonieprinzips zwischen Mensch

155 Vgl. Senebier, Kunst zu beobachten, a. a. O., S. 234. Vgl. auch Lambert, Johann Heinrich, Theorie der Zuverlässigkeit der Beobachtungen und Versuche, in: ders., Beiträge zum Gebrauche der Mathematik und deren Anwendung, 4 Bde., 1. Bd., Berlin 1792, S. 424 – 488, hier S. 425. 156 Vgl. Senebier, Kunst zu beobachten, a. a. O., S. 128, 131 und S. 118. 157 Vgl. zu diesem und zum vorhergehenden Absatz Hoffmann, Unter Beobachtung, a. a. O., S. 43 – 50, Zitat S. 43. 158 Zum Einsatz des Mikroskops vgl. z. B. ­Goethes Briefe an Friedrich Heinrich Jacobi vom 12. Januar 1785 und vom 14. April 1786, in: WA IV,7, S. 8 und S. 205. Zur Benutzung raumvergrößernder Instrumente in G ­ oethes Farbstudien vgl. exemplarisch LA I.4, §§ 368, S. 125 und § 375, S. 127 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). Mit der Lorgnette bewies G ­ oethe die subjektive Erzeugung farbiger Spiegelungserscheinungen, mit dem Mikroskop intensivierte er deren Farben. Zu G ­ oethes erkenntnistheoretischer Bewertung von Mikroskop und Teleskop vgl. Böhme, Hartmut, Die Metaphysik der Erscheinungen. Teleskop und Mikroskop bei ­Goethe, Leeuwenhoek und Hooke, in: Schramm, Helmar / Schwarte, Ludger / Lazardig, Jan (Hg.), Kunstkammer – Laboratorium – Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin / New York 2003, S. 359 – 396.

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und Welt auffasste. Erstens betrachtete er sie als Störung des natürlichen Blickwechsels zwischen dem Brillenträger und seinem Gegenüber. Sie verstelle dessen Blick auf das unbewaffnete Auge, das G ­ oethe als Spiegel der Seele betrachtet.159 Zweitens beeinträchtige sie durch ihren scharfstellenden Effekt das ausgewogene Verhältnis der Seelenvermögen Wahrnehmung und Verstand, wie G ­ oethe scharfzüngig in Wilhelm Meisters Wanderjahre formuliert: „Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger, als er ist, denn sein äusserer Sinn wird dadurch mit seiner inneren Urteilsfähigkeit ausser Gleichgewicht gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, ihr Inneres Wahres mit diesem von aussen herangerückten Falschen einigermassen auszugleichen. So oft ich durch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefalle mir selbst nicht; ich sehe mehr, als ich sehen sollte, die schärfer gesehene Welt harmoniert nicht mit meinem Inneren, und ich lege die Gläser geschwind wieder weg, wenn meine Neugierde, wie dieses oder jenes in der Ferne beschaffen sein möchte, befriedigt ist.“ 160

­Goethes Ablehnung der Brille resultiert sicherlich aus der um 1800 zur Mode gewordenen Monokel- und Augenglasbenutzung. Seine Kritik richtet sich auf eine instrumentell erzeugte Reizüberflutung, die die optische Wahrnehmung übermäßig intensiviert und dadurch die Urteilskraft überfordert, die anders als das Auge ohne instrumentelle Verstärkung auskommen muss. Die auf die äußeren Gegenstände zwangsgelenkte Aufmerksamkeit führt nach G ­ oethe zur Entfremdung des Subjekts von sich selbst und macht den Betrachter zu einem anderen Menschen. Mit Benutzung einer Brille ziehen nicht mehr die natürlichen Phänomene die Aufmerksamkeit auf sich und animieren zum visuellen Ausblenden des Unwichtigen, sondern alles Wahrgenommene – gleich welcher Bedeutung – zeigt sich in einer überdeutlichen Präsenz. In solchen Fällen fungiert das Chaos bei G ­ oethe nicht als experimentell eingesetztes Schöpfungsforum des Trüben oder metaphorische Schöpfungskraft wie in der Malerei, sondern ins Paradoxe gekehrt als eine Konfusion der Schärfe, in dem die visuell klargestellten Objekte überbetont erscheinen.161 ­Goethe war nach eigener Aussage kurzsichtig. Diese sensuelle Einschränkung kehrte er ins Positive, indem er sie ästhetisierte „Sehr bald gegen die sichtbare Natur gewendet. Kein eigentlich scharfes Gesicht. Daher die Gabe die Gegenstände anmutig zu 159 Vgl. ­Goethe zu Eckermann am 5. April 1830, in: Eckermann, Gespräche mit ­Goethe, a. a. O., S. 693. Vgl. auch Kirchmair, Hans, ­Goethes Augen. Eine medizinisch-literarische Studie, in: Medizinische Monatsschrift: Zeitschrift für allgemeine Medizin und Therapie 12 (1958), S. 697 – 703, hier S. 698. 160 WA I,24, S. 183 – 184 (Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden). 161 Vgl. Ullrich, Wolfgang, Unschärfe, Antimodernismus und Avantgarde, in: Geimer, Peter (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 381 – 421, hier S. 382 – 384.

2.3  Das wissenschaftliche Selbst und seine Sinnesleistung

sehen.“ 162 Aufgrund dieser Ausführung darf G ­ oethe jedoch keinesfalls als ein Verfechter der romantischen Kunst betrachtet werden. Ihre nebulistischen Motive, die um 1800 das auf einer mimetischen Darstellung beruhende Verhältnis Bildschärfe = Bildwahrheit endgültig durchbrachen, wurden von ihm mehrfach kritisiert. Die romantische Malerei warf den Menschen in ihrer Abneigung gegen alles Markante auf sich selbst zurück, auf seinen Seelenzustand und seine Erinnerungen. Ihre Bilder dienten als Projektionsflächen für die eigenen subjektiven Stimmungslagen, nicht jedoch als äußeres Ziel der Aufmerksamkeit.163 Anders als in diesem einseitigen, das Subjektive überbetonenden Verhältnis benutzte G ­ oethe in seinen physikalischen Experimenten das Chaos des Trüben als Medium, das subjektiven Blick und objektive Vorlage paritätisch verbindet, um eine farbliche Ordnung zu erzeugen. Eine besondere, eine trübe „Brille“ erweist sich hier für die Sichtbarmachung der Farben als unabdingbar: das Prisma. Es wird in ­Goethes subjektiven Refraktionsversuchen vors Auge gehalten, um beim Blick auf eine Hell-Dunkel-Grenze Farben zu erzeugen.164 Das Prisma zeigt die Refraktionsphänomene am eindrucksvollsten: „Die größte Verrückung des Bildes […] bringen wir durch Prismen hervor, und dies ist die Ursache, warum durch so gestaltete Gläser die Farbenerscheinung höchst mächtig werden kann.“ 165 Beschreibt ­Goethe hier das zielgerichtet eingesetzte Potential des Instruments, neue Farbdaten zu produzieren, thematisiert er mögliche Fehler des Prismeneinsatzes nicht. Ein Grund für dieses Verhalten könnte in der einfachen und leichten Handhabbarkeit dieser Instrumente liegen, die im oben beschriebenen Sinn Senebiers leicht kontrollierbar sind. Indem diese auf die Sinnesfunktion abgestellt werden, fungieren sie als Extension und Funktionsverstärkung des menschlichen Blicks. Diese Anpassung an die Sinnesleistung bzw. deren instrumentelle Potenzierung zeigt sich besonders in G ­ oethes Empfehlung für den Bau eines großen Wasserprismas, das eine aus Glastafeln bestehende, in einer Vorrichtung befestigte einfache Apparatur ist, die mit Wasser gefüllt wird. Er empfiehlt dieses Ins­ trument seinen Lesern nicht nur aus Gründen der schwierigen Erwerbbarkeit normaler Glasprismen, sondern auch und besonders wegen der Entlastung des Gesichtssinns: „Ein solches prismatisches Gefäß hat den Vorzug, daß man durch solches bequem, nach großen und kleinen Tafeln sehen und die Erscheinung der farbigen Ränder ohne Anstrengung der Augen beobachten kann.“ 166 162 LA I.11, S. 218 (Naturwissenschaftlicher Entwicklungsgang). 163 Vgl. beispielsweise die Aussage in G ­ oethes Purkinje-Rezension, in der er die „weichliche[n] Kreidezeichnung“ verurteilt. Vgl. FA I.25, S. 827 (Das Sehen in subjektiver Hinsicht. Von Purkinje. 1819). Zum Verhältnis von Bildschärfe und -wahrheit vgl. Ullrich, Unschärfe, a. a. O., S. 382. Zur Bedeutung der Unschärfe in der romantischen Malerei vgl. ders., Die Geschichte der Unschärfe, Berlin 2003, S. 14 – 17. 164 Zur erkenntnistheoretischen Bedeutung der subjektiven dioptrischen Experimente vgl. die ausführlichere Darlegung in Kapitel 2.4 dieser Arbeit. 165 LA I.4, § 211, S. 80 – 81 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 166 LA I.3, S. 39 (Beiträge zur Optik. Zweites Stück). Mit dem Wasserprisma führte G ­ oethe auch objektive Versuche durch, in denen das Auge nicht aktiv in der Experimentalsituation Farben erzeugt.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

Wie Marshall McLuhan in seiner Mediologie herausstellt, führt die instrumentelle Erweiterung des Selbst rekursiv zu ihrer Integration in den Wahrnehmungsvorgang und verändert diesen.167 Da die Spektralfarben an eine apparative Hervorbringung gebunden sind, ist G ­ oethe in seinen Refraktionsversuchen auf Instrumente angewiesen. Natür­ liches Sehorgan und Instrument geraten hier in ein spannungsreiches Verhältnis. Dient das Auge bei G ­ oethe als alleiniges Organ der Wahrheitsfindung, reicht seine Leistung in den Refraktionsversuchen nicht aus. Denaturiert der Instrumentengebrauch zwar das natürliche Sehen und stellt es als defizitär heraus, konstituiert er zugleich den Einsatzpunkt für die sinnliche Erfahrbarmachung der Farben. Auf diese Weise integriert das Auge die Entwertung seiner natürlichen Leistung in den Blick, der nur in Allianz mit dem Prisma die Farben hervorbringen kann. Umgekehrt gewinnt das Instrument seinen wissenschaftlichen Wert erst durch die Mitwirkung des Auges. Wenn G ­ oethe den Gesichtssinn als entscheidenden Gradmesser der Erkenntnis aufwertet, könnte hinter dieser Einschätzung durchaus auch die unbewusste Abwehr des als notwendig erkannten Instrumenteneinsatzes stehen: „Da nun unsre Sinne, insofern sie gesund sind, die äußern Beziehungen am wahrhaftesten aussprechen, so können wir uns überzeugen, daß sie überall, wo sie dem Wirklichen zu widersprechen scheinen, das wahre Verhältnis desto sichrer bezeichnen. […] An farblosen Gegenständen brachten wir durch farblose Mittel farbige Erscheinungen hervor und wurden zugleich auf die Grade des Trüben solcher Mittel aufmerksam.“ 168

Das Zusammenwirken von Sinneswahrnehmung und Farbentwicklung in den epistemologisch unterschiedlich gewichteten Refraktionsexperimenten Newtons und ­Goethes und die in diesem Vorgang entstehenden Bilder sind Thema des folgenden Kapitels.

Er beklebte die Glasflächen mit Pappen, in denen Auslassungen enthalten sind, so dass bei durchscheinendem Sonnenlicht an den Rändern dieser Auslassungen Hell-Dunkel-Grenzen entstehen. Diese erzeugen gemeinsam mit dem einfallenden Licht – wie in der Camera obscura – an einer dem Prisma gegenüberliegenden Fläche Refraktionsfarben. 167 McLuhan fasst alle Erfindungen und neuen Techniken als durch geschichtliche Entwicklungen bedingte Extensionen der Körperorgane und des Nervensystems auf, wofür er zahlreiche medienhistorische Belege anführt. Er untersucht, wie sich Wahrnehmung und Techniken wechselseitig verändern und die Apparaturen auch das intersensuale Verhältnis beeinflussen. Durch die (teilweise) Abgabe ihrer Funktionen an die Apparaturen wird das intrakorporale Gleichgewicht gestört, um dessen Restituierung sich der Organismus bemüht. Vgl. McLuhan, Magische Kanäle, a. a. O., S. 77 – 81. 168 LA I.4, § 182, S. 73 (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

2.4  Newtons Bilder – ­Goethes Bilder

2.4 Newtons Bilder – G ­ oethes Bilder „Voll innerer Kraft die Augen, den Gegenstand zu fassen, ihn zu ergreifen, nicht bloß zu beleuchten; nicht ihn ins Gedächtnis aufzuhäufen; sondern ihn zu verschlingen, und in das große All, das im Haupte ist, immanieren zu lassen. – Augen voll Schöpfungskraft – und Augenbraunen voll der lichtvollsten, solidesten Fruchtbarkeit.“ 169 Mit diesen Worten, die die unverhohlene Faszination des Bildbetrachters widerspiegeln, beschreibt der junge ­Goethe in einem Beitrag zu Lavaters Physiognomischen Fragmenten vier Newton-Porträts. Projiziert G ­ oethe hier noch seine eigene, in frühen Jahren rein künstlerisch geprägte Auffassung eines aktiven, weltergreifenden Auges in Newtons bildlich fixierten Blick, wird er in seinen späteren Farbstudien an dessen Versuchen die wissenschaftliche Irrelevanz des Sehens kritisieren. Auch Jonathan Crarys Argumente zielen in die gleiche Richtung. In seinem programmatischen Werk Techniques of the observer stellt er die geschlossene Experimentalsituation der newtonischen Optik der offenen Prozesshaftigkeit der physiologisch erzeugten Farben gegenüber – derjenigen Farben, die G ­ oethe als Basis seiner Lehre verankert. In seiner Beschreibung der sich zwischen 1810 und 1840 ereignenden tiefgreifenden Umstrukturierung des Sehens und seiner wissenschaftlichen Erklärungsmuster analysiert Crary polarisierend den Übergang vom statisch visuellen Bezug der Camera obscura zur Ortlosigkeit der allein durch das Auge erzeugten Farben. Crary begreift die Camera obscura als verhaltensstrukturierendes Dispositiv des Beobachters, das die äußere Realität von ihrer Repräsentation im Innenraum separiert. Durch die Trennung von Auge und Apparatur erfolgt der Repräsentationsvorgang unabhängig vom Betrachter,170 so dass dessen sinnliche Erfahrungen im Erkenntnisprozess entwertet werden und er sich der Bedeutung seines Körpers mit dessen physiologischen Vollzügen als unabdingbarem Teil des Versuchs nicht bewusst wird. Dennoch – so argumentiert Ulrike Hick – stehe der Mensch weiterhin im Mittelpunkt des Geschehens, und zwar als intelligibles Wesen, das die Beziehungen zwischen Außenwelt und repräsentiertem Bild ordne, um dadurch seine exponierte Position in der Natur einmal mehr herausstellen zu können.171 Crary berücksichtigt nicht, dass auch Newtons Farbexperimente – der Nichtbeachtung der experimentellen Bedeutung des Körpers zum Trotz – auf die Sinnestätigkeit angewiesen sind. Deren erkenntnistheoretische Beachtung wandelt sich in Newtons Studien, um in den Opticks ihre paradigmatische Festschreibung zu finden. Ebenso wenig beachtet Crary die Rückwirkungen von G ­ oethes Erkenntnis eines aktiven Auges in den physiologischen Farbstudien auf die Theorie des physikalischen Experiments. In der Farbenlehre 169 FA I.18, S. 168 (Anteile an Lavaters ›Physiognomischen Fragmenten‹ ). 170 Vgl. Crary, Techniken des Betrachters, a. a. O., S. 48 – 52. 171 Vgl. Hick, Ulrike, Geschichte der optischen Medien, München 1999, S. 78. Vgl. zur allgemeinen Medialität der Camera obscura ebd., S. 22 – 80, besonders zur Camera obscura als Dispositiv ebd., S.  77 – 80.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

schreibt ­Goethe die bereits in den Vorarbeiten angesprochene Mitwirkung des Betrachters bei der physikalischen Farberzeugung ausdrücklich fest und systematisiert davon ausgehend die Refraktionsversuche neu. Nachfolgend wird die jeweilige subjektbezogene (Rück-)Seite von Newtons und G ­ oethes physikalischen Experimenten herausgearbeitet und dargelegt, wie ­Goethe die farbigen Refraktionsphänomene als ästhetische Bilder interpretiert, in deren Generierung die aktive Tätigkeit des Gesichtssinns integriert ist. Auch wenn Newton in seiner physikalischen Theorie der Farbentstehung dem Auge keine eigenständige Bedeutung beimaß, entwickelte er jene wahrscheinlich unter Zuhilfenahme physiologischer Konzepte,172 indem er Funktionen des menschlichen Körpers auf ein physikalisches Modell übertrug. McGuire / Tamny arbeiteten heraus, dass die Physiologie des menschlichen Körpers durchaus eine Quelle für Newtons Theorie der Prismenfarben gewesen sein könnte. In seinen frühesten Aufzeichnungen zu Licht, Farbe und Sensation im Trinity Notebook (1664 – 1665) zeigen die Forscher ein mechanistisches, an einem mimetischen Modell ausgerichtetes Körperkonzept auf: Nach Newton erregen die Muster und Konfigurationen äußerer Objekte ähnliche Muster in den Sinnesorganen. Von ihnen werden die Reize durch die Nerven zum Gehirn befördert, in dem ein sensorium commune bzw. Gemeingefühl – ein sechster, allen anderen Sinnesorganen übergeordneter Sinn – die Erregungsmuster präsentiert. Das sensorium commune definierte Newton als eine bestimmte materielle Gehirnregion, die als Interaktionsforum zwischen Körper und Seele fungiert. Als Transportmedium des Reizes durch die Nerven nimmt er einen unsichtbaren Äther an. Körperextern und intern verursachte Erregungen richten sich gleichermaßen an Nerven und sensorium commune.173 Die Innen-Außen-Analogie des Abbildmodells entwickelte Newton auf der Basis physiologisch erzeugter Farben. Er schaute nach einem Blick in die Sonne unterschiedliche Objekte an, um die Wirkung von Nachbildeffekten auf die Wahrnehmung bestimmter Farben zu untersuchen. Aus der Beobachtung „[…] after the motion of the spirits in my eye were almost decayed, so that I could see all things with their natural colors […]”174 schlussfolgerte er, dass eine mögliche Bedingung für die Farbwahrnehmung ein spezifischer Erregungsgrad von Kräften – Newton beschreibt sie als spirits – sein könnte. 172 Vgl. Steinle, Friedrich, Newton’s Colour Theory and Perception, in: Petry, Michael John (Hg.), Hegel and Newtonianism, Dordrecht u. a. 1993, S. 569 – 577, hier S. 576. 173 Vgl. McGuire,  J. E. / Tamny, Martin, Physiology and Hobbesian Epistemology, in: dies. (Hg.), Certain Philosophical Questions: Newton’s Trinity Notebook, Cambridge et al. 1983, S. 216 – 240, hier S. 224, 220 und S. 232. 174 Isaac Newton an John Locke am 30. Juni 1691, zit. n. ebd., S. 229. Über die Interaktion zwischen Objekt und Auge hinaus legte Newton dar, dass er nach dem Abklingen der Nachbilder lediglich durch seine Phantasie bei geschlossenen Lidern in der Lage ist, diese Erscheinungen wieder hervorzurufen. Newton setzt hier die Wirkungen von realen und imaginativen Erscheinungen gleich: „[…] that my fantasy and the Sun had the same operation upon the spirits in my optic nerve, and that the same motions are caused in my brain by both […].” Ebd.

2.4  Newtons Bilder – ­Goethes Bilder

Das mechanistische Konzept der Physiologie diente ihm besonders in denjenigen Versuchen, in denen ein haptischer Reiz aufs Auge Farben erzeugt, als Mittel physikalischer Kausalerklärungen. In einfachen Experimenten, in denen die Farbe durch Druck eines Fingers aufs Auge entsteht, bemerkte Newton, dass die gesehene Farbe von der Druckstärke abhängt. Nach Druckintensivierung durch das Einschieben einer Kupferplatte und das Einführen eines länglichen, nadelartigen Gegenstandes zwischen Auge und Augenhöhle erkannte Newton, dass die Farbe nicht ausschließlich monokausal erzeugt wird, sondern durch mehrere ineinandergreifende Ursachen entstehen kann. Neben der Druckstärke wird sie z. B. auch von der Helligkeit des Raumes beeinflusst, in dem sich der Betrachter befindet.175 Die Spezifik der Einzelfarben äußerer Gegenstände erklärte Newton aus der Gleichoder Ungleichförmigkeit der Teilchenbewegung. Die auf das Auge fallenden Farbstrahlen erzeugen im Äther des optischen Nerven unterschiedliche Vibrationen, die dieser zum Sensorium weiterleitet. In diesem Übertragungsmodell, in dem Newton für physikalische und physiologische Vorgänge gleiche Prinzipien postuliert, darf sich die Teilchengeschwindigkeit nicht ändern, um eine adäquate Wahrnehmung der farbigen Außenwelt zu garantieren. Eine solche Gefahr sieht Newton in Pathologien wie verengten oder blockierten Nerven. Auf diese Weise deklariert er den menschlichen Körper zum potentiellen Erkenntnishindernis Nummer eins.176 In diesen frühen Versuchen, in denen Newton die Farbe lediglich als Eigenschaft der Teilchenbewegung, nicht aber als Bestandteil des weißen Lichts beschreibt, gelingt ihm eine klare quantitative Zuordnung von Teilchengeschwindigkeit und einzelnen Farben nicht. Bereits kurze Zeit später, im 1666 verfassten Essay Of Colours, in dem Newton sein berühmtes experimentum crucis vorwegnimmt,177 betrachtet er die Farbe als Eigenschaft des Lichts. In den wenig später gehaltenen Vorlesungen am Trinity College in Cambridge, die nach seinem Tod als Optical Lectures veröffentlicht wurden,178 und den 1704 erschienenen Opticks verschieben sich die Prioritäten zwischen Physiologie und Physik. 175 Vgl. ebd., S. 233 – 237. 176 Die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der gleichförmigen Teilchenbewegung erzeugen die bunten Farben Rot, Gelb, Blau und Grün, die der ungleichförmigen die unbunten Farben Weiß, Schwarz und Grau. Vgl. Newton, Isaac, Certain Philosophical Questions, in: McGuire / Tamny (Hg.), Certain Philosophical Questions: Newton’s Trinity Notebook, a. a. O., S. 336 – 503, hier S. 431 – 433 und S. 387. Vgl. McGuire, J. E. / Tamny, Martin, The origin of Newtons Optical Thought and its Connection with Physiology, in: dies. (Hg.), Certain Philosophical Questions: Newton’s Trinity Notebook, a. a. O., S. 241 – 274, hier S. 249 und S. 253. 177 Dieses Experiment beschreibt Newton erst in seinem berühmten Brief New Theory about Light and Colors vom 6. Februar 1672 an die Royal Society. Vgl. Newton, New Theory about Light and Colors, a. a. O., S.  24 – 25. 178 Diese Vorlesungen hielt Newton 1670 – 1672. Sie wurden erst ein Jahr nach seinem Tod, 1728, publiziert. Zum hier Dargelegten vgl. Lecture 14, in: Shapiro, Alan E. (Hg.), The Optical Papers of Isaac Newton. Volume I: The Optical Lectures 1670 – 1672, Cambridge et al. 1984, S. 575 – 584.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

Entscheidend an der Linsenfunktion des Auges, die analog zu Glaslinsen und anderen optischen Objekten behandelt wird, ist allein der Vorgang der Lichtbrechung und das erzeugte Bild auf der Retina.179 Newtons Objektivierung des menschlichen Auges steht exemplarisch dafür, dass der menschliche Körper in der frühen Neuzeit selbst zum Teil einer mechanischen Wahrnehmungsapparatur wird, die den durchkonstruierten Bauplan der Natur zu lesen versucht. Das versachlichte Sehorgan wird zu einer Apparatur unter vielen, das ausschließlich in dieser Funktion als unabdingbarer Teil der Experimentalanordnung fungiert. Ist der Empirismus des 17. Jahrhunderts zwar an die Evidenz des Sichtbaren gebunden, werden durch die Entwicklung und den verstärkten Einsatz neuer optischer Medien wie Fernrohr und Mikroskop die menschlichen Sinne als letzte Beweisinstanz entwertet.180 Erstmalig treten jene Darstellungsmedien zwischen die bisherigen Kategorien des Sichtbaren und Unsichtbaren, was eine fundamentale epistemologische Umordnung zur Folge hat. Das Verhältnis von Visualität und Nichtsichtbarkeit definiert sich fortan nicht mehr über deren ontologische Differenzen, sondern ist von den technischen Funktionen der Medien abhängig.181 Initialisierten Newtons frühe physiologische Betrachtungen wahrscheinlich seine Theorie der Prismenfarben, entmachteten seine späteren mathematischen Erklärungsversuche die epistemologische Rolle der Sinnestätigkeit. Griffen in seinen frühen Skizzen Physiologie und Physik stark und nicht immer widerspruchslos ineinander, bemühte er sich in seinen späteren Schriften um eine Trennung beider. Klar stellt er in den Opticks heraus, dass er sich nur mit den quantifizierbaren, im Licht enthaltenen Farben beschäftigen möchte, nicht aber mit den physiologisch hervorgebrachten: „Ich spreche hier von Farben nur insoweit, als sie aus Licht entstehen; denn bisweilen entspringen solche aus anderen Ursachen, z. B. wenn wir im Traume durch die Einbildungskraft Farben sehen, oder wenn ein Irrsinniger Dinge vor sich sieht, die gar nicht existiren, oder wenn wir in Folge eines Schlags aufs Auge in einem Winkel zudrücken, während wir zur Seite blicken, und dann Farben sehen, wie die Augen im Pfauenfederschwanz. Wo diese oder ähnliche Ursachen nicht dazwischen treten, entspricht die Farbe immer der einen oder allen Strahlenarten, aus denen das Licht besteht, wie ich bei allen möglichen Farbenerscheinungen constant gefunden habe, die ich bis jetzt zu untersuchen im Stande war.“ 182 179 Newton fasst genau wie Johannes Kepler 100 Jahre vor ihm die Funktion des Auges nach einem rein mechanistischen Modell auf. 180 Vgl. Kutschmann, Werner, Der Naturwissenschaftler und sein Körper. Die Rolle der „inneren Natur“ in der experimentellen Naturwissenschaft der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1986, S. 113 – 119 und S.  144 – 150. 181 Vgl. Böhme, Metaphysik der Erscheinungen, a. a. O., S. 367. 182 Newton, Optik, a. a. O., Erstes Buch, Zweiter Teil, Prop. VII, Lehrsatz 5, S. 104. Die im Folgenden dargelegte Interpretation des Verhältnisses von Physiologie und geometrischer Optik lehnt sich in Grundzügen an die überzeugende Analyse von Steinle, Newton’s Colour Theory and Perception, a. a. O. an.

2.4  Newtons Bilder – ­Goethes Bilder

Die früheren Nachbildversuche und Druckexperimente werden in den Opticks kaum thematisiert, das Auge und die menschliche Physiologie nicht in ihren eigenen Rechten beachtet. Die wahrgenommenen Farben erhalten nun lediglich Verweischarakter auf die berechenbaren Bestandteile des Lichts, die bei Newton erkenntnistheoretische Priorität besitzen. Den mathematischen Brechungsindizes passte er unter Umständen die Farbqualitäten an, wie die Beispiele des Indigo und des Orange beweisen: Um den einzelnen Farben des Spektrums jeweils den Bereich der ihnen entsprechenden, zuvor ermittelten Brechungszahlen zuordnen zu können,183 musste Newton die Grenzen der Farben des Spektrums festlegen. Gab er zwar an, dass ein Assistent mit schärferen Augen als er in mehreren Versuchen übereinstimmende Linien zwischen die Einzelfarben von nacheinander auf Papier geworfenen Spektren gezeichnet hätte, ermittelte er ihre Siebenzahl dennoch endgültig mathematisch – in Analogie zur Oktave. Über den Vergleich der Tonintervalle mit den einzelnen Farben berechnete er aus Gründen einer verbesserten Symmetrie im Spektrum für die schwer sichtbaren Farben Indigo und Orange eigene Farbfelder und verlieh ihnen damit mathematisch mehr Gewicht, als sie phänomenal besaßen.184 Doch auch ­Newtons Argumentation wird von der Sinnlichkeit der Farben beeinflusst, wenn er diese „nicht als Eigenschaften des Lichts oder als irgend etwas anderes außerhalb unseres Körpers, sondern vielmehr als Empfindungsformen, die in unseren Sinnen durch Licht erregt werden“ 185 betrachtet. Es ist kein anderer als der Vorgang der Wahrnehmung, über den die Willkür der Zuordnung von Brechungsgraden und Farben evident wird: Newton konnte zwar von der spezifischen Brechbarkeit auf die jeweilige Farbe schließen, umgekehrt jedoch nicht von der wahrgenommenen Farbe auf deren quantitative Beschreibung. Farben des heterogenen Lichts, die im Auge ihre Wirkungen vermischen und die Empfindung einer Mittel- bzw. Mischfarbe aus den einzelnen Primärfarben hervorrufen, können den gleichen Farbeindruck erwecken wie die nicht zusammengesetzte Farbe des homogenen Lichts. Beide Arten weisen allerdings verschiedene Eigenschaften auf: Die heterogene Farbe kann durch prismatische Brechung in ihre Einzelkomponenten 183 Newton berechnete die jeder Farbe entsprechende Brechungszahl aus ihrem individuell verschiedenen Verhältnis von Einfallssinus zum Brechungssinus des Lichtstrahls im refraktierenden Mittel. Vgl. Newton, Optik, a. a. O., Erstes Buch, Erster Teil, Prop. VI, Lehrsatz 5, S. 50 – 55. 184 Vgl. ebd., Erstes Buch, Zweiter Teil, Prop. III, Aufgabe 1, S. 81 – 85. Vgl. Jewanski, Jörg, Ist C = Rot? Eine Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zum Problem der wechselseitigen Beziehung zwischen Ton und Farbe. Von Aristoteles bis ­Goethe, Sinzig 1999, S. 231 – 243, besonders S. 236. Das siebenfarbige Spektrum entwickelte Newton aus einem fünffarbigen. Vgl. auch Biernson, George, Why did Newton See Indigo in the Spectrum?, in: American Journal of Physics 40 (1972), S. 526 – 533. Vgl. die sehr anschauliche Beschreibung von Newtons Vorgehensweise in: Boskamp, Ulrike, Primärfarben und Farbharmonie. Farbe in der französischen Naturwissenschaft, Kunstliteratur und Malerei des 18. Jahrhunderts, Weimar 2009, S. 26 – 28. 185 Newton, New Theory about Light and Colors, a. a. O., S. 31.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

zerlegt werden, die homogene keineswegs. Die Wahrnehmung und mit ihr das Subjekt werden damit zum Unsicherheitsfaktor im mathematischen Determinierungsprozess.186 Dem auf die Fehlerfreiheit der Sinne ausgerichteten Beobachterregime verhaftet, erörtert Newton in den Opticks mögliche pathologisch bedingte Beeinträchtigungen der Farbwahrnehmung wie Gelbsucht, Kurz- und Weitsichtigkeit.187 Ihr eigenständiges Recht erkämpft sich die menschliche Physiologie erst am Ende der Opticks, an dem sie bezeichnenderweise in den Queries in offener Frageform thematisiert wird.188 In ihnen erweitert Newton seine vormals Physik und Physiologie verbindende Abbildtheorie in den Bereich des Metaphysischen. Indem er Sinnesorgane und Wahrgenommenes als Produkte eines gottähnlichen Wesens auffasst, beschreibt er das Auge als passive Einschreibfläche, auf die vorgefertigte Wahrnehmungsinhalte als Abbilder einer höheren Wahrheit gelangen: „[…] wird es nicht aus den Naturerscheinungen offenbar, dass es ein unkörperliches, lebendiges, intelligentes und allgegenwärtiges Wesen geben muss, welches im unendlichen Raume, gleichsam seinem Empfindungsorgane, alle Dinge in ihrem Innersten durchschaut, und sie in unmittelbarer Gegenwart völlig begreift, Dinge, von denen in unser kleines Empfindungsorgan durch die Sinne nur die Bilder geleitet und von dem, was in uns empfindet und denkt, geschaut und betrachtet werden?“ 189

Trotz aller Bemühungen gelang es Newton nicht, Unstimmigkeiten und Störungen subjektiver Art vollkommen auszuschließen und die Farberscheinungen durchgehend mathematisch zu beschreiben. Zum einen ist bei Farbexperimenten nie der Akt der subjektiven Wahrnehmung negierbar, zum anderen sind die Qualitäten der Farbe nur indirekt als mathematische Größen wie Brechungswinkel oder Breite und Länge des

186 Vgl. Newton, Optik, a. a. O., Erstes Buch, Zweiter Teil, Prop. II, Lehrsatz 2 und Prop. IV, Lehrsatz 3, S. 79 – 80 und S. 85 – 86. Vgl. Steinle, Newton’s Colour Theory, a. a. O., S. 573 – 575. Um durch die Sinne verursachte Fehlerquellen auszuschalten, entwickelt Newton ein duales Größenkonzept von Zeit, Raum, Ort und Bewegung: „Ich bemerke nur, daß man gewöhnlich diese Größen nicht anders als in bezug auf die Sinne auffaßt und so gewisse Vorurteile entstehen, zu deren Aufhebung man sie passend in absolute und relative, wahre und scheinbare, mathematische und gewöhnliche unterscheidet.“ Während z. B. der absolute Raum ohne Relation zu einem konkreten Gegenstand unbeweglich und konstant bleibt, ist der relative Raum ein dynamischer Teil von ihm, der durch seine Gegenstandsbeziehungen sinnlich erfahrbar wird. Vgl. Newton, Isaac, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, in: Borzeszkowski, Horst-Heino / Wahsner, Renate (Hg.), Newton und Voltaire. Zur Begründung und Interpretation der klassischen Mechanik, Berlin 1980, S. 81 – 133, hier S. 94, Zitat S. 93. 187 Vgl. Newton, Optik, a. a. O., Erstes Buch, Erster Teil, Axiom 7, S. 12 – 14. 188 Vgl. ebd., Drittes Buch, Queries 12 – 16 und 23 – 24, S. 104 – 106 und S. 110 – 111. In ihnen diskutiert Newton die Körperreaktionen auf die Bewegung von Lichtkorpuskeln, Druckexperimente aufs Auge und das Entstehen von Einfachbildern durch die Verbindung der Sehnerven vor ihrem Eintritt ins Gehirn. 189 Ebd., Querie 28, S. 121.

2.4  Newtons Bilder – ­Goethes Bilder

Spektrums quantifizierbar.190 Da die sekundäre Qualität der Farbe unabdingbar auf den Augensinn angewiesen ist, überlagern und kompensieren Wahrnehmungen und mathematische Beschreibungen einander, so dass Newton eine klare Trennung zwischen Physik und Physiologie auch in den Opticks nicht gelingen konnte. Seine Versuche zeigen, wie die dem Subjekt beigemessene epistemologische Bedeutung die Art die Experimentalkonstellation prägt. Bereits in den Skizzen des Trinity Notebook beschreibt er subjektive und objektive Experimente. Wie in der Einleitung skizziert, entstehen in den objektiven Versuchen die Farben auf der Projektionsfläche der Camera obscura ohne unmittelbare Einbindung des Auges in die eigentliche Experimentalkonstellation. In den subjektiven Experimenten blickt der Forscher direkt durch ein brechendes Mittel, zumeist ein Prisma, auf einen Hell-Dunkel-Kontrast, so dass durch den menschlichen Blick die Farben erzeugt werden.191 Anschaulich zeigt die Genese der diskursiven Struktur die zunehmende Abwertung der subjektiven Versuche: Trennt Newton noch in den Optical Lectures beide Versuchsarten – die subjektiven folgen den objektiven Versuchen 192 – werden in den Opticks die subjektiven von den objektiven völlig „absorbiert“ und in ihrer argumentativen Wertigkeit dem alles entscheidenden experimentum crucis untergeordnet. Dieser Wandel erfolgt nicht bewusst. Newton reflektiert und benennt die Spezifik beider Versuchsarten in allen drei Werken nicht als solche, da ihr Unterscheidungskriterium: die Subjektbeteiligung an der Farberzeugung aus seiner Sicht keinerlei epistemologische Relevanz besitzt. Allein die Instrumentalisierung des menschlichen Körpers, seine berechenbare Einbindung in die Experimentalkonstellation der objektiven Versuche sah Newton als ein entscheidendes Kriterium für das Gelingen eines Experiments an.

190 Vgl. Rehbock, ,Rettung der Phänomene‘, a. a. O., S. 39. Theda Rehbock unterscheidet in Rekurs auf H. Tetens die Art der Messungen für primäre und sekundäre Qualitäten: Direkt berechenbar sind nur die mechanischen Phänomene von Raum, Zeit und Bewegung, die mit den primären Qualitäten identisch sind. Die Messung erfolgt durch einen Vergleich von Gleichartigem, z. B. bei der Längenvermessung verschiedener Körper. Eine Mathematisierung der sekundären Qualitäten bzw. der nicht-mechanischen Phänomene wie Licht, Farbe und Wärme ist nur indirekt möglich, da sie zwar unterschiedliche Intensitätsgrade, aber keine Ausdehnung besitzen. Der Messvorgang kann nur auf dem Umweg der Quantifizierung mechanischer Eigenschaften erfolgen, indem entweder ein mathematisches Modell für mechanische Bewegungen herangezogen wird oder feststellbare Analogien zwischen nicht-mechanischen Phänomenen und mechanischen Vorgängen gebildet werden. Vgl. ebd., S. 38. 191 Auch in der Art der Farbentstehung gibt es Unterschiede: In den objektiven Versuchen erscheint das Grün als homogene Farbe im projizierten Spektrum, in den subjektiven Versuchen durch Überlagerung der Farben Gelb und Blau. Vgl. G ­ oethes Erklärung beider Versuchsarten in: LA I.4, § 194, S. 76 und § 303, S. 105 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 192 Newton wählt im Part  II. The origin of colors, Section 2. Various phenomena of colors folgende Kapitelreihenfolge: 1. The phenomena of light transmitted through a prism to a wall, 2. The phenomena of light transmitted through a prism into the eye etc. Vgl. Shapiro, Optical Papers of Newton, a. a. O., S.  430 – 561.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

Erst ­Goethe, der sich der erkenntnistheoretischen Bedeutung des Subjekts im Versuch bewusst ist, behandelt die Mitwirkung des Auges in den subjektiven Refraktionsversuchen als eigenständiges Thema. Kritisiert er an Newtons experimenteller Methode, dass „das künstliche und natürliche Sehen beinahe ausgeschlossen“ 193 bleibt, diskutiert er dessen Abwertung der Sinnestätigkeit im polemischen Teil allerdings nur an wenigen Stellen – obwohl er in der Entstehungszeit dieser Schrift zwischen 1806 und 1810 die Eigenaktivität des Auges längst erkannt hatte. Hierfür gibt es aus meiner Sicht zwei Gründe: Zum einen stehen in G ­ oethes Auseinandersetzung mit Newton dessen komplizierte Experimentalmethode und Theorie der Farbentwicklung und des Lichts im Vordergrund. Zum anderen sind Wandel wissenschaftlicher Erklärungs- und Denkmuster, in denen neue Theorien alte ablösen, nicht immer plötzlich eintretende Ereignisse, sondern oft schrittweise, z. T. zeitaufwendige Prozesse.194 Während ­Goethe in seiner 1810 erschienenen Farbenlehre die farberzeugende Aktivität des Auges erkannt hatte und sie in den Physiologischen Farben an die Spitze seines Werkes stellte, besaß er dieses Wissen zu Beginn seiner Farbstudien noch nicht. Auf die Mitwirkung des Auges bei der physikalischen Farberzeugung wurde er in jener Zeit wahrscheinlich durch seinen kunsttheoretischen Zugang zur newtonischen Optik aufmerksam. Dieser Zugang wird besonders an G ­ oethes physikalischem Erstkontakt mit dem Prisma deutlich, den er als sein Aperçu beschreibt. Obwohl ein Forscher erst in der Prozessualität des explorativen Versuchs selbst zu neuem Wissen gelangt, beginnt er nicht mit ziellosen Experimenten, sondern geht immer schon von bestimmten Ideen aus, die ihm eine vage, doch ungefähre Richtung vorgeben. Diese Ideen schlagen sich in der Wahl, im Falle ­Goethes in der Verwendungsart der Instrumente nieder, die Gaston Bachelard als „materialisierte Theorien“ bezeichnet. Sie wirken in wesentlichem Maße richtungsweisend auf den Handlungsspielraum.195 Im Jahre 1790, am Beginn seiner Farbstudien, war ­Goethe die Leistung eines farbenproduzierenden Auges noch unbekannt. Die Bedeutung der aktiven Wahrnehmung für den bildenden Künstler hatte er hingegen bereits in jungen Jahren reflektiert.196 Sich der herausgehobenen Bedeutung der Sinneswahrnehmung durchaus bewusst, setzte G ­ oethe in seinem ersten Refraktionsversuch keine Camera obscura ein, sondern glich die Funktion des Prismas dem Auge an, indem er das Instrument als Sehhilfe benutzte. Erinnert in der Beschreibung dieses Versuchs bereits die 193 LA I.5, § 9, S. 4 (Farbenlehre, Polemischer Teil). Die Farbwahrnehmung ist z. B. Gegenstand des § 185, in dem G ­ oethe den bereits in § 9 getätigten Ausspruch lediglich bekräftigt, dass der unabdingbare Bezug der Farben zur Wahrnehmung den Irrtum von Newtons mathematischer Lehre bestätigt. 194 Vgl. Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, a. a. O., S. 68. 195 Bachelard, Der neue wissenschaftliche Geist, a. a. O., S. 18. Vgl. Rheinberger, Experi­­ment – Differenz – Schrift, a. a. O., S. 10 – 11 und S. 22 – 23. 196 Vgl. beispielsweise die 1773 entstandene Schrift Von deutscher Baukunst, in: FA I.18, S.  110 – 118 sowie Kapitel 1.2 dieser Arbeit.

2.4  Newtons Bilder – ­Goethes Bilder

Ausgangssituation der weißen Fläche, auf die ­Goethe durch ein Prisma blickt, an eine leere Leinwand, die auf die Entstehung ihres Bildes wartet, entdeckte sein erstaunter Künstlerblick in den blauen und gelben Rändern der Prismenerscheinungen sogleich die „warmen und kalten Farben der Maler“.197 So ist es auch ausschließlich das in diesem Ereignis benutzte subjektive dioptrische Experiment, das ­Goethe im 1791 veröffentlichten ersten Stück der Beiträge zur Optik beschreibt. Hier stellt er sie jedoch als eine Weiterführung und Ergänzung der ­newtonischen Versuche dar.198 Dieser Bezug zum herrschenden Paradigma der Strahlenphysik des Lichts ist jedoch Anschluss und Bruch zugleich, da ­Goethe die bei ­Newton erkenntnistheoretisch aufgewerteten objektiven Camera-obscura-Experimente in dieser Vorarbeit unberücksichtigt lässt. Im ein Jahr später erschienenen zweiten Stück der Beiträge zur Optik verweist ­Goethe bereits kurz auf die Charakteristik der subjektiven Versuche: die direkte Einbindung des Gesichtssinns in das Experiment und die auf diese Weise erzeugten Farben, die er als „Erscheinungen“ herausstellt, die „in dem Auge des Beobachters vorgehen, wenn ohne Prisma an den Objekten, welche gesehen werden, eine Spur des Phänomens nicht leicht zu entdecken ist“.199 Im Hauptwerk Zur Farbenlehre reflektiert G ­ oethe die Merkmale beider Versuchsarten: der subjektiven und der objektiven. Ihre diskursive Reihenfolge wird durch die Intensität der experimentellen Einbindung des Auges bestimmt. Im Gegensatz zu Newtons Ordnung erlangen die subjektiven physikalischen Experimente bei ­Goethe Priorität. Verfolgt G ­ oethe in den ersten drei Abteilungen des didaktischen Teils den Weg von den physiologischen zu den chemischen Farben und schlägt damit den Bogen von den subjektiven zu den objektiven Entstehungskonstituenten der chromatischen Phänomene, so verlegt er den eigentlichen Umschlagplatz ins Herzstück dieser Abteilungen: die Physischen Farben. Sie werden von den subjektiv erzeugten Phänomenen angeführt und nach und nach durch objektive ersetzt. Am Ende dieser Aneinanderreihung beschreibt er die Kombination subjektiver und objektiver Prismenversuche. Er zeigt, dass sich ihre Farben wechselseitig aufheben, weshalb am Ende des von ihm angeführten Versuchs wieder dessen Ausgangssituation entsteht: „Durch ein horizontal aufgestelltes Prisma werde das Sonnenbild an eine Wand hinaufgeworfen. Ist das Prisma lang genug, daß der Beobachter zugleich hindurchsehen kann, so wird das durch die objektive Refraktion hinaufgerückte Bild wieder heruntergerückt und solches an der Stelle stehen, wo es ohne Refraktion erschienen wäre.“ 200 197 LA I.6, S. 421 (Farbenlehre, Historischer Teil, Konfession des Verfassers). 198 „Meine Pflicht war daher, die bekannten Versuche aufs genaueste nochmals anzustellen, sie zu analysieren, zu vergleichen und zu ordnen, wodurch ich in den Fall kam, neue Versuche zu erfinden und die Reihe derselben vollständiger zu machen.“ LA I.3, § 15, S. 10 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück). 199 LA I.3, S. 50 (Beiträge zur Optik. Zweites Stück). 200 LA I.4, § 351, S. 120 (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

Diese prozessual strukturierte Darstellung wählt ­Goethe, um die experimentelle Gleichwertigkeit beider Versuchsarten zu demonstrieren, die auf unterschiedliche Weise die Phänomene in ihrer Multiperspektivität erfahrbar machen.201 Der von ihm postulierten epistemologischen Gleichrangigkeit der Versuche widerspricht jedoch die Reihenfolge ihrer diskursiven Anordnung.202 Die zwischen den Vorarbeiten und der Publikation der Farbenlehre erworbene Erkenntnis von der physiologischen Mitwirkung des Auges zeigt ihre Auswirkung in einer veränderten Darstellungsweise der physikalischen Versuche durch G ­ oethe: Noch in den Vorarbeiten richteten sich die Beschreibungen primär ergebnisorientiert auf die zu erblickenden Farberscheinungen durchs Prisma und dessen Handhabung. Im didaktischen Teil hingegen legt G ­ oethe ausführlich dar, wie die Farbphänomene durch das Zusammenwirken von äußerer Vorlage und Prisma im menschlichen Blick generiert werden. Hier thematisiert er die Mitwirkung des Auges stärker als in den Vorarbeiten. ­Goethes Konzeption des Blicks wird in seinen gesamten Farbstudien von einer doppelt konnotierten Ästhetik bestimmt, in der die aisthēsis als Theorie der Wahrnehmung mit einer Theorie der schönen Künste koinzidiert. In seinem Entwurf scheinen beide Bedeutungen auf, die dieser Begriff im 18. Jahrhundert besaß. In der ersten Jahrhunderthälfte diente er als Bezeichnung für die Theorie der sinnlichen Erkenntnis, deren Verwissenschaftlichung Alexander Gottlieb Baumgarten in den 1730er-Jahren forderte. Von Beginn an war Baumgartens Bestreben bereits untrennbar mit dem Bemühen um die Entwicklung einer Wissenschaft des Schönen verbunden.203 Später durchlief der Begriff eine Bedeutungsverschiebung und wurde primär für die Theorie der schönen Künste verwendet, auf deren Etablierung Kants Kritik der Urteilskraft federführend wirkte.204 201 Vgl. ebd., § 304, S. 105. 202 Die Attribute subjektiv und objektiv für die Versuchsarten benutzte G ­ oethe, lange bevor sie sich in der von Kant gefassten Bedeutung in deutschen Wörterbüchern etabliert hatten. Vgl. Daston / Galison, Objektivität, a. a. O., S. 293. 203 Vgl. Baumgarten, Theoretische Ästhetik, a. a. O., S. 2. Zu Baumgartens ästhetischer Theorie der Sinneswahrnehmung vgl. ausführlicher Kapitel 2.3 dieser Arbeit. 204 Anders als ­Goethe trennt Kant die Ästhetik in eine Theorie der Wahrnehmung, die er als transzendentale Ästhetik in der Kritik der reinen Vernunft analysiert, und eine Kunsttheorie in der Kritik der Urteilskraft. In der Kritik der reinen Vernunft entwirft er neben der transzendentalen Logik, in der er sich mit den Prinzipien des reinen Denkens beschäftigt, die transzendentale Ästhetik als zweiten Bereich der Erkenntnistheorie. Ihren Entwurf beginnt er mit der Analyse der sinnlichen Anschauung, um durch die Absonderung des Bereichs der Empfindungen zur reinen Anschauung und ihren beiden apriorischen Formen Raum und Zeit zu gelangen. Als Grundbedingungen jeglicher Wahrnehmung formen sie die empirischen Sinneseindrücke. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Teil 1, a. a. O., S. 69 – 96. Die sich auf das Gefühl von Lust bzw. Unlust beziehende Empfindung ist der Bestimmungsgrund der ästhetischen Urteilskraft. Von jener ausgehend, unterscheidet Kant in der Kritik der Urteilskraft das ästhetische Sinnesurteil und das ästhetische Reflexionsurteil voneinander, dessen Urteilskraft er als entscheidendes Erkenntnisvermögen begreift. Anders als das ästhetische Sinnesurteil, in dem die von der empirischen Anschauung eines Gegenstandes hervorgebrachte

2.4  Newtons Bilder – ­Goethes Bilder

­Goethes doppelt konnotierte Ästhetik manifestiert sich in den physikalischen Farbstudien besonders an den Refraktionsfarben, die er als ganzheitliche, in sich differente Bilder gegen Newtons zergliederndes Strahlenmodell des Lichts setzt. Als ihre Entstehungsbedingung definiert G ­ oethe eine Grenze: „Beim Sehen überhaupt ist das begrenzt Gesehene immer das, worauf wir vorzüglich merken, und in dem gegenwärtigen Falle, da wir von Farbenerscheinungen bei Gelegenheit der Refraktion sprechen, kommt nur das begrenzt Gesehene, kommt nur das Bild in Betrachtung.“ 205 Indem nach G ­ oethe diese Grenze – bei objektiven und subjektiven Versuchen gleichermaßen – allein durch die Wahrnehmung des Auges ihre erkenntnistheoretische Bedeutung erhält, unterscheidet sich sein Konzept wesentlich von den um 1800 gängigen physikalischen Bildtheorien. Als Beispiel sei die Erläuterung des objektivistischen Bildbegriffs aus Gehlers Physikalischem Wörterbuch von 1787 angeführt: „Oft nehmen Lichtstralen, die von einem Gegenstande kommen, solche Wege, daß sie aus einem Orte, in welchem der Gegenstand nicht ist, doch in eben der Ordnung ins Auge fallen, als ob sie von dem Gegenstande selbst kämen. Für das Auge ist das so viel, als ob etwas dem Gegenstande ähnliches an diesem Orte wäre. Es sieht also da etwas, welches das Bild des Gegenstandes, so wie der Ort selbst, Ort des Bildes genannt wird. Dies ereignet sich vornemlich bey der Zurückwerfung und bey der Brechung der Lichtstralen, oder wenn wir Gegenstände in Spiegeln und durch Gläser betrachten. Wenn zurückgeworfene Stralen Bilder zeigen sollen, so ist nöthig, daß aus einer Stelle der zurückwerfenden Fläche nur Licht aus einer Stelle des Gegenstandes ins Auge geworfen werde. Giebt einerley Stelle der Wand meinem Auge Licht aus allerley Punkten der gegenüberstehenden Körper, so sehe ich nur Licht, Erleuchtung der Wand, wenn die gegenüberstehenden Körper erleuchtet sind, einen Wiederschein, aber kein Bild. Werden aber, wie im verfinsterten Zimmer, die Stralen durch eine Oefnung im Laden, oder durch ein Glas, so gesondert, daß auf jede Stelle der Wand nur Licht aus einem bestimmten Punkte eines gegenüberstehenden Körpers fällt, so zeigt die Wand ein Bild […].“ 206

In dieser Definition wird das Auge als passives Rezeptionsorgan dargestellt, das die räumliche, bilderzeugende Täuschung nicht als solche durchschaut. Das Bild der unmittelbare Empfindung als Erkenntnisbasis gilt, erhält das ästhetische Reflexionsurteil einen formalen Charakter. Es verbindet die Tätigkeiten von Verstand und Einbildungskraft harmonisch miteinander, um auf diese Weise selbst Empfindungen hervorzubringen, die unabhängig von der aktuellen Wahrnehmung wirken. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, Teil 1, a. a. O., S. 34 – 45, besonders S. 37 – 38. Basierend auf der Ausarbeitung beider Urteilskräfte trennt Kant kunsttheoretisch das Angenehme vom Schönen. Vgl. hierzu den ausführlichen Kommentar von Kliche, Dieter, Ästhetik / ästhetisch, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bdn., Bd. 1: Absenz – Darstellung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 317 – 342, hier S. 333 – 334. 205 LA I.4, § 219, S. 83 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 206 Gehler, Physikalisches Wörterbuch, Erster Theil, a. a. O., S. 352 – 357, hier S. 352 – 353.

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aktiven Lichtstrahlen ist noch – wie der Verweis auf die Camera obscura zeigt – an eine mimetische Bildtheorie gebunden. G ­ oethe hingegen bezeichnet die Refraktion als „Abweichung vom Gesetz des geradlinigen Sehens“ 207 und argumentiert damit wiederum wahrnehmungsbezogen. Die dioptrische Farbentstehung beschreibt er wie folgt: „Hier bestätigt sich also jener Ausspruch […], ein Bild müsse dergestalt verrückt werden, daß eine helle Grenze über die dunkle, die dunkle Grenze aber über die helle, das Bild über seine Begrenzung, die Begrenzung über das Bild scheinbar hingeführt werde. Bewegen sich aber die geradlinigen Grenzen eines Bildes durch Refraktion immerfort, daß sie nur nebeneinander, nicht aber übereinander ihren Weg zurücklegen, so entstehen keine Farben, und wenn sie auch bis ins Unendliche fortgeführt würden.“ 208

Während die kreative Formgebung bereits im Blick des Künstlers vor ihrem praktischen Niederschlag im Kunstwerk liegt, wird der aktive Blick des Forschers durch die Natur geleitet – ein Verhältnis, das ­Goethe an einer Theorie der doppelten Bilder visualisiert. In den subjektiven wie objektiven Refraktionsversuchen ist wiederum die Grenze bedeutsam, die nun zum experimentellen Hauptschauplatz wird. ­Goethe entwickelt seine Bildtheorie in der Abteilung der Physischen Farben. Er bezieht sie auf verschiedene Erscheinungen: auf die physiologischen, die Reflexions-, die Beugungs- und die Brechungsfarben. Er teilt die doppelten Bilder übergreifend in primäre und sekundäre. Die erstgenannten zeigen die Abbildung eines äußeren Gegenstandes im Auge, „die uns von seinem wirklichen Dasein versichern“,209 so dass die Farbe immer durch Reize aus der Umgebung hervorgerufen wird. Im Gegensatz zum mimetischen Bildbegriff des klassischen Sehmodells entfaltet das zweite Bild bei G ­ oethe jedoch ein Eigenleben, das die Erscheinung des ursprünglich wahrgenommenen Motivs überlagert. Bei den dioptrischen Versuchen – subjektiven wie objektiven – lehnt es sich in seiner Gestalt jedoch immer an das zuerst gesehene objektiv-mimetische Motiv an, welches die äußere Natur vorgibt. Diese Struktur wird durch ­Goethes Bezeichnung der primären Brechungsbilder als Haupt-, der sekundären als Nebenbilder untermauert: „Ein solches Nebenbild ist eine Art von Doppelbild, nur daß es sich von dem Hauptbilde nicht trennen läßt, ob es sich gleich immer von demselben zu entfernen strebt.“ 210 Die Grenze erfüllt eine paradoxe Funktion: Sie dient gleichermaßen als Visualisierungsmittel und Markierung für die Verrückung des Hauptbildes, als formbildend für die Entstehung des zweiten Bildes, doch wird sie durch die prismatische Farberzeugung selbst überlagert und dadurch visuell entwertet: „Durch Verbindung von Rand und

207 LA I.4, § 186, S. 74 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 208 Ebd., § 208, S. 79 – 80. 209 Ebd., § 221, S. 83. 210 Ebd., § 226, S. 85.

2.4  Newtons Bilder – ­Goethes Bilder

Fläche entstehen Bilder. Wir sprechen daher die Haupterfahrung dergestalt aus: Es müssen Bilder verrückt werden, wenn eine Farbenerscheinung sich zeigen soll.“ 211 Appelliert wirkungsästhetisch die Linie an die rationale, die Farbe an die sinnliche Erfassung eines Bildes, verbinden sich beide Entitäten in den sogenannten Kantenspektren, den an der Hell-Dunkel-Grenze erscheinenden Farben, und sprechen im Betrachter Empfindung und Ratio gleichermaßen an. Mit dieser Konstellation verweist ­Goethe im Medium des Versuchs rekursiv auf seine erkenntnistheoretische Figur der rationellen Empirie bzw. des anschaulichen Denkens. Die klassizistische Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts beschrieb den Umriss bzw. die Kontur als Grenze, die zwischen äußerem Chaos und innerer Ordnung einer Figur unterscheidet und damit die Organisation eines Kunstwerks herausstellt.212 Stehen hier also Ordnung und Chaos nebeneinander, wirken beide in ­Goethes Brechungsexperimenten ineinander: In diesen ist die Kontur bzw. Grenze sichtbare Bedingung für die gesetzmäßige Entwicklung der Farben aus dem Chaos des trüben Mittels. Die breitere Farberscheinung, die bei Verrückung eines Bildes vorausgeht, bezeichnet G ­ oethe als Saum, die 213 schmalere, an der Grenze zurückbleibende als Rand. Die zweidimensionale Bildlichkeit der Kantenspektren wird durch ­Goethes Konzeption des trüben Mittels unterstrichen. Auch wenn er mehrfach das verschiebende Übereinanderführen der Grenze beschreibt, werden diese haptischen Argumente phänomenal durch die enträumlichende Wirkung des Trüben entwertet. Es erweckt den Anschein, als ob sich alle Elemente eines Raumes in gleicher Entfernung vom Betrachter befinden. Auf diese Enträumlichung deuten auch G ­ oethes einführende Sätze bei der Vorstellung des trüben Mittels in der Farbenlehre: „Der Raum, den wir uns leer denken, hätte durchaus für uns die Eigenschaft der Durchsichtigkeit. Wenn sich nun derselbe dergestalt füllt, daß unser Auge die Ausfüllung nicht gewahr wird [!]; so entsteht ein materielles, mehr oder weniger körperliches, durchsichtiges Mittel, das luft- und gasartig, flüssig oder auch fest sein kann.“ 214 Da die Farbentwicklung in jedem individuellen Blick gleichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, kann ­Goethe im didaktischen Teil der Farbenlehre immer wieder an den sinnlichen Nachvollzug der Versuche durch den Leser appellieren: In den subjektiven dioptrischen Experimenten blickt der Betrachter durch ein horizontal befindliches Prisma, dessen brechende Kante nach unten gehalten wird, auf die ebenfalls horizontal liegende Hell-Dunkel-Grenze eines äußeren Gegenstandes. Die jeweilige Farb­ entwicklung richtet sich – so sei noch einmal aus Kapitel 2.1 wiederholt – nach der Ordnung der Schwarz-Weiß-Motive auf der Karte: Wird durch die Refraktion die 211 Ebd., § 198, S. 77. Vgl. z. B. auch LA I.3, § 91, S. 40 (Beiträge zur Optik. Zweites Stück): „Da die farbigen Erscheinungen an den Rändern die Grenze des Randes selbst ungewiß machen […].“ 212 Vgl. z. B. Moritz, Karl Philipp, Werke, Reisen, Schriften zur Kunst und Mythologie, 3 Bde., hg. v. Horst Günther, Frankfurt am Main 1981, Bd. 2, S. 448. 213 Vgl. LA I.4, § 212, S. 81 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 214 Ebd., § 145, S. 63.

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weiße Grenze gegen die schwarze verschoben, erscheinen die Farben Blau und Blaurot (Violett), wird Schwarz gegen Weiß gerückt, werden Gelb und Gelbrot (Orange) sichtbar. So kann in Erweiterung von Rheinbergers Konzept des epistemischen Dings in ­Goethes Refraktionsversuchen durchaus von einem epistemischen Bild gesprochen werden. Da dessen Gesetzmäßigkeiten erst am Ende einer potentiell unendlichen explorativen Versuchsreihe erkannt werden, entzieht sich dieses Bild jeglicher Vollendung.215 Entwickeln sich in den subjektiven Versuchen die Farben nur, wenn das Bild im Betrachterblick durch das Prisma über seine eigene Grenze geführt wird, treffen sich subjektiver Blick und objektive Hell-Dunkel-Vorlage in diesem brechenden Mittel, um gemeinsam Farbdaten zu produzieren. Ontologisch getrennt, vereinigen sie sich ästhetisch zu einer ununterscheidbaren Allianz, in der Wahrnehmender und Wahrgenommenes untrennbar miteinander verschmelzen. Einen solchen Blick beschreibt Gilles Deleuze kunsttheoretisch als Sensation: „Die Sensation ist mit einer Seite zum Subjekt hin gewendet […], mit einer anderen zum Objekt […]. Oder besser: sie hat überhaupt keine Seiten, sie ist unauflösbar beides zugleich, sie ist Auf-der-Welt-Sein, wie die Phänomenologen sagen: Ich werde in der Sensation, und zugleich geschieht etwas durch die Sensation, das eine durch das andere, das eine im anderen.“ 216

Die Sensation konstituiert das subjektive Refraktionsbild als eine ästhetische Einheit, die sich immer im lebendigen Zusammenwirken mit der Natur, nicht aber als arbi­ träres, von ihr gelöstes Produkt entwickelt. Der erkenntnistheoretische „Subjekt-Objekt-Schwebezustand“ 217 der Versuchssituation wird hier visuell vor Augen geführt, indem G ­ oethe das Trübe als verbildlichtes Feld von Kräften beschreibt, in dem das Leben selbst zu Hause ist: „Nicht das allein, was uns im höchsten Sinne lebendig erscheint, übt Wirkungen aus und erleidet sie, sondern auch alles, was nur irgendeinen Bezug aufeinander hat, ist wirksam aufeinander, und zwar oft in sehr hohem Maße.“ 218 Die Versuchskonstellation der subjektiven Refraktionsexperimente verleiht der explorativen Methode ­Goethes eine besondere Tragweite: Die subjektive Erzeugung der Prismenfarben ist nicht topologisch fixiert. Sie ist ortlos und erlaubt ständige

215 Vgl. hierzu den Bezug zwischen Bild und epistemischem Ding, den Rheinberger selbst herstellt. Nach Rheinberger hat das epistemische Ding für die Wissenschaft die gleiche Bedeutung wie das Bild für die Malerei. Sie sind deren Hauptobjekte. Vgl. ders., Experiment – Differenz – Schrift, a. a. O., S. 69, Fußnote 10. 216 Deleuze, Logik der Sensation, a. a. O., S. 27. 217 Erpenbeck, John,  „… die Gegenstände der Natur an sich selbst …“. Subjekt und Objekt in ­Goethes naturwissenschaftlichem Denken seit der italienischen Reise, in: ­Goethe-Jahrbuch 105 (1988), S. 212 – 233, hier S. 226. 218 LA I.4, § 231, S. 86 (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

2.4  Newtons Bilder – ­Goethes Bilder

Standpunkt- und damit Perspektivwechsel: „Ein Hauptvorteil dieser Versuche ist sodann, daß man sie zu jeder Tageszeit anstellen kann, in jedem Zimmer, es sei nach einer Weltgegend gerichtet, nach welcher es wolle […].“ 219 Je nach aktueller Situation zwingt einzig das instrumentelle Dispositiv des Prismas den Betrachter zur Suche eines geeigneten Standpunkts, um die Farbphänomene in ihrer vollen Intensität zu erzeugen. Newtons ortsgebundenes Experiment hingegen, das symbolisch für dessen auf wenigen Versuchen basierende Methode steht, umschreibt G ­ oethe mit folgender geometrisch ausgerichteten Metapher: „Man kann […] die Newtonische Darstellung einer perspektivisch gemalten Theaterdekoration vergleichen, an der nur aus einem einzigen Standpunkte alle Linien zusammentreffend und passend gesehen werden.“ 220 Zeigt sich die Offenheit in ­Goethes prismatischen Bildern strukturhomolog zur Offenheit seiner prozessualen Experimentalmethode, macht er jenes Konzept zum ästhetischen Schauplatz, an dem er sein klassizistisches, auf eine vollendete Ordnung setzendes Kunstideal unterwandert. Die Trennung von Bild und Rahmen steht – wie Werner Busch an Beispielen romantischer Kunstwerke zeigt – für die unüberwindbare Differenz zwischen Subjektivität und Objektivität im Rezeptionsprozess. Während in diesem Vorgang die Aktivierung des Innenbildes vom Betrachter zu leisten ist, wird die Art seiner Interpretation immer vom Bildrahmen beeinflusst.221 Die Rahmung ist bei ­Goethe Indiz für die endgültige Vollendung eines Bildes. Durch den Rahmen erhält das Heterogene und Disparate des Dargestellten einen bestimmten Ort auf der Fläche zugewiesen, womit der Gesamtorganismus des Bildes definiert wird. Erst die abschließende Begrenzung der Bildfläche entscheidet über die Kraft und Harmonie ihrer Einzelelemente. Zeit seines Lebens hatte ­Goethe Probleme mit der Rahmung und überließ diese Tätigkeit lieber anderen. War es in seiner Jugend der Vater, der G ­ oethes Bilder rahmte, übernahm diese Handlung später Charlotte von Stein. Dieser gestand ­Goethe, dass ihn seine formatlich festgelegten Zeichnungen ängstigen, „weil ich fühle und sehe was ihnen fehlt“.222 Indem er dem Rahmen die ausschließliche Vollendungsmacht über das Bild zuspricht, unterscheidet sich sein Konzept klar von Karl Philipp Moritz’ klassizistischer Bildauffassung. In ihr wirkt der Rahmen lediglich unterstützend auf das bereits in sich abgeschlossene Werk: „Das Bild stellt etwas in sich Vollendetes dar; der Rahmen umgrenzt wieder das in sich Vollendete.“ 223

219 Ebd., § 302, S. 105. 220 LA I.5, § 74, S. 27 (Farbenlehre, Polemischer Teil). 221 Vgl. Busch, Werner, Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der Kunst des 19. Jahrhunderts, Berlin 1985, S. 53. 222 WA IV,6, S. 153 (­Goethe an Charlotte von Stein am 21. April 1783). Vgl. Fehrenbach, Frank, „Das lebendige Ganze, das zu allen unsern geistigen und sinnlichen Kräften spricht“. ­Goethe und das Zeichnen, in: Matussek, Peter (Hg.), ­Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S.  128 – 156, hier S.  141 – 142. 223 Moritz, Werke, a. a. O., S. 448.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

Wird bei ­Goethe durch die Rahmung willkürlich und fremdbestimmt die Organisation des Bildes festgelegt, mündet dieser Vollendungsschritt in etwas Totes, endgültig im Kunstwerk Stillgestelltes, welches das Werden des Bildes in ein Gewordensein überführt. Die Kantenspektren hingegen entwickeln sich in einer Art Bildungstrieb im Betrachterblick selbst und überschreiten die sie bedingende Grenze. Wenn G ­ oethe davon spricht, dass sich der Bereich der Grenze in seinder „höchsten Energie“ 224 zeigt, liegen Analogien zu seinen botanischen Studien auf der Hand: In seinen späten einschlägigen Arbeiten bezeichnet er neben der Vertikal- die Spiraltendenz als eine der beiden Hauptkräfte der Pflanzenentwicklung. Letztgenannte betrachtet er als das eigentliche und formgebende Lebensprinzip, das bevorzugt an der Peripherie waltet, den Früchten, Blüten- und Pflanzenblättern eine unverwechselbare Gestalt verleiht und die Pflanze zur Selbsthervorbringung befähigt.225 Auch wenn ­Goethe – wie im Konzept der doppelten Bilder exponiert – in der experimentellen Methode der Reihenbildung auf die Perspektivenvielfalt des Forschers zielt, ist diese nicht nur auf das Auge angewiesen, sondern ebenso auf die Mitwirkung der Einbildungskraft. So zeigt ­Goethes Vorgehen auch, dass die wissenschaftliche Generierung von Fakten nicht ohne Fiktionen möglich ist.

2.5 Experimentelle Bilder der Phantasie Mit der kunst- und erkenntnistheoretischen Aufwertung der Sinneswahrnehmung in der Mitte des 18. Jahrhunderts gewann auch die Einbildungskraft an epistemologischer Bedeutung. Neben dem Gemeingefühl wurde sie als anthropologische Vermittlungsinstanz zwischen Körper und Seele konzipiert und wie jenes zu den inneren Sinnen gezählt.226 In vielen philosophischen Konzepten gehörte die Einbildungskraft wie die Sinneswahrnehmung zu den unteren Erkenntnisvermögen – Konzepte, für die exemplarisch Christian Wolffs 1720 erschienene Deutsche Metaphysik genannt sei, die die Diskurse über die Einbildungskraft im gesamten 18. Jahrhundert prägte.227 Wie der Sinneswahrnehmung verleiht ­Goethe der Einbildungskraft im Erkenntnisprozess eine hohe Relevanz. Besonders an ihrem Agieren zeigt sich die bereits in Kapitel 2.3 thematisierte Interdependenz zwischen dem vermögenspsychologischen Subjektmodell, das seinen Versuchen zugrundeliegt, und dem Prinzip der Reihenbildung zur Gewinnung einer phänomenalen Konstanten. Die Einbildungskraft erhält in ­Goethes experimentaltheoretischem Subjektmodell eine bedeutende mediale Funktion. 224 LA I.4, § 271, S. 96 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 225 Vgl. LA I.10, S. 341 – 342 (Über die Spiraltendenz). 226 Vgl. hierzu ausführlich die Habilitationsschrift von Dürbeck, Gabriele, Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750, Tübingen 1998. 227 Vgl. Wolff, Christian, Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Halle 1751.

2.5  Experimentelle Bilder der Phantasie

Sie ist immer an die Sinneswahrnehmung gebunden und agiert als wissensproduzierendes Element zwischen ihr und dem Verstand. In dieser Position verbindet sie subjektiv erzeugte Denkfiguren und wahrgenommene Objekte der Außenwelt, um neue Möglichkeitsräume zu eröffnen. Die anschaulichste Beschreibung ihres medialen, wissenskonstituierenden Wirkens liefert ­Goethe 1816/17 in einem Briefentwurf an Maria Pawlowna von Sachsen-Weimar-Eisenach. Seinem Konzept legt ­Goethe ein nichthierarchisches Modell der Seelenkräfte zugrunde, deren individuelle Allianzen sich je nach aktuellem Erfordernis konstituieren. Er wertet die Rolle der Einbildungskraft auf, indem er sie anders als in vielen zeitgenössischen philosophischen Entwürfen üblich in ein interdependentes Verhältnis zu den drei anderen Vermögen stellt: „Die Phantasie ist die vierte Hauptkraft unsers geistigen Wesens, sie suppliert die Sinnlichkeit, unter der Form des Gedächtnisses, sie legt dem Verstand die Welt-Anschauung vor, unter der Form der Erfahrung, sie bildet oder findet Gestalten zu den Vernunftideen und belebt also die sämtliche Menscheneinheit, welche ohne sie in öde Untüchtigkeit versinken müßte. Wenn nun die Phantasie ihren drei Geschwisterkräften solche Dienste leistet, so wird sie dagegen durch diese lieben Verwandten erst ins Reich der Wahrheit und Wirklichkeit eingeführt. Die Sinnlichkeit reicht ihr rein umschriebene, gewisse Gestalten, der Verstand regelt ihre produktive Kraft und die Vernunft gibt ihr die völlige Sicherheit, daß sie nicht mit Traumbildern spiele, sondern auf Ideen gegründet sei. […] Der sogenannte Menschen Verstand ruht auf der Sinnlichkeit; wie der reine Verstand auf sich selbst und seinen Gesetzen. Die Vernunft erhebt sich über ihn ohne sich von ihm loszureißen. Die Phantasie schwebt über der Sinnlichkeit und wird von ihr angezogen; sobald sie aber oberwärts die Vernunft gewahr wird, so schließt sie sich fest an diese höchste Leiterin. Und so sehen wir denn den Kreis unserer Zustände durchaus abgeschlossen und demohngeachtet unendlich, weil immer ein Vermögen des andern bedarf und eins dem andern nachhelfen muß.“ 228

­ oethe rekurriert zwar auf die in jener Zeit geläufige Unterscheidung von produktiG ver und reproduktiver Einbildungskraft, behandelt das Agieren beider Formen jedoch nicht getrennt. Er bindet ihr Wirken in seinen Versuchen durch den gemeinsamen Bezug zur Wahrnehmung aneinander, indem er die psychologischen Bilder des Anund Abwesenden sowie diejenigen ihrer kreativen Ausformung in der Erkenntnisfigur der Reihe denkt.229 In den folgenden Ausführungen soll die epistemologische Funktion 228 LA  II.1B, S. 834 (Beischrift zur Beilage Kurze Vorstellung der Kantischen Philosophie eines Briefskonzepts an die Großherzogin Maria Pawlowna vom 31. Dezember 1816/2. Januar 1817). In diesem Entwurf gibt G ­ oethe die Beschreibung der kantischen Philosophie durch den Theologen und Philosophen Franz Volkmar Reinhardt wieder, kritisiert an dessen Darlegungen jedoch die ungenügende Berücksichtigung der Phantasie. 229 Zu G ­ oethes Konzept der Einbildungskraft im künstlerischen und erkenntnistheoretischen Kontext zeitgenössischer Theorien vgl. die Studie von Ho, Shu Ching, Über die Einbildungskraft bei

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

der Einbildungskraft in ­Goethes experimenteller Methode durch den Vergleich mit anderen einschlägigen Konzepten jener Zeit herausgestellt werden. Ende des 18. Jahrhunderts koppelten zahlreiche Philosophen konzeptuell die reproduktive Einbildungskraft eng an die sinnliche Wahrnehmung, während sie allein die produktive Einbildungskraft zum Erschließen künstlerischer Welten und neuer Wissensräume für fähig erachteten. Das kreative Vermögen dieser Seelenkraft sollte von Verstand und Vernunft reguliert werden. Auch ­Goethe verleiht der Einbildungskraft je nach Wirkungsbereich unterschiedliche Funktionen: In den 1790er-Jahren betrachtete der einst auf die genial-poetische Kreativität setzende Autor des Werthers die ästhetisch-schöpferische Einbildungskraft als gefährliches, zu disziplinierendes Vermögen: „Was hilft es die Sinnlichkeit zu zähmen, den Verstand zu bilden, der Vernunft ihre Herrschaft zu sichern, die Einbildungskraft lauert als der mächtigste Feind, sie hat von Natur einen unwiderstehlichen Trieb zum Absurden.“ 230 Mit der ihr unterstellten Triebhaftigkeit skizziert ­Goethe das unberechenbare Unbewusste als mächtigste Bedrohung des Verstandes. Gemeinsam mit Friedrich Schiller und dem Schweizer Maler Johann Heinrich Meyer konzipiert G ­ oethe 1798/99 in den Dilettantismus-Schemata die lyrische Poesie als Forum für eine Disziplinierung der produktiven Einbildungskraft durch den Verstand. Jene Seelenkraft kann auch – das gesteht G ­ oethe ihr immerhin zu – in den Naturwissenschaften und im Alltag nutzbringend eingesetzt werden.231 Ein solcher Entwurf, der für künstlerische und naturwissenschaftliche Tätigkeiten gleichermaßen das Wirken der Phantasie als unabdingbar erachtet, entsprach durchaus dem vermögenspsychologischen Kanon des 18. Jahrhunderts.232 War es gerade der Regelkanon der Dichtkunst, den G ­ oethe in Analogie zu einem Regelkanon der Farbgebung zu finden ­Goethe, Freiburg im Breisgau 1998. 230 WA I,35, S. 243 – 244 (Tag- und Jahreshefte 1805). 231 „Kultur der Einbildungskraft, besonders als integrierender Theil bei der Verstandesbildung. […] Erweckung und Stimmung der produktiven Einbildungskraft zu den höchsten Funktionen des Geistes auch in Wissenschaften und im praktischen Leben.“ WA I,47, S. 312 (Über den Dilettantismus). Gerade in diesem Punkt unterscheidet sich ­Goethes Theorie der Dichtkunst von derjenigen der Romantik, in der er eine Vorherrschaft der ausschließlich subjektbezogenen Phantasie ausmacht. Vgl. WA I,29, S. 93 (Dichtung und Wahrheit). 232 Vgl. Weigel, Sigrid, Das Gedankenexperiment: Nagelprobe auf die facultas fingendi in Wissenschaft und Literatur, in: Macho, Thomas / Wunschel, Annette (Hg.), Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt am Main 2004, S. 183 – 205, besonders S. 192. In ihrer überzeugenden Argumentation erbringt die Autorin den Beweis dafür, dass Literatur und naturwissenschaftliches Experiment in der facultas fingendi, der Fähigkeit zur Fiktion, Hypothesenbildung, Vorstellung, Formung, kurz: zum Fingieren überhaupt, ihre gemeinsamen Ursprünge haben. Ihre Entwicklung und Anwendung sind nicht nur im wissenschaftlichen Experiment zu finden, sondern auch in den „Experimentalräumen“ der zeitgenössischen Literatur. Weigel stellt heraus, dass sich die exakten, rational ausgerichteten Naturwissenschaften paradoxerweise erst dann manifestierten, als die facultas fingendi unabdingbarer Bestandteil wissenschaftlicher Erkenntnis geworden war. Vgl. ebd., S. 197.

2.5  Experimentelle Bilder der Phantasie

hoffte, dessen Suche ihn zum Großprojekt seiner Farbenlehre führte, bindet er in seinen experimentalmethodischen Überlegungen das Wirken der Einbildungskraft nicht nur an die Verstandesleistung, sondern primär an die optische Wahrnehmung. Indem er in seinen Experimenten weder die unsichtbaren Entstehungsursachen der chromatischen Phänomene noch – wie in Kapitel 3.6.1 dargelegt – diejenigen der per se unsichtbaren Farben Infrarot und Ultra­violett berücksichtigt, bemüht er sich, die Projektionsmöglichkeiten für Spekulationen bzw. eine wild wuchernde, fern jeglicher Perzeptionen agierende Einbildungskraft zu minimieren. Im Vermittler-Aufsatz betrachtet er die Phantasie als potentielle Verfälschungsinstanz der Sinnesrezeptionen – eine Kritik, die implizit von einer autonom agierenden produktiven Einbildungskraft ausgeht: „Man kann sich daher nicht genug in acht nehmen, daß man aus Versuchen nicht zu geschwind folgere, daß man aus Versuchen nicht unmittelbar etwas beweisen, noch irgendeine Theo­ rie durch Versuche bestätigen wolle: denn hier an diesem Passe, beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil, von der Erkenntnis zur Anwendung ist es, wo den Menschen alle seine inneren Feinde auflauren, Einbildungskraft, die ihn schon da mit ihren Fittichen in die Höhe hebt, wenn er noch immer den Erdboden zu berühren glaubte, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefaßte Meinung, Bequemlichkeit, Leichtsinn, Veränderlichkeit und wie die ganze Schar mit ihrem Gefolge heißen mag, alle liegen hier im Hinterhalte und überwältigen unversehens sowohl den handelnden Weltmann als auch den stillen, vor allen Leidenschaften gesichert scheinenden Beobachter.“ 233

­ oethes Bemühen um die Regulierung der Einbildungskraft durch Wahrnehmung G und Verstand ist ein entscheidender Faktor für seine Wahl der experimentellen Seria­ lisierungsmethode, die sich primär an das menschliche Auge richtet: „Sollte indes die Einbildungskraft und der Witz ungeduldig manchmal voraus eilen, so gibt“ – wie bereits zitiert – „die Verfahrungsart selbst den Maßstab des Punktes an, wohin sie wieder zurück zu kehren haben.“ 234 Dennoch agiert die Einbildungskraft erkenntnistheoretisch nicht als untergeordnetes, sondern als den anderen Erkenntniskräften gleichberechtigtes Seelenvermögen. ­Goethes Konzept des anschaulichen Denkens bliebe ohne die wissensproduzierend-mediale Wirkung der Phantasie zwischen Wahrnehmung und Verstand unvollständig. Diese ermöglicht den für ­Goethes Erkenntnismethode unabdingbaren Wechsel von Analyse und Synthese, die er als interdependent wirkendes Korrektiv auffasst.235 Werden die wahrgenommenen Einzelphänomene zwar durch den Verstand analytisch reflektiert und begrifflich zu fassen versucht, ist es erst die synthetisierende Leistung der produktiven Einbildungskraft, die das i­ndividuell Erfahrene 233 LA I.3, S. 289 – 290 (Der Versuch als Vermittler). 234 Ebd., S. 295. 235 Vgl. LA I.9, S. 91 (Einwirkung der neueren Philosophie). Vgl. ebenfalls LA I.11, S.  301 – 303 (Analyse und Synthese). Vgl. auch Rehbock, ,Rettung der Phänomene‘, a. a. O., S. 169.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

und analytisch Diskursivierte zu einem Ganzen in der Vorstellung zusammenfügt. Durch ihre verbindende Aktivität, die die Anschlüsse zwischen den unterschiedlichen empirischen Versuchskonstellationen erst generiert, gewährleistet epistemologisch einzig und allein die Einbildungskraft die Kontinuität der experimentellen Reihe und ermöglicht damit die Erkenntnis des Ganzen, d. h. des reinen bzw. Urphänomens, und auf diese Weise die Erfahrung „einer höhern Art“.236 Von diesem ausgehend, können wiederum die Wahrnehmung und der Verstand zum Einsatz kommen, der die neuen Perspektiven und Phänomene mit dem gefundenen Gesetz vergleicht. In diesem sukzessiven, dynamischen Vorgehen dient die Einbildungskraft als vermittelndes Medium zwischen den Teilen und dem Ganzen. In ihrer reproduktiven Funktion erinnert sie stets an das Werden des Urphänomens in der Aneinanderreihung der Einzelphänomene und bereichert damit das momenthaft fixierte Versuchsergebnis um einen dynamischen Aspekt. In diesem Kontext begreift ­Goethe die Einbildungskraft nicht nur als von der Wahrnehmung abhängig, sondern auch als Komplement des Verstandes und konzipiert sie damit als unentbehrliches Vermögen im experimentellen Erkenntnisprozess: Der Verstand ist auf das Fertige, das Gewordene angewiesen, der Einbildungskraft hingegen schreibt ­Goethe die Funktion zu, „das Entstehen statt des Entstandenen […] zu reproduzieren und auszusprechen“.237 Kritisiert ­Goethe im 1792 entworfenen Vermittler-Aufsatz das eigengesetzliche Wirken der produktiven Einbildungskraft und setzt seine Versuchsmethode der Reihenbildung dagegen, besiegelt er die Bindung der Phantasie an die Wahrnehmung 1821 mit dem Entwurf einer reproduktiv-produktiven Einbildungskraft: „Zur Anschauung gesellt sich die Einbildungskraft, diese ist zuerst nachbildend, die Gegenstände nur wiederholend. Sodann ist sie produktiv, indem sie das Angefaßte belebt, entwickelt, erweitert, verwandelt.“ 238 In diesem Konzept wird die reproduktive Einbildungskraft immer schon von schöpferischen Elementen begleitet. Analog seiner Experimentalmethode wendet ­Goethe hier auf den menschlichen Erkenntnisapparat ein Serialisierungsprinzip an, in dem er Bilder unterschiedlicher Qualitäten sukzessiv ordnet, die einander bedingen. Die einst wahrgenommenen Bilder anwesender Gegenstände werden in der reproduktiven Einbildungskraft als Bilder des Abwesenden erinnert, um durch die produktive Einbildungskraft zu neuen Bildern konfiguriert zu werden.239 Auf diese Weise dient das im Gedächtnis gespeicherte Perzipierte als Anschluss für die Entdeckung neuer Welten und gibt dem tastenden experimentellen Vorgehen 236 LA I.3, S. 293 (Der Versuch als Vermittler). Vgl. hierzu die Analysen von Förster, Bedeutung der Kritik der Urteilskraft, a. a. O., S. 182 – 187 sowie Maatsch, „Naturgeschichte der Philosopheme“, a. a. O., S.  96 – 97. 237 WA II,11, S. 162 (Über Naturwissenschaft im Allgemeinen, einzelne Betrachtungen und Aphorismen). 238 WA IV,34, S. 136 – 137. (­Goethe an Carl Ludwig von Knebel am 21. Februar 1821). 239 Vgl. Ho, Einbildungskraft bei ­Goethe, a. a. O., S. 73.

2.5  Experimentelle Bilder der Phantasie

eine bestimmte Richtung. Hier ergeben sich Parallelen zu Kants Konzept der Einbildungskraft, das er in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht entwirft. Auch er bindet ihre reproduktive und produktive Form an bereits wahrgenommene und erinnerte Bilder äußerer Gegenstände. Während erstere die bereits getätigte Erfahrung wieder ins Gedächtnis ruft, hat ausschließlich letztere die Kraft, erfahrene Eindrücke zu verändern. Völlig aus sich selbst heraus, d. h. eigenschöpferisch, kann auch diese nicht agieren.240 Wirken in Kants anthropologischen Studien beide Arten der ­Einbildungskraft durch ihre Ausrichtung an der Wahrnehmung zusammen, trennt er das Wirken beider Arten in der Kritik der reinen Vernunft. Die reproduktive Einbildungskraft zählt er wegen ihrer sinnlichen Bedingtheit zum empirischen Gesetz. Die produktive Einbildungskraft hingegen ordnet er wegen ihrer assoziativen Funktion dem Vermögen der Synthesis a priori zu, die aktiv in den Wahrnehmungsprozess des Menschen eingreift. Unabhängig von der Wahrnehmung vorhanden, agiert sie als spontanes Vermögen, das die Vielfalt sinnlicher Eindrücke zu Bildern assoziiert, um sie dem Verstand zugänglich zu machen. In dieser Funktion bleibt sie – anders als in ­Goethes Konzept – auf den Verstand angewiesen, da Kant die Verstandeskategorie als Grund der Form einer möglichen Erfahrung betrachtet. Durch die Synthesis der Einbildungskraft wird diese Kategorie auf die Objekte der Erfahrung a priori anwendbar. Konstituiert sich in Kants Konzept der Wahrnehmungsprozess als ein Produkt aus Rezeption und Synthesis in Form der Apprehension, ist bei ihm jede Realität immer schon von der Imagination durchsetzt.241 In ­Goethes Experimentalmethode erfolgt das Erinnern an etwas bereits Gesehenes und dessen Erweiterung durch die Einbildungskraft als ein in sich stringenter, widerspruchsfreier Prozess. In diesem Punkt unterscheidet sich dessen Konzept wesentlich von Christian Wolffs Entwurf der Einbildungskraft, die – ebenfalls auf 240 „Die Einbildungskraft ist (mit anderen Worten) entweder dichtend (produktiv), oder bloß zurückrufend (reproduktiv). Die produktive aber ist dennoch darum eben nicht schöpferisch, nämlich nicht vermögend, eine Sinnenvorstellung, die vorher unserem Sinnesvermögen nie gegeben war, hervorzubringen, sondern man kann den Stoff zu derselben immer nachweisen. Dem, der unter den sieben Farben die rote nie gesehen hätte, kann man diese Empfindung nie faßlich machen, dem Blindgeborenen aber gar keine; […]. Wenn also gleich die Einbildungskraft eine noch so große Künstlerin, ja Zauberin ist, so ist sie doch nicht schöpferisch, sondern muß den Stoff zu ihren Bildungen von den Sinnen hernehmen.“ Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a. a. O., S. 61 – 63. In der Funktionsbestimmung der produktiven Einbildungskraft scheint bei Kant ein argumentativer Widerspruch auf: Nachdem er diese zu Beginn des § 28 kurz als ein „Vermögen der ursprüng­lichen Darstellung“ vor aller Erfahrung beschreibt, zu dem die reinen Raum- und Zeitanschauungen gehören, geht er einige Sätze weiter von dieser transzendentalen zu einer die Sinneswahrnehmung voraussetzenden Form über, die er ausführlicher charakterisiert. Vgl. ebd., Zitat S. 61. Vgl. Brandt, Reinhard, Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Hamburg 1999, S. 246 – 247. 241 Vgl. Bliemel, Walter, Die Bedeutung von Kants Begründung der Ästhetik für die Philosophie der Kunst, Köln 1959, S. 92 sowie Ho, Einbildungskraft bei G ­ oethe, a. a. O., S. 55 – 56.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

der Sinneswahrnehmung basierend – assoziative Elemente aufweist. Damit enthält auch Wolffs Konzept der Einbildungskraft reproduktive und produktive Teile. In ihrer reproduktiven Form verknüpft die Einbildungskraft eine aktuelle Empfindung oder Vorstellung mit einer ähnlichen vergangenen und aktualisiert sie dadurch. Dafür ist nicht die vollständige vergangene Empfindung, sondern nur ein Teil von ihr erforderlich. Mit diesem Ansatz schafft Wolff einen Freiraum für unwillkürliche Assoziationen, in denen bereits bekannte, einst wahrgenommene Dinge geteilt und zu völlig neuen, bisher unbekannten zusammengesetzt werden.242 Ideen und Realität können hier – anders als in G ­ oethes Konzept – widersprüchlich sein. ­Goethe ergänzt das Konzept der reproduktiv-produktiven Einbildungskraft noch um dasjenige der umsichtigen Einbildungskraft, das besonders auf die Bildung von Analogien zielt: „Ferner können wir noch eine umsichtige Einbildungskraft annehmen, die sich beim Vortrag umherschaut, Gleiches und Ähnliches erfaßt, um das Ausgesprochene zu bewähren. Hier zeigt sich nun das Wünschenswerthe der Analogie, die den Geist auf viele bezügliche Punkte versetzt, damit seine Tätigkeit alles das Zusammengehörige, das Zusammenstimmende wieder vereinige.“ 243 Dieses Konzept entstammt wie dasjenige der reproduktiv-produktiven Einbildungskraft G ­ oethes Beschreibung der Seelenvermögen im Kontext einer Diskussion über die Fähigkeiten des Dichters Lukrez.244 Es ist jedoch m. E. – ebenso wie das erstere – nicht nur auf die Dichtkunst, sondern auch auf ­Goethes Versuchsmethode anwendbar, worauf bereits die begriffliche Ebene verweist. Die umsichtige [!] Einbildungskraft deutet auf die von ­Goethe verfolgten Multiperspektiven des Forschers, die durch dieses produktive Vermögen vom bereits erforschten Phänomen in den Bereich des Noch-Nicht-Gewussten ausgeweitet werden. Dieser Bewegung wohnt ein spontanes Element inne, das ­Goethe an der Aktualität des Wahrgenommenen festmacht. Mit diesem Zugriff bindet er diese schöpferische Kraft nicht an die Erinnerung, sondern direkt an den Perzeptionsvorgang. Anders als in Kants Konzept der produktiven Einbildungskraft in der Kritik der reinen Vernunft synthetisiert die umsichtige Einbildungskraft nicht die Einzeleindrücke zu Bildern, um sie der Wahrnehmung überhaupt erst zuzuführen. Diese Kraft baut als vom Verstand unabhängiges Erkenntnisvermögen auf eine bereits erfolgte Wahrnehmung und die damit einhergehende Erkenntnis auf, um weitere, an die Wahrnehmung gebundene Verstandesleistungen zu ermöglichen. Wie Shu Ching Ho herausarbeitete, entwickelt ­Goethe in diesem Konzept eine eigenständige Art der Einbildungskraft, die die Unterteilung in produktive und reproduktive Form hinter sich lässt.245 242 Vgl. Wolff, Vernünfftige Gedancken, a. a. O., §§ 235 – 247, S. 130 – 138, besonders § 238, S. 132 und § 242, S. 134. 243 WA IV,34, S. 137 (­Goethe an Carl Ludwig von Knebel am 21. Februar 1821). 244 Vgl. ebd., S. 127 (­Goethe an Carl Ludwig von Knebel am 14. Februar 1821). 245 Vgl. Ho, Einbildungskraft bei ­Goethe, a. a. O., S. 75 – 76.

2.5  Experimentelle Bilder der Phantasie

Als heuristische Mittel, in denen die reproduktiv-produktive und die umsichtige Einbildungskraft zum Einsatz kommen, setzt G ­ oethe im Experimentalprozess Hypothesen und – wie im obigen Zitat angesprochen – Analogien ein. Schließt die Einbildungskraft in den entsprechenden konzeptuellen Entwürfen ­Goethes jeweils an eine vorausgegangene Sinneswahrnehmung an, führt sie diese jedoch auf unterschiedliche Art weiter: Mit der Bildung von Analogien versucht G ­ oethe, ausgehend von bereits bekannten Phänomenen durch das Auffinden und Verbinden von Ähnlichem noch unerforschte Objekte zu erkennen. Die Analogie versteht er als geeignetes Mittel zur Schaffung einer überschaubaren Ordnung der Phänomene. Sie kann – mit Foucault gesprochen – „alle Gestalten der Welt einander annähern“,246 indem sie es ermöglicht, jeden ihrer Punkte auf jeden anderen zu beziehen. In ihrer medial-verknüpfenden Funktion hebt die Analogie durch die Betonung der Ähnlichkeiten die Verbindungen zwischen den Erscheinungen hervor, belässt jedoch die Phänomene zugleich in ihrer jeweiligen Individualität.247 Um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Wahrnehmung der Phänomene und dem Wirken der Phantasie ebenso zu wahren wie zwischen dem analytisch-individualisierenden und dem synthetisch-ganzheitlichen Weltzugriff, fordert ­Goethe zu einem diätetischen Umgang mit ihr auf: „Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles ins Unendliche. In beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überlebendig, das andere Mal als getötet.“ 248 Dient die Analogie der Übertragung der Erkenntnis bereits erfahrener Fakten auf noch nicht Erforschtes, Unbekanntes, enthält sie damit das Potential zu einer unendlichen Erweiterung der Welt.249 Bei der Hypothesenbildung hingegen richtet ­Goethe die Funktion der Einbildungskraft ausschließlich auf die Überbrückung der Lücken und Brüche zwischen den empirischen Erfahrungen. Ihm dient die Hypothese nicht wie in Newtons Versuchsmethode als primärer Ausgangspunkt eines Experiments, bei dem letztendlich die Einbildungskraft, nicht aber die Sichtbarkeit der Farbe ausschlaggebend für die Art der Experimentalkonstellation ist.250 In seiner noch vor dem Vermittler-Aufsatz entstandenen Schrift Über die Notwendigkeit von Hypothesen betrachtet ­Goethe diese Gedankenkonstrukte als ebenso unabdingbar für den Erkenntnisgewinn wie praktische Erfahrungen und Beobachtungen. Er setzt primär auf die fiktive Verbildlichungsfunktion der Hypothese, die mangels empirischer Daten zu neuen Erkenntnissen führen soll. Dabei pocht er jedoch auf ihre strikte Funktion als heuristisches Hilfsmittel, „als 246 Foucault, Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 51. 247 Vgl. Rehbock, ,Rettung der Phänomene‘, a. a. O., S. 179 – 180. 248 ­Goethe, Maximen und Reflexionen, a. a. O., Maxime 554, S. 112. 249 Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 51. 250 „Ich habe […] gesagt, daß ich die unmittelbare Anwendung eines Versuchs zum Beweis irgend einer Hypothese für schädlich ansehe, und habe dadurch zu erkennen gegeben, daß ich eine mittelbare Anwendung derselben für nützlich halte, […].“ LA I.3, S. 292 (Der Versuch als Vermittler).

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

bequeme Bilder, sich die Vorstellung des Ganzen zu erleichtern“.251 Im physikalischen Versuch entwickelt ­Goethe bereits erfahrene und erinnerte Bilder eines realen Experiments in der produktiven Einbildungskraft weiter und setzt diese Schöpfungen in Form der nächsten variierten Experimentalkonstellation in die Praxis um. Obwohl die Bildung von Hypothesen im Versuch immer vom Wahrgenommenen ausgehen soll, gesteht ­Goethe ihnen im Dienste der Erkenntnisfindung auch den Umweg über das Irreale zu: „Die Vorstellungsart, die die größte Erleichterung gewährt, ist die beste, so weit sie auch von der Wahrheit selbst, der wir uns dadurch zu nähern suchen, entfernt sein mag.“ 252 Mit der der Hypothese zugewiesenen Scharnierfunktion zwischen einem bereits realisierten und einem noch zu realisierenden Versuch konzipiert G ­ oethe sie ausdrücklich nicht als endgültiges, sondern temporär wirkendes Medium der Erkenntnis. Dieses ist als Vergleichsobjekt neben die Phänomene zu stellen, darf aber keinesfalls an ihre Stelle treten: „Hypothesen sind Gerüste, die man vor dem Gebäude aufführt, und die man abträgt, wenn das Gebäude fertig ist. Sie sind dem Arbeiter unentbehrlich; nur muß er das Gerüste nicht für das Gebäude ansehen.“ 253 Sobald die erforderlichen empirischen Daten gewonnen worden sind, wird die Funktion der Hypothese obsolet. Ob als in die experimentelle Reihenbildung integrierte Hypothese oder als die Einzel­erfahrungen synthetisierendes, eine Erkenntnis des Urphänomens ermög­ lichendes Medium – beide Herangehensweisen zeigen, dass die Generierung wissenschaftlicher Fakten nicht ohne Fiktionen möglich ist. Dieses methodische Vorgehen bringt G ­ oethes Experimentalmethode in die Nähe moderner Wissenschaftstheorien, koinzidiert jedoch nicht vollständig mit ihnen. Wie G ­ oethe geht beispielsweise auch Bruno Latour davon aus, dass die Gewinnung von Fakten ohne Fiktionen unmöglich sei, beschreibt das Zusammenspiel beider jedoch als untrennbar ineinander verwoben.254 ­Goethe hingegen bemüht sich in seiner Experimentalmethode – wie oben gezeigt –, Fakten und Fiktionen in ihrem Zusammenwirken epistemologisch eindeutig zu separieren und den Erkenntnisprozess immer wieder auf die Phänomene zurückzuführen. In diesem Zugriff ist vermutlich der Grund dafür zu suchen, dass ­Goethe das Gedankenexperiment nicht als eigenständiges Erkenntnismittel bzw. als gleichwertige Alternative zum realen Versuch benutzt. 251 LA I.11, S. 36 (Über die Notwendigkeit von Hypothesen). Die Schrift entstand vermutlich 1789 oder 1790. Zur Datierung vgl. den Kommentar von Jutta Eckle in: LA II.1B, S. 1143. G ­ oethe betont die produktive Kraft der Hypothese, indem er sie als Dichtung begreift. Sie erhebt wie die eigentliche Dichtkunst durch das Ansprechen der Einbildungskraft die menschliche Seele, indem sie einzelne Erfahrungen in einem gedanklichen Konstrukt verbindet. Vgl. LA I.11, S. 35 (Über die Notwendigkeit von Hypothesen). 252 LA I.11, S. 36 (Über die Notwendigkeit von Hypothesen). 253 ­Goethe, Maximen und Reflexionen, a. a. O., Maxime 1222, S. 208. Vgl. zu diesem Punkt Rehbock, ,Rettung der Phänomene‘, a. a. O., S. 155. 254 Vgl. Latour, Bruno, Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt am Main 2000, besonders Kapitel 9, S. 327 – 369, hier S. 342.

2.5  Experimentelle Bilder der Phantasie

Im 18. Jahrhundert war eine Zunahme von Gedankenexperimenten zu verzeichnen, die besonders durch den vermehrten Einsatz optischer Instrumente wie dem des Mikros­ kops gefördert wurde, die natürliche unsichtbare Welten sinnlich erfahrbar machten. Mit dieser apparativen Erweiterung der wahrnehmbaren Natur vergrößerten sich auch die potentiellen Erkenntnisräume ihrer Gesetzmäßigkeiten. Das Gedankenexperiment manifestierte sich hier vor der künstlichen Visualisierung noch unsichtbarer Bereiche in Prognosen über das zu erwartende Wahrnehmbare.255 Im Verhältnis zum empirischen Versuch lassen sich wissenschaftstheoretisch zwei Formen von Gedankenexperimenten unterscheiden: erstens – wie eben beschrieben – als Vorbereitung und Vorwegnahme eines empirischen Versuchs, in dem die gedanklich gewonnenen Ergebnisse überprüft werden (hier hat es oft die Form einer Hypothese), zweitens als Ersatz eines realen Experiments, wenn dieses aus technisch-praktischen oder anderen Gründen nicht durchführbar ist. Hier gilt es als dessen gleichwertige Alternative, die nicht zwingend einer exakten, logischen Analyse verpflichtet sein muss und Widersprüche zulässt.256 Der Hauptvorteil des substitutiven Gedankenexperiments liegt gerade darin, dass es durch die Eröffnung „neuer Möglichkeitsspielräume“ 257 zu einem fiktionalen Erkenntnismedium wird, das nicht an reale Phänomene gebunden ist. Ob als Ersatz oder Alternative zum empirischen Versuch – jedes Gedankenexperiment unterscheidet sich von der reinen Fiktion durch seinen punktuellen, strategischen Einsatz. Dieser richtet sich nicht auf eine unendliche Zahl von Möglichkeiten, sondern auf einen konkreten Kontext.258 Die hier aufgeführte zweite Form des Gedankenexperiments benutzte ­Goethe nicht. Dafür kann neben der Ausrichtung von G ­ oethes Versuchsmethode auf die Phänomene 255 Vgl. Weigel, Gedankenexperiment, a. a. O., S. 194. 256 Zur hier entworfenen Zweiteilung des Gedankenexperiments vgl. Daiber, Jürgen, Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment, Göttingen 2001, S. 22. Zum vorbereitenden Charakter des Gedankenexperiments für den physikalischen Versuch vgl. Duhem, Pierre, Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, Hamburg 1998, S. 296 – 367. Zur Widersprüchlichkeit in Gedankenexperimenten vgl. Genz, Henning, Gedankenexperimente, Weinheim 1999, S. 17. Ernst Mach veranschlagte den epistemologischen Wert des Gedankenexperiments höher als den des realen Versuchs: „Außer dem physischen Experiment gibt es noch ein anderes, welches auf höherer intellektueller Stufe in ausgedehntem Maße geübt wird – das Gedankenexperiment. Der Projektemacher, der Erbauer von Luftschlössern, der Romanschreiber, der Dichter sozialer und technischer Utopien experimentiert in Gedanken.“ Mach, Ernst, Über Gedankenexperimente, in: ders., Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung, Darmstadt 1991, S. 183 – 200, hier S. 186. 257 Weigel, Gedankenexperiment, a. a. O., S. 186. Weigel bezieht sich hier auf: Poser, Hans, Wovon handelt ein Gedankenexperiment?, in: Poser, Hans / Schütt, Hans-Werner (Hg.), Ontologie und Wissenschaft. Philosophische und wissenschaftshistorische Untersuchungen zur Frage der Objektkonstitution, Berlin 1984, S. 181 – 198, hier S. 190. 258 Vgl. Wunschel, Annette / Macho, Thomas, Zur Einleitung: Mentale Versuchsanordnungen, in: dies. (Hg.), Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt am Main 2004, S. 9 – 14, hier S. 9.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

selbst noch ein weiterer und ebenso wichtiger Grund ausgemacht werden: ­Goethes exploratives Experimentieren lässt bereits auf phänomenaler Ebene Widersprüche und Standpunktwechsel und damit das Erschließen alternativer Welten zu – Eigenschaften, die charakteristisch für die Form des Gedankenexperiments als eigenständiges Erkenntnismittel sind. Während in Kants Anthropologie die produktive Einbildungskraft nach einer einmal getätigten Wahrnehmung potentiell unendlich wirken kann, bilden in ­Goethes Experimentalmethode Sinnestätigkeit und Einbildungskraft eine sich wechselseitig konstituierende Reihe. Das in ihr ermöglichte Spiel der Bilder von An- und Abwesendem lässt immer wieder aktuelle Rückkopplungen an neue Phänomene zu. Auf diese Weise dient die Einbildungskraft als vermittelndes Medium zwischen etwas bereits Erfahrenem und etwas noch nicht Wahrgenommenem. Sie kann durchaus im Erkenntnismittel des Gedankenexperiments agieren, das als punktuell eingesetzte Hypothese zwischen zwei Wahrnehmungsvorgängen fungiert, nicht jedoch als alleiniger Auftakt eines realen Experiments. Neben ihrem sukzessiven Zusammenspiel mit der Wahrnehmung in Analogie, Hypothese und experimenteller Reihenbildung wirkt die Einbildungskraft in G ­ oethes realen Experimentalkonstellationen auch simultan mit jener zusammen, besonders in den Refraktionsversuchen: Da die Kantenspektren die sie erzeugende Hell-DunkelGrenze selbst ungewiss machen,259 imaginiert der Betrachter bei jedem Blick durchs Prisma ihre undeutliche oder komplett verschwundene Erscheinung in klarer Form mit. Die in den Kantenspektren sichtbaren Einzelfarben zeigen sich dem Betrachter nicht deutlich getrennt, sondern ineinander übergehend. Eine völlige Separierung gelingt ihm allein in der Vorstellungskraft. Seinem Erkenntnisprinzip, die Einbildungskraft eng an die Wahrnehmung zu binden, bleibt ­Goethe auch im Umgang mit den Imponderabilien von Magnetismus, Galvanismus und Elektrizität treu, womit er sich von vielen zeitgenössischen Forschern unterscheidet. Diese Phänomene wurden deshalb als imponderabel bezeichnet, weil sie zwar in ihren Wirkungen wahrnehmbar sind, nicht aber in ihrem Verursachungsprinzip. Ein logisches Kausalverhältnis ist aus diesem Grund bei ihnen nicht nachweisbar. In jedem Falle ist die Beziehung zwischen unsichtbarer Ursache und erfahrbaren Wirkungen der Imponderabilien kontingenzbehaftet, so dass eine rationale Analyse versagt. Eine Methode, dieser Unklarheit angemessen zu begegnen, war um 1800 der Probabilismus, der zwar eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, jedoch keine völlige Gewissheit herbeiführte. Als weit gebräuchlicheres Mittel hingegen wurde die Einbildungskraft angewendet.260 Ihr bildnerisches Vermögen schloss die Lücke zwischen angenommener 259 Vgl. LA I.3, § 91, S. 40 – 41 (Beiträge zur Optik. Zweites Stück). 260 Vgl. hierzu ausführlich Gamper, Michael, Wissen auf Probe. ,Verborgene Ursachen‘ in Elektrizitätslehre und Literatur, in: Schimma, Sabine / Vogl, Joseph (Hg.), Experimentalsysteme 1800, Zürich / Berlin 2009, S. 51 – 68, besonders S. 53 – 57.

2.5  Experimentelle Bilder der Phantasie

Ursache und erkennbarer Wirkung auf eigene Weise, wie Joseph Priestley anschaulich für die Elektrizität beschreibt: „Hier kann man der Einbildungskraft freien Lauf lassen, in der Vorstellung der Art und Weise, wie eine unsichtbar wirkende Ursache eine fast unendliche Mannigfaltigkeit von sichtbaren Wirkungen hervorbringe. Da die wirkende Ursache unsichtbar ist, so hat jeder Naturforscher die Freiheit, darzu machen was er will, und derselben solche Eigenschaften und Kräfte, als sich zu seiner Absicht am besten schicken beizulegen.“ 261

Die Erfahrbarmachung der Imponderabilien war meist an eine apparative Konstellation gebunden, so dass die Beobachtung ihrer Effekte, die sich im Anziehen und Abstoßen von Gegenständen, in Funken oder Blitzen zeigten, nicht ohne experimentellen Eingriff möglich war. In seiner erkenntnistheoretischen Hierarchie, die ­Goethe an die Erscheinungen legt, ordnet er die künstliche Visualisierung der Phänomene der natürlichen Sichtbarkeit unter. Während der spekulative Forscherblick nach möglichen Ursachen dieser Phänomene sucht, blendet G ­ oethe solche fiktionalen „Tiefenprojektionen“ kurzerhand aus. Er verbindet Imponderabilien und Farbe über das naturphilosophische Polaritätsprinzip und räumt der Farbe allein wegen ihrer natürlichen Sichtbarkeit und der damit verbundenen ästhetischen Wirkung den höchsten Rang unter den Phänomenen ein: „§ 741 […] Hier kennen wir das gleichgültige Wesen, das Eisen; wir sehen die Entzweiung an ihm entstehen, sich fortpflanzen und verschwinden und sich leicht wieder aufs neue erregen; nach unserer Meinung ein Urphänomen, das unmittelbar an der Idee steht und nichts Irdisches über sich erkennt.“ „§ 742 Mit der Elektrizität verhält es sich wieder auf eine eigne Weise. Das Elektrische, als ein Gleichgültiges kennen wir nicht. Es ist für uns ein Nichts, eine Null, ein Nullpunkt, ein Gleichgültigkeitspunkt, der aber in allen erscheinenden Wesen liegt und zugleich der

261 Priestley, Joseph, Geschichte und gegenwärtiger Zustand der Elektricität, nebst eigenthümlichen Versuchen, nach der zweyten vermehrten und verbesserten Ausgabe aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Johann Georg Krünitz, Berlin / Stralsund 1772, S. XV. Wie Natascha Adamowsky herarbeitete, wirkte sich diese epistemologische Methode auf die im 18. Jh. gängige halböffentliche und öffentliche Aufführungspraxis naturwissenschaftlicher Versuche aus. In jener Zeit war „die Frage des Wie der Bildinszenierung des Unsichtbaren […] von Luftdruck, Elektrizität und Magnetismus“ nicht Sache der Naturgesetze, sondern lediglich die der Einbildungskraft. Vgl. Adamowsky, Natascha, Das Wunderbare als gesellschaftliche Aufführungspraxis: Experiment und Entertainment im medialen Wandel des 18. Jahrhunderts, in: Steigerwald, Jörn / Watzke, ­Daniela (Hg.), Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung der Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680 – 1830), Würzburg 2003, S. 165 – 185, Zitat S. 174.

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2.  Die Medialität des physikalischen Versuchs

Quellpunkt ist, aus dem bei dem geringsten Anlaß eine Doppelerscheinung hervortritt, ­ elche nur insofern erscheint, als sie wieder verschwindet. […].“ w „§ 745 Wenn sich Elektrizität und Galvanität in ihrer Allgemeinheit von dem Besondern der magnetischen Erscheinungen abtrennt und erhebt, so kann man sagen, daß die Farbe, obgleich unter eben den Gesetzen stehend, sich doch viel höher erhebe und, indem sie für den edlen Sinn des Auges wirksam ist, auch ihre Natur zu ihrem Vorteil dartue. […] Auch stehen diese letzteren Erscheinungen auf einer niedern Stufe, so daß sie zwar die allgemeine Welt durchdringen und beleben, sich aber zum Menschen im höheren Sinne nicht heraufbegeben können, um von ihm ästhetisch benutzt zu werden. Das allgemeine einfache physische Schema muß erst in sich selbst erhöht und vermannigfaltigt werden, um zu höheren Zwecken zu dienen.“ 262

Ob reproduktiv-produktive oder umsichtige Einbildungskraft – die an die Wahrnehmung gebundene Phantasie betrachtet G ­ oethe noch zwei Jahre vor seinem Tod im Gespräch mit Eckermann als unabdingbare wissenschaftliche Erkenntniskonstituente: „Im Grunde […] ist ohne diese hohe Gabe ein wirklich großer Naturforscher gar nicht zu denken. Und zwar meine ich nicht eine Einbildungskraft, die ins Vage geht, und sich die Dinge imaginiert, die nicht existiren; sondern ich meine eine solche, die den wirklichen Boden der Erde nicht verläßt, und mit dem Maßstab des Wirklichen und Erkannten zu geahndeten vermuteten Dingen schreitet.“ 263

Richtet sich in ­Goethes physikalischem Experiment der von Realität, Verstand und Einbildungskraft geprägte Forscherblick auf die Untersuchung der äußeren Phänomene und die Beteiligung des Auges an ihrer Erzeugung, lenkt ­Goethe in den physiologischen Farbstudien seinen erkenntnistheoretischen Fokus auf die körpereigene Produktion dieser Bilder.

262 LA I.4, §§ 741 – 745, S. 217 – 219 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 263 ­Goethe zu Eckermann am 27. Januar 1830, in: Eckermann, Gespräche mit G ­ oethe, a. a. O., S. 660.

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3.

Körper-Bilder des Subjekts

3.1 Die Farben des ganzen Menschen Berief sich ­Goethe in seinen physikalischen Versuchen auf die philosophisch inspirierte Vermögenspsychologie und nivellierte die Hierarchie der Seelenvermögen, die in vielen zeitgenössischen philosophischen Konzepten enthalten war, avancierte bereits in seinen frühen Farbstudien der menschliche Körper zum Analyseobjekt ersten Ranges. ­Goethes Forscherblick erweiterte sich von der anfänglichen Beobachtung physikalischer Phänomene auf die Selbstbeobachtung des physiologischen Wahrnehmungsvorgangs. In dieser Neuausrichtung wurde G ­ oethe auf die Fähigkeit des Auges aufmerksam, eigenständig Farben zu produzieren. Sein Interesse für die physiologische Farberzeugung wurde durch die umfassende empirische Erforschung des menschlichen Körpers angeregt, die im späten 18. Jahrhundert einsetzte – in einer Zeit, in der sich die Biologie als wissenschaftliche Disziplin begründete. Seele, Geist und Körper wurden nun in funktional-organologischen Konzepten gleichermaßen als real nachweisbar vorausgesetzt. Der Mensch erschien als „empirisch-transzendentale Dublette“. Sein biologisch erschließbarer Körper wurde als grundlegende Bedingung für die geistigen und künstlerischen Leistungen des Subjekts betrachtet, die weit über den Bereich der erfahrbaren Natur hinausgehen.1 ­Goethe bindet seine Theorie der Farbe anthropologisch an das Agieren des ganzen Menschen, dessen körperliche und geistige Dispositionen – ein Ansatz, der sich in der Struktur des didaktischen Teils der Farbenlehre anschaulich abbildet. Ausgehend vom Auge als dem Organ der Farbwahrnehmung per se, bestimmt G ­ oethe die von diesem selbst erzeugten Physiologischen Farben als Basis seiner gesamten Lehre. Obwohl er die Farben je nach Erscheinungskontext in physiologische, physische und chemische gliedert und damit als früher Vertreter der Disziplinenteilung agiert, bindet er die Inhalte dieser Abteilungen der Farbenlehre durch den Diskurs über die Tätigkeit des Auges aneinander: Zur Grundlage der Physischen Farben erhebt G ­ oethe – wie gezeigt – die subjektiven, auf die aktive Mitwirkung des Gesichtssinns angelegten Versuche. In den Chemischen Farben diskutiert er unter der Scheinbaren Mischung physiologische Farbphänomene, z. B. die durch die Bewegung eines verschiedenfarbigen Schwungrades, des sogenannten Dorls, erzeugte neue Farbe im Auge.2 In den folgenden beiden Teilen, den Allgemeinen Ansichten nach innen und den Nachbarlichen Verhältnissen, fasst ­Goethe das bisher Dargelegte zusammen und stellt es ins Verhältnis zu ­verschiedenen ­Wissenschaften

1 Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 377 – 389, Zitat S. 384. 2 Vgl. LA I.4, § 561, S. 172 (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

und Techniken. In der letzten Abteilung, der Sinnlich-sittlichen Wirkung der Farbe, untersucht er ihre Auswirkungen aufs menschliche Empfinden, ihre psychologischen Effekte, die wiederum auf der Tätigkeit des Auges als spezifischem Rezeptionsorgan basieren. Indem ­Goethe den Bogen zurück zum Ausgangspunkt seiner Farbenlehre: den Physiologischen Farben schlägt, richtet er die Struktur des gesamten didaktischen Teils an einem ganzheitlichen, in sich geschlossenen Konzept des Menschen aus. Mit der biologisch-physiologischen Erschließung des Körpers wurden die Endlichkeit des Lebens und die Vergänglichkeit des Leibes zum eigentlichen Bestimmungsgrund des Menschen erklärt. Die mit ihnen verbundene „unüberwindliche Beziehung des Seins des Menschen zur Zeit“ 3 wird im didaktischen Teil zum alles entscheidenden Strukturierungskriterium. In ­Goethes Koloritstudien weichen statisch-geometrische Raumkomponenten dem Zeitraum, zwischen dessen Anfangs- und Endpunkt ­Goethe das dynamisch-prozessuale Eigenleben der Farben herausstellt: Von den flüchtigen, vom Auge erzeugten physiologischen Farben, die auf dessen „lebendiges Wechselwirken in sich selbst und nach außen […] hindeuten“,4 über die physischen Farben, deren Kennzeichen zumeist „das Vorübergehende, Nichtfestzuhaltende“ 5 ist, bis zu den chemischen Farben, als deren Merkmal G ­ oethe „die Dauer“ 6 beschreibt, reiht er diskursiv die farbigen Erscheinungen aneinander. Obwohl die Abteilung der Physiologischen Farben impulsgebend auf die frühe Sinnesphysiologie wirkt, überträgt ­Goethe – anders als Arthur Schopenhauer und die Sinnes­physiologen Johann E. Purkinje und Johannes Müller 7 – das Konzept des Urphänomens nicht auf die physiologischen Vorgänge des Auges. In ­Goethes Diskursen über den menschlichen Körper finden sich bezüglich der Farbentstehung zwischen Hell und Dunkel lediglich metaphorische Interpretationen. Das für den Geist stehende Helle und das den empirischen Körper bezeichnende Dunkel haben in der abendländischen Philosophiegeschichte eine lange Tradition mit unterschiedlichen Gewichtungen.8 Der hier aufscheinende Dualismus von Geist und 3 4 5 6

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Foucault, Ordnung der Dinge, a. a. O. S. 404. Vgl. dazu auch ebd., S. 379 –380. LA I.4, § 3, S. 25 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). Ebd., § 136, S. 61. Ebd., § 486, S. 155. Selbst die chemischen Farben sind letztendlich nicht dauerhaft. So verblassen z. B. die Farben auf Bildern oder an der Kleidung. In der Einleitung des didaktischen Teils zollt ­Goethe dieser Variabilität folgenden Tribut: „Doch hoffen wir, […] die Überzeugung zu erwecken, daß ein Werdendes, Wachsendes, ein Bewegliches, der Umwendung Fähiges nicht betrüglich sei, vielmehr geschickt, die zartesten Wirkungen der Natur zu offenbaren.“ Ebd., S. 22 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Einleitung). Vgl. dazu ausführlich Teil 4 dieser Arbeit. Vgl. z. B. Platons Höhlengleichnis, in dem die Schatten im unterirdischen Dunkel als Metapher für die Trughaftigkeit der Sinne stehen und die Höhlenwände auf die Grenzen des sinnlichen Erkenntnisgewinns verweisen. Die Sonne in der grenzenlosen Oberwelt hingegen steht für die unwandelbare Idee des Guten. Erst sie gewährleistet die wahre Erkennbarkeit der Dinge im Licht

3.1  Die Farben des ganzen Menschen

Körper wird bei G ­ oethe durch die sich im Trüben entwickelnden, die Hell-DunkelGrenze entwertenden Farben metaphorisch verbunden und zum Konzept des ganzen Menschen umformuliert: „Alles Lebendige strebt zur Farbe, zum Besonderen, zur Spezifikation, zum Effekt, zur Undurchsichtigkeit bis ins Unendlichfeine. Alles Abgelebte zieht sich nach dem Weißen, zur Abstraktion, zur Allgemeinheit, zur Verklärung, zur Durchsichtigkeit.“ 9 Die hier angelegte Konnotation des Weißen mit abstrakten Geistestätigkeiten und religiösen Anspielungen wird durch das Schwarze als etwas begrenzt Körperhaftem kontrastiert: „Wenn wir nun dagegen das Schwarze aufsuchen, so können wir solches nicht wie das Weiße herleiten. Wir suchen und finden es als einen festen Körper.“ 10 Bezugnehmend auf Plotins neoplatonische Emanationslehre, die das Licht als Metapher für die Erkennbarkeit der von einem höchsten Wesen geschaffenen Welt und dessen Wirken begreift und alles als eine unteilbare Ganzheit betrachtet,11 setzt ­Goethe metaphorisch Geist und Licht in eins: „Licht und Geist, jenes im Physischen, dieser im Sittlichen herrschend, sind die höchsten denkbaren und untheilbaren Energien.“ 12 Die empirische Leistung des Auges hingegen betrachtet er in ihrer Spezifität, wählt dabei aber keinen physiologischen, sondern einen ästhetischen Zugang: ­Goethe analysiert das Wirken des Gesichtssinns nicht an der Materialität des Organs selbst, sondern ausschließlich an den vom Auge wahrgenommenen und produzierten Bildern. In seinen physiologischen Farbstudien bedient er sich – so soll nachfolgend aufgezeigt werden – eines anthropologischen Körpermodells, das er in ein naturphilosophisches Harmoniekonzept einbindet. Um das homöostatische Verhältnis von Mensch und Natur zu wahren, erzeugt das Auge in G ­ oethes Konzept auf einen einfarbigen äußeren Reiz immer eine eigene Farbe. Analysiert ­Goethe auch die spezifischen Leistungen anderer Sinne, z. B. des Gehörs, an der Wirkung der ihnen korrespondierenden Objekte, nicht aber an ihrer Anatomie, betrachtet er nicht alle Sinne als erkenntnistheoretisch gleichwertig: In seinem Wahrnehmungsmodell ist das höchste Organ das Auge, dessen autonomes Agieren er konzeptuell durch die Bereinigung von allen haptischen Komponenten zu erlangen versucht. Durch diesen Zugriff möchte er beweisen, dass der Tastsinn erkenntnistheoretisch obsolet ist, um einmal mehr gegen die empiris­ tische Höherbewertung des Raums gegenüber der Farbe vorzugehen. der Vernunft. Strikt trennt Platon damit das Reich der Erfahrung von der Welt der Ideen. Die „Oberwelt“ entspricht dem unwandelbaren Sein, das durch die Seele und ihre Ideen verkörpert wird, die „Unterwelt“ zeigt das Werden und Vergehen des menschlichen Körpers und seiner Wahrnehmungen. Vgl. Plato, Werke in 8 Bdn., griechisch und deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 4: Politeia, Darmstadt 1990, S. 555 – 567. 9 LA I.4, § 586, S. 177 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 10 LA I.3, § 9, S. 192 (Versuch die Elemente der Farbenlehre zu entdecken). 11 Vgl. hierzu auch das viel zitierte Epigramm ­Goethes, hier in der Fassung von 1805 wiedergegeben: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft / Es würde nie das Licht erblicken / Wär’ nicht in uns des Gottes eigene Kraft / wie könnt uns Göttliches entzücken.“ LA I.3, S. 436 (Nach Plotin). 12 WA II,11, S. 157 (Über Naturwissenschaft im Allgemeinen).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Den nachfolgenden Ausführungen zu ­Goethes physiologischem Farbkonzept sei eine kurze Analyse der für dieses relevanten Vorläuferstudien vorausgeschickt, um zu verdeutlichen, auf welche Weise ­Goethe die vor seinen Arbeiten als Pathologien aufgefassten, vom Auge selbst erzeugten Farben in die Norm des Sehens integrierte. Im Anschluss an die Darlegung von ­Goethes Konzept werden seine Studien zur Fehlleistung des Farbensehens vorgestellt, in denen er wissenshistorisch als einer der Ersten systematisch Farbenblinde befragte. Nach einem Vergleich seiner Analysen des Gesichtssinns mit denen des Gehörs wird G ­ oethes Position zu den galvanischen, die Sinnesleistungen überhöhenden Experimenten ebenso herausgearbeitet wie das gewandelte erkenntnistheoretische Verhältnis von Auge und Instrument im größten Nachtrag zur Farbenlehre, den entoptischen Studien.

3.2 Augenzeugen – Augen zeugen 3.2.1 Das Forschungskollektiv als Medium der Erkenntnissicherung Auf die Fähigkeit des menschlichen Auges zur Farberzeugung wurde ­Goethe symbolträchtigerweise durch zahlreiche Versuche mit den Phänomenen der farbigen Schatten aufmerksam. Seine aufgezeichneten Beobachtungen, die in Anlehnung an Karin Knorr-Cetina als stückweise ad-hoc-Projektionen experimentell erzeugter Äußerungen betrachtet werden können,13 erhielten jedoch erst durch ein umfangreiches Netz von Diskursen und den in ihnen aufgeführten Erklärungen einen Topos im Gefüge des Wissens, der rekursiv G ­ oethes Experimentalergebnissen einen erkenntnistheoretischen Sinn verlieh.14 Ob im Vergleich seiner Versuchsresultate mit der Fachliteratur, ob im Briefwechsel mit angesehenen Forschern seiner Zeit oder im Gespräch mit ihnen, ob in Publikationen, die seine Forschungen reflektierten – ­Goethe nutzte das Kollektieren von Perspektiven anderer zur Objektivierung seiner Forschungsergebnisse. Ermöglicht der explorative physikalische Versuch primär die Konstituierung unterschiedlicher Perspektiven eines Forschers auf das Untersuchungsobjekt, fließen die realen oder die schriftlich und im Gespräch reflektierten virtuellen Blicke verschiedener

13 Vgl. Knorr-Cetina, Karin, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Wissenschaft, Frankfurt am Main 1984, S. 175. 14 Zur sinngebenden Funktion der diskursiven Formationen für das Wissen vgl. Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981, besonders S. 61 – 74 und S. 262. Vgl. ders., Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1991. Vgl. auch Siegert, Bernhard, Schein versus Simulation, Kritik versus Dekonstruktion. Wie man von Experimentalstrategien in den biologischen Wissenschaften (nicht) spricht. Ein außerdisziplinärer Kommentar, in: Rheinberger, HansJörg / Hagner, Michael (Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin 1993, S. 226 – 240, hier S. 235.

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

Fachleute zuvörderst in einem Forschungskollektiv zusammen. G ­ oethe begreift dieses als eine dem Einzelnen übergeordnete Korrekturinstanz: „[…] wir können […] nicht genug anerkennen, wie nötig Mitteilung, Beihülfe, Erinnerung und Widerspruch sei, um uns auf dem rechten Wege zu erhalten und vorwärts zu bringen.“ 15 Bietet der explorative Versuch durch sein Kriterium der Wiederholbarkeit ohnehin ein Forum für das Weiterschreiben der in ihm gesammelten Erkenntnisse durch den Wissenschaftler, so wird diese potentiell unendliche Prozessualität durch das Zusammenfügen unterschiedlicher Forscherperspektiven weiter potenziert. Diese kollektive Methode, die rekursiv die Zeitgebundenheit des Wissens unterstreicht, stellt ­Goethe in Differenz zum individuellen künstlerischen Schaffen: Er empfiehlt dem Wissenschaftler, vorläufige, noch unfertige Versuchsergebnisse zu präsentieren, die er in Gegensatz zum ausgeführten künstlerischen Produkt stellt. Da der Künstler die Einmaligkeit des die Natur durchdringenden Blicks individuell im Kunstwerk umsetzt, legitimiert ­Goethe ihn dazu, das Werk erst nach Fertigstellung der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das wissenschaftliche Ergebnis hingegen ist immer auf die kritische Reflexion durch andere angewiesen, so dass diesem Produkt von vornherein das Merkmal der Vorläufigkeit innewohnt: „In wissenschaftlichen Dingen hingegen ist es schon nützlich, jede einzelne Erfahrung, ja Vermutung öffentlich mitzuteilen und es ist höchst rätlich, ein wissenschaftliches Gebäude nicht eher aufzuführen, bis der Plan dazu und die Materialien allgemein bekannt, beurteilt und ausgewählt sind.“ 16 Wie der Versuch besitzt auch das Forschungskollektiv eine doppelte mediale Funktion: Indem es die individuellen Standpunkte der Wissenschaftler zusammenführt, tritt es als Vermittler der Farbdaten auf. Dieses Kollektieren und Leiten ist wiederum Voraussetzung für seine Funktion als Wissensproduzent und der mit dieser verbundenen Datenobjektivierung. In einer Parallellektüre arbeitete Safia Azzouni heraus, dass ­Goethes Kollektivierungsmethode zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem wissenssoziologischen Konzept des Denkkollektivs aufweist,17 das der polnische Arzt Ludwik Fleck 1934 entwarf. In seinem systemischen Ansatz zeigt dieser auf, dass wissenschaftliche Fakten nicht als per se gegebene, sondern als gesellschaftlich bedingte Tatsachen in Erscheinung treten, dass die Erkenntnis primär ein Produkt der sozialen Tätigkeit eines Denkkollektivs ist. Als ein solches bezeichnet Fleck eine „Gemeinschaft von Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen“. Es fungiert als „Träger geschichtlicher Entwicklung, eines bestimmten Wissensbestandes

15 LA I.3, S. 288 (Der Versuch als Vermittler). 16 Ebd., S.  288 – 289. 17 Zur ausführlicheren Parallellektüre der wissenschaftlichen Methoden von G ­ oethe und Fleck vgl. Azzouni, Safia, Denkkollektive: ­Goethe mit Fleck lesen, in: Schimma, Sabine / Vogl, Joseph (Hg.), Versuchsanordnungen 1800, Zürich / Berlin 2009, S. 189 – 198.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstils“.18 Im wechselseitigen Abgleich der Versuchsergebnisse wird allein dasjenige zur wissenschaftlichen Tatsache, was das Denkkollektiv entsprechend dem in ihm herrschenden Denkstil gemeinschaftlich als Wahrheit definiert. Hierbei handelt es sich nicht um eine reine Kumulation von Perspektiven, sondern um einen schöpferischen Vorgang, der die Wissenschaftlichkeit des Objekts erst durch den kollektiven Gedankenaustausch konstituiert.19 Auch ­Goethe äußert sich in diesem Sinne, wenn er das Forscherkollektiv als über die gemeinsame Reflexion eines Gegenstandes und der damit verbundenen Theorieentwicklung konstituiert sieht. Er erkennt, „daß das Interesse mehrerer auf einen Punkt gerichtet etwas Vorzügliches hervor zu bringen im Stande sei“.20 Den Denkstil, dessen Träger das Denkkollektiv ist, fasst Fleck als systeminternen Zugang zu bestimmten Theoriegerüsten und Techniken auf. Er lenkt die Blicke der Forscher in spezifischer Weise auf das Untersuchungsobjekt. Fleck betrachtet ihn als „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“.21 Das Lösungsspektrum der zu behandelnden Probleme ist deshalb von vornherein festgelegt und stellt sich mit dieser Eingrenzung der Willkürlichkeit des Denkens entgegen – eine Ausrichtung, die Fleck als Widerstandsaviso 22 bezeichnet. Indem sich das Medium des Denkkollektivs sowohl über den Denkstil als auch über das gemeinsame Interesse an einem Objekt definiert, ist es weder an ein räumliches Beisammensein und den persönlichen Kontakt seiner Mitglieder noch an eine zeitgleiche Existenz der Forscher gebunden.23 Mit jedem gerichteten Gestaltsehen – so zeigt Fleck weiter auf – geht der Verlust einher, etwas dem Denkstil Widersprechendes wahrnehmen oder theoretisch reflektieren zu können, so dass dieser in mehr oder minder starkem Maße in einen Denkzwang mündet, der wiederum die in jedem Denkkollektiv ohnehin vorhandene „organische Abgeschlossenheit“ verstärkt. Fleck macht zwei Stufen des Eingeweihtseins in diese Denkstrukturen aus: Dem spezialisierten esoterischen Kreis der Forscher stellt er einen exoterischen Kreis gegenüber, die beide in ein interdependentes Verhältnis treten. Hat der exoterische Kreis keinen direkten Zugang zum Denkstil, sondern erfährt nur über die Vermittlung des esoterischen Kreises von ihm, ist dieser wiederum von der Meinung des exoterischen, öffentlichen Kreises abhängig.24 Um seine Theorie auf eine sichere Basis zu stellen, richtet auch ­Goethe den didaktischen 18 Beide Zitate Fleck, Ludwik, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main 1980, S. 54 – 55. 19 Vgl. Azzouni, Denkkollektive, a. a. O., S. 194 – 195. 20 LA I.3, S. 287 (Der Versuch als Vermittler). 21 Fleck, Entstehung und Entwicklung, a. a. O., S. 130. 22 Vgl. ebd., S. 124 und S. 132 – 134. 23 Vgl. ebd., S. 140 – 141; vgl. auch Azzouni, Denkkollektive, a. a. O., S. 192. 24 Fleck, Entstehung und Entwicklung, a. a. O., S. 137 – 139, Zitat S. 137.

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

Teil der F ­ arbenlehre an eine breite Leserschaft – an Experten und interessierte Laien gleichermaßen. Er konzipiert diesen Text als einen durch andere weiterzuführenden Entwurf, worauf bereits der Titel Zur Farbenlehre verweist. Auf diese Weise legt er ihn von vornherein als vom Rezipienten zu nutzendes Korrektiv an, der G ­ oethes Gedanken weiterführen soll. Dies setzt voraus, dass der Leser G ­ oethes Farbenlehre annimmt und bestätigt. ­Goethe zeigt ebenfalls, dass der oben dargelegte Denkzwang leicht in Gefahr geraten kann, eine Eigengesetzlichkeit zu entwickeln, die alles nicht konforme Denken rigoros missachtet. Richtet sich sein Interesse klar auf die epistemologischen Vorteile des Denkkollektivs, beschreibt er z. B. auch das Hinzuziehen uneingeweihter Personen in seine Forschungen als Korrekturinstanz seiner subjektiven Perspektive,25 schreckt er aus polemischen Gründen nicht davor zurück, gegen diese Methode zu verstoßen. Davon legt der historische Teil der Farbenlehre ein beredtes Zeugnis ab. Er wird inhaltlich und auch in seiner Genese vom Pluralisierungsgedanken getragen. An seiner Entstehung arbeiteten mehrere Personen mit.26 Im Text stellt G ­ oethe geschichtlich verbürgte Versuchsergebnisse und Forschermeinungen zusammen. Doch die Wahl der vorgestellten Forscherbiographien und Theorien richtet G ­ oethe teleologisch auf die am Ende stehende Konfession des Verfassers aus, in der er seine eigene Theorie der Farbentstehung zwischen Hell und Dunkel darlegt. Ein offenes und prozessuales Weiterschreiben dieser Wissenssammlung durch andere – wie es der Titel Materialien zur Geschichte der Farbenlehre nahelegt – wird damit von Anfang an unterbunden. Die starke subjektive Prägung dieses Textes zeigt sich auch in der Auswahl der dargelegten Theorien. Farbforscher wie Leon Battista Alberti, der auch zentralperspektivische Studien betrieb, berücksichtigt G ­ oethe nicht. Stärker als im historischen versucht ­Goethe im polemischen Teil, der sich gegen Newtons Versuchsmethodik und Theorie des Lichts richtet, Forscher und Laien von der Richtigkeit seiner eigenen Auffassung zu überzeugen. Die Schärfe der Argumentation schlägt sich sowohl im Inhalt als auch Aufbau des Werkes nieder. Es weist das rhetorische Grundmuster einer Disputation auf, die den Widerwillen gegen ein 25 Den wissenschaftlichen Nutzen ihrer Tätigkeit charakterisiert ­Goethe folgendermaßen: „Sobald ihre Aufmerksamkeit nur rege war, bemerkten sie Phänomene, die ich teils nicht gekannt, teils übersehen hatte, und berichtigten dadurch gar oft eine zu voreilig gefaßte Idee, ja gaben mir Anlaß, schnellere Schritte zu tun und aus der Einschränkung heraus zu treten, in welcher uns eine mühsame Untersuchung oft gefangen hält.“ LA I.3, S. 287 (Der Versuch als Vermittler). Vgl. auch Azzouni, Denkkollektive, a. a. O., S. 194. 26 So schrieb der Schweizer Maler und Kunsttheoretiker Johann Heinrich Meyer das Kapitel Hypothetische Geschichte des Kolorits besonders griechischer Maler. Mit dem Altphilologen Friedrich August Wolf besprach G ­ oethe seine Übersetzung des Kapitels über Theophrast. Mit seinem Mitarbeiter Friedrich Wilhelm Riemer diskutierte G ­ oethe besonders das Kapitel über Betrachtungen über Farbenlehre und Farbenbehandlung der Alten. Riemer verfasste auch das Kapitel über die Farbenbenennungen der Griechen und Römer. Vgl. MA 10, S. 1028 (Kommentar von Peter Schmidt).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

systemfremdes Denken und Agieren noch deutlicher artikuliert als dessen Inhalt.27 Nach zahlreichen Kritiken des exoterischen Kreises der Naturwissenschaftler auf seine physikalische Farbentheorie und die damit verbundene Newton-Polemik stellt G ­ oethe gegen Ende seines Lebens selbst den didaktischen Teil in ein polemisches Licht: „Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, […] bilde ich mir gar nichts ein. […] Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute, und ich habe daher das Bewußtsein der Superiorität über viele.“ 28 Anders als seine physikalische, phänomenal ausgerichtete Farbentheorie, die sich nicht gegen das etablierte newtonische Paradigma der Lichtentstehung durchsetzen konnte, wirkten seine physiologischen Studien wegweisend für die Entwicklung der Sinnesphysiologie im frühen 19. Jahrhundert. Eng mit ihrer Herausbildung verbunden ist die Entstehung der physiologischen Optik, welche die Farbwahrnehmung nicht mehr auf die körperexternen Brechungseigenschaften des Lichts zurückführt, sondern einzig und allein auf die Funktionen des Auges selbst. Im Kontext dieser tiefgreifenden Umstrukturierung der Wahrnehmungstheorie zeigt sich, dass das Denkkollektiv nicht statisch einem Denkstil verhaftet bleibt, sondern dass neue Erkenntnisse bzw. empirische Entdeckungen zu dessen Ergänzung, Entwicklung oder – wie in obigem Fall – Umwandlung bzw. Neuausrichtung führen. Die Art solcher Umstrukturierungen erläutert Fleck folgendermaßen: Unterschiedliche neue Ideengänge verbinden sich mit alten zu einem neuen Knoten im Netzwerk des Denkstils – ein Vorgang, der wiederum zu einer Verschiebung der bereits bestehenden alten Knoten führt. Das auf diese Weise in ständiger Fluktuation befindliche Netzwerk des Denkstils existiert deshalb meist nicht unabhängig von früheren Denkstilen. Es enthält Anteile der bereits in jenen entfalteten Ideen, die nun neu interpretiert werden. Die Umwandlungen des Denkstils erfolgen harmonisch.29 Dezidierter als Fleck beschrieb Thomas Kuhn die innere Dynamik der Umstrukturierung von Wissenssystemen. In seinem programmatischen Werk The Structure of Scientific Revolutions, das entscheidend durch Flecks Studien inspiriert wurde,30 geht Kuhn ebenso wie dieser von der sozialen Konstituierung wissenschaftlicher Fakten aus, betrachtet aber anders als Fleck die Ersetzung eines alten durch ein neues Paradigma ausschließlich als ein revolutionäres Ereignis, nicht aber als kontinuierlichen Vorgang. Obwohl Kuhn anders als Fleck von der völligen Verdrängung eines Paradigmas durch ein anderes ausgeht und Paradigmenwechsel in einem Nachtrag zum o. g. Werk 27 Vgl. Schöne, ­Goethes Farbentheologie, a. a. O., S. 32 – 33. Vgl. auch FA I.23,1, S. 1080 (Kommentar von Manfred Wenzel). 28 ­Goethe zu Eckermann am 19. Februar 1829, in: Eckermann, Gespräche mit ­Goethe, a. a. O., S. 306 – 307. 29 Vgl. Fleck, Entstehung und Entwicklung, a. a. O., in der Reihenfolge der indirekten Zitate S. 122, 105, 130 – 131 sowie S. 135. 30 Vgl. Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, a. a. O., S. 8.

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

ausdrücklich auf Fachdisziplinen bezieht 31 – zwei Fakten, die auf die Farbforschung als solche bis heute nicht zutreffen –, seien Teile seiner einschlägigen Analysen hier dennoch ergänzend zu Flecks Theorie angeführt, da sie m. E. auch für ein Netzwerk von Techniken und Diskursen gelten, das sich um einen Forschungsgegenstand bildet, zu dessen Analyse sich Vertreter verschiedener Wissenschaften berufen fühlen. Nach Kuhn existiert vor dem Obsoletwerden eines herrschenden Lehrsatzes und der Durchsetzung eines neuen oft eine Periode fachlicher Unsicherheit. In dieser Phase werden Theorien modifiziert, um Konfliktpotentiale zu minimieren, oder ihre Versionen nehmen überhand – ein Zeichen, das Kuhn als typisches Krisensymptom betrachtet.32 Auch wenn Kuhn die völlige Ablösung eines alten durch ein neues Paradigma postuliert, begreift er dessen Entstehung nicht – ähnlich wie Fleck – als von bisherigen Theorien und wissenschaftlichen Praktiken unabhängigen Vorgang. Oft treten in einem neuen Paradigma alte Termini, Verfahren und Experimente in ein anderes Verhältnis zueinander, so dass frühere Fakten in uminterpretierter Form erscheinen.33 Diese in Kuhns wie Flecks Theorie gleichermaßen erfolgende Neubewertung bereits bekannter Tatsachen trifft auch und besonders – wie nachfolgend dargestellt wird – auf die Änderung der herrschenden Wahrnehmungstheorie zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu, in welcher sich der wissenschaftliche Topos für die Erklärung des Farbensehens von der physikalischen Optik in die sich entwickelnde physiologische Optik verschob. Die zu Paradigmenwechseln führenden wissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen sowie daraus resultierenden Entwicklungen neuer Theorien sind – wie Kuhn weiter ausführt – keine punktuell eintretenden Ereignisse, die sich einem bestimmten Forscher zuordnen lassen, sondern komplexe Vorgänge. Es sind „ausgedehnte Episoden mit einer regelmäßig wiederkehrenden Struktur“, an denen mehrere Personen beteiligt sind.34 Das war bereits G ­ oethe bewusst, wenn er konstatiert, „daß die schönsten Entdeckungen nicht sowohl durch die Menschen als durch die Zeit gemacht worden, wie denn eben sehr wichtige Dinge zu gleicher Zeit von zweien oder wohl gar mehr geübteren Denkern gemacht worden“.35 Indem ­Goethe seine Forschungen zur Farbenproduktion des Auges mit anderen austauscht und diskutiert, Wissenschaftlern, die seine Studien entscheidend angeregt haben, wird er zu einem der prominentesten Vorläufer und Kronzeugen der 31 Vgl. ebd., S. 155 – 170 sowie ders., Neue Überlegungen zum Begriff des Paradigmas, in: ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, hg. v. Lorenz Krüger, Frankfurt am Main 1997, S. 389 – 420, hier S. 392. Kuhn richtet seine Hypothese von der Inkommensurabilität zweier widersprechender Paradigmen, von denen sich letztendlich nur eines durchsetzt, gegen das Verständnis eines wissenschaftlichen Fortschritts, der als beständige Summierung von Erkenntnissen begriffen wird. 32 Vgl. ders., Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, a. a. O., S. 80 – 91. 33 Vgl. ebd., S. 160 und S. 21. 34 Vgl. ebd., S. 65 – 66, Zitat S. 65. 35 LA I.3, S. 288 (Der Versuch als Vermittler).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Herausbildung der physiologischen Optik, deren Konzepte der Farbwahrnehmung die bisherigen Erklärungsansätze der physikalischen Optik ablösen. Im Gedankenaustausch mit dem Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg und dem Mediziner Thomas Samuel Soemmerring erhielt ­Goethe entscheidende Impulse für seine physiologischen Studien der Farbentstehung. Er verglich seine Versuchsergebnisse mit den publizierten und ausgewerteten Beobachtungen Georges Louis Leclerc de Buffons und Robert Waring Darwins. Auf ­Goethes Erkenntnis des aktiv farberzeugenden Auges bezog sich wiederum der Arzt Karl Gustav Himly im wichtigsten Fachblatt der sich um 1800 etablierenden Ophthalmologie. 3.2.2 Das Auge im Schatten Lichtenbergs und Soemmerrings An ­Goethes Studien der farbigen Schatten und seiner gewandelten Interpretation dieser Phänomene manifestiert sich der Einfluss jener um 1800 stattfindenden Umstrukturierung der optischen Wahrnehmungstheorie am anschaulichsten. Die in dieser Umbruchsituation herrschende Unsicherheit über die „richtige“ Erklärungsart der Farbe sei an einem der führenden zeitgenössischen Physikkompendien, Gehlers Physikalischem Wörterbuch von 1789, exemplarisch dargestellt. Es beschreibt die Farben als „[…] Eigenschaften der verschiedenen Theile des Lichts, gewisse Empfindungen in uus [!] zu erregen, wenn sie durch die Brechung oder durch andere Ursachen von einander gesondert oder nach verschiedenen Verhältnissen vermischt, in unser Auge kommen. Ich gestehe gern, daß ich alle Mängel dieser Definition fühle; es ist aber unmöglich, eine bessere zu geben. Die Farbe, als Erscheinung betrachtet, ist blos Sache des Gesichts, die sich durch Worte nicht erklären läßt; will man sie aber als Wirkung einer physischen Ursache definiren, so muß man schlechterdings eine oder die andere Hypothese einmischen. Man kann alsdann nicht sagen, was Farben sind, sondern nur, wofür sie dieser oder jener Naturforscher halte.“ 36

Physikalisch werden hier die Farben als Bestandteile des äußeren Lichts betrachtet, die nur wahrgenommen werden, wenn sie aus der Umwelt ins Auge gelangen. Obwohl Gehler die untrennbare Verbindung von Farbe und Gesichtssinn erkennt, ist er sich wie Newton der Unmöglichkeit einer identischen Übersetzung der Farbphänomene in eine physikalische Begründung bewusst. Unter dem Terminus der zufälligen Farben, den Georges Louis Leclerc de Buffon 1743 für die vom Auge erzeugten Phänomene einführte, beschreibt Gehler diese in einem gesonderten Eintrag als „Erscheinungen von Farben, welche nicht dem Lichte eigenthümlich sind, sondern von einer besondern Beschaffenheit oder einem besondern Zustande des Auges herkommen. Man setzt 36 Gehler, Physikalisches Wörterbuch, Zweyter Theil, a. a. O., S. 131.

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

sie den natürlichen vom Lichte selbst herrührenden entgegen […]“.37 Stellt Gehler die physiologischen Farben hier in Gegensatz zu den physikalischen, begreift er jene lediglich als Produkt eines im Ausnahmezustand befindlichen Auges. Diese Argumentation steht exemplarisch für eine Hierarchie, die den zeitgenössischen physikalischen Diskurs über die Farbe prägte: War das Phänomen der Nachbilder bereits seit der Antike bekannt, wurde es durch seine physiologische Bedingtheit zu einem Forschungsgegenstand der um 1800 noch jungen Wissenschaften vom Menschen. Wurden bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts alle Farbwahrnehmungen, die nicht mit den geometrisch-physikalischen Erklärungsansätzen des Lichts vereinbar waren, als abweichendes Sehverhalten und Gesichtsbetrüge ins Reich der Einbildungskraft verbannt, häuften sich nun die Diskurse über diese Besonderheiten. Sie passten allerdings nicht ins herrschende Paradigma der newtonischen Optik, so dass mit unterschiedlichen Strategien auf diese Tatsache reagiert wurde: Einige Forscher behandelten die vom Auge erzeugten Farben noch immer als Täuschungen des Gesichtssinns, andere versuchten hingegen, jene an die geometrisch-optische Theorie anzuknüpfen und dieser unterzuordnen. Unter der Prämisse des Beobachterregimes, das den Sinnen lediglich ein passives, sich in die Versuchskonstellation einfügendes Reagieren zuschrieb, blieb in diesem Ansatz eine klare Hierarchie zwischen experimentellen Erfordernissen und subjektiven Vermögen erhalten. Dennoch gelang eine völlige Integration der Erklärung nicht vollständig, da bei den ausschließlich subjektiv erzeugten Farben kein äußerer Gegenstand existiert, der das refraktierte Licht ins Auge lenkt. Die Forscher versuchten, an die bestehende optische Theorie anzuschließen, indem sie die Ursache der physiologischen Phänomene den Lichtbestandteilen der entgegengesetzten äußeren Farbe zuschrieben. Da der Umkehrvorgang der Farbe im Auge selbst angenommen wurde, blieb in dieser Erklärung die Trennung von Umgebung und menschlichem Körper erhalten. Auf diese Weise wurde die Lichttheorie für die Außenwelt gerettet.38 Auch Gehler handelt unter Gesichtsbetrügen und optischen Täuschungen nicht den aktiven physiologischen Entstehungsprozess der Farben ab. Indem er diesen Gesichtsbetrug ausschließlich auf das rationale Urteil über die Wahrnehmung, nicht aber auf diese selbst zurückführt, veranschlagt er die Tätigkeit des Auges indirekt als passive, lediglich auf einen Außenreiz reagierende Bewegung.39 Bezeichnenderweise wird auch in G ­ oethes Studien der farbigen Schatten der Wandel von der objektiv-physikalischen zur subjektiv-physiologischen Erklärungsart der Farbentstehung durch Diskurse mit Vertretern unterschiedlicher Disziplinen geprägt: 37 Ebd., S. 155. 38 Vgl. Renneberg, Monika, Farbige Schatten – oder wie die subjektiven Farben in die Welt der Physiker kamen und was sie dort anrichteten, in: Dürbeck, Gabriele u. a. (Hg.), Wahrnehmung der Natur, Natur der Wahrnehmung: Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden 2001, S. 237 – 251, hier S. 239 und S. 241. 39 Vgl. Gehler, Physikalisches Wörterbuch, Zweyter Theil, a. a. O., S. 467 – 476.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

dem Experimentalphysiker Lichtenberg und dem Mediziner Soemmerring. Den vermutlich 1792 verfassten Entwurf des Aufsatzes Von den farbigen Schatten hatte ­Goethe ursprünglich als drittes Stück der physikalisch inspirierten Beiträge zur Optik geplant. Die im Zuge dieser Studien entdeckte Eigenaktivität des Auges fesselte ihn jedoch in solchem Maße, dass er die Entwicklung einer Farbentheorie zu seinem umfangreichsten naturwissenschaftlichen Projekt erweiterte und im Hauptwerk Zur Farbenlehre niederlegte. Wie seinen retrospektiven Beschreibungen zu entnehmen ist, hatte G ­ oethe schon lange vor seiner Arbeit an der Farbenlehre die farbigen Schatten vereinzelt beobachtet. Bereits in seiner Kindheit wurde er in der Natur auf diese Phänomene aufmerksam. Später beschrieb er sie als eindrucksvolle ästhetische Erscheinungen, die seine Aufmerksamkeit anzogen: Wie eine „Feenwelt“ empfand er sie bei einem Brockenabstieg im Dezember 1777, und auch während seiner ersten Italienreise bemerkte er „beim Scirocco-Himmel, bei den purpurnen Sonnenuntergängen […] die schönsten meergrünen Schatten […]“.40 Die Phänomene der farbigen Schatten kannten bereits Leonardo da Vinci und Otto von Guericke.41 Schatten, die auf eine weiße Fläche fallen, erscheinen nicht grau bzw. farblos, sondern in den Zeiten von Sonnenauf- und -untergang farbig, meist blau oder grün. Im o. g. Aufsatz sucht G ­ oethe noch nach einer physikalischen Erklärungsart für ihre Entstehung. Er beschreibt ihre experimentelle Herstellung in einer Reihe von 18 Versuchen, deren Grundkonstellation zwei Objekte, zwei Lichtquellen und eine weiße Fläche sind. Als Lichtquellen werden das künstliche Kerzen- und das natürliche Sonnen- bzw. Mondlicht kombiniert, das durch einen kleinen Spalt in eine dunkle Kammer fällt. Die Versuchsanordnungen werden so aufgebaut, dass jeder der Körper a) einen Schatten auf die weiße Fläche wirft, von dem b) wiederum ein Teil beleuchtet wird. G ­ oethe stellt fest, dass der Schatten, den das stärkere Licht wirft und der vom schwächeren beschienen wird, blau, der vom schwächeren Licht geworfene und vom stärkeren Licht erleuchtete gelb, gelbrot oder gelbbraun erscheint (vgl. Abb. 5, Figur 5). ­Goethe variiert diesen Versuchsaufbau, indem er zwei Kerzen benutzt, vor deren eine er ein farbiges Glas setzt. Der vom farbigen Licht erzeugte und vom hellen Kerzenlicht beschienene Schatten erscheint nach G ­ oethes Beobachtungen in der entgegengesetzten Farbe des ersteren, der vom hellen Kerzenlicht generierte und vom farbigen Licht beschienene Schatten in der Farbe dieses Lichts. Gleiche Beobachtungsergebnisse erzielt G ­ oethe, indem er als Lichtquellen das durch einen kleinen Spalt fallende Sonnenlicht und ein farbiges Papier benutzt, welches das Sonnenlicht reflektiert.

40 In der Reihenfolge der Zitate LA I.4, § 75, S. 47 (Farbenlehre, Didaktischer Teil) sowie LA I.6, S. 417 (Farbenlehre, Historischer Teil, Konfession des Verfassers). 41 Vgl. ­Goethes Erwähnung dieser und anderer Wissenschaftler, die sich mit den farbigen Schatten beschäftigten, in: LA I.3, S. 77 – 79 (Von den farbigen Schatten).

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

Aus all diesen Beobachtungen zieht ­Goethe folgende Schlüsse: 1) Die Farbe der Schatten ist unabhängig von der Farbe des Lichts. 2) Die Schattenfarbe entsteht aus Energiedifferenzen. 3) Bei Umkehrung der Versuchsbedingungen kann sie jederzeit in ihre entgegengesetzte Farbe verwandelt werden: Blau in Orange, Gelb in Violett und Rot in Grün. Indem G ­ oethe in diesem Aufsatz von „subordiniertem“ und „herrschendem“ Licht spricht,42 beschreibt er die Farbeffekte als durch hierarchische Verhältnisse entstanden. Verweist der Schatten immer auf etwas anderes, Wichtigeres als sich selbst, das ihn produzierende Objekt, verschieben sich in G ­ oethes Experimenten die Prioritäten: Die zweidimensional verkürzte dunkle Projektion des Objekts wird zum eigentlichen Medium der Erkenntnisgenerierung. Die in ihm erfolgende Farberzeugung führt in ­Goethes Entwurf ein Eigenleben unabhängig von der Art der Lichtquelle. Die Farben entstehen durch die Kreuzung verschiedener Energien, ohne dass die schattenproduzierenden Gegenstände, das Objekt und die weiße Fläche, irgendeinen Einfluss haben. „Leben und Reiz“ verbreiten sich auch dort, „wo wir sonst nur Negation, Abwesenheit des erfreulichen Lichts zu sehen glauben“.43 Auch wenn sich mit der Thematisierung der Gegenfarben bereits unbewusst physiologische Begründungen in den physikalisch ausgerichteten Diskurs schieben, steht in diesem Aufsatz der Begriff des Lebens lediglich metaphorisch für die Außeneinwirkung der Farbe auf das menschliche Auge. ­Goethe zählt hier die farbigen Schatten noch zu den apparenten, nicht dauerhaften physischen Farben und erklärt ihre Erscheinungsbedingungen objektiv aus der Kreuzung der beiden Lichter. Den Aufsatz Von den farbigen Schatten sendete ­Goethe 1793 mit der Bitte um Begutachtung an Georg Christoph Lichtenberg, der die ersten beiden Stücke der Beiträge zur Optik positiv aufgenommen hatte.44 Lichtenberg hatte sich bereits vor der Korrespondenz mit ­Goethe intensiv mit der Tätigkeit des Auges und der Wirkung von Farben beschäftigt. Als Inhaber eines Lehrstuhls für Experimentalphysik an der Göttinger Universität wurde seine ursprünglich physikalische Erklärungsart der Farbentstehung zunehmend von der Erkenntnis der Eigenaktivität des Auges beeinflusst. Beschreibt er beispielsweise in einem frühen Sudelbuch-Eintrag die Sinneswahrnehmungen noch als mechanistisches Vibrationsmodell nach physikalischem Modus,45 verweist er in der von 42 Ebd., S.  65 – 81. 43 Ebd., S. 78. 44 Am 11. Mai 1792 hatte G ­ oethe die ersten beiden Stücke der Beiträge zur Optik und auf Schirme gezogene Farbtafeln zum Nachvollzug der in diesen Texten beschriebenen Prismenversuche an Lichtenberg geschickt. Vgl. ­Goethe an Georg Christoph Lichtenberg am 11. Mai 1792, in: Lichtenberg, Georg Christoph, Briefwechsel, hg. v. Ulrich Joost /Albrecht Schöne, Bd. III: 1785 – 1792, München 1990, S. 1110 – 1111 sowie ­Goethe an Georg Christoph Lichtenberg am 11. August 1793, in: Lichtenberg, Georg Christoph, Briefwechsel, Band IV, a. a. O., S.  144 – 145. 45 In diesem Erklärungsansatz besteht nach Lichtenberg „unser Hören und vielleicht auch unser Sehen“ schon in einem „Zählen von Schwingungen“. Lichtenberg, Georg Christoph, Schriften und Briefe,

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

ihm betreuten sechsten Auflage des physikalischen Kompendiums Anfangsgründe der Naturlehre von Erxleben, das den Menschen noch als beherrschbares Versuchselement nach dem Vorschriftenregime darstellt, auf die Fehleranfälligkeit des Auges und Buffons Nachbildversuche.46 Lichtenberg analysierte den Sehvorgang nicht nur in experimentalphysikalischem Kontext, sondern auch explizit als solchen, wovon zahlreiche SudelbuchEinträge 47 und ein 1791 herausgegebenes Handbuch zur Hygiene des Gesichtssinns Über einige wichtige Pflichten gegen die Augen zeugen, das mehrere Auflagen erlebte.48 Die die experimentalphysikalischen Ansätze zunehmend überlagernde Erkenntnis des aktiven Auges führte bei Lichtenberg zu Erklärungsunsicherheiten, die sich auch in seinem ausführlichen Antwortschreiben vom 7. Oktober 1793 an ­Goethe zeigen. Bereits vor der Korrespondenz mit ihm hatte sich Lichtenberg mit den farbigen Schatten beschäftigt, konnte ihre Entstehung aber nicht vollständig begründen. Er verwies G ­ oethe nicht nur auf das Werk Observations sur les ombres colorées des Franzosen H. F. T., der die Entstehung dieser Phänomene in 92 Versuchen auf die gleiche Weise wie G ­ oethe erklärte,49 sondern führte drei Hinweise an, die G ­ oethes weitere Studien entscheidend beeinflussen sollten: seine Auffassung zur Existenz des Weißen, das Verhältnis von Empfinden und Schließen bei der Farbwahrnehmung und die Kontextabhängigkeit der Farbphänomene. Lichtenberg meldete Zweifel an ­Goethes Verständnis des Weißen an, das grundlegend für die Schattenanalyse ist. Dieser Zustand sei niemals in reiner Form empirisch wahrnehmbar, sondern er sei „[…] mehr die Disposition zum weiß werden und weiß seyn können, in allen ihren Gradationen […]“.50 In newtonischer Manier, in der

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hg. v. Wolfgang Promies, Zwei Bde. und ein Kommentarbd., Erster Band: Sudelbücher I, München 1980, D 314, S. 280. Vgl. Erxleben, Johann Christian Polycarp, Anfangsgründe der Naturlehre, Sechste Auflage, Mit Verbesserungen und vielen Zusätzen von G. Ch. Lichtenberg, Göttingen 1794, S. 325 – 392. Lichtenberg betreute die letzten vier Auflagen dieses Kompendiums. Vgl. hierzu u. a. Lichtenberg, Sudelbücher I, a. a. O., D 170, S. 255 – 256 und ders., Schriften und Briefe, hg. v. Wolfgang Promies, Zwei Bde. und ein Kommentarbd., Zweiter Bd.: Sudelbücher II, Materialhefte und Tagebücher, München 1991, J 1649, S. 302, J 1652, S. 303, J 1660, S. 304 und J 1902, S. 342. In diesem Werk empfiehlt Lichtenberg z. B. eine ausgewogene Beleuchtung, eine angemessene Brillenstärke für Kurz- und Weitsichtige sowie das Weglassen der um 1800 auch von G ­ oethe benutzten grünen Brillen zur Augenentspannung, da diese die Welt unnatürlich erscheinen lassen. Vgl. Lichtenberg, Georg Christoph, Über einige wichtige Pflichten gegen die Augen, in: ders., Schriften und Briefe, hg. v. Franz H. Mautner, 2. Bd.: Aufsätze. Satirische Schriften, Frankfurt am Main 1983, S.  246 – 260. Vgl. Georg Christoph Lichtenberg an ­Goethe am 7. Oktober 1793, in: Lichtenberg, Briefwechsel, Bd. IV, a. a. O., S. 161. Die Abkürzung H. F. T. steht für Jean Henri Hassenfratz, der Professor für Physik an der École Polytechnique in Paris war. Dessen 1782 erschienenes Werk sendete Lichtenberg ­Goethe später. Vgl. Georg Christoph Lichtenberg an ­Goethe am 18. April 1794, in: ebd., S. 251 – 253. Lichtenberg an ­Goethe am 7. Oktober 1793, in: ebd., S. 162.

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

das weiße Licht eine Disposition zur Farbe hat, definiert Lichtenberg das Weiße als „[…] die Disposition der Oberfläche eines Körpers alle Arten gefärbten Lichtes gleich starck nach allen Richtungen zurückzuwerfen und ein solcher Körper erscheint auch würcklich weiß, wenn jenes gefärbte Lichte, der Menge sowohl als der Beschaffenheit und Intension nach, auf ihn fällt, in allen andern Fällen nicht“.51 Begründet Lichtenberg hier die Ursache für die Nichtwahrnehmbarkeit des reinen Weiß’ noch objektiv, erkennt er an anderer Stelle, dass die Farberscheinungen nicht vollständig mess- und berechenbar sind, dass die Experimentalsituation durch farbige Umgebungseinflüsse gestört wird, auf die das Auge unter Umständen mit selbst hervorgebrachten Farben reagiert.52 Die Hauptursache sieht er jedoch in der Disposition des Betrachters, Urteil und Empfindung nicht separieren zu können.53 Im Gegensatz zu Newtons Vorschriftenregime hält er eine Subjekt-Objekt-Trennung im Experiment von vornherein für ausgeschlossen, da er – idealistisch geprägt – die gesamte Welt als von den menschlichen Empfindungen abhängig definiert: „Die Dinge außer uns sind nichts anderes als wir sie sehen […], denn wir können bloß Relationen bemerken, weil die beobachtende Substanz ja beständig in das Mittel tritt.“ 54 In seinem Antwortschreiben an G ­ oethe erörtert Lichtenberg ebenfalls die Phänomene der Simultanfarben, die das Auge zeitgleich auf einen äußeren Reiz erzeugt. In diesem Zuge verweist er auf die starke Kontextabhängigkeit der Farbentstehung, die er bereits in seiner Vorrede zu Lorenz Crells Übersetzung von Edward Hussey ­Delavals Versuche und Bemerkungen über die Ursachen der dauerhaften Farben undurchsichtiger Körper dargelegt hatte: „Ich bemerke hier im Vorbeigehen, daß vielleicht die Lehre von den Farben eben deswegen bisher so viele Schwierigkeiten hatte, weil alles auf Einem

51 Ebd., S. 163. 52 „So viel ist gewiß, je weiter ich das weiße Blatt vom Licht weghalte, desto mehr herrschen die Reflexe von den benachbarten Gegenständen über die Farbe des Lichts.“ Lichtenberg, Sudelbücher II, a. a. O., K 368, S. 469. 53 Vgl. Georg Christoph Lichtenberg an G ­ oethe am 7. Oktober 1793, in: Lichtenberg, Briefwechsel, Bd. IV, a. a. O., S. 162. Auch in K 366 heißt es: „Denn wir korrigieren unsere Empfindungen immer durch Schlüsse. […] Es wird bloß geschlossen, und so mit allen Farben.“ Vgl. Lichtenberg, Sudelbücher II, a. a. O., K 366, S. 469. Während Lichtenberg in diesem Brief und auch in anderen zeitgleichen Notizen von einer untrennbaren Mischung beider Erkenntniswege ausgeht, hielt er in früheren Farbstudien eine Separierung für möglich. Vgl. z. B. den frühen Sudelbucheintrag D 769, in: Lichtenberg, Sudelbücher I, a. a. O., S. 127. 54 Ebd., J 681, S. 751. Die Außenwelt ist bei Lichtenberg – so Jutta Müller-Tamm – der Effekt eines psychologischen Nach-Außen-Setzens einer Projektion, in der er einmal mehr die Unvereinbarkeit physikalischer und physiologischer Erklärungen herausstellt. Vgl. hierzu und zu Lichtenbergs subjektivistischem Konzept allgemein Müller-Tamm, Jutta, Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg im Breisgau 2005, S. 110 – 111.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Wege, z. B. der Brechung, erklärt werden sollte.“ 55 In Ermangelung einer fundierten Erklärung der farbigen Schatten spekuliert er am Briefende über die physiologische Farbentstehung und verweist auf Buffons couleurs accidentelles.56 ­Goethes Antwort spiegelt den Zwiespalt wider, den Lichtenbergs „unscharfe“ Farbauffassung in ihm ausgelöst hatte: Rief dessen physikalisch-optisch geprägter Begriff des Weißen ­Goethes Widerspruch hervor, inspirierte ihn Lichtenbergs Spekulation über das aktive, farberzeugende Auge zu weiteren Experimenten. In diesen Versuchen variierte ­Goethe die Erzeugungsbedingungen der farbigen Schatten und nahm für diese physiologische Entstehungsprinzipien an wie Buffon. Auf Anregung Lichtenbergs führte G ­ oethe Versuche mit Nachbildern durch, die er beim Blick durch gefärbtes Glas und auf farbiges Papier erzeugte. Mit der Vermutung, dass Nachbilder und farbige Schatten gleichermaßen physiologisch bedingt seien, ging ­Goethes Annahme über diejenige Lichtenbergs hinaus. Dieser hatte zwar in Erxlebens Kompendium die Mitwirkung des Auges bei Buffons Nachbildversuchen erwähnt und bei den farbigen Schatten vermutet, die Aktivität des Sehorgans aber nicht explizit als gleiches Entstehungsprinzip beider formuliert.57 Darüber hinaus stimmte G ­ oethe der von Lichtenberg postulierten Kontextabhängigkeit der Farbentstehung zu, nachdem er dessen Standpunkt in der Vorrede zu Crells Übersetzung von Delavals Versuchen und Bemerkungen reflektiert hatte. In seiner Antwort an Lichtenberg betrachtete ­Goethe die farbigen Schatten allerdings noch nicht endgültig als physiologisch produzierte, sondern spekulierte lediglich über diese Entstehungsmöglichkeiten.58 Dienten Lichtenbergs Hinweise auf die Subjektbeteiligung bei der Farbentstehung als entscheidender Wegweiser zu G ­ oethes intensiver Beschäftigung mit den physiologischen Farben, brach die wissenschaftliche Korrespondenz durch Meinungsverschiedenheiten über die newtonische Theorie des Lichts ab.59 Äußerte ­Goethe später seinen Unmut darüber, dass Lichtenberg seine Nachbild- und Schattenversuche in

55 Lichtenberg, Georg Christoph, Vorrede, in: Delaval, Edward Hussey, Versuche und Bemerkungen über die Ursache der dauerhaften Farben undurchsichtiger Körper. Aus dem Englischen übersetzt nebst einer Vorrede von Dr. Lorenz Crell, Berlin und Stettin 1788, S. XIX – XXVII, hier S. XXIII. 56 Vgl. Georg Christoph Lichtenberg an ­Goethe am 7. Oktober 1793, in: Lichtenberg, Briefwechsel, Bd. IV, a. a. O., S.  164 – 165. 57 Vgl. den Kommentar Lichtenbergs in: Erxleben, Anfangsgründe der Naturlehre, a. a. O., S. 327 – 328. 58 Vgl. ­Goethe an Georg Christoph Lichtenberg am 23. Oktober 1793, in: Lichtenberg, Briefwechsel, Bd. IV, a. a. O., S.  169 – 170. 59 In einem Brief vom 29. Dezember 1793 bittet ­Goethe um Lichtenbergs Meinung zum Aufsatz Versuch die Elemente der Farbenlehre zu entdecken, in dem er sich mit den Körperfarben (Farben an Körperoberflächen), Pigmenten und Flüssigkeiten beschäftigt. Vgl. ebd., S. 215 – 216. Der in einer scharfen Newton-Polemik endende Aufsatz, der u. a. die Heterogenität des aus farbigen Lichtern zusammengesetzten weißen Lichts kritisiert und G ­ oethes eigene Meinung dagegensetzt, die Mischung aller Farben sei Grau, lässt den Experimentalphysiker Lichtenberg nach mehreren brieflichen Ankündigungen die Antwort für immer schuldig bleiben.

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

der neuesten Erxleben-Ausgabe unterschlug, wies dieser wahrscheinlich in seinen Vorlesungen auf G ­ oethes Experimente hin. Da eine endgültige wissenschaftliche Erklärung für die farbigen Schatten jedoch noch immer ausstand, griff Lichtenberg zu ästhetischen Beschreibungen.60 War Lichtenbergs Antwortbrief vermutlich der erste Hinweis auf die vom Auge selbst erzeugten Farben,61 den ­Goethe erhielt, war er sich bereits zu Beginn seiner Farbstudien der hohen Bedeutung des physiologischen Sehvorgangs bewusst. Zwei Jahre zuvor hatte er dem Anatomen und Mediziner Samuel Thomas Soemmerring das erste Stück der Beiträge zur Optik übersendet und ihn um Unterstützung seiner künftigen Farbstudien gebeten, da die Versuche nicht „ohne genaue Kenntniß des menschlichen Auges und ohne scharfe Prüfung der Sehkraft“ weitergeführt werden konnten.62 Nach zwischenzeitlichen Meinungsdivergenzen, die G ­ oethes Studien zum Zwischenkieferknochen ausgelöst hatten, begann Ende 1793 auf ­Goethes Initiative ein aufschlussreicher Briefwechsel über die Bedeutung des Auges für die Farbentstehung. Vermutlich wurde dieser durch den Gedankenaustausch mit Lichtenberg angeregt. An der Korrespondenz ist augenscheinlich, dass ­Goethe trotz großem Interesse keine konkrete Stellung zu anatomisch-physiologischen Fragen bezog, sondern diese Leerstelle mehrfach durch ästhetische Betrachtungen zu kompensieren versuchte. Dieses Vorgehen expliziert sich besonders an ­Goethes Reaktion auf Soemmerrings Studien zum gelben Fleck im Auge. Soemmerring hatte im Januar 1791 an einer Wasserleiche den gelben Fleck (Macula lutea retinae) entdeckt, der die Stelle des schärfsten Sehvermögens auf der Netzhaut markiert, ihn aber irrtümlicherweise für den blinden Fleck gehalten.63 Trotz Kenntnis widersprechender Versuchsergebnisse und Theorien 64 und nach der Untersuchung von 60 Über die Nichtbeachtung seiner Theorie im Erxleben vgl. ­Goethe an Friedrich Schiller am 21. November 1795, in: Briefwechsel Schiller ­Goethe, a. a. O., S. 157. Zu Lichtenbergs Vorlesungen vgl. Gamauf, G., Erinnerungen aus Lichtenbergs Vorlesungen über Erxlebens Anfangsgründe der Naturlehre 2, o. A. 1811, S. 470: „Auch Göthe, der berühmte Dichter zu Weimar, hat darüber [die farbigen Schatten – S. Sch.] herrliche Versuche angestellt.“ 61 Vgl. Lang, Heinwig, ­Goethe, Lichtenberg und die Farbenlehre, in: Photorin: Mitteilungen der Lichtenberg-Gesellschaft 3 (1983), S. 12 – 31, hier S. 24. 62 ­Goethe an Samuel Thomas Soemmerring am 12. Oktober 1791, in: G ­ oethe und Soemmerring. Briefwechsel 1784 – 1828, bearbeitet u. hg. v. Manfred Wenzel, Stuttgart / New York 1988, S. 60. 63 Soemmerring hatte übersehen, dass der italienische Art Francesco Buzzi bereits 1782 die gleiche Entdeckung gemacht hatte. Aufgrund dieses Prioritätenstreits publizierte Soemmerring seine Schrift Über das von einem gelben Saum umgebene Zentralloch der menschlichen Netzhaut erst 1799. Das im Original lateinisch herausgegebene Werk De foramine centrali limo luteo cincto retinae humanae erschien in den Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis, Bd.  13, S.  3 – 13. Vgl. den Kommentar von Manfred Wenzel zum Brief Soemmerrings an ­Goethe vom 19. Januar 1794, in: ­Goethe und Soemmerring. Briefwechsel, a. a. O., S. 74. 64 Der Mediziner Edme Mariotte wies in einschlägigen Experimenten nach, dass sich der blinde Fleck an der Stelle befindet, an welcher der Sehnerv die Netzhaut trifft, d. h., dieser Ort liegt nicht in der

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

mindestens 20 Leichenaugen „verortete“ er den gelben Fleck im Zentrum der Retina und nahm ein in ihm liegendes, völlig rundes Loch an – das sogenannte Zentralloch. Diese Ansicht erklärte er lediglich spekulativ. In seiner hypothetischen Begründung der Funktion von Zentralloch und gelbem Fleck greift Soemmerring auf zwei physika­ lische Erklärungsansätze zurück, die die fehlende Netzhaut an dieser Stelle begründen sollen: 1) Durch das ungeordnete Zusammentreffen der Lichtstrahlen entstünde an diesem Ort kein Bild. 2) Durch ihr heftiges Aufeinandertreffen würde bei Vorhandensein des Sehnervenmarks ein Schmerz entstehen.65 Die Funktion des gelben Flecks und das Vorhandensein des Zentralloches wurden von anderen Medizinern bald in Zweifel gezogen.66 Soemmerring sendete G ­ oethe Anfang 1794 neben dem Exzerpt des Aufsatzes Über das von einem gelben Saum umgebene Zentralloch der menschlichen Netzhaut zu Veranschaulichungszwecken mehrere anatomische Objekte: das Präparat eines gelben Flecks, ein Stück Augapfel, an dessen Sclerotica (Lederhaut) die vermutliche Stelle des gelben Flecks markiert wurde, sowie ein Stück Markhaut eines Dreijährigen – ebenfalls mit dem gelben Fleck.67 Soemmerring wartete vergeblich auf ­Goethes Antwort. Nachdem dieser sich mehrfach für ihren Aufschub entschuldigte, hegte er lediglich in einem Briefentwurf Zweifel an Soemmerrings Ansicht. In seinen Darlegungen, die auf fundierte Anatomiekenntnisse schließen lassen, betrachtet ­Goethe das Phänomen des gelben Flecks lediglich ästhetisch und wendet erste farbpsychologische Überlegungen an, die das Gelb mit einem aktiven Prinzip in Verbindung bringen:

Mitte der Retina. Das wahrgenommene Bild des Gegenstandes verschwindet, wenn es direkt auf die Eintrittsstelle des Sehnerven trifft. Vgl. Hirschberg, Julius, Geschichte der Augenheilkunde, VII Bde., Bd. II, Hildesheim / New York 1977 (Erstausgabe: Hirschberg, Julius, Handbuch der gesamten Augenheilkunde, Bd. 14.I, Leipzig 1911), S. 459. 65 Vgl. Soemmerring, Samuel Thomas, Über das von einem gelben Saum umgebene Zentralloch der menschlichen Netzhaut, in: ders., Schriften zu den Sinnesorganen, Bd. 6: Auge, bearbeitet u. hg. v. Jost Benedum, Stuttgart u. a. 1994, S. 175 – 197, hier S. 190 – 191. 66 So bestritten die Mediziner Karl Asmund Rudolphi und Friedrich August von Ammon das Vorhandensein des Foramen, bevor 1856 Heinrich Müller nachweisen konnte, dass sich in der Mitte des gelben Flecks nur eine Vertiefung, aber kein Loch befindet. Vermutlich nahm Soemmerring das Zentralloch an der Stelle der heute bekannten fovea centralis, der Netzhautgrube, an. Die an dieser Stelle sehr dünne Netzhaut erschien vermutlich durch Soemmerrings Präparationstechniken als ein Loch. Obwohl er in den 1801 erschienenen Abbildungen des menschlichen Auges davor warnt, von postmortalen Phänomenen nicht auf intravitale Zustände zu schließen, vollzieht er genau diesen Fehlschluss bei der Analyse des gelben Flecks und des foramen centrale: Die gefärbte Netzhautstelle ist eine postmortale Erscheinung, die am lebenden Auge nicht existiert – ebensowenig wie die auf der Vertiefung befindliche Falte, die erst mit dem Eintritt des Todes entsteht. Vgl. den Kommentar von Manfred Wenzel zum Brief Sommerrings an ­Goethe vom 1. September 1795, in: ­Goethe und Soemmerring. Briefwechsel, a. a. O., S. 97. 67 Vgl. Samuel Thomas Soemmerring an ­Goethe am 19. Januar 1794, in: ebd., S. 69.

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

„Ueber den gelben Punkt im Auge kann ich gegenwärtig noch weiter nichts denken, als daß ich für sehr merkwürdig halte, daß uns durch denselben eine Mitte des Augbodens, wenn ich mich so ausdrücken darf, gezeigt wird, da die schief eingehende Nerven sonst immer einige Hinderniß war, uns die Repräsentation der Bilder im Auge auf eine [Textlücke ergänzt: einfache Weise] zu denken. Was die gelbe Farbe desselben betrifft, darüber wag’ ich auch nichts zu sagen, doch scheint die Farbe, wo sie auch angetroffen wird, immer auf etwas wirkendes zu deuten.“ 68

Nachdem Soemmerring ­Goethe im Sommer 1795 das fertige Manuskript der o. g. Schrift geschickt hatte, versprach dieser, dass gelber Fleck und Zentralloch in der Zusammenstellung der physiologischen Farberscheinungen „eine grose Rolle spielen“ werden,69 ein Versprechen, das er allerdings nicht hielt. Bereits ein Jahr zuvor, im Sommer 1794, hatte G ­ oethe – endgültig über die physikalische Erklärung der farbigen Schatten verunsichert – eine Umarbeitung seines Aufsatzes geplant und begonnen, ausschließlich in der Physiologie nach den Entstehungsbedingungen der zufälligen Farben zu suchen. Nach eigener Aussage war G ­ oethe in jener Zeit eine eindeutige Erklärung nicht möglich, da er die untrennbare Verbindung von objektiven und subjektiven Elementen im Experiment erkannt hatte.70 Um mögliche Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, griff ­Goethe am 5. Juli 1794 auf die von ihm anderweitig kritisierte Methode des Messens zurück. Akribisch dokumentierte er vier Beobachtungen über Dauer und Verlauf von Blendungsbildern, die beim Blick auf eine begrenzte, sonnenbestrahlte Fläche in einem dunklen Raum entstanden. Obwohl die Messergebnisse übereinstimmten, leitete Goethe unter Verweis auf die Individualität des menschlichen Sehvermögens keine zeitlichen Gesetzmäßigkeiten ab, hielt aber „demungeachtet durchaus ein gewisses Zahlenverhältnis“ der Blendungsbilder für möglich.71 Obwohl eine eindeutige Erklärung noch immer ausstand, markiert ein Brief an Soemmerring im Mai des Folgejahres das endgültige Aufgeben des physikalischen Erklärungsansatzes. G ­ oethe sendete ihm den nunmehr veralteten Aufsatz Von den farbigen Schatten. Er empfahl ihm, nur die Versuche nachzustellen, die Schlussfolgerungen aber außer Acht zu lassen.72

68 ­Goethe an Samuel Thomas Soemmerring, undatiert [Entwurf ], in: ebd., S. 87 – 88. G ­ oethe entwarf dieses Schreiben vermutlich nach dem 12. August 1794, nachdem ihn Soemmerring im Sommer desselben Jahres vergeblich um seine Meinung zum gelben Fleck gebeten hatte. Vgl. Samuel ­Thomas Soemmerring an ­Goethe am 26. Juli und 5. August 1794, in: ebd., S. 82 – 87. Zur Datierung des Briefentwurfs vgl. den Kommentar von Manfred Wenzel in: ebd., S. 89. 69 Vgl. ­Goethe an Samuel Thomas Soemmerring am 17. August 1795, in: ebd., S. 94 – 95, Zitat S. 95. 70 Vgl. ­Goethe an Samuel Thomas Soemmerring, undatiert [Entwurf ], in: ebd., S. 88. 71 Vgl. LA I.4, § 41, S. 35, Zitat ebd. (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 72 Vgl. ­Goethe an Samuel Thomas Soemmerring am 25. Mai 1795, in: ­Goethe und Soemmerring. Briefwechsel, a. a. O., S.  92 – 93.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

So unkonturiert sein Standpunkt zur Anatomie des gelben Flecks blieb, so klar bezog ­ oethe eine ästhetische Position, die bereits oben aufgeführter Empfehlung implizit G ist. Als Soemmerring ihm bei einem Treffen 1797 in Frankfurt am Main Vorarbeiten zu seinem Tafelwerk Abbildungen des menschlichen Auges zeigte, entkräftete ­Goethe in seiner Reaktion metaphorisch mit einem ästhetischen Argument den Akt der Wahrnehmung selbst. ­Goethe fühlte sich von diesen Darstellungen „im eigentlichen Sinne geblendet“: „Die Beobachtung, der Gedanke, die Ausführung, der Geschmack, alles ist daran zu bewundern.“ 73 3.2.3 Die farbigen Schatten des Blicks Durch Lichtenbergs und Soemmerrings Hinweise auf die physiologische Farberzeugung aufmerksam gemacht, prüfte G ­ oethe seine neu gewonnenen Erkenntnisse in Nachbildversuchen und weiteren Experimenten mit farbigen Schatten. Im Zuge dieses Erkenntnisprozesses löste er die vom Auge erzeugten Farben, die bisher als Ausnahmen und Sonderfälle abgetan wurden, aus ihrer Unterordnung unter das physikalischgeometrische Paradigma des Lichts und sprach ihnen einen eigenständigen Status zu. Über ihre eigenen Reflexionen hinaus empfahlen Lichtenberg und Soemmerring ­Goethe einschlägige Werke, die sich mit der Farbenproduktion des Auges beschäftigten. So war es vermutlich Soemmerring, der ­Goethe auf die Arbeit On the ocular spectra of light and colours des englischen Arztes Robert Waring Darwin, des Vaters von Charles Darwin, hinwies. Ein erster schriftlicher Beleg von G ­ oethes Darwin-Rezeption findet sich in einem Brief an Soemmerring im Februar 1794 – wenige Monate, nachdem Lichtenberg ­Goethe auf Buffons Observations sur les couleurs accidentelles et sur les ombres colorées aufmerksam gemacht hatte.74 Auch wenn ­Goethe weitere Schriften zur physiologischen Farberzeugung rezipierte, sind Darwins und Buffons Werke neben den weiter unten analysierten Schriften Rumfords entscheidend für ­Goethes Arbeiten zu den physiologischen Farben.75 Buffon, Darwin und Rumford betrachteten die physiologischen Farben als Produkte eines im Ausnahmezustand befindlichen Auges. 73 Undatierte Notiz G ­ oethes an Samuel Thomas Soemmerring, die vermutlich am 3. August 1797 entstand, in: ebd., S. 112. Zur Datierung vgl. den Kommentar von Manfred Wenzel, in: ebd., S. 113. Soemmerrings Tafelwerk Abbildungen des menschlichen Auges erschien 1801 als erster Band der Schriften zu den Sinnesorganen. Die von ­Goethe 1803 geplante Rezension für die Allgemeine Literatur-Zeitung kam allerdings nicht zustande. 74 Vgl. Samuel Thomas Soemmerring an G ­ oethe am 17. Februar 1794, in: ebd., S. 78. Da keine schriftlichen Belege über einen Hinweis Soemmerrings auf Darwins Werk vorliegen und ein eindeutiger Nachweis damit unmöglich ist, steht zu vermuten, dass er ­Goethe bei persönlichen Begegnungen 1792 und 1793 zu dessen Lektüre anregte. Vgl. den Kommentar von Manfred Wenzel zu G ­ oethe an Soemmerring am 17. Februar 1794, in: ebd., S. 79. 75 Über diese Schriften und Hassenfratz Werk hinaus rezipierte ­Goethe u. a. auch Nicolas de B ­ éguelins Werk Mémoire sur les ombres colorées (1767), dem er jedoch keine weitere Beachtung beimaß. Hassenfratz’

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

Buffon stellt die subjektiv erzeugten den physikalisch-optischen und damit objektiv bedingten Farben gegenüber. Diese bezeichnet er trotz ihrer experimentell-künst­ lichen Herstellung als natürliche, da sie dem herrschenden Paradigma der newtonischen Optik entsprachen. Indem Buffon die vom Auge erzeugten Phänomene als die ihm „zufällig scheinen[den], und vielleicht mehr von der Beschaffenheit unseres Auges, als des Lichts, herkommen[den]“ 76 herausstellt, bedient er sich lediglich spekulativer Argumente, wählt aber die Bezeichnung zufällig sehr bewusst aus zwei Gründen: zum einen zur Unterscheidung von den natürlichen Farben, zum anderen, weil sich das „angegriffene Auge“ bei ihrer Erzeugung in einem besonderen Zustand befindet, „weil sie [die zufälligen Farben – S. Sch.] in der That nicht erscheinen, als wenn das Auge gezwungen, oder allzu stark erreget wird“.77 Zu solchen Situationen zählt er beispielsweise den intensiven direkten Blick in die Sonne oder Farben, die durch mechanische Außeneinwirkung wie Druck und Schlag aufs Auge entstehen. In praktischen Versuchskonstellationen bemühte sich Buffon, die Nachbild- mit Newtons Prismenfarben zu verbinden. So mischte er im Betrachterblick beispielsweise die zufälligen mit den natürlichen Farben.78 Beschrieb Buffon das Auge in einem mechanistischen Konzept als passiv und ausschließlich auf eine Zwangslage reagierend, verzichtete er wegen der ihm bewussten Unsicherheit seiner Schlussfolgerungen auf das Ableiten allgemeiner Gesetzmäßigkeiten ebenso wie auf eine physiologische Ursachenforschung. Erst über 40 Jahre später brachte der Mediziner Robert Waring Darwin 79 die allgemeine Physiologie des Sehens mit den durchs Auge erzeugten Farben in einen umfassenden gesetzmäßigen Zusammenhang. In seinem bahnbrechenden Werk New experiments on the ocular spectra of light and colours, das 1786 erschien, beschreibt er den Entstehungsort der gleichnamigen physiologisch erzeugten Erscheinungen als im Auge befindlich, die Retina als aktiv agierend: „From the subsequent experiments it appears, that the retina is in an active not in a passsive state during the existence of these ocular spectra; and it is thence to be concluded, that all vision is owing to the activity of this

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Schrift Observations sur les ombres colorées kritisierte er später, da der Autor die farbigen Schatten als objektiv bedingte Erscheinungen erklärt. Vgl. WA IV,19, S. 457 (­Goethe an C. F. von Reinhard am 16. November 1807). Vgl. LA I.6, S. 376 – 381 (Farbenlehre, Historischer Teil). Buffon, George Louis Leclerc de, Observations sur les couleurs accidentelles et sur les ombres colorées, in: Mémoires de l’Académie Royale des Sciences (1743), p. 517 – 542, hier zit. n. Des Herrn de Buffon Abhandlung von den zufälligen Farben, in: Hamburgisches Magazin, oder gesammelte Schriften, zum Unterricht und Vergnügen aus der Naturforschung und den angenehmen Wissenschaften überhaupt. Des ersten Bandes viertes Stück, Hamburg / Leipzig 1748, S. 425 – 441, hier S. 430. Ebd., S. 433 und S. 430 – 431. Vgl. ebd., S. 436. Eine Mischung natürlicher und zufälliger Farben in buffonschen Termini ist z. B. dann gegeben, wenn eine Person mit einem im Auge erzeugten blauen Nachbild auf eine gelbe Fläche blickt und als Mischfarbe Grün wahrnimmt. Robert Waring Darwin war Arzt im englischen Shrewsbury in Shropshire. Vgl. LA II.6, S. 557.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

organ.“ 80 Als Strukturierungskriterium der ocular spectra dienen ihm die organische ­Disposition des Auges und das Verhältnis der subjektiv erzeugten Bilder zur Außenwelt. Zur ersten Gruppe zählt er diejenigen Erscheinungen, die bei Mangel oder Übermaß der Netzhautempfindlichkeit auftreten, zur zweiten die direkten, ihrer Vorlagenfarbe entsprechenden physiologischen Phänomene und die in den entgegengesetzten Farben erscheinenden ocular spectra inklusive der farbigen Nachbilder. Erscheinen die direkten Phänomene bei übernatürlichem Reiz,81 zeigen sich die umgekehrten bei nochmals verstärkter Reizerhöhung. Ausschlaggebend für die spontane Erzeugung einer der Außenvorlage entgegengesetzten Farbe ist nach Darwin jedoch nicht der äußere Reiz an sich, sondern die Erschöpfung bzw. Ermüdung des Auges und somit eine subjektive Ursache. Obwohl Darwin seine Erklärungen der ocular spectra physiologisch ausrichtet, spielt in diese noch die physikalische Ursachensuche hinein: Physiologisch erklärt er das Netzhautverhalten in Analogie zum Muskel, der nach zu langer Dehnung nach beendeter Spannung in den entgegengesetzten Zustand fällt. Die „Logik“ der auf einen äußeren Reiz erzeugten komplementären Farben Rot – Grün, Blau – Orange und Gelb – Violett begründet er hingegen physikalisch: Die reaktive Farbe erhält der Experimentierende immer dann, wenn er von der Gesamtheit aller gemischten prismatischen Farben diejenige Farbe abzieht, durch die das Auge ermüdet bzw. gereizt wurde. Neben unterschiedlichen Nachbildversuchen demonstriert er diese Erklärung mit einem Farbenkreisel, auf welchem alle Farben des Spektrums außer der reizerzeugenden angebracht sind. Beispielsweise ergibt die Mischung der bei weggelassenem Rot verbleibenden Farben Grün.82 Neben der intensiven Lektüre von Buffons und Darwins Schriften rezipierte ­Goethe zeitgleich Johann Heinrich Lamberts Photometria 83 und Benjamin Thompson R ­ umfords Schriften zu dessen Versuchen über gefärbte Schatten.84 Der Mathematiker und ­Physiker 80 Darwin, Robert Waring, New Experiments on the Ocular Spectra of Light and Colours, in: Philo­ sophical transactions of the Royal Society of London 76 (1786), S. 313 – 348, hier S. 314. 81 Zu diesen zählt Darwin z. B. das Blenden durch zu starkes Licht oder das Nichtwahrnehmen von zu schnellen (Kreisel) und zu langsamen Bewegungen (Schattenwandern auf der Sonnenuhr). Vgl. Darwin, Robert Waring, Ueber die Augentäuschungen (Ocular spectra) durch Licht und Farben, in: Darwin, Erasmus, Zoonomie oder Gesetze des organischen Lebens. Aus dem Englischen übersetzt und mit einigen Anmerkungen begleitet von J. D. Brandis, 3 Theile in 5 Bdn., I. Band, II. Abteilung, Hannover 1795 (Erstdruck des englischen Originals 1786), S. 517 – 579, hier S. 537. 82 Vgl. ebd., S. 517 – 579. Darüber hinaus diskutiert Darwin genau wie Buffon Farben, die durch äußere mechanische Einflüsse in Form von Druck, Reibung usw. auf das Auge entstehen. 83 Lamberts 1760 erschienenes Werk Photometria sive de mensura et gradibus luminis colorum et umbrae erscheint in Rupperts Verzeichnis der G ­ oethe’schen Bibliothek. Vgl. Ruppert, Hans, G ­ oethes Bibliothek, Weimar 1958, S. 685. ­Goethes detaillierte Beschäftigung mit dieser Schrift kann allerdings nicht mehr rekonstruiert werden. 84 Der Originaltitel der wichtigsten, 1794 erschienenen Abhandlung lautet: Rumford, Thompson, Benjamin, Count, An account of some experiments on coloured shadows. Read before the Royal Society, February 20, 1794, in: ders., Philosophical Papers, Bd. 1, London 1802, S. 319 – 332. Im Folgenden

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

Lambert gilt wegen seiner zahlreichen systematisierten Überlegungen und Experimente neben dem Franzosen Pierre Bouguer als Begründer der Photometrie – eines Verfahrens zur Lichtstärkemessung. Das Prinzip eines Photometers verdeutlicht folgende Versuchskonstellation: Ein von zwei variablen Lichtquellen beleuchtetes Objekt wirft seine Schatten auf eine vor ihm stehende weiße Fläche. Gegenstand der Analyse sind die entstehenden Lichtintensitäten, welche die wechselseitige Beleuchtung der Schatten produziert.85 Die Versuchsaufbauten werden auf die Tätigkeit des menschlichen Auges ausgerichtet, da dieses als Messgerät der Helligkeiten fungiert und – so Lambert – beim Erkennen der Lichtstärke „alleiniger Richter ist“.86 Weil das Störpotential des Gesichtssinns deshalb um so stärker ins Gewicht fällt, reflektiert Lambert gleich zu Beginn seines Werks mögliche Fehlerquellen und stellt heraus, unter welchen Bedingungen die Erkenntnis von gleichen und unterschiedlichen Lichtstärken durch das Auge objektiv gültig ist. Um Hindernisse der Organtätigkeit auszuräumen, thematisiert er „Übersetzungsfehler“ zwischen physikalisch verschieden stark beleuchteten Flächen, die das Auge jedoch als gleich hell wahrnimmt. Zu diesem Zweck misst er in einer Reihe von Versuchen, in denen er den Abstand von der Lichtquelle zur Projektionswand variiert, die Ausdehnung dieser jeweils als gleich hell wahrgenommenen Schirmfläche. Mithilfe mathematischer Formeln berechnet er anschließend die Differenz zwischen nicht empfundenem und physikalisch doch vorhandenem Helligkeitsunterschied, um diese in künftigen Versuchskonstellationen zu berücksichtigen.87 Lamberts erkenntnistheoretische Behandlung des Auges ist ambivalent: Obwohl er es als urteilende Instanz definiert und ihm damit eine herausgehobene epistemologische Bedeutung zugesteht, versucht er, dessen Tätigkeit mittels mathematischer Beschreibungen vorhersehbar und damit regulierbar zu machen. Die Intensität der auf die Retina treffenden Helligkeit betrachtet er – wie viele andere Forscher auch – als von der Größe der Pupillenöffnung abhängig. In seiner mechanistischen Auffassung des Auges ist allein die Fläche und damit die geometrische Konstruktion der Retina wird nach der Übersetzung von Rumford, Benjamin Thompson, Graf von, Nachricht von einigen Versuchen über gefärbte Schatten, in: ders., Kleinere Schriften politischen, ökonomischen und philosophischen Inhalts, 4. Bd., 2. Abt., o. A., S. 477 – 496 zitiert. 85 Dieses Prinzip hatte bereits der französische Wissenschaftler Pierre Bouguer in seinem 1729 erschienenen Werk Essai d’optique sur la gradation de la lumière entwickelt. Bouguer hatte im Abstand von einem Fuß eine Kerze vor einer weißen Fläche aufgestellt und neben die Kerze einen Schirm, hinter dem eine zweite Kerze stand. Er bemerkte, dass der Schatten des Schirms, der auf die von der ersten Kerze erleuchtete Fläche fällt, genau dann verschwindet, wenn sich die zweite Kerze im Abstand von acht Fuß vom Schirm befindet. Vgl. Bouguer, Pierre, Essai d’optique sur la gradation de la lumière, Paris 1729, S. 52. 86 Lambert, Johann Heinrich, Photometrie, gekürzte Ausgabe, hg. v. Ernst Anding, 3 Hefte, Heft 1, Leipzig 1892, S. 6. 87 Vgl. ebd., S. 13, 91 – 92 und S. 102 – 104.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

entscheidend, nicht der zeitliche Verlauf oder die Stärke des Reizes. Wie das Auge über die wahrgenommene Helligkeit urteilt, welche physiologischen Prozesse dabei eine Rolle spielen, hinterfragt er nicht. Seine Berechnungen der Helligkeitswahrnehmungen zielen allein auf eine korrekte Einhaltung der Beobachtervorschriften.88 Das Photometer benutzte auch Rumford, der über das Messen der Lichtintensitäten auf die ästhetischen Erscheinungen der farbigen Schatten aufmerksam wurde.89 In seiner Schrift Nachricht von einigen Versuchen über gefärbte Schatten vermutet er genau wie ­Goethe, dass die farbigen Schatten durch Quantitätsdifferenzen zweier Lichtquellen verursacht werden. Sein Grundversuch ist folgender: Ein vom Tageslicht beschienener Gegenstand wirft einen dunklen Schatten auf eine weiße Fläche. Wird als weitere Lichtquelle eine Kerze dazugestellt, entsteht ein zweiter Schatten des Gegenstandes. Wie bei ­Goethes Versuchen erscheint der dunklere von der Kerze erzeugte und vom Tageslicht beschienene Schatten blau, der hellere vom Tageslicht erzeugte und vom Kerzenlicht beschienene gelb. Nachdem Rumford als Ursache ein unterschiedliches Weiß der beiden Lichtquellen vermutet, versucht er, diese Annahme durch einen Gegenbeweis zu erhärten. Mit zwei gleich starken Lichtquellen (zwei Kerzen und zwei Argandschen Lampen) erzeugt er zwei gleich intensive Schatten ein und desselben Gegenstandes. Die Schatten zeigen keine Farbe. Nachdem Rumford vor eine Kerze ein farbiges Glas setzt und damit eine farblich-qualitative Differenz zum ungefärbten Licht der anderen Kerze erhält, erscheint ein Schatten in der Farbe des Glases, der zweite Schatten in der entgegengesetzten Farbe.90 Trotz einer langen Reihe von Versuchen konnte auch ­Rumford nicht erklären, weshalb die farbigen Schatten nur bei differentem Licht auftreten. Auch wenn Rumford nach objektiven Gründen für die farbigen Schatten sucht, gelingt es ihm nicht, die Tätigkeit des Auges bei ihrer Entstehung auszuschließen. Aus 88 Vgl. Lambert, Johann Heinrich, Photometrie, a. a. O., Heft 2, S. 55 – 65. Die Interpretation von Lamberts photometrischen Versuchen erfolgte in Anlehnung an Hoffmann, Unter Beobachtung, a. a. O., S. 98 – 101 und S. 108 – 109. Den Empfindungsprozess in seinen eigenen Rechten und nicht nur als bloßes Ergebnis des Lichteindrucks wird erst – wie Christoph Hoffmann nachweist – P ­ atrice d’Arcy in seinem 1765 erschienenen Buch Mémoire sur la durée de la sensation de la vue beachten. Vgl. ebd., S. 107. 89 Rumford konstruierte und baute ein portables Photometer, in dem die Schatten eines Gegenstandes in einem hölzernen Gehäuse auf einer weiß ausgekleideten Wand aufgefangen wurden. Auch Rumford verglich die Lichtintensitäten durch Variieren des Standpunkts der Beleuchtungsquellen und bezeichnete dieses Vorgehen als Methode der komparativen Dichtigkeit. Vgl. Rumford, ­Benjamin Thompson, Graf von, Beschreibung einer Methode, die comparativen Intensitäten des Lichtes leuchtender Körper zu messen. In zwey Briefen an Herrn Joseph Banks, in: Neues Journal der Physik, Zweyter Band, hg. v. D. Friedrich Albrecht Carl Gren, 1. Heft, Leipzig 1795, S. 15 – 58. Rumford untersuchte aus ökonomischen Gründen die Verschiedenartigkeit von Lichtquellen, um die „motivierendste“ Beleuchtung in den von ihm gegründeten Arbeitshäusern für Arme und Bettler zu installieren. Vgl. Falta, Wolfgang, Die farbigen Schatten – G ­ oethe und Rumford, in: Jahrbuch der ­Goethe-Gesellschaft 104 (1987), S. 318 – 331, hier S. 323. 90 Vgl. Rumford, Nachricht von einigen Versuchen, a. a. O., S. 483 – 486.

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

seiner Erkenntnis, dass die meisten Schattenfarben keine Beziehung zur Farbe des sie erzeugenden Lichts haben, kommt er zu folgender Vermutung: Die meisten Schattenfarben sind „nur ein optischer Betrug […], die dem Contraste oder einer Wirkung anderer, wirklicher, und benachbarter Farben auf das Auge, zugeschrieben werden müßten“.91 Die Tätigkeit des Auges bei der Farbentstehung beweist Rumford, indem er ein Lineal (zur Verbreiterung der Schatten) mit zwei gleich starken Argandschen Lampen anstrahlt. Um unerwünschte Nebeneffekte auszuschließen, sieht er anschließend mit einem Auge, während er das andere schließt, durch eine schwarz ausgekleidete Röhre auf den Versuchsaufbau. Ein Gehilfe bringt vor einer Lampe ein gelbes Glas an und bemerkt im Gegenschatten eine deutliche blaue Farbe, die verschwindet, als er das Glas wieder entfernt. Rumford hingegen sieht weder das Blau, noch merkt er überhaupt, wann der Schatten blau und wann er nicht farbig ist.92 Trotz Erkenntnis der Beteiligung des Auges an der Farbenproduktion bezeichnet Rumford die vom Gesichtssinn hervorgebrachten Erscheinungen noch immer als optischen Betrug. Er postuliert diese Erkenntnis als Novum: „Unterdessen, halte ich es für eine neue Entdeckung – wenigstens ist es unbezweifelt eine sehr ausserordentliche Thatsache – daß unsern Augen nicht immer zu trauen sey, selbst was die Gegenwart oder Abwesenheit von Farben anbetrifft.“ 93 Das Auge gerät in Rumfords Versuchen nicht wie in den buffonschen und meisten darwinschen Experimenten in einen überstrapazierten Ausnahmezustand – im Gegenteil: Die Trughaftigkeit wird bei Rumford zur Normalität. Auch wenn er die unabdingbare Mitwirkung des Auges bei der simultanen Entstehung der Schattenfarben konstatiert, thematisiert er die Physiologie des Gesichtssinns nicht. Wie Lambert bindet er das Auge als einen unter vielen Parametern in die Experimentalkonstellation ein. Er stellt es als einen Farbengenerator dar, der lediglich auf äußere Einwirkungen reagiert. Anders als Lambert betont Rumford jedoch den ästhetischen Eigenwert der Schattenerscheinungen, den er im Gegensatz zu den fixen Körperfarben an ihrer Variabilität festmacht: „Wir sind gewohnt, die Farben fixirt und unveränderlich zu sehen, – so fest als die soliden Körper, von denen sie kommen, – und eben so unbeweglich, – folglich aber auch todt, uninteressirend, und ermüdend für das Auge; bei diesen Versuchen im Gegentheil ist alles Bewegung – Leben – und Schönheit.“ 94 Bezieht Rumford die Beschreibung dieser Dynamik wie ­Goethe in seinen ersten Versuchsreihen lediglich metaphorisch auf das Leben, bemüht er sich in seiner nächsten Schrift Conjectures respecting the principles of the harmony of colours um einen Anschluss der von ihm ästhetisierten Schattenfarben an die newtonische Optik: Nach seiner Meinung harmonieren immer dann zwei Farben miteinander, wenn ihre Mischung 91 92 93 94

Ebd., S. 491. Vgl. ebd., S. 492 – 493. Ebd., S.  493 – 494. Ebd., S.  494 – 495.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

ein vollkommenes Weiß ergibt, dessen Existenz er anders als Lichtenberg für möglich hält. In diesem Kontext betrachtet Rumford die eine Farbe immer als Ergänzung, als Komplement der anderen – eine Konstellation, die mit dem Begriff der Komplementärfarben beschrieben wird, der in jener Zeit entstand.95 Erklärt Rumford nun den zweiten farbigen Schatten ausschließlich als subjektiv bedingt und bezeichnet ihn noch immer als optischen Betrug, egalisiert er jedoch beide Schatten über die Möglichkeit ihrer Empfindung: „Die eingebildete Farbe, welche, wie man sehen kann, durch die andere wirkliche Farbe im Geiste hervorgerufen wird, scheint indessen nicht geringer zu stehen, wie die wirkliche Farbe, weder im Glanz, noch in der Deutlichkeit der Färbung.“ 96 Mit diesem Rückgriff auf die ästhetische Erfahrung bindet Rumford, seiner Abwertung der Augentätigkeit zum Trotz, mehr oder weniger unbewusst die epistemologische Bedeutung der Farbe an die Tätigkeit des Subjekts und entzieht sie den Definitionskriterien der newtonischen Optik. Rumfords Interpretation der Augentätigkeit als optischer Betrug stieß auf G ­ oethes entschiedene Ablehnung: Unter der Überschrift Fundament im Organ gesucht exzerpierte er vermutlich im Mai 1795 die betreffende Textstelle aus Rumfords erstem Aufsatz und charakterisierte sie als „Gotteslästerung“.97 Während ­Goethe noch in seiner Schrift Von den farbigen Schatten wie der frühe Rumford differente Lichtstärken für die Erscheinungen verantwortlich machte und sie den apparenten, physischen Farben zuordnete, schreibt er ihnen in der Farbenlehre eine neue Bedeutung zu: Angeregt durch Buffons und Darwins Studien nimmt er sie in die Abteilung der Physiologischen Farben des didaktischen Teils auf. 95 Vgl. Rumford, Benjamin Thompson, Count, Conjectures respecting the principles of the harmony of colours, 1794, in: ders., Philosophical Papers, Bd. 1, London 1802, S. 333 – 340, zit. n. ders., Vermuthungen über die Gründe der Harmonie der Farben, in: ders., Kleinere Schriften politischen, ökonomischen und philosophischen Inhalts, 4 Bde., 4. Bd., 2. Abt., o. A., S. 497 – 510, hier S. 501. Ist nach Newton Weiß eine Mischung aller Farben, kann im Umkehrschluss behauptet werden, dass beide Schattenfarben alle anderen in sich enthalten. Dem zeitbedingten Kenntnisstand entsprechend, nach dem gleiche Mischungsgesetze für Licht- und Pigmentfarben galten, sind nach Rumford auch zwei Malerfarben harmonisch, wenn sie Weiß ergeben. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass eine der beiden Farben bereits eine gemischte Farbe ist. Damit ergibt sich ein Widerspruch zum Weiß der Prismenfarben, das nicht aus drei, sondern aus allen Farben des Spektrums besteht. In dieser Beschreibung spiegelt sich das im 18. Jahrhundert vorhandene Bemühen wider, nach einer Synthese zwischen den drei Grundfarben der Maler (rot, gelb und blau) und den sieben Farben des Spektrums zu suchen. Vgl. dazu ausführlicher Renneberg, Farbige Schatten, a. a. O., S. 242 – 243. Ob Rumford den Begriff Komplementärfarben prägte, kann nicht eindeutig nachvollzogen werden. Matthaei versucht zu belegen, dass der Franzose Hassenfratz diesen Terminus in die Wissenschaftssprache einführte. Vgl. Matthaei, Rupprecht, Complementare Farben. Zur Geschichte und Kritik eines Begriffes, in: Neue Hefte zur Morphologie 4 (1962), S.  69 – 99, besonders S.  74 – 78. 96 Rumford, Gründe der Harmonie der Farben, a. a. O., S. 501 – 502. 97 Vgl. LA I.3, S. 92 – 93, Zitat S. 93 (Fundament im Organ gesucht).

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

­Goethe verändert den grundlegenden Experimentalaufbau, der nun jenem der photometrischen Versuche entspricht, und interpretiert die Farberzeugung mit dem zwischenzeitlich erworbenen Wissen um die Rolle des Subjekts neu. Im Hauptwerk der Farbenlehre erklärt er die Entstehung des zweiten farbigen Schattens allein aus der Mitwirkung des Auges – eine Begründung, die noch heute gültig ist. Die farbigen Schatten werden zu den Simultankontrasten gezählt.98 ­Goethe wählte nun Versuchskonstellationen, die auch Rumford benutzte. Neben den zwei Lichtquellen und der weißen Fläche nennt er ein (!) schattenwerfendes Objekt. In seinen geänderten Grundversuchen agiert ­Goethe nach wie vor mit zwei verschieden starken Lichtquellen: dem Dämmerlicht und einer Kerze, zwischen die er einen Bleistift stellt. Der Schatten, den die Kerze auf eine weiße Fläche wirft, wird vom schwachen Tageslicht erhellt, das den Schatten blau erscheinen lässt. Das weiße Papier wirkt als rötlichgelbe Fläche, welche die blaue, ins Violett gehende Farbe im Auge fordert. Die Fläche des Schattens lässt nach ­Goethe eine „erregte Farbe“ 99 vermuten (vgl. Abb. 5, Figur 6). An diese ersten Versuche anschließend, operiert er mit zwei Kerzen als gleich starken Lichtquellen, vor deren eine er ein farbiges Glas setzt. Beim Blick auf den vom färbenden Licht erzeugten und vom ungefärbten beschienenen Schatten sieht ­Goethe die Komplementärfarbe des Glases. Für die Entstehung dieser Farbe ist nun nach seiner Erkenntnis allein der Gesichtssinn verantwortlich. In diesen späteren Versuchsreihen mit den farbigen Schatten betont G ­ oethe trotz der realiter noch unterschiedlich starken Lichtquellen von Kerze und Himmelslicht deren hierarchische Energiedifferenzen nicht, sondern betrachtet diese Lichtquellen in der Beschreibung „Licht“ und „Gegenlicht“ als egalitäre Parameter. Ihr Zusammenwirken ermöglicht den experimentellen Einsatz des Auges, welches das gleichberechtigte Erscheinen der zwei farbigen Schatten, „dieser lebendig geforderten, nebeneinander bestehenden Farben“, vollendet.100 In dieser Beschreibung ersetzt ­Goethe die noch in der Vorarbeit verwendete Metaphorik des Lebens durch die vitale Mitwirkung des Auges selbst, dessen Produkt, den zweiten farbigen Schatten, er anders als Rumford als gesetzmäßig erzeugt auffasst. 98 Der Begriff Simultankontrast bezeichnet die durch die physiologische Farberzeugung beeinflusste Wechselwirkung nebeneinanderliegender Farbflächen. Das Auge bildet bei der Wahrnehmung einer äußeren Farbfläche die jeweilige Komplementärfarbe und projiziert sie auf die danebenliegende Fläche. Den Begriff prägte im Jahre 1839 der französische Chemiker Michel Eugène Chevreul, der die Simultankontraste in unterschiedlichen Kontexten ausführlich beschrieb. Vgl. Chevreul, Michel Eugène, De la loi du contraste simultané des couleurs et de l’assortiment des objets colorés, Paris 1839. Für die oben beschriebenen farbigen Schatten der Natur bei Sonnenauf- und untergang gilt hingegen eine physikalische Erklärung: In diesen Zeiten legt das Sonnenlicht den längsten Weg durch die Atmosphäre zurück, in der durch Streuwirkung der Luftmoleküle ein intensives Blau erzeugt wird. Vgl. z. B. Minnaert, Marcel, Licht und Farbe in der Natur, Basel u. a. 1992. 99 LA I.4, § 67, S. 44 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 100 Vgl. ebd., §§ 62 – 80, S. 43 – 49, Zitate in der angeführten Reihenfolge §§ 64 und 62, S. 43.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Noch in der Camera obscura verstärkte das Finstere, Schattenhafte die Trennung zwischen äußerer Welt und dem auf den Projektionsschirm blickenden Subjekt. In den gewandelten Versuchsaufbauten G ­ oethes und seinem zwischenzeitlich erworbenen Wissen um die Beteiligung des Gesichtssinns an der Farbentstehung konstituiert sich die Funktion des Schattens als erkenntnisgenerierendes Medium auf erweiterte Weise. Im Schatten treffen sich Subjekt und Objekt paritätisch, um das Auge zur Farberzeugung anzuregen.Nun ist nicht mehr – wie in G ­ oethes früheren Versuchen – lediglich die Perzeption der Farben ausschlaggebend für den Wissensgewinn, sondern die experimentelle Doppelrolle des Auges als Farbenproduzent und –rezipient, die durch den Schatten ermöglicht wird. In der oben beschriebenen Konstellation verliert der Schatten endgültig seinen Status als bloßes Projektionsphänomen, dessen verursachendes Objekt wichtiger ist als er selbst. Er erhält einen aktiven Part und wird als unabdingbarer Teil der Farbentstehung konzipiert: „Die Farbe selbst ist ein Schattiges […] und wie sie mit dem Schatten verwandt ist, so verbindet sie sich auch gern mit ihm, sie erscheint uns gern in ihm und durch ihn, sobald der Anlaß nur gegeben ist […].“ 101 ­Goethe erhebt die Produktion der farbigen Schatten zu einem aktiven Teil des Experiments und erklärt sie nicht nach den Gesetzen der geometrischen Optik. Getreu seiner Ablehnung künstlicher Zeichensysteme experimentiert er nicht mit mathematischen, variablen Versuchsparametern und berechneten Raumverhältnissen, die bei Rumfords Versuchen zur Aufhellung oder Verdunklung der Schattenfarben führten. Auch wenn ­Goethe die Mitwirkung des Auges bei der Erzeugung dieser Phänomene erkennt, verbleibt der menschliche Körper experimentalpraktisch wie diskursiv bei ihm selbst im Schatten. An keiner Stelle bemüht sich ­Goethe, die aktive Mitwirkung des Sehorgans experimentell nachzuweisen wie Rumford in seinem Röhrenversuch. Ebenso lässt er – anders als Lambert – den Akt der Urteilsfindung unberücksichtigt. Er bemüht sich nicht um eine Erklärung der anatomisch-physiologischen Bedingungen der Farberzeugung, sondern richtet sein Hauptaugenmerk auf die Entstehung der äußeren farbigen Schattenbilder, an denen sich die Tätigkeit des Auges expliziert. Diese Phänomene ästhetisiert ­Goethe – wie in Reaktion auf Soemmerrings physiologische Studien – in starkem Maße. Seine Aufmerksamkeit konzentriert sich hauptsächlich auf den sinnlichen Eindruck ihrer Erscheinungen, so dass die Ästhetik in ihrer doppelten Bedeutung auf den Plan tritt: als Wahrnehmungstheorie und als künstlerische Wirkungsästhetik. Ob beim bereits erwähnten winterlichen Brockenabstieg beobachtet oder in den anschaulich beschriebenen Versuchen erzeugt – die Schönheit der farbigen Schatten beeindruckte G ­ oethe so tief, dass er die auf dem Schatten vom Auge erzeugte Farbe als ästhetisches „Messgerät“ empfiehlt. Dieses soll der besseren Bestimmung der Ausgangsfarbe dienen, die sich auf der gesamten um den Schatten befindlichen 101 Ebd., § 69, S. 44.

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

hellen Fläche zeigt: „Ja, man kann die Farbe des Schattens als ein Chromatoskop der beleuchteten Flächen ansehen, indem man die der Farbe des Schattens entgegenstehende Farbe auf der Fläche vermuten und bei näherer Aufmerksamkeit in jedem Falle gewahr werden kann.“ 102 Bevor er seine Erkenntnisse über die physiologische Farberzeugung in der ersten Abteilung des didaktischen Teils der Farbenlehre erstmals publiziert, werden G ­ oethes Betrachtungen in der ersten Fachzeitschrift für Augenheilkunde reflektiert – allerdings nicht von ihm, sondern einem anderen Forscher. 3.2.4 ­Goethes Farbentheorie in der Ophthalmologie um 1800 Wurde am Ende des 18. Jahrhunderts die Spezifik der Einzelsinne ästhetisch durch deren jeweils geforderten Einsatz in der ihnen korrespondierenden Kunst legitimiert, führte die umfassende empirische Erschließung des Körpers zur physiologischen Begründung des Eigenlebens der Sinne und zur Herausbildung spezieller medizinischer Disziplinen. G ­ oethe arbeitete seine Analyse der physiologischen Farben in einer Zeit aus, in der sich die Augenheilkunde, die Ophthalmologie, als Spezialbereich der Medizin zu entwickeln begann. Einer ihrer Pioniere war der Arzt Karl Gustav Himly, der von 1801 bis 1803 eine Dozentur für Medizin an der Universität in Jena inne hatte und ­Goethes Auffassung der physiologischen Farben entscheidend beeinflusste. Himly machte sich besonders durch die Anwendung pupillenerweiternder Mittel (Myadriatica) einen Namen, welche die Diagnose und Operation von Starerkrankungen erleichterten.103 Er verbreitete sein Verfahren systematisch und ausführlich in den von ihm 1801 herausgegebenen, als Fachperiodikum geplanten Ophthalmologische[n] Beobachtungen und Untersuchungen oder Beyträge[n] zur richtigen Kenntniss und Behandlung der Augen im gesunden und kranken Zustande. Durch diese Publikationsstrategie wurde Himlys Verfahren unter den deutschsprachigen Ärzten schnell bekannt. Mit dem Titel dieser Zeitschrift prägte er die Bezeichnung für das neue Spezialfach der Augenheilkunde.104 Deren Vertreter hatten sich zum Ziel gesetzt, nicht nur Pathologien, sondern auch anatomische und physiologische Gegebenheiten des gesunden Auges zu erforschen, beispielsweise den 102 Ebd., § 72, S. 45. 103 Diese Medikamente ermöglichten es, die Untersuchungen im Hellen und nicht wie zuvor im Halbdunkel durchzuführen, in welchem sich die Pupillen weiteten – eine Methode, die wesentlich sicherere Diagnosen als zuvor zuließ. Durch die Benutzung pupillenerweiternder Mittel konnten Verwachsungen an den Augenperipherien und in der -mitte besser erkannt werden. Die vor der Anwendung der Myadriatica benutzte Methode der Belichtung und Beschattung der Augen zur Prüfung der Verwachsungen war unzuverlässig, da im Halbdunkeln viele Symptome unerkannt blieben. Vgl. Münchow, Wolfgang, Geschichte der Augenheilkunde, Leipzig 1983 (= Der Augenarzt, Bd. IX, hg. v. Karl Velhagen), S. 263. 104 Vgl. ebd., S. 420.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Verlauf von Blutgefäßen auf der Netzhaut. Eine klare Begriffsdefinition des neuen Spezialfachs lieferte Himly erst im zweiten Band der Folgezeitschrift Ophthalmolo­ gische Bibliothek, nachdem sich der Begriff nur einseitig im pathologischen und therapeutischen Bereich durchzusetzen begann: „Es fängt dieses Wort kaum an, gebräuchlich zu werden, und fast wird es schon verleidet, es in Gebrauch gebracht zu haben. Es soll nämlich die umfassende Lehre vom Auge in seinen gesunden und kranken Zuständen bezeichnen, und hie und da usurpirt man es schon zur Bezeichnung eines einzelnen Zweiges, der Ophthalmonosologie und Ophthalmotherapie, als wolle man ein Gegenstück zu der eingeführten schlechten Sitte geben, nur die Lehre des gesunden Zustandes Physiologie zu nennen.“ 105

Erst die mit einem wesentlich prägnanteren Titel ausgestattete Folgezeitschrift, die von 1803 bis 1807 erschien, konnte die Emanzipation der Augenheilkunde forcieren, die sich um 1800 aus der allgemeinen Chirurgie zu lösen begann, zu der sie bis dahin gehörte. Als Mitherausgeber der Zeitschrift konnte Himly den Wiener AnatomieProfessor Johann Adam Schmidt gewinnen.106 Bereits in den Ophthalmologischen Beobachtungen hatte Himly auf die Verselbstständigung der Ophthalmologie nach dem Vorbild der Geburtshilfe gedrungen, die sich nach seiner Meinung erst durch die Trennung von der Chirurgie weiterentwickeln konnte.107 Von dieser Prämisse ausgehend, diente die nachfolgende Ophthalmologische Bibliothek ausdrücklich als Mittel zur Autonomisierung der Augenheilkunde. An der Zeitschrift, die als Publikationsforum für ausführliche Fachaufsätze, Nachträge, kurze Anfragen und Rezensionen deutschsprachiger ophthalmologischer Schriften diente, sollten nur in der Augenheilkunde tätige diplomierte Ärzte mitwirken, „vagabunde Okulisten“ und ihre Laienkenntnisse hingegen selbst Gegenstand kritischer Beiträge werden.108 Auch wenn die Ophthalmologische Bibliothek nicht regelmäßig publiziert 105 Himly, Karl / Schmidt, Johann Adam, Miszellen, Notizen, Nachträge: Vorbitte für das Wort Ophthal­ mologie, in: Ophthalmologische Bibliothek, Zweyter Band, Drittes Stück, Jena 1804, S. 175 – 176, hier S. 175. 106 Himly gilt allerdings nicht als Begründer der modernen Augenheilkunde, sondern der Mediziner Georg Joseph Beer, der 1799 eine Bibliographie über alle Werke der Augenheilkunde, die Bibliotheca ophthalmica, herausgab und 1813 als Erster im deutschsprachigen Raum eine eigens geschaffene Professur für Augenheilkunde erhielt. Die Ophthalmologischen Beobachtungen stellte Himly vermutlich wegen des erheblichen Zeitaufwandes ein, der mit dessen Alleinherausgeberschaft verbunden war. Vgl. Münchow, Geschichte der Augenheilkunde, a. a. O., S. 268, 409 und S. 420. 107 Vgl. Himly, Karl, Vorrede, in: ders., Ophthalmologische Beobachtungen und Untersuchungen oder Beyträge zur richtigen Kenntniss und Behandlung des Auges im gesunden und kranken Zustande, 1. Stück, Bremen 1801, S. VII. 108 Vgl. Himly, Karl / Schmidt, Johann Adam, Vorrede, in: dies. (Hg.), Ophthalmologische Bibliothek, Erster Bd., Erstes Stück, Jena 1803, S. IV – VII, Zitat S. VI. Den Hauptteil der Aufsätze behielten sich Himly und Schmidt allerdings selbst vor.

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

wurde, kann sie als erstes disziplinäres Blatt der Augenheilkunde betrachtet werden. In einem ihrer Beiträge erschien mit hoher Wahrscheinlichkeit erstmals der Begriff der physiologischen Optik, den der Naturphilosoph und Arzt Paul Vitalis Troxler, ein Schüler Himlys, prägte.109 ­Goethe lernte Himly 1801 in Jena kennen. In zahlreichen Gesprächen erörterten sie das Verhältnis von Augenaktivität und Farberzeugung.110 Da schriftliche Nachweise über die Gesprächsinhalte nicht vorliegen, kann lediglich vermutet werden, dass ­Goethe Himly für das Thema der Farbe begeistern konnte. Sicher ist, dass ­Goethe sowohl die Ophthalmologischen Beobachtungen als auch den ersten Band der Ophthalmologischen Bibliothek rezipierte.111 Im zweiten Stück der letztgenannten erschien 1803 Himlys Aufsatz Einiges über die Polarität der Farben, in dem er noch vor ­Goethe die Gesetzmäßigkeit der physiolo­ gischen Farberzeugung des gesunden Auges in einer Publikation beschreibt. In seiner Beweisführung rekurriert er nicht auf die physiologischen Vorgänge des Gesichtssinns, sondern bezieht sich bei der Erklärung der von ihm erzeugten Farben immer wieder – mehr oder weniger bewusst – auf die Pigmentmischungen der Künstler. Scheint Himly mit dieser Strategie das von ihm postulierte Spezialisierungsbestreben der Ophthalmologischen Bibliothek ad absurdum zu führen, verbindet er damit jedoch ein bestimmtes Ziel: Er beabsichtigt, die Farben völlig aus dem Bannkreis der newtonischen Optik zu befreien – von ihrer mathematischen Abstraktion ebenso wie von den sie produzierenden Instrumenten, um sie durch die allein vom Auge erzeugten Phänomene zu ersetzen. In seinem Argumentationsgang schließt Himly an G ­ oethes physiologische Farbstudien an, kritisiert jedoch dessen Refraktionsexperimente. Ausdrücklich verweist er in seinem Aufsatz auf ­Goethes erste beide Stücke der Beiträge zur Optik, geht bezüglich des Instrumenteneinsatzes jedoch noch weiter als dieser, indem er die Prismenbenutzung für die Farberzeugung als entbehrlich ansieht. Noch vor G ­ oethe, der seinen Farbenkreis erstmals in der Farbenlehre 1810 öffentlich beschreibt und graphisch darstellt, publiziert Himly ein solches Schema. Die erste kreisförmige Farbmatrix hatte G ­ oethe in der vermutlich Mitte 1793 entstandenen Vorarbeit Über die Einteilung der Farben und ihr Verhältnis gegen einander entworfen (vgl. Abb. 6) und

109 Vgl. Troxler, Ignaz Paul Vitalis, Präliminarien zur physiologischen Optik, in: Himly, Karl / Schmidt, Johann Adam (Hg.), Ophthalmologische Bibliothek, Zweyter Band, Zweytes Stück, Jena 1804, S.  54 – 118. 110 Vgl. z. B. folgende Aussage ­Goethes: „[…] mit Himly gar vieles über das subjective Sehen und die Farbenerscheinung verhandelt. Oft verloren wir uns so tief in den Text, daß wir über Berg und Thal bis in die tiefe Nacht herum wanderten.“ WA I,35, S. 137 (Tag- und Jahreshefte 1802). 111 Vgl. Ruppert, ­Goethes Bibliothek, a. a. O., S. 670 sowie Keudell, Elise von, ­Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek. Ein Verzeichnis der von ihm entliehenen Werke, Weimar 1931, S. 72. Den ersten Band der Ophthalmologischen Bibliothek erhielt ­Goethe von Himly am 28. November 1802. Vgl. Ruppert, G ­ oethes Bibliothek, a. a. O., S. 604.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

dem im selben Jahr erstellten Versuch die Elemente der Farbenlehre zu entdecken erneut aufgegriffen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kannte Himly dieses Schema. Bereits in seinen Eröffnungssätzen stellt Himly als Haupthindernis zur Entfaltung des ophthalmologischen Diskurses die noch immer herrschende Pathologisierung der physiologisch erzeugten Farben heraus: „Die vollen Körner, welche Göthe’s Beyträge zur Optik enthalten, fielen fast überall auf einen hierfür noch zu wüsten Acker, auch Darwin’s Versuche übersah man, oder wiederholte sie nur als ein Spiel, welches hiefür grossentheils wirklich zu augenverderblich war, und das gefährliche Wort: Täuschung der Augen – schlug vollends alle Reflexion nieder. Jetzt ist sicher eine günstigere Zeit für diese Ideen, und eine kurze Erinnerung wird schon fruchtbar werden. […] der Kundige wird aber finden, dass sie auch mehr sind, als Erinnerung an dasjenige, welches Einzelnen, nur zu Wenigen, schon bekannt war.“ 112

Himlys Argumentation unterliegt hier einer retrospektiven Verschiebung: In den ersten beiden Beiträgen zur Optik hatte G ­ oethe die physiologische Farbenproduktion des Auges nicht reflektiert. Mit großer Sicherheit war sie erst Diskussionsgegenstand der wesentlich später geführten Gespräche von Himly und ­Goethe. In seiner diskursiven Darstellung der Farberzeugung beschreitet Himly einen anderen methodischen Weg als G ­ oethe, der später an die Spitze des didaktischen Teils der Farbenlehre die physiologischen Farben stellt: Er beginnt mit physikalischen Experimenten, um mit der anschließenden Darlegung der Augenaktivität die Substituierung dieser Versuche durch die unbewaffnete Tätigkeit des Gesichtssinns aufzuzeigen. Schritt für Schritt bemüht er sich, den Vorgang des Farbensehens als von den Instrumenten unabhängig darzustellen. In der Beschreibung der Refraktionsexperimente berücksichtigt Himly die objektiven Camera-obscura-Versuche von vornherein nicht, sondern nur die subjektiven, auf die Mitwirkung des Auges ausgerichteten Experimente. In diesem Zusammenhang greift er – ohne dies explizit zu benennen – auf zwei Versuche ­Goethes zurück. Er führt Refraktionsexperimente mit den Motiven weißer Streifen auf schwarzem Grund und schwarzer Streifen auf weißem Grund durch, die ­Goethe im optischen Kartenspiel für den experimentellen Nachvollzug seiner Erklärung der Farbentstehung zwischen Hell und Dunkel im trüben Mittel entwarf.113 Diese Ver­suche nutzt Himly, um nach ihrer Darlegung den abstrakten Ansatz der mathematischen Optik zu kritisieren. Als deren Königsinstrument betrachtet er das Prisma. Mit diesem Zugriff setzt er allerdings neben der newtonischen Physik implizit auch ­Goethes phänomenal begründete Farbentheorie in Gegenposition zum eigenen Konzept. 112 Himly, Karl, Einiges über die Polarität der Farben, in: ders. / Schmidt, Johann Adam (Hg.), Ophthal­ mologische Bibliothek, Erster Band, Zweytes Stück, Jena 1803, S. 1 – 20, hier S. 1 – 2. 113 Vgl. zu G ­ oethes Versuchen LA  I.3, §§ 45 und 46, S. 20 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück). Vgl. Himly, Polarität der Farben, a. a. O., S. 4 – 5.

3.2  Augenzeugen – Augen zeugen

Anders als G ­ oethe versucht er, auf die Bewaffnung des Blicks zu verzichten und die Benutzung des Prismas zu umgehen.114 Die subjektiven Prismenfarben beschreibt er als etwas dem Auge beinahe gewaltsam Zustoßendes – Argumente, die ­Goethe in seiner Verurteilung optischer Vergrößerungsinstrumente, nicht aber für das Prisma benutzt: „Die erste Reihe von Erscheinungen gibt das Prisma. Diese sind sehr auffallend und auch ein sehr insensibles, nur nicht amaurotisches [mit Schwarzem Star behaftetes – S. Sch.], Auge nimmt sie wahr. Sie sind gegen die andere Reihe [Blick auf Farben ohne Prisma – S. Sch.] so massiv, möchte ich sagen, dass es hieraus begreiflich wird, wie man zu einem mechanischen Spalten sich geneigt fand.“ 115

Pathologisiert Himly bereits in diesen Sätzen den Griff zum Prisma, stellt er ihn an späterer Stelle als eine gesteigerte Augenkrankheit dar, die das deutliche Farbensehen bei typhischen Krankheiten noch übertrifft.116 In zahlreichen Versuchen ohne Prisma beschreibt Himly die Entwicklung von Simultan- und Nachbildfarben. An einem konkreten Experiment beweist er, dass jede Farbe bereits ihre Komplementärfarbe mit sich führt. Der Blick auf einen schmalen gelben Streifen, den Himly auf eine weiße, gut beleuchtete Fläche legt, erzeugt an dessen Rändern die komplementäre Farbe Violett, die beim Entfernen des Streifens als Nachbild in intensiverer Farbe zusammentritt. Himly verweist auf die potentiell endlose Fortsetzung seiner experimentellen Reihe, indem er zeigt, dass sich neben das kräftige violette Nachbild wiederum ein gelber Schein legt.117 Bei der anschließenden Anführung von Darwins Nachbildversuchen und den in ihnen erzeugten Komplementärfarben Blau – Orange, Gelb – Violett und Rot – Grün sucht Himly nicht nach einer anatomisch-physiologischen Begründung, sondern zieht zur Legitimierung dieser Gruppierungen die Mischungsregeln von Pigmentfarben 118 heran. Er konstatiert, dass auf eine einfache Ausgangsfarbe wie Blau im Nachbild immer eine gemischte Farbe wie Orange erscheint, die aus Gelb und Rot entsteht. Umgekehrt kann auch eine gemischte Ausgangsfarbe eine einfache Komplementärfarbe hervorrufen.119 Die oben aufgeführten Farbenpaare setzt er in einem Farbenkreis einander gegenüber, dessen Gliederung ­Goethes Kreisschema entspricht, dieses jedoch 114 Vgl. Himly, Polarität der Farben, a. a. O., S. 5 – 6. 115 Ebd., S. 2. 116 Vgl. ebd., S. 6. 117 Vgl. ebd., S. 11 – 14. 118 Dass Pigment- und Lichtfarben jeweils eigenen Mischungsgesetzen unterliegen, war um 1800 noch unbekannt. Die Unterschiede zwischen der für Pigmentfarben geltenden subtraktiven und der auf Lichtfarben zutreffenden additiven Farbmischung wurden erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt. Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 5.3 dieser Arbeit. 119 Hier erscheinen Anklänge an die klassizistische Farbästhetik von Anton Raphael Mengs, auf dessen Empfehlungen für Farbkombinationen auf Gemälden Himly an späterer Stelle des Aufsatzes

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horizontal um 180° gewendet zeigt. Das bei G ­ oethe im Süden befindliche Grün steht bei Himly im Norden, G ­ oethes nördliches Rot im Süden (vgl. Abb. 7).120 Noch ein weiteres Mal greift Himly in seiner Bewertung des Verhaltens von Weiß und Schwarz zur Begründung der Farbgesetze durch Pigmentmischungen – eine Bewertung, die er wiederum implizit gegen G ­ oethes Theorie der Prismenfarben richtet. Ausdrücklich „konstatiert“ Himly, dass das Zusammenwirken dieser beiden heute als unbunt bezeichneten Farben sowie von Licht und Finsternis nicht zur Entstehung bunter Farben führe, sondern einzig und allein zur Mischung Grau.121 Die Reaktion des Auges bei der Perzeption von Hell und Dunkel, die G ­ oethe später in den Physiologischen Farben des didaktischen Teils detailliert untersucht, verfolgt der Ophthalmologe Himly allerdings nicht. Die Tätigkeit des Gesichtssinns bezieht er nicht nur indirekt über die Pigment­ mischungen der Maler auf die Ästhetik der Farbe, sondern auch geradewegs über die Farbgestaltung von Gemälden. Dieser Anschluss verdeutlicht rekursiv, dass die spätestens seit der Renaissance diskutierte Suche nach harmonischen Farbzusammenstellungen auf Gemälden 122 immer schon auf das psychische Wohlbefinden des Betrachters zielte. Mit der Entdeckung der Eigenaktivität des Auges verschoben sich um 1800 die Diskurse und thematisierten diese Farbkombinationen als physiologisches Gesetz der Komplementärfarben. Dass in Zeiten solcher Wechsel neue Theorien oft erst nach und nach die alten ersetzen, spiegelt Himlys Argumentationsgang anschaulich wider: Während Himly wie ­Goethe im physiologischen Bereich gegen die irreführende Bezeichnung Augentäuschungen für die subjektiv erzeugten Farben anschreibt, bleibt er auf kunsttheoretischem Terrain einem älteren Diskurs verhaftet, der die vom Auge erzeugten Farben als Gegenschein 123 bezeichnet. Diesem Begriff haftet noch immer der Charakter des Trügerischen an. Mehr oder weniger bewusst reflektiert Himly damit jedoch ein um 1800 durchaus gängiges Argument der Kunstrezeption, das auch ­Goethe benutzt. Im ersten Stück der Beiträge zur Optik bezeichnet dieser mit dem ähnlichen Begriff Widerschein Effekte, die nebeneinander befindliche Farben hervorbringen, ohne sich bereits der physiologischen Mitwirkung des Auges bewusst zu sein.124 Diese spätestens seit da Vinci 125 bekannte wechselseitige Beeinflussung der Farben wird G ­ oethe später in den Physiologischen Farben des didaktischen Teils in explizit Bezug nimmt. Vgl. ebd., S. 15 – 16. Zum Bezug von ­Goethes Farbenkreis auf Mengs Farbharmonien vgl. ausführlich Kapitel 5.2 dieser Arbeit. 120 Vgl. Himly, Polarität der Farben, a. a. O., S. 8. 121 Vgl. ebd., S. 20. 122 Vgl. z. B. da Vinci, Leonardo, Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, hg., komment. und eingeleitet von André Chastel, München 2002, S. 270. 123 Vgl. Himly, Polarität der Farben, a. a. O., S. 6 – 8. 124 Vgl. LA I.3, § 20, S. 13 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück). 125 Vgl. da Vinci, Sämtliche Gemälde, a. a. O., S. 232. Da Vinci erörtert im Kontext der farbigen Schatten die Kontrastphänomene. Er bezeichnet eine Farbzusammenstellung dann als am besten gelungen,

3.3  Das Auge als Medium der Welterfahrung

ihrem gesetzmäßig-­komplementären Zusammenhang aufzeigen.126 Das Phänomen zählt wie der oben aufgeführte Streifenversuch Himlys und ­Goethes experimentell erzeugte farbige Schatten zu den Simultankontrasten, in denen das Auge auf die Fläche neben einer äußeren Farbfläche deren jeweilige Komplementärfarbe projiziert. Diese vermischt sich mit der ggf. auf der Nebenfläche vorhandenen äußeren Farbe.127 Um die unbewusste Augenaktivität beim Eindruck von Kunstwerken zu demonstrieren, schlägt Himly u. a. die Fertigung eines Gegenscheingemäldes vor, das er wahrscheinlich nie realisierte.128 Himlys Aufsatz ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie Forscher in Zeiten des Wandels wissenschaftlicher Erklärungs- und Denkmuster beim Aufstellen neuer Theo­ rien nach Anschlüssen an Traditionen suchen, die dem Zweck der eigenen Darlegung angepasst werden.129 Behandelt auch G ­ oethe ebenso wie Himly die physiologischen Prozesse des Auges nicht in ihrer Eigenständigkeit, thematisiert er anders als dieser die Bedeutung der Netzhaut für die Farbentwicklung. In seinem Diskurs über ihre mediale Funktion überlagern sich erneut kunst- und wahrnehmungstheoretische Argumente.

3.3 Das Auge als Medium der Welterfahrung 3.3.1 Die farbigen Gespenster des Auges Wie bisher dargelegt, erweitert ­Goethe im Laufe seiner Studien sein Interesse von der anfänglich betrachteten physikalischen auf die physiologische Entstehung der Farben. Diese epistemologische Blickerweiterung verdeutlicht sich auf etymologischer Ebene primär an der geänderten Bedeutung des Begriffs spectrum, die ­Goethe in der Auseinandersetzung mit den Theorien anderer Forscher erarbeitet. Er gewinnt die Einsicht in die Mitwirkung des Auges bei der Farbentstehung nicht nur durch zahlreiche Selbstbeobachtungen, die Korrespondenz mit Physikern und Medizinern sowie die Rezeption zeitgenössischer Werke, sondern auch durch ein intensives Studium historischer Schriften zu den Nachbilderscheinungen. Das vermutlich 1793 entworfene Schema zur Geschichte der physiologischen Farben zeigt, wie G ­ oethe sich mit unterschiedlichen Standpunkten von Wissenschaftlern beschäftigt, welche die vom Auge hervorgebrachten wenn die Kontraste zwischen den Farben am größten sind, ohne an dieser Stelle konkrete Farbkombinationen anzugeben. 126 Vgl. das Unterkapitel Farbige Bilder in der Abteilung Physiologische Farben, besonders die §§ 56 – 60, in: LA I.4, S. 40 – 42 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 127 Vgl. Chevreul, De la loi du contraste simultané des couleurs, a. a. O. 128 Vgl. Himly, Polarität der Farben, a. a. O., S. 18. Diese Vermutung basiert auf der Ankündigung Himlys, davon künftig eventuell zu berichten, was er jedoch nie tat. Vgl. ebd. 129 Vgl. Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, a. a. O., S. 21.

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Farben als „Scheinfarben; Augentäuschungen und Gesichtsbetrug“ 130 abtaten. Dieses Forschungskollektiv hat einen virtuellen Charakter, es konstituiert sich lediglich auf dem Papier, da die meisten seiner Mitglieder zu verschiedenen Zeiten lebten. Beginnend bei Aristoteles über Alhazen und Augustinus, Boyle, Newton, Buffon, ­Scherffer bis zu Darwin und Rumford skizziert ­Goethe eine Chronologie von historischen Diskursen zu Nachbildern und farbigen Schatten.131 Einigen dieser Forscher widmet er später im historischen Teil der Farbenlehre eigenständige Kapitel. Besonders die Reflexion von Darwins Aufsatz On the Ocular Spectra of Light and Colours, den G ­ oethe im historischen Teil zusammenfassend wiedergibt, zeigt aufschlussreich, wie er konzeptuell die physiologische Farberzeugung in die Norm des Sehens integriert. Darwins Begriff ocular spectra übersetzt er an mehreren Stellen mit dem deutschen Wort Gespenster oder Augengespenster. Joachim Dietrich Brandis, der Darwins Aufsatz ins Deutsche übersetzte und 1795 publizierte, verwendete für ocular spectra das Wort Augentäuschungen.132 Der Begriff impliziert in Anlehnung an Darwin eine als wahr empfundene reale Vorgabe, die durch die Nachbildproduktion im Auge als etwas von der Naturwahrheit Abweichendes ins menschliche Bewusstsein gelangt. Dieses Wort benutzt G ­ oethe wohlüberlegt nicht, sondern greift aus folgenden Gründen zum Terminus Augengespenst: „Wir haben bei Rezension des Darwinischen Aufsatzes den Ausdruck Augengespenst mit Fleiß gewählt und beibehalten, teils weil man dasjenige, was erscheint, ohne Körperlichkeit zu haben, dem gewöhnlichen Sprachgebrauche nach ein Gespenst nennt, teils weil dieses Wort, durch Bezeichnung der prismatischen Erscheinung, das Bürgerrecht in der Farbenlehre sich hergebracht und erworben.“ 133

Auf den ersten Blick mutet dieser Begriffsbezug zu den objektiv erzeugten Prismenfarben wie ein terminologischer Versuch an, die physiologischen Farben den geometrisch-optischen Phänomenen zu subordinieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch zwei Gemeinsamkeiten beider Erscheinungen: Erstens ist es das Merkmal der Unkörperlichkeit, die Nichtmaterialität der physiologischen Farben, welches diese subjektiv erzeugten Phänomene und das auf eine Fläche projizierte prismatische Spektrum gemeinsam haben. Die physiologischen Farben sind real vorhanden, besitzen jedoch keinen materiellen Körper, an dem sie sich wie die physikalischen zeigen. Zweitens wird die Gesetzmäßigkeit der objektiven Farberscheinungen mit dem Vorgang des Sehens selbst enggeführt – eine Überlagerung, die auf die Etymologie des Wortes 130 LA I.4, § 2, S. 25 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 131 Vgl. LA I.3, S. 369 (Geschichte der physiologischen Farben). 132 Vgl. Darwin, Ueber die Augentäuschungen (Ocular spectra) durch Licht und Farben, a. a. O., S.  517 – 579. 133 LA I.6, S. 388 (Farbenlehre, Historischer Teil).

3.3  Das Auge als Medium der Welterfahrung

spectrum verweist, das bereits in der Antike eine Doppelkonnotation erfuhr: Wurde es im Altlateinischen in das Wortfeld spec-ies, spec-ulum, spec-tus eingeordnet, das sich vom Verbum spec-io: schauen, spähen ableitet, erscheint es bereits bei Homer und im attischen Drama im Sinne von eidolon als substanzlose, unwirkliche Erscheinung, als Schein- oder Trugbild; oft bezeichnete es die in der Finsternis auftauchenden Schatten der Toten. Beschreibt spectrum einerseits den aktiven Vorgang des Sehens und Erkennens, taucht es in den Wörterbüchern des 16. Jahrhunderts vorrangig im Sinne von Phantasma, Schreckgespenst und Totenerscheinung auf – als etwas Irreales also. Als wissenschaftlicher Fachbegriff der Optik hingegen wurde das Wort erst durch Newtons New Theory und Opticks verbreitet, in denen er das farbige längliche Lichtbild und auch das kreisrunde ungefärbte Sonnenbild der Camera obscura als spectrum bezeichnet. Heute wird der Begriff für eine geordnete Folge prismatisch erzeugter Farben verwendet.134 ­Goethe benutzte das Wort Gespenst nachweislich nicht für das prismatische Farbenspektrum, sondern nur für die physiologischen Farben.135 Seine besondere Kritik erregte die in Brandis’ Übersetzung von Darwins Schrift vorgenommene Interpretation von der Trughaftigkeit der Sinne: „Das Wort Augentäuschungen, welches der sonst so verdienstvolle Übersetzer der Darwinischen Zoonomie dafür gebraucht hat, wünschten wir ein für allemal verbannt. Das Auge täuscht sich nicht; es handelt gesetzlich und macht dadurch dasjenige zur Realität, was man zwar dem Worte, aber nicht dem Wesen nach ein Gespenst zu nennen berechtigt ist.“ 136

Ihr Realitätsgehalt ist an sich nicht fassbar, sondern nur in der Gesetzmäßigkeit der vom Auge erzeugten Komplementärfarben, die nach G ­ oethe allein Beweis ihres realen Vorhandenseins ist. Mit diesem Ansatz lässt ­Goethe die Dualität zwischen Sein und Scheinhaftem der Farben obsolet werden, wird das bisher als trügerisch Eingestufte selbst zur Wahrheit. G ­ oethe kritisiert Darwins pathologische Interpretation der vom 134 Für das farbige Lichtbild verwendete Newton das Wort erstmalig in seiner Zuschrift vom 6. Februar 1672 an die Royal Society. Der Text wurde in den Philosophical Transactions VI (1671/72), S. 3075 ff. publiziert. Vgl. Puelma, Mario, Spectrum. Probleme einer Wortgeschichte, vom Altertum zur Neuzeit, in: Museum Helveticum: Schweizerische Zeitschrift für klassische Altertumswissenschaft 42 (1985), S. 205 – 244, hier S. 239 und S. 212 – 230; vgl. Newton, New Theory about Light and Colors, zit. nach Lohne / Sticker, Newtons Theorie der Prismenfarben, a. a. O., S. 35. 135 Wie John Hennig analysierte, interpretierte G ­ oethe Newtons Begriff spectrum im Deutschen auf unterschiedliche Weise: In Newtons Brief an die Royal Society vom 6. Februar 1672 übersetzte er es mit Gespenst bzw. sogenanntes Gespenst, image wiederum mit spectrum. Im polemischen Teil der Farbenlehre verwendet er für spectrum Schattenlicht und Halbfinsternis (§ 25), Gespenst (§ 28), Erscheinung (§ 108), Bild (§ 256) und Spectrum (§§ 510, 512, 565). Vgl. Hennig, John, Zu G ­ oethes Gebrauch des Wortes „Gespenst“, in: ders., Literatur und Existenz. Ausgewählte Aufsätze, Heidelberg 1980, S.  487 – 496, hier S.  488 – 489. 136 LA I.6, S. 388 (Farbenlehre, Historischer Teil).

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Auge erzeugten Farben, die er auf dessen Beruf des Arztes zurückführt. Nicht ganz unbescheiden empfiehlt er, die Abteilung der Physiologischen Farben seiner Lehre dagegenzuhalten, in denen er die erkannten Gesetzmäßigkeiten als dem gesunden Auge zugehörig definiert. Während im erkenntnistheoretischen Modell der Camera obscura der mensch­liche Körper nur eine untergeordnete Bedeutung erhält, avanciert er bei ­Goethe zum aktiven Erzeuger der Farben.137 Das Auge fungiert nicht mehr als bloßes Transportmittel äußerer Eindrücke ins Körperinnere, sondern auch als aktives Produktionsmedium der chromatischen Phänomene.138 Die visuelle Wahrnehmung erfolgt nicht mehr repräsentationslogisch wie bei Descartes und Kepler „durch das Gemälde des gesehenen Gegenstandes auf der weißen und hohlen Wand der Netzhaut“,139 sondern durch ihre aktive Mitwirkung, die den Wahrnehmungsvorgang entscheidend prägt. Diesen Vorgang erklärt G ­ oethe anschaulich an der simultanen Erzeugung der Komplementärfarben: „Malt sich auf einem Teile der Netzhaut ein farbiges Bild, so findet sich der übrige Teil sogleich in einer Disposition, die bemerkten korrespondierenden Farben hervorzubringen.“ 140 Obwohl die Netzhaut an der dunkelsten Stelle des Auges agiert, ist sie von all seinen Bestandteilen für das Licht am empfänglichsten. Hat ­Goethe diese Wahrnehmungskonstellation – entgegen Dieter Käfers Behauptung 141 – nie auf sein physikalisches

137 Vgl. hierzu besonders das Kapitel 3: Subjektives Sehen und die Trennung der Sinne in: Crary, Techniken des Betrachters, a. a. O., S. 75 – 102. 138 In diesem Sinne hat die Netzhaut nach G ­ oethe eine wesentlich „produktivere“ Funktion als bloße „Membrane, die zwischen Sinnenwelt und Körper vermittelt“, zu sein, wie von Aleida Assmann behauptet. Vgl. Assmann, Aleida, Auge und Ohr. Bemerkungen zur Kulturgeschichte der Sinne in der Neuzeit, in: Agus, R. E. / Assmann, Jan (Hg.), Ocular Desire = Sehnsucht des Auges, Berlin 1994, S. 142 – 160, hier S. 157. 139 Kepler, Johannes, Der Vorgang des Sehens, in: Konersmann, Ralf (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 105 – 115, hier S. 108. Descartes’ mechanistisch gedachte Repräsentationskette erstreckt sich vom äußeren Objekt über das Bild im Auge, das wiederum eine „vorhersehbare“ Bewegung über die Nervenbahnen im Gehirn auslöst. Diese führt zu einer bestimmten Empfindung in der Seele. Der cartesianische Repräsentationsmechanismus kann durch die in ihm vorhandene Figur der Stellvertretung dem klassischen Zeitalter nach Foucault zugeordnet werden. Vgl. Borgards, Roland, Die Wissenschaft vom Auge und die Kunst des Sehens. Von Descartes zu Soemmerring, von Lessing zu A. W. Schlegel, in: Lange, Thomas / Neumeyer, Harald (Hg.), Kunst und Wissenschaft um 1800, Würzburg 2000, S. 39 – 61, hier S. 42. Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 78 – 113. 140 LA I.4, § 56, S. 40 – 41 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 141 Dieter Käfer postuliert, dass G ­ oethe die gesamte Farbenlehre aus dem Urphänomen ableitet. Vgl. Käfer, Methodenprobleme und ihre Behandlung, a. a. O., S. 48. Auch Ralph Köhnens wenig differenzierte Analyse der physiologischen und physikalischen Farben unter der gemeinsamen Kapitelüberschrift Physiologische Beobachtungen berücksichtigt die Eigengesetzlichkeiten beider Farbent­ stehungsarten nicht. Vgl. Köhnen, Ralph, Das optische Wissen. Mediologische Studien zu einer Geschichte des Sehens, München 2009, S. 344 – 346.

3.3  Das Auge als Medium der Welterfahrung

Urphänomen bezogen, baut er jedoch die Abteilung der Physiologischen Farben 142 auf dem Strukturprinzip seiner physikalischen Farbentheorie auf, schlägt sich die physikalische Konstellation in der Gliederung des Diskurses nieder: ­Goethe beschreibt sukzessive die Wirkungen von Licht und Finsternis, Hell und Dunkel, des Grauen und des blendenden Lichts, bevor er zu den farbigen Bildern und Schatten sowie weiteren Farbphänomenen übergeht. Aus diesem Grunde ist Crarys Behauptung einer „unsystematischen Sammlung von Thesen und Ergebnissen“ in ­Goethes Abteilung der Physiologischen Farben nicht nachvollziehbar.143 In zahlreichen Versuchen mit Nachbildern und simultan auf einen Reiz erzeugten Farben stellt G ­ oethe die physiologische Aktivität des Auges vor. Das Auge als Ort einer gesetzmäßig geordneten Versammlung selbst produzierter und perzipierter äußerer Farben hatte er bereits in einer 1805/1806 verfassten Vorarbeit in der Metapher eines Doppelspiegels, in dem „von außen die Welt, von innen der Mensch“ 144 reflektiert wird, beschrieben. Mit dieser Metapher verweist ­Goethe über die bloße Sichtbarkeit der physiologisch bedingten Erscheinungen hinaus auf verschiedene Merkmale seines Wahrnehmungsmodells, die nach folgender kurzer Aufzählung ausführlicher vorgestellt werden sollen: Wie die Metapher der doppelten Spiegel nahelegt, betrachtet ­Goethe den Wahrnehmungsvorgang erstens nicht als einen ausschließlich subjektiv ausgerichteten Prozess. Die Farbenproduktion des Auges zeigt sich in seinem Konzept immer als ein Zusammenwirken innerer und äußerer Kräfte. Jede gesunde physiologische Farbe wird bei ­Goethe – anders als später bei J. E. Purkinje und Johannes Müller, die den Sehvorgang ausschließlich an den Körper binden – durch einen äußeren Reiz erzeugt. Verbindet zweitens die Netzhaut physiologisch erzeugte und Außenfarben auf einer sichtbaren Affektebene, dient sie in einem Körpermodell, das diesen als ein aus Nerven bestehendes Netzwerk begreift, zugleich als Grenze gegen die Umgebung. Wie Spiegel ihre Funktionsweise verbergen und sie lediglich durch die Bilder ihrer Oberfläche zeigen, beachtet ­Goethe drittens die eigentlichen Prozesse im Körperinneren nicht. Sowohl die nervlich bedingten Aktivitäten als auch die körperinternen Kräfte zeigt er lediglich an den Visualisierungen der Farben, wofür er auf erkenntnistheoretische Anleihen aus der von ihm entwickelten Methode der genetischen Morphologie zurückgreift. Viertens entwerten Spiegelbilder den äußeren objektiven Raum. Indem sie nicht dort 142 Ob ­Goethe der Urheber des Begriffs der physiologischen Farben ist, steht nicht mit Sicherheit fest. Sprach er noch im Brief vom 17. August 1795 an Soemmerring von „Farben-Erscheinungen, die man blos physiologisch nennen kann“, verwendete er den Begriff der physiologischen Farben erstmalig in der Vorarbeit Das Allgemeinste über Farben, deren Entstehung jedoch nicht eindeutig datierbar ist. Vgl. ­Goethe an Samuel Thomas Soemmerring am 17. August 1795, in: ­Goethe und Soemmerring. Briefwechsel, a. a. O., S. 94. 143 Vgl. Crary, Techniken des Betrachters, a. a. O., S. 77. 144 LA I.3, S. 437 (Das Auge).

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erscheinen, wo sie entstehen – hinter der Oberfläche des Spiegels – demonstrieren sie, dass auch dessen geometrale Konstruktion nicht frei von Trughaftigkeit ist. Das sta­ tische, raumabhängige Farbenspektrum der Camera obscura ersetzt G ­ oethe durch das Entstehen und Vergehen der Nachbild-, aber auch der simultan vom Auge erzeugten Farben, so dass das Sehen ortlos wird. Bereits vor ­Goethes Beschäftigung mit den physiologischen Farben wurde das mechanistische Abbildmodell, das die Funktion des Auges analog zur Camera obscura dachte, durch die empirische Erschließung des menschlichen Körpers in starkem Maße entwertet. Die Entdeckung des blinden und über 100 Jahre später des gelben Flecks, welche die Stelle des absoluten Nicht- und des schärfsten Sehens auf der Netzhaut bezeichnen, störte die „Reinheit“ und anatomische Kontinuität einer passiv gedachten Retina empfindlich.145 Entscheidend zu Fall gebracht aber wurde das Repräsentationsmodell des Sehens durch die Entdeckung der Nervenaktivität, die das Forscherinteresse auf das körperliche Eigenleben der Wahrnehmung bzw. das körperumfassende Netzwerk der Nerven lenkte. Den wohl wichtigsten Beitrag zu dieser Entwicklung leistete der Schweizer Universalgelehrte Albrecht von Haller in seinem Werk Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers, das 1753 erschien. Zuvor hatte bereits der Animismus des Mediziners Georg Ernst Stahl der mechanistischen Theorie einen entscheidenden Schlag versetzt.146 Haller definierte zwei Basiskräfte des Lebendigen, die nach unterschiedlichen Prinzipien wirken: Als irritabel bzw. reizbar bezeichnete er „denjenigen Teil des menschlichen Körpers, welcher durch ein Berühren von außen kürzer wird“, eine Eigenschaft, die auf die Muskelfasern zutrifft, die sich nach einem äußeren Reiz bewegen. Sensibel bzw. empfindlich ist hingegen der Körperteil, der auf einen Reiz hin „offenbare Zeichen eines Schmerzes oder einer Unruhe zu erkennen gibt“. Diese Teile sind die Nerven.147 Haller machte die Besonderheiten von Irritabilität und Sensibilität 145 Nachweislich wurde der blinde Fleck bereits 1666 von Edme Mariotte entdeckt, die Entdeckung des gelben Flecks ist umstritten. Der italienische Mediziner Francesco Buzzi wurde bereits 1782 auf ihn aufmerksam, beschrieb ihn aber nicht so detailliert wie Soemmerring, der ihn 14 Jahre später analysierte. Vgl. Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit. Zur Sprengung des mechanistischen Abbildmodells des Auges um 1800 vgl. Borgards, Die Wissenschaft vom Auge und die Kunst des Sehens, a. a. O., S.  39 – 61, besonders S.  45 – 51. 146 In der Theoria medica vera aus dem Jahre 1708 beschrieb Stahl die Organfunktionen im Speziellen und die körperbildenden, –erhaltenden und –heilenden Kräfte im Allgemeinen als Wirkungen einer aktiven und autonomen Seele, womit er das bisher geltende mechanistische Wahrnehmungsmodell einer Innen-Außen-Kette durchbrach. Die Seele erklärte er, anders als den empirisch ausgedehnten Körper, als immaterielle Entität. Obwohl er sich gegen Descartes mechanistisches Körpermodell stellte, behielt Stahl in seiner Erklärung die in dessen Konzept herrschenden spekulativen Elemente bei. Vgl. Mocek, Reinhard, Der Vitalismus Georg Ernst Stahls – die Ankündigung eines neuen Paradigmas, in: Kaiser, W. / Hübner, H. (Hg.), Hallesche Physiologie im Werden, Halle 1981, S. 25 – 30, hier S. 27. 147 Beide Zitate Haller, Albrecht von, Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers, hg. v. Karl Sudhoff, Leipzig 1922, S. 14.

3.3  Das Auge als Medium der Welterfahrung

nicht wie Descartes von äußeren Wirkungen und nicht wie Stahl von einer immateriellen Seele, sondern ausschließlich von der Spezifik der Organstrukturen selbst abhängig.148 Fortan wurde das Nervensystem in einem sich organologisch ausdifferenzierenden Körper zur primären Kommunikationsinstanz und zum Leitungsnetzwerk eines je nach Autorenmeinung materiellen oder immateriellen Nervenstroms.149 Das damit verbundene Körpermodell einer dynamischen Selbstregulierung dachte die menschliche Physis endgültig als von den äußeren Objekten abgegrenzt, da das gereizte Nervensystem die Außeneinwirkungen aus eigenem Potential veränderte. Mit der Durchsetzung des neuralen Körpermodells wandelte sich auch das Konzept für die Funktionsweise des Sehorgans. Dieses fungierte nicht mehr als „transitorische Durchlaßstelle für Bilder“, sondern nahm die Eindrücke nur im Medium der neuralen Brechung auf.150 Auch in G ­ oethes Konzept der physiologischen Farben spielt die Nerventätigkeit eine entscheidende Rolle. G ­ oethe spricht von „erregte[r] Farbe“,151 und bereits in der ersten, noch physikalisch ausgerichteten Vorarbeit sind ihm die „Reize der Farben, welche über die ganze sichtbare Natur ausgebreitet sind“ 152 wohl bewusst. Dieses Modell, in dem ­Goethe Leben und Reiz engführt, legt Parallelen zum Konzept des schottischen Arztes John Brown nahe, der das Phänomen des Lebens als ständige Erregung, als Spannungszustand und Ungleichgewicht betrachtete.153 Im Gegensatz zu Haller ging Brown nicht von den zwei getrennten Kräften der Irritabilität und der Sensibilität aus, sondern postulierte ein für den gesamten Organismus geltendes Potential: die Erregbarkeit (excitability), der er die Potenzen (powers) als erregende Kräfte gegenüberstellte, die z. B. als Wärme und Nahrung aus der Umgebung oder Muskeltätigkeit und Denkkraft im Körperinneren auftreten. Die Ursachen der Erregbarkeit sind nach Brown unbekannt. Dieses Potential setzt er als „gewisse Quantität oder Energie“ voraus, die jeder Organismus zu Lebensbeginn erhält und die je nach körperlicher Konstitution und Lebensalter verschieden ausfällt.154

148 Vgl. ebd., S. 33. 149 Vgl. Rothschuh, Karl E., Vom Spiritus animalis zum Nervenaktionsstrom, in: CIBA-Zeitschrift 89, Bd. 8 (1958), S. 2950 – 2978. Die Entdeckung eines sich selbst regulierenden Nervennetzes und der Entwurf vitalistischer Theorien, von denen einige weiter unten vorgestellt werden, trugen Ende des 18. Jahrhunderts federführend zur Entwicklung der Biologie als eigenständiger Wissenschaft vom Leben bei. Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 329. 150 Vgl. Koschorke, Albrecht, Poiesis des Leibes. Johann Christian Reils romantische Medizin, in: Brandstetter, Gabriele / Neumann, Gerhard (Hg.), Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg 2004, S. 259 – 272, hier S. 259 – 263 sowie ders., Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 2003, S. 366 – 370, Zitat S. 367. 151 LA I.4, § 67, S. 44 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 152 LA I.3, § 1, S. 6 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück). 153 Vgl. Brown, John, System der Heilkunde, Kopenhagen 1796, S. 3. 154 Vgl. ebd., S. 5. Die Erregbarkeit und die Potenzen sind nach Brown die Charakteristika des Lebendigen: „Mit dem Aufhören entweder der Eigenschaft, welche die lebendige von der todten Materie

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Steht bei ­Goethe die durch die Farbe erzeugte Erregung und umgekehrt die erregte Farbe für das gespürte Leben selbst, betrachtet er dieses im Gegensatz zu Brown nicht als Ungleichgewicht: Deuten auch bei G ­ oethe die durch einen Außenreiz erzeugten physiologischen Farben schlicht auf „die Lebendigkeit der Netzhaut“ 155 selbst, zeigt sein Wahrnehmungskonzept ein Reiz-Reaktions-Modell, das von einem homöostatischen Ideal geprägt ist. Es kennt weder Mangel noch Überfluss.156 Der Gesichtssinn gleicht einen äußeren Reiz mit einem eigenaktiv erzeugten Simultan- oder Nachbild aus: „Das Auge kann und mag nicht einen Moment in einem besondern, in einem durch das Objekt spezifizierten Zustande identisch verharren. Es ist vielmehr zu einer Art von Opposition genötigt, die, indem sie das Extrem dem Extreme, das Mittlere dem Mittleren entgegensetzt, sogleich das Entgegengesetzte verbindet und in der Sukzession sowohl als in der Gleichzeitigkeit und Gleichörtlichkeit nach einem Ganzen strebt.“ 157

Anders als bei Brown erfolgt die gesunde physiologische Farberzeugung in G ­ oethes Theorie ausschließlich auf einen äußeren Reiz hin, auf den das Auge mit selbst hervorgebrachten Phänomenen antwortet. Dieses Modell untermauert ­Goethe, indem er für die äußere Natur ein Defizit postuliert: Sie allein kann keine Farbentotalität produzieren.158 In der mit der Umwelt sinnlich korrespondierenden Netzhaut wird jede Reflexion der Welt zugleich zur Selbstreflexion des betrachtenden Subjekts, verweist die Metapher des Doppelspiegels auf die sich in den Phänomenen explizierenden Naturgesetze. Spiegelbilder sind nach Umberto Eco keine arbiträren Zeichen, weil ihr Präsenzcharakter eine Vermittlung zwischen Objekt und Bild obsolet werden lässt.159 Dieser Präsenzcharakter ist in ­Goethes Konzept naturphilosophisch geprägt, so dass das Zusammenspiel von Gesichtssinn und Umwelt erkenntnisfördernd wirkt. In diesem Kontext scheint allerdings ein Widerspruch auf: Konstituiert G ­ oethe einerseits das Auge in einem organismischen Modell als Hauptkommunikationsorgan eines in die Natur eingebundenen Menschen, spricht er dem Gesichtssinn andererseits das unterscheidet, oder der Wirkung einer von beiden Kräften von Potenzen (powers) hört auch das Leben auf. Ausser diesen ist sonst nichts zum Leben nöthig.“ Ebd., S. 3 – 4. 155 LA I.4, § 48, S. 37 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). Goethe hatte Browns Original Elementa ­medicinae (1780), das später in der deutschen Übersetzung unter dem Titel System der Heilkunde erschien, 1802 rezipiert. Er fand es schwer verständlich. Vgl. Goethe an Friedrich Schiller am 19. März 1802, in: Briefwechsel Schiller Goethe a. a. O., S. 948 – 949. 156 Zum ökonomischen Prinzip der Homöostase vgl. besonders die Habilitationsschrift von Vogl, Joseph, Kalkül und Leidenschaft, a. a. O., München 2002. 157 LA I.4, § 33, S. 32 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 158 Nach ­Goethes Ansicht weist nicht einmal der Regenbogen alle Farben auf, da diesem das Purpur fehlt. Vgl. ebd., §§ 814 und 815, S. 234 – 235. 159 Eco, Umberto, Über Spiegel, in: ders., Über Spiegel und andere Phänomene, München / Wien 1998, S. 26 – 61, hier S. 46.

3.3  Das Auge als Medium der Welterfahrung

a­ lleinige Potential zur Schaffung eines psychologisch-harmonischen Gleichgewichts zu und apostrophiert damit die disponierte Stellung des Menschen in der Natur. Das Auge „setzt sich selbst in Freiheit, indem es den Gegensatz des ihm aufgedrungenen Einzelnen und somit eine befriedigende Ganzheit hervorbringt“.160 Sprengt ­Goethe mit seiner Wahrnehmungstheorie des aktiven, farbenproduzierenden Auges das klassische Abbildmodell der Camera obscura,161 kann an dieser Stelle jedoch keineswegs von einem generellen Obsoletwerden der ikonischen Referentialität gesprochen werden, sondern lediglich von einer Änderung ihrer Struktur. In ­Goethes Ansatz spielt zwar die mimetische Repräsentation nicht mehr die geringste Rolle, wohl aber existiert stets eine Referenz der physiologischen Farben zu den sie erzeugenden Reizen der Außenwelt – sei es als Blendungslicht oder als kolorierte Vorlage, welche die physiologische Farbenproduktion induziert.162 Entscheidend ist hier nicht mehr das formgetreue Abbild, sondern stets eine qualitative Differenz zwischen Außenreiz und subjektiv erzeugtem Bild – eine Differenz, die sich besonders anschaulich in den simultan und sukzessiv erzeugten Komplementärfarbenpaaren Gelb – Violett, Blau – Orange und Rot – Grün zeigt. In diesen Gruppierungen manifestiert sich aus ­Goethes Sicht das naturphilosophische Polaritätsprinzip, das er unterschiedlichen Phänomenen zuschreibt. Die im epistemologischen Zusammenspiel von subjektiven und objektiven Anteilen bei der physiologischen Farberzeugung noch erkennbaren chromatischen Einzelerscheinungen, ihre phänomenalen Differenzen bezeichnet G ­ oethe als Basis für die Vollendung einer subjektbezogenen 163 Harmonie. Das Zusammenwirken der inneren und äußeren Farben selbst beschreibt er seinem holistischen Naturdenken gemäß mit dem Prinzip der Totalität.164 ­Goethes Konzept von Totalität und homöostatischen Farballianzen weist ihn als Vertreter der klassizistischen Kunsttheorie aus, die u. a. durch Symmetrien, die Erkennbarkeit der Einzelelemente und das Streben nach Vollendung auf der Basis einer inneren Gesetzlichkeit gekennzeichnet ist.165 Auf diese Weise erscheint die Ästhetik hier

160 LA I.4, § 812, S. 234 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 161 Vgl. Crary, Techniken des Betrachters, a. a. O., S. 76. 162 In diesem Kontext von „physiologische[n] Simulakra“ zu sprechen, wie Stefan Börnchen dies tut, lässt die realen Bedingungen der physiologischen Farberzeugung vollkommen unberücksichtigt. Es handelt sich in G ­ oethes Theorie keineswegs, wie Börnchen behauptet, um ein endloses Wuchern der Referenten fern jeglicher Wirklichkeit wie in Baudrillards Konzept des Simulakrums, sondern um einen je nach Kontext stets neu geschlossenen Bezug des Betrachterauges zur äußeren Realität. Vgl. Börnchen, Stefan, „Freunde, flieht die dunkle Kammer!“ Zur epistemologischen Metapher der black box: ­Goethe, Luhmann, THE MATRIX, in: ­Goethe (= Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 29), hg. v. Wolfram Mauser / Joachim Pfeiffer / Carl Pietzcker, Würzburg 2010, S. 289 – 313, hier S. 309. 163 Vgl. LA I.4, § 61, S. 42 – 43 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 164 Vgl. ebd., §§ 805 und 808, S. 233. 165 Vgl. Voßkamp, Wilhelm, Klassisch / Klassik / Klassizismus, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. 3: Harmonie – Material,

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wie in den physikalischen Bildern in ihrer doppelten Bedeutung als Wahrnehmungsund als Kunsttheorie. G ­ oethe war zwar der Erste, der explizit die psychologischen Wirkungen der Farbharmonien untersuchte, er war jedoch nicht der Erste, der diese Harmonien überhaupt reflektierte. Wie in Kapitel 3.2.4 bereits angesprochen, zählten die Kenntnisse einer harmonischen Farbordnung seit Jahrhunderten zum intuitiven Wissen der Maler, welche die im späten 18. Jahrhundert physiologisch legitimierten Komplementärfarben schon längst als kombinierte Pigmentfarben auf ihre Leinwände gesetzt hatten. Allein das homöostatische Verhältnis zwischen Mensch und Natur definiert ­Goethe als gesund,166 all jene Wahrnehmungsprozesse, in denen eine Disparität zwischen beiden vorherrscht, beschreibt er im Kapitel der Pathologischen Farben als krank: sei es durch extreme Außenreize wie die Lichtblendung, sei es durch ausschließlich subjektive Auslöser wie eine getrübte Kristalllinse. Die kranke Kristalllinse kann exemplarisch für die Entwertung des Raums betrachtet werden, die G ­ oethe nicht nur im trüben Mittel der physikalischen Versuche betreibt, sondern auch in seiner Beschreibung der physiologischen Farben. Trotz guter Kenntnisse der gesamten Anatomie des Auges beachtet er die Funktion der Linse kaum, die für die Akkommodation und damit für die Raumwahrnehmung verantwortlich ist. Das „Organ des Sehens überhaupt“ verkürzt ­Goethe auf die Retina, die er zum kardinalen Ort des „Gewahrwerdens der Farben“ und der visuellen Wahrnehmung erhebt.167 Indem G ­ oethe die Netzhaut als Leinwand konzipiert, auf die sich die Bilder der Außenwelt und des Körperinneren gleichermaßen malen, negiert er den geometrisch-optischen Raum zwischen Subjekt und äußerer Farbvorlage. Der in der klassischen Zentralperspektive singuläre geometrale Blickpunkt des Subjekts wird auf diese Weise durch ein differentes farbiges Gemälde ersetzt,168 das nicht nur als Produkt eines

Stuttgart / Weimar 2001, S. 289 – 305, hier S. 296. 166 Zu den unterschiedlichen Bedeutungen, die ­Goethe dem Begriff gesund gab, vgl. Hager, Gertrud, Gesund bei G ­ oethe. Eine Wortmonographie, Berlin 1955, besonders S. 10 – 12. Als gesund fasst ­Goethe neben der Harmonie, dem Einklang des Menschen mit sich und der Welt auch „das richtige Reagieren auf äußere Anstöße“, „das Sich-Wieder-Herstellen in der lebendigen Entwicklung“ auf. ­Goethe zit. n. ebd., S. 11. Der beiden Aussagen implizite Gedanke des Prozessualen bzw. einer Entwicklung verweist auf die gesteigerte Bedeutung der Physiologie um 1800. Das ausgewogene Subjekt-Objekt-Verhältnis nutzt ­Goethe auch im Bereich der Kunst, um das Romantische durch metaphorischen Vergleich mit der Definition des Gesunden zu kritisieren. Die romantische Kunst begreift er deshalb als pathologisch, weil sie das Subjektive überbetont: „Classisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke.“ WA II,42ii, S. 109 – 260, hier S. 246 (Maximen und Reflexionen). 167 LA I.3, S. 436 (Das Auge). 168 Diese Interpretation erfolgte in Anlehnung an Lacan, Jacques, Vom Blick als Objekt klein a, in: ders., Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XI, Berlin 1980, S. 71 – 126, hier S. 100. Nach Lacan lässt die geometrische Perspektive, die ausschließlich auf den Raum verweist, den Vorgang des Sehens unberücksichtigt.

3.3  Das Auge als Medium der Welterfahrung

neuralen Reiz-Reaktions-Modells erscheint, sondern zugleich als ein Feld von Kraftund Energiewirkungen.169 In diesem greifen äußere Farbvorlage und subjektiv erzeugte Phänomene untrennbar ineinander. Ihre Sichtbarkeiten entziehen sich jeglicher klaren Zuordnung zum Körperinneren und zur äußeren Umgebung, so dass die unterschiedlichen Farben gleichberechtigt neben-, nach- und ineinander agieren. Gilt hier einmal mehr Deleuzes Konzept der Sensation,170 verbildlicht sich die Aktivität der Wahrnehmung selbst als farbiger Vorgang. Indem die Netzhaut ihre Tätigkeit unabhängig von jeglichen Raumkoordinaten aufnimmt und ein topologisch nicht zuordenbares Bild erzeugt, wird die physiologische Farbe bei ­Goethe atopisch. Die räumlichen Effekte verlegt er in die Farben selbst und lässt damit die hierarchische Einteilung der primären und sekundären Qualitäten obsolet werden. Er bescheinigt beispielsweise dem Gelb eine anziehende, dem Blau hingegen eine distanzerzeugende Wirkung.171 ­Goethe bedient sich eines doppelten Konzepts der Raumentwertung. Er versucht nicht nur, den äußeren Raum zu negieren, sondern berücksichtigt auch die Prozesse im Körperinneren nicht. Finden sich noch in der Vorarbeit Das Auge anatomische Skizzen (bezeichnenderweise) zur Retina,172 erscheint diese zwar in der Farbenlehre als reizbarer und gereizter Produktions- und Projektionsort der Farbe, lässt G ­ oethe die Frage nach der Funktion des Auges als physiologisch-medialer Instanz zwischen Mensch und Natur offen – anders als beispielsweise Thomas Young. Dieser hatte bereits 1802, acht Jahre vor Erscheinen der Farbenlehre, die Empfindung der drei von ihm definierten Hauptfarben Rot, Grün und Violett als Resultat unterschiedlicher Wellenlängen des Lichts erklärt. Der Mensch könne diese – so Young – nur unterscheiden, da die Netzhaut drei den Hauptfarben entsprechende Rezeptorenarten besitze, die je nach Wellenlänge unterschiedlich affiziert würden.173 Wie beim physikalischen Urphänomen, das ­Goethe als abstraktes Gesetz selbst in den phänomenalen Bereich verlegt, sucht er bei den physiologischen Farben nicht nach ihren unsichtbaren Entstehungsursachen, sondern belässt das Leben selbst im 169 Vgl. beispielsweise LA I.4, § 24, S. 30 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 170 Vgl. Kapitel 2.4 dieser Arbeit. 171 Vgl. LA I.4, § 769, S. 226 und § 780, S. 229 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). Hinter dieser Zuschreibung verbirgt sich die lange vor G ­ oethe von den Malern praktizierte Einteilung der Farben in warme und kalte. Diese Differenzierung basiert auf der ästhetischen Wirkung der Farben. 172 Vgl. LA I.3, S. 436 (Das Auge). 173 Vgl. Young, Thomas, On the Theory of Light and Colours, zit. n. Hirschberg, Geschichte der Augenheilkunde, Bd. II, a. a. O., S. 63. Dieser nach späterer Ausarbeitung durch Helmholtz heute als Young-Helmholtzsche Drei-Rezeptoren-Theorie bekannte Ansatz geht davon aus, dass die Netzhaut drei verschiedene Arten von Zapfen mit unterschiedlichen spektralen Empfindlichkeiten enthält. Diese Empfindlichkeiten entstehen durch visuelle Pigmente mit verschiedenen Absorptionseigenschaften, so dass es spezielle Zapfenarten für die Wahrnehmung des kurz-, mittel- und langwelligen Lichtbereichs gibt. Die Farbempfindungen sind vom Erregungsverhältnis dieser drei Zapfenarten abhängig.

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Verborgenen. Er thematisiert in der Farbenlehre weder die empirische Tätigkeit der Nerven, noch die physiologischen Funktionen des Sehorgans. Als deren ausschließ­ lichen Indikator betrachtet er einzig und allein die farbigen Erscheinungen des Auges, ohne ihr Verhältnis zum Körperinneren näher zu beschreiben. Auf das neurale Selbstregulierungsmodell des Körpers verweist die allein dem Gesichtssinn zugesprochene Fähigkeit zur Vollendung der Komplementärfarbenpaare, die sich in den physiologischen Bildern visualisiert. Jene Eigenaktivität des Auges unterstreicht ­Goethe in dem für die Farbenlehre ausgearbeiteten Konzept der doppelten Bilder, das bereits in Kapitel 2.4 vorgestellt wurde. Er bezieht diesen Entwurf im Diskurs der physiologischen Farben ausschließlich auf die sukzessiv erzeugten Nachbilder, nicht aber auf die simultan hervorgebrachten Phänomene. G ­ oethe teilt die doppelten physiologischen Bilder in ursprüngliche, durch einen äußeren Gegenstand erzeugte Bilder im Auge und in abgeleitete ein, die erst produziert werden, wenn das äußere Objekt entfernt wurde.174 Auf diese Weise betont er, dass das Sehen auch bei geschlossenen Augen stattfinden kann. Mit der Herausstellung dieser kinetischen Erscheinungen gelingt es ihm ebenso, die Wirkungen von Kräften zu verdeutlichen, die auf den physiologischen Vorgang des Sehens selbst verweisen. Beschreiben Buffon und R. W. Darwin ähnliche Experimente wie ­Goethe, hat um 1800 wohl niemand den prozessualen Charakter der physiologischen Erscheinungen so ästhetisch-anschaulich aufgezeigt wie dieser: „In einem Zimmer, das möglichst verdunkelt worden, habe man im Laden eine runde Öffnung, etwa drei Zoll im Durchmesser, die man nach Belieben auf- und zudecken kann; durch selbige lasse man die Sonne auf ein weißes Papier scheinen und sehe in einiger Entfernung starr das erleuchtete Rund an; man schließe darauf die Öffnung und blicke nach dem dunkelsten Orte des Zimmers, so wird man eine runde Erscheinung vor sich schweben sehen. Die Mitte des Kreises wird man hell, farblos, einigermaßen gelb sehen, der Rand aber wird sogleich purpurfarben erscheinen. Es dauert eine Zeit lang, bis diese Purpurfarbe von außen herein den ganzen Kreis zudeckt und endlich den hellen Mittelpunkt völlig vertreibt. Kaum erscheint aber das ganze Rund purpurfarben, so fängt der Rand an, blau zu werden, das Blaue verdrängt nach und nach hereinwärts den Purpur. Ist die Erscheinung vollkommen blau, so wird der Rand dunkel und unfärbig. Es währet lange, bis der unfärbige Rand völlig das Blaue vertreibt und der ganze Raum unfärbig wird. Das Bild nimmt sodann nach und nach ab, und zwar dergestalt, daß es zugleich schwächer und kleiner wird. Hier sehen wir abermals, wie sich die Netzhaut durch eine Sukzession von Schwingungen gegen den gewaltsamen äußern Eindruck nach und nach wiederherstellt.“ 175

174 Vgl. LA I.4, § 221, S. 83 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 175 Ebd., § 40, S. 34 – 35.

3.3  Das Auge als Medium der Welterfahrung

Im Gegensatz zu Newtons statischen, an die Strahlentheorie des Raums gebundenen Camera-obscura-Bildern steht die von G ­ oethe betonte Zeitlichkeit der Bilder für das Entstehen, Verwandeln und Vergehen des Lebens selbst. Der in diesem frühen „Farbfilm“ veranschaulichte Entwicklungsgedanke von Kräften lässt ­Goethes intensive Beschäftigung mit dem Konzept des Vitalismus erkennen, das Ende des 18. Jahrhunderts seine Blütezeit erlebte. Unter den von G ­ oethe rezipierten einschlägigen Werken befanden sich Wolffs Theoria generationis, Blumenbachs Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte, Brandis’ Versuch über die Lebenskraft und Reils Von der Lebenskraft, Hufelands Ideen über Pathogenie und Kielmeyers Ueber die Verhältniße der organischen Kräfte unter einander.176 Wie in Kapitel 2.2 vorgestellt, erklärte die vitalistische Theorie das Prinzip des Lebens nach organischen Bildungs- und Erhaltungsprinzipien, die durch eine Lebenskraft geregelt werden. Als Prinzip der Generation vermutete der Physiologe Caspar F ­ riedrich Wolff in seinem bahnbrechenden Werk Theoria generationis (1759) eine wesentliche Kraft, von ihm als vis essentialis bezeichnet, deren Verhältnis zu der zu gestaltenden Materie er allerdings offen ließ. Nach Wolff schlägt sich die innere Gesetzmäßigkeit jener in der Vielfalt der äußeren Formen nieder.177 Einige der von ­Goethe rezipierten Forscher orientierten sich an Kant, der die Teile und das Ganze eines Organismus als in sich zweckmäßiges wechselseitiges Kausalverhältnis definierte, dessen Materien durch eine bildende Kraft organisiert werden.178 Zu diesen Vitalisten zählte neben Johann Christian Reil 179 und Carl Friedrich K ­ ielmeyer 180 176 Vgl. Wolff, Theoria generationis, a. a. O. Vgl. Blumenbach, Johann Friedrich, Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte, Göttingen 1781. Vgl. Brandis, J. D., Versuch über die Lebenskraft, Hannover 1795. Vgl. Reil, Johann Christian, Von der Lebenskraft, Leipzig 1795. Vgl. ­Hufeland, ­Christoph Wilhelm, Ideen über Pathogenie und Einfluss der Lebenskraft auf Entstehung und Form der Krankheiten, Jena 1795 sowie vgl. Kielmeyer, Carl Friedrich, Ueber die Verhältniße der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Geseze und Folgen dieser Verhältniße, Stuttgart 1793. Ein Tagebucheintrag ­Goethes vom 1. Juli 1795 lässt vermuten, dass dieser die Werke Hufelands, Brandis’ und Reils gelesen hat, die in jenem Jahr herausgegeben wurden. Vgl. WA III,2, S. 212. 177 Vgl. Wolff, Theoria generationis, a. a. O. 178 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, a. a. O., S. 321 – 322. 179 Reil definiert die Lebenskraft als Folge der Organisation lebendiger Teile, welche wiederum durch die Mischung und Form der Materie und einzelner im Körper wirkender Kräfte entsteht. Zugleich verweist er aber auf ihre heuristische Funktion als Gedankenkonstrukt, indem er die Kraft als „die Form, nach welcher wir uns die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung denken“, definiert. Vgl. Reil, Lebenskraft, a. a. O., S. 7 – 12, S. 23, Zitat S. 23. 180 Kielmeyer, der das Wort Lebenskraft nicht benutzte, griff zu einem Verteilungsmodell der organischen Kräfte, in dem er Irritabilität, Sensibilität, Reproduktions-, Sekretions- und Propulsionskraft unterschied. Unter Sekretionskraft verstand Kielmeyer die Fähigkeit zur Ausscheidung, unter Propulsionskraft die Bewegung von Blut und Lymphe. Vgl. Kielmeyer, Ueber die Verhältniße der organischen Kräfte unter einander, a. a. O., S. 25.

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auch Johann Friedrich Blumenbach. Dieser fasst den Bildungstrieb (nisus formativus) als wichtigste Form der Lebenskraft auf. Er trennt ihn – ohne dies in seinen weiteren Ausführungen zu belegen – von ihren anderen Formen wie der Sensibilität, Irritabilität etc. und den physischen Körperkräften. Die Priorität des Bildungstriebs begründet er mit dessen Funktion als „die erste wichtigste Kraft zu aller Zeugung, Ernährung, und Reproduction“.181 Hufeland und Brandis hingegen definieren die Lebenskraft als körperumfassendes, einheitliches Wirkprinzip. Ihr Konzept dient nicht wie bei Blumenbach, Reil und Kielmeyer als Hilfskonstrukt der Beschreibung bzw. operationaler Begriff, um die Selbstorganisation des Lebendigen anschaulich zu machen.182 Hufeland nahm sie als ein unsichtbares Agens der Natur an, indem er wie in den magnetischen und galvanischen Prozessen einen zwar vorhandenen, jedoch nicht sinnlich wahrnehmbaren, imponderabilen Stoff voraussetzte.183 Wie Hufeland begriff auch Brandis die Lebenskraft nicht als eine Folgeerscheinung der materiellen Organisation, sondern als eine direkt in der Materie wirkende Kraft, welche diese Materie von einem flüssigen Stoff in einen organisierten Zustand überführt.184 Kritisiert ­Goethe in seinem 1818/20, nach der Farbenlehre, entstandenen Aufsatz Bildungstrieb, dass Wolff die zu formende Materie klar von der Kraft trenne, der durch 181 Blumenbach, Über den Bildungstrieb, a. a. O., S. 32. 182 Vgl. hierzu ausführlicher Rothschuh, Karl, Physiologie. Der Wandel ihrer Konzepte, Probleme und Methoden vom 16. bis 19. Jahrhundert, Freiburg / München 1968, S. 173. 183 „Die Lebenskraft ist das feinste, durchdringendste, unsichtbarste Agens der Natur, das wir bis jetzt kennen. Sie übertrifft darin sogar die Lichtmaterie, elektrische und magnetische Kraft, mit denen sie übrigens am nächsten verwandt zu sein scheint.“ Hufeland, Christoph Wilhelm, Makrobiotik oder Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, Jena 1797, S. 65 – 72. Neben dem Selbstentwicklungsgedanken betont Hufelands Konzept wie ­Goethes Wahrnehmungsmodell auch das Verhältnis zur Umgebung des belebten Körpers. Die Lebenskraft teile – so Hufeland – beispielsweise dem Körper „die Fähigkeit mit, Eindrücke als Reize zu perzipieren und darauf zu reagieren“. Ebd., S. 34 – 35. Vgl. in diesem Kontext auch Hufelands Aussage: „Es kann nichts auf und in uns wirken, was nicht eine Gegenwirkung der Lebenskraft in uns rege macht.“ Ders., Ideen über Pathogenie, a. a. O., S. 4. Vgl. zu diesen vitalistischen Richtungen neben Rothschuh auch Müller-Tamm, Jutta, Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus, Berlin / New York 1995, S. 72 – 74. Vgl. ebenso die Arbeit von Hatfield, Gary C., The Natural and the Normative: Theories of Spatial Perception from Kant to Helmholtz, Cambridge (MA ) / London 1990. In seiner Studie, die als zeitliche Eckpfeiler Kants Kritiken und Helmholtz’ physiologische Theorie steckt, zeigt der Autor besonders an den Konzepten der Raumwahrnehmung, wie sich vor dem Hintergrund der Disziplinendifferenzierung eine Polarität von normativen und empirisch-naturalistischen Wahrnehmungstheorien generierte. Hatfield arbeitet Brüche und Kontinuitäten innerhalb einzelner philosophischer und physiologischer Strömungen, aber auch zwischen diesen beiden Richtungen heraus, indem er die Texte nicht im Sinne der in ihnen angelegten Theorie interpretiert, sondern wissensarchäologisch aus ihrem jeweiligen Entstehungskontext. 184 Vgl. Brandis, Versuch über die Lebenskraft, a. a. O., S. 15 – 16.

3.3  Das Auge als Medium der Welterfahrung

ihre separate Betrachtung „etwas nur Physisches, sogar Mechanisches“ 185 anhafte, erntet Blumenbach größtes Lob, weil seinem Konzept des Bildungstriebs gleichermaßen ein Gestaltungs- und Entwicklungsgedanke immanent sei. Da die Lebenskraft nie direkt wahrnehmbar, sondern nur an ihren Wirkungen erfahrbar ist, bedarf sie auch in ­Goethes Konzept eines organischen Mediums, um sich zu zeigen. Anders als ­Blumenbach und ähnlich wie Hufeland und Brandis denkt er sie als mit der Materie zusammen agierend. Er setzt sie jedoch nicht wie die letzten beiden in ein eigenes Wirkungselement wie ein imponderabiles Agens oder eine Flüssigkeit, sondern definiert sie spekulativ als reines, mit der Materie agierendes Wirkprinzip, wenn er sie zu beschreiben versucht: „[…] daß wir, um das Vorhandene zu betrachten, eine vorhergegangene Tätigkeit denken wollen, wir derselben ein schicklich Element unterlegen, worauf sie wirken konnte, und daß wir zuletzt diese Tätigkeit mit dieser Unterlage als immerfort zusammen bestehend und ewig gleichzeitig vorhanden denken müssen.“ 186 Nach eingehender Beschäftigung mit den Prinzipien des Vitalismus entwickelte ­Goethe die wissenschaftliche Methode der genetischen Morphologie (griech. Gestaltkunde), unter der er nicht nur „die Lehre von der Gestalt“, sondern auch die „Bildung und Umbildung der organischen Körper“ versteht.187 Die hier verbundenen Prinzipien von belebter Form und Entwicklung führt ­Goethe in der doppelten Konnotation des Begriffs Bildung zusammen. Im gleichberechtigten Verweis dieses Wortes auf das Ergebnis der Gestalt und auf ihren Entstehungsprozess 188 ist der Begriff – wenn auch von ­Goethe in diesem Kontext nirgends explizit gebraucht – ebenfalls auf die immateriellen physiologischen Farben anwendbar, in denen sich die Entwicklung selbst in einem visuell-dynamischen Ergebnis „abzeichnet“. In der genetischen Morphologie konzipiert ­Goethe die äußeren Formen der Lebewesen als direkte Visualisierungen intrakorporaler Prozesse. Die Natur habe – so G ­ oethe – weder „Kern noch Schale“,189 innen und außen gelten gleiche Prinzipien, eine Trennung in Oberflächen- und Tiefeneigenschaften sei ihr, genetisch-morphologisch betrachtet, fremd. Dieses Postulat beruht auf der Prämisse, dass jede Kraft in wahrnehmbarer Form erscheinen kann, „daß alles was sei sich auch andeuten und zeigen müsse“.190 Auch in G ­ oethes Wahrnehmungsmodell fallen Bedingendes und Bedingtes in eins, da die physiologischen Farben erst im Vorgang der Perzeption erzeugt werden: „Man kann auch das farbige

185 LA I.9, S. 99 (Bildungstrieb). 186 Ebd., S.  99 – 100. 187 LA I.10, S. 140 (Betrachtung über Morphologie überhaupt). Vgl. hierzu ausführlich Kuhn, Dorothea, Grundzüge der G ­ oetheschen Morphologie, in: dies., Typus und Metamorphose. G ­ oethe-Studien, Marbach am Neckar 1988, S. 133 – 145. 188 Vgl. LA I.9, S. 7 (Die Absicht eingeleitet). 189 WA I,3, S. 105 (Allerdings. Dem Physiker). Dieses Gedicht entwarf G ­ oethe in Anlehnung an ­Albrecht von Hallers Lehrgedicht Die Falschheit menschlicher Tugenden. 190 LA I.10, S. 128 (Morphologie).

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Papier an seinem Orte lassen und mit dem Auge auf einen andern Fleck der weißen Tafel hinblicken, so wird jene farbige Erscheinung sich auch dort sehen lassen; denn sie entspringt aus einem Bilde, das nunmehr dem Auge angehört.“ 191 Die Netzhaut avanciert hier zum erkenntnistragenden Medium, das die natürlichen Zeichen des Körpers expliziert. Einmal mehr benutzt ­Goethe die Ästhetik der durch sie erfahrbar gemachten Phänomene als visuelle Erklärungen der physiologischen Vorgänge, scheinen doch in diesem heuristischen Zugang nicht zufällig Parallelen zu seiner Reaktion auf S ­ oemmerrings Augenstudien und zu den physiologisch erzeugten farbigen Schatten auf, in denen er ebenfalls jegliche physiologische Analyse vermeidet. Diese Studien erfolgten Mitte der 1790er-Jahre, in jener Zeit, in der G ­ oethe die Methode der genetischen Morphologie ausarbeitete.192 Mit der Annahme einer Sichtbarmachung der physiologischen Vorgänge durch die sich auf der Retina entwickelnden Farben wohnt Goethes Ansatz ein Identitätsprinzip inne, das durch die Ausblendung von Kontingenzen jegliche hermeneu­ tische Arbeit obsolet werden lässt. In diesem Zugriff scheint das Charakteristikum der Morphologie auf, die er nicht als Erforschung unsichtbarer Ursachen, sondern als phänomenal ausgerichtete, deskriptive Disziplin betrachtet.193 Er begreift sie als ein Darstellungsverfahren,194 das er an den Sinn des Auges adressiert. Besonders anschaulich beschreibt er die Anwendung dieser Methode in der Abteilung der Chemischen Farben, in der er von den äußeren Farben der Lebewesen auf die unterschiedlichen Grade ihrer Organisation schließt.195 Dieses Konzept einer an die Sichtbarkeit gebundenen Erkenntnismethode entwirft ­Goethe in einer Zeit, in der sich besonders in der vergleichenden Anatomie und Physiologie eine neue Definition des Organismus entwickelt, welche die natürliche Sichtbarkeit entwertet und den Körper diskursiv in zahlreiche Einzelsysteme zergliedert. Wurden bisher die Lebewesen nach den visuell erkennbaren Merkmalen ihrer äußeren und inneren Organe und deren Funktionen klassifiziert, werden für die Ordnung der Organismen nun die natürlichen Funktionszusammenhänge im Körperinneren wie Atmung und Verdauung relevant. Diese Fokusverschiebung stellt erstens die Sichtbarkeit als bisherigen Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Analyse in Frage, da der

191 LA I.4, § 49, S. 37 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 192 Der Begriff der Morphologie erschien erstmals am 25. September 1796 in G ­ oethes Tagebuch. Vgl. WA III,2, S. 48. 193 Vgl. LA I.10, S. 137 (Betrachtung über Morphologie). 194 Vgl. von Thadden, Erzählen als Naturverhältnis, a. a. O., S. 14. 195 Vgl. LA I.4, §§ 636 – 672, S. 189 – 198 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). G ­ oethe betrachtet in dieser Abteilung die Farben als Indikator für die unterschiedlich entwickelten somatischen Organisationen von Insekten, Fischen und Säugetieren bis hin zum Menschen. Je höher entwickelt ein Geschöpf sei – so ­Goethes These –, um so weniger Elementarfarben besitze es. Vgl. ebd., § 666, S. 196 – 197.

3.3  Das Auge als Medium der Welterfahrung

Nomenklatur der Funktionssysteme allein deren Wirkungen zugrunde liegen. Nicht mehr die Form der Lungen, sondern die Atmung ist nun das Entscheidende. Zweitens wird mit der Aufwertung der Funktionssysteme, in denen mehrere Organe zusammen wirken, das Definitionskriterium des Lebenden von den Oberflächen der sichtbaren Formen in die Dunkelheit des Körperinneren verlegt. Der Begriff der Organisation wird erweitert, indem er nun die sichtbaren und unsichtbaren Elemente jedes Organismus gleichermaßen beschreibt, dessen Funktionseinheiten sich primär durch die unsichtbaren Beziehungen der einzelnen Organe konstituieren. Eine vollständige Ergründung des Organismus wird dadurch unmöglich.196 Die epistemologische Entwertung der sichtbaren Formen geht drittens mit einer Entwertung des natürlichen Forscherblicks einher. Da sich die Funktionszusammenhänge einer direkten sinnlichen Erschließung entziehen, wird zusehends die kombinatorische Verstandesleistung gefragt: „Was für den klassischen Blick nur reine und einfache Unterschiede waren, die man neben Identitäten stellte, muß jetzt, ausgehend von einer funktionalen Homogenität, die es verborgen trägt, geordnet und gedacht werden.“ 197 In diesem Sinne ist es Aufgabe der Physiologie, den menschlichen Körper empirisch und spekulativ zu erschließen – ein Anspruch, der durch die Unmöglichkeit seiner vollständigen sinnlichen Erfassbarkeit ­Goethes Kritik herausfordert: „Da nun die Physiologie diejenige Operation des Geistes ist, da wir aus Lebendigem und Totem, aus Bekanntem und Unbekanntem, durch Anschauen und Schlüsse, aus Vollständigem und Unvollständigem ein Ganzes zusammensetzen wollen, das sichtbar und unsichtbar zugleich ist, dessen Außenseite uns nur als ein Ganzes, dessen Inneres nur als ein Teil und dessen Äußerungen und Wirkungen uns immer geheimnisvoll bleiben müssen; so läßt sich leicht einsehen warum die Physiologie so lange zurückbleiben mußte, und warum sie vielleicht ewig zurückbleibt, weil der Mensch seine Beschränkung immer fühlt und sie selten anerkennen muß. Die Anatomie hat sich auf einen solchen Grad der Genauigkeit und Bestimmtheit erhoben, daß ihre deutliche Kenntnis schon für sich eine Art von Physiologie ausmacht.“ 198

Mit der Entdeckung der Funktionssysteme wurde der Innenraum des Körpers aufgewertet, wurde dessen Erfassen für eine medizinische Diagnose unabdingbar. Um ein virtuelles Bild vom Leben unter der Körperoberfläche zu erhalten, konstituierte sich der Blick des Arztes erstmalig aus Sehen, Hören und Fühlen. Doch analytischer Blick und Tod des Erkenntnisobjekts bildeten noch immer eine feste Allianz. Erst 196 Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 322 – 333. Vgl. auch Blümle, Claudia / Schäfer, Armin, Organismus und Kunstwerk. Zur Einführung, in: dies. (Hg.), Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Zürich / Berlin 2007, S. 9 – 25, hier S. 10 – 11. 197 Foucault, Michel, Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 324. Vgl. zum gesamten Absatz ebenfalls Blümle / Schäfer, Organismus und Kunstwerk, a. a. O., S. 9 – 11. 198 LA I.10, S. 138 (Betrachtung über Morphologie).

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durch ihn gewann das im multisensoriellen Verbund gefangene Auge seine Alleinherrschaft zurück und blieb Sieger über den menschlichen Körper.199 Lobt G ­ oethe im oben aufgeführten Zitat das durch die Anatomie ermöglichte Wissen, beginnt ihr Wirken jedoch erst mit dem Tod des Organismus, der Einblick in die unsichtbaren Körpertiefen gewährt. Mit der Erkenntnis der Komplexität des Lebenden gelangt ­Goethe an die Grenzen seiner eigenen Experimentalstrategie, denn hier erweist sich die an die Sichtbarkeit der Phänomene gebundene Multiperspektivität des Forschers als unzureichend: „Ein organisches Wesen ist so vielseitig an seinem Äußern, in seinem Innern so mannigfaltig und unerschöpflich, daß man nicht genug Standpunkte wählen kann es zu beschauen, nicht genug Organe an sich selbst ausbilden kann, um es zu zergliedern, ohne es zu töten.“ 200 Bei Anwendung von ­Goethes explorativer Methode würde das physiolo­ gische Experiment das Objekt vernichten, das es beobachten soll. ­Goethe ist vor allem daran gelegen, die Dynamik und Variabilität des Lebens selbst zu zeigen, ohne zerstörend in den Körper einzugreifen.201 Das Paradoxon einer Sichtbarkeit der Organe, die nur durch den Tod des Organismus möglich ist, und einer (vitalistischen) Dynamik, die wiederum die sinnliche Erschließung des Körperinneren verhindert, löst G ­ oethe auf, indem er sich der oben erläuterten Methode der gene­ tischen Morphologie bedient, mit der er den Organismus in seiner Totalität belassen kann. Indem er mit ihr den Blick aus dem (sezierten) Körperinneren zurück an dessen lebende Oberflächen lenkt, unterliegt er allerdings selbst dem Vorwurf der Spekulation, den er der Physiologie macht. Denkt ­Goethe zwar die vom Auge erzeugten Farben und die sie erzeugenden physiologischen Prozesse in einem nichtarbiträren Zeichensystem zusammen, betrachtet er ohne empirischen Beweis die Vorgänge im unsichtbaren Körperinneren als Visualisierungen auf der Oberfläche der Netzhaut.202 Die Operationen des Verstandes müssen diese Lücke füllen. So definiert G ­ oethe in seiner Morphologie neben der empirischen Erfahrung der Einzelphänomene die synthetisierende rationale Tätigkeit als Aufgabe des Forschers, die „Betrachtung des organischen Ganzen durch die Vergegenwärtigung aller Rücksichten und Verknüpfung derselben durch die Kraft des Geistes“.203 ­Goethes ausdrückliche Definition 199 Vgl. Foucault, Michel, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt am Main 2005, S. 176 – 179. 200 LA  I.9, S. 125 (In wiefern die Idee: Schönheit sei Vollkommenheit mit Freiheit, auf organische Naturen angewendet werden könne). 201 „Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben.“ LA I.9, S. 6 – 7 (Die Absicht eingeleitet). 202 „Indem die Farbe in ihrer größten Mannigfaltigkeit sich auf der Oberfläche lebendiger Wesen dem Auge darstellt, so ist sie ein wichtiger Teil der äußeren Zeichen, wodurch wir gewahr werden, was im Innern vorgeht.“ LA I.4, § 735, S. 215 – 216 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 203 LA I.10, S. 140 (Betrachtung über Morphologie). Vgl. hierzu auch die von Timothy Lenoir getroffene Einteilung der Morphologie in zwei Bereiche. Die Vertreter der romantischen Naturphilosophie,

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der Morphologie als Hilfswissenschaft der Physiologie spiegelt dieses Zugeständnis an die empirische Unergründlichkeit des Organismus wider. Betrachtet G ­ oethe als 204 Herzstück der Morphologie die Metamorphose als Verwandlungslehre, ist dieser Ansatz für die wissenschaftliche Erschließung der physiologischen, zeitabhängigen Farben geradezu prädestiniert. Beschreibt er die vom Auge hervorgebrachten Erscheinungen je nach Kontext als Produkte der Erregung und damit indirekt als neurale Prozesse oder als Wirkungen körperinterner Kräfte, setzt er beide Entwürfe in der Abteilung der Physiologischen Farben nur über das Prinzip der Autopoiesis analog. Erst in seiner psychologischen Untersuchung der Farbwirkungen verbindet er sie in einem Konzept, das sich wiederum auf die Anordnungen seiner physiologischen Versuche auswirkt. 3.3.2 Die chromatischen Bilder der Seele So eindeutig, wie G ­ oethe in seiner Farbentheorie die Wahrnehmung als Ausgangspunkt der Erkenntnis konzipiert, so unklar bleibt sein Konzept der Erkenntnisinstanz des Menschen. Rekurriert er hauptsächlich in seinen physikalischen Farbstudien auf die entsomatisierende, doch bildhafte Vermögenspsychologie, die den Körper im Gegensatz zu vielen biologischen und physiologischen Entwürfen jener Zeit noch in ein überschaubares Schema ordnet, beschäftigt er sich in anderen Kontexten seiner Farbstudien mit dem Konzept des Gemeingefühls bzw. Seelenorgans, in weiteren naturwissenschaftlichen Studien auch mit anatomischen Fragen des Gehirns. Diese unterschiedlich gewichteten Instanzen, deren Relationen zueinander ­Goethe an keiner Stelle klarstellt, spiegeln die um 1800 herrschende Erklärungsvielfalt der menschlichen Erkenntnisinstanz wider: Diskursiv wurde sie durch philosophische und biologische Konzepte zu definieren, technisch durch die empirische Psychologie zu ergründen versucht, die Verhalten und Reaktionen von Menschen beobachtet. Materiell-organisch wurde sie in Sektionen des Körpers gesucht. Unter Herausstellung des Einflusses zeitgenössischer Theorien wird in diesem Kapitel das Konzept des Erkenntnisorgans in ­Goethes physiologischen Farbversuchen herausgearbeitet und untersucht, wie sich dessen Entwurf auf die Konstellation der physiologischen Versuche auswirkt. In diesem zu denen der Autor neben Oken und Carus auch ­Goethe zählt, gehen von transformierten Grundformen aus, die sie durch Reihenbildung und vergleichende Naturforschung erschließen. Dieses Vorgehen enthält auch spekulative Anteile. Die andere Richtung, als deren Hauptvertreter Lenoir Karl Ernst von Baer betrachtet, fasst den lebenden Organismus als funktionales Ganzes auf. Entscheidend sind hier die Position und Anordnung der Organe, die als Ausdruck der funktionalen Gesetze der Organisation gelten. Vgl. Lenoir, Timothy, Strategy of Life. Teleology and Mechanics in Nineteenth-Century German Biology, Chicago / London 1989, S. 76. 204 Vgl. LA I.10, S. 128 (Morphologie). Vgl. zur Bedeutung der Metamorphosenlehre in G ­ oethes naturwissenschaftlichen Studien die Aufsatzsammlung von Kuhn, Dorothea, Typus und Metamorphose, a. a. O. sowie Breidbach, Olaf, ­Goethes Metamorphosenlehre, München 2006.

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Kontext wird dargelegt, wie in G ­ oethes Konzept das Unbewusste als Medium agiert, das als integrativer Bestandteil des Wissensprozesses zwischen Körper und Seele vermittelt. Auf dessen rational nicht erfassbarem Agieren basiert die auf phänomenaler Ebene sichtbare Logik der physiologischen Farberzeugung. Während die um 1850 einsetzende Experimentalisierung des Lebens dadurch möglich wurde, dass sich die Physiologie von der Anatomie trennte und die in ihrem neuralen Eigenleben entdeckten Sinne nun in spezifische physiologische Versuchsanordnungen eingebunden werden konnten,205 baut ­Goethe auf das anthropologische Modell des ganzen Menschen, dessen Farbwahrnehmung selbst wissenschaftliche Evidenz erhält. Diese empirisch orientierte Anthropologie begann, sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu entwickeln.206 Sie richtete sich gegen Descartes’ duale Subjektkonzeption, der das Bewusstsein in einer immateriellen und unteilbaren Seele verankerte und diese als eigenständige Instanz neben einem materiell-mechanistisch konzipierten Körper dachte. In seinem maßstabsetzenden Werk Anthropologie für Ärzte und Weltweise (1772) definiert Ernst Platner, der bedeutendste Gründervater dieser Wissenschaft vom Menschen, ihr Hauptziel in der Betrachtung von „Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen“.207 Die Anthropologie, die Schings in den „Rang einer, wenn nicht der führenden Aufklärungswissenschaft überhaupt“ 208 setzt, konnte sich besonders durch die Entwertung einer theologischmetaphysischen Erklärung des Subjekts sowie die Aufwertung empirischer Methoden und Erfahrungen entwickeln. Als die adäquateste Untersuchungsmethode für die psychophysische Organisation des Menschen, besonders für die Wechselwirkung zwischen Körper und Seele, betrachtet Platner die medizinische. Er vereinigt die bisher für die Seele „zuständige“ Philosophie mit der für den Körper „verantwortlichen“ Medizin, indem er diese als Teilbereich der Philosophie veranschlagt.209 Doch auch Platners Konzept des ganzen Menschen gelang es nicht, den cartesianischen Dualismus endgültig zu überwinden. Untersuchte er zwar den Einfluss des empirischen Kör205 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg / Hagner, Michael, Experimentalsysteme, in: dies. (Hg.), Experimentalisierung des Lebens, a. a. O., S. 10. 206 Einen anderen Ansatz verfolgt Immanuel Kant in seiner Ende des 18. Jahrhunderts entworfenen pragmatischen Anthropologie. In ihr steht nicht die empirische Erforschung des einzelnen Menschen im Zentrum, sondern sein Verhalten und Handeln, so dass diese Anthropologie einen idealistischen Anspruch vertritt. Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a. a. O. Mit diesem dem empirischen Konzept Platners geradezu entgegengesetzten Anspruch hat sich die als einheitliche wissenschaftliche Disziplin angetretene Anthropologie bereits um 1800 selbst überlebt. Vgl. hierzu die Analyse von Pethes, Nicolas, Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007, S. 140 und S. 142. 207 Platner, Ernst, Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Leipzig 1772, S. XVI – XVII. 208 Schings, Hans-Jürgen, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfah­ rungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, S. 13. 209 Vgl. Platner, Anthropologie, a. a. O., S. III – IV.

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pers auf die Seele, postulierte er diese noch immer als immaterielle Entität.210 Diese Nichtüberwindung liegt m. E. bereits im Anspruch der Anthropologie begründet, die Verhältnisse zwischen Körper und Seele zu erforschen, womit sie von vornherein auf einer Zwei-Substanzen-Lehre basiert. Eine weitere wichtige Strategie zur Überwindung des Körper-Seele-Dualismus war seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die verstärkte empirische Verortung eines Seelenorgans, Gemeingefühls bzw. sensorium commune, das neben den fünf äußeren Sinnen auch als innerer Sinn bezeichnet wurde. Dieser Instanz wurde eine mediale Position zugesprochen, in der sie körperliches und seelisches Leben durch ihr Agieren miteinander verband. Von einer solchen intrasubjektiven Kommunikationsinstanz ging bereits Descartes aus, der aufgrund ihres Unteilbarkeitspostulats die Seele als im ganzen Körper wirkend annahm, den Ort des Gemeingefühls jedoch anatomisch in der Zirbeldrüse verortete. Mit dieser Konzeption, die erstmalig den Interaktionsort zwischen Körper und Seele materiell-funktional verankerte, löste Descartes eine von ihm keinesfalls intendierte breite Diskussion über den physiologischen Sitz der Seele aus.211 Die folgenden je nach Betrachterstandpunkt differierenden Ansätze, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstärkt einen empirischen Einfluss des Körperlebens auf die Seele nachzuweisen suchten, verbinden zwei Punkte: Erstens fungiert das Seelenorgan physiologisch-anatomisch als Sammelstelle der Nerven. Indem es noch immer durch eine Verbindung empirischer und metaphysischer Strategien zu ergründen versucht wurde, diente es zweitens als Kontrollmittel der Anatomisierung und Physiologisierung des Körpers.212 Die Annahme einer immateriellen und unteilbaren Seele geriet endgültig durch Franz Joseph Gall ins Wanken, der in der Hirnrinde verschiedene, selbstständig existierende, doch funktional zusammenhängende Organe ausmachte und damit eine ausschließlich anatomisch-physiologische Erklärung des Seelenlebens lieferte.213 Bereits 1796, zwei Jahre vor Galls Entdeckung, hatte die Reaktion auf Soemmerrings Schrift Über das Organ der Seele das Ende dieser einschlägigen Diskussion eingeläutet. 210 Vgl. zu dieser Kritik auch die ausführlicheren Darlegungen von Müller-Tamm, Kunst als Gipfel der Wissenschaft, a. a. O., S. 57. 211 Vgl. Hagner, Michael, Homo cerebralis – Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt am Main / Leipzig 2000, S. 27 – 29. Vgl. auch Mensching, Günther, Vernunft und Selbstbehauptung. Zum Begriff der Seele in der europäischen Aufklärung, in: Jüttemann, Gerd u. a. (Hg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Göttingen 2005, S. 217 – 235, hier S. 221 – 222. 212 Vgl. Hagner, Homo cerebralis, a. a. O., S. 53 und S. 59. Albrecht von Haller ging z. B. auf der experimentellen Basis von Vivisektionen davon aus, dass das Seelenorgan über die weiße Hirnsubstanz verbreitet sei. Bonnet schrieb der unteilbaren Seele keinen speziellen körperlichen Ort zu, da er sie als im gesamten Hirn präsent betrachtete, begriff aber den Balken als den Ort ihrer Haupttätigkeit. Vgl. ebd., S. 34 – 35 und S. 46 – 47. 213 Vgl. ebd., S. 89 – 94. Galls lange Zeit zweifelhafter Ruf lag darin begründet, dass er aus der Konfiguration der Schädelwölbungen auf spezifische Hirnprägungen und damit auf die menschlichen Eigenschaften zu schließen versuchte. Diese Lehre ging als Phrenologie in die Medizingeschichte ein.

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An der Reaktion auf dieses Werk beteiligte sich auch G ­ oethe. Soemmerring hatte sich gegen die Lokalisation des Seelenorgans in einem festen Gehirnteil gewendet und das sensorium commune ebenfalls unter Beibehaltung der cartesianischen Einheit der Seele in die Hirnhöhlenflüssigkeit verlegt. Die Wahl dieses Mediums begründet er anatomisch, indem er aus der Lage der in den Ventrikeln endenden Hirn- und Rückenmarksnerven schließt, dass die Hirnhöhlenflüssigkeit als ausgebreitetster Teil des Denk­ organs das sensorium commune sei.214 Die Frage nach der Interaktion von Hirnnerven und Hirnhöhlenflüssigkeit hingegen beantwortet er transzendental: Wahrnehmung und Nervenimpulse als verschiedene Prozesse betrachtend, nimmt Soemmerring an, dass am Übergang von der empfindungserregenden Bewegung der Hirnnerven in die Hirnhöhlenflüssigkeit eine qualitative Änderung entsteht. Diese bilde den nach seiner Meinung eintretenden Unterschied ab, der an der Schwelle von den physischen zu den psychischen Vorgängen erfolge. Das Wie dieses Umschlags beschreibt er allerdings nicht. Die prominenteste Kritik dieser transzendentalen Physiologie 215 ist keinem Geringeren als Immanuel Kant zu verdanken, dem Soemmerring sein Werk widmete. Kant kritisiert an Soemmerrings Betrachtungen primär die von ihm postulierte Unvereinbarkeit des empirischen Erkenntniswegs der Mediziner und des metaphysisch-psycholo­gischen Ansatzes der Philosophen – eine Kritik, hinter der sich ebenfalls die Annahme einer immateriellen Seele verbirgt. Bei ihrer empirisch-organischen Verortung – so Kant – würden innere Prozesse und äußere Einflüsse demselben Wahrnehmungsvorgang unterliegen, was durch die von ihm philosophisch legitimierte Subjektgrenze unmöglich sei.216 Auch ­Goethe wirft Soemmerring die unterlassene methodische Trennung vor, stellt sich allerdings anders als Kant ins Feld der Empiriker. G ­ oethes Aussage steht exemplarisch für seine ambivalente Position zur Instanz der menschlichen Erkenntnis: „Hätten Sie die Philosophen ganz aus dem Spiele gelassen, ihr Wesen und Treiben ignoriert und sich recht fest an die Darstellung der Natur gehalten, so hätte niemand nichts einwenden können, vielmehr hätte jeder Ihre Bemühungen unbedingt verehren müssen. […] So hätten Sie auch meo voto der Seele nicht erwähnt; der Philosoph weiß nichts von ihr, und der Physiolog sollte ihrer nicht gedenken. Ueberhaupt haben Sie Ihrer Sache keinen Vor­ theil gebracht, daß Sie die Philosophen mit ins Spiel gemischt haben; diese Classe versteht, 214 Vgl. Soemmerring, Samuel Thomas, Über das Organ der Seele, Königsberg 1796, S. 37. 215 Vgl. Hagner, Homo cerebralis, a. a. O., S. 78. 216 „Nun kann die Seele sich nur durch den inneren Sinn, den Körper aber (es sey inwendig oder äußerlich) nur durch äußere Sinne wahrnehmen, mithin sich selbst keinen Ort bestimmen, weil sie sich zu diesem Behuf zum Gegenstand ihrer äußeren Anschauung machen und sich außer sich selbst versetzen müßte, welches sich widerspricht.“ Kant, Immanuel, Nachwort, in: Soemmerring, Organ der Seele, a. a. O., S. 81 – 86, hier S. 86. Wie Michael Hagner betont, zweifelt Kant zwar generell an der Erkennbarkeit des Seelenorgans, stellt aber keineswegs die spezifische Legitimität von Soemmerrings sensorium commune in der Hirnhöhlenflüssigkeit in Frage. Vgl. Hagner, Homo cerebralis, a. a. O., S.  83.

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vielleicht mehr als jemals, ihr Handwerk, und treibt es, mit Recht, abgeschnitten, streng und unerbittlich fort; warum sollten wir Empiriker und Realisten nicht auch unsern Kreiß kennen und unsern Vortheil verstehen?“ 217

Weder in diesem Kontext noch allgemein fasst der „Empiriker“ ­Goethe jedoch die Erkenntnisinstanz als materiell-organische Entität auf, obwohl er einschlägige anatomische Kenntnisse besaß und Hirnsektionen beiwohnte, wovon folgende Aussage zeugt: „Anatomie und Physiologie verlor ich dieses Jahr fast nicht aus den Augen. Hofrat Loder demonstrierte das menschliche Gehirn einem kleinen Freundes-Zirkel, hergebrachter Weise, in Schichten von oben herein, mit seiner ihn auszeichnenden Klarheit. […] Sömmerrings Versuch dem eigentlichen Sitz der Seele näher nachzuspüren, veranlaßte nicht wenige Beobachtung, Nachdenken und Prüfung.“ 218

Im historischen Teil der Farbenlehre konzipiert ­Goethe ein immaterielles Gemeingefühl als einheitsstiftendes Prinzip der Sinneswahrnehmungen. Er kritisiert Demokrit, der taktile und optische Wahrnehmung vermischt. Demokrit transformiere – so ­Goethe – in seiner Intromissionstheorie die unstrukturierte visuelle Perzeption in eine haptisch-geordnete, „anstatt bei der Verwandtschaft der Sinne nach einem ideellen Sinn aufzublicken, in dem sich alle vereinigten“.219 Hinter diesem Einwand verbirgt sich einmal mehr ­Goethes Konzept eines vom Tastsinn bereinigten, autonomen Sehsinns, der der Leitung des erstgenannten nicht bedarf, deren Leistungen jedoch in einem übergeordneten Organ zusammenfließen können. Geht ­Goethe zwar von einer immateriellen Erkenntnisinstanz aus, spricht er – anders als Platner – der Philosophie jegliche Kompetenz für diesen Bereich ab. Noch wenige Jahre vor seinem Tod erklärt er das Körper-Seele-Verhältnis zu einem der großen ungelösten Rätsel der Menschheit: „Zudem sind die Natur Gottes, die Unsterblichkeit, das Wesen unserer Seele und ihr Zusammenhang mit dem Körper ewige Probleme, worin uns die Philosophen nicht weiter bringen […].“ 220 Die anthropologisch-duale Struktur des ganzen Menschen fasst ­Goethe in einem doppelten Konzept, das sich nur indirekt über seine psychophysiologischen Farbversuche erschließen lässt: Zum einen betrachtet er den Verstand als ein autonomes, von der Wahrnehmung unabhängiges Vermögen, indem er ihm eine apperzeptive, die 217 ­Goethe an Samuel Thomas Soemmerring am 28. August 1796, in: ­Goethe und Soemmerring. Briefwechsel, a. a. O., S.  106 – 107. 218 LA II.9A, S.  456 – 457. 219 LA I.6, S. 70. (Farbenlehre, Historischer Teil). In seine atomistische Wahrnehmungstheorie integriert Demokrit den haptischen Sinn: Der Vorgang des Sehens erfolgt, indem vom betrachteten Gegenstand gesendete Abbilder die Luft formen und diese auf das betrachtende Auge drücken. 220 ­Goethe zu Eckermann am 1. September 1829, in: Eckermann, Gespräche mit G ­ oethe, a. a. O., S. 347.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Farbeindrücke strukturierende Funktion zuspricht. In biblischen Metaphern unterscheidet er die Augen des Leibes von den Augen des Geistes, die das Wahrgenommene ordnen: „Die Freude an Farben, einzeln oder in Zusammenstimmung, empfindet das Auge als Organ und teilt das Behagen dem übrigen Menschen mit. Die Freude an Form liegt in des Menschen höherer Natur, und der innere Mensch teilt sie dem Auge mit.“ 221 Die Beschaffenheit, das Funktionieren und den möglichen Ort der Erkenntnisinstanz definiert ­Goethe, das Körperinnere wiederum im Dunkeln lassend, allerdings nicht näher. Für die Präferenz eines Körper-Seele-Dualismus spricht G ­ oethes Abwertung einer vollkommenen Übereinstimmung zwischen physiologischem Sehorgan und geistiger Erkenntnis bei der Wahrnehmung einer Einzelfarbe. Konstituiert in seinem Konzept die Betrachtung einer einzigen Farbe den Einklang beider Instanzen – die äußere Farbe „stimmt Auge und Geist unisono“ – begreift G ­ oethe diese Lage als Zwangszustand für das Auge, das an der Reaktion auf den Farbreiz gehindert wird.222 Diese Auffassung verweist auf seinen Wunsch, zwischen beiden Instanzen eine Differenz zu erhalten, da ohne diese der Verstand seine wahrnehmungsstrukturierende Funktion nicht erfüllen kann. Dieses indirekt geführte Argument untermauert G ­ oethe an anderer Stelle, wenn er beschreibt, wie der vernachlässigte Einsatz des Intellekts bei der Anordnung bzw. Wahrnehmung des Bunten zu chaotischen Ergebnissen führen kann: „Bunt kann ein Gemälde leicht werden, in welchem man bloß empirisch [!], nach unsichern Eindrücken die Farben in ihrer ganzen Kraft nebeneinander stellen wollte.“ 223 Zum anderen bindet G ­ oethe das erkennende Ich unabdingbar an dessen Sinneswahrnehmung – ein Verhältnis, das sich primär über die Ausführungen zur Sinnlichsittlichen Wirkung der Farben im didaktischen Teil erschließt. Klar definiert G ­ oethe hier die Physiologie als Grundlage der Psychologie, indem er die Aktivität des Auges als unabdingbare Basis der Empfindungen beschreibt: „[…] so werden wir uns nicht wundern, wenn wir erfahren, daß sie [die Farbe – S. Sch.] auf den Sinn des Auges, dem sie vorzüglich zugeeignet ist, und durch dessen Vermittelung auf das Gemüt in ihren allgemeinsten elementaren Erscheinungen, ohne Bezug auf Beschaffenheit oder Form eines Materials, an dessen Oberfläche wir sie gewahr werden […] eine entschiedene und bedeutende Wirkung hervorbringe.“ 224

Einmal mehr verleiht ­Goethe dem Auge hier eine mediale, datengeneriende Funktion, die zugleich vermittelnd zwischen äußerem Reiz und psychischer Tätigkeit wirkt. Anders als der Verstand besitzen Farbempfindungen keinen eigenständigen Status, da sie ohne die Tätigkeit des Gesichtssinns nicht entstehen können. 221 LA I.3, S. 437 (Das Auge). 222 Vgl. LA I.4, § 763, S. 225 und § 804, S. 233, Zitat S. 225 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 223 Ebd., § 896, S. 251. 224 Ebd., § 758, S. 224.

3.3  Das Auge als Medium der Welterfahrung

Diese Auffassung zeichnet G ­ oethe neben Platner, Soemmerring und anderen als Anhänger der Influxustheorie aus, nach der sich körperliche Prozesse und Reaktionen auf eine immaterielle Seele auswirken. ­Goethes Ansicht wird aber auch von jenem zeitgenössischen Diskurs beeinflusst, der der Seele – diesen Begriff benutzt er in seinen Farbstudien am häufigsten für die Erkenntnisinstanz – zwei Funktionen zuschreibt: das Erkennen und das Empfinden. Die Diskussion um diese Bestimmungen hatte Johann Georg Sulzer ausgelöst, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts beide strikt voneinander trennte. Anders als ­Goethe gestand er der Empfindung einen autonomen Status zu, den er mit ihrer eigenständigen Wirkungsweise begründete.225 ­Goethes Entwurf hingegen lässt Parallelen zu Johann Gottfried Herders Auffassung der Seelenstruktur erkennen. Obwohl G ­ oethe nirgends einen expliziten Bezug zu Herders Werk Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele herstellt, kannte er diese Schrift.226 Herder setzt beide Seelenfunktionen ins Verhältnis zueinander, indem er unter Rückgriff auf Hallers Lehre von der Irritabilität und Sensibilität die Psychologie auf eine physiologische Basis stellt und damit dessen Entwurf grundlegend ändert. Während Haller das Reizbare als Reaktionspotential einer organischen Faserstruktur von den Empfindungen und den damit verbundenen Nervenprozessen abgrenzt, während nur die Empfindungen, nicht aber die Reize Vorstellungen in der Seele erzeugen, löscht Herder diesen Unterschied aus. Wie Natalie Binczek herausstellt, denkt er den Reiz als Quelle der Empfindung, die Empfindung wiederum als Basis der Erkenntnis. Er legt damit ein lineares Modell zugrunde, das von der Physis über die Psyche zum Verstand verläuft.227 In diesem Modell beschreibt er den Reiz als „die Triebfeder unseres 225 Vgl. Sulzer, Johann Georg, Anmerkungen über den verschiedenen Zustand worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet, in: ders., Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt, 2 Theile, Leipzig 1800, Theil 1, S.  227 – 245. 226 ­Goethe besaß die 1778 herausgegebene letzte Fassung dieser Schrift in seiner Privatbibliothek. Vgl. Ruppert, ­Goethes Bibliothek, a. a. O., S. 462. Wann ­Goethe dieses Buch erhielt, ist nicht nachweisbar. Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass er es bereits vor Beginn seiner Farbstudien rezipiert hatte. Herder rechnet in diesem Werk mit der irrationalistisch einseitigen Betonung der Einbildungskraft im Genie-Kult ab und setzt auf ein harmonisches Gleichgewicht aller inneren menschlichen Kräfte. Kultursoziologisch geht es ihm in dieser Schrift nicht mehr um den gottgleichen Ausnahmemenschen, sondern um die Verwirklichung eines ausgewogenen, der Gemeinschaft verpflichteten Menschentums – ein Entwurf, der bereits auf das spätere klassizistische Kunstkonzept verweist. Vgl. Schmidt, Jochen, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 – 1945, 2 Bde., Heidelberg 2004, 1. Bd.: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, S.  144 – 147. 227 „Meines geringen Erachtens ist keine Psychologie, die nicht in jedem Schritte bestimmte Physiologie sei, möglich. Hallers physiologisches Werk zur Psychologie erhoben und wie Pygmalions Statue mit Geist belebet – alsdenn können wir etwas übers Denken und Empfinden sagen.“ Herder, Johann Gottfried, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778), in: ders., Werke

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Daseins“, die sie auch bei dem „edelsten Erkennen bleiben wird“, an anderer Stelle reiht er die Begriffe von „Reiz, Leben“ 228 aneinander, ohne deren konkrete Beziehung näher zu erläutern. Auch Herder zeichnet ein Doppelverhältnis zwischen Körper und Seele. Entwirft er zwar eine direkte Linie zwischen Reiz und Erkenntnis, die zu einem „reizbare[n] Ich“,229 einem erregungsfähigen Bewusstsein führt, stellt er ebenso eine immaterielle Erkenntnisinstanz als analytisches Kontrollgremium über die physiologischen Vorgänge, wenn er konstatiert, „daß nur der Geist des Menschen, was im Menschen ist, wisse, gleichsam auf sich selbst ruhe und in seinen Tiefen forsche“.230 Das Leben, seine Erzeugung und (Lebens-)Kraft sind nach Herder nicht durch eine Disziplin allein erklärbar. Sie seien bisher weder philosophisch genügend erklärt worden, noch seien sie durch eine ausschließlich physiologische Begründung adäquat erfassbar. Auch G ­ oethe entwirft ein lineares Reiz-Empfindungs-Modell. Es agiert als Medien­ verbund, in dem das Unbewusste zwischen Farbreizen und Augenaktivität auf der einen sowie der rationalen Instanz auf der anderen Seite wirkt. Dessen wissensgenerierende Funktion ist in ihrer Wirkungsweise nur auf den Bildern der Netzhaut erfahrbar, was wiederum auf die epistemologische Untrennbarkeit zwischen Subjekt und Objekt in ­Goethes Farbstudien verweist. ­Goethe betrachtet das Empfindungsvermögen als Gradmesser für die Spezifik der einzelnen Farben. Jede Farbe löse je nach ihrem individuellen Energiepotential einen unverwechselbaren Reiz im Auge aus, der über die Erregung „entschieden spezifische[r] Zustände in dem lebendigen Organ“ eine „besondre Gemütsstimmung“ hervorbringe.231 In diesem Modell führt die Spezifik des Reizes zu einem ganzheit­ lichen Erleben des Subjekts. Der hier verwendete Begriff der Stimmung, der im Laufe seines Daseins einen umfassenden etymologischen Wandel erfuhr, bezeichnete gegen Ende des 18. Jahrhunderts neben der bewussten Haltung und Einstellung auch den seelenerfüllenden Zustand eines Menschen, der die Qualität seines Gesamtbefindens beeinflusst. In jener Zeit wurde die Stimmung oft in Gegensatz zur rationalen Instanz des Menschen gestellt und damit als Produkt des Unbewussten aufgefasst – auch in einer ästhetischen Schrift des jungen G ­ oethe, der die Stimmung als eine Empfindung betrachtet, die zum „verstandensten Ausdrucke“ gelangt, „ohne durch

in zehn Bdn., hg. v. Günter Arnold, Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774 – 1787, Frankfurt am Main 1994, S. 327 – 393, hier S. 340. Vgl. zu Herders nachfolgend skizziertem Erkenntnismodell die ausführliche Analyse von Binczek, Natalie, „Im Abgrunde des Reizes“. Zu Herders Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, in: Bergengruen, Maximilian / Lehmann, Johannes F. / Thüring, Hubert (Hg.), Sexualität – Recht – Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800, München 2005, S. 91 – 111. Vgl. ebenso Pethes, Zöglinge der Natur, a. a. O., S. 123 – 133. 228 Herder, Erkennen und Empfinden, a. a. O., S. 334. 229 Ebd., S. 332. 230 Ebd., S. 343. 231 LA I.4, §§ 761 und 762, S. 224 (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

3.3  Das Auge als Medium der Welterfahrung

die Erkenntnißkraft durchgegangen zu sein“.232 Der Begriff, der metaphorisch auf den Bereich des psychischen Innenlebens übertragen wurde, entstammt der Musiktheorie und stand ursprünglich für das Stimmen eines Instruments und später für die Koordinierung des Zusammenspiels von Instrumenten.233 Die dieser Theorie implizite Passivität des analysierten Objekts, das der Macht des äußeren Zugriffs unterliegt, ist auch ein Aspekt in ­Goethes psycho­logischem Modell. Er tritt immer dann auf, wenn der Betrachter – wie erwähnt – den Reiz einer ausschließlichen Farbe, der Körper und Seele in „Einklang“ bringt, als Zwangszustand empfindet. Die den Menschen aus diesem psychologischen Ungleichgewicht befreiende subjektive Farberzeugung beschreibt G ­ oethe ebenfalls als einen Vorgang des Unbewussten: „Wenn das Auge die Farbe erblickt, so wird es gleich in Tätigkeit gesetzt, und es ist seiner Natur gemäß, auf der Stelle eine andre so unbewußt [!] als notwendig hervorzubringen, welche mit der gegebenen die Totalität des ganzen Farbenkreises enthält.“ 234 So wirken zwischen auslösendem Farbreiz und physiologisch produzierter Farbe Stimmung bzw. Farbempfindung und Komplementärfarbenerzeugung im Unbewussten zusammen, da die zweite nur auf der Basis der ersten erfolgen kann. Indem sich das Unbewusste auf diese Weise in den Bildern der Netzhaut visualisiert, ist es für die Erkenntniskraft nur indirekt über diese Phänomene zugänglich. In diesem Modell wird Newtons mathematisierte Teilung der Farben durch die individuellen psychischen Reaktionen des Subjekts ersetzt, wird die Seele selbst zum empfindenden Messgerät der Farben. In der im herrschenden Paradigma der newtonischen Optik primär durch das Messen erzielten Objektivität von Daten werden die Zahlen in ein arbiträres Verhältnis zu den Farbphänomenen gesetzt. Griff auch G ­ oethe 235 in seinen frühen physiologischen Farbversuchen zu dieser Methode, besitzt in seinen späteren Studien allein das durchs und im Sehorgan sichtbar gemachte Gesetz der Komplementarität objektive Beweiskraft. Hier sind ästhetische Erscheinung und die physiologische Gewinnung wissenschaftlicher Daten identisch. Ausschlaggebend für die Objektivität der Erkenntnis ist die Linearität von G ­ oethes Modell der Farbemp­ findung. Dieses konstituiert sich aus einem sichtbaren Kausalverhältnis, in welchem ein „logisch“ agierendes, Komplementärfarben bildendes Auge nur durch die mediale

232 WA I,37, S. 316 (Aus ­Goethes Brieftasche. Mercier-Wagner. Neuer Versuch über die Schauspielkunst aus dem Jahre 1776). Zu den unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs Stimmung vgl. Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm, Stimmung, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 10, 2. Abt., 2 Theil: Stehung – Stitzig, Leipzig 1960, Sp. 3127 – 3135, hier Sp. 3129 – 3132. 233 Vgl. dazu ausführlicher Wellbery, David E., Stimmung, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. v. Karlheinz Barck u. a., 7 Bde., Bd. 5: Postmoderne – Synästhesie, Stuttgart / Weimar 2003, S. 703 – 733, hier S. 706. 234 LA I.4, § 805, S. 233 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 235 Wie in Kapitel 3.2.2 thematisiert, führte ­Goethe im Juli 1794 physiologische Versuche durch, in denen er die Dauer der vom geblendeten Auge erzeugten Farben maß. Vgl. ebd., § 41, S. 35.

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Wirkung des Unbewussten aktiv werden kann. In diesem Kontext wird das per se Nichtanalysierbare zur Basis einer klaren Gesetzmäßigkeit. Um die objektive Beweiskraft der Farbempfindungen diskursiv zu unterstützen, zeigt ­Goethe in der sechsten Abteilung der Farbenlehre ihren unmittelbaren Bezug zum Sittlichen auf, den er ihnen anders als zahlreiche Forscher und Philosophen seiner Zeit zugesteht.236 Der Begriff sittlich bezeichnete zu ­Goethes Zeiten verbindliche Werte des Zusammenlebens: „lebensgewohnheiten, in denen sich die innere menschliche art äuszert“ und die „zu dieser inneren art selbst gehörig, darauf bezüglich“ sind.237 In der o. g. Abteilung erörtert ­Goethe bei Betrachtung jeder Einzelfarbe erst nach diskursiver Darlegung ihrer Wirkungen in Zimmern, an Kleidern, bei unterschiedlichen Nationen u. v. m. die psychologischen Effekte der chromatischen Phänomene. Die Kenntnis um das Kausalverhältnis von äußeren und subjektiv produzierten Farben wirkt sich in spezifischer Weise auf die Versuchskonstellationen der physiologischen Farberzeugung aus. G ­ oethe setzt nicht auf Selbstexperimente wie Johann Wilhelm Ritter in den galvanischen Versuchen oder Johann E. Purkinje in seinen sinnesphysiologischen Selbstexperimenten. G ­ oethe versetzt den lebenden Organismus nicht in einen künstlichen Zustand, sondern bringt den auslösenden Farbreiz in eine dekontextualisierte Situation, um an den gezielt herbeigeführten Reaktionen die Gesetze der psychophysiologischen Farbentwicklung zu studieren:238 „Man halte ein kleines Stück lebhaft farbigen Papiers oder seidnen Zeuges vor eine mäßig erleuchtete weiße Tafel, schaue unverwandt auf die kleine farbige Fläche und hebe sie, ohne das Auge zu verrücken, nach einiger Zeit hinweg, so wird das Spektrum einer andern 236 Vgl. ebd., § 758, S. 224. Vgl. zur ambivalenten Bewertung des Sittlichen der Farbe das in Kapitel 1.1, Fußnote 6 dargelegte Konzept Immanuel Kants. In der Kritik der reinen Vernunft bindet Kant die Farben anders als die a priori gegebenen Anschauungsformen von Raum und Zeit als empfindungsabhängige Qualitäten an die individuelle Erfahrung und spricht ihnen damit jeden sittlichen Aspekt ab. In der Kritik der Urteilskraft verleiht er ihnen als Objekten des reinen Geschmacksurteils einen verbindlichen Charakter, den er aus den Empfindungen der Farbqualitäten abstrahiert. Zur Aufwertung der Farbempfindungen durch ihren Bezug aufs Sittliche bei Goethe vgl. Helbig, Naturgemäße Ordnung, a. a. O., S.  302 – 303. 237 Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm, sittlich, in: dies., Deutsches Wörterbuch, Bd. 10, 1. Abt.: See­ leben – Sprechen, Leipzig 1905, Sp. 1266 – 1271, hier Sp. 1267. 238 Diese Methode beschreibt Nicolas Pethes neben dem Isolieren, Observieren, Protokollieren und Interpretieren als epistemologisches Prinzip einer experimentellen Erfassbarkeit des Menschen im 18. Jahrhundert. Bedingt durch die hauptsächlich anthropologische Prägung des Körperkonzepts handelte es sich in jener Zeit nicht um Menschenversuche im heutigen Sinn. Diese bestimmt der Autor über die künstliche Veränderung des Organismus als „die in einer eigens generierten Umgebung erfolgende Provokation organischer, physiologischer oder psychischer Reaktionen durch gezielte Eingriffe am lebenden Körper, die beobachtet, verglichen und dokumentiert werden“. Das hauptsächlich durch Selbst- und Fremdbeobachtung erlangte Wissen bezeichnet Pethes deshalb als „Proto-Experiment“. Vgl. Pethes, Zöglinge der Natur, a. a. O., S. 125, 28 und S. 11, Zitat S. 11.

3.3  Das Auge als Medium der Welterfahrung

Farbe auf der weißen Tafel zu sehen sein.“ 239 Neben den gezielt ausgelösten Reizen integriert ­Goethe auch Reaktionen auf zufällig gemachte, in ihrem Kontext belassene Beobachtungen in seine Analyse. Da sich ausschließlich die reizauslösenden Objekte in einem natürlichen oder künstlichen Zustand befinden, der menschliche Körper jedoch bei Versuch und Beobachtung in gleicher Weise agiert, sind Forscher- und Alltagsperson hier identisch: „Ich befand mich gegen Abend in einer Eisenschmiede, als eben die glühende Masse unter den Hammer gebracht wurde. Ich hatte scharf darauf gesehen, wendete mich um und blickte zufällig in einen offenstehenden Kohlenschoppen. Ein ungeheures purpurfarbenes Bild schwebte nun vor meinen Augen, und als ich den Blick von der dunklen Öffnung weg nach dem hellen Bretterverschlag wendete, so erschien mir das Phänomen halb grün halb purpurfarben, je nachdem es einen dunklen oder hellern Grund hinter sich hatte. Auf das Abklingen dieser Erscheinung merkte ich damals nicht.“ 240

Da nur die eigene Psyche als Gradmesser der Farbempfindung fungieren kann, benutzt ­Goethe in den physiologischen Farbversuchen primär die Selbstbeobachtung als Erkenntnismittel, weshalb nachfolgend die Begriffe Versuch und Selbstbeobachtung identisch verwendet werden. Um dieser subjektivierten Erkenntnismethode den Vorwurf der mangelnden Objektivität zu ersparen, setzt ­Goethe voraus, dass „alle gesunde Augen alle Farben und ihr Verhältnis ohngefähr überein sehen. Denn auf diesem Glauben der Übereinstimmung solcher Apperzeptionen beruht ja alle Mitteilung der Erfahrung.“ 241 In dieser Annahme zeigen sich Strukturhomologien zu Kants Konzept der reinen Geschmacksurteile, bei denen man als subjektivem Prinzip der Urteilskraft a priori voraussetzen kann, dass alle Menschen ein gleiches Beurteilungsvermögen der Schönheit besitzen.242 Da ­Goethe das visuelle Kausalverhältnis der Komplementärfarben als für jeden Menschen geltend postuliert, erscheinen die gewonnenen Daten wie in den physikalischen Experimenten sinnlich erfahrbar und abstrakt gleichermaßen. Indem er den Erfolg eines Versuchs von einer disziplinierten Selbstbeobachtung abhängig macht, reiht er sich in den spätaufklärerischen Diskurs der Erfahrungsseelenkunde ein, die durch das gleichnamige Magazin von Karl Philipp Moritz einen entscheidenden Aufschwung erfuhr.243 Selbsterfahrung und -beobachtung hatten Ende des 18. Jahrhunderts den gleichen epistemologischen Stellenwert wie anatomi239 LA I.4, § 49, S. 37 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 240 Ebd., § 44, S. 36. 241 FA I.18, S. 602 (Diderots Versuch). 242 Kant, Kritik der Urteilskraft, a. a. O., S. 220 – 221. 243 Karl Philipp Moritz’ Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde erschien von 1783 – 1793 und enthielt ein Kompendium unterschiedlichster Beschreibungen von Selbstbeobachtungen des psychischen und körperlichen Zustandes, aber auch von Fremdbeobachtungen des Verhaltens anderer.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

sche und physiologische Untersuchungen.244 In seinem Magazin sammelte der mit ­Goethe befreundete Moritz eigene und fremde Fälle von Selbst- und Fremdbeobachtung. Besonders die Selbstbeobachtung bzw. Introspektion wurde von Moritz als entscheidende wissenschaftliche Erkenntnismethode körperinterner und seelischer Vorgänge eingesetzt, wovon nicht zuletzt der griechische Titel der Schriftenreihe Gnothi ­sauton – Erkenne dich selbst! zeugt. In dieser Methode observiert das erkennende Subjekt als ein Beobachter zweiter Ordnung das eigene als Untersuchungsobjekt fungierende Verhalten. Die Besonderheit dieses Erkenntniskonstrukts kann – wie Moritz erkennen muss – zu Ergebnisverfälschungen führen. Um zur eigenen Person ein analytisches Verhältnis zu erlangen, muss sich das Subjekt in einen frei agierenden und einen methodisch-rationalen Teil spalten, womit es sich in ein instrumentelles Verhältnis zu sich selbst setzt. Hier besteht die Gefahr, dass der Beobachter, der sein eigener Zuschauer ist, vor dem erkennenden Ich eine künstliche Rolle spielt und damit das Ziel der Introspektion, das eigene Innenleben zu erkunden, in sein Gegenteil verkehrt.245 Dieser blinde Fleck der Selbstbeobachtung entgeht auch Moritz nicht: „Denn wenn das Denkende sich selbst unmittelbar erforschen will, so ist es immer in Gefahr sich zu täuschen, weil es sich in keinem einzelnen Augenblicke von sich selber absondern, sondern nur ein Hirngespinst statt seiner vor sich hinstellen kann, um es zu zergliedern.“ 246 Ebenso wie Kant, der die Folgen reiner Introspektion in „Schwärmerei und Wahnsinn“ verortet,247 verurteilt auch G ­ oethe die Ausschließlichkeit dieser Erkenntnismethode, expliziert seine Kritik jedoch bezeichnenderweise am Gehirn als negativierter Projektionsmetapher: „Der Mensch ist als wirklich in die Mitte einer wirklichen Welt gesetzt und mit solchen Organen begabt, daß er das Wirkliche und nebenbei das Mögliche erkennen und hervorbringen kann. Alle gesunde Menschen haben die Überzeugung ihres Daseins und eines Daseienden um sie her. Indessen gibt es auch einen hohlen Fleck im Gehirn, das heißt eine 244 Vgl. Hagner, Michael, Psychophysiologie und Selbsterfahrung. Metamorphosen des Schwindels und der Aufmerksamkeit im 19. Jh., o. A. (= Preprint 138 des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte), S. 4. 245 Vgl. Zelle, Carsten, Experimentalseelenlehre und Erfahrungsseelenkunde. Zur Unterscheidung von Erfahrung, Beobachtung und Experiment bei Johann Gottlob Krüger und Karl Philipp Moritz, in: ders. (Hg.), „Vernünftige Ärzte“. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2001, S. 173 – 185, hier S. 184. Vgl. auch Bezold, Raimund, Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz, Würzburg 1984, S. 161. 246 Moritz, Karl Philipp (Hg.), Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde hg. v. Karl Philipp Moritz, VIII. Band, Berlin 1791, S. 5. 247 Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a. a. O., S. 16.

3.3  Das Auge als Medium der Welterfahrung

Stelle, wo sich kein Gegenstand abspiegelt, wie denn auch im Auge selbst ein Fleckchen ist, das nicht sieht. Wird der Mensch auf diese Stelle besonders aufmerksam, vertieft er sich darin, so verfällt er in eine Geisteskrankheit, ahnet hier Dinge aus einer andern Welt, die aber eigentlich Undinge sind und weder Gestalt noch Begränzung haben, sondern als leere NachtRäumlichkeit ängstigen und den, der sich nicht losreißt, mehr als gespensterhaft verfolgen.“ 248

Die Gefahr einer durch die Introspektion erzeugten Ergebnisverfälschung ist in ­Goethes Versuchen von vornherein ausgeschlossen, da die physiologischen Farben ein Vorgang des Unbewussten sind. Im Erkenntnisprozess dieser Phänomene beschreibt ­Goethe zwei psychologisch unterschiedliche Zustände, zwischen denen ein Anschluss konstituiert wird. Anders als in der ausschließlichen Introspektion, in welcher die Spaltung des Ichs als nichtintendierte Handlung des Bewusstseins herbeigeführt wird, teilt ­Goethe von vornherein die Seele des Subjekts in ein zu beobachtendes, unbewusst agierendes Objekt der komplementären Farberzeugung, dessen sichtbare Resultate das im Ganzen belassene bewusste Ich auf der Erkenntnisebene analysiert. Aus diesem Grunde können sich beide Zustände nicht selbst behindern wie die ausschließlich auf bewusster Ebene agierenden Denkprozesse in Moritz’ Erfahrungsseelenkunde. Hält ­Goethe, wie im letzten Kapitel beschrieben, die explorative Versuchsmethode für ungeeignet, die Komplexität des Lebenden selbst adäquat zu erfassen, wird die Unbrauchbarkeit dieser Methode paradoxerweise durch die Linearität des psychologischen Reiz-Reaktions-Modells in der Selbstbeobachtung unterstrichen. Das Versuchsobjekt Mensch erscheint hier nicht als epistemisches Ding, da der Prozess der Selbstbeobachtung kein kontingentes Netz von Erkenntnismöglichkeiten enthält, deren sich widersprechende Zwischenergebnisse zu einer Eigendynamik des Versuchsverlaufs führen. Gerade dort, wo ­Goethe mit dem von ihm aufgewerteten humanoiden Forschungsobjekt am stärksten von Newtons Farbkonzeption abweicht, nähern sich die Versuchsmethoden beider am stärksten: Der Versuch bzw. die Selbstbeobachtung erscheint nicht als explorative Methode eines zu Beobachtungsbeginn noch nicht Gewussten, sondern wie bei Newton als Beweismittel einer klar gestellten Ausgangsfrage, die das bereits bekannte Komplementärgesetz der Farben bestätigt oder negiert. Erkennt G ­ oethe das Urphänomen erst nach einer Reihe physikalischer Versuche, reduziert er in der Fragestellung am Beginn der physiologischen Versuche das komplexe Leben auf die klaren Kausalrelationen Ausgangsfarbe – Komplementärfarbe. Dass das Wissen über Farben immer an die eigene Wahrnehmung gebunden bleibt, verdeutlichen im negativen Umkehrschluss ­Goethes Befragungen von Farbenblinden, in denen das Fehlen einer zuverlässigen intersubjektiven Vergleichsmöglichkeit zu Missdeutungen führte.

248 ­Goethe, Maximen und Reflexionen, a. a. O., Maxime 266, S. 60.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

3.4 Wo ist das Blau geblieben? – ­Goethes Versuche mit Farbenblinden ­ oethe integrierte nicht nur die physiologischen Nachbild- und Simultanfarben in G die Norm der optischen Wahrnehmung, sondern widmete sich auch der häufigsten Abweichung des Farbensehens: der Farbenblindheit, die um 1800 noch ein sehr junger Forschungsgegenstand war. Er benutzte nachweislich als einer der Ersten systematisch aufgebaute Versuchsreihen.249 Aufgrund fehlender traditioneller Erklärungsansätze der Farbenblindheit musste G ­ oethe auf unterschiedliche Begründungen und Methoden aus anderen Fachbereichen zurückgreifen. Er strukturierte die Versuchsreihen nicht nur nach ästhetischen Kriterien, sondern richtete sie anders als in seinen Selbstbeobachtungen der physiologischen Farberzeugung an seiner erprobten physikalischen Experimentalmethode aus. Den intensiven methodischen Überlegungen zum Trotz stellte G ­ oethe eine Fehldiag­ nose, die auf die Unmöglichkeit eines direkten intersubjektiven Farbvergleichs verweist. Die abweichenden Reaktionen der Testantenaugen entzogen sich der interpretativen Macht des Versuchsleiters ­Goethe aus zwei Gründen: Zum einen teilten die Betreffenden ihre sinnlichen Erfahrungen, die sie in einschlägigen Versuchen sammelten, lediglich über das arbiträre Zeichensystem der Sprache mit. Zum anderen interpretierte ­Goethe die Versuchsergebnisse über das Speichermedium eines stark verdichteten wissenschaftlichen Schemas, das auf der Wahrnehmung von Farbnormalsichtigen basierte. In der hier vorgenommenen Untersuchung von G ­ oethes Beschäftigung mit der Farbenblindheit wird der positivistischen Interpretation Kanajews nicht gefolgt. Dieser benutzt G ­ oethes nur partiell zutreffende Erklärung des Phänomens als Begründung für die Feststellung einer wissenschaftshistorischen Irrelevanz von dessen Experimenten.250 In seiner ergebnisorientierten Herangehensweise entgeht Kanajew jedoch, dass es gerade die experimentellen Strategien und Methoden ­Goethes sind, die ein entscheidendes Licht auf die wissenschaftshistorisch vielschichtige Erklärung der Farben und die in diesem Kontext aufscheinenden Interdependenzen von Ästhetik und Naturwissenschaft werfen. Während bereits um das Jahr 1000 gläserne Kugelsegmente zur Vergrößerung von Gegenständen bekannt waren und Mitte des 13. Jahrhunderts nachweislich geschliffene Gläser und Kristalllinsen zur Korrektur der Sehschärfe benutzt wurden,251 wäh249 Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Jaeger, Wolfgang, ­Goethes Untersuchungen an Farbenblinden, in: Heidelberger Jahrbücher XXIII (1979), S. 27 – 38, hier S. 29. 250 Bei Kanajew heißt es wörtlich: „Die von ­Goethe gegebene theoretische Erklärung der Farbenblindheit ist nur zum Teil richtig, so daß es sich hier nicht lohnt, näher darauf einzugehen.“ Kanajew, Iwan Iwanowitsch, G ­ oethes Arbeiten zum Problem der Physiologie des Farbsehens, in: G ­ oethe-Jahrbuch 94 (1977), S. 113 – 126, hier S. 124. 251 Vgl. Münchow, Geschichte der Augenheilkunde, a. a. O., S. 170 – 171.

3.4  Wo ist das Blau geblieben? – ­Goethes Versuche mit Farbenblinden

rend also bereits früh die Kurz- und Weitsichtigkeit des Menschen Beachtung erfuhr, rückte die Farbenblindheit erst Ende des 18. Jahrhunderts in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses. Dafür sind m. E. besonders zwei Gründe ausschlaggebend: Da erstens Störungen der Sehschärfe die lebensnotwendige Orientierung im Raum und die davon abhängigen Lebensprozesse nachhaltig behindern können, wurden diese Pathologien wesentlich früher beachtet als das Fehlsehen von Farben. Zweitens trug höchstwahrscheinlich die Entdeckung der vom Auge erzeugten Farben seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entscheidend dazu bei, das Forscherinteresse auf die Farbenblindheit zu lenken. Die ersten Wissenschaftler, die sich mit diesem Gegenstand beschäftigten, waren allerdings nicht unter den Medizinern zu finden, sondern unter den Physikern und Chemikern. Dieser Fakt veranschaulicht rekursiv, dass die wissenschaftliche Erforschung der Farbentstehung bisher ein traditionelles Objekt der geometrischen Optik und der Chemie war und sich erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts in den für die Physiologie des Sehens zuständigen Bereich der Medizin auszuweiten begonnen hatte. Die nachweislich erste Beschreibung des mangelnden Farbensehvermögens lieferte 1777 Joseph Priestley, den ein englischer Schiffskapitän auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht hatte,252 in den Philosophical Transactions of the Royal Society of London. Nachdem ein Jahr später in der gleichen Zeitschrift der Brief eines nicht näher identifizierbaren J. Scott von einem ähnlichen Fall berichtete, in dem mehrere Familienmitglieder Rot und Grün verwechselten, erlangte die Farbenblindheit durch die Selbstversuche des englischen Chemikers und Physikers John Dalton endgültig wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Dalton, der ebenfalls Rot von Grün nicht unterscheiden konnte, publizierte seine Selbstbeobachtungen im Jahre 1798 im Edinburgh Journal of Sciences.253 All diese Publikationen kannte G ­ oethe mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht, als er im November 1798 damit begann, Versuche zur Wahrnehmung von Farbenblinden an zwei Testpersonen durchzuführen, von denen nur die Identität des Haupttestanten, des Jenaer Jura-Studenten Johann Karl Friedrich Gildemeister, bekannt ist.254 Erst ein 252 Der Kapitän Joseph Huddart beschrieb die Sehschwäche eines Schusters und zweier seiner Brüder, die die Farbunterschiede an grünen und roten Kirschen nicht erkennen konnten. Vgl. ebd., S. 470. 253 Vgl. ebd. Der Begriff Daltonismus wird zum Teil heute noch für Fehler im Farberkennungsvermögen verwendet. 254 ­Goethe schreibt im didaktischen Teil der Farbenlehre von zwei Farbenfehlsichtigen, die er befragte. Vgl. LA I.4, § 104, S. 54 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). Die meisten noch vorhandenen Aufzeichnungen G ­ oethes zur Farbenblindheit beziehen sich auf Gildemeister. Die Identität der zweiten Versuchsperson kann nicht eindeutig ermittelt werden. Es könnte sich um den Kunsthistoriker Felix von Rumohr handeln. Rupprecht Matthaei und Dorothea Kuhn gehen davon aus, dass ­Goethe nach der Befragung von Gildemeister 1798/99 Kontakte zu weiteren fünf Farbenblinden zwischen 1804 und 1815 hatte; über Ausmaß und Inhalt dieser Verbindungen liegen allerdings keine konkreten Nachweise vor. Vgl. LA II.3, S. 291.

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schriftlicher Beleg aus dem Jahre 1799 verweist darauf, dass G ­ oethe Daltons Ausführungen nach den ersten Versuchsreihen rezipiert hatte.255 Anders als in den Selbstbeobachtungen zur aktiven Farberzeugung des Auges, in denen ­Goethe die explorative Versuchsmethode nicht anwendet, greift er in der Untersuchung von Farbenblinden auf jene zurück. In diesen Experimenten sind Versuchsobjekt und -leiter verschiedene Personen, weshalb das Objekt quasi „von außen“ aus unterschiedlichen Perspektiven beobachtet werden kann. Tritt die Wahrnehmung des Farbenblinden hier als epistemisches Ding auf, über deren Abweichung vom normalen Farbensehen zu Versuchsbeginn noch Unklarheit herrscht, ist diese am Ende der Experimentalreihe durch G ­ oethes Fehlurteil, der als Normalsichtiger die Versuchsresultate der Farbenblinden zu strukturieren versucht, noch immer nicht beseitigt. Das dieses Fehlurteil hauptsächlich bedingende Medium der Sprache, mit welchem die Testanten das von ihnen Wahrgenommene an G ­ oethe übermittelten, prägte wiederum die Spezifik der experimentellen Reihen. Bei diesen handelte es sich nicht um Menschenversuche im heutigen Sinn, die den lebenden Organismus in einen künstlichen Zustand versetzen, sondern um eine Befragung von Versuchspersonen. Die erste Sitzung mit dem Testanten Gildemeister begann ­Goethe vermutlich mit einer frei tastenden Unterhaltung, der keine von vornherein festgelegte Versuchsreihe zugrunde lag. Er ließ den Probanden Graureihen und Farben auf Tafeln,256 farbiges Papier, in einer Porzellantasse aufgestrichene Farben und Pigmentmischungen begutachten. Nach dem ersten Gespräch brachte G ­ oethe die Aussagen Gildemeisters in eine gewisse Ordnung und stellte daraus resultierend folgende Hypothesen auf, die er als Basis für weitere Befragungen nahm: Erstens kann das Auge bereits kleine Differenzen von Hell und Dunkel unterscheiden, Grau hingegen nimmt es als Blau wahr. Zweitens werden ein dunkles Grau und Schwarz als Braun empfunden. Drittens bezeichnet der Testant ein helles und ein dunkles Blau einheitlich als Blau und erkennt dessen Nuancen nicht. Viertens verwechselt er in besonderem Maße die Farben Blau, Violett und Karminrot, das zu ­Goethes Zeiten tatsächlich einen stärkeren Blauanteil als heute enthielt. Fünftens sieht er statt des Grünen Rot bzw. eine Art Orange.257 Die sich in der ersten Sitzung ergebende Ordnung der Versuche, die ­Goethe bei weiteren Treffen mit Gildemeister und einem zweiten Probanden im Folgejahr sowie späteren Tests von Farbenblinden im Jahre 1804 einsetzte, begründet er wie folgt: „Wenn man die Unterhaltung mit ihnen [den Farbenblinden – S. Sch.] dem Zufall überläßt und sie bloß über vorliegende Gegenstände befragt, so gerät man in die größte 255 Vgl. LA I.3, S. 359 (Von Personen, welche gewisse Farben nicht unterscheiden können). 256 Bei den Tafeln handelt es sich – wie Matthaei / Kuhn schlussfolgerten – vermutlich um die Motive auf den beiden Seiten der großen Tafel zum zweiten Stück der Beiträge zur Optik. Vgl. LA  II.3, S. 300. 257 Vgl. LA II.3, S. 295 – 296 (Erste Versuche mit Herrn Gildemeister wegen des Nicht Unterscheidens der Farben, 19. November 1798).

3.4  Wo ist das Blau geblieben? – ­Goethes Versuche mit Farbenblinden

Verwirrung und fürchtet wahnsinnig zu werden. Mit einiger Methode hingegen kommt man dem Gesetz dieser Gesetzwidrigkeit schon um vieles näher.“ 258 In den folgenden Treffen benutzte G ­ oethe neben der bereits beschriebenen Graureihenbeurteilung, dem Farbaufstreichen in Tassen und dem sogenannten Farbenfleckverfahren, in dem vorgelegte Farbproben beurteilt werden müssen, auch Nachbild- und Prismenversuche.259 Diese Experimente führten im Wesentlichen zur Bestätigung der ersten Versuchsergebnisse bzw. der nach ihnen aufgestellten Hypothesen. Die Sättigungsunterschiede bestimmter Farben der Tassenaufstriche bezeichnete der Proband mit unterschiedlichen Farbnamen. Gildemeister, der die hellere Farbe an den Tassenwänden mit der dunkleren Farbe des -bodens vergleichen sollte, nahm das Blau an Wand und Boden als solches wahr, das zusammengeflossene Karmin in der Bodenmitte als Rot, an den Tassenwänden als Blau, und im dunkelsten Raum der Tasse sah er etwas Gelb.260 Aus den Aussagen des Testanten und seiner Bezeichnung eines rosenfarbenen Papiers als blau zog ­Goethe diagnostische Schlussfolgerungen, die auf seiner physikalisch und chemisch gewonnenen Theorie der Verdichtung basieren. In dieser geht er davon aus, dass die von ihm postulierten Grundfarben Gelb und Blau bei zunehmender Intensität jeweils einen rötlichen Schein erhalten. Bei der Zusammenführung der dabei erzeugten Farben Gelbrot (Orange) und Blaurot (Violett) entsteht das Purpur. In diesem Kontext erzeugen quantitative Veränderungen eine neue Qualität der Farbe:261 „Er [Gildemeister – S. Sch.] sähe also das große Moment, was in unserer Farbendeduktion so bedeutend ist, die Verdichtung des Gelben zum Roten immerfort werden und das verdichtete Gelb sich aus dem Roten immer wieder ablösen, jedes verdichtete, jedes getrübte, jedes verdunkelte Gelb erschien ihm also rot. […] Die Rosenfarbe, die sich ihrer Natur nach zum Blauen neigt, so wie ein sehr verdünnter oder unreiner Karmin, käme ihm blau vor, weil er das Gelbe, das bei ihm dem Roten immer unterliegt, nicht mehr finden kann; man könnte also sagen, er sähe auf dieser Seite ebenso gut Blau als Base des Roten, wie er auf der andern Seite immer Gelb als Base des Roten gesehen hat.“ 262

Gildemeisters Verwechseln von Grün und Orange erklärte ­Goethe also nach diesem Prinzip: Er nähme nur Orange wahr, da sich im Grün (gemischt aus Gelb und Blau) 258 LA I.4, § 109, S. 55 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 259 Vgl. LA I.3, S. 278 – 279 (Vermerke von Versuchen mit zwei Akyanobleponten). 260 Vgl. LA II.3, S. 297 (Erste Versuche mit Herrn Gildemeister, 12. Februar 1799). 261 Vgl. LA I.3, § 21, S. 197 (Versuch die Elemente der Farbenlehre zu entdecken). Der noch in dieser Vorarbeit verwendete Begriff der Verdichtung wird nach der mit Schiller diskutierten Harmonielehre der Farben in der Zeit der hier beschriebenen Versuche in der Farbenlehre durch den der Steigerung ersetzt. 262 LA II.3, S. 296 (Erste Versuche mit Herrn Gildemeister, 19. November 1798).

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das Blaue neutralisiere und dadurch das Gelb verdichte, das nun durch seine Neigung zum Roten von Gildemeister als Orange perzipiert werde.263 Neben der Erzeugung einer neuen Qualität konstatierte ­Goethe unter farbpsychologischem Aspekt aus Gildemeisters einheitlicher Bezeichnung von Blau, Violett und Karmin als Blau, dass diese Farben der ästhetisch-passiven Seite in ihrer nichtnuancierten Wahrnehmbarkeit lediglich quantitativ auf ihn wirken.264 Das Wahrnehmen grauer Pigmentfarben als Blau erklärte G ­ oethe durch eine Analogie zur physikalischen Wirkung des trüben Mittels, in welchem vor einem dunklen Hintergrund Blau erscheint.265 Erst nach diesen Experimenten mit Pigmentfarbenproben ging ­Goethe zu Versuchen mit Prismenfarben über, die im Großen und Ganzen die früheren Ergebnisse bestätigten. Er ließ Gildemeister durch ein Prisma auf ein dunkles Fensterkreuz blicken. Lediglich das Orange, das er bei den Pigmentfarben wahrgenommen hatte, erkannte dieser trotz Vorhandensein bei den Prismenfarben nicht.266 Die anschließenden Nachbildversuche funktionierten problemlos bei unbunten Farben, als ein schwarzes Viereck vor eine graue Fläche gehalten und danach entfernt wurde, während sie mit farbigen Elementen erfolglos blieben. Die hier ausführlich beschriebenen Versuchskonstellationen und G ­ oethes Befragungsauswertung sollen veranschaulichen, wie der einzige Führer in einem Experimentalsystem die Verfahrensart selbst ist.267 Auch wenn sich G ­ oethe bedingt durch den sehr jungen Forschungsgegenstand der Farbenblindheit an keinerlei methodischen Vorbildern orientieren konnte, experimentierte er nicht bedingungslos „ins Blaue“ hinein, sondern wählte Methoden und Instrumente, die er in seinen bisherigen Farbstudien benutzt hatte: Erst nachdem er Versuche mit Pigmentfarben durchführte, die sowohl für die Malerfarben als auch für den „unbewaffneten“, reinen Blick auf die Farbe stehen, wendete er subjektive Prismenexperimente an, in denen sich die Farben durch das Zusammenwirken von Blick und brechendem Mittel entwickeln. Am Ende der Versuchsreihen standen mit den Nachbildversuchen Experimente zur Physiologie des Auges. Mit dieser Vorgehensweise setzte ­Goethe nicht nur das Kolorit als künstlerisches Mittel über die Farbe als physikalisches Analyseobjekt, sondern band auch von Versuch zu Versuch die Aktivität des Auges stärker ein. Mit dieser Methode vollzog er mehr oder weniger bewusst genau jenen Weg nach, der ihn zum Großprojekt der 263 Vgl. ebd. 264 Vgl. LA II.3, S. 298 (Fernere Versuche mit Herrn Gildemeister, 13. Februar 1799). Im Farbenkreis stellt G ­ oethe den aktiven (warmen, wirkenden und heiteren) Farben Gelb und Orange die passiven Farben Blau und Violett gegenüber, die einen kalten, distanzerzeugenden Eindruck auslösen. Vgl. LA I.4, §§ 765 – 791, S. 225 – 230 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 265 Vgl. LA II.3, S. 295 (Erste Versuche mit Herrn Gildemeister, 19. November 1798). 266 Ein möglicher Grund für diese Reaktion könnte darin liegen, dass in der Wahrnehmung der Kantenspektren durch Farbenblinde eine stetige Verdunkelung des Gelben gegen das Schwarz erfolgt. Vgl. LA II.3, S. 302. 267 Vgl. LA I.3, S. 295 (Der Versuch als Vermittler).

3.4  Wo ist das Blau geblieben? – ­Goethes Versuche mit Farbenblinden

Farbenlehre führte – den Weg von der Suche nach den Farbgesetzen der Malerei über die physikalischen Farbexperimente zu den physiologischen Farben. Ein Blick auf die Vorgehensweise des Physikers und Chemikers John Dalton, der vermutlich als erster die Farbenblindheit methodisch untersuchte, soll einmal mehr unterstreichen, wie Experimentalstrategien in Zeiten sich umstrukturierender Denk- und Erklärungsmuster vom jeweiligen epistemologischen Hintergrund des Versuchsleiters abhängen. Dalton beschreibt neben seinem mangelhaften Vermögen zum Scharfsehen – er ist im Gegensatz zu ­Goethes Testanten kurzsichtig – seine undifferenziertere Farbwahrnehmung, die nur zwei bis drei prismatische Farben unterscheiden kann: Gelb, Blau und Purpur. Während er – anders als ­Goethe – zuerst die Farbwahrnehmung beim Blick durchs Prisma auf die Sonne und eine Lichtflamme darlegt, schaut er anschließend bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen auf gefärbte Gegenstände und versucht sich an der Beschreibung ihrer Farben. Seine spekulative Ursachensuche führt Dalton zu physikalischen Theorien, die er auf die Physiologie des Auges anwendet. Er vermutet, dass die glasartige Augenfeuchtigkeit (gemeint ist damit der Glaskörper des Auges) gefärbt sei und deshalb nur bestimmte Strahlen ins Auge lasse, andere aber – die roten und grünen – „verschlucke“.268 Diese Vermutung weist Parallelen zu Newtons Theorie der Körperfarben auf, nach der sich gewisse Körper aus transparenten Teilen zusammensetzen, die auf Licht wie dünne Schichten wirken. Die Stärke solcher Schichten ist entscheidend dafür, welche Farben reflektiert und welche durchgelassen werden.269 Obwohl die Anwendung der unterschiedlichen Testmethoden immer wieder zu den gleichen Ergebnissen: dem Verwechseln von Grün mit Rot bzw. Orange und dem Nichtunterscheidenkönnen von Blau, Violett und Karmin durch die Farbenblinden führte, unterlag G ­ oethe bei seiner Auswertung einer Fehldiagnose, die den Testantenaussagen erheblich widersprach. Urheber der Diagnose war interessanterweise nicht ­Goethe selbst, sondern der ehemals praktizierende Mediziner Friedrich Schiller, dem 268 Vgl. Dalton, John, Extraordinary facts relating to the vision of colours, in: Edinburgh Journal of Sciences IX, 96 (1798), zit. n. Hirschberg, Julius, Geschichte der Augenheilkunde, Bd. VI, Hildesheim / New York 1977 (Erstausgabe: Hirschberg, Julius, Handbuch der gesamten Augenheilkunde, Bd. 15.I, Berlin 1918), S. 34 – 36. 269 Die Schichten zerlegen das den Körper beleuchtende Licht in einen reflektierten und einen durchgelassenen Anteil. Diese Anteile zeigen verschiedene Farben, die meistens ein Mischprodukt aus mehreren homogenen Farben sind. Nicht die Brechbarkeit des Lichts induziert die Farbzerlegung, sondern diese wird durch farbspezifische, regelmäßig zu- oder abnehmende Zustände leichter Transmission oder Reflexion hervorgerufen. Der Lichtstrahl einer bestimmten Farbe wird z. B. reflektiert, wenn er im Zustand leichter Reflektierbarkeit auf eine brechende Fläche trifft. Im Zustand leichter Transmission wird er durchgelassen. Weil die Periodizität des Zustandswechsels je nach Farbe variiert, bestimmt im Endeffekt die Stärke der dünnen Schicht über Reflexion oder Transmission. Vgl. Newton, Optik, Zweites Buch, Dritter Teil, a. a. O., S. 37 – 68. Vgl. Renneberg, Farbige Schatten, a. a. O., S. 238.

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­ oethe nach jeder Sitzung mit Gildemeister von den Testergebnissen berichtet hatte.270 G Der beim Experiment abwesende Schiller vernahm lediglich ­Goethes mündlich vorgetragene Beschreibungen, aus denen er nach ­Goethes Worten folgende Diagnose zog: „Er [Friedrich Schiller – S. Sch.] war es, der den Zweifel löste, der mich lange aufhielt: worauf denn eigentlich das wunderliche Schwanken beruhe, daß gewisse Menschen die Farben verwechseln, wobei man auf die Vermutung kam, daß sie einige Farben sehen, andere nicht sehen, da er denn zuletzt entschied [!], daß ihnen die Erkenntnis des Blauen fehle.“ 271 Schiller bezeichnete den von ­Goethe beschriebenen Mangel des Farbensehens mit dem griechischen Wort Akyanoblepsie (Blaublindheit). Wie das im o. a. Zitat benutzte Verb entschied andeutet, fungierte Schiller damit als willkürlicher Richter, da die fehlenden Objektivitätskriterien und die damalige Nichtexistenz bewährter Diagnoseverfahren zur Feststellung einer abweichenden Farbwahrnehmung lediglich Spekulationen erlaubten. ­Goethe akzeptierte diese Interpretation wider besseres Wissen. Gildemeister hatte nicht nur mehrfach das Blau als solches erkannt, sondern auch die blauhaltigen Farben Violett und Karmin als Blau bezeichnet. Auf die psycho­ logisch ausgerichtete Frage nach der ihm angenehmsten Farbe hatte er ebenfalls das Blau angegeben.272 All diese Aussagen zeigen also, dass es sich bei ihm keinesfalls um das generelle Unvermögen handelte, das Blau zu erkennen, sondern dass er sogar mehr Blautöne wahrnahm als die Farbnormalsichtigen. Mit Schillers Diagnose vor dem inneren Auge führte ­Goethe, nachdem er die Behandlung der Farbenblindheit endgültig in den Entwurf der Farbenlehre aufgenommen hatte,273 im Jahre 1804 erneut Versuche mit Farbenblinden durch. In diesen Befra270 Noch am selben Abend jedes Sitzungstages am 12., 13. und 14. Februar 1799 diskutierte ­Goethe mit Schiller die Versuchsergebnisse. Vgl. Auszüge aus G ­ oethes Tagebüchern und den Ausschnitt eines Briefes an Johann Heinrich Meyer vom 12. Februar 1799, in: LA I.3, S. 272, 274 und S. 277. 271 Ebd., S. 277 (Auszug aus den Tag- und Jahresheften 1798). Diese Diskussion mit Schiller setzte der über 70-jährige ­Goethe später vermutlich fälschlicherweise in die Tag- und Jahreshefte 1798. 272 Vgl. LA II.3, S. 299 (Abermalige Unterhaltung mit Herrn Gildemeister, 14. Februar 1799). In diesem Kontext ist Jaegers Auswertung der g­ oetheschen Versuchsreihen nicht nachvollziehbar. J­ aeger geht davon aus, dass G ­ oethe direkt aus den Aussagen der Testanten schließt, die Probanden seien blaublind. Als entscheidenden Beleg gibt er an, dass Gildemeister ein helles Blau als Grau bezeichnete. Dieser nahm jedoch im Gegenteil mehrere graue Farbproben als blau wahr. Vgl. Jaeger, Wolfgang, Der Begriff des „Werdens der Farbe“ als Leitidee für ­Goethes Untersuchungen des Farbensinnes, in: Mann, Gunter / Mollenhauer, Dieter / Peters, Stefan (Hg.), In der Mitte zwischen Natur und Subjekt. Johann Wolfgang von G ­ oethe. Versuch, die Metamorphose der Pflanze zu erklären. 1790 – 1990. Sachverhalte, Gedanken, Wirkungen, Frankfurt am Main 1992, S. 81 – 91, hier S. 88. Vgl. LA  II.3, S. 294 (Erste Versuche mit Herrn Gildemeister, 19. November 1798). 273 Im Göttinger Schema aus dem Jahr 1801, das die endgültige Ordnung des didaktischen Teils festlegt, sieht ­Goethe die Behandlung der Farbenblindheit noch nicht in der Abteilung der Physiologischen Farben vor, sondern ordnet jene der Rubrik E. Anhang einzelner Abhandlungen zu, die er später nicht als eigenständiges Kapitel in den didaktischen Teil aufnimmt. Vgl. LA I.3, S. 335 – 338, hier S. 338 (Schema der Farbenlehre. Göttingen 1801).

3.4  Wo ist das Blau geblieben? – ­Goethes Versuche mit Farbenblinden

gungen benutzte er hauptsächlich objektive und subjektive Prismenversuche, zeigte den Testanten aber auch verschiedene Pigmentfarbenproben. Obwohl ­Goethe bei den zwei Versuchspersonen wiederum übereinstimmend die Verwechslung von Rot und Grün und das Erkennen von Blau beschreibt – Ergebnisse, die erneut die früheren Befragungsresultate bestätigten – benannte er diese Versuchsreihe nach Schillers Interpretation mit Vermerke von Versuchen mit zwei Akyanobleponten [Blaublinden – S. Sch.].274 Wie Wolfgang Jaeger im 20. Jahrhundert mit der Nachstellung von ­Goethes Experimenten an einem Urenkel Gildemeisters beweisen konnte, handelte es sich bei den von ­Goethe untersuchten Farbenblinden um eine der häufigsten Formen des partiellen Farbenfehlsehens, eine Rot-Grün-Blindheit, genauer: um eine ihrer Spezialformen – die Rotblindheit (Protanopie).275 Darauf deuten aus heutiger Sicht die einheitliche Wahrnehmung des Blaus und der blauhaltigen Rotfarben Karmin und Violett als Blau sowie das Verwechseln von Grün mit Rot bzw. Orange.276 ­Goethes eigentliche Entdeckung war ebendieses Nichtunterscheidenkönnen der Farben im Blau-Violett-Purpur-Bereich durch die Befragten – eine Entdeckung, der er keine Beachtung beimaß. Sie wurde ca. 150 Jahre lang auch von anderen nicht weiterverfolgt. Der Grund ist medienwissenschaftlich sehr aufschlussreich, zeigt er einmal mehr, dass ein Medium in seiner Funktion als Dispositiv immer die Art der menschlichen Wahrnehmung prägt: Wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Farbensinnstörungen endgültig in der Medizin beachtet,277 wurden für ihre Diagnostizierung lediglich die Spektralfarben benutzt. Da in ihnen allerdings keine Purpurtöne enthalten sind, wurde das von ­Goethe entdeckte Farbenfehlsehen im Purpur-Violett-Bereich lange Zeit wissenschaftlich nicht beachtet. Erst als Mitte des 20. Jahrhunderts moderne Farbfleckverfahren ähnlich den ­goetheschen eingeführt wurden, z. B. der Farnsworth-Munsell-Test oder die pseudoisochromatischen Tafeln, sind die Verwechslungen im Blau-Violett-Rotpurpur-Bereich wiederentdeckt worden.278

274 Vgl. LA I.3, S. 278 – 279 (Vermerke von Versuchen mit Akyanobleponten) und LA II.3, S.  305 – 307. 275 Vgl. Jaeger, Begriff des „Werdens der Farbe“, a. a. O., S. 89. 276 Vgl. ders., G ­ oethes Untersuchungen an Farbenblinden, a. a. O., S. 34. Vgl. Matthaei, Rupprecht, Wie ­Goethe Farbenblinde untersuchte, in: Klinische Blätter für Augenheilkunde 115 (1949), S. 97 – 108, hier S. 107. 277 Die erste Monographie zur Farbensinnstörung erschien 1855 aus Anlass eines Eisenbahnunfalls. Er ereignete sich, weil ein farbenblinder Lokführer die Signale falsch interpretierte. Vgl. Wilson, George, Researches on Colour-Blindness with a Supplement on the Danger Attending the Present System of Railway and Marine Coloured Signals, Edinburgh 1855. Das Buch umfasst immerhin 180 Seiten. 278 Vgl. zum gesamten Absatz Jaeger, ­Goethes Untersuchungen an Farbenblinden, a. a. O., S. 32 und S. 35. Die detaillierten Pigmentfarbenproben G ­ oethes, welche auf die differenzierten Verwechslungen der Rotblinden im o. g. Farbbereich schließen ließen, werden heute in den verschiedenen Verfahren des Farnsworth-Munsell-Tests zur Differentialdiagnose zwischen Rot- und Grünblindheit verwendet. Die am häufigsten eingesetzten Verfahren sind der Farnsworth-Panel-D-15-Test, bei dem ausgehend von einer feststehenden Blau-Marke 15 Farbsteine entsprechend ihrer Ähnlichkeit

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Warum aber akzeptierte ­Goethe wider besseres Wissen Schillers Fehleinschätzung bedenkenlos? Während ­Goethe die physiologischen Farben als Phänomene eines aktiven Auges beschreibt, deren Spezifik gerade in einem nichtmimetischen Verhältnis liegt, muss er im Urteil über die Wahrnehmung der Farbenblinden eine gewisse Repräsentationslogik anlegen, die seinem eigentlichen Ansatz zu widersprechen scheint – eine Repräsentationslogik, die das Auge als passiv-empfangendes Organ der Farbe begreift. Da die perzipierten Phänomene nur über die individuelle optische Wahrnehmung und die durch sie ausgelöste Empfindung erfahrbar werden, entziehen sie sich jeder direkten Quantifizier- und intersubjektiven Überprüfbarkeit. In der Befragungssituation der Versuche verglich ­Goethe lediglich die Aussage des Probanden über dessen Farbempfindung mit seiner eigenen. Da ­Goethes Versuchskonstellationen nur eine verbale Vermittlung von Gildemeisters Farbwahrnehmungen zuließen, wurden die nuancenreichen Farbeindrücke in ihrer potentiellen Unendlichkeit abstrahiert und in das Medium der Sprache gebracht, das in seiner ausschließlichen Anwendung seine verfälschende Willkür entfaltete. Dieser mangelnden empirischen Beweismöglichkeit und der Eigenmacht der Sprache ist sich ­Goethe wohl bewusst, wenn er das sogenannte Hauptphänomen ­Gildemeisters wie folgt beschreibt: „Er scheint [!] nämlich kein Grün zu sehen, sondern an dessen Stelle ein Gelbrot. Sehr gelb Grün erklärt er für Gelb, in ziemlich rein gemischtem Grün wollte er kaum etwas Blau­liches erkennen, hingegen appuyierte er immer auf das Blau, was er sehe. Seine ersten Äußerungen klingen daher höchst sonderbar und sind konfuser als seine Ansicht der Farben.“ 279

Wechselte ­Goethe noch in den Protokollen der Gildemeister-Befragungen beliebig zwischen Begriffen wie bemerken, sehen und erkennen – Bezeichnungen, welche die Wahrnehmung und deren kognitive Verarbeitung beschreiben – und Begriffen, die auf den Vorgang sprachlicher Bezeichnungen wie erklären und nennen verweisen, thematisiert er im didaktischen Teil klar das problematische Verhältnis zwischen beiden Prozessen: vom Probanden aneinandergefügt werden müssen, und der wesentlich umfangreichere FarnsworthMunsell-100-Hue-Test: Dieser enthält vier Serien mit insgesamt 85 Farbsteinen von gleicher Sättigung und Helligkeit. Die Probanden sortieren die Steinchen nur nach der Ähnlichkeit der wahrgenommenen Farbtöne. Bei Farbensinnstörungen kommt es zu einer falschen Reihenfolge. Die Rotblinden weisen einen größeren Verwechslungsbereich zwischen Blau und Violett auf als die Grünblinden. Die pseudoisochromatischen Tafeln enthalten Sehzeichen in für partielle Farbenblindheiten typischen Verwechslungsfarben mit gleicher Helligkeit, aber verschiedenen Farbtönen und unterschied­licher Sättigung. Die meistangewendeten Tafeln nach Ishihara dienen zur Prüfung der Protanopie und Deuteranopie (Grünblindheit). Vgl. Sachsenweger, R. / Friedburg, D., Der Farbensinn und seine Prüfung, in: Pau, H. (Hg.), Lehrbuch der Augenheilkunde, Stuttgart u. a. 1992, S.  61 – 66, hier S.  64 – 66. 279 LA II.3, S. 294 – 295 (Erste Versuche mit Herrn Gildemeister, 19. November 1798).

3.4  Wo ist das Blau geblieben? – ­Goethes Versuche mit Farbenblinden

„Sie [die Farbenblinden – S. Sch.] haben, wie man aus dem Obigen sehen kann, weniger Farben als wir; daher denn die Verwechselung von verschiedenen Farben entsteht. Sie nennen den Himmel rosenfarb und die Rose blau, oder umgekehrt. Nun fragt sich: sehen sie beides blau oder beides rosenfarb? Sehen sie das Grün orange oder das Orange grün?“ 280

Manifestierte sich die abweichende Wahrnehmung der befragten Farbenblinden lediglich an den Signifikanten der Farbnamen, führte umgekehrt Gildemeisters Rückschluss von den Farbnamen der Normalsichtigen auf deren Wahrnehmung zu Konfusionen: Er war z. B. der Meinung, dass er die von Normalsichtigen als rot und von ihm als blau bezeichnete Rose lediglich dunkler als jene wahrnahm.281 Versuchte ­Goethe mit dem Wissen um diese Verfälschungsgefahr die Rückwirkung der Sprache auf die Versuchsergebnisse so gering wie möglich zu halten, indem er den Probanden „bei keiner Farbe, er mochte sie nennen wie er wollte, rektifiziert[e]“,282 trat eine klare Missdeutung erst durch die Verdoppelung sprachlicher Zeichen in Schillers Interpretation von G ­ oethes Aussagen ein. Durch seine Anwesenheit in den Versuchen konnte G ­ oethe in seine Bewertung auch Gildemeisters nonverbale Reaktionen wie zögerndes Verhalten und Beschreibungsschwierigkeiten einbeziehen – also jenes implizite, nichtintendierte Wissen erwerben, das über die bewusste, rationale Ebene hinaus den Mehrwert jeder Mitteilung ausmacht.283 Diese Möglichkeit hatte der in den Versuchen abwesende Schiller nicht. In Anbetracht von ­Goethes Wissen um das Eigenleben der Sprache erstaunt es, dass er keinen seiner Testanten – so zeigen es zumindest die Versuchsprotokolle – selbst gewählte Farben zusammenstellen ließ.284 Anders als in den physikalischen Experimenten gestattete G ­ oethe keine praktischen Eingriffe in die Versuchsordnung durch die Farbenblinden. Nur dieser Weg hätte die Möglichkeit geboten, durch die Evidenz der

280 LA I.4, § 110, S. 55 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 281 Vgl. LA II.3, S. 297 (Erste Versuche mit Herrn Gildemeister, 12. Februar 1799). 282 LA II.3, S. 297 (Erste Versuche mit Herrn Gildemeister, 19. November 1798). 283 Vgl. Polanyi, Implizites Wissen, a. a. O., S. 14. 284 Hier muss Jaegers Interpretation der unten erklärten 8. Figur der I. Tafel zur Farbenlehre kritisch hinterfragt werden. Jaeger geht ohne konkreten Beleg davon aus, dass ­Goethes Probanden die in dieser Figur abgebildete Ordnung von Farbscheiben selbst erzeugt haben. Vgl. Jaeger, Begriff des „Werdens der Farbe“, a. a. O., S. 87. Einen ähnlichen Ansatz wie den oben vorgeschlagenen wählte später Wilhelm August Seebeck bei der Untersuchung von Farbenblinden. Er legte ihnen ein breites „Spektrum“ farbiger Gegenstände vor und forderte sie auf, diese nach ihrer eigenen Auffassung zu sortieren. Seebeck ließ die Testanten auch die Farben des Newton-Spektrums Orange, Grün und Violett betrachten und nach ihrer Wahrnehmung definieren. Durch diese erweiterten Untersuchungsmethoden erkannte er, dass seine Testanten Rot und Grün verwechselten. Vgl. Seebeck, Ludwig Friedrich Wilhelm August, Über den bei manchen Personen vorkommenden Mangel an Farbensinn, in: Poggendorfs Annalen der Physik und Chemie XLII (1837), S. 177 – 234, zit. n. Hirschberg, Geschichte der Augenheilkunde, Bd. VI, a. a. O., S. 31.

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eigenen Sinneswahrnehmung die Logik der sprachlich unverfälschten Farbensyntax der Farbenblinden zu studieren. In diesem Kontext erscheint eine Diskursverschiebung. ­Goethe empfiehlt die hier vorgeschlagene Methode zur Prüfung abweichender Farbwahrnehmungen implizit in einer anderen Schrift: in seinem kunsttheoretischen Text Diderots Versuch über die Malerei (1798), den er zeitgleich zu den GildemeisterBefragungen verfasst hatte. Eine abweichende Farbwahrnehmung ist hier laut ­Goethe am besten überprüfbar, indem der Maler „etwas ähnliches mit dem was er sieht hervor bringen soll“.285 Er soll – so ist diese Empfehlung auslegbar – ein Kunstwerk auf einer extrakorporalen Fläche anfertigen, dessen Farben mit dem Original verglichen werden, um auf die Wahrnehmung des Künstlerauges bzw. dessen Veranlagung schließen zu können. In dieser Empfehlung lässt G ­ oethe den technischen Aspekt der Farbmischungen gänzlich außer acht, denn auch die Materialität von Pigmenten kann zu „Übersetzungsfehlern“ führen. Ihm geht es hauptsächlich um die Tätigkeit des normalen Auges und die Vorliebe des Malers für bestimmte Farben. Die Leinwand fungiert hier lediglich als Messgerät der quantitativen Farbintensitäten. Dienten bei der Befragung von Farbenblinden die Pigmentfarbenproben und die Camera-obscura-Leinwand der Prismenversuche zwar als Indikator für die qualitativen Wahrnehmungsunterschiede, konnten sie keinen Aufschluss über eine abweichende interne Farbensyntax liefern. Ein solches System wird Ludwig Wittgenstein ca. 150 Jahre nach ­Goethe unter Bezug auf diesen als einzig nachvollziehbare Logik der Farben bezeichnen, da es sowohl ihre Verwandtschaft als auch ihren Gegensatz klar herausstellt.286 ­W ittgenstein, der die Frage nach der Vergleichbarkeit der Wahrnehmung von Farbenblinden und Normalsichtigen auf sprachterminologischer Ebene zu lösen versucht, muss die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens eingestehen. In seiner Methode versucht er, die Arbitrarität der Zeichen zu entschärfen, indem er der eigentlich kontingenten Beziehung von Phänomen und Beschreibung einen verbindlichen Charakter gibt. Da in Wittgensteins Konzept die Aussagen über Begriffe in einem konkreten praktischen Kontext verwendet werden, weisen sie stets reale Bezüge auf. In dieser wirklichkeitskonstituierenden Funktion machen sprachliche Strukturen die wahrgenommene Realität überschau- und analysierbar und existieren nicht gänzlich unabhängig von ihr.287 Werden auf diese Weise Sätze oft an der Grenze von Logik und Empirie gebildet,

285 FA I.18, S. 602 (Diderots Versuch) 286 Wittgenstein, Ludwig, Bemerkungen über die Farben III, in: ders., Über Gewißheit. Zettel. Vermischte Bemerkungen, Frankfurt am Main 1990 (= ders., Werkausgabe, 8 Bde., hg. v. Joachim Schulte, Bd. 8), S. 39 – 112, hier Nr. 46, S. 50. Nach Wittgenstein entscheidet in diesem Kontext nicht die subjektiv unterschiedliche Wahrnehmung über das Wesen der Farben, sondern Sprachspiele legen die sechs Farben fest, mit denen wir uns über sie verständigen. Vgl. Wittgenstein, Bemerkungen über die Farben I, in: ebd., S. 11 – 31, hier Nr. 6, S. 14. 287 Vgl. hierzu Rehbock, ‚Rettung der Phänomene‘, a. a. O., S. 189. Vgl. Wittgenstein, Bemerkungen über die Farben I, a. a. O., Nr. 32, S. 20.

3.4  Wo ist das Blau geblieben? – ­Goethes Versuche mit Farbenblinden

stehen sie im Farbdiskurs im Kreuzungspunkt erfahrener Eindrücke und einer durch ihre interne Logik bestimmten Farbensyntax. Wegen des Erfahrungseinflusses auf die Begriffsstruktur muss nach Wittgenstein die Frage nach den Wahrnehmungsunterschieden von Farbenblinden und Normalsichtigen unbeantwortet bleiben, weil diese die Farben verschieden erfahren: „Die Unbestimmtheit im Begriff der Farbe liegt vor allem in der Unbestimmtheit des Begriffs der Farbengleichheit, also der Methode des Vergleichens der Farben.“ 288 Geht Wittgenstein davon aus, dass sich durch das Erlernen von Sprachspielen Begriffe bilden, die derjenige niemals erlangt, der nicht mitspielen kann,289 werden die Farbenblinden realiter durch ihre eingeschränkte Wahrnehmung von vornherein von den Spielregeln der Nicht-Farbenblinden ausgeschlossen. Ebenso kann sich vice versa der Normalsichtige wegen seines höheren Vermögens zur Farbendifferenzierung nicht am Spiel der Farbenblinden beteiligen – eine Einschränkung, die sich nach Wittgenstein wiederum auf die Begriffsbildungen auswirkt: „Wer in einem Buch die Phänomene der Farbenblindheit beschreibt, beschreibt sie mit den Begriffen der Sehenden.“ 290 ­Goethe hingegen versucht der fehlenden empirischen Beweiskraft der Befragungen mit dem Rückgriff auf die kompakteste Matrix seiner Lehre zu begegnen: dem Farbenkreis (vgl. Abb. 8). Diesen hatte er auf der Basis der physiologisch erzeugten Komplementärfarben strukturiert, womit er die innere Ordnung des Schemas an der Wahrnehmung eines Normalsichtigen ausrichtete. Obwohl G ­ oethe das Schema des Farbenkreises mit physiologischen Wahrnehmungsgesetzen begründet, spielen in dieser Matrix auch die Mischungsgesetze der Pigmentfarben eine wichtige Rolle: Jeder Farbe des Kreises liegt nicht nur die vom Auge erzeugte Komplementärfarbe gegenüber, sondern zugleich einer einfachen Farbe eine Mischfarbe und umgekehrt: Grün – Purpur (Rot), Gelb – Violett und Blau – Orange. Ausgehend von einer vermeintlichen Akyanoplebsie zieht ­Goethe aus den drei blauhaltigen Farben Violett, Blau und Grün jeweils das Blau ab und setzt an dessen Stelle die Farbe Purpur bzw. Rot: „Diese seltsamen Rätsel [die Farbwahrnehmung der Blaublinden – S. Sch.] scheinen sich zu lösen, wenn man annimmt, daß sie [die Farbenblinden – S. Sch.] kein Blau, sondern an dessen Statt einen diluierten Purpur, ein Rosenfarb, ein helles reines Rot sehen. Symbolisch kann man sich diese Lösung einstweilen folgendermaßen vorstellen. […] Nehmen wir aus unserm Farbenkreis das Blaue heraus, so fehlt uns Blau, Violett und Grün. Das reine Rot verbreitet sich an der Stelle der beiden ersten, und wenn es wieder das Gelbe berührt, bringt es anstatt des Grünen abermals ein Orange hervor.“ 291

288 Wittgenstein, Bemerkungen über die Farben III, a. a. O., Nr. 78, S. 56, vgl. auch ebd. I, Nr. 56, S. 24. 289 Vgl. ebd., III, Nr. 42, S. 49 und Nr. 112, S. 63. 290 Ebd. III, Nr. 55, S. 52. 291 LA I.4, §§ 111 und 112, S. 55 – 56 (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Damit gelingt G ­ oethe zwar, durch die Gesetze der Pigmentmischungen die von ihm richtig diagnostizierte Orange-Grün-Verwechslung der Testanten „logisch“ zu begründen, die er bereits in den ersten Befragungen – wie oben beschrieben – auf das Prinzip der Verdichtung bezog. Der von ­Goethe im Farbenkreis vorgenommene Ersatz der Farben Blau und Violett durch das Purpur / Rot trifft jedoch nicht auf die gesamte Wahrnehmung der Farbenblinden zu. Es ist nicht nachweisbar, aber durchaus möglich, dass G ­ oethe in den früheren Gesprächen mit Schiller diese Beweisführung anwendete und das aus der Orange-Grün-Verwechslung fälschlicherweise geschlossene Unvermögen der Blauwahrnehmung über die Struktur des Farbenkreises generalisierte und rekursiv auf die Realität bezog. Indem G ­ oethe die Blaublindheit aus der im Kreis „verdichteten“ Farbensyntax zu erklären versucht, unterliegt er nicht nur dem arbiträren System der Sprache, sondern auch seinem eigenen ikonischen Abstraktionsmodell, das er aus dem sinnlichen Eindruck von Farbnormalsichtigen generierte.292 Das von ihm zur Legitimierung der Blaublindheit herangezogene Bildschema gewinnt ein heuristisches Eigenleben, das die Aussagen der Farbenblinden verfälschend überblendet. Die Farbwahrnehmung der vermeintlich Blaublinden vergleicht G ­ oethe mit derjenigen der Normalsichtigen in zwei Bildschemata, die als Verallgemeinerung piktoraler Ergebnisprotokolle auf der I. Tafel des Tafelwerks erscheinen, das G ­ oethe der Farbenlehre beifügte. Auf dieser Tafel, die überwiegend die physiologische Farberzeugung thematisiert, zeigt die 2. Figur in G ­ oethes sechsteiligem Farbenkreis einen weiteren – einen solchen, wie ihn die vermeintlich Blaublinden entwerfen würden (vgl. Abb. 9). Die im äußeren und im komplett ohne Blau gehaltenen inneren Ring einander korrespondierenden Farben abstrahiert G ­ oethe noch einmal in der 8. Figur, die runde farbige Scheiben enthält (vgl. Abb. 10). Die in der mittleren und unteren horizontalen Reihe befindlichen Scheiben verweisen auf die differenziertere Farbwahrnehmung Normalsichtiger. Diesen Farben sind in der oberen Reihe diejenigen Farben zugeordnet, die die vermeintlich Blaublinden stattdessen erkennen würden. Bemüht sich G ­ oethe in diesem Kontext, Korrespondenzen zwischen der Wahrnehmung von Normal- und Farbenfehlsichtigen herzustellen, benutzt er in einem anderen Fall ein von einer Nichtfarbenblinden gefertigtes Gemälde, die über keinerlei Seherfahrung der Farbenblinden verfügt, um die eingeschränkte Farbwahrnehmung seiner Testanten zu demonstrieren. Die 11. Figur der I. Tafel, die eine Landschaft ohne Blau zeigt, soll die Wahrnehmung eines Blaublinden demonstrieren (vgl. Abb. 11). Das großformatigere Original sowie ein ähnliches Bild fertigte vermutlich schon 1787 die Malerin 292 Diesen am Phänomenalen ansetzenden Abstraktionscharakter wird später Ludwig Wittgenstein als Spezifik von G ­ oethes chromatischer Lehre herausstellen: „Wer mit G ­ oethe übereinstimmt, findet, ­Goethe habe die Natur der Farbe richtig erkannt. Und Natur ist hier nicht, was aus Experimenten hervorgeht, sondern sie liegt im Begriff der Farbe.“ Wittgenstein, Bemerkungen über die Farben I, a. a. O., Nr. 71, S. 28. Zu G ­ oethes vorgenommener Verdichtung und Abstraktion im Bildschema des Farbenkreises vgl. ausführlich Kapitel 5.3 dieser Arbeit.

3.4  Wo ist das Blau geblieben? – ­Goethes Versuche mit Farbenblinden

Angelika Kauffmann auf G ­ oethes erster Italienreise an – allerdings zu einem anderen Zweck: In Rom hatte G ­ oethe gegenüber befreundeten Malern behauptet, das Blau sei wegen seiner starken Verwandtschaft mit dem Schwarzen keine Farbe. Deshalb sollte Angelika Kauffmann beweisen, dass auch Bilder ohne Blau eine ebenso harmonische Wirkung auf den Betrachter ausüben können. Handelte es sich bei diesem Versuch um farbinterne Ordnungsprinzipien und deren ästhetische Wirkungen, stellte ­Goethe das Bild später in einen anderen Kontext. Er veranschaulicht an ihm vermeintlich von der Norm abweichende Farbwahrnehmungen. Die eigentliche Intention des Bildes und seinen späteren definitiven Verwendungszweck synthetisiert ­Goethe am Ende des historischen Teils der Farbenlehre wie folgt: „[…] nun gefiel es mir zu behaupten: das Blaue sei keine Farbe! und ich freute mich eines allgemeinen Widerspruchs. Nur Angelika, deren Freundschaft und Freundlichkeit mir schon öfters in solchen Fällen entgegen gekommen war […] – Angelika gab mir Beifall und versprach eine kleine Landschaft ohne Blau zu malen. Sie hielt Wort und es entsprang ein sehr hübsches harmonisches Bild, etwa in der Art wie ein Akyanobleps die Welt sehen würde; wobei ich jedoch nicht leugnen will, daß sie ein Schwarz anwendete, welches nach dem Blauen hinzog.“ 293

Mit drei von insgesamt elf Darstellungen nimmt die Farbenblindheit von allen Analyseobjekten der physiologischen Farberzeugung auf der I. Tafel den breitesten Raum ein. Diesem Gewicht widerspricht die diskursive Ordnung der Farbenlehre eklatant. Die Rubrik der Pathologischen Farben, unter denen ­Goethe die Farbenblindheit ausführlich erörtert, erscheint nur als Anhang der Physiologischen Farben innerhalb der ersten Abteilung des didaktischen Teils. Diesen Text integrierte ­Goethe nicht in die fortlaufende römische Nummerierung der anderen Abteilungen. Das Expandieren des Themas auf der Bildebene und dessen Widerspruch zur Unterordnung im Diskurskontext kann, wie nachfolgend gezeigt wird, als Verweis auf ­Goethes nosologische Unsicher­heit im Deuten des Farbenfehlsehens interpretiert werden. Dieser Unsicherheit begegnet er nicht durch eine anatomische Ursachensuche. Ebenso wie in seinen Versuchen zur physiologischen Farberzeugung berücksichtigt ­Goethe in seinen Forschungen zur Farbenblindheit die anatomische Organisation des 293 LA I.6, S. 416 – 417 (Farbenlehre, Historischer Teil, Konfession des Verfassers). Paradox erscheint allerdings, dass Angelika Kauffmann an anderer Stelle eine mangelhafte Beherrschung der harmonischen Farbdarstellung vorgeworfen wird. So heißt es im von Johann Heinrich Meyer geschriebenen Abschnitt Geschichte des Kolorits im historischen Teil: „[…] ihre natürliche Neigung zum Gefälligen, Milden, Sanften hat sie indes vor allem Übermaß behütet, daher sind ihre Bilder auch durchgängig munter und erfreulich, wenn schon die Harmonie der Farben durch sie nicht in völliger Ausübung erschien, so daß wir ihr keine Musterhaftigkeit in diesem Stück zugestehen können.“ LA I.6, S. 235 (Farbenlehre, Historischer Teil).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Auges nicht. Obwohl er sich auf den Abschnitt der Pathologischen Farben im didaktischen Teil der Farbenlehre mit einer ausführlichen medizinischen Lektüre vorbereitete, spielt die Konstitution des Sehorgans auch hier nur eine untergeordnete Rolle 294 – ein Fakt, der ­Goethe von anderen Forschern unterscheidet: Während der zeitgleich experimentierende Dalton – wie erwähnt – mit physikalisch inspirierten Erklärungsmustern das Farbenfehlsehen des Auges erklärte, hatte Thomas Young bereits 1807 – drei Jahre vor Erscheinen der Farbenlehre – die erste physiologisch begründete Prognose über die Farbenblindheit publiziert: Young nahm an, dass dem partiell Farbenblinden die jeweiligen in der Netzhaut vorhandenen Rezeptoren für das Sehen von Rot, Grün und Violett fehlen, die seine spezielle Form der Farbenblindheit ausmachen.295 Youngs Erkenntnisse fanden allerdings keinen Niederschlag in ­Goethes Farbstudien. Nur kurz beschreibt ­Goethe in der Farbenlehre und den Versuchsprotokollen das Aussehen der Probandenaugen und deren Entfernungswahrnehmung.296 Bezeichnet ­Goethe Gildemeister als „junger Mensch, dessen Auge zu den Farben ein besonderes Verhältnis hat“,297 bespricht er dessen „sonderbar organisiertes Auge“ 298 oder erwähnt ihn als jemanden, „der die Farben so wunderlich sieht“,299 verweist er diese Abweichungen nicht in die Welt des empirisch zu Bestätigenden, sondern in die des Irrationalen. Stellt G ­ oethe am Ende der Versuchsreihe mit Gildemeister fest, „[…], daß er im Verhältnis gegen die Farben ein Sonntagskind sei und nicht sowohl ihre Körper als ihre Geister, nicht sowohl ihr Sein als ihr Werden erkenne“,300 deutet er damit nicht nur auf die Logik des Farbenkreises hin, sondern auch auf die nosologischen Schwierigkeiten des Farbenfehlsehens. Im didaktischen Teil der Farbenlehre subsumiert ­Goethe die Farbenblindheit unter die Pathologischen Farben, stößt jedoch schnell auf Schwierigkeiten: Verweisen laut ­Goethe die krankhaften Phänomene auf die organischen und physischen Gesetze selbst, definiert das Pathologische somit das Normale, hat er Schwierigkeiten, jenes auf die Farbenblindheit zu beziehen: „Indem er [der Zustand der Farbenblinden – S. Sch.] eine Abweichung von der gewöhnlichen Art, die Farben zu sehen, anzeigt, so gehört er 294 ­Goethe rezipierte folgende Schriften, die sich mit organischen Augenpathologien beschäftigen: Boerhaave, Hermann, Praelectiones de morbis oculorum, Göttingen 1746; Richter, August Gottlieb, Anfangsgründe der Wundarzneykunst, 7 Bde., Göttingen 1782 – 1804; Beer, Georg Joseph, Lehre von den Augenkrankheiten, Wien 1792; Plenck, Joseph Jakob, Doctrina de morbis oculorum, Wien 1777; Himly, Karl, Ophthalmologische Bibliothek, Erster Band, Erstes und Zweytes Stück, a. a. O. Vgl. LA II.4, S. 25. 295 Vgl. Münchow, Geschichte der Augenheilkunde, a. a. O., S. 470 – 471. 296 Vgl. LA II.3, S. 294 (Erste Versuche mit Herrn Gildemeister, 19. November 1798). Vgl. LA I.4, § 104, S. 54 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 297 LA I.3, S. 271 (­Goethe an Johann Heinrich Meyer am 20. November 1798). 298 LA II.3, S. 298 (Fernere Versuche mit Herrn Gildemeister, 13. Februar 1799). 299 LA I.3, S. 272 (­Goethe an Johann Heinrich Meyer am 12. Februar 1799). 300 LA II.3, S. 296 (Erste Versuche mit Herrn Gildemeister, 19. November 1798).

3.5  Klingende Bilder und Farben für das Ohr

wohl zu den krankhaften; da er aber regelmäßig ist, öfter vorkommt, sich auf mehrere Familienmitglieder erstreckt und sich wahrscheinlich nicht heilen läßt, so stellen wir ihn billig auf die Grenze.“ 301 Befand sich G ­ oethe argumentativ auf der Höhe der Zeit, in der die Mediziner das Normale und das Pathologische als „medizinische Bipolarität“, als zwei Seiten des Phänomens Leben zu betrachten begannen,302 handelt es sich aus heutiger Sicht bei einer angeborenen partiellen Farbenblindheit, einer solchen, wie ­Goethes Testanten sie aufwiesen, nicht um eine Pathologie, sondern um eine Anomalie. Diese ist dann gegeben, wenn die Organisation des Organs von derjenigen normaler Lebewesen verschieden ist. Basierend auf Canguilhems Definition der Anomalie kann eine solche unerkannt bleiben, wenn sie den Organismus nicht beeinträchtigt. Auch die Farbenblindheit stört diesen nicht und wird lediglich über die vergleichende Beschreibung der Farbwahrnehmung verschiedener Personen „augenfällig“.303 Anders als in seinem Konzept der optischen Wahrnehmung, in dem G ­ oethe eine zuverlässige intersubjektive Vergleichbarkeit des Farbensehens durchaus für möglich hält, übt er offen Kritik an der Analogisierung von Farben und Tönen, denen in seinem Wahrnehmungsmodell wiederum die Funktionen verschiedener Sinne korrespondieren.

3.5 Klingende Bilder und Farben für das Ohr ­Goethes Farbstudien beeinflussten in starkem Maße seine erkenntnistheoretische Analyse eines anderen Sinnes: des Gehörs. Dessen Wirken stellt G ­ oethe ins Zentrum seiner musiktheoretischen Betrachtungen und reflektiert ausgehend von diesem die sinnlichen Qualitäten der Tonwelt. Mit dieser Methode zielt er darauf, die Musik analog zur Farbe von ihrer primär mathematischen Ausrichtung zu befreien. Obwohl ­Goethe als Basis seiner akustischen Studien das Gehör und damit wie in der Farbenlehre eine menschliche Sinnesleistung begreift, wertet er dieses nicht als eigenständigen Forschungsgegenstand auf. Er transferiert lediglich drei Erkenntnismodelle aus seinen Farbstudien auf die Betrachtung dieses Sinns: Erstens überträgt er die in 301 LA I.4, § 103, S. 54 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 302 Vgl. Foucault, Geburt der Klinik, a. a. O., S. 53 und S. 158, Zitat S. 53. Vgl. hierzu auch G ­ oethes Eröffnungssätze des Kapitels Pathologische Farben: „Die physiologischen Farben kennen wir nunmehr hinreichend, um sie von den pathologischen zu unterscheiden. Wir wissen, welche Erscheinungen dem gesunden Auge zugehören und nötig sind, damit sich das Organ vollkommen lebendig und tätig erzeige.“ LA I.4, § 101, S. 53 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 303 Bei einer partiellen Farbenblindheit funktionieren alle anderen Tätigkeiten wie die Akkommodation und Adaptation des Auges, da sich die Anomalie lediglich auf die Farbwahrnehmung bezieht. Weil die Anomalie der Farbenblindheit bereits angeboren ist, ist ein Vergleich mit einem früheren Normalzustand des Testanten unmöglich, womit der für eine Krankheit typische zeitliche Verlauf irrelevant wird. Vgl. zu den hier aufgezeigten Kriterien für die Feststellung einer Anomalie ­Canguilhem, George, Das Normale und das Pathologische, München 1974, S. 86 – 93.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

jenen gewonnene erkenntnistheoretische Dreiteilung Subjekt – Vermittler – Objekt auf die Tonlehre, in der nun das Sinnesorgan des Ohrs als Medium zwischen Körper und Welt fungiert. Zweitens interpretiert er die Tätigkeit des Gehörs wie diejenige des Auges nach dem naturphilosophischen Prinzip der Polarität als aktiv und passiv. Drittens begründet er auch die spezifischen Leistungen des Gehörs ebenso wie die des Gesichtssinns nicht physiologisch, sondern primär über die ihm korrespondierende Objektwelt, in diesem Fall: die Akustik bzw. die Musik. Die Künste von Musik und Malerei wiederum, die bedingt durch ihre ontologischen Differenzen eigene Wirkungsprinzipien entfalten, begreift G ­ oethe als organismisch organisierte Entitäten. Hierin ist auch der Grund zu suchen, weshalb er sich gegen die willkürliche Separierung und Zuordnung ihrer einzelnen Elemente in Form von Farbe-Ton-Analogien ausspricht. Basierend auf diesem erkenntnistheoretischen Zugriff, nicht aber auf physiologischen Untersuchungen, verneint er das synästhetische Verhältnis von Hören und Sehen. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass in der folgenden Darlegung ­Goethes musiktheoretische Ansätze nur im engeren Diskurskontext des Gehörs und der Farbe-TonAnalogien tangiert werden. Eine umfassende Erörterung seiner Musiktheorie würde den Umfang dieses Kapitels sprengen. Um ­Goethes erkenntnistheoretische Betrachtungen des Gehörs zu charakterisieren, sei hier ein kurzer Vergleich mit einschlägigen anderen Theorien angeführt, die Ende des 18. Jahrhunderts entworfen wurden. In den ästhetischen und philosophischen Diskursen der Spätaufklärung erschien das Gehör als innerster der fünf spezifizierten Sinne. Diese Position wurde mit zwei interferierenden Argumentationssträngen zu stützen versucht: auf wirkungsästhe­ tischer Ebene mit der jeweiligen Spezifik von Musik und Farbgebung, physiologisch mit Modellbildungen unterschiedlicher Art. Ein solches Begründungskonglomerat ist kennzeichnend für das auslaufende 18. Jahrhundert kurz vor Herausbildung der Sinnesphysiologie. In zahlreichen Konzepten jener Zeit wurde die Charakteristik des Gehörs als innerster Sinn mit seiner starken emotionalen Wirkung begründet, wofür exemplarisch folgendes Zitat Johann Georg Sulzers angeführt sei: „Die Natur hat eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Gehör und dem Herzen gestiftet; jede Leidenschaft kündiget sich durch eigene Töne an, und eben diese Töne erweken in dem Herzen dessen, der sie vernimmt, die leidenschaftliche Empfindung, aus welcher sie entstanden sind.“ 304 Die Suche nach den Ursachen für die starke emotionale Erregung durch die Objektwelt der Töne ist Ende des 18. Jahrhunderts eng mit einem gefühlsästhetischen Erklärungsansatz verbunden, der die Anthropologie des ganzen Menschen

304 Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden Artikeln abgehandelt, Dritter Theil, Hildesheim u. a. 1994 (Erstausgabe Leipzig 1793), S. 422.

3.5  Klingende Bilder und Farben für das Ohr

konstituiert. Dieses sogenannte Resonanzmodell beschreibt die Reizübertragung von Schallwellen in Nervenvibrationen nach dem Prinzip des Mitklingens. In diesem Vorgang werden die Saiten unterschiedlicher Musikinstrumente durch einen Ton in harmonische Schwingungen versetzt, die sich bis ins Körperinnere übertragen. Dieses auch als Sympathie bezeichnete Modell erklärt Körper und Seele zu einer Einheit.305 Auf dessen Basis beschreibt Sulzer die Luft als Verbreitungsmedium von Geräuschen und Tönen, deren wesentlich körperlichere Materie den akustischen Phänomenen eine intensivere Wirkung verleihe als den optischen Erscheinungen des Lichts.306 Wie viele andere Ästhetiker seiner Zeit benutzt Sulzer hier Komponenten der Haptik, um über die Wirkungsästhetik der Musik das Gehör gegenüber dem Gesichtssinn aufzuwerten. Kant, der ebenso wie Sulzer von einer Konstituierung des ganzen Menschen durch die Akustik ausgeht, begründet die starke emotionale Erregung durch das Gehör mit der ästhetischen Wirkung von Musik und Sprache, womit er die Organisation des äußeren Reizes, nicht aber die des Sinnesorgans für die Art der Empfindung verantwortlich macht. Der Bezug zum äußeren (Kunst-)Objekt selbst wird zum Strukturierungskriterium der Sinneshierarchie. Kant unterscheidet das Sehen, Hören und Tasten als objektive Sinne von den subjektiven Sinnen des Geschmacks und Geruchs. Die ersten drei tragen in seinem Konzept stärker zur Erkenntnis der äußeren Gegenstände bei, die letzten beiden hingegen agieren selbstbezogen und genussorientiert.307 Die Wirkung der Musik setzt Kant in der Empfindungsskala eindeutig über das gesprochene Wort. Anders als die Sprache, die als „Analogon der Vernunft“ eine Kommunikation überhaupt erst ermögliche, metaphorisiert er die „Töne als Sprache bloßer Empfindungen (ohne alle Begriffe)“.308 Die drei von Kant als objektiv beschriebenen Sinne bezeichnet Herder als Hauptsinne zur Konstituierung einer Ästhetik. Wie Sulzer betrachtet auch er „das Gehör allein“ als den „Innigste[n]“, den „Tiefste[n] der Sinne“. Durch dessen Fähigkeit zur Analyse von Einzelphänomenen, die Herder diesem Organ zuspricht, betrachtet er es als den „kälteste[n], philosophischste[n] der Sinne“.309 Die jeweilige ­sinneshierarchische 305 Vgl. zum Resonanzmodell, das besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weit verbreitet war, die prägnante Analyse von Welsh, Caroline, Hirnhöhlenpoetiken. Theorien zur Wahrnehmung in Wissenschaft, Ästhetik und Literatur um 1800, Freiburg im Breisgau 2003, S. 29 – 53. 306 Sulzer nimmt an, dass „[…] die Nerven des Gehörs, wegen der Gewalt der Stöße, die sie bekommen, ihre Würkung auf das ganze System aller Nerven verbreiten, welches bey dem Gesichte nicht angeht. Und so läßt sich begreifen, wie man durch Töne gewaltige Kraft auf den ganzen Körper, und folglich auch auf die Seele ausüben könne.“ Sulzer, Theorie der schönen Künste, Dritter Theil, a. a. O., S.  422. 307 Vgl. Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a. a. O., S. 43. 308 Ebd., S. 45. Die Töne allein sprechen den Vitalsinn an, den Kant empirisch am Gesamtnervensystem des Körpers festmacht. 309 Herder, Johann Gottfried, Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen. Über Riedels Theorie der Schönen Künste, in: ders., Werke in zehn

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Position von Gehör und Auge begründet er ebenfalls mit der Spezifik der ihnen korrespondierenden Objekte.310 Bei Herder tritt der ganze Mensch selbst als Musikinstrument auf. Die Töne werden zum „unmittelbarsten Instrument auf die Seele […]. Alle unsere Empfindungen werden hier ein Saitenspiel, dessen sich das, was Ton heißt, in aller Stärke einzelner Momente, und schöner Abwechselungen und wiederkommender Empfindsamkeiten bemächtigt“.311 Leicht impliziert das Resonanzmodell von Körper, Seele und Musik die Gefahr, das Subjekt zum passiven Empfänger akustischer Daten zu degradieren, dessen Seele durch die sympathetische Verbindung mit dem Gehirn ihrer Autonomie beraubt wird. Herder erklärt den Menschen jedoch kurzerhand zum „freien Spieler seines Saitenspieles selbst“ 312 und untermauert diese Auffassung an anderer Stelle mit der Forderung nach einer „inneren Physik des Geistes“, die nach einer physiologischen Erklärung der Seele sucht und der Etablierung einer „ästhetische[n] Wissenschaft der Musik“ dienen soll.313 Letztendlich ist auch bei Herder die Spezifik der akustischen Reize ausschlaggebend für ihre physiologische Verarbeitung. Den Schall definiert er als unorganisierte, doch „körperliche Masse von Tönen“,314 den Einzelton hingegen als einfachstes Element, dessen Wirkung mathematisch linienförmig darstellbar sei. Bdn., hg. v. Günter Arnold u. a., Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767 – 1781, Frankfurt am Main 1993, S. 247 – 442 in der Reihenfolge der Zitate S. 357 und S. 322. 310 Anders als G ­ oethe geht Herder von einem passiv-mimetischen, simultanen Modell des Sehens aus, das er vom sukzessiv agierenden Gehör unterscheidet: „Die Würkungen dessen, was in unser Ohr angenehm einfließt, liegen gleichsam tiefer in unsrer Seele, da die Gegenstände des Auges ruhig vor uns liegen. Jene würken gleichsam in einander, durch Schwingungen, die in Schwingungen fallen: sie sind also nicht so aus einander, nicht so deutlich. Sie würken durch eine Erschütterung, durch eine sanfte Betäubung der Töne und Wellen; die Lichtstrahlen aber fallen, als goldne Stäbe, nur stille auf unser Gesicht, ohne uns zu stören und zu beunruhigen. Jene folgen aufeinander, lösen sich ab, verfließen und sind nicht mehr; diese bleiben und lassen sich langsam erhaschen und wiederholen.“ Ebd., S. 292. 311 Ebd., S. 406. 312 Herder, Johann Gottfried, Vom Erkennen und Empfinden den zwo Hauptkräften der menschlichen Seele (1775), in: ders. Werke, hg. v. Wolfgang Pross, III Bde., Bd. II: Herder und die Anthropologie der Aufklärung, München / Wien 1987, S. 580 – 663, hier S. 642 – 643. Vgl. zu Herders Auffassung des Menschen als Musikinstrument Welsh, Hirnhöhlenpoetiken, a. a. O., S. 31 – 33. 313 Herder, Viertes Wäldchen, a. a. O., in der Reihenfolge der Zitate S. 343 und S. 372. In Herders Konzept ist diese psychologisch orientierte Physik erforderlich, da er sowohl die Mathematik als auch die Akustik zur Lösung dieser Aufgabe als unzureichend betrachtet. Diese Forderung unterwandert Herder allerdings an anderer Stelle selbst, indem er in der Darstellung des Hörprozesses anatomisch-physiologische Fragestellungen mit dem Zeichensystem der Mathematik verbindet. Herders Forderung nach einer inneren Physik des Geistes bzw. einer Physiologie der menschlichen Seele verweise, so stellt Caroline Welsh heraus, auf die besondere Macht der Tonkunst, konstituierend auf eine Anthropologie des ganzen Menschen zu wirken. Vgl. Welsh, Hirnhöhlenpoetiken, a. a. O., S. 32. 314 Herder, Viertes Wäldchen, a. a. O., S. 346.

3.5  Klingende Bilder und Farben für das Ohr

Obwohl beide auf die gleiche spezifische Organstruktur im Körper treffen, würden die organisierten Töne über die feine Verästelung der Nerven tiefer ins Körperinnere dringen und den Menschen emotional stärker berühren.315 Auch bei ­Goethe nimmt das Gehör eine hohe sinneshierarchische Position ein, die er wie Herder und Kant mit der ästhetischen Wirkung der diesem korrespondierenden Objekte begründet: Im Zuge des 1798 erarbeiteten tabellarischen Schemas Physische Wirkungen, in dem er die Polarität unterschiedlicher Phänomene, z. B. des Magnetismus, der Elektrizität und der Optik, untersucht, wertet er die akustischen Äußerungen neben der Farbe am höchsten. Er sieht sich sogar versucht, diesen Phänomenen wegen ihrer hohen Dynamik den ersten Platz zuzuweisen: „Die sonoren Wirkungen ist man genötigt, beinahe ganz obenan zu stellen. Wäre die Sprache nicht unstreitig das Höchste was wir haben, so würde ich Musik noch höher als Sprache und als ganz oberst setzen. Wenigstens scheint mir daß der Ton noch viel größerer Mannigfaltigkeit als die Farbe fähig sei, und ob gleich auch in ihm das einfachste physische Gesetz der Dualität statt findet, so wie er auch in seinen ersten Ursprüngen betrachtet durch viel gemeinere Anlässe als die Farbe erregt wird, so hat er doch eine unglaubliche Biegsamkeit und Verhältnismöglichkeit, die mir über alle Begriffe geht, und vielleicht zeitlebens gehen wird; […].“ 316

­ oethe beschäftigte sich zeitgleich zu seinen Farbstudien mit den Fähigkeiten des G Ohrs. Bereits am Beginn dieser Arbeiten, im Jahre 1791, hatte ­Goethe den Entwurf einer Akustiklehre ins Auge gefasst, verwarf diesen Plan jedoch wieder, weil der Komponist Johann Friedrich Reichardt, den er zur Mitarbeit aufgefordert hatte,317 kein Interesse daran zeigte. Erst viele Jahre später wurde G ­ oethes ausführliche Reflexion des Gehörs und der Phänomene des Klangs durch die Schriften zur Akustik des Juristen und Physikers Ernst Florens Friedrich Chladni angeregt. ­Goethe interessierte sich in starkem Maße für dessen Klangfiguren, die als prominenteste Akustikexperimente jener Zeit galten, und stellte sie in eigenen Versuchen nach. In diesen Experimenten visualisieren sich die Töne selbst: „Die von ihm [Chladni – S. Sch.] entdeckten Figuren, welche auf einer mit dem Fiedelbogen gestrichnen Glastafel entstehen, hab ich die Zeit auch wieder versucht. Es läßt sich daran sehr hübsch anschaulich machen, was das einfachste Gegebene, unter 315 In diesem Kontext eröffnet Herder eine interessante, empirisch jedoch nicht evidente Zweiteilung: „Der Schall, als Körper betrachtet, berühret nur die äußerlichen Organe des Gehörs, wo dies noch äußerliches allgemeines Gefühl ist. Der bereitete einfache Ton, die Mathematische Linie des Schalles gleichsam, er allein würkt auf die feine Nerve des Gehörs, die die Nachbarin des Geistes ist, und wie innig also?“ Ebd., S. 355 – 356. 316 LA I.11, S. 43 (Physische Wirkungen). 317 Vgl. WA IV,9, S. 290 – 291 (­Goethe an Johann Friedrich Reichardt am 17. November 1791).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

wenig veränderten Bedingungen, für manchfaltige Erscheinungen hervorbringe. Nach meiner Einsicht liegt kein ander Geheimnis hinter diesen wirklich sehr auffallenden Phänomenen.“ 318 Inspiriert durch Klavierstunden im Alter von 19 Jahren, hatte sich Chladni schon früh mit theoretischen Schriften über die Tonkunst beschäftigt. Bereits zu Beginn seiner akustischen Studien fand er heraus, dass nicht nur Instrumentensaiten, sondern auch andere elastische Körper wie kleine Metall- oder Glasscheiben durch das Streichen eines Geigenbogens zum Klingen gebracht werden können. Angeregt durch ­Lichtenbergs Staubfiguren, die sich unbeabsichtigt beim Abhobeln des Harzkuchens eines Elektrophors bildeten und in Form kleiner Sternchen die unsichtbaren positiven und negativen elektrischen Entladungen visualisierten, unternahm Chladni zahl­reiche Versuche zur Sichtbarmachung von Tönen. Ausgehend von der Wellentheorie des Schalls, der „an elastischen Körpern“ in Form „hörbare[r] Schwingungen“ auftritt,319 entwarf Chladni die grundlegende Versuchskonstellation seiner Klangfiguren: „Alle Stellen des klingenden Körpers, an denen die Axe von den schlangenförmigen Krümmungen durchschnitten wird, lassen sich, wenn dessen Oberfläche gerade ist, und horizontal gehalten wird, sichtbar machen, wenn man vor oder bey dem Streichen etwas Sand auf dieselbe streucht, welcher von den schwingenden Stellen, öfters mit vieler Heftigkeit, heruntergeworfen wird, und an den sich nicht bewegenden Stellen liegenbleibt.“ 320

Mit Sand versehene Glas- und Kupferplatten versetzte Chladni mit einem Geigenbogen in Schwingungen, die sich analog auf dem Datenträger aufzeichneten, so dass die erzeugten Töne aufgrund ihrer Trägermedien Luft und Sand zugleich gehört und gesehen werden konnten. Während der Sand von den vibrierenden Stellen der Platte verschoben wurde, blieb er auf den unbewegten Bereichen entlang der Hemmungs­ linien und Schwingungsknoten liegen. In diesen Experimenten zeigen sich die Schallwellen gerade durch ihre Nichtvisualisierung als ein Negativbild der Schwingungen (vgl. exemplarisch Abb. 12). Die Glas- und Kupferplatten fungieren als experimentelle Schreibflächen, auf die sich die Bewegung der Schallwellen notiert. Indem sich der Ton im Moment seiner Erzeugung selbst aufzeichnet, werden Signifikat und Signifikant identisch.321 Die sukzessiven Töne stellen sich in einem simultanen Bild still, das jederzeit durch ein erneutes Anstreichen der Täfelchen umorganisiert werden kann, so dass 318 WA IV,16, S. 198 (­Goethe an Wilhelm von Humboldt am 14. März 1803). 319 Chladni, Ernst Florens Friedrich, Die Akustik, Leipzig 1802 (= Reprint Hildesheim 2004), S. 1. 320 Ders., Entdeckungen über die Theorie des Klanges, Leipzig 1787 (= Reprint Leipzig 1980), S. 4. 321 Vgl. Siegert, Bernhard, Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500 – 1900, Berlin 2003, S. 253 – 254 und S. 258. Nach Siegert wird mit den Glas- und Kupferplatten erstmalig noch vor Henry Fox Talbots Negativphotographie eine empfindliche Aufzeichnungsschicht verwendet. Chladni variierte seine Experimente, indem er diverse Formen von Platten benutzte:

3.5  Klingende Bilder und Farben für das Ohr

die Figuren einen temporären Charakter erhalten. In weiteren systematisch ausgebauten Versuchen stellte Chladni heraus, dass jeder Ton seine eigene visuelle Figur mit sich führt. ­Goethe betrachtete die Intermedialität dieser Phänomene als Anknüpfungsmöglichkeit einer noch zu entwerfenden Tonlehre an seine Farbenlehre, deren Struktur er bereits entwickelt hatte. Als er Chladni im Januar 1803 in Weimar kennenlernte, hatte er die Experimente bereits enthusiastisch nachgestellt, die dieser in seinem Werk Entdeckungen über die Theorie des Klanges (1787) beschrieben hatte.322 Bei ihrem Treffen überreichte Chladni ­Goethe das 1802 erschienene Buch Die Akustik, in dem er nach eigenem Bekunden die früher vorgestellten Experimente und Ergebnisse seiner Klangfiguren „in einer bessern Ordnung vorgetragen“ hatte.323 Unverkennbar ist der Einfluss der Werkstruktur dieser Schrift auf ­Goethes Schema zur Tonlehre auszumachen, das er sieben Jahre nach dem Zusammentreffen mit Chladni nach einer erneuten Lektüre von dessen Akustik und einer intensiven Diskussion mit dem Komponisten Carl Friedrich Zelter in Angriff nahm.324 In dieser Tabelle legt G ­ oethe das Konzept des Gehörs am ausführlichsten dar. Selbstbewusst betrachtet er Chladnis Schriften lediglich als Vorarbeiten für seinen Entwurf.325 ­Goethe erstellte dieses Schema im Sommer 1810 in unmittelbarem Anschluss an die Ausarbeitung seiner Farbenlehre. Neben Zelter wirkte auch der Altphilologe F ­ riedrich Wilhelm Riemer mit. ­Goethe entwarf dieses Schema genau wie die Farbenlehre zu didaktischen Zwecken.326 Nach eigenen Aufzeichnungen entwickelte er es „in P ­ arallelism“

quadratische, runde, halbrunde, ovale, dreieckige usw. Vgl. auch Menke, Bettine, Töne – Hören, in: Vogl (Hg.), Poetologien des Wissens, a. a. O., S. 69 – 95, besonders S. 69 – 72. 322 Vgl. ­Goethes Aussage in einem Brief an Schiller über das erste Zusammentreffen beider Männer: „Dr. Chladni ist angekommen und hat seine ausgearbeitete Akustik in einem Quartbande mitgebracht. Ich habe sie schon zur Hälfte gelesen und werde Ihnen darüber mündlich über Inhalt, Gehalt, Methode und Form manches Erfreuliche sagen können! – […] Auch hatte ich eben die Farbenlehre einmal wieder durchgedacht und finde mich, durch die in so vielem Sinn kreuzenden Bezüge, sehr gefördert.“ ­Goethe an Friedrich Schiller am 26. Januar 1803, in: Briefwechsel Schiller ­Goethe, a. a. O., S. 978. Chladnis Einfluss ist bereits im 1798 entstandenen g­ oetheschen Schema Physische Wirkungen unverkennbar, in dem ­Goethe den sonoren Phänomenen bescheinigt, dass sie „durch leichte Körper auf Flächen dargestellt werden“ können. LA I.11, S.  40 – 41 (Physische Wirkungen). 323 Chladni, Akustik, a. a. O., S. VII. 324 Wie ­Goethes Tagebüchern zu entnehmen ist, griff er 1810 den Plan zur Tonlehre nach einer intensiven Diskussion mit dem Komponisten Carl Friedrich Zelter und einer erneuten Lektüre von Chladnis Akustik wieder auf. Vgl. WA III,4, S. 140 – 149 (Tagebuch vom 15. Juli bis 23. August 1810). 325 „Wenn man sich nach einem höhern Standpunkt umsieht, wo das Hören mit seinen Bedingungen, als ein Zweig einer lebendigen Organisation erschiene, so ist es jetzt eher möglich, dahin zu gelangen, weil eine solche Vorarbeit gemacht ist, die dann freylich, von den Nachfolgern, noch tüchtig durchgeknetet werden muß.“ WA IV,16, S. 197 – 198 (­Goethe an Wilhelm von Humboldt am 14. März 1803). 326 Vgl. WA IV,25, S. 187 (Konzept eines Briefs von G ­ oethe an Christian Heinrich Schlosser vom 6. Februar 1815).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

zur Farbenlehre, indem er die in ihr und im Vermittler-Aufsatz entworfene erkenntnistheoretische Dreiteilung von „Subject, Object, Vermittlung“ anwendet.327 Auch im Bereich der Akustik stellt G ­ oethe das menschliche Sinnesorgan als bedeutendsten epistemologischen Faktor heraus: „Es ist vieles wahr, was sich nicht bis zum entschiedenen Experiment bringen läßt. Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn die Saite und alle mechanische Theilung derselben gegen das Ohr des Musikers? Ja, man kann sagen, was sind die elementaren Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modificiren muß, um sie sich einigermaßen assimilieren zu können?“ 328

Ausgehend von dieser Prämisse gliedern G ­ oethe und seine Mitstreiter das Schema zur Tonlehre in die organische (subjektive), die mechanische (gemischte) und die mathematische (objektive) Abteilung. Die hier gewählte erkenntnistheoretische Richtung steht derjenigen der chladnischen Akustik geradezu entgegen, die von einer allgemeinen Tonlehre (arithmetischer Teil) über die Schwingungen, Schallverbreitungen und die dafür benötigten Körper (mechanischer Teil) zu den Empfindungen des Schalls (physiologischer Teil, der die Funktion des Gehörs erklärt) verlaufen. Mit dem hier entworfenen Zusammenspiel dieser drei Bereiche sei es ­Goethe gelungen – so Claus Canisius –, eine Neuordnung der mittelalterlichen Musikanschauung zu entwickeln, deren drei Elemente musica mundana (= mathematisch), musica humana (= organisch) und musica instrumentalis (= mechanisch) in dieser ursprünglichen Folge gegeneinander wirkten.329 In der mechanischen Abteilung des Schemas zur Tonlehre skizziert G ­ oethe die Spezifika von Musikinstrumenten, deren medial-produktive Funktion er betont: Mit, auf

327 Vgl. WA III,4, S. 143 (Tagebucheintragungen vom 28. und 29. Juli 1810). G ­ oethe arbeitete das Schema zur Tonlehre mit Zelter und Riemer vom 15. Juli bis 22. August 1810 in Karlsbad und Teplitz aus. An mehreren Stellen in den Tag- und Jahresheften zieht ­Goethe auch nach dem Entwurf des Schemas zur Tonlehre immer wieder Analogien zur Erkenntnistheorie der Farbenlehre. Vgl. WA I,36, S. 55 (Tag- und Jahreshefte 1810) und S. 100 (Tag- und Jahreshefte 1815). 328 Vgl. WA IV,20, S. 90 – 91 (Nachschrift eines Briefes von G ­ oethe an Carl Friedrich Zelter vom 22. Juni 1808). In diesem Brief setzt ­Goethe das menschliche Gehör gegen Zelters mathematische Begründung, die Obertonreihe enthalte nur die Durtonart. Zelter versuchte, diese falsche Behauptung unter Zuhilfenahme von Rameaus Lehre zu beweisen, der musikalische Harmonien allein auf Zahlenkombinationen zurückführte. Die Vernachlässigung der Molltonart widersprach ­Goethes Polaritätsdenken erheblich. Vgl. hierzu ausführlicher Dreßler, Hilmar, Das Polaritätsprinzip in ­Goethes Darlegungen zur Dur-Moll-Problematik, in: ders., „Nach Analogien zu denken ist nicht zu schelten“. Studien zu Farbe und Ton in ­Goethes naturwissenschaftlichem Denken – nebst eigenen Paralipomena, Jena 2005, S. 55 – 67. 329 Vgl. Canisius, Claus, ­Goethe und die Musik, München / Zürich 1998, S. 212 – 213.

3.5  Klingende Bilder und Farben für das Ohr

und an ihnen erzeuge das Subjekt das Objekt der musikalischen Töne. G ­ oethe stellt in dieser Abteilung eine klare Hierarchie auf, an deren Spitze die vom menschlichen Körper erzeugte Stimme steht; die Musikinstrumente betrachtet er lediglich als ihr „Surrogat“.330 Um den sinnlichen Eigenwert der Klangwelt herauszustellen, bemüht sich G ­ oethe, die Musik aus dem antiken Quadrivium von Arithmetik, Mathematik und Astronomie zu lösen.331 Diese Zielsetzung veranschaulicht besonders der Diskurs, den G ­ oethe in der mathematischen Abteilung des Tonlehre-Schemas führt. In dieser Rubrik beschäftigt er sich nur kurz mit den „Zahl-Maßverhältnissen“ 332 der Töne, bei denen er über eine bloße Erwähnung des Begriffs nicht hinausgeht. Umfassend beschreibt er jedoch die qualitativen Wirkungen der Töne auf den Menschen und definiert die Tongeschlechter Dur und Moll nicht auf mathematischer Basis, sondern wegen ihrer entgegengesetzten Wirkungen auf den Menschen als grundlegende Polarität der Tonlehre.333 In seinen weiteren Studien bezeichnet er Zahlen und Worte lediglich als „Versuche die Erscheinungen zu fassen und auszudrücken“, als sich „ewig unerreichende Annäherungen“,334 die niemals mit dem Wesen der Töne identisch sein können. Hier befürchtet er wie in seinen Farbstudien, dass sich die künstlichen Zeichen an die Stelle der Phänomene setzen bzw. diese verfremden können. So verwirft er die einmal erwogene physikalische Erforschung der Musik sogleich wegen ihres zergliedernden Zugriffs auf das sukzessiv fließende Kunstwerk.335 Die im Tonlehre-Schema an erster Stelle aufgeführte organische Abteilung behandelt er am ausführlichsten. Sie beschäftigt sich mit der Tonwelt, die sich „aus und an dem Menschen selbst […] offenbart“.336 In dieser Abteilung erläutert ­Goethe die sinnlichsittliche Wirkung der Musik, deren starke emotionale Kraft ihn sogar zur Formulierung sinnlich-sittliche Begeisterung [!] greifen lässt. Nur am Rande des Schemas, an dessen Schluss, entwirft er eine Hierarchie der akustischen Objekte selbst, denen wie in Herders Konzept der Organisationsgrad der Reize zugrunde liegt. Das humanoide

330 LA I.11, zwischen S. 136 – 137 (Schema zur Tonlehre). 331 Vgl. Schanze, Helmut, ­Goethe-Musik, München 2009, S. 13. 332 LA I.11, zwischen S. 136 – 137 (Schema zur Tonlehre). 333 Der Dur-Tonart schreibt G ­ oethe eine steigende Wirkung zu, „eine Erweiterung aller Intervalle hinaufwärts“, der Moll-Tonart hingegen eine fallende, „eine Erweiterung der Intervalle nach unten“. Ebd. In seinem Polaritätskonzept geht ­Goethe von der Gleichursprünglichkeit beider Tonarten aus, womit er sich erheblich von der zeitgenössischen Lehrmeinung und der Auffassung Zelters unterscheidet. Dieser erkennt in Anlehnung an Rameaus mathematisch begründete Harmonielehre allein die Dur-Tonart als natürlich an, da die für sie charakteristische große Terz durch die Fünfteilung einer Saite generierbar ist, die kleine Terz der Moll-Tonart hingegen nicht. Vgl. Carl Friedrich Zelter an ­Goethe am 2. Mai 1808, in: Briefwechsel zwischen ­Goethe und Zelter, 3 Bde., hg. v. Max Hecker, Erster Bd.: 1799 – 1818, Frankfurt am Main 1987, S. 213 – 214. 334 WA IV,25, S. 307 (Beilage vom 19. Februar 1815 zum Konzept eines Briefs von ­Goethe an Christian Heinrich Schlosser vom 5. Mai 1815). 335 Vgl. LA I.4, § 750, S. 220 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 336 LA I.11, zwischen S. 136 – 137 (Schema zur Tonlehre).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Vermögen der Sprache steht als verstandes- und vernunftbasierte Leistung anders als in Kants Konzept an der Spitze; Schall und Geräusche verortet ­Goethe wegen ihrer Strukturlosigkeit, ihres „Übergang[s] ins Formlose, Zufällige“ an unterster Stelle. Er erörtert sie nicht weiter, da er sich im gesamten Schema nur auf das „musikalisch Hörbare“ des Klanges konzentriert.337 Wie in Sulzers und Herders Entwürfen, welche die Funktion des Gehörs mit einer mechanistischen Schwingungstheorie begründen, spielt auch in ­Goethes Tonlehre die Haptik eine Rolle. Nach seiner Meinung wirken die Töne anders als die Farben nicht in ihrer Ausschließlichkeit: „TONLEHRE entwickelt die Gesetze des Hörbaren; dieses entspringt durch Erschütterung der Körper [Instrumente – S. Sch.], für uns vorzüglich durch Erschütterung der Luft.“ 338 Rekursiv unterstreicht dieser nicht weiter ausgeführte Zugriff ex negativo das in ­Goethes Farbentheorie vertretene Enträum­ lichungskonzept als Mittel zur Herausstellung der Spezifik des Sehsinns. Anders als in ­Goethes Wirkungsästhetik der Farben, in der das kairologische Aperçu punktuell die höchste Erkenntnis gewährt, löst sich das Momenthafte in der Musik auf, wird das Sukzessiv-Chronologische zum Garant der Erleuchtung. Geht auch G ­ oethe vom sympathetischen Modell des Mitschwingens aus, das er allerdings nicht in der organischen, sondern der mathematischen Abteilung aufführt, kann dieses nach seiner Auffassung durch die emotionale Kraft besonderer musika­lischer Werke noch gesteigert werden. Nach seinem Verständnis besitzen sie weit mehr als eine anthropologische Wirkung. Sie verfügen nicht nur über die Macht, Seele und Körper in Einklang zu bringen, sondern können auch die spezifischen Sinnesopera­tionen selbst außer Kraft setzen, um den Hörer zu einem ganzen Menschen zu machen. So war ­Goethe beim Anhören der bachschen Musik zumute, „[…], als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich’s etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung, möchte zugetragen haben. So bewegte sich’s auch in meinem [­Goethes – S. Sch.] Innern und es war mir als wenn ich weder Ohren, am wenigsten Augen, und weiter keine übrigen Sinne besäße noch brauchte“. 339 Anschaulich beschreibt ­Goethe hier an der Wirkung der Töne und dem ihr korrespondierenden Prozess der Perzeption die ästhetische Totalität der Musik.340 In diesem Beispiel, bei dem Anklänge an die harmonia mundi, die antike universale Sphärenharmonie, ebenso aufscheinen 341 wie an

337 Ebd. Die Trennung des musikalisch Hörbaren von den nichtmusikalischen Geräuschen betrachtet Neubauer als Spezifikum der Aufklärung und der G ­ oethezeit. Vgl. Neubauer, John, On G ­ oethe’s Tonlehre, in: Music and German Literature. Their Relationship since the Middle Ages, ed. by James M. McGlathery, Columbia 1992, S. 132 – 141, hier S. 135. 338 LA I.11, zwischen S. 136 – 137 (Schema zur Tonlehre). 339 WA IV,42, S. 376 (­Goethe an Carl Friedrich Zelter am 21. Juni 1827 [Paralipomenon]). 340 Vgl. auch Han, Ästhetik der Oberfläche, a. a. O., S. 12. 341 Vgl. zur harmonia mundi besonders die Kapitel über die Harmonielehre der Pythagoräer und Aristoteles in: Jewanski, Ist C = Rot?, a. a. O., S. 73 – 90.

3.5  Klingende Bilder und Farben für das Ohr

das Konzept der absoluten, von allen nicht-musikalischen Einflüssen gelösten Musik, wird der Mensch zu einem großen Gemeingefühl, das mit der Welt identisch wird. Die auch in ­Goethes anthropologischem Konzept aufscheinende Gefahr eines passiven Subjekts bannt er mit dem Rückgriff auf das naturphilosophische Polaritätsprinzip. Analog dem Gesichtssinn schreibt er dem Gehör eine reaktiv-aktive Funktion zu und fasst es als einen Doppelsinn auf: „Gegen das Auge betrachtet ist das Hören ein stummer Sinn. Nur der Teil eines Sinnes.“ 342 Während das Auge eine Eigenaktivität entwickeln und gleichermaßen aktiv und passiv sein kann, verteilt G ­ oethe die polare Funktion des Ohrs auf zwei Körperinstanzen. Das Ohr kann nur in einem organisierten Organverbund mit der Stimme wirken. In diesem System ist es kein passives Organ, sondern besitzt ebenso eine gegenwirkende und fordernde Funktion. Diese polare Wirkungsweise kennzeichnet zugleich seine doppelte Funktion als datenerzeugendes und informationsübertragendes Medium. Es ist gegenwirkend, indem es den äußeren Ton aufnimmt, und fordernd, indem es die Aktivität der gesangs- und sprachproduzierenden Stimme prägt, die wiederum die Funktion des Ohrs maßgeblich beeinflusst und vollendet. Als „völlig produktiv[er]“ Sinn 343 erscheint diese als Bildungstrieb des Gesangs, als das aktive, aus dem Menschen tretende Element, das in einer rekursiven Schleife durch das Ohr zu ihm zurückkehrt und auf diese Weise eine ausschließliche Erfahrung am eigenen Körper schafft. Während sich das Auge nicht selbst betrachten kann, sondern nur im Medium des Spiegels, kann sich das Organsystem des Ohres hören, wird dieser Sinn zum Medium der Selbstreflexion per se. Während ­Goethe diskursiv die topologische Position des Auges lediglich als Binde­ glied zwischen Körperinnerem und Außenwelt an der Körpergrenze berücksichtigt, während er am Sehorgan nur die Netzhaut beachtet und dadurch den menschlichen Körper konzeptuell enträumlicht, thematisiert er die mediale Funktion des Ohrs in seiner Verkettung mit dem Körperinneren. Er beschreibt dessen Verbindung mit der (Gesangs-)Stimme: „Doch ist bei dem Ohr die Leitung nach innen besonders zu betrachten, welche durchaus erregend und produktiv wirkt. Die Produktivität der Stimme wird dadurch geweckt, angeregt, erhöht und vermannigfaltigt.“ 344 Anders als beim Gesichtssinn scheint hier die Räumlichkeit des menschlichen Körpers auf. Auch wenn ­Goethe vom Übertragungsweg des Klanges als einer den Körper passierenden Leitung spricht, thematisiert er die physiologischen Prozesse des Gehörs wie beim Gesichtssinn wiederum nicht in ihrer Eigenständigkeit.345 Entscheidend ist allein der Fakt des Organverbundes, nicht jedoch das empirische Wie seines Funktionierens. 342 LA I.11, zwischen S. 136 – 137 (Schema zur Tonlehre). 343 Ebd. 344 Ebd. 345 In diesem Kontext ist Borchmeyers Auffassung kritisch zu hinterfragen, ­Goethe habe in der Tonlehre eine Psychophysiologie des Hörens zu begründen versucht. G ­ oethe reflektierte die physiologischen Prozesse des Gehörs nicht in ihrer Eigenständigkeit. Vgl. Borchmeyer, Dieter, „Eine Art

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Erwähnt G ­ oethe zwar Kehle und Brust und das „hohe[n] organische[n] Wesen“ des Ohrs, thematisiert er anders als Herder ihre anatomische Beschaffenheit nicht. In der Einleitung des Schemas impliziert eine kurze Ausführung zum Bereich der Rhythmik („Gesetze des Hörbaren […] durch Erschütterung der Körper“) ebenfalls die mediale Funktion des Tontransports ins Körperinnere. Diese Passage wird jedoch später nicht näher ausgeführt. Auch hier blendet Goethe die physiologischen Vorgänge des Gehörs aus. Damit unterscheidet sich sein kunsttheoretischer Zugriff von denjenigen Sulzers und Herders, welche die durch die Töne erzeugten nervenphysiologischen Vibrationen in ihrer Spezifik behandeln. Stattdessen thematisiert ­Goethe die Transformation der musikalischen Wahrnehmung ins Sichtbare. Die Musik animiert – einmal ins Bewusstsein des Hörers gelangt – im für ­Goethe wahrsten, weil sichtbaren Sinne des Wortes den ganzen Menschen, der durch motorische Verrichtungen wie Schritt und Sprung auf diese reagiert. In diesen Gestaltbildungen wird der Mensch nicht von den übertragenen Schwingungen, sondern der Wirkungsästhetik der Musik bestimmt, auf die er innerhalb einer bestimmten Verhaltensbandbreite reagiert. ­Goethes naturphilo­sophischem Denken entsprechend, fungiert der Hörer hier als Spiegel der Tonkunst, die ihre natürliche Einheit in der reinen Form findet: „Die Würde der Kunst scheint bei der Musik vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden müßte. Sie ist ganz Form und Gehalt und veredelt alles, was sie ausdrückt.“ 346 Schlägt G ­ oethe den Bogen der Analogie vom erkenntnistheoretischen Konzept der Farbwahrnehmung zu den akustischen Phänomenen und berücksichtigt in beiden Bereichen die physiologischen Vorgänge im menschlichen Körper nicht in ihrer Eigenständigkeit, verhält er sich in der Betrachtung der ästhetischen Objekte beider Künste anders: Er spricht sich vehement gegen das willkürliche In-Beziehung-Setzen einzelner Farben und Töne aus. Stand hinter dem bereits in der griechischen Antike praktizierten Vergleich von Musik und Farbgebung die Suche nach einer universalen Sphärenharmonie, einer harmonia mundi, rückten im 18. Jahrhundert mit der Aufwertung des Menschen in kritischer Philosophie und einsetzenden Lebenswissenschaften das subjektive psychologische Harmonieempfinden und die damit verbundene synästhetische Tätigkeit der Sinnesorgane ins Zentrum der vergleichenden Farbe-TonAnalysen. In ­Goethes Reflexion dieser Analysen kreuzen sich wiederum kunsttheoretische Ansätze und naturphilosophische Betrachtungen. Seinem kunsttheoretischen Vergleich von Farben und Tönen legt ­Goethe die spezifische Dynamik der jeweils reflektierten Kunst zugrunde. Er begreift die o. a. Analogisierung, die anders als die sich selbst aufzeichnenden Klangfiguren Chladnis

Symbolik fürs Ohr“. ­Goethes Musikästhetik, in: Hinderer, Walter (Hg.), G ­ oethe und das Zeitalter der Romantik, Würzburg 2002, S. 413 – 446, hier S. 421. 346 WA I,48, S. 192 (Maximen und Reflexionen).

3.5  Klingende Bilder und Farben für das Ohr

willkürlich erfolgt, als Kunstprodukt „zweier große[r] in sich selbst abgeschlossen[er] Naturerscheinungen“,347 von denen jede nach bestimmten eigenen Gesetzen funktioniert. Die Musik wie die Farbgebung unterliegen nach seiner Meinung unterschiedlichen Prinzipien der Selbstorganisation, die sich in den differenten Ordnungsmöglichkeiten ihrer einfachsten Elemente Farbe und Ton zeigen. Vermutlich ist hierin der Grund dafür zu suchen, dass G ­ oethe eine Analogisierung erst auf der Ebene der jeweiligen Gesamtkünste gestattet. Er sucht in beiden Künsten nach einem elementaren Ordnungsmuster, dessen Funktion er bei der Farbgebung analog zu dem der Musik setzt, um nach einem Regelkanon für das Kolorit zu suchen. So berichtet Friedrich Wilhelm Riemer, wie ­Goethe während der Erarbeitung der Farbenlehre im Mai 1807 Folgendes festgestellt hätte: „In der Malerei fehle schon längst die Kenntnis des Generalbasses, es fehle an einer aufgestellten approbierten Theorie, wie es in der Musik der Fall ist.“ 348 Dennoch arbeitet G ­ oethe keine objektiven Kriterien für eine solche Analogisierung heraus, wie die von seiner eigenen physikalischen Theorie beeinflusste Kritik an D ­ iderots einschlägigem Konzept vor Augen führt. Diderot vergleicht den Regenbogen als Fundament der Farbenwelt mit dem Generalbass in der Musik. Naturphilosophisch-physikalisch argumentierend, begreift G ­ oethe hingegen das Prisma ebenso wie den Regenbogen als Sonderfälle eines höheren Prinzips der Harmonie, da dieser nicht alle Refraktionsfarben enthalte.349 Anschaulich demonstriert dieser Diskurs, dass ­Goethe beide Künste nicht nur über die Differenz ihrer elementaren Ordnungen in Verbindung setzt, sondern Musik und Farben auch entsprechend seiner pantheistischen Naturauffassung in grundlegenden naturphilosophischen Prinzipien zusammenführt. Neben der Harmonie ist es das Prinzip der Polarität, das nach ­Goethe in beiden Künsten wirkt:

347 LA I.6, S. 396 (Farbenlehre, Historischer Teil). Aus diesem Grunde ist Hilmar Dreßler nicht zuzustimmen, der pauschal von ­Goethes positiver Einschätzung der Farbe-Ton-Analogien ausgeht, als Bestätigung seiner Ansicht jedoch durchweg ­Goethes Bemerkungen zu Kunstwerken oder komplexeren Elementen der Künste, z. B. den Tongeschlechtern, anführt. Vgl. Dreßler, Hilmar, G ­ oethes Ansätze für eine Analogie von Farbe und Ton und deren Bestätigung aus heutiger Sicht, in: ders., „Nach Analogien zu denken ist nicht zu schelten“. Studie zu Farbe und Ton in ­Goethes naturwissenschaftlichem Denken, Jena 2005, S. 7 – 18. 348 ­Goethe zu Friedrich Wilhelm Riemer am 19. Mai 1807, in: Herwig, Wolfgang (Hg.), ­Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, 5 Bde., Bd. 2, Zürich / München 1969, S. 223. Als Generalbass wurde in der mehrstimmigen Musik des späten 16. bis 18. Jahrhunderts die instrumentale Bassstimme bezeichnet, die den harmonischen Ablauf einer Komposition und ihrer mehr oder weniger frei auszuführenden akkordischen Begleitung verkürzt beschreibt. Aufgrund dieser Funktion definiert ihn Grimms Deutsches Wörterbuch von 1897 als „inbegriff der regeln der harmonielehre überhaupt“. Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm, Generalbass, in: dies., Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, 1. Abt., 2. Theil: Gefoppe – Getreibs, Leipzig 1897, Sp. 3382. Zur Definition des Generalbasses vgl. auch Hirsch, Ferdinand, Das große Wörterbuch der Musik, Berlin 1987, S. 176. 349 Vgl. FA I.18, S. 597 – 598 (Diderots Versuch).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

„Vergleichen lassen sich Farbe und Ton untereinander auf keine Weise; aber beide lassen sich auf eine höhere Formel beziehen, aus einer höhern Formel beide, jedoch jedes für sich, ableiten. Wie zwei Flüsse, die auf einem Berge entspringen, aber unter ganz verschiedenen Bedingungen in zwei ganz entgegengesetzte Weltgegenden laufen, so daß auf dem beiderseitigen ganzen Wege keine einzelne Stelle der andern verglichen werden kann, so sind auch Farbe und Ton. Beide sind allgemeine elementare Wirkungen, nach dem allgemeinen Gesetz des Trennens und Zusammenstrebens, des Auf- und Abschwankens, des Hin- und Widerwägens wirkend, doch nach ganz verschiedenen Seiten, auf verschiedene Weise, auf verschiedene Zwischenelemente, für verschiedene Sinne.“ 350

Das Polaritätsprinzip nutzt ­Goethe zur Analogienbildung, wenn er beispielsweise im didaktischen Teil der Farbenlehre die Tongeschlechter Dur und Moll mit dem mächtigen und dem sanften Effekt eines Bildes vergleicht.351 Geht er zwar zeichentheoretisch von der Simultaneität der Malerei und der Sukzessivität der Musik aus,352 beschreibt er in oben aufgeführtem Zitat beide Künste mit der Symbolik des Fließenden, die kennzeichnend für die Aspekte des Dynamischen und Kontinuierlichen in G ­ oethes pantheistischer Naturauffassung ist. Nicht nur die musikalischen Töne, sondern auch die Farben des Spektrums fließen ineinander, nicht nur die Sukzessivität der Musik, sondern auch die physiologischen Farben erscheinen dynamisch. Entsprechend seiner kritischen Haltung gegenüber der mathematischen Durchdringung der Musik spricht sich G ­ oethe besonders gegen jene Versuche aus, die eine Farbe-Ton-Analogie durch abstrakte Modelle oder mathematische Zeichen herstellen: Lässt G ­ oethe im historischen Teil der Farbenlehre Aristoteles’ Bemühen, die Farb­ entstehung durch bestimmte Zahlenverhältnisse zu definieren, die er analog zu den Konsonanzen der Musik aufstellt, noch unkommentiert, kritisiert er die Farbe-TonAnalogien von Nicolas Malebranche heftig. Dem Descartes-Schüler, der seine Theorie an einem für Farben und Töne strukturhomologen künstlichen Schwingungsmodell festmacht, wirft ­Goethe das nicht beachtete Eigenleben beider Phänomenbereiche vor, ebenso dem Maler und Zeichner Johann Leonhard Hoffmann. Dieser vergleicht die Farben ausführlich mit musikalischen Tönen, Musikinstrumenten und Stimmlagen ebenso wie unterschiedliche Mal- und Zeichentechniken mit bestimmten konzertanten Aufführungen.353 350 LA I.4, § 748, S. 220 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 351 Vgl. ebd., § 890, S. 249 – 250. 352 Vgl. LA I.11, S. 40 – 41 (Tabelle Physische Wirkungen) und LA I.6, S. 398 (Farbenlehre, Historischer Teil). 353 Vgl. Malebranche, Nicolas, Réflexions sur la lumière et les couleurs et la génération du feu par le Père Malebranche, in: Mémoires de l’Académie royale (1699). Zu G ­ oethe über Malebranche vgl. LA I.6, S. 308 – 309 (Historischer Teil der Farbenlehre). Vgl. Hoffmann, Johann Leonhard, Versuch einer Geschichte der malerischen Harmonie überhaupt und der Farbenharmonie insbesondere, mit

3.5  Klingende Bilder und Farben für das Ohr

Die Experimente und Diskurse zu den Farbe-Ton-Analogien zogen im ausgehenden 17. Jahrhundert besonders durch Newtons optische Versuche erneut die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich. Newton hatte – wie in Kapitel 2.4 bereits dargelegt – die sieben Farben seines Spektrums und ihre internen Flächenverhältnisse in Analogie zu den Tonintervallen einer Oktave bestimmt. Aus Gründen einer verbesserten Symmetrie, die er ausgehend von der Farbbreite des in der Mitte liegenden Grün konzipierte, hatte er auf diese Weise per Berechnung Flächen für die nur schwer bzw. kaum sichtbaren Farben Orange und Indigo ermittelt, die er gleichberechtigt neben die Werte der fünf per se wahrnehmbaren Farben Rot, Gelb, Grün, Blau und Violett setzte. Bedingt durch die Willkür der Farbe-Ton-Zuordnungen und die fließenden Übergänge der Farben des Spektrums musste Newton jedoch einen empirischen Nachweis der Farbenzahl schuldig bleiben.354 Auf die Arbitrarität zwischen den jeweiligen Regeln für die Elemente der beiden Phänomenbereiche verweist nicht zuletzt sein eigener Zweifel. In einer Vorarbeit zum geplanten, später nicht erstellten vierten Buch der Opticks, in der er die Harmonie der Farben auf die Einteilung der Oktave bezog, musste er – noch unter Berufung auf das Wissen der Maler – allerdings feststellen, dass eine Analogsetzung der Wirkungen von Tönen und Farben nicht eindeutig möglich ist: „Grün verträgt sich weder mit Blau noch mit Gelb, denn es ist von diesen nur eine Note oder einen Ton nach oben beziehungsweise nach unten entfernt. Ebensowenig verträgt sich – aus dem gleichen Grund – Orange mit Gelb oder Rot. Orange verträgt sich jedoch besser mit einem Indigoblau als mit irgendeiner anderen Farbe, denn sie verkörpern Quinten. […] Diese Harmonie und Dissonanz der Farben ist jedoch nicht so eindeutig feststellbar, wie dies bei Klängen möglich ist, denn bei zwei konsonierenden Klängen sind keine dissonierenden beigemischt, bei konsonierenden Farben jedoch gibt es ein großes Gemisch, da ja jede Farbe sich aus einer Vielzahl anderer zusammensetzt.“ 355

­ oethe verbannt im historischen Teil der Farbenlehre nicht nur die Siebenzahl der SpekG tralfarben ins Reich des Imaginären, sondern kritisiert auch die empirische Variabilität der internen Teilung von Newtons Spektrum. An der Sichtbarkeit der Farben zeigt ­Goethe auf, dass die internen Flächenrelationen des Spektrums von Versuch zu Versuch je nach Abstand zwischen Prisma und Projektionsfläche variieren.356 Trotz seiner Erläuterungen aus der Tonkunst, und vielen praktischen Anmerkungen, Halle 1786. Zu ­Goethe über Hoffmann vgl. LA I.6, S.  395 – 399. 354 Vgl. Jewanski, Ist C = Rot?, a. a. O., S. 231 – 243, besonders S. 236. 355 Shapiro, Optical Papers of Isaac Newton. Volume I, a. a. O., S. 546, Anm. 27, dt. Übersetzung zit. n. Gage, Kulturgeschichte der Farbe, a. a. O., S. 232. Zu den Darlegungen davor vgl. ebd. 356 Vgl. LA  I.5, § 464, S. 138 – 139 (Farbenlehre, Polemischer Teil). Vgl. hierzu auch ausführlich Dreßler, Hilmar, Die Farbe-Ton-Analogien im Historischen Teil von G ­ oethes Farbenlehre, in: ders., „Nach Analogien zu denken ist nicht zu schelten“. Studien zu Farbe und Ton in ­Goethes

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

erbitterten Polemik gegen Newton schleicht sich unbewusst in ­Goethes Farbentheorie hin und wieder selbst die viel kritisierte Analogienbildung zwischen Einzelfarben und -tönen. In der Abteilung der Sinnlich-sittlichen Wirkung der Farbe des didaktischen Teils beschreibt er die charakteristische Zusammenstellung im Farbenkreis, bei der jeweils eine Farbe des Kreisschemas ausgelassen wird, als „nach Chorden aufzufinden“. An anderer Stelle stimmt ein einfarbiger Reiz „Auge und Geist mit sich unisono“.357 In seiner grundlegenden Kritik der Farbe-Ton-Analogien kam G ­ oethe nicht umhin, sich mit einem intermedialen Instrument zu beschäftigen, das intensiv diskutiert, technisch vermutlich aber nie ausgefeilt und vollendet wurde. Es handelt sich um das Farbenklavier, das der Jesuitenpater Louis Bertrand Castel, angeregt durch Newtons Farbe-Ton-Zuordnungen, entwarf. Durch eine mechanische Vorrichtung zeigte das Instrument synchron bei jedem angeschlagenen Ton eine ihm zugeordnete Farbe. Farbensehen und Melodienhören erfolgten durch diese Verbindung simultan, wovon der Komponist Georg Philipp Telemann folgende anschauliche Beschreibung gibt: „Um einen Klang hören zulassen leget man die Finger auf die Claviertaste, man tricket sie nieder, und indem sie sich vorn hinein sencket, oder hinten aufhebet, öffnet sie ein Ventil, das den begehrten Klang mittheilet. Eine andere Taste öffnet ein anderes Ventil. Mehrere zugleich, oder nach einander, nieder gedrückte Tasten lassen mehrere Klänge auf einmahl, oder nach und nach, hören. Zu gleicher Zeit, wenn die Taste, um einen Klang zu haben, das Ventil aufmachet, hat der P. Castel seidene Schnüre, oder eiserne Dräter, oder höltzerne Abstracten angebracht, die durch ziehen oder stoßen ein färbigtes Kästgen, oder einen dergleichen Fächer, oder eine Schilderey, oder eine helle bemahlte Laterne, entdecken, also daß, indem man einen Klang höret, zugleich eine Farbe gesehen wird.“ 358

naturwissenschaftlichem Denken – nebst eigenen Paralipomena, Jena 2005, S. 19 – 32, hier S. 26. In der Tat ist Newtons empirische Beweisführung willkürlich. Wegen seines schlechten Sehvermögens ließ er einen Assistenten bei gleichbleibendem Abstand des Prismas von der Wand Linien zwischen den verschiedenen Farben des Spektrums ziehen. Bei der mehrfachen Wiederholung dieses Vorgangs seien die Abweichungen – so Newton – nur gering gewesen. Vgl. Newton, Isaac, Letter to Oldenburg from 7.12.1675, in: Turnbull, S. H. W. (Hg.), The Correspondence of Isaac Newton, 3 vols., vol. 1, 1661 – 1675, Cambridge 1959, Nr. 146, S. 362 – 389, hier S.  376 – 377. 357 In der Reihenfolge der Zitate LA I.4, § 816, S. 235 und § 763, S. 225 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 358 Telemann, Georg Philipp, Beschreibung der Augen-Orgel, oder des Augen-Clavicimbels, so der berühmte Mathematicus und Jesuit zu Paris, Herr Pater Castel, erfunden und ins Werck gerichtet hat; aus dem Französischen Briefe übersetzet von Telemann, Hamburg 1739, S. 264 – 265, zit. n. Jewanski, Ist C = Rot?, a. a. O., S. 327. Telemann weilte 1737 für mehrere Monate in Paris und traf dort vermutlich Castel. Die Beschreibung, die auf den Darlegungen eines Freundes von Telemann basiert, nahm Castel in sein 1740 in Paris erschienenes Werk L’optique des Couleurs auf. Vgl. ebd., S. 326.

3.5  Klingende Bilder und Farben für das Ohr

Castel, der nach eigenen Aufzeichnungen erste Formen des Farbenklaviers am 21. Dezember 1754 und 1. Januar 1755 einem interessierten Publikum vorführte, hatte sich von dieser Apparatur Vorteile für Menschen mit eingeschränkter Sinneswahrnehmung erhofft. Die Verbindung von Farben und Tönen sollte eine Stellvertretung des einen für den anderen Sinn ermöglichen: Taube sollten die Schönheit der Musik im Medium der Farbe, Blinde die Ästhetik der Malerei in Form von Tönen genießen. Die Maler wiederum erhielten mit dem Instrument die Möglichkeit, über das „berechenbare“ Medium des Tons die Farbharmonien rational zu erschließen.359 ­Goethe, der Castels farbtheoretische Betrachtungen wegen ihrer Newton-Kritik schätzt, verurteilt im historischen Teil selbstredend die arbiträre Farbe-Ton-Zuordnung.360 Wertet ­Goethe durch die Betonung ihrer Eigengesetzlichkeit, die ausschließlich über ihre Sichtbarkeit erfahrbar wird, die Farbe auf, greift Castel auf das zusätzliche Medium des Tons zurück: „Sein größtes Unglück ist, daß er ebenfalls die Farbe mit dem Tone vergleichen will, […]. Auch ihm hilft es nichts, daß er eine Art von Ahnung von der sogenannten Sparsamkeit der Natur hat, von jener geheimnisvollen Urkraft, die mit wenigem viel und mit dem Einfachsten das Mannigfaltigste leistet. Er sucht es noch, wie seine Vorgänger, in dem, was man Analogie heißt, wodurch aber nichts gewonnen werden kann, als daß man ein paar sich ähnelnde empirische Erscheinungen einander an die Seite setzt und sich verwundert, wenn sie sich vergleichen und zugleich nicht vergleichen lassen.“ 361

Die von ­Goethe verfolgte strikte Trennung der Künste spiegelt sich besonders in seinem Diskurs über das Zusammenwirken der Sinne wider, das im Allgemeinen mit dem Begriff der Synästhesie bezeichnet wird. Dieser steht für eine Mit-, Doppel- oder Sekundärempfindung und beschreibt, „daß ein sinnlicher Eindruck im Bewußtsein des wahrnehmenden Subjekts eine zweite Sinnesempfindung hervorruft“ 362 bzw. dass ein Objekt verschiedene Sinne gleichzeitig anspricht. Darüber hinaus existierte im 17. und 18. Jahrhundert noch ein weiteres, damit eng verwandtes Modell: das Vikariat der Sinne. In ihm ersetzt ein Sinn einen ausgefallenen bzw. nicht vorhandenen anderen, wie das eben beschriebene Beispiel des Farbenklaviers, aber auch der prominente

359 Vgl. ebd., S. 332, 338 und S. 282. 360 Vgl. LA I.6, 329 (Farbenlehre, Historischer Teil). ­Goethe befürwortete Castels Kritik an Newtons willkürlicher Siebenzahl der Farben und ihrer versuchten Trennung im Spektrum ebenso wie die Verurteilung der Kompliziertheit der newtonischen Versuchsaufbauten. 361 Ebd., S.  328 – 329. 362 Lühe, A. von der, Synästhesie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter / Karlfried Gründer, Bd. 10: St – T, Basel 1998, S. 767 – 773, hier S. 768. Der Begriff der Synästhesie entwickelte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war also zur G ­ oethezeit noch nicht bekannt. Vgl. ebd.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Diskurs um das Verhältnis von Gesichts- und Tastsinn des sehend gewordenen Blinden zeigt. Diese „Ersatzverhältnisse“ differieren von der multisensoriellen Reaktion auf ein Ereignis bis zum vollkommenen Ersatz eines Sinnes durch einen anderen.363 Ausgehend von ­Goethes Prämisse, dass Farbe und Ton an die spezifische Leistung des jeweiligen Sinnesorgans gebunden sind und nur über diese die Universalität des für beide Bereiche geltenden Harmonieprinzips ableitbar ist,364 spricht er sich in seinen Farbstudien gegen das direkte, synästhetische Zusammenwirken beider Organe aus. Exemplarisch sei eine Beschreibung im Vorwort zur Farbenlehre angeführt, in der das Gehör erst durch das Schließen der Augen und deren damit verbundene temporäre Blindheit zu seinem Recht kommt. Eindeutig fungiert das Ohr hier als Stellvertreter des Gesichtssinns, reagiert aber niemals zugleich mit diesem auf einen Reiz: „Ebenso entdeckt sich die ganze Natur einem andern Sinne. Man schließe das Auge, man öffne, man schärfe das Ohr, und vom leisesten Hauch bis zum wildesten Geräusch, vom einfachsten Klang bis zur höchsten Zusammenstimmung, von dem heftigsten leidenschaftlichen Schrei bis zum sanftesten Worte der Vernunft ist es nur die Natur, die spricht, ihr Dasein, ihre Kraft, ihr Leben und ihre Verhältnisse offenbart, so daß ein Blinder, dem das unendlich Sichtbare versagt ist, im Hörbaren ein unendlich Lebendiges fassen kann.“ 365

Als kurzer Exkurs sei angemerkt, dass G ­ oethe nicht bei allen Sinnen von ihrer gleichwertigen Trennung ausgeht, sondern diese Differenzierung entsprechend seinem erkenntnistheoretischen Konzept unterschiedlich bewertet. Öfter als das Verhältnis von Sehen und Hören thematisiert er das Zusammenwirken von Sehen und Tasten. Nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die Inhalte dieses Diskurses stehen einmal mehr für sein Konzept der völligen Absorption haptischer Eigenschaften durch die Farbe. Beschreibungen eines synästhetischen Zusammenwirkens von Gesichts- und Tastsinn betrachtet ­Goethe nicht ohne Skepsis. Interessiert er sich zwar für dieses Phänomen, verweist er es in den Bereich des Pathologischen, in dem nach seiner Auffassung ein Sinn den anderen ersetzt, so dass es sich bei den meisten seiner Betrachtungen um ein Vikariat der Sinne handelt. Hält er das Farbenfühlen z. B. für „nicht unwahrscheinlich“, so „wird [es] erzählt von 363 Vgl. Müller-Tamm, Jutta, Das Vikariat der Sinne. Zum Argument der Synästhesie in Physiologie und Ästhetik des 19. Jahrhunderts, in: Guthmüller, Marie / Klein, Wolfgang (Hg.), Ästhetik von unten. Empirie und ästhetisches Wissen, Tübingen und Basel 2006, S. 289 – 307, hier S. 290 – 291. Dieses Modell wurde von den frühen Sinnesphysiologen zurückgewiesen, da es dem von ihnen postulierten Gesetz der spezifischen Reizbarkeit jedes Sinnes widersprach. 364 Vgl. diesbezüglich z. B. die Aussage Charlotte von Steins im Januar 1806: „Er [­Goethe – S. Sch.] liest uns jetzt über die Farben, sagt, daß sie in unsern Augen liegen, drum verlange das Auge die Harmonien der Farben, wie das Ohr der Töne“. Stein, Charlotte von, zit. n. Walwei-Wiegelmann, Hedwig, ­Goethes Gedanken über Musik. Eine Sammlung aus seinen Werken, Briefen, Gesprächen und Tagebüchern, Frankfurt am Main 1985, S. 69. 365 LA I.4, S. 3 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Vorwort).

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

Blinden. Von Personen, deren Nerven durch Krankheit erhöht sind. Doch bleiben bisher die Erfahrungen noch unsicher.“ 366 An anderer Stelle führt er das Farbenfühlen einer Demoiselle Gräzel aus Göttingen an, die durch eine Pockenerkrankung in der Kindheit das Augenlicht verloren hatte.367 Sah er für den didaktischen Teil ein später verworfenes Kapitel Von Personen, welche die Farben durchs Gefühl zu unterscheiden behaupten vor, sollte dieses an den Diskurs über die Anomalien der Farbenblindheit gefügt werden.368 Ebenso ablehnend, wie G ­ oethe dem Konzept einer synästhetischen Verbindung der Sinne gegenübersteht, verhält er sich zur Einbindung des menschlichen Körpers in galvanische Experimente. In diesen Versuchen führt ein einheitliches Wirkungsprinzip zur Überhöhung der Sinnesleistungen, die allerdings erst die Individualität der Einzelsinne herausstellt.

3.6 Der Körper als Schau-Platz des Experiments 3.6.1 Der elektrisierte Blick – ­Goethe, Ritter und der Galvanismus In ­Goethes Farbstudien erfuhren galvanische Experimente, in denen der menschliche Körper in besonderer Weise in eine komplexe Experimentalsituation eingebunden wird, eine wechselvolle Behandlung. Noch 1799, in einem vorbereitenden Schema zur Farbenlehre, notierte G ­ oethe die galvanisch erzeugten Phänomene als lohnenswertes Untersuchungsziel und beabsichtigte, den Zusammenhang zwischen subjektiv erzeugten Farben und Galvanismus näher zu untersuchen: „Der Galvanismus, indem er gegen Chemie und Organisation Face macht, berührt auch die Farbenlehre in diesen beiden Punkten. Die physiologischen Farben durch die Ritterische Entdeckung [elektrochemischer Prozesse bei galvanischen Experimenten – S. Sch.].“ 369 Enthält noch das 1801 entstandene Göttinger Schema als geplantes Teilprojekt die Rubrik Farbenerscheinung bei Gelegenheit der Galvanität, ordnet G ­ oethe diese hier ausschließlich dem 370 physikalischen und chemischen Kontext zu. In der Farbenlehre hingegen erwähnt er den ­Galvanismus erstmals im didaktischen Teil unter den Pathologischen Farben – als Ankündigung einer ausführlicheren Erörterung, die er jedoch schuldig bleibt. Damit wandert die diskursive Verortung des Galvanismus wieder zum Schauplatz des Subjekts zurück, nun allerdings als dessen krankhaft begriffene Veränderung.371 366 WA II,5ii, S. 37 (Pathologische Farben. Anhang, Paralipomena). 367 „Auch glaubte sie die Farben zu unterscheiden, an einem stärkern oder schwächern Wirbeln, das sie an den Fingerspitzen empfand, wenn sie farbige Flächen berührte.“ LA I.3, S. 390 (Farbenfühlen). 368 Vgl. LA I.3, S. 338 (Schema der Farbenlehre. Göttingen 1801). 369 LA I.3, S. 355 (Ausdehnung des Schemas 1799, Verhältnisse nach außen). 370 Vgl. LA I.3, S. S. 337 (Schema der Farbenlehre. Göttingen 1801). 371 Vgl. LA I.4, § 114, S. 56 (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

­Goethe beschäftigte sich ausführlich mit dem Galvanismus, dessen Wirken er wie bei anderen physikalischen und chemischen Naturerscheinungen auch das Polaritätsprinzip zugrundelegte. Er rezipierte nicht nur die schriftlich niedergelegten Beobachtungen anderer Forscher, sondern führte auch eigene galvanische Experimente mit anorga­nischer und organischer Materie, z. B. mit präparierten Froschschenkeln, durch.372 Sein spezifisches Interesse erweckten die in diesen Versuchen auftretenden chemischen Reaktionen und elektrischen Vorgänge ebenso wie die Wirkungen des Galvanismus auf die menschlichen Sinnesorgane. Die Erzeugung von Sinnesdaten durch den galvanischen Strom reflektierte er zwar mehrfach repetierend, bezog jedoch nur selten wie im didaktischen Teil der Farbenlehre eine eigene Position dazu. Sie ist in den meisten Fällen kritisch. Hinter dieser Haltung verbirgt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit die Tatsache, dass der lebende Organismus durch elektrische Ladungszufuhr in einer galvanischen Kette aus seiner Umgebung dekontextualisiert und in einen künstlichen Zustand versetzt wird – ein Fakt, der dem von G ­ oethe postulierten universellen Harmonieprinzip zwischen Mensch und Welt widerspricht. Aufgrund der wenigen Positionierungen G ­ oethes zur galvanischen Farberzeugung im menschlichen Auge bzw. in den Sinnesorganen soll sein Standpunkt durch eine vergleichende Analyse zwischen seiner in den Farbstudien entwickelten Wahrnehmungstheorie und den Forschungen eines Naturwissenschaftlers herausgestellt werden, der sich intensiv mit dem Phänomen des Galvanismus beschäftigte und der als bedeutendster Physiker der Romantik gilt: Johann Wilhelm Ritter. In der Naturwissenschaft des späten 18. Jahrhunderts war der Galvanismus ein viel beachtetes Phänomen. Zahlreiche Forscher hofften, durch die ihn erzeugenden Experimentalkonstellationen den Begriff des Lebens und die Phänomene des Lebendigen fundierter erklären zu können. Sein Namensgeber, der Arzt und Physiologie Luigi Galvani, hatte in den 1780er-Jahren zufällig entdeckt, dass sezierte Froschschenkel zuckten, sobald sie mit unterschiedlichen Metallen gleichzeitig in Berührung kamen. In systematischen Versuchen, in denen er die Froschschenkel zwischen zwei Drähte aus Zink und Silber brachte, entdeckte er, dass ein Stromkreis entstand, bei dessen Schließung und Unterbrechung sich die Froschschenkel bewegten. Als Ursache nahm Galvani die Existenz eines Nervenfluidums an, dessen elektrische Eigenschaften die Muskelzuckungen auslösten. Er vermutete, dass die Tiere selbst Elektrizität besäßen und postulierte 1791 die Entdeckung der nach dieser Annahme benannten tierischen Elektrizität.373 Als ihren ursächlichen Faktor betrachtete er den Körper, die Metalle

372 Vgl. hierzu besonders die ausführliche Aufarbeitung von ­Goethes einschlägigen Texten und Exzerpten der entsprechenden Literatur anderer Forscher, seiner Korrespondenzen und seiner Tagebucheintragungen durch Jutta Eckle in LA II.1A. 373 Diese Behauptung stellte Luigi Galvani in seinem Werk De viribus electricitatis in motu musculari commentarius, S. 363 – 414 auf, das 1791 erschien.

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

hingegen lediglich als verstärkende Medien des Fluidums. Erst drei Jahre später gelang ihm der Nachweis von Muskelbewegungen ohne metallische Leiter.374 Galvanis Schüler, der Physiker Alessandro Volta, widersprach dieser These. Er entdeckte, dass die Verbindung der unterschiedlichen Metalle die elektrischen Erscheinungen erzeugten, nicht aber der tierische Körper. Das Nerv-Muskel-Präparat beschrieb er lediglich als Indikator und Elektroskop, als Visualisierungsmedium der elektrischen Phänomene.375 Als Galvani der Elektrizitätsnachweis ohne experimentelle Verwendung von Metallen gelang, sah Volta ein physikalisches Spannungsgefälle als Ursache der in diesen Versuchen auftretenden Organbewegungen an, nicht aber deren Eigenaktivität.376 Das von Galvani und Volta diskutierte Phänomen ist heute unter dem Namen der Kontaktelektrizität bekannt. Bereits in der ersten Hälfte der 1790er-Jahre hatte sich G ­ oethe mit Galvanis Ent377 deckungen beschäftigt. Eine erste Position zum Galvanismus im Allgemeinen ist in seiner Korrespondenz mit Alexander von Humboldt zu finden, der zwischen den Ansichten Galvanis und Voltas eine eigenständige Theorie entwickelte: Humboldt beschrieb ein spezifisches galvanisches Fluidum, das weder mit dem um 1800 verbreitet angenommenen Nervensaft noch mit der Elektrizität identisch war, sich jedoch in der Nervenfaser befand und durch Einwirkung auf den Muskel eine Kontraktion hervorrief. Als Auslöser für die Verteilung dieses Fluidums im menschlichen Körper betrachtete Humboldt eine Feuchtigkeit, die er durch das Anhauchen eines Metalls in der galvanischen Kette erzeugte. Mit diesem und anderen Experimenten versuchte er zu beweisen, dass der galvanische Reiz selbst organischer Natur sei, d. h., nur bei erregbaren Materien gelinge. Humboldt ging damit von einer dritten Form der Elektrizität aus – dem galvanischen Fluidum, da er weder eine im Muskel gespeicherte und bei Reizeinwirkung entladene tierische Elektrizität wie Galvani annahm, noch

374 Vgl. Galvani, Luigi, Supplemento, in: ders., Dell’uso e dell’attività dell’arco conduttore nelle contradizioni dei muscoli, Bologna 1794. Diese Publikation blieb nahezu unbeachtet. In diesem Nachweis ließ Galvani den Nervus ischiadicus gleichzeitig auf den Querschnitt und die Oberfläche eines Beinmuskels fallen. Vgl. Richter, Klaus, Das Leben des Physikers Johann Wilhelm Ritter. Ein Schicksal in der Zeit der Romantik, Weimar 2003, S. 34. 375 Vgl. Volta, Alessandro, Schriften über die thierische Elektrizität, Prag 1793 und ders., Account of some discoveries made by Mr. Galvani of Bologna. With Experiments and Observations on them. In two Letters […] to Mr. Tiberius Cavallo (1793), in: Volta, Alessandro, Opere, Bd. 1, Mailand 1918, S.  169 – 197. 376 Vgl. zur Kontroverse Galvani – Volta die zusammenfassenden Darstellungen von Richter, Leben des Physikers Ritter, a. a. O., S. 33 – 35 und Müller, Lothar, Die „Feuerwissenschaft“. Romantische Naturwissenschaft und Anthropologie bei Johann Wilhelm Ritter, in: Schings, Hans-Jürgen (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart / Weimar 1994, S.  260 – 283, hier S.  265 – 266. 377 ­Goethe hatte Galvanis 1793 übersetzte Abhandlung über die Kräfte der thierischen Elektrizität auf die Bewegung der Muskeln bereits am 8. Februar desselben Jahres erworben. Vgl. LA II.1A, S. 450.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

eine Reizung durch Metallelektrizität wie Volta.378 In einem Brief an ­Goethe vom 21. Mai 1795, dem eine Abschrift über die Hauptversuche zum galvanischen Fluidum beilag, beschreibt Humboldt eindrucksvoll seine körperlichen Reaktionen in der galvanischen Kette: „Ich nahm meine alten Excerpte über ehemalige galvanische Versuche zur Hand und habe nun anhaltend experimentirt. Der Zufall hat mich mehr finden lassen als ich je erwarten durfte. Eine neue Methode Wetterleuchten zu sehen, ohne das Auge zu berühren, durch bloßes Metallbauen, eine Belegung des Zinks mit thierischem Hauch, wovon der Reiz oder Nichtreiz abhängt, Experimente an mir selbst mit Blasenpflastern, die ich mir deshalb setzen ließ, Inflammationen, die ich mir mit Zink erregte, ein Mittel, Gold durch Berührung mit Zink zu galvanisiren, d. h. wie durch Magnetisiren zum Reiz fähig zu machen.“ 379

­ oethe, der bereits im April 1795 mit den Brüdern von Humboldt galvanische ExpeG rimente in Jena durchgeführt hatte,380 geht in seinem Antwortschreiben nicht auf die Einbindung des menschlichen Körpers in die Versuchskonstellationen ein, sondern zieht lediglich Analogien zu den physikalischen Versuchen der später von ihm als e­ poptische Farben bezeichneten Erscheinungen auf Körperoberflächen: „Wie merkwürdig ist, was ein bloßer Hauch und Druck, eine Bewegung tun kann! So kennen wir das Phänomen, da durch den Druck zweier Glasplatten die schönen Farben entstehen. Nun fange ich an, mich zu überzeugen, daß der Druck der atmosphärischen Luft und das Reiben derselben Ursache der Farben der Seifenblasen ist.“ 381 ­Goethes Beschäftigung mit dem Galvanismus intensivierte sich, als er 1798 Johann Wilhelm Ritters bedeutende Schrift Beweis, dass ein beständiger Galvanismus den Lebensprocess in dem Thierreich begleite rezipierte.382 Ritter studierte seit 1796 an der

378 Vgl. Humboldt, Alexander von, Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt, 2 Bde., 1. Bd., Posen / Berlin 1797, S. 349 – 486 und Wenzel, Manfred, „Ich werde mit mehr Lust arbeiten in Hoffnung Ihrer Theilnahme.“ Galvanismus und vergleichende Anatomie in den Korrespondenzen zwischen G ­ oethe, Alexander von Humboldt und Samuel Thomas Soemmerring, in: Jahn, Ilse / Kleinert, Andreas (Hg.), Das Allgemeine und das Einzelne – Johann Wolfgang von ­Goethe und Alexander von Humboldt im Gespräch, Halle 2003, S. 47 – 62, hier S. 53 – 54. 379 Alexander von Humboldt an ­Goethe am 21. Mai 1795, in: Bratranek, F. Th. (Hg.), Neue Mitteilungen aus Johann Wolfgang von ­Goethe’s handschriftlichem Nachlasse, 3 Teile, Teil 3: ­Goethe’s Briefwechsel mit den Gebrüdern von Humboldt (1795 – 1832), Leipzig 1876, S. 308. 380 Vgl. LA II.1A, S. 475. Auch später, im März 1797, wohnte ­Goethe mehrfach galvanischen Experimenten bei, die Alexander von Humboldt in Jena durchführte. Vgl. ebd., S. 498 – 501. Auf welche Weise Goethe sich an diesen Versuchen beteiligte, ist nicht rekonstruierbar. 381 ­Goethe an Alexander von Humboldt am 18. Juni 1795, in: Bratranek, Neue Mitteilungen, Teil 3, a. a. O., S.  309. 382 Vgl. LA II.1A, S. 547 (­Goethe an Friedrich Schiller am 25. Juli 1798).

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

Universität Jena 383 und führte in dieser Stadt zahlreiche galvanische Versuche durch. Förderlich auf seine weiteren Untersuchungen wirkte sich der Kontakt zu A ­ lexander von Humboldt aus, der 1797 in Jena erneut galvanische Forschungen betrieb.384 Im Oktober desselben Jahres hielt Ritter vor den Mitgliedern der Naturforschenden Gesellschaft in Jena sein programmatisches Referat Ueber den Galvanismus, in dem er bereits die wesentlichen Thesen des Beweises abgesteckt hatte. Bei diesem Vortrag konnte G ­ oethe nicht anwesend sein.385 In dem Referat verband Ritter Galvanis physiologische und Voltas physikalische Erklärungen und ergänzte sie um einen eigenständigen chemischen Ansatz, der ihn zum Begründer der Elektrochemie werden ließ: Ritter erkannte wie Volta die Wichtigkeit der Metalle im galvanischen Prozess und übernahm dessen Kontakttheorie. Er bezog sie aber über den Bereich der Metalle hinaus auf die Berührungen zwischen festen und flüssigen Materien, die in Lebewesen Elektrizität spürbar machen, womit er sich Galvanis und Humboldts Meinung anschloss. Beide Ansätze vereinigte Ritter endgültig, als er zwischen Metallen und Elektrolyten chemische Reaktionen entdeckte, die durch das Hervorrufen von Spannungsdifferenzen in jedem galvanischen Experiment Elektrizität erzeugen. Ritter bewies damit nicht nur, dass chemische immer von elektrischen Prozessen begleitet werden, sondern auch das universelle Auftreten des Galvanismus in der organischen und anorganischen Welt.386 ­Goethe, der den „Vortrag“ von Ritters Beweis „freilich dunkel und für den der sich von der Sache unterrichten will nicht angenehm“ 387 fand, wurde in seiner Beschäftigung mit den Wirkungen des Galvanismus im und auf den menschlichen Körper schon früh von dieser Schrift beeinflusst. Bereits im Entwurf Physische Wirkungen, den ­Goethe im 383 Es ist nicht mehr zu ermitteln, welche Studien Ritter an der Universität Jena im Einzelnen betrieb. Mit großer Wahrscheinlichkeit hörte er Vorlesungen des Chemikers Johann Friedrich August Göttling, interessierte sich aber auch für Medizin, Astronomie und Mathematik. Vgl. Richter, Leben des Physikers Ritter, a. a. O., S. 27 – 33. 384 Alexander von Humboldt bat Ritter um eine Kommentierung des ersten Bandes des Versuch über die gereizte Muskel- und Nervenfaser, die jener im zweiten Band des Werks zusammenfassend wiedergab. Vgl. Humboldt, Alexander von, Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt, 2. Bd., Posen / Berlin 1797, S. 440 – 456. Vgl. dazu auch Wiesenfeldt, Gerhard, Eigenrezeption und Fremdrezeption: Die galvanischen Selbstexperimente Johann Wilhelm Ritters (1776 – 1810), in: Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur 1 (2005), S. 207 – 232, hier S. 212. 385 ­Goethe befand sich zu dieser Zeit auf seiner dritten Reise in die Schweiz. Der vollständige Titel von Ritters Referat lautete Ueber den Galvanismus; einige Resultate aus den bisherigen Untersuchungen darüber, und als endliches: die Entdeckung eines in der ganzen lebenden und todten Natur sehr thätigen Princips. Den Vortrag veröffentlichte Ritter später in: Ritter,  Johann Wilhelm, Physisch-chemische Abhandlungen in chronologischer Folge, 3 Bde., 1. Bd., Leipzig 1806, S. 1 – 42. 386 Vgl. hierzu und auch zur oben skizzierten Positionierung Ritters in der Galvanismusdebatte Welsh, Hirnhöhlenpoetiken, a. a. O., S. 82 – 83 und Richter, Leben des Physikers Ritter, a. a. O., S. 35. 387 LA II.1A, S. 547 (­Goethe an Friedrich Schiller am 25. Juli 1798).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Erscheinungsjahr des Beweises 1798 erstellte und in dem er den Galvanismus neben anderen Naturerscheinungen unter dem Polaritätsprinzip betrachtete, zeigt sich der Eindruck von Ritters Experimentalbeschreibungen. Anders als in der Korrespondenz mit Humboldt geht G ­ oethe hier auf die durch die galvanischen Experimente ausgelösten körperlichen Reaktionen des Menschen ein. In seiner Reflexion unterstreicht er, dass besonders in Ritters Versuchen die experimentelle Verstärkung des ohnehin in jedem lebenden Organismus vorhandenen Galvanismus zur Herausstellung der individuellen Wahrnehmungsqualitäten führt. G ­ oethe betrachtet hier den Galvanismus – noch über Ritter hinausgehend – nicht als Begleiterscheinung, als Äußerung des Lebens, sondern setzt ihn sinnverschiebend überhöht mit dem Lebendigen selbst identisch: „Galvanische Wirkungen. Sie scheinen besonders auf Metalle reduziert zu sein; zum eminenten Phänomen braucht man zweierlei Art; ich vermute aber, daß einerlei Metall schon auch dazu hinreichend ist. Ob man es damit zur Erscheinung bringen wird, weiß ich nicht. Sie wirken eminent auf Nerve und Muskel, affizieren allgemein das Auge als Licht, den Geschmack als Säure, den Muskel, indem sie zucken machen, so daß man sich überzeugen konnte: ein fortdauernder galvanischer Prozeß sei der Lebensprozeß organischer Naturen.“ 388

Nach der Lektüre weiterer Werke Ritters, gemeinsamen Diskussionen und der Teilnahme an dessen galvanischen Versuchen wird G ­ oethe der experimentellen Überhöhung der Sinnesfunktionen später kritisch gegenüberstehen. ­Goethe begegnete Ritter erstmals am 20. September 1800, bald folgten weitere Gespräche und gemeinsame galvanische Experimente, deren Inhalte nur teilweise rekonstruierbar sind. Beide Männer beschäftigten sich in diesen Versuchen – so lässt sich den vorhandenen Quellen entnehmen – besonders mit den den Galvanismus begleitenden elektrischen und chemischen Vorgängen, die sie an anorganischer Materie und präparierten Froschschenkeln beobachteten.389 Ob Goethe in Ritters Beisein und umgekehrt auch Selbstexperimente zur Beobachtung der Sinnestätigkeiten durchführte, ist aus den Quellen nicht rekonstruierbar. Anders als G ­ oethe, der die naturphilosophische Identität von Mikro- und Makrokosmos durch Analogienbildung herleitet und durch Beobachtungen und Experimente

388 LA I.11, S. 42 (Physische Wirkungen). 389 Ritter und ­Goethe trafen sich zwischen dem 20. September 1800 und dem 3. April 1801 mehrfach zu Gesprächen, galvanischen Versuchen und zu Farbexperimenten. Von letzteren wird weiter unten berichtet. Vgl. WA III ,2, S.  306 – 313 und WA III ,3, S.  7 – 11 (­Goethes Tagebuchaufzeichnungen zu den o. g. Terminen). Vgl. zu diesen Experimenten und ­Goethes allgemeinem Interesse an den elektrischen und chemischen Vorgängen in Ritters Versuchen mit anorganischer Materie und präparierten Froschschenkeln exemplarisch die Zusammenfassung der für G ­ oethe relevanten Stellen aus Ritters Beweis in M 24, in: LA II.1A, S. 160 – 161 und die Versuchsaufzeichnungen ­Goethes und Ritters in M 25, in: ebd., S. 163 – 164.

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

zu stützen versucht, bemüht sich Ritter, die auch von ihm postulierte Einheit der Natur ausschließlich auf experimentell-empirischer Ebene aufzuzeigen. Prämisse für Ritters Versuchspraxis ist ein naturphilosophisches Konzept, dessen Identitätsprinzip ihn nicht wie in Schellings Entwurf zu idealistischen Spekulationen veranlasst, sondern zum empirischen Nachweis eines im Menschen und in der Natur gleichermaßen geltenden Prinzips.390 Beschrieb der Begriff Galvanismus ursprünglich die bei Schließung eines Stromkreises auftretende Reizung eines organischen Körpers zwischen zwei verschiedenen Metallen, konnte Ritter den Galvanismus auch in der anorganischen Materie nachweisen, indem er durch den Zusammenschluss zweier Metalle und einer Flüssigkeit galvanische Aktivitäten erzeugte. Indem er erkannte, dass einzig und allein die differenten Einzelelemente aus festen und flüssigen Qualitäten ein Spannungsgefälle und chemische Reaktionen hervorriefen, gelang es ihm, das Prinzip des Lebens empirisch auf die anorganische Materie auszuweiten. Er begreift dieses wie Brown, den er intensiv rezipierte, als Zustand ständiger Erregung, als Ungleichgewicht, als „das Phänomen der harmonischen Beschäftigung aller Erregbarkeit des Körpers“.391 Die im und außerhalb des lebenden Organismus herrschenden Identitäten weist Ritter in seinen Experimenten als durchgehende galvanische Ketten nach. Er fasst den Körper, der sich aus den drei Elementen Muskelfasern, Nerven und Flüssigkeiten konstituiert,392 selbst als ein aus ihnen bestehendes System auf, das jederzeit in eine andere Kette integriert werden kann: „Ein jeder Theil des Körpers, so einfach er auch sey, ist demnach anzusehen, als ein System unendlich vieler unendlich kleiner galvanischer Ketten, denn man kann theilen bis ins Unendliche, und immer noch werden Theile ähnlich (in dieser Rücksicht) dem Ganzen erscheinen. Solche Systeme aber treten nun wieder als Glieder in höhere Ketten, diese sind Glieder noch höherer, und so fort bis zur grössesten, die die übrigen alle umfasst. So laufen Theile in das Ganze, und das Ganze in die Theile zurück.“ 393

390 Vgl. Schlüter, Martin, ­Goethes und Ritters überzeitlicher Beitrag zur naturwissenschaftlichen Grundlagendiskussion, Frankfurt am Main 1991, S. 49 – 50. Vgl. Welsh, Hirnhöhlenpoetiken, a. a. O., S. 85 – 87. Wie Caroline Welsh herausarbeitete, suchte Schelling, der mit Ritter in einem intensiven Austausch stand, nach dem Identitätsprinzip der Welt in der Identität des Geistes mit einer als beseelt postulierten Natur. Vgl. ebd., S. 85. 391 Ritter, Johann Wilhelm, Von den verschiedenen Erregbarkeiten der Sinnesorgane, und ihrem Gegensatze, in: ders., Beyträge zur nähern Kenntnis des Galvanismus und der Resultate seiner Untersuchung, 2 Bde., Zweyten Bdes. drittes, viertes und letztes Stück, Jena 1805, S. 157 – 262, hier S. 259. 392 Vgl. ders., Beweis, dass ein beständiger Galvanismus den Lebensprocess in dem Thierreich begleite. Nebst neuen Versuchen und Bemerkungen über den Galvanismus, Weimar 1798, S. 156 – 157. Für eine wirksame galvanische Kette sind mindestens drei heterogene Leiter und zwei verschiedene Klassen von Stoffen erforderlich, von denen sich wenigstens einer im feuchten bzw. flüssigen Zustand befinden muss. Vgl. ebd., S. 33. 393 Ebd., S. 158.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Um die Anschlussfähigkeit von belebter und unbelebter Materie zu gewährleisten, konzipiert Ritter den Galvanismus als ein gemeinsames Agens beider: „Es ist ein Agens vorhanden, für welches kein Theil organischer Körper verschlossen, das selbst für alle wieder offen ist. In ihm und durch dasselbe ist der große Zusammenhang des Organismus mit der äußeren Welt möglich und wirklich, der beiden gegenseitig erst Leben und Wirklichkeit verleiht; […].“ 394 Da der Galvanismus in der gesamten phänomenalen Welt, der organischen und anorganischen Materie, des sichtbaren Körperäußeren und des unsichtbaren Körperinneren identische Wirkungen zeigt, betrachtet Ritter ihn als Mittel der Welterkenntnis, als „Schlüssel zum Eingang in das Innre der Natur“.395 Wie viele romantische Naturforscher sucht Ritter nach einer Urformel der als Einheit postulierten Welt, dem „grossen All-Thier[s] der Natur“,396 das er mit dem universell nachweisbaren Phänomen des Galvanismus beweisen möchte. ­Goethe hingegen, der selbst galvanische Experimente durchführte und einem Publikum erklärte, untersucht in diesen nicht die empirischen Anschlüsse zwischen belebter und unbelebter Materie, sondern primär ihre Wirkungen aufeinander.397 Er unterscheidet beide Bereiche voneinander, indem er das Prinzip des Lebens an dessen vitalistisch-autopoietischen Kräften festmacht. Deren Wirken betont er in anderen Kontexten in der Herausstellung einzelner Grundfiguren als deren identisches Gesetz: in der später ideell aufgefassten Urpflanze oder im osteologischen Typus. Allein diese, das Lebende repräsentierenden Figuren, nicht aber die organische und anorganische Materie gleichermaßen begreift Goethe als semiotisches Grundmodell, als „Schlüssel zu allen Zeichen der Natur“.398 Während das galvanische Prinzip belebte und unbelebte Materie gleichberechtigt aneinander schließt und dadurch physikalische und physiologische Erscheinungen ineinander transformierbar macht, führt G ­ oethe beide Bereiche über die Universalität des naturphilosophischen Polaritätsprinzips zusammen, das er zahlreichen Naturerscheinungen zugrundelegt. Darüber hinaus verbindet er beide Bereiche auch dadurch, dass er das autopoietische Prinzip des Lebenden auf unbelebte Phänomene projiziert, z. B. wenn er seine explorative Experimentalpraxis nach vitalistischen Prinzipien interpretiert.399 Während in ­Goethes morphologisch inspiriertem Erkenntnisentwurf die sichtbaren Farben die Naturgesetze selbst präsentieren, ist der Galvanismus lediglich mittelbar zugänglich. Er bedarf immer eines Indikators, der dessen Wirkungsweise sinnlich

394 Ritter, Johann Wilhelm, Versuche und Bemerkungen über den Galvanismus der Voltaischen Batterie. In Briefen an den Herausgeber. Zweyter Brief. Wirkung des Galvanismus der Voltaischen Batterie auf menschliche Sinneswerkzeuge, in: Gilbert, Ludwig Wilhelm (Hg.), Annalen der Physik 7 (1801), S. 447 – 484, hier S. 472. 395 Ritter, Ueber den Galvanismus, a. a. O., S. 39. 396 Ritter, Beweis, dass ein beständiger Galvanismus, a. a. O., S. 9. 397 Vgl. exemplarisch LA I.11, S. 89 (Physikalische Vorträge, Galvanismus). 398 WA II,6, S. 446 (Paralipomena). 399 Vgl. Kapitel 2.2 dieser Arbeit.

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

erfahrbar macht. Generieren sich bei G ­ oethe die physiologischen Farben im und durch die Kräfte des Subjekts, dient das galvanische Experiment als ausschließlicher Verstärker einer auch von Ritter postulierten Lebenskraft, der die bereits im Körper potentiell vorhandenen Zeichen erfahrbar macht.400 Sind bei Galvanis Fröschen nur die irritablen Reaktionen quasi „von außen“ für den Forscher erkennbar, ist für dessen Wahrnehmung der galvanisch bedingten Sinnesäußerungen das Selbstexperiment unabdingbar, da die Wahrnehmungsqualitäten intersubjektiv nicht direkt vergleichbar sind.401 Während in ­Goethes Farbenlehre jede experimentelle Objekterkenntnis zugleich Selbsterkenntnis ist, weil sie immer den Standpunkt des erkenntnistragenden Subjekts reflektiert, geht Ritters Welterkenntnis primär in umgekehrter Richtung von den galvanischen Versuchen am eigenen Körper aus. Die in diesen Selbstexperimenten gewonnenen Erkenntnisse lassen nach Ritter – bedingt durch die galvanische Zusammenführung von belebter und unbelebter Materie – Rückschlüsse auf die gesamte Natur zu, so dass er den Körper als erkenntnisgenerierendes Medium des Wissens von der Welt begreift. Wie in G ­ oethes Farbenlehre nehmen auch bei Ritter die Sinne im Erkenntnisprozess eine exponierte Position ein – allerdings unter anderen Prämissen. Betont G ­ oethe die mediale Doppelfunktion des farberzeugenden und -transportierenden Auges in ihrer Eigenständigkeit, betrachtet Ritter das Sehorgan primär nicht als Produzenten der Farben, sondern als Leiter und Indikator der galvanischen Aktion. Nur im medialen Verbund mit ihr erscheinen im Auge chromatische Qualitäten. Wie nachfolgend gezeigt werden soll, ist in Ritters Experimenten die erkenntnistheoretische Position des Auges bzw. der Sinne ambivalent. In seiner medialen Transportfunktion erscheint das Gesichtsorgan erstens als Verbindungselement zwischen Mensch und Apparatur, das die Leitung der Elektrizität überhaupt erst ermöglicht. Diese Funktion macht sich ausschließlich in Form von visuellen Störungen bemerkbar, die sich als Farben zeigen. Da zweitens das Auge seiner Rolle als farbengenerierender Indikator der galvanischen Kette nur durch künstliche Überhöhung gerecht werden kann, ist es in ein gewisses empirisches Abhängigkeitsverhältnis eingebunden. Diesem scheinbar passiven Zustand des Körpers zum Trotz gelingt es Ritter drittens nicht, die Macht der spezifischen Einzelsinne gänzlich zu entwerten. Letztendlich entscheiden diese darüber, in welcher Form der galvanische Reiz sinnlich erfahrbar gemacht wird. Die Sinnesorgane fungieren im galvanischen Experiment als natürliche Entitäten, die zu Trägern artifizieller elektrischer Ladungen werden. Sie bilden den Ort, an dem sich physiologische und extrakorporale galvanische Ketten zusammenschließen und den Körper mit der dadurch erzeugten Elektrizität seinem natürlichen Kontext entreißen. Beginn und Ende dieses Vorgangs äußern sich in der Entstehung und 400 Vgl. Welsh, Hirnhöhlenpoetiken, a. a. O., S. 105. Mit diesem Ansatz steht Ritter im Gegensatz zur Erfahrungsseelenkunde, die lediglich auf die Selbstbeobachtung des Körpers, nicht aber auf seine experimentelle Überhöhung setzt. 401 Vgl. Siegert, Passage des Digitalen, a. a. O., S. 270.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Wahrnehmung von Schlägen und Blitzen, die beim Öffnen und Schließen der galvanischen Kette entstehen. Diese Störung wird in Ritters Experimenten zur Normalität – eine Störung, durch die sich der Mensch seiner selbst bewusst wird. Der Schlag ist in der Tat nicht mehr und nicht weniger „als der rasche Eintritt des während dem Geschlossenbleiben der Kette Vorhandenen und damit das ebenso rasche Fügen des ganzen Organismus in den Zustand, den das einzelne Organ mit jenem Eintritt zu behaupten gezwungen wird.“ 402 Anders als bei G ­ oethe, der das psychologische Gleichgewicht des Menschen im naturphilosophischen Harmonieprinzip der Farben verbildlicht sieht, wird die Farbe bei Ritter als elektrophysiologische Störung des Auges produziert, die er von allen Experimenten an den Sinnesorganen am eindrucksvollsten beschreibt: In seinen Selbstversuchen verbindet Ritter im Wechsel ein Organ mit dem positiven Zink- und dem negativen Silberpol, den jeweils entgegengesetzten Pol arretiert er an einem anderen Körperteil. Legt er ans Auge Zink, an die Zunge Silber, sieht er beim Schließen der Kette einen Blitz, der mit dem Blick des Auges identisch wird. In dieser Versuchskonstellation ist die Erscheinung stärker als in der umgekehrten Ordnung bei galvanisch entgegengesetzter Aktionsrichtung. Bei o. g. positiver Ladung am Auge befindet sich dieses in einem dunkleren Zustand als zuvor, bei negativer Ladung in einem helleren, bei Kettenöffnung erscheint alles so hell wie vor dem Experiment. Die durch die Elektrizität ausgelösten chemischen Reaktionen können für einige Zeit eine veränderte Wahrnehmung im Körperinneren aufrechterhalten.403 In den galvanischen Experimenten durchschlägt der elektrische Funke, den Ritter als entscheidende Schaltstelle zwischen der Elektrizität und den Lichtphänomenen des Auges betrachtet, sowohl das zeitliche als auch das räumliche Kontinuum. In ­Goethes Konzept hingegen besitzen die physiologischen Farben selbst räumliche und zeitliche Wirkungen. Der Grund für ­Goethes vorhandene, wenn auch nur selten geäußerte Ablehnung der selbstexperimentellen galvanischen Farberzeugung im Auge ist in diesem dekontextualisierten Zwangszustand des menschlichen Körpers zu suchen, der zu gesundheitsschädigenden Folgen führen kann. Nach ­Goethes Auffassung kommt die auch im Galvanismus wirkende Elektrizität „gewöhnlich durch eine grobe mechanische Bedingung zur Erscheinung“, gegen die er die natürliche Harmonie einer ungestörten Welt setzt: „Doch ist alles, was auf ein höheres Leben sich bezieht, ein friedliches Werden, keinem Sinne, ja kaum dem Auge bemerkbar.“ 404 So führt G ­ oethe ausgehend von seinem wahrnehmungstheoretischen Harmonieprinzip zwischen inneren und 402 Ritter, Johann Wilhelm, Wirkung der galvanischen Batterie auf die verschiedenen Sinne des Menschen, beym Eintritt, Seyn, und Austritt in und aus der Kette jener, in: ders., Beyträge zur nähern Kenntniss des Galvanismus und der Resultate seiner Untersuchung, 2 Bde., Zweyten Bandes zweytes Stück, Jena 1802, S. 1 – 158, hier S. 43. 403 Vgl. Ritter, Beweis, daß ein beständiger Galvanismus, a. a. O., S. 84 – 89. 404 LA I.11, S. 85 (Physikalische Vorträge, Galvanismus).

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

äußeren Bildern in der Farbenlehre als besonderes Beispiel der Pathologischen Farben den Galvanismus an, bei dem „ohne äußeres Licht das Auge zu einer Lichterscheinung disponiert werden kann“.405 Ritter hingegen wertet diese Art der Farberzeugung erkenntnistheoretisch auf. Er begreift das Auge selbst als „Mittelpunkt der Erscheinung“ galvanischer Ketten, das zur Erzeugung der Farben keines äußeren Gegenstandes bedarf, „an dem sie deutlich würden. Man kann das Auge geradezu gegen die freie Luft wenden, und dennoch wird man beide Farben unter denselben Umständen und zu denselben Zeiten haben, unter und zu welchen man sie dort hatte.“ 406 Entstehen die physiologischen Polaritäten bei ­Goethe immer durch das Zusammenwirken von äußeren und subjektiv erzeugten Farben, werden im galvanischen Experiment die entgegengesetzten Farben durch ein und dieselbe Bedingung des Spannungsgefälles im Auge erzeugt. Wie Ritter in seinen Selbstexperimenten erfuhr, verkehren sich die Licht- und Farbzustände je nach Ladungsrichtung in ihr Gegenteil: Bei positiver Ladung zeigt sich bei Kettenschließung eine bläuliche, bei -öffnung eine in ihrer Intensität abnehmende rötliche Farbe, bei negativer Ladung kehren sich die Erscheinungen um. Durch eine Erhöhung der Ladungszufuhr, die erst durch die Erfindung der Volta’schen Säule 407 ermöglicht wurde, tritt eine qualitative Veränderung der gesehenen Farben ein. Sie erscheinen bei positiver Ladung und Kettenschließung nacheinander als Blau, Grün, Gelb, Gelbrot und Rot, beim Öffnen jedoch in umgekehrter Reihenfolge.408 Die durch das galvanische Experiment hervorgerufene zeitliche Dekontextualisierung des belebten Körpers lässt sich ebenfalls an den Bildern des Auges ablesen. Erzeugt dieses Organ in ­Goethes physiologischen Versuchen die Simultan- und Nachbildfarben in realem Zeitbezug zur äußeren Vorlage, führt das galvanische Herausreißen der einzelnen Organe bzw. Organsysteme aus dem Gesamtorganismus zu ihrem zeitlichen Vorgriff oder ihrer Retardierung: „Wird ihm [dem Organismus – S. Sch.] vorgegriffen, so heisst das nichts, als: das Organ wird auf einen Zustand erhoben, zu dem es wohl über kurz oder lang im ruhigen Fortgang des 405 LA I.4, § 114, S. 56 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 406 Ritter, Versuche und Bemerkungen über den Galvanismus, Zweiter Brief, a. a. O., S. 467. 407 In einer Volta’schen Säule wird die Wirkung mehrerer galvanischer Ketten summiert. Die Kontaktelektrizität entsteht durch eine sich wiederholende Reihenfolge aus übereinander gebauten Kupferplättchen, salzlösungsgetränkten Pappscheiben / Lederstückchen und Zinkplättchen. Das Kupfer kann auch durch Silber, das Zink durch Zinn ersetzt werden. Volta hatte diese Batterie im Jahre 1800 entwickelt. In seinen Selbstversuchen integrierte Ritter den menschlichen Körper in diese Batterie, indem er ihn an zwei verschiedene Metalle anschloss. 408 Nach eigenen Versuchen wird J. E. Purkinje später feststellen, dass Ritter diese Farben nicht gesehen haben kann, sondern seine Wahrnehmung durch die Reihenfolge der objektiven Spektralfarben beeinflusst worden ist. Vgl. Purkinje, Johann, Neue Beiträge zur Kenntniss des Sehens in subjectiver Hinsicht, Berlin 1825, S. 32.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

ganzen Organismus auch gekommen wäre, aber wohl zu bemerken, in Harmonie also ohne irgend eine Störung, und damit gegebenes Heraustreten dieses Zustandes als Gegenstand einer besondern Wahrnehmung. Der Organismus wird jetzt wider Willen genöthiget, soviel und auf die Art, als es ihm erlaubt ist, dem vorgeeilten Organ nachzufolgen und dieses Nachfolgen gleichzeitig mit dem Act des Voreilens des Organs als einzelnem ist, zuletzt mit dem Schlag in seiner Qualität eins und dasselbe. […] das Organ wird auf einen Zustand herabgezwungen [beim Retardieren – S. Sch.], auf den es vor kurz oder lang im früheren Gang des Organismus wohl schon einmal gewesen war, aber wohl zu merken, wieder in Harmonie mit ihm […].“ 409

Produziert die galvanische Kette eine Differenz zu ihrem natürlichen Umfeld, trifft dies auf anorganische Materie und belebten Körper gleichermaßen zu, so dass die Zeitformen beider identisch werden. Indem Ritter die Transformation elektrischer Oszillationen nur als ein Ineinandergreifen dieser Ketten betrachtet, entwirft er ein nichtarbiträres Zeichenmodell, in dem sich die Prozesse im lebenden Organismus als Abdruck der Außenwelt zeigen. Eine Übersetzung von Licht- und Schallwellen in Nervenreize wird damit obsolet.410 Durch die haptische Komponente der galvanischen Kette wird der physiologische Fernsinn des Sehens wie alle anderen Sinne auch in einen Nahsinn transformiert. Während in G ­ oethes empirischen Studien die durch äußere Reize erregten physiologischen Farben auf die neurale Abschließung des Körpers verweisen, wird diese Grenze in Ritters Konzept durch das übergreifende Prinzip des Galvanismus bedeutungslos. Durch diese Entwertung gelingt es ihm leicht – so Caroline Welsh – die Schrift vom äußeren, metaphorisch aufgefassten Buch der Natur in die Sinnestätigkeit des menschlichen Körpers zu verlegen, wie die Forscherin am Beispiel des Gehörs expliziert. Ritter bringt, ganz Vertreter romantischer Sprachmodelle, die Schrift selbst zum Klingen. Er schaltet zwischen die Töne der Außenwelt und das Bewusstwerden der Empfindungen das Lesen von Klangfiguren und erklärt auf diese Weise die Wahrnehmung zeichentheoretisch: „– Schön wäre es, wie, was hier äußerlich klar würde, genau auch wäre, was uns die Klangfigur innerlich ist: – Lichtfigur, Feuerschrift. Jeder Ton hat somit seinen Buchstaben immediate bey sich; und es ist die Frage, ob wir nicht überhaupt nur Schrift hören, – lesen, wenn wir hören, – Schrift sehen! – Und ist nicht jedes Sehen mit dem innern Auge Hören, und Hören ein Sehen von und durch innen?“ 411

409 Ritter, Wirkung der Galvanischen Batterie auf die verschiedenen Sinne des Menschen, a. a. O., S.  26 – 27. 410 Vgl. Welsh, Hirnhöhlenpoetiken, a. a. O., S. 94 und S. 101. 411 Ritter, Johann Wilhelm, Fragmente aus dem Nachlaß eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur, 2 Bde., Heidelberg 1810, 2. Bändchen, Anhang, S. 227 – 228 (= Ritter an Hans Christian Ørstedt am 31. März 1809). Vgl. zum Absatz davor Welsh, Hirnhöhlenpoetiken, a. a. O S. 72 – 75.

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

Die sich selbst aufzeichnende Natur expliziert sich hier als nichtarbiträres Zeichensystem in den Sinnesorganen, die als ihre Schreibfläche und ihr Indikator gleichermaßen fungieren. Der Erzeugungs- und der Erscheinungsmoment der galvanischen Phänomene sind identisch, so dass Signifikat und Signifikant wie in Chladnis Klangfiguren zusammenfallen. Die im Galvanismus erzeugten chemischen Oxydations- und Reduktionsprozesse machen die elektrische Schrift in Form der Lichtfiguren erfahrbar. Um diese Naturzeichen zu entschlüsseln, muss der Forscher des Selbstexperiments – so Welsh weiter – eine Doppelrolle einnehmen. Er fungiert nicht nur als passiver Träger, sondern zugleich als Interpret der Zeichen. Indem er seine semiotische Selbstgenerierung zu entziffern hat, wird jegliche Wahrnehmungsform zu einem Lesen von innen.412 Der belebte Organismus wird im galvanischen Experiment lediglich durch den elektrischen Strom bewegt und erscheint an sich passiv. Dies widerspricht eklatant ­Goethes Ansatz von der Eigenaktivität des Auges, das sich in seinen Versuchen durch die Bildung einer Komplementärfarbe aus einem einseitigen äußeren Reiz befreien kann. Bei genauerer Betrachtung von Ritters Sinnesmodell zeigt sich jedoch, dass die vermeintliche Passivität des Subjekts auf zwei Ebenen durchbrochen wird: erstens durch die Konzeption einer immateriellen Erkenntnisinstanz und zweitens durch die empirische Macht des Lebens selbst. In seiner Subjekttheorie entwirft Ritter – wie Caroline Welsh weiter ausführt – eine von der phänomenalen Welt unabhängige Erkenntnisinstanz, über die das nichtarbiträre Zeichensystem des Galvanismus keine Macht besitzt: ein absolutes, unveränderliches Ich, das wie in ­Goethes Körperkonzept ein immaterieller Geist ist. Dieses Ich inte­ griert Ritter in einen zeichentheoretischen Ansatz, mit dem er ein anthropologisches Modell des Menschen konstituiert. Ich und Körper treffen sich in einem nicht näher definierten sensorium commune, das als Schnittstelle zwischen beiden dient. Werden in ihm einerseits die über die Sinnesorgane und Nerven weitergeleiteten Wahrnehmungen zu Empfindungen verarbeitet,413 fungiert es umgekehrt als Mittler des den Körper beeinflussenden immateriellen Geistes, der wiederum auf dessen Reaktionen, z. B. in Form willkürlicher Muskelbewegungen, zurückwirkt. Wie die Klangfigur führt auch das absolute Ich seine Sprache mit sich, so dass es mit dem Körper im sensorium commune über eine gemeinsame Schrift kommunizieren kann.414 In ihr äußern sich die Seelenaktivitäten ebenso wie die galvanischen Ketten der Außenwelt. Nur durch diese duale Subjektkonzeption gelingt es Ritter, im Selbstexperimentator das „innere Auge“ eines ­Beobachters höherer Ordnung zu installieren, der Feuerschrift und Licht412 Vgl. ebd., S. 75 – 80 und S. 107 – 108. 413 Vgl. Ritter, Beweis, dass ein beständiger Galvanismus, a. a. O., S. 77 – 78. 414 „Sage selbst: Wie verwandelt sich wohl der Gedanke, die Idee ins Wort; und haben wir je einen Gedanken, oder eine Idee, ohne ihre Hieroglyphe, ihren Buchstaben, ihre Schrift? – Nur der Buchstabe spricht, oder besser: Wort und Schrift sind gleich an ihrem Ursprunge eins, und keines ohne das andere möglich.“ Ritter, Fragmente, 2. Bändchen, a. a. O., Anhang, S. 268.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

figur entschlüsseln kann.415 Fehldeutungen werden durch das Zeichenmodell einer für Geist und Körper gleichermaßen verbindlichen Schrift von vornherein ausgeschlossen. Bemüht sich Ritter, die Spezifik der Sinnesorgane zu nivellieren, kann ihm dies nicht konsequent gelingen. Obwohl er jedes Organ als galvanische Kette auffasst, ist er sich durchaus bewusst, dass die jeweilige Qualität der Wahrnehmung von der Spezifik des frequenzempfangenden Organs abhängt, wie er am Beispiel des Auges beschreibt: „Es bleibt nichts anderes übrig, als den Grund dieser Erscheinungen in einen Zustand des Auges zu setzen, in welchen es sich vermöge seines Zusammenhangs mit dem organischen Ganzen, und des beständig in ihm bald schnell, bald langsamer vorgehenden Wechsels der Materie (Thätigkeit der Lebenskraft) befindet, welcher letztere in diesem Organ wahrscheinlich mit einer Lichtentwicklung – wie sonderbar! – die aber in den gewöhnlichen Fällen freylich nur subjektiv wahrnehmbar seyn kann, begleitet ist, und die, so wie jener Wechsel der Materie, durch fremde Kräfte beschleunigt oder verspätet, kurz umgestimmt wird.“ 416

Eine anatomisch-physiologische Untersuchung des Sehorgans nimmt Ritter allerdings – genau wie G ­ oethe – nicht vor.417 Ob eine Oszillation als Ton oder als Farbe auftritt, ob sie Ohr oder Auge anspricht, macht Ritter an der Höhe ihrer Schwingungsfrequenz fest: Ab einer gewissen Stärke wendet sich „der ganze Vorgang […] ab von ihm [dem Ohr – S. Sch.] und an ein höheres Organ, – das Auge; der Ton geht über in – Licht.“ 418 Mit der speziellen Reaktion eines Sinnes auf eine bestimmte Schwingungsfrequenz entscheidet jedoch letztendlich der menschliche Körper über die Spezifik der galvanischen Aktion, so dass die Sinne als mediale Dispositive fungieren. Durch die Möglichkeit der verschieden intensiven Zuführung des galvanischen Stroms sind – wie bereits das obige Beispiel der Klangfiguren verdeutlicht – alle Sinneswahrnehmungen ineinander transformierbar. Bedingt durch die Sukzessivität des Vorgangs handelt es sich allerdings nicht um synästhetische Wahrnehmungen, da diese primär einen simultanen Charakter besitzen. Diese Transformierbarkeit widerspricht ­Goethes Auffassung von der Spezifik der Wahrnehmungsqualitäten 415 Vgl. hierzu ausführlicher Welsh, Hirnhöhlenpoetiken, a. a. O., S. 105 – 107. 416 Ritter, Beweis, dass ein beständiger Galvanismus, a. a. O., S. 94. 417 Diese Nichtberücksichtigung wird der Sinnesphysiologe Purkinje später an Ritters Vorgehen kritisieren. Er wirft ihm vor, die „subjective[n] Topographie des Auges“ bei der Untersuchung der galvanischen Farberscheinungen nur ungenügend beachtet zu haben. Purkinje, Neue Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., Berlin 1825, S. 43. 418 Ritter, Johann Wilhelm, Anmerkungen zu einem Schreiben des Herrn Dr. Ørstedt an den Verfasser, Chladni’s Klangfiguren und den Ton überhaupt betreffend, in: Voigt, J. H. (Hg.), Magazin für den neuesten Zustand der Naturkunde mit Rücksicht auf die dazu gehörigen Hülfswissenschaften, Bd. 9, 1. Stck. (1805), S. 33 – 47, hier S. 39.

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entschieden. So thematisiert er jene in seinen einschlägigen Studien bezeichnenderweise nicht, dafür aber die individuelle Erfahrbarkeit des galvanischen Stroms in den einzelnen Sinnesorganen: „Ein Allgemeines das zu jedem Sinne spricht und sich zu ihm spezifiziert.“ 419 Ritter wiederum dienen die individuellen sensuellen Reaktionen auf den galvanischen Reiz als Basis für den Entwurf eines hierarchischen Körpermodells, das mehr Sinne als die fünf empirischen Einzelsinne enthält. Im Gegensatz zum äußeren, mechanisch konnotierten Tastsinn unterscheidet er die inneren, dynamisch gedachten Sinne Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, den Sinn für Expansion, Kontraktion und Temperatur sowie den Bewegungssinn. Diesen konzipiert Ritter als Grundsinn aller anderen Sinne, als unspezifiziertes inneres Organ, das sich in und durch den Wahrnehmungsprozess der inneren Sinne differenziert und gleichzeitig die Voraussetzung für deren Aktivitäten bildet.420 Entsprechend ihrer Emanzipation vom Bewegungssinn spricht Ritter den inneren Sinnen graduelle Verobjektivierungsmöglichkeiten zu, wobei das Auge wie in ­Goethes Sinnesmodell den ersten Rang einnimmt.421 Geht auch Ritter von der naturphilosophischen Emanationstheorie aus, dass nur Gleiches durch Gleiches, das Licht durch das Auge erkennbar ist, bemüht er sich anders als G ­ oethe um eine empirische Erklärung dieser Annahme. Er kommt jedoch nicht umhin, auf Spekulationen zurückzugreifen. Ritter identifiziert die galvanische Elektrizität mit einem Sinnenstoff, der dem o. g. Agens entspricht. Er führt Licht und Auge zusammen, indem er jenes als objektivste und dieses als subjektivste Erscheinung dieses Stoffes definiert und damit zeigt, dass die Pole der äußeren und der inneren Phänomene auf eine Einheit zurückführbar sind.422 Aus den bereits beschriebenen Hell-Dunkel-Wahrnehmungen je nach veränderter Ladungsrichtung schließt ­Ritter, dass „in dem Auge beständig eine gewisse Temperatur von Licht vorhanden sey, die größer oder kleiner seyn könne, die wirklich durch den Galvanismus höher oder niedriger gestimmt werden könne, und daß diese Stimmung von gleicher Dauer mit der des Geschlossenseyns der sie bewirkenden galvanischen Kette sey.“ 423 Die hier erkannte

419 LA I.11, S. 88 (Physikalische Vorträge, Galvanismus). 420 Vgl. Ritter, Von den verschiedenen Erregbarkeiten der Sinnesorgane, a. a. O., S. 255 und dazu Wetzels, Walter D., Johann Wilhelm Ritter: Physik im Wirkungsfeld der deutschen Romantik, Berlin / New York 1973, S. 103. 421 „Der höchste Grad solcher Objectivität ist eines mit dem höchste Grade der Wahrnehmbarkeit, Anschaulichkeit, des in den Sinnen Vorgehenden, weshalb denn auch das Auge allgemein der geschätzteste der Sinne, und das Licht des Lebens erhebendstes und versicherndstes Bild, an dem es sich am innigsten erkennt und wiederfindet, ist, da in ihm alles, was, selbst noch im Tone, Ahnung blieb, Gewissheit, Wahrheit, lebendige Wahrheit, wird.“ Ritter, Von den verschiedenen Erregbarkeiten der Sinnesorgane, a. a. O., S. 258. 422 Vgl. ebd., S. 253 und S. 254. 423 Ritter zit. n. Schlüter, ­Goethes und Ritters überzeitlicher Beitrag, a. a. O., S. 40.

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Lichttemperatur des Auges wirkt nach Ritter ursächlich auf die optische Wahrnehmung der äußeren Gegenstände.424 In Ritters Studien beginnt der Erkenntnisweg nicht in jedem Fall beim Subjekt, indem das Selbstexperiment zur Basis der Welterkenntnis wird, sondern umgekehrt dienen ihm auch die in künstlichen Versuchen gewonnenen Ergebnisse als Visualisierungsmittel physiologischer Vorgänge – Prozesse, die als solche im vitalen Organismus nicht beobachtet werden können. Zu Erkenntniszwecken versucht Ritter, den lebenden Körper experimentell zu verdoppeln und Körperteile sowie Gesamtorganismus apparativ nachzubilden: „Was die Experimentierkunst von Instrumenten, Apparaten, bis jetzt lieferte und noch zu liefern die Absicht hat geht endlich darauf hinaus, den Organismus, erst in seinen Theilen, und zuletzt im Ganzen, künstlich nachzuahmen. […] Was sie [Voltas galvanische Säule – S. Sch.] zunächst zu liefern hat, ist ein Apparat, der den Nerven nachahmt. Hirn und Nerven sind Elektromotoren, und die Natur hat schwerlich dazu Apparate, auf Voltas Art kons­ truiert, nötig gehabt.“ 425

Dieser Weltzugriff unterscheidet Ritters von G ­ oethes Vorgehensweise, der die Reaktionen des im natürlichen Zustand belassenen Auges an dessen Farberzeugung zu erkennen versucht. Erst im größten Nachtrag zur Farbenlehre, den Entoptischen Farben, wird er – wie im nächsten Kapitel ausgeführt – die Farbenproduktion in einer komplexen Apparatur als Analogie für die physiologische Farberzeugung betrachten. Um eine Analogie, in der lediglich spekulativ vom Wahrgenommenen auf unsichtbare Prozesse geschlossen wird, handelt es sich in Ritters Konzept nicht, da er für die Innen- und Außenwelt lebender Körper gleiche galvanische Prinzipien nachweist.426 Eine potentielle Unendlichkeit des galvanischen Abbildverhältnisses und der Einbindung des lebenden Organismus in die Apparaturen wird deshalb durch die Verschleißbarkeit des menschlichen Körpers desavouiert, wie Ritter an anderer Stelle zugeben muss: So könnte die Ladung der Volta’schen Säule ins Unendliche gesteigert werden, 424 Auch wenn jeder unter dieser Temperatur liegende Lichtgrad nicht mehr wahrnehmbar ist, besitzt das Auge die Fähigkeit, sich der äußeren Lichtintensität anzupassen, wie dies bei der Akkommodation der Fall ist. Vgl. Ritter, Fragmente, a. a. O., 1. Bändchen, Fragment 239, S. 157 – 158. Die o. a. Erkenntnis weitet Ritter spekulativ auf den Bereich des Makrokosmos aus: „Im Auge des Menschen hat eine beständige Lichttemperatur statt, warum nicht also auch im Auge der Erde? – […] Alles Sonnenlicht gliche einem galvanischen Strahl und Licht käme überhaupt nur durch Galvanismus ins Universum.“ Ebd., Fragment 340, S. 212 – 213. 425 Ritter, Johann Wilhelm, Von den verschiedenen Erregbarkeiten der Sinnesorgane, a. a. O., S. 249 (Anmerkung). Vgl. hierzu auch die ausführliche Interpretation von Welsh, Hirnhöhlenpoetiken, a. a. O., S. 88 und S. 90. 426 Vgl. zur Visualisierung intrakorporaler Vorgänge durch experimentelle Nachbauten bei Ritter Welsh, Hirnhöhlenpoetiken, a. a. O., S.  88 – 90.

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„ohne auf Schranken zu stossen als die, welche unsre Willkühr oder unsre individuelle Ohnmacht setzen könnte“.427 Im galvanischen Experiment kann die subjektive Erkenntnisfähigkeit durchaus von körperlichen Reaktionen wie einer Augenentzündung 428 oder einem die Wahrnehmung verzerrenden Tränenfluss beeinträchtigt werden.429 In zahlreichen Selbstversuchen testete Ritter die galvanischen Reaktionen am eigenen Körper unter erheblichen Schmerzen. Um eine Farbe in die andere umschlagen zu lassen und damit das Polaritätsprinzip des Galvanismus nachzuweisen, steigerte er die elektrischen Ladungen ins Extreme. In physiologischen Nachbildexperimenten versuchte er, vergleichend zu den galvanischen Versuchen am Wandel der im Auge erzeugten Farben dessen Nerventätigkeit zu erforschen. Ein 20-minütiger Blick in die Sonne beeinträchtigte dabei die Leistung seines Gesichtsorgans so stark, dass er noch nach 24 Tagen die realen Farben von Gegenständen in anderen Farbqualitäten wahrnahm.430 Ritters selbstexperimentelle Übersteigerung ins Extreme drohte Versuchsobjekt und Erkenntnisinstanz in einem, den Menschen, zu zerstören.431 Solche Experimente mit einer erhöhten elektrischen Ladungszufuhr führte G ­ oethe mit Sicherheit nicht durch, kritisierte er doch bereits im 1798 entstandenen Schema Physische Wirkungen generell die schädlichen Einflüsse der Elektrizität auf den lebenden Körper, ohne sie auf die spezifischen Sinnesleistungen zu beziehen: „Die elektrische [Materie – S. Sch.] wirkt auf die Nerven. Von ihrer übrigen allgemein zerschmetternden, entzündenden Wirkung nichts zu sagen.“ 432 Anstelle eigener Selbstversuche mit einer erhöhten elektrischen Ladung rezipierte er Ritters schriftlich niedergelegte Erfahrungen der galvanischen Farberzeugung im Auge. So entlieh Goethe den zweiten Band von Ritters Beyträgen zur nähern Kenntniss des Galvanismus und der Resultate seiner Untersuchung, der detaillierte Darstellungen der Wirkungen der galvanischen Batterie auf die Sinne des Menschen enthält, 1806 aus der Weimarer Bibliothek.433 Er benutzte diese Lektüre zur Vorbereitung der Vorstellung des Galvanismus im Rahmen seiner Physikalischen Vorträge, die er von Oktober 1805 bis April 1806 vor einem Kreis 427 Ritter, Johann Wilhelm, Neue Versuche und Bemerkungen über den Galvanismus. In Briefen an den Herausgeber. Zweiter Brief: Von der Wirkung grösserer Voltaischer Säulen auf die Sinnesorgane, besonders das Auge, und von der möglichen Verstärkung des Galvanismus selbst ins Unendliche, in: Gilbert, Ludwig Wilhelm (Hg.), Annalen der Physik 19 (1805), S. 1 – 44, hier S. 37 – 38. 428 Vgl. z. B. Ritters Ausführungen über das Blau- und Roterscheinen der wahrgenommenen Gegenstände in galvanischen Versuchen: „[…] was ich hier mittheile, ist die geringe, aber sichere Frucht einer Menge Versuche, die mich manche Augenentzündung gekostet haben.“ Ritter, Versuche und Bemerkungen über den Galvanismus, Zweyter Brief, a. a. O., S. 469. 429 Vgl. ders., Von den verschiedenen Erregbarkeiten der Sinnesorgane, a. a. O., S. 173. 430 Vgl. Ritter, Neue Versuche und Bemerkungen über den Galvanismus, Zweiter Brief, a. a. O., S. 11 – 18. 431 Vgl. Daiber, Jürgen, Selbstexperimentation: zu einer romantischen Versuchspraxis, in: Aurora 58 (1998), S. 49 – 68, hier S. 60 – 61. 432 LA I.11, S. 42 (Physische Wirkungen). 433 Vgl. LA II.1B, S. 1256.

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um die Weimarer Herzogin Luise hielt. Bezeichnenderweise begann ­Goethe, den Galvanismus nach einem Vortrag zu behandeln, der mit der pathologischen Farberzeugung des Auges endete. Nach einer theoretischen Einführung versuchte er, seinen Zuhörerinnen systematisch durch Experimente die galvanischen Wirkungen zwischen unbelebten ebenso wie zwischen belebten Stoffen, aber auch zwischen unbelebter und belebter Materie näherzubringen.434 Seinen Vorbereitungsschriften ist zu entnehmen, dass er neben Experimenten mit anorganischer Materie wie „Verstärkung der Elektrizität durch Anwendung des Amalgams auf dem Reibzeug“ oder „Verbrennung des Goldes“,435 Versuchen mit ehemals belebter Materie wie dem galvanischen Einfluss auf Froschschenkel und der Erklärung des Verhaltens elektrischer Fische auch ungefährlichere Experimente mit Personeneinbindung durchführte und -führen ließ. Hier handelte es sich beispielsweise um das Berühren von Wasser mit der Zunge in einem Zinnbecher.436 Die in galvanischen Selbstversuchen durch eine intensivere elektrische Ladungszufuhr generierten Sinnesqualitäten der Farben im Auge oder des Tons im Ohr ersetzte Goethe in diesen Vorträgen wahrscheinlich durch Erklärungen. In G ­ oethes Beschäftigung mit den galvanischen Versuchen Ritters wird die Ästhetik in ihrer doppelten Bedeutung als Kunst- und als Wahrnehmungstheorie einmal mehr zur Folie für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn – auch unabhängig von der Realität der experimentellen Ergebnisse. Das beweist eine Teilabschrift G ­ oethes, die dieser von einem Schema Ritters anfertigte, das die Wirkungen des galvanischen Stroms auf das Auge systematisch darlegt. Dieses Schema diente als Vorarbeit für Ritters 1801 in Gilberts Annalen der Physik publizierten zweiten Brief der Versuche und Bemerkungen über den Galvanismus der Voltaischen Batterie.437 In seiner Abschrift vertauscht G ­ oethe offenbar bewusst Ritters Beobachtungen. Während dieser bei positiver Ladung durch den Zinkkontakt am Auge Blau, bei negativer Ladung durch den Silberkontakt Rot sieht, kehrt ­Goethe diese Zuordnung um. Die wirkungsästhetisch mit dem Kalten konnotierte Farbe Blau schreibt G ­ oethe der negativen Ladung zu, Rot tauscht er gegen 434 Den Experimenten legte Goethe folgende Reihenfolge zugrunde: 1. Leblos auf Lebloses, 2. Leblos auf Lebendiges, 3. Lebendes auf Lebendes, 4. Lebendes auf Lebloses, Vgl. LA I.11, S. 89 (Physikalische Vorträge, Galvanismus). Zur öffentlichen und halböffentlichen Aufführungspraxis elektrischer Experimente im 18. Jahrhundert vgl. Hochadel, Oliver, Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung, Göttingen 2003. 435 Mit diesen Versuchen, die Goethe im Januar und Februar 1806 durchführte, wollte er besonders die Verhältnisse zwischen galvanischen, chemischen und elektrischen Vorgängen demonstrieren. Vgl. LA I.11, S. 83 – 90, Zitate S. 87 (Physikalische Vorträge, Galvanismus). 436 Vgl. ebd., S. 87 – 90. Elektrische Fische, die auch Zitter- oder Krampffische genannt werden, erzeugen in besonderen Körperzellen elektrische Ladungen. Diese dienen neben der Orientierung auch zur Verteidigung gegen Angreifer und Betäubung von Beutetieren. Vgl. dazu auch LA II.1B, S. 1256. 437 Der Titel dieses zweiten Briefs lautet: Wirkung des Galvanismus der Voltaischen Batterie auf menschliche Sinneswerkzeuge. Diese Schrift wurde veröffentlicht in: Gilbert, Ludwig Wilhelm (Hg.), Annalen der Physik 7 (1801), S. 447 – 484.

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die positive, warme Farbe Gelbrot (Orange) aus und ordnet sie der positiven Ladung zu.438 Diese Konstellation ist letztendlich nicht mehr mit dem galvanisch erzeugten Gegensatzpaar identisch, sondern mit den physiologischen Komplementärfarben, die wiederum deckungsgleich mit den harmonischen Farbzusammenstellungen der Maler sind (vgl. Abb. 13 und 14). Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass G ­ oethe es war, der in den gemeinsamen Gesprächen und Versuchen Ritters Interesse auf das Gebiet der Farben als eigenständigen Forschungsgegenstand lenkte.439 Dieses Interesse schlug sich nicht zuletzt in den oben beschriebenen intensiven Selbstversuchen nieder, in denen Ritter gezielt die differenzierte Farbentwicklung im Auge beobachtete – Experimente, die er in solcher Intensität erst nach den Gesprächen mit ­Goethe durchführte. Eine eigene Theorie der Farbe entwirft Ritter allerdings nicht. Er ist einerseits wie Newton davon überzeugt, dass die Farben durch Brechung aus dem weißen Licht hervorgehen. Andererseits bezieht er sich auf die von G ­ oethe diskutierten psycholo­ gischen Farbwirkungen. In seinem letzten Werk Fragmente aus dem Nachlass eines jungen Physikers führt er die galvanische Farberzeugung, die Brechungsfarben und die von ­Goethe beschriebenen Farbharmonien unter dem naturphilosophischen Prinzip der Polarität zusammen. Die polaren Farben vereinigen sich nach Ritter im indifferenten weißen Licht. In diesem Kontext transferiert er ein physikalisches Gesetz in den physiologischen Bereich: Er betrachtet im Gegensatz zu G ­ oethes Grün das Weiß als diejenige Farbe, die das Auge am meisten entspannt. Als harmonische Farbenpaare bezeichnet er neben den galvanisch erzeugten Gegensatzfarben Rot und Blau ­Goethes polare, jedoch nicht komplementäre Grundfarben der Physiker Gelb und Blau sowie das Komplementärfarbenpaar Grün und Purpur.440 Dass die Farben durch Brechung des weißen Lichts entstehen, bewies Ritter auch im Bereich des Unsichtbaren, als er 1801 die ultravioletten Strahlen entdeckte. Seine Versuche, in denen er mit dem prismatischen Spektrum und mit chromatischem Licht experimentierte, das er durch farbige Gläser erzeugte, baute er auf den Ver­ suchen des schwedischen Chemikers Karl Wilhelm Scheele auf. Dieser hatte ein mit Hornsilber bestrichenes Stück Papier in ein prismatisches Farbenspektrum gelegt und bemerkt, dass die Chemikalie in violetter Farbe eher dunkel als in den anderen

438 Vgl. LA  I.3, S. 382 – 383 (Galvanische Versuche bezüglich auf Physiologische Farben). Vgl. auch LA II.3, S. 355 – 356. Vgl. zu den oben zugeschriebenen Farbeigenschaften auch LA I.4, § 696, S. 205 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 439 Zur Farbendiskussion zwischen G ­ oethe und Ritter vgl. Richter, Leben des Physikers Ritter, a. a. O., S. 74 – 77, hier S. 74. 440 Vgl. Ritter, Fragmente, 1. Bändchen, a. a. O., Fragment 243, S. 159 – 160. Ritter reflektiert auch die qualitativen Farbänderungen in G ­ oethes Theorie der Steigerung, in der der Purpur aus der Entwicklung von Gelb und Blau entsteht. Ritter stellt diese Änderung in Gegensatz zu den lediglich quantitativen Modifikationen in Elektrizität und Magnetismus. Vgl. ebd., Fragment 262, S. 169.

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wurde. In seinen Versuchen, die Scheeles Beobachtung bestätigten, kam Ritter durch Analogieschluss vom ebenfalls unsichtbaren Infrarot auf die Existenz des Ultra­ violetts. Die Entdeckung des Infrarots durch Wilhelm Herschel wiederum basierte auf der Erkenntnis, dass die Intensitäten von Wärme und Licht im Farbenspektrum nicht identisch sind. Lag der Punkt der größten Erleuchtung ungefähr in der Mitte des Spektrums, hatte Herschel die höchste Wärme neben dem Roten außerhalb der sichtbaren Farben gemessen.441 Analog zu dieser Erkenntnis vermutete Ritter neben der am entgegengesetzten Ende des Spektrums liegenden violetten Farbe, die sich nicht erwärmte, die unsichtbare ultraviolette Strahlung. Er bestätigte diese Vermutung empirisch, indem er die Einschreibung dieser Strahlen in eine dunkel werdende Hornsilberschicht nachwies. Ritter konstatierte, dass das Farbenspektrum größer als dessen sichtbarer Bereich sei, weil „[…] im Prismaspectrum Stralen vorkommen, die unsichtbar, und nur aus Wirkungen erkennbar seyen; dass beyde, wie sie verschieden und sich entgegengesetzt sind dem Orte nach, es auch in ihren Wirkungen bleiben; und dass zuletzt die unsichtbaren Stralen jeder Seite, im Grunde nur gesteigerte Fortsetzungen der sichtbaren Stralen jeder Seite seyen“.442

Die Entdeckung der unsichtbaren Farben durch Herschel und Ritter führte zu einem erkenntnistheoretischen Novum: Erstmalig wurde das Auge durch die Eigenschaft eines Naturphänomens und nicht wie bisher durch optische Apparaturen in seinen Wahrnehmungsfähigkeiten entwertet und als defizitär vorgeführt. Bis zu dieser Zeit wurde das enge Verhältnis von Gesichtssinn und Licht nicht nur von den Naturphilosophen (­Goethe inbegriffen) durch Analogien herausgestellt, sondern auch im Rahmen der Naturlehre in zahlreichen Physikkompendien thematisiert. Sie beschrieben das Auge im Versuchskontext funktional als natürliches Beweisinstrument für das Licht und die in ihm entstehenden Farben. Da Infrarot und Ultraviolett vom Gesichtssinn nicht wahrgenommen werden können, löste sich die tradierte Verbindung zwischen Licht und Gesichtssinn auf, so dass das Licht nicht mehr über die optische Wahrnehmung definiert werden konnte. Wie sich in Ritters und Herschels Experimentalstrategien bereits abzeichnete, teilten die Wissenschaftler das Licht fortan in unterschiedliche Eigenschaften: in chemische, wärmende und erhellende. Die Relevanz der jeweiligen Eigenschaft machten die Forscher vom aktuellen Auftrittskontext des Lichts abhängig, womit dieses dem Subjekt gegenüber eine übergeordnete epistemologische

441 Vgl. Herschel, Wilhelm, Untersuchungen über die wärmende und erleuchtende Kraft der farbigen Sonnenstrahlen, in: Gilbert, Ludwig Wilhelm (Hg.), Annalen der Physik 7 (1801), S. 137 – 156. 442 Vgl. Ritter, Johann Wilhelm, Bemerkungen zu Herschel’s neueren Untersuchungen über das Licht; vorgelesen in der Naturforschenden Gesellschaft zu Jena, im Frühling 1801, in: ders., Physischchemische Abhandlungen in chronologischer Folge, Leipzig 1806, 2. Bd., S. 81 – 107, Zitat S. 85 – 86.

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Position erhielt. Dem Licht wurden nun Eigenschaften zugesprochen, die das Auge nicht wahrnehmen konnte.443 Die differenten Standpunkte zur Physik des Lichts waren ausschlaggebend für den im September 1801 erfolgten Abbruch der direkten Beziehungen zwischen ­Goethe und Ritter.444 ­Goethe reagierte auf die Entdeckung der unsichtbaren Farben ablehnend und versuchte, diese seinen farbentheoretischen Entwürfen unterzuordnen: Nachdem Ritter ­Goethe über seine Entdeckung des Ultravioletts informiert hatte, nutzte dieser seine briefliche Reaktion als polemisches Forum, in dem er Position gegen ­Herschels Spaltung des Lichts bezog und Vorschläge für eine präzisere Durchführung der Experimente unterbreitete.445 Im didaktischen Teil der Farbenlehre erwähnt ­Goethe ­Ritters Entdeckung an keiner Stelle. Der Grund für ­Goethes abweisende Haltung ist höchstwahrscheinlich in der fehlenden Sichtbarkeit der Phänomene zu suchen, die die erkenntnistheoretische Bedeutung des Auges entwerten. Diese Annahme wird dadurch bestätigt, dass sich die auch von G ­ oethe durchgeführten Experimente mit farbigem Licht ausschließlich auf den Bereich des Wahrnehmbaren bezogen. Er untersuchte

443 Vgl. exemplarisch Biot, Jean-Baptiste / Berthollet, Claude-Louis / Chaptal, Jean-Antoine, Bericht über eine Abhandlung des Hn. Bérard über die physikalischen und chemischen Eigenschaften der verschiedenen Strahlen, aus denen das Sonnenlicht zusammengesetzt ist, in: Annalen der Physik, Neue Folge 16 (1814), S. 376 – 391, hier S. 389 und S. 391. Vgl. zum gesamten Absatz Renneberg, Monika, Sehen mit unsichtbarem Licht: Das Auge und andere optische Instrumente im frühen 19. Jahrhundert, in: Meinel, Christoph (Hg.), Instrument – Experiment. Historische Studien, Berlin / Diepholz 2000, S. 242 – 249, hier S. 245 – 246. 444 Vgl. Richter, Leben des Physikers Johann Wilhelm Ritter, a. a. O., S. 77. 445 Vgl. LA I.3, S. 245 – 248 (Goethe an Johann Wilhelm Ritter am 7. März 1801). Nach der Entdeckung der ultravioletten Strahlen, die Ritter auf den 22. Februar 1801 datierte, hatte er G ­ oethe vermutlich bei einem Treffen am 23. Februar 1801 in Weimar Gilberts Annalen der Physik gegeben, in welchen Friedrich Wilhelm Herschels Aufsatz Untersuchungen über die wärmende und erleuchtende Kraft der farbigen Sonnenstrahlen erschienen war. Vgl. Gilbert, Ludwig Wilhelm (Hg.), Annalen der Physik 7 (1801), S. 137 – 156. In seinem Brief schlug ­Goethe z. B. vor, die gemessenen Temperaturen der einzelnen Farben nicht nur mit der des dunklen Raumes, sondern auch mit der des gebrochenen farblosen Lichts zu vergleichen. Vgl. LA  I.3, S. 247 (­Goethe an Johann Wilhelm Ritter am 7. März 1801). Sieben Jahre nach Erhalt dieses Briefes ließ Ritter ihn in Gehlens Journal für die Chemie, Physik und Mineralogie 6 (1808) veröffentlichen. In derselben Ausgabe publizierte der Physiker und Chemiker C. E. Wünsch, dass das bei einer bestimmten Versuchskonstellation in der Mitte des Spektrums erzielte weiße Licht eine höhere Temperatur erreicht als die am stärksten erwärmten Farben Gelbrot und Rot. Dieser Ansatz entspricht im Wesentlichen demjenigen G ­ oethes, der „die Farbe durchaus gegen das Licht als ein Minus“ ansieht. LA  I.3, S. 246 (­Goethe an Johann ­W ilhelm Ritter am 7. März 1801) sowie vgl. LA   II .3, S. 278. Vgl. Wünsch, Christian Ernst, Versuche über die vermeinte Sonderung des Lichts der Sonnenstrahlen von der Wärme derselben, in: Gehlen, Adolph Ferdinand (Hg.), Journal für die Chemie, Physik und Mineralogie 6 (1808), S. 597 – 632 sowie ­Goethe, Johann Wolfgang, Schreiben des Geh. Rath von ­Göthe an J. W. Ritter, Herschel’s thermometrische Versuche in den Farben des Lichts betreffend; mit Anmerkungen von J. W. Ritter, in: ebd., S. 719 – 729.

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beispielsweise die Wirkung verschiedenfarbiger Beleuchtung auf Pflanzen oder auf Leuchtsteine. Nur in diesem und keinem anderen Kontext hebt er in einem Brief an Schiller Ritters Entdeckung des Ultravioletts lobend hervor: „Ritter besuchte mich einen Augenblick und hat meine Gedanken auch auf die Farbenlehre geleitet. Die neuen Entdeckungen Herschels, welche durch unsern jungen Naturforscher weiter fortgesetzt und ausgedehnt worden, schließen sich gar schön an jene Erfahrung an, von der ich Ihnen mehrmals gesagt habe: daß die bononischen Leuchtsteine an der gelb roten Seite des Spektrums kein Licht empfangen, wohl aber an der blauroten. Die physischen Farben identifizieren sich hierdurch mit den chemischen.“ 446

Wie Herschel und Ritter maß auch G ­ oethe die Temperatur des farbigen Lichts, das er durch kolorierte Gläser, Prismen und das sogenannte große Wasserprisma erzeugte, das als vergrößerter und mit Wasser gefüllter Nachbau eines Glasprismas eine bessere Sichtbarkeit der farbigen Kantenspektren gewährleistete. In seinen Versuchen erkannte ­Goethe ebenso wie Herschel und Ritter die unterschiedlichen Eigentemperaturen von Farben.447 Beide Forscher hatten durch Messungen herausgefunden, dass das orangefarbene und gelbe Licht wärmer als das blaue und violette ist. Damit bestätigten sie mathematisch das bereits jahrhundertealte implizite Wissen der ästhetisch als warm und kalt empfundenen Farben der Maler. Neben den hier genannten Versuchen beschreibt G ­ oethe im didaktischen Teil der Farbenlehre die sichtbaren Reaktionen des Hornsilbers auf einzelne Farben des Spektrums, jedoch ohne nähere Erläuterung der nichtvisuellen Ursachen dieser Prozesse. Das unsichtbare Infrarot thematisiert er lediglich, um es selbstbewusst durch seine Theorie der prismatisch erzeugten doppelten Bilder zu ersetzen, in der dem Hauptbild das Nebenbild in einigem Abstand folgt: „Da es hier nur um Andeutung, nicht aber um Ableitung und Erklärung dieser Phänomene zu tun ist, so bemerken wir nur im Vorbeigehen, daß sich am Spektrum unter dem Roten keinesweges das Licht vollkommen abschneidet, sondern daß immer noch ein gebrochnes, von seinem Wege abgelenktes, sich hinter dem prismatischen Farbenbilde gleichsam herschleichendes Licht zu bemerken ist; so daß man bei näherer Betrachtung wohl kaum nötig haben wird zu unsichtbaren Strahlen und deren Brechung Zuflucht zu nehmen.“ 448

446 ­Goethe an Friedrich Schiller am 3. April 1801, in: Briefwechsel Schiller ­Goethe, a. a. O., S. 911 – 913, hier S. 912. G ­ oethe führte viele Versuche mit dem Bologneser Leuchtstein durch, bei dem es sich um das Mineral Baryt handelt. Es besitzt die Eigenschaft, bei Bestrahlung mit kurzwelligem ultravioletten Licht noch eine Zeit lang nachzuleuchten – ein Vorgang, der als Phosphoreszenz bezeichnet wird. 447 Vgl. LA I.4, §§ 674 – 676, S. 199 – 200. Zu den Parallelen von Wünschs und Goethes Erkenntnissen über die Temperatur ders weißen Lichts vgl. Fußnote 445. 448 LA I.4, § 677, S. 200 (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

In die Schrift Statt des supplementaren Teils, die er der Farbenlehre beifügte, nahm G ­ oethe bezeichnenderweise die Beschreibungen des Physikers und Chemikers Thomas Johann Seebeck auf, der anhand der chemischen Reaktion des Hornsilbers auf die Spektralfarben zu beweisen versuchte, dass es keine unsichtbaren ultravioletten Strahlen gibt.449 So ablehnend sich G ­ oethe gegenüber den unsichtbaren Farben und der experimentell-galvanischen Überhöhung der Sinnesleistungen verhielt, so ungebrochen blieb sein Interesse an den chemischen und elektrischen Begleiterscheinungen des Galvanismus. Noch 1804 bat er Ritter, ihm bei der Zusammenstellung eines galvanischen Apparates behilflich zu sein.450 Dieses Interesse nahm der sächsische Kunsthistoriker und -mäzen Johann Gottlob von Quandt zum Anlass, den Galvanismus selbst zur Charakterisierung ­Goethes zu verwenden: „Die Kraft seines Genies glich Strömungen des Galvanismus, aber nicht der Electricität, die sich in Blitzen und Schlägen entladet.“ 451 Betrachtet ­Goethe die experimentelle Einbindung der Sinne sicherlich auch wegen ihrer passiven Rolle bei der galvanischen Farberzeugung kritisch, setzt er in den entoptischen Experimenten selbst komplexe Apparaturen ein, die die Beweiskraft des natürlichen Blicks entwerten. 3.6.2 Das potenzierte Auge – ­Goethes entoptische Studien Sieben Jahre nach der Fertigstellung der Farbenlehre, im Mai 1817, schrieb ­Goethe der jungen Weimarer Malerin Julie von Egloffstein ein Widmungsgedicht ins Stammbuch. Es trägt den Titel Entoptische Farben und stellt diejenigen physikalischen Erscheinungen lyrisch dar, denen G ­ oethe seinen umfassendsten Nachtrag zur Farbenlehre widmete: den chromatischen Phänomenen, die bei der Polarisation des Lichts entstehen. Das Gedicht besitzt eine doppelte Funktion: Es ist sowohl Widmungs- als auch Lehrgedicht, das nicht nur experimentalwissenschaftliche, sondern auch ästhetische und wahrnehmungstheoretische Aspekte im Medium der Poesie zusammenführt. Beschreibt ­Goethe bereits im didaktischen Teil der Farbenlehre die physiologischen, physikalischen und chemischen Farben als ästhetische Phänomene, überhöht er diese Ästhetisierung im Gedicht und dem gleichnamigen naturwissenschaftlichen Aufsatz, dem Haupttext zu diesen Erscheinungen. Diese Überästhetisierung ist ­Goethes 449 Nach Seebecks Beobachtungen entsteht die größte chemische Wirkung des Farbenspektrums auf das Hornsilber nicht außerhalb des sichtbaren violetten Bereichs, sondern im sichtbaren blauen Abschnitt. Diese Beobachtung betrachtete er fälschlicherweise als Beweis für die Nichtexistenz der unsichtbaren ultravioletten Strahlen. Vgl. LA I.7, S. 26 – 39, hier S. 34 – 37 (Statt des supplementaren Teils). 450 Von Klinckowström entnahm diese Tatsache einem Brief Ritters vom 8. April 1804 an ­Goethe, in dem jener sich auf dessen Auftrag bezog. Vgl. Klinckowström, Carl von, ­Goethe und Ritter, in: Jahrbuch der ­Goethe-Gesellschaft 8 (1921), S. 135 – 147, hier S. 147. 451 Vgl. WA V,4, S. 71 – 75, hier S. 75 (Gespräch Goethes mit Johann Gottlob von Quandt, Ende November bis Anfang Dezember 1820).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Antwort auf die überwiegend negative Aufnahme seiner Farbenlehre durch die Physiker.452 Stärker als in der Farbenlehre kämpft G ­ oethe gegen die die Farben in Strahlen zerlegende Fachwelt mit der Totalität ästhetischer Bilder, die er in den entoptischen Farben veranschaulicht sieht. Auf die Übermacht des Ästhetischen verweist bereits die trilogische Form des Gedichts: Die erste und die letzte Strophe adressiert G ­ oethe an die junge Malerin, die mittleren Verse beschreiben die Farbentstehung als ein universalgesetzliches Phänomen, das auf die von ­Goethe postulierte naturphilosophische Mikro-MakrokosmosAnalogie deutet.453 Bereits durch diese Werkstruktur fungiert die Ästhetik literarisch als Grenze und Klammer der Experimentalphysik. Zum besseren Verständnis der folgenden Darlegungen sei an dieser Stelle das Gedicht vollständig angeführt: „Entoptische Farben Laß dir von den Spiegeleien, Unserer Physiker erzählen, Die am Phänomen sich freuen, Mehr sich mit Gedanken quälen. Spiegel hüben, Spiegel drüben, Doppelstellung auserlesen; Und dazwischen ruht im Trüben Als Kristall das Erdewesen. Dieses zeigt, wenn jene blicken, Allerschönste Farbenspiele, Dämmerlicht, das beide schicken, Offenbart sich dem Gefühle. Schwarz wie Kreuze wirst du sehen, Pfauenaugen kann man finden;

452 Zur negativen Bewertung des physikalischen Teils der Farbenlehre vgl. LA  II.5, S.  220 – 234 (Das Urteil der Physiker) sowie FA I.23.2, S. 613 – 753 (Zeitgenössische Rezensionen). 453 Vgl. Hölscher-Lohmeyer, Dorothea, „Entoptische Farben“. Gedicht zwischen Biographie und Experiment, in: Études Germaniques, Janvier – Mars 1983, S. 56 – 72, hier S. 61. Wie der Aufsatztitel ankündigt, stellt die Autorin das Gedicht in einen umfassenden biographischen Zusammenhang der Begegnung Julie von Egloffsteins und G ­ oethes. Zu einer literaturwissenschaftlichen Interpretation des Gedichts vgl. Behre, Maria, Übersetzen als Doppelspiegelung. ­Goethes Gedicht Entoptische Farben, in: Stadler, Ulrich (Hg.), Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens, Stuttgart / Weimar 1996, S. 368 – 381.

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

Tag und Abendlicht vergehen, Bis zusammen beide schwinden. Und der Name wird ein Zeichen, Tief ist der Kristall durchdrungen: Aug’ in Auge sieht dergleichen Wundersame Spiegelungen. Laß den Makrokosmos gelten, Seine spenstischen Gestalten! Da die lieben kleinen Welten Wirklich Herrlichstes enthalten.“ 454

Mit dem im Gedicht aufgezeigten doppelten Blick: dem des Betrachters und dem der entoptischen Farben, die wie Pfauenaugen wirken, setzt ­Goethe sein wissenschaftliches Anliegen literarisch um, die entoptischen Erscheinungen als doppelte Beweisinstanz zu nutzen: zum einen für seine physikalische Theorie der Farbentstehung zwischen Hell und Dunkel im trüben Mittel, zum zweiten für die Vorgänge im Augeninneren, für die ebenso das universale Strukturprinzip der Polarität gilt wie für die physikalischen Phänomene. Um diesem doppelten Evidenzcharakter Geltung zu verschaffen, ist G ­ oethe auf die unbedingte Visualität der entoptischen Farben angewiesen – eine Sichtbarkeit, die ihnen von Natur aus nicht gegeben ist. Zu diesem Zweck strebt er eine Visualisierung der Phänomene um jeden Preis an, so dass geradezu von einer Dramatisierung der Sichtbarkeit gesprochen werden kann. Je mehr er zur Erlangung dieses Ziels die Experimentalsituation zu beherrschen versucht, um so mehr entzieht sie sich jedoch seinen Regulierungsbemühungen. Seiner explorativen Experimentalmethode zum Trotz, in der er jeden Versuch sukzessiv aus der Abwandlung des vorhergehenden entwickelt, nimmt er nun unlösbare Widersprüche und Differenzen in Kauf und akzeptiert eine hochkomplexe Apparatur. Auf nicht-apparativer Ebene führt sein verstärkter Rückgriff auf das erkenntnistheoretische Mittel der Analogie zu einem Wuchern von Verbildlichungen. Diese verschieben sich zwischen den Materialitäten von Instrumenten, trübem Mittel und anderen Stofflichkeiten sowie den physiologisch erzeugten Immaterialitäten des Auges und schreiben sich wechselseitig ineinander ein. Der folgenden Analyse seiner Visualisierungsstrategien und -mittel, die im Gedicht selbst ihren prägnantesten Ausdruck finden, sei eine wissenschaftshistorische Beschreibung der Polarisationsphänomene und der entoptischen Farben vorangestellt. Als ­Goethe das Gedicht Julie von Egloffstein ins Stammbuch schrieb, hatte er sich bereits seit fünf Jahren mit der Polarisation des Lichts und den sie begleitenden 454 FA I.25, S. 1318 (Kommentar von Manfred Wenzel zu G ­ oethes entoptischen Studien).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

entoptischen Erscheinungen beschäftigt. Im Jahre 1813 hatte er den einschlägigen Aufsatz Doppelbilder des rhombischen Kalkspats verfasst. Obwohl er nach der zumeist negativen Rezension der Farbenlehre durch die Physiker seine optischen Studien eigentlich nur „im stillen“ 455 weiterbetreiben wollte, sah er sich 1812 gezwungen, die Angriffe des Naturforschers Christoph Heinrich Pfaff abzuwehren. Dieser hatte ­Goethe vorgeworfen, in der Farbenlehre die Entstehung der Doppelbrechung nicht empirisch untersucht und auf die farbigen Refraktionsphänomene bezogen zu haben.456 Auf die Farbentwicklung bei der Polarisation wurde ­Goethe 1812 von Thomas Johann Seebeck aufmerksam gemacht, einem der wenigen Physiker, die seine Erklärung der Kantenspektren anerkannten. ­Seebeck versorgte ­Goethe mit einfachen experimentellen Apparaturen zu ihrer Erzeugung. Die den entoptischen Erscheinungen zugrunde liegenden Polarisationsphänomene wies der Franzose Etienne Louis Malus erstmals 1808 experimentell nach. Nachdem er entdeckt hatte, dass an einer Fensterscheibe reflektierte Sonnenstrahlen beim Blick durch den doppelbrechenden natürlichen Kristall des Kalkspats statt der erwarteten zwei nur ein Sonnenbild zeigten, die Doppelbrechung also aufgehoben wurde, versuchte er, diese Phänomene in systematischen Experimenten apparativ zu erzeugen und zu untersuchen. Er konstruierte einen Polarisationsapparat nach folgendem Prinzip: An einer vertikal ausgerichteten Vorrichtung positionierte er je einen Glasspiegel unten und oben so, dass sich ihre Flächen schräg zu dieser befanden. Einer der Spiegel fungiert als Polarisator, als reflektierende bzw. spiegelnde Fläche, die das auf ihn in einem bestimmten Winkel fallende Licht an einen zweiten Polarisator weitergibt, der als Analysator bezeichnet wird. Dieser visualisiert die Polarisationsphänomene für das unbewaffnete Auge. Malus stellte fest, dass bei paralleler Position beider Spiegel zueinander in gleicher Richtung im Gesichtsfeld der größte Helligkeitsgrad erscheint. Bei Drehung des Analysators um die eigene Achse im rechten Winkel zum anderen Spiegel verschwanden die Phänomene. Ähnliche Erscheinungen zeigen sich – so beobachtete Malus weiter – an doppelbrechenden Kristallen: Sieht der Betrachter durch einen Kalkspat im rechten Winkel auf eine beleuchtete Stelle, nimmt er die durch den Kristall erzeugten Bilder nicht doppelt, sondern einfach wahr, d. h., Beleuchtung und Dunkelheit, Einfach- und Doppelbrechung wechseln auch hier in einer internen Verschiebung der Versuchskonstellation um jeweils 90°.457 455 LA I.8, S. 5 (Zur Naturwissenschaft überhaupt, Vorwort). 456 Vgl. Pfaff, Christoph Heinrich, Ueber die farbigen Säume der Nebenbilder des Doppelspaths, mit besonderer Rücksicht auf Hrn. v. Göthes Erklärung der Farbentstehung durch Nebenbilder, in: Journal für Chemie und Physik 6, Heft 2 (1812), S. 177 – 204, hier S. 180. G ­ oethe hatte im § 229 des didaktischen Teils der Farbenlehre doppelbrechende Kristalle unter der Rubrik der Brechungsphänomene aufgeführt und gleichzeitig auf den defizitären Stand ihrer Erforschung hingewiesen. Vgl. LA I.4, § 229, S. 85 – 86 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 457 Das Vorkommen dieser Doppelbilder hängt von den vektoriellen Eigenschaften der inneren Kristallkonstellation ab. Beim Eintritt in einen solchen Kristall spaltet sich das Lichtstrahlenbündel in einen ordentlich und einen außerordentlich gebrochenen Strahl. Vgl. LA  II.5B.I, S. CI – CIV.

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

Die natürliche und instrumentell erzeugte Doppelbrechung erklärte Malus unter Rückgriff auf Newtons Korpuskulartheorie bzw. auf sein Strahlenmodell des Lichts: Bereits dieser hatte bei Positionsveränderung zweier nacheinander gesetzter Kristalle das Auftreten und Verschwinden der Doppelbrechung im zweiten Körper beobachtet. Newton hatte die Erscheinung damit begründet, dass er den Lichtstrahlen vier Seiten zuschrieb, die je nach Strahlenlage zueinander bestimmte Phänomene sichtbar werden lassen. Malus, der diesen Ansatz aufgriff, verglich die zwei verschiedenen Seitenwirkungen des Lichts mit den beiden Polen elektrischer und magnetischer Erscheinungen.458 Die daraus abgeleitete Bezeichnung Polarisation wurde von G ­ oethe als Gegner der newtonischen Korpuskulartheorie nie übernommen. Der französische Physiker und Astronom Dominique François Jean Arago, der Malus’ Versuche weiterführte, bemerkte 1811, dass die bei gekreuzten Spiegeln aufgehobene Reflexion des Lichts wieder eintritt, wenn zwischen die Spiegel doppelbrechende Kristalle in eine bestimmte Lage gesetzt werden. In diesen Experimenten entdeckte er die chromatische Polarisation an Glimmerblättchen und damit jene Erscheinungen, die ­Goethe später als entoptische Farben bezeichnete. Arago beobachtete, dass die Farben bei gewisser Positionsänderung der Spiegel in ihre Gegenfarbe umschlagen.459 Der Physiker Thomas Johann Seebeck, der ab August 1812 die Doppelbrechungsversuche Malus’, Aragos und des französischen Physikers und Mathematikers Jean ­Baptiste Biot experimentell nachstellte, lenkte sein Interesse bald von den komplizierten Vgl. zum gesamten Absatz die Kurzdarstellung der Versuche Malus’ in Seebeck, Thomas Johann, Einige neue Versuche und Beobachtungen über Spiegelung und Brechung des Lichtes, in: Journal für Chemie und Physik VII, Heft 3 (1813), S. 259 – 298, hier S. 262 – 263 sowie Rudolf Steiners Erläuterungen zu Thomas Johann Seebeck, Geschichte der entoptischen Farben, in: G ­ oethe, Johann Wolfgang, Farbenlehre. Mit Einleitungen und Kommentaren von Rudolf Steiner, hg. v. Gerhard Ott und Heinrich O. Proskauer, 5 Bde., Stuttgart 2003, Bd. 2: Vorarbeiten und Nachträge, S. 149 – 159, hier S. 149 – 150. Vgl. ebenso FA I.25, S. 1313 (Kommentar von Manfred Wenzel). 458 Vgl. FA I.25, S. 1292 und S. 1313 (Kommentar von Manfred Wenzel). Malus trug seine Entdeckungen erstmals am 12. Dezember 1808 am Institut de France vor, seine vollständige Théorie de la double Réfraction erschien 1810. Vgl. LA I.8, S. 11 (Seebeck, Thomas Johann, Geschichte der entoptischen Farben). Während Newton die Aufhebung der Doppelbrechung nach dem Modell der Korpuskulartheorie erklärte, begründete Christiaan Huygens sie undulationstheoretisch: Das Licht breitet sich in unterschiedlichen Wellenformen aus – der ordentliche Lichtstrahl durch Kugel-, der außerordentliche durch elliptische Wellen. Nachdem Brewster 1815 entdeckt hatte, dass eine fast vollständige Polarisation immer dann stattfindet, wenn reflektierter und gebrochener Lichtstrahl senkrecht zueinander stehen, beobachtete Fresnel, dass zwei rechtwinklig zueinander polarisierte Lichtstrahlen nicht interferieren. Dieses Versuchsergebnis bildete wiederum die Basis für Youngs bahnbrechende Erkenntnis des transversalen Schwingungscharakters des Lichts. Vgl. Schreier, Wolfgang, Geschichte der Physik. Ein Abriß, Berlin 1988, S. 187 – 196. Vgl. FA I.25, S. 1314 (Kommentar von Manfred Wenzel). 459 Vgl. die Kurzdarstellung der Versuche Aragos in Seebeck, Einige neue Versuche, a. a. O., S. 263 – 265. Vgl. ebenso LA I.8, S. 11 (Seebeck, Geschichte der entoptischen Farben) sowie die Kurzdarstellung der Versuche Aragos in Steiners Erläuterungen zu dieser Schrift in: ­Goethe, Farbenlehre, hg. v. Ott / Proskauer, a. a. O., S. 150. Vgl. auch FA I.25, S. 1314 (Kommentar von Manfred Wenzel).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Versuchsaufbauten auf die chromatische Polarisation im doppelbrechenden Mittel selbst. Seebeck experimentierte nicht nur mit Kristallen in der Doppelspiegelapparatur, sondern auch mit Glaskörpern wie Würfeln und Zylindern. Dabei entdeckte er Folgendes: Stehen die Spiegelflächen parallel zueinander, erscheint in einem zwischen ihnen angebrachten Glas ein weißes Kreuz, in den Ecken werden vier Ringe in Farben des prismatisch erzeugten Spektrums sichtbar. Bei rechtwinklig gekreuzten Spiegeln verkehrt sich das Weiß in Schwarz, die Prismenfarben schlagen in ihre Komplemente um (vgl. Abb. 15). Im Sinne der ­goetheschen Farbentheorie postulierte Seebeck als „erste Bedingung“ zur Bildung der entoptischen Figuren „die Trübung eines lebhaften Lichtes“, an der er Spiegel wie Glaskörper beteiligt sah. Dieser wurde auf besondere Weise hergestellt. Seebeck hatte herausgefunden, dass das schnelle Kühlen einer zuvor erhitzten Glasmasse zu ihrer intensiveren Erhärtung und einer unregelmäßigen, von Brüchen und Diskontinuitäten geprägten inneren Struktur führt, welche die Bildung regelmäßiger entoptischer Figuren überhaupt erst ermöglicht.460 Mit seiner Auffassung stellte sich Seebeck gegen Malus’ Erklärungsansatz des vierseitigen Lichtstrahls. Schnell konnte Seebeck ­Goethes Interesse an den entoptischen Erscheinungen wecken, da dieser nachdrücklich hoffte, seine Theorie der prismatischen Farberzeugung durch die seebeckischen Studien bestätigen zu können.461 Seine Experimente, die im Wesentlichen Seebecks Versuche wiederholten, beschrieb er nach einigen kürzeren Publikationen 1820 im einschlägigen Haupttext Entoptische Farben, der in den Heften Zur Naturwissenschaft überhaupt 462 veröffentlicht wurde. Wegen der mangelhaften natürlichen Sichtbarkeit der entoptischen Phänomene ist ­Goethe stärker als in seinen bisherigen Farbstudien auf deren instrumentelle Visualisierung angewiesen. Kritisiert er noch in der Erarbeitung der Farbenlehre an Newtons Versuchsmethode die Trennung von Subjekt und Natur durch künstliche Apparaturen

460 Vgl. Seebeck, Einige neue Versuche, a. a. O., besonders S. 291 (Zitate) und S. 294. Für die Entdeckung des speziellen Verfahrens der Glaszubereitung erhielt Seebeck neben David Brewster, dem der Nachweis der isochromatischen Kurven in Kristallen gelungen war, vom Institut de France die Hälfte des für das Jahr 1816 ausgesetzten Preises. Vgl. LA II.5B.2, S. 738 (Thomas Johann Seebeck an G ­ oethe am 28. März 1817). Die hier beschriebene Struktur des Glases wird heute als Spannungsdoppelbrechung bezeichnet. 461 „Ich bin überzeugt, daß die genauere Betrachtung der reflectirten Bilder uns über die Doppelbilder und über die prismatischen Farbensäume, welches auch nur Schattenbilder sind, den besten Aufschluß geben wird.“ WA IV,23, S. 246 – 247 (Briefkonzept ­Goethes an Thomas Johann Seebeck vom 15. Januar 1813). 462 Bereits im ersten, 1817 erschienenen Heft des ersten Bandes Zur Naturwissenschaft überhaupt ließ ­Goethe den 1813 in Erwiderung zu Pfaffs Angriff verfassten Aufsatz Doppelbilder des rhombischen Kalkspats und die 1817 entstandenen Elemente der entoptischen Farben publizieren. Beiden Schriften stellte er Seebecks Abhandlung Geschichte der entoptischen Farben voran. Vgl. G ­ oethe, Johann ­Wolfgang, Zur Naturwissenschaft überhaupt, Ersten Bandes erstes Heft, Stuttgart / Tübingen 1817, S.  11 – 32.

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

wie die Camera obscura, führen ihn die entoptischen Versuche ganz in die Nähe der newtonischen Experimentalphysik. Auch wenn ­Goethe am Beginn der beschriebenen entoptischen Versuchsreihe darauf insistiert, „alle dunkle Kammern, alle kleine Löchlein“ zu vermeiden 463 und im Verlauf der Darlegung immer wieder das unabdingbare Erfordernis des natürlichen Himmelslichts betont, zeigt er sich einer apparativen Sichtbarmachung gegenüber durchaus aufgeschlossen. Im ersten vorgestellten Experiment legt G ­ oethe bei niedrigem Sonnenstand und dem dadurch entstehenden polarisierten Himmelslicht eine quadratische doppelbrechende Glasplatte vor sich auf einen schwarzen Grund, während ihm die Sonne im Rücken steht. Hier sieht er durch Doppelbrechung und Reflexion des atmosphärischen polarisierten Lichts im Glas ein weißes Kreuz mit schwarzen Ecken. Wendet er sich und das Glas im rechten Winkel, verkehren sich die Phänomene in ihr Gegenteil. Unter dem Verweis auf die schwer zu erlangende natürliche Sichtbarkeit im ersten Versuch, die nur mit einiger Übung erzielt werden kann,464 greift G ­ oethe zu einer komplexeren Apparatur, in der er einen Glaskubus bzw. mehrere gestapelte Glasplatten in der gleichen Versuchskonstellation auf einen Schwarzspiegel stellt. Wegen der dadurch erzeugten zusätzlichen Lichtdämpfung sieht G ­ oethe die Kreuzerscheinung nicht nur deutlicher, sondern in den Glasecken auch die Farben des prismatischen Spektrums. Ein Apparat, der diese Wirkungsweise vereinfacht wiedergibt, befindet sich in der Naturwissenschaftlichen Sammlung des G ­ oethe-Nationalmuseums (vgl. Abb. 16). Die entoptischen Erscheinungen zeigen sich im Glaskörper, wenn der Apparat ungefähr waagerecht gegen das Himmelslicht gehalten wird. Im nächsten Schritt legt ­Goethe in den bereits beschriebenen Doppelspiegelapparat, der zwei Schwarzspiegel aufweist, einen schnell gekühlten Glaskörper (vgl. Abb. 17). In ihm ersetzt die Drehung des oberen Spiegels die Drehung des Betrachters und damit die Apparatur den Menschen. Die entoptischen Phänomene werden nicht im Glas, sondern im oberen Spiegelbild wahrgenommen. Diese Experimentalkonstellation ist auch die im Gedicht beschriebene. Apparativer Höhepunkt ist ein aus vier Spiegeln bestehender Apparat, der durch die komplexe Lichtdämpfung die entoptischen Figuren am deutlichsten zeigt (vgl. Abb. 18). Ein im unteren Teil befind­ licher horizontal angebrachter äußerer Spiegel leitet das Licht an einen schrägen inneren Spiegel neben ihm weiter. Über diesem ist der entoptische Kubus angebracht, auf den der Betrachter durch ein Sehrohr hinabblickt. In diesem sind statt des Okulars zwei Spiegel angebracht. Der eine nimmt das Bild von unten auf, der andere leitet es an das Betrachterauge weiter. Wird das Okular mit den beiden Spiegeln jeweils im rechten Winkel gedreht, verwandeln sich Farben und Kreuze wie beschrieben in ihr Gegenteil.465 ­Goethe betont, dass dieser „der bequemste und angenehmste“ Apparat sei, dass 463 LA I.8, S. 96 (Entoptische Farben). 464 Vgl. ebd., S. 97. 465 Diese Apparatur, die der Münchner Optiker Joseph Niggl fertigte, bekam ­Goethe vom Naturwissenschaftler J. S. C. Schweigger zum 69. Geburtstag geschenkt. Vgl. ebd., S. 116 – 118. Vgl. auch die

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

er die immer komplexer werdende Apparatur benötige, „um das Phänomen bequemer, auffallender und nach Willen öfter darstellen zu können“.466 Verzichten kann er auf die technische Visualisierung nicht, da wie beim wesentlich einfacher konstruierten Prisma die Hervorbringung der zu erforschenden Farben apparativ bedingt ist. G ­ oethes Verhältnis zur instrumentellen Verstärkung der Erscheinungen ist ambivalent. Scheint er im Text vor seiner Apparatefaszination zu erschrecken, wenn er der Beschreibung der vierten Apparatur eine Warnung folgen lässt, entschärft er diese zugleich selbst, da ihm die instrumentelle Unabdingbarkeit der entoptischen Erscheinungen bewusst ist: „Wie nahe wir durch unsern vierfach gesteigerten Apparat an den Punkt gekommen, wo das Instrument, anstatt das Geheimnis der Natur zu entwickeln, sie zum unauflöslichen Rätsel macht, möge doch jeder naturliebende Experimentator beherzigen. […] Es ist nichts dagegen zu sagen, daß man durch mechanische Vorrichtung sich in den Stand setze, gewisse Phänomene bequemer und auffallender nach Willen und Belieben vorzuzeigen; eigentliche Belehrung aber befördern sie nicht, ja, es gibt unnütze und schädliche Apparate, wodurch die Naturanschauung ganz verfinstert wird, worunter auch diejenigen gehören, welche das Phänomen teilweise oder außer Zusammenhang vorstellen. […]; da man aber hierüber nicht sprechen kann, ohne ins Polemische zu fallen, so darf davon bei unserm friedlichen Vortrag die Rede nicht sein.“ 467

Neben der instrumentellen Überhöhung des Blicks bricht ­Goethe noch in einem weiteren Punkt mit den Prinzipien seiner bisherigen Experimentalpraxis: In den entoptischen Versuchen desavouiert er seine explorative Experimentalmethode, in der er von den einfachen zu den komplexen Versuchsaufbauten schreitet bzw. umgekehrt komplizierte Experimentalkonstellationen Versuch für Versuch auf ihre elementaren Bestandteile zurückführt. Kritisiert er in einer 1792 verfassten Vorarbeit, „daß ein Versuch, ja mehrere Versuche in Verbindung nichts beweisen“,468 wenn sie willkürlich zusammengestellt sind, entwickelt er in den entoptischen Experimenten den kom­ plexeren Versuchsaufbau nicht stringent aus einem vorangegangenen einfacheren oder umgekehrt. Trotz ­Goethes Beteuerung, „die Stellung und Folge der Phänomene naturgemäß vorgetragen“ zu haben,469 setzt er die einzelnen Apparaturen in voneinander unabhängigen Experimenten ein. Wie Thomas Nickol nachweist, benutzte ­Goethe den Doppelspiegelapparat bereits 1815, den einfacheren Versuch mit dem zweiten Apparat führte er hingegen erst 1817 durch.470 Die stringente experimentalmethodische Ordnung Erklärungen von Thomas Nickol zur technischen Funktionsweise dieser Apparaturen in LA II.5B.2, S. 1528 sowie in LA II.5B.1, S. XCVI – C. 466 LA I.8, in der Reihenfolge der Zitate S. 116 und S. 117 (Entoptische Farben). 467 Ebd., S. 118. 468 LA I.3, S. 290 (Der Versuch als Vermittler). 469 LA I.8, S. 136 (Entoptische Farben). 470 Vgl. LA II.5B.2, S. 1495 und S. 1508.

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

vom einfachen zum komplexen Versuchsaufbau erzeugt er allein im Text Entoptische Farben durch den Akt der Niederschrift. Auch stellt ­Goethe die in den doppelbrechenden Kristallen erzeugten Farben nicht an den Anfang dieser Schrift, um – wie im Aufsatz Das reine Phänomen experimentalmethodisch empfohlen – die natürliche Farberzeugung zwecks besserer Beobachtbarkeit im Nachhinein durch die experimentelle zu ersetzen. Die Farbentwicklung in diesen Kristallen beschreibt er erst zwischen der Vorstellung des dritten und des vierten Apparates.471 Aus den entoptischen Versuchen zieht ­Goethe folgende Erkenntnisse: Die Farben werden vom Himmelslicht im trüben entoptischen Mittel erzeugt. Durch die mehrmalige Lichtdämpfung der Schwarzspiegel erscheinen die entoptischen wie die prismatischen Farben selbst als ein Produkt aus Licht und Schatten. Indem ­Goethe immer wieder betont, dass das Licht als direkt oder schräg einfallender Widerschein wirkt, verlegt er die gesetzliche Begründung selbst auf die phänomenale Ebene und verwirft ebenso wie Seebeck Malus’  Vier-Seiten-Theorie des Lichts. Die Eigenschaft der Figurenbildung – so erkennt ­Goethe in Anlehnung an Seebeck – erhält sich bei der Teilung des Glases in kleinere Stücke, so dass die Totalität der entoptischen Phänomene empirisch gewahrt bleibt.472 Die naturphilosophische Identität von Mikro- und Makrokosmos sieht G ­ oethe darin bestätigt, dass die innere Struktur der doppelbrechenden Kristalle der äußeren der Doppelspiegelapparatur entspricht. Damit definiert er apparative Konstellationen als Bewertungsmaßstab für die Vorgänge in unbelebten Naturphänomenen: „Die Glimmerblätter haben von der Natur den Spiegelungs-Apparat in sich und zugleich die Fähigkeit entoptische Farben hervorzubringen; deshalb ist es so bequem als lehrreich sie mit unseren künstlichen Vorrichtungen zu verbinden.“ 473 Diese Innen-AußenEntsprechung der entoptischen Versuche wird Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der bei zahlreichen Versuchen Seebecks zugegen war, später im zweiten Teil seiner Enzy­ klopädie der philosophischen Wissenschaften als programmatisches Beispiel für „den Übergang eines äußerlich gesetzten Verhältnisses zu dessen Form als innerlich wirksamer Bestimmtheit“ anführen.474 471 Vgl. LA I.8, S. 108 – 116 (Entoptische Farben). 472 Vgl. ebd., S. 100, 108 und S. 120. 473 Ebd., S. 109. 474 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zum Gebrauch seiner Vorlesungen (1830), Hamburg 1991, S. 262. Die Erstausgabe erschien 1817. Hegel hatte 1811 in Nürnberg an Seebecks Experimenten teilgenommen und die Entdeckung der entoptischen Farben verfolgt. Vgl. LA II.5B.1, S. 145. Das Polaritätsprinzip der Farbentstehung zwischen Hell und Dunkel betrachtete Hegel als visualisiertes Prinzip seiner dialektischen Methode, die den Widerspruch von These und Antithese in einer höherentwickelten Synthese aufhebt. In der Erstausgabe der Enzyklopädie setzt er diese Methode in direkten Bezug zu ­Goethes Theorie der Farbentstehung: „Das Licht verhält sich als allgemeine Identität […] zur concreten Materie als ein Aeusseres und Anderes, als zu einem Dunkeln; diese Berührung und äusserliche Trübung des einen durch das andere ist die Farbe.“ Ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

Gezielt beschäftigt sich G ­ oethe mit der inneren Struktur des schnell gehärteten Glases, kann jedoch wegen ihrer mangelhaften Sichtbarkeit nur in Spekulationen verfallen. Er, der arbiträre physikalische Modelle als reine, wirklichkeitsunabhängige Verstandesprodukte verschmäht, greift nun aus Veranschaulichungsgründen auf die Undulationstheorie zurück. Ohne jeglichen empirischen Beweis erklärt er das trübe Mittel als von Hemmungspunkten und -linien und zwischen ihnen befindlichen freien Räumen durchzogen – von zahlreichen Brüchen im Kontinuum, die aus ihrem Chaos zwei große Differenzen: die Polarität der Farben und der nichtfarbigen weißen und schwarzen Kreuze bilden.475 In diesen Experimenten kann ein und dieselbe Stelle des Glases figurenbildend oder -aufhebend wirken – je nach Lichteinfall bzw. Spiegelstellung. Durch die innere Struktur des Trüben aktualisieren sich die unterschiedlichen Figuren, verweisen jedoch zugleich auf andere virtuell in ihm enthaltene Möglichkeiten. Dafür steht ­Goethes Aussage, in den Achtelsregionen ein Schwanken zu bemerken, das auf eine regelmäßige Gestalt schließen lasse.476 Realität und Text differieren jedoch auch hier voneinander: Der Unabdingbarkeit einer komplex-apparativen Sichtbarmachung zum Trotz beschreibt ­Goethe die Farben als sich aktiv selbst generierende Wesen, denen eine gewisse Prozessualität innewohnt: Gleichsam aus den Ecken des Würfels, in den Pfauenaugen, den „Quellpunkte[n] […], die sich aus sich selbst entfalten, sich erweitern, sich gegen die Mitte des Quadrats hindrängen, erst bestimmtere Kreuze, dann Kreuz nach Kreuzen […] vielfach hervorbringen“,477 sucht sich die Farbe ihre Sichtbarkeit. Nicht die Abstraktion im Gegenständlichen, die er in seinen prismatischen Versuchen durch die explorative Methode erlangt, sondern allein die Schönheit der klassizistisch-ausgewogen anmutenden Erscheinungen dient ihm hier als Beweismittel für seine Theorie der Farbentstehung zwischen Hell und Dunkel, die er metaphorisch ausschmückt: „Dieses neu entdeckte Phänomen scheint das Grundphänomen von allen übrigen zu sein, die bei Gelegenheit der Brechung, Widerstrahlung, Druck, Hauch pp., unter die physischen

im Grundrisse (1817), Hamburg 2000 (= ders., Gesammelte Werke, hg. v. Wolfgang Bonsiepen und Klaus Grotsch, Bd. 13), S. 135. 475 Vgl. LA I.8, S. 120 (Entoptische Farben). 476 Vgl. ebd., S. 98. Hier liegen Bezüge zu Niklas Luhmanns Medium-Form-Dualität auf der Hand, mit der er die aus seiner Sicht systemtheoretisch unzureichende Figur der Übertragung ersetzt. Indem Luhmann die Formen als aktualisierte feste Kopplungen von virtuellen losen Kopplungen beschreibt, definiert er das System als etwas Prozessuales, das ausschließlich aus seiner immanenten Organisation heraus erklärt werden kann. Für den Betrachter ist das Medium nur an den Formen, nicht aber an sich selbst beobachtbar. Vgl. Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998, S. 165. Vgl. ders., Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, S. 168 und S. 171. Vgl. hierzu auch die auf unterschiedliche autopoietische Systeme um 1800 angewandte Interpretation Luhmanns von Vogl, Joseph, Romantische Wissenschaft, in: Brauns, Jörg (Hg.), Form und Medium, Weimar 2002, S. 57 – 70, hier S. 57 – 58. 477 LA I.8, S. 104 (Entoptische Farben).

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

Farben gezählt werden. Denn wo könnte sich die Farbenerscheinung ursprünglich schöner manifestieren als in dem durchsichtigen Glase, das als Körper der Nacht, der Schwere, dem Irdischen, als durchsichtig dem Lichte, der Leichtigkeit, dem Himmlischen sich gleichstellt.“ 478

Noch immer hegte ­Goethe die Hoffnung, die physikalische Fachwelt von der Richtigkeit seiner Farbentheorie zu überzeugen. Davon zeugt besonders der kämpferische Ton der Briefe, die er während seiner entoptischen Studien schrieb, wofür exemplarisch folgender Auszug angeführt sei: „Ich hielt aber nicht einen Aal beim Schwanze, sondern einen Drachen am Kragen, und würgte ihn so lange, bis er sich ergeben mußte. Nun ist die Auflösung des Rätsels so unendlich einfach, daß man sich selbst absurd findet, es nicht gleich erraten zu haben.“ 479 Hinter dem sich hier explizierenden Bestreben steht ­Goethes Ansicht, dass alle anderen chromatischen Erscheinungen, besonders die Prismenfarben, auf den entoptischen Phänomenen beruhen würden, womit er das Komplexe als Basis der wesentlich leichter zu erzeugenden Brechungsphänomene bestimmt. In dieser „Beweisführung“ fungiert das entoptische Instrument nicht als Entdeckungsmittel wie in ­Goethes vorbereitenden Versuchen zur Farbenlehre, sondern als Bestätigungsmittel eines vorausgesetzten, bereits gesicherten Wissens. Darin ist sicherlich der Grund für G ­ oethes oben beschriebene inkonsequente Anwendung der explorativen Versuchsmethode zu finden. Da die schwarzen und weißen Kreuze sowie die Farben bei entsprechender Positionsänderung der Spiegel in ihr Komplement umschlagen, postuliert ­Goethe unter naturphilosophischer Prämisse das bereits in der Farbenlehre herausgestellte Polaritätsprinzip als gemeinsames Merkmal von prismatischen und entoptischen Farben. Diese auf dem reinen Augenschein der Phänomene basierende Argumentation sollte ­Goethe bald als einziges „Beweismittel“ gegen den ihn angreifenden Naturwissenschaftler Christoph Heinrich Pfaff dienen. Pfaff hatte fälschlicherweise behauptet, dass nur die bei Doppelbrechung im Kalkspat entstehenden außerordentlichen Bilder Farben aufweisen, nicht aber der ordentlich gebrochene Lichtstrahl. Seebeck bemühte sich, diese Behauptung zu entschärfen, indem er nach zahlreichen Versuchen mit doppelbrechenden Kristallen für Prismen-, epoptische (auf Oberflächen von Körpern erzeugte Farben) und entoptische Farben ohne fundierte Erklärung im Sinne ­Goethes postulierte, sie „folgen dem Gesetz, nach welchem überhaupt in allen parallelen durchsichtigen Körpern Farbensäume entstehen“.480 Nach zahlreichen 1815 mit der Doppelspiegelapparatur durchgeführten Experimenten und auch später gelang G ­ oethe die physikalisch-empirische Beweissicherung dieses Postulats nicht. Um das Polaritätsprinzip zu retten, nahm er selbst ungesicherte Behauptungen in seine Argumentationen auf. Erkennt G ­ oethe noch in 478 LA II.5B.1, S. 549 (­Goethe an Thomas Johann Seebeck am 13. April 1813). 479 WA IV,28, S. 121 (­Goethe an seinen Sohn August von ­Goethe am 5. Juni 1817). 480 Vgl. Pfaff, Ueber die farbigen Säume der Nebenbilder, a. a. O., S. 194 – 197, Zitat LA II.5B.1, S. 566 (Thomas Johann Seebeck an G ­ oethe am 31. März 1814).

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

der 1817 entstandenen kurzen Schrift Entoptische Farben, dass in der zweiten Apparatur bei Kulmination der Mittagssonne zur Zeit der Sommersonnenwende der Horizont das weiße Kreuz bewirkt, die Stellen, an denen das schwarze erscheinen soll, jedoch schwankend sind, macht er aus dieser Unsicherheit im Haupttext eine Gewissheit, wenn er schreibt: „ein unsichtbarer Kreis obliquen Lichts […], den wir nur dadurch gewahr werden daß dessen Abglanz im Kubus das schwarze Kreuz hervorbringt“.481 In den Schwierigkeiten, die ­Goethe mit der physikalischen Erklärung hatte, und seinem ambivalenten Verhältnis zur Apparatur liegt sicherlich der Grund für die mangelhafte didaktische Aufbereitung der entoptischen Farben. Ausgehend von der ihnen zugewiesenen Bedeutung als Basisphänomen der Farberzeugung, verfolgt G ­ oethe mit ihrer Beschreibung das Ziel, die gesamte Farbenlehre „[…] endlich einmal methodisch vor Augen […]“ 482 zu stellen. Doch erweist sich bereits der diskursive Ort der entoptischen Phänomene im Gesamtwerk der Farbenlehre als unscharf. G ­ oethe konzipierte die Beschreibung der entoptischen Phänomene im Nachhinein als letzten Teil der Physischen Farben und wollte sie zwischen deren vorletzten Teil, die Epoptischen Farben, und die nächste Abteilung der Chemischen Farben gesetzt wissen. Damit bescheinigte er der einst schriftlich generierten Phänomenreihe post scriptum eine Lücke, die er allerdings durch die nicht angepasste Nummerierung der Entoptischen Farben in römischen Ziffern weiterhin offenließ.483 Auf deren geplante textliche Positionierung durch ­Goethe verweist der Begriff entoptisch selbst, den Georg Wilhelm Friedrich Hegel prägte. Er empfand diese Bezeichnung nach eigener Aussage dem Begriff epoptisch nach.484 Am Ende der Schrift Entoptische Farben betrachtet ­Goethe diese jedoch den übergeordneten Rubriken der Physiologischen, Physischen und Chemischen Farben als ebenbürtig.485 Wollte er im ersten Sturm der Begeisterung die gesamte Abteilung der Physischen Farben umschreiben, wurde später lediglich ein eigenständiges Supplementkapitel daraus. Ebenso wenig tragen die schriftlichen Erläuterungen zur Veranschaulichung der Phänomene bei. ­Goethes Aufsatz Entoptische Farben unterscheidet sich in diesem Punkt wesentlich vom didaktischen Teil der Farbenlehre, in dem zahlreiche Versuche so klar und gedanklich nachvollziehbar beschrieben sind, dass das Mitexperimentieren obsolet wird. Erschwerend kommt hinzu, dass die komplexe Apparatur, welche die Phänomene am anschaulichsten vor Augen führt, nicht vom Laien nachgebaut werden kann, sondern lediglich von Fachleuten, wie ­Goethe selbst eingestehen muss. Den Bau 481 LA I.8, S. 101 (Entoptische Farben). Zum gesamten Absatz vgl. LA I.8, S. 45 (Entoptische Farben) sowie LA II.5B.2, S. 1502. 482 LA I.8, S. 135 (Entoptische Farben). 483 Den Text des didaktischen Teils der Farbenlehre teilte ­Goethe in Paragraphen ein. 484 „[…] daß im ganz wasserklaren Spat sich dasselbe zeigt, wie auch bei den entoptischen Figuren (ein Name, den ich mich freue, daß Sie ihn, wie ich ihn dem epoptischen nachgräzisiert habe, gelten lassen) […].“ LA II.5B.1, S. 777 (Georg Wilhelm Friedrich Hegel an ­Goethe am 20. Juli 1817). 485 Vgl. LA I.8, S. 135 (Entoptische Farben).

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

des zweiten Apparates empfiehlt er jedoch „als heiteres Spielzeug“ 486 für jeden. G ­ oethe, der diese didaktischen Mängel durchaus erkennt, beabsichtigte, später eine zweite, die erste kommentierende Erläuterung zu schreiben, die er allerdings schuldig blieb. Das ihm bewusste Ungenügen seiner Erklärungen versucht G ­ oethe, durch ein Übermaß an Analogien zu kompensieren, um die entoptischen Phänomene für den Laien zu veranschaulichen. Als Christian von Buttel, Regierungsrat in Jever, ­Goethe 1827 auf die unbefriedigende Herleitung der Kantenspektren aus den entoptischen Erscheinungen hinwies, benutzte ­Goethe die Analogie selbst als Ausweichmanöver, um von der unzureichenden empirischen Erklärung abzulenken: „[…] wie ein reines Anschauen uns vollkommen überzeugt und beruhigt, so bedienen wir uns der Analogie, um uns selbst und andere einstweilen zu überreden und zu beschwichtigen.“ 487 Das Mittel der Analogie wird hier selbst in Analogie zur Anschauung gesetzt. Aufgrund ihres Verbildlichungscharakters akzeptiert ­Goethe selbst die der Analogie inhärente Willkür: „Erfahrungen werden sich aneinander schließen, die man als unzusammenhängend bisher betrachtet und vielleicht mit einzelnen hypothetischen Erklärungsweisen vergebens begreiflicher zu machen gesucht.“ 488 Die Verbildlichungsfunktion der Analogie nutzt G ­ oethe auf unterschiedliche Weise: Er vergleicht den direkten und schrägen Widerschein mit astrologischen Konstellationen und die entoptischen Erscheinungen mit den chladnischen Klangfiguren.489 In einer tabellarischen Aufstellung arbeitet ­Goethe Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen diesen und den entoptischen Phänomenen heraus, wobei sein Vergleich einer Verschiebung unterliegt. Zeigt er diese Erscheinungen wie Seebeck als durch Schwingungen und schnelle Glaskühlung entstandene auf, bezieht er sich damit nicht auf die Figuren selbst, sondern auf die Struktur des trüben Mittels.490 Während bei Chladnis Klangfiguren Erzeugung und Visualisierung identisch sind, wird die entoptische Figurenbildung erst durch die bereits vorab entstandene innere Glasstruktur ermöglicht. Beschreibt ­Goethe zwar die Konsistenz des trüben, schnell gehärteten Glases – der eigentlichen Bedingung für die Erzeugung entoptischer Figuren – misst er dieser an anderer Stelle nur eine untergeordnete Bedeutung für die Farbentstehung bei. Dafür wertet er die Form des trüben Glases um so höher. Geht er noch in der Farbenlehre davon aus, dass die Farbe den Raum ersetzt, macht er nun die Gestaltbildung der entoptischen Figuren von der individuellen Form des Glaskörpers abhängig. Dieser beeinflusst jedoch lediglich die konkrete Ausprägung der Figuren, nicht aber ihre generelle Struktur aus Kreuz und Pfauenaugen: „Um vorerst das Allgemeinste auszusprechen, 486 Ebd. 487 WA IV,42, S. 167 (­Goethe an Christian Dietrich von Buttel am 9. Mai 1827). 488 LA I.8, S. 122 (Entoptische Farben). 489 Vgl. ebd., S. 122 – 123, 125 – 126 und S. 128 – 129. 490 Vgl. ebd., S. 122 – 123.

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so läßt sich sagen, daß wir Gestalten erblicken, von gewissen Farben begleitet, und wieder Farben an gewisse Gestalten gebunden, welche sich aber beiderseits nach der Form des Körpers richten müssen.“ 491 Der noch in der Farbenlehre postulierte Vorrang der Farbe vor der Form weicht hier einer Hierarchie, in welcher der dreidimensionale Körper die entscheidende Definitionsmacht über die entoptische Figurenbildung besitzt. Damit bescheinigt G ­ oethe in seinen späten Koloritstudien dem Raum explizit eine eigenständige erkenntnistheoretische Bedeutung. Besitzt die dem entoptischen Mittel zugesprochene Trübe wie die zu dieser zählenden Prismen und Linsen der Refraktionsexperimente phänomenal eine enträum­lichende Wirkung, beachtet G ­ oethe diese nicht. In der o. g. Tabelle charakterisiert er die entoptischen Farben anders als Chladnis Klangfiguren der Oberfläche im Superlativ „als innerlichst“.492 An anderer Stelle definiert er mit dem Begriff entoptisch, der im Gedicht „zum Zeichen“ für die tiefe Durchdringung des Kristalls wird, Phänomene, die „innerhalb gewisser Körper zu schauen sind“.493 Der Raum erscheint bei ­Goethe genau in der Zeit in einer eigenen Funktion, in der die Sinnesphysiologie die Bühne der Wissenschaft betritt. Sie gibt dem Phänomen der Farbe eine neue wissensspezifische Legitimation, indem sie nicht mehr in den Versuchsaufbauten der geometrischen Optik, sondern in der Physiologie des Auges nach den Entstehungsbedingungen der Farben sucht. Neben Schopenhauers philosophisch inspirierter Erforschung der Farbentwicklung des Auges sind es besonders die Gründerväter der Sinnesphysiologie Johann E. Purkinje und Johannes Müller, welche die physiologische Farbentwicklung differenziert untersuchen. Zur Entstehungszeit von ­Goethes Aufsatz Entoptische Farben sind Schopenhauers und Purkinjes erste einschlägige Schriften bereits erschienen.494 Die in jener Zeit einsetzende Umstrukturierung im Konzept der optischen Wahrnehmung verschiebt ­Goethes Bemühungen, im Perzeptionsvorgang die primäre Sinnesqualität des Raums durch die sekundäre Sinnesqualität der Farbe zu ersetzen, ins Reich des Historischen. Beide Qualitäten, die im Empirismus als Eigenschaften äußerer Objekte aufgefasst wurden, werden von Purkinje und später von Müller gleichermaßen als physiologisch bedingte angesehen, womit ihre Unterscheidung obsolet wird. Obwohl ­Goethe in den entoptischen Studien den räumlichen Aspekt des trüben Mittels thematisiert, belässt er wie in der Farbenlehre den empirischen Innenraum des Auges nach wie vor im Dunkeln – ein Vorgehen, das wiederum als Beweis für die schrittweise Um- und Neubildung wissenschaftlicher Theorien gedeutet werden kann. Wie in den Studien der physiologischen Farben bedient ­Goethe sich wiederum einer Verbildlichungsstrategie. Diese macht er allerdings nicht morphologisch an den vom 491 Ebd., S. 103. 492 Ebd., S. 123. 493 Ebd., S. 95. 494 Zu ­Goethes Verhältnis zu den Vertretern der frühen Sinnesphysiologie vgl. ausführlich Teil 4 dieser Arbeit.

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

Auge erzeugten Phänomenen fest, sondern an einer Analogienbildung, die sich einmal mehr auf die Universalität des Polaritätsprinzips richtet: „Nun müssen wir aber auch der physiologischen [Farben – S. Sch.] gedenken welche hier in vollkommener Kraft und Schönheit hervortreten. Hieran finden wir abermals ein herr­liches Beispiel daß alles im Universum zusammenhängt, sich auf einander bezieht, einander antwortet. Was in der Atmosphäre vorgeht begibt sich gleichfalls in des Menschen Auge, und der entoptische Gegensatz ist auch der physiologe.“ 495

Diesem Ansatz entsprechend, begreift G ­ oethe die entoptischen Phänomene als Visualisierungsmittel der inneren Vorgänge des Auges. Damit verleiht er diesen physika­ lischen Erscheinungen eine neue, eine Repräsentationsfunktion. Noch in den physiologischen und subjektiven physikalischen Versuchen der Farbenlehre änderte ein aktives Sehorgan die Bilder der Außenwelt eigenständig in lebendigem Zusammenwirken mit ihnen – empirische Verhältnisse, die G ­ oethe ikonographisch in einer Hierarchie der äußeren, gegebenen primären und subjektiv erzeugten sekundären Bilder beschreibt. In dem den Polarisationsversuchen beigemessenen Analogieprinzip hingegen tritt das Auge in ein arbiträres semiotisches Verhältnis zum entoptischen Bild, ist – entgegen ­Goethes obiger Aussage – ein empirischer Zusammenhang nicht gegeben, entkoppelt sich die Repräsentationsebene von den natürlichen Phänomenen. In seiner Repräsentationsaufgabe fungiert das entoptische Medium als eine Organprojektion im Sinne Ernst Kapps. In seinen 1877 erschienenen Grundlinien einer Philo­ sophie der Technik beschreibt Kapp alle Kulturmittel als Organprojektionen. In seiner anthropozentrischen Herangehensweise fasst er – wie G ­ oethe – den Menschen als Maß aller Dinge auf und bezeichnet jene Übertragungen in interferierenden physikalischen und physiologischen Metaphern als „ein Spiegel- und Nachbild“ des Innern des Menschen, der „einen Theil von sich, vor seine Augen gestellt erblickt“.496 Indem Kapp den lebenden Organismus allerdings durchgängig in seinem Verhältnis zu den Werkzeugen betrachtet, denkt er diesen selbst nach apparativen Vollzügen.497 Auch bei ­Goethe eröffnet die Funktion des trüben Mittels als Organprojektion eine andere Lesart als die von ihm beabsichtigte der Mikro-Makrokosmos-Analogie. Bezieht er in o. a. Zitat das atmosphärische Mittel, sprich: das Himmelslicht, auf das Auge („Was in der Atmosphäre vorgeht begibt sich gleichfalls in des Menschen Auge“), können die entoptischen Erscheinungen nur durch dessen apparative Umformung erzeugt werden. Hier wählt G ­ oethe genau wie Kapp den erkenntnistheoretischen Weg von der apparativen Konstellation zum Organ. 495 LA I.8, S. 121 (Entoptische Farben). 496 Kapp, Ernst, Grundlinien einer Philosophie der Technik, Düsseldorf 1978 (= Photomechanischer Nachdruck der Erstausgabe Braunschweig 1877), S. 25 – 26. 497 Vgl. hierzu auch die Interpretation von Hoffmann, Unter Beobachtung, a. a. O., S. 268.

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In G ­ oethes entoptischen Experimenten gleicht sich das trübe Medium nicht unmittelbar der Funktion des Auges an, um der direkten Verstärkung seiner Funktion zu dienen wie die Linsen und Prismen der Refraktionsversuche. Die Farben erscheinen nur durch das Zusammenwirken von trübem Mittel und Apparatur. Visualisierung, Sichtbarkeit und Sehen sind in den entoptischen Versuchen in einer paradoxen Struktur miteinander verwoben, worauf bereits das Ineinanderwirken des natürlichen Blicks und der entoptischen Pfauenaugen im eingangs beschriebenen Gedicht verweist. Die Tätigkeit des Auges muss wegen der mangelhaften Visualität der entoptischen Farben apparativ überformt werden, um wiederum in deren ästhetischen Erscheinungen die physiologischen Prozesse des Sehorgans verbildlicht finden zu können. Erst die funktionale Entwertung des Auges durch die Apparatur ist Voraussetzung für die Veranschaulichung der vom Körper erzeugten Farben. Im Sieg der Wirkungsästhetik der Farben über die Herrschaft des natürlichen Sehens lassen ­Goethes entoptische Studien Anklänge an die griechische Sagenwelt erkennen: Der hundertäugige Argus, der die in eine Kuh verwandelte Io im Auftrag der Göttermutter Hera bewacht, wird auf Geheiß des Göttervaters Zeus, der Io liebt, von Hermes überlistet und getötet. Nachdem sich seine zahlreichen „empirischen“ Sehorgane geschlossen haben, versetzt Hera sie an die Schwanzfedern des Pfaus.498 In seiner erkenntnistheoretischen Metaphorik orientiert ­Goethe ebenfalls stärker auf das Apparative als zuvor. Noch in einer Vorarbeit zur Farbenlehre betrachtete er das Auge – wie bereits dargelegt – metaphorisch als Doppelspiegel, der durch die Verbindung von Körperinnerem und -äußerem die Totalität der Welt vollendet, womit er bereits das Organ im Verhältnis zum Instrument dachte. Später überhöht er ausschließlich die wiederholten Spiegelungen der entoptischen Apparatur zum Symbol der Welterkenntnis schlechthin: „Bedenkt man nun, daß wiederholte sittliche Spiegelungen das Vergangene nicht allein lebendig erhalten, sondern sogar zu einem höheren Leben empor steigern, so wird man der entoptischen Erscheinungen gedenken, welche gleichfalls von Spiegel zu Spiegel nicht etwa verbleichen, sondern sich erst recht entzünden, und man wird ein Symbol gewinnen dessen, was in der Geschichte der Künste und Wissenschaften, der Kirche, auch wohl der politischen Welt sich mehrmals wiederholt hat und noch täglich wiederholt.“ 499

498 Vgl. Schwab, Gustav, Sagen des klassischen Altertums, Frankfurt am Main / Leipzig 2001, S. 20 – 26. 499 ­Goethe, Johann Wolfgang, zit. n. Brednow, Walter, Spiegel, Doppelspiegel und Spiegelungen – Eine „wunderliche Symbolik“ G ­ oethes, Berlin 1976 (= Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse, Bd. 112, H. 1), S. 4 – 5. Diese Äußerung traf ­Goethe nach der Rezeption der Reisebeschreibung Wallfahrt nach Sesenheim, in welcher der Altertumsforscher August Ferdinand Näke 1822 seine Eindrücke jener Gegend unter Bezugnahme auf die in ­Goethes Dichtung und Wahrheit geschilderten Erlebnisse festhielt.

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

Auch wenn Goethe nicht eigenständig in der Materialität und Physiologie des Auges nach einem empirischen Beweis dafür sucht, dass der Sehvorgang selbst ein Spiegeln ist, zeigt er großes Interesse an den einschlägigen Arbeiten anderer, z. B. des preußischen Ministerialbeamten C. L. F. Schultz, einem Anhänger seiner Farbenlehre.500 Während seiner entoptischen Studien tauschte sich Goethe intensiv mit ihm über dessen Unter­ suchungen zur physiologischen Farberzeugung aus. Auf Anregung Goethes hielt Schultz seine Erkenntnisse 1814 im Aufsatz Über physiologe Gesichts- und Farbenerscheinungen fest. In seiner Schrift überträgt er Goethes physikalische Theorie der Farbentstehung im trüben Mittel auf das Auge. In diesem Kontext erklärt Schultz das Raumempfinden des Menschen über die Wahrnehmung von Licht, Schatten und Farben und beschreibt das Sehen selbst als ein Spiegeln, dessen nähere empirische Untersuchung noch ausstehe. Nach wohlwollender Aufnahme und Revision der gesamten Schrift durch Goethe, die auf dessen intensive Beschäftigung mit der Anatomie des Auges schließen lässt, entwirft Schultz 1817 einen zweiten gleichnamigen Aufsatz – noch immer ohne physiologische Erklärung für den Spiegelungsvorgang des Sehens. Erst nach Goethes Hinweis, dass nicht die Netzhaut, sondern die Choroidea (Aderhaut) das wahrnehmungsvermittelnde Organ sei, bemüht sich Schultz in der 1821 verfassten Schrift Über physiologe Farbenerscheinungen insbesondere das phosphorische Augenlicht, als Quelle derselben, betreffend um eine empirische Beweisführung. Er beschreibt das Sehen als einen Spiegelungsvorgang, in dem die äußeren, ins Auge gelangten Bilder von der Oberfläche der Choroidea aufgenommen und auf die Retina zurückgeworfen werden. Die Fähigkeit zur Reflexion sieht Schultz u.a. in einer phosphorischen Substanz der Choroidea begründet. Diese physiologische Erklärung des Sehvorgangs ist aus heutiger Sicht keineswegs haltbar. Angetan von der gesamten Arbeit, lässt Goethe sie 1823 im ersten Heft des zweiten Bandes Zur Naturwissenschaft überhaupt publizieren.501 Benutzte ­Goethe den von Hegel geprägten Begriff entoptisch ausschließlich für die bei Polarisationsvorgängen entstehenden Farben, wird diese Bezeichnung heute als medizinischer Terminus gebraucht. Impulsgebend auf diese Bedeutungsverschiebung wirkte Johann E. Purkinjes Promotionsschrift Beiträge zur Kenntniss des Sehens in subjectiver Hinsicht, die ein Jahr vor G ­ oethes Aufsatz Entoptische Farben entstand 500 Schultz setzte sich sehr für die Verbreitung von Goethes Farbenlehre an der Universität Berlin ein. Er unterstützte den Hegel-Schüler Leopold von Henning bei seinen Vorlesungen zu Goethes Farbentheorie, in denen auch Goethes entoptische Experimente vor- und nachgestellt wurden. Vgl. dazu ausführlich Müller-Tamm, Jutta, Farbe bekennen. Goethes Farbenlehre und die Berliner Wissenschaftspolitik um 1820, in: Osterkamp, Ernst (Hg.), Wechselwirkungen. Kunst und Wissenschaft in Berlin und Weimar im Zeichen Goethes, Bern u.a. 2002, S. 193 – 209, besonders S. 193 – 200. 501 In der Reihenfolge der indirekten Zitate vgl. LA II.5B.1, S. 73 – 86, besonders S. 78, S. 148 – 155, besonders S. 151 sowie LA I.8, S. 296 – 304, besonders S. 297 (Schultz, Über physiologe Far­ benerscheinungen insbesondere das phosphorische Augenlicht, als Quelle derselben, betreffend) und LA II.5B.2, S. 1636 – 1640. Auch den oben erstgenannten Aufsatz ließ Goethe veröffent­ lichen – in Schweiggers Journal für Chemie und Physik 6 (1816).

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und sich in starkem Maße auf dessen frühere physiologische Farbstudien bezog. In seinem Werk beschreibt der tschechische Mediziner und Sinnesphysiologe Purkinje unter anderen eine Figur, die wie zwei aufeinander liegende, um 45° gegeneinander versetzte entoptische Kreuze wirkt, die er jedoch anders als ­Goethe als physiologisch bedingte erklärt. Es ist die Figur des Achtstrahls, die das geschlossene Auge bei einer bestimmten Position zur Lichtquelle und einer vor ihm hin und her bewegten Hand erzeugt (vgl. Abb. 19).502 Spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Bedeutung des Begriffs entoptisch endgültig in den Bereich der Sinnesphysiologie verschoben.503 Die Bezeichnung wird heute für diejenigen Vorgänge im Augeninneren verwendet, die der Mensch durch einen bestimmten Lichteinfall auf das Sehorgan als äußere Erscheinung wahrnimmt, so dass die Grenze zwischen Körperinnerem und äußerer Umgebung verschwimmt. Auf diese Weise wurde G ­ oethes „entoptische“ Argumentationsrichtung vom Objektiven zum Subjektiven in ihr Gegenteil verkehrt. Konzipiert ­Goethe in seinen gesamten Farbstudien das Auge als Erkenntnisorgan für Naturwissenschaftler und Künstler gleichermaßen, untermauert er auf materieller Ebene seine Strategie damit, dass er die Anwendung des entoptischen zweiten Apparates nicht nur den Physikern, sondern auch den Malern empfiehlt. Diesen soll er als Messgerät der Lichtverhältnisse im Atelier dienen, deren Optimum sie an den hellen und dunklen Kreuzen ablesen können: „Zur Mittagszeit, wenn der Künstler seine Gegenstände am besten beleuchtet sah, gab der nördliche direkte Widerschein das weiße Kreuz, in Morgen- und Abendstunden hingegen, wo ihm das widerwärtige obliquierte Licht beschwerlich fiel, zeigte der Kubus das schwarze Kreuz, in der Zwischenzeit erfolgten die Übergänge. Unser Künstler also hatte mit zartem geübten Sinn eine der wichtigsten Naturwirkungen entdeckt, ohne sich davon Rechenschaft zu geben. Der Physiker kommt ihm entgegen und zeigt, wie das Besondere auf dem Allgemeinen ruhe.“ 504

Auf lyrischer Ebene spiegelt sich G ­ oethes ästhetischer Zugriff auf die Phänomene in der Bedeutung wider, die er den menschlichen Erkenntniskräften im eingangs zitierten Gedicht Entoptische Farben verleiht. In der ersten und letzten Strophe, denjenigen also, die sich explizit an die Malerin Julie von Egloffstein richten, setzt G ­ oethe gegen die rational-analytische Erklärung der Physiker, die „sich mit Gedanken quälen“ die selbstredenden Naturgesetze, die er im Superlativ der „lieben kleinen Welten“, die „wirklich Herrlichstes enthalten“ emotional überhöht darstellt. Nicht die Denkgebäude der Wissenschaftler, sondern das ästhetische Empfinden jener „allerschönsten 502 Vgl. Purkinje, Johann, Beiträge zur Kenntniss des Sehens in subjectiver Hinsicht, Prag 1819, S. 18. 503 In der zweiten Auflage von Helmholtz’ Handbuch der physiologischen Optik erscheint der Begriff entoptisch bereits in seiner heutigen Bedeutung. Vgl. Helmholtz, Hermann von, Handbuch der physiologischen Optik, Hamburg / Leipzig 1896, Register, S. 979. 504 LA I.8, S. 132 (Entoptische Farben).

3.6  Der Körper als Schau-Platz des Experiments

Farbenspiele“ gilt ­Goethe als Maßstab der Erkenntnis. Spricht er sich – wie in Kapitel 2.3 gezeigt – gegen Brillen und optische Vergrößerungsinstrumente aus, die das Betrachtete aus ihrem Kontext reißen, ist ihm die Potenzierung von Farbreizen zu Erkenntniszwecken durchaus willkommen. Mit dem Verweis der „wundersame[n] Spiegelungen“ in den Bereich des Irrationalen betrachtet G ­ oethe jegliche mathematische Erklärung als entbehrlich. Was zählt, ist allein der Augenschein. Die exponierte Berücksichtigung der Farbphänomene im Polarisationsgeschehen und ihre Überästhetisierung waren ausschlaggebend dafür, dass ­Goethes Studien zur Entoptik noch weniger von den Physikern rezipiert wurden als das Hauptwerk Zur Farbenlehre. Da der Vorgang der Polarisation an sich unsichtbar ist, betrachteten Wissenschaftler wie Jean Baptiste Biot die Farberscheinungen an doppelbrechenden Kristallen als Indikator des unsichtbaren Polarisationsvorgangs und der ihn bedingenden Kristallstruktur, nicht aber um der Ästhetik ihrer selbst willen. Die Physiker schlossen von den Farben auf ihre Entstehungsursachen, da an ihnen beispielsweise erkannt werden kann, ob ein Kristall ein- oder zweiachsig ist.505 In seinen ästhetischen Verbildlichungsbemühungen verfolgt ­Goethe hingegen den umgekehrten Ansatz. Ihn interessiert die Polarisation nicht als eigenständige Erscheinung, sondern nur als Bedingung der Farbentstehung. In seinen entoptischen Studien erscheinen Licht und trübes Mittel wie in Biots Untersuchung der doppelbrechenden Kristalle als medialer Verbund,506 um die Farben für das Auge hervorzubringen und erfahrbar zu machen. Muss G ­ oethe aufgrund der nicht detailliert wahrnehmbaren Struktur des trüben Mittels in Spekulationen ausweichen, leitet er die Art der Figurenbildung – wie beschrieben – von der sichtbaren Form des entoptischen Glases, nicht jedoch von dem sie bedingenden trüben Mittel ab. Ein direktes Schließen von der Struktur des entoptischen Mediums auf die Polarität der Farberscheinungen erweist sich wegen der Komplexität der Vorgänge allerdings als schwierig. Um die komplexe Polarisation wissenschaftlich für Fachleute und didaktisch für Laien verständlich zu machen, hätte sich G ­ oethe mit Modellbildungen behelfen müssen, für die allerdings geometrische bzw. mathematische Beschreibungen unumgänglich gewesen wären. Da ihm lediglich an der Sichtbarkeit der entoptischen Farberscheinungen gelegen

505 Vgl. exemplarisch Biot, Jean-Baptiste, Lehrbuch der Experimentalphysik oder Erfahrungs-Naturlehre, übersetzt v. Gustav Theodor Fechner, 4 Bde., Bd. 4, Leipzig 1825, S. 191. Biot betrachtete ein bereits in einer Versuchskonstellation polarisiertes Lichtbündel durch ein achromatisches Prisma aus doppelbrechendem Material, das damit als Analysator fungierte und die Erscheinungen visualisierte. Vgl. Renneberg, Sehen mit unsichtbarem Licht, a. a. O., S. 242 – 245. 506 Vgl. Renneberg, Sehen mit unsichtbarem Licht, a. a. O., S. 247. In ihrem Aufsatz beschreibt Monika Renneberg, wie bei der Erforschung von Polarisationsphänomenen an doppelbrechenden Kristallen das Licht als „ein Medium der Kommunikation zwischen Mensch und äußerer Welt“ fungiert, um das Verhältnis zwischen Auge und Farbe wiederherzustellen, das durch die Entdeckung der unsichtbaren Farben gesprengt wurde. Zitat ebd.

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3.  Körper-Bilder des Subjekts

war, klafften physikalische Optik und ästhetische Strategie weiter auseinander als in seinen früheren Experimenten. Dass ­Goethe abstrakte Modellbildungen durchaus geschickt einzusetzen wusste, wenn es um die Bestätigung seiner eigenen Lehre ging, beweist ein Brief an Christian Heinrich Schlosser. In diesem Schreiben, in dem er die chladnischen Klangfiguren mit den entoptischen Farben vergleicht, verdeutlicht G ­ oethe sein pantheistisches Konzept einer mit Gott identischen Natur in einer Gleichung, in der Subjekt und Objekt erkenntnistheoretisch ineinander aufgehen: „a. In der Natur ist alles was im Subjekt ist. y. und etwas drüber. b. Im Subjekt ist alles, was in der Natur ist. z. und etwas drüber. b. kann a erkennen, aber y nur durch z geahndet werden. Hieraus entsteht das Gleichgewicht der Welt und unser Lebenskreis in den wir gewiesen sind. Das Wesen, das in höchster Klarheit alle viere zusammenfaßte, haben alle Völker von jeher G o t t genannt.“ 507

Schließt ­Goethe in den entoptischen Versuchen physikalische und physiologische Farben lediglich über die Analogie des Polaritätsprinzips zusammen und entwertet den natürlichen Blick zum Beweis seiner physikalischen Theorie der Farbentstehung durch eine apparative Verstärkung der entoptischen Phänomene, beschritten die frühen Sinnesphysiologen und Arthur Schopenhauer den umgekehrten Weg. Sie übertrugen G ­ oethes vielkritisierte physikalische Theorie der Farbentstehung, wie bereits von Schultz versucht, auf das Auge – ein Schritt, der die Herausbildung der subjektivistischen Theorie dieser Forscher und mit ihr die Entstehung der Sinnesphysiologie in Deutschland entscheidend beeinflusste.

507 WA IV ,25, S. 311 – 312 (Beilage vom 19. Februar 1815 zum Konzept eines Briefs von ­Goethe an ­Christian Heinrich Schlosser vom 5. Mai 1815).

265

4. ­Goethes Urphänomen erobert das Auge

4.1 Schopenhauers Philosophie des Urphänomens In seinem erkenntnistheoretischen Bestreben, die spezifischen Erscheinungsbedingungen der Farben zu erkennen, suchte ­Goethe nach dem Urphänomen der Farbent­ stehung zwischen Hell und Dunkel ausschließlich im physikalischen Bereich.1 Allein die naturphilosophische Urformel der Polarität bezog er auf alle Arten der Farbent­ stehung: die physiologische, physikalische und chemische. Erst Arthur Schopenhauer und die Pioniere der Sinnesphysiologie Johann E. Purkinje und Johannes Müller suchten nach der Konfiguration des Urphänomens im Auge. Sie transferierten diese auf den Gesichtssinn, um dessen Eigenleben zu erforschen und zu systematisieren. Während in ­Goethes Wahrnehmungstheorie das Medium des Auges eine Transportund eine Produktionsfunktion gleichermaßen erfüllt, indem es äußere Eindrücke perzipiert und auf diese Reize eigenständig Farben erzeugt, wird nachfolgend gezeigt, wie sich die drei o. g. Forscher primär der medial-produktiven Funktion eines aktiven Gesichtssinns widmen. Sie erklären das Auge zu einem Medium, das die Welt nach seinen individuellen Bedingungen strukturiert. In diesem Wahrnehmungsmodell erhält die Konfiguration des Urphänomens selbst eine doppelte mediale Funktion. In ihrer Vermittlerrolle zwischen physikalischer und physiologischer Farbentheorie soll sie durch den Transfer auf den Sinnesbereich neues Wissen über die Funktion des Auges generieren. Anders als G ­ oethe, der die physiologische Struktur des Mediums im Dunkeln belässt, beschäftigten sich Schopenhauer, Purkinje und Müller intensiv mit dem Innenleben des Auges, um die sinnliche Generierung der Farbdaten zu erklären. Die Forscher wurden nicht nur durch den Subjektivismus der kritischen Theorie beeinflusst, sondern versuchten, diesen – und das war neu – anatomisch-physiologisch zu begründen. Indem die Wissenschaftler die menschliche Erkenntnisfähigkeit aus der Anatomie des Körperbaus und den physiologischen Prozessen erklärten, holten sie das Denken

1

Diese Erklärungsbemühungen um die verschiedenen Erscheinungskontexte der Farben konstatierte G ­ oethe während seiner entoptischen Studien 1820 wie folgt: „Als ich zur Farbenlehre schritt, durfte ich mir nicht verläugnen daß die Chromatik erst im Auge gegründet werden müsse; aber es war mir unmöglich in mein eigenes organisches Subject tiefer zurückzugehen, so wie ich nach der objectiven Seite zu gar wohl erkannte: daß auf Licht, Schatten und ein Drittes alles ankomme, aber doch nicht wagte mich in jene Fernen abstrakt zu verlieren, in solche Tiefen mich forschend zu versenken.“ LA II.5B.1, S. 226 – 227 (M 74, Physiologe Farben; Uebergang).

266

4. ­Goethes Urphänomen erobert das Auge

und die Seele endgültig ins Reich der Empirie, so dass sich der cartesianische LeibSeele-Dualismus überlebt hatte.2 Betrachten alle drei Forscher das Subjekt als alleinigen Erkenntnisgegenstand, schließen sie in ihren Konzepten – wie nachfolgend dargestellt wird – auf unterschiedliche Weise an ­Goethes Farbstudien an: Schopenhauer bemühte sich, sein transzendentalphilosophisches Erkenntnismodell auf eine empirische Basis zu stellen, indem er Hell, Dunkel und Farben auf die räumliche Ausdehnung der Retina übertrug. Er legitimierte die Entstehung dieser Phänomene mathematisch, blieb ihren physiologischen Beweis allerdings schuldig. In seinem philosophischen Gesamtkonzept betrachtete er die Farbempfindung lediglich als dem Intellekt untergeordnete, für die Konstituierung der Anschauung jedoch unabdingbare Instanz. Entsprechend der von ihm postulierten apriorischen Anschauungsform der Kausalität konzipierte er die Reize der Außenwelt als ausschließliche Ursachen der Farbempfindungen, die erst durch die strukturierende Funktion des Verstandes formend ins Bewusstsein gebracht werden. Eine überzeugende Übertragung der physikalischen und chemischen Farbentstehungskonzepte auf die Physiologie des Auges gelang ihm nicht. Purkinje und Müller hingegen wiesen in ihren Studien empirisch nach, dass der Gesichtssinn die Welt nach eigenen Regeln strukturiert. Purkinje konzipierte – sich noch residual vermögenspsychologischer Anleihen bedienend – jeden Sinn als Individuum, dessen Wirken der Seelenkräfte er in der empirischen Struktur des Gesichtsfeldes visualisiert sah. Auch Purkinje gelang eine vollständige Übertragung des physikalischen Urphänomens auf die Physiologie des Auges nicht, da er in seinem Konzept – anders als Johannes Müller – den äußeren Objekten in einigen Kontexten noch einen gewissen erkenntnistheoretischen Einfluss zusprach. Er übertrug primär durch Analogien die Eigenschaften vom physikalischen auf den physiologischen Phänomenbereich. Müller hingegen begründete in dem von ihm aufgestellten Gesetz der spezifischen Sinnesenergien die individuellen Arten der Empfindung mit der anatomisch-physiologischen Spezifik jedes Sinnesorgans. Indem er damit die Wahrnehmung als vollständig durch den menschlichen Körper konstituiert erklärte, wurden die äußeren Einflüsse auf diesen erkenntnistheoretisch irrelevant und mit ihnen auch die empiristische Teilung der Sinnesqualitäten. Farbe, Licht und Dunkel bewies Müller als neural konstituierte strukturierende Elemente der optischen Wahrnehmung, so dass ihm die empirische Übertragung von ­Goethes physikalischem Urphänomen aufs Auge endgültig gelang. Wird sich in ­Goethes Wahrnehmungsmodell das Subjekt erst dadurch seiner selbst bewusst, dass sich äußere und innere, selbst erzeugte Farbenbilder gleichberechtigt auf der Retina treffen, hat sich diese Trennung in Müllers Konzept durch die physiologische

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Vgl. hierzu ausführlich den Aufsatz von Müller-Tamm, Jutta, WeltKörperInnenraum. Anmerkungen zur literarischen Anthropologie des Körperinneren, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 25. Bd., 1. Heft (2000), S. 95 – 133, besonders S. 115.

4.1  Schopenhauers Philosophie des Urphänomens

Bedingtheit aller Farbeindrücke überlebt. In dessen und Purkinjes Konzept erhält der Betrachter den stärksten Selbstbezug durch feste, unveränderliche Bilder auf der Retina, die durch diese Eigenschaft zum Objektivsten aller Gesichtserscheinungen werden. Beginnen wir unsere ausführlichen Darlegungen mit der Farbentheorie Arthur ­Schopenhauers, der vom Herbst 1813 bis zum Frühling 1814 zahlreichen Farbexperimenten G ­ oethes beiwohnte.3 Ausgehend von dessen Erkenntnissen und basierend auf seiner eigenen physiologischen Legitimierung der Transzendentalphilosophie entwickelte Schopenhauer seine chromatische Theorie. Selbstbewusst beschreibt sich der 27-Jährige als Vollender der g­ oetheschen Farbenlehre: „Vergleiche ich Ihre Farbenlehre einer Pyramide, so ist meine Theorie die Spitze derselben, der untheilbare mathematische Punct, von dem aus das ganze große Gebäude sich ausbreitet, und der so wesentlich ist, daß es ohne ihn keine Pyramide mehr ist, während man von unten immer abschneiden kann ohne daß es aufhört Pyramide zu seyn. Sie haben nicht, wie die Aegypter, von der Spitze, sondern vom Fundament in seiner ganzen Breite zu bauen angefangen und Alles bis auf die Spitze aufgeführt: in diesem Ihrem Gebäude ist nun zwar der Andeutung nach auch die Spitze gegeben und vollkommen bestimmt: doch haben Sie es mir überlassen sie wirklich darauf zu setzen, wodurch allererst die Pyramide vollendet ist, die Jahrhunderten trotzt.“ 4

Kritisch betrachtet Schopenhauer ­Goethes Werk als eine bloße Materialsammlung, die ein einheitliches Theoriegebäude vermissen lasse.5 Dieses Urteil untermauert er mit zwei Punkten: Erstens zeige G ­ oethe lediglich den phänomenalen Charakter der Farben auf, ergründe aber nicht ihr Wesen. Zweitens arbeite er in der Farbenlehre nicht die Bezüge der physiologischen, physischen und chemischen Farben zueinander heraus, sondern betrachte sie als in sich geschlossene Einheiten: „Die physiologischen Farben, welche mein Ausgangspunkt sind, legt er [­Goethe – S. Sch.] als ein abgeschlossenes, für sich bestehendes Phänomen dar, ohne auch nur zu versuchen, sie mit den physischen, seinem Hauptthema, in Verbindung zu bringen.“ 6 Schopenhauer stimmt zwar mit 3 ­Goethe wurde durch die Promotionsschrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, die er laut Tagebucheintrag am 4. November 1813 las, auf Schopenhauer aufmerksam. Vgl. WA III,5, S. 81. In dieser Schrift fordert Schopenhauer die Begründung geometrischer Lehrsätze durch die Anschauung. Besonders § 36 Satz vom Grunde des Seyns, in dem Schopenhauer explizit die Rolle der Anschauung betont, erweckte ­Goethes Interesse. Vgl. hierzu ausführlicher Höpfner, Wissenschaft wider die Zeit, a. a. O., Heidelberg 1990, S. 125 und S. 139 sowie Döll, Heinrich, ­Goethe und Schopenhauer, Berlin 1904, S. 13. 4 Arthur Schopenhauer an ­Goethe am 11. November 1815, in: Arthur Schopenhauer. Der Briefwechsel mit G ­ oethe und andere Dokumente zur Farbenlehre, hg. v. Ludger Lütkehaus, Zürich 1992, S. 21. 5 Vgl. Schopenhauer, Über das Sehn und die Farben. Eine Abhandlung, 2. Auflage 1854, in: ders., Sämtliche Werke, bearbeitet u. hg. v. Wolfgang Frhr. v. Löhneysen, Frankfurt am Main 1993, 5 Bde., Bd. 3: Kleinere Schriften, S. 191 – 297, hier S. 198. 6 Vgl. ebd., S. 198 – 199, Zitat S. 198.

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4. ­Goethes Urphänomen erobert das Auge

­ oethe darin überein, dass Newton in seinen Experimenten die Position des Subjekts G ungenügend berücksichtige, wirft jedoch Newton wie ­Goethe gleichermaßen vor, die Physiologie des Auges nicht angemessen gewürdigt zu haben. Die vom Auge erzeugten chromatischen Phänomene sollten in Schopenhauers eigener Farbentheorie zum Dreh- und Angelpunkt werden, in dem er sich um den Nachweis ihrer durchgängigen subjektiven Generierung bemüht. Er versucht, auch die physikalischen und chemischen Farben ausschließlich als physiologisch bedingte zu erklären – Erklärungen, die nicht frei von Widersprüchen sind. In Schopenhauers epistemologischem Konzept wird die Retina zum Ort, an dem er Newtons Teilung des Lichts durch G ­ oethes naturphilo­ sophisches Polaritätsprinzip ersetzt. Die Legitimierung dieses Zugriffs unterstützt Schopenhauer durch das „Beweismittel“ der Mathematik, womit er sich argumentativ stärker Newtons optischer als ­Goethes phänomenal ausgerichteter Farbentheorie nähert. Schopenhauers 1816 erschienenes Werk Über das Sehn und die Farben, das er nach eigener Aussage erst ein Jahr, nachdem er „­Goethes persönlichem Einfluss entzogen war“ niederschreiben konnte,7 ist jedoch mehr als die physiologisch legitimierte Verlagerung aller Farberscheinungen in den menschlichen Körper. Sie ist die bereits in seiner Promotionsschrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde angelegte Ausformung einer physiologischen Begründung der kantischen Transzendentalphilosophie, die in Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung zur vollen Entfaltung gelangen wird. Vor diesem Hintergrund betont er in seiner Schrift Über das Sehn und die Farben ausdrücklich, dass er trotz ausführlicher Erörterungen zum Wahrnehmungsvorgang das Sehen primär philosophisch als Bestandteil des menschlichen Erkenntnisapparates betrachtet.8 Schopenhauers Kritik an Newtons und ­Goethes Konzepten, die sich gleichermaßen auf das Postulat einer an sich seienden Welt der Objekte richtet,9 ist nur vor dem Hintergrund dieses philosophischen Weltentwurfs zu verstehen. Schopenhauer, der in seiner Lehre Kants Transzendentalphilosophie kritisch reflektierend abwandelt, legt der Erkenntnistätigkeit des Subjekts nicht nur die apriorischen Kategorien von Raum und Zeit zugrunde, sondern erhebt die von Kant entwickelte Kategorie der Kausalität ebenfalls zur apriorischen Anschauungsform und postuliert die Raum- und Zeiterkenntnis als von ihr abhängig.10 ­Goethes Betrachtung der Kontextabhängigkeit der 7

Schopenhauer, Arthur, Zur Farbenlehre, in: ders., Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 5: Parerga und Paralipomena II, S. 211 – 237, hier S. 214. 8 Schopenhauer, Sehn und Farben, a. a. O. 1993, S. 202. 9 Vgl. hierzu ausführlich den Kommentar von Grün, Klaus-Jürgen, Arthur Schopenhauer, München 2000, S. 58. 10 Diese kausale Struktur der Erkenntnis sagt nach Schopenhauer nichts über die Beschaffenheit der Welt aus, sondern ist immer ein Produkt des Verstandes: „Nun aber findet sich, daß alle unsere Vorstellungen unter einander in einer gesetzmäßigen und der Form nach a priori bestimmbaren Verbindung stehn, vermöge welcher nichts für sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes Objekt für uns werden kann.“ Schopenhauer, Arthur, Über die vierfache

4.1  Schopenhauers Philosophie des Urphänomens

Farbentwicklung in der äußeren Welt musste auf Schopenhauers Widerspruch ­stoßen, da nach dem aprioischen Kausalitätsprinzip alle Vorstellungen gleichermaßen Verstandesergebnisse sind. Während in ­Goethes Farbstudien die Natur als Forum für die Selbstreflexion des Menschen über das Medium der Sinne dient, während das Auge objektive Welt und subjektive Prozesse gleichberechtigt in einer Totalität verbindet und damit verobjektivierend wirkt,11 verhält es sich bei Schopenhauer umgekehrt: Entsprechend seinem transzendentalphilosophischen Zugriff betrachtet er ausschließlich das Subjekt als Medium eines doppelten Weltzugangs, bei dem der Leib eine Schlüsselfunktion einnimmt: Die äußere Welt ist nach Schopenhauer zum einen ein intellektuelles Konstrukt, das unter Anwendung der apriorischen Kategorien nur im Bewusstsein des Menschen entsteht, sie ist seine Vorstellung. Zugleich ist sie auch Wille, der identisch mit dem Ursprünglichen, Nicht-Bewussten, Triebhaften, nie vollständig zu Ergründenden ist.12 Zur sichtbaren, empirischen Manifestation des Willens, zu seiner „Objektität“ 13 erklärt Schopenhauer den menschlichen Leib, dessen organisch bedingte Empfindungen erst die Vorstellung von der Welt ermöglichen. Vom menschlichen Körper überträgt ­Schopenhauer das Konzept des Willens auf die gesamte Natur. Auch wenn es ­Schopenhauer nicht gelingt, den Leib-Seele-Dualismus aufzubrechen, verkehrt er doch eine alte idealistische Denktradition in ihr Gegenteil. Der noch bei Kant dem Intellekt untergeordnete Körper, die der Idee subordinierte Materie nimmt S ­ chopenhauer als primäre Begründungsinstanz für den intellektuellen Weltzugang, indem er die apriorischen Erkenntnisvermögen des Verstandes materiell-hirnphysiologisch und damit willensabhängig begründet.14

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13 14

Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Eine philosophische Abhandlung, in: ders., Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 3: Kleinere Schriften, S. 5 – 189, hier S. 41. Vgl. Höpfner, Wissenschaft wider die Zeit, a. a. O., S. 146. „Der Wille wirkt blind, d. h. ohne Erkenntniß, so lange er kann, nämlich in der unorganischen und vegetativen Welt, ja bis zur Hervorbringung und Ausbildung jedes Thiers, auch noch bei der Erhaltung des Thieres, soweit solche von dessen inneren Oekonomie abhängt: […].“ Arthur ­Schopenhauer. Der handschriftliche Nachlaß, hg. v. Arthur Hübscher, Bd. I: Frühe Manuskripte 1804 – 1818, Frankfurt am Main 1966, S. 356 – 357. Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Frankfurt am Main 1993 (= ders., Sämtliche Werke, 5 Bde., bearbeitet u. hg. v. Wolfgang Frhr. v. Löhneysen, Bd. 1), S. 158. „Erst wenn der Verstand – eine Funktion nicht einzelner zarter Nervenenden, sondern des so künstlich und rätselhaft gebauten, drei, ausnahmsweise aber bis fünf Pfund wiegenden Gehirns – in Tätigkeit gerät und seine einzige und alleinige Form, das Gesetz der Kausalität, in Anwendung bringt, geht eine mächtige Verwandlung vor, indem aus der subjektiven Empfindung die objektive Anschauung wird.“ Ebd., S. 69. Spannungsreich wird es dann, wenn Schopenhauer die Relation zwischen Wille und Vorstellung aufzeigt: Einerseits betrachtet er Wille und Leib als Basis des menschlichen Daseins, die auch unabhängig vom Verstand existieren können. Andererseits wird die klare Hierarchie zwischen Wille und Vorstellung durch Schopenhauers doppelten Blick auf den menschlichen Körper unterlaufen, der als unmittelbares Erfahrungssubjekt zur Welt des Willens, als

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4. ­Goethes Urphänomen erobert das Auge

Auch wenn in Schopenhauers Subjekttheorie die empirische Wahrnehmung die unabdingbare Voraussetzung für die Erkenntnis der Welt bildet, ist es dennoch der Verstand, der die bloßen Empfindungen strukturiert, um sie in Anschauungen zu verwandeln und ins Bewusstsein zu holen: „Demnach hat der Verstand die objektive Welt erst selbst zu schaffen: nicht aber kann sie, schon vorher fertig, durch die Sinne und Öffnungen ihrer Organe bloß in den Kopf hineinspazieren. Die Sinne nämlich liefern nichts weiter als den rohen Stoff, welchen allererst der Verstand mittelst der angegebenen einfachen Formen, Raum, Zeit und Kausalität, in die objektive Auffassung einer gesetzmäßig geregelten Körperwelt umarbeitet. Demnach ist unsere alltägliche empirische Anschauung eine intellektuale, […].“ 15

In Schopenhauers Konzept wird allein der Verstand zum produktiven Medium der Welterfahrung, indem er dem apriorischen Kausalitätsprinzip entsprechend auf der Suche nach den Empfindungsursachen den menschlichen Körper ins Verhältnis zu den äußeren Objekten setzt und dadurch realitätskonstituierend wirkt. Anders als in ­Goethes Wahrnehmungstheorie, die von einem kohärenten und gleichberechtigten Verhältnis zwischen auslösendem äußeren Reiz und körperlicher Reaktion ausgeht, sucht in Schopenhauers Entwurf der Verstand nicht nach Antworten in einer an sich seienden Welt, sondern legt seine Relationen zum Körperäußeren als reine Geistesprodukte an. In diesem Sinne dient auch die Schrift Über das Sehn und die Farben nicht der Herausstellung des erkenntnistheoretischen Eigenwerts der Farbempfindungen und der Sinnestätigkeit des Auges, sondern zuvörderst dem Beweis, dass alle Anschauung durch den Verstand geformt ist: „Denn ohne den Verstand käme es nimmermehr zur Anschauung, zur Wahrnehmung, Apprehension von Objekten, sondern es bliebe bei der bloßen Empfindung, die allenfalls, als Schmerz oder Wohlbehagen, eine Bedeutung in bezug auf den Willen haben könnte, übrigens aber ein Wechsel bedeutungsleerer Zustände und nichts in der Erkenntnis Ähnliches wäre.“ 16 Objekt der intellektuellen Reflexion zur Welt der Vorstellung gehört. Diese Argumentationsweise bringt jenen Hauptwiderspruch mit sich, der in der Schopenhauer-Rezeption als Gehirn-Paradox bezeichnet wird: Die empirische Welt ist eine Vorstellung, diese wiederum ein Produkt des materiellen Gehirns, das Gehirn jedoch ist ebenfalls eine Vorstellung, so dass im Endeffekt die Vorstellung ein Produkt der Vorstellung ist. Vgl. hierzu die ausführlicheren Darlegungen von Müller-Tamm, WeltKörperInnenraum, a. a. O., S. 116 und Spierling, Volker, Arthur Schopenhauer. Philosophie als Kunst und Erkenntnis, Zürich 1994, S. 100 – 106 und S. 223 – 238 sowie ders., Arthur Schopenhauer zur Einführung, Hamburg 2002, S. 16 – 17 und S. 43. 15 Schopenhauer, Satz vom zureichenden Grunde, a. a. O., S. 69 – 70. 16 Ders., Sehn und Farben, a. a. O. 1993, S. 204.

4.1  Schopenhauers Philosophie des Urphänomens

Die Sinne erhalten in Schopenhauers Körpermodell eine ambivalente Position. Einerseits betrachtet er sie erkenntnistheoretisch nachrangig „bloß“ als „Sitze einer gesteigerten Sensibilität“, als die „Stellen des Leibes, welche für die Einwirkung anderer Körper in höherem Grade empfänglich sind“.17 In dieser Rolle als reine „Materialsammler“ übermitteln sie lediglich ihre Reaktionen auf die äußeren Reize an den formgebenden Verstand. Andererseits ist ihre Funktion als datengenerierende Basis für die Erkenntnis unabdingbar, denn ohne das Agieren der Sinne, die als Teile des Willens bereits vor aller Anschauung gegeben sind, kann der Verstand kein strukturiertes Bild von der Welt formen. Aufgrund seiner Abhängigkeit von der Empfindung – und dies ist ein indirektes Zugeständnis an die erkenntnistheoretische Bedeutung der Sinne – konzipiert ­Schopenhauer nicht den Verstand, sondern die Vernunft als autonome, logisch agierende Instanz. Als sekundäre Erkenntnis 18 dem Verstand zwar nachgeordnet, spricht ihre abstrahierende, für die Welt der Begrifflichkeiten zuständige Funktion jedoch das letzte Wort in der Systematisierung des Wissens. Während es dem in die Wahrnehmung involvierten Verstand nicht gelingt, ungewöhnliche Sinneszustände oder unrichtige Urteile zu erkennen, ist dazu allein die auf einer autonomen Ebene agierende Vernunft in der Lage.19 Obwohl Schopenhauer die in Empirismus und Sensualismus an den äußeren Gegenständen ausgemachten Qualitäten konzeptuell einheitlich als Produkte des menschlichen Erkenntnisapparates auffasst, lebt in diesem ihre einstige Hierarchie unter veränderten Prämissen fort. Bereits mit seiner Charakterisierung der Sinne als Datenlieferanten und des Denkens als die Vorstellung ermöglichender Formgeber unterstreicht ­Schopenhauer die Dualität von Stoff und Form in seinem Subjektkonzept. Diese Trennung untermauert er räumlich-anatomisch, indem er die Sinne „bloß als die Ausläufe des Gehirns“ 20 begreift und damit Empfindung und Denken an zwei verschiedenen Orten lokalisiert. Während ­Goethe in der Farbenlehre die Aufhebung der Qualitätenteilung, die bei ihm auf die äußeren Objekte bezogen bleibt, phänomenal-semiotisch begründet, indem bei ihm die Farbe als Sprache der Natur 21 den Raum ersetzt, während später Johannes Müller die erkenntnistheoretische Hierarchie der Qualitäten endgültig verwirft, da er Farbe und Raum gleichermaßen als physiologisch bedingt erkennt, verlegt S ­ chopenhauer den Raum lediglich ideell ins Subjekt und erklärt ihn wie die beiden anderen a priori gegebenen Anschauungsformen der 17 18 19 20

Ebd., S. 205. Vgl. ders., Satz vom zureichenden Grunde, a. a. O., S. 89. Vgl. ebd., S. 89 – 90. Ders., Die Welt als Wille und Vorstellung II, Frankfurt am Main 1993 (= ders., Sämtliche Werke, 5 Bde., bearbeitet u. hg. v. Wolfgang Frhr. v. Löhneysen, Bd. 2), S. 39. 21 Vgl. hierzu besonders die Ausführungen im Vorwort zum didaktischen Teil der Farbenlehre in LA I.4, S.  3 – 10.

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4. ­Goethes Urphänomen erobert das Auge

Kausalität und der Zeit zu den die Sinnes- bzw. Farbwahrnehmungen ermöglichenden Bedingungen. Die spezifischen Leistungen der Sinnesorgane differenziert Schopenhauer über die Art ihrer Affektion, die nach seiner Meinung von zwei Faktoren abhängt: von der besonderen Konstitution dieser Organe selbst und von der Unterschiedlichkeit äußerer Agenzien wie Licht und Schall.22 Ihre epistemologische Hierarchie hingegen macht er an ihrer Fähigkeit zur Empfindung der Raumverhältnisse fest. Dieses Konzept ent­ wickelt er in Anlehnung an Kant,23 der den Raum als primäre Form aller Apprehension, als Ordnungselement der sinnlich erfassbaren körperexternen Objekte postulierte. Wie Kant und Herder unterscheidet auch Schopenhauer objektive und subjektive Sinne.24 Zu den ersteren zählt er im Grunde den haptischen und den optischen Sinn, zu den letzteren das Gehör, den Geruch und den Geschmack, da ihre Aktivitäten keine Daten zur Bestimmung des Raums liefern.25 Wertet er in dieser Hierarchie das Sehen und Tasten gegenüber den anderen Sinnen auf, verleiht er in seiner weiteren Argumentation dem Tast- explizit die Priorität über den Gesichtssinn, die er mit der Täuschungsanfälligkeit des Auges begründet: „Die Wahrnehmungen des Gesichts beziehn sich zuletzt doch auf das Getast; ja das Sehn ist als ein unvollkommenes Tasten zu betrachten, welches sich der Lichtstrahlen als langer Taststangen bedient: daher eben ist es vielen Täuschungen ausgesetzt, weil es ganz auf die durch das Licht vermittelten Eigenschaften beschränkt, also einseitig ist; während das Getast ganz unmittelbar die Data zur Erkenntnis der Größe, Gestalt, Härte, Weiche, Trockenheit, Nässe, Glätte, Temperatur usw. liefert […].“ 26

Spricht Schopenhauer hier dem Gesichtssinn einen eigenständigen Status ab, indem er in dessen Funktion Anleihen des haptischen Sinns integriert, bewertet er damit das Sehen wie die drei subjektiven Sinne erkenntnistheoretisch als nachrangig. Später wird er in Über das Sehn und die Farben alle Sinnesempfindungen ungeachtet ihrer Spezifik als Modifikationen des Tastsinns betrachten, indem er ihre Affizierungen als haptische Vorgänge, als „über den ganzen Leib verbreitete[n] Fähigkeit, zu fühlen“ am Raum des menschlichen Körpers festmacht.27

22 Vgl. Schopenhauer, Sehn und Farben, a. a. O. 1993, S. 205 – 206. 23 Kant fasst das apriorische, ans subjektive Bewusstsein gebundene Prinzip des Raums als alleinige Voraussetzung für die Wahrnehmung äußerer Objekte auf: „Der Raum ist nichts anders, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist.“ Kant, Kritik der reinen Vernunft, Teil 1, a. a. O., S. 75. 24 Vgl. Kapitel 3.5 dieser Arbeit. 25 Vgl. Schopenhauer, Satz vom zureichenden Grunde, a. a. O., S. 70 – 72. 26 Ebd., S.  71 – 72. 27 Ders., Sehn und die Farben, a. a. O. 1993, S. 205 – 206.

4.1  Schopenhauers Philosophie des Urphänomens

Die in die Empfindungen des Subjekts verlegte Hierarchie von Farbe und Raum manifestiert sich nicht nur im intersensuellen Vergleich von Tasten und Sehen, sondern auch intrasensuell in Schopenhauers Konzept der optischen Wahrnehmung: Als letzte Ordnungsinstanz der Gesichtseindrücke postuliert er die Empfindung der raumbezogenen Eigenschaften Gestalt, Größe, Entfernung usw. So zeigt er auch im Grunde als Haupttätigkeiten des die optischen Eindrücke strukturierenden Verstandes nicht die Wahrnehmung der Farben, sondern vorwiegend räumlich orientierte Sinneseindrücke wie die Einordnung der Gegenstandsentfernungen und die Zusammenfügung der durch beide Augen gelieferten Doppelbilder auf.28 Dem apriorischen Kausalitätsprinzip entsprechend, betrachtet Schopenhauer die Farbe als Affektion, als Wirkung äußerer Gegenstände, die nicht mit ihnen identisch ist.29 Sie erscheint in seinem Wahrnehmungsmodell als mindere Qualität, als bloßes Attribut, deren epistemologischen Status er im einleitenden § 1 in Über das Sehn und die Farben ausdrücklich festlegt: „[…] so habe ich im folgenden Kapitel bloß die Funktion eines feinen Nervenhäutchens auf dem Hintergrunde des Augapfels, der Retina, zu betrachten, als deren besonders modifizierte Tätigkeit ich die Farbe, welche als eine allenfalls entbehrliche Zugabe [!] die angeschauten Körper bekleidet, nachweisen werde.“ 30 Diese Aussage zeigt, dass es Schopenhauer nicht unbedingt um eine Aufwertung der sekundären Qualitäten der Farbe ging, wie Jonathan Crary behauptet.31 Hier drängt sich geradezu der Verdacht auf, dass Schopenhauer ­Goethes Theorie der physiologischen Farben primär zur Bekräftigung seiner eigenen physiologisch legitimierten Subjektphilosophie instrumentalisierte, da er die Farben nicht in ihrem Eigenwert beachtete. Ihm gelingt es allerdings nicht, eine stringente Theorie der optischen Wahrnehmung zu entwickeln. Seine Beweisführungen, dass alle Farben physiologisch entstandene seien, sind nicht in jedem Fall schlüssig. Schopenhauer, der die Empfindung der Farben als Äußerungen des Willens begreift und diesen wiederum als Wesen der Welt, sucht damit anders als ­Goethe nach dem Wesen der Farben und ihren Entstehungsursachen. Er zieht nicht wie jener an der Sichtbarkeit des physikalischen Urphänomens die Grenzen der Erkenntnis, sondern sucht dessen Entstehung aus der Konstitution des Auges heraus zu begründen.32 ­Schopenhauers diskursiver Hauptgegenstand ist das Medium der Retina, dem er anders als ­Goethe eine ausschließliche Aktivität zuspricht:

28 29 30 31

Vgl. ders., Satz vom zureichenden Grunde, a. a. O., S. 75 – 89. Vgl. ders. Sehn und Farben, a. a. O. 1993, S. 218. Ebd., S. 217. Crary nennt G ­ oethe und Schopenhauer pauschalisierend in einem Zuge: „Für Schopenhauer aber und für den G ­ oethe der Farbenlehre sind es diese sekundären Qualitäten, durch die wir uns erst ein Bild von der äußeren Welt machen können.“ Vgl. Crary, Techniken des Betrachters, a. a. O., S. 82. 32 Vgl. Spierling, Schopenhauer zur Einführung, a. a. O., S. 39.

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4. ­Goethes Urphänomen erobert das Auge

„Es ist unbezweifelt Lehre der Physiologie, daß alle Sensibilität nie reine Passivität sei, sondern Reaktion auf empfangenen Reiz. […] Ich werde die dem Auge überhaupt eigentümliche Reaktion auf äußern Reiz seine Tätigkeit nennen, und zwar näher: die Tätigkeit der Retina; da diese der unbezweifelte Sitz dessen ist, was beim Sehn in der bloßen Empfindung besteht.“ 33

Die Aktivität der Retina differenziert er in eine quantitative und eine qualitative Teilbarkeit. Bei erstgenannter unterscheidet Schopenhauer eine intensiv und eine extensiv geteilte Netzhaut. In seinem Konzept zeigt die intensiv geteilte Retina ein gradweises Ineinanderübergehen der Hell-Dunkel- und Weiß-Schwarz-Werte. Bei der extensiv geteilten Retina bleiben die Eindrücke – ob hell-dunkel, ob farbig – unvermittelt nebeneinander stehen. Die qualitativ geteilte Tätigkeit der Retina bezieht Schopenhauer ausschließlich auf die Farbwahrnehmung. In diesem Vorgang entwickelt die Netzhaut ein duales Bild.34 Mit seinem Konzept verlegt Schopenhauer ­Goethes Polaritätsprinzip der Farben ausschließlich ins Subjekt. Entsprechend seiner Prämisse, dass alle Farberzeugung auf subjektivem Wege erfolgt, definiert er dieses Prinzip als das Wesen der Farbe per se: „Die Farbe ist die qualitativ geteilte Tätigkeit der Retina.“ 35 Während sich in G ­ oethes Konzept der physiologischen Farben das polare Verhältnis zwischen körperexternem Reiz und subjektiv hervorgebrachtem Phänomen zu einem Bild auf der Retina vereinigt – ein Verhältnis, das ein aktives und passives Auge gleichermaßen voraussetzt –, wird die Totalität der Farben nach Schopenhauer ausschließlich durch den Gesichtssinn erzeugt, der beide Komplementärfarben aktiv produziert.36 Ausgehend von Schopenhauers Prämisse, die Farbe ausschließlich als Empfindung zu betrachten, dient die retinale Farberzeugung als selbstreflexiver Indikator eines Subjekts, das sich erst durch die Verarbeitung körperexterner und -interner Reize seiner selbst bewusst wird. Nicht ganz unbescheiden erhebt Schopenhauer seine Auffassung von der dual strukturierten Retina zur neuen, Newtons Teilung des Lichts ersetzenden Theorie der Farbentstehung: „[…] sie [die Anhänger Newtons – S. Sch.] sind auf dem falschen Wege, so lange sie mit Newton die wesentliche Ursache der Farbe in einer eigenthümlichen ursprünglichen Modifikabilität (Theilbarkeit) des LICHTES suchen, da sie statt dessen in einer ursprüng­lichen eigenthümlichen Modifikabilität (Theilbarkeit) der Thätigkeit der Retina liegt deren Aeußerung hervorzurufen, als untergeordnete Ursache (äußerer Reiz) ein auf eine gewisse Weise (durch Trübung oder auch durch Zurückstrahlung von der eigenthümlich modifizirten Oberfläche gewisser Körper) gehemmtes Licht erfordert wird, welches aber bei der

33 Schopenhauer, Sehn und Farben, a. a. O. 1993, S. 221. 34 Vgl. ebd., S. 231. 35 Ebd. 36 Vgl. ebd.

4.1  Schopenhauers Philosophie des Urphänomens

Hervorbringung der Farbe im Auge immer nur die Rolle spielt wie bei Hervorrufung der im Körper schlummernden Elektrizität (Trennung des + E und – E) die Reibung.“ 37

Anders als ­Goethe, bei dem das Polaritätsprinzip sowohl für die simultanen als auch für die sukzessiv erzeugten physiologischen Bilder gilt, gestattet Schopenhauers Entwurf, die qualitative Teilung der Netzhaut ausschließlich als eine Aufeinanderfolge von Komplementärfarben zu betrachten, wie er an der Wahrnehmung einer gelben Scheibe beschreibt: „Bei der Darstellung der gelben Scheibe im Auge ist nicht, wie vorhin von einer weißen, die volle Tätigkeit der Retina erregt und dadurch mehr oder weniger erschöpft worden, sondern die gelbe Scheibe vermochte nur einen Teil derselben hervorzurufen, den andern zurücklassend; so daß jene Tätigkeit der Retina sich nunmehr qualitativ geteilt hat und in zwei Hälften auseinandergetreten ist, davon die eine sich als gelbe Scheibe darstellte, die andere dagegen zurückblieb und nun von selbst ohne neuen äußern Reiz als violettes Spektrum nachfolgt. Beide, die gelbe Scheibe und das violette Spektrum, als die bei dieser Erscheinung getrennten qualitativen Hälften der vollen Tätigkeit der Retina, sind zusammengenommen dieser gleich: ich nenne daher, und in diesem Sinn, jede das Komplement der andern.“ 38

Die Qualitäten der einzelnen Farben wiederum bestimmt Schopenhauer über den ihnen immanenten energetischen Anteil – eine Eigenschaft, die heute als Eigenhelligkeit der Farbe bezeichnet wird. Unter Verweis auf den Äquator der Farbenkugel in Runges Künstlerfarbenlehre, der die Farben in ihrer höchsten Reinheit zeigt, versucht Schopenhauer, künstlich aufgehellte und verdunkelte Farbtöne aus seiner Theo­rie auszuschließen, da er wie G ­ oethe Weiß und Schwarz nicht zu den Farben zählt. Den höchsten qualitativen Anteil spricht Schopenhauer der dem Licht am nächsten stehenden Farbe Gelb zu, Violett als dunkelste Farbe besitzt nach seiner Auffassung hingegen die geringste Qualität.39 Als Absolutwerte über allem Teilungsbestreben stehen die 37 Schopenhauer an ­Goethe am 11. November 1815, in: Schopenhauer. Briefwechsel mit ­Goethe, a. a. O., S. 19. 38 Schopenhauer, Sehn und Farben, a. a. O. 1993, S. 226. Vgl. zur Sukzessivität der Erscheinungen auch folgende Aussage Schopenhauers: „Die Polarität der Retina hat indessen das Unterscheidende, daß bei ihr in der Zeit, also sukzessiv ist, was bei den andern polarischen Erscheinungen im Raum, also simultan. Ferner hat sie das Besondere, daß der Indifferenzpunkt, wiewohl innerhalb gewisser Grenzen, verrückbar ist.“ Ebd., S. 235. 39 Vgl. ebd., S. 226 – 227. Auch wenn Schopenhauer die Tätigkeiten der Retina trennt, verbinden sich im normalen Sehprozess alle drei Arten ihrer Aktivität: Die duale Farbwahrnehmung der qualitativ geteilten Retina kann durch Mitwirkung der intensiv geteilten Netzhaut heller oder dunkler werden. Bei Beteiligung der extensiven Retinatätigkeit bilden verschiedene Netzhautteile auf einen äußeren Reiz hin Farben. Die qualitativ geteilte, nur an die Farben gebundene Netzhauttätigkeit ist ein Sonderfall der quantitativen, extensiv geteilten Retina, da in beiden Erscheinungen mehrere Eindrücke unverbunden nebeneinander stehen. Vgl. ebd., S. 263 und S. 231.

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durch das Licht bzw. Weiß ausgelöste volle Tätigkeit der Retina und ihr im Zustand der vollkommenen Ruhe erscheinender Gegenpol: die Finsternis bzw. das Schwarz. Im Bemühen um die Legitimierung seiner Farbentheorie überlagern sich in ­Schopenhauers Argumentation unterschiedliche Erklärungsansätze, die eine hohe epistemologische Spannbreite aufweisen. Das Wesen der Farben untermauert er nicht nur durch den Bezug zu Runges Künstlerfarbenlehre, sondern paradoxerweise auch durch den Entwurf einer erfahrungsunabhängigen Subjektinstanz und durch das Deskriptionsmittel der Mathematik. Begreift Schopenhauer wie auch ­Goethe das Auge als unbewusst agierend, so setzt er diesem Triebhaft-Unbewussten eine subjektive, ans Bewusstsein gebundene Vergleichsinstanz entgegen, die bereits vor aller Empfindung Vorstellungen der zu erkennenden Farbe ermöglicht. Schopenhauer entwirft diese als „Norm, ein Ideal, eine Epikurische Antizipation der gelben und jeder Farbe unabhängig von der Erfahrung“, „mit welcher er [der Mensch – S. Sch.] jede wirkliche Farbe vergleicht“.40 Dieser Instanz, die wie die Verlagerung einer platonischen Uridee ins Subjekt anmutet, spricht Schopenhauer die Fähigkeit zu, die Farben Rot, Grün, Orange, Blau, Gelb und Violett a priori in ihrer reinen Form in sich zu tragen, um diese mit den aktuell empfundenen Farben vergleichen und ihre empirischen Farbtöne näher bestimmen zu können. Handelt es sich bei diesen Farben um diejenigen, aus denen G ­ oethes Farbenkreis besteht, begründet S ­ chopenhauer ihre Wahl jedoch nicht mit diesem Schema, sondern begriffsgeschichtlich. Er führt an, dass es immer wieder diese sechs Farben waren, die von verschiedenen Völkern durch die Vergabe von Bezeichnungen klar herausgestellt wurden.41 Es spricht jedoch für einen gewissen Zweifel gegenüber dieser Urteilsinstanz, wenn Schopenhauer zu ihrer Legitimierung auf das „externe“ Hilfsmittel der Mathematik setzt. Er agiert hier höchst newtonianisch, indem er die siebenfarbige Teilung des Lichts durch die Mathematisierung einer retinalen Farbendualität ersetzt. Jeder der sechs Farben ordnet er eine solche spezifische Bruchzahl zu, dass die Summe des sukzessiv entstehenden Komplementärfarbenpaars jeweils eins ergibt. Die „völlig gleichen qualitativen Hälften“ 42 der Retinatätigkeit sieht er in den Farben Rot und Grün, die beide die gleiche Eigenhelligkeit besitzen. Diese Farben belegt er mit jeweils ½ und setzt sie in die Mitte des Spektrums. Das Spektrum befindet sich zwischen den Absolutwerten 0 = Schwarz (Ruhe) und 1 = Weiß (volle Tätigkeit). Die zum Weißen verlaufenden Farben Orange und Gelb erhalten die höchsten, Blau und Violett im dunklen Bereich hingegen die niedrigsten Werte.43 40 41 42 43

Ebd., S. 232. Vgl. ebd. Ebd., S. 229. Die mathematische Legitimierung der physiologischen Erklärung von ­Goethes Urphänomen behielt Schopenhauer noch in der 1854 erschienenen zweiten Ausgabe von Das Sehn und die Farben bei – in

4.1  Schopenhauers Philosophie des Urphänomens

Wie Schopenhauer selbst eingestehen muss, entbehrt sein semiotisches Modell nicht einer gewissen Arbitrarität, sind die Zuweisungen der Bruchzahlen zu den wahrgenommenen Farben auf der Retina willkürlich gewählt. Ausschlaggebend ist allein die interne Logik der Zahlen, eine natürlich-kausale Verkettung zwischen Phänomen und Zeichen existiert nicht: „Die Richtigkeit der von mir aufgefundenen Zahlen­brüche, nach welchen bei den sechs Hauptfarben die Tätigkeit der Retina sich qualitativ teilt, ist […] eine augenfällige, bleibt aber Sache des unmittelbaren Urteils und muß als selbst-evident genommen werden; da sie zu beweisen schwer, vielleicht unmöglich ist.“ 44 Schopenhauers redliches Bemühen um eine vollständige Berechnung der Farben wird nicht zuletzt durch das Verhalten einer lebendigen Retina vereitelt, das nicht – wie er selbst erkennen muss – in jedem Fall vollständig teilbar ist. Ein ungeteilter Rest kann je nach dem ihr eigenen Aktivitätsgrad die reinen Farben entweder aufhellen oder verdunkeln.45 Bestand Schopenhauers Ziel darin, eine in sich geschlossene Theorie der Farbe zu entwickeln, die G ­ oethes physikalische und chemische Farben wie die physiologischen als subjektiv erzeugte erklärt, gelingt ihm ein solcher Nachweis keineswegs plausibel. Davon zeugen – wie nachfolgend zu zeigen ist – besonders die Erklärung der Generierung des Weißen, das prominente Beispiel des Trüben und das Konzept der chemischen Farbentstehung. Das Misslingen dieser Ansätze liegt in zwei Faktoren begründet: Erstens belässt Schopenhauer trotz Übertragung der Prinzipien von physikalischer und chemischer Farberzeugung auf die Physiologie des Auges die Hauptbedingungen für die Empfindung bestimmter Qualitäten in der Außenwelt und verleiht ihnen entschieden mehr Gewicht, als sie es bei Anwendung des transzendentalphilosophischapriorischen Kausalitätsprinzips haben dürften. Zweitens bleibt er nicht nur in diesen Fällen, sondern auch bezüglich der Empfindung der Einzelfarben einen empirischen Nachweis der geteilten Aktivität der Retina schuldig. Das Weiße als absolute Aktivität der Netzhaut wird nach Schopenhauer durch das Subjekt vollendet, indem auf dessen Retina zwei Komplementärfarben an derselben Stelle zeitgleich zusammenfallen. Um in seinem Konzept die physiologische Regulierung des Auges zu ermöglichen, setzt Schopenhauer die zwei Komplementärfarben in der äußeren Welt als getrennt voraus, so dass ihre Verbindung zum Weißen erst durch die Aktivität der Retina erfolgt. Zur Bestätigung dieser Auffassung, in der er indirekt den externen Objekten die eigentliche Bedingung für die Weißerzeugung zuspricht, bezieht er sich auf Newtons Theorie der prismatisch erzeugten Farbmischung, einer Zeit, in der Johannes Müller im Gesetz der spezifischen Sinnesenergien die Farbentstehung bereits als vollständig physiologisch bedingt definiert hatte. 44 Schopenhauer, Sehn und Farben, a. a. O. 1993, S. 280 – 281. Vgl. auch Wilhelm Ostwalds Aussage über Schopenhauers intuitive Auswahl der Brüche. Vgl. Ostwald, Wilhelm, G ­ oethe, Schopenhauer und die Farbenlehre, Leipzig 1931, S. 109. 45 Vgl. Schopenhauer, Sehn und Farben, a. a. O. 1993, S. 241 – 242.

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ersetzt jedoch die sieben Spektralfarben durch zwei Komplementärfarben, welche die physiologische Bedingung der Weißerzeugung beweisen sollen.46 Indem er Newtons objektiv-zusammengesetzte Natur des Lichts auf diese Weise ins Reich der Empfindungen verlagert, wendet sich Schopenhauer gegen G ­ oethes Konzept einer Homogenität des Lichts, das dieser dem Geist analog setzte und als höchste physische Einheit postulierte.47 Sich dieses Widerspruchs wohl bewusst, bestärkt Schopenhauer seinen vermeintlich physiologistischen Standpunkt – wie ­Goethe auf polemischen Pfaden wandelnd – durch die Kritik an Newtons theoretischem und methodischem Ansatz: „Der physiologische Gegensatz der Farben, auf dem ihr ganzes Wesen beruht und in bezug auf welchen allein die Herstellung des Weißen oder des vollen Lichteindrucks aus Farben, und zwar aus zwei, aus jedem beliebigen Farbenpaar, nicht aus sieben bestimmten Farben statthat, ist ihm [Newton – S. Sch.] immer unbekannt, ja ungeahndet geblieben und mit diesem auch die wahre Natur der Farbe. Zudem beweist die Herstellung des Weißen aus zwei Farben die Unmöglichkeit derselben aus sieben. Man kann also zugunsten Newtons weiter nichts sagen, als daß er zufällig einen der Wahrheit nahekommenden Ausspruch getan hat. Weil er aber diesen in einem falschen Sinn und zum Behuf einer falschen Theorie vorbrachte; so sind auch die Experimente, durch die er ihn belegen will, größtenteils ungenügend und falsch. Eben hiedurch verleitete er G ­ oethen, im Widerspruch gegen jene falsche Theorie zuviel zu leugnen. Und so ist denn der seltsame Fall eingetreten, daß das wahre und wirk­ liche Faktum der Herstellung des vollen Lichteindrucks oder des Weißen durch Vereinigung von Farben (man muß hier unbestimmt lassen, ob zwei oder sieben) von Newton aus einem unrichtigen Grund und zum Behuf einer falschen Theorie behauptet, von ­Goethen aber im Zusammenhange eines sonst richtigen Systems von Tatsachen geleugnet ist.“ 48

Noch weniger versteht es Schopenhauer, die Entstehung des trüben Mittels physiologisch zu begründen. Der Zirkelschluss in seiner Argumentation und der damit verbundene Rückgriff auf eine doppelte Projektion zeigen Schopenhauers Erklärungsunsicherheit. Er versetzt das physiologische Farbenkomplement in die äußeren Gegebenheiten des Trüben, um eben die in diesem vorausgesetzte Möglichkeit der Farberzeugung wieder aufs Auge zurückzuprojizieren: „Nämlich bloß von der Kenntnis der Farbe im engsten Sinn, also als Phänomen im Auge ausgehend, haben wir gefunden, daß ihre äußere Ursache ein vermindertes Licht sein muß, jedoch ein auf eine bestimmte Art vermindertes, die das Eigentümliche haben muß, daß sie jeder Farbe geradeso viel Licht erteilt als ihrem Komplement Finsternis […]. Dieser Forderung nun

46 Vgl. ebd., S. 242 – 262, besonders S. 242 – 244. 47 Vgl. Kapitel 3.1 dieser Arbeit. 48 Schopenhauer, Sehn und Farben, a. a. O. 1993, S. 254.

4.1  Schopenhauers Philosophie des Urphänomens

genügt allein, aber auch vollkommen die Scheidewand eines zwischen Licht und Finsternis eingeschobenen Trüben, indem sie unter entgegengesetzter Beleuchtung allezeit zwei sich physiologisch [!] ergänzende Farben verursacht, welche je nach dem Grade der Dicke und Dichtigkeit dieses Trüben verschieden ausfallen, zusammen aber immer zum Weißen, d. h. zur vollen Tätigkeit der Retina einander ergänzen. Bei der größten Dünne des Trüben werden diese Farben die gelbe und violette sein; bei zunehmender Dichtigkeit desselben werden sie allmälig in Orange und Blau übergehn und endlich bei noch größerer Rot und Grün werden; […].“ 49

Den o. g. Unstimmigkeiten zum Trotz erklärt Schopenhauer selbstsicher und ohne empirischen Nachweis, ­Goethes Urphänomen physiologisch bewiesen zu haben. Während ­Goethe das physikalische Urphänomen in seiner sinnlichen Wirkung beschreibt und deren Ursache im Verborgenen belässt, begreift Schopenhauer es als physiologische Bedingung für die Teilung der Retina: „Denn es ist nicht, wie G ­ oethe es annahm, ein schlechthin Gegebenes und aller Erklärung auf immer Entzogenes: vielmehr ist es nur die Ursache, wie sie, meiner Theorie zufolge, zur Hervorbringung der Wirkung, also der Halbierung der Tätigkeit der Retina, erfordert ist. Eigentliches Urphänomen ist allein die organische Fähigkeit der Retina, ihre Nerventätigkeit in zwei qualitativ entgegengesetzte, bald gleiche, bald ungleiche Hälften auseinandergehn und sukzessiv hervortreten zu lassen.“ 50

Lässt sich in Schopenhauers Theorie die Erklärung der physikalischen Farben nicht widerspruchsfrei in die der physiologischen integrieren, hat er bei der Beweisführung der subjektiven chemischen Farberzeugung die größten Schwierigkeiten. Er charakterisiert die chemischen Farben wie ­Goethe als Oberflächenphänomene von Körpern, die er aber nicht wie dieser als Indikator einer intrakorporalen Konstitution betrachtet, sondern wegen ihrer jederzeit durch äußere Umstände aktualisierbaren Modifikation als „Symbol der Trüglichkeit und Unbeständigkeit“, das keine Verbindung zum Körperinneren aufweist.51 Als einzige Funktion dieser Oberflächen betrachtet Schopenhauer ihre Fähigkeit, Farben auf der Retina zu erzeugen, eine Fähigkeit, die – wie er konstatieren muss – noch ungenügend erforscht sei. Vice versa beschreibt S ­ chopenhauer die qualitative Teilung der Retina als Messinstrument dieser Farben, bleibt jedoch den empirischen Beweis schuldig und metaphorisiert das Auge lediglich als „das empfindlichste Reagens im chemischen Sinne“.52 In diesem Kontext rät S ­ chopenhauer den Künstlern zu einer praktischen Orientierung an 49 50 51 52

Ebd., S.  274 – 275. Ebd., S. 275. Ebd., S. 278. Ebd. In dieser Redewendung, die allein die Ausgabe von 1854, nicht aber die Erstausgabe von 1816 enthält, macht sich der Einfluss der zwischenzeitlich begründeten Sinnesphysiologie auf ­Schopenhauers Argumentation deutlich bemerkbar. Vgl. Schopenhauer, Arthur, Ueber das Sehn

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seiner Quantifizierung der physiologischen Farben. Er empfiehlt ihnen, zur Erlangung reiner Sekundärfarben jeweils zwei der Grundfarben zu solchen Anteilen zu mischen, wie sie die Bruchzahlen der physiologischen Farben beschreiben. Hier erkämpft sich – Mathematisierung und apriorischer Farbanschauungsinstanz zum Trotz – das in seiner Philosophie für die Farben verantwortliche Empfindungsvermögen nicht nur sein altes Recht zurück, sondern wird sogar – unter Ausschluss des Verstandes und der Vernunft – selbst als höchste Urteilsinstanz über die Farben erhoben: „Die genaue Übereinstimmung des Resultats [der chemischen Farbmischungen – S. Sch.] nun mit den von mir aufgestellten Zahlenverhältnissen der verschiedenen Hälften, in welche die Tätigkeit der Retina auseinandertritt, würde den Beweis für die Richtigkeit dieser liefern. Freilich aber bleibt das Urteil sowohl über die Richtigkeit des Resultats als auch über die Vollkommenheit der zur Mischung genommenen Farben immer der Empfindung überlassen. Diese wird aber nie beiseite gesetzt werden können, wenn man von Farben redet.“ 53

Der hier epistemologisch aufgewerteten Bedeutung der Empfindung entsprechend, empfiehlt Schopenhauer die experimentelle Selbsterfahrung als primäres Erkenntnismittel der Farbe, die er bezeichnenderweise mit dem Begriff Autopsie, das Schauen mit eigenen Augen, beschreibt. Den Selbstversuch bezieht Schopenhauer genau wie ­Goethe ausschließlich auf die Selbstbeobachtung, die er lediglich in einer kurzen Beschreibung von Nachbildversuchen veranschaulicht.54 Die Spaltung des Lichts, die ausschließlich subjektivistische Prägung seiner Farbentheorie, die das von ­Goethe befürwortete Harmonieprinzip zwischen Subjekt und Welt durchschlägt, sowie das Konzept des Violetten, das Schopenhauer als Produkt zweier hellerer Farben betrachtet,55 mussten schlicht und ergreifend ­Goethes Kritik herausfordern. Nach Fertigstellung seines Werkes Über das Sehn und die Farben im Juli 1815 hatte Schopenhauer ­Goethe das Manuskript geschickt und ihn um die Herausgeberschaft gebeten. ­Goethe lehnte jedoch mit der Begründung ab, sich nicht mehr am Streit um die Farbenlehre beteiligen zu wollen.56 Auch auf mehrfaches Drängen

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und die Farben, in: ders., Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, Bd. 6: Ueber das Sehn und die Farben etc., hg. v. Franz Mockrauer, München 1923, S. 3 – 56, besonders S. 49 – 52. Schopenhauer, Sehn und Farben, a. a. O. 1993, S. 282. Vgl. ebd., S. 224. Nach Schopenhauer wird das Violett in jedem Fall heller, ob es sich zum Purpur oder zum Blauen neigt – den beiden Farben des Spektrums, zwischen denen sich das Violett befindet. Vgl. ebd., S. 229. Anders als Schopenhauer betrachtet ­Goethe das Violett nicht als aus zwei hellen Farben zusammengesetzt, sondern in prismatischen Versuchen als aus dem Schwarzen bzw. Dunklen entstehend. Vgl. ­Goethe an Arthur Schopenhauer am 16. November 1815, in: Schopenhauer. Briefwechsel mit G ­ oethe, a. a. O., S. 27. Vgl. zu Goethes Theorie z. B. LA I.4, § 215, S. 81 – 82 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). Vgl. ­Goethe an Arthur Schopenhauer am 16. November 1815, in: Schopenhauer. Briefwechsel mit ­Goethe, a. a. O., S.  26 – 28.

4.1  Schopenhauers Philosophie des Urphänomens

Schopenhauers blieb ­Goethe ein Urteil über das Werk schuldig. Noch im Briefwechsel mit ihm ließ er Nachsicht gegenüber Schopenhauers subjektivistischer Theorie walten. Um die Differenzen in den Standpunkten beider Männer zu entschärfen, griff ­Goethe selbst auf eine subjektivistische Argumentationsweise zurück: „Wer selbst geneigt ist, die Welt aus dem Subject zu erbauen, wird die Betrachtung nicht ablehnen, daß das Subject, in der Erscheinung, immer nur Individuum ist, und daher eines gewissen Antheils von Wahrheit und Irrthum bedarf, um seine Eigenthümlichkeiten zu erhalten. Nichts aber trennt die Menschen mehr als daß die Portionen dieser beyden Ingredienzien nach verschiedenen Proportionen gemischt sind.“ 57

Nach dem Erhalt des Druckwerkes im Mai 1816 sparte G ­ oethe allerdings nicht mit Kritik – sei es in verschiedenen Epigrammen, sei es in einem Brief an den Berliner Staatsrat Christoph Ludwig Friedrich Schultz: „Nun ist, wie Sie wohl beurtheilen, dieser junge Mann, von meinem Standpuncte ausgehend, mein Gegner geworden, zur Mittelstimmung dieser Differenz habe ich auch wohl die Formel; doch bleiben dergleichen Dinge immer schwer zu entwickeln.“ 58 Diese kritische Äußerung und auch die Epigramme interpretiert Schopenhauer in der Einleitung der zweiten, 1854 erschienenen Auflage seines Werkes selbstbewusst als Minderwertigkeitsgefühl eines Meisters, der von seinem Schüler überholt wurde.59 ­Goethe konnte sich nicht vorstellen, dass das Individuum „keine Sonne“, sondern „immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht“ 60 kenne. Diese Auffassung hätte sein neoplatonisches Konzept der Erkenntnis des Gleichen durch Gleiches, des Lichts, das in Auge und Außenwelt gleichermaßen herrscht, auf den Kopf gestellt. Seine Kritik an diesem Konzept hatte er bereits in den Gesprächen mit Schopenhauer geäußert, wie dieser unumwunden bekundete: „Aber dieser ­Goethe war so ganz Realist, daß es ihm durchaus nicht zu Sinne wollte, daß die Objekte als solche nur da seien, insofern sie von dem erkennenden Subjekte vorgestellt werden. Was, sagte er mir einst, mit seinen Jupitersaugen mich anblickend, das Licht sollte nur da seyn, insofern Sie es sehen? Nein, Sie wären nicht da, wenn das Licht Sie nicht sähe.“ 61

57 Ebd., S. 26. 58 ­Goethe an den Berliner Staatsrat Christoph Ludwig Friedrich Schultz am 19. Juli 1816, in: Schopenhauer. Briefwechsel mit ­Goethe, a. a. O., S. 51. 59 Vgl. Schopenhauer, Sehn und Farben, a. a. O. 1993, S. 201. 60 Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung I, a. a. O., S. 31. 61 Schopenhauer zu Julius Frauenstädt, zit. n. Döll, ­Goethe und Schopenhauer, a. a. O., S. 40. Vgl. zur Interpretation davor auch Lütkehaus, Ludger, Wer / Wen das Licht sieht … Die Taten und Leiden der Farbenlehrer, in: Arthur Schopenhauer. Der Briefwechsel mit G ­ oethe und andere Dokumente zur Farbenlehre, hg. v. Ludger Lütkehaus, Zürich 1992, S. 79 – 104, hier S. 88 – 90.

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Auch bei Schopenhauer existiert das Licht vor dem Auge, und zwar in seinen ästhetischen Entwürfen. Die durch die Kunst vermittelte Erkenntnis des Schönen, die er neben der Transzendentalphilosophie als gleichwertigen Weg der Welterfassung beschreibt, ist in seinem Konzept nur unter zeitweiliger Ausblendung des Willens und der damit verbundenen physiologischen Prozesse möglich. Sie gelingt dem Subjekt nur durch die Kontemplation in den aktuell angeschauten Gegenstand, die sein Selbst-Bewusstsein völlig ausblendet.62 In ihr wird die apriorische Anschauungsform der Kausalität komplett außer Kraft gesetzt – es zählt nur noch das absolute, sich in den Phänomenen ausdrückende Ewige, die platonische Idee der Dinge. Wenn Schopenhauer in diesem Kontext nicht das empfindende Auge, sondern das vor allem Subjekt existente Licht als Symbol für die Erkennbarkeit des Göttlichen, Ewigen benutzt, greift er wie ­Goethe auf eine lange abendländische Tradition zurück: „Die Freude über das Licht ist also in der Tat nur die Freude über die objektive Möglichkeit der reinsten und vollkommensten anschaulichen Erkenntnisweise und als solche daraus abzuleiten, daß das reine, von allem Wollen befreite und entledigte Erkennen höchst erfreulich ist und schon als solches einen großen Anteil am ästhetischen Genusse hat.“ 63

Besonders das Genie wird hier zum körperlosen „Weltauge“, dessen Erkenntnisvermögen der ewigen Ideen Schopenhauer im „ruhigen Sonnenstrahl“ symbolisiert sieht.64 Wie seine kontextuell unterschiedlichen Farbkonzepte zeigen, divergieren bei ­Schopenhauer anders als bei G ­ oethe kunstästhetische Betrachtungen und Wahrnehmungstheorie in hohem Maße: Ist in Schopenhauers ästhetischen Studien das Aufgehen des menschlichem Bewusstsein im absoluten Dasein der Welt nur unter Ausschaltung des Bewusstseins der Sinneswahrnehmung möglich, hebt sich die noch im Farben-Werk aufscheinende Hierarchie der Sinnesqualitäten endgültig auf. Den Farben spricht Schopenhauer im ästhetischen Diskurs jegliches empfindungsauslösende Potential ab, indem er sie „zum Stoff rein objektiver Anschauungen“ erhebt.65 Hier entfalten die Farben ihre volle ästhetische Wirkung nicht durch die empirischen Buntwerte, sondern durch das erkenntnismetaphorisch gestützte Merkmal der Transparenz, welche die Eigenschaften von Licht und Farben einander nähert:

62 Vgl. Schopenhauer, Welt als Wille I, a. a. O., S. 243 – 372. Den Zusammenhang beider Erkenntniskonzepte – des naturwissenschaftlichen und des ästhetischen – stellt Crary aufschlussreich heraus, indem er die ästhetische Wahrnehmung als Rückzug aus einer modernen Welt interpretiert, die den Körper und seine Physiologie als vorhersehbar funktionierenden Apparat versteht. Vgl. Crary, Techniken des Betrachters, a. a. O., S. 85. 63 Schopenhauer, Welt als Wille I, a. a. O., S. 285. 64 Ebd., S. 266. 65 Ders., Welt als Wille II, a. a. O., S. 40.

4.2  Das abstrahierende Auge – Purkinjes subjektive Bilder

„Eben jene Wirkungslosigkeit der Farbempfindungen auf den Willen befähigt sie, wann ihre Energie durch Transparenz erhöht ist [!] wie beim Abendrot, gefärbten Fenstern u. dgl. uns sehr leicht in den Zustand der rein objektiven, willenlosen Anschauung zu versetzen, welche […] einen Hauptbestandteil des ästhetischen Eindrucks ausmachen.“ 66

Nur durch die Projektion erkenntnismetaphorischer Anleihen auf die phänomenale Ebene gelingt es Schopenhauer, die Farben als „willenlose“ Repräsentanten ihrer eigenen Ideen aufzuzeigen. Anders als Schopenhauer versuchte Johann E. Purkinje die wissenschaftliche Objektivität der subjektiven Gesichtserscheinungen in systematischen empirischen Studien zu beweisen. Erst dessen ausschließlich auf anatomisch-physiologischer Ebene gesuchte Begründung für die Übertragung von ­Goethes Urphänomen auf das Auge begann, den empirischen Beweis für den Anschluss zwischen physikalischen und physiologischen Erklärungsansätzen zu konstituieren, dessen Unterlassung Schopenhauer ­Goethe vorgeworfen hatte.

4.2 Das abstrahierende Auge – Purkinjes subjektive Bilder Unmittelbar nach Abschluss seiner entoptischen Studien hatte ­Goethe den Plan gefasst, bereits früher entworfene, noch unveröffentlichte farbtheoretische Schriften zusammenzustellen und in den Heften zur Naturwissenschaft überhaupt zu publizieren. Dieses Vorhaben verschob er jedoch, als er die Promotionsschrift Beiträge zur Kenntniss des Sehens in subjectiver Hinsicht des tschechischen Mediziners Johann E. Purkinje las. Das 1819 publizierte Werk hatte G ­ oethe ein Jahr später durch den preußischen Staatsrat C. L. F. Schultz kennengelernt, der sich – wie in Kapitel 3.6.2 beschrieben – intensiv mit G ­ oethes physiologischen Farbforschungen beschäftigte. Anders als im Falle Schopenhauers betrachtet G ­ oethe Purkinjes Schrift als Steigerung und Weiterführung seiner eigenen Studien. Purkinje begreift das Auge grundlegend als Medium, das äußere und innere Reize auf seine ihm eigene Weise strukturiert. In seinen Untersuchungen der subjektiven Gesichtserscheinungen beschäftigte er sich unter anderen mit Nach- und Simultanbildern, mit Phänomenen, die durch Druck auf das Auge entstehen, mit der Aderfigur des Auges, die er durch ein äußeres Licht sichtbar machte, sowie den fliegenden Mücken – physiologischen Erscheinungen im Auge, die als äußere Phänomene wahrgenommen werden. Bereits während seines Medizinstudiums hatte Purkinje ­Goethes Farbenlehre intensiv rezipiert und nicht nur aus dem Inhalt, sondern ebenso der Struktur des Werks einen intellektuellen Gewinn gezogen, wie er in einem Brief an G ­ oethe belegt: 66 Ebd.

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4. ­Goethes Urphänomen erobert das Auge

„Gleich in den ersten Jahren meines medizinischen Studiums machte ich mich mit Ihrer Farbenlehre bekannt. Ich habe Ihren Stoff nach Möglichkeit ergründet, an ihrer Form mich auferbaut. Schon damals faßte ich den Entschluß, den Wunsch Ihres hochwürdigen Alters, was an mir ist, zu realisieren und den physiologischen Teil der Farbenlehre, dazu ich schon damals merkwürdige Beobachtungen besaß, zu erweitern.“ 67

Obwohl Purkinjes Studien der subjektiven Gesichtserscheinungen entscheidend durch die Rezeption von G ­ oethes Farbenlehre inspiriert wurden, erwähnt er dessen Namen in seinem Werk an keiner Stelle. Wie ­Goethe später erkennen musste, waren berufsstrategische Gründen ausschlaggebend dafür, da Purkinje wegen der überwiegend negativen Aufnahme der Farbenlehre durch die Physiker Karrierenachteile befürchtete.68 Durch die Vermittlung des Staatsrats Schultz lernte ­Goethe Purkinje 1822 in Weimar kennen. Nach der persönlichen und brieflichen Diskussion mit ­Goethe sowie seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Physiologie an der Universität Breslau – eine Berufung, die in der Wissenschaftspolitik einflussreiche ­Goetheaner befördert hatten 69 – widmete Purkinje 1825 seine Neuen Beiträge zur Kenntniss des Sehens in subjectiver Hinsicht explizit ­Goethe. Als Inspirationsquelle seiner Studien führt Purkinje einleitend den einzigen auf Messungen basierenden physiologischen Versuch der Farbenlehre an. In § 41 des didaktischen Teils der Farbenlehre beschreibt G ­ oethe eine Messreihe des Farbverlaufs von Blendungsbildern. Es ist eine der wenigen Stellen, an denen G ­ oethe räumliches Sehvermögen und Farbwahrnehmung zusammendenkt. Obwohl er erkennt, dass die Dauer der Farbentwicklung von der Schärfe des Auges abhängt, hält er ein „gewisses [allgemeines – S. Sch.] Zahlenverhältnis“ dieser Erscheinungen für möglich.70 Dieser Verweis Purkinjes steht paradigmatisch für dessen intensives Bemühen um eine Klassifizierung der subjektiven Gesichtserscheinungen und die Sicherung der wissenschaftlichen Objektivität seiner Forschungsergebnisse. Mit seinem Anspruch, die Materialität des Organismus ebenso erforschen zu wollen wie der Physiker die 67 LA II.5B.2, S. 1094 ( Johann E. Purkinje an ­Goethe am 7. Februar 1823). 68 „Ich las die Schrift mit großer Freude; allein zu meiner nicht geringen Überraschung mußte ich sehen, daß der Verfasser mich nicht einmal genannt hatte. Später war mir das Rätsel gelöst. Ein gemeinschaftlicher Freund besuchte mich und gestand mir: der talentreiche junge Verfasser habe durch jene Schrift seinen Ruf zu gründen gesucht und habe mit Recht gefürchtet, sich bei der gelehrten Welt zu schaden, wenn er es gewagt hätte, seine vorgetragenen Ansichten durch meinen Namen zu stützen.“ ­Goethe zu Eckermann am 30. Dezember 1823, in: Eckermann, Gespräche mit ­Goethe, a. a. O., S. 501. 69 Neben dem preußischen Staatsrat Schultz waren es der preußische Kultusminister Freiherr von Altenstein, sein für das höhere Unterrichtswesen zuständiger Geheimer Oberregierungsrat J­ ohannes Schulze und der Berliner Physiologe Karl Asmund Rudolphi, die Purkinje förderten und sich gegen den Vorschlag der Breslauer Fakultät durchsetzten, Franz von Paula Gruithuisen zu berufen. Vgl. hierzu ausführlich Müller-Tamm, Farbe bekennen, a. a. O., S. 192 – 209. 70 Vgl. LA I.4, § 41, S. 35, Zitat ebd. (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

4.2  Das abstrahierende Auge – Purkinjes subjektive Bilder

objektive Welt durch Apparaturen, überträgt Purkinje den Objektivitätsanspruch der physikalischen Wissenschaft auf den Bereich des menschlichen Körpers. In diesem Kontext bemüht sich Purkinje, G ­ oethes Urphänomen der Farbentstehung zwischen Hell und Dunkel auch im Auge zu entdecken und physiologisch zu legitimieren. Purkinjes Diskurs richtet sich nicht nur – wie derjenige ­Goethes und auch Schopenhauers – auf die Retina, sondern umfasst von der Horn- bis zur Netzhautfunktion die gesamte Physiologie des Auges. Purkinje greift nicht nur metaphorisch zu einem Spiegel, sondern erfindet eine Vorform des später von Helmholtz entwickelten Augenspiegels, um das Innenleben des empirischen Gesichtssinns sichtbar zu machen.71 Während G ­ oethe das Auge als sinnliches Messgerät für die Qualitäten der Farbe versteht, betrachtet Purkinje dieses selbst als messbaren Gegenstand. Er erwarb sich Verdienste in der Ophthal­ mometrie (der Vermessung des Auges) und Keratometrie (einem Messverfahren zur Bestimmung der Hornhautkrümmung und des Hornhautdurchmessers). Als erster beschrieb er die vom Auge selbst erzeugten Spiegelbilder, die durch die Reflexion eines wahrgenommenen Bildes von der hinteren und vorderen Linsenfläche entstehen, und entdeckte die doppelten Hornhautbilder.72 In den nachfolgend vorgestellten Bezügen zwischen ­Goethes und Purkinjes Wahrnehmungstheorien wird dargelegt, welches besondere Interesse ­Goethe an Purkinjes Diskurs über das Eigenleben der Sinne und dessen wissenschaftliche Methoden der Erkenntnissicherung zeigt. ­Goethe reflektiert Purkinjes Studien explizit in einem Aufsatz, den er – trotz Ausblendung seines Namens begeistert von dessen Promo­ tionsschrift – nach ihrer Lektüre verfasste. Es handelt sich um den Kommentar Das Sehen in subjektiver Hinsicht. Von Purkinje. 1819, den ­Goethe 1824 in den Heften Zur Naturwissenschaft überhaupt veröffentlichte. G ­ oethe rezensiert hier nicht nur wie im polemischen, gegen Newtons optische Experimente gerichteten Teil der Farbenlehre nach eigenem Gutdünken ausgewählte Ausschnitte aus dem Text des anderen oder zitiert sie unkommentiert, er montiert nicht nur die eigene Meinung und Stimme in das ursprüngliche Werk, sondern greift zu einem Darstellungsmittel der besonderen Art. Er spaltet das redende Ich in einen auktorialen Erzähler und einen Handlungsträger 71 Mit dieser Vorform des Augenspiegels versuchte Purkinje, durch seitliche Beleuchtung des Auges in einem davor gehaltenen Spiegel die Fasern und Falten der Iris sichtbar oder durch Beleuchtung des Auges in Blickrichtung des Beobachters und eine davor gehaltene konvexe Linse das Innenleben des Sehorgans empirisch zugänglich zu machen. Vgl. Purkynĕ, Johann Evangelista, Abhandlung über die physiologische Untersuchung des Sehorgans und des Hautsystems, Halle / Saale 1979, S.  119 – 121. 72 Vermutlich hatte bereits Chr. Scheiner 1619 das erste der Hornhautbilder entdeckt. Er stellte fest, dass es durch Reflexion eines wahrgenommenen Gegenstandes an der vorderen Hornhautfläche entsteht. Purkinje fand heraus, dass sich sowohl an der vorderen als auch an der hinteren Hornhautfläche ein solches Bild befindet, von denen das zweite schwächer ist. Er erkannte, dass die Bestimmung des Verhältnisses der beiden Bilder es ermöglicht, die Dicke und den Durchsichtigkeitsgrad der Hornhaut zu bestimmen. Vgl. ebd., S. 117.

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auf diegetischer Ebene, auf der er sich – eine gewisse Selbstdistanz erzeugend – in der dritten Person anspricht. Auf diese Weise wird ­Goethe zum Formgeber und Erzählstoff gleichermaßen. Durch das Agieren auf der Metaebene gelingt es ihm leicht, die objektive Gleichwertigkeit beider Theorien herauszustellen und ihre wechselseitige Anschlussfähigkeit aufzuzeigen. ­Goethes Reaktionen auf die Beiträge bilden die Basis für die nachfolgenden Darlegungen.73 Richtet sich auch Purkinjes Ansatz auf das anthropologische Konzept des ganzen Menschen, kennzeichnen seine Empirie des Subjektiven,74 die ein Meilenstein für die Entwicklung der Sinnesphysiologie werden sollte, zwei Merkmale: Erstens sucht Purkinje in seinem Ansatz nach dem engen Wechselverhältnis von Physiologie und Psychologie anders als ­Goethe und Schopenhauer allein im Organischen, so dass er Wahrnehmung und Verstand gleichermaßen als physiologische Phänomene versteht. Von dieser Prämisse ausgehend, fordert Purkinje eine Neudefinition der empirischen Psychologie, die bisher – noch stark vermögenspsychologisch bzw. erfahrungsseelenkundlich geprägt – lediglich auf die Beobachtung des fremden und eigenen Verhaltens setzt: „Am meisten verwandt ist unser Beginnen mit dem, was man unter empirischer Psychologie begreift; jedoch auch wieder darin unterschieden, dass es uns bei unsern Erfahrungen nicht um die Charakterisierung eines hypothetischen Seelenprincips und um Feststellung von Vermögen und Kräften zu thun ist, wir suchen als Physiologen die Erscheinungen und Gesetze des Lebens, unter welcher Form es auch sei; […]. Wir reflectiren zunächst, auf empirische Weise, auf die activen und passiven Vorgänge und Zustände des Subjectiven in unserm Organismus, und verfolgen sie beobachtend und experimentirend, indem wir die Organe desselben in künstliche Verhältnisse bringen, oder uns dessen innern Operationen hingeben, um sie desto sicherer zu erforschen. Unser Verfahren ist daher physiologisch in dem eigentlichsten Verstande des Wortes, und wir verschmähen auch keine von den Hülfen, die uns die Kenntniss des materiellen Organismus gewähren könnte.“ 75 73 ­Goethe zeigte sich nicht nur vom Text des Werkes begeistert, sondern auch von den Abbildungen der subjektiven Gesichtsphänomene, die Purkinje auf einer Tafel beigefügt hatte. G ­ oethe ließ diese Tafel vom Kupferstecher Schwerdgeburth nachstechen, um sie der Publikation seines PurkinjeKommentars beizufügen. Schwerdgeburth bestätigte bei Gelegenheit dieses Auftrags Purkinjes Beobachtungen und bildete eigene Gesichtsphänomene ab, die er bis dahin für pathologisch gehalten hatte. Vgl. ­Goethe, Johann Wolfgang an C. L. F. Schultz am 29. April 1821, zit. n. LA II.5B.2, S. 951. 74 Purkinje, Jan Evangelista, Über Müllers Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns und Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen, in: ders., Opera Omnia V, Prag 1951, S. 27 – 54, hier S. 28. 75 Ebd., S. 31. Vgl. ebenso die folgende Aussage Purkinjes: „Dieser Wechselverkehr des Geistes mit der Materie zur deutlichen Erkenntnis erhoben, begründet, eine eigene Doktrin, die empirische Psychologie, die in ihrem Grenzgebiete der Physiologie nahesteht, und mit der Nervenlehre dieser innigst zusammenhängt.“ Purkinje, Jan Evangelista, Beiträge zur Physiologie der menschlichen Sprache, in: ders., Opera Omnia XII, Prag 1973, S. 47 – 88, hier S. 48.

4.2  Das abstrahierende Auge – Purkinjes subjektive Bilder

Anschließend an G ­ oethes Erkenntnisse und diese zugleich erweiternd, betrachtet Purkinje zweitens alle Wahrnehmungsphänomene als durch das Agieren der Sinne selbst geprägt. Anders als bei ­Goethe, der die ausschließlich intrakorporale Reizung des Auges pathologisiert, fungiert in Purkinjes Konzept der menschliche Körper als alleiniger Erkenntnisgegenstand, der die Welt nach seinem Sinne modelliert, um sie für sich verfügbar zu machen: „Insgemein sind es Empfindungen, wie sie diesem oder jenem Sinne zukommen, denen aber nichts ausserhalb des Leibes entspricht, und die, insofern sie dennoch die Qualitäten und Formen äusserer Dinge nachahmen, und dadurch oft zu Täuschungen Anlass geben, zum Theil mit Recht für Phantome, für blossen Schein, dem keine Wirklichkeit entspricht, gehalten werden. Diese mögen also nach den angegebenen Rücksichten immerhin subjective Sinnenphänomene heissen. Jedoch bleibt es stets eine unabweisbare Aufgabe des Naturforschers ihren objectiven Grund aufzuzeigen, indess es für den gemeinen Lebensgebrauch genügt zu wissen, dass sie nur dem Sinnesorgane angehören, und keine ihnen entsprechenden Objecte ausserhalb des Körpers weiter zu suchen sind.“ 76

Im Gegensatz zu ­Goethes Wahrnehmungsmodell, in dem sich das vernehmende und sprechende Auge ins große Zeichensystem der Natur fügt, bescheinigt Purkinje allein dem optischen Sinn eine „Sprache der Natur“,77 die das Wahrgenommene nach eigenen Regeln strukturiert. Im Unterschied zum unten vorgestellten Konzept Johannes Müllers erhalten in Purkinjes Theorie allerdings die Objekte der Außenwelt und ihr Verhältnis zur Wahrnehmung noch eine gewisse epistemologische Relevanz. Jeder Sinn kann „durch Beobachtung und Experiment sowohl in seinem Eigenleben, als in seiner eigenthümlichen Reaction gegen die Aussenwelt aufgefasst und dargestellt werden, jeder ist gewissermaßen ein Individuum; daher die Specificität, das zugleich Fremde und Eigene in den Empfindungen.“ 78 Besonders dieses Verhältnis ist es, das G ­ oethe an den Studien des Sinnesphysiologen interessiert. Das Zitat und G ­ oethes Reaktion darauf, in der dieser – anders als Purkinje – primär naturphilosophisch inspiriert die harmonischen Relationen zwischen inneren und äußeren Wahrnehmungsbedingungen als Weg zur Vervollkommnung des Subjekts kennzeichnet, stellt G ­ oethe an die 79 Spitze des Purkinje-Kommentars. 76 Ders., Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 3 – 4. 77 Purkinje, Jan Evangelista, Ueber die Verdienste Berkeley’s um die Theorie des Sehens, in: Opera Omnia II, Prag 1937, S. 70 – 71, hier S. 71. 78 Ders., Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 7 – 8. 79 „Das Anerkennen eines Neben- Mit- und Ineinander-Seins und Wirkens verwandter lebendiger Wesen leitet uns bei jeder Betrachtung des Organismus und erleuchtet den Stufenweg vom Unvollkommenen zum Vollkommenen.“ FA I.25, S. 817 (Das Sehen in subjektiver Hinsicht. Von Purkinje. 1819).

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Um seinen empirisch-subjektivistischen Standpunkt zu untermauern, postuliert Purkinje eine Autonomie der einzelnen Sinne, deren „jeder […] gewissermaßen ein Individuum“ 80 ist. Das noch bei ­Goethe für den ganzen Menschen geltende vermögenspsychologische Konzept der Seelenkräfte transferiert Purkinje auf die jeweiligen Einzelsinne und stellt es auf eine organische Grundlage: „Zunächst […] liesse sich behaupten, dass Gedächtniss und Einbildungskraft in den Sinnesorganen selbst ­thätig sind, und dass jeder Sinn sein ihm eigenthümlich zukommendes Gedächtniss und Einbildungskraft besitze […].“ 81 Durch das Zusammenwirken der einzelnen Vermögen ist nach Purkinje jeder empirische Sehprozess immer schon vom phantasmatischen und erinnernden Sehen durchdrungen: „[…] wo er [der Sinn – S. Sch.] in unmittelbarer Wechselwirkung mit dem Gegenstande steht sind auch schon Gedächtniss und Einbildungskraft implicirt und gerade dann am lebendigsten, so dass sie später nur als Schatten und Nebenbilder der eigentlichen Sinnesthätigkeit erscheinen, dagegen ihre höchste Steigerung nur die ist, wo ihr Produkt der unmittelbaren Sinnesanschauung nahe kömmt.“ 82

Das hier aufgezeigte Verhältnis der Vermögen sieht Purkinje in der Struktur des Gesichtsfeldes visualisiert, deren Abhängigkeit von der Sehschärfe er herausstellt: Die Stelle des direkten Sehens, die in der gerade auf den Gegenstand gerichteten Sehachse des Auges liegt, ist nach seiner Meinung der für die Sinneswahrnehmung wichtigste, weil klarste Punkt. Er zeigt die Gegenstände am deutlichsten. Den außerhalb des Achsenpunktes liegenden Bereich des Gesichtsfeldes, der nur durch schiefe Linien zwischen dem Gegenstand und dem Auge darstellbar ist, definiert Purkinje als Zone des indirekten Sehens, die zu ihren Grenzen hin unschärfer wird, bevor sie sich im Unsichtbaren jenseits des Blickfeldes verliert. Beide Bereiche werden über die Aufmerksamkeit miteinander verbunden, zu deren Intensität sich die Einbildungskraft umgekehrt proportional verhält: Je stärker sich das Bewusstsein auf den ihm eigenen Bereich des direkten Sehens konzentriert, um so geringer wird die Aufmerksamkeit im Bereich der unscharf wahrgenommenen Gegenstände, bis sie im Nichtsichtbaren gänzlich verschwindet. Das indirekte Sehen dient nach Purkinje aufgrund seiner Fähigkeit zum Festhalten der Totalität von Sinneseindrücken „im Sinne selbst als ein Analogon der Phantasie und des Gedächtnisses“, das Unsichtbare gänzlich als Forum der Imagination, als ein „unbestimmtes subjectives Träumen von Gesichtsgegenständen ohne Objectivität“.83 Auf diese Weise zeigt Purkinjes Wahrnehmungsmodell direkt an 80 81 82 83

Purkinje, Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 8. Ebd., S. 170. Ebd., S.  170 – 171. Purkinje, Neue Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., in der Reihenfolge der Zitate S. 22 und S. 10.

4.2  Das abstrahierende Auge – Purkinjes subjektive Bilder

der vom Organ produzierten visuellen Bildstruktur, dass reproduktive und produktive Einbildungskraft mit- und ineinander wirken, während G ­ oethe diese Verbindung lediglich theoretisch in seinem Konzept der reproduktiv-produktiven Einbildungskraft reflektiert und experimentalpraktisch berücksichtigt.84 Verweist die geometrische Struktur des Blickfelds – Anleihen an der deutschen idealistischen Philosophie nehmend 85 – auf die Klarheit des Denkens und damit auf die Selbstreflexion, ist sie, wie Jutta Müller-Tamm aufzeigt, primär kunstästhetisch geprägt. Indem das scharf gestellte Auge sowohl das Feld des direkten als auch des davon abhängigen indirekten Sehens strukturiert, verbindet es autonom das Wahrgenommene zu einem einheitlichen Bildschema. Erinnern noch im physikalischen Diskurs der Farbenlehre zahlreiche Beschreibungen von Naturphänomenen an das um 1800 bedeutende künstlerische Konzept des Totaleindrucks, ist dieser bei Purkinje, der explizit diesen Terminus benutzt,86 ausschließlich ein physiologisch konstituiertes Produkt. Das analysierend-auswählende und zugleich synthetisierend-kombinierende Auge agiert als Künstler, der seine eigene Wirklichkeit in der Totalität des physiologischen Bildes gestaltet. Erst durch den subjektiven Blick erhalten die Gegenstände ihre Bedeutung, er allein erzeugt die Ordnung der Welt. Während G ­ oethe in seinem Entwurf des gleichermaßen schaffenden und denkenden Künstlerblicks die Mitwirkung des Auges in den physikalischen Versuchen entdeckte, während dieses ästhetische Modell die Konstellation seiner Experimente entscheidend prägte, gelingt es Purkinje, subjektive Farberzeugung und gestaltenden Künstlerblick im Konzept einer physiologisch bedingten Kreativität zusammenzuführen.87 84 Vgl. zum gesamten Absatz ebd., S. 3 – 31. 85 Ausdrücklich verweist Purkinje auf Fichtes mit dem Gesichtssinn verbundene linienziehende Anschauung, die sich bei diesem zuvörderst auf die Konstitution des Seienden im Bewusstsein bezieht. Fasst Fichte die Tätigkeit des sich selbst reflektierenden Ichs als ein Linienziehen auf, so betrachtet er diese Linie in Die Grundlage des Naturrechts als reine Ausdehnung in Raum und Zeit, bezieht sie aber nicht auf die optische Wahrnehmung. Ein ähnliches Beispiel hatte bereits Kant in der Kritik der reinen Vernunft angeführt, um die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption zu erklären. Diese Begrifflichkeit beschreibt, dass a priori und formal ein Begriff vom Objekt besteht, der alle Vorstellungen des Subjekts bereits vor ihrem Bewusstwerden bzw. dem Vorhandensein ihres Inhalts vereinigt. Am Beispiel geometrischer Linien erläutert Kant die notwendige Konstitution des Objekts durch das Subjekt. Vgl. Müller-Tamm, Jutta, Die „Empirie des Subjektiven“ bei Jan Evangelista Purkinje. Zum Verhältnis von Sinnesphysiologie und Ästhetik im frühen 19. Jahrhundert, in: Dürbeck, Gabriele u. a. (Hg.), Wahrnehmung der Natur, Natur der Wahrnehmung: Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden 2001, S. 153 – 164, hier S.  156 – 157. 86 Vgl. Purkinje, Neue Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 24. 87 Vgl. zu der in diesem Absatz dargelegten Purkinje-Interpretation Müller-Tamm, „Empirie des Subjektiven“, a. a. O., S. 157. In ihrem Aufsatz verweist die Forscherin auf die Verwandtschaft dieses Wahrnehmungsmodells mit der Gestalttheorie. In beiden können Leerstellen in der Wahrnehmung realer Gegenstände durch die Phantasie geschlossen werden. Vgl. ebd., S. 158 – 159.

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Begeistert von Purkinjes Ansichten, teilt G ­ oethe ihm mit, dass diese für ihn einem Erweckungserlebnis gleichgekommen seien, das ein in ihm schlummerndes Potential wachgerufen und geordnet habe: „Alles was mir bei einem beharrlichen Wandeln eben in dem Reiche des Sehens, Schauens, Beobachtens, Erinnerns und Imaginierens vorgekommen und vorgeschwebt, trifft mit Ihrer Darstellung vollkommen überein, indem sie durch Sie zum Bewusstsein gesteigert wird.“ 88 ­Goethe bestätigt und erweitert im Purkinje-Kommentar die Erkenntnisse des Forschers, indem er darlegt, wie er ohne äußere Bildvorlage, nur mit geschlossenen Augen allein durch die Einbildungskraft eine permanent aus sich selbst herauswachsende Blume erzeugt: „Es war unmöglich, die hervorquellende Schöpfung zu fixieren, hingegen dauerte sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht und verstärkte sich nicht. Dasselbe konnt’ ich hervorbringen, wenn ich mir den Zierat einer buntgemalten Scheibe dachte, welcher denn ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie sich immerfort veränderte, völlig wie die in unsern Tagen erfundenen Kaleidoskope. […] Mit andern Gegenständen fiel mir nicht ein den Versuch zu machen; warum aber diese bereitwillig von selbst hervortraten, mochte darin liegen, daß die vieljährige Betrachtung der Pflanzenmetamorphose, sowie nachheriges Studium der gemalten Scheiben, mich mit diesen Gegenständen ganz durchdrungen hatte; […]. Hier ist die Erscheinung des Nachbildes, Gedächtnis, produktive Einbildungskraft, Begriff und Idee alles auf einmal im Spiel und manifestiert sich in der eignen Lebendigkeit des Organs mit vollkommener Freiheit ohne Vorsatz und Leitung.“ 89

Diese Beschreibung veranschaulicht exemplarisch, wie in G ­ oethes Farbstudien die Wissenschaften vom Leben in die philosophisch geprägte Vermögenspsychologie hineinwirken. In Anlehnung an Purkinje entwirft er nun die Materialität des Auges als schaffendes Künstlergenie. Dessen Schöpferkraft wird nicht mehr durch die Vermögen Verstand, Vernunft und Wahrnehmung geregelt, die G ­ oethe als lose gekoppelte, je nach kontextuellem Erfordernis neu zusammentretende Konfigurationen dachte, sondern allein durch die physiologischen Prozesse. Auf diese Weise wird in G ­ oethes Selbstbeobachtung das Steuerungsinstrument einer äußeren, sinnlich erfahrbaren Welt durch die empirische Natur des Menschen ersetzt, welche die Kunst als eine zweite und erweiterte Natur auf neue Weise definiert.90 Auch wenn in G ­ oethes Konzept die organisch erzeugte Phantasietätigkeit einmal erfahrene äußere Bilder verarbeitet, 88 WA IV,40, S. 327 – 328 (­Goethe an Johann E. Purkinje am 18. März 1826). 89 FA I.25, S. 826 (Sehen in subjektiver Hinsicht). 90 Vgl. dazu ausführlich Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung, a. a. O., S. 38 – 39. Wie die Autorin herausstellt, handelt es sich hierbei nicht um den von ­Goethe kritisierten überbetonten Selbstbezug des Menschen in der romantischen Kunst, der willkürlich konstituierbar ist, sondern um eine durch das Organ bedingte regulative Objektivität. Vgl. ebd.

4.2  Das abstrahierende Auge – Purkinjes subjektive Bilder

sind nicht mehr wie im Wahrnehmungsmodell der Farbenlehre aktuelle Außenreize erforderlich, um das Auge zur Eigenaktivität anzuregen. Das Subjekt wird nun völlig aus sich selbst heraus ikonisch produktiv. Da G ­ oethe Wahrnehmung, Gedächtnis und das freie Spiel der Phantasie gleichermaßen als organisch produziert begreift, wird die Trennung der Einbildungskraft in reproduktive und produktive Anteile obsolet, die sein vermögenspsychologisches Konzept enthält. Indem er die organische Bedingtheit des kreativen Künstlerblicks herausstellt, begreift ­Goethe das physiologische Selbstregulierungsvermögen der Phantasie analog den rational ausgerichteten Wissenschaften als unabdingbares Gesetz der Kunst: „[…] so wird ein Mann, zu den sogenannten exakten Wissenschaften geboren und gebildet, auf der Höhe seiner Verstandesvernunft nicht leicht begreifen, daß es auch eine exakte sinnliche Phantasie geben könne, ohne welche keine Kunst denkbar sei.“ 91 Dennoch verdrängt das Konzept der physiologisch fundierten künstlerisch-assoziativen Einbildungskraft nicht ­Goethes erkenntnistheoretischen Entwurf der im Experiment zum Einsatz kommenden reproduktiv-produktiven und umsichtigen Einbildungskraft, die zwischen zwei Wahrnehmungen vermitteln: zwischen der vergangenen in den bisherigen und derjenigen der künftigen Versuche in Form ihrer gedanklichen Vorwegnahme. Beide Konzepte existieren nebeneinander.92 Definiert Purkinje als Auslöser des empirischen Sehprozesses sowohl innere organische Kräfte als auch körperexterne objektive Reize, die das subjektive Selbstgefühl modifizieren können, gleichermaßen,93 entwertet er in seinem Wahrnehmungsmodell den absoluten Raum der newtonischen Physik. Er erkennt den vom Auge wahrgenommenen Raum als grundlegendes Element der Dreidimensionalität. Diese Rangfolge schreibt sich in Purkinjes Teilung der Augenaktivitäten ein, in der er subjektiv und objektiv Wahrgenommenes unterscheidet. Beim subjektiv Gesehenen verbleibt bei allen Lageveränderungen des Auges das Wahrgenommene auf derselben Stelle der Retina. Das objektiv Gesehene verweist auf die räumlichen Relationen außerhalb des Subjekts. Mit deren Verschiebungen ändern sich zugleich die Bilder des Auges.94 Allein das subjektiv Gesehene wird hier zum Festen, Beständigen, der äußere Raum hingegen zum Variabel-Unzulänglichen. Der Selbstbezug des Subjekts wird zum Maßstab der Wahrnehmung überhaupt, indem der subjektive, innere Raum des M ­ enschen als 91 HA 13, S. 42 (Ernst Stiedenroth, Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen, Erster Theil). 92 Dafür spricht bereits die zeitliche Nähe beider Konzepte. Sowohl den Purkinje-Kommentar als auch den schriftlichen Beleg der reproduktiv-produktiven bzw. umsichtigen Einbildungskraft entwarf ­Goethe zu Beginn der 1820er-Jahre. 93 Vgl. z. B. folgende Aussage Purkinjes über subjektive Gesichtsphänomene: „Das nun bei diesen Oscillationen [die Purkinje in Analogie zu den Tonwellen postulierte – S. Sch.] theils im Nervenmarke des Auges selbst, theils in der nächsten Umgebung entwickelte Licht wird empfindbar, und die Sinneskraft setzt es im Sehraume zu den beschriebenen Figuren zusammen.“ Purkinje, Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 45. 94 Vgl. Purkinje, Neue Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 53.

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„Träger sinnlicher Empfindungen“ Voraussetzung für die Anschauung des objektiven, äußeren Raumes ist.95 Durch diesen Zugriff wird der von Kant lediglich ideell-apriorisch ans Subjekt gebundene Raum endgültig auch empirisch legitimiert. Der optische Sinn agiert in Purkinjes Konzept nicht in reiner, autonomer Form, sondern wird durch den Tastsinn unterstützt, der das Wahrgenommene räumlich ordnend strukturiert, dadurch das Subjekt ins Verhältnis zur Außenwelt setzt und erst auf diese Weise eine objektive Wahrnehmung ermöglicht: „So wie das eigentliche Organ des Gesichtssinnes, die Retina, eine Fläche ist, so wird auch immer ursprünglich nur eine Fläche gesehen, auf welcher alle sichtbare Bewegungen vorgehen. Wenn diese Fläche beim gewöhnlichen Sehen durchbrochen und die Gesichtsobjecte in verschiedenen Entfernungen nach allen Dimensionen des Raumes dislocirt werden, so gehört diese Thätigkeit strenge genommen dem mit dem Gesichtssinne untrennbar verbundenen allgemeinen Raumsinne zu, wodurch die vom Auge dargebotenen Empfindungen erst zu eigentlichen objectiven Anschauungen gebildet werden.“ 96

Während in G ­ oethes Farbstudien subjektiv und objektiv erzeugte Erscheinungen gleichwertige Komponenten eines Bildes sind, das sich auf die Retina zeichnet, wird bei Purkinje die Wahrnehmung der äußeren Phänomene durch die Aktivität des Auges unter Zuhilfenahme des Tastsinns selbst überblendet: „Da seine Empfindungen [des Gesichtssinns – S. Sch.] am wenigsten die Eigenschaft besitzen, sich durch erhöhtes Nervengefühl als subjective zu insinuieren, sind sie am meisten geeignet, durch die Anschauung in einen unbestimmten äussern Raum versetzt zu werden, deren genauere Dislocirung erst von den dazu bestimmten Hilfsbewegungen der Tastorgane abhängig ist. Die Objectivierungstendenz des Gesichtssinnes, oder sein Projectionsvermögen, ist so entschieden thätig, dass selbst die, durch anderweitige Gründe als subjective erkannten Empfindungen und Anschauungen desselben immer nur als objective vorgestellt werden.“ 97

Wie dieses Zitat eindrücklich belegt, exponiert sich die Subjektivität der Gesichtsempfindungen bildlich darin, die Tätigkeit der eigenen Netzhaut auf das Angeschaute selbst zu projizieren, so dass die äußeren Objekte durch die Lupe psychophysiolo­gischer Konfigurationen betrachtet und wahrgenommen werden.98 95 Vgl. Purkynĕ, Jan Evangelista, Die Topologie der Sinne im Allgemeinen, nebst einem Beispiel eigenthümlicher Empfindungen der Rückenhaut beim Gebrauche des Regenbades (1854), in: ders., Opera Omnia III, Prag 1939, S. 79 – 91, hier S. 79, Zitat ebd. 96 Purkinje, Neue Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 51. 97 Purkynĕ, Topologie der Sinne, a. a. O., S. 80. 98 In ihrer Habilitationsschrift Abstraktion als Einfühlung legt Jutta Müller-Tamm auf anschauliche Weise dar, wie diese der frühen Sinnesphysiologie entstammende Denkfigur der Projektion in

4.2  Das abstrahierende Auge – Purkinjes subjektive Bilder

Konzipiert ­Goethe in den Experimenten der Farbenlehre die chromatischen Phänomene als gleichwertigen Ersatz für den Raum, spielt dort das räumliche Sehvermögen nur eine untergeordnete Rolle, pflichtet er nun den räumlichen Bezügen in ­Purkinjes Sehmodell kritiklos bei: „Das räumliche Verhältnis des Subjekts zum Objekte ist durchaus von der größten Bedeutung.“ 99 Zu diesem Zugeständnis erklärt er sich vermutlich nur allzugern bereit, da in Purkinjes Wahrnehmungsmodell die Tätigkeit des Auges und das mit ihr verbundene Empfinden raumkonstituierend wirken und somit nicht nur die Farbe, sondern auch der Raum als subjektiv erzeugte Phänomene nachgewiesen werden. Zur Bestätigung seiner Ansicht führt G ­ oethe zwei Experimente an, in denen er auf die rein subjektive Macht einer potentiellen Raumentfremdung verweist: Er beschreibt eine zwischen die überkreuzten Finger einer Hand gelegte Erbse, die – wie beim Schielen die Bilder – doppelt wahrgenommen wird, sowie das intensivere Empfinden äußerer Farben bei zurückgelehntem Kopf oder gebücktem Blick durch die Beine.100 Die Verknüpfung von Seh- und Tastsinn fasst Purkinje als empiristisch bedingt, d. h. als durch Erfahrung erworben, auf. Ist das Auge in dessen Wahrnehmungstheorie zwar in starkem Maße auf den haptischen Sinn angewiesen, bescheinigt Purkinje dem Gesichtssinn sogar einen eigenen Tastsinn, den er als „viel weiter ausgebildet […] als in irgend einem anderen Bewegungsorgane“ begreift,101 bedeutet dies keineswegs eine erkenntnistheoretische Entwertung des Sehens. Im Gegenteil: Purkinje bemüht sich – wie unten ausführlich erläutert wird – in zahlreichen Selbstexperimenten, die haptischen Elemente zu absorbieren, um die reine visuelle Wahrnehmung ausschließlich an der Fläche des Gesichtsfeldes, seinen Farben und Strukturen erfahrbar zu machen. In seinen ausschließlichen Farbversuchen unterscheidet Purkinje in Anlehnung an Buffon und Darwin noch immer subjektive und objektive Farben, betrachtet deren Interpretation jedoch nach dem gewandelten Stand der Wissenschaft als unzureichend und bittet sowohl Physiologen als auch Physiker um Nachstellung seiner Versuche. In diesen analysiert er u. a. die farbenbildenden Aktivitäten des Auges auf äußere chromatische Vorlagen, die in seinem Wahrnehmungsmodell von Reaktionen zu Aktionen werden. Er kombiniert z. B. Nachbild- und Simultanfarben erneut mit gleich- oder andersfarbigen äußeren Motiven, stellt aber nicht wie ­Goethe eine ausgewogene Innen-Außen-Relation, sondern die subjektiven, auch widersprüchlichen Aktionen des Auges heraus, die in seinem Modell zur eigentlichen Wahrnehmung verschiedene Wissens- und künstlerische Gebiete wandert und dort strukturierende Eigenschaften entfaltet: in Religionskritik, Kulturtheorie, Psychoanalyse, Ästhetik usw. Vgl. Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung, a. a. O. 99 FA I.25, S. 824 (Sehen in subjektiver Hinsicht). 100 Vgl. ebd., S. 824 – 825. 101 Purkinje, Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 163.

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werden. Wie beim Raumempfinden visualisieren sie die physiologische Macht des Subjekts, die Wirkung der äußeren Eindrücke, in diesem Fall: der Farben, außer Kraft zu setzen: „Da es jedoch in der lebendigen Natur keine Einwirkung ohne eine gemäße Rückwirkung gibt, so wirkt das Organ aus innerem Prinzipe dem objectiven Einflusse entgegen, und es wird in demselben eine der objectiven entgegengesetzte Abänderung oder Stimmung hervorgebracht, welche jene entweder vollkommen aufhebt, oder wenigstens bei fortdauernder äusserer Einwirkung zum Theile abstumpft. […] Man unterscheidet primäre Einwirkung und secundaire subjective Rückwirkung, einen Moment der Passion und einen der Action; man sieht, dass nur zwei in einem und demselben Substrate erregte, entgegengesetzte subjective Actionen einander bekämpfen und aufheben, dass der Moment der Passion nie unmittelbar das Wirksame sey, […].“ 102

Trotz oder gerade wegen seiner systematischen Versuche ist sich Purkinje bewusst, dass die Farbe ein unsicherer, schwer zu verobjektivierender Faktor ist. Der tschechische Physiologe erkennt nicht nur im intrasensualen Bereich die Gefahr ihrer Differenzen – Differenzen, die durch das räumliche Wahrnehmungsvermögen bedingt sind –, sondern macht ebenso auf die Schwierigkeiten einer intersubjektiven Überprüfbarkeit der Farbqualitäten und eines daraus resultierenden allgemeingültigen Urteils aufmerksam: „Dass die Farbenqualität etwas sehr Unbeständiges, objectiv Unwesentliches sey, davon kann man sich auf vielfache Weise leicht überzeugen. Schon die eigenen beiden Augen werden bei den meisten Personen in dieser Hinsicht verschieden seyn. Gewöhnlich erscheint die Farbe dem schwachsichtigen Auge weniger lebhaft, als dem starksichtigen; in der Dämmerung unterscheidet das starksichtige Auge die Farbenqualität noch dann, wenn sie für das schwachsichtige schon verschwunden ist. Wenn schon bei einem und demselben Individuum die beiden Augen in dieser Hinsicht so verschieden sind, um so mehr mag diese Verschiedenheit bei verschiedenen Individuen zu finden seyn, nur dass es schwer ist, ein objectives Urteil darüber auszumitteln.“ 103

Auf der Basis des Postulats, „dass einer jeden Modification des Subjectiven innerhalb der Sinnensphäre jedesmal eine im Objectiven entspreche“ 104 – diese Passage wird von ­Goethe ohne Zusatz im Purkinje-Kommentar aufgeführt –, veranschlagt Purkinje, dass der menschliche Körper in gleichem Maße erforschbar sei wie die äußere Welt der Objekte. Davon ausgehend, überträgt er die Eigenschaften technischer Appara-

102 Ders., Neue Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 98 – 100. 103 Ebd., S.  108 – 109. 104 Ebd., S. 92.

4.2  Das abstrahierende Auge – Purkinjes subjektive Bilder

turen auf die Sinne selbst. Die Sinne erscheinen nun in einer Doppelfunktion. Sie sind Untersuchungsobjekt und praktisches Messgerät gleichermaßen: „Gewiss sind die Sinne die feinsten und erregbarsten Messer und Reagenten der ihnen gehörigen Qualitäten und Verhältnisse der Materie, und wir müssen innerhalb des individuellen Kreises des Organismus eben so die Gesetze der materiellen Welt erforschen, wie der Physiker äusserlich durch mannigfaltigen Apparat.“ 105 Diese Aussage verfehlt ihre Wirkung auf G ­ oethe nicht. Er übernimmt sie mit der prägnanten Anmerkung „Hört!“ 106 in den Purkinje-Kommentar und lässt sie für sich selbst sprechen. Ausgehend von diesem Postulat, sucht Purkinje nach einem physiologischen Beweis für ­Goethes physikalisches Urphänomen, kommt jedoch über die Bildung von Analogien nicht hinaus, da er die Eigengesetzlichkeiten beider Phänomenbereiche nicht vollständig beachtet.107 Die Entstehungsbedingungen für das Urphänomen, die von ­Goethe ausschließlich physikalisch erklärt werden, meint Purkinje, in der Materialität des Auges entdeckt zu haben. Er benennt die Nervenhaut ausdrücklich als trübes Mittel, in welchem die Diskontinuitäten der lichtreflektierenden Markkügelchen die subjektiven Farben nach den gleichen Gesetzen erzeugen wie das objektive Trübe des Dunstes oder eines weißen Glases bei ­Goethe. Anders als bei diesem, der trübes Mittel und wahrnehmendes Subjekt ontologisch als getrennt betrachtet, die sich nur im Blick der subjektiven physikalischen Experimente vereinigen, ist bei Purkinje die trübe Netzhaut der gleichzeitige Entstehungs- und Empfindungsort der Farben. Einen empirischen Beweis für diese Annahme, auf deren spekulativen Status die Worte „Ich betrachte die Nervenhaut als ein trübes Mittel […]“ verweisen, bleibt Purkinje allerdings schuldig.108 ­Goethe reflektiert diese das Körperinnere betreffende physiologisch ausgerichtete Aussage über das Urphänomen nicht, bezieht sich aber auf eine andere Argumentation Purkinjes, die seine physikalische Farbentheorie auf das Auge transferiert: An zwei Stellen seiner Schrift vergleicht Purkinje per Analogie die sich von der Peripherie her wandelnden Blendungsbilder mit G ­ oethes physikalischer Theorie der Farben – ein Vergleich, der die Verschiebung des wissenschaftlichen Topos für die Farbwahrnehmung von der geometrischen Optik in die Medizin bzw. Sinnesphysiologie anschaulich belegt. So nimmt Purkinje explizit Bezug zum trüben Mittel: „Das Blendungsbild verhält sich gegen das äussere Licht wie ein trübes Mittel was aber in 105 Ebd. 106 FA I.25, S. 823 (Sehen in subjektiver Hinsicht). 107 „Diesemnach wäre es allerdings erlaubt, die Gesetze des Lichtes an den Phänomenen innerhalb des Lichtorgans selbt [!] zu studiren, wie wir es an denen der Aussenwelt thun; und, wie wir das im physikalischen Bereiche Gefundene wieder im Sinnesorgane selbst suchen und finden eben so das in diesem sich ergebende im Objectiven vorauszusetzen und zu erwarten.“ Purkinje, Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 93 – 94. 108 Vgl. ebd., S. 87 – 88, Zitat S. 87.

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gehöriger Finsterniss selbst leuchtend ist.“ 109 Diese Aussage kommentiert ­Goethe nicht mit einem Verweis auf Purkinje, sondern mit einem Bezug auf seine eigene physiologische Theorie. Er redet sich in der dritten Person an und verweist auf seine Farbenlehre,110 um die Anschlussfähigkeit beider Konzepte herauszustellen. An anderer Stelle überträgt Purkinje die von G ­ oethe als epoptisch bezeichnete Farbentwicklung auf Körperoberflächen auf die physiologisch erzeugten Blendungsbilder: „Die ganze Erscheinung erinnert unwillkürlich an das epoptische Farbenspiel, wobei man auch versucht wird mehrere farbige Schichten über einander anzunehmen, wovon die obersten bei vermindertem Drucke verschwinden und den folgenden Platz machen.“ 111 In seinen Erklärungsbemühungen versucht Purkinje – wie G ­ oethe in seinen entoptischen Studien – die ihm bewusste ungenügende Beweiskraft für das physiologische Urphänomen durch ein Wuchern von Analogien wettzumachen. Purkinje bemüht sich nicht nur um eine physiologische Begründung der Übertragung von G ­ oethes Urphänomen aufs Auge und nicht nur um Analogienbildungen zwischen Erscheinungen, die durch einen äußeren Reiz erzeugt werden, und G ­ oethes physikalischen Erklärungsansätzen, sondern er macht das Urphänomen auch im Bereich des Phantasmatischen aus: In Anlehnung an ­Goethe interpretiert er das dialektische Verhältnis von Licht und Finsternis als ein Ereignis der vollkommenen Wahrnehmung, die in der Rezeption der Finsternis „ebenso thätig, wie in jener des Lichten“ ist.112 Als undifferenziert Wahrgenommenes erscheint Purkinje die Finsternis im Bereich des indirekten Sehens. Durch die Konzentration auf die subjektive, im Auge vorhandene Finsternis, die immer schon von einem organisch erzeugten Licht durchwirkt ist, werden phantasmatische Licht- und Schattenerscheinungen erzeugt, die bis in den Traum führen können. In diesem Übergang, diesem Zwischenreich entstehen aus dem Chaos erscheinender Nebelbewegungen neben geometrischen Figuren auch farbige ­Phänomene. Das Erscheinen dieser Farben bei nächtlich entspanntem Auge führte bereits ­Goethe in der Farbenlehre an.113 In zahlreichen Selbstversuchen legt Purkinje verschiedene Ordnungen des Blicks frei, u. a. die eines statischen Hintergrundes, vor dem sich verschiedene dynamische Phänomene entwickeln. Anschaulich zeigt er die ästhetischen Erscheinungen dieser 109 Ebd., S. 103. 110 „Hier wo die Blendungsbilder zur Sprache kommen, ist wohl billig dessen zu gedenken, was hierüber ­Goethe, in seinem Entwurf der Farbenlehre und zwar in dessen erster Abteilung, durchaus, […] umständlich angezeigt hat.“ FA I.25, S. 823 (Sehen in subjektiver Hinsicht). 111 Purkinje, Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 101 – 102. 112 Vgl. ders., Neue Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 9 – 10, Zitat S. 10. 113 Ebd., S.  83 – 85. Vgl. LA I.4, § 96, S. 52 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). Purkinje bezieht sich in seinen Ausführungen zwar ausdrücklich auf ­Goethes Beschreibung, stellt hier jedoch nicht die Farbentstehung heraus, sondern deren Bedingung: die „wandelnden Nebelstreifen“, die unklaren Übergänge zwischen den chromatischen Phänomenen, die ­Goethe nicht als solche gesondert charakterisierte. Purkinje, Neue Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 84 – 85.

4.2  Das abstrahierende Auge – Purkinjes subjektive Bilder

Genese an der Licht-Schattenfigur des Auges auf: Zur Erzeugung dieser Figur schließt Purkinje – wie in Kapitel 3.6.2 bereits kurz dargelegt – die Augen, wendet das Gesicht gegen die Sonne und fährt vor diesen mit gestreckten auseinander gehaltenen Fingern hin und her, so dass die Augen abwechselnd beschattet und beleuchtet werden. Nach und nach sieht er eine immer komplexer werdende Figur, bei der er primäre und sekundäre Gestalten unterscheidet: Die primären bilden den Grund und bestehen aus sich abwechselnden abstrakten hellen und dunklen Viereckchen. Die sekundären aufgetragenen bezeichnet er entsprechend ihrem Aussehen als Schneckenrechteck und Achtstrahl. Dieser wirkt – und hier versetzt Purkinje ­Goethes physikalische Erscheinungen erneut ins Auge – wie zwei übereinander gelegte und gegeneinander versetzte entoptische Kreuze der g­ oetheschen Experimente. Beide sekundäre Figuren führt Purkinje auf die Grunderscheinungen der primären Viereckchen zurück. Während diese unverändert bleiben, wandeln und verschieben sich jene.114 ­Goethe zeigt sich in seiner Purkinje-Rezension von der Beschreibung dieser Figur begeistert. Zum einen überträgt Purkinje hier wortwörtlich ­Goethes experimentelle Methode „vom Ein­fachen zum Mannigfaltigen“ 115 sowie dessen Metamorphosegedanken auf eine ästhetische Erscheinung. Zum anderen betrachtet G ­ oethe die aufgezeigten physiologischen Vorgänge als Beweis seiner entoptischen Theorie. Während Purkinje Analogien zwischen diesen Phänomenen und Chladnis Ton­ figuren herstellt, bezieht ­Goethe – inspiriert durch Purkinje – rekursiv erstmalig die Funktion des trüben Mittels der physikalischen Farbenproduktion selbst und nicht wie bisher das Polaritätsprinzip auf das Auge, um den durch dieses erzeugten Achtstrahl zu erklären. Diese Analogisierung entbehrt jedoch jeglicher physiologischen Grundlage: In ­Goethes Argumentation ist es nun nicht mehr die Netzhaut, sondern die für die Raumwahrnehmung erforderliche Linse, in der die entoptischen Figuren erscheinen: „Wagen wir noch einen Schritt und sprechen: das entoptische Glas, welches wir ja auch als Linse darstellen können, vergleicht sich dem Auge, es ist ein fein-getrübtes Wesen, sensibel für direkten und obliquen Widerschein, und zugleich für die zartesten Übergänge empfindlich.“ 116 In dieser Analogie egalisiert G ­ oethe die einst an äußeren Gegenständen ausgemachten, hierarchisch bewerteten Qualitäten von Raum und Farbe im menschlichen Blick und nicht wie in der Farbenlehre an den 114 Vgl. Purkinje, Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 10 – 22. 115 Ebd., S. 12. 116 FA  I.25, S. 822 (Sehen in subjektiver Hinsicht). Die Aufwertung der Räumlichkeit des Trüben exponiert sich auch in dem von Riemer 1821 verfassten Aufsatz Der Ausdruck trüb, der G ­ oethes diesbezügliche Betrachtungsweise widerspiegelt: „Wie sich die einzelnen Farben auf Licht und Finsternis als ihre erzeugenden Ursachen beziehen: so bezieht sich ihr Körperliches, ihr Medium, die Trübe, auf das Durchsichtige. ( Jene geben den Geist, dieses den Leib der Farbe.) Die erste Minderung des Durchsichtigen, d. h. die erste leiseste Raumerfüllung, gleichsam der erste Ansatz zu einem Körperlichen, Undurchsichtigen, ist die Trübe. Sie ist demnach die zarteste Materie, die erste Lamelle der Körperlichkeit.“ LA I.8, S. 226 – 227 (Der Ausdruck Trüb).

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betrachteten Gegenständen. Maßgeblich auf diesen Zugriff wirkt Purkinjes Wahrnehmungskonzept, das beide Qualitäten als gleichermaßen vom Auge hervorgebrachte und damit ans Subjekt gebundene festschreibt. Die von Purkinje vorgenommene Übertragung der Eigenschaften von Artefakten auf das menschliche Auge zum Zweck der physiologischen Legitimierung von ­Goethes Urphänomen ist nur durch die Interferenz der Erkenntnismethoden von Aufmerksamkeit und Experiment möglich. In dieser Interferenz verwischen die Grenzen zwischen physikalischer und physiologischer Forschung, indem Purkinje beide Methoden auf den Körper des Betrachters bezieht: „Der einzige Weg in dieser Forschung ist, strenge sinnliche Abstraction und Experiment am eigenen Organismus. Beide sind wichtige Zweige der physikalischen Kunst überhaupt und fordern eine eigene Richtung der Aufmerksamkeit, eine eigene und methodische Folge von Abhärtungen, Uibungen und Fertigkeiten.“ 117 Beide nicht klar voneinander separierbare Methoden zählen zur Heautognosie, der zielgerichteten, die Wahrnehmung dekontextualisierenden Selbstbefragung, die sich um 1800 entwickelte.118 Mit ihr konnten sowohl die Eigenaktivität des optischen Sinns als auch seine Reaktionen auf äußere Reize untersucht werden. Die Methode der strengen sinnlichen Abstraktion basiert auf der Prämisse einer ursprünglichen Subjekt-Objekt-Einheit, eines gegenstandsfreien Sehens durch das Auge, wie es das Kind oder der blindgeborene Staroperierte noch vor der Aufnahme äußerer Eindrücke beherrschen. Die Wiedergewinnung dieses Zustands, in den der Tastsinn noch nicht involviert war, gelingt nur durch die absolute Autoreferenz des Betrachters. Allein durch die hochkonzentrierte Beobachtung des von ihm Wahrgenommenen, d. h. die subjektiven Gesichtserscheinungen, können die absolute Sinnesleistung und das Selbst wieder in ihren deckungsgleichen Ausgangszustand versetzt werden. Indem sich der Betrachter allein auf die sinnstiftende Leistung des Auges konzentriert und auf diese Weise die erfahrungsbedingte Beteiligung des haptischen Sinns aus dem Sehvorgang extrahiert, ist er im Stande, die reinen Funktionen der optischen Wahrnehmung zu erkennen:119 „Man muss sich ganz den äußern Eindrücken hingeben, und das Gesichtsfeld bloss als eine Fläche von bleibenden, vergehenden oder wechselnden Empfindungen, die nur neben und aussereinander ohne Vor- und Hintergrund sich befinden, nehmen, so wie der Naturmensch ein Gemälde sieht, als eine blosse Fläche von verschiedenen Farben. Durch diese Abstraction, die doch zugleich die speciellste Empirie ist, versetzt man sich rein in die Sphäre des organischen lebendigen Subject-Objects, in welchem jeder materielle Vorgang zugleich ein 117 Purkinje, Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 8. 118 Den Begriff der Heautognosie prägte der Naturwissenschaftler Franz von Paula Gruithuisen. Vgl. ders., Beyträge zur Physiognosie und Heautognosie, München 1812. 119 Vgl. Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung, a. a. O., S. 94 – 96.

4.2  Das abstrahierende Auge – Purkinjes subjektive Bilder

ideeller, subjectiver ist, also in diesem Sinne jede Bewegung eine wahre Bewegung, und wo auch der Schein zur Wahrheit wird.“ 120

Im höchsten Zustand der Abstraktion ist das Gesichtsfeld eine enträumlichte, der Bildwahrnehmung des archaischen Menschen zu vergleichende Fläche, die das eigentliche Subjekt-Objekt, die Retina, strukturiert. Durch diese Methode werden die Wahrnehmungsaktivität und der Analysegegenstand vollkommen identisch. Das dem Leib-Seele-Dualismus verhaftete anthropologische Körpermodell wird endgültig aufgehoben, da empirischer und geistiger Vorgang völlig kongruent ineinander aufgehen. Purkinje führt Kunsttheorie und Experiment zusammen, indem er das Auge zum Messgerät einer Ästhetik des Abstrakten werden lässt, das die aufgezeichneten Daten in einer doppelten Abstraktionsleistung selbst erzeugt: Wie Jutta Müller-Tamm zielsicher analysiert, ist das Auge bereits im Wahrnehmungsprozess abstrahierend tätig, indem es die Perzepte ordnet, synthetisiert und verobjektiviert. Es erzeugt darüber hinaus noch eine zweite Abstraktionsebene, auf der es sich als Bild seiner selbst, nicht aber in seinem Abbildcharakter äußerer Erscheinungen wahrnimmt. Entfernen sich in dieser doppelten Abstraktion einerseits das Bild-Sein (die Empfindungen und Affektionen der Retina) und der Bild-Sinn (die davon abstrahierbare Gegenstands- und Vorstellungswelt) voneinander, werden sie andererseits identisch, da sich die Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Bild-Sinn des Auges richtet und dadurch den subjektiven Schein zur Wahrheit werden lässt. Physisches Sein und subjektiver Schein werden damit im sich selbst beobachtenden Auge zu einer Einheit.121 Auf diese Weise erfüllen in Purkinjes Wahrnehmungsmodell die körperinternen und -externen Affektionen der Retina, die wechselnde oder dauerhafte Empfindungen erzeugen, eine paradoxe Funktion: Sie fungieren als unabdingbare Voraussetzung für die doppelte Abstraktionsleistung des Auges, um im Idealzustand des erfahrungsfreien Sehens negiert zu werden. Eine praktische Rückwirkung auf ­Goethes Experimentalmethode hatten Purkinjes Abstraktionsstudien allerdings nicht. Während bei Purkinje die Voraussetzung für das reine Sehen die Befreiung von aller Empirie ist, während er eine Abstraktion auf der phänomalen Ebene und eine reine Abstraktion des Sehens erzeugt, generiert G ­ oethe die Gesetze des Sehens – wie dargelegt – ausschließlich in der gegenständlichen Wahrnehmung: im physikalischen Urphänomen äußerer Objekte als abstrakter, verschiedenen Erscheinungen gemeinsamer Größe; in der Komplementärfarbenerzeugung durch das Auge als gesetzmäßiger Abstraktion in einem sichtbaren Kausalverhältnis. Äußert sich ­Goethe noch in seiner Purkinje-Rezension zustimmend über dessen Methode der Selbstreflexion als ein „gesundes Hineinblicken in sich selbst“, ohne

120 Purkinje, Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 52 – 53. 121 Vgl. Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung, a. a. O., S. 96 – 98.

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„Wahn und Fabelei“ 122  – dieser Passus verweist auf ­Goethes Betrachtung von ­Purkinjes Methode als Gegenstrategie zur pathologisierten selbstfixierten Kunst der Romantik – , ändert er diese Meinung bereits kurze Zeit später und prangert Purkinjes Selbstexperimente an. Purkinje habe – so ­Goethe in einem Brief an Carl Ludwig von ­Knebel – „die Richtung in den Abgrund des eigenen Daseins genommen, deshalb er denn ein freiwilliges Märtyrerthum untergangen und sich an sich selbst im Einzelnen und Ganzen zu belehren und zu begreifen gesucht hat“.123 Was ist damit gemeint? Anders als in der Erfahrungsseelenkunde des 18. Jahrhunderts versetzt Purkinje das Auge in einen unnatürlichen Zustand, um die in ihm erzeugten Wahrnehmungen, Gedanken und Phantasien verstärken und gezielter beobachten zu können. Die Manipulation solcher Zustände betreibt Purkinje besonders intensiv in Versuchen zum Schwindel, in denen der Gleichgewichtssinn verändert wird.124 Diese Dekontextualisierung des Subjekts ermöglicht eine ausschließliche selbstreflexive Tätigkeit des Auges, sie erhebt die Selbstbeobachtung zum Selbstversuch. Die Isolierung aus dem natürlichen Umfeld, die volle Konzentration auf die Vorgänge im Auge erlangt P ­ urkinje nur durch ein intensives gezieltes Training, das innere und auch äußere Reize wie extreme Lichteinwirkung oder den Druck aufs Auge im Blickfeld ordnet – eine Selbstentäußerung, die Michael Hagner folgendermaßen zusammenfasst: „Die Phänomene waren also nicht von vornherein da, sondern wurden erst in der permanenten Wiederholung der Selbstexperimente erzeugt. Purkynĕ ließ sich kein einziges Phänomen aufdrängen, sondern suchte sie durch Manipulationen und die Konzentrierung der Aufmerksamkeit zu beherrschen.“ 125 Mit diesem Training hat Purkinje einen Weg gefunden, G ­ oethes Methode der Phänomenpluralisierung aufs Lebende selbst anzuwenden, ohne dekontextualisierendtötend in den Körper einzugreifen. Doch bei Purkinje ist nicht mehr die Perspektivenvielfalt einer äußeren Erscheinung gefragt, sondern die prozessuale Disziplinierung eines Blicks nach Innen, der Wahrnehmung und Wahrgenommenes Schritt für Schritt deutlicher hervortreten lässt. Wie in Ritters galvanischen Experimenten sind es allerdings die Grenzen des Lebens selbst, die limitierend auf Purkinjes Versuchsreihen wirken: „Die experimentale Kunst insoferne sie subjective Phänomene zum Gegenstande hat ist noch in ihrer Kindheit, und es gelten hier indess nur die Regeln, die auch sonst in der Therapie, die übrigens auf gleichen Wegen wandelt, gegeben werden, nämlich, mit den geringsten Graden anzufangen, gehörig auszusetzen, die Folgen zu beobachten, und nur allmählig fortzuschreiten, 122 FA I.25, S. 818 (Sehen in subjektiver Hinsicht). 123 WA IV,36, S. 233 (­Goethe an Carl Ludwig von Knebel am 14. Dezember 1822). 124 Vgl. z. B. Purkynĕ, Jan Evangelista, Beyträge zur näheren Kenntniss des Schwindels aus heauto­ gnostischen Daten, in: ders., Opera Omnia II , Prag 1937, S. 15 – 37. 125 Hagner, Psychophysiologie und Selbsterfahrung, a. a. O., S. 12.

4.2  Das abstrahierende Auge – Purkinjes subjektive Bilder

bis zu dem Punkte, wo die Erscheinung nicht mehr weiter sich entwickelt, oder wo überhaupt die Gränze aller Empfindung ist und Bewusstlosigkeit einzutreten droht, oder wie die Höhe der Empfindung den erprobten Spielraum der Ausdauer übersteigen will.“ 126

Um die Objektivität seiner Versuchsergebnisse zu sichern, bemühte sich auch P ­ urkinje um die Gründung eines Denkkollektivs aus zahlreichen Forschern, die zwecks Widerlegung oder Bestätigung seiner Ergebnisse die Selbstversuche nachexperimentieren bzw. das Feld individueller Abweichungen markieren sollten. Die Realisierung dieses Wunsches war jedoch bereits durch die Methode des intensiven, langwierigen Trainings, das erst zur erforderlichen Analysefähigkeit führte, zum Scheitern verurteilt. Die meisten Interessenten inklusive G ­ oethe 127 unterwarfen sich – wie Purkinje erkennen musste – einem solchen Exerzitium nicht: „Es wäre erforderlich, jene große Zahl subjektiver Phänomene an den verschiedensten Personen zu erforschen, obwohl, wie es scheint, die meisten kaum die Fähigkeit besitzen, jene Phänomene ordnungsgemäß zu beobachten oder darüber wahrheitsgemäße Angaben zu machen, geschweige denn, aus Liebe zur Wissenschaft und aus eigenem Antrieb ihre Organe schwierigeren, wenn auch noch so harmlosen Versuchen zu unterwerfen.“ 128

Purkinjes Aufmerksamkeit, die sich allein auf das dekontextualisierte Subjekt richtet, musste ­Goethes Kritik hervorrufen, betrachtete er diese Vorgehensweise als eine für die romantische Naturforschung typische Methode, die primär durch die Reflexion des eigenen Ichs die Gesetze der Welt zu erkennen glaubte. Seine Kritik am Selbstexperiment benutzt er als Forum einer allgemeinen Kritik der aus seiner Sicht subjektivistisch verirrten romantischen Kunst: „Wenn z. E. Purkinje ganz unbewunden und zuversichtlich ausspricht, daß man die wahre, dem Menschen so nötige Heautognosie bei Hypochondristen, Humoristen, Heautontimorumenen lernen solle, so ist dieses eine so gefahrvolle Äußerung als nur irgend eine; denn nichts ist bedenklicher als die Schwäche zur Maxime zu erheben. Leidet doch die bildende Kunst der Deutschen seit dreyßig Jahren an dem Hegen und Pflegen des Schwach- und Eigensinnes und des daraus hervorgehenden Dunkels und einer dadurch bewirkten Unverbesserlichkeit.

126 Purkinje, Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 49. 127 Vgl. hierzu folgende Aussage G ­ oethes im Purkinje-Kommentar: „Nicht ein jeder hat nötig diese Versuche persönlich zu wiederholen, wie sich der wunderliche Wahn gerade im Physischen eingeschlichen hat, daß man alles mit eignen Augen sehen müsse, wobei man nicht bedenkt, daß man die Gegenstände auch mit eignen Vorurteilen sieht.“ FA  I.25, S. 818 (Sehen in subjektiver Hinsicht). 128 Purkynĕ, Abhandlung über die physiologische Untersuchung des Sehorgans, a. a. O., S. 122.

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Vor solchen schmeichelhaften Irrthümern fürchte ich mich, weil ich schöne Talente daran untergehen sehe.“ 129

In diesen Zeiten der tiefgreifenden Umstrukturierung des Wahrnehmungsmodells entging es G ­ oethe allerdings, dass Purkinjes Methode einen neuen Bereich der Selbsterfahrung eröffnete. Sie entwickelte sich zwar aus dem Selbsterkundungsinteresse der romantischen Naturphilosophie – Purkinje berief sich ausdrücklich auf Novalis und Jean Paul als seine Vorbilder –, spaltete sich aber durch die Experimentalisierung des Subjekts von dieser ab und behauptete ihre Eigenständigkeit.130 Entsprechend seiner Prämisse, die innere Welt des Körpers genauso erforschen zu wollen wie der Physiker die äußere Welt, schlägt Purkinje die Anwendung von Geräten auf das Auge vor, die bisher der Bestimmung äußerer Naturerscheinungen dienten. Beispielsweise empfiehlt er zur Messung der subjektiv empfundenen Dunkelheit ein Melanometer, das nach Art des von Horace Bénédict de Saussure entwickelten Cyanometers zur Bestimmung der Himmelsbläue konstruiert werden soll. Purkinje verwirft diesen Vorschlag jedoch, da das empirische Sehen niemals frei von Phantasmen und inneren Lichterscheinungen des Auges ist und eine objektive Messung unmöglich macht.131 Darüber hinaus versucht er, die Tätigkeit des Auges an der Funktionsweise von Apparaturen zu verdeutlichen. Zu diesem Zweck greift er nicht wie G ­ oethe auf das universale naturphilosophische Polaritätsprinzip zurück, sondern auf die veranschau­ lichende Wirkungsweise des Geräts. Hier zeigt sich, dass ein verändertes Verständnis der Sinnesleistungen rückwirkend zu einem modifizierten Einsatz der Apparatur führen kann. Einen von ihm lediglich spekulativ angenommenen Zusammenhang zwischen der Schwarzempfindung des Menschen und der Pigmentierung der Aderhaut versucht Purkinje durch den Rückgriff auf ein altbekanntes physikalisches Gerät zu stützen: die Camera obscura. Die allgemeine wachsende Beachtung der subjektiv erzeugten Farben kann sicherlich dafür verantwortlich gemacht werden, dass Purkinje nicht mehr der Abbildmechanismus, sondern die Mischung einer im Gerät gegebenen und einer von außen projizierten Farbe interessiert: „[…] denn dort [in der Camera obscura – S. Sch.] erscheint das sich auf dem Leinen ergebende Bild in veränderter Farbe, wenn man dem dünnen, transparenten Leinen, das zum

129 WA IV,43, S. 156 (­Goethe an Karl August Varnhagen von Ense am 8. November 1827). Vgl. zum Absatz davor Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung, a. a. O., S. 88 – 89. 130 Vgl. Hagner, Psychophysiologie und Selbsterfahrung, a. a. O., S. 13. Zahlreiche Forscher betrachten das optische Selbstexperiment als eigentliches Kennzeichen der Etablierung der Sinnesphysiologie als wissenschaftlicher Disziplin. Vgl. hierfür exemplarisch Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung, a. a. O., S. 11. 131 Vgl. Purkyně, Physiologische Untersuchung des Sehorgans, a. a. O., S. 119 – 120.

4.3  Die farbige Struktur des Blicks – ­Goethe und Johannes Müller

Auffangen von Strahlen dient, nicht schwarzen, sondern anders gefärbten Hintergrund unterschiebt. Die äußeren Farben werden nämlich durch die darunter befindliche Farbe entweder aufgehoben, z. B. Rot durch Grün, oder abgeschwächt oder zu einem höheren Grad von Lebhaftigkeit erhoben, die farbfreien Teile aber werden jene im Rückgang begriffene Farbe annehmen.“ 132

Nicht nur die veränderte Anwendung der Camera obscura als Mittel der wissenschaftlichen Evidenzerzeugung, sondern auch der Bedeutungswandel des Begriffs Gespenst verweist auf eine Etablierung der subjektiven Gesichtsphänomene als wissenschaftliche Episteme. Bezeichnete Newton mit diesem Begriff das unabhängig vom Auge entstehende Farbenspektrum an der Wand der Camera obscura, benutzte G ­ oethe diesen Terminus für die ins gesunde Sehen integrierten Nachbild- und Simultanfarben. Purkinje hingegen beschreibt mit dieser Bezeichnung pathologische, sich vom Subjekt abspaltende Erscheinungen, die wie objektive Phänomene wirken und durch einen krampfartigen Zustand des Auges entstehen.133 Die Bedeutungsverschiebung dieses Begriffs indiziert, dass die subjektentfremdeten Farben nun ausschließlich durch das Auge selbst erzeugt wurden und nicht mehr durch externe Apparaturen wie die Camera obscura. Während in Purkinjes Konzept, trotz physiologischer Erklärung der subjektiven Gesichtserscheinungen, die äußeren Objekte noch eine bestimmte erkenntnistheoretische Relevanz besitzen, gelingt Johannes Müller endgültig eine vollständige Begründung dieser Phänomene über die Organisation des Sehorgans.

4.3 Die farbige Struktur des Blicks – ­Goethe und Johannes Müller Am 5. Februar 1826 schickt der junge Mediziner Johannes Müller sein bahnbrechendes Werk Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere, in dem er das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien ausarbeitete, mit folgenden pathetischen Worten an ­Goethe: „Nachdem viele Jahre lang Ihre naturwissenschaftlichen Forschungen mir Institutionen gewesen sind, sowol der Methode als des Inhalts für meine Bestrebungen, in die Geheimnisse der lebenden Natur auf beschaulichem und forschendem Wege einzudringen, sollte mir am Ende das Glück zutheil werden, auch öffentlich davon Rechenschaft zu geben, wie eine Aussaat, die in allen Zweigen der Naturwissenschaft die herrlichsten Früchte dem scheidenden und

132 Ebd. 133 Vgl. Purkinje, Neue Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 85 – 86.

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bleibenden Geschlecht entlockt, noch größere dem kommenden entlocken wird, auf den Einzelnen gewirkt, und was ich diesen Förderungen alles verdanke.“ 134

Auch Johannes Müller, später ein bedeutender Physiologe, vergleichender Anatom und Meeresbiologie, der 1833 den Lehrstuhl für Anatomie des Naturforschers Karl Asmund Rudolphi an der Berliner Universität übernahm, rekurriert in seiner Theorie der Sinneswahrnehmung in starkem Maße auf ­Goethes Farbenlehre. Er transferiert dessen Urphänomen auf das Auge, indem er Farbe, Licht und Schatten als formende Elemente der optischen Wahrnehmung physiologisch legitimiert. Diese Beweisführung wurde zum elementaren Impulsgeber für die Ausarbeitung des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergien, das die Individualitäten der Wahrnehmung nicht mit den Qualitäten der äußeren Reize, sondern den unterschiedlichen anatomischen Konstitutionen der Sinne begründet. Mit dem Gesetz der spezifischen Sinnesenergien gelingt es Müller endgültig, die reizverarbeitende, datengenerierende Funktion des Mediums Auge vollständig aus dessen empirischer Struktur zu begründen. Unter der Prämisse des in der Einleitung dieser Arbeit dargelegten kulturwissenschaftlichen Medienbegriffs wird damit einmal mehr bewiesen, dass Medien die von ihnen produzierten Daten unter Bedingungen stellen, die sie selbst schaffen und sind.135 Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien baut Müller auf der Annahme eines dem Organismus immanenten Lebens- und Energieprinzips auf, in dessen Erörterung er allerdings das Leib-Seele-Verhältnis nicht klar definiert. Basiert sein Konzept des menschlichen Körpers wie in Purkinjes Entwurf auf der physiologischen Erklärung psychologischer Prozesse und damit auf der physiologischen Psychologie, benutzt Müller als zwar spekulatives, doch methodisches Regulativ für die physiologische Forschung die Philosophie:136 Im 1833 und 1840 erschienenen Handbuch der Physiologie des Menschen beschreibt er zwei theoretische Wege, das Leib-Seele-Verhältnis philosophisch zu klären: Erstens ist die Seele wie bei Pythagoras, Platon, im Neoplatonismus und in der Mystik eine nicht der Materie zugehörige, dem physischen Körper fremde Kraft. Zweitens – und erstens geradezu entgegengesetzt – ist das Prinzip des Lebens eine der Materie selbst immanente Kraft, wie von Aristoteles und den Pantheisten gelehrt.137 Für Müllers Präferenz der zweiten Hypothese spricht nicht nur

134 Johannes Müller an ­Goethe am 5. Februar 1826, in: Bratranek, F. Thomas (Hg.) Neue Mitteilungen aus Johann Wolfgang von G ­ oethe’s handschriftlichem Nachlasse, 3 Teile, Teil 1: G ­ oethe’s Naturwissenschaftliche Korrespondenz 1812 – 1832: A – M, Leipzig 1874, S. 393 – 394. 135 Vgl. Kapitel 0 dieser Arbeit. 136 Vgl. Verwey, Gerlof, Johannes Müller und das Leib-Seele-Verhältnis. Zur systematisch-philosophischen und philosophie- und wissenschaftshistorischen Ortung, in: Hagner, Michael / WahrigSchmidt, Bettina (Hg.), Johannes Müller und die Philosophie, Berlin 1992, S. 173 – 190, hier S. 181. 137 Vgl. Müller, Johannes, Handbuch der Physiologie des Menschen, 2 Bde., II. Bd., Coblenz 1840, S.  505 – 518.

4.3  Die farbige Struktur des Blicks – ­Goethe und Johannes Müller

seine Annahme, Leib und Seele seien zwei Äußerungen des Lebens, sondern auch die Auffassung, die Seele würde sich mit der entstehenden Materie ent­wickeln. Verankert er die Seele zwar spekulativ im gesamten Organismus, beschreibt er dennoch einen konkreten Topos ihrer Selbstbewusstwerdung: das Gehirn, das in medialer Funktion die körperlich-organischen Prozesse und die nicht näher definierte Seele gleichermaßen verbindet und beeinflusst.138 In seinen Ausführungen setzt Müller das Gehirn mehrfach mit dem sensorium commune gleich, ohne die Identifikation beider näher zu begründen. Den visuellen Wahrnehmungsvorgang betrachtet Müller als ein Zusammenwirken von Seele, Gehirn und Netzhaut, lässt allerdings unter Verweis auf die mangelnden empirischen Hilfsmittel und den wissenschaftlichen Kenntnisstand der Physiologie offen, an welchem Ort das Sehen stattfindet. Bezüglich der Interaktion zwischen der körperumfassenden Seele und der Physiologie des Gesichtssinns spekuliert er, „dass die höheren Sinnesnerven verschieden von andern Nerven näher an dem Wirken der Seele participiren, so dass die Seele bis in die Nervenenden der Retina fortwirke, indem die Sinnesnerven nur Fortsätze des Sensoriums sind“.139 Für jeden individuellen Sinn weist Müller im Gesetz der spezifischen Sinnesenergien eine spezifische, neural bedingte Energie nach, die ausschlaggebend für die Art der Reizverarbeitung und damit für die Besonderheit der Empfindung ist. Aus diesem Grunde kann ein äußerer Reiz immer nur das im jeweiligen Sinnesorgan vorhandene Energiepotential aktivieren. Unabhängig davon, ob ein optischer (Licht), ein haptischer (Druck) oder ein galvanischer Reiz (elektrische Ladung) das Auge affiziert – es kann diese Affektionen immer nur auf die ihm eigene Weise verarbeiten. Umgekehrt argumentiert, wird ein und derselbe Reiz entsprechend der jeweiligen nervlichen Konfiguration der Sinnesorgane unterschiedlich verarbeitet: „Wir mögen uns die Mahnung gelten lassen, daß Licht, Dunkel, Farbe, Ton, Wärme, Kälte, und die verschiedenen Gerüche und Geschmäcke, mit einem Worte, was Alles uns die fünf Sinne an allgemeinen Eindrücken bieten, nicht die Wahrheiten der äußeren Dinge, sondern die realen Qualitäten unserer Sinne sind, daß die thierische Sensibilität allein in diesen rein subjectiven Zweigen ausgebildet ist, wodurch das Nervenmark hier nur sich selbst leuchtet, dort sich selbst tönt, hier sich selbst fühlt, dort sich selbst riecht und schmeckt. Daß unter den äußeren Stoffen die einen mehr diesen, die anderen mehr jenen Sinn afficiren, daß die

138 Vgl. hierzu z. B. folgende Aussage: „[…] dass alle Wirkungen der Seele auf den Organismus, zunächst durch Wirkungen auf die Organisation des Gehirns, an welchem die sonst latenten geistigen Kräfte actu erscheinen, und vom Gehirn auf den übrigen Körper wie Irradiationen erfolgen und dass jedes Organ, in so fern es durch das von ihm kommende Blut und seine Nerven auf das Gehirn wirken kann, auch Einfluss auf die [durch die Seele ausgelösten – S. Sch.] Vorstellungen und das Vorstellen haben muss.“ Ebd., S. 559. 139 Ebd., S. 213.

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Bedingungen für verschiedene Töne, für verschiedene Gesichtserscheinungen, wie etwa für die verschiedenen Farben, in den äußeren Dingen gegeben sind, wird damit nicht geläugnet. […] Die Wesenheit der äußeren Dinge und dessen, was wir äußeres Licht nennen, kennen wir nicht, wir kennen nur die Wesenheiten unserer Sinne; und von den äußeren Dingen wissen wir nur, in wie fern sie auf uns in unseren E n e r g i e e n wirken.“ 140

Mit dem Gesetz der spezifischen Sinnesenergien vollzieht Müller den endgültigen Schritt von der im 18. Jahrhundert an der Spezifik der Einzelkünste ausgerichteten ästhetischen Teilung der Sinne zu ihrer empirisch nachgewiesenen Parzellierung. Er vollendet Purkinjes sinnesphysiologischen Subjektivismus, indem er den gesamten Wahrnehmungsprozess physiologisch begründet. Die durch das Auge produzierten Bilder werden in Müllers Gesetz vollkommen referenzlos, da ihre Erzeugung äußere Vorlagen nicht mehr erfordert. Die noch in Newtons mechanistisch-mimetischem Abbildmodell des Auges postulierte Kohärenz zwischen Reiz und Empfindung wird von einer Arbitrarität durchschlagen, die dieses Verhältnis als ein individuell-kontextuelles kennzeichnet. Dieser Schritt bedeutet in letzter Konsequenz, dass die ausschließlich subjektiv bedingten Sinneswahrnehmungen keine allgemeingültige Erkenntnis der uns umgebenden Realität zulassen und die Erkennbarkeit der Welt generell in Zweifel ziehen. Im Vorwort der Vergleichenden Physiologie benennt Müller explizit ­Goethe, Himly und Purkinje als Wegbereiter der wissenschaftlichen Akzeptanz subjektiver Gesichts­ phänomene, verweist jedoch zugleich auf die noch immer mangelhafte Verobjektivierung dieser physiologischen Erscheinungen: „Die Methode, worin ich bei der Bearbeitung der Physiologie der Sinne die größte Befriedigung und Gewähr gefunden habe, zeichnet sich von anderen dadurch aus, daß sie überall von subjectiven Gesichtsphänomenen, welche hier die Urphänomene sind, auszugehen sich bestrebet. Die subjectiven Gesichtserscheinungen sind zwar aus ihrer bisherigen Unterordnung als pathologische Symptome befreit worden; sie erfreuen sich einer freien, ihnen als Gesichtswahrheiten ohne fremdartige Beimischung gewidmeten Bearbeitung. Aber man hat diese Erscheinungen noch wenig zur Aufhellung und Lösung der Probleme der objectiven Gesichtserscheinungen angewandt.“ 141

Diesem Mangel hilft Müller ab, indem er im Gesetz der spezifischen Sinnesenergien nicht mehr das Wahrgenommene, sondern die Art bzw. das Wie der Wahrnehmung, ihr mediales Wirken als spezifische Qualität des einzelnen Sinns definiert. Mit diesem 140 Müller, Johannes, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere nebst einem Versuch über die Bewegungen der Augen und über den menschlichen Blick, Leipzig 1826, S.  49 – 50. 141 Ebd., S. V – VI.

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Ansatz disqualifiziert er alle Wahrnehmungsinhalte als unwissenschaftlich, da sie subjektiv verschieden ausfallen, womit er die im Empirismus auf die äußere Realität bezogene Teilung der Sinnesqualitäten in primäre und sekundäre endgültig obsolet werden lässt. Ihre hierarchische Dualität ersetzt Müller durch die differenten Wahrnehmungsmodi der Sinnestätigkeiten. Indem er die sinnesspezifische physiologische Konstitution, nicht aber die Qualitäten äußerer Objekte als Gesetz der Wahrnehmung erkennt, sichert er den Gesichtsphänomenen definitiv einen objektiven wissenschaftlichen Status. Er bezeichnet sie – wie in obigem Zitat angeklungen – in Rekurs auf ­Goethe als Urphänomene.142 Zahlreiche Physiologen des 19. Jahrhunderts führten Müllers Gesetz als physiolo­ gische Bestätigung der von Kant entworfenen a priori gegebenen Anschauungsformen ins Feld. Während Kant jedoch den Raum zu diesen transzendentalen, die Wahrnehmung ermöglichenden Bedingungen, die Farben hingegen lediglich zum Stoff, zur Materie der Empfindung zählt, wandelt Müller Kants Entwurf entscheidend: Indem er Farbe, Licht und Dunkel ebenso wie die Raumwahrnehmung als physiologisch bedingt betrachtet, verliert sich letztendlich die Unterscheidung zwischen empirischer und transzendentaler Anschauung. Diese Differenzierung weicht einer neuen Einteilung, in der Müller die Wahrnehmungstätigkeit in physiologische, physikalische und psychologische Komponenten gliedert.143 Indem Müller diese Komponenten in der Sinnestätigkeit selbst erkennt und über ihr Wirken in Beziehung zueinander setzt, ist es ihm möglich, die bisher existierende Trennung zwischen physiologischer, physikalischer und chemischer Farberzeugung aufzuheben. Licht, Dunkel und Farben beschreibt er nun nicht mehr als äußere physikalisch-experimentell erzeugte Reize, sondern als durch die jeweilige Nervenkonstellation bedingte, strukturierende Elemente des Gesichtssinns, als der Sehsinnsubstanz immanente spezifische Erscheinungsprinzipien. In der erstmals vollständigen Übertragung von ­Goethes physikalischer Theorie auf das Auge bilden sie die Grundelemente, die jede noch so komplexe optische Wahrnehmung strukturieren: „Daß die Energieen des Lichten, des Dunkeln, des Farbigen, nicht den äußeren Dingen, den Ursachen der Erregung, sondern der Sehsinnsubstanz selbst immanent sind, daß die Sehsinnsubstanz nicht affiziert werden könne, ohne in ihren eingebornen Energieen des Lichten, Dunkeln, Farbigen thätig zu seyn; daß das Lichte, das Schattige und die Farben nicht dem Sinn als etwas fertiges Aeußerliches existiren, von welchem berührt der Sinn nur die Empfindung desselben habe, sondern daß die Sehsinnsubstanz von jedwedem Reiz, welcherlei

142 Vgl. ebd., S. VI. 143 Vgl. dazu ausführlich Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung, a. a. O., S. 78 – 79. Zu den diese Argumentationsweise aufgreifenden Wissenschaftlern gehörten beispielsweise Hermann von ­Helmholtz und Wilhelm Wundt.

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Art er immer sey, aus ihrer Ruhe zur Affection bewegt, diese ihre Affection in den Energieen des Lichten, Dunkeln, Farbigen sich selbst zur Empfindung bringe.“ 144

In Müllers Konzept stehen Lichtempfindung und Raumwahrnehmung – nun gleichermaßen durch ein aktives Auge erzeugt – in einem interdependenten Verhältnis: Als zentrale Voraussetzung für die Empfindungen des äußeren Raums betrachtet Müller die Selbstwahrnehmung der räumlichen Netzhaut-Ausdehnung. Die Bedingung für deren Bewusstmachung wiederum hängt von der Lichtempfindung ab.145 In Anlehnung an Kant, nun aber an die physiologischen Funktionen der Sinne gebunden, wertet Müller die Raumerfahrung als grundlegende Erkenntnisbedingung – die auch die Tätigkeit des Auges impliziert – auf: „Der Begriff des Raumes kann nicht erzogen werden, vielmehr ist die Anschauung des Raumes und der Zeit eine nothwendige Voraussetzung, selbst Anschauungsform für alle Empfindungen. […] So liegt denn die räumliche Anschauung der Leiblichkeit aller Bewegungen zu Grunde, und nicht durch diese kann der Begriff von Räumlichkeit entstehen.“ 146

In Müllers Wahrnehmungstheorie ist die Raumvorstellung bereits im pränatalen Stadium „bis zu einigem Grad von Helligkeit und Sicherheit ausgebildet“. In dieser Zeit durchlaufen die anatomischen Dispositionen des Kindes eine morphologische Entwicklung, bevor sie sich mit dem Aktivwerden der Sinnesorgane entfalten und weiter ausprägen.147 Dass die eigene Leiblichkeit Voraussetzung für die Raumwahrnehmung ist, dass die optische Wahrnehmung auf der Eigenwahrnehmung des Körpers beruht, visualisiert sich in Müllers Konzept im Gesichtsfeld selbst – an dem abgebildeten unveränderlichen Teil des menschlichen Körpers. Anders als bei ­Goethe spiegelt sich hier das Subjekt

144 Müller, Zur vergleichenden Physiologie, a. a. O., S. 44 – 45. Die Gleichwertigkeit von Licht, Dunkelheit und Farbe unterscheidet Müllers Konzept von demjenigen Purkinjes, der an mehreren Stellen seiner Schriften die Abhängigkeit der chromatischen Erscheinungen von der geometrischen Strukturierung des Blickfelds beschreibt. 145 Vgl. ebd., S. 52. Diesen Weg der visuellen Selbstbewusstwerdung entdeckte er durch Purkinjes Untersuchung der Aderfigur des Auges. Vgl. Lenoir, Timothy, Helmholtz, Müller und die Erziehung der Sinne, in: Hagner / Wahrig-Schmidt (Hg.), Johannes Müller und die Philosophie, a. a. O., S. 207 – 222, hier S. 212. 146 Müller, Zur vergleichenden Physiologie, a. a. O., S. 54 – 55. 147 Vgl. Müller, Handbuch der Physiologie II, a. a. O., S. 270 – 272, Zitat S. 270. Vgl. Lenoir, Helmholtz, Müller und die Erziehung der Sinne, a. a. O., S. 210 – 211. Nach Lenoir kann Müllers Modell aufgrund des hier dargelegten Entwicklungsgedankens nicht – wie von Helmholtz getan – als nativistisch bezeichnet werden. Die pränatale räumliche Selbstwahrnehmung des Individuums, die „Abstraktion des Selbstbewusstseins“, die bis zu dem Zeitpunkt existiert, an dem die Sinne in Kontakt mit der Außenwelt treten, ist unabdingbare Voraussetzung für das auch bei Müller existierende SubjektObjekt der Netzhaut. Vgl. ebenfalls Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung, a. a. O., S. 121 – 122.

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nicht mehr metaphorisch im eigenen Auge, sondern in einem empirischen Selbstbild, das jeglichen Urbild-Abbild-Mechanismus obsolet werden lässt. Die Sichtbarkeit dieses Bildes allein verweist auf die wahre subjektive Größe der Netzhaut und definiert wie bei Purkinje die variablen Bilder der äußeren Gegenstände als unzuverlässige Episteme: „Die Unterscheidung der Bilder der Aussenwelt von dem Bilde des eignen Körpers, das sich mit der Aussenwelt in dem Rahmen des Sehfeldes darstellt, wird auf folgende Weise stattfinden. Ein Theil unsers Körpers entwirft wie die Aussendinge ein Bild in unserm Auge. Dieser uns selbst mit den äussern Objecten sichtbare Theil unsers Körpers, ist nach der Stellung grösser oder kleiner, es kann ein grosser oder kleiner Theil des Rumpfes und der Gliedmassen sein, von unserm Kopfe ist in dem, auf unserer Netzhaut entworfenen Bilde, nur ein sehr kleiner Theil, nämlich die Flächen der Nase, die Nasenspitze, die gesenkten Augenbraunen und allenfalls auch die Lippen enthalten. Diess Bild unseres eigenen Körpers nimmt in fast allen Gesichtseindrücken regelmässig eine bestimmte Stelle des obern, mittlern, untern Theils des Sehfeldes ein; es bleibt constant, während die übrigen Bilder beständig wechseln.“ 148

Dem fixen Selbstbild des Betrachters stellt Müller ein physiologisches Repräsenta­ tionsmodell an die Seite, das er auf die Tätigkeiten von Gesichts- und Tastsinn bezieht. Durch das Betonen des Körperinnenraums unterstreicht er in diesem Modell, dass die räumliche Eigenwahrnehmung die Basis der Sinnesempfindungen ist. Im Raumkonzept des Gesichtssinns empfindet die Netzhaut ihre Ausdehnung als eine Membran, die sich aus Nervenenden zusammensetzt. Diese repräsentieren einzelne Teilchen der Welt in einem gemeinsamen Eindruck, den die Nerven ans sensorium commune übermitteln. Das neurale System des Tastsinns hingegen umfasst das gesamte Körperinnere. Bei diesem Sinn entsteht die haptische Empfindung des Menschen dadurch, dass „[…] jeder Punkt [des Körpers – S. Sch.], in welchem eine Nervenfaser endet, […] im sensorium commune als Raumtheilchen repräsentirt“ wird.149 Bei beiden Sinnen reflektiert Müller die physiologischen Leitungen ans sensorium commune nicht explizit. Ausgehend von der erkannten vollständigen physiologischen Generierung der Farbe, interpretiert Müller ­Goethes Farbentheorie neu und nimmt eine Einteilung in subjektive und objektive Farben vor. Entstehen zwar beide physiologisch, bezeichnet Müller die letztgenannten deshalb als objektiv, da die sie anregenden körperexternen Quellen nachweisbar überprüft und verändert werden können.150 Entsprechend dieser Einteilung erklärt er zwei mögliche Wege für die Entstehung von ­Goethes Urphänomen:

148 Müller, Handbuch der Physiologie II, a. a. O., S. 271. 149 Vgl. ebd., S. 262 – 263, Zitat S. 263. 150 „Die Entstehung der Farben, welche wir objective nennen, obgleich ihre Bestimmungen, wie wir gezeigt haben, nur objectiv sind, ist dieselbe [wie bei den subjektiven – S. Sch.]. Mit allen erklärungssüchtigen Operationen, wie sie das dogmatische Newtonische Theorem veranlaßt hat, wird

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Am Urphänomen der subjektiven Farben betont Müller die Prozessualität ihrer Entstehung und unterstreicht damit die Zeitlichkeit als Charakteristikum des Lebendigen. Basierend auf der o. g. Prämisse, dass die Netzhaut ihre eigene räumliche Ausdehnung und Tätigkeit nur durch das Licht wahrnimmt, die Finsternis hingegen wie bei ­Goethe und Purkinje auf den Zustand der Ruhe und Reizlosigkeit des Organs deutet, entstehen die subjektiven Farben „dem Auge in dem Uebergange aus dem Zustande einer lebhaften Affection in den der Ruhe. An diesen Grenzen ist die Empfindung des Lichten und des Dunkeln, in dem Uebergange der Farben“.151 Während Müller die Dunkelheit primär als Indikator eines beruhigten Augenzustandes und damit als reflexiven Selbstverweis des Subjekts beschreibt, betrachtet er als wichtigsten Initiator der Lichtempfindung das äußere, sogenannte elementarische Licht. Sorgfältig untersucht er dessen differente Reizwirkungen auf die Licht- und Farbempfindungen des Auges. Er kommt zu dem Schluss, dass die Veränderung des Elementarischen – besonders die Art der Streuung und die Lichtintensität – letztendlich darüber entscheidet, ob der Mensch den äußeren visuellen Reiz als Licht, Farbe oder Grau wahrnimmt: Wird in Müllers Konzept die Sehsinnsubstanz gleichmäßig affiziert, sieht der Betrachter bei intensivem Licht Weiß, bei schwachem Licht Grau.152 Hier erscheint die Farbe wie in Newtons geometrisch-physikalischem Paradigma als Abweichung vom Gleichmaß im Kontinuum der Lichtenergie.153 In Müllers Konzept findet dieser Vorgang allerdings ausschließlich im Sehorgan statt: „Das Elementarische, was wir Licht nennen, erweckt die Empfindung der Farbe als Energie des Auges dann, wenn das Licht die Sehsinnsubstanz nicht gleichmäßig in allen Theilen afficirt, sondern über die in ihrer Ruhe sich sinnlich dunkel anschauenden Theile des Markgebildes zerstreut wird.“ 154 In der Erklärung der subjektiven Einzelfarben greift Müller auf ­Goethes klassizistisch-ausgewogene Farbästhetik zurück: Beispielsweise entwickelt sich das Grün – wie bei G ­ oethe eine harmonische Farbe – aus dem Aufeinandertreffen des gering gestreuten intensiven und des stark gestreuten schwachen Lichts zu einem ausgewogenen mittleren Zustand. Gelb und Rot entstehen durch geringe Streuung des intensiven, Blau hingegen durch große Streuung des schwachen Lichts auf der dunklen Netzhaut.155

nichts ausgerichtet, als daß die objectiven Bedingungen der rein sinnlichen Farbenentstehung verändert werden.“ Müller, Zur vergleichenden Physiologie, a. a. O., S. 52. 151 Ebd. 152 Vgl. ebd., S. 393 – 395 sowie S. 404 – 405. 153 Vgl. hierzu auch Poggi, Stefano, ­Goethe, Müller, Hering und das Problem der Empfindung, in: Hagner / Wahrig-Schmidt (Hg.), Johannes Müller und die Philosophie, a. a. O., S. 191 – 206, hier S. 197. 154 Müller, Zur vergleichenden Physiologie, a. a. O., S. 404. 155 Vgl. ebd., S. 406.

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Zu den objektiven Farben zählt Müller die dioptrischen Phänomene, bei deren Erzeugung das äußere Licht bereits durch trübe und brechende Mittel zerstreut auf die Netzhaut trifft. Bedingt durch die universelle physiologische Begründung der Farbentstehung besitzen in Müllers Theorie diese fixen Erscheinungen den gleichen epistemologischen Wert wie die prozessualen, subjektiven Farben: „Hier [bei den Prismenfarben – S. Sch.] sehen wir also die simultane Verbindung des Affectes und der Ruhe durch die Zerstreuung dessen, was sonst die Empfindung des Lichten erweckt, auf einem in der Ruhe sich dunkel anschauenden Organe, zu denselben Phänomenen treiben, wie die successive Verbindung des Affectes und der Ruhe. Denn das von einem intensiven Lichteindrucke sich erhohlende Auge gelangt zur Ruhe der Anschauung des Dunkeln erst durch das Abklingen der Blendungsfarben.“ 156

Mehrfach benutzt Müller sein physiologisches Erklärungsmodell, um rekursiv zur Übertragung des Urphänomens von der physikalischen auf die physiologische Optik ­Goethes physikalische Farbentheorie zu korrigieren: Entstehen nach ­Goethe in jedem Refraktionsvorgang chromatische Erscheinungen, widerlegt Müller diese Ansicht, indem er die von G ­ oethe vernachlässigte Verbindung von physiologischen Brechungsfarben und Raumwahrnehmung untersucht. Müller erkennt, dass der Betrachter die Gegenstände durch den im Auge erfolgenden Brechungsvorgang so lange achromatisch sieht, so lange sein Blick genau auf die Ferne der Objekte ausgerichtet und fixiert ist. Befinden sich die Gegenstände vor oder hinter dem Horopter,157 erscheint um diese undeutlich wahrnehmbaren Objekte ein farbiger Saum. Müller kennzeichnet dieses Phänomen als subjektive dioptrische Farben und erklärt sie kurzerhand zum Grundphänomen von G ­ oethes objektiven dioptrischen Farben,158 womit er einmal mehr die physiologische Bedingtheit aller Farberscheinungen unterstreicht. Eine weitere physiologische „Verifizierung“ von ­Goethes physikalischer Farbentheo­ rie zeigt, dass die Übertragung eines Erklärungsansatzes auf den anderen wegen der Eigengesetzlichkeit der Erscheinungen nicht ohne Transformationsverluste möglich ist. Erzeugt nach ­Goethes physikalischer Theorie die Erweiterung des Hellen über das Dunkle und auch in umgekehrter Richtung Farben, lassen sich nach Müller die physiologischen dunklen Bilder im Auge nicht über einen hellen Rand ausdehnen, da sich die Netzhaut im Zustand der Ruhe befindet. Obwohl ­Goethes Theorie der Kantenspektren hier nur partiell physiologisch bestätigt werden kann, bemüht sich Müller 1826 in der Vergleichenden Physiologie – sich der Widersprüche wohl bewusst

156 Ebd. 157 Unter Horopter wird die kreisförmige horizontale Linie verstanden, auf der bei gegebener Stellung beider Augen alle Punkte bzw. Gegenstände nur einfach gesehen werden. 158 Vgl. Müller, Zur vergleichenden Physiologie, a. a. O., S. 195.

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und deshalb Auslassungen in Kauf nehmend –, die Anschlussfähigkeit seiner Theorie an G ­ oethes Physik der Farbe zu wahren: „Indem wir uns aber von der ­Goethe’schen Vorstellung, welche das Dunkle und Helle gegenseitig über einander wegführt, befreien, bleiben wir jedoch ganz und gar bei der G ­ oethe’schen Darstellung der Phänomene selbst, und huldigen namentlich dem ­Goethe’schen Grundsatze, daß zur Farbenproduction die Grenze des Dunkeln und Lichten nothwendige Bedingung sey.“ 159

Diese positive Bewertung verwirft Müller in seinem späteren Handbuch der Physiologie des Menschen. Zu diesem Zweck sucht er nach unterschiedlichen Anschlüssen zwischen physikalischen und physiologischen Erklärungen – ein Vorgehen, in dem er sogar zu widerstreitenden physikalischen Theorien greift, die seinen einstigen monotheoretischen Diskurs der physiologischen Begründung von ­Goethes Refraktionsfarben ersetzen. Hinter diesem Wandel steht nicht zuletzt Müllers im Handbuch entwickelte und ausführlich dargelegte Betrachtung des menschlichen Körpers als arbeitsteilig wirkende, energetische Maschine. In dieser Schrift überträgt er die Funktionsweise der Apparaturen auf den lebenden Organismus und beschreibt dessen Aktivitäten als ein Ineinandergreifen quantifizierbarer physischer und mechanischer Systeme. Obwohl mit diesem physikalistischen Konzept des Körpers der Vitalismus überholt erscheint, trifft dies paradoxerweise – wie Jonathan Crary herausstellt – auf Müllers Schrift nicht zu. Sie ist eine der letzten, die die Sinne nach wie vor als sich selbst erzeugende und erhaltende Organe beschreibt.160 Unter dem bezeichnenden Zwischentitel Von den physikalischen Bedingungen der Bilder im Allgemeinen bemüht sich Müller nun um eine physiologisch ausgerichtete Legitimierung von Newtons Physik des Lichts. Die Papillen der Netzhaut nehmen nach Müller immer dann Weiß wahr, wenn sie von allen Hauptfarben zugleich beleuchtet werden. (Als diese führt er allerdings nicht Newtons sieben Prismenfarben an, sondern die drei Grundfarben der Maler Gelb, Blau und Rot, die auch ­Goethe als grundlegende Trias zur „Erklärung des allgemeinen Farbenwesens“ betrachtet.161) Mit diesem Ansatz lasse sich – so Müller – G ­ oethes Aperçu einer weiß bleibenden Wand beim Blick durchs Prisma physiologisch begründen.162 Führt Müller physikalisch richtig die farberzeugende Hell-Dunkel-Grenze in ­Goethes Kantenspektren auf Newtons Theo­ rie des Lichts zurück, erklärt er physiologisch, dass die unterschiedlich refrangiblen Lichtstrahlen verschiedene Farben im Auge hervorrufen. Steckt in diesem Rückgriff Müllers auf die newtonische Physik nur eine implizite Ablehnung von ­Goethes Farbphysik, spricht er sich an anderer Stelle explizit gegen diese aus – nun allerdings unter Bezug auf die Undulationstheorie des Lichts: 159 Ebd., S. 409. 160 Vgl. Crary, Techniken des Betrachters, a. a. O., S. 93 – 94. 161 LA I.7, S. 3 – 5 (Erklärung der zur Farbenlehre gehörigen Tafeln, Erste Tafel). 162 Vgl. Müller, Handbuch der Physiologie II, a. a. O., S. 295 und S. 300.

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„Eine Farbe, kann ohne aus einer Vermischung von Weiss und Schwarz entstehen zu können, mehr oder weniger Reizkraft für die Nervenhaut, also mehr oder weniger Intensität haben, oder dunkel erscheinen, mag dieses von der verschiedenen Geschwindigkeit der Lichtwellen, und der verschiedenen Grösse derselben in den verschiedenen Farben, oder von irgend einer andern Eigenschaft des farbigen Lichtes herrühren.“ 163

Obwohl Müller ­Goethes physikalische Theorie verwirft, behält er dessen psychologisch fundierten ästhetischen Harmoniegedanken der Farben bei, indem sich auch bei ihm eine einfarbig gereizte Netzhaut durch die Erzeugung der Komplementärfarbe aus einem Zwangszustand befreit.164 Unter Zuhilfenahme von ­Goethes Farbenkreis begründet Müller die Komplementärfarbenerzeugung nach einem physikalischen Modell. Die Mischung einer bereits gemischten prismatischen und einer reinen Farbe ergibt nach Müller – erneut zusammengeführt – Weiß.165 In Müller Wahrnehmungstheorie macht die formgebende Funktion des Auges nicht nur die Trennung von körperinternen und -externen Reizen bedeutungslos, sondern erhebt auch das Phantastische zur Realität. Die neurale Organisation des Gesichtssinns verleiht der Wahrnehmung realer und phantastischer Phänomene den gleichen Wahrheitsgehalt, wie Müller in seinem 1826 erschienenen Buch Über die phantastischen Gesichtserscheinungen belegt: „Es ist für den Sinn gleich, ob eine Affektion von innen oder außen erregt werde, das Auge sieht in beiden Fällen Licht und Farben.“ 166 Auf die von Müller aufgewertete Bedeutung der phantastischen Erscheinungen verweist ihr ebenfalls fixer Ort im Auge. Dieser verleiht ihnen bildtheoretisch sogar einen höheren Status als den Eindrücken der Außenwelt.167 Dezidiert untersucht Müller die differenzierten Entstehungskontexte der phantastischen Gesichtsphänomene: bei offenen, die äußeren Gegenstände betrachtenden Augen und Traumbildern, beim magnetischen Schlaf­wachen, bei ekstatischen Visionen und organischen Krankheiten sowie als Produkte der freien Einbildungskraft. Erkannte bereits Purkinje das physiologisch bedingte Ineinanderwirken von Phantasie und Wahrnehmung, das in der Struktur des Gesichtsfeldes seinen visuellen Niederschlag findet, betrachtete er beide allerdings noch anklingend an die Vermögenspsychologie „als einzelne begränzte Kräfte“, die sich einer „allgemeinen Seelenkraft“ fügen.168 In Müllers Konzept hingegen ist die sinnliche Empfindung nicht nur untrennbar mit der Tätigkeit der Phantasie verbunden, ihr Wirken bildet sogar die Bedingung 163 Ebd., S. 299. 164 Vgl. ebd., S. 375 165 Vgl. ebd., S. 296. 166 Müller, Johannes, Über die phantastischen Gesichtserscheinungen, Leipzig 1927 (= Erstausgabe Koblenz 1826), S. 49. 167 Vgl. ebd., S. 42 – 45. 168 Purkinje, Beiträge zur Kenntniss des Sehens, a. a. O., S. 170.

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für die empirische Verarbeitung externer, objektiver Reize. Als Herrscherin über das Gesichtsfeld gilt sie als Vollenderin der gesehenen Bilder, da allein sie fähig ist, die Wahrnehmung äußerer Objekte zu synthetisieren und zu verwandeln: „Sinnliches Vorstellen ist ihre [der Phantasie – S. Sch.] Energie, das sinnlich Vorgestellte immer zu verändern, zu beschränken, zu erweitern ist das Lebendige in ihrer Energie. Man kann ein äußeres sinnliches Objekt nicht betrachten, ohne in ewiger Veränderung bald dieses, bald jenes erweiternd, beschränkend sich lebhafter einzubilden, wir können eine zusammengesetzte architektonische Figur nicht beschauen, ohne eine immerwährende Abstraktion der sinnlichen Vorstellung, welche bald diesen, bald jenen durch den ganzen durchstrebenden Elementarteil im Sinne festhält. Hier ist nur die der Phantasie notwendige Veränderung ihres Objektes erkennbar, ihr lebendiger Fortschritt im Erweitern, Beschränken des sinnlich Aufgefassten.“ 169

Indem Müller die phantastischen Phänomene ebenso als physiologischen Vorgang wie die Wahrnehmung äußerer Objekte interpretiert und ihn primär die körpereigene Verarbeitungsstruktur des sich intrakorporal in die Netzhaut einschreibenden Vorstellungsvorgangs interessiert, entfällt endgültig die traditionelle, von ­Goethe bereits auf konzeptioneller und experimenteller Ebene zusammengeführte und an die Wahrnehmung gebundene Einteilung in reproduktive und produktive Einbildungskraft, obwohl auch Müller diese Begriffe noch benutzt. Da nicht mehr die Wahrnehmungsinhalte und ihr Verhältnis zueinander relevant sind, ist es gleichgültig, ob die Phantasie an einmal Erfahrenes gebunden ist wie in den meisten früheren Konzepten der reproduktiven Einbildungskraft oder nicht wie im Entwurf der produktiven Einbildungskraft. Neue Formen und Figuren sind nicht wie in Christian Wolffs philosophischmaßstabsetzender Definition der facultas fingendi Produkte einmal zerlegter und neu komponierter, bereits wahrgenommener Bilder, sondern Müller zeigt sie durchgängig als physiologisch determinierte Phänomene. Obwohl die Phantasie rein potentiell zur unendlichen Formenbildung fähig ist, spricht Müller ihr jegliche Autonomie ab. Er verlegt die Instanz der Abstraktion jedoch nicht wie Purkinje in das wahrnehmende Auge selbst, sondern konzipiert den Verstand als sie beherrschendes Vermögen, ohne das Verhältnis beider Kräfte näher zu erläutern.170 Das Eigenleben der Phantasie setzt Müller im dritten Teil der Phantastischen Gesichtserscheinungen in expliziten Bezug zu ­Goethes Metamorphosenlehre, indem er den Gestaltwandel von natürlichen Formen und Phantasieprodukten als identisches Gesetz postuliert. Mit diesem Zugriff begründet er die durch den Wissenschaftler zu

169 Müller, Über die phantastischen Gesichtserscheinungen, a. a. O., S. 85. 170 Vgl. ebd., S. 79 – 80 und zum gesamten Absatz Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung, a. a. O., S.  42 – 43.

4.3  Die farbige Struktur des Blicks – ­Goethe und Johannes Müller

entdeckende Notwendigkeit der Naturentwicklung ebenso wie die im Kunstwerk zu erlangende kreative Freiheit: „Der Naturforscher spricht das Gesetz der Formenbildung und Verwandlung aus, er sieht es nur in dem Wirklichen und Natürlichen verwirklicht. Die Phantasie des Künstlers ist auch nur in diesem Gesetze tätig, aber sie verläßt seine Verwirklichung im Wirklichen und Natürlichen und erhebt sich, in denselben Gesetzen sich bewegend und fortschreitend, ohne den Begriff zu verlassen, über das Wirkliche zur idealen Form, die Selbstzweck und nicht mehr ein Ausdruck innerer Funktionen und als solcher immerhin durch diese beschränkt ist.“ 171

Durch die physiologische Determinierung der Phantasie setze Müller nicht nur Kunstästhetik und Wahrnehmungstheorie in eins, sondern verknüpfe auch – so Jutta MüllerTamm – Freiheit und Notwendigkeit im organischen Vollzug: „Die Phantasie gilt als eigenständiger Produzent neuer Formen, aber dieser Prozeß der Formgebung vollzieht sich zugleich mit der bindenden Objektivität des Körpergeschehens und als naturgesetzlicher Vorgang der Bildmetamorphose.“ 172 Kardinalbeispiel für das sinnliche Eigenleben des künstlerisch-autonomen Subjekts ist einmal mehr das physiologischphantastische Blumenkaleidoskop aus G ­ oethes Purkinje-Kommentar. Den berühmten Weimarer betrachtete Müller als vollkommenen Künstler und Naturforscher gleichermaßen. Zwei Jahre nach Veröffentlichung der Phantastischen Gesichtserscheinungen hatte er die Möglichkeit, ­Goethe persönlich über die Erzeugung dieser Erscheinungen zu befragen. Er erfuhr, dass ­Goethe diese nach Belieben hervorbringen konnte: „Im Jahre 1828 hatte ich Gelegenheit, mich mit ­Goethe über diesen, uns beide gleich interessierenden Gegenstand [die phantastischen Gesichtserscheinungen – S. Sch.] zu unterhalten. Da er wußte, daß bei mir, wenn ich mich ruhig bei geschlossenen Augen hinlege, vor dem Einschlafen leicht Bilder in den Augen erscheinen, ohne daß es zum Schlaf kommt, indem vielmehr die Bilder sehr wohl beobachtet werden können, so war er begierig zu erfahren, wie sich diese Bilder bei mir gestalten. Ich erklärte, daß ich durchaus keinen Einfluß des Willens auf Hervorrufung und Verwandlung derselben habe, und daß bei mir niemals eine Spur von symmetrischer und vegetativer Entwickelung vorkomme. ­Goethe hingegen konnte das Thema willkürlich angeben, und dann erfolgte allerdings scheinbar unwillkürlich, aber gesetzmäßig und symmetrisch das Umgestalten. Ein Unterschied zweier Naturen, wovon die eine die größte Fülle der dichterischen Gestaltungskraft besaß, die andere aber auf die Untersuchung des Wirklichen und des in der Natur Geschehenden gerichtet ist.“ 173

171 Müller, Über die phantastischen Gesichtserscheinungen, a. a. O., S. 92. 172 Vgl. Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung, a. a. O., S. 44 – 45, Zitat S. 45. 173 WA V,10, S. 171 (Müller über ein Gespräch mit ­Goethe am 10. Oktober 1828). Müller besuchte ­Goethe zweimal in Weimar. Wie aus ­Goethes Tagebuchaufzeichnungen hervorgeht, traf Müller

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4. ­Goethes Urphänomen erobert das Auge

Ergänzend zu der im Purkinje-Kommentar vorgenommenen physiologischen Begründung des phantastischen Blumenbildes, betrachtet G ­ oethe – vermutlich nach der Rezeption von Müllers Schriften – die Einbildungskraft aufgrund ihres der Natur analogen autopoietischen und zugleich mit ihr verhafteten Entwicklungsprinzips als dieser ebenbürtig. Dieser Erkenntniskraft ordnet er nun die organisch bedingte „vorhersehbar“ agierende Sinnlichkeit unter: „Phantasie ist der Natur viel näher als die Sinnlichkeit, diese ist in der Natur, jene schwebt über ihr. Phantasie ist der Natur gewachsen, Sinnlichkeit wird von ihr beherrscht.“ 174 Wie Purkinje bedient sich auch Müller der Methode der Heautognosie, um zur Abstraktion der Empfindungen durch Schulung und Erziehung der Sinne zu gelangen – eine Abstraktion, die für die Wahrnehmung äußerer Objekte und subjektiver Phantasieprodukte gleichermaßen gilt. Diese Abstraktion soll den Menschen auf die ureigenen Funktionen seiner Sinnesorgane zurückführen: „[…] denn es ist uns durch die Erziehung des Sinnes nothwendig geworden, die Empfindung als abstracte ohne concreten Inhalt als Gegenstand des Selbstbewußtseyns zu haben.“ 175 In dieser zweiten, dem Urzustand des Menschen nachempfundenen Abstraktion soll wie in Purkinjes Konzept die physiologische Verarbeitungsstruktur von den Inhalten der Wahrnehmung geschieden werden, so dass die Affektionen der Sinne als ein von unserem Selbst „schlechthin Aeußeres“ 176 erscheinen. Als Forum dieser abstrahierten Wahrnehmung betrachtet Müller das sinnesphysiologische Experiment. Ebenso wie G ­ oethe ist er sich bewusst, dass bei Anwendung des physiologischen Versuchs die Natur durch Eingriffe verändert wird. Anders als jener hält Müller diese Methode in denjenigen Fällen für geeignet, in denen alle anderen Erkenntnismöglichkeiten wie Gedankenexperimente, Analogieschlüsse und Beobachtungen nicht fruchten. Seinem subjektivistischen Ansatz entsprechend, der rigoros mit der Kohärenz zwischen äußeren Reizen und physiologischen Reaktionen bricht, erachtet Müller jedoch den epistemologischen Wert des Experiments als gering. Er spricht dem Versuch von vornherein ab, verlässliche Aussagen über die Ursachen des Lebenden treffen zu können: ihn am 10. Oktober 1828 und am 23. Oktober 1829 in Weimar. Vgl. WA III,11, S. 289 und WA III,12, S. 157. 174 LA I.10, S. 251 (Poetische Metamorphosen). Dieses Zitat lässt sich weder nach seinem inhaltlichen noch zeitlichen Entstehungskontext einordnen. Vermutlich fertigte ­Goethe es 1828 im Anschluss an seine Schrift Ästhetische Pflanzen Ansicht – zu einer Zeit, als ­Goethe Müllers Schriften bereits kannte. Vgl. LA II.10, S. 803. Neben dem Werk Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes erhielt ­Goethe im Februar 1826 von Müller auch die Schrift Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Vgl. Ruppert, ­Goethes Bibliothek, a. a. O., S. 704. 175 Müller, Zur vergleichenden Physiologie, a. a. O., S. 44. Wie Stefano Poggi treffend beschreibt, ersetzt in diesem Zustand die Abstraktion der Empfindungen die im Urzustand des Menschen vorhandene Abstraktion des Selbstbewusstseins. Vgl. Poggi, ­Goethe, Müller, Hering, a. a. O., S. 194. 176 Müller, Zur vergleichenden Physiologie, a. a. O., S. 44.

4.3  Die farbige Struktur des Blicks – ­Goethe und Johannes Müller

„Was aber das Experiment in physiologischen Dingen unzuverläßig macht, ist dieß, daß die Antwort der lebendigen Natur auf die Einwirkung des Reagens nicht die Natur des uns als bekannt vorausgesetzten Reagens als wesentlichen Theil in sich enthält. Denn alle Stoffe, alle Reize, auf den Organismus einwirkend, erregen in ihm nicht, was sie selbst sind, sondern ein von ihnen selbst Verschiedenes, die Lebensenergieen des Organismus. Ueber den Grund der Lebenserscheinung kann demnach der Versuch selbst nicht Auffschluß geben; er kann nur den Bezug der Reize, als Ursachen, zu den von ihnen der Natur nach verschiedenen Wirkungen im Organismus vervielfältigen, erweitern, d. i., mit einer größern Menge ihrer Natur nach unbekannter Lebenserscheinungen vertraut machen. Das ist der Gesichtspunkt, welcher über die Gültigkeit des Experimentes auch in der Lehre von der Natur des Lichtes und der Farben entscheidet, bei welcher die Physiologie so gut wie die Physik betheiligt sind.“ 177

Wie Brigitte Lohff analysiert, sind Experimente bei Müller immer dann von Nutzen, wenn sie der Aufdeckung physikalischer oder chemischer Körperprozesse dienen, zur Erkenntnis der Lebensgesetze des Organismus führen sie jedoch nicht.178 Müllers der Physik entlehnte Experimentalauffassung beginnt wie ­Goethes pluralistische Versuchsmethode immer beim einfachen Phänomen. Da nicht nur nach G ­ oethe, sondern auch nach Müller die vielfältigen Prozesse des Lebens ausschließlich am gesamten Organismus erfahrbar sind, definiert Müller als Zweck des physiologischen Versuchs, dieser solle „die Menge der unbekannten Lebenserscheinungen […] häufen“,179 um lediglich spekulative Schlussfolgerungen über ihren per se nicht erfahrbaren Grund zu ermöglichen. Diese Methode unterscheidet sich vom morphologischen Konzept ­Goethes, der – wenn auch ebenfalls spekulative Anteile integrierend – die inneren Gesetze eines Organismus als direkt an seinen Oberflächen erkennbar postuliert und durch deren Sichtbarkeit verbindlichere Schlüsse zulässt. Müller hingegen betrachtet die unbekannten physiologischen Prozesse des Körperinneren, wie Hans-Jörg ­Rheinberger unterstreicht, als ausschließlich intuitiv erforschbare Vorgänge.180 Die einzige verlässliche Größe ist die konkrete Versuchskonstellation, die als Basis für die Interpretation körperlicher Reaktionen dient.

177 Ebd., S. 22. 178 Lohff benutzt als Beispiel für diese Auffassung Müllers die nervenphysiologischen Experimente, die für ihn lediglich dazu dienten, etwas über die Physik der Nerven, nicht aber etwas über ihre grundlegenden Funktionsgesetze zu erfahren. Vgl. Lohff, Brigitte, Johannes Müller und das physiologische Experiment, in: Hagner / Wahrig-Schmidt (Hg.), Johannes Müller und die Philosophie, a. a. O., S. 105 – 123, hier S. 117. 179 Müller, Zur vergleichenden Physiologie, a. a. O., S. 21. 180 Vgl. ausführlich Rheinberger, Hans-Jörg, Vom Urphänomen zum System der pelagischen Fischerei, in: Hagner / Wahrig-Schmidt (Hg.), Johannes Müller und die Philosophie, a. a. O., S. 125 – 141, hier S. 130.

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4. ­Goethes Urphänomen erobert das Auge

Die Kräfte des Lebenden, die unsichtbaren Vorgänge im Körperinneren setzen bei Müller nicht nur den epistemologischen Wert eines am Einzelphänomen orientierten Versuchs außer Kraft, sondern auch die Hypothese als epistemologisches Hilfsmittel. Erlaubt Müller genau wie G ­ oethe ihre Anwendung nur dann, wenn eine zuverlässige Erklärung vorübergehend unmöglich ist, schränkt Müller diesen Ansatz allerdings auf die exakten Wissenschaften ein.181 Da sich die Komplexität eines lebenden Wesens nicht auf deterministische Kausalrelationen beschränken lasse, kann es nach Müller „eine Hypothese einer lebendigen Erscheinung […] nicht geben“.182 Die Hypothese würde in diesem Kontext ihren eigentlichen Zweck als erkenntnistheoretisches Hilfskonstrukt verlieren, weil weder ihre Bestätigung noch Widerlegung möglich ist. Wie reagierte nun – so sei abschließend gefragt – G ­ oethe auf Müllers subjektivistische Wahrnehmungstheorie? Die dem Gesetz der spezifischen Sinnesenergien inhärente Infragestellung einer generellen Erkennbarkeit der Welt musste zutiefst dem sinnlichen Realismus G ­ oethes widersprechen, die wirklichen Dinge durch die menschlichen Sinnesorgane so wahrnehmen zu können, wie sie sind.183 Obwohl ­Goethe sich für die von Müller untersuchten subjektiven Gesichtserscheinungen durchaus interessierte,184 reagierte er auf dessen subjektivistischen Standpunkt ebenso wie auf denjenigen Schopenhauers. Er betonte – diesmal auf seine Lebenserfahrung pochend – die Unüberbrückbarkeit der Meinungsdivergenzen, nicht aber die Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte für ein kollektives Forschen, so dass er damit seine eigene Erkenntnismethode des Forscherkollektivs ad absurdum führte: „Freilich ist die Region, in der wir uns umthun, so weit und breit, daß von einem gemeinsamen Wege eigentlich die Rede nicht sein kann; […]. Die Divergenzen der Forscher sind unvermeidlich, auch überzeugt man sich bei längerem Leben von der Unmöglichkeit irgend einer Art des Ausgleichens – denn indem alles Urtheil aus den Prämissen entspringt, und genau besehen Jedermann von besonderen Prämissen ausgeht, so wird im Abschluß jederzeit eine gewisse Differenz bleiben, die dem einzelnen Wissenden angehört, und erst recht von der Unendlichkeit des Gegenstandes zeugt, mit dem wir uns beschäftigen, es sei nun, daß wir uns selbst, oder die Welt, oder was über uns beiden ist, als Ziel unserer Betrachtungen ins Auge fassen.“ 185 181 „Hypothesen sind in einer exakten und auf Facta sich stützenden Wissenschaft dann erlaubt, wenn eine definitive Erklärung zur Zeit unmöglich ist, wenn die hypothetische Erklärung den Facten nicht zuwider ist, vielmehr damit übereinstimmt, und wenn die Hypothese ein neues Feld zu ferneren Untersuchungen eröffnet.“ Müller, Handbuch der Physiologie, a. a. O., S. 71. 182 Ebd., S. 31. 183 Vgl. ausführlich Weizsäcker, Viktor von, Der Gestaltkreis, Frankfurt am Main 1973, S. 170. 184 Vgl. z. B. die Tagebucheinträge ­Goethes vom 25. Februar 1826 und vom 3. Juli 1827, in: WA III,10, S. 165 und WA III,11, S. 79. 185 ­Goethe an Johannes Müller am 23. Februar 1826, in: Bratranek (Hg.), ­Goethe’s Naturwissenschaftliche Korrespondenz, Teil 1, a. a. O., S. 397 – 398.

4.3  Die farbige Struktur des Blicks – ­Goethe und Johannes Müller

Nachdem in diesem Teil der Arbeit die verschiedenen Anschlüsse und Brüche zwischen ­Goethes Farbenlehre und den Wahrnehmungstheorien von Schopenhauer, Purkinje und Müller dargestellt wurden, soll nachfolgend gezeigt werden, auf welche Weise ­Goethes Wahrnehmungskonzept den zeichnerischen Stil seiner Farbstudien prägte und welche zeitgenössischen wissenschaftlichen Darstellungsmodi und weiteren Einflüsse ebenso auf diesen wirkten.

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Tafel I

Abb. 1  Johann Wolfgang von Goethe, Vignette des optischen Kartenspiels

Abb. 2  Isaac Newton, Innentitel der lateinischen Ausgabe der Opticks von 1740 (Ausschnitt)

Tafel II

Abb. 3  Johann Wolfgang von Goethe, Schema der ganzen Farbenlehre

Abb. 4  Johann Wolfgang von Goethe, Schema der ganzen Farbenlehre, Paralipomenon

Tafel III

Abb. 5  Johann Wolfgang von Goethe, Versuche mit farbigen Schatten (Das obere Bild zeigt den Versuchsaufbau, bevor Goethe die Mitwirkung des Auges bei der Farberzeugung entdeckte, das untere Bild denjenigen danach.)

Abb. 6  Johann Wolfgang von Goethe, Erstes geschlossenes Farbschema, 1793 Abb. 7  Karl Gustav Himly, Farbenkreis mit Grün im Norden

Tafel IV

Abb. 8  Johann Wolfgang von Goethe, Farbenkreis

Abb. 9  Johann Wolfgang von Goethe, Doppelter Farbenkreis, dessen innerer Ring die vermeintliche Farbmatrix der Blaublinden zeigt

Abb. 10  Johann Wolfgang von Goethe, Farbige Scheiben zur Darstellung der Farbenblindheit (Die unteren Scheiben zeigen die von den Blaublinden wahrgenommenen Farben.)

Abb. 11  Johann Wolfgang von Goethe nach Angelika Kauffmann, Landschaft ohne Blau

Tafel V

Abb. 12  Ernst Florens Friedrich Chladni, Klangfiguren auf quadratischen Platten

Tafel VI

Abb. 13  Johann Wolfgang von Goethe, Modifizierte Abschrift eines Versuchsprotokolls von Johann Wilhelm Ritter zur galvanischen Farberzeugung

Abb. 14  Johann Wolfgang von Goethe, Modifizierte Abschrift eines Versuchsschemas von Johann Wilhelm Ritter zur galvanischen Farberzeugung

Tafel VII

Abb. 15  Thomas Johann Seebeck, Entoptische Figuren

Tafel VIII

Abb. 16  Johann Christian Friedrich Körner, Apparatur für den zweiten entoptischen Versuch

Abb. 17  Johann Christian Friedrich Körner, Doppelspiegelapparatur für den dritten entoptischen Versuch

Abb. 18  Joseph Niggl, Apparatur für den vierten entoptischen Versuch

Abb. 19  Johann Evangelista Purkinje, Figur des Achtstrahls im Auge

Tafel IX

Abb. 20  Johann Wolfgang von Goethe, Brennende Kerze mit Lichtschein (Notizzeichnung)

Abb. 21  Johann Wolfgang von Goethe, Skizze zur Erklärung des Regenbogens (Diskussionszeichnung)

Tafel X

Abb. 22  Johann Wolfgang von Goethe, Karte 1 des optischen Kartenspiels

Abb. 23  Johann Wolfgang von Goethe, Karte 2 des optischen Kartenspiels

Tafel XI

Abb. 24  Johann Wolfgang von Goethe, Karte 3 des optischen Kartenspiels

Abb. 25  Johann Wolfgang von Goethe, Karte 5 des optischen Kartenspiels

Abb. 26  Johann Wolfgang von Goethe, Karte 13 des optischen Kartenspiels

Tafel XII

Abb. 27  Johann Wolfgang von Goethe, Karte 4 des optischen Kartenspiels

Abb. 28  Johann Wolfgang von Goethe, Karte 6 des optischen Kartenspiels

Abb. 29  Johann Wolfgang von Goethe, Karte 12 des optischen Kartenspiels

Tafel XIII

Abb. 30  Johann Wolfgang von Goethe, Karte 7 des optischen Kartenspiels

Abb. 31  Johann Wolfgang von Goethe, Karte 8 des optischen Kartenspiels

Abb. 32  Johann Wolfgang von Goethe, Karte 9 des optischen Kartenspiels

Tafel XIV

Abb. 33  Johann Wolfgang von Goethe, Karte 23 des optischen Kartenspiels

Abb. 34  Johann Wolfgang von Goethe, Karte 17 des optischen Kartenspiels

Abb. 35  Johann Wolfgang von Goethe, Karte 18 des optischen Kartenspiels

Tafel XV

Abb. 36  Johann Wolfgang von Goethe, Kleiner Schirm zur Farbenlehre, Vorder- und Rückseite

Tafel XVI

Abb. 37  Johann Wolfgang von Goethe, Tafel I zur Farbenlehre

Tafel XVII

Abb. 38  Robert Waring Darwin, Darstellung physiologisch erzeugter Farben

Abb. 39  Johann Evangelista Purkinje, Darstellung subjektiver Gesichtsphänomene

Tafel XVIII

Abb. 40  Johann Wolfgang von Goethe, Fratzengesicht, Kopf eines Mannes mit Schnurrbart und Halstuch in umgekehrten Farben

Abb. 41  Johann Wolfgang von Goethe, Bild eines Mädchens in umgekehrten Farben

Tafel XIX

Abb. 42  Johann Wolfgang von Goethe, Auge empfänglich und gegenwirkend

Tafel XX

Abb. 43  Johann Wolfgang von Goethe, Tafel II zur Farbenlehre

Tafel XXI

Abb. 44  Johann Wolfgang von Goethe, Tafel II a zur Farbenlehre

Abb. 45  Johann Wolfgang von Goethe, Tafel III zur Farbenlehre

Tafel XXII

Abb. 46  Johann Wolfgang von Goethe, Tafel IV zur Farbenlehre

Tafel XXIII

Abb. 47  Johann Wolfgang von Goethe, Tafel V zur Farbenlehre (Farbverlauf des Newton-Spektrums)

Abb. 48  Johann Wolfgang von Goethe, Tafel VI zur Farbenlehre (Farbverlauf des Goethe-Spektrums)

Tafel XXIV

Abb. 49  Johann Wolfgang von Goethe, Tafel XIII zur Farbenlehre

Tafel XXV

Abb. 50  Christoph Heinrich Pfaff, Farbige Säume der Nebenbilder des Doppelspats

Abb. 51  Johann Wolfgang von Goethe, Vorarbeit zum Aufsatz Doppelbilder des rhombischen Kalkspats

Abb. 52  Johann Wolfgang von Goethe, Tafel zu den Aufsätzen Doppelbilder des rhom­bischen Kalkspats und Elemente der entoptischen Farben

Tafel XXVI

Abb. 53  Johann Wolfgang von Goethe, Darstellung des Glimmerblättchens im Aufsatz Entoptische Farben

Abb. 54  Isaac Newton, Farbenkreis

Tafel XXVII

Abb. 55  Tobias Mayer, Farbendreieck

Abb. 56  Johann Heinrich Lambert, Farben­pyramide

Tafel XXVIII

Abb. 57  Philipp Otto Runge, Farbenkugel

Tafel XXIX

Abb. 58  Johann Wolfgang von Goethe, Kolorierter Farbenkreis zum Aufsatz Versuch die Elemente der Farbenlehre zu entdecken, 1793 (Es ist vermutlich das erste kolorierte Farbschema Goethes überhaupt.)

Abb. 59  Johann Wolfgang von Goethe, Symbolische Annäherung zum Magneten

Tafel XXX

Abb. 60  Mathias Klotz, Gründliche Farben­ lehre, Tafel VI , Farbsystem für Künstlerfarben

Abb. 61  Mathias Klotz, Gründliche Farben­ lehre, Tafel III , Vorlage zur Erzeugung prismatischer Farben

Abb. 62  Mathias Klotz, Gründliche Farben­ lehre, Tafel V, Darstellung prismatischer Farben

Tafel XXXI

Abb. 63  Johann Wolfgang von Goethe/Friedrich Schiller, Temperamentenrose

Abb. 64  Johann Wolfgang von Goethe, Farbenkreis zur Symbolisierung des menschlichen Geistes- und Seelenlebens

Tafel XXXII

Abb. 65  Johann Wolfgang von Goethe, Tetraeder mit Farbensymbolen

353

5.

Kolorierte Augenblicke – Die Zeichnungen zu ­Goethes Farbstudien

5.1 Wissenschaftliche Zeichnung und Schrift – Intermediale Verhältnisse Einen umfassenden Teil seiner Farbstudien hielt G ­ oethe im Speichermedium der wissenschaftlichen Zeichnung fest. Einschließlich aller publizierten Bilder sowie unveröffentlichten Zeichnungen und Skizzen existieren heute noch ca. 500 Motive auf verschiedenen Materialien: auf Papier, Stoffen und Tapeten. Sie wurden mit Feder und Bleistift, Leim und farbigem Papier, als Holzschnitt, kolorierte Kupferstiche oder in Aquarelltechnik erstellt.1 Spricht allein ihre hohe Anzahl für die große epistemologische und didaktische Bedeutung, die G ­ oethe dieser Darstellungsart beimaß, ist seine Bewertung der wissenschaftlichen Bilder im intermedialen Vergleich mit dem arbiträren Zeichensystem der Schrift ambivalent. Als Signifikat von Schrift und wissenschaftlichem Bild betrachtet G ­ oethe die Natur, deren Erscheinungen er in seiner sensuell ausgerichteten Semiotik als dynamisch, verzeitlicht und in steter Veränderung begriffen auffasst. Ihren phänomenalen physikalischen und physiologischen Bildern verleiht G ­ oethe die Priorität in der Erkenntnisfindung, da er stärker auf den eigenen Blick als auf die Überlieferung des Wissens durch Schrift und Abbildungen vertraut.2 Diese Zeichensysteme wiederum versucht er, auf den Wandel der Naturphänomene selbst abzustellen, um den Bruch zwischen Signifikat und Signifikant so gering wie möglich zu halten. Bevor diese Herangehensweise neben anderen Punkten für die wissenschaftlichen Bilddarstellungen erläutert wird, sei sie zu Vergleichszwecken zuerst für Sprache und Schrift dargelegt: Im Hinblick auf den Aktualitätsbezug stellt G ­ oethe die gesprochene über die geschriebene Sprache, weil sie an eine aktivere Beteiligung von Sprecher und Rezi­ pient gebunden ist, die wiederum deren simultane Präsenz voraussetzt.3 Paradigmatisch steht in G ­ oethes Farbstudien die Verwendung der bereits erläuterten Sprachmetapher 1 2 3

Vgl. ­Goethe, Johann Wolfgang, Corpus der ­Goethezeichnungen, Bd. VA: Die Zeichnungen zur Farbenlehre, bearbeitet v. Rupprecht Matthaei, Leipzig 1972, S. 14. Vgl. exemplarisch dafür ­Goethes Brief an Charlotte von Stein am 29. Dezember 1786 in: WA IV,8, S. 106. Vgl. Azzouni, Safia, Kunst als praktische Wissenschaft. G ­ oethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ und die Hefte „Zur Morphologie“, Köln 2005, S. 121. Vgl. als Referenztext Derrida, Jacques, Gram­ matologie, Frankfurt am Main 1998, S. 19 und S. 26.

354

5.  Kolorierte Augenblicke – Die Zeichnungen zu ­Goethes Farbstudien

„das Auge vernimmt und spricht“ 4 für die Aktivität des Gesichtssinns, in welchem sich die dynamischen Naturphänomene in sich wandelnden Eindrücken niederschlagen. Im Vorwort der Farbenlehre vergleicht er ein naturwissenschaftliches Fachbuch mit einem guten Theaterstück, das erst durch Aufführungspraxis und Zuschauergeist zur vollen Wirkung gelangt. In diesem Kontext fordert er den Wissenschaftler auf, das Schreiben durch die gesprochene Sprache zu ersetzen: „Wenn es [das Fachbuch – S. Sch.] genossen, wenn es genutzt werden soll, so muß dem Leser die Natur entweder wirklich oder in lebhafter Phantasie gegenwärtig sein. Denn eigentlich sollte der Schreibende sprechen und seinen Zuhörern die Phänomene, teils wie sie uns ungesucht entgegenkommen, teils wie sie durch absichtliche Vorrichtungen nach Zweck und Willen dargestellt werden können, als Text erst anschaulich machen; alsdann würde jedes Erläutern, Erklären, Auslegen einer lebendigen Wirkung nicht ermangeln.“ 5

Auch wenn ­Goethe die Zeichen der Schrift wegen des von ihnen herbeigeführten Bruchs zwischen Signifikat und Signifikant skeptisch betrachtet – eines Bruchs, der aus seiner Sicht die identische Vermittlung der Phänomene unmöglich macht 6 –, kommt er dennoch nicht umhin, sie zur Verbreitung seiner Farbenlehre im wissenschaftlichen Fachbuch zu nutzen. Er erweitert jedoch die mediale Funktion der Wissensvermittlung, indem er die Schrift nicht nur als Speichermedium wissenschaftlicher Fakten nutzt, sondern auch als Basis für die aktive Generierung von Wissen durch den Leser begreift. Diese Funktion der Schrift setzt ­Goethe gegen die von ihm kritisierte ontologische Abbildtheorie der Sprache, die in aristotelischmetaphysischer Tradition die Zeichen selbst an die Stelle der Phänomene stellt.7 Der arbiträre und zergliedernde Charakter dieses Zeichensystems, seine gegenstandsverändernde Gefahr wird nach G ­ oethes Meinung der lebendigen Wechselwirkung der Naturerscheinungen nicht gerecht: „Jedoch wie schwer ist es, das Zeichen nicht an die Stelle der Sache zu setzen, das Wesen immer lebendig vor sich zu haben und es nicht durch das Wort zu töten!“ 8 Um die Differenz zwischen Gegenstand und Zeichen bewusst zu halten, fasst G ­ oethe die Sprache als Symbol auf, deren arbiträres Zeichensystem die Gegenstände niemals 4 LA I.3, S. 437 (Das Auge). 5 LA I.4, S. 9 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Vorwort). 6 „Alle Erscheinungen sind unaussprechlich, denn die Sprache ist auch eine Erscheinung für sich, die nur ein Verhältnis zu den übrigen hat, aber sie nicht herstellen (identisch ausdrücken) kann.“ LA I.3, S. 301 (Bedenken um 1800). Vgl. dazu auch Han, Ästhetik der Oberfläche, a. a. O., S. 11 sowie Azzouni, Kunst als praktische Wissenschaft, a. a. O., S. 121. 7 Vgl. Rehbock, ,Rettung der Phänomene‘, a. a. O., S. 141 – 142 sowie Simon, Josef, G ­ oethes Sprach­ ansicht, in: Hamacher, Bernd / Nutt-Kofoth, Rüdiger (Hg.), ­Goethe. Romane und theoretische Schriften. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2007, S. 141 – 163, hier S. 143. 8 LA I.4, § 754, S. 222 (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

5.1  Wissenschaftliche Zeichnung und Schrift – Intermediale Verhältnisse

direkt ausdrücken kann. Er betrachtet die Zeichen als eigenständigen Erscheinungsbereich und stellt sie in ihrem phänomalen Charakter neben die Naturerscheinungen.9 Um dieses Ziel erreichen zu können, verwendet er sie in einer dynamischen Bildhaftigkeit: „Könnte man […] in einer mannigfaltigen Sprache seine Betrachtungen über Naturphänomene überliefern, hielte man sich von Einseitigkeit frei und faßte einen lebendigen Sinn in einen lebendigen Ausdruck, so ließe sich manches Erfreuliche mitteilen.“ 10 Die Bildhaftigkeit der Sprache konstituiert er z. T. analog seiner explorativen Experimentalpraxis. Er greift besonders im Hauptwerk der Farbenlehre zu dieser Methode, um die erkenntnistheoretisch doppelte Funktion dieses Textes zur Anwendung zu bringen. Wie Holger Helbig analysiert, vereinigt G ­ oethes Farbenlehre zwei wissenschaftliche Textsorten, die um 1800 zumeist getrennt behandelt wurden: eine forschungsorientierte, bei der die Wissensvermittlung auf ein konkretes Problem gerichtet ist, und eine didaktische, in der sich die gegebenen Informationen in ein bereits entworfenes, übergeordnetes Wissenssystem fügen. Besonders der didaktische Teil ist Forschungsbericht und Lehrbuch in einem, er wendet sich an Laien und Schüler, gleichermaßen aber auch an die wissenschaftliche Fachwelt.11 Stärker als in den Vorarbeiten positioniert ­Goethe hier den Rezipienten als zu Überzeugenden. Analog seiner Experimentalmethode, in der das Ergebnis erst am Ende des explorativen Versuchs generierbar ist, führt der Autor ­Goethe vom Standpunkt seiner bereits getätigten Erfahrungen den Leser durch die schriftlich dargelegten Phänomenreihen der ersten drei analytisch strukturierten Abteilungen Physiologische, Physische und Chemische Farben. Anschließend synthetisiert er diese Erfahrungen als generelle Erkenntnisse in den Abteilungen Allgemeine Ansichten nach innen, Nachbarliche Verhältnisse und Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe. So entsteht nicht nur eine diegetische Kreisform, in der sich mit der Sinnlich-sittlichen Wirkung der Farbe die psychologische Verarbeitung der Eindrücke rekursiv an die Eingangsabteilung der Physiologischen Farben anschließt, sondern auch ein Zirkel auf didaktischer Ebene. Am Ende des didaktischen Teils stehen die eingangs von ­Goethe aufgestellten Annahmen als Resultate der im Text beschriebenen Beobachtungen und Experimente. Wenn der Rezipient nun nach der Lektüre der Schrift ­Goethes Intention entsprechend den gleichen Standpunkt wie dieser erlangt hat, sind die Ergebnisse von G ­ oethes Forschungs- und Darstellungs12 prozess deckungsgleich geworden. Zwecks didaktischer Lenkung sucht G ­ oethe nach Sprachregelungen, die es dem Leser gestatten, eigene im Rahmen des vorgegebenen Inhalts angelegte konkrete

9

Vgl. ebd., § 751, S. 221 sowie das unter Fußnote 6 aufgeführte Zitat. Vgl. zu dieser Interpretation ausführlich Helbig, Naturgemäße Ordnung, a. a. O., S. 439. 10 LA I.4, § 753, S. 221 – 222 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 11 Vgl. Helbig, Naturgemäße Ordnung. a. a. O., S.  16 – 17. 12 Vgl. Käfer, Methodenprobleme und ihre Behandlung, a. a. O., S. 195 und S. 198 – 199.

355

356

5.  Kolorierte Augenblicke – Die Zeichnungen zu ­Goethes Farbstudien

Ergebnisse zu gewinnen.13 ­Goethe benutzt hier unterschiedliche sprachliche Mittel, deren wichtigste nachfolgend vorgestellt seien: 1) Er verzichtet auf die Wahl prägnanter Worte. Er möchte die jeweils benutzten Begriffe möglichst dem Kreise der Phänomene entlehnen und jene als Grundformeln behandeln, welche die Ableitung und Entwicklung weiterer Begriffe gestatten.14 Diese von ­Goethe angestrebte offene Struktur der Sprache, die Holger Helbig als konzeptuelle Annäherung durch den Autor beschreibt,15 Uwe Pörksen als fragende[n] Erweiterung des gegebenen Horizonts durch den Leser bezeichnet, realisiert ­Goethe über den Einsatz von variierenden Synonymen.16 Eine solche Herangehensweise ermöglicht wie in der explorativen Experimentalmethode eine Perspektivenvielfalt, durch die der Leser ­Goethes Generierung der Versuchsergebnisse auf aktive Weise nachvollziehen kann. Exemplarisch sei in diesem Kontext die Studie von Christoph Gögelein angeführt, der herausarbeitete, dass in G ­ oethes Schriften zur Farbe 41 unterschiedliche Begriffe zur Semantik des Urphänomens existieren: Urerscheinung, Grund-, Haupt-, reines Phänomen usw.17 Wie Holger Helbig in seiner detaillierten Studie nachweist, oszillieren die von ­Goethe gewählten Begriffe oft zwischen Alltags- und Fachsprache, sind lediglich diejenigen Bezeichnungen eindeutig, die einen konkreten Bezug zu den beschriebenen Phänomenkonstellationen aufweisen. Helbig sieht in G ­ oethes Anwendung solcher unklaren Begriffe einen wichtigen Grund dafür, dass G ­ oethes Farbenlehre von den meisten Wissenschaftlern seiner Zeit nicht anerkannt wurde, da eine eindeutige und stabile Verbindung zwischen Begriffen und Phänomenen unabdingbare Voraussetzung für den Transfer wissenschaftlicher Aussagen ist.18 2) In seinen Texten benutzt ­Goethe vielfach komparative semantische Reihen, um den Übergang eines Phänomens in ein anderes als dynamisches Kontinuum darzustellen. So beschreibt er z. B. im didaktischen Teil der Farbenlehre seine Methode der Wissensgewinnung als Abstraktion im Phänomenalen in Form der Reihe „Anblicken – Ansehen – Betrachten – Sinnen – Verknüpfen – Theoretisieren“ oder ordnet die

13 Vgl. hierzu auch die Aussage Peter Hofmanns: „­Goethes sprachliche Denkbilder sind […] unerschöpflich. Sie treiben das Denken aus sich selbst neu hervor und erzeugen das ursprüngliche Bild des zu Denkenden neu.“ Ders., ­Goethes Theologie, a. a. O., S. 470. 14 Vgl. LA I.4, § 755, S. 222 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). Vgl. Pörksen, Uwe, „Alles ist Blatt“. Über Reichweite und Grenzen der naturwissenschaftlichen Sprache und Darstellungsmodelle ­Goethes, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988), S. 133 – 148, hier S. 140. 15 Vgl. Helbig, Naturgemäße Ordnung, a. a. O., S. 440. 16 Vgl. Pörksen, Uwe, Wissenschaftssprache und Sprachauffassung bei Linné und ­Goethe, in: ders., Deutsche Naturwissenschaftssprachen. Historische und kritische Studien, Tübingen 1986, S. 72 – 96, hier S. 96 und S. 82 – 85. 17 Vgl. Gögelein, Christoph, Zu ­Goethes Begriff von Wissenschaft auf dem Wege der Methodik seiner Farbstudien, München 1972, S. 65 – 70. 18 Vgl. Helbig, Naturgemäße Ordnung, a. a. O., S. 455, 448, 441 – 445 sowie S. 478.

5.1  Wissenschaftliche Zeichnung und Schrift – Intermediale Verhältnisse

physiologischen, physikalischen und chemischen Farben entsprechend ihrem Zeitfaktor als „flüchtige[n]“, „verweilende[n]“ und „dauernde[n]“ Farben syntagmatisch an.19 3) Nach Helbig ist neben der Synonymvariation der Einsatz von Metaphern das häufigste Mittel von ­Goethes sprachlicher Abstraktion. Der didaktische Einsatz von Metaphern fördert – wie Gert Mattenklott ausführt – die Wissensgewinnung, ohne die Substanz des vorgegebenen Wissens zu verändern, so dass der Leser hier wiederum in einem von ­Goethe vorgegebenen Rahmen eigenständig interpretieren kann. Wie Helbig nachweist, benutzt ­Goethe das Mittel der Metapher auch dann noch, wenn diese nicht erklärend wirkt, sondern eher zusätzliche inhaltliche Unschärfen herbeiführt wie im viel zitierten Begriffspaar der Farben als „Taten und Leiden“ des Lichts. Dieses verweise zwar auf das Polaritätsprinzip aller Farberscheinungen, werde aber von ­Goethe im weiteren Text der Farbenlehre rekursiv nicht in einen konkreten und klärenden Bezug zur o. g. Metapher gesetzt.20 4) Auf diegetischer Ebene gestaltet ­Goethe die Objekte der Farben als aktive Handlungsträger, die wie selbstbestimmte Subjekte wirken – selbst in den objektiven physikalischen Versuchen, an denen er in Newtons Experimentalpraxis die die Phänomene einengende Lichtspaltung kritisiert. Bei ­Goethe ist es beispielsweise „immer wieder das Sonnenbild, das sich an den Rändern der brechenden Flächen selbst begrenzt und die Nebenbilder dieser Begrenzung hervorbringt“ oder „verschwinden […] zuletzt die blaue und die gelbe Farbe, indem beide über einander greifen, völlig“.21 Ebenso anthro­ pomorphisiert er auch Versuchsparameter und Farben, wenn deren eine z. B. „vor der andern zu fliehen“ scheint oder Gläser, um Farben erzeugen zu können, eine „innige Berührung“ eingehen müssen.22 Auf diese Weise stellt ­Goethe der Dialog-Metapher des die Phänomene vernehmenden und mit ihnen sprechenden Forscherauges symbolisch-vitalisierte Versuchsobjekte und -resultate an die Seite.23

19 Vgl. Pörksen, „Alles ist Blatt“, a. a. O., S. 138 – 139; Zitate in der aufgeführten Reihenfolge LA I.4, S. 5 und S. 20. (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Vorwort und Einleitung). 20 Vgl. Helbig, Naturgemäße Ordnung, a. a. O., S. 471 und S. 478. Zitat LA  I.4, S. 3 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Vorwort). Vgl. Mattenklott, Gert, Metaphern in der Wissenschaftssprache, in: studi germanici XXXVIII (2000), S. 321 – 337, hier S. 331. 21 LA I.4, in der Reihenfolge der Zitate § 336, S. 114 und § 339, S. 115 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 22 Ebd., in der Reihenfolge der Zitate § 475, S. 152 und § 452, S. 146. Wie diese Beispiele zeigen, präferiert ­Goethe in seinen Schriften zur Farbe eine lebendige Sprache mit zahlreichen Verben – ein Zugriff, den er im historischen Teil der Farbenlehre durch die Gegenüberstellung der lebendigen griechischen Sprache mit der nach seiner Meinung starren lateinischen Sprache nachdrücklich unterstreicht. Vgl. LA I.6, S. 126 (Farbenlehre, Historischer Teil). 23 Diese Interpretation erfolgte in Anlehnung an Wolf von Engelhardts Analyse der Darstellung von ­Goethes geologischen Studien. Engelhardt konstatiert, dass ­Goethe Mineralien und Gesteine oft als agierende Subjekte beschreibt, indem er diesen transitive, reflexiv gebrauchte Verben zuordnet. Vgl. Engelhardt, Wolf von, Morphologie im Reich der Steine?, in: Mann, Gunter / Mollenhauer, Dieter / Peters, Stefan (Hg.), In der Mitte zwischen Natur und Subjekt. Johann Wolfgang von

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5.  Kolorierte Augenblicke – Die Zeichnungen zu ­Goethes Farbstudien

Bei dieser Sprachgestaltung verwundert es nicht, dass ­Goethe in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten dem Medium der Schrift eine anregende Wirkung auf die Einbildungskraft zuspricht – sowohl im didaktischen Teil der Farbenlehre 24 als auch in der 1824 verfassten Besprechung Über Martius Palmenwerk. In ihr reflektiert er die Palmenstudien des Naturforschers Carl Philipp Martius, die dieser gemeinsam mit Johann Baptist von Spix zwischen 1817 und 1820 in Brasilien durchgeführt hatte.25 Mehr Raum als die inhaltliche Reflexion dieses Werks nimmt in ­Goethes Kommentar allerdings die Analyse der Intermedialität von Schrift und Bild ein. In diesem Text misst er – anders als in der Farbenlehre – den wissenschaftlichen Zeichnungen eine hohe Bedeutung bei: „Gedenken wir gegenwärtig der ältesten Zeiten wo die Naturkunde von Bildern angefangen, durch Bilder ohne Schrift und als Schrift mitgeteilt und religios fortgepflanzt worden; wie denn die ägyptischen Hieroglyphen in ihren Hauptelementen dorthin gerichtet sind; so muß uns bei Vergleichen der neusten Zeit ‚auffallen‘ daß um sich zu vollenden die Wissenschaft wieder zu Bildern zurückkehren müsse.“ 26

Hinter dieser Forderung steht G ­ oethes Kritik einer zunehmend rationalisierten Naturforschung, deren Ergebnisvermittlung primär über Texte erfolgt. Deren komplexe Nomenklaturen und „flüchtige[n] Halbbeschreibungen“ erschweren nach seiner Auffassung eine übersichtliche, systematisierte Wissensvermittlung und verdrängen die Bilddarstellungen. Jene Art der Wissensüberlieferung schließe – so G ­ oethe – inte­ressierte Laien aus, da nicht jeder Leser die erforderliche intensive Einbildungskraft besitze, die abstrahierten und verzweigten Beschreibungen in Beziehung zu den Phänomenen zu setzen.27 Bilder und Schrift sieht G ­ oethe im Kommentar Über Martius Palmenwerk als gleichberechtigte Supplemente nebeneinander gestellt, so dass die Schrift nicht ohne Bild, das Bild nicht ohne Schrift vom Rezipienten erschließbar sei: „Deshalb denn zuletzt ein Bild, nicht ein symbolisches, womit man sich anfänglich begnügte, sondern ein leibhaftiges überliefert werde das als Komplement im Zusammenfassen der kunstgerechten Beschreibung gelten möge.“ 28 ­Goethe lobt in dieser und in der 1824 publizierten Schrift Genera et species palmarum, von Dr. C. F. von Martius an dessen

­ oethe. Versuch, die Metamorphose der Pflanze zu erklären. 1790 – 1990. Sachverhalte, Gedanken, G Wirkungen, Frankfurt am Main 1992, S. 33 – 51, hier S. 51. 24 Vgl. LA I.4, S. 8 und S. 9 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Vorwort). 25 In seinem Kommentar reflektiert G ­ oethe Martius’ Werk Genera et species palmarum und dessen Lithographien. Carl Philipp Martius (1794 – 1868) war Mediziner und Botaniker und ab 1820 als Professor der Botanik Direktor des Botanischen Gartens in München. 26 LA I.10, S. 216 (Über Martius Palmenwerk). 27 Vgl. ebd., Zitat ebenfalls. Vgl. Bies, Im Grunde ein Bild, a. a. O., S. 221. 28 LA I.10, S. 217 (Über Martius Palmenwerk).

5.1  Wissenschaftliche Zeichnung und Schrift – Intermediale Verhältnisse

Tafeln, die er hauptsächlich aus künstlerischer Sicht betrachtet, die figürliche Darstellung der Palmen. Er zeigt sich nicht nur von deren eindrucksvoller Detailgenauigkeit begeistert, sondern auch von der kunstvoll dargestellten Einbettung in ihre natürliche Umgebung, die weitere Kenntnisse über die Vegetation Brasiliens vermittele.29 Wie Michael Bies am ­goetheschen Text Über Martius Palmenwerk herausgearbeitet hat, dient diese Darstellungsart nicht einem rein abbildhaften Vor-Augen-Führen der Phänomene, sondern berücksichtigt mehrere Präsentationsebenen: Die Wiedergabe der Erscheinungen zeige stets ihr Charakteristisches, das sich auf ein Allgemeines beziehe, dennoch bewahre der dargestellte Gegenstand seine spezifische Präsenz.30 Diese Darstellungsmethode schätzte G ­ oethe sehr, da sie seine eigene spinozistisch geprägte Erkenntnismethode widerspiegelte. Anders als in diesen späteren Arbeiten bewertet ­Goethe die Intermedialität von Schrift und wissenschaftlichen Bildern in der Farbenlehre. Den epistemologischen Wert der dem Werk beigefügten Tafeln beschreibt er nicht nur gegenüber den realen, an die Sinne adressierten Farbversuchen,31 sondern auch gegenüber dem Text der Farbenlehre als sekundär: „Ein höchst unzulängliches Surrogat sind hiezu [zum Text der Farbenlehre – S. Sch.] die Tafeln, die man dergleichen Schriften beizulegen pflegt. Ein freies Phänomen, das nach allen Seiten wirkt, ist nicht in Linien zu fassen und im Durchschnitt anzudeuten. […] Aber sehr oft stellen diese Figuren nur Begriffe dar; es sind symbolische Hilfsmittel, hieroglyphische Überlieferungsweisen, welche sich nach und nach an die Stelle des Phänomens, an die Stelle der Natur setzen und die wahre Erkenntnis hindern, anstatt sie zu befördern. Entbehren konnten auch wir der Tafeln nicht; […].“ 32

Im Gegensatz zu den von ­Goethe gelobten Palmendarstellungen und den mimetischen Bildern der Kunst, deren Täuschungscharakter er kritisiert,33 haben diese Zeichnungen einen symbolischen Wert, der sich in einem hohen Abstraktionscharakter ausdrückt. Auf diesen Wert verweist ­Goethe auch im o. a. Zitat Über Martius Palmenwerk kritisch. Auf den meisten dieser Tafeln werden keine Einzelphänomene abgebildet, sondern verallgemeinerte Versuchskonstellationen und -ergebnisse vorgestellt.

29 Vgl. LA I.9, S. 380 – 381 (Genera et species palmarum, von Dr. C. F. von Martius, Fasz. I. und  II. München. 1823). 30 Vgl. LA I.10, S. 217 (Über Martius Palmenwerk). Vgl. Bies, Im Grunde ein Bild, a. a. O., S. 223. 31 „Alsdann [im Experiment – S. Sch.] würde sich wunderbar hervortun, welch ein Unterschied es sei zwischen den kümmerlichen Linearzeichnungen […] und der gegenwärtigen lebendigen Darstellung der Phänomene.“ LA I.11, S. 294 (Physikalische Preis-Aufgabe der Petersburger Akademie der Wissenschaften 1827). 32 LA I.4, S. 9 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Vorwort). 33 Vgl. Kapitel 1.2 dieser Arbeit.

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5.  Kolorierte Augenblicke – Die Zeichnungen zu ­Goethes Farbstudien

Da Bilder als fixierte Blicke ihrer ideellen und praktischen Urheber betrachtet werden können,34 erfolgt ihre Konstituierung stets in Auseinandersetzung mit dem wahrnehmungstheoretischen und wissenschaftshistorischen Kontext ihrer Zeit. In jener Zeit, in der ­Goethe die Tafeln zur Farbenlehre entwarf und fertigen ließ, begann ein Wandel in der ikonischen Darstellung, der sich zwischen der für die Wissenschaften der Aufklärung charakteristischen Bildgestaltung und der sich mit der empirischen Neudefinition des Menschen entwickelnden sinnlichen Abstraktion vollzog. Beide Strömungen forderten jeweils verschiedene Erkenntnisinstanzen des bildentwerfenden und -schaffenden Subjekts und konstituierten damit zwei unterschiedliche Formen von Subjektivität. Suchten zahlreiche Forscher der Aufklärung nach einer Grundfigur, einem Typus, der die gemeinsamen Merkmale zahlreicher Phänomene in sich vereinigt, taten sie dies – wie beschrieben – in Versuchsreihen, in denen sie ausgewählte Erscheinungen verglichen, beurteilten und von Zufällen befreiten. Die Entdeckung und Entwicklung dieser Kriterien oblag allein dem forschenden Subjekt. Um die Objektivität der Versuchsergebnisse ikonisch zu demonstrieren, wurden auf den wissenschaftlichen Bildern der Aufklärung typische, charakteristische oder durchschnittliche Merkmale eines Phänomens zeichnerisch hervorgehoben. Die im Erkenntnisprozess gefragte analytische Tätigkeit brachte primär die Vermögen von Vernunft und Verstand zum Einsatz, die das Wesentliche des im Bild festzuhaltenden Phänomens definierten und dieser Darstellungsweise eine starke subjektive Prägung verliehen. Aus diesem Grund zeigt das wissenschaftliche Bild der Aufklärung nicht ausschließlich Naturphänomene, sondern in besonderem Maße auch den individuellen Wissensstand des Forschers. Damit fungiert es nicht nur als Medium der Fremd-, sondern zugleich der Selbstreflexion des Zeigenden.35 Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts begann sich eine neue Form der Abstraktion zu entwickeln, die spätestens im frühen 20. Jahrhundert maßstabsetzend für die spätere expressionistische, fern jeglicher Gegenständlichkeit ausgerichtete Bildgestaltung wurde: die sinnliche Abstraktion. Impulsgebend auf ihre Etablierung wirkten die Entdeckung und der experimentelle Nachweis des aktiven Auges durch die Vertreter der frühen Sinnesphysiologie. Die primäre Erkenntnisinstanz verschob sich nun von der Verstandeslogik zur Sinnesleistung des Organs, die das zu erkennende Objekt erst hervorbrachte. Wie an Purkinjes und Müllers Studien beschrieben, formte das Auge die abstrakten Bilder – bewusst und unbewusst – auch unabhängig von der objektiven Außenwelt. Haben in der philosophischen Abstraktion, die den Bildbegriff der Aufklärung prägte, die 34 Vgl. Lacan, Vom Blick als Objekt klein a, a. a. O., S. 121. 35 Vgl. Daston / Galison, Objektivität, a. a. O., S. 71, 64 und S. 58. Mit der subjektiven Einschreibung des Forschers in die Bilddarstellung unterscheidet sich das wissenschaftliche Bild der Aufklärung von der im 19. Jh. einsetzenden mechanischen Objektivität, die z. B. in Form von Naturselbstdrucken und Photographien den subjektiven Anteil aus der Darstellungsebene auszuschließen versucht.

5.1  Wissenschaftliche Zeichnung und Schrift – Intermediale Verhältnisse

Tätigkeiten des Reduzierens und Aussonderns einen negativen Charakter, manifestiert sich die sinnliche Abstraktion hingegen in der produktiven Form- und Gestaltgebung der Realität durch den Gesichtssinn.36 Die bereits im Auge abstrahierten Bilder mussten lediglich als mimetische Abbildungen in wissenschaftliche Zeichnungen umgesetzt werden, wovon Purkinjes Studien ein anschauliches Beispiel geben. Wo aber sind ­Goethes Zeichnungen zur Farbenlehre wissenschaftshistorisch einzuordnen? ­Goethes Bildgestaltung bleibt nicht nur der Bildgebung der Aufklärung verhaftet, sondern verstärkt ihre reduktionistische Darstellungsart bei vielen publizierten Zeichnungen noch. Verortet G ­ oethe auf phänomenaler Ebene die Abstraktion bereits im Gegenständlichen, tritt besonders in diesen Zeichnungen zwischen diese Abstraktion und ihre Fixierung im wissenschaftlichen Bild die rational-steuernde Aktivität des Menschen, die bewusst die ikonische Gestaltung prägt. Hinter dieser Herangehensweise verbergen sich – wie im nächsten Kapitel gezeigt wird – primär ­Goethes didaktische Ziele, die sich unlösbar mit seinen gegen Newtons Experimentalpraxis und Theorie des Lichts gerichteten polemischen Absichten verbinden. Die Art dieser zeichnerischen Darstellungen steht exemplarisch dafür, dass jede wissenschaft­ liche Didaktik nicht frei von indoktrinierenden Absichten ist. Eine solche lenkt den Blick des Schülers – wie Ludwik Fleck feststellte – auf ein allenfalls zu bestätigendes Ergebnis, ist jedoch weniger daran interessiert, sein kritisches Denken zu fördern: „Jede didaktische Einführung ist also wörtlich eine Hinein-Führung, ein sanfter Zwang.“ 37 Besonders diese didaktischen und polemischen Ziele führen dazu, dass die Art der Bildgestaltung diese wissenschaftlichen Zeichnungen zu mehr als einem reinen Speichermedium des Wissens macht: Sie entwerfen neue Wirklichkeiten. Befürchtet ­Goethe zwar eine Verwechslungsgefahr zwischen ihnen und den natürlichen Phänomenen, ist es gerade der Abstraktionscharakter der Zeichnungen, der diese Gefahr von vornherein ausschließt. Sie zeigen eine poietische Leistung, die ihnen einen eigenständigen phänomenalen Status verleiht, weshalb für diese Zeichnungen ­Goethes generell für die Malerei getroffene Aussage in besonderem Maße gilt: „Und so erbauen wir aus diesen dreien [Hell, Dunkel und Farbe – S. Sch.] die sichtbare Welt und machen dadurch zugleich die Malerei möglich, welche auf der Tafel eine weit vollkommner sichtbare Welt, als die wirkliche sein kann, hervorzubringen vermag.“ 38

36 Vgl. Müller-Tamm, Jutta, Die „Parforce-Souveränität des Autoriellen“. Zur Diskursgeschichte des ästhetischen Abstraktionsbegriffs, in: Blümle, Claudia / Schäfer, Armin (Hg.), Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Zürich / Berlin 2007, S. 79 – 92, besonders S. 83 – 87. In ihrem Aufsatz weist die Autorin nach, dass es in der Frühphase der Moderne zahlreiche Berührungspunkte zwischen metaphysisch-logischer und ästhetischer Abstraktion gab, die sich auf unterschiedliche Weise im 19. Jahrhundert explizierten: von interdisziplinären Interferenzen bis hin zu Konkurrenzverhältnissen auf den Gebieten der Physiologie, Philosophie und Ästhetik. 37 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, a. a. O., S. 137. 38 LA I.4, S. 18 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Einleitung).

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5.  Kolorierte Augenblicke – Die Zeichnungen zu ­Goethes Farbstudien

Dieses Zitat exponiert zwei Merkmale der Bildgestaltung in G ­ oethes Farbstudien: Erstens beruht der epistemologische Wert des wissenschaftlichen Bildes bei ihm besonders auf der Macht, etwas noch Unbekanntes zu zeigen,39 etwas Unsichtbares zu visualisieren, um den Betrachterblick für seine Farbentheorie zu öffnen. Zu diesem Zweck bedient sich G ­ oethe zweitens – anders als in den zeitgenössischen Physik­kompendien üblich, in denen die Farbe nicht in ihrem Eigenwert, sondern nur als Beweismittel für die Gesetze des Lichts beachtet wurde – kolorierter Darstellungen, so dass sein Forschungsobjekt selbst zu einem bildstrategischen Mittel wird. Die Bildmedien, die G ­ oethe als Zeugen seines wissenschaftlichen Standpunkts einsetzt, generieren jedoch nicht nur – so ist nachfolgend darzulegen – die von ihm intendierten neuen Erkenntniswelten für den Betrachter, sondern entfalten oft eine eigene Logik.40 Diese von ­Goethe nicht beabsichtigte Eigendynamik läuft teilweise seinen methodisch-didaktischen Absichten zuwider, die Bilder als Veranschau­lichungsmittel des im Text Dargelegten einzusetzen: seien es die Karten des optischen Kartenspiels des ersten Stücks der Beiträge zur Optik, bei denen der Text schnell zum bloßen Deskriptionsinstrument ihrer Anwendung wird, seien es die zumeist abstrakt dargestellten Motive der Tafeln zur Farbenlehre, die durch ihren Reduktionismus irritieren statt das schriftlich Dargelegte zu veranschaulichen oder die stark verdichtete, stets unveränderte Matrix des Farbenkreises, der ­Goethe je nach Forschungskontext unterschiedliche Signifikate zuordnet.

5.2 Die Meisterschaft der Abstraktion – Bilder des Experiments Die Zeichnungen zu G ­ oethes Farbstudien lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien ordnen.41 Ihrem Verbreitungsmodus entsprechend können sie in zwei Gruppen eingeteilt werden: in publizierte, für alle Interessenten zugängliche, und in privat bzw. halböffentlich genutzte Bilder. Die Zeichnungen der zweiten Gruppe lassen sich nach ihrem Entstehungskontext wiederum in solche differenzieren, die ­Goethe zum Eigengebrauch entwarf, und in andere, die er zu Demonstrationszwecken für Gesprächs- und Briefpartner fertigte. Die für den Eigengebrauch fixierten Darstel-

39 Zu dieser produktiven Funktion des Bildes vgl. Boehm, Gottfried, Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: Maar, Christa / Burda, Hubert (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 28 – 43, hier S. 32. 40 Vgl. zu diesem Potential des Bildes ebd., S. 28. 41 Für kritische Hinweise zu diesem Kapitel danke ich Friedrich Steinle. Die nachfolgende Analyse der Zeichnungen zur Farbenlehre erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da in ihr nur die Grundzüge der experimentellen Nutzung und des medialen Wirkens der Bildmotive ausgearbeitet werden. Eine systematische und umfassende Studie zur wissenshistorischen und materiellen Genese dieser Zeichnungen steht noch immer aus.

5.2  Die Meisterschaft der Abstraktion – Bilder des Experiments

lungen hielt G ­ oethe zumeist in Notizbüchern fest, weshalb Rupprecht Matthaei sie als Notizzeichnungen betitelt, die zu Demonstrationszwecken genutzten bezeichnet er als Diskussionszeichnungen.42 Beide Gruppen lassen sich ebenfalls den verschiedenen Funktionen des Experiments als epistemologisches und als didaktisches Mittel, das der Demonstration bzw. Verbreitung von ­Goethes bereits getätigten Erfahrungen dient, zuordnen. Die Notizzeichnungen entstanden oft im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess einer Beobachtung oder eines Versuchs. Ihre Motive fungierten als Zeugen realer Naturimpressionen oder Experimentalaufbauten und als fixierte Erinnerungen, besaßen in einigen Fällen aber auch ein „virtuelles“ Potential, indem sie in Gedankenexperimenten vorweggenommene Versuchskonstellationen aufzeigten. Zahlreiche dieser Zeichnungen entwarf ­Goethe auf Reisen. Obwohl dem überwiegenden Teil beider Zeichnungsarten ein situativer Charakter eigen ist, kennzeichnet die Notizzeichnungen eine stärkere Skizzenhaftigkeit. Sie schlägt sich in einer eilig gefertigten, oft diskontinuierlichen Linienführung nieder, die an die Gestaltungsweise vieler Landschaftszeichnungen G ­ oethes erinnert. Auf die Entstehung der Notizzeichnungen im gedanklichen Reflexionsprozess verweisen auch schriftliche Überlegungen neben, über und unter den Bildern. Manche Zeichnungen wurden in kürzeren oder längeren schriftlichen Ausführungen erläutert, zahlreiche andere hingegen einem Text erst nachträglich beigefügt. Bild und Text sind hier in einem engen Verweischarakter aneinander gekoppelt, da viele Notizzeichnungen ohne die dazugehörigen Erklärungen unverständlich bleiben würden (vgl. exemplarisch Abb. 20). Die Diskussionszeichnungen fungierten als didaktisches Darstellungsmittel bereits gewonnener Versuchserkenntnisse oder dienten zur Erläuterung von Experimentalaufbauten. Manche dieser Zeichnungen gestaltete ­Goethe sehr anschaulich, andere wiederum abstrakt, z. B. wenn sie verallgemeinerte Versuchsergebnisse zeigten. Diese Gestaltungsweisen resultieren aus dem Entstehungszweck der Bilder, dem Kommunikationspartner Themen visuell zu demonstrieren (vgl. exemplarisch Abb. 21). Die diesen Zeichnungen beigefügten Texte sind zumeist schriftliche Erklärungen der Bildmotive, so dass sie eine supplementäre erkenntnistheoretische Funktion besitzen. Einige ­Skizzen beider Zeichnungsarten verwendete ­Goethe später als Reproduktionsvorlage für zu veröffentlichende kolorierte Bilder. Die publizierten Bildmotive wiederum besitzen zwei Funktionen: Sie veranschaulichen die bereits gewonnenen Versuchsergebnisse G ­ oethes oder dienen als realer Teil eines nachzuvollziehenden Experiments durch den Leser. Beide Funktionen erhalten die Bilder immer dann, wenn G ­ oethe den Versuch nicht als alleiniges, explorativ

42 Zur genannten Zweiteilung der Zeichnungen entsprechend ihres Entstehungskontextes vgl. Corpus der ­Goethezeichnungen, Bd. VA, a. a. O., S. 15.

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5.  Kolorierte Augenblicke – Die Zeichnungen zu ­Goethes Farbstudien

genutztes Medium zur Wissensgewinnung einsetzt, sondern als didaktisches Repräsentations- und Darstellungsmittel seiner Theorie nutzt, um die Bildmotive für ein sinn­ liches Nacherleben der Experimente und ihrer Ergebnisse durch andere bereitzustellen. Zahlreiche der publizierten Bildmotive abstrahiert ­Goethe stärker als die (halb-) privaten, unveröffentlichten Zeichnungen – eine bildstrategische Funktion, welche die Leserlenkung im Sinne seiner Farbentheorie fördern soll. Die zwischen der Gestaltungsweise dieser Bilder und ihrer didaktischen Funktion entstehenden Interdependenzen werden im Folgenden an ausgewählten Beispielen näher erläutert. Bereits in der frühesten Publikation seiner Farbstudien, dem 1791 erschienenen ersten Stück der Beiträge zur Optik setzt G ­ oethe auf den experimentellen Mitvollzug seiner schriftlichen Darlegungen durch die Leser. Er fügt dem Text, der subjektive physikalische Versuche vorstellt, ein 27-teiliges optisches Kartenspiel bei, dessen Einzelmotive auf Spielkarten erscheinen. Für die Notwendigkeit der Bilder und ihres Formats liefert ­Goethe eine dreifache Begründung: eine didaktische, eine epistemologische und eine publikationsstrategische. Jeder Leser sollte die Versuche nicht nur nachvollziehen können, sondern auch die Möglichkeit erhalten, diese erweiternd zu variieren, um das Urphänomen der Farbentstehung zu erkennen. Das besondere Bildformat wählte ­Goethe, um dem Leser ein problemloses und spielerisches Mitexperimentieren zu ermöglichen, was die um 1800 in naturwissenschaftlichen Schriften üblichen Kupfer­ tafeln nicht gewährleistet hätten: „Da hierbei alles auf den Augenschein ankommt, so war es nötig zu sorgen, daß jedermann mit der größten Leichtigkeit dazu gelangen könne; es wollte weder eine Beschreibung noch ausgemalte Kupfertafeln, die der Schrift angefügt würden, zu diesem Zwecke hinreichen.“ 43 Die Wahl des Formats wurde durch die Nähe einer Spielkartenfabrik bestärkt, die G ­ oethes ehemaliger Diener Christoph Erhard Sutor leitete. Das Kartenformat bedingte eine Politik niedriger Preise, die eine breite Rezeption der Publikation befördern sollte.44 ­Goethe versäumt es in diesem Kontext nicht, einmal mehr auf die erkenntnistheo­ retische Hierarchie zwischen realen Phänomenen und ihren Bilddarstellungen hinzuweisen – eine Hierarchie, die er seinem gegenständlichen Denken entsprechend wirkungsästhetisch begründet: „Ich muß aber freilich hier zum voraus bemerken, daß man die Farben dieser Tafeln nicht mit den absoluten Farben der prismatischen Erscheinungen in Absicht ihrer Schönheit vergleichen möge; denn es sind dieselben nur wie jeder andere Holzschnitt bei einem wissenschaftlichen

43 LA I.3, § 74, S. 32 – 33 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück). 44 „Nur die unmittelbare Nähe einer Kartenfabrik macht es möglich, diese Tafeln, so wie sie sind, um einen Preis zu liefern, der niemand abschrecken wird, und es war hier nicht die Frage, ein Werk für Bibliotheken auszuarbeiten, sondern einer kleinen Schrift die möglichste Verbreitung zu verschaffen.“ Ebd., § 80, S. 35.

5.2  Die Meisterschaft der Abstraktion – Bilder des Experiments

Buche anzusehen, der weder künstlich noch gefällig, sondern bloß mechanisch und nützlich ist.“ 45

Das Spiel enthält fünfzehn unbunte und zwölf bunte Karten. Die fünfzehn unbunten Karten wurden mit Holzstöcken gedruckt, die schablonierten Auslassungen der zwölf farbigen Karten wurden nach dem Druck handkoloriert,46 so dass jede Karte ein Unikat ist. Da es ­Goethe ausschließlich auf die Herausstellung der „einfachsten prismatischen Versuche“ 47 und ihrer grundlegenden Konstellation, der die Refraktionsfarben erzeugenden Hell-Dunkel-Grenze, ankommt, zeigen die Karten hauptsächlich Schwarz-Weiß-Motive. Erscheinen diese Figuren auf den ersten Blick abstrakt, sind sie es – bedingt durch die Einfachheit der ihnen zugrunde liegenden realen Versuchsaufbauten – nicht in besonderem Maße. Einen stärkeren Abstraktionsgrad als die empirischen Phänomene besitzen lediglich, wie unten ausgeführt wird, diejenigen Karten, auf denen die zu erwartenden farbigen Versuchsergebnisse dargestellt werden. Die meisten Karten dienen als praktische Vorlagen für subjektive Prismenexperimente 48 und unterliegen in dieser Funktion einer medialen Multiplikationsstrategie, die zwischen verschiedenen Darstellungsordnungen vermittelt, die eigene Wirklichkeiten ausmachen. Die in ­Goethes realen Experimenten erzeugte Darstellung erster Ordnung (Hell-Dunkel-Grenze und brechendes Mittel) wird auf den Karten von ihm in eine bereinigte bildliche Darstellung zweiter Ordnung überführt, die wiederum Teil einer Darstellung erster Ordnung wird, indem die Leser mit den SchwarzWeiß-Figuren der Karten und einem Prisma experimentieren, um eigene Versuchsergebnisse zu generieren.49 Kündigt G ­ oethe die Kartenmotive in seinem Werk zwar als praktisch zu nutzende Veranschaulichung des Textes an,50 verkehrt sich in dessen Verlauf diese Priorität schnell in ihr Gegenteil, und der Text wird nach einer Beschreibung farbiger Naturimpressionen und der Farbverwendung in Gemälden zum reinen Deskriptionsinstrument der Spielkartennutzung. Er legt primär ihren experimentellen Einsatz und die nachzustellenden Versuchsanordnungen dar, hofft G ­ oethe doch „sowohl einen jeden [Leser – S. Sch.] sogleich durch das Anschauen zu überzeugen als auch ein lebhafteres Interesse zu erregen“.51 Für die Experimente ist die Benutzung eines Prismas unabdingbar, für 45 46 47 48

Ebd., § 79, S. 35. Vgl. Corpus der ­Goethezeichnungen, Bd. VA, a. a. O., S.  21 – 23. LA I.3, § 21, S. 13 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück). Fünf Motive des gesamten Kartenspiels entwarf ­Goethe für Linsenexperimente, deren Beschreibung er für einen folgenden Text ankündigte. Diesen blieb er jedoch schuldig. Vgl. ebd., § 86, S. 36 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück). 49 Zur Bewegung zwischen diesen Darstellungsordnungen vgl. Rheinberger, Experiment – Differenz – Schrift, a. a. O., S. 29, Fußnote 32. 50 Vgl. LA I.3, § 15, S. 10 – 11 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück). 51 Ebd., § 74, S. 33.

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5.  Kolorierte Augenblicke – Die Zeichnungen zu ­Goethes Farbstudien

dessen Herstellung und Einsatz ­Goethe genaueste Anweisungen erteilt. Am Ende des Textes beschreibt er – nummerisch geordnet – noch einmal die Motive der Spielkarten, damit der Leser eine mögliche Fehlnummerierung jederzeit selbst korrigieren kann.52 Bereits diese ersten publizierten Bildmotive nutzt ­Goethe nicht nur als experimentelle Darstellungsmittel seiner Theorie, sondern auch als latente polemische Instrumente. Er setzt auf der ikonischen Ebene sein Versuchsarrangement und die dadurch entstehende Farbenordnung gleichberechtigt neben die newtonische Experimentalkonstellation und das in ihr erzielte Ergebnis: Soll der Leser mit dem Motiv der ersten Karte G ­ oethes Aperçu nachvollziehen, in dem dieser die Farben beim Blick durchs Prisma lediglich an den Unebenheiten einer weißen Wand wahrnahm, nicht aber, wie Newtons Theorie es ihm nahezulegen schien, über die gesamte Fläche verteilt, vereinfacht ­Goethe die im Bild gezeigten Versuchsbedingungen mit fortschreitender Nummerierung (vgl. Abb. 22 und 23), um die Experimente auf ihre elementare Konstellation zurückzuführen. An die zweite, die Hell-Dunkel-Flächen stärker abstrahierende Karte reiht ­Goethe ein Motiv mit weißem Streifen auf schwarzem Grund und eines in umgekehrter Ordnung (vgl. Abb. 24 und 27). Das erstgenannte Bild zeigt eine Teildarstellung der von Newton erkenntnistheoretisch aufgewerteten Camera obscura. Beim Blick durchs Prisma auf die Anordnung dieser Schwarz-Weiß-Grenzen erscheint das newtonische Farbenspektrum, an dem sich bei bestimmter Parameteranordnung die Farben Orange, Grün und Violett besonders hervorheben. Blickt der Betrachter hingegen auf den schwarzen Streifen auf weißem Grund, der nur eine Unebenheit der weißen Wand aus ­Goethes frühem Prismenversuch vereinfacht zeigt, erscheint das sogenannte inverse bzw. ­Goethe-Spektrum mit den prägnanten Farben Blau, Purpur und Gelb. Nach Karte 7, die mit einer einzigen Schwarz-Weiß-Grenze die einfachste Versuchsanordnung darstellt (vgl. Abb. 30), greift ­Goethe wieder zu komplexeren Motiven. Abstrahiert er mit dem Streifenmotiv Newtons und seine grundlegende Versuchskonstellation auf zwei verschiedenen Karten, setzt er beide Experimente auf Karte 23 in einem einzigen Motiv nebeneinander (vgl. Abb. 33). Neben einem weißen Punkt auf schwarzem Grund, der das Lichteinfallsloch der von Newton häufig eingesetzten Camera obscura schematisiert, findet sich das gleiche Motiv in umgekehrter Schwarz-Weiß-Ordnung. Mit dieser Darstellung demonstriert ­Goethe im Medium des Bildes die Gleichwertigkeit seiner grundlegenden Experimentalanordnung gegenüber derjenigen Newtons. Die Gleichwertigkeit der in den Kartenversuchen erzielten Ergebnisse legitimiert ­Goethe über die Generierung der Farbe Purpur. Diese Farbe, deren Erzeugung Newton in seinen Versuchen unbeachtet ließ, betrachtet G ­ oethe als Beweis für die Komplementarität seines und des Newton-Spektrums. Bei bestimmter Parameteranordnung von bildlich dargestellter Camera obscura und einem Prisma zeigt sich in der Mitte

52 In der Reihenfolge der indirekten Zitate vgl. ebd., § 77, S. 34 sowie G ­ oethe, Johann Wolfgang von, Beyträge zur Optik. Erstes Stück mit XXVII Tafeln, Weimar 1791, S. 57 – 62.

5.2  Die Meisterschaft der Abstraktion – Bilder des Experiments

des Newton-Spektrums das Grün. Bei gleichem Parameterarrangement mit der Karte, die den schwarzen Streifen auf weißem Grund verbildlicht, entsteht in der Mitte des ­Goethe-Spektrums die Farbe Purpur.53 Purpur und Grün ordnet G ­ oethe, wie im nächsten Kapitel ausführlich erläutert wird, im Farbenkreis diametral zueinander. In seinem Bemühen um das bildliche Aufzeigen der Gleichwertigkeit von Newtons und seiner grundlegenden Experimentalanordnung und der mit ihnen erzielten Versuchsergebnisse deutet sich die später vehement verfochtene Polemik gegen den englischen Physiker bereits an. Der Text des ersten Stücks der Beiträge zur Optik erläutert nicht nur die korrekte Anwendung von Prisma und Bildmotiven, sondern nimmt auch das zu erwartende Ergebnis vorweg, dessen Überprüfung ­Goethe ebenfalls der Wahrnehmung des Lesers anheim gibt. Auf einigen Spielkarten, unter denen sich auch die oben beschriebenen polemisch-zweckgerichteten Motive befinden, fixiert er das farbige Ergebnis (vgl. exemplarisch Abb. 25 und 28). Er zeigt es auch bei variiertem Einsatz der Vorlage (vgl. Abb. 26 und 29) und unterschiedlichen Entfernungen des Betrachters von der Karte (vgl. Abb. 34 bei kurzem Abstand zwischen beiden und Abb. 35 bei größerem Abstand). Diese Karten konzipiert G ­ oethe primär als Versuchsersatz für Leser ohne Prismen, deren imaginative Kraft besonders gefragt ist. Für diejenigen hingegen, die über die Instrumente verfügen, sollen die Karten als Prüfinstanz über die „Richtigkeit“ der Versuchsergebnisse in ­Goethes Farbentheorie fungieren. In didaktischer Absicht lenkt er die experimentellen Bemühungen des Lesers auf das bereits im Bild vorgefertigte Ergebnis, das der im Text postulierten potentiell unendlichen Variabilität von Versuchsparametern widerspricht: „Da sich aber doch der Fall oft ereignen kann, daß diese kleine Schrift mit den dazu gehörigen Tafeln an Orte gelangt, wo keine Prismen vorhanden sind, so habe ich farbige Tafeln hinzugefügt, um dem Beobachter wenigstens auf einige Weise zu Hilfe zu kommen und ihm, bis er sich nach einem Prisma umgesehen, einstweilen verständlich zu sein. Auch demjenigen der das nötige Instrument besitzt, werden diese gemalten Karten nicht unnütz sein. Er kann seine Beobachtungen damit vergleichen und überzeugt sich eher von dem Gesetz einer Erscheinung, welche er vor sich auf dem Papier schon fixiert sieht.“ 54

Gezielt setzt G ­ oethe auf die Abstraktion der farbigen Motive, die er auf den Ergebniskarten für Leser ohne Prismen so eindrucksvoll wie möglich darstellen lässt. Das Mittel der Abstraktion nutzt er hier zur Gewinnung neuer Anhänger seiner Theorie. Zahlreiche der Kartenmotive hatte G ­ oethe bereits vor der Publikation des ersten Stücks der Beiträge zur Optik auf einem achteckigen drehbaren Schirm zusammengestellt,

53 Vgl. LA I.3, § 59, S. 24 – 25 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück). Vgl. Steinle, „Das Nächste ans Nächste reihen“, a. a. O., S.  151 – 152. 54 LA I.3, § 78, S. 35 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück).

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der an einem Holzgestell angebracht wurde. Bereits zu dieser Zeit existierte mindestens noch ein Schirm für Refraktionsexperimente.55 Während der Entstehungszeit der Farbenlehre ließ ­Goethe noch weitere Schirme fertigen, die er ebenfalls als Darstellungsmittel seiner Lehre benutzte (vgl. exemplarisch Abb. 36). Die noch erhaltenen drei großen und drei kleinen Schirme dienten hauptsächlich dem Experimentieren im (halb-)öffentlichen Kreis, zum Beispiel in seinen naturwissenschaftlichen Mittwoch-Vorträgen,56 die er im Zirkel um die Weimarer Herzogin Luise hielt, oder bei Darlegungen vor der Weimarer Freitagsgesellschaft, die sich künstlerischen und naturwissenschaftlichen Fragestellungen widmete.57 Mehrere der kleinen Schirme sendete er im Mai 1792 als wissenschaftliches Versuchsmaterial an den Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg nach Göttingen.58 Auf diese Weise versuchte G ­ oethe, primär über das Medium des Bildes ein Forschungskollektiv zu generieren. Auch das 1792 herausgegebene zweite Stück der Beiträge zur Optik richtet sich auf den experimentellen Mitvollzug des Beschriebenen und stellt subjektive Prismenexperimente vor. Ausgehend von der Erfahrung, dass viele Leser des ersten Stücks keine Prismen besaßen, beschreibt G ­ oethe hier den Bau eines großen Wasserprismas für den Eigenbedarf des Rezipienten und bildet dieses in einem unkolorierten Motiv ab, das aus einer ursprünglichen Kupfertafel in eine Zinkätzung übertragen wurde, die er in den Text fügte. Er ließ ebenso eine große Tafel mit jeweils einem abstrakten farbigen Bildmotiv auf der Vorder- und auf der Rückseite als Experimentalvorlage für die im Text beschriebenen prismatischen Versuche fertigen, die wahrscheinlich nur in einer oder wenigen Ausfertigungen existierte.59 55 Zur zeitlichen Einordnung der Erstellung des Schirms mit den Kartenmotiven vor Entstehung dieser Schrift vgl. ebd., § 74, S. 33. Da ­Goethe von „großen Tafeln“ schreibt, ist davon auszugehen, dass es zu dieser Zeit mindestens noch einen Schirm gegeben haben muss, vermutlich denjenigen mit dem später in Tafel III zur Farbenlehre gezeigten Motiv. Zwei Variationen dieses Motivs befinden sich auf der Vorder- und Rückseite der dem zweiten Stück der Beiträge zur Optik beigefügten Experimentaltafel. Nähere Angaben, wann welcher Schirm gefertigt wurde, hinterließ G ­ oethe nicht. 56 Vgl. LA I.3, S. 418 – 432 (Vorträge). Zur Bedeutung und den Praktiken der visuellen Bildung im öffentlichen und halböffentlichen Bereich im 18. Jahrhundert vgl. ausführlich Stafford, Barbara, Kunstvolle Wissenschaft. Aufklärung, Unterhaltung und der Niedergang der visuellen Kultur, Amsterdam / Dresden 1998. An zahlreichen Beispielen belegt die Autorin, dass das abstrakte Denken in jener Zeit durch visuelle Muster geschult und das Lernen schwieriger theoretischer Stoffe häufig durch optische Techniken erleichtert wurde. 57 Vgl. Marthaus, Margarete, Freitagsgesellschaft, in: G ­ oethe-Handbuch in vier Bänden, Bd. 4/1: Personen – Sachen – Begriffe A – K, hg. v. Hans-Dietrich Dahnke / Regine Otto, Stuttgart / Weimar 1998, S.  323 – 325. 58 Vgl. ­Goethe an Georg Christoph Lichtenberg am 11. Mai 1792, in: Lichtenberg, Briefwechsel, hg. v. Ulrich Joost /Albrecht Schöne, Bd. III, a. a. O., S. 1111. Es kann nicht mehr rekonstruiert werden, wieviele und vor allem welche der Schirme ­Goethe an Lichtenberg geschickt hat. 59 Vgl. LA II.3, S. 190 – 195, besonders S. 191. Leider ist in ­Goethes Aufzeichnungen weder die Auflagenhöhe des Textbandes noch die der Tafeln zu finden.

5.2  Die Meisterschaft der Abstraktion – Bilder des Experiments

Eine stärkere Abstraktion der Bildmotive als beim optischen Kartenspiel ist auf den meisten der Tafeln zu finden, die ­Goethe 1810 mit dem Hauptwerk Zur Farbenlehre publizieren ließ. Anteilig mehr Motive als beim optischen Kartenspiel zeigen hier komplette Versuchsverläufe und -resultate. Diese abstraktere wie kompakte Darstellungsweise hat zwei Gründe: Zum einen verbildlichen die Motive der Tafeln komplexere Phänomene als auf dem optischen Kartenspiel. Sie sind hauptsächlich in der Darstellung der umfassenderen objektiven Refraktionsexperimente zu finden, die ­Goethe nun neben den subjektiven Brechungsversuchen verbildlicht. Zum anderen setzt G ­ oethe nach der zwischenzeitlichen Ausarbeitung seiner Newton-Polemik auf die Reduktion der Bilddarstellungen, um seine eigene Theorie für den Rezipienten einfacher und anschaulicher zu gestalten und ihr auf diese Weise mehr Beweiskraft zu verleihen. Im Hauptwerk Zur Farbenlehre ändert sich die Hierarchie zwischen Bild und Text. Diese Verschiebung deutet sich bereits in den 1793 gefertigten Vorarbeiten Über die Einteilung der Farben und ihr Verhältnis gegen einander und Versuch die Elemente der Farbenlehre zu entdecken an. Kritisierte ­Goethe bereits im ersten Stück der Beiträge zur Optik Newtons komplizierte Versuchsaufbauten sowie die Komplexität seiner Theorie der Farbentstehung,60 und stellte er in der experimentellen Nutzung der Bildmotive seine grundlegende Versuchskonstellation und das mit ihr erzielte Ergebnis gleichberechtigt neben Newtons Experiment und dessen Resultat, bezieht er am Ende der Elemente erstmals explizit eine klare polemische Position gegen dessen Theorie, die Mischung aller Farben ergebe Weiß. Seine eigene in zahlreichen Versuchen ent­wickelte Theorie, die Mischung aller Farben sei Grau, inszeniert G ­ oethe hier oppositiv auf diskursiver Ebene. Seiner polemischen Intention zum Trotz erbittet er vom Leser einzig „eine parteilose Aufmerksamkeit für die Methode und den Gang“ 61 seines anschaulich dargelegten Vortrags. In den Elementen untersucht er ebenso wie in der vermutlich zuvor entstandenen Schrift Über die Einteilung der Farben hauptsächlich die Pigmentfarben und ihre Mischungen. In beiden Werken veranschaulicht er die Gesetze der chemischen Farbmischungen, die hier identisch mit den Anwendungsregeln für Künstlerfarben sind, in einem linearen Schema (vgl. Abb. 6), das als Zusammenfassung des Textes dienen soll und bereits die Einteilung des späteren sechsstufigen Farbenkreises zeigt. Vermutlich wirkt die Newton-Polemik der Elemente ursächlich darauf, dass ­Goethe ihrem Text noch zusätzlich einen kolorierten, mehr als sechs Farben enthaltenen Kreis beifügt, um seiner Theorie Nachdruck zu verleihen.62 Richtet sich G ­ oethe in den ersten beiden Vorarbeiten zur Farbenlehre primär an den experimentierenden bzw. bildrezipierenden Leser, dem er die ikonischen Motive

60 Vgl. LA I.3, §§ 10 – 13, S. 9 – 10 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück). 61 LA I.3, § 1, S. 190 (Versuch die Elemente der Farbenlehre zu entdecken). 62 Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 5.3 dieser Arbeit.

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und deren Einsatz schriftlich erklärt, ist es in den eben genannten Schriften und im Hauptwerk Zur Farbenlehre hauptsächlich das lesende bzw. textlich inspirierte Auge, das er immer wieder zur Überprüfung des Beschriebenen in Experiment und Bild auffordert. Durch das im didaktischen Teil erworbene Wissen möchte ­Goethe den Leser befähigen, den polemischen, gegen Newton gerichteten Teil im Licht seiner Theorie zu interpretieren.63 Je einfacher und anschaulicher ­Goethe diese darlegt, um so leichter soll die Urteilsbildung für den Leser werden. Der verständliche Beschreibungsmodus des didaktischen Textes – besonders in der Abteilung Physische Farben – reflektiert nicht nur die von G ­ oethe angestrebte Einfachheit der Versuchsaufbauten, er wird auch von ihm bewusst gegen die Kompliziertheit der newtonischen Experimentalmethode gesetzt, die er im polemischen Teil ausführlich kritisiert.64 Mit seinen verständlichen, ja oft poetischen Deskriptionen trägt der didaktische Teil einen noch stärkeren Verbildlichungscharakter als die Vorarbeiten, so dass im intermedialen Verhältnis von Schrift und Bild eine gegenläufige Bewegung stattfindet. Während der Text aufgrund seiner Bildhaftigkeit neben der rationalen Instanz besonders den gedanklichen Nachvollzug und damit die Vorstellungskraft des Lesers fordert, sind für die Erfassung der abstrakt-linearen Bilder der physikalischen Versuche primär der Verstand und das Vorwissen des Betrachters gefragt. Diese Umkehrung widerspricht ­Goethes eigentlichen Intentionen, die Bildmotive als wichtige Überzeugungsmittel für seine physikalische Theorie zu nutzen, da Bilder die Sinnestätigkeit und Vorstellungskraft des Betrachters in höherem Maße fordern als das im diskontinuierlichen Zeichensystem der Schrift Dargelegte.65 Von dieser sinnlichen Überzeugungskraft geht ­Goethe besonders bei kolorierten Bildern aus, die den Eigenwert der Farbe im Medium ihrer bildlichen Darstellung verdoppeln: „Man hat ferner die meisten Tafeln illuminiert, weil bisher ein gar zu auffallender Schaden daraus entsprang, daß man eine Erscheinung wie die Farbe, die am nächsten durch sich selbst gegeben werden konnte, durch bloße Linien und Buchstaben bezeichnet.“ 66 Wegen der verständlichen Beschreibungen sind in zahlreichen Erklärungskontexten veranschaulichende Bildmedien nicht erforderlich. Dennoch existieren sie. Seiner in zwei Oktavbänden publizierten Farbenlehre ließ ­Goethe in einem Quartheft 17 Bildmotive beifügen. Im Gegensatz zum optischen Kartenspiel greift er nun auf Kupfertafeln zurück, die nach seinen eigenen Zeichnungen vom Kupferstecher Johann 63 Vgl. Helbig, Naturgemäße Ordnung, a. a. O., S. 17. 64 Vgl. hierzu besonders LA I.5, § 6, S. 2 – 3 (Farbenlehre, Polemischer Teil). 65 Zu dieser Bildfunktion vgl. Ernst Gombrich: „Das Zeichen engagiert unseren Verstand, das Bild unsere Phantasie.“ Gombrich, Ernst, Das forschende Auge. Kunstbetrachtung und Naturwahrnehmung, Frankfurt am Main / New York 1994, S. 109. Aus meiner Sicht ist besonders in der sinnlichen Überzeugungskraft, die von Naturphänomenen und Bildern gleichermaßen ausgeht, der Grund für ­Goethes mehrfach geäußerte Kritik an der Verwechslungsgefahr beider Ebenen zu suchen. 66 LA I.5, S. 195 (Farbenlehre, Polemischer Teil).

5.2  Die Meisterschaft der Abstraktion – Bilder des Experiments

Christian Ernst Müller gefertigt wurden. Die Kupferabzüge der Erstausgabe kolorierte der Baumeister Karl Friedrich Christian Steiner.67 Die Tafeln ordnet G ­ oethe nach drei Funktionen: Sie dienen erstens „als Glieder eines anzulegenden Apparats“ zum Mitexperimentieren, zweitens als Visualisierungsmittel zu didaktischen Zwecken und drittens zur Veranschaulichung der seiner Meinung nach falschen Ansicht Newtons und seiner Adepten.68 Damit benennt er – anders als in der ersten Vorarbeit – ausdrücklich die Polemik als einen der Hauptbeweggründe für die Erstellung der Tafeln. Den größten thematischen Posten nehmen die acht ausschließlich zum polemischen Teil gehörenden Tafeln ein, gefolgt von den sieben zum didaktischen Teil zählenden. Von diesen bezieht sich eine auf die physiologischen Farben, die restlichen sechs auf physikalische Experimente. Diese „physikalischen“ Tafeln nutzt G ­ oethe ebenfalls, um im polemischen Teil Newtons Farbentheorie und Experimentalmethode zu kritisieren. Eine Tafel gehört zum historischen Teil. Eine zeigt das große Wasserprisma der zweiten Vorarbeit. Damit räumt er der physikalischen Theorie nicht nur auf der Text-, sondern auch auf der Bildebene den breitesten Raum ein. Obwohl ­Goethe im Text des didaktischen Teils immer wieder auf den experimentellen Mitvollzug seiner Theorie pocht, sieht er lediglich drei der Tafeln als Experimentalvorlagen vor. Diesen Minimalismus begründet er bei den subjektiven Refraktionsversuchen, die lediglich Hell-Dunkel-Grenzen und ein refraktierendes Mittel erfordern, mit den einfachen, sogar vom Laien problemlos selbst herzustellenden Experimentalvorlagen: „Jeder Liebhaber kann sich den Apparat ohne große Umstände und Kosten anschaffen, ja, wer mit Papparbeiten einigermaßen umzugehen weiß, einen großen Teil selbst verfertigen. Wenige Tafeln, auf welchen schwarze, weiße, graue und farbige Bilder auf hellem und dunklem Grunde abwechseln, sind dazu hinreichend.“ 69 Anders als in diesen Experimenten und anders als im Text, der sich an Fachleute und Laien gleichermaßen richtet, differenziert G ­ oethe bei den objektiven Refraktionsversuchen die ikonischen Veranschaulichungsstrategien entsprechend seiner Zielgruppen. Der Grund für dieses Vorgehen liegt vermutlich in der wesentlich komplexeren, nicht für jedermann verfügbaren Konstellation dieser Versuchsart. ­Goethe rät nur dem Forscher zu einer apparativen Erzeugung der Phänomene, dem Laien aber zur Nutzung und Betrachtung der abstrakten Tafelfiguren.70 Entspricht diese Empfehlung ­Goethes später, im Kontext von Martius’ Palmendarstellungen explizit getroffener Aussage, dass wissenschaftliche Bilder besonders für das Verständnis von Laien geeignet seien, erscheint sie in Anbetracht der hohen Komplexitätsreduktion 67 Schmid, Günther, Schicksal einer ­Goetheschrift. Druckgeschichtliche Funde zur Farbenlehre, Halle 1937, S.  8 – 9. 68 Vgl. LA I.5, S. 195 (Farbenlehre, Polemischer Teil). 69 LA I.4, § 300, S. 104 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 70 Vgl. ebd., § 305, S. 106.

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der meisten Tafeln zur Farbenlehre regelrecht paradox. Deren Abstraktionsgrad läuft dem Veranschaulichungszweck der Bilder geradezu zuwider. Dieser Umstand ist auch ­Goethe nicht entgangen, denn er beschreibt die Funktion der Bildmotive in individuell erklärenden Texten, die dem Quartband das Gewicht eines eigenständigen Tafelwerks verleihen. Hatte G ­ oethe für die Tafeln ursprünglich zwecks besserer Handhabung einen Extra-Band vorgesehen,71 begründet er das Erfordernis ihrer schriftlichen Erklärungen an anderer Stelle mit der Eigenlogik der Bildmotive: „Diese Tafeln, ob sie gleich das Werk nur desultorisch begleiten und in diesem Sinne als fragmentarisch angesehen werden können, machen doch unter sich ein gewisses Ganzes, das seine eigenen Bezüge hat, welche herausgehoben zu werden verdienen. Nicht weniger ist es bequem und belehrend, für jede einzelne Tafel einen kurzen Kommentar zu finden, in welchem dasjenige, was sie leisten soll, auseinandergesetzt wird.“ 72

Mit dem Haupttext Zur Farbenlehre und den Texten der Tafelbeschreibungen greift ­Goethe zu einer um 1800 ungebräuchlichen doppelten Erklärungsebene in ein und demselben Werk. In jener Zeit waren in naturwissenschaftlichen Werken zwei unterschiedliche Text-Bild-Bezüge üblich: Kompendien wurden zur Veranschaulichung des schriftlich Dargelegten illustrierte Tafeln beigefügt, die zur Wahrung der Übersichtlichkeit entweder in den Text oder an sein Ende gesetzt wurden. Die Priorität der Wissensvermittlung hatte in diesen Büchern der Text. In eigenständigen Tafelwerken hingegen verkehrte sich diese Rangordnung. Das Primat der Information hatte das Bild, dem der erläuternde Text untergeordnet wurde.73 Sieht ­Goethe sich durch die Komplexität der Bilder zur Benutzung einer zwei­ fachen Textebene gezwungen, sorgt noch ein weiterer Umstand für Verwirrung: Die Bezüge zwischen Bild und Text divergieren im didaktischen und polemischen Teil in starkem Maße, sie erscheinen geradezu konträr. Im Haupttext des didaktischen Teils bezieht sich G ­ oethe bei der Beschreibung der physikalischen Farberzeugung zwar mehrfach auf die Tafeldarstellungen, nennt deren konkrete Nummerierung jedoch nicht. So ist beispielsweise pauschal von „unsrer Tafel“ die Rede, wenn er erläutert, dass beim Blick durchs Prisma die Nebenbilder verschiedenfarbiger realer Bilder auf unterschiedlichen Hintergründen gesetzmäßig verschieden von der Stelle verrückt erscheinen, oder von „unsre[n] naturgemäßen Tafeln“, wenn er erklärt, dass die Größen der einzelnen Farbsektoren im Spektrum je nach internem Abstand der

71 Vgl. LA I.5, S. 195 (Farbenlehre, Polemischer Teil). 72 LA I.7, S. 42 (Farbenlehre, Erklärung der Tafeln). 73 Vgl. exemplarisch für die naturwissenschaftlichen Schriften Priestley, Geschichte und gegenwärtiger Zustand der Elektricität, a. a. O. und für Tafelwerke Soemmerring, Samuel Thomas, Abbildungen des menschlichen Auges, Frankfurt am Main 1801.

5.2  Die Meisterschaft der Abstraktion – Bilder des Experiments

Versuchsparameter variieren und nicht, wie von Newton behauptet, gleichbleibend sind.74 Rekursiv verweisen auch die Bilderklärungen der physikalischen Tafeln bis auf eine polemisch verursachte Ausnahme nicht ausdrücklich auf konkrete Stellen des Haupttextes.75 Ebenso stellt ­Goethe zwischen Haupttext und Tafeldeskriptionen keine stringenten intertextuellen Bezüge her. Anders verhält es sich mit dem Haupttext des polemischen Teils. In dessen experimentellen Beschreibungen zieht G ­ oethe oft klare Referenzen zu den entsprechenden Tafeln, auch erscheinen eindeutige Verweise von den Tafeltexten auf den Haupttext.76 Hier gilt es, dem Leser stärker als im didaktischen Teil die vermeintliche Unrichtigkeit der newtonischen Theorie vor Augen zu führen, weshalb G ­ oethe auf eine stringente medial-gedoppelte Überzeugungskraft des Text-Bild-Verbundes setzt. Die Reihenfolge der Tafeln richtet G ­ oethe an der Ordnung des Haupttextes aus – beginnend mit dem didaktischen Teil, gefolgt vom polemischen. Während sich die Beschreibung des farberzeugenden Auges durch den gesamten didaktischen Teil der Farbenlehre zieht, während ­Goethes Erkenntnisse über die physiologische Farbgenerierung und die psychologischen Farbwirkungen das eigentliche Novum seiner Theorie bilden, reduziert er die diesbezüglichen zeichnerischen Darstellungen auf ein Minimum. Sie sind lediglich auf der Tafel I zu finden. Ausschlaggebend dafür ist nicht nur der polemisch aufgewertete Hauptgegenstand der Farbenlehre, die Theorie der physikalischen Farbentstehung, die zu den meisten Bilddarstellungen führt, sondern auch der Charakter des Zusätzlichen, den besonders auf dieser Tafel fast alle Figuren gegenüber den plastischen Erklärungen des Haupttextes besitzen. Auf die Motive dieser Tafel weist ­Goethe im didaktischen Teil nicht hin – mit Ausnahme des Farbenkreises, der als verbildlichte Summe seiner Farbenlehre einen abstrakteren Charakter trägt als die anderen Figuren dieser Tafel (vgl. Abb. 37, Figur 1).77 Der entsprechende Tafeltext bezieht sich sogar in stärkerem Maße als die Texte der polemischen Tafeln auf den Haupttext der Farbenlehre. ­Goethe rekurriert nicht nur auf dessen konkrete Paragraphen. Er richtet auch die Ordnung des Tafeltextes an der Gliederung des Haupttextes, nicht aber an der Reihenfolge der Tafelmotive aus. Spricht dieser starke rekursive Verweis wie bei den polemischen Tafeln für die hohe Bedeutung, die ­Goethe dem Untersuchungsgegenstand beimisst, unterstreicht die textuelle

74 In der Reihenfolge der Zitate LA I.4, § 270, S. 96 (bezieht sich auf Experimentalvorlage der Tafeln III und vergrößerte Ergebnisdarstellung der Tafel IV) sowie § 334, S. 113 – 114 (bezieht sich auf Tafeln V und VI) (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 75 Hier handelt es sich um die Tafel III. 76 Vgl. exemplarisch § 107 in: LA I.5, S. 41 – 42 (Polemischer Teil), der sich auf die Figuren der Tafel VII bezieht, und die §§ 196 – 203, in: ebd., S. 75 – 78, die auf die Darstellungen der Tafel VIII verweisen. Auch ihr Erklärungstext stellt durch die Nennung dieser Paragraphen rekursive Bezüge zum Text des polemischen Teils her. Vgl. LA I.7, S. 76 (Farbenlehre, Erklärung der Tafeln). 77 Vgl. dazu Kapitel 5.3 dieser Arbeit.

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Engführung allerdings einmal mehr, dass Tafel I bis auf die Figur des Farbenkreises durchaus entbehrlich gewesen wäre. Die Tafel I bebildert in ihrer kompakten Darstellungsart als einzige von allen Tafeln eine gesamte didaktische Abteilung. Dementsprechend vielschichtig ist ihre Genese, die sich aus dreizehn unterschiedlichen Entwürfen zusammenfügt.78 Auf der Tafel sind sowohl mimetisch-figurative Darstellungen wie die Landschaft ohne Blau (Figur 11) als auch abstrakte Bilder zu finden, die entweder auf etwas real Vorhandenes verweisen wie auf die Experimente mit den farbigen Schatten (Figuren 5 und 6) oder die verschiedene Erfahrungen zu einer schematisierten visuellen Ordnung zusammenfügen wie der Farbenkreis (Figur 1). Wie im Text der Physiologische[n] Farben thematisiert G ­ oethe das Auge auf der Tafel I nicht als anatomisch-physiologisches Organ, wertet dessen eigenständige Farbenproduktion jedoch ikonisch auf. Von den elf Figuren sind es acht, welche die Wahrnehmung chromatischer Phänomene zeigen. Bei fünf von ihnen ist das Auge aktiv an der Farbentstehung beteiligt (Figuren 3, 4, 6, 9 und 10). ­Goethes zeichnerischer Darstellungsmodus bildet die Brücke zwischen den frühen, die physiologische Farberzeugung zeigenden Bildern R. W. Darwins und den Darstellungen der späteren Sinnesphysiologen. Darwin, der die physiologisch erzeugten Farben als Ausnahmephänomene betrachtete, gab diese in seiner 1786 erschienenen Schrift New Experiments on the Ocular Spectra of Light and Colours in abstrakten, aber unkolorierten Linearzeichnungen wider, um das Wesentliche seiner Beobachtungen herauszustellen (vgl. Abb. 38). Diese Darstellungsweise erinnert an abstrahierte Illustrationen zeitgenössischer physikalischer Fachbücher, die noch in der Entstehungszeit des Werkes die primären wissenschaftlichen Verbreitungsmedien zur Erklärung der Farbentheorien waren. Ebenso wie diesen Autoren war Darwin nicht an der farbigen Gestaltung der Schemata gelegen. Er betrachtete die Farberzeugung des Auges nicht in ihrer Eigenständigkeit, sondern nur als Beleg für abweichende Funktionen des Sehorgans. Der Sinnesphysiologe Purkinje hingegen, dessen primäres Analyseobjekt die vom Auge erzeugten Phänomene waren, transferierte lediglich diese bereits organisch-sinnlich abstrahierten Motive in Form, Struktur und auch in Farbe aufs Papier, so dass sie auf diesem ungegenständlich und mimetisch zugleich wirken (vgl. exemplarisch Abb. 39). ­Goethe gibt – noch dem Darstellungsmodus der Aufklärung verhaftet – das Gesehene typisiert im Bild wieder, lässt diese Motive jedoch kolorieren. Er abstrahiert die perzipierten und vom Auge erzeugten Wahrnehmungsobjekte in farbigen Darstellungen erst auf dem Papier, um das Charakteristische dieser Phänomene hervorzuheben wie in Figur 10. Sie zeigt den farbigen Verlauf von Blendungsbildern, deren Wandel sie in „schnappschussartig“ stillgestellten Einzelmotiven zu verschiedenen Zeitpunkten veranschaulicht. Sie erscheinen wie diskontinuierliche Schnitte. 78 Vgl. Corpus der ­Goethezeichnungen, Bd. VA, a. a. O., S.  42 – 44.

5.2  Die Meisterschaft der Abstraktion – Bilder des Experiments

Auffällig ist, dass ­Goethe der epistemologischen Gewichtung der physiologischen Farben zum Trotz keine Tafelvorlage publizierte, mit der sich Nachbild- und Simul­ tanfarben erzeugen ließen, womit er die aktive Leistung des Auges selbst zum Rezeptionsobjekt erhoben hätte. Der ausschlaggebende Grund könnte die mühelose praktische Erzeugung dieser Phänomene sein, die ­Goethe leicht nachvollziehbar im Text veranschaulicht. In vorbereitenden Arbeiten zur Farbenlehre benutzte er die Bilddarstellung von Personen als Vorlage für spielerisch anmutende Nachbildversuche, die er nach Experimenten des Jesuitenpaters Karl Scherffer konzipierte. Scherffer ließ Bilder von Blumen und Heiligenfiguren in Komplementärfarben anfertigen und nahm damit das physiologisch produzierte Nachbildergebnis vorweg, das er allerdings noch den zufälligen Farben subsumierte. Im Umkehrprozess sollte nun das Auge die dem Original entsprechenden Farben erzeugen, was allerdings nicht bei allen Motiven gelang.79 Ähnliche Probleme beklagte auch G ­ oethe bei dem von ihm gewählten Fratzengesicht eines Mannes und dem Porträt eines Mädchens in umgekehrten Farben (vgl. Abb. 40 und 41). Er beschreibt das Experiment mit dem Mädchenbildnis zwar im didaktischen Teil, fügt aber unter Hinweis auf den unsicheren Versuchsausgang die Bildvorlage nicht dem Tafelwerk bei.80 Die gesamte Tafel I stellt keinen in sich funktionierenden Gesamtorganismus dar, dessen Elemente aufeinander bezogen sind. Sie besteht aus Einzelbildern, deren jedes eine geschlossene Ganzheit zeigt. Darauf verweist auch der jedem Bildmotiv beigefügte schwarze Rahmen. Dienen ­Goethe die Tafeln zwar auch als Mittel der Selbstvergewisserung über die eigene Theorie,81 nutzt er auf dieser Tafel nicht das jeder Bilddarstellung implizite Potential eines Ordnungsinstruments. Die gewählte Ordnung der Tafelelemente scheint willkürlich, sie wurde weder textanalog noch nummerisch gestaltet. Als einziges Strukturprinzip scheint eine klassizistische Symmetrie der Einzelfelder auf, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschlaggebend für die nichtfortlaufende Anordnung

79 Vgl. Scherffer, Karl, Abhandlung von den zufälligen Farben, Wien 1765, S. 55. Mögliche Gründe für das Misslingen der Versuche können eine mangelhafte Farbhelligkeit, ungenügende Farbkontraste oder eine unpassende Bildgröße sein. Scherffer kam durch Analogienbildung von perspektivischen Wahrnehmungsversuchen auf diese Experimente: „Nun fragt es sich, was doch die Scheinfarben für einen Gebrauch haben mögen? Zu einer Unterhaltung habe ich sie auf folgende Weise angewendet. Ich könnte leicht schließen, daß gleich wie durch die Spiegel, und verschiedenen Gläser verzogene Bilder ihre natürliche Figur wiederum bekommen, also konnte man auch durch die Farben verstaltete Malereyen verfertigen, welche, wenn man sie länger mit unverrückten Augen betrachtete, nachmals eine jedwede Sache in ihrer natürlichen Farbe auf einer weißen Fläche darstellten.“ Ebd., S. 54. G ­ oethe reflektiert Scherffers Theorie der zufälligen Farben kritisch im historischen Teil der Farbenlehre. Vgl. LA I.6, S.  357 – 359. 80 Vgl. LA I.4, § 53, S. 38 – 39 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 81 Vgl. z. B. ­Goethe an Friedrich Schiller am 21. Dezember 1796: „Ich zeichne jetzt die Tafeln dazu [zur Farbenlehre – S. Sch.] und sehe daran, daß sich alles verengt, eine mehrere Reife.“ In: Briefwechsel Schiller ­Goethe, a. a. O., S. 334.

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und Nummerierung der Figuren war.82 Damit koinzidieren einmal mehr Kunst- und Wahrnehmungstheorie in ­Goethes Farbstudien, da die Ästhetik auf derjenigen Tafel zum Dispositiv der wissenschaftlichen Präsentation wird, welche die physiologische Farberzeugung verbildlicht. Der auf der Tafel I diskontinuierlich thematisierte Vorgang der Wahrnehmung wird von ­Goethe im 1821 entworfenen Schema Auge empfänglich und gegenwirkend auf neue Weise dargestellt. Anders als die lediglich auf einer Tafel fixierten Bilder verweist die Struktur der Tabelle auf die fundamentale Bedeutung der empirischen Wahrnehmung in G ­ oethes Farbentheorie. Er legte dieses Schema als tabellarisch strukturierte Synopse an, welche die gesamte Struktur der Farbenlehre zeigt (vgl. Abb. 42). Das Auge ist ihr als alleinige Entität übergeordnet. Beschreibt G ­ oethe noch in dem 1806 entstandenen Schema der ganzen Farbenlehre und einem dazugehörigen Paralipomenon, die tableauartig angelegt sind, unterschiedliche empirische und philosophisch inspirierte Blickformen, die von der horizontal und vertikal zu lesenden Struktur assimiliert werden (vgl. Abb. 3 und 4),83 erhält das Auge im späteren Schema eine herausgehobene Position. Das tabellarische Schema besitzt durch die gewählte Form des synoptischen Überblicks evidenzerzeugende Funktion,84 indem es die ersten drei Abteilungen des didaktischen Teils der Farbenlehre in Spalten simultan vor Augen führt. Ihm wohnt eine offene Prozesshaftigkeit inne, die ein Fortschreiben der drei Abteilungen in Reihenform anregt.85 Mit der Wahl dieser Präsentationsform griff ­Goethe zu einem modernen zeitgenössischen Medium. Durch die Entwicklung neuer Paradigmen, die besonders in den Lebenswissenschaften und der entdeckten Vergänglichkeit des Wissens selbst die Bedeutung der Zeit erkannten, begann die Tabelle, das Tableau als paradigmatische Präsentationsform abzulösen, das von einer als beständig postulierten Ordnung ausgehend in einem räumlichen System Ähnlichkeiten und Unterschiede der Phänomene aufzeigte.86

82 Vgl. Corpus der ­Goethezeichnungen, Bd. VA, a. a. O., S.  42 – 44. 83 Das Schema beschreibt die ersten drei Abteilungen des didaktischen Teils, von denen Goethe die physischen Farben in tableauartiger Form besonders herausarbeitete. Diese betont die gemeinsamen Bedingungen der physikalischen Farberzeugung und zugleich die Unterschiede ihrer Phänomene. 84 Zur Evidenzerzeugung durch Tabellen als rhetorische Funktion vgl. Campe, Rüdiger, Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002, S. 224. 85 Das Schema wurde nach mehrmonatiger Überarbeitung durch ­Goethe – der Berliner Staatsrat Christoph L. F. Schultz hatte nach Zusage die versprochenen Zuarbeiten nicht geliefert – erst 1822 publiziert. Es erschien in der Nachtragssammlung Chromatik 1822 im vierten Heft des ersten Bandes Zur Naturwissenschaft überhaupt. Nach Tagebucheinträgen beschäftigte sich G ­ oethe zwischen Mitte Juni und Ende Oktober 1821 mit der Tabelle. Vgl. LA II.5B.2, S. 962, 985 und S. 987. 86 Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, a. a. O., in der Reihenfolge der indirekten Zitate S. 109, 111, 180 und S. 284. Vgl. hierzu auch die Gegenposition von Annette Graczyk, die Foucaults Tableaubegriff auch auf Tabellen, Listen und Verzeichnisse anwendet und unter dieser veränderten Prämisse herausstellt, dass das Tableau weiterhin bestand: in einer neuen, die Prozessualitäten und Interdependenzen der Episteme gleichermaßen aufzeigenden Form. Graczyk arbeitet heraus, dass das Tableau

5.2  Die Meisterschaft der Abstraktion – Bilder des Experiments

Im Gegensatz zu den lediglich auf einer Tafel präsentierten physiologischen Farben veranschaulicht G ­ oethe die Praxis subjektiver physikalischer Versuche auf vier Tafeln.87 Auf der Tafel II fügt er verschiedene Ergebnisse dieser Versuchsart aneinander, die z. T. durch objektive Experimente ersetzbar sind, um auf ikonischer Ebene die Methode der experimentellen Reihenbildung zu demonstrieren. Diesen Zugriff wählte ­Goethe, um das Auge des Betrachters zu schulen und den Blick für seine physikalische Theorie der Farbentstehung zu öffnen: „Wer sich diese zweite Tafel recht bekannt macht, dem wird es nicht schwer sein, alle subjektiven Versuche zu entwickeln.“ 88 (vgl. Abb. 43) Gebildet an diesem Kunstprodukt erhält der Leser mit den Tafeln II a und III, die Motive des bereits beschriebenen und eines weiteren Schirms für Farbexperimente zeigen, Vorlagen für eigenständige subjektive Refraktionsexperimente (vgl. Abb. 44 und 45). Der hier eröffnete Erkenntniskreis schließt sich mit Tafel IV, auf der ­Goethe ein besonderes Potential manuell gefertigter Reproduktionsvorlagen nutzt: Er verändert die Größen bestimmter Motivteile, um das allen Experimenten Charakteris­ tische seiner Versuchsreihe hervorzuheben.89 In einem vergrößerten Ausschnitt stellt er einen stilisierten Blick durchs Prisma auf den Mittelteil der zuvor gezeigten Tafel III dar, der als abstrahierte Prüfinstanz über die Richtigkeit des Ergebnisses dienen soll (vgl. Abb. 46). Die komplexe Realität und der Vorgang ihrer Entstehung, die sich nicht mimetisch im Bild reproduzieren lassen, gibt G ­ oethe in einer vereinfachten Darstellung wieder. Um dem Leser auf sinnlicher Ebene die Orientierung zu erleichtern, nimmt er bewusst eine Abstraktion der Motive in Kauf: „In dem oberen Felde sind die Mittelbilder der vorigen Tafel so vorgestellt, wie sie durchs Prisma gesäumt erscheinen; da man die Säume aber nur nach dem Gesetz und nicht nach der Art, wie sie sich in der Erfahrung mit der Farbe des Bildes vermischen, illuminieren konnte, so ist das hier Dargestellte mehr als Wegweiser denn als die Sache selbst anzusehen; mehr als eine Versinnlichung dessen, was vorgeht, denn als das, was durch dieses Vorgehen entspringt; mehr als eine Entwicklung, eine Analyse der Erscheinung denn als die Erscheinung selbst.“ 90

Dass auch die didaktisch ausgerichteten Tafeln der subjektiven Prismenversuche nicht frei von Polemik sind, verrät bereits die Wahl ihrer Motive.91 Zeigt ­Goethe auf besonders im Positivismus des 19. Jahrhunderts eine erneute Blütezeit erlebte. Vgl. Graczyk, Annette, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2004, S. 12 und S. 20. 87 Noch auf einer weiteren Tafel, der Tafel XII, thematisiert G ­ oethe subjektive Refraktionsexperimente. Er entwarf sie als Versuchsvorlage ausschließlich zu polemischen Zwecken, nicht aber, um den Leser wie mit den Tafeln II – IV grundlegend an seine Experimentalpraxis heranzuführen. 88 LA I.7, S. 48 (Farbenlehre, Erklärung der Tafeln). 89 Zu diesem Potential manuell erstellter Bilder vgl. Daston / Galison, Objektivität, a. a. O., S. 114. 90 LA I.7, S. 60 (Farbenlehre, Erklärung der Tafeln). 91 ­Goethe verweist sogar im gleichnamigen Teil der Farbenlehre auf sie. Vgl. Verweis auf Tafel II, in: LA I.5, § 87, S. 32 – 33 und § 101, S. 38 – 39 (Farbenlehre, Polemischer Teil) sowie Verweis auf Tafel

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Tafel II abstrahierte einfache Versuche zum ideellen Nachvollzug seiner Theorie der Kantenspektren, nach deren Betrachtung der Rezipient auf der nachträglich eingefügten Tafel II a abstrakte Schwarz-Weiß-Motive des optischen Kartenspiels zum Selbstexperimentieren erhält, erscheint im Zentrum der Tafel III das Motiv, das Newton in seinem ersten Versuch der Opticks benutzte: ein rot-blaues, horizontal ausgerichtetes Rechteck auf schwarzem Grund. Newton diente dieser Versuch zum Beweis der Hypothese, dass Licht verschiedener Farben unterschiedlich stark gebrochen wird. Nachdem er durch ein horizontal gehaltenes Prisma blickte, dessen brechenden Winkel er variierend nach oben und nach unten hielt, sah er, dass sich das blaue Rechteck anders von seiner ursprünglichen Stelle verschob als das rote. Er schlussfolgerte aus seinen Beobachtungen, dass blaues Licht stärker als rotes gebrochen wird.92 ­Goethe hingegen setzt dieses Motiv zum Beweis der gesetzmäßigen Entstehung der Kantenspektren ein, die nach seiner Theorie durch Verrückungen der schwarzen, weißen und farbigen Rechtecke im Refraktionsvorgang erscheinen.93 Zum leichteren Nachvollzug dieser Erkenntnisse durch den Leser entwirft er eine serielle Experimentalvorlage. Er setzt o. g. Motiv variierend auf einen schwarzen und einen weißen Untergrund und kombiniert dessen rote Hälfte mit einer schwarzen, die blaue mit einer weißen Hälfte. Die Ergebnisse, die beim Blick durchs Prisma auf die unterschiedlichen Motive erscheinen, zeigt er stark abstrahiert und vergrößert in der oberen Hälfte der Tafel  IV. ­Goethe überträgt hier wie in den nachfolgend betrachteten objektiven Brechungsversuchen seine experimentelle Methode der Pluralisierung von Perspektiven auf die ikonische Ebene. Dieser Zugang dient nicht nur der wissenschaftlichen Erkenntnis von Naturgesetzen, sondern darüber hinaus auch dem Aufzeigen eines feststehenden, vermeintlich fehlerhaften Lehrgebäudes und der Herausstellung von Newtons Versuchsmängeln. Noch dezidierter als die subjektiven physikalischen Versuche vermittelt er die objektiven auf der Bildebene nicht wertneutral. Die diese Experimente zeigenden Tafeln V bis XI und XIII bis XIV stellen mit einer Anzahl von neun die umfangreichste Bebilderung einer Phänomengruppe der Farbenlehre dar und sind fast ausschließlich polemischer Natur. Bereits im Text des polemischen Teils ficht ­Goethe einen erbitterten Kampf gegen Newton aus, indem er Teile der Opticks zitiert und kommentierend widerlegt. Diese Montagehoheit erlangt er durch das distanzerzeugende Mittel der Ironie, die ihn allerdings als äußerst subjektiven Richter ausweist. In seinen Interpretationen schaut er nicht immer auf Detailtreue. Auch Stellen aus dem Englischen übersetzt er nicht in jedem Fall wortgetreu.94 Bei der Beschreibung komplizierter VersuchsaufIII, in: ebd., § 269, S. 96. 92 Vgl. Newton, Optik, a. a. O., Erstes Buch, Erster Teil, Prop. I, Lehrsatz 1, 1. Versuch, S. 15 – 17. 93 Zu ­Goethes Detailerklärungen vgl. LA I.4, §§ 258 – 284, S. 93 – 100 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 94 Beispielsweise unterstellt G ­ oethe, Newton gehe in der Optik, Erstes Buch, Zweiter Teil, Prop. I, Lehrsatz 1, 1. Versuch davon aus, „daß Grenzen des Hellen und Dunklen keinen Einfluß auf die Farbenerscheinung bei der Refraktion haben“. LA I.5, § 355, S. 117 (Farbenlehre, Polemischer Teil).

5.2  Die Meisterschaft der Abstraktion – Bilder des Experiments

bauten verweist er den Leser sogar auf die Experimente in Newtons Opticks selbst – vermutlich, um ihm dessen vermeintlich unsystematisches experimentelles Vorgehen vor Augen zu führen.95 Um Newtons Theorie zu entkräften, bedient sich ­Goethe auf den Tafeln der objektiven Refraktionsexperimente neben der prozessualen Darstellung der Versuchsergebnisse eines weiteren bildstrategischen Mittels: Ausdrücklich benennt er die Darstellbarkeit in linearen Motiven als Vorteil der bildlichen Repräsentation dieser Versuchsart: „Die objektiven Versuche geben uns den Vorteil, daß wir das Werdende des Phänomens, seine sukzessive Genese außer uns darstellen und zugleich mit Linearzeichnungen deutlich machen können, welches bei subjektiven der Fall nicht ist.“ 96 Exemplarisch für die Anwendung dieser beiden Bildstrategien auf die Darstellung objektiver Versuche seien hier die Tafeln V und VI angeführt. In mehreren vertikal zur Tafel ausgerichteten und linear strukturierten Querschnitten des Newton- und des ­Goethe-Spektrums sollen diese Motive veranschaulichen, dass die interne Ausbreitung ihrer Einzelfarben mit sich wandelnder Parameteranordnung variiert und Newton die statische Verbindung zwischen den Flächen der Farben, die er durch Analogienbildung zu den Intervallen einer Oktave konkretisierte und legitimierte, nur willkürlich gewählt hat 97 (vgl. Abb. 47 und 48). Mit der linearen Gestaltungsart erhebt ­Goethe auf den Tafeln dasjenige zum Darstellungsmedium, gegen dessen Nutzung als ausschließliches Argumentationsmittel er seine phänomenal ausgerichtete Farbentheorie entwickelt hat: die Linearstrukturen des newtonischen Strahlenmodells des Lichts. Mit hoher Wahrscheinlichkeit bedient er sich dieser geometrischen Darstellungsart, um Newton auf dessen „ureigenem“ Gebiet ebenbürtig zu begegnen. Deshalb nimmt G ­ oethe sogar in Kauf, dass er mit dieser Präsentationsform mehr oder weniger bewusst die Eigenständigkeit der Farbe entwertet, die sich der Linie zu fügen hat. Er unterwandert damit auf der ikonischen Ebene das Anliegen seiner eigenen Theorie, die Farbe in ihrem ästhetischen und erkenntnistheoretischen Eigenwert zu stärken. Der polemisch inspirierten Vorherrschaft der Linie auf den Tafeln kommt die Reproduktionstechnik des Kupferstechens in starkem Maße entgegen. In ihr werden die Motive erst nach dem Fertigen der Umrisse koloriert. Neben die Ökonomie der

Newton behauptet dies jedoch an keiner Stelle. Er benutzt lediglich – wie Horst Zehe herausstellt – Formulierungen wie „are not caused by“ oder „do not arise from“, um die Beziehungen zwischen diesen Grenzen und den Farbphänomenen zu beschreiben. Vgl. LA II.5, S. 324. 95 Vgl. exemplarisch die in § 196 des polemischen Teils der Farbenlehre von ­Goethe getroffene Aussage, die sich auf Prop. III, Lehrsatz 3, 9. Versuch des I. Buchs von Newtons Optik bezieht: „Wie der Verfasser hierbei zu Werke geht, ersuchen wir unsere Leser in der Optik selbst nachzusehen: […].“ LA I.5, § 196, S. 75 (Farbenlehre, Polemischer Teil). 96 LA I.4, § 325, S. 111 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 97 Vgl. ebd., § 334, S. 113 – 114 sowie LA I.7, S. 63 – 64 und S. 68 (Farbenlehre, Erklärung der Tafeln).

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Darstellung tritt hier eine technisch-reproduktive Ökonomie.98 Wie eine Analyse noch unfertiger Kupferabzüge ergab, ließ G ­ oethe zuerst die Umrisse stechen und dann Abzüge erstellen, fertigte auf diesen einige dunkle Gründe mit dem Pinsel, die nachträglich auf die Kupferplatte übertragen wurden. Nach einer erneuten Erstellung von Abzügen erfolgte die Beschriftung, Nummerierung und Kolorierung der Motive.99 Die Anwendung von wissenschaftlichen Zeichnungen, in denen die Farben des Spektrums ineinanderwirkend und nicht klar getrennt dargestellt wurden, war für den polemischen Kontext denkbar ungeeignet. Da jede nicht linear gefasste Kolorierung gewissen Zufällen unterworfen ist, wird jedes Bild zum Unikat, so dass die didaktisch wie polemisch intendierte Eindeutigkeit der Zeichnung durch differierende Reproduktionen gefährdet worden wäre. Das Medium des Bildes hat eine eigene Logik, die sich zwischen den Blicken entfaltet, die sich in ihm kreuzen: dem in ihm fixierten Blick des Erschaffenden und dem des Rezipienten.100 Mit der linearen Präzisierung des Bildes bemüht sich G ­ oethe, die Divergenzen der Blicke zu minimieren, indem das Liniengerüst der Tafeln das Betrachterauge im Sinne seiner Farbentheorie leitet.101 Der lineare Gestaltungsmodus trägt jedoch nicht zur leichteren Verständlichkeit der Tafeln bei. Sind bereits in den Opticks die den Text illustrierenden Tafeln Newtons für einen Laien schwer verständlich, entfalten G ­ oethes lineare, prozessuale Motivmodifikationen in manchem Fall eine verwirrende Eigendynamik wie auf Tafel XIII (vgl. Abb. 49). Sie trägt den bezeichnenden Untertitel „teils der Kontrovers, teils der natürlichen Darstellung [!] des Phänomens gewidmet“.102 Die untere Zeichnung zeigt eine Abbildung aus Newtons Opticks, die im Sinne seiner Theorie illustriert, dass bereits einmal durch Lichtbrechung oder -reflexion erzeugte Farben durch weitere Licht-Schatten-Grenzen nicht mehr modifiziert werden. Newton weist dies an einem ins Farbenspektrum gehaltenen Hindernis nach, das nicht als erneut farbenbildende Hell-Dunkel-Grenze fungiert, sondern im weiteren Strahlenlauf lediglich Farben

98 Zu diesen beiden Formen der Ökonomie auf wissenschaftlichen Zeichnungen des späten 18. Jahrhunderts vgl. Wyder, Margrit, Wissen sichtbar machen. Zu G ­ oethes Visualisierungsmethoden in der Geologie, in: Mackensen, Ludolf von, Wir wandeln alle in Geheimnissen. Neue Erfahrungen mit G ­ oethe. Vorträge der Jubiläumstagung 1999 in Kassel, Kassel 2002, S. 87 – 125, hier S. 94. 99 Vgl. Corpus der ­Goethezeichnungen, Bd. VA, a. a. O., S. 44. 100 Vgl. hierzu die Interpretation, die Gottfried Boehm in Anlehnung an Maurice Merleau-Ponty vornimmt: Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, a. a. O., S. 20 – 21. 101 Die Interpretation der Linie als Blicklenkerin erfolgt in Anlehnung an Heinrich Wölfflins kunsttheoretische Betrachtung des zeichnerischen, durch eine klare Kontur geprägten Stils. Diesen stellt der Autor dem malerischen Stil gegenüber, bei dem durch die Wirkung des Helldunkels und der Farbe Gegenstands- und Bildform divergieren. Bei Interpretation dieser Bilder überlässt sich das Auge dem ausschließlich erfahrbaren Gesamteindruck, der sich in Fleckenerscheinungen bzw. Massen, nicht aber in Konturen zeigt. Vgl. Wölfflin, Heinrich, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1923, S. 20 – 21. 102 LA I.7, S. 101 (Farbenlehre, Erklärung der Tafeln).

5.2  Die Meisterschaft der Abstraktion – Bilder des Experiments

verschwinden lässt. In den drei darüber befindlichen farbigen Illustrationen präsentiert ­Goethe seine zusammengefassten Beobachtungen, die er ausschließlich auf die Entstehung der Kantenspektren richtete: Figur 1 zeigt zwei durchs Prisma erzeugte Strahlenbündel, die sich nach Durchgang durch eine Wandöffnung überlagern und Grün erzeugen. In Figur 2 wird die Tafel durch ein kleines Hindernis ersetzt. Es entsteht ein noch komplizierteres Farbenspektrum. Figur 3, die komplexeste, welche die beiden anderen Figuren vereinigt, ist nach ­Goethe die allein richtige Darstellung des newtonischen Versuchs. An den hier gezeigten Grenzen entstehen erneut Farben, die durch das Hindernis vor dem Prisma erzeugt werden. Sein Appell an das Vorwissen des Betrachters zeigt, dass ­Goethe sich der Unübersichtlichkeit dieser Darstellung sehr wohl bewusst ist: „Man begreift bei genauerer Betrachtung dieser Normalfigur recht gut, was für verschiedenartige Erscheinungen vorkommen müssen, wenn man das Stäbchen hin und wieder bewegt, so daß die dadurch neu entstehenden mit den schon entstandenen sich auf allerlei Weise verbinden, vermischen sich irren und einander aufheben: welches aber niemanden irre machen wird, der unsere naturgemäße Ableitung kennt.“ 103

Paradigmatisch zeigt Tafel XIII, wie G ­ oethe auch in den wissenschaftlichen Bildern zum Hauptwerk auf eine räumliche Darstellung verzichtet. Er unterdrückt die per­ spektivische Repräsentation nicht nur, indem er das Motiv abstrakt in der Ebene entfaltet, sondern ebenso durch die gewählte Ausschnitthaftigkeit, die den realen Experimentalkontext gedanklich schwer nachvollziehbar macht. Obwohl bereits Newtons im unteren Bildteil befindliche Linearzeichnung stark enträumlicht und abstrahiert ist, wirkt sie durch die Darstellung der gesamten Experimentalkonstellation wesentlich verständlicher. Wurden im 18. Jahrhundert – so Margrit Wyder – die Zeichnungen physikalischer Experimente generell zusehends abstrakter (der ehemals mit im Bild dargestellte Forscher wurde wie in Newtons Zeichnung lediglich auf seine Hände reduziert, die wiederum später durch Pfeile und andere abstrakte Zeichen ersetzt wurden),104 bedient sich G ­ oethe hier einer überhöhten Abstraktion, die das Bild für den Laien – wenn überhaupt – nur unter Zuhilfenahme des Motivs aus Newtons Opticks verständlich macht. Die Tafeln zur Farbenlehre entfalten nicht nur auf der Rezeptionsebene, sondern auch auf reproduktionstechnischem und archivarischem Gebiet ihre eigene Dynamik: Der ersten Auflage der Farbenlehre von 500 Textexemplaren auf weißem und 250 auf grauem Papier im Oktavformat wurden nur 100 Quarthefte beigefügt.105 ­Goethe 103 Ebd., S. 102. 104 Vgl. Wyder, Wissen sichtbar machen, a. a. O., S. 94. 105 Die Erstausgabe der Farbenlehre besorgte der Verleger Johann Friedrich Cotta in Tübingen. Den Druck der Textbände und der Tafeln übernahm der Jenaer Buchdrucker Carl Friedrich Ernst ­Frommann.

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­ ummerierte sowohl die Tafeln als auch das optische Kartenspiel der ersten Vorarbeit, n um Verwechslungen bei der Rezeption und bei Nachdrucken zu vermeiden. Obwohl er die originalen Kupferplatten selbst verwaltete und bei Nachauflagen das Abdrucken und Illuminieren überwachte, ließen sich durch das noch fehlende Urheberrecht Raub­ kopien nicht vermeiden. Zahlreiche Sinnentstellungen waren die Folge. Obwohl drei der Tafeln keine Kolorierung aufweisen, behandelte beispielsweise der Wiener Verleger Joseph Geistinger in einem solchen Nachdruck alle Bildmotive mit Farbe, ließ Teile von ihnen mit Tusche korrigieren und vertauschte zwei Tafeln trotz Nummerierung miteinander.106 In zahlreichen Bibliotheken werden noch heute originale Textbände und das Quartheft unter verschiedenen Signaturengruppen geführt.107 Während ­Goethe auf den Tafeln zum Hauptwerk die Farbe – wenn auch oft der Linie untergeordnet – zur Veranschaulichung seiner Lehre einsetzt, gilt dies für die wenigen Illustrationen der publizierten Nachträge nicht: Weder der 1820 erschienene Text Entoptische Farben, noch die 1817 publizierte Vorläuferstudie Doppelbilder des rhombischen Kalkspats enthalten kolorierte Darstellungen. In letztgenannter Schrift – so sei noch einmal erinnert – antwortete ­Goethe auf den Vorwurf des Physikers und Chemikers Christoph Heinrich Pfaff, er hätte die Farb­ entstehung an doppelbrechenden Kristallen nicht an seiner Theorie der Prismenfarben überprüft. Pfaff hatte seinem Aufsatz eine kolorierte Tafel beigefügt, welche die Kantenspektren vergrößert zeigte und damit die Wiedergabe der natürlichen Relationen sprengte 108 (vgl. exemplarisch Abb. 50). ­Goethe hingegen, der Pfaffs Versuche variierte und die gewonnenen Erkenntnisse in o. g. Aufsatz niederlegte, fügte der Handschrift ein mit Tusche und Wasserfarben gefertigtes Bild bei, das lediglich als Vorlage für einen unkolorierten Kupferstich diente, der die spätere Publikation begleitete (vgl. Abb. 51 und Abb. 52, Figur 1). Wiederum wirft das abstrakte Motiv des Kupferstichs eher Fragen auf, als sie zu beantworten, da ­Goethe die in mehreren Experimenten gemachten Beobachtungen durch bildliches Übereinanderprojizieren in klaren Linear­ motiven vereinfachte. Statt der hier ebenfalls polemisch inspirierten Simplifizierung 106 Vgl. die von Joseph Geistinger gedruckte Ausgabe G ­ oethe, Johann Wolfgang, Erklärung der zu ­Goethe’s Farbenlehre gehörigen Tafeln, Wien 1812. Selbst innerhalb der einzelnen Exemplare variieren die Kolorierungen. Es gibt in der Auflage von 1812 Tafelbände mit durchgängig kolorierten Tafeln und Tafelbände, in denen zwar Farbabweichungen zur Originalausgabe von 1810 bestehen, in denen aber die unkolorierten Tafeln der Erstausgabe ebenfalls nicht koloriert wurden. 107 Vgl. zur Publikation, falschen Kolorierung und getrennten Lagerung der Bände Schmid, Schicksal einer ­Goetheschrift, a. a. O., S. 10 – 19. ­Goethe gelang es, in Österreich ein Nachdruckverbot seiner Ausgabe zur letzten Hand zu erwirken. 108 Vgl. Pfaff, Ueber die farbigen Säume der Nebenbilder des Doppelspaths, a. a. O., S. 180. Durch Nachstellung von Pfaffs Experimenten wies Thomas Nickol die künstlich veränderte Wiedergabe der farbigen Säume nach. Vgl. Nickol, Thomas, Zu ­Goethes Beobachtungen farbiger Erscheinungen an und mit Doppelspaten, in: Beiträge zu ­Goethes Naturforschung. Festschrift aus Anlass zu Dorothea Kuhns 80. Geburtstag, Halle 2004 (= Acta Historica Leopoldina 39), S. 201 – 212, hier S. 202.

5.2  Die Meisterschaft der Abstraktion – Bilder des Experiments

hätte gerade die wissenschaftliche Verbildlichung der Kantenspektren einer Kolorierung bedurft. Nur durch die Verwendung von Farben wären die in diesen Versuchen auftretenden chromatischen Phänomene ikonisch demonstrierbar gewesen, da in jener Zeit doppelbrechende Kristalle zum Nachexperimentieren schwer erhältlich waren.109 Von den wesentlich komplexeren Phänomenen der entoptischen Farben, die ­Goethe als ästhetischste chromatische Erscheinungen lobt, ließ er ebenfalls keine kolorierten Darstellungen publizieren, obwohl er sich der Überzeugungskraft solcher Bilder durchaus bewusst war. So verweist er in einem Brief an den Hegel-Schüler Leopold von ­Henning, der an der Berliner Universität Vorlesungen zu G ­ oethes Farbenlehre hielt und einschlägige Experimente durchführte, wegen der schwer erhältlichen entoptischen Apparatur auf die Unabdingbarkeit farbiger Bilddarstellungen. Von Henning hatte ihm zuvor eine kolorierte Zeichnung der entoptischen Phänomene geschickt, die einer seiner Zuhörer gefertigt hatte.110 Auch erteilte ­Goethe dem Jenaer Maler und Radierer ­Christian ­Wilhelm Roux den Auftrag, die entoptischen Phänomene farbig abzubilden – ein Auftrag, dessen Ausführung ­Goethe vermutlich nicht dezidiert verfolgte und der wahrscheinlich nie realisiert wurde.111 ­Goethe ließ die entoptischen Erscheinungen lediglich ohne Farbwiedergabe stark abstrahiert in einfarbigen Damast sticken. Ihm kam es hier besonders darauf an, dass die Phänomene bei einer Drehung des Gewebes um 90° in ihr helles oder dunkles Gegenteil umschlugen. Mit diesem Zugriff wollte er die Analogien zwischen der Erzeugung dieser Erscheinungen im Glas und in einem Gewebe vor Augen führen, um die Universalität des Polaritätsprinzips zu demonstrieren.112 Da ­Goethe die entoptischen Figuren als Beweis für seine Theorie der Refraktionsfarben betrachtete, hätten gerade diese Erscheinungen eine klare ikonische Darstellung verdient. Doch hier wäre der Bruch zwischen schematisierter Zeichnung und hochkomplexem realen Phänomen am stärksten gewesen, so dass sich die Abstraktion der Erscheinungen letztendlich gegen G ­ oethes „Beweisführung“ selbst gewendet hätte. Wahrscheinlich ist die Stärke dieser Differenz ausschlaggebend dafür, dass er letztendlich bei den für Laien schwierig zu realisierenden Experimenten lieber auf die Wirkung der natürlichen Erscheinungen setzte.

109 Vgl. ebd., S. 203 und S. 208. 110 Vgl. LA II.5B.2, S. 1036 – 1037 (Leopold von Henning an G ­ oethe im Juli 1822) sowie ebd., S. 1040 (­Goethe an Leopold von Henning am 11. August 1822). Auch Thomas Johann Seebeck ließ die entoptischen Phänomene im Bild festhalten – in einem kolorierten Probeabdruck zu seinem Aufsatz Einige neue Versuche und Beobachtungen über Spiegelung und Brechung des Lichtes (vgl. Abb. 15). 111 Vermerkt G ­ oethe in seinem Tagebuch am 25. und 27. Juni 1817 die Auftragserteilung an Roux, und verweisen zahlreiche weitere Notizen auf dieses Projekt, ist dessen Fertigstellung nirgends dokumentiert. Vgl. WA III,6, S. 67 und S. 68. 112 Vgl. Matthaei, Rupprecht, Die Farbenlehre im ­Goethe-Nationalmuseum. Eine Darstellung auf Grund des gesamten Nachlasses in Weimar mit der ersten vollständigen Bestandsaufnahme, Jena 1941, S. 157.

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Betont G ­ oethe in den späteren entoptischen Versuchen die Farbentwicklung als von der Form des trüben Mittels abhängig, spiegelt sich diese Beachtung des Dreidimensionalen in der perspektivischen Darstellung eines Versuchsaufbaus wider (vgl. Abb. 52, Figur 2). Dieser ist neben den abstrahierten Motiven der bereits beschriebenen Doppelspat-Erscheinungen und eines doppelbrechenden Glimmerblättchens auf einer unkolorierten Tafel zu finden, die ­Goethe den 1817 publizierten Aufsätzen Doppelbilder des rhombischen Kalkspats und Elemente der entoptischen Farben im ersten Heft des ersten Bandes Zur Naturwissenschaft überhaupt beifügte. Wird in der Darstellung des Glimmerblättchens (vgl. Abb. 52, Figur 3) die fehlende Kolorierung durch verallgemeinernde Begriffe ersetzt, erscheint dessen Motiv in der Hauptschrift Entoptische Farben stilisiert und ohne Bilderklärungen eingefügt in den Text, so dass die Wort gewordene Farbe nun gänzlich verschwindet (vgl. Abb. 53). In der Komplexität jener Farben und der die Irritationen auslösenden Phänomene bei der Erstellung der Tafeln zur Farbenlehre sind mit hoher Wahrscheinlichkeit die Gründe dafür zu suchen, dass G ­ oethe in seinen letzten Lebensjahren den didaktischen Nutzen wissenschaftlicher Bilder in der Farbforschung verwirft. In seiner Stellungnahme zum Preisausschreiben der Petersburger Akademie 1827 stellt er die Gefahr einer Verschiebung der Abstraktion ins Symbolische heraus, wenn zeichnerische Signifikanten einen stark minimalistischen Charakter besitzen. In diesem Fall – so muss ­Goethe nun konzedieren – gewinne das Symbolische nur um den Preis seiner rationalen Erschließbarkeit das Merkmal der Intersubjektivität, nicht aber durch die auf das Auge setzende Sinnlichkeit der Phänomene. Es ist sicherlich kein Zufall, dass G ­ oethe diese Kritik ausgerechnet an der Metapher eines Kartenspiels expliziert: „Von dem einfachsten Phänomen des blauen Himmels bis zu dem zusammengesetztesten des Regenbogens, die wir beide in der reinen Natur an der Himmelswölbung gewahr werden, ist ein unendlicher und verschlungener Weg, den noch niemand zurückgelegt hat. Mit wenig Worten läßt sich die Ursache der Himmelsbläue aussprechen, mit vielen Vorrichtungen und Bemühungen kaum das Ergebnis des Regenbogens faßlich machen; und eben die Schritte zu bezeichnen, wie von dem einen zu dem andern zu gelangen sei, ist die Schwierigkeit. Es gehört hiezu kein weitläufiger und kostbarer Apparat, aber ein vollständiger, damit man alles, wovon die Rede ist, dem Auge darlegen könne. Mit bloßen Worten, gesprochenen, noch viel weniger geschriebenen, mit linearen Zeichnungen, ist nichts zu tun; denn ehe man sichs versieht, kommt man auf die eine wie auf die andere Weise zu einer Symbolik, mit der man alsdenn verfährt wie Kartenspieler mit gestempelten Blättern; man versteht sich, aber es kommt weiter nichts dabei heraus als daß man sich verstanden hat; es war ein Spiel innerhalb eines gegebenen und angenommenen Kreises, das aber außerdem ohne Wirkung bleibt.“ 113

113 LA I.11, S. 291 (Physikalische Preis-Aufgabe der Petersburger Akademie der Wissenschaften 1827).

5.3  Die bildliche Ordnung des Farbenkreises

Anders als die erst nach Erscheinen der Farbenlehre untersuchten entoptischen Phänomene, die ­Goethe vermutlich deshalb nicht zeichnen ließ, weil damit eine starke visuelle Komplexitätsreduktion einherging, fasste er einige Jahre zuvor seine differenzierte Farbenlehre in einem einzigen Bildschema zusammen: dem Farbenkreis. Mit ihm wollte er seine Lehre ikonisch komprimiert vor Augen stellen, indem er die Erklärungen der physiologischen, physikalischen und chemischen Farbentstehung in einer Matrix zusammenführte.

5.3 Die bildliche Ordnung des Farbenkreises Das Schema des Farbenkreises zeigt die kompakteste Darstellung von G ­ oethes Farbenlehre. Es verdichtet in intensiver Form all jene Daten, die G ­ oethe in zahlreichen Versuchsreihen und Beobachtungen gewann – Daten, die er nach ihren verschiedenen Entstehungskontexten differenzierte. Ist die komplexitätsreduzierende bildliche Darstellung der Naturphänomene eine wichtige Funktion manuell gefertigter Bilder bzw. ikonischer Reproduktionsvorlagen,114 so erfüllen Farbschemata diese Funktion in besonderer Weise. Durch ihren hohen Reduktionscharakter verweisen sie sogar stärker auf den subjektiven Standpunkt ihres geistigen Urhebers als auf die Vorlagen der Natur. Oft wohnt dieser Verdichtung ein Überschuss des Nichtintendierten inne, der den Farbmatrices eine eigene Logik verleiht – so auch in ­Goethes Farbenkreis, wie nachfolgend dargestellt werden soll. ­Goethe separiert die Farben zwar nach ihren Entstehungskontexten, fügt diese Unterscheidungen jedoch in den lediglich sechs Segmenten seines Kreisschemas wieder zusammen, so dass sich durch diese Verdichtung die Bedeutung der Matrix gegenüber den phänomenalen Signifikaten verselbstständigt. Aufgrund der starken Komplexitätsreduktion besitzt das Bildschema keine selbsterklärende Wirkung, sondern ist in hohem Maße an den Text des didaktischen Teils gebunden. Ein Indiz für den Bruch zwischen den Zeichen des Bildes und den bezeichneten Phänomenen ist die Beständigkeit des Farbenkreises selbst. Unterliegen im Laufe von G ­ oethes Studien die phänomenal ausgerichteten Begründungen für den Farbenkreis einem Wandel, behält das Schema hingegen seit seinem Erstentwurf seine Grundstruktur bei. Basierend auf dem erkenntnistheoretischen Zugang einer Ästhetisierung der Natur­ phänomene führt ­Goethe vermutlich als erster überhaupt eine Künstler- und eine naturwissenschaftliche Farbenlehre in gleichberechtigter Weise zusammen, die rekursiv 114 Zur Komplexitätsreduktion von Bildern allgemein vgl. Heintz, Bettina / Huber, Jörg, Der verführerische Blick. Formen und Folgen wissenschaftlicher Visualisierungsstrategien, in: dies. (Hg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich / New York 2001, S. 9 – 40, hier S. 13. Zur Komplexitätsreduktion manuell gefertigter Bilder im 18. Jh. vgl. Daston / Galison, Objektivität, a. a. O., S. 59 – 119.

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5.  Kolorierte Augenblicke – Die Zeichnungen zu ­Goethes Farbstudien

auch als solche getrennt aus dem Schema rezipiert werden können. Obwohl auch einige frühere Farbsysteme auf beide Bereiche angewendet werden sollten, war für die Entwicklung dieser Matrices lediglich einer von ihnen ausschlaggebend. Bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurden unabhängig voneinander Farbskalen und -tabellen entwickelt, die von den drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau ausgingen und deren Mischungsverhältnisse aufzeigten. Diese Schemata erschienen in unterschiedlichen Bereichen: in der angewandten Kunst ebenso wie in Werken zur Optik und zur Gemmologie. Die weite Verbreitung dieser Farbmatrices setzte jedoch erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts ein. Um die Wende zum 18. Jahrhundert erhielt mit Newtons optischen Studien die Systematisierungsfrage der Farben neue Nahrung. Newton legte keine Grund- und Mischfarben fest, sondern bewies die Gleichursprünglichkeit der sieben prismatischen Farben des Spektrums, die durch Brechung des weißen Lichts entstehen und nicht weiter zerlegt werden können. Zahlreiche Künstler bemühten sich, ihre Farbentheorien an Newtons Lehre anzuschließen, indem sie die gleichberechtigte Entstehung der sieben Spektralfarben durch die Mischungsverhältnisse von Pigmentfarben nachzustellen und zu erklären suchten. Dieser Zugriff war der damals noch nicht vorhandenen Erkenntnis der unterschiedlichen Mischungsgesetze von Pigment- und Prismenfarben geschuldet. Wiederum andere Künstler setzten sich bewusst von Newtons Ansatz ab, indem sie ihre Farbsysteme weiterhin auf den drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau aufbauten und alle anderen Farben davon ableiteten.115 Durch die anhaltende intensive Suche der Wissenschaftler nach einer Ordnung der Natur, besonders durch Carl von Linnés umfassende Klassifizierungen im Bereich der Naturerscheinungen selbst, fühlten sich im Laufe des 18. Jahrhunderts Künstler wie Naturforscher in stärkerem Maße dazu gedrängt, ein festes Regelsystem für die Farbgebung aufzustellen.116 Zu diesem Zweck generierten sie oft aus einer linearen Ordnung zweidimensionale Farbenkreise, -scheiben oder -dreiecke, die sie durch das Hinzufügen von Hell- und Dunkelwerten zu Figuren wie Farbpyramiden und -kugeln erweiterten.117 Bei zahlreichen dieser Schemata fällt auf, dass sie das Produkt einer wechselseitigen Korrektur von Wahrnehmung und mathematischer Systematisierung der Farben, d. h. eines phänomenal-sinnlichen und eines rationalen Ansatzes, sind. Um einen Einblick in die differenten Intentionen ihrer Urheber zu geben und auf diese Weise die Charakteristika von G ­ oethes Farbenkreis herauszustellen, werden einleitend ausgewählte Farbsysteme skizziert: 115 Vgl. exemplarisch zu den Anschlüssen und Gegenpositionen der von Künstlern und Kunsttheoretikern entworfenen Farbentheorien als Reaktion auf Newtons Opticks Ulrike Boskamps auf Frankreich bezogene Studie Primärfarben und Farbharmonie, a. a. O. 116 Vgl. Matile, Heinz, Die Farbenlehre Philipp Otto Runges. Ein Beitrag zur Geschichte der Künstlerfarbenlehre, München 1979, besonders S. 11 – 82 sowie Gage, Kulturgeschichte der Farbe, a. a. O., S.  168 – 171. 117 Vgl. die zusammenfassende Darstellung von Pietsch, Gesetze der Farbe um 1800, a. a. O., S. 59.

5.3  Die bildliche Ordnung des Farbenkreises

Maßgeblich auf die Durchsetzung in sich geschlossener, nichtlinearer Farbschemata wirkte sich die Entwicklung von Newtons Farbenkreis aus, den er erstmals 1704 in den Opticks der breiten Öffentlichkeit vorstellte. Es war bei weitem nicht das erste kreisförmige Farbsystem, zog seine Evidenz jedoch im Gegensatz zu seinen Vorgängern daraus, dass er das System der Natur selbst abbildete, indem er den phänomenalen Zusammenhang benachbarter Einzelfarben wiedergab und diesen vollständig mathematisch nachwies.118 Der Kreis enthält unterschiedliche Sektorengrößen, die auf die Herleitung des Schemas aus der empirischen Struktur des prismatisch erzeugten Farbenspektrums verweisen. Die konkreten Kreismaße der Farben berechnete Newton jedoch – wie beschrieben – in Analogie zu den Intervallen einer Oktave.119 Mit diesem Zugriff legitimierte er die Harmonie der Farben über ein externes System. Die Kreisform des Schemas vollendete er, indem er den Sektor, der das durch die stärkste Brechung erzeugte violette Licht darstellt, an denjenigen anschließt, der das durch die schwächste Refraktion produzierte rote Licht repräsentiert (vgl. Abb. 54). Im Gegensatz zu G ­ oethes Farbenkreis ist derjenige Newtons unkoloriert. In Newtons Farbenkreis existiert im Unterschied zu ­Goethes Schema ein Zentrum: Der mit „O“ bezeichnete Mittelpunkt steht für das die Farbengesamtheit enthaltende Weiß. Die Genese des für seinen Farbenkreis errechneten Gravitationszentrums z, das Newton nach eigener Aussage aus den Schwerpunkten der graduellen Abstufungen innerhalb der einzelnen Farbsegmente gewinnt, ist heute ebenso schwer verständlich wie die von O durch z verlaufende, die Kreisperipherie im Punkt Y schneidende Gerade, die die Sättigung der jeweiligen Farbmischung anzeigen soll.120 Anders als Newton, der in seinen Farbkreis nur das Weiß als physikalische Summe aller Farben, nicht aber das Schwarz integriert, stellen der Mathematiker und Astro­ nom Tobias Mayer und der Physiker Johann Heinrich Lambert die sich durch die Zugabe von Weiß und Schwarz entwickelnden Aufhellungen und Verdunkelungen der

118 Vgl. Gage, Kulturgeschichte der Farbe, a. a. O., S. 162. Das älteste noch erhaltene Exemplar eines bildlichen Farbschemas entstammt dem naturwissenschaftlichen Bereich. Es entstand im 15. Jahrhundert und zeigt einen 20-stufigen Farbenkreis, welcher der Uroskopie diente und Rückschlüsse auf das Innenleben des menschlichen Körpers zuließ. Die Farben des Kreises fungierten als dia­ gnostische Vergleichswerte, die es den Ärzten ermöglichten, aus der Harnfarbe des Patienten auf die Spezifik seiner Erkrankung zu schließen. Als erstes in sich geschlossenes Farbsystem gilt die 1611 entwickelte Farbenkugel des schwedischen Mathematikers Aron Sigfrid Forsius. Ausgehend von den vier Farben Rot, Gelb, Grün und Blau, die er auf den Äquator der Kugel setzte, sowie Grau in deren Mittelachse, versuchte er, die beiden Parameter Farbton und Helligkeit miteinander zu verbinden, was ihm jedoch nicht stringent gelang. Erst der englische Arzt Francis Glisson entwarf 1677 ein kohärentes dreidimensionales Farbsystem, das auf den drei Einzelfarben Rot, Gelb und Blau basierte. Vgl. ebd., S. 162 und S. 168 – 169. 119 Zu Newtons mathematischer Beschreibung des Farbenspektrums vgl. ausführlich Kapitel 3.5 dieser Arbeit. 120 Vgl. Newton, Optik, a. a. O., Erstes Buch, Erster Teil, Proposition VI, Aufgabe 2, S. 99 – 102.

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Farben in einem dreidimensionalen System dar. Mayer baut zwar nach eigener Aussage seine einer Systematisierung der Malerfarben dienende Matrix auf der Physiologie des Auges auf, bedient sich letztendlich jedoch einer mathematischen Beweisführung. Basierend auf der empirischen Erkenntnis, dass das Auge sehr kleine Farbdifferenzen nicht unterscheiden kann, bemüht sich Mayer um eine Berechnung dieser Unterschiede. Er entwirft ein Farbendreieck, in dessen Spitzen sich die Grundfarben Rot, Gelb und Blau – Weiß und Schwarz zählt er nicht zu den eigentlichen Farben – befinden (vgl. Abb. 55). An den Dreiecksseiten verankert er jeweils elf zweifarbige Mischungen, auf der inneren Dreiecksfläche hingegen 55 dreifarbige, so dass das Dreieck insgesamt 91 Farben enthält. Auch wenn Mayer nicht müde wird zu betonen, dass das System so viele Farben enthält, „wie sich durch den Gesichtssinn noch unterscheiden lassen“,121 legitimiert er die Wahrnehmungsgrenzen dieser Differenzen analog zu 12-stufigen mathematischen Systemen in Musik und Architektur.122 Ausgehend von den Farben des Basisdreiecks entwickelt Mayer eine Doppelpyramide, deren obere Spitze weiß, die untere schwarz ist. Mit zunehmenden Weiß- bzw. Schwarzanteilen minimiert sich die Zahl der Seitenfarben zu den Spitzen hin. Diese Minimierung erklärt Mayer wiederum mit dem Wahrnehmungsvorgang, da die Farbunterscheidung mit zunehmender Aufhellung und Verdunkelung schwieriger werde.123 Mayers Korrektiv der Wahrnehmung durch das System der Mathematik erntet G ­ oethes entschiedene Kritik: „[…] soll man die Pigmente nach Maß oder nach Gewicht zusammenbringen? Beides kann hier nicht frommen. Alle Mischung der Pigmente zu malerischen Zwecken ist empirischästhetisch und hängt von Kenntnis der unterliegenden Körper und von dem zarten Gefühle des Auges ab. Hier, wie in allen Künsten, gilt ein geistreiches, inkalkulables Eingreifen in die Erfahrung.“ 124

Auf Mayers Farbendreieck bezieht sich Lamberts koloriertes Farbsystem, das dieser 1772 publizierte. Im Unterschied zu jenem beachtet Lambert – angeregt durch seine 121 Lang, Heinwig, Tobias Mayers Abhandlung über die Verwandtschaft der Farben 1758. Übersetzung des lateinischen Textes und eines Kommentars von G. Chr. Lichtenberg nebst Einleitung und Erläuterung zu den Texten, in: Die Farbe 28, Hefte 1/2 (1980), S. 1 – 34, hier S. 14. Mayers Abhandlung wurde postum 1775 von Georg Christoph Lichtenberg publiziert. 122 „Wie sowohl in der Architektur als auch in der Musik kaum größere Zahlen als die Zwölf zugelassen werden, da ja deren Verhältnis durch die bloßen Sinne kaum ausreichend wahrgenommen werden: so wird es auch wie in der Musik in der (Kunst) der Farben, die wir nicht unpassend als die allgemeine Malkunst ansprechen werden, erlaubt sein, sich auf die Zahl zwölf zu beschränken. Und da wir auf diese Weise zwischen zwei beliebigen einfachen Farben elf dazwischenliegende Mischungen erhalten werden, die mit dem Auge noch unterschieden werden können, werden wir die übrigen, die zwischen diese fallen, mit Recht ununterscheidbar nennen.“ Ebd., S. 12. 123 Vgl. ebd., S. 18 und S. 21. 124 LA I.6, S. 354 (Farbenlehre, Historischer Teil).

5.3  Die bildliche Ordnung des Farbenkreises

photometrischen Experimente – den Einfluss der Beleuchtung auf die Zahl der wahrnehmbaren Farbunterschiede, die mit zunehmender Dunkelheit geringer wird.125 In den Ecken von Lamberts Dreieck befinden sich wie in Mayers Schema die Grundfarben Rot, Blau und Gelb, die Seiten enthalten hingegen nur sieben Farbstufen, die gesamte Dreiecksfläche 45 Farben (vgl. Abb. 56). Auch Lambert misstraut letztendlich dem Augenschein. Um die Ausgewogenheit einer aus zwei Grundfarben erzeugten Mischung zu „beweisen“, misst er die Gewichte der Einzelfarben. Die Sinneswahrnehmung weckt jedoch Zweifel an der mathematisch legitimierten Gleichabständigkeit, da Lambert erkennen muss, dass Rot und Blau empfindungsgemäß enger zusammenliegen als Blau und Gelb. Dafür sind aus heutiger Sicht die Eigenhelligkeiten der Farben verantwortlich. Als Matrix wählt Lambert eine sich nach oben verjüngende Pyramide über dem Dreieck der Grundfarben, deren Spitze weiß ist. Das Schwarz setzt Lambert in die Mitte des Grunddreiecks, da er dieses und nicht das Grau als ausgewogene Mischung der Farben Rot, Gelb und Blau betrachtet. In diesem Schema kann – anders als in Mayers Doppelpyramide – das Schwarz durch völlige Aufhellung ins Weiße münden und negiert werden.126 Im Erscheinungsjahr von G ­ oethes Farbenlehre 1810 wurde eine weitere, heute noch breit rezipierte Matrix publiziert – die Farben-Kugel des Malers Philipp Otto Runge, dessen einschlägige Arbeiten G ­ oethe intensiv reflektierte. Ausgehend von seiner Profession zielt Runge auf eine ausschließliche Untersuchung der Pigmentfarben und die Eigengesetzlichkeit ihrer Verhältnisse, um daraus eine Künstlerfarbenlehre zu generieren. Dennoch ist dieser Zugang je nach Darlegungskontext von Analogien zu Mathematik und Mystik gleichermaßen durchwirkt. 125 Nach Lambert vermindern sich beispielsweise die bei Tageslicht wahrnehmbaren 30 Farbstufen bei Kerzenschein um die Hälfte. Zum Einfluss der Beleuchtung auf die Farbwahrnehmung vgl. Lambert, Johann Heinrich, Beschreibung einer mit dem Calauschen Wachse ausgemalten Farbenpyramide wo die Mischung jeder Farbe aus Weiß und drey Grundfarben angeordnet, dargelegt und derselben Berechnung und vielfacher Gebrauch gewiesen wird, Berlin 1772, S. 8 – 14. 126 Zur Entwicklung der Farbenpyramide vgl. ebd., S. 72 – 88. Auch die Farbmatrices, die ausdrücklich auf die Natur der Farben Rücksicht nehmen, orientieren sich nicht ausschließlich an phänomenalen Vorbildern, sondern beziehen sich auch auf bereits vorhandene Farbsysteme. Sein 1766 publiziertes Werk The Natural System of Colours bezieht der englische Entomologe und Kupferstecher Moses Harris ausdrücklich auf die Malerfarben, knüpft jedoch an Newtons Farbentheorie an, wenn er „no other colour but those shewn in the Prism“ gelten lässt. In einem ersten mit Prismatic bezeichneten Farbenkreis setzt er die Grundfarben Rot, Gelb und Blau, die er als „the greatest opposites in quality to each other“ betrachtet, im Abstand von 120° zueinander. Zwischen jede dieser Farben fügt Harris fünf Mischungen ein. Vom Kreisäußeren zum Kreisinneren hin stellt er in 20 konzentrischen Stufen die Sättigung jeder dieser qualitativ verschiedenen Farben dar. In einem zweiten, mit Compound betitelten Farbenkreis ordnet er analog zum ersten Kreis die aus jeweils zwei Grundfarben gemischten Sekundärfarben Orange, Grün, Purpur und ihre weiteren Mischungen an. Vgl. Harris, Moses, The Natural System of Colours, o. A. 1766 (= A Facsimil Edition of What Is Perhaps the Rarest Known Book in the Literatur of Color, ed. by Faber Birren, New York 1963), Zitate S. 4 und S. 5.

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Die Notwendigkeit von Farbgesetzen begründet Runge aus der Kritik an der primär auf die Wirkungsästhetik ausgerichteten Zeichnung. Deren Perspektiv-, Proportions- und Beleuchtungsgesetze seien nur auf die Visualisierung, nicht aber auf den Eigenwert des Dargestellten ausgerichtet. Distanziert sich Runge zwar von Newtons Physik, welche die Farben nach seiner Meinung lediglich als Resultate des Lichts, nicht jedoch in ihrer Eigenständigkeit auffasst, hofft er dennoch auf die Übereinstimmung seiner Ergebnisse mit denjenigen des Engländers. Seine Farbenkugel gewinnt Runge wie Mayer und Lambert durch die Zuhilfenahme geometrischer Figuren. Um die unterschiedlichen, doch gleichberechtigten Qualitäten der auch von ihm postulierten drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau darzustellen, ordnet Runge sie ebenfalls an den Eckpunkten eines gleichseitigen Dreiecks an. In der Mitte jeder Seite verortet er den Gleichgewichtspunkt der reinen, aus jeweils zwei gleichen Anteilen bestehenden Mischfarben Violett, Grün und Orange.127 Obwohl er an anderer Stelle das Dreieck als sakrales Symbol der Dreieinigkeit betrachtet,128 scheinen auch Bezüge zur Mathematik auf, indem er die „so gesetzten ganz mischungsfreien Farbenpunkte“ als „eine Analogie mit dem dimensionslosen mathematischen Punkte“ ansieht.129 Aus der kreisförmigen Verbindung aller sechs Punkte 130 entwickelt Runge einen Farbenkreis, den er durch die Integration von Weiß und Schwarz analog dem Globus zu einer Kugel ausbaut. Die sechs Kreissegmente erweitert Runge ohne nähere Begründung auf zwölf und setzt sie als intensivste Farben an den Äquator (vgl. Abb. 57). Sie hellen sich zum weißen Nordpol hin auf, zum schwarzen Südpol zu werden sie dunkler. Genau im Mittelpunkt der Kugel liegt das Grau als ausgewogene Mischung aller drei Grundfarben und eines ausgeglichenen Weiß-Schwarz-Anteils. An diesem Punkt werden die individuellen 127 Vgl. Runge, Philipp Otto, Farbenkugel. Konstruktion des Verhältnisses aller Mischungen der Farben zueinander und ihrer vollständigen Affinität. Mit Notizen zur Farbe und dem Briefwechsel mit G ­ oethe, Köln 1999, S. 9 – 15. 128 Vgl. Philipp Otto Runge an seinen Bruder Daniel am 7. November 1802 und an Friedrich August von Klinkowström am 13. Januar 1809, in: Philipp Otto Runge. Hinterlassene Schriften, hg. v. dessen ältestem Bruder, 2 Teile, Göttingen 1965 (= Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1840 – 1841), Erster Teil, S. 17 und S. 172 – 173. 129 Runge, Farbenkugel, a. a. O., S. 12. Auf die Kugelform der Darstellung brachte Runge der dänische Naturphilosoph Henrik Steffens, der sich intensiv mit G ­ oethes frühen optischen Schriften beschäftigt hatte. Vgl. Philipp Otto Runge an Henrik Steffens im März 1809, in: Runge. Hinterlassene Schriften, a. a. O., Erster Teil, S. 146 sowie ebd., Zweiter Teil, S. 504. Steffens’ eigener Beitrag Über die Bedeutung der Farben in der Natur, den er in Runges Schrift Farbenkugel mitpublizierte, wurde im Gegensatz zu dieser kaum von der Fachöffentlichkeit reflektiert. 130 Obwohl Runge ausdrücklich Newtons wissenschaftliche Erklärung der Farbentstehung ausklammert, versucht er, vermutlich nach den in der Einleitung für möglich erklärten Übereinstimmungen der Ergebnisse, die sechs reinen Farben und ihre Mischungen mit den sieben newtonischen Spek­ tralfarben zu verbinden, indem er das Violett in ein rötliches und ein bläuliches teilt. Vgl. ebd., S. 11 und S. 17.

5.3  Die bildliche Ordnung des Farbenkreises

Farbqualitäten in die Indifferenz ihrer „bloßen Quantitäten“ 131 überführt. Aufgrund ihrer kubischen Form rechtfertigt Runge diese Figur als alleinige Farbenmatrix, die als „Generaltabelle“ 132 mehrere Darstellungssysteme verbindet. Auch wenn Runge sein Farbsystem für die künstlerische Anwendung entwickelt, greift er zur Legitimierung seiner Matrix auf die Naturwissenschaft zurück. So beschreibt er die Farbenkugel nicht als „Kunstproduct“, sondern als „eine mathematische Figur von einigen philosophischen Reflexionen“, bemüht sich jedoch, wegen seiner Rolle als Künstler diesen naturwissenschaftlichen Zugang unbeachtet zu lassen.133 Der Farbenkugel, die nach den gleichen Prinzipien strukturiert wurde wie ­Mayers Doppelpyramide, stand G ­ oethe wie dessen und auch Lamberts dreidimensionaler Matrix kritisch gegenüber. Thematisiert er für die praktische künstlerische Anwendung der Pigmentfarben durchaus eine potentiell unendliche Mischbarkeit der sechs Farben seines Kreisschemas und deren Mischung mit Schwarz, Weiß, Braun und Grau, hält er jene Farbsysteme für ästhetisch unzureichend. Er betrachtet die Bemühungen um die dreidimensionalen Farbmatrices mit Runges Farbenkugel als „völlig abgeschlossen“.134 Im Anhang der Farben-Kugel untersucht Runge genau wie ­Goethe die Harmoniegesetze der Farben. Die Art der spezifischen Zusammenstellungen begründet er mit den Kräfteverhältnissen bzw. dem Mischungsverhalten der Einzelfarben und ihren Gesamtwirkungen auf den Gesichtssinn. Das farberzeugende Potential des Auges diskutiert er nicht. Runges Studie basiert auf den sechs Farben des einfachen Farbenkreises, die er nach ihren unterschiedlichen Lageverhältnissen im Schema zusammenstellt. Den einander gegenüberliegenden Farben, die mit den Komplementärfarben identisch sind, attestiert er ebenso wie G ­ oethe eine harmonische Wirkung; diese Farben heben sich in der Mischung gegenseitig auf, indem sie Grau erzeugen. Die drei Gruppierungen der Grundfarben Rot, Gelb und Blau haben nach seiner Ansicht eine disharmo­nische Wirkung, da sie das Auge mehr reizen als entspannen. Ihre Mischungen bringen neue Farbqualitäten hervor. Als monotone Zusammenstellungen bezeichnet Runge all diejenigen Farben, die im Farbenkreis, aber auch im Regenbogen nebeneinander liegen und in ihren Wirkungen einander zustreben. Darüber hinaus macht er auch indirekte harmonische Kontraste aus. Sie werden jeweils durch die Gruppierung von zwei Farben, die keine Grundfarben sind, erzeugt, zwischen denen im Farbenkreis eine 131 Ebd., S. 20. 132 Ebd., S. 23. 133 Vgl. Philipp Otto Runge an seinen Bruder Gustav am 22. November 1808, in: Philipp Otto Runge. Hinterlassene Schriften, hg. v. dessen ältestem Bruder, a. a. O., Zweiter Teil, S. 372. 134 Vgl. LA I.4, § 551, S. 170, § 611, S. 183 – 184 sowie § 854, S. 242 – 243 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). Vgl. LA  I.6, S. 357, Zitat ebd. (Farbenlehre, Historischer Teil). Hier behandelt G ­ oethe Runges Farbsystem gemeinsam mit denjenigen Mayers und Lamberts. Vgl. zum gesamten Absatz Pietsch, Gesetze der Farbe um 1800, a. a. O., S. 59.

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ausgelassen wurde. Am Ende seiner Untersuchung erweitert Runge die harmonischen Wirkungen auf alle Farbenpaare der Kugeloberfläche, deren Verbindungslinie durch den Graupunkt in ihrem Inneren führt. Damit zählt er zur Farbharmonie nicht nur die Buntfarben-, sondern auch die Hell-Dunkel-Kontraste.135 Im Schema der Farbenkugel lässt Runge die Farbsättigung unberücksichtigt, thematisiert sie jedoch in verschiedenen Briefen und kurzen Schriften, in denen er die Wirkung von lasierenden und deckenden Pigmenten analysiert. Die Polarität von Weiß und Schwarz weist er den deckenden, Hell und Dunkel den Lasurfarben zu. Da die deckende Farbe nach Runge nur die Oberflächen erkennen lässt und an diese gebunden ist, deutet sie in ihrem statischen Charakter auf die Form eines Gegenstandes. Die durchsichtige Farbe hingegen gestattet Rückschlüsse auf die Pigmentbeschaffenheiten und verweist damit auf den Stoff. Sie lässt nach Runge sowohl Qualität als auch Quantität erkennen und erscheint dynamisch, da sie sich mit veränderter Quantität des Materials modifiziert. Mit dieser Auffassung verlagert er die sich traditionell im Widerstreit von Farbe und Linie ausdrückende Differenz von Materie und Form ausschließlich in die Farbe, in der sich diese Unterscheidung unter veränderter Prämisse im Dualismus durchsichtig – undurchsichtig äußert. Die Materialität der Farbe transzendiert Runge symbolisch, indem er die durchsichtige Farbe mit dem Göttlichen, die deckende mit dem Irdischen gleichsetzt. Durchsichtiges und Undurchsichtiges besitzen nach Runges Auffassung „ein Verhältniß gegeneinander wie Ideales und Reales“.136 Bereits in einem Brief vom 3. Juli 1806 an ­Goethe hatte Runge einen sechsfarbigen Kreis entworfen, der mit G ­ oethes Farbmatrix, die Rot im Norden enthält, identisch war. Diese Ausrichtung der Farben verwarf Runge jedoch in seinem Werk Farben-Kugel wieder. Trotz seiner Kritik an dreidimensionalen Farbsystemen – in o. g. Brief hatte Runge bereits für die sechs Farben der Matrix Mischungen mit Weiß und Schwarz vorgeschlagen – setzt ­Goethe dessen Beschreibung als Bestätigung und Fortführung seiner eigenen Lehre ans Ende des didaktischen Teils, um auf diese Weise die Unterstützung eines gleichgesinnten Zeitgenossen und nicht wie bisher der bereits

135 Vgl. Runge, Farbenkugel, a. a. O., S. 26 – 42. Vgl. auch Matile, Farbenlehre Runges, a. a. O., S. 173 – 184, besonders S. 173 – 175. In Runges Zweier-Farbgruppierungen entspricht die harmonische auch ­Goethes harmonischer Zusammenstellung, die disharmonische und die indirekte harmonische zusammen ­Goethes charakteristischer und die monotone der ­goetheschen charakterlosen Gruppierung. 136 Runge, Philipp Otto, Rubriken zu Abhandlungen, den 2. Dezember 1809, in: Runge, Hinterlassene Schriften, a. a. O., Erster Teil, S. 164. Vgl. hierzu auch die Interpretation von Rehfus-Dechêne, Farbengebung und Farbenlehre um 1800, a. a. O., S. 116 – 117. Die Autorin bescheinigt Runges Schema ein klassizistisches Erbe. Die „strengen“ Klassizisten verwendeten die Farbe als Gegenstands- bzw. Lokalfarbe, die romantischen bzw. empfindsamen Klassizisten hingegen benutzten Lasurfarben. Ordneten die Klassizisten den Eigenwert der Farbe der Linie unter, wertet Runges Konzept der durchsichtigen und undurchsichtigen Farben diesen auf.

5.3  Die bildliche Ordnung des Farbenkreises

Verstorbenen zu demonstrieren.137 Beide Männer hatten sich im November 1803 in Weimar getroffen und zwischen 1806 und 1810 brieflich über die Gesetze der Farben ausgetauscht. Während Runge ­Goethe mehrfach von seinen Studien berichtete, äußerte sich dieser jedoch kaum über seine Forschungen.138 Behauptet ­Goethe in den einleitenden Worten zu Runges im didaktischen Teil wiedergegebenem Brief, Runge sei von seinen detaillierten Farbstudien nicht unterrichtet gewesen, hätte aber ähn­ liche Erkenntnisse wie er gewonnen, ist diese Aussage sicherlich richtig, muss aber in einen umfassenderen Kontext gestellt werden. In den Farbschemata beider Männer ist unstreitig der Einfluss der Farbentheorie des Malers und Kunsttheoretikers Anton Raphael Mengs zu erkennen, der in seinem Werk Lezioni prattiche di pittura nach „sichern und bestimmten Regeln“ in der freien Kunst der Malerei suchte. In diesen praktischen Ratschlägen, die ­Goethe und auch Runge rezipiert hatten, betrachtet er die Farbgebung als bevorzugtes Gestaltungsmittel der Malerei, als deren Ziel er die „Nachahmung der Wahrheit“, d. h. der sichtbaren Gegenstände festlegt.139 Mengs entwirft keine bildliche Matrix der Farben, sondern beschreibt lediglich ein Schema, in dem er linear Gelb, Rot und Blau, die er als reine, „ursprüngliche Farben“ betrachtet, entsprechend ihren Eigenhelligkeiten zwischen Weiß und Schwarz anordnet.140 In seinem Anspruch, die Regeln für die Harmonie der Farbgebung zu finden, setzt Mengs analog zu musikalischen Harmonien auf die Wirkungsästhetik, nicht aber auf die Quantifizierung der Farben: „Harmonie herrscht wohl nur in solchen Dingen, die ein Maass haben, sey dies in Hinsicht auf Zeit, Grösse und Ausdehnung, oder in solchen, die irgend einer Ausmessung fähig sind. Um also Harmonie in die Farben zu bringen, müsste man jeder Farbe ein bestimmtes Maass geben; dies ist aber beinahe unmöglich; denn wenn man alle Grade der Refractionswinkel,

137 Vgl. LA I.4, S. 259 – 260 (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Philipp Otto Runge an G ­ oethe am 3. Juli 1806). Vgl. G ­ oethes Aussage dazu: „Wie angenehm ist mir’s, daß ich auch unter den Gleichzeitigen Gleichgesinnte nennen kann, die ich bisher nur unter den Abgeschiedenen aufsuchen mußte.“ WA IV,21, S. 119 (­Goethe an Philipp Otto Runge am 18. Oktober 1809). Vgl. auch die Analyse von Gage, John, Die Sprache der Farben. Bedeutungswandel der Farbe in der bildenden Kunst, Ravensburg 1999, S. 169 – 176, besonders S. 173. 138 Als mögliche Gründe für ­Goethes Zurückhaltung verweist Matile auf dessen Wunsch, Runge möge seinen eigenen Weg gehen, sowie auf G ­ oethes Überzeugung, sich brieflich nicht ausführlich genug über seine eigene Farbenlehre äußern zu können. Stattdessen schlug G ­ oethe Runge in einem Brief vom 23. Juli 1808 vor, eine längere Zeit nach Weimar zu kommen, damit sich beide über ihre Farbentheorien austauschen können. Vgl. WA IV,20, S. 120. Vgl. Matile, Farbenlehre Runges, a. a. O., S. 221. 139 Beide Zitate in der aufgeführten Reihenfolge in: Anton Raphael Mengs’ sämmtliche hinterlassene Schriften. Gesammelt, nach den Originaltexten neu übersetzt und mit mehreren Beilagen und Anmerkungen vermehrt, hg. v. G. Schilling, 2 Bde., 2. Bd., Bonn 1844, S. 3 und S. 11. 140 Vgl. ebd., S. 30 – 37, Zitat S. 11.

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welche der Lichtstrahl im Prisma bildet, zählen wollte, so würde dazu ein Studium nöthig seyn, das der Malerei gänzlich fremd, und dem Maler auch vollkommen unnütz wäre. Unter Harmonie verstehen wir in der Kunst hauptsächlich dasjenige, was man im Italienischen mit Accordo – Uebereinstimmung – bezeichnet, wodurch in der Malerei dieselbe Wirkung hervorgebracht wird, wie in der Musik durch die Harmonie. […] Harmonie ist in der Malerei die Wirkung, welche das Ganze den Augen gefallen macht, wie die Harmonie in der Musik das Ganze den Ohren.“ 141

Nachweislich ist Mengs der erste, der auf eine Harmonie der Gegenfarben hinweist.142 Einen ausgewogenen Eindruck erzeugen in seiner Theorie diejenigen, später als Komplementärfarben bezeichneten Paare, die ­Goethe und Runge als harmonische Zusammenstellungen beschreiben. Die Ordnung der Farbgruppierungen begründet Mengs mit den Mischungsgesetzen der Pigmentfarben. Einer reinen Farbe stellt er immer eine Mischfarbe aus den zwei anderen reinen Farben gegenüber.143 Auch Mengs suchte bereits nach physiologischen Begründungen für die Farbharmonien, benutzte allerdings ein passives Wahrnehmungsmodell. Er geht davon aus, dass „die Annehmlichkeit und Schärfe der Farben von der natürlichen Würkung abhängen, die sie in unsern Augen und Sehnerven verursachen“.144 Erst G ­ oethe, der an Mengs kritisiert, Farbharmonien entworfen zu haben, „ohne […] ihren physiologischen Grund einzusehen“,145 wird die Komplementärfarben unter ausdrücklichem Bezug auf die aktiv vom Auge erzeugten Farben im Kreisschema diametral anordnen. Sechs verschiedenfarbig kolorierte Segmente zeigen in G ­ oethes ikonischer Matrix die gesetzmäßige Ordnung der Farben. Der einzige publizierte kolorierte Farbenkreis ist als Figur 1 der Tafel I des der Farbenlehre beigefügten Tafelwerks zu finden (vgl. Abb. 8). ­Goethe bezeichnet ihn als das „einfache, aber doch zur Erklärung des allgemeinen Farbenwesens völlig hinreichende Schema“.146 Obwohl sich G ­ oethes Interpretationen dieser Matrix im Laufe seiner Studien immer wieder verschieben, bleibt das grundlegende Schema unverändert erhalten, das mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Mengs’ Lehre von den Farbharmonien beeinflusst wurde. Die früheste Matrix entwirft ­Goethe in der Vorarbeit Über die Einteilung der Farben und ihr Verhältnis gegen einander, die er vermutlich 1793 im Lager von Marienborn schrieb und in der er – wie Mengs – primär Pigmentmischungen analysiert. Bereits dieses Schema strukturiert er, anders als Newton seinen Farbenkreis, symmetrisch. 141 Ebd., S. 42. 142 Vgl. zur kunsthistorischen Einordnung von Mengs’ Farbmodell Matile, Farbenlehre Runges, a. a. O., S. 239. 143 Vgl. Mengs’ sämmtliche hinterlassene Schriften, a. a. O., S. 41. 144 Ebd., S. 38. 145 LA I.6, S. 389 (Farbenlehre, Historischer Teil). 146 LA I.7, S. 43 (Farbenlehre, Erklärung der Tafeln).

5.3  Die bildliche Ordnung des Farbenkreises

Wie im späteren kolorierten Kreis befinden sich Purpur im Norden, Grün im Süden, die warmen Farben Orange und Gelb im Westen, die kalten Farben Violett und Blau im Osten (vgl. Abb. 6). Dieses Schema fungiert als ikonisches Kompendium, das die zuvor erläuterten Gesetze der Farbmischungen auf einen Blick zusammenfasst. In ihm sind lediglich die Farbbezeichnungen durch Linien miteinander verbunden. Betrachtet G ­ oethe bereits im ersten Stück der Beiträge zur Optik, in dem er – dem zeitgenössischen Forschungsstand geschuldet – für Pigment- und Prismenfarben ein allgemeingültiges Mischungsgesetz annimmt,147 Gelb und Blau als die einzigen reinen Grundfarben, wiederholt und bestärkt er diese Auffassung in der Einteilung.148 Das aus beiden Farben gemischte Grün bezieht er hier ebenso auf die Pigmentfarben wie das Rot, das nach seiner Theorie durch Verdichtung stofflicher Teilchen aus den Farben Gelb und Blau entsteht und das er nicht als eigenständige Farbe betrachtet. Das Purpur hingegen kann nach seiner Auffassung sowohl bei Prismen-, als auch Pigmentfarbenmischungen entstehen. Diese von ­Goethe am höchsten geschätzte Farbe wird durch das Zusammentreffen des im Gelbrot (Orange) verdichteten Gelb und im Blaurot (Violett) verdichteten Blau erzeugt – ein Vorgang, den er nicht näher erläutert: „Es ist der Purpur, der so viele Nuancen haben kann, als es Übergänge vom Gelbroten zum Blauroten gibt. Die Vermischung geschieht am reinsten und vollkommensten bei prismatischen Versuchen; die Chemie wird uns die Übergänge sehr interessant zeigen.“ 149 Auch wenn ­Goethe die Einteilung allgemein an „Naturfreunde“ 150 adressiert, enthalten die Erklärungen primär ästhetische Argumente, in die sich – wie o. a. Zitat zeigt – auch physikalische und chemische Ansätze mischen. Ausdrücklich betont ­Goethe die Universalgültigkeit der Farbmatrix, deren Generalität er durch einen hohen Abstraktionsgrad verständlich zu machen hofft: „Da wir uns hier bemühen, das Reinste, Abstrakteste, was auf alle Fälle anwendbar sein sollte, darzustellen, so haben wir uns alles desjenigen zu enthalten, was unser Schema verunreinigen, es komplizieren und unsicher machen könnte.“ 151 Die hier beschriebene Ordnung der Farben erweitert G ­ oethe in der ebenfalls 1793 entstandenen Vorarbeit Versuch die Elemente der Farbenlehre zu entdecken um die Analyse der unbunten Farben Weiß, Schwarz und Grau. Dieser Aufsatz gilt als erste thematisch in sich geschlossene Schrift seiner Farbstudien. Das zuvor entworfene Farbschema der Einteilung erscheint trotz dieser Erweiterung in gleicher Gestalt, da ­Goethe 147 Vgl. exemplarisch dafür folgende Aussage ­Goethes: „Wenn wir nun auf diese Weise farbige Körper und Pigmente teils finden, teils bereiten und mischen können, welche die prismatischen Farben so ziemlich repräsentieren, […].“ LA I.3, § 29, S. 15 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück). 148 Vgl. ebd., § 30, S. 15 sowie LA I.3, S. 137 (Über die Einteilung der Farben und ihr Verhältnis gegen einander). 149 LA I.3, S. 138 (Über die Einteilung der Farben und ihr Verhältnis gegen einander). 150 Ebd., S. 136. 151 Vgl. ebd., S. 136 – 139, Zitat S. 139.

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5.  Kolorierte Augenblicke – Die Zeichnungen zu ­Goethes Farbstudien

die unbunten Farben nicht zu den eigentlichen Farben zählt. Auf eine Ausfertigung dieses Aufsatzes, die er am 29. Dezember 1793 an Lichtenberg schickt, setzt er einen kolorierten Farbenkreis, der mit hoher Wahrscheinlichkeit die erste farbige Matrix war, die in seinen Studien entstand (vgl. Abb. 58).152 Anders als das sechs Farben darstellende lineare Schema zeigt dieser kolorierte Kreis zu Veranschaulichungszwecken zahlreiche Farben, die ineinanderwirken, nicht aber in Einzelsegmente gesetzt wurden. Auch in diesem Aufsatz widmet sich G ­ oethe hauptsächlich den Pigmentmischungen. Obwohl er sich in der Entstehungszeit der Schrift intensiv mit der physiologischen Aktivität des Auges beschäftigt, reflektiert er diese noch nicht als eigenständigen Untersuchungsgegenstand. Noch skizziert er das Auge als das lediglich „die reizende Energie“ 153 der farbigen Körper empfangende Organ. Im Jahre 1798 entwickeln ­Goethe und Schiller einen Farbenkreis, dessen Struktur sie über die Koinzidenz von ästhetischem Eindruck und naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen generieren (vgl. Abb. 59). Sie teilen die Farbempfindungen nach dem Plus- und Minuspol eines Stabmagneten: Das als positiv und warm empfundene Gelb wird dem Plus-, das als negativ und kalt empfundene Blau dem Minuspol zugeordnet. Diese Dualität erweitern beide Männer um den Verlauf der Farbensäume, die sie aneinandergefügt zum Kreisschema verbinden. Da ­Goethe zu diesem Zeitpunkt das Schema des Farbenkreises bereits ausgearbeitet hatte, sollte diese Zeichnung eher die Universalität des Polaritätsprinzips verdeutlichen, das in Magnetismus und Farbent­ wicklung gleichermaßen wirkt, als die Gesetze der Farbentstehung selbst. Im Hauptwerk der Farbenlehre verschiebt sich die Interpretation des kolorierten Kreisschemas endgültig. Im Gegensatz zu den noch in den Vorarbeiten erläuterten Entwicklungsgesetzen der Pigment- und Prismenfarben dienen nun die physiologisch erzeugten Komplementärfarben als Erklärungsgrundlage der Matrix: „Um in der Kürze zu bemerken, welche Farben denn eigentlich durch diesen Gegensatz [den komplementären – S. Sch.] hervorgerufen werden, bediene man sich des illuminierten Farbenkreises unserer Tafeln, der überhaupt naturgemäß eingerichtet ist, und auch hier seine guten Dienste leistet, indem die in demselben diametral einander entgegengesetzten Farben diejenigen sind, welche sich im Auge wechselsweise fordern. So fordert Gelb das Violette, Orange das Blaue, Purpur das Grüne und umgekehrt. So fordern sich alle Abstufungen wechselsweise, die einfachere Farbe fordert die zusammengesetztere, und umgekehrt.“ 154

Allein die vom Auge erzeugten Farben benutzt ­Goethe zur Legitimierung der Struk­tur des Schemas, nicht aber mathematische Berechnungen und Bezüge zum 152 Vgl. LA  II.3, S. 71 (­Goethe an Georg Christoph Lichtenberg am 29. Dezember 1793). Vgl. auch LA II.3, S. 258. 153 LA I.3, § 32, S. 200 (Versuch die Elemente der Farbenlehre zu entdecken). 154 LA I.4, § 50, S. 38 (Farbenlehre, Didaktischer Teil).

5.3  Die bildliche Ordnung des Farbenkreises

Notationssystem der Musik wie Newton, Mayer und Lambert. Hier werden die Farben der Außenwelt und die physiologischen Farben, die sich zu einem Gemälde auf der Netzhaut vereinigen, in den sechs Segmenten des Kreisschemas auf ihre elementare Ordnung zurück- und simultan vor Augen geführt. G ­ oethes wahrnehmungstheoretische Begründung ist jedoch nicht frei von kunsttheoretischen Argumenten, die den Einfluss von Mengs’ Farbentheorie und des durch sie geprägten spätklassizistischen Harmoniebegriffs erkennen lassen:155 Einerseits legitimiert ­Goethe die auf Gemälden entworfenen Farbharmonien mit der Aktivität des Auges, das auf einen einseitigen Reiz die komplementäre Farbe hervorbringt – eine Aktivität, die er als „Grundgesetz aller Harmonie der Farben“ 156 bezeichnet. Diese Harmonie rechtfertigt er andererseits mit der paarweisen Zusammenstellung einer einfachen und einer gemischten Farbe und gerät so argumentativ in den Anwendungsbereich der Künstlerfarben. Dienen ­Goethe in diesem Kontext die Farbgruppierungen und Pigmentmischungen lediglich als supplementäre Erklärung der physiologisch erzeugten Farbenpaare, begründet er im Prinzip der Totalität die physiologischen Vorgänge kunsttheoretisch. Die Totalität steht nach G ­ oethe im Farbenkreis für die Gesamtheit der harmo­nischen Farbenpaare. Sie ist deshalb gegeben, weil jedes physiologisch erzeugte Komplementärfarbenpaar alle drei Grundfarben enthält, die als Grundfarben der Maler gelten: „Das Auge verlangt […] ganz eigentlich Totalität und schließt in sich den Farbenkreis ab. In dem vom Gelben geforderten Violetten liegt das Rote und Blaue, im Orange das Gelbe und Rote, dem das Blaue entspricht; das Grüne vereinigt Blau und Gelb und fordert das Rote, und so in allen Abstufungen der verschiedensten Mischungen. Daß man in diesem Falle genötigt werde, drei Hauptfarben anzunehmen, ist schon früher von den Beobachtern bemerkt worden.“ 157

Die harmonisch wirkenden Komplementärfarben setzt G ­ oethe im Kreisschema jeweils diametral und erzielt mit dieser größten Differenz im Bild ein ikonisches Gleichgewicht. Als Gruppierungen mit einer charakteristischen Wirkung begreift er diejenigen Farben im Kreis, zwischen denen jeweils eine ausgelassen wird. Sie besäßen zwar einen „gewissen Ausdruck“, erzeugten aber keinen ausgewogenen Eindruck.158 Wie

155 Vgl. Rehfus-Dechêne, Farbengebung und Farbenlehre, a. a. O., S. 39 – 40. 156 LA I.4, § 807, S. 233 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 157 Ebd., § 60, S. 42. 158 Vgl. ebd., §§ 816 und 817, S. 235, Zitat § 817. Beschreibt G ­ oethe im § 816 des didaktischen Teils zwar alle Farbgruppierungen als charakteristisch, zwischen denen eine Mittelfarbe ausgelassen wird, betrachtet er bei ihrer konkreten Aufführung alle betreffenden Farbenpaare nicht, die Grün enthalten. Wie oben aufgeführt, begreift ­Goethe all dasjenige als charakteristisch, was als Teil aus einem Ganzen heraustritt, ohne sich darin aufzulösen. Vgl. ebd., § 817. Das Grün ist in seinem Farbkonzept jedoch die einzige Einzelfarbe, die in ihrer Ausgangsposition bereits eine Mischfarbe ist und

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Birgit Rehfus-Dechêne darlegt, wurde die Zusammenstellung dieser Farben von den im „konventionellen“ Klassizismus angewendeten Farbkombinationen beeinflusst, der die zu starken Kontraste der harmonischen Farben ablehnte.159 Die im Kreis direkt nebeneinander liegenden Farben beschreibt ­Goethe als charakterlose Zusammenstellungen, da sie aufgrund ihres ähnlichen Effekts keine Bedeutung für den Betrachter haben.160 Nicht nur in die Harmonielehre der Farben, sondern auch in das gesamte Kreisschema integriert ­Goethe die Hell-Dunkel-Werte bzw. die unbunten Farben Weiß und Schwarz nicht. Anders als Mayers, Lamberts und Runges Farbsysteme ist seine Matrix kein dreidimensionales Schema, da sie neben der Farbhelligkeit auch die Farbsättigung nicht berücksichtigt, obwohl G ­ oethe diese Kriterien in der praktischen Anwendung 161 für Maler thematisiert. Ist ­Goethes physiologisch begründete Struktur des Farbenkreises einerseits stark von der spätklassizistischen, durch Mengs’ Harmonielehre der Farben beeinflussten Kunsttheorie geprägt, gelingt G ­ oethe anders als diesem gerade durch die Rückbindung der Farbharmonien an die Aktivität des Auges, seine Harmonielehre naturwissenschaftlich zu legitimieren. Wie Annik Pietsch aus kunsthistorischer Perspektive herausarbeitete, erstellte ­Goethe über diesen Zugriff neben Runge, der sich allerdings primär auf die objektive Ebene der Pigmentmischungen bezog, die erste Harmonielehre der reinen Farben, die gegenstandslos anwendbar war. Beide Farbforscher begrenzen die Zahl der brillanten Farben ebenso wenig wie ihren Einsatz auf besondere Bildgegenstände. Beide binden sie konzeptionell nicht in ein übergegenständliches Hell-Dunkel ein, wie Mengs es tat. Wie die Forscherin zeigt, transferierte ­Goethe in diesem Kontext die Medialität des trüben Mittels, das er in zahlreichen Beobachtungen und physikalischen Refraktionsexperimenten untersuchte, in seine kunstpraktischen Hinweise für Maler. Er fordert bei der Erstellung von Gemälden eine Separierung der Farben vom Hell-Dunkel, indem er rät, dessen Untermalung in lediglich drei Stufen (Licht – Mitteltinte – Schatten) anzulegen. Die Übermalung soll in Lasurfarben erfolgen, die durch die durchscheinenden Untergründe belebt oder gedämpft erscheinen, so dass die Farben selbst nicht durch das Zugeben von Weiß oder Schwarz „gemischt oder beschmutzt“ werden.162 Der konzeptuellen Zusammenführung von Pigment- und Lichtfarben in der Medialität des trüben Mittels zum Trotz bemüht sich ­Goethe in seinem Farbenkreis – wie ein Vorläufer von Helmholtz anmutend – um die separierte Darlegung ihrer jeweiligen Grundfarben. Helmholtz stellte in seiner 1852 erschienenen Habilitationsschrift deshalb in anderen Farben des Kreises (Gelb und Blau) auf besondere Weise aufgeht. Hierin könnte ein möglicher Grund für die Nichtaufführung der Grün enthaltenden Farbgruppierungen liegen. 159 Vgl. Rehfus-Dechêne, Farbengebung und Farbenlehre, a. a. O., S. 40. 160 Vgl. LA I.4, §§ 826 und 827, S. 237 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 161 Zu ­Goethes praktischen Empfehlungen für die Malerei vgl. Kapitel 6 dieser Arbeit. 162 Vgl. LA I.4, §§ 902 – 905, S. 252 – 253, Zitat § 904, S. 252 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). Vgl. Pietsch, Gesetze der Farbe um 1800, a. a. O., S. 58 und S. 60.

5.3  Die bildliche Ordnung des Farbenkreises

als Erster heraus, dass Pigment- und Lichtfarben jeweils eigenen Mischungsgesetzen unterliegen: Die Mischung aller Lichtfarben ergibt – wie bereits Newton erkannte – durch die Häufung der Lichter weiß (additive Farbmischung), die Mischung aller Pigmentfarben durch die wechselseitige Löschung ihrer spezifischen Farbtöne Grau (subtraktive Farb­mischung). Im Zuge zahlreicher einschlägiger Experimente entdeckte Helmholtz, dass die Lichtfarben mit Rot, Grün und Violett auf anderen Grundfarben basieren als die Pigmentfarben, die – wie lange zuvor in zahlreichen Künstlerfarbenlehren festgehalten – aus den einfachsten Elementen Rot, Gelb und Blau gemischt werden.163 Im Gegensatz zu Helmholtz’ systematisch erarbeiteter und experimentell gestützter Unterscheidung mutet ­Goethes Differenzierung eher willkürlich an: Er definiert zeitgenössisch geprägt Gelb, Blau und Rot als die drei Grundfarben der Maler, postuliert jedoch lediglich Gelb und Blau als Grundfarben der Physiker.164 Es sind diejenigen Farben, die ­Goethe bereits im ersten Stück der Beiträge zur Optik allgemein als die beiden reinen Grundfarben auffasste. Beide Farbarten, Pigment- wie physikalische Farben, führt er jedoch letztendlich über die universalen naturphilosophischen Prinzipien von Polarität und Steigerung wieder zusammen.165 Das Polaritätsprinzip nutzt er dazu, Gelb und Blau per Analogienbildung mit unterschiedlichen chemischen Eigenschaften und psychologischen Wirkungen zu konnotieren. So ordnet er dem Gelb beispielsweise eine aktive Wirkung und die Verwandtschaft mit den Säuren, dem Blauen Passivität und eine Verwandtschaft mit den Alkalien zu.166 Das der Polarität implizite Ausgleichsprinzip sieht ­Goethe in der ausgewogenen Farbmischung des Grünen symbolisiert, die in ihrer Entstehung aus dem Gelben und Blauen sowohl bei Prismen- als auch Pigmentfarben zu finden ist. In seiner reinen Form erscheint das Grün jedoch als häufigste Farbe der Natur. Die Entwicklung des Purpurs als „höchster Punkt der ganzen Erscheinung“ 167 erklärt ­Goethe wie in der Einteilung als eine Intensivierung, eine Verdichtung des Gelben zu Orange und des Blauen zu Violett, die sich wiederum durch Überlagerung zum Purpur vereinigen. Er beschreibt diesen Prozess jedoch nicht mehr mit dem Begriff der Verdichtung, sondern mit dem der Steigerung,168 die für prismatische und Pigment­ mischungen ebenso gilt wie für Naturphänomene. 163 Vgl. Helmholtz, Hermann von, Ueber die Theorie der zusammengesetzten Farben, Berlin 1852. 164 Vgl. LA I.4, § 705, S. 207 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 165 ­Goethe postuliert die beiden Begriffe als die „zwei großen Triebräder aller Natur: der Begriff von Polarität und von Steigerung, jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen, insofern wir sie geistig denken, angehörig“. WA II,11, S. 11 (Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz Die Natur). 166 Vgl. LA I.4, § 696, S. 205 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 167 Ebd., § 702, S. 207. 168 „Die Steigerung erscheint uns als eine Insichselbstdrängung, Sättigung, Beschattung der Farben. So haben wir schon […] bei farblosen Mitteln gesehen, daß wir durch Vermehrung der Trübe einen leuchtenden Gegenstand vom leisesten Gelb bis zum höchsten Rubinrot steigern können.

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Mit dem Prinzip der Steigerung begründet G ­ oethe auch, dass es das Purpur und nicht das newtonische Weiß ist, das in seiner Theorie alle anderen Farben „teils actu, teils potentia“ enthält.169 Exemplarisch kann an der Entstehung dieser Farbe auf physiologischem, chemischem und besonders prismatischem Wege die „Verdichtung“ verschiedener Wissenskontexte in einer einheitlichen Bilddarstellung gezeigt werden. In der Physiologie als Teil eines Komplementärfarbenpaares, als physikalisches Produkt der sich überlagernden Lichtfarben Violett und Orange und als Pigmentfarbe im chemischen Bereich besetzt sie wie alle anderen Farben des Kreisschemas lediglich einen Sektor – allerdings einen besonderen, da sich G ­ oethes Wertschätzung des Purpurs auch in der Ausrichtung dieser Matrix widerspiegelt: Gegenüber der sich im tiefsten Kreissegment befindlichen Mischung des Grünen, die ­Goethe als gemeine charakterisiert, nimmt die diametral liegende edle Vereinigung im Purpur auch bildlich die höchste Ebene ein.170 Die Topologie dieser Farben legt eine symbolische Interpretation von G ­ oethes Wahrnehmungstheorie nahe. Nach dieser Lesart steht das ausgewogene Grün als häufigste Farbe der Naturerscheinungen für die unbewaffnete Sichtbarkeit mit bloßem Auge. Das durch prismatische Farbüberlagerung erzeugte Purpur, das sich im Zentrum des sogenannten ­Goethe-Spektrums zeigt, deutet hingegen auf die instrumentelle Visualisierung, die als gesteigerte und intensivierte Sichtbarkeit im Kreis über der natürlichen Visualität der Farben steht und damit die Unabdingbarkeit der instrumentell-medialen Vermittlung der Natur in ­Goethes Farbenlehre bildhaft vor Augen führt. In anschaulicher Weise demonstriert das Verhältnis zwischen den wechselnden, z. T. interferierenden Erklärungen und dem beständigen Schema des Farbenkreises, wie Bilder einen selbstständigen phänomenalen Status erlangen und – selbst unverändert bleibend – neue Erklärungskontexte ermöglichen. So konstruiert der Farbenkreis durch die Verdichtung verschiedener Theorien und ihrer Überlagerung im Schema eine eigene Realität und lässt die Bedeutung seiner externen Signifikate verblassen. Der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour bezeichnet solche graphischen Darstellungen, die in ihrer mobilen Verbreitung immer neue Begründungszusammenhänge eröffnen, selbst aber in ihrer Form erhalten bleiben, als immutible mobiles.171 Einmal entUmgekehrt steigert sich das Blau in das schönste Violett, wenn wir eine erleuchtete Trübe vor der Finsternis verdünnen und vermindern.“ Ebd., § 517, S. 162. 169 Ebd., § 793, S. 230. Hinter ­Goethes Wertschätzung des Purpurs als höchster Farbe verbergen sich durchaus auch kulturanthropologische Aspekte, da Purpur bereits seit der Antike als Farbe der Regenten bekannt ist. Vgl. hierzu auch ­Goethes Bezug darauf in ebd., § 797, S. 231 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). Vgl. zur Kulturanthropologie dieser Farbe Heller, Eva, Wie Farben wirken. Farbpsychologie. Farbsymbolik. Kreative Farbgestaltung, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 167 – 168. 170 Vgl. LA I.4, § 707, S. 208 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 171 Vgl. Latour, Bruno, Drawing Things Together: Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente, in: Belliger, Andrea / Krieger, David J. (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur AkteurNetzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 259 – 307, besonders S. 285 – 287.

5.3  Die bildliche Ordnung des Farbenkreises

worfene Bilder entwickeln in Latours sozialkonstruktivistischer Auffassung ihre Logik nicht durch den Bezug zu einer unter ihnen liegenden Wirklichkeit, sondern primär durch ihre Relationen zu anderen Darstellungssystemen wie Texten und Experimentalkonstellationen. Indem sich diese Darstellungen in einem Netz von Transforma­tionen wechselseitig ineinander einschreiben, konstituiert sich ein „innerer“, transversaler Referent, der das Kontinuierliche, Konstante dieses Inskriptionsprozesses expliziert. Der transversale Referent bestätigt oder modifiziert die Bedeutung des einmal entworfenen Bildes. In diesem Sinne existieren Bilder lediglich „als Stichproben aus Strömen von Spuren“,172 nicht aber als Abbild einer externen Wirklichkeit. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass artifiziell erstellte Systeme enger aufeinander verweisen als auf die sie initiierende äußere Realität. So schlägt sich die Struktur von G ­ oethes Farbenkreis auch in der Gliederung des didaktischen Teils nieder. G ­ oethe beschreibt den Farbenkreis bezeichnenderweise in der vierten Abteilung, den Allgemeinen Ansichten nach innen. Diese Abteilung hat ­Goethe als „Verdichtung“ des didaktischen Teils konzipiert, der die ersten drei analytischen Abteilungen der physiologischen, physischen und chemischen Farben zusammenfasst und die übergreifenden Gesetzmäßigkeiten ihres phänomenalen Wirkens herausstellt. Die Position dieser Abteilung als Bruch und gleichzeitige Weiterführung des bisher Dargelegten wird in der nicht fortgesetzten römischen Gliederung des didaktischen Teils augenscheinlich. Das zuvor Erörterte komprimierend, bildet diese Abteilung den Anknüpfungspunkt für die fünfte Abteilung der Nachbarlichen Verhältnisse verschiedener Wissenschaften wie der Philosophie, Mathematik und Naturgeschichte und für die letzte Abteilung der Sinnlich-sittlichen Wirkung der Farbe. Bevor sich – beginnend bei den physiologischen Farben und endend bei der psychologischen Farbwirkung – der empirische Kreis der Farbenlehre schließt, ist der theoretische Kreis der vierten Abteilung längst vollendet. Die sechste und letzte Abteilung komprimiert die Struktur des bisher Erörterten erneut: Nach Analyse der psychologischen Farbwirkungen synthetisiert ­Goethe unter den Begriffen Totalität und Harmonie diskursiv den gesamten Farbenkreis, um anschließend die durch verschiedene Gruppierungen seiner Farben ausgelösten psychologischen Wirkungen vorzustellen. Um die Universalgültigkeit seiner Matrix für die differenten Farbentstehungskontexte zu betonen, wählt ­Goethe im Hauptwerk Zur Farbenlehre nicht wie der Wiener Entomologe Ignaz Schiffermüller in seinem Farbenkreis eine kontinuierliche, kreisförmige Reihe, in der die Farben ineinanderfließen,173 sondern linear eingefasste Farbsegmente. 172 Ders., Der Berliner Schlüssel: Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996, S. 183. 173 Angeregt durch Linnés Klassifikationssystem, das Tiere und Pflanzen in Arten, Gattungen und Familien einteilte, suchte Schiffermüller nach einer natürlichen Ordnung der Farben, charakterisierte sein Farbsystem jedoch zugleich als praktische Hilfe für die Künstler. Seinen Anspruch führte Schiffermüller jedoch bereits dadurch ad absurdum, dass er sein 1771 publiziertes Farbsystem auf

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Sie lenken den Betrachterblick, unterstützt durch die Textinforma­tionen des didaktischen Teils. Besonders diese Linearität ist es, welche im Farbenkreis die jedem Bild implizite ikonische Differenz konstituiert. Ihre strukturell bedingte Wirkung beschreibt Gottfried Boehm wie folgt: „Die Grenze jedes pikturalen Elementes erlaubt, es als isolierte Binnenform zu sehen und macht damit überhaupt erst möglich, diese von der simultanen Gesamtform der Bildfläche zu unterscheiden. Das Wechselverhältnis ist demnach durch Kontrast und Verbindung zugleich ausgezeichnet. Simultaneität und Sukzessivität des Bildes unterscheiden und vermitteln sich durch eine ikonische Differenz, die dem Bilde überhaupt erst den Status seiner Sinndeutung verleiht.“ 174 Das Bild wirkt hier als Dispositiv, dessen Interpretation einen spezifischen Betrachterblick erfordert. Der Interdependenz von Bildfläche und Einzeldarstellung entspricht auf Rezipientenseite das Ineinanderwirken von analysierendem und synthetisierendem Blick, das wie in ­Goethes Experimentalstrategie ergebniskonstituierend wirkt. Fokussierend-analysierend bzw. sukzessiv nimmt das Auge die Farbzusammenstellungen von jeweils zwei Farben wahr, synthetisierend-begleitend bzw. simultan erfasst es die Totalität des gesamten Farbenkreises. Erst in diesem Vorgang der Rezeption kommt der jedem Bild immanente Überschuss des Imaginären zum Tragen, realisiert sich der Sinn des Motivs.175 Er entsteht im Dazwischen von Sukzession und Simultaneität, indem die Betrachterphantasie die Lücken zwischen den wahrgenommenen Einzelmotiven und der Gesamtdarstellung füllt. Dessen war sich bereits ­Goethe bewusst, wenn er postuliert, dass in der Idee „Simultanes und Sukzessives innigst verbunden, auf dem Standpunkt der Erfahrung hingegen immer getrennt“ sind, und zur Überwindung dieses Gegensatzes das Spiel der Einbildungskraft fordert.176 Auf diese Weise entsteht auch das Bild des Farbenkreises durch die Kräfte des aktiven, wahrnehmenden, denkenden und phantasierenden Auges in einem sich durch den Blick potentiell unendlich fortzeugenden dynamischen Feld zwischen Details und Ganzem.

dasjenige des französischen Jesuitenpaters Louis Bertrand Castel aufbaut, der Newtons sieben Primärfarben auf ein zwölfstufiges Schema erweitert hatte. Unter Rekurs auf Mayers Farbentheorie geht auch Schiffermüller von den drei Hauptfarben Rot, Gelb und Blau aus, die er zu neun Mittel- bzw. Nebenfarben mischt. Die stark von der Ästhetik des Rokoko geprägte Darstellung zeigt einen in natürliche Phänomene eingebetteten Farbenkreis, in dessen Mitte eine Sonne die Natur als Schöpferin der Farben symbolisiert. Vgl. Schiffermüller, Ignaz, Versuch eines Farbensystems, Wien 1771. 174 Boehm, Gottfried, Bildsinn und Sinnesorgane, in: Neue Hefte für Philosophie 18/19 (1980), S. 118 – 132, hier S. 130. 175 Zu diesem Potential des Bildes vgl. ders., Jenseits der Sprache?, a. a. O., S. 41. Nach Boehm ist jede Bilddarstellung darauf ausgerichtet, den Vorgang des Sehens, der in ihr fixiert wurde, im Betrachter neu zu aktivieren. Dessen Vorstellungskraft trägt hauptsächlich zum Verständnis eines Bildes bei. 176 LA I.9, S. 97 (Bedenken und Ergebung). In diesem Text nimmt ­Goethe Bezug auf Kants in der Kritik der reinen Vernunft aufgeworfene Frage, wie eine Erfahrung jemals einer Idee angemessen sein könne. Vgl. LA II.10A, S. 783.

5.3  Die bildliche Ordnung des Farbenkreises

­Goethe konzipiert den Farbenkreis geschlossen und offen zugleich. Ergeben die diametral angeordneten Segmente eine in sich geschlossene harmonische „Logik“, appelliert G ­ oethe zur Konstituierung des offenen Prozesses wiederum an die Vorstellungskraft des Betrachters, der das Gezeigte in seiner Phantasie entwickeln soll. Der hier ebenfalls berührte Überschuss des Imaginären exponiert sich in G ­ oethes Schema besonders an vier Merkmalen: erstens in der „offenen“ Zahl der Farben, die im Farbenkreis lediglich in sechs Segmenten dargestellt ist: „Nun könnte man zu 16 fortschreiten, indem man zwischen jede Schattierung [gemeint ist hier jedes Segment – S. Sch.] noch eine hineinstelle, oder zu 32 und so ins Unendliche: denn indem der Farbenkreis als eine ewig stetige Reihe erscheint, so ist ja seine Teilbarkeit ins Unendliche hiermit schon ausgesprochen.“ 177 Zweitens setzt G ­ oethe auch mit der Darstellung der Steigerung, die von den Segmenten Gelb und Blau über Orange und Violett zur höchsten Farbe des Purpurs führt, auf die Vorstellungskraft des Zuschauers. Dieser hat die differenzierten Segmente jeweils um den Zustand des Davor und Danach gedanklich zu ergänzen, so dass der Farbenkreis einen dynamischen Charakter erhält. Drittens hat der Betrachter die drei im Bildschema stillgestellten und nivellierten Zeitordnungen der physiologischen, vergänglichen, der physischen, vorübergehenden und der chemischen, dauerhaften Farben imaginativ zu differenzieren. Viertens regt ­Goethe am Ende des didaktischen Teils eine Imagination der besonderen Art an, wenn er das von Mystiker und Mathema­tiker gleichermaßen geschätzte Dreieck symbolisch doppelt und auf unterschiedliche Farbkombinationen bezieht. Die lineare Verbindung der Farben Orange, Violett und Grün ergibt einen mit der Spitze nach unten zeigenden Triangel, der auf die sichtbaren Farben des NewtonSpektrums Gelbrot (Orange), Gelb, Grün, Blau und Blaurot (Violett) verweist. Das auf die Farben Gelb, Blau und Purpur deutende Dreieck mit der Spitze nach oben steht für das ­Goethe- bzw. inverse Spektrum Blau, Blaurot, Purpur, Gelbrot, Gelb.178 Mit diesen Verweisen schreibt ­Goethe auch im Farbenkreis seine Newton-Polemik fort, die durch die Bezeichnung des Grün als „irdische“, des Purpur als „himmlische Ausgeburten der Elohim“ unterstrichen wird.179 Mit der Figur des doppelten Dreiecks verweist G ­ oethe zugleich auf das Hexagramm als „altes geheimnisvolles Sechseck“,180 das als gnostisches Symbol die Vereinigung von Gott und Mensch, in G ­ oethes pantheistischer Auffassung die Gott-Natur, symbolisiert. Anders als Runge, der das Reale und das Transzendente in den verschiedenen Anwendungstechniken der lasierenden und gesättigten Künstlerfarben symbolisiert sieht, stellt G ­ oethe das Irdische und das Göttliche – das Irdische als Erkenntnisbasis

177 LA I.3, S. 438 – 439 (Die Zahl der Farben). 178 Vgl. Hofmann, G ­ oethes Theologie, a. a. O., S. 216. 179 LA I.4, §§ 918 – 919, S. 255 – 256 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 180 Ebd., § 919, S. 256.

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des Göttlichen – ausschließlich in den gesättigten Farben des Kreises dar.181 In dieser Darstellungsart verbildlicht er seinen epistemologischen Zugang zu den Farben, deren Sichtbarkeit er als alleiniges Erkenntnismittel ihrer Gesetze betrachtet. Ausgehend von der Kritik an G ­ oethes und auch an Newtons Theorie der prisma­ 182 tischen Farbentstehung, erstellte der Münchner kurfürstliche Hof- und Theatermaler Mathias Klotz eine Farbenlehre der besonderen Art, in der er wie viele damalige Farbforscher die Eigengesetzlichkeit der Farbentstehung phänomenal und mathematisch zugleich begründet. Im Jahre 1816 publizierte er sein Werk Gründliche Farbenlehre, dem mehrere Vorarbeiten vorausgingen und dem die Veröffentlichung von ­Goethes Farbenlehre zuvorgekommen war. Klotz entwirft eine Theorie, nach der alle Farben allein im Dunkel enthalten sind. Entsprechend seiner Profession geht Klotz von der Analyse der Künstlerfarben aus, betrachtet aber ebenso die Entstehung der Prismenfarben. Im ersten Teil Chromatische Farbenlehre untersucht er aus der Perspektive des Malers die sinnlich-harmonischen Wirkungen kombinierter Pigmentfarben, in deren drei Urfarben Gelb, Purpur und Blau er verschiedene spezifische Dunkelwerte ausmacht, die in unterschiedlicher Weise auf die jeweils anderen zwei Urfarben wirken. In zahlreichen Versuchen tritt er den Beweis an, dass die Mischung der Farben nicht zu Weiß, sondern zu einem dunkleren Farbwert als diesem führt. Zu diesem Zweck gewinnt Klotz aus jeweils zwei der Urfarben sieben Mischfarben. Deren mittlere, welche die Urfarben zu gleichen Teilen enthält, bezeichnet er als Mittelfarbe. Minutiös arbeitet Klotz die unterschiedlichen Anteile der einzelnen Mischfarben heraus. In einem komplexen Farbsystem setzt er Ur-, Mittel- und Mischfarben kreisförmig in Beziehung zueinander (vgl. Abb. 60). Die Mitte dieser Matrix enthält die sogenannte Unfarbe. Sie besitzt keinen spezifischen Farbwert, ist jedoch nicht identisch mit Schwarz. Anschließend an die bunten Farben des Außenkreises ordnet Klotz konzentrisch in drei Ringen Farbsegmente an, die sich zur Kreismitte hin verdunkeln. Ihre Farbwerte bezeichnet er als „gebrochene Farbnuancen“.183 Er zeigt, dass die Mischungen der jeweils diametral auf ein und demselben Kreissegment geordneten Gegenfarben zur Unfarbe in der Mitte führen. Die Gesamtzahl der Buntfarben von 24 begründet er zwar phänomenal mit ihrer Unterscheidbarkeit durch den Gesichtssinn. Dennoch 181 Thematisiert auch G ­ oethe die lasierenden Farben – er führt sie im didaktischen Teil im Diskurs über die scheinbaren Mischungen an –, betrachtet er sie im Gegensatz zu Runge nicht als Symbol des Göttlichen, sondern des Geistigen und damit als einer Erkenntnisinstanz des Menschen. Vgl. ebd., § 571, S. 174. 182 Zur Kritik an ­Goethes Theorie vgl. den Auszug aus der Rezension der Farbenlehre durch Klotz, in welcher er „das eigne Kollisionsverhältnis“ zwischen G ­ oethe und sich beschreibt, um den möglichen Vorwurf zu entkräften, er habe Teile von ­Goethes Farbenlehre übernommen. Auf ­Goethes Wunsch hatte ihm Klotz eine Erklärung seiner Farbentheorie und eine gedruckte Vorarbeit geschickt, deren Empfang G ­ oethe ihm nicht einmal bestätigte. Vgl. LA II.6, S. 404 – 405, Zitat S. 404 (Mathias Klotz, Rezension). 183 Klotz, Mathias, Gründliche Farbenlehre, München 1816, S. 13.

5.4  Subjektkonzepte in Farbschemata

dient ihm dieser nicht als alleinige Legitimationsinstanz, denn Klotz versucht, die Generierung dieser Gesamtzahl durch ein Figurensystem geometrisch zu beweisen.184 Benutzt Klotz bereits im Diskurs über die Pigmentfarben mit der Bezeichnung „gebrochene[n] Farbnuancen“ einen physikalischen Terminus und führt zur Bestätigung ihrer Mischungsgesetze auch Prismenexperimente an, erläutert er im zweiten Teil Prismatik seine Theorie der Prismenfarben ausführlich, um mit ihr die Gesetze der Pigmentmischungen zu beweisen. Legt schon der Begriff Urfarbe entfernte Bezüge zu ­Goethes Farbenlehre nahe, bezieht sich Klotz in seinem experimentum crucis eindeutig auf ­Goethes inverses Spektrum mit der Farbe Purpur in der Mitte. Klotz begründet seine These, dass „die Farben […] in der unfärbigen Finsterniss oder dem unfärbigen Dunkel und nicht im Licht chaotisch in einander gedrängt vorhanden“ 185 seien, mit dem Auseinanderstreben der auf einem schwarzen Streifen auf weißem Grund prismatisch erzeugten Farben. Für deren Beweis legt er seiner Schrift zwei weiß-schwarze Bildvorlagen für prismatische Experimente und zwei kolorierte Ergebnistafeln bei, die die zu erlangende Ordnung der Farben zeigen (vgl. dazu exemplarisch eine der beiden Versuchsvorlagen und deren verbildlichtes Resultat in Abb. 61 und 62). Zu dieser didaktischen Strategie wurde Klotz vermutlich durch G ­ oethes Farbenlehre angeregt.186 Obwohl diese Theorie wie der Gegenentwurf zu Newtons Herleitung der Prismenfarben anmutet, kommt Klotz nicht umhin, auch dessen Lehre zu benutzen. Er führt die Grün erzeugende Überlagerung von Gelb und Blau im Newton-Spektrum neben dem ­Goethe-Spektrum als gleichberechtigten Beweis für seine eigene Farbentheorie an.187 Auch wenn Klotz zugeben muss, dass die materiellen Farbmischungen eine stärkere Dunkelheit erreichen als die Prismenfarbmischungen,188 beschreibt er anders als ­Goethe Gelb, Purpur und Blau als Urfarben der Maler und der Physiker.

5.4 Subjektkonzepte in Farbschemata Neben dem sechsteiligen Farbenkreis entwarf G ­ oethe unterschiedliche andere Farbmatrices, z. B. einen Farbenkreis, in zwei gegeneinander versetzte Ringe aufgeteilt, in dem die Farben ineinanderfließen, einen Achtteiligen Farbenkreis und einen Farbenkreis in

184 Vgl. ebd., Tafel VII. 185 Ebd., S. 25. 186 Diese Vermutung wird durch Klotz’ Aussage bekräftigt, er habe sich durch das Erscheinen von ­Goethes Farbenlehre zur Überarbeitung seiner eigenen Schrift veranlasst gesehen, um die „HauptIrrungen“ in dessen Refraktionsstudien zu korrigieren. In diesem Kontext spricht Klotz von „neuerfundenen prismatischen Versuchen“. Ebd., S. 3. 187 Vgl. ebd., S. 25. 188 Vgl. ebd., S. 26.

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zwölf Stufen.189 ­Goethe zeigt den Farbenkreis jedoch nicht nur als die Bild gewordene Summe seiner chromatischen Lehre, sondern benutzt ihn zugleich als epistemologische Reflexions- und Darstellungsforen, in denen er subjekttheoretische Entwürfe mit ästhetischen Konzepten verbindet. Bereits der sechsteilige Farbenkreis enthält eine Symbolik, die auf die Doppelstellung des Menschen als Teil und höchstes Organ der Natur deutet: Steht das Grün als ausgewogene Mischung für die Natur im Allgemeinen – eine Zuordnung, die G ­ oethe bereits zum Auftakt seiner ersten Vorarbeit 190 trifft, kann das purpurne Segment, der höchste, gesteigerte Teil des Farbenkreises, als Symbol für das Blut und das Leben interpretiert werden. Diese Auslegung wird durch eine farb­psychologische Erklärung ­Goethes unterstrichen, in der er die dem Purpur bescheinigte Anmut und Würde an den Lebensaltern des Menschen festmacht: „Und so kann sich die Würde des Alters und die Liebenswürdigkeit der Jugend in eine Farbe kleiden.“ 191 Nachfolgend soll ein Vergleich der Farbschemata, in denen ­Goethe die Gesetze der Farbentwicklung, Körperkonzepte und Kunsttheorie verbindet, herausstellen, dass feste Farbsemantiken nicht existieren. Die Farben erhalten je nach Verweiskontext unterschiedliche Eigenschaften, die G ­ oethe in Begriffe fasst. Die Semantiken resultieren nicht aus der ästhetischen Wirkung, d. h. der natürlichen Sinnlichkeit, der jeweiligen Farbe. Die Farben erlangen ihre Bedeutung stets aus externen und arbiträren Zuschreibungen, weshalb sie einen stärkeren symbolischen Charakter tragen als im sechsteiligen Farbenkreis. An der mit Schiller entworfenen Temperamentenrose, am Farbenkreis zur Symbolisierung des mensch­lichen Geistes- und Seelenlebens sowie am dreidimensionalen Tetraeder mit Farbensymbolen soll gezeigt werden, wie im medialen Verbund von Farbsegmenten und verschriftlichten Begriffen Körperkonzepte und ästhetische Theorien ineinander wirken. All diese farbigen Schemata weisen mehrere Vorarbeiten auf, die ­Goethe z. T. gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Friedrich Wilhelm Riemer entwickelte, der diese später im Austausch mit G ­ oethe allein weiterbearbeitete. Muten die farbigen Reinzeichnungen wie „gelehrte[n] Spielereien“ an, deren Vorstudien in kleinem informellen Kreis entstanden sind, ist es gerade deren Vielzahl, die für die Fundiertheit des Unternehmens spricht.192 Zwischen August 1798 und Februar 1799 beschäftigte sich ­Goethe intensiv mit den psychologischen Wirkungen der Farben. Zeitgleich begann er, gemeinsam mit 189 Vgl. Corpus der G ­ oethezeichnungen, Bd. VA, a. a. O., in der genannten Reihenfolge S. 97, 50 – 51 und S. 100 sowie die dazugehörigen Tafeln XCr und XCIr. 190 „Wir sehen das einfache Grün einer frischgemähten Wiese mit Zufriedenheit, ob es gleich nur eine unbedeutende Fläche ist, und ein Wald tut in einiger Entfernung schon als große einförmige Masse unserm Auge wohl.“ LA I.3, § 1, S. 6 (Beiträge zur Optik. Erstes Stück). 191 LA I.4, § 796, S. 231 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 192 Vgl. LA II.1B, S. 1197 und S. 1199, Zitat S. 1199.

5.4  Subjektkonzepte in Farbschemata

­Friedrich Schiller und dem Schweizer Maler und Kunsttheoretiker Johann ­Heinrich Meyer das von ihnen kritisierte Phänomen des künstlerischen Dilettantismus zu analysieren und Strategien dagegen zu entwickeln, die in den gleichnamigen Schemata Über den Dilettantismus ihren Niederschlag fanden. Seine Auffassung zum Dilettantismus hatte G ­ oethe bereits im Organ der Propyläen publiziert, das er im August 1798 mit Meyers Unterstützung ins Leben gerufen hatte. Dieses indirekt gegen die frühromantische Kunst gerichtete Projekt sollte erzieherisch auf die Kunstrezeption des Publikums einwirken, das aus Sicht der Autoren durch eine gesteigerte Sentimentalität und Einbildungskraft das Subjektive überbetonte. Farbpsychologische Effekte und Dilettantismuskritik kreuzen sich im Schema der Temperamentenrose mit dem um 1800 medizinisch veraltenden Konzept der Humoralpathologie. Gerade diese Überlagerungen zeigen, dass die Temperamentenrose weit mehr als nur ein „Nebenerzeugnis“ 193 zur Harmonielehre der Farben ist: „Erwarben nun auf diese Weise die Weimarischen Kunstfreunde sich einiges Zutrauen der Außenwelt, so war auch Schiller aufgeregt, unablässig die Betrachtung über Natur, Kunst und Sitten gemeinsam anzustellen. Hier fühlten wir immer mehr die Notwendigkeit von tabellarischer und symbolischer Behandlung. Wir zeichneten zusammen jene Temperamentenrose wiederholt, auch der nützliche und schädliche Einfluss des Dilettantismus auf alle Künste ward tabellarisch weiter ausgearbeitet, wovon die Blätter beidhändig noch vorliegen.“ 194

Von ehemals mehreren Schemata der Temperamentenrose ist heute nur noch eine im Durchmesser 153 mm große Scheibe erhalten, die vermutlich 1799 entstand 195 (vgl. Abb. 63). Sie besteht aus drei Ringen, in deren Mitte sich ein schwarz gefüllter Kreis befindet. Der äußere Ring enthält in vier Segmenten die Temperamente, ihnen sind im mittleren Ring jeweils drei Segmente mit Berufen, Lebenseinstellungen und Thea­ terrollen zugeteilt. Der dritte und innere Ring zeigt die chromatische Ordnung von ­Goethes Farbenkreis in zwölf Segmenten. Die Beschriftung der Segmente stammt von Schillers Hand, die Bereitstellung des Farbenkreises durch G ­ oethe ist nicht eindeutig gesichert. Bedingt durch die Gemeinschaftsarbeit beider ist der jeweilige Anteil der geistigen Urheberschaft nicht auszumachen.

193 LA  II.3, S. 366. Als ein solches begreifen Rupprecht Matthaei und Dorothea Kuhn die Temperamentenrose. 194 LA I.3, S. 387 (Tag- und Jahreshefte 1799). 195 Auf das Vorhandensein mehrerer Exemplare dieses Schemas deutet die Anzahl der schriftlichen Bemerkungen in den Tag- und Jahresheften 1798 und 1799 sowie in den Tagebucheintragungen vom 20. und 22. Januar sowie 5. und 7. Februar 1799. Vgl. LA I.3, S. 387 (Die Temperamentenrose). Vgl. ebenso LA  II.1B, S. 1194. Vgl. auch die ausführliche Beschreibung von Matthaei, Rupprecht, Die Temperamentenrose aus gemeinsamer Betrachtung ­Goethes mit Schiller, in: Neue Morphologische Hefte 2 (1956), S. 33 – 46, hier S. 34 – 35.

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Die Definition des Dilettanten, mit dem sich G ­ oethe und Schiller in der Entstehungszeit der Temperamentenrose intensiv beschäftigten, ist bis heute nicht klar umrissen. Den unterschiedlichen um 1800 verwendeten Erklärungen 196 ist jedoch gemeinsam, dass sie den Dilettanten zwischen zwei Pole stellen: den wahren Künstler und den Nichtskönner. ­Goethes und Schillers Dilettantismus-Begriff wurde durch Karl Philipp Moritz’ psychologische Analyse dieser Figur entscheidend beeinflusst. Moritz charakterisiert den Dilettanten als egoistisch-triebhaft. Seiner Intention entsprechend, das in der Kunstrezeption erfahrene Vergnügen durch eigene Werke wiederzubeleben, sei für ihn der psychologische Nutzen höher als der künstlerische Wert des eigent­ lichen Werkes.197 Schiller setzt den Dilettanten als empfindungsstarken, doch unproduktiven Kunstfreund klar gegen das echte Kunstgenie.198 ­Goethes Begriff hingegen diffundiert: In den naturwissenschaftlichen Arbeiten positiv beurteilt,199 macht er in ­Goethes Kunstauffassung einen Wandel durch. In seinen frühen ästhetischen Studien bewertet G ­ oethe das künstlerische Nacherleben des Dilettanten positiv, da er „einen wärmern, obwohl nicht ganz reinen, Antheil“ am Schaffen des Künstlers nimmt als jemand sonst.200 Unter Schillers Einfluss fasst er ihn später in den DilettantismusSchemata ebenfalls als Gegenpart des wahren Könners auf. Setzen beide Männer auf die Pädagogik, die aus einem Dilettanten einen Kenner machen könne, sei der wahre Künstler bereits von Geburt aus dazu bestimmt.201 Während der junge ­Goethe ausschließlich auf den Entwurf des autonom schaffenden Kunstgenies setzt, ergänzt er

196 Vgl. zur Verwendung dieses Begriffs Vaget, Hans Rudolf, Der Dilettant. Eine Skizze der Wortund Bedeutungsgeschichte, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), S. 131 – 158, besonders S.  142 – 148. 197 Moritz bezeichnet den Dilettantismus auch als falschen Bildungstrieb, mit dem er sich besonders in seiner Schrift Ueber die bildende Nachahmung des Schönen – wie weiter unten ausgeführt – auseinandersetzt. Vgl. Vaget, Dilettant, a. a. O., S. 143. 198 Vgl. Schiller, Friedrich, Von den notwendigen Grenzen des Schönen besonders im Vortrag philo­ sophischer Wahrheiten, in: ders., Werke und Briefe in zwölf Bdn., hg. v. Otto Dann u. a., Bd. 8: Theoretische Schriften, Stuttgart 1992, S. 677 – 705, hier S. 696 – 697. 199 Vgl. exemplarisch das Jahre nach der Dilettantismusdebatte geschriebene Schlusswort des didaktischen Teils der Farbenlehre: „Wie aber dennoch aus mancherlei Ursachen schon der Künstler den Dilettanten zu ehren hat, so ist es bei wissenschaftlichen Gegenständen noch weit mehr der Fall, daß der Liebhaber etwas Erfreuliches und Nützliches zu leisten imstande ist. Die Wissenschaften ruhen weit mehr auf der Erfahrung als die Kunst, und zum Erfahren ist gar mancher geschickt.“ LA I.4, S. 266 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 200 WA IV,4, S. 330 (­Goethe an den Maler Friedrich Müller am 6. November 1780). 201 Vgl. einige kurze Passagen in den Dilettantismus-Schemata, z. B. „Zum Genuß der Kunstwerke haben alle Menschen eine unsägliche Neigung. Der nähere Theilnehmer wäre der rechte Liebhaber, der lebhaft und voll genösse.“ WA I,47, S. 323 (Über den Dilettantismus) oder: „Kurze Schilderung eines eingefleischten Dilettantismus. Die Philosophen werden aufgefordert. Die Pädagogen. Wohlthat für die nächste Generation.“ Ebd., S. 323 – 324. „Der Künstler wird geboren. Er ist eine von der Natur privilegirte Person.“ Ebd., S. 322.

5.4  Subjektkonzepte in Farbschemata

später in der Zusammenarbeit mit Schiller das Konzept des wahren Künstlers um die Notwendigkeit theoretischer und praktischer Schulung. Das von ihm geschaffene Werk muss sich nun einem objektiven Kunsturteil unterwerfen lassen. Auch in den Dilettantismus-Schemata wird der Objektivitätsgrad jeder Kunst zum Maßstab, an dem sich die Schaffenden in wahre Künstler und Dilettanten scheiden. Je nach dem Beteiligungsgrad der rationalen Seelenvermögen sprechen G ­ oethe und Schiller Künsten wie der Architektur und dramatischen Dichtung einen vorherrschend objektiven, Künsten wie der Musik und lyrischen Poesie einen eher subjektiven Charakter zu. Erforderten allein die objektiven Künste den Meister, näherten sich in den subjektiven die Tätigkeiten von Dilettant und Künstler einander.202 Wie Moritz kritisieren auch ­Goethe und Schiller die übersteigerte Einbildungskraft des Dilettanten, die an die Stelle der kreativen Tätigkeit eine passive Emotionalität treten lasse und zur bloßen Nachahmung der Natur oder eines rezipierten Kunstobjekts führe: „Weil der Dilettant seinen Beruf zum Selbstproduciren erst aus den Wirkungen der Kunstwerke auf sich empfängt, so verwechselt er diese Wirkungen mit den objektiven Ursachen und Motiven, und meint nun den Empfindungszustand, in den er versetzt ist, auch produktiv und praktisch zu machen, wie wenn man mit dem Geruch einer Blume die Blume selbst hervorzubringen gedächte. Das an das Gefühl sprechende, die letzte Wirkung aller poetischen Organisationen, welche aber den Aufwand der ganzen Kunst selbst voraussetzt, sieht der Dilettant als das Wesen derselben an, und will damit selbst hervorbringen.“ 203

Die Trennung von Dilettant und Meister untermauern ­Goethe und Schiller zum einen über den Dualismus von Materie und Form, indem sie dem vom Stoff beherrschten Dilettanten jegliche Fähigkeit zur Formgebung, „zur Architektonik im höchsten Sinne“,204 absprechen. Zum anderen bestärken sie diese Trennung durch das Gefüge verschiedener temporaler Ordnungen. Während der Künstler dauerhafte Werke schaffe, welche die Zeit selbst außer Kraft setze, folge der Dilettant lediglich den wechselnden Moden. Das ewige Leben setzt sich hier gegen ein häufiges Sterben durch. In der Temperamentenrose werden die (künstlerischen) Tätigkeiten ebenso wie die Temperamente nach dem Gesetz der Farbharmonien geordnet.205 Die im Außenring

202 Vgl. ebd., S. 318, 320 und S. 323 (Über den Dilettantismus). 203 Ebd., S. 319. 204 Ebd., S. 326. 205 Liegt in den meisten Farbenkreisen ­Goethes der purpurne Sektor nördlich, der grüne südlich, ist die ursprüngliche Ausrichtung der Temperamentenrose heute unbekannt. Nach eigener Aussage entwickelten Schiller und ­Goethe das Schema in Analogie zur Windrose, beschrieben ihr Vorgehen jedoch nicht näher. Vgl. LA I.3, S. 387 (Tag- und Jahreshefte, zit. n. Die Temperamentenrose). Eine eindeutige Zuordnung wurde endgültig zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschwert, als das Schema aus dem Papierbogen, auf dem es sich befand, ausgeschnitten wurde. Diese Unklarheit sei hier nur

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des Schemas aufgeführten vier Temperamente beziehen sich in besonderer Weise auf die in der Dilettantismusdebatte reflektierten subjektiven Dispositionen: Die der antiken Humoralpathologie entstammende Lehre von den Temperamenten definiert die menschliche Gesundheit als Gleichgewicht der Körpersäfte (Eukrasie), das nicht ohne Einfluss auf die Psyche bleibt. In diesem Modell fungiert der Körper als passives Behältnis, das die humores, die Säfte, enthält. Die nach Seelenbereichen und korrespondierenden Körperzonen von Kopf, Brustraum und Unterleib klassifizierten Säfte können sich ineinander transformieren und bei Krankheit wechselseitig substituieren. Die einzelnen Temperamente sind Ausdruck vier verschiedener Möglichkeiten des Säftegleichgewichts. Mit dem Entstehen eines organologisch-differenzierten, sensibilitätsdominierten und neural abgeschlossenen Körpermodells, das Ende des 18. Jahrhunderts seinen Siegeszug in der Medizin antrat, verschob sich das humoralpathologische Modell zusehends in die Bereiche von Anthropologie, Psychologie und Hygiene, wurde aber auch noch einige Zeit in der Medizin angewendet.206 Ein paradigmatisches Werk jener Zeit, in dem Temperamentenlehre und Sensibilitätsdiskurs eine Allianz eingingen, ist Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Legt der ­Goethe-Schiller-Briefwechsel aus der Entstehungszeit der Temperamentenrose nahe, dass Verteilung und Bewertung der vier Temperamente in Anlehnung an Kant erfolgte,207 so geschah dies vermutlich aus aktuellem Anlass: Kants Anthropologie erschien 1798 – in der Hoch-Zeit der Dilettantismusdebatte. Die pragmatische Anthropologie betrachtet den Menschen als frei handelndes Wesen. Kant wollte diesen mit seiner Theorie beim Ausloten seiner Möglichkeiten unterstützen. Er gab ihm praktische Anleitungen zum nützlichen Handeln, da aus seiner anthropologisch inspirierten Sicht allein die Erfahrungswerte dem Menschen zur Welterkenntnis verhelfen. Ähnlich wie die Dilettantismus-Schemata berücksichtigt die Anthropologie auch den Einfluss psychologischer Dispositionen auf andere Gesellschaftsmitglieder und die Gesamtgesellschaft, bevor das Werk in eine Vernunftbestimmung der menschlichen Gattung mündet.208 der Vollständigkeit halber erwähnt. Sie fällt bei der folgenden Analyse nicht ins Gewicht, da für diese die interne Struktur des Schemas ausschlaggebend ist. 206 Vgl. Sarasin, Philipp, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765 – 1914, Frankfurt am Main 2001, S. 39 und S. 179. In diesem durch die antike Naturphilosophie geprägten Modell entsprach der inneren Durchlässigkeit des amorph gedachten Körpers seine Öffnung nach außen, indem er als von den Jahreszeiten, Elementen etc. abhängig gedacht wurde. Vgl. die ausführliche Charakterisierung der Humoralpathologie im Wechsel der medizinischen Episteme um 1800 in: Koschorke, Poiesis des Leibes, a. a. O., S. 259 – 261. 207 Vgl. G ­ oethes Briefe an Friedrich Schiller vom 19. und 22. Dezember 1798 und Friedrich Schillers Brief an ­Goethe vom 21. Dezember desselben Jahres in: Briefwechsel Schiller ­Goethe, a. a. O., S.  718 – 722. 208 Vgl. hierzu den ausführlichen Kommentar von Brandt, Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie, a. a. O., S.  7 – 20.

5.4  Subjektkonzepte in Farbschemata

Dem empirisch-psychologischen Ausgangspunkt des Buches verhaftet, beschreibt Kant im zweiten Teil Die anthropologische Charakteristik. Von der Art, das Innere des Menschen aus dem Äußeren zu erkennen neben dem Naturell und dem Charakter die vier Temperamente als Ordnungskriterium menschlicher Verhaltensweisen: „Da ergibt sich nun: daß die Temperamente, die wir bloß der Seele beilegen, doch wohl insgeheim das Körperliche im Menschen auch zur mitwirkenden Ursache haben mögen […].“ 209 Auf einen Diskurs über das empirische Verhalten der Körpersäfte verzichtet Kant vollständig. Primär ordnet er die Temperamente nach der Dominanz von Gefühl oder Tätigkeit, sekundär nach dem Einfluss der Lebenskraft, die er in die Erregbarkeit (intensio) und Abspannung (remissio) unterteilt. Mit dieser Vorgehensweise, besonders durch die Integration der nicht per se materiell nachweisbaren Lebenskraft, gelingt es Kant, die alten Formen der Temperamentenlehre beizubehalten und gleichzeitig zu entsomatisieren, um „nur eine dem Geist“ dieser Lehre „angepasste bequemere Deutung“ zu erlangen.210 In der Temperamentenrose kombinieren ­Goethe und Schiller Kants Charakterisierung der Temperamente nach den psychologischen Farbwirkungen und ordnen ihnen unterschiedliche Verhaltensweisen zu – Kombinationen, die nachfolgend interpretiert werden sollen: Kant trennt die Temperamente des Gefühls: sanguinisch – melancholisch klar von den Temperamenten der Tätigkeit: cholerisch – phlegmatisch und stellt sie einander gegenüber. In Anlehnung an Kant setzen ­Goethe und Schiller die beiden Temperamente jeder Gruppe im Bildschema diametral, so dass sie G ­ oethes Farbästhetik entsprechend eine ausgewogene, auf dem Polaritätsprinzip basierende Totalität erzeugen. Anders als Kant geht G ­ oethe davon aus, dass sich diese Gegensätze durchaus aufheben und in einer qualitativen Höherentwicklung bzw. Steigerung vereinigen lassen.211 Die Einteilung nach dem Zustand der Lebenskraft entwirft Kant nicht konform zu den Temperamenten von Gefühl und Tätigkeit. Dem Sanguiniker und dem Choleriker „attestiert“ er eine erregte Lebenskraft. Gelesen durch G ­ oethes farbpsychologische Untersuchungen in der Abteilung Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe, weisen die in der Temperamentenrose dem Sanguiniker und Choleriker zugeordneten Farben Grün, Gelb, Orange und Rot zahlreiche gemeinsame Eigenschaften mit diesen Temperamenten auf: Während das Grün als Farbe des Ausgleichs nur bedingt auf den Sanguiniker zutrifft, ist das warme Gelb als muntere, wirksame und reizende Farbe charakteristischer für ihn. Das dem Choleriker zugeteilte Orange, das ­Goethe als energetischste Farbe beschreibt, erzeugt zwar ein Gefühl von Wärme und Wonne, kann aber auch eine gewaltsame Wirkung entfalten. Das einzigartige Purpur hingegen verleiht Würde und Anmut gleichermaßen. 209 Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a. a. O., S. 211 – 233, Zitat S. 212. 210 Vgl. ebd., S. 212 – 213, Zitate S. 213. 211 Vgl. LA II.1B, S. 1196 – 1197. Vgl. dazu ­Goethe an Christian Gottlob Voigt am 19. Dezember 1798, in: WA IV,13, S. 347 – 349, besonders S. 348. Vgl. zu Kants Postulat einer Trennung der Temperamente ders., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a. a. O., S. 217 – 218.

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Die Abspannung, die remissio, tritt nach Kant vorwiegend beim melancholischen und phlegmatischen Temperament auf, denen ­Goethe und Schiller im Bildschema die Farben Grün, Blau, Violett und ebenfalls das Purpur zuordnen. Das dem Phlegmatiker neben dem Grün zugewiesene Blau wirkt als distanzerzeugende, „rationale“ Farbe, die ein Gefühl von Kälte erzeugt. Das Violett als Farbe, die einen lebhaften, doch ernsten Reiz ohne Fröhlichkeit bietet, sowie das Purpur charakterisieren den Melancholiker.212 Im zweiten Ring des Schemas werden die Gesetze der Farbe und die subjektiv-­ psychologischen Dispositionen der Temperamente auf Berufe wie Lehrer und Geschichtsschreiber, Lebenshaltungen wie Bonvivants und Abenteurer und Theaterrollen wie Tyrannen und Helden bezogen.213 In diesem Zwischenreich des Mittelrings, in diesem Medium, eröffnet sich das eigentliche Feld der Dilettantismusdebatte. Objektive Bewertungskriterien der Einzelkünste spielen hier anders als in den DilettantismusSchemata keine Rolle, die Analyse richtet sich auf künstlerisch, wissenschaftlich und politisch agierende Personen, ihr Talent, ihre Neigungen und Fähigkeiten. Bei der Kombination von Kants den Temperamenten zugeschriebenen Eigenschaften 214 mit ­Goethes farbpsychologischen Kriterien ergibt sich folgende Lesart: Das cholerisch-„erregte“ Temperament beschreibt die Aktiven. Dem Choleriker, der stolz ist und gern befiehlt, der rasch, doch dafür nicht lang anhaltend affiziert werden kann, wurden die Abenteurer, Helden und Tyrannen zugeordnet. Der Unbeschwertheit des Abenteurers entspricht das sonnige Gelb, der Energie des Helden das Orange, dem Tyrannen das herrische Purpur. Ihnen gegenüber liegen in der Temperamentenrose die Tätigkeiten des „abgespannten“ Phlegmatikers, der sich nicht selbst motivieren, dafür aber langsam und anhaltend bewegt werden kann, der durch seinen überlegten Willen den Willen anderer umzustimmen vermag. Diesem Temperament entsprechen die Tätigkeiten der Lehrer, Geschichtsschreiber und Redner. Sie wirken wie die Vertreter medialer Techniken schlechthin: der Redner, der die Menge überzeugt, der Geschichtsschreiber, der für die Mit- und Nachwelt formuliert, der Lehrer, der die Schüler bildet. Einzig und allein sie reflektieren die Taten ihres Gegenübers: der Tyrannen, Helden und Abenteurer. Auf das erforderliche analytische Denken der Redner, Geschichtsschreiber und Lehrer verweisen die diesen Rollen zugeordneten distanzerzeugenden Blau- und Violett-Töne. Der Sanguiniker als Träger des „erregten“ Gefühlstemperaments empfindet schnell und stark, jedoch nicht dauerhaft und tief, ist hoffnungsvoll und sorglos. Das ausgleichende Grün und das heiter-unbeschwerte Gelb charakterisieren die Verhaltensweisen der dieser Gruppe zugewiesenen Poeten, Liebhaber und Bonvivants. Ihnen diametral 212 Zu den hier beschriebenen psychologischen Farbwirkungen vgl. LA I.4, §§ 765 – 802, S.  225 – 232 (Farbenlehre, Didaktischer Teil). 213 Vgl. Matthaei, Temperamentenrose, a. a. O., S. 37. 214 Die im Folgenden aufgeführten Charakterisierungen der einzelnen Temperamente erfolgen nach Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a. a. O., S. 212 – 218.

5.4  Subjektkonzepte in Farbschemata

finden wir mit den Philosophen, Pedanten und Herrschern die Tätigkeiten des „abgespannten“ Melancholikers. Ihn zeichnen intensives Denkvermögen und hohe Konzentrationsfähigkeit aus. Diesem Temperament wurde die Farbe Violett an die Seite gestellt, welche die unruhig machenden Reize und eine Lebhaftigkeit ohne Fröhlichkeit symbolisiert, sowie das Purpur als Farbe des Herrschers. Die Ordnung der jedem Temperament zugewiesenen Tätigkeiten ergibt keinen stringenten Sinn. Ist auf der Seite der warmen Gelb- und Orangefarben von Bonvivants – Abenteurern – Helden – Tyrannen zu den Herrschern noch eine gewisse Steigerung zu erkennen, gilt diese nicht für die Seite der kalten Blaufarben. Einzig schlüssig ist die Zuteilung von jeweils drei Farben für die Temperamente der Tätigkeit Choleriker / Phlegmatiker, von zweien für die Gefühlstemperamente S ­ anguiniker/ Melancholiker. Die komplementäre Entsprechung der Begriffe Poeten und Herrscher zeigt die interessanteste Konstellation der gesamten Temperamentenrose. Wollten ­Goethe und Schiller damit die finanzielle Abhängigkeit der Poeten vom Regenten, denn dieser wird mit dem Purpur, jener mit der „gemeinen“ grünen Mischung verbunden, symbolisieren? Ist ihre Komplementarität, die gegenseitige Ergänzung von Kunst und Macht, notwendig für die Glückseligkeit des Staates? Von den Intentionen der Urheber wissen wir nichts. Lediglich die Richtung der Handschrift lässt vermuten, dass Schiller mit der Beschriftung des Herrschers, dem purpurnen, höchsten Sektor des Farbenkreises, begann. Gehen wir der Konnotation des Herrschers mit dem melancholischen Temperament intensiver nach, die einer langen abendländischen Tradition folgt,215 drängt sich eine neue Interpretation auf: Die Melancholie als extremstes, weil intensivstes der vier Temperamente repräsentiert nicht nur den Trüb- und Stumpfsinn, sondern auch – wie in der Farbe Violett symbolisiert – die höchste, gesteigerte Kraft der Intelligenz, die tiefste Kontemplation. Dieser Ansatz erfährt in der abendländischen Geschichte eine humoralpathologische Begründung, in der die schwarze Galle als Verursacherin der Melancholie der einzige Körpersaft ist, der kein eigenes Organ besitzt und lediglich imaginativ vorhanden ist. Die Melancholie zeigt das Bild einer erzwungenen 215 Genannt seien neben vielen anderen Autoren exemplarisch folgende: In der Schrift Problem XXX,I, die Aristoteles, aber auch anderen Verfassern zugeschrieben wird, wird die These vertreten, dass alle überragenden Männer in Kunst, Dichtung, Philosophie oder Staatskunst Melancholiker gewesen seien. Im 13. Jahrhundert interpretiert der Scholastiker Wilhelm von Auvergne die Melancholie bedeutender Menschen unter humoralpathologischen Aspekten der natürlichen Temperamente. Eine psychologische Konkretisierung und Systematisierung erfuhr diese Lehre jedoch erst durch Marsilio Ficino, der ihr mit De vita triplici die erste eigenständige Monographie widmete, die die Verbindung dieses Temperaments und des Planeten Saturn umfassend beschreibt. Verwiesen sei auch auf Robert Burtons 1621 erschienenes Werk Anatomy of Melancholie, in der er die Melancholie als chronische Krankheit betrachtet. Vgl. hierzu die ausführliche Analyse von Klibansky, Raymond / Panofsky, Erwin / Saxl, Fritz, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt am Main 1992, S. 12, 58, 133 und S. 366.

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Innerlichkeit,216 sie bricht sich in Selbstreflexion und -konzentration Bahn. Sie ist es, die Genies oder Außenseiter hervorbringt, bezeichnet sie „selten gewöhnliche Charaktere und Schicksale, sondern Menschen, die von den anderen abgesondert sind, göttliche oder tierische, glückselige oder vom tiefsten Elend darniedergebeugte“.217 Nach dieser Lesart „steigert“ sich derjenige Poet zum Herrscher, der die Dichtkunst als Regulierungsmittel einer überbordenden Einbildungskraft zielgerichtet einzusetzen weiß, wie es in den Dilettantismus-Schemata heißt: „Kultur der Einbildungskraft, besonders als integrirender Theil bei der Verstandesbildung. […] Erweckung und Stimmung der produktiven Einbildungskraft zu den höchsten Funktionen des Geistes auch in den Wissenschaften und im praktischen Leben.“ 218 Zur Verdeutlichung des erzieherischen Wertes der Dichtkunst wollte ­Goethe der Arbeit über den Dilettantismus selbst „gar zu gern auch eine poetische Form geben“, „teils um sie allgemeiner, teils um sie gefälliger wirken zu machen“.219 Die poetische Thematisierung des Dilettierens sollte also Menschen von eben demselben abhalten. Nach dem endgültigen Verwerfen des Dilettantismus-Projekts wird die theoretisch im Trüben belassene Figur des Dilettanten von G ­ oethe lediglich poetisch aufgearbeitet, z. B. im Eduard der Wahlverwandtschaften. Neben dem Herrscher und dem tiefgründig denkenden Philosophen wurde dem Sektor des Melancholikers der Pedant zugeordnet. Vis à vis zu diesem Begriff liegt im Kreisschema die Bezeichnung Liebhaber. Um 1800 war der Begriff Liebhaber ein oft gebrauchtes Synonym für Dilettant, als Pedant hingegen wird ein korrekter, auf Vollständigkeit von Erkenntnissen erpichter Sammler bezeichnet,220 der sich damit einem melancholischen Zeitvertreib hingibt. Er entreißt die als kostbar betrachteten Gegenstände dem empirisch erfahrbaren Hier und Jetzt, um die Vollständigkeit ihrer Sammlung in einem herausgehobenen Wissenskosmos zu vollenden. Doch schnell muss der Erkenntnissuchende erfahren, dass seine Anstrengung ins Grenzenlose wächst, da durch die irdische Zeitlichkeit des Wissens stets das letzte Stück fehlen wird.221 Der Widerspruch zwischen Empirischem und Übersinnlichem, Endlich- und Unendlichkeit zeigt sich im Temperament des Melancholikers am deutlichsten. Mit seinem fühlenden, vergänglichen Körper beugt er sich dem Diktat von Raum und Zeit, als denkendes, kontemplatives Individuum hingegen favorisiert er die Unendlichkeit der Idee, sucht nach tieferliegenden Wahrheiten, die in der Kunst sichtbare, dauerhafte Gestalt gewinnen. 216 Vgl. Starobinski, Jean, Die Tinte der Melancholie, in: Clair, Jean (Hg.), Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst, Paris / Berlin 2006, S. 24 – 31. 217 Ficino zit. n. Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn und Melancholie, a. a. O., S. 366. 218 WA I,47, S. 312 (Über den Dilettantismus). 219 ­Goethe an Friedrich Schiller am 22. Juni 1799, in: Briefwechsel Schiller G ­ oethe, a. a. O., S. 768. 220 Vgl. Matthaei, Temperamentenrose, a. a. O., S. 41. 221 Vgl. Clair, Jean, Die Melancholie des Wissens, in: ders. (Hg.), Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst, Paris / Berlin 2006, S. 200 – 206, hier S. 200.

5.4  Subjektkonzepte in Farbschemata

Über die einzelnen künstlerischen und wissenschaftlichen Tätigkeiten hinaus kann die Temperamentenrose auch als Symbol für das homöostatische Ideal des gesamtgesellschaftlichen Kunstbetriebs interpretiert werden. In ihm besitzt der Dilettant einen nicht zu unterschätzenden Einfluss, wovon seiner kunsttheoretischen Abwertung zum Trotz die Vielzahl der ihn reflektierenden Diskurse zeugt. Er fungiert als rezipierendes Komplement des Künstlers – eine Rolle, die ­Goethe mehrfach reflektiert: Erstens entgeht ­Goethe der gewachsene finanzielle Einfluss des deutschen Bürgertums auf den Kunstbetrieb nicht, wenn er in der Einleitung der Propyläen schreibt, dass das Publikum „für seinen Beifall, für sein Geld, ein Werk verlangt, das ihm gefalle“.222 Durch ihre ökonomische und politische Konsolidierung erlangte diese Gesellschaftsschicht um 1800 einen verstärkten Zugang zu unterschiedlichen Kunstgattungen und gewann damit eine große Macht auf dem Kunst- bzw. Literaturmarkt.223 Zweitens manifestieren G ­ oethe und Schiller die Wechselwirkungen von Kunst und Leben an den Doppelbedeutungen der Begriffe Pedant und Liebhaber. Dem Liebhaber als Dilettanten und Bühnenrolle steht der Pedant gegenüber, der sich nicht nur als Kenner zeigt, sondern auch als eine Figur der Commedia dell’arte. Diese Figur – gewöhnlich als dottore bezeichnet und von Molière übernommen – tritt im Theater des 18. Jahrhunderts auf.224 Diese Doppelkonnotation verweist zum einen auf die Reflexion der Lebensrealitäten durch die Bühnenkunst, zum anderen auf die pädagogische Funktion des Theaters, die eine tragende Rolle in Schillers kunstästhetischen Schriften spielt.225 Drittens entwirft ­Goethe in der kunsttheoretischen Schrift Der Sammler und die Seinigen eine glühende Polemik gegen jene Liebhaber und Künstler, die sich nur mit einzelnen Teilen der Kunst, nicht aber mit ihrem Ganzen beschäftigen. Im Text, der in engem Gedankenaustausch mit Schiller während der Dilettantismusdebatte entstand, beschreibt ­Goethe Künstlertypologien. Ereilt die dort einzeln aufgeführten Nachahmer, Charakteristiker und Kleinkünstler der Vorwurf des bloßen Naturalismus und einer übertrieben strengen Ausführung ihrer Tätigkeiten, kritisiert G ­ oethe an den Imaginanten, Undulisten und Skizzisten eine zu sorglose, leichte Betätigung. Er unterstellt ihnen Manieriertheit und eine überbordende Phantasie. So wie in seinen chromatischen Studien die beiden Grundfarben des Farbenkreises, das fröhlich-unbeschwerte Gelb und das ernste, strenge Blau, einander ergänzen, fordert G ­ oethe in der Sammler-Schrift die Verbindung verschiedener dieser Tätigkeiten, um Einseitigkeit zu verhindern. Erst 222 FA I.18, S. 467 (Einleitung in die Propyläen). 223 In dieser aufstrebenden Schicht hatte das Dilettieren einen weiteren positiven Effekt. Es diente in starkem Maße als sozialpsychologische Entlastung für eine zunehmend funktionaler werdende Berufswelt. Vgl. Müller-Tamm, Kunst als Gipfel der Wissenschaft, a. a. O., S. 183 – 192. 224 Vgl. Matthaei, Temperamentenrose, a. a. O., S. 41. 225 Exemplarisch seien hier die Schriften Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich bewirken? und Über die ästhetische Erziehung des Menschen angeführt.

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durch ihre Verknüpfung kann sich der den Stil beherrschende „vollendete Künstler“ bilden, durch die Zusammenführung dieser Neigungen der „echte Liebhaber“.226 Die von ­Goethe der Malereigeschichte entlehnte Zuordnung der warmen Gelbtöne zur Emotionalität des Liebhabers bzw. Dilettanten, der kalten Blautöne zu den Geisteskräften des Künstlers und Kenners bietet einmal mehr den Bezug zur veraltenden Humoralpathologie an: In der Antike wurden die Säfte des Sanguinikers und Cholerikers mit dem Warmen, des Melancholikers und Phlegmatikers mit dem Kalten gleichgesetzt.227 Dieser Zuordnung entspricht im Ungefähren die Lage der Gelb- und Blautöne der Temperamentenrose. Eine weitere Lesart des Schemas gestattet Polanyis bereits beschriebenes Konzept des tacit knowing, nach dem jeder Mitteilungsakt nicht rational erfassbare Kriterien enthält, die den bewussten Kommunikationsinhalten sogar zuwiderlaufen können.228 In diesem Sinne verweist das in die Temperamentenrose integrierte Konzept der Humoral­pathologie auf die Erfolglosigkeit der Abgrenzungsbemühungen zwischen Nichtskönner und Künstler. Ist G ­ oethe und Schiller zwar an einer objektiven Definition der zeitlosen Kunstgesetze gelegen, kommen sie nicht umhin, das schaffende, rezipierende und vergängliche Subjekt mit seinen individuellen Dispositionen zu berücksichtigen. Betrachten beide Männer den die Naturgesetze erkennenden Künstler als Norm, definieren sie den dem Subjektiven verhafteten Dilettanten als Pathologie. Diese Engführung kommt besonders in der Erörterung der lyrischen Poesie in den Dilettantismus-Schemata zum Tragen: „Dilettant wird nie den Gegenstand, immer nur sein Gefühl über den Gegenstand schildern […] Alle dilettantischen Geburten in dieser Dichtungsart werden einen pathologischen Character haben und nur die Neigung und Abneigung ihres Urhebers ausdrücken.“ 229 Doch Norm und Pathologie erscheinen hier als Abstrak­tionen, die den vielfältigen Erscheinungsformen von Künstler – Kenner – Liebhaber / Dilettant – Nichtskönner nicht gerecht werden.230 Die Zusammenführung der Temperamentenlehre und des Konzepts der Sensibilität, die ­Goethe und Schiller in Rekurs auf die in Kants Anthropologie getätigte Einteilung in Erregbarkeit (intensio) und Abspannung (remissio) der Lebenskraft vornehmen, kann als unbewusster Versuch gedeutet werden, der hohen Spannbreite der 226 Vgl. FA I.18, S. 676 – 733, Zitate S. 733 (Der Sammler und die Seinigen). 227 Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl, Melancholie und Saturn, a. a. O., S. 121. Auch Kant teilt die seelische Veranlagung der Temperamente in Analogie zur Blutbeschaffenheit wie folgt ein: Der Sanguiniker ist leichtblütig, der Melancholiker schwerblütig, der Choleriker warm- und der Phlegmatiker kaltblütig. Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a. a. O., S. 214 – 218. 228 Vgl. Polanyi, Implizites Wissen, a. a. O., S. 9 – 14. 229 WA I,47, S. 314 (Über den Dilettantismus). 230 Dieser Ansatz zeigt Parallelen zur epistemischen Wende in der Medizin um 1800. Wie bereits in Kapitel 3.2.3 dieser Arbeit angesprochen, begannen die Mediziner in jener Zeit, die Norm des gesunden Lebens und seiner Pathologien zu definieren. Sie taten dies von dessen absoluter Negation, dem Standpunkt des Todes aus. Vgl. Foucault, Geburt der Klinik, a. a. O., S. 156 – 158.

5.4  Subjektkonzepte in Farbschemata

o. a. künstlerischen Möglichkeiten gerecht zu werden. Nicht nur in Hygiene und Psychologie, sondern auch im kunsttheoretischen Diskurs wird damit die Temperamentenlehre als Strukturierungshilfe benutzt, um Verhalten und Leistungen der Menschen zu ordnen. Avancierte die Sensibilität im 18. Jahrhundert zum Kennzeichen des Lebendigen selbst, spielte in die psychologischen Diskurse jener Zeit noch immer die Temperamentenlehre hinein. Die individuell-sensiblen Verhaltensausprägungen wurden als vom jeweiligen Temperament abhängig betrachtet.231 Auf die Vielzahl der künstlerischen Entwicklungsstränge verweist mehr oder weniger unbewusst die Darstellungsweise der Temperamtenrose selbst. In ihr liegen die Segmente des Farbenkreises nicht konform zur Struktur des mittleren (Tätigkeiten-) und äußeren (Temperamenten-)­Ringes, sondern sind gegeneinander verschoben. Wie die Farbsegmente zeigen auch die Temperamente nur Schematisierungen, hinter denen sich eine Vielzahl individueller Ausprägungen verbirgt. Das vielbekämpfte Subjektive, das Konzept des Lebens selbst, durchkreuzt damit letztendlich ­Goethes und Schillers Versuch, objektive künstlerische Maßstäbe zu entwickeln. Noch in einem weiteren Bildschema hat Goethe ein Konzept des menschlichen Körpers dargelegt: im 1809 entstandenen Farbenkreis zur Symbolisierung des mensch­ lichen Geistes- und Seelenlebens, der in zwei Ringe gegliedert ist. Der Außenring enthält die menschlichen Erkenntnisvermögen Verstand, Vernunft, Sinnlichkeit und Phantasie, der Innenring Beschreibungen ästhetischer Eigenschaften (vgl. Abb. 64). Die im Schema zu findende Topologie dieser Begriffe ist eine ikonische Umsetzung der von Karl Philipp Moritz’ entwickelten Relationen ästhetischer Kriterien, die er in der Schrift Ueber die bildende Nachahmung des Schönen entwarf.232 Die in diesem Werk entwickelte Theorie der Kunstautonomie, nach der „das Wesen des Schönen [...] in seiner Vollendung in sich selbst besteht“,233 richtete Moritz gegen die tradierte Wirkungsästhetik – ein Entwurf, der das spätere Konzept des Klassizismus entscheidend beeinflussen sollte. Goethe hatte die 1788 publizierte Schrift, in die auch die gemeinsamen kunsttheoretischen Erörterungen beider Männer in Rom einflossen, ein Jahr später in einem kurzen Aufsatz exzerpiert und rezensiert und sich Ende 1809 erneut mit Moritz’ Schrift auseinandergesetzt.234 Moritz entwarf sein ästhetisches Konzept der bildenden Nachahmung des Schönen in Anlehnung an die moralische Nachahmung des Edlen und Guten, die selbstreflexiv 231 Als Beispiel sei auf Henri Fouquet verwiesen, der im Artikel Sensibilité der Encyclopédie die These vertritt, dass die Differenzen der Sensibilität einzelner Organe auch von den Dispositionen der Temperamente abhängen. Vgl. Fouquet, Henri zit. n. Sarasin, Reizbare Maschinen, a. a. O., S. 80 – 81. 232 Vgl. WA III,4, S. 76 (Tagebucheinträge vom 7. und 8. November 1809). 233 Moritz, Karl Philipp, Ueber die bildende Nachahmung des Schönen, Braunschweig 1788, S. 28. 234 Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Moritz’ und Goethes Theorie der Ästhetik vgl. Wolf, Streitbare Ästhetik, a.a.O., S. 438 – 443 und S. 474 – 499. Zur erneuten Reflexion von Moritz’ Werk durch Goethe vgl. LA II.1A, S. 267.

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wirkt. Den künstlerischen Schaffensprozess selbst begreift er analog zur natürlichen Entwicklung. Er fasst die Kunst als eine zweite, erweiterte Natur auf und betrachtet die bildende Nachahmung dieser als erste Künstlerpflicht. Dem Naturganzen unterlegt er ein autopoietisches Entwicklungsprinzip – die Tatkraft, die er auch für den Menschen als einen Teil der Natur postuliert: „Die Natur konnte aber den Sinn für das höchste Schöne nur in die Thatkraft pflanzen, und durch dieselbe erst mittelbar einen Abdruck dieses höchsten Schönen in der Einbildungskraft fassbar, dem Auge sichtbar, dem Ohre hörbar, machen; weil der Horizont der Thatkraft mehr umfasst, als der äussre Sinn, und Einbildungs- und Denkkraft fassen kann. [...] In der Thatkraft liegen nämlich stets die Anlässe und Anfänge zu so vielen Begriffen, als die Denkkraft nicht auf einmal einander unterordnen; die Einbildungskraft nicht auf einmal neben einander stellen, und der äussre Sinn noch weniger auf einmal in der Wirklichkeit ausser sich fassen kann.“235

Wie dieses Zitat belegt, besitzt in Moritz Konzept die Tatkraft ein umfassenderes Erkenntnispotential als die in ihrer jeweiligen Spezifik kooperierenden Seelenkräfte gemeinsam. Nur sie allein ist in der Lage, das Ganze des Naturschönen zu erfassen, das Moritz organismisch denkt. Da das Schöne nur aus sich selbst heraus erkennbar ist, werden äußere Vergleichswerte obsolet. Aus diesem Grund spricht Moritz der analytisch-vergleichenden Denkkraft jegliche Zuständigkeit für die Erfahrung des Schönen ab und betrachtet die Empfindung sowie die aktive künstlerische Aneignung der Wirklichkeit als adäquate Mittel für dessen fundierte Durchdringung und Reflexion: „Das Schöne kann [...] nicht erkannt, es muss hervorgebracht – oder empfunden werden.“ 236 Diese sinnlich-emotionalen Zugänge zum Schönen spiegeln sich in zwei von Moritz konzipierten Kräften wider: der Bildungs- und der Empfindungskraft, die Formen der Tatkraft sind. Die Bildungskraft spricht Moritz ausschließlich dem wahren Künstler, dem Genie, zu, das seine empfindende Erkenntnis des Naturschönen im Kunstwerk für andere darstellt. Da das Kunstschöne den höchsten Genuss bereits während seines Werdens bereitet, ist die Bildungskraft des Künstlers zugleich auch Empfindungsvermögen. Der Kunstrezipient hingegen besitzt nach Moritz’ eine ausschließliche Empfindungskraft, weil jede weitere Betrachtung des einmal In-sich-selbst-Vollendeten nur ein empfindender „Nachgenuss“ sein kann. In diesem Kontext unterscheidet Moritz vom echten Bildungstrieb des Künstlers – wie bereits dargelegt – den falschen Bildungstrieb des Dilettanten, ohne diesen Begriff zu benutzen. Der falsche Bildungstrieb, der die Empfindungs- mit der Bildungskraft verwechselt und das Werk eigennützig

235 Moritz, Ueber die bildende Nachahmung, a.a.O., S. 21 – 22. 236 Vgl. ebd., S. 26 – 27, Zitat S. 27.

5.4  Subjektkonzepte in Farbschemata

wegen der zu erwartenden Wirkung, nicht aber um seiner selbst willen schafft, kann nur Gemeines und Schlechtes produzieren. Der echte Bildungstrieb hingegen erzeugt in der Einmaligkeit der von ihm geschaffenen Werke Schönes und Edles.237 Wie hier bereits angesprochen, ist nach Moritz das Wirken der Tatkraft durch ästhetische Kriterien beurteilbar, die er kreisförmig in bestimmte Relationen zueinander setzt, so dass sich symbolisch ein in sich geschlossenes Ganzes figuriert. Er selbst spricht von einem „Zirkel von Begriffen“, der „zuletzt sich wieder in sich selbst verliert, indem seine beiden äussersten Enden gerade da wieder zusammenstossen, wo, wenn sie nicht zusammenstiessen, von einem zum andern der weiteste Weg seyn würde“.238 Zum Verständnis des nachfolgend betrachteten Farbenkreises werden lediglich die Beziehungen dieser Kriterien zueinander vorgestellt. Eine detaillierte Hintergrunderklärung würde den begrenzten Rahmen dieses Kapitels sprengen. Nach Moritz wird das Schöne nur als solches erkannt, wenn es dem Nützlichen entgegensteht. Das Nützliche betrachtet er lediglich als Teil eines organischen Ganzen, das von ihm bzw. dessen Teilen zweckbestimmt wird. Wie das Schöne bildet das Unnütze dagegen selbst ein Ganzes, das seinen Zweck aus sich heraus erhält. Das Schöne unterscheidet sich vom Unnützen wiederum dadurch, dass es Sinne und Einbildungskraft des Menschen anregt. Das Edle differenziert Moritz vom Schönen, indem er jenes als innere Seelenschönheit, dieses aber als sichtbare „Schönheit auf der Oberfläche“ definiert. Da diese immer auch „ein Abdruck der innern Seelenschönheit“ ist, enthält sie ebenfalls das Edle, ist mit diesem jedoch aufgrund der von Moritz different gefassten Topoi nicht identisch.239 Das Gute, das er am Beispiel menschlicher Handlungen charakterisiert, wird sowohl wegen seiner Beweggründe, aber auch wegen seiner Folgen geachtet, womit es einem äußeren Zweck unterliegt. Jedoch ist es durch das Vorhandensein der Beweggründe noch eine Stufe vom Nützlichen entfernt. Die edle Handlung hingegen steht durch die ausschließliche Bedeutung ihrer Motive eine Stufe näher am Schönen. Analog dem Verhältnis zwischen Nützlichem und Gutem konzipiert Moritz die Relation zwischen Unnützem und Schlechtem. Das Unnütze, dessen Anfang das Schlechte ist, ist zwar am weitesten vom Schönen entfernt, liegt diesem durch seinen Selbstzweck jedoch zugleich am nächsten, so dass sich der Kreis wieder schließt. In dieser Reihe fügen sich Nützliches und Gutes mit dem Schönen und Edlen aneinander, wobei das Nützliche dem Schönen und Edlen mehr entgegensteht als das Gute. Dieses bildet den Übergang zwischen dem Nützlichen einerseits, dem Schönen und Edlen andererseits, deren beider Anfang es ist.240

237 Vgl. ebd., S. 25 – 39, Zitat S. 26. 238 Ebd., S. 12. 239 Vgl. ebd., S. 7 – 8, Zitate S. 7. 240 Vgl. ebd., S. 6 und S. 11 – 18.

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Diese Zirkelform setzt Goethe ins Schema des Farbenkreises zur Symbolisierung des menschlichen Geistes- und Seelenlebens, in dem er die ästhetischen Kriterien den Farben der entsprechenden Symbolkraft zuordnet: Das Nützliche teilt er der gemeinen Mischung des Grünen zu, die erst durch eine äußere Bestimmung, hier durch die Mischung des Gelben und Blauen, entsteht. Ihr entgegengestellt, befindet sich als Gipfel der die Natur erweiternden Kunst das dem majestätischen Purpur zugeordnete Schöne, das Moritz aus der Steigerung vom Guten über das Edle ebenso ableitet wie über die Steigerung des Unnützen („unnöthig“). Dessen absteigende Bewegung mündet wiederum im Schlechten („gemein“), das dessen Anfang ist.241 Die Stellung des Schönen auf der höchsten Stufe der Erscheinungen interpretiert Goethe nach dem Prinzip der Steigerung: „Wenn wir nun durch alle Stufen hinaufsteigen, so finden wir das Schöne auf dem Gipfel aller Dinge, das wie eine Gottheit, beglückt und elend macht, nützt und schadet, ohne daß wir sie deswegen zu Rechenschaft ziehen können noch dürfen.“ 242 Zwischen Nützlichem und Schönem, Grün und Rot verlaufen die mit den warmen Farben Gelb und Orange konnotierten Eigenschaften des Guten und Edlen sowie die mit den kalten Farben Blau und Violett verbundenen Eigenschaften des Gemeinen und Unnötigen Moritz’ Konzept entsprechend in einer kreisförmigen Reihe. Das dem Orange zugeordnete Edle, das ebenso wie das Schöne durch den echten Bildungstrieb geschaffen wird, steht dem Gemeinen des distanzerzeugenden Blau gegenüber, das den falschen Bildungstrieb symbolisiert. Auch wenn der Farbenkreis auf den ersten Blick durch Moritz’ ästhetische Kriterien bestimmt zu sein scheint, zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass Goethe ebenso seine eigene Kunsttheorie in dieses Schema integrierte, um Moritz’ Konzept zu hinterfragen. Anders als in dessen ästhetischer Theorie basiert sein Kunstkonzept – wie in Kapitel 1.2 bereits beschrieben – neben der Sinneswahrnehmung auf der geistigen Durchdringung der Natur. Deshalb verleiht er dem künstlerischen Schaffensprozess selbst eine erkenntnistheoretische Funktion und wertet anders als Moritz die rationalen Vermögen des Künstlers auf. In diesem Kontext sei daran erinnert, dass Goethe im Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier und Stil, der ein Jahr nach Moritz’ Schrift erschien, darlegt, nur derjenige könne die höchste Stufe der Kunst, den Stil, erreichen, der Sinneswahrnehmung und künstlerische Kreativität an die analytische Durchdringung der Natur binde. Nicht die Bildungskraft, sondern das gemeinsame Agieren von rationalen und emotionalen Seelenvermögen ist nach Goethe zur Schaffung wahrer Kunstwerke erforderlich.243 241 Vgl. ebd., S. 11 – 18. 242 FA I.18, S. 259 (Über die bildende Nachahmung des Schönen). 243 Zur unterschiedlichen Behandlung der rationalen Erkenntnisvermögen in den ästhetischen Theorien von Goethe und Moritz vgl. die Parallellektüre ihrer einschlägigen Texte in: Dörr, Volker C., „Reminiscenzien“. Goethe und Karl Philipp Moritz in intertextuellen Lektüren. Würzburg 1999, S. 131 – 140.

5.4  Subjektkonzepte in Farbschemata

Koinzidieren die ästhetischen Kriterien im Innenring des Farbenkreises mit den psychologischen Wirkungen der ihnen von Goethe zugeteilten Farben, trifft dies auf das Verhältnis zwischen Seelenkräften und ästhetischen Kriterien nicht zu. Es ergibt ebenso wenig eine stringente Logik wie die Relation zwischen Seelenkräften und Farbsegmenten und lässt deshalb unterschiedliche Deutungen offen. Goethe ordnet jedem Seelenkraft-Sektor zwei mit den Eigenschaftssegmenten identische Farbsegmente zu. Von ihnen nimmt jeweils eines eine wesentlich größere Fläche als das andere ein. Verstand und Vernunft konnotiert er entgegen seiner im didaktischen Teil aufgestellten Farbsemantik hauptsächlich mit den warmen Farben Gelb und Orange, Phantasie und Sinnlichkeit mit den kalten Farben Violett und Blau. Nach Moritz’ ästhetischem Konzept ergibt sich folgende Deutung: Die zur Erkenntnis des Naturschönen erforderliche Empfindung, mit der jeder Schaffensprozess beginnt, kann sich ohne Sinneswahrnehmung und auch das Spiel der Phantasie nicht generieren. Das dem purpurnen Schönen diametral liegende Grün, das Goethe u. a. der Sinnlichkeit zuordnet, auf die im Farbenkreis die Phantasie aufbaut, verweist auf diese Erkenntnisbasis, aber auch auf die Natur selbst, die als Vorbild für den künstlerischen Schaffensprozess gilt. Das der Sinnlichkeit ebenfalls zugeteilte Blau und das Violett der Phantasie, die Goethe als passive, distanzerzeugende Farben charakterisiert, können durchaus als Verweis auf den Ersatz der rationalen Erkenntniskräfte durch Sinnlichkeit und Phantasie in Moritz’ Entwurf gedeutet werden. Die Lesart durch Goethes ästhetische Theorie ergibt selbstredend eine andere Interpretation: Die den rationalen Seelenvermögen Verstand und Vernunft zugeteilten warmen bzw. positiven Farben Gelb und Orange, denen Goethe psychologisch eine anziehende Wirkung zuspricht, stehen für seine Aufwertung dieser Vermögen im Erkenntnisprozess, der das künstlerische Schaffen unabdingbar begleitet. Die distanzerzeugende Wirkung der der Sinnlichkeit und Phantasie zugeordneten kalten Farben Blau und Violett können als Goethes Kritik an Moritz empfindungsbasierter Ästhetik verstanden werden. In seiner ästhetischen Theorie betrachtet Goethe Verstand und Sinnlichkeit als Basiskräfte der empirischen Weltaneignung, wofür die ihnen zugewiesenen Grundfarben der Physiker Gelb und Blau stehen. Doch kann in seinem Konzept erst durch das Zusammenwirken von Phantasie und Vernunft, die durch die farbliche Zuordnung von Violett und Orange als Steigerung und Veredlung beider Grundfarben bestimmt werden, das dem Purpur zugeteilte Schöne des wahren Kunstwerks entstehen. In diesem Kontext verweist das Zusammentreffen der Begriffe Vernunft und Phantasie im Segment des Schönen auf die Regulierungsfunktion der Vernunft für die Einbildungskraft des Künstlers. Indem der Außenring mit den den Farben zugeordneten Seelenvermögen den Innenring mit Moritz’ ästhetischen Kriterien umschließt, behält in diesem Schema Goethes Kunsttheorie das letzte Wort über Moritz’ ästhetisches Konzept. Eine ähnlich beliebige Zuordnung von Farben und Erkenntnisvermögen wie im Farbenkreis zur Symbolisierung des menschlichen Geistes- und Seelenlebens nimmt G ­ oethe

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an der einzigen bekannten dreidimensionalen Farbmatrix vor: dem Tetraeder mit Farbensymbolen, das vermutlich 1817 entstand und das er in seinem Arbeitszimmer aufbewahrte 244 (vgl. Abb. 65). Das Schema steht auf einer grünen, der Sinnlichkeit ­zugeordneten Basisfläche, über der sich eine „rational“-blaue Fläche des Verstandes, eine „lichte“ gelbe der Vernunft und eine „gesteigerte“ rote der Phantasie erhebt. Auch wenn G ­ oethe die letztgenannten drei Seelenkräfte räumlich gleichberechtigt aufs Tetraeder setzt, beschreibt er damit die Phantasie durch ihre farbliche Zuordnung als zentrale Erkenntniskraft, die in ihrer medialen Funktion neues Wissen generiert, wie bereits in Kapitel 2.5 dieser Arbeit angeführt: „[…] sie suppliert die Sinnlichkeit, unter der Form des Gedächtnisses, sie legt dem Verstand die Welt-Anschauung vor, unter der Form der Erfahrung, sie bildet oder findet Gestalten zu den Vernunftideen und belebt also die sämtliche Menscheneinheit, welche ohne sie in öde Untüchtigkeit versinken müßte.“ 245 In diesem dreidimensionalen Schema entspricht die Zuordnung von Seelenvermögen und Farben am ehesten den sinnlich-sittlichen Zuschreibungen der Farbenlehre. Zusammenfassend sei festgehalten, dass in den unterschiedlichen Farbsemantiken der Schemata die Rot-Grün-Polarität durchgängig die größte Bedeutung besitzt bzw. den Schlüssel zur Interpretation der jeweiligen Farbmatrix bildet. Ist es in der Temperamentenrose das Verhältnis von Liebhaber und Pedant bzw. Poet und Herrscher, das sich durch diese beiden Farben interpretieren lässt, ist es im Farbenkreis zur Symbolisierung des menschlichen Geistes- und Seelenlebens das Verhältnis vom höchsten Schönen zum Nützlichen in Moritz’ ästhetischem Konzept sowie die Relation zwischen der Natur und der diese reflektierenden Kunst in Moritz’ wie Goethes ästhetischer Theorie. Im Tetraeder mit Farbensymbolen symbolisiert die Lage von Grün und Rot das Verhältnis zwischen der Sinnlichkeit als basalem Erkenntnisvermögen und der ihre Eindrücke strukturierenden und weiterentwickelnden Phantasie. In den letzten beiden, die menschlichen Seelenkräfte reflektierenden Schemata besitzt allein

244 Für das Entstehungsjahr 1817 spricht die Beischrift zur Beilage Kurze Vorstellung der Kantischen Philosophie eines Briefkonzepts an die Weimarer Großherzogin Maria Pawlowna vom 31. Dezember und 2. Januar desselben Jahres. In ihr kritisiert G ­ oethe – wie bereits in Kapitel 2.5 dieser Arbeit ausgeführt – den Theologen und Philosophen Franz Volkmar Reinhardt, der bei der Darstellung der kantischen Philosophie nach ­Goethes Meinung die Phantasie nur ungenügend berücksichtige. Vgl. LA II.1B, S. 834 – 836 sowie LA II.1A, S.  285 – 286. 245 LA II.1B, S. 834 (Beischrift zur Beilage Kurze Vorstellung der Kantischen Philosophie eines Briefskonzepts an die Großherzogin Maria Pawlowna vom 31. Dezember 1816/2. Januar 1817). Die erkenntnistheoretische Gewichtung der Phantasie verdeutlicht G ­ oethe auch in einer Vorarbeit zum Farbentetraeder. In ihr enthält das Zentrum eines dreifach unterteilten Dreiecks, aus dem sich durch Hochstellen der Seiten ein Tetraeder erstellen ließe, den abgekürzten Begriff Phant. Vgl. LA II.1A, S. 286.

5.4  Subjektkonzepte in Farbschemata

das Grün als (teilweiser) Repräsentant der Sinnlichkeit eine feste Position. Sie verweist darauf, dass dessen empirisch wahrnehmbare Qualität und sein Symbolgehalt deckungsgleich sind.246 Anders als im Farbenkreis, in dem ­Goethe seit 1793 die warmen Farben im Westen (links im Schema), die kalten Farben im Osten (rechts im Schema) anordnete, vertauschte er sowohl in der Temperamentenrose als auch im Farbenkreis zur Symbolisierung des menschlichen Geistes- und Seelenlebens diese Ordnung.247 Eine schriftliche Begründung für dieses Vorgehen existiert nicht. Vielleicht wollte er mit der Demonstration des Austausches auf die Gleichwertigkeit beider Pole und damit auf die epistemologische Egalität der Temperamente und Seelenkräfte in der Totalität des Kreises verweisen. Vielleicht wollte er damit aber auch nur die wissenschaftliche Spielerei dieser Schemata von der erkenntnistheoretischen Funktion des Farbenkreises abgrenzen.

246 Vgl. Holm, Christiane/Schimma, Sabine, Farbmodelle, in: Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen, hg. v. Sebastian Böhmer u.a., München 2012, S. 180 – 181, hier S. 180. 247 Vgl. dazu auch LA II.1B, S. 1195.

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6. ­Goethes Theorie der Wahrnehmung Bereits im Jahre 1793, in der frühen Zeit seiner chromatischen Studien also, konzipierte ­Goethe die Farbe als ein kollektives Projekt, an dem sich Vertreter unterschiedlicher Fachrichtungen beteiligen sollten: Chemiker, Physiker, Mathematiker und Naturhistoriker, aber auch Maler, aufmerksame Laien und Mechaniker, welche die experimentalpraktischen Bedingungen sichern sollten.1 Auch im Hauptwerk Zur Farbenlehre entwirft G ­ oethe die Farben als im heutigen Sinne interdisziplinär zu betrachtende Phänomene, indem er sie geordnet nach ihren jeweiligen Entstehungsbedingungen in einzelne Fachbereiche separiert. Mutet dieser Entwurf zwar wie die gedanklich vorweggenommene Vollendung der um 1800 einsetzenden Disziplinenteilung und ihre rekursive, auf die Objektebene bezogene Verschränkung an, gilt diese Behauptung allerdings mit einer Einschränkung: Während sich die Disziplinen durch ihre Ausrichtung an den Erkenntnisobjekten und Gegenstandsbereichen autopoietisch-regulierend voneinander zu differenzieren und damit ihre Eigenständigkeit zu behaupten begannen,2 verknüpft G ­ oethe diskursiv die unterschiedlichen Entstehungskontexte der Farben durch ein universales Erkenntnismittel – seine Theorie der Wahrnehmung. Von der Betrachtung des aktiven Künstler- und Forscherblicks bis zum Farbenkreis als kompaktester ikonischer Darstellung dieser Perspektiven verfolgte die vorliegende Arbeit das Ziel, den ­goetheschen Erkenntnisweg bei der Ausarbeitung dieser Wahrnehmungstheorie zu verfolgen, dessen Kontinuitäten und Brüche herauszustellen und die wichtigsten Eckpfeiler dieser Theorie herauszuarbeiten. ­Goethe entwickelt seine Farbentheorie als ein Netz ineinander greifender Konstituenten, deren wichtigste das menschliche Auge und das physiologische Körperkonzept des Betrachters, die technischen Apparaturen und Instrumente sowie die wissenschaftlichen Zeichnungen sind. Ob am Begriff des Lebens oder der Technik festgemacht – ihnen ist eines gemeinsam: Sie alle sind Medien, die als verbindende Elemente, als eine Figur des Dritten zwischen zwei Entitäten vermittelnd und dennoch eigenständig agieren. In ihrer Medialität besitzen ihre prominentesten Vertreter Netzhaut, trübes Mittel und Experiment drei Funktionen: eine Transportfunktion, in der sie die Farbdaten zwischen Objekt und Subjekt leiten, eine Systematisierungsfunktion, in der sie die Farbdaten regulierend ordnen, und eine Produktionsfunktion, in der diese 1 Vgl. LA I.3, S. 130 – 136 (Einige allgemeine chromatische Sätze). 2 Vgl. Stichweh, Entstehung des modernen Systems, a. a. O., S. 12 – 14. Zur Kritik der nicht gelungenen disziplinären Trennung in ­Goethes Farbstudien vgl. Helbig, Naturgemäße Ordnung, a. a. O., S. 418 – 419. Helbig behauptet, dass G ­ oethe die Farbforschung als eigenständige Disziplin betrachtete – ein Ansatz, der m. E. nicht haltbar ist. Im Gegenteil: Gerade durch die Beachtung des Kontextbezugs der Farbentwicklung mutet der didaktische Teil wie ein Vorläufer der sich erst später vollendenden Spezialisierung der wissenschaftlichen Disziplinen an.

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6.  Goethes Theorie der Wahrnehmung

Medien – als Visualisierungsmittel agierend – die Farbdaten selbst generieren. Diese Produktionsfunktion, die ­Goethe erkenntnistheoretisch aufwertet, besitzt einen dialektischen Charakter: Wird sie in seinem Farbkonzept nur im Zusammenwirken von Objekt und Subjekt aktiv, markiert sie in diesem produktiven Vorgang zugleich die Grenze zwischen beiden,3 indem sie deren jeweilige ontologische Spezifik herausstellt. Wie Stefan Rieger ohne expliziten Bezug auf ­Goethe, aber dennoch einen seiner erkenntnistheoretischen Termini nutzend, formulierte, dienen Medien der Steigerung der Individualität des Menschen, stärken sie die Entwicklung seiner sinnlichen und psychischen Fähigkeiten. Diese Steigerung des Individuums betrachtet Rieger als Kennzeichen einer ausdifferenzierten Moderne, deren Formierungsbeginn er in der Zeit um 1800 festmacht. In ihrer Materialität und Technik wirken Medien nicht nur als Dispositive auf das Verhalten des Menschen, welche die Botschaft nach ihnen immanenten Regeln formen, sondern fungieren ebenso als Episteme, die Rückschlüsse auf die Selbst- und Fremdbestimmung des Individuums zulassen. In diesem Kontext werden die Modi der Datenerhebung selbst zu Aussagen über den Menschen, verlieren die Grenzen zwischen ihm und den Medien an Trennschärfe:4 „Mensch und Medium sind […] in ein Figurationsverhältnis eingespannt, das die Rede über den Menschen als Spiegelseite einer Rede über die Medien und umgekehrt die Rede über die Medien als Rede über den Menschen aufscheinen läßt: Techno- und Anthropomorphismus oszillieren bis zu einem Punkt, der die Gleichgültigkeit des Differenzschemas Mensch / Medium selbst in Frage zu stellen vermag.“ 5

Als bedeutendste, weil deckungsgleiche Form dieser Verschränkung exponiert Rieger den Menschen kulturwissenschaftlich „als Medium der Medien“ 6 – eine Funktion, die dieser in G ­ oethes Farbkonzept in besonderem Maße besitzt. In dessen Theorie der Wahrnehmung begegnen sich verschiedene Modelle des Menschen. In seinem der Aufklärungspsychologie verhafteten Entwurf der Seelenvermögen beschreibt G ­ oethe das Agieren unterschiedlicher Instanzen in einem medialen Verbund: das materielle Medium des Auges, das nicht nur die Datenflut der äußeren Welt strukturiert, sondern ihren Reizen eine eigene farbliche Ordnung entgegensetzt, das immaterielle Medium der Phantasie, das einmal wahrgenommene Eindrücke synthetisierend und schöpferisch weiterentwickelt, und der Verstand, der 3 4 5 6

Vgl. zur dialektischen Funktion der Medien, die in ihrer vermittelnden Funktion zugleich die Grenze zwischen zwei Entitäten markiert, Hans medienwissenschaftliche Arbeit zu G ­ oethes gesamtem Naturbegriff in Han, Ästhetik der Oberfläche, a. a. O., besonders S. 10. Vgl. Rieger, Stefan, Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt am Main 2001, S. 14, 30 und S. 42. Ebd., S.  13 – 14. Ebd., S. 17 und S. 36.

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zum Formgeber der Sinneseindrücke wird, um diese endgültig dem Erfahrungsbereich zuzuführen. Dieser philosophisch inspirierte Entwurf des Menschen wird in ­Goethes Farbstudien von einem anthropologischen Subjektmodell begleitet und beeinflusst, in dem Körper und Seele immer dann zu einer Einheit werden, wenn ein äußerer einfarbiger Reiz als Dispositiv auf das Auge wirkt, dessen rezeptive wie schöpferische Tätigkeit zur allgemeinen Basis für die Farbempfindung wird. Das sich im 18. Jahrhundert entwickelnde Spezifizierungsmodell der Sinne macht sich auch in ­Goethes Wahrnehmungsentwurf bemerkbar. Er definiert das Sehen ästhetisch – wie alle anderen Sinne auch – über das ihnen korrespondierende Rezeptionsobjekt: die Bilder, nicht aber über die anatomische Struktur des Auges wie die Vertreter der frühen Sinnesphysiologie. In diesem Differenzierungsmodell gesteht er nicht allen Sinnen einen gleichwertigen autonomen Status zu, sondern richtet ihre Bewertung an der herausgehobenen erkenntnistheoretischen Bedeutung des Auges aus. Um gegen die empiristische und sensualistische Höherbewertung des Raumes gegenüber der Farbe anzukämpfen, bemüht er sich, die epistemologische Hierarchie der ihnen korrespondierenden Sinne umzukehren. Er versucht, den Tastsinn durch den Sehsinn zu ersetzen und verankert dieses Konzept auf Objektseite in den zweidimensionalen Erkenntnisfiguren der Farbenbilder. Auch die Wirkungsweise des Gehörs betrachtet G ­ oethe nicht in ihrer physiologischen Eigenständigkeit. In seinen einschlägigen Arbeiten überträgt er nicht nur die in seinen Farbstudien angewendete erkenntnistheoretische Dreiteilung Subjekt – Vermittler – Objekt auf seine Tonlehre, sondern bindet in das Organsystem des Gehörs auch die Stimme ein, um diesem – wie dem aktiv-reaktiven – Gesichtssinn das naturphilosophische Prinzip der Polarität zuschreiben zu können. Das spezifische Wirken von Auge und Ohr legitimiert ­Goethe allein durch die verschiedenen Eigengesetzlichkeiten der ihnen korrespondierenden Künste Farbe und Musik. Es ist nicht zu weit gegriffen, ­Goethes Wahrnehmungstheorie selbst als ein Medium zu charakterisieren, mit und an dem er nicht nur ein erkenntnistheoretisches Modell des menschlichen Körpers herausarbeitet, sondern auch die epistemologische Stellung des Subjekts in Kunst und Natur. In diesem Kontext betrachtet ­Goethe die Funktionen des Gesichtssinns als Grundlage für den Einsatz technischer Medien. Er begreift die unabdingbare Verwendung von Prismen, Linsen und anderen Instrumenten zur Sichtbarmachung der Farben als eine Organverstärkung, als eine Sehhilfe für chromatische Phänomene, die ohne den Einsatz dieser Technik nicht entstehen würden. Doch oft verkehrt sich dieses Verhältnis eigenmächtig ins Gegenteil, wird die Funktionsweise des Gesichtssinns von der Eigenlogik der Apparaturen eingeholt, beispielsweise dann, wenn G ­ oethe die instrumentellen Funktionen als Interpretationsbasis für den lebenden Körper begreift. So überträgt er im Kommentar Das Sehen in subjektiver Hinsicht. Von Purkinje. 1819 die medialen Wirkungsweisen technischer entoptischer Artefakte auf das menschliche Sehorgan, indem er die Funktion des trüben Mittels

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analog zur Tätigkeit des farbengenerierenden Auges setzt. An anderer Stelle bezeichnet er den Menschen als „größte[n] und genaueste[n] physikalische[n] Apparat, den es geben kann“.7 Diese Beispiele zeigen, dass ­Goethe lebende und unbelebte Medien in ihrer datengenerierenden Funktion nicht nur gleichsetzt. Sie werden sogar austauschbar – ein Ansatz, der sein mediales Hierarchiemodell mit dem Menschen an der Spitze zu desavouieren scheint. Auch wenn in G ­ oethes Farbentheorie vielfach Anthropo- und Technomorphes ineinandergreifen, indem er zahlreichen Medien wegen ihrer farbenproduzierenden Funktion einen gleichwertigen erkenntnistheoretischen Status zuspricht, unterscheiden sich diese dennoch, und zwar in der Spezifik ihrer Datengenerierung. Diese wiederum stellt die individuelle Eigenständigkeit jedes Mediums heraus – eine Eigenständigkeit, die den lebenden Organismus bzw. das Auge von den Artefakten Prisma und Linse separiert. In noch stärkerem Maße als die Art der Datenerzeugung verweisen die unterschied­lichen Arten der Selbstregulierung auf die Spezifik des jeweiligen Mediums. Diese zeigen eindrücklich, dass sich Medien in ihrem poetologischen Wirken auch den Lenkungsbemühungen des sie nutzenden Subjekts entziehen können, z. B. das anomale Auge des Farbenblinden, dessen Eigenlogik die Art der Daten selbst verändert, oder die Irregularitäten des explorativen Versuchs, den G ­ oethe bei den entoptischen Experimenten lediglich diskursiv auf dem Papier, nicht aber empirisch vom Einfachen zum Komplexen entwickelt. Werden in seinen Studien alle Farbphänomene durch Medien bedingt, so markiert deren Wirken stets eine Entgrenzung, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen: In der Methode des explorativen Versuchs ist es die prozessual ausgerichtete, potentielle Unendlichkeit, die dem Forscherauge Multiperspektiven auf das Phänomen ermög­ lichen soll. In den praktischen Experimentalkonstellationen selbst besitzt die räumliche Entgrenzung eine wichtige erkenntnistheoretische Funktion: in der epistemologischen Abwertung der ortsgebundenen Camera obscura und der Betonung der subjektiven Prismenversuche, die keinen gesonderten Standort erfordern und oft in natürlichen Umgebungen bzw. im alltäglichen Umfeld durchgeführt werden können. Aus ästhetischer Perspektive dienen die Versuchsparameter von trübem Mittel und Netzhaut als Foren, in denen die Farbentwicklung das epistemologisch untrennbare Zusammenwirken von äußeren Einflüssen und psychophysiologischen Aktivitäten bzw. von Subjekt und Objekt visualisiert. Erkenntnistheoretisch betrachtet, markieren die auf diese Weise entstehenden Phänomene zugleich den ersten Schritt eines Kontinuums, in dem G ­ oethe Sinneswahrnehmung und theoretisches Vermögen bruchlos ineinander greifen lässt. Ihr Zusammenwirken versteht er epistemologisch als eine qualitative Höherentwicklung. Als Erkenntnisfiguren, als Visualisierungen der medialen Produktionsfunktionen und der Stellung des Menschen in der Welt beschreibt G ­ oethe Bilder unterschiedlicher Art. 7

WA IV,20, S. 90 (­Goethe an Carl Friedrich Zelter am 22. Juni 1808).

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Sie agieren als sinnliche Figuren seiner Erkenntnistheorie. Er begreift diese Bilder als Indikatoren einer tiefer liegenden Wahrheit, die pantheistisch von einer ihre Gesetze in sich tragenden und explizierenden Natur ausgeht. In diesen Bildern existiert zwischen Signifikat und Signifikant keine Trennung. Diesem semiotischen Modell entsprechend, setzt G ­ oethe epistemologisch auf eine Abstraktion im Gegenständlichen. Anders als in der Kunsttheorie, in der er die Abstraktion als Kennzeichen ästhetischer Artefakte, als Demarkation zwischen Kunst und Natur begreift, verbleibt in den Farbstudien seine Abstraktionsleistung selbst im ursprünglichen Phänomenalen: im physikalischen Experiment durch den ständigen Abgleich der aktuell erzeugten Bilder mit der selbst Bild gebliebenen Regel des Urphänomens; in der „Logik“ der physiologischen Bilder als im Einzelblick erzeugtes Komplementärfarbenpaar. In beiden Abstraktionsmethoden führt ­Goethe die etymologische Doppelkonnotation des altgriechischen Begriffs theorein als Theorie und empirisches Sehen bzw. Schauen zusammen 8 – eine Doppelkonnotation, der noch eine weitere verwandte Bedeutung dieses Begriffs hinzugefügt werden muss: die des Theaters.9 Dessen griechisches Grundwort théā bedeutet Anschauen, Schau, Schauspiel 10 und bezeichnet damit ein künstlerisches Medium, das auf die Präsenz des Publikums bzw. Betrachters ebenso gerichtet ist wie auf das Inszenieren selbst. In diesem Sinne ist G ­ oethes Farbstudien ein situativer, kontextabhängiger Empirismus eigen, der die unabdingbare Gebundenheit der Farbentstehung an die Mitwirkung des aktiven menschlichen Auges herausstellt. Es ist zugleich ein Empirismus, der in ­Goethes Bildgebungsverfahren nicht ohne inszenatorische Mittel auskommt. Diese Herangehensweise widerspricht jedoch ­Goethes pantheistischem Konzept der Natur, in welchem deren immanente, stets visualisierte Regeln jeden Erkenntnisprozess initiieren. Die Inszenierung der Farbenbilder nutzt ­Goethe dazu, bestimmte Parameter erkenntnistheoretisch aufzuwerten, andere hingegen zu vernachlässigen – ein Zugriff, den er auf drei Ebenen praktiziert: Seine Bildgebung basiert auf der Enträumlichung der Phänomene. In diesem Kontext verfolgt er eine Ästhetisierung der Oberflächen, die er gegen die empiristische Höherbewertung der primären, messbaren Qualitäten richtet. Die zweidimensionale Ordnung der Farbenbilder entsteht in ­Goethes Inszenierung stets in einem komplexen Netz, einem Gewebe, dessen Struktur medial-farbdatenproduzierend wirkt: im trüben Mittel der Refraktionsversuche, in der Tätigkeit der Netzhaut und in der Erzeugung der chemischen Farben. Im Kontext der letztgenannten begreift G ­ oethe die Körperoberflächen selbst in einer medialen Funktion, die Daten über die inneren Eigenschaften dieser Körper vermittelt. Bei den anorganischen Phänomenen sind es Informationen über ihre Materialität, bei den organischen von Tier und Mensch zieht 8 Vgl. Völcker, Blick und Bild, a. a. O., S. 32. 9 Für diesen Hinweis danke ich Bettine Menke. 10 Vgl. Kluge, Friedrich, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet v. Elmar Seebold, Berlin / New York 2002, S. 914.

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­ oethe aus Farbe und Beschaffenheit der Oberflächen Aufschluss über die innere G Organisation der Organismen. Auch bei der Beschreibung von Versuchsparametern und den Konzeptionen ihres Einsatzes beachtet er deren Dreidimensionalität nicht. So thematisiert er in seinen Arbeiten zur Farbe nur selten die Formen von Prisma und Linse. Ebenso wenig beachtet er in seiner Untersuchung des Auges die Funktion der für die Raumwahrnehmung verantwortlichen Linse. Zweitens inszeniert ­Goethe in seinen Farbenbildern die Verzeitlichung der Phänomene. So führt er seiner Theorie entsprechend die physikalische Farbentwicklung in der statischen Camera obscura als ein dynamisches Ereignis, als ein Werdendes vor Augen, wenn er beispielsweise den Abstand zwischen lichteinlassendem foramen exiguum / Linse und der Leinwand vergrößert, um die Verteilung der Einzelfarben im Spektrum zu modifizieren. Die Differenzen zwischen den im explorativen Versuchsverlauf jeweils aktuell erzeugten Brechungsfarben zeigen die Prozessualität der Bildgenese ebenso an wie die physiologischen Nach-, Blendungs- und Phantasiebilder. In seinen Bildgebungsverfahren exponiert ­Goethe drittens die erkenntnistheoretische Interdependenz von Subjekt und Objekt, Mensch und Welt als ein gleichwertiges Zusammentreffen zweier Entitäten. In G ­ oethes Konzept der doppelten Bilder, das in dieser Arbeit ausführlich dargelegt wurde, wird deren „Rahmen“ stets durch die äußeren Phänomene geprägt. Der menschliche Blick wandelt diese Bilder jedoch nach eigenen Gesetzmäßigkeiten. Er wirkt selbst datengenerierend, indem die vom Auge mit und ohne Unterstützung einer Apparatur erzeugten Farben die Wahrnehmung äußerer Gegenstände vollenden, z. B. in den Simultan- und Nachbildfarben. Auf diese Weise entsteht auch in ­Goethes Wahrnehmungstheorie die Realität letztendlich im formgebenden Blick des Menschen.11 Die medial produzierten Bilder werden hier wiederum selbst zu Medien, indem Goethe ihre Farbkonfigurationen als Indikator des Verhältnisses von Mensch und Welt inszeniert. Dieser Fakt kann einmal mehr als Beweis für Marshall McLuhans programmatische Feststellung angeführt werden, dass der Inhalt eines Mediums stets ein anderes ist, nicht aber eine repräsentationslogisch funktionierende Entität mit mimetischem Charakter.12 Dass Medien in ihrer spezifisch dispositiven Funktion

11 Vgl. hierzu auch den kunsttheoretischen Ansatz von Osterkamp, Ernst, Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren G ­ oethescher Bildbeschreibungen, Stuttgart 1991, S. 1 – 2. Osterkamp, der in seiner Arbeit nicht das Beschreibungsobjekt, die Bilder, sondern die diskursive Verarbeitung des Gesehenen in den sie reflektierenden Texten analysiert, stellt fest, dass „das Bild tatsächlich nur im Akt des Sehens selbst“ existiert. Diese Art der ­goetheschen Welterfassung schlage sich – so Osterkamp weiter – auch in der Spezifik der Bildbeschreibungen nieder, die neben dem angesehenen Bild stets den Betrachter ­Goethe einbezieht. Vgl. inklusive Zitat ebd., S. 2. 12 Vgl. McLuhan, Die magischen Kanäle, a. a. O., S. 90 sowie in Erweiterung von McLuhans Theorie Siegert, Schein versus Simulation, Kritik versus Dekonstruktion, a. a. O., S. 238.

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ausschließlich für sich selbst stehen, zeigt nicht zuletzt die Zeitabhängigkeit dieser Bilder, die beim Subjekt die aktive Mitwirkung des Gesichtssinns indizieren, bei den Naturobjekten ihre Variabilität. Der Unabgeschlossenheit bzw. dem offenen Charakter dieser Bilder setzt G ­ oethe 13 das Konzept einer Selbstregulierung des Ästhetischen  entgegen, in dem die phänomenale und epistemologische Entwertung der Grenzen von einer differenzgeprägten empirischen Ordnung der Farben überlagert wird – einer Ordnung, die mindestens zwei Qualitäten aufweist: In den physiologischen Versuchen ist es ein Komplementärfarbenpaar, das die erkenntnistheoretische Interdependenz von Subjekt und Welt ikonisch exponiert. In der Grundkonstellation des physikalischen Refraktionsexperiments sind es Hell und Dunkel, an deren Grenze sich die Farben generieren. In seinem diesbezüglichen ästhetischen Konzept beschreibt G ­ oethe die Bilder als ausgewogen und vollkommen. Hinter diesem Ansatz verbergen sich die naturphilosophischen Prinzipien von Totalität und Harmonie, in die wiederum das Vollkommenheits- und Schönheitsideal der klassizistischen Kunsttheorie hineinwirkt. Auf diese Weise bemüht sich ­Goethe, sein pantheistisch ausgerichtetes Diktum von der „Differenz in der Identität und umgekehrt“ 14 ikonisch aufzuzeigen. ­Goethes Bildgebungsverfahren demonstrieren auf besondere Weise, dass er in seinen Studien nicht nach dem Wesen der Phänomene und einer diese transzendierenden Naturwahrheit sucht, sondern deren mediale Produktion herausstellt. Mit seinem Interesse an der Art und Weise der Farbgenerierung ist ihm primär am Entdecken einer wissenschaftlichen Wahrheit gelegen – ganz gleich, ob diese durch natürliche oder artifizielle Medien bedingt wird. Anschaulich zeigen ­Goethes Bildgebungsverfahren, dass er nicht – wie Han behauptet – aus der Wissenschaft eine Medienästhetik macht,15 sondern dass ­Goethes Wissenschaft eine Medienästhetik ist. Während Hans Postulat letztere implizit als erkenntnistheoretisches Substitut der Wissenschaft begreift, gewinnt G ­ oethe die wissenschaftliche Wahrheit – wie zu zeigen versucht wurde – nur durch die Erforschung des (medien-)ästhetischen Wirkens der Phänomene, so dass die Ästhetik selbst als Medium des Erkenntnisgewinns fungiert. Hier bestätigt sich einmal mehr die These vom Eigenleben der Medien, indem in ­Goethes Farbforschungen Wahrnehmung und ästhetische Theorie divergieren und beide Ebenen des Ästhetischen inkongruent werden. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn G ­ oethe in einer tabellarischen Auflistung galvanischer Versuche die im Auge durch entgegengesetzte elektrische Ladungen produzierten Farben Rot und Blau durch das physiologische Komplementärfarbenpaar Orange und Blau ersetzt oder wenn die 13 Vgl. zur Selbstregulierung des Ästhetischen im Wahrnehmungsvorgang allgemein Köhnen, Optisches Wissen, a. a. O., S. 23 sowie in G ­ oethes Medialitätskonzept der Natur Han, Ästhetik der Oberfläche, a. a. O., S. 9. 14 LA I.11, S. 85 (Physikalische Vorträge, Galvanismus). 15 Vgl. Han, Ästhetik der Oberfläche, a. a O., S. 9.

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verbal übermittelten Befragungsergebnisse zur Farbenblindheit erneut sprachlich weitergegeben werden und zu einer Fehldiagnose führen, die wiederum durch die Syntax des stark abstrahierten Farbenkreises zu stützen versucht wird – eines Schemas, das auf der Wahrnehmung von Farbnormalsichtigen basiert. Übt ­Goethe am arbiträren Zeichensystem abstrahierter Lineardarstellungen starke Kritik, sieht er sich dennoch gezwungen, dieses in den publizierten wissenschaftlichen Bildmedien zu benutzen, um seine Farbentheorie zu veranschaulichen. Durch diese Darstellungsart, die eine starke inhaltliche Verdichtung indiziert, erhält die kompakteste Bilddarstellung, der Farbenkreis, eine eigene, phänomenunabhängige Logik. Er behält trotz wechselnder Signifikate stets seine Struktur bei. Richten sich ­Goethes Vorbehalte gegen die starke Linearität besonders auf die Differenz zwischen Naturphänomenen und artifiziellen Zeichen, die durch diese Darstellungsart exponiert wird, überträgt er diesen Vorbehalt vice versa auch auf die Phänomene selbst: Als Joseph von Fraunhofer 1814 die spektralen Absorptionslinien entdeckte und damit eine dem Farbenspektrum inhärente lineare Struktur nachwies, lehnte G ­ oethe diese Entdeckung ab. Er begründete sein Verhalten damit, dass Fraunhofer das von ihm als Einheit postulierte Licht in Linien teilte und zu ihrer Sichtbarmachung auf eine hochkomplexe Apparatur angewiesen war. G ­ oethe ließ diese Versuche mehrfach nachstellen, subsumierte die Erscheinungen jedoch – ohne experimentell nachgewiesenen Zusammenhang – unter die von ihm als paroptisch bezeichneten Beugungsfarben.16 An den physikalischen Forschungen ­Goethes zeigt sich nicht nur die Eigenmacht der Medien, sondern auch die der Diskurse besonders deutlich. Obwohl er zu Beginn seiner Studien die physikalische Untersuchung der Farben lediglich zur Entwicklung von Kolorierungsregeln nutzen wollte,17 widmete er jenem Wissenschaftsbereich letztendlich seine intensivsten Forschungen. So nimmt auch die Analyse der physikalischen Farben im didaktischen und im kompletten polemischen Teil der Farbenlehre den größten diskursiven Raum ein. Die Regeln des künstlerischen Kolorierens hingegen, deren Entdeckung G ­ oethe als eigentliches Ziel seiner Studien sah und als deren Basis 16 Vgl. LA  II.5B.2, S. 1088 (Briefkonzept ­Goethes an Graf Sternberg Ende Dezember 1822), S. 1091 (­Goethe an Graf Sternberg am 12. Januar 1823) sowie S. 1358 (­Goethe an den Berliner Staatsrat Christoph Ludwig Friedrich Schultz am 29. Juni 1829). Fraunhofer wies mit seiner Entdeckung nach, dass das Farbenspektrum eine wesentlich höhere Farbenzahl als sieben besitzt. Weit bis ins 20. Jahrhundert hinein hielt die Diskussion um die Anzahl der Spektralfarben an, zumal bereits um 1800 mit Wilhelm Herschels Endeckung des Infrarots und mit Johann Wilhelm Ritters Erforschung des Ultravioletts das Farbenspektrum in den Bereich des Nichtsichtbaren erweitert wurde. Wie Jewanski nachweist, ist das heutige Farbenspektrum wesentlich umfangreicher als um 1800, was zum einen auf die Verbesserung der technischen Geräte, zum anderen auf die noch immer fehlende Einigung der Forscher auf die exakten Ausmaße des Spektrums zurückzuführen ist. Die Anzahl der Farben variiert noch immer nach Betrachterstandpunkt. Vgl. Jewanski, Ist C = Rot?, a. a. O., S.  550 – 563. 17 Vgl. LA I.6, S. 417 (Farbenlehre, Historischer Teil, Konfession des Verfassers).

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er im Laufe seines Forschungsunternehmens die physiologisch und psychologisch begründeten Harmoniegesetze der Farben herausarbeitete, reflektiert er im didaktischen Teil nur kurz. In diesen Ausführungen bleibt er zu großen Teilen noch einem recht nachahmungsbezogenen und konventionellen Malstil verhaftet. Auch in seiner künstlerischen Praxis gestand er den Farben – wie in Kapitel 1.2 dieser Arbeit dargelegt – keinen eigenen Gestaltungswert zu.18 Während ­Goethe sich in seinen Farbstudien bemühte, Naturwissenschaft und Kunst über die Gesetze des Sehens zusammenzuführen, entfalteten die über die Diskursivierung des Gesichtssinns verbundenen Texte der Farbenlehre besonders nach seinem Tod ihre unterschiedlichen Wirkungen. Sie entwickelten ihren Überschuss des Unbewussten gerade darin, dass sie in der faktenorientierten Rezeptionsgeschichte des 19. und im größten Teil des 20. Jahrhunderts selbst als Indikator für die Trennung von Kunst und Wissenschaft herangezogen wurden. In diesem Kontext wurde G ­ oethes Tätigkeit als Künstler oft als Indiz für sein vermeintliches Scheitern im naturwissenschaftlichen Bereich angeführt,19 lautete die disjunktive Frage: Ästhetik oder Wissenschaft? Die in der vorliegenden Arbeit verwendete medienhistorisch und wissenspoetologisch ausgerichtete kulturwissenschaftliche Methode zielte darauf, die in der Rezeptionsgeschichte der Farbenlehre differenziert betrachteten Gegenstandsbereiche einem universalen Zugriff zuzuführen,20 der die vielfältigen Synergien und Gegensätze, das Konvergieren, Divergieren und Interferieren von Ästhetik und Experiment gleichwertig analytisch zugänglich macht.

18 Vgl. zur praktischen Anwendung des Kolorits in ­Goethes Farbenlehre Pietsch, Annik, Farbentheorie und Malpraxis um 1800. Die handwerkliche Produktion des künstlerischen Kolorits nach den „Gesetzen der Ästhetik und Physik“, in: Busch, Werner (Hg.) / Müller-Luckner, Elisabeth (Mitarbeit), Verfeinertes Sehen, München 2008, S. 15 – 40, hier S. 33 – 34. Vgl. zu ­Goethes Malstil RehfusDechêne, Farbengebung und Farbenlehre, a. a. O., S. 94. So klingt beispielsweise in G ­ oethes Diskurs über die Aufhellung und Verdunklung von Farben (§§ 830 – 832, Farbenlehre, Didaktischer Teil) noch ein konventionelles Gestaltungsprinzip an: die Modusvorstellung. Modi wurden durch die Farbwahl und den Farbton erzielt, zu dem im 18. Jahrhundert auch die Aufhellung und Verdunklung der Farben durch Weiß und Schwarz zählten. Vgl. ebd., S. 43 – 44. 19 Vgl. hierzu ausführlich Höpfner, Wissenschaft wider die Zeit, a. a. O., besonders S. 40. 20 Vgl. zur Entdifferenzierung unterschiedlicher disziplinärer Methoden durch die Kulturwissenschaft Rieger, Die Individualität der Medien, a. a. O., S. 7.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Vignette des optischen Kartenspiels, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 2 Innentitel (Ausschnitt) aus: Newton, Isaac, Optice sive de reflexionibus, refractionibus, inflexionibus et coloribus lucis, Lausannae / Genevae 1740. Abb. 3 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Schema der ganzen Farbenlehre, eigenhändiges Manuskript, 1806, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe- und Schiller-Archiv, 26/ LI ,11,3, Bl. 35 a. Abb. 4 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Schema der ganzen Farbenlehre, Paralipomenon, eigenhändiges Manuskript, 1806, Klassik Stiftung Weimar, G ­ oethe- und SchillerArchiv, 26/L,9, Bl. 30. Abb. 5 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Versuche mit den farbigen Schatten, Tafel I zur Farbenlehre, fünfte und sechste Figur, 1810, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 6 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Erstes geschlossenes Farbschema, in: ders., Über die Einteilung der Farben und ihr Verhältnis gegen einander, 1793, Manuskript mit zeitgenössischer Schrift, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe- und Schiller-Archiv, 26/ LI ,13, Bl. 210. Abb. 7 Farbenkreis mit Grün im Norden, in: Himly, Karl Gustav, Einiges über die Polarität der Farben, in: ders. / Schmidt, Johann, Adam, Ophthalmologische Bibliothek, Bd. 1, Teil 2, Jena 1802, S. 8. Abb. 8 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Farbenkreis, Tafel I zur Farbenlehre, erste Figur, 1810, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 9 ­Goethe, Johann, Wolfgang, Doppelter Farbenkreis, Innenring mit Farbmatrix der Blaublinden, Tafel I zur Farbenlehre, zweite Figur, 1810, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 10 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Farbscheiben zur Darstellung der Blaublindheit, Tafel I zur Farbenlehre, achte Figur, 1810, Klassik Stiftung Weimar, G ­ oethe-Nationalmuseum. Abb. 11 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Landschaft ohne Blau nach Angelika Kauffmann, Tafel I zur Farbenlehre, elfte Figur, 1810, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 12 Chladni, Ernst Florens Friedrich, Entdeckungen über die Theorie des Klanges, Leipzig 1787, Tabelle VIII . Abb. 13 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Galvanische Versuche bezüglich auf Physiologische Farben, eigenhändige modifizierte Abschrift eines Versuchsprotokolls von Johann Wilhelm Ritter zur galvanischen Farberzeugung im menschlichen Auge, 1801, Klassik Stiftung Weimar, G ­ oethe- und Schiller-Archiv, 26/L,9, Bl. 71. Abb. 14 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Galvanische Versuche bezüglich auf Physiologische Farben, eigenhändige modifizierte Abschrift eines Versuchsschemas zur galvanischen Farberzeugung im menschlichen Auge von Johann Wilhelm Ritter, 1801, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe- und Schiller-Archiv, 26/L,9, Bl. 72. Abb. 15 Entoptische Figuren, Illuminierter Probedruck der Tafel II zu: Seebeck, Thomas Johann, Einige neue Versuche und Beobachtungen über Spiegelung und Brechung des Lichtes, in: Journal für Chemie und Physik 7 (1813), S. 382 – 384, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe- und Schiller-Archiv, 26/L, 4 a, Bl. 23.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 16 Körner, Johann Christian Friedrich, Apparatur für den zweiten gesteigerten ent­ optischen Versuch, Klassik Stiftung Weimar, G ­ oethe-Nationalmuseum, Foto: ­Thomas Kieck. Abb. 17 Körner, Johann Christian Friedrich, Doppelspiegelapparatur für den dritten gesteigerten entoptischen Versuch, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum, Foto: Thomas Kieck. Abb. 18 Niggl, Joseph, Apparatur mit vier Spiegeln für den vierten gesteigerten entoptischen Versuch, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum, Foto: Thomas Kieck. Abb. 19 Purkinje, Johann Evangelista, Figur des Achtstrahls im Auge, in: ders., Beiträge zur Kenntniss des Sehens in subjectiver Hinsicht, Prag 1819, Tafel, 4. Figur. Abb. 20 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Brennende Kerze mit Lichtschein (Das Mädchen von Oberkirch), eigenhändig, vor 1806, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe- und SchillerArchiv, 25/W 1987. Abb. 21 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Skizze zur Erklärung des Regenbogens, Beilage eines Briefs an Sulpiz Boisserée am 11.1.1832 (Konzept), Manuskript: eigenhändig und von Johann August Friedrich John, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe- und SchillerArchiv, Signatur 26/ LII ,28, Beilage zu Blatt 2 – 3. Abb. 22 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Karte 1 des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beiträge zur Optik, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 23 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Karte 2 des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beiträge zur Optik, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 24 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Karte 3 des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beiträge zur Optik, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 25 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Karte 5 des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beiträge zur Optik, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 26 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Karte 13 des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beiträge zur Optik, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 27 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Karte 4 des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beiträge zur Optik, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 28 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Karte 6 des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beiträge zur Optik, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 29 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Karte 12 des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beiträge zur Optik, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 30 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Karte 7 des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beiträge zur Optik, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 31 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Karte 8 des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beiträge zur Optik, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 32 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Karte 9 des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beiträge zur Optik, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 33 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Karte 23 des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beiträge zur Optik, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 34 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Karte 17 des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beiträge zur Optik, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 35 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Karte 18 des optischen Kartenspiels zum ersten Stück der Beiträge zur Optik, 1791, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 36 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Kleiner Schirm zur Farbenlehre (Vorder- und Rückseite), 1791/92, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum, Foto: ­Roland D ­ reßler. Abb. 37 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Tafel I zur Farbenlehre, 1810, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 38 Darwin, Robert Waring, Darstellung physiologisch erzeugter Farben, in: ders., New Experiments on the Ocular Spectra of Light and Colours, in: Philosophical transactions of the Royal Society of London 76 (1786), S. 349. Abb. 39 Purkinje, Johann Evangelista, Darstellung subjektiver Gesichtsphänomene, in: ders., Beiträge zur Kenntniss des Sehens in subjectiver Hinsicht, Prag 1819, Tafel, 1.–6. Figur. Abb. 40 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Fratzengesicht, Kopf eines Mannes mit Schnurrbart und Halstuch in umgekehrten Farben, 1795 oder 1805, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 41 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Bild eines Mädchens in umgekehrten Farben, 1795 oder 1805, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 42 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Auge empfänglich und gegenwirkend, 1821, Manuskript, Handschrift: Johann August Friedrich John, Klassik Stiftung Weimar, G ­ oethe- und Schiller-Archiv, 26/LI ,17, Bl. 34. Abb. 43 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Tafel II zur Farbenlehre, 1810, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 44 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Tafel II a zur Farbenlehre, 1810, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 45 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Tafel III zur Farbenlehre, 1810, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 46 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Tafel IV zur Farbenlehre, 1810, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 47 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Tafel V zur Farbenlehre, 1810, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 48 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Tafel VI zur Farbenlehre, 1810, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 49 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Tafel XIII zur Farbenlehre, 1810, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum. Abb. 50 Pfaff, Christoph Heinrich, Farbige Säume der Nebenbilder des Doppelspats, in: ders., Ueber die farbigen Säume der Nebenbilder des Doppelspaths, mit besonderer Rücksicht auf Hrn. v. Göthes Erklärung der Farbentstehung durch Nebenbilder, in: Journal für Chemie und Physik 6 (1812), S. 177 – 204, Tafel (Ausschnitt). Abb. 51 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Vorarbeit zum Aufsatz Doppelbilder des rhombischen Kalkspaths, 1813, Klassik Stiftung Weimar, G ­ oethe- und Schiller-Archiv, 26/LII ,21, Bl. 147. Abb. 52 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Tafel zu den Aufsätzen Doppelbilder des rhombischen Kalkspaths und Elemente der entoptischen Farben, in: ders., Zur Naturwissenschaft überhaupt, Ersten Bandes erstes Heft, Stuttgart/Tübingen 1817. Abb. 53 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Glimmerblättchen, in: ders., Entoptische Farben, in: ders., Zur Naturwissenschaft überhaupt, Ersten Bandes drittes Heft, Stuttgart/ Tübingen 1820, S. 150. Abb. 54 Newton, Isaac, Farbenkreis, in: ders., Opticks or a treatise of the reflexions, refractions, inflexions and colours of light, London 1704, Buch I, Teil 2, Figur 11.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 55 Mayer, Tobias, Farbendreieck, in: ders., Commentationes societati regiae scientiarum oblatas, quae integrae supersunt cum tabula selenographica complectens, ed. et observationum appendicem adjecit Georgius Christophorus Lichtenberg, Gottingae 1775, Tabula II . Abb. 56 Lambert, Johann Heinrich, Farbenpyramide, in: ders., Beschreibung einer mit dem Calauschen Wachse ausgemalten Farbenpyramide wo die Mischung jeder Farben aus Weiß und drey Grundfarben angeordnet, dargelegt und derselben Berechnung vielfacher Gebrauch gewiesen wird, Berlin 1772, Tafel. Abb. 57 Runge, Philipp Otto, Farbenkugel, in: ders., Konstruktion des Verhältnisses aller Mischungen der Farben zueinander und ihrer vollständigen Affinität, Hamburg 1810. Abb. 58 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Erster kolorierter Farbenkreis, in: ders., Versuch die Elemente der Farbenlehre zu entdecken, Manuskript, gesendet an Georg Christoph Lichtenberg am 29.12.1793, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Lichtenberg IV, 44. Abb. 59 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Symbolische Annäherung zum Magneten, 1798, Klassik Stiftung Weimar, G ­ oethe-Nationalmuseum. Abb. 60 Klotz, Mathias, Gründliche Farbenlehre, München 1816, Tafel VI . Abb. 61 Klotz, Mathias, Gründliche Farbenlehre, München 1816, Tafel III . Abb. 62 Klotz, Mathias, Gründliche Farbenlehre, München 1816, Tafel V. Abb. 63 ­Goethe, Johann Wolfgang von / Schiller, Friedrich, Temperamentenrose, 1799, Klassik Stiftung Weimar, G ­ oethe-Nationalmuseum. Abb. 64 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Farbenkreis zur Symbolisierung des menschlichen Geistes- und Seelenlebens, 1809, Frankfurter G ­ oethe-Haus – Freies Deutsches Hochstift. Abb. 65 ­Goethe, Johann Wolfgang von, Tetraeder mit Farbensymbolen, 1798 oder 1816/17, Klassik Stiftung Weimar, ­Goethe-Nationalmuseum, Foto: Alexander Burzik.

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Namensregister A Agamben, Giorgio  59, 60, 61 Alberti, Leon Battista  131 Alhazen  160 Arago, Dominique François Jean  249 Aristoteles  11, 62, 63, 160, 218, 304 Augustinus  160 Azzouni, Safia  129

da Vinci, Leonardo  136, 158 Delaval, Edward Hussey  139, 140 Deleuze, Gilles  74, 110, 169 Demokrit  181 Derrida, Jacques  66 Descartes, René  30, 35, 162, 165, 178, 179, 218, 266 Diderot, Denis  34, 35, 39, 43, 47, 50, 46, 47 Dies, Albert Christoph  47

B Bachelard, Gaston  69, 70, 73, 104 Bach, Johann Sebastian  214 Baumgarten, Alexander Gottlieb  87, 88, 106 Benjamin, Walter  15 Berkeley, George  30, 31, 32, 33 Bies, Michael  359 Binczek, Natalie  183 Biot, Jean Baptiste  26, 249, 250, 263 Blumenbach, Johann Friedrich  171, 172, 173 Blumenberg, Hans  36 Boehm, Gottfried  402 Böhme, Gernot  57 Bouguer, Pierre  147 Boyle, Robert  11, 30, 160 Brandis, Joachim Dietrich  160, 161, 171, 172, 173 Brown, John  165, 166, 229 Buffon, Georges Louis Leclerc de  134, 138, 140, 144, 145, 146, 149, 150, 160, 170, 293 Busch, Werner  48, 111 Buttel, Christian von  257 Büttner, Christian Wilhelm  80

E Eckermann, Johann Peter  82, 124 Eco, Umberto  166 Egloffstein, Julie von  245, 246, 247 Erxleben, Johann Christian Polycarp  138, 141

C Canguilhem, Georges  12, 205 Canisius, Claus  212 Castel, Louis Bertrand  220, 221 Cheselden, William  33 Chladni, Ernst Florens Friedrich  210, 211, 216, 217, 235, 257, 258, 297 Condillac, Etienne Bonnot de  33, 43 Crary, Jonathan  97, 98, 163, 273, 312 Crell, Lorenz  139, 140 D Dalton, John  191, 192, 195, 204 Darwin, Charles  144 Darwin, Robert Waring  134, 144, 145, 146, 149, 150, 157, 160, 161, 170, 293, 374 Daston, Lorraine  62, 79

F Fleck, Ludwik  129, 130, 132, 361 Förster, Eckart  86, 87 Foucault, Michel  60, 83, 119 Fraunhofer, Joseph von  432 G Galison, Peter  62, 78 Gall, Franz Joseph  179 Galvani, Luigi  224, 225, 226, 227, 231 Gehler, Johann Samuel Traugott  71, 72, 107, 134, 135 Geistinger, Joseph  382 Gildemeister, Johann Karl Friedrich  191, 192, 193, 194, 196, 197, 198, 199, 200, 204 Gögelein, Christoph  356 Guericke, Otto von  136 H Hackert, Jakob Philipp  47 Hacking, Ian  73 Hagner, Michael  300 Haller, Albrecht von  164, 165, 183 Han, Chol  431 Hassenfratz, Jean Henri  138 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  253, 254, 256, 383 Heinroth, Johann Christian  86 Heisenberg, Werner  57, 88 Helbig, Holger  355, 356, 357 Helmholtz, Hermann von  285, 398, 399 Henning, Leopold von  383 Herder, Johann Gottfried  41, 36, 39, 40, 42, 184, 207, 208, 209, 213, 214, 216 Herschel, Friedrich Wilhelm  242, 243, 244

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Namensregister

Hick, Ulrike  97 Himly, Karl Gustav  134, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 306 Hoffmann, Christoph  83, 84, 90 Hoffmann, Johann Leonhard  218 Hofmann, Peter  28 Homer  161 Hufeland, Christoph Wilhelm  171, 172, 173 Humboldt, Alexander von  225, 226, 227, 228 J Jaeger, Wolfgang  197 K Käfer, Dieter  162 Kanajew, Iwan Iwanowitsch  190 Kant, Immanuel  10, 24, 25, 29, 52, 71, 72, 82, 84, 86, 87, 89, 106, 117, 122, 171, 180, 187, 188, 207, 209, 214, 268, 269, 272, 292, 307, 308, 410, 411, 412, 416, 417 Kapp, Ernst  259, 260 Kauffmann, Angelika  48, 203 Kepler, Johannes  90, 162 Kielmeyer, Carl Friedrich  171, 172 Kleinschnieder, Manfred  76 Klotz, Mathias  404, 405, 406 Knebel, Carl Ludwig von  300 Knorr-Cetina, Karin  128 Kötter, Rudolf  73 Kuhn, Thomas  60, 132, 133 L Lambert, Johann Heinrich  92, 146, 147, 149, 387, 388, 389, 390, 391, 397 Latour, Bruno  120, 400, 401 Lavater, Johann Caspar  97 Le Brun, Charles  44 Lepenies, Wolf  23 Lessing, Gotthold Ephraim  43 Lichtenberg, Georg Christoph  84, 85, 134, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 144, 150, 210, 368 Linné, Carl von  386 Locke, John  30, 31, 32, 33 Loder, Justus Christian  181 Lohff, Brigitte  317 M Magendie, François  90, 91 Malebranche, Nicolas  218 Malus, Etienne Louis  248, 249, 250, 253 Martius, Carl Philipp  358, 359 Mattenklott, Gert  357 Matthaei, Rupprecht  363

Mayer, Tobias  387, 388, 389, 390, 391, 397, 398 McLuhan, Marshall  13, 96 Mengs, Anton Raphael  393, 394, 395, 397, 398 Meyer, Johann Heinrich  114, 407 Molière = Jean Baptiste Poquelin  415 Molyneux, William  32, 33 Moritz, Karl Philipp  111, 187, 188, 189, 408, 409, 417, 418, 419, 420, 421, 422 Mülder-Bach, Inka  44 Müller, Johann Christian Ernst  371 Müller, Johannes  20, 163, 258, 259, 265, 266, 271, 287, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 317, 318, 319, 360 Müller-Tamm, Jutta  289, 299, 315 Muncke, Georg Wilhelm  72 N Newton, Isaac  9, 11, 18, 19, 20, 24, 25, 26, 27, 29, 30, 51, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 64, 65, 68, 71, 73, 77, 83, 89, 90, 91, 92, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 111, 119, 131, 134, 135, 138, 139, 145, 149, 150, 155, 160, 161, 171, 185, 189, 195, 219, 220, 221, 241, 249, 250, 251, 268, 274, 276, 277, 285, 286, 291, 292, 303, 306, 310, 312, 357, 361, 366, 367, 369, 370, 371, 373, 378, 379, 380, 381, 382, 386, 387, 390, 394, 395, 397, 399, 400, 403, 404, 405 Nickol, Thomas  252 Nothnagel, Johann Andreas Benjamin  47 Novalis = Hardenberg, Friedrich von  40 P Paul, Jean  302 Pfaff, Christoph Heinrich  255, 256, 382 Pietsch, Annik  398 Piles, Roger de  45 Platner, Ernst  178, 181, 183 Platon  9, 304 Plotin  127 Polanyi, Michael  15, 416 Popper, Karl  64 Pörksen, Uwe  356 Poussin, Nicolas  44 Priestley, Joseph  123, 191 Purkinje, Johann Evangelista  20, 89, 126, 163, 258, 259, 261, 262, 265, 266, 267, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 306, 309, 310, 313, 314, 315, 316, 319, 360, 361, 374 Pythagoras  304 Q Quandt, Johann Gottlob von  245

Namensregister

R Raffael  40 Rehfus-Dechêne, Birgit  398 Reichardt, Johann Friedrich  209 Reil, Johann Christian  171, 172 Rheinberger, Hans-Jörg  65, 66, 67, 69, 73, 74, 75, 110, 317 Rieger, Stefan  426 Riemer, Friedrich Wilhelm  89, 211, 217, 406 Ritter, Johann Wilhelm  186, 224, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 245, 300 Roux, Christian Wilhelm  383 Rubens, Peter Paul  44, 45 Rudolphi, Karl Asmund  304 Rumford, Benjamin Thompson  144, 146, 148, 149, 150, 151, 152, 160 Runge, Philipp Otto  275, 276, 389, 390, 391, 392, 393, 394, 398, 403 S Sachsen-Weimar-Eisenach, Luise von  240 Sachsen-Weimar-Eisenach, ­Maria Pawlowna von  113 Saussure, Horace Bénédict de  302 Scheele, Karl Wilhelm  241 Schelling, Friedrich Joseph Wilhelm  229 Scherffer, Karl  160, 375 Schiffermüller, Ignaz  401 Schiller, Friedrich  84, 85, 86, 114, 195, 196, 197, 198, 199, 202, 244, 407, 408, 409, 410, 411, 412, 413, 415, 416, 417 Schings, Hans-Jürgen  178 Schlosser, Christian Heinrich  264 Schmidt, Johann Adam  154 Schöne, Albrecht  80 Schopenhauer, Arthur  20, 126, 258, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 281, 282, 283, 285, 286, 318, 319 Schultz, Christoph Ludwig Friedrich  261 Scott, J.  191

Seebeck, Thomas Johann  245, 249, 250, 251, 253, 254, 255, 256, 257 Senebier, Jean  71, 92, 93, 95 Simmel, Georg  38 Soemmerring, Samuel Thomas  134, 136, 141, 142, 143, 144, 152, 174, 179, 180, 181, 183 Spinoza, Baruch de  27, 28, 29, 38 Spix, Johann Baptist von  358 Stahl, Georg Ernst  164, 165 Stein, Charlotte von  111 Steiner, Karl Friedrich Christian  371 Steinle, Friedrich  57, 58, 64 Sulzer, Johann Georg  183, 206, 207, 214, 216 Sutor, Christoph Erhard  364 T Tamny, Martin  98 Telemann, Georg Philipp  220 Theophrast  11 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm  48 Tizian  40 Troxler, Paul Vitalis  155 V Vogl, Joseph  12 Volta, Alessandro  225, 226, 227, 233, 238 W Weizsäcker, Carl Friedrich von  30 Welsh, Caroline  234, 235 Winckelmann, Johann Joachim  43 Wittgenstein, Ludwig  200, 201 Wolff, Caspar Friedrich  76, 77, 171, 172 Wolff, Christian  117, 118, 314 Wyder, Margrit  381 Y Young, Thomas  169, 204 Z Zelter, Carl Friedrich  211

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SABINE APPEL

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE EIN PORTR ÄT

Johann Wolfgang von Goethe war ein berufstätiges Genie, dem es nie genügte, der größte lyrische Dichter in deutscher Sprache zu sein: ein Minister mit sechs Ressorts, der sich in einer Menge Verwaltungsarbeit erging, Naturforscher, Sammler, Liebender, Reisender, Maler, ein prometheischer Grenzgänger schließlich mit allen Gefährdungen, die das mit sich bringt. In Goethes Leben und Werk geht es um Individualität, ihre Möglichkeiten und Grenzen. Von mühsamen Wandlungsprozessen und „fruchtbaren Irrtümern“ ist beim Dichter und seinem Protagonisten die Rede. Doch während der männliche Held scheitert und zum Opfer seiner eigenen Maßlosigkeit wird, steht ein weiblicher Geist am Ende des Lebenswerks für eine große Vision: Steigerung ohne Selbstüberhebung. 2009. 346 S. MIT 22 S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-412-20282-8

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THEO BUCK

GOETHES MONODRAMA „PROSERPINA“ EINE GESAMTDEUTUNG

Die Geschichte von Proserpina, die Pluto in die Unterwelt entführte, wo sie als Königin an seiner Seite um ihr irdisches Leben betrogen wurde, hat seit der Antike zahlreiche Künstler fasziniert. So auch Goethe, der ihr ein Monodrama gewidmet und dieses sogar zweimal selbst inszeniert hat. Dennoch wurde sein Werk von der Forschung bislang weitgehend ignoriert. Der bekannte Literaturwissenschaftler Theo Buck eröffnet mit der vorliegenden Gesamtdeutung einen einfühlsamen Zugang zu dem wenig bekannten Werk. Er macht deutlich, dass Goethe hier das Gelingen existenzieller Selbstbehauptung auf die Bühne hebt. Seine Proserpina führt aus ihrer tragischen Verzweiflung heraus einen engagierten Kampf um eine menschenwürdige Existenz. Damit zeichnet Goethe sie als beispielhafte Persönlichkeit und leidenden Menschen mit vorbildhaften Zügen. 2012. 115 S. 21 S/W-ABB. BR. 135 X 210 MM | ISBN 978-3-412-20867-7

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MICHAEL ZAREMBA

JEAN PAUL DICHTER UND PHILOSOPH EINE BIOGRAFIE

Am 21. März 2013 jährt sich sein Geburtstag zum 250. Mal: Jean Paul, 1763 in Wunsiedel geboren, 1825 in Bayreuth verstorben, war schon zu Lebzeiten einer der bedeutendsten und erfolgreichsten deutschen Schriftsteller. Mehrfach wurde er zum »Lieblingsdichter der Deutschen« ausgerufen. Seine literarischen Werke fanden viele Bewunderer. Die Weimarer Klassiker Wieland und Herder zählten dazu, ebenso wie die Philosophen Fichte und Hegel. Auch nachfolgenden Dichtergenerationen galt er als großes Vorbild. Doch seine ausufernden Textlabyrinthe stießen bisweilen auch auf Kopfschütteln und Unverständnis. Als autodidaktisch gebildeter Literat und Philosoph stand Jean Paul als Solitär zwischen Weimarer Klassik und Romantik, zwischen Auf klärung und Idealismus. Michael Zaremba stellt das Leben und Wirken des freigeistigen und feinsinnigen Dichters und Denkers nach dem neuesten Forschungsstand kompetent und kurzweilig vor. Seine Biografie ist eine Einladung, diesen liebenswert versponnenen Romantiker und scharfzüngig spottenden Realisten (neu) kennen und schätzen zu lernen. 2. AUFLAGE 2012. 335 S. 20 S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-412-21091-5

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