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German Pages 335 [336] Year 2003
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann
Band 168
Thorsten Valk
Melancholie im Werk Goethes Genese - Symptomatik - Therapie
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002
Die vorliegende Arbeit wurde gefördert durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
D25 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-18168-0
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
I.
Einleitung
ι
ι. Melancholie und Melancholiker im Werk Goethes
3
2. Goethe als Melancholiker
6
3. Melancholie als Zeiterscheinung des ausgehenden 18. Jahrhunderts
9
4. Goethe und die Melancholie im Fokus der Literaturwissenschaft II.
II
Europäische Melancholietraditionen und ihre Rezeption im Werk Goethes
16
ι. Die Entfaltung der Vier-Säfte-Lehre im »Corpus Hippocraticum
Problemata
Die Leiden des jungen Werther
Torquato Tasso
Lila< und ihr biographischer Hintergrund 3. Lilas Melancholie - Pathogenese u n d Therapie
140 145
3.1. Melancholische E r k r a n k u n g und empfindsame Schwärmerei
VI.
145
3.2. D o k t o r V e r a z i o als kundiger Seelenarzt
148
3.3. D i e therapeutische K r a f t des P s y c h o d r a m a s
152
3.4. Lilas G e n e s u n g
160
P a n o p t i k u m der Melancholie - >Wilhelm Meisters Lehrjahre< . .
162
ι . D i e Forschungsdiskussion zu >Wilhelm Meisters Lehrjahren VI
162
2. Frühe Melancholie - Wilhelms Kindheit und Jugend
168
2.1. Eskapistischer R ü c k z u g in fiktive Sonderwelten
169
2.2. Die Katastrophe der ersten Liebesbeziehung
172
3. Wilhelms Melancholie in leitmotivischer Spiegelung - das Bild v o m kranken Königssohn
176
4. Emphatische Identifikation und kritische Distanzierung Wilhelm und Hamlet
185
5. Strategien der Melancholieabwehr
190
5.1. Kontinuierliche und planmäßige Tätigkeit
191
5.2. Verzicht auf weitabgewandte Introspektion
195
5.3. Selbstrelativierung und Selbstbeschränkung
197
6. Aurelie als Melancholikerin
200
6.1. Psychosoziale Frustration und melancholische Erkrankung 6.2. Aurelie als Parallel-und Kontrastfigur zu Wilhelm
201 . . .
211
7. Melancholie und Wahnsinn - der Harfner
213
7.1. Künstlertum und Einsamkeit 7.2. Schuldverstrickung und pathologische Wahnbildung
214 . .
217
7.3. Die psychotherapeutische Behandlung des Harfners nach den Grundsätzen des >moral management
219
7.4. Die Vorgeschichte des Harfners und ihre Spiegelfunktion für Wilhelms Entwicklung
223
8. Die Ambivalenz des Schlußbildes VII.
226
Trauma und Tod - Melancholie in den »Wahlverwandtschaften
231
ι . Die Forschungskontroverse zu den >Wahlverwandtschaften« .
231
2. Müßiggang, Sinnverlust, Langeweile - die Koordinaten der Ausgangssituation
237
3. Melancholieprophylaxe durch Tätigkeit und Selbstdisziplinierung - der Hauptmann
243
3.1. D e r Hauptmann als Therapeut
244
3.2. Die Fernwirkungen eines Jugendtraumas
248
4. Versäumtes Leben, verdrängter Tod - Charlotte als Melancholikerin
251
4 . ι . Das Trauma der ersten Ehe
252
4.2. Die Illusionen der zweiten Ehe
253
4.3. Ästhetische Entmachtung des Todes
256
5. Pathologie der Leidenschaft - Eduards Liebesmelancholie
. .
260
.
268
5.1. Egoismus und Dilettantismus 5.2. Verzweifelte Leidenschaft - zerstörerische Melancholie
261
VII
6. Ottilie als Melancholikerin - »eine gar anmutige Penserosa«
.
273
6.ι. Ottilie als soziale Außenseiterin
275
6.2. Antimelancholische Therapeutika
278
6.3. Todessehnsucht und Selbstnegation
283
6.4. Ottilie und M i g n o n - z w e i Schwestern im Zeichen der Melancholie
286
VIII. Melancholie als Gelehrtenkrankheit >Faust. D e r Tragödie erster Teil
Saturn und Melancholien Diese Monographie, die seit ihrer Erstpublikation in den sechziger Jahren zum vielbewunderten Klassiker gediehen ist, markiert den Beginn der modernen Melancholieforschung, die sich bis in die aktuelle Gegenwart hinein einer ungebrochenen Aufmerksamkeit erfreut. Gelehrte Abhandlungen und populärwissenschaftliche Darstellungen bedienen ebenso wie zusammenfassende Querschnitte und detailorientierte Einzelstudien das breite Interesse einer kontinuierlich anwachsenden Leserschaft. Wo aber liegen die Ursachen f ü r die stetig steigende Aufmerksamkeit, die der Melancholie und ihrer komplexen Diskursgeschichte von vielen Seiten entgegengebracht wird? Wie die von R a y m o n d Klibansky formulierte Frage bereits nahelegt, gründet das immense Interesse vor allem in der Aktualität der Melancholie, in ihrer zeithistorischen Relevanz am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Melancholie, die ein breites Spektrum psychischer Verhaltensmodi umfaßt und in traurigem Lebensüberdruß oder depressiver Angst konkrete Gestalt annehmen kann, scheint sich vor allem in der modernen Leistungs- und Konsumgesellschaft auszubreiten, die hinter der Fassade eines rasant wachsenden Wohlstandes oft zu persönlicher Vereinsamung und existentiellem Orientierungsverlust führt. Die Melancholie - so haben renommierte Gesellschaftskritiker wiederholt erklärt - ist der zu zahlende Preis f ü r den beschleunigten Fortschritt der Zivilisation. Sie ist die schleichende Krankheit moderner Gesellschaften. Das gegenwärtige Interesse an der Melancholie ist zwar größer als je zuvor, die kritische Auseinandersetzung mit ihr reicht jedoch bis in die Antike zurück. Bereits im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert untersuchen bedeutende Mediziner und Philosophen den geheimnisvollen Einfluß der schwarzen Galle auf die psychische Konstitution des Menschen. In der Spätantike gesellen sich dann weitere Wissenschaften hinzu, die Theologie sowie die Astrologie. A u c h die Künste entdecken schon früh die Schwermut als darstellungswürdigen Gegenstand. Die Bewertung der Melancholie - und das ist ι
zweifellos das Fesselndste an ihrer langen Diskursgeschichte - erweist sich dabei von Anfang an als äußerst ambivalent. Während die hippokratische Medizin die Melancholie als schädigenden Körpersaft analysiert, der die Gesundheit des Menschen extrem gefährdet, deutet sie der bekannte Aristoteles-Schüler Theophrast im vierten vorchristlichen Jahrhundert als konstitutive Voraussetzung für ingeniöse Schöpferkraft und außerordentliche intellektuelle Leistungen. Natürlich räumt auch Theophrast ein, daß von der Melancholie eine besondere Gefahr für das seelische Gleichgewicht des Menschen ausgehe. Entscheidend ist für ihn jedoch die inspirierende Kraft der Melancholie, die im Rahmen der antiken Humoraltheorie keinem anderen Körpersaft zugeschrieben wird. Die wissenschaftliche und künstlerische Deutung der Melancholie ist bis in die Neuzeit hinein von dieser Dialektik geprägt. Auf der einen Seite betont man ihre lähmende und zerstörerische Gewalt, ihre zersetzende und jeden Seelenfrieden untergrabende Macht; auf der anderen Seite akzentuiert man ihre inspirierende Wirkung sowie die durch sie ermöglichten Einsichten, die den Bereich des Empirischen überschreiten. Vor allem während des achtzehnten Jahrhunderts kommt es zu einer scharfen und extrem polarisierenden Auseinandersetzung um die beiden widersprüchlichen Seiten der Melancholie: Während die Repräsentanten der Aufklärung die Melancholie kritisieren und als widervernünftige Schwärmerei oder weitabgewandte Traurigkeit diskreditieren, verehren die Anhänger der Empfindsamkeit in ihr eine edle Seelenstimmung, die nur den sensiblen Gefühlsmenschen auszeichne, der sich den gesellschaftlichen Verwendungsansprüchen weitgehend entziehe und ein erfülltes Dasein jenseits aller Verhaltensnormierung erträume. Die Melancholie impliziert unter positiven wie negativen Vorzeichen eine Vielzahl psychischer Symptome und umfaßt nicht nur Depressionen im streng medizinischen Sinne, sondern auch leichtere Grade der Trauer sowie zur Kreativität animierende Gemütszustände. Ganz unabhängig davon, ob man die Melancholie als Krankheit moderner Gesellschaften, als humoralphysiologisch zu erklärende Schädigung der menschlichen Psyche oder aber als eine die Zeiten überdauernde Auszeichnung des künstlerischen Genies ansieht: Immer ist etwas Dunkles und Bizarr-Abgründiges im Spiel, etwas Geheimnisvolles und Mysteriöses, das Interesse weckt und zur Auseinandersetzung anregt. An der Relevanz des Melancholiebegriffs für die europäische Kulturgeschichte kann seit den umfangreichen Forschungen von Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl kein Zweifel mehr bestehen. In jahrzehntelanger Kleinarbeit haben sie die Melancholie in ihren verschiedenen Schattierungen sowie weitverzweigten Traditionssträngen untersucht und die Ergebnisse ihrer Arbeit in dem bereits oben erwähnten Buch >Saturn und Melancholie< zusammengetragen. Da sich die kulturhistorischen Forschungen von Klibansky, Panofsky und Saxl auf den Zeitraum zwischen Antike und früher Neuzeit beschränken, haben andere Wissenschaftler den Weg der Melancholie inzwischen weiterver2
folgt - von der Aufklärung über die Romantik bis in die Gegenwart hinein. Die Diskursgeschichte der Melancholie und ihre literarische Rezeption während der letzten dreihundert Jahre ist mittlerweile relativ gut erforscht. Das dichterische Werk Goethes hingegen blieb in diesem Kontext bislang weitgehend unbeachtet, was insofern besonders erstaunlich ist, als gerade Goethe die unterschiedlichen europäischen Melancholietraditionen sehr gut kannte und seine bedeutendsten Werke unverkennbar in ihren Horizont stellte. Goethe und die Melancholie - das ist die Forschungslücke, die von der vorliegenden Studie geschlossen werden soll.
ι.
Melancholie und Melancholiker im Werk Goethes
Immer wieder rückt Goethe ausgesprochene Melancholiker ins Zentrum seiner Dichtungen. Werther und Tasso, Faust und Wilhelm, Mignon und der Harfner, Eduard und Ottilie - sie alle und noch viele andere erweisen sich als mehr oder weniger melancholisch veranlagte Protagonisten, die freilich unter ganz verschiedenartigen Formen der Melancholie zu leiden haben. Ihre Charaktere sind nach unterschiedlichen Melancholiekonzepten modelliert. In seinem ersten R o m a n etwa rekurriert Goethe auf ein psychopathologisches Konzept, das die Melancholie als lähmende und zerrüttende Seelenkrankheit begreift. Wenn Werther während seines heftigen Disputs mit Albert von der hoffnungslosen >Krankheit zum Tode< spricht, dann bezieht er sich exakt auf jene Tradition, der zufolge die Melancholie eine seelische Erstarrung verursacht und eine jeden Lebenswillen untergrabende Schwermut herbeiführt. Werther unterzieht sich im Verlauf des Romans einer ganzen Anzahl verschiedener Therapieversuche, die aber schließlich alle scheitern, so daß er seinen letzten A u s w e g im Suizid erblickt. D e r Suizid indes wird seit den pseudoaristotelischen >Problemata< als Folge einer schweren und ruinösen Melancholie diagnostiziert. Im >Tasso< greift Goethe auf die seit der italienischen Renaissance immer wieder neu exponierte Vorstellung einer kreativen Dichtermelancholie zurück. D e r geniale Dichter verdankt seine über jedes Normalmaß hinausgehende Schöpferkraft den Wirkungen der Melancholie, zugleich aber muß er für diese Gabe mit jenen Leiden bezahlen, die sich in Isolation, Handlungsohnmacht sowie fortschreitendem Realitätsverlust konkretisieren. Im >Tasso< verschränken sich zwei Melancholietraditionen - das bereits im >Werther< hervortretende psychopathologische Modell wird mit einem inspirationstheoretischen K o n zept verbunden. Ein dem Tassodrama in vielerlei Hinsicht verwandtes Gedicht umkreist ebenfalls die von der italienischen Renaissancephilosophie nobilitierte Künstlermelancholie. Es handelt sich um den Vierzeiler >Zart Gedicht, wie Regenbogens den Goethe in die zwischen 1 8 1 2 und 1 8 1 5 entstandene Sammlung >Sprichwörtlich< integriert hat. In diesem Vierzeiler wird das vollendete 3
Gedicht mit einem Regenbogen verglichen, der bereits in antiken Mythen als Symbol universaler Harmonie gedeutet wird. Wie aber der Regenbogen nur am dunklen Himmelsgewölbe erscheint, so entspringt auch das vollendete Gedicht allein einer melancholischen Seelenverfassung: »Zart Gedicht, wie Regenbogen, / Wird nur auf dunklen Grund gezogen; / Darum behagt dem Dichtergenie / Das Element der Melancholie« (FA 2, 395). Im >Werther< wie im >Tasso< dominiert die tragische und letztlich unabwendbare Gefährdung, die von der Melancholie ausgeht. In dem weniger bekannten Singspiel >Lila< hingegen stellt Goethe eine erfolgreiche Therapie dar, die zur Uberwindung der Melancholie und zur vollständigen seelischen Genesung führt. Lila ist wie Werther von Natur aus eine Melancholikerin. Sie neigt zur Schwermut und vergräbt sich immer wieder in »tiefen Melancholien«, wie aus den Worten des Grafen Friedrich hervorgeht. Als sie eines Tages die Unglücksbotschaft vom vermeintlichen Tod ihres Gatten erhält, verschärft sich die schwärmerische Melancholie, die zuletzt in depressive Wahnvorstellungen umschlägt. Herbeigerufene Ärzte, deren Behandlungsmethoden auf den traditionellen Lehren der Humoralpathologie beruhen, können nicht helfen. Allein der Arzt Verazio weiß Rat: Er inszeniert ein dramatisches Feenspiel, in dem Lilas Wahnphantasien nachgestellt und dadurch schließlich geheilt werden. Verazio wendet die Heilmethode des >Psychodramas< an, das Goethe - allerdings unter anderem Namen - aus den medizinischen Schriften seiner Zeit vertraut war. Auch in anderen Werken thematisiert Goethe die existentielle Gefährdung sowie die zuweilen gelingende Heilung melancholischer Charaktere. In den >Lehrjahren< begegnen gleich mehrere von der Melancholie gezeichnete Figuren - Wilhelm Meister, Aurelie und Mignon, der Harfner und Sperata. Wilhelm Meister vertieft sich auf seinem langen Bildungsweg wiederholt in den >Klassiker< der melancholischen Literaturgeschichte. Früh entdeckt er seine besondere Affinität zu Shakespeares Hamlet, dessen Rolle er während seines Theaterengagements bei Serlo mehrfach zu spielen versucht. Wilhelm Meister überwindet schließlich seine Melancholie, indem er sich dem Tätigkeitspostulat der Turmgesellschaft unterstellt. Mignon und der Harfner jedoch zerbrechen ebenso wie Aurelie auf tragische Weise an der Melancholie. Ihr Tod bildet den dunklen Hintergrund, von dem sich Wilhelms Lebensweg als ein Weg der Heilung und Genesung abhebt. Im >Faust< aktualisiert Goethe das seit Rufus von Ephesos etablierte Konzept der Gelehrtenmelancholie. Der Wissenschaftler, der ständig hinter dicht bedruckten Folianten hockt, über komplexe Zusammenhänge reflektiert und dadurch seine vitalen Bedürfnisse vernachlässigt, verfällt schließlich den Anfechtungen der Melancholie. Ebenso überwältigt ihn die Schwermut, wenn er sich der Spekulation hingibt und nach absoluter Erkenntnis strebt, die ihm letztlich doch immer verschlossen bleibt. Wie die Goethe-Philologie bereits 4
mehrfach nachweisen konnte, korrespondiert die Eingangsszene des >Faust< über weite Strecken mit dem berühmten Kupferstich Albrecht Dürers, der bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts die melancholischen Leiden des Gelehrtendaseins ins Bild setzt. Goethe hat der Anfangspartie des >Faust< jedoch noch weitere Melancholietraditionen eingeschrieben. So verfällt nach mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Vorstellung der Mensch dem Teufel, wenn er seine Melancholie nicht bezwingen und überwinden kann. In den >Tischgesprächen< Luthers etwa heißt es: »Ein melancholisches Haupt ist ein Badehaus des Teufels«. Wenn sich nun Faust im Verlauf der ersten Szenen in immer depressivere Gemütszustände hineinsteigert und in der zweiten Studierzimmer-Szene sogar die höchsten menschlichen Ideale verflucht, so begibt er sich gewissermaßen in den Machtbereich des Teufels, der in Gestalt Mephistos sogleich zur Stelle ist und mit Faust den bekannten Pakt abschließt. Auch in den > Wahlverwandtschaften, dem vielleicht abgründigsten Werk Goethes, dominiert die Melancholie. Vor allem die beiden Protagonisten Eduard und Ottilie sind von ihr gezeichnet. Deutlich wird dies unter anderem, wenn man die subtile Symbolsprache des Romans entschlüsselt und die verstreuten Hinweise zur Psychologie der Figuren zusammenträgt. Eduard und Ottilie nehmen wiederholt die topische Melancholiker-Haltung ein, indem sie ihren Kopf seitlich in die Hand legen und diese auf den Ellenbogen stützen. Auch andere Gesten und Verhaltensweisen demonstrieren die melancholische Veranlagung der Protagonisten - die mehrfach erwähnten Kopfschmerzen, unter denen Eduard leidet, die häufig exponierte Langsamkeit und Schweigsamkeit Ottiliens sowie ihr ausgeprägter Hang zum Fasten. Ottilie verrät bereits zu Beginn des Romans eine Tendenz zur Weltflucht und zur Aufhebung ihrer körperlichen Existenz, die durch das unglückliche Verhältnis mit Eduard in hohem Maße forciert wird und schließlich in einer tödlich endenden Nahrungsverweigerung kulminiert. Auch Charlotte und der Hauptmann sind nicht frei von melancholischen Verstimmungen, wenngleich sie diese besser zu beherrschen wissen. Kennzeichnend sind ihre auffälligen Versuche, alles an Vergänglichkeit und Tod Erinnernde aus dem Bezirk des Landschlosses zu eliminieren. Eine gleichsam melancholiefreie Zone läßt sich hierdurch dennoch nicht schaffen. Im Gegenteil: Das obsessiv Verdrängte bricht mit umso größerer Gewalt über die Bewohner des adeligen Landsitzes herein. Goethe greift zwar wiederholt auf die unterschiedlichen Melancholiekonzepte der europäischen Kulturgeschichte zurück, zugleich aber modifiziert und funktionalisiert er sie auch, um eine eigene dichterische Aussage formulieren zu können. Wenn Goethe im >Tasso< etwa das inspirationstheoretische Konzept einer kreativen Künstlermelancholie aktualisiert, dann tut er dies in erster Linie, um so das spezifische Los des modernen Dichters darzustellen, der seine besondere Begabung mit psychischer Labilität, gesellschaftlicher Handlungsohnmacht und krankhafter Wahnbildung bezahlen muß. Wenn Goethe 5
im ersten Teil des >Faust< schließlich die alte Tradition der Gelehrtenmelancholie aufgreift, dann wiederum, um so die verzweifelte Situation des modernen Gelehrten zu rekonstruieren, der unter der Sterilität seines Forscherdaseins leidet, unter dem von Generationen angehäuften Wissensballast zusammenbricht und in einer schmerzlich empfundenen Entfremdung von der Natur lebt. A b schließend bleibt festzuhalten, daß sich die Melancholie bei Goethe im Rahmen ihrer tradierten Konzepte auf einen klar bestimmbaren Ursachenkomplex zurückführen läßt. Z u diesem gehören vor allem folgende Eigenschaften und Verhaltensweisen: die Unfähigkeit, Phantasie und Realität, reiche Innerlichkeit und defizitäre Außenwelt miteinander zu vermitteln; hypertrophe Einbildungskraft und eskapistische Flucht in einen weltlosen Subjektivismus; fortwährende Introspektion und steriler Narzißmus; Rückzug in einsame Gegenden und weltverneinende Entgrenzungssehnsucht; persönliche Traumata, die in sexuellen Konflikten gründen und zu obsessiver Triebabwehr führen; existentieller Orientierungsverlust, der Lebensüberdruß und Todessehnsucht auslöst.
2.
Goethe als Melancholiker
Die meisten literarhistorischen Uberblicksdarstellungen operieren mit dem Konzept einer dialektischen Kulturbewegung: Sie begreifen die Entwicklung der Literatur als fortwährenden Widerstreit konkurrierender Tendenzen und analysieren die A b f o l g e unterschiedlicher Epochen als
antagonistischen
Dauerreflex. Blickt man aus dieser Perspektive auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, so provoziert der Rationalismus der Aufklärungszeit den Irrationalismus des Sturm und Drang; dieser wird seinerseits durch die Klassik mit ihrem Bekenntnis zur Ordnung und harmonischen Gesetzmäßigkeit abgelöst, bevor dann die Romantik einen erneuten Richtungswechsel vollzieht und an die Stelle des rein innerweltlichen Kräfteausgleichs die Ausrichtung auf ein utopisches und allein in unendlicher Progression erreichbares Ideal setzt. Eine solchermaßen kategorisierende Literaturbetrachtung erliegt häufig der Gefahr, einzelne Autoren dem übergeordneten Paradigma entsprechend zu klassifizieren und damit wesentliche Charakterzüge der Persönlichkeit sowie markante Kennzeichen des Werkes zu ignorieren. A u c h im Fall Goethes hat eine allzu schematisch vorgehende Literaturwissenschaft f ü r lange Zeit zentrale Aspekte übersehen. Betrachtete man die Frühromantiker ebenso wie die Anhänger des Sturm und Drang als soziale Außenseiter und weltlose Phantasten, die mit innerer Notwendigkeit an den unüberwindbaren Widersprüchen ihrer eigenen Existenz zugrunde gingen, so galt Goethe über Generationen hinweg als klassisch-vorbildlicher Autor, der den Hiat zwischen Kunst und Leben zu überbrücken vermochte. Dieses verklärende und zugleich äußerst langlebige Por6
trät des >Dichterfürsten< geistert auch heute noch durch literaturwissenschaftliche Arbeiten, insbesondere durch jene Monographien, die den wiederholten Selbststilisierungen des >klassischen< Goethe kritiklos folgen und die aufgesetzte Maske f ü r das authentische Gesicht nehmen. Wer sich von der Erhabenheit des dichterischen Selbstbildnisses nicht blenden läßt, der entdeckt in jedem Lebensabschnitt Goethes dunkle Verschattungen und pathologische Abgründe, die mehr als einmal suizidale Gedanken heraufbeschwören. Goethe hat zeit seines Lebens unter schweren Depressionen gelitten, w o v o n nicht nur Tagebuchaufzeichnungen und Briefe, sondern auch zahlreiche Dichtungen zeugen, die auf bemerkenswerte Weise immer wieder um die Melancholie, ihre Ursachen und Konsequenzen kreisen. Autobiographischen Äußerungen zufolge litt Goethe bereits als Fünfzehnjähriger unter melancholischen Verstimmungen. Im Zusammenhang mit einer freilich nur am Rande erwähnten Verwicklung in »schlechte Gesellschaft« sowie einer prekären Liebesbeziehung ist erstmals von länger anhaltenden Depressionen die Rede: »Ich empfand nun keine Zufriedenheit«, notiert Goethe rückblickend, »als im Wiederkäuen meines Elends und in der tausendfachen imaginären Vervielfältigung desselben. Meine ganze Erfindungsgabe, meine Poesie und Rhetorik hatten sich auf diesen kranken Fleck geworfen, und drohten, gerade durch diese Lebensgewalt, Leib und Seele in eine unheilbare Krankheit zu verwickeln. [...] So verbrachte ich Tag und Nacht in großer Unruhe, in Rasen und Ermattung« ( H A 9, 21 jf.). Diese kurze Textpassage aus >Dichtung und Wahrheitklassische< Goethe hat in Abständen unter Depressionen gelitten, so in den Jahren der wachsenden gesellschaftlichen Isolierung nach der Italienischen Reise, in den wiederholten Schaffenskrisen nach dem Tod des Freundes Schiller, nach dem qualvollen Ende seiner Frau Christiane, nach der Begegnung mit Ulrike von Levetzow. Goethes Leben steht über weite Strecken unter dem Signum der Melancholie, die ihn vor allem in jungen Jahren auch mehrfach der Gefahr des Suizids aussetzt. Als Zelters Stiefsohn im Dezember 1812 Selbstmord begeht, zeigt sich der alternde Goethe tief betroffen. Er erinnert sich seiner eigenen jugendlichen Suizidneigung und erklärt in einem persönlichen Brief (HA 6, 539): Wenn das >taedium vitae< den Menschen ergreift, so ist er nur zu bedauern, nicht zu schelten. Daß alle Symptome dieser wunderlichen, so natürlichen als unnatürlichen Krankheit auch einmal mein Innerstes durchrast haben, daran läßt >Werther< wohl niemand zweifeln. Ich weiß recht gut, was es mich für Entschlüsse und Anstrengungen kostete, damals den Wellen des Todes zu entkommen, so wie ich mich aus manchem spätem Schiffbruch auch mühsam rettete und mühselig erholte.
Und dann fügt Goethe noch einen weiteren Satz hinzu, um dem Eindruck entgegenzuwirken, die frühere Melancholie sei inzwischen überwunden: »Ich getraute mir«, erklärt er fast trotzig, »einen neuen >Werther< zu schreiben, über den dem Volke die Haare noch mehr zu Berge stehn sollten als über den ersten« (HA 6, 539). Wenn Goethe über die eigene Melancholie oder über die seiner Weggefährten und Zeitgenossen spricht, so kommt er immer wieder zurück auf den >Wertherjoy of grief < und wird von vielen als Ausweis einer besonderen Sensibilität geschätzt. Man kultiviert die eigene Schwermut als elegische Seelenstimmung, die von der pathologisch ausartenden Melancholie zu unterscheiden ist, auch wenn sie freilich in diese oftmals einmündet. Goethe lernt die empfindsame F o r m der Melancholie aus allernächster Nähe kennen, als er sich 1772 dem Darmstädter Freundeskreis um Johann Heinrich Merck anschließt. Hier werden elegische Gefühle und larmoyante Stimmungen nach literarisch präformierten Mustern ausgelebt. Sentimentale Verirrungen gibt es zuhauf: Die H o f dame Louise von Ziegler beispielsweise, die im Kreis der empfindsamen Freunde den Namen >Lila< trägt, legt sich in ihrem Garten unter Rosenlauben ein G r a b an, in das sie oft hineinsteigt, um das G e f ü h l des Sterbens in vollen Zügen auszukosten. 9
Was Goethe in der Darmstädter Gemeinschaft der Heiligen< erlebt, begegnet ihm auch andernorts: Man verschreibt sich mit Emphase einem empfindsamen Zeitgeist, der die Melancholie als traurig-sanfte Seelenstimmung nobilitiert. Der soziale Nährboden für diese Zeitströmung kann an dieser Stelle nicht genauer betrachtet werden, die literarische Grundlage hingegen muß zur Sprache kommen, da Goethe selbst in >Dichtung und Wahrheit< ausführlich auf sie eingeht. Der Katalysator der schwermütigen Zeitstimmung ist die englische Literatur des 18. Jahrhunderts. Ohne ihren Einfluß - so Goethe in freilich monokausaler Verkürzung - hätte sich die Melancholie »in den Gemütern deutscher Jünglinge nicht so entschieden entwickeln können« (HA 9, 579). Das signifikanteste Kennzeichen der englischen Literatur ist für Goethe ein sentimentaler Lebensüberdruß, der bisweilen die Gefahr birgt, die bloß sanfte und gefühlvoll abgedämpfte Schwermut in eine krankhaft ausartende Melancholie umschlagen zu lassen. »Selbst ihre zärtlichen Gedichte«, erklärt er im Hinblick auf die englischen Autoren, »beschäftigen sich mit traurigen Gegenständen. Hier stirbt ein verlassenes Mädchen, dort ertrinkt ein getreuer Liebhaber, [...] und wenn ein Dichter wie Gray sich auf einem Dorfkirchhofe lagert, und jene bekannten Melodien wieder anstimmt, so kann er versichert sein, eine Anzahl Freunde der Melancholie um sich zu versammeln« (HA 9,5 8 if.). Goethe nennt mehrere englische Autoren, die seines Erachtens die melancholische Tendenz in Deutschland seit etwa 1765 befördern: allen voran natürlich Edward Young, Oliver Goldsmith sowie James Macpherson, dessen schwermütige OssianDichtung das gesamte Inventar melancholischer Naturtopik aufbietet - dunkle und dichte Nebelschwaden, bemooste Grabhügel, leblose Baumstümpfe, einsam umherirrende Mädchen und tragisch endende Helden inmitten tosender Sturmwinde. In »Dichtung und Wahrheit< betont Goethe mit Nachdruck, daß der Wertherroman aus jener melancholischen Zeitstimmung hervorgegangen sei und potenzierend auf sie zurückgewirkt habe. »Diese Gesinnung«, erklärt er im Hinblick auf den empfindsamen Melancholiekult, »war so allgemein, daß eben >Werther< deswegen die große Wirkung tat, weil er überall anschlug und das Innere eines kranken jugendlichen Wahns öffentlich und faßlich darstellte« (HA 9,583). Die entschiedene Pathologisierung der Empfindsamkeit mit ihrer A f f i nität zur Melancholie ist kennzeichnend für Goethes Dichtungen sowie für seine wiederholten Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Schriftstellern. Die Kritik an der Empfindsamkeit und ihren zentralen Tendenzen bestimmt Goethes Werk ebenso wie die verbissene Fehde gegen die Romantik, die im ersten Dezennium des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht. In beiden literarischen Bewegungen erkennt Goethe all jene Gefahren, die ihn selbst bis ins hohe Alter bedrohen und gegen die er sich nur unter äußerster Kraftanstrengung zu behaupten vermag. Empfindsamkeit und Romantik führen seines Erachtens aus einer sanften unweigerlich in eine ruinöse Melancholie. Sie nehmen 10
ihren Ausgang im übersteigerten Einsamkeitskult sowie im eskapistischen Rückzug auf die eigene Innerlichkeit, in der narzißtischen Selbstbespiegelung sowie in der Lust an elegischen Gefühlen und morbiden Stimmungen; ihre unvermeidlichen Konsequenzen sind Realitätsverlust, soziale Desintegration und pathologische Todessehnsucht. Mit klarem Blick hat Goethe die eigene Melancholie sowie die seiner Zeitgenossen analysiert und die Befunde dem eigenen Œuvre eingeschrieben. Goethes Werk trägt über weite Strecken die Signatur der Melancholie - sowohl in bezug auf ihre epochale Relevanz als auch im Hinblick auf die Bedrohung der eigenen Persönlichkeit.
4.
Goethe und die Melancholie im Fokus der Literaturwissenschaft
Die fundamentale Bedeutung der Melancholie f ü r Goethes Dichtung ist in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt ins Blickfeld der Kulturwissenschaften getreten. Vereinzelte Detailanalysen stellten diverse Aspekte der Melancholie in Goethes umfangreichem Œuvre heraus, ohne jedoch den zentralen Stellenwert zu erkennen, der der Melancholie als einer das gesamte Werk bestimmenden Grundstruktur zukommt. Z u r Melancholie in Goethes >Werther< finden sich bislang nur einige verstreute Hinweise, die weder dem komplexen Traditionszusammenhang des Melancholiebegriffs noch dem poetischen Werk in seiner ästhetischen Eigengesetzlichkeit gerecht werden. Ein anschauliches Beispiel f ü r diesen inadäquaten Umgang mit Goethes Jugendroman bietet die erst kürzlich neu aufgelegte Studie des Berliner Soziologen Wolf Lepenies, die Melancholie in erster Linie als ein sozial bedingtes Phänomen begreift. Lepenies geht in seiner Untersuchung von der gesellschaftspolitischen Ohnmacht des kulturell aufstrebenden Bürgertums im 18. Jahrhundert aus. Vor diesem Hintergrund erklärt er, daß das bürgerliche Spannungsverhältnis zwischen kulturellem Selbstbewußtsein und gesellschaftspolitischer Unmündigkeit zur A u s bildung einer melancholischen und ganz auf die eigene Innerlichkeit konzentrierten Gefühlskultur beigetragen habe. In Goethes Jugendroman sieht Lepenies diesen soziokulturellen Vorgang auf paradigmatische Weise dargestellt: Der aus bürgerlichen Verhältnissen stammende Werther strebe nach gesellschaftlicher Anerkennung, werde aber vom Hofadel zu Machtverzicht und politischer Untätigkeit genötigt, was zu Melancholie und Weltflucht führe. In dem Verweis aus der adeligen Soirée laufen für Lepenies die Fäden zusammen: »Entmachtung des Bürgers, Demütigung durch den Adel, Flucht in die N a t u r und Literatur«. 1 Es ist zweifellos richtig, Werthers distanziertes Weltverhältnis 1
Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: D a s Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie, Frankfurt a.M. 1998, S. 199.
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auf ein melancholisches Bewußtsein zurückzuführen. Es entspricht jedoch nicht der kompositorischen Anlage des Romans, wenn Lepenies Werthers Melancholie und die damit einhergehende Weltflucht auf eine unfreiwillige Handlungshemmung zurückführt. Werther erscheint nicht erst nach dem demütigenden Verweis aus der Adelsgesellschaft, sondern bereits in den ersten Briefen als Melancholiker par excellence (HA 6, io). Die These von der Beziehung zwischen gesellschaftspolitischer Ohnmacht und melancholischer Gefühlskultur des Bürgertums soll hier keineswegs angefochten werden. Es verbietet sich jedoch, Goethes Briefroman zur Fundierung dieser These heranzuziehen. Werthers Melancholie kann ebenso wie sein Eskapismus nur unter Berücksichtigung der künstlerischen Brechungen auf gesellschaftliche Prozesse bezogen werden. Eine reine Soziogenese, die die individualpsychologischen Besonderheiten des Protagonisten ignoriert, führt unweigerlich in die Irre. 2 Zur Bedeutung der Melancholie für Goethes /Torquato Tasso< existieren einige wenige Untersuchungen, die jedoch, wenngleich sehr innovativ, über eine skizzenhafte und thesenartige Aufzählung der hervorstechendsten Melancholie-Symptome bislang nicht hinausgegangen sind. Hier ist vor allem an die Ausführungen von Hans-Jürgen Schings in dessen Monographie >Melancholie und Aufklärung< zu denken sowie an die einschlägigen Analysen von Dieter Borchmeyer.5 Aufschlußreich ist auch die gegen Ende der neunziger Jahre publizierte Baudelaire-Studie von Karl Heinz Bohrer, die unter anderem einen kurzen Exkurs zur Melancholie in Goethes >Tasso< enthält. Bohrer reduziert den Melancholiebegriff indes auf eine spezifisch geschichtsphilosophische Bedeutungsnuance, so daß die wesentlich weitergehende Fragestellung der hier vorliegenden Arbeit von seinen Ausführungen nicht berührt wird. 4 Das im ersten Weimarer Jahrzehnt verfaßte und während der Italienischen Reise überarbeitete Singspiel >Lila< ist bislang von der Forschung vernachlässigt
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Während Werthers Melancholie in den meisten Studien allenfalls am Rande thematisiert wird, nimmt sie in einem aspektreichen A u f s a t z von Gerhard K u r z bereits breiteren R a u m ein. G . Kurz: Werther als Künstler. In: Herbert A n t o n (Hg.): Invaliden des Apoll. Motive und M y t h e n des Dichterleids, München 1982, S. 9 5 - 1 1 2 . Vgl. auch die ältere und inzwischen überholte Studie von Hubertus Teilenbach: Gestalten der Melancholie. In: Jahrbuch f ü r Psychologie, Psychotherapie und medizinische A n thropologie 7 (1960), S . 9 - 2 6 . Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, S. 2 6 4 268. Dieter Borchmeyer: Tasso oder Das Unglück, Dichter zu sein. In: Dieter Kimpel u. J ö r g Pompetzki (Hg.): Allerhand Goethe. Seine wissenschaftliche Sendung aus A n laß des 150. Todestages und des 50. Namenstages der J o h a n n - W o l f g a n g - G o e t h e - U n i versität in Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1985, 8.67-88, hier S . 7 5 - 7 7 . Ders.: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche, Weinheim 1994, S. 169. K a r l - H e i n z Bohrer: D e r Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, N i e t z sche, Benjamin, Frankfurt a.M. 1996, 8.360-399.
w o r d e n . Von G o e t h e selbst als Gelegenheitsstück bezeichnet, hat es die A u f merksamkeit der Philologen nur selten wecken können. Z u Unrecht eigentlich, denn gerade die wiederholte Umgestaltung des Stückes über einen Zeitraum v o n mehr als ι o J a h r e n hinweg zeigt, daß G o e t h e diesem Singspiel mehr G e wicht beimaß, als er Freunden gegenüber zugeben wollte. D i e Untersuchungen zur >Lila< lassen sich bislang an einer H a n d abzählen und sind bis auf wenige A u s n a h m e n zu vernachlässigen. D i e einzige weiterführende Studie stammt v o n G o t t f r i e d Diener, der die drei unterschiedlichen Fassungen des Singspiels analysiert und überdies auch auf das psychopathologische Schrifttum u m 1800 eingeht, dem G o e t h e einige A n r e g u n g e n f ü r die Melancholie-Thematik seines Stückes entnehmen konnte. D i e traditionsreichen Melancholiekonzepte jedoch, die sich in G o e t h e s >Lila< ebenfalls manifestieren, werden nicht eigens thematisiert. 5 D i e literaturwissenschaftlichen Studien zu Goethes >Wilhelm Meister< lassen sich im Gegensatz zu den Arbeiten über >Lila< nicht mehr an einer H a n d abzählen. H i e r w u r d e n in den vergangenen Jahrzehnten zahllose Spezialuntersuchungen angehäuft. Sozialhistorische, mentalitätsgeschichtliche und diskursanalytische A n s ä t z e versuchten sich ebenso zu behaupten w i e poststrukturalistische und systemtheoretische Modelle. Angesichts dieses weitgefächerten Methodenspektrums verwundert es, daß die zentrale Bedeutung der Melancholie im >Wilhelm Meister< bislang kaum beachtet wurde. Lediglich H a n s - J ü r gen Schings hat wiederholt auf den Stellenwert der Melancholie in den >Lehrjahren< hingewiesen - zunächst in diversen A u f s ä t z e n , zusammenfassend dann im umfangreichen K o m m e n t a r der Münchner G o e t h e - A u s g a b e . 6 Schings hat mehrfach betont, daß die Melancholie einen unverzichtbaren Schlüssel z u m tieferen Verständnis des >Wilhelm Meister< biete, gleichwohl fehlt bislang eine zuverlässige Werkanalyse, die diese These auch konkret am Text zu verifizieren vermag. Z u r Melancholie in Goethes >Wahlverwandtschaften< liegt eine Untersuchung v o n Bernhard Buschendorf vor, die sich auf die D e c h i f f r i e r u n g all jener Melancholiesymbole konzentriert, die das Handlungsgeschehen auf einer f i g u rativen Ebene kommentierend begleiten. D i e um die Mitte der achtziger J a h r e
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Gottfried Diener: Goethes >LilaWahnsinns< durch >psychische KurFaust< ist in der langen und wechselvollen Wirkungsgeschichte des Dramas wiederholt hervorgehoben worden. Die zentrale Relevanz der Melancholie für die Konzeption des >Faust I< hat jedoch erst Jochen Schmidt in einer unlängst publizierten Studie systematisch herausgearbeitet.8 Schmidt demonstriert, wie konsequent Goethe die Melancholie als strukturbildendes Element jener Szenensequenz zugrunde gelegt hat, die sich vom Eingangsmonolog bis zum Abschluß von Pakt und Wette erstreckt. Trotz dieser bereits weitreichenden Einsichten ist der Stellenwert der Melancholie im >Faust< bislang noch nicht vollständig erfaßt worden. Erst eine konsequente Einbeziehung der weitverzweigten und bis ins 18. Jahrhundert fortlebenden Melancholietraditionen vermag etwa Fausts therapeutische Anstrengungen nach dem Osterspaziergang in ihrer zeitgeschichtlichen Relevanz sichtbar zu machen. Der Literaturüberblick hat zeigen können, daß die zentrale Bedeutung der Melancholie im Werk Goethes bislang nur punktuell thematisiert wurde und eine umfangreiche sowie systematisch kategorisierende Studie noch fehlt. Die folgenden Ausführungen sind diesem Forschungsdesiderat verpflichtet. Sie führen zunächst den Nachweis, daß Goethe sowohl mit den europäischen Melancholietraditionen als auch mit den psychopathologischen Diskursen des 18. Jahrhunderts vertraut war. Sodann belegen sie in detaillierten Werkanalysen, daß seine Dichtungen von einer lebenslangen Auseinandersetzung mit der Melancholie, ihren Ursachen, Symptomen und Konsequenzen geprägt wurden. Wer heutzutage eine wissenschaftliche Studie über Goethes literarisches Œuvre vorlegt, der setzt sich fast unweigerlich dem Verdacht aus, nur alten Wein in neuen Schläuchen anzubieten. »Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken, / Das nicht die Vorwelt schon gedacht?« - so spottet bereits Mephisto im zweiten Teil des >Faust< über jenen Baccalaureus, der glaubt, mit ihm erst gehe die Sonne der Wissenschaft auf (V. 68opf.). Die vorliegende Arbeit ist dem von Generationen erreichten Wissensstand in vielen Bereichen verpflichtet. Dennoch erhebt sie den Anspruch, aufgrund der neu gewählten Perspektive Ein-
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Bernhard Buschendorf: Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der W a h l verwandtschaften«, Frankfurt a.M. 1986, S. 123-263. Jochen Schmidt: Faust als Melancholiker und Melancholie als strukturbildendes Element bis zum Teufelspakt. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), S. 1 2 5 - 1 3 9 .
sichten zu gewinnen, die Goethes literarisches Werk in einen bislang vernachlässigten Gesamthorizont einordnen und dadurch auch zu einem besseren Verständnis einzelner Dichtungen beitragen.
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II.
Europäische Melancholietraditionen und ihre Rezeption im Werk Goethes
ι.
Die Entfaltung der Vier-Säfte-Lehre im >Corpus Hippocraticum
Melancholie< bereits gegen Ende des fünften vorchristlichen Jahrhunderts zum Grundbestand des medizinischen Fachvokabulars. Der früheste Beleg für das Wort >Melancholie< findet sich in der vermutlich von Hippokrates um 430 v. Chr. verfaßten Schrift >Uber Luft, Wasser und OrtslagenUber Luft, Wasser und Ortslagen< zählt zu den ältesten Dokumenten des >Corpus Hippocraticumschwarze GalleSchwarzwasserfieber< oder das »schwarze Erbrechen< sind die meist unabw e n d b a r e n Folgen. 2 K e n n e n die ganz frühen hippokratischen Schriften nur den durch die Galle und den durch das Phlegma bestimmten T y p , so enthält das dritte B u c h der >EpidemienÜber die N a t u r des Menschen« entfaltet. Diese Schrift ist etwa u m 400 v. C h r . entstanden und geht aller Wahrscheinlichkeit nach auf einen Schüler des H i p p o k r a t e s namens P o l y b o s zurück. In dieser neuen L e h r e v o n den vier >humores< erscheint die schwarze G a l l e neben der (hellen) gelben Galle, dem Phlegma und dem Blut nunmehr als ein eigener K ö r p e r s a f t . D i e Erweiterung der Z w e i - S ä f t e - L e h r e zu einer Vier-Säfte-Lehre ist sehr voraussetzungsreich und kann nur v o r dem Hintergrund der frühen griechischen N a t u r p h i l o s o p h i e verstanden werden. Warum - so läßt sich fragen - propagiert ein A u t o r um 400 v. Chr. vier gesundheitsgefährdende Körpersäfte, w o doch die schwarze Galle als Untergattung der hellen Galle bereits einen systematischen O r t gefunden hat und das Blut im Gegensatz zu den anderen drei K ö r p e r s ä f t e n eigentlich kein überflüssiger, sondern ein überaus kostbarer und unersetzlicher K ö r p e r bestandteil ist? D i e A n t w o r t auf diese Frage erscheint ebenso einfach w i e aufregend: Indem P o l y b o s die A n z a h l der den Menschen beherrschenden K ö r p e r säfte auf vier erhöht, verbindet er die bis dahin überwiegend empirisch vorgehende H u m o r a l p a t h o l o g i e mit der kosmologischen Spekulation der V o r s o k r a tiker, die am E n d e des f ü n f t e n vorchristlichen Jahrhunderts ihren H ö h e p u n k t erreicht. 3 2 3
Siehe hierzu Hellmut Flashar: Melancholie und Melancholiker, S. 23. Besonders aufschlußreich in diesem Zusammenhang sind die Ausführungen von Carolin Oser-Grote: Medizinische Schriftsteller. In: Hellmut Flashar (Hg.): Die Philosophie der Antike, Bd. 2/1: Sophistik - Sokrates - Sokratik - Mathematik - Medizin, Basel/Stuttgart 1998, S.455-485, hier 5.466-468.
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Bereits in der pythagoreischen Naturphilosophie nimmt die Vierzahl eine ganz zentrale Stellung ein, da sie als Ordnungsprinzip des gesamten Kosmos auch die Vielheit der irdischen Phänomene strukturiert. Die Pythagoreer stellen zahlreiche tetradische Zuordnungen auf und unterscheiden die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde ebenso wie die vier Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Auch die Seele umfaßt in ihrem Ordnungssystem vier verschiedene Teile: Geist, Verstand, Meinung und Wahrnehmung. Die Idee der Vierzahl wird im Anschluß an die Pythagoreer auch von Philolaos, Empedokles und zahlreichen anderen Vorsokratikern aufgegriffen, wenngleich natürlich mit je individuellen Akzentverschiebungen. Empedokles etwa synthetisiert die pythagoreische Zahlensymbolik mit älteren naturphilosophischen Modellen und bestimmt die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde als Grundbausteine, aus denen alles, Belebtes wie Unbelebtes, zusammengesetzt ist; des weiteren geht er davon aus, daß im Umlauf der Zeiten jeweils einer dieser vier Grundstoffe zur Herrschaft gelangt und die anderen Elemente dominiert. Im Anschluß an Empedokles ordnet Philistion den vier Elementen jeweils eine spezifische Qualität zu - dem Feuer die Wärme, der Luft die Kälte, dem Wasser das Feuchte und der Erde das Trockene. Diese Qualitäten können neben den vier Urelementen auch beliebige andere Gegenstände charakterisieren. In diesen Fällen treten sie häufig als paarweise Kombinationen auf: warmfeucht, warm-trocken, kalt-feucht, kalt-trocken. 4 Die in der Schrift >Über die Natur des Menschen< entwickelte Säftelehre greift die Idee der Vierzahl auf und integriert neben den pythagoreischen Anschauungen vor allem die empedokleische Lehre von der wechselnden Prävalenz eines Grundstoffes. Die Vier-Säfte-Lehre geht davon aus, daß die Körpersäfte des Menschen sowohl im Laufe eines Jahres wie auch im Laufe eines Lebens abwechselnd die Oberhand gewinnen. Im Frühling und in der Kindheit überwiegt das Blut, im Sommer und in der Jugend dominiert die gelbe Galle, im Herbst und im Mannesalter regiert die schwarze Galle, im Winter und im Greisenalter schließlich herrscht das Phlegma. Die Affinität der einzelnen Säfte zu den verschiedenen Jahreszeiten resultiert daraus, daß jeweils einer Jahreszeit und jeweils einem Saft die gleichen Qualitäten zukommen. So haben der Frühling und das Blut die Eigenschaft, warm und feucht zu sein, der Sommer und die gelbe Galle sind warm und trocken, der Herbst und die schwarze Galle haben die Eigenschaft, kalt und trocken zu sein, Winter und Phlegma schließlich sind kalt und feucht.
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Die naturphilosophischen Voraussetzungen der Vier-Säfte-Lehre analysiert die Studie von Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt a.M. 2 1990, S.40-46.
Wie die Interpretation der frühen hippokratischen Schriften bereits zeigte, wird der Mensch von Krankheiten heimgesucht, wenn ein Körpersaft in starkem Maße zunimmt oder seine Konsistenz sich entscheidend verändert. A u c h die Lehre des Polybos geht davon aus, daß es zu pathologischen Störungen kommt, sobald das Verhältnis der Körpersäfte unausgewogen ist. Eine optimale Mischung indes, bei der sich alle Säfte in einem harmonischen Gleichgewicht befinden, tritt de facto nie ein, da je nach Jahreszeit und je nach Lebensalter ein Saft die Oberhand gewinnt. Die uneingeschränkte Gesundheit ist also ein Ideal, dem man sich zwar annähern, das man jedoch niemals vollständig erreichen kann. Andererseits aber leidet der Mensch auch nicht fortwährend an Krankheiten, obwohl ja immer ein Saft vorherrscht. Es muß daher eingeräumt werden, daß die Menschen durch das Vorwalten eines Saftes zwar zu ganz bestimmten Krankheiten neigen, normalerweise aber durchaus gesund sind. Diese Einsicht wird von Polybos nicht weiter verfolgt, gleichwohl ist sie für die weitere Entwicklung der Humorallehre von zentraler Bedeutung. Begriffe wie >cholerisch< oder >melancholisch< können fortan neben pathologischen A f f e k tionen auch konstitutionelle Wesenszüge bezeichnen. Eine systematische A u s arbeitung der hier bereits fixierbaren Ansätze zu einer Temperamentenlehre erfolgt in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten sowie im frühen Mittelalter.
2.
Die Einheit von Melancholie und Genie in den pseudoaristotelischen >Problemata
Problemataeinzigen PhioleMesontypenPhaidros< hervorgeht, w o Sokrates im Gespräch zwischen zwei Arten des Wahnsinns (μανία) unterscheidet: »Wenn freilich ohne Einschränkung gälte, daß der Wahnsinn ein Übel ist, dann wäre dieses wohlgesprochen. N u n verdanken wir aber die Entstehung der größten Güter einem Wahnsinn, der durch göttliche Gunst verliehen wird. Denn die Prophetin in Delphi und die Priesterinnen in Dodona haben ja im Wahnsinn f ü r Griechenland viel Gutes getan« (244a). Piaton kennt also zwei verschiedene Arten des Wahnsinns: den krankhaften Wahn und den göttlichen Wahn, der sich seinerseits in vier Erscheinungsformen ausdifferenziert. Die für das platonische Denken zentrale Unterscheidung zwischen den zwei Arten der μ α ν ί α begegnet in modifizierter Form auch im >Problem< des Theophrast, freilich mit dem Unterschied, daß die geniale Begabung und »prophetische Ekstase* aus ihrem metaphysischen Kontext herausgelöst und in einen rein naturwissenschaftlichen E r kenntnishorizont hineingestellt werden.' 4 Dem göttlich inspirierten Geist Piatons entspricht im >Problem< der maßvoll temperierte Melancholiker. Damit hat Theophrast in einer kühnen Synthese platonisches und aristotelisches Denken zusammengeführt und die geheimnisumwobene μανία-Vorstellung mit dem bis dahin rein medizinischen Melancholie-Begriff in Verbindung gebracht. Bei R a y m o n d Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl heißt es: »Das Wunder des genialen Menschen bleibt bestehen, doch es wird [...] nicht mehr als Einbruch des Mythischen in die Realität verstanden, sondern als Selbsterhöhung der Natur, die nach ihren Eigengesetzen den Menschen - freilich notwendigerweise sehr selten - zum Übermenschen macht«. 1 ' Goethe hat sich zwar zeit seines Lebens mit den pseudoaristotelischen >Problemata< beschäftigt, aus heutiger Sicht läßt sich jedoch nicht eindeutig klären, ob er auch die Abhandlung des Theophrast aus den Quellen kannte - möglicherweise war ihm das >Problem< X X X 1 nur über die Vermittlung zeitgenössischer Schriften vertraut.' 6 Vor allem die Genie-Ideologie des Sturm und Drang rückte das >Problem< in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Mittel-
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Michael Theunissen spricht in diesem Zusammenhang von einer Strategie der Enttheologisierung und Naturalisierung. M . Theunissen: V o r e n t w ü r f e von Moderne, S.4f. R a y m o n d Klibansky, E r w i n P a n o f s k y , Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, S . 9 1 . Vgl. Goethes »Maximen und Reflexionen* ( F A 1 3 , 49 u. 227).
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punkt des literarischen und philosophischen Interesses. 1 7 J o h a n n G e o r g H a mann etwa befaßte sich wiederholt mit der Melancholie des genialen A u s nahmemenschen und referierte in den >Wolken< v o n 1 7 6 1 sogar die zentralen G r u n d g e d a n k e n des >ProblemsPhysiognomischen Fragmenten< v o n 1778 bezeichnete er die Melancholie als »Mutter des Genies«. 1 8 Sucht man nach Spuren der pseudoaristotelischen Melancholieauffassung in Goethes Dichtungen, so stößt man v o r allem in den R o m a n e n auf interessante Zeugnisse. »Ich habe in meinem Maße begreifen lernen«, erklärt etwa Werther während eines heftigen Disputs mit Albert, »wie man alle außerordentlichen Menschen, die etwas G r o ß e s , etwas U n m ö g l i c h scheinendes wirkten, v o n jeher f ü r Trunkene und Wahnsinnige ausschreien mußte« ( H A 6,47). Werther aktualisiert die pseudoaristotelische Melancholieauffassung, allerdings in einem sehr eigenwilligen Sinne, w o r a u f an späterer Stelle noch genauer einzugehen ist.
3.
Die Melancholie im medizinischen Diskurs der römischen Kaiserzeit
D i e Melancholie-Abhandlung der pseudoaristotelischen >Problemata< w i r d z w a r v o n A n f a n g an intensiv rezipiert, in den philosophischen und medizinischen D i s k u r s e n der A n t i k e kann sie sich mit ihren zentralen G e d a n k e n jedoch k a u m durchsetzen. D i e überlieferten Schriften aus der Zeit des Hellenismus und aus der römischen Kaiserzeit thematisieren fast ausschließlich den pathologischen A s p e k t der Melancholie. Sie k n ü p f e n damit an die hippokratische Säftelehre an, die sie weiter ausdifferenzieren und u m neue Erkenntnisse erweitern. I m ersten und zweiten nachchristlichen Jahrhundert untersuchen bedeutende Mediziner mit einer bis dahin unübertroffenen Genauigkeit die S y m p t o matik der Melancholie; des weiteren entwickeln sie verschiedene T h e r a p i e f o r men, die bis weit in die N e u z e i t hinein Bestand haben werden. I m Gegensatz zu P o l y b o s und Theophrast, bei denen die A u s f ü h r u n g e n zur Melancholie immer auch mit naturphilosophischen Spekulationen verbunden sind, orientieren sich die A u t o r e n der römischen Kaiserzeit überwiegend an der E m p i r i e - ihnen geht 17
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Hierzu Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt 1 i988, S. 1 0 5 - 1 1 0 . Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Bd. 4, Leipzig/Winterthur 1778, S. 9 jf. Goethe war mit dem Inhalt der >Physiognomischen Fragmente< von Lavater bestens vertraut, da er an der Vollendung dieses Werkes wesentlichen Anteil hatte. Hierzu Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk, München/Zürich 1994, S. 219!.
es nicht um theoretische Erklärungsmodelle, sondern vor allem um die frühzeitige Diagnose schwarzgalliger Erkrankungen sowie um die genaue Ausarbeitung nuancierter Heilmethoden. 1 ' Zu den wohl bedeutendsten und aufschlußreichsten Dokumenten zählt die Schrift >De medicina libri octoProblem< des Theophrast, indem sie erstmals wieder die Verbindung zwischen geistiger Tätigkeit und melancholischem Leiden problematisiert. Dabei wird jedoch das Verhältnis von Ursache und Wirkung in bezeichnender Weise umgekehrt. Interpretiert Theophrast die Melancholie als Ursache und Vorbedingung f ü r bedeutende Geistesqualitäten, so sieht R u f u s in ihr vor allem eine Folge intellektueller Tätigkeit. Derjenige, der über tiefe und schwierige Sachverhalte nachdenkt, neigt besonders stark zur Melancholie. Mit dieser Diagnose begründet R u f u s die traditionsreiche und bis in unsere Tage immer wieder neu thematisierte Vorstellung der Gelehrtenmelancholie, die ihre wohl bedeutendste literarische Gestaltung in Goethes >Faust< erfahren hat. 24
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Vgl. Hellmut Flashar: Melancholie und Melancholiker, S. 8 4 - 9 1 . Vgl. R a y m o n d Klibansky, E r w i n P a n o f s k y , Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, S. 1 0 5 - 1 0 9 . Vgl. Werner Friedrich Kümmel: D e r H o m o litteratus und die Kunst, gesund zu leben. Z u r Entfaltung eines Zweiges der Diätetik im Humanismus. In: Rudolf Schmitz u. Gundolf Keil (Hg.): Humanismus und Medizin, Weinheim 1984, S. 67-85, hier S. 70. Kümmel führt (ebenfalls S. 70) ein Zitat von Galen an, der sich in der Frage der G e lehrtenmelancholie seinem Vorgänger R u f u s von Ephesos anschließt. Im fünften Buch seiner Schrift >De sanitate tuenda< berichtet Galen von einem Melancholiker, der »den Hauptteil des Tages im Z i m m e r zubrachte, w o er sich andauernd mit Schreiben oder Lesen beschäftigte [...] Wir wissen aber, daß bei Leuten, die solchen überschüssigen [schwarzgalligen] Saft nicht von N a t u r hervorbringen, Lust zur Anstrengung und tiefes Nachdenken seine Entstehung verursachen«.
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4·
Die Lehre von den vier Temperamenten
Sieht man von den pseudoaristotelischen >Problemata< ab, in denen Theophrast explizit zwischen einer krankhaften und einer charakterbildenden Melancholie unterscheidet, so tritt erst in der römischen Kaiserzeit neben die traditionelle Humoralpathologie eine nuancierte Humoralcharakterologie. Ausgehend von der Vier-Säfte-Lehre des Polybos, erklären Autoren wie Galen oder Sextus Empiricus, daß nur die extreme Steigerung eines Körpersaftes zu Krankheiten führe, während die gemäßigte Dominanz eines Saftes in erster Linie den Charakter bestimme. Diese Differenzierung erlangt in der Spätantike, vor allem aber dann im Mittelalter große Bedeutung. Man betrachtet die vier Säfte mit ihren unterschiedlichen Qualitäten fortan nicht mehr nur als Krankheitserreger, sondern auch als Substanzen, die das Temperament des Menschen determinieren. Eine erste, freilich noch recht bescheidene Charaktertypenlehre findet sich bei Galen, der die verschiedenen Modi seelischen Verhaltens in direkter Abhängigkeit zum Mischungsverhältnis der Säfte bestimmt. In seinem Kommentar zu der Schrift >Über die Natur des Menschen« schreibt er der gelben Galle Intelligenz und Scharfsinn, der schwarzen Galle Festigkeit und Beständigkeit, dem Blut Torheit und Einfalt zu, das Phlegma hingegen besitzt seines Erachtens kein charakterbildendes Vermögen. Der Galenische Ansatz einer Charaktertypenlehre wird im dritten und vierten nachchristlichen Jahrhundert modifiziert und zu einem vollständigen Temperamentenschema erweitert. Zentrale Bedeutung gewinnt in diesem Zusammenhang ein Brief des Vindician, der einen kurzen Traktat über die Lehre von den vier Temperamenten enthält. Im Gegensatz zu Galen schreibt Vindician dem Blut nicht nur ein einfaches, sondern auch ein gutmütiges, freundliches und angenehmes Wesen zu. Die gelbe Galle fördert seinen Ausführungen zufolge erfinderische, scharfsinnige und jähzornige Charaktere, während die schwarze Galle geizige, hinterlistige und nachdenkliche sowie traurige, schläfrige und neidische Charaktere bildet. Dem Phlegma kommt nunmehr auch ein charakterbildendes Vermögen zu - es erzeugt Gleichmut, Wachsamkeit und Leichtsinnigkeit. Besonders interessant an diesen Bestimmungen des Vindician ist die deutliche Aufwertung des Sanguinikers und die ebenso deutliche Abwertung des Melancholikers. Wird der Melancholiker bei Galen noch als fest und standhaft charakterisiert, so zeichnet er sich bei Vindician fast ausschließlich durch negative Eigenschaften wie Geiz, Neid und Hinterlist aus. In der charakterologischen Bestimmung der vier Säfte zeigen die nachvindicianischen Schriften bei allen Schwankungen doch eine weitgehende Ubereinstimmung. Das Bild des Melancholikers behält seine negativen Züge und wird vor allem im Mittelalter um weitere ungünstige Merkmale ergänzt. Auffallend ist dabei, daß die Prädikate, die dem Melancholiker nunmehr im Rahmen einer humoralen Charakterlehre zugesprochen werden, 28
den Symptomen der krankhaften Melancholie sehr nahe kommen. Diese enge Verwandtschaft zwischen Pathologie und Charakterologie ist bei den anderen drei Konstitutionstypen nicht gegeben. 2 ' Die Lehre von den vier Temperamenten entwickelt sich zwar bereits in der Spätantike, die Begriffe >sanguinischcholerischDe philosophia mundi< werden die vier verschiedenen Charaktertypen nacheinander namentlich aufgeführt und mit den Grundqualitäten der sie beherrschenden Säfte in Verbindung gebracht. Dem Sanguiniker kommt dabei eine unanfechtbare Vorrangstellung zu, da er sich mit seiner feucht-warmen Komplexion dem Charakterideal des paradiesischen Menschen am weitesten annähert. Die Hochschätzung des Sanguinikers, die häufig mit einer noch negativeren Sicht des Melancholikers einhergeht, manifestiert sich auch in anderen Schriften des 12. Jahrhunderts, so etwa in den »Causae et Curae< der Hildegard von Bingen. Dort wird der Sanguiniker als frommer und lebensfroher Menschentypus dargestellt, der seinen Pflichten stets in angemessener Weise nachkommt. Der Melancholiker hingegen erscheint geradezu als Handlanger des Satans; von unzähligen Begierden geplagt, bringt er Unglück und Verderben in die Welt. 26 Im Hochmittelalter tritt die Charakterlehre endgültig aus dem Schatten der Humoralpathologie heraus und gewinnt vor allem in den theologischen und philosophischen Schriften eine immer größere Bedeutung. Die Autoren greifen dabei fast ausnahmslos auf den bereits oben erwähnten Traktat des Vindician zurück, um nach seinem Vorbild die verschiedenen Charaktere in ihren spezifischen Eigenschaften zu konturieren. Die vindicianische Schrift beeinflußt allerdings nicht nur die gelehrten Abhandlungen der scholastischen Philosophie, sondern prägt auch die allgemeinen, im einfachen Volk verwurzelten Vorstellungen von den unterschiedlichen Temperamenten. In vielen populären G e dichten und Merkversen finden sich die Charakterbestimmungen des Vindician-Textes wieder. Die wohl bekanntesten Verse enthält das »Regimen SalernitanumRegimen Salernitanum< auch zahlreiche andere Texte, die sich den vier Temperamenten widmen, in die Volkssprachen übersetzt und damit einem größeren Personenkreis zugänglich. Eine Flut von billigen Handschriften und Volkskalendern sorgt dafür, daß die humorale Charakterlehre in kurzer Zeit bis in die untersten Bevölkerungsschichten sedimentiert. Einige dieser weitverbreiteten Volkskalender zeichnen sich vor allem dadurch aus, daß sie die vier verschiedenen Temperamente jeweils einem bestimmten Planeten und seinem astralen Einfluß zuordnen: Das Temperament des Sanguinikers untersteht dem Einfluß des Jupiter, während der Choleriker von Mars und der Phlegmatiker von Venus oder Luna bestimmt wird. Der Melancholiker gehört bezeichnenderweise in die Sphäre des langsamsten, kältesten und sonnenfernsten Planeten - er untersteht dem Saturn. Das Bündnis zwischen Saturn und melancholischem Temperament besitzt für die Vorstellungswelt des Mittelalters einen zentralen Stellenwert. Bereits in der spätantiken und frühmittelalterlichen Astrologie gilt Saturn als der widersprüchlichste unter allen Planetengöttern. Einerseits verehrt man in ihm den Herrscher des Goldenen Zeitalters und den Patron derer, die nach tiefer Erkenntnis streben, andererseits sieht man in ihm den von Zeus entthronten und verstoßenen Gott, der auf die in seinem Zeichen geborenen Menschen unheilvolle Einflüsse ausübt. Die Paradoxie der Saturngestalt findet ihr Äquivalent in der Widersprüchlichkeit des melancholischen Temperaments. Auf der einen Seite zeichnet sich der Melancholiker durch einen unermüdlichen Studiertrieb und durch tiefe Einsicht in das Wesen der Dinge aus, auf der anderen Seite leidet er unter Einsamkeit, Trübsinn und Lebensferne. 28 Obwohl die Astralwirkungen des Saturn auf den Melancholiker von Anfang an einem weitgespannten Dualismus unterliegen, dominiert im Spätmittelalter die negative Perspektive. Saturnischer Einfluß und melancholisches Temperament gelten als das größte Unheil, das einem Menschen widerfahren kann. Was der Satan für den frommen Christen bedeutet, das bedeutet Saturn für den, der sein Schicksal astralen Einflüssen unterworfen glaubt. Oftmals verschmelzen Saturn und Satan sogar zu einer einzigen Gestalt. In beiden Fällen aber ist das me-
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Vgl. R a y m o n d Klibansky, E r w i n P a n o f s k y , Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, S. 1 8 7 - 1 9 2 . Die A u f f a s s u n g , daß Saturn der Planet des Melancholikers sei, zeichnet sich durch eine überaus langlebige Tradition aus, die bis zu den >Poemes saturniens< von Paul V e r laine reicht. N o c h heute gebraucht man im Englischen die Vokabel >saturnineProblemata< wird die Melancholie erneut als konstitutive Voraussetzung einer ingeniösen Schöpferkraft begriffen. Saturn gilt zwar auch weiterhin als ein den Menschen gefährdendes Gestirn, aber die Vorstellung, daß er vermittels der Melancholie tiefe Erkenntnisse und außergewöhnliche Kreativität verleihe, rückt fortan in den Vordergrund. 3 0 Die Nobilitierung der Melancholie vollzieht sich nicht zufällig im 15. Jahrhundert. Sie ist eingebettet in einen umfassenden und tiefgreifenden Mentalitätswandel, der von den politischen, intellektuellen und künstlerischen Eliten der norditalienischen Stadtstaaten ausgeht. Besonders deutlich manifestiert sich dieser Bewußtseinswandel im neuen Selbstverständnis der italienischen Renaissancehumanisten. Der Gelehrte des Mittelalters fühlt sich in seiner geistigen Arbeit immer als Diener und Mittler einer über ihn selbst hinausgehenden Denktradition. Die Legitimation für sein Tun gewinnt er aus überindividuellen Zusammenhängen, in die er sich zeit seines Lebens eingebunden weiß. Ahnliches gilt f ü r den mittelalterlichen Künstler, der seine Arbeit als Handwerk auffaßt und keinen Anspruch auf Originalität erhebt. Die Renaissancehumanisten vollziehen in ihrem Denken nun insofern eine tiefgreifende Wende, als sie das Zentrum ihrer geistigen Arbeit nicht länger in überpersonalen Instanzen, sondern in sich selbst suchen und eine weitgehende Autonomie des Denkens anstreben. Auch die Künstler demonstrieren ein neues Selbstver-
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Z u r Verwandtschaft zwischen Saturn und Satan vgl. den aspektreichen Aufsatz von H e i n z - G ü n t e r Schmitz: Das Melancholieproblem in Wissenschaft und Kunst der frühen Neuzeit. In: Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 60 (1976), S. 13 5 - 1 6 2 , hier S. 146L - N o c h in den religiösen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts wird die Melancholie mit der zerstörerischen Einflußnahme des Teufels in Verbindung gebracht. Vgl. dazu vom selben Autor: Melancholie als falsches Bewußtsein. Wie man weltanschauliche Gegner verteufelt. In: N e u e Rundschau 85 (1974), S. 2 7 - 4 3 , hier S. 3 if. Margot und Rudolf Wittkower haben an zahlreichen Künstlerbiographien aus der frühen Neuzeit zeigen können, daß der kreative Aspekt der Melancholie seit der R e naissance zum unverzichtbaren Bestandteil des Künstlerbildes gehört. M. u. R . Wittkower: Künstler - Außenseiter der Gesellschaft, Stuttgart 1989.
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ständnis, indem sie ihre Kunstwerke signieren und damit den Anspruch des Originellen und Einzigartigen erheben. Es wäre sicherlich unangemessen, von einem radikalen Traditionsbruch zu sprechen, die Akzente aber verschieben sich deutlich. Pico della Mirandola etwa, einer der einflußreichsten Renaissancephilosophen, stellt den Menschen ins >Zentrum des Universums< und spricht ihm die Fähigkeit zu, durch beständige Veredelung seiner geistigen Kräfte bis an die Sphäre des Göttlichen vordringen zu können. In diesem neuen und mit Pathos gefeierten Selbstvertrauen liegt freilich auch eine Gefahr. Denn allzu schnell kann das gesteigerte Selbstbewußtsein in Verzweiflung umschlagen, wenn das eigene Ich als sinnstiftende Instanz brüchig wird. Selbstvergottung und Selbstvernichtung - zwischen diesen beiden Extremen oszillieren die geistigen Eliten der Renaissance. 31 Die Erfahrung dieser existenzbestimmenden Bipolarität führt dazu, daß viele Gelehrte und Künstler in der pseudoaristotelischen Bestimmung der Melancholie das eigene Psychogramm wiedererkennen. Einerseits fühlen sie sich als begnadete und zu Höherem berufene Ausnahmeexistenzen, andererseits stürzen sie immer wieder in schwere Depressionen und manische Rasereien. Die Melancholie wird erstmals seit Theophrast wieder in ihrer ganzen polaren Spannweite, in ihrer heroischen wie tragischen Dimension etabliert. Sie wird zur >verbindlichen< Lebensform des modernen Genies, das fortwährend zwischen außergewöhnlicher Schöpferkraft und psychopathologischer Störung schwankt. Schon ein kurzer Blick in die Künstlerbiographien und Gelehrtenviten der frühen Neuzeit bestätigt dieses Bild. Der Philosoph Marsilio Ficino litt ebenso sehr unter der Melancholie wie der Dichter Torquato Tasso, der Maler Michelangelo Buonarroti und der Komponist Don Carlo Gesualdo. Diese vier und viele andere haben die Melancholie als spezifisches Los ihrer Ausnahmeexistenz verstanden.' 2 3
' Z u m neuen Selbstverständnis der Renaissancephilosophen vgl. die Studie von Paul O s k a r Kristeller: A c h t Philosophen der italienischen Renaissance. Petrarca, Valla, Ficino, Pico, Pomponazzi, Telesio, Patrizi, Bruno, Weinheim 1986. 32 Gesualdos späte Kompositionen erwachsen immer wieder aus der Antithese von vitaler Schöpferkraft und pathologischer Todessehnsucht, lustvoller Erotik und thanatomaner Resignation. Diese Bipolarität manifestiert sich bereits in der Textauswahl, die die getreue Widerspiegelung zerrissener und krankhafter Gemütszustände der allgemeinen literarischen Qualität vorzieht. In erster Linie sind es freilich die hochentwikkelten Kompositionstechniken, die weit über die musikalische Ausdruckskunst des 16. und 17. Jahrhunderts hinausgehen. Z u r Steigerung der melancholischen A f f e k t e setzt Gesualdo vor allem abrupte Tonartenwechsel und verminderte Intervallsprünge ein, ferner Kadenzverzerrungen durch dissonante T ö n e und Trugschlüsse. Mit einer ausgeprägten Chromatisierung der Stimmführung nimmt Gesualdos affektgeladene Musik unzweifelhaft Errungenschaften der Hochromantik vorweg. A u c h Michelangelo geht in der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Melancholie weit über seine Zeit hinaus. In einem seiner späten Gedichte findet sich der zentrale Vers » L a mia allegrezz' è la maninconia«. Dieser Satz antizipiert bereits die Tendenzen des
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Im Werk des Florentiner Renaissancephilosophen Marsilio Ficino findet sich die umfassendste Darstellung der pseudoaristotelischen Melancholieauffassung, die mit der platonischen Erkenntnislehre und der mittelalterlichen Astrologie kunstvoll amalgamiert wird. Ficinos eklektizistische Monographie >De vita libri tres< formuliert mit geradezu >klassischem< Anspruch die unauflösbare Einheit von Melancholie und Ingenium. Sie wird damit zum traditionsstiftenden Manifest der modernen Künstler- und Gelehrtenexistenz. Marsilio Ficino ist der erste, der die pseudoaristotelische Melancholieauffassung explizit mit der platonischen Lehre vom göttlichen Wahn (>furor divinusgöttlichen< Gaben, die er nur wenigen Auserwählten verleiht, erheben ihn zur edelsten G e stalt am Planetenhimmel. Von der um die Mitte des 15. Jahrhunderts in Florenz gegründeten Platonischen Akademie wird er als geistiger Schutzpatron verehrt.» Ficinos Schrift >De vita libri tres< übt auf die Geisteskultur der frühen N e u zeit einen immensen und kaum zu überschätzenden Einfluß aus. Die spekulativen Schriften des Paracelsus und die hermetischen Abhandlungen des Agrippa von Nettesheim tragen unverkennbar ihre Spuren. Auch der empfindsame Melancholiekult, der England im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts heimsucht, zeigt sich von den Schriften des Florentiner Renaissancephilosophen inspiriert.
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empfindsamen Melancholiekults, da er die Melancholie nicht nur als ein heroisch-tragisches Los, sondern auch als zwiespältig-schmerzvollen Selbstgenuß interpretiert. Bereits vor Ficino vollziehen Plotin und seine N a c h f o l g e r eine U m w e r t u n g der astrologischen Saturn-Vorstellung. D a die Planeten im neuplatonischen Weltsystem als Medien des sich in die Vielheit der Dinge entfaltenden höchsten Einen fungieren, ist eine negative astrale Wirkung von vornherein ausgeschlossen. Im Neuplatonismus repräsentiert Saturn bereits seit der Spätantike den reinen Geist; er schenkt den unter seinem Einfluß stehenden Menschen die Kraft zur unmittelbaren Wesensschau. Ficino greift diesen Gedanken wieder auf und verbindet ihn mit der inspirationstheoretischen Melancholieauffassung, die auf den pseudoaristotelischen >Problemata< beruht. Vgl. zu diesem A s p e k t R a y m o n d Klibansky, E r w i n P a n o f s k y , Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, S. 2 3 5 - 2 4 5 .
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Wie stark Ficinos Auffassungen in Goethes Dichtung eingegangen sind, läßt sich an dem bekannten Vierzeiler aus der zwischen 1 8 1 2 und 1 8 1 5 entstandenen Gedichtsammlung »Sprichwörtlich« demonstrieren (FA 2, 395): Zart Gedicht, wie Regenbogen, Wird nur auf dunklen G r u n d gezogen; D a r u m behagt dem Dichtergenie D a s Element der Melancholie.
In diesem Spruchgedicht verbindet Goethe den genial veranlagten Dichter mit der Sphäre der Melancholie. E r rekurriert damit auf das neuplatonische Melancholiekonzept Ficinos, das seit der Renaissance in immer neuen Variationen exponiert worden ist. Der Regenbogen gehört zu den zentralen Symbolen im Werk Goethes und figuriert in Anlehnung an biblische und pagane Vorstellungen als Zeichen des Friedens, der Versöhnung und des Neuanfangs - so etwa in der >Iphigenie< (V. 1 3 5 i f f . ) und im zweiten Teil des >Faust< (V.472iff.). Wenn Goethe in dem zitierten Vierzeiler das >zarte Gedicht* mit dem Regenbogen vergleicht, so entspricht dies einer Höchstwertung: Die Dichtung wird zum Inbegriff einer universalen Harmonie. D o c h wie der Regenbogen immer nur vor einem dunklen Hintergrund erscheint, niemals jedoch am klaren und wolkenlosen Himmel, so entsteht auch die Dichtung nicht aus dem Zustand einer heiteren und unbeschwerten Lebensfülle, sondern nur aus der Melancholie, die dem Dichter zwar einerseits die unentbehrliche Schöpferkraft verleiht, andererseits aber auch die schwermütige Trauer auferlegt. Das Gedicht als poetische Vergegenwärtigung einer universalen Harmonie bleibt somit auf den dunklen G r u n d der Melancholie bezogen. Bereits auf Albrecht Dürers berühmter >Melencolia I< von 1 5 1 4 wölbt sich ein Regenbogen vor dämmrigem Hintergrund. 3 4
6.
Melancholie als Seelenstimmung
In der lyrischen und epischen Dichtung des 15. Jahrhunderts erfährt der Melancholiebegriff einen außergewöhnlichen Bedeutungswandel - er wird aus seinem gelehrten und rein wissenschaftlichen Kontext herausgelöst und in eine spezifisch poetische Sprachsphäre übertragen. Die Voraussetzungen für diesen Bedeutungswandel finden sich bereits in den spätmittelalterlichen Handschriften, die die Lehre von den vier Temperamenten popularisieren und damit einem von der Überlieferung abweichenden Melancholiebegriff Vorschub leisten. Die antiken und mittelalterlichen Autoren interpretieren die Melancholie entweder als Krankheit, die zu psychopathologischen Störungen führt, oder als 34
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Vgl. in diesem Zusammenhang die Studie von Albrecht Schöne: »Regenbogen auf schwarzgrauem Grunde« - Goethes Dornburger Brief an Zelter zum Tode des G r o ß herzogs, Göttingen 1979.
habituelle Anlage, die den Charakter eines Menschen bestimmt. Die Dichtung der frühen Neuzeit fügt diesen beiden Bedeutungsebenen eine dritte hinzu, indem sie die Melancholie als eine von allen humoralen Grundlagen unabhängige und zeitlich begrenzte Seelenstimmung deutet. Vor allem in der Lyrik finden sich zahlreiche Beispiele für dieses neue und von der Tradition abweichende Melancholieverständnis. Die verschiedensten Begebenheiten und Ereignisse können das empfindende Subjekt nun in eine vorübergehende melancholische Stimmung versetzen. So führt beispielsweise die Sehnsucht nach einer fernen Geliebten oder die Erinnerung an vergangenes Jugendglück zu kurzfristigen melancholischen Verstimmungen, die jedoch nur selten ein persönlichkeitsprägendes Profil gewinnen. Auch gewöhnliche Alltagserfahrungen wie die abendliche Dämmerung oder die einbrechende Nacht können melancholische E m p findungen hervorrufen. Die Gemütsstimmung des Subjekts wird bisweilen sogar auf den Gegenstand oder das Ereignis übertragen, das diese Stimmung auslöst. So können Klänge und Farben, Tageszeiten und Landschaften ebenfalls als >melancholisch< bezeichnet werden. 3 5 Die vorausgehenden Beispiele illustrieren, wie die Dichtung des 15. Jahrhunderts den Melancholiebegriff mit neuen Bedeutungsinhalten füllt. In den wissenschaftlichen Diskursen hingegen behält der Melancholiebegriff seine tradierte Bedeutung, so daß er auch weiterhin eine Krankheit oder eine Charakteranlage beschreiben kann, die je nach Standpunkt und Blickwinkel negativ oder positiv eingeschätzt wird. Somit kommt es in der frühen Neuzeit zu einem komplexen G e f ü g e einander überlagernder Melancholiebegriffe, die je nach Kontext auf verschiedene Phänomene verweisen. Wenngleich die drei Bedeutungsebenen fortan nebeneinander herlaufen, so dominiert doch im allgemeinen Sprachgebrauch immer stärker der poetische Sinngehalt - vor allem in der empfindsamen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts gewinnt er eine unanfechtbare Vorrangstellung. Die beiden traditionellen Bedeutungsebenen stehen fortan im Schatten der neuen Melancholieauffassung. Darüber hinaus werden ihre medizinischen Grundlagen stufenweise revidiert. Man bezeichnet zwar auch weiterhin einen schwermütigen Charakter oder einen depressiven Kranken als >MelancholikerAnatomy of Melancholy< die drei divergierenden Bedeutungen des Melancholie-Begriffs: a) melancholische Erkrankung (melancholy disease); b) melancholisches Temperament (melancholy habit); c) melancholische Stimmung (transitory melancholy disposition).
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Die medizinischen Entdeckungen des 17. Jahrhunderts entziehen der Humorallehre weitgehend die wissenschaftliche Basis. Gleichwohl halten einige Autoren bis weit ins 18. Jahrhundert am System der vier Körpersäfte fest.
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D a die Melancholie in der Dichtung des 15. Jahrhunderts zunehmend als subjektive G e f ü h l s s t i m m u n g interpretiert w i r d , verbindet sie sich mit zahlreichen anderen B e g r i f f e n , die ebenfalls seelische Zustände beschreiben: K u m m e r und Trauer, Sorge und S c h w e r m u t , Wehmut und Weltschmerz. A l l e diese Termini können in der Dichtung der frühen N e u z e i t unter dem Oberbegriff der Melancholie subsumiert werden. Interessant ist nun, daß die Melancholie, ind e m sie die Bedeutungsinhalte der verschiedenen B e g r i f f e aufnimmt, auch deren ikonographisches P r o g r a m m erbt. In der allegorisierenden Literatur des Mittelalters werden B e g r i f f e w i e >Traurigkeit< und >Sorge< o f t personifiziert und mit charakteristischen Attributen ausgestattet. Sie treten als redende oder handelnde Personen auf und gewinnen dadurch eine besondere Plastizität. Wenn nun die Melancholie als Trauer, Sorge oder transitorische S c h w e r m u t interpretiert wird, so erscheint auch sie als allegorische Gestalt im G e w a n d der bereits etablierten Sinnbilder. Trotz der anfänglichen K o n g r u e n z gewinnt die >Melancholie< im L a u f e des 16. Jahrhunderts eine eigenständige und unverwechselbare Ikonographie. D a s nunmehr kanonische B i l d p r o g r a m m zeigt sie als sitzende, schmucklos gekleidete und in G e d a n k e n versunkene Frau, die den Blick zur E r d e oder in die Ferne richtet. Ihr Gesicht hat sie in die rechte oder linke H a n d gelegt, diese wiederu m stützt sie mit dem Ellenbogen ab. N e b e n ihr steht ein lebloser B a u m ohne Blätter. Sie ist v o n einem reichen Requisitenensemble umgeben, das in den B e reich der Gelehrsamkeit verweist. In zahlreichen bildlichen Darstellungen begegnen aufgeschlagene Bücher sowie ein Zirkel, manchmal auch eine K u g e l oder ein G l o b u s . A n h a n d dieser Attribute läßt sich die >Melancholie< eindeutig v o n allen anderen Allegorien unterscheiden. Aufschlußreich ist dabei, daß diese Requisiten auf die traditionelle A u f f a s s u n g der >Gelehrtenmelancholie< verweisen. E s läßt sich also festhalten: D e r frühneuzeitliche Melancholiebegriff wandelt sich zwar, indem er eine rein subjektive und v o n physiologischen V o r gängen unabhängige Seelenstimmung beschreibt - in dem A u g e n b l i c k aber, da dieser melancholische G e f ü h l s z u s t a n d allegorisiert w i r d , nimmt er alle w e sentlichen Kennzeichen der überlieferten Temperamentenlehre wieder in sich auf. 3 7 G o e t h e w a r mit der Ikonographie der Melancholie gut vertraut. In seiner umfangreichen Kunstsammlung besaß er sogar selbst zwei berühmte Beispiele dieser Bildtradition: einen »schönen A b d r u c k « des Dürerschen Kupferstiches >Melencolia I< s o w i e einen »kräftigen und wohlerhaltenen A b d r u c k « v o n C a stigliones u m die Mitte des 1 7 . Jahrhunderts entstandener Radierung, die eine
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Zur Allegorisierung der Melancholie vgl. die Ausführungen bei Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, S. 324-333. Zum traditionsreichen Motiv des aufgestützten Kopfes siehe S. 409-412.
in sich gekehrte und von zahlreichen Melancholie-Requisiten umgebene Frauengestalt zeigt.' 8 Die >Melencolia I< lernte Goethe vermutlich bereits um 1780 kennen, als er Lavater bei der Vervollständigung einer Sammlung Dürerscher Kupferstiche half. In den Jahren 1808 und 1809 beschäftigte sich Goethe dann erneut mit Dürers Graphiken, unter anderem mit dem Holzschnitt des heiligen Hieronymus sowie mit dem Kupferstich >Doktors Traum< - beide Arbeiten verweisen ebenfalls in den Bereich der Melancholie. 39
7.
Empfindsamer Melancholiekult in England und Deutschland
Die in den beiden vorausgehenden Kapiteln beschriebenen Traditionen üben auf den englischen Melancholiekult des 17. und 18. Jahrhunderts einen großen Einfluß aus. Vor allem die A u f w e r t u n g und geistige Nobilitierung der Melancholie hinterläßt in vielen Dichtungen unverkennbare Spuren. A m Beginn der großen englischsprachigen Melancholielyrik steht John Miltons berühmtes Gedichtpaar >L'Allegro< und >11 PenserosoHeiteren< (L'Allegro) und dem >Nachdenklichen< (Ii Penseroso). Der >Heitere< diskreditiert die M e lancholie ganz im Sinne der traditionellen Lehre von den vier Temperamenten, während der >Nachdenkliche< in ihr eine »heilige Göttin< verehrt, die tiefe Einsicht und hohe Erkenntnis verleiht. Die Melancholie erscheint in den Äußerungen der beiden Sprecher als allegorische Gestalt mit den bekannten überlieferten Eigenschaften: Ihr Gesicht ist mit einem schwarzen Schleier bedeckt, ihren traurigen und in Gedanken versunkenen Blick hat sie zur Erde gerichtet, sie meidet die gesellige Unterhaltung und versenkt sich in ihr einsames Studium. In Miltons Gedichten tauchen die traditionellen Attribute der Melancholie in großer Zahl wieder auf, doch werden sie nun im Sinne eines empfindsamen Melancholiekults systematisch umcodiert. D e r >Nachdenklichejoy of grief< in Goethes Gedicht »Wonne der Wehmuthumoralen< und einer >nervösen< Melancholie, wobei die >nervöse< Melancholie ausdrücklich mit einer Störung des Nervensystems in Verbindung gebracht wird. Jean Starobinski bewertet dies in seiner Untersuchung zur Geschichte der Melancholiebehandlung folgendermaßen: »Das Buch Lorrys ist bemerkenswert als Grenzstein zwischen zwei Phasen psychiatrischen Denkens. Es steht an der Stelle, wo die neue Auffassung in einer gewissen Unentschiedenheit sich neben der alten erhebt und diese noch nicht zu ersetzen wagt, wohl aber vervollständigen will. Während einer kurzen Zeitspanne scheinen die neue und die abgedankte miteinander vereinbar«. 47 Die Phase des allmählichen Übergangs, in der die alte Humoraltheorie zunächst nur vorsichtig, dann aber immer entschiedener zurückgewiesen wird, läßt sich besonders gut in Frankreich verfolgen. Während sich Lorry noch um eine Synthese von Altem und Neuem bemüht, verschreiben sich bedeutende Mediziner wie Philippe Pinel und Jean-Etienne-Dominique Esquirol 47
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Jean Starobinski: Geschichte der Melancholiebehandlung, S. 54.
bereits ganz der neuen neuropathologischen Auffassung. Sie gehen sogar noch einen Schritt über die neue Theorie hinaus, indem sie melancholische Erkrankungen nicht nur auf nervöse, sondern insbesondere auch auf rein psychogene Störungen zurückführen. Dadurch lösen sie die Melancholie freilich von allen somatischen Krankheitserregern ab. Vor allem in einer Uberbelastung der Leidenschaften und Emotionen - etwa durch zu große Trauer oder zu heftigen Gefühlsaufruhr - sehen Pinel und Esquirol eine wesentliche Ursache für melancholische Geisteskrankheiten.48 Die neue Auffassung von der Genese melancholischer Krankheiten setzt sich nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen europäischen Ländern relativ rasch durch. Zu den profiliertesten Medizinern in Deutschland gehört vor allem der Jenaer Arzt Johann Gottfried Langermann, der mit Goethe und Schiller in persönlichem Kontakt steht. Langermann führt in Ubereinstimmung mit Pinel und Esquirol die verschiedenen melancholischen Erkrankungen auf psychogene Defekte wie etwa auf das gestörte Zusammenspiel von Denkkraft, Einbildungskraft und Willenskraft zurück. Eine weitere zentrale Krankheitsursache sieht Langermann in einer übersteigerten Leidenschaftlichkeit. Er folgt mit dieser kritischen Beurteilung nicht nur den französischen Ärzten, sondern vor allem auch seinem Landsmann Georg Ernst Stahl, der bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Medizinprofessor in Halle eine bedeutende psychiatrische Schule begründet. Stahl sieht ebenfalls die wesentlichen Ursachen für melancholische Geisteserkrankungen in der Überbeanspruchung der Emotionen und Affekte begründet. Die forcierten Gefühlserregungen - so Stahl - täuschen das Wollen und Begehren des Menschen; sie führen seine Urteilskraft in die Irre. In der Tradition der von Georg Ernst Stahl begründeten Schule stehen auch die beiden Universitätsprofessoren Johann Christian Reil und Johann Christoph Hoffbauer, die gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Halle lehren. Während Reil als Dozent für Psychiatrie und Gehirnanatomie tätig ist, arbeitet Hoffbauer vorwiegend als Psychologe und Philosoph. Hoffbauer unterscheidet in Anlehnung an seine Vorgänger zwischen drei verschiedenen Seelenvermögen, die sich in einem permanenten Interaktionsprozeß befinden: das Vorstellungsvermögen, das Gefühlsvermögen und das Begehrungsvermögen. Kommt es zu einer Störung in dieser komplizierten Wechselbeziehung, sei es durch Ausfall eines Seelenvermögens, sei es durch mangelnde Abstimmung der einzelnen Vermögen untereinander, so resultieren daraus nach Hoffbauer die verschiedenen Geisteskrankheiten.49
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Die umfangreichen Arbeiten von Philippe Pinel und Jean-Etienne-Dominique Esquirol werden in ihren zentralen Inhalten von Werner Leibbrand und Annemarie Wettley referiert: D e r Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie, Freiburg/München 1 9 6 1 , 8 . 4 1 8 - 4 3 0 . 4 » V g l . ebenda, S. 369-386.
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Die neue psychopathologische Auffassung führt konsequenterweise auch zu einem Wandel im Bereich der Melancholiebehandlung. Die alten Therapieformen werden zwar aufgrund ihres oft hohen Alters und der damit verbundenen Hochschätzung weiter angewandt, an ihre Seite treten aber nun neue und effizientere Therapien, die sich vor allem auf die psychische Dimension der Erkrankung konzentrieren. 50 Die wichtigste Aufgabe bei der Behandlung des kranken Melancholikers besteht nach Auffassung vieler Psychiater darin, den Patienten von seinen imaginären Wahnvorstellungen und irregeleiteten Leidenschaften zu befreien, um ihn so in die reale Welt zurückzuführen. Dazu aber bedarf es einer wohlüberlegten und genau auf die Belange des Patienten zugeschnittenen psychotherapeutischen >Leitungmoral management' in ganz Europa Aufsehen erregt. Das >moral management« kennzeichnet eine Heilmethode, die auf Gewaltanwendung und Zwangsmaßnahmen im Umgang mit psychisch Kranken weitgehend verzichtet und statt dessen eine menschenfreundliche Betreuung und schonende Behandlung in den Vordergrund stellt. Das Fundament des >moral management« bildet ein enges und intensives Verhältnis zwischen Arzt und Patient - es baut einerseits auf Gehorsam und Respekt, andererseits auf Vertrauen und Sympathie auf. Von zentraler Bedeutung ist auch die gründliche und eingehende Beobachtung des Kranken, damit die Therapie exakt auf seine individuellen Bedürfnisse zugeschnitten werden kann. Ferner spielt die genaue Einteilung des Tagesablaufs eine wichtige Rolle, die den Kranken nach und nach wieder an Ordnung, Disziplin und Selbstbeherrschung gewöhnen soll. Der kontinuierliche Wechsel von Arbeit und Ruhe, Belastung und Entspannung, Konzentration und Zerstreuung wird bis ins Kleinste geregelt. Die Mahlzeiten nehmen die Patienten zusammen mit dem behandelnden Arzt ein, der auch sonst mit den Kranken in einem familiären Verhältnis zusammenlebt. Die Patienten sollen sich so frei wie möglich bewegen können und nur dann in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, wenn akute Gefahr für sie selbst oder für
Johann Christoph H o f f b a u e r konstatiert im Zusammenhang seiner Analyse psychotherapeutischer Heilmethoden: »Allerdings werden wir hierauf um so mehr unser Augenmerk richten, da gegen psychische Übel w o h l am natürlichsten psychische Mittel anzuwenden sind«. J . C . H o f f b a u e r u. J . C . Reil: Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege, Bd. 1, Halle 1808, S. 1 3 .
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andere besteht. Gewaltmaßnahmen wie das Einsperren und das Anlegen von Fesseln werden als inhuman verworfen und lediglich als ultima ratio akzeptiert.' 1 N e b e n William Battie, der sich bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts f ü r eine psychopädagogische Therapie einsetzt, gehören Alexander Crichton und John Haslam zu den bedeutendsten Vertretern des >moral management« in England. Das größte Ansehen gewinnt freilich der Geistliche Francis Willis, der durch praktische Heilversuche und erstaunliche Therapieerfolge die A u f m e r k samkeit in ganz Europa auf sich zieht. Besondere Berühmtheit gewinnt Willis, als ihm die Behandlung des geisteskranken englischen Königs Georg III. übertragen wird und er vor dem Unterhaus des englischen Parlaments die Methode des >moral management« eindringlich gegenüber Kritikern verteidigen kann. Der Begriff des >moral management« kursiert schon bald in weiten Teilen Europas. In Frankreich etablieren ihn Pinel und Esquirol unter der Bezeichnung »traitement moral«, in Italien prägt Vincenzo Chiarugi den analogen Terminus >cura morale«, und in Deutschland propagieren Reil und H o f f b a u e r gegen Ende des 18. Jahrhunderts die »psychische Kurmethode«. Reil und Hoffbauer, die an der Universität in Halle über mehrere Jahre hinweg eng zusammenarbeiten, widmen der »psychischen Kurmethode« umfangreiche Studien. Sie nennen dabei als Vorläufer und Begründer der neuen Heilbehandlung neben den bekannten Engländern Battie und Willis auch einige deutsche Mediziner, die bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Voraussetzungen für eine rein psychologische Behandlung geistiger Krankheiten entwickelt haben. A n den Universitäten in Halle und Jena werden schon um 1730 Behandlungsmethoden diskutiert, die das Programm des »moral management« antizipieren. Zu den bedeutendsten Medizinern gehören hier vor allem G e o r g Ernst Stahl, der die psychiatrische Hochschultradition in Halle begründet, außerdem seine Schüler Michael Alberti und Johann Juncker sowie Johann Christian Bolten, dessen Untersuchung von 1 7 5 1 den programmatischen Titel »Gedanken von psychologischen Kuren« trägt.' 2 Im Rahmen des »moral management« gewinnen die überwiegend »ästhetischen« Heilmittel eine neue Dignität. Insbesondere die Musik, die seit der Antike immer wieder als antimelancholisches Therapeutikum eingesetzt worden ist, steht bei den Vertretern der neuen Behandlungsmethode in hohem Ansehen. Man mißt der Musik eine besondere Wirkungsintensität zu, da sie direkt auf die Psyche des Menschen einwirkt und nicht erst über den Verstand vermit!I
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Z u m psychotherapeutischen Programm des »moral management« und zu seinen bedeutendsten Vertretern vgl. Martin Schrenk: U b e r den U m g a n g mit Geisteskranken. Die Entwicklung der psychiatrischen Therapie v o m »moralischen Regime« in England und Frankreich zu den »psychischen Curmethoden« in Deutschland, Berlin 1973, S. 3 3-60. Vgl. Martin Schrenk: U b e r den Umgang mit Geisteskranken, S.44.
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telt werden muß. Die Musik vermag depressive Patienten aufzuheitern und manisch Rasende einzuwiegen, sie drängt den Wahnsinn zurück, weckt das alte Selbstbewußtsein und animiert zu neuer Tätigkeit. Der britische Arzt Joseph Mason C o x erklärt in seiner Schrift »Practical Observations on Insanity< ( 1804): »Ich habe Kranke gesehen, die in einer tiefen Lethargie versunken waren, dann aber mit Hilfe einzig der Musik wieder zum Selbstbewußtsein kamen. Ich habe andere gesehen, die vollständig irr waren, denen sie die Vernunft zurückgab«. In derselben Schrift heißt es wenige Seiten später: »So hat man unglückliche Geisteskranke gesehen, deren Empfindlichkeit derart war, daß sie keines der gewöhnlichen Heilmittel vertrugen, aber augenblicklich durch die sanften Akkorde einer Äolsharfe beruhigt wurden«. 53 Die Musik erscheint in den Ausführungen von Joseph Mason C o x als omnipotentes, geradezu als numinoses Therapeutikum, das bei allen Erscheinungsformen der Melancholie Linderung und Heilung verbürgt. Viele Verfechter der neuen Behandlungsmethode propagieren auch das eigenständige Musizieren, da hierdurch die kathartischen Wirkungen der Musik günstig potenziert werden. Der Melancholiker, der zum Instrument greift und bekannte Melodien hervorbringt, zwingt sich zur Konzentration und überwindet seine krankhafte Passivität. Gleichzeitig kann er seine unausgesprochenen Leidenschaften mit Hilfe von Tönen und Klängen artikulieren. Auf diese Weise verbinden sich die entspannenden und lösenden Wirkungen der Musik mit den vorteilhaften Einflüssen eigener Aktivität. Der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lehrende Mediziner François Leuret erklärt in seiner Abhandlung >Du traitement moral de la folie< (1840): »Handelt es sich um einen besonders traurigen und niedergeschlagenen Irren, so wird die Musik, wenn er sie ausübt, eine Art Gegengift seiner Wahnideen; [...] Musik anhören ist im schlimmsten Fall wirkungslos, aber Musik machen, seine Aufmerksamkeit dem, was man spielt, zuwenden, bedeutet eine Ablenkung, deren Wirkkraft unbestreitbar ist«.54 Freilich gibt es auch Mediziner, die in der Musiktherapie eine Behandlungsmethode mit nur geringen Erfolgsaussichten sehen. Zu ihnen gehört neben anderen auch Jean-Etienne-Dominique Esquirol, der in seinem Werk >Des maladies mentales< von wirkungslosen Musiktherapien berichtet.55 Bei den
53
Joseph Mason C o x : Practical Observations on Insanity, L o n d o n 1804, S. 39 u. S. 43. In der deutschen Ubersetzung zit. η. Jean Starobinski: Geschichte der Melancholiebehandlung, S. 87. Interessant ist die außergewöhnliche Wertschätzung der Aolsharfe, deren eigentümliche Klänge bereits in Goethes >Faust< wiederholt erwähnt werden. In der Szene >Anmutige Gegend« begleiten Aolsharfen den therapeutischen Gesang des Ariel ( V . 4 6 i 3 f f . ) .
54
François Leuret: D u traitement moral de la folie, Paris 1840, S. 305. In der deutschen Ubersetzung zit. n. Jean Starobinski: Geschichte der Melancholiebehandlung, S. 88. Jean-Etienne-Dominique Esquirol: Des maladies mentales. Considérées sous les rapports médical, hygiénique et médico-légal, Bd. 2, Paris 1838, S. 584-586.
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weitaus meisten Medizinern überwiegt indes das Vertrauen in die schier unerschöpflichen Heilressourcen der Musik. Sie folgen mit dieser Hochschätzung einer allgemeinen Zeittendenz, die der Musik eine geradezu religiöse Verehrung entgegenbringt - die Dichtungen und philosophischen Systeme der R o mantik legen davon ein beredtes Zeugnis ab (Wackenroder, Schopenhauer, Hoffmann). Neben der vielfach propagierten Musiktherapie befürworten die Verfechter des >moral management eine weitere Heilmethode, die vor allem mit den Techniken und Kunstgriffen des Theaters arbeitet. Diese Behandlungsform beruht auf der Uberzeugung, daß die überspannten Phantasien und schizophrenen Imaginationen des Melancholikers nicht regellos sind, sondern einer inneren Logik folgen und spezifischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Die Aufgabe des behandelnden Arztes besteht somit darin, in die nur scheinbar chaotische Sonderwelt des Patienten einzudringen und eine Therapie zu konzipieren, die von der immanenten Folgerichtigkeit der einzelnen Wahnvorstellungen ausgeht. Nachdem sich der A r z t an die krankhaften Phantasien des Patienten assimiliert hat, inszeniert er in dessen unmittelbarer Umgebung eine theatralische Scheinwirklichkeit, die mit den diagnostizierten Inhalten der Wahnvorstellungen im Einklang steht. Durch diese Maßnahme wird der Patient zwar im Glauben an seine phantastische Sonderwelt bestärkt, gleichzeitig aber wird auch seine Bereitschaft geweckt, die Ereignisse und Episoden, die der A r z t im Rahmen des fingierten Schauspiels arrangiert, als wahre Begebenheiten anzuerkennen. Wenn es dem A r z t nun gelingt, innerhalb der inszenierten Scheinwirklichkeit die Triebfeder jener Wahnvorstellungen zu isolieren und zu eliminieren, so kann der Patient, von seinem Übel befreit, in die reale Welt zurückkehren. Fast alle namhaften Psychiater des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts setzen sich mit dieser Heilmethode, die man heutzutage auch als >psychodramatische< Therapie bezeichnet, ausführlich auseinander. Dabei lassen sie freilich einen aus heutiger Sicht oftmals naiv anmutenden Optimismus walten. In der renommierten E n c y c l o p é d i e méthodique« führt Philippe Pinel unter dem Stichwort >Mélancolie< einige Fallbeispiele an, die allesamt zeigen sollen, wie geisteskranke Patienten durch eine psychodramatische Kurbehandlung nachhaltig von ihren fixen Ideen geheilt werden können. Diese Fallbeispiele, die sich auch in Arbeiten anderer Psychiater wiederfinden, übernimmt Pinel zumindest teilweise aus älteren Schriften, die bis ins 16. und 17. Jahrhundert zurückreichen. 56 Eine der beliebtesten Geschichten, die Pinel in dem oben ge-
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Hier ist zu denken an die Schriften von A n d r é du Laurens, Pieter van Foreest und A m a t o Lusitanus (16. Jahrhundert) sowie an die Arbeiten von Abraham Zacutus und Nicolas T u l p ( 17. Jahrhundert). Bereits Martin Luther geht in seiner Schrift >Von Melancholias und wie ihre Melancholie sei vertrieben worden< auf die p s y c h o d r a m a t i sche« Therapie und ihre vorteilhaften Wirkungen ein.
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nannten Artikel wiedergibt, ist die folgende: »Ein Mann, der an seinem Heil verzweifelte, wollte sich den Tod geben. Lusitanus ordnete an, daß ein Freund des Patienten in der Nacht als Engel verkleidet mit einer brennenden Fackel in der einen und einem Schwert in der anderen Hand sich ihm nähern sollte. Der falsche Engel schlug die Vorhänge des Bettes auseinander, weckte den Kranken und eröffnete ihm, Gott habe ihm Nachlaß aller begangenen Sünden gewährt«. 5 7 Diese Geschichte illustriert besonders anschaulich die Strategie der psychodramatischen Heilmethode. Der Therapeut inszeniert eine theatralische Scheinwelt, in der die fixe Idee des Patienten, hier also der religiöse Wahn, vollkommen ernst genommen wird. Der Patient fühlt sich dadurch zwar in seinem irrealen Wahn bestätigt, zugleich aber läßt er sich auch von den Vorfällen affizieren, die im Rahmen des Psychodramas auf ihn eindringen. Pinel berichtet, daß der kranke Melancholiker von den tröstenden Worten des Engels beruhigt worden sei, an die Vergebung seiner vermeintlichen Sünden tatsächlich geglaubt habe und daraufhin genesen konnte. Philippe Pinel und Jean-Etienne-Dominique Esquirol führen im Bereich der psychodramatischen Therapie mehrere Versuche durch, die allerdings nicht immer von Erfolgen gekrönt sind. So berichtet Esquirol von einem Melancholiker, der sich zum Tode durch das Fallbeil verurteilt wähnte und in der Heilanstalt auf seine vermeintliche Hinrichtung wartete. Man inszenierte daraufhin eine fiktive Gerichtsverhandlung, die zum Schein ein Urteil fällte und den Kranken freisprach. »Die List gelang«, berichtet Esquirol, »aber der Erfolg war nur von kurzer Dauer, denn durch eine Indiskretion war diesem Mann bekanntgeworden, daß man ihn getäuscht hatte«.' 8 Diese Episode zeigt besonders deutlich, welche Vorsicht man walten lassen muß, um die Heilung des Kranken nicht zu gefährden. Die Inszenierung eines Psychodramas bedarf umfassender Vorsichtsmaßnahmen, da andernfalls die Entdeckung des >Betruges< leicht zu einem irreversiblen Rückfall des Patienten führen kann. Die psychodramatische Heilmethode macht sich die mannigfachen Möglichkeiten des Theaters nicht allein zunutze. Auch andere Therapieansätze, die vor allem eine Lösung des Kranken aus seiner Wahnwelt anstreben, sehen im Theaterspiel eine erfolgversprechende Einrichtung. Der französische Mediziner François Leuret propagiert insbesondere Theateraufführungen, bei denen Geisteskranke selbst mitspielen. Die Patienten studieren unter der Anleitung eines Therapeuten verschiedene Rollen ein, die sie dann in einem möglichst abwechslungsreichen Schauspiel verkörpern. Sie lernen dadurch mit verschiede57
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Philippe Pinel: Artikel >MélancolieMédecinemoral management von A n f a n g an auch eine größere Öffentlichkeit. Die psychotherapeutische R e formbewegung erfreut sich einer allgemeinen Anteilnahme und findet verschiedentlich sogar Eingang in zeitgenössische Dichtungen. A u c h Goethes Singspiel >Lilamoral management« informiert gewesen sein muß, legen nicht nur Werke wie >Lila< oder >Wilhelm Meister< nahe, sondern insbesondere auch persönliche Bekanntschaften des Dichters. Goethe unterhielt von Weimar aus einen regen Kontakt zu Ärzten und Medizinern, die sich in den nahen U n i versitätsstädten Halle und Jena niedergelassen hatten. Ein besonderes Verhältnis verband ihn mit dem renommierten Psychiater Johann Christian Reil, der in zahlreichen Abhandlungen die sogenannte >psychische Kurmethode< entwikkelte und die wesentlichen Ansätze des >moral management« weiter ausbaute. 60 Goethe verehrte Reil als außergewöhnlichen A r z t und erbat sich von ihm sogar eine (physische) Heilbehandlung, als er im Jahre 1805 zum wiederholten Male
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J e d e Heilanstalt sollte »ein besonders eingerichtetes, durchaus praktikables Theater haben [...], das mit allen nöthigen Apparaten, Masquen, Maschinerien und Decorationen versehen wäre«. Reil bemerkt weiter, auf diesem Theater müßten »die Hausofficianten hinlänglich eingespielt seyn, damit sie jede Rolle eines Richters, Scharfrichters, Arztes, vom H i m m e l kommenden Engels, und aus den Gräbern wiederkehrenden Todten [...] vorstellen könnten«. J . C . Reil: Rhapsodieen über die A n w e n d u n g der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen, Halle J i 8 i 8 , S. 2 0 9 - 2 1 1 .
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Martin Schrenk erläutert Reils >psychische Kurmethode< in seinen zentralen Ansätzen und vielseitigen Facetten. M . Schrenk: U b e r den Umgang mit Geisteskranken, S. 6 1 - 7 9 .
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schwer erkrankte. Das vielleicht bekannteste Werk von Johann Christian Reil die >Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen< (1803) - hat Goethe bereits wenige Monate nach der Erstpublikation gelesen und für eine Rezension in der Jenaer Literaturzeitung vorgeschlagen.61 Nach Reils frühem Tod im Jahre 1813 setzte Goethe dem Verstorbenen in der Fortsetzung des Vorspiels >Was wir bringen* ein literarisches Denkmal.62 Goethes persönliche Bekanntschaft mit Johann Christian Reil fällt in die Zeit nach 1800. Das Singspiel >Lila< jedoch, das sich von der neuen psychodramatischen Heilmethode stark beeinflußt zeigt, entsteht bereits in den späten 1770er Jahren und während der Italienischen Reise. Es stellt sich also die Frage, auf welche einschlägigen Informationsquellen Goethe während der Konzeption des Stückes hat zurückgreifen können. Die erhaltenen Dokumente geben keinen Aufschluß darüber, ob Goethe in den entsprechenden Jahren einschlägige Arbeiten gelesen hat. Geht man jedoch der Frage nach, mit welchen Ärzten er zwischen 1765 und 1775 in unmittelbarem Kontakt stand, so gelangt man bald auf die entscheidende Spur. Rolf Christian Zimmermann hat im ersten Band seiner umfangreichen Studie zum > Weltbild des jungen Goethe< zeigen können, daß so gut wie alle Ärzte, mit denen sich der Dichter während seiner Frankfurter Jahre umgab, ihr Medizinstudium zuvor an der Universität in Halle absolvierten. Halle aber galt - wie bereits deutlich wurde - im 18. Jahrhundert als Hochburg der modernen Psychopathologie und Psychotherapie. Ein in Halle promovierter Arzt, der Goethe zweifellos besonders stark beeinflußt hat, war Johann Friedrich Metz. Er betreute den Dichter während seiner lebensgefährlichen Krankheit in den Wintermonaten 1768/69 und wandte dabei neben alchemistischen Praktiken auch psychotherapeutische Methoden an.63 In späteren Jahren hat Goethe immer wieder mit Ärzten und Medizinern korrespondiert, die sich der neuen psychopathologischen Lehre anschlossen und das >moral management* als erfolgversprechende Heilmethode propagierten. In diesem Zusammenhang ist insbesondere Johann Gottfried Langermann zu nennen, der in seinen Arbeiten wiederholt für eine >psycho-pädagogische< Behandlungsweise eintrat. Als zeitweiliger Mitarbeiter der >Jenaer Literaturzeitung* stand Langermann während der neunziger Jahre in persönlichem Kontakt mit Goethe und Schiller. Von Jena aus besuchte er die psychiatrischen An61
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SO
Goethe empfiehlt in einem Brief an Eichstädt vom 13. Oktober 1803, Reils >Rhapsodieen< in der >Jenaer Literaturzeitung* zu besprechen. Er will sogar für eine »collective Recension« sorgen, weil Reils Werk »von verschiedenen Seiten zu betrachten ist« (WA IV, 16, 328). Vgl. hierzu den Kommentar von Dieter Borchmeyer: F A 6, 1283-1286. Über Johann Friedrich Metz berichtet ausführlich Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe, Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts, Bd. 1, München 1969, S. 1 3 6 - 1 3 8 u. S. 172-182.
staken des Landes und reorganisierte um 1800 die Irrenanstalt in Bayreuth nach humanitären Grundsätzen. Neben G e o r g Ernst Stahl galt Langermann bereits im 19. Jahrhundert als >Begründer der Seelenheilkunde< in Deutschland.
10.
Der Melancholiebegriff in Zedlers Lexikon und Adelungs Wörterbuch
D e r Paradigmenwechsel in der Psychopathologie des 18. Jahrhunderts sowie die zeitgleichen Innovationen in der psychopädagogischen Heilmethodik werden seit etwa 1750 von einer naturwissenschaftlich gebildeten Leserschaft aufmerksam verfolgt. Öffentliche Diskussionen ergänzen die fachspezifischen Binnendiskurse. In zahlreichen Journalen und allgemeinbildenden Zeitschriften debattiert man über die kontinuierlichen Fortschritte in der Analyse und Behandlung melancholischer Erkrankungen. Aufschlußreiche Indikatoren f ü r das stetig wachsende Interesse an den Einsichten der Psychopathologie sind die umfangreichen Universallexika, die im Laufe des 18. Jahrhunderts die neuen Forschungsergebnisse rezipieren und einem breiten Publikum zugänglich machen. Zusammen mit einschlägigen Periodika popularisieren sie die Erkenntnisse einer sich rasch entwickelnden Wissenschaft, die den interessierten Laien ebenso wie den Gelehrten in immer kürzeren Zeitabständen zur Korrektur alter Standpunkte zwingt. 64 Ein repräsentatives Beispiel f ü r die intensive Rezeption der zeitgenössischen Melancholiedebatte bietet das um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstandene Universallexikon von Johann Heinrich Zedier. Z w ö l f Spalten auf sechs großformatigen und dicht bedruckten Seiten sind hier allein der Melancholie, ihrer Genese und Symptomatik sowie ihren Therapiemöglichkeiten gewidmet. Zedier übersetzt den Terminus >Melancholie< mit dem Begriff »Schwermut« und piaziert demgemäß seinen Artikel über die Melancholie unter dem deutschsprachigen Begriffsäquivalent im sechsunddreißigsten Band. Bereits die ersten Absätze lassen deutlich erkennen, daß sich der Artikel auf der H ö h e der Zeit befindet. Zedier differenziert zwischen zwei Formen der Melancholie; einer auf somatischen Störungen beruhenden Variante stellt er eine auf geistigen und psychischen Ursachen basierende gegenüber: »Wenn man nun die Ursachen der Melancholey ein wenig genau betrachtet, so findet man, daß sie entweder materiell, oder unmateriell sind. Jene, nemlich die materiellen, kommen entwe-
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Es ist zweifellos kennzeichnend f ü r die Epoche des 18. Jahrhunderts, wenn Eduard in den Wahlverwandtschaften« über die Wissensexplosion seiner Zeit klagt. »Unsre Vorfahren«, konstatiert er während der Lektüre eines Buches, »hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn w i r nicht ganz aus der M o d e kommen wollen« ( H A 6, 270).
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der von langwierigen Kranckheiten der innern Theile des Leibes, oder auch von starcker Verdickung des Geblütes, [...] diese aber, oder die unmateriellen Ursachen, entspringen von unterschiedenen moralischen Begebenheiten«. 6 ' Die >moralischenmoralischen< Ursachen als die entscheidenden herausstellt und ihnen gleich zu Beginn des Artikels besondere Aufmerksamkeit widmet. Unter bewußter Hintanstellung der seit Jahrhunderten tradierten Erklärungsmuster spezifiziert er die Melancholie gemäß den zeitgenössischen Theorien, wie sie etwa an der Universität Halle von Georg Ernst Stahl und seinen Schülern propagiert werden: »Man kan diese Kranckheit«, so Zedier über die Melancholie, »auf keine bequemere und deutlichere Art beschreiben, als wenn man saget, daß sie in einer Verletzung der Einbildungskrafft beruhet [...] Denn es lieget hier der Knoten nicht etwan allezeit in dem Blute selbst, oder in der Übeln Beschaffenheit der innern festen und fleischichten Theile, sondern es kommt auch vielmals diese gantze Beschwerung auf die Gedancken, oder Einbildungen und Phantasien selbst an«.66 Bei den Melancholikern, die Goethes umfangreiches Œuvre bevölkern, liegt fast immer jene »Verletzung der Einbildungskrafft« vor, die Zedier in seinem Lexikonartikel als erste Krankheitsursache anführt. Zwar werden bisweilen auch humoralphysiologische Störungen für melancholische Erkrankungen verantwortlich gemacht - so etwa in >Torquato Tasso< (V. 3059) oder auch im ersten Teil des >Faust< (V. i632f.). Diese somatologischen Diagnosen stammen jedoch durchweg von Personen, die zu einer differenzierten und unvoreingenommenen Analyse nicht berufen sind. Die eigentlichen Auslöser für die Melancholie der Protagonisten liegen ohne Zweifel im psychischen Bereich: in einer hypertrophen Einbildungskraft, in einer eskapistischen Tendenz zur weltlosen Innerlichkeit sowie in einer forcierten und überspannten Gedankentätigkeit, die fortwährend um dunkle und schwermütige Gegenstände kreist. Zedier wendet sich zwar zunächst den >moralischen< Ursachen der Melancholie zu, geht dann aber auch auf die >materiellen< Krankheitserreger ein, die in erster Linie vor dem Hintergrund der traditionellen Humoraltheorie entwikkelt werden. Danach ist häufig schweres und mit schwarzgalligen Schlacken angereichertes Blut für den Ausbruch einer melancholischen Krankheit verantwortlich. Die Verunreinigung des Blutes kann dabei entweder auf Vererbung oder auf ungünstige Lebensverhältnisse zurückgeführt werden. Zedier zufolge
66
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Johann Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universallexikon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd. 36, Halle/Leipzig 1743, Sp.466. Ebenda, Sp. 464.
sind vor allem diejenigen gefährdet, die sich nur selten bewegen und häufig sitzen, ferner all diejenigen, die zu wenig trinken: »So kan, in Ansehung des Geblütes und der innern Theile, gewiß keine andere Würckung erfolgen, als eine Verdickung, Zähigkeit und gleichsam Unbeweglichkeit des Blutes«. 67 Die psychophysischen Wechselwirkungen, die bereits in der antiken Melancholiedebatte eine entscheidende Rolle spielen, werden auch von Zedier mit besonderem Nachdruck hervorgehoben. Wo eine physiologische Störung den Säftehaushalt des Menschen in Unordnung bringt, da ist sogleich auch die Balance der unterschiedlichen Seelenvermögen in Mitleidenschaft gezogen. Der Körper wird als Haus und Wohnung der Seele begriffen. Im weiteren Verlauf des Artikels geht Zedier ausführlich auf die Symptomatik der Melancholie ein. Mit bemerkenswerter Akribie erläutert er all jene Kennzeichen, die seit der Spätantike einen festen Kanon bilden und auch in Goethes Dichtung wiederholt auf melancholische Gemütszustände hinweisen. Von zentraler Bedeutung ist für Zedier der Rückzug des Melancholikers aus allen gesellschaftlichen Bindungen sowie seine Flucht in eine abgeschiedene Einsamkeit, wo dem schwermütigen Gedankenstrom kein ausgleichendes Korrektiv entgegentritt. »Sehr grosse Traurigkeit und Betrübniß des Hertzens« gehören nach Zedier zu den auffälligsten Symptomen der Melancholiker, die »ohne Unterlaß tiefgehende und den Abgrund aller Gedancken gleichsam berührende Betrachtungen« anstellen. 68 Weitere Charakteristika sind die häufige Schlaflosigkeit sowie die chronische Appetitlosigkeit, die im Werk Goethes vor allem an der Melancholikerin Ottilie besonders hervortritt. Es sei kennzeichnend, erklärt Zedier, daß Melancholiker »sehr schlechten Appetit zu den Speisen haben« und »zwey bis drey Tage würden lassen vorbey gehen, daferne man ihnen ihren Willen Hesse, und sie nicht zum Essen und Trincken nöthigte«. 6 ' Des weiteren charakterisieren den Melancholiker eine beharrliche Schweigsamkeit (Ottilie!) sowie eine übertriebene Furcht und ein fast krankhafter Argwohn (Tasso!). Auch die Suizidneigung wird von Zedier aufgegriffen und mehrfach als typisches Symptom thematisiert: »Daferne es nun aber mit einer solchen hypochondrischen Melancholey so weit gekommen, daß sie sehr tief eingewurtzelt und jemehr und mehr angewachsen ist, so verfallen dergleichen Leute nicht selten in eine vollkommene Verzweifelung, und werden öfters ihre eigene Mörder, wenn sie anders Gelegenheit darzu haben, und zu einem tödtlichen Instrumente, z. E. zu einem Messer, Stricke und dergleichen gelangen, oder auch in das Wasser springen können«. 70 Latente und akute Suizidgefährdungen begegnen in Goethes Dichtungen mit bemerkenswerter Häufigkeit: Werther er-
Í7 is 69 70
J o h a n n Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universallexikon, Bd. 36, Sp. 466. Ebenda, Sp. 468. Ebenda, Sp.468. Ebenda, Sp.470.
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schießt sich, der Harfner durchtrennt seine Halsadern, Aurelie spielt fortwährend mit einem geschliffenen Dolch. Ottilie fastet sich zu Tode, Eduard zieht voller Verzweiflung in den Krieg, Faust greift resigniert zur Giftphiole. Todessehnsucht und Selbstnegation prägen zahlreiche Dichtungen und lassen Z w e i fel an der auch heute noch weit verbreiteten Ansicht aufkommen, eine k l a s s i sche Heiterkeit leuchte aus Goethes Werken hervor. Das letzte Drittel in Zedlers umfangreichem Lexikonartikel ist den Therapiemöglichkeiten und Heilungschancen der Melancholie gewidmet. Besondere Aufmerksamkeit verdient hierbei die f ü r das 18. Jahrhundert eher untypische Skepsis hinsichtlich der therapeutischen Erfolgsaussichten. Z w a r zweifelt Zedier nicht grundsätzlich an der Effizienz unterschiedlicher Behandlungsmethoden, deren Dauerhaftigkeit aber beurteilt er sehr zurückhaltend. Seines Erachtens behalten ehemalige Melancholiker »doch immer einige Überbleibsel von dem vorigen verwirreten Wesen, und es kan auch, vermöge gewisser darzu stossender Umstände, gar sehr leichte geschehen, daß sie von einem melancholischen Sturme vom neuen überfallen, und eben in denjenigen Zustand, in welchem sie einmahl gesessen, wiederum gestürtzet werden«. 7 1 Zedier differenziert die verschiedenen Heilmethoden nach den unterschiedlichen Ursachen der Melancholie und stellt damit noch einmal seine Kenntnis der zeitgenössischen Debatte unter Beweis. Eine auf psychischen Ursachen beruhende Melancholie erfordert seines Erachtens ein anderes Vorgehen als eine rein somatisch bedingte. A u c h erscheint es wesentlich schwieriger, eine >moralische< Melancholie zu therapieren als eine >materielleCura melancholiae moralis< genennet werden«. 7 2 Im Hinblick auf spezifische Therapeutika, die bei den differierenden Formen der Melancholie Linderung versprechen, empfiehlt Zedier die ganze Palette der seit Jahrhunderten etablierten Palliative: ausgiebige Bewegung und leichte Speisen, aufheiternde Musik und fröhliche Geselligkeit; überdies eine ausgeklügelte Beschäftigungstherapie, damit die Psyche des Melancholikers »auf etwas anders mit den Gedancken fallen, und dahero die einmahl gefaßte Traurigkeit gemach-
71
J o h a n n Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universallexikon, Bd. 36, Sp. 4 7 1 . Ein solcher Fall läßt sich interessanterweise auch in Goethes >Lehrjahren< beobachten, w o der H a r f n e r nach der Behandlung durch den Landgeistlichen gesundet, infolge einer neuerlichen Erschütterung aber, die durch das Manuskript des Marchese ausgelöst wird, Selbstmord begeht. D e r Harfner kann von seiner Melancholie nur kurzfristig geheilt werden.
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J o h a n n Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universallexikon, Bd. 36, Sp.472.
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sam bey Seite setzen möge«. 73 Abschließend verweist Zedier noch auf eine Methode, die bereits an die Strategie des Psychodramas erinnert: D a man bei Melancholikern nicht immer mit der Wahrheit an sein Ziel gelangt, ist es bisweilen ratsam, zum Schein auf deren krankhafte Imaginationen einzugehen. Von Zeit zu Zeit, so Zedier, muß man »blosse Erdichtungen vorbringen«, um dadurch den in seine Phantasien verstrickten Melancholiker zu erreichen (Lila!). Zedier greift in seinem Lexikonartikel sowohl traditionelle als auch neuere Elemente der Melancholiedebatte auf. E r führt sie mit Umsicht zusammen und bietet dem interessierten Laien auf diese Weise einen differenzierten Uberblick. Die historischen und zeitgenössischen Tendenzen der Psychopathologie gewinnen Konturen, auch wenn sie nicht expressis verbis voneinander abgegrenzt werden. Zedlers Universallexikon vermittelt das nur wenigen Personen zugängliche Spezialwissen an eine breite Leserschicht, es trägt dazu bei, exklusives Fachwissen größeren Bevölkerungsschichten verfügbar zu machen. Einige Aspekte des Melancholiebegriffs übergeht Zedier freilich. Die überaus einflußreiche Verknüpfung von Melancholie und genialer Begabung etwa findet bei ihm keine Beachtung. A u c h das >melancholische< Gefühl, das als transitorische Seelenstimmung vor allem in der Empfindsamkeit kultiviert wird, findet bei ihm keine Beachtung. Daß es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gleichwohl für viele Autoren und deren Rezipienten von Bedeutung ist, dokumentiert das Wörterbuch von Johann Christoph Adelung, dessen erste Auflage seit den frühen siebziger Jahren erscheint; die zweite, überarbeitete Auflage erscheint dann bereits ab 1793. Adelung unterscheidet zwischen zwei Bedeutungen des Melancholiebegriffs und berücksichtigt damit die Polysemie des Terminus im ausgehenden 18. Jahrhundert. Zunächst führt er die traditionelle Bedeutung an, die auf der überlieferten Humoraltheorie fußt und Melancholie als Folge einer physiologischen Störung begreift. Die Melancholie wird spezifiziert als »hoher Grad der Traurigkeit oder Schwermüthigkeit, besonders so fern sie ihren Sitz in einer fehlerhaften Beschaffenheit des Körpers hat«. 74 Im Anschluß an diese somatologische Begriffsbestimmung geht Adelung auf jene zweite Bedeutung ein, die vor allem für die empfindsame Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte kennzeichnend ist: »Bey einigen neuern Schriftstellern«, erklärt er, »wird es oft von einer jeden traurigen Empfindung des Gemüthes, und demjenigen Zustande desselben, da es zu solchen Empfindungen geneigt ist, gebraucht«. Zeugnisse f ü r diesen >poetischen< Melancholiebegriff finden sich auch in Goethes Dichtung, so etwa im Wertherroman, der ja von der Empfindsamkeit über weite
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Johann Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universallexikon, Bd. 36, Sp.475. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, Bd. 3, Leipzig l i j 9 8 , Sp. 170.
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Strecken geprägt ist. Werther kultiviert fortwährend das Gefühl der »süßen Melancholie«, die freilich immer wieder in eine »verderbliche Leidenschaft« umschlägt (HA 6,10). Ohne Unterlaß überwältigen ihn schwermütige Schauer, beim Untergang der abendlichen Sonne ebenso wie bei der Lektüre der Ossianischen Gesänge. Adelung expliziert nicht nur den Begriff >Melancholiemelancholischmelancholisch< wird nicht nur das empfindende Subjekt beschrieben, sondern auch der die entsprechende Empfindung hervorrufende Wahrnehmungsgegenstand. So heißt es bei Adelung unter dem Adjektiv >melancholischKrankheit zum Tode< >Die Leiden des jungen Werther
Die Leiden des jungen Werther«. Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert stritten konservative und p r o gressive Kunstrichter mit leidenschaftlichem E i f e r u m die angemessene Interpretation dieses Buches, das w i e kein zweites »die N e u g i e r des ganzen lesenden Deutschlands« zu w e c k e n vermochte. 1 A u c h in der aktuellen G o e t h e - P h i l o l o gie erweist sich die adäquate D e u t u n g des Wertherromans immer wieder als Gegenstand heftiger K o n t r o v e r s e n , w o b e i der auffälligste Unterschied im Vergleich zur Generation der Erstrezipienten darin liegt, daß heute nicht mehr nur zwischen zwei bis drei widerstreitenden A u f f a s s u n g e n , sondern zwischen einer kaum noch überschaubaren A n z a h l divergierender Standpunkte unterschieden werden muß. Insbesondere in den letzten Jahrzehnten hat Goethes Wertherroman die Literaturwissenschaft zu immer neuen Interpretationsversuchen herausgefordert. N e b e n den traditionellen biographischen und ideengeschichtlichen Deutungsansätzen bemühten sich v o r allem stilanalytische, sozialhistorische und diskurstheoretische s o w i e psychoanalytische, klassengeschichtliche und ideologiekritische Methoden, dem gewaltigen Bedeutungspotential des R o m a n s interpretierend beizukommen. Richtet man sein A u g e n m e r k zunächst auf den Titel und auf das V o r w o r t des R o m a n s , so stellt sich die f ü r das gesamte Textverständnis zentrale Frage, w o r a n Werther eigentlich leide. Zahlreiche Interpreten haben Werthers Leiden als ein Liebesleiden gedeutet und den R o m a n entsprechend als tragischen Liebesroman gelesen. Freilich: Werthers unglückliche Liebe gehört zu den konstitutiven und strukturbildenden M o t i v e n des Handlungsverlaufs - keinesfalls jedoch ist darin der primäre G r u n d f ü r das Leiden und Scheitern des Protagonisten zu sehen. Schon die Frühlingsbriefe, die der Bekanntschaft mit Lotte zeitlich vorausgehen, lassen Werthers Verhängnis in aller Deutlichkeit zutage tre-
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So eine anonyme Rezension aus dem Jahre 1775 (HA 6, 531). Zum Streit um Goethes Roman im späten 18. Jahrhundert siehe Waltraud Wiethölter: Kommentar zu >Die Leiden des jungen Werthers< (FA 8, 939Í.). 57
ten. Wer daher Werthers Katastrophe auf die Liebestragödie reduziert, verkennt die zentrale Problematik des Romans. 2 Sozialhistorisch und klassengeschichtlich orientierte Interpreten haben Werthers Leiden vor allem mit Blick auf die Gesandtschaftsepisode als ein Leiden an den ungerechten gesellschaftlichen Verhältnissen im feudal-absolutistischen Ständestaat gedeutet.3 Diesem Ansatz zufolge zerbricht der vielseitig talentierte und nach sozialer Anerkennung strebende Werther an der Unmöglichkeit, seinen Wirkungsradius über die bürgerlichen Kreise hinaus auszudehnen und aktiv in die gesellschaftspolitischen Entscheidungsprozesse einzugreifen. Sein Leiden an den repressiven Verhältnissen in der starren Gesellschaftsordnung des Ancien régime kompensiert der frustrierte Bürger Werther angeblich durch seinen empfindsamen und rousseauistischen Rückzug in die einsame Natur, durch seine Flucht in ein unglückliches Liebesverhältnis und zuletzt durch seinen freiwilligen Gang in den Tod. Die sozialhistorische und klassengeschichtliche Deutung verkennt Werthers eigentümliche Tragik, da sie sich fast ausschließlich auf die Gesandtschaftsepisode und einige andere Textstellen stützt, ohne zu registrieren, daß Werther die soziale Hierarchie der ständischen Ordnung bejaht und überdies von den höchsten Repräsentanten des höfischen Adels umworben wird (HA 6, 66f. und 71 f.). Zweifellos enthält Goethes Jugendroman sozialkritische Elemente - Werthers Leiden als ein Scheitern am überkommenen Ständestaat zu heroisieren, entbehrt jedoch jeder überzeugenden Grundlage. Eine besondere Variante der sozialhistorischen Deutung bietet die in erster Linie literatursoziologisch argumentierende Arbeit von Klaus R. Scherpe. Hier rückt die im Rahmen der Gesandtschaftsepisode artikulierte Adelskritik in den Hintergrund - allerdings nur, um auf diese Weise einer noch entschiedeneren Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts Platz zu machen. Für Scherpe konkretisiert sich in Werthers Rebellion die Auflehnung eines emanzipierten Individuums gegen die korrumpierende bürgerliche Lebensordnung, die in ideologischer Verkürzung auf ein schlichtes Ensemble ökonomischer und moralischer Wertvorstellungen fixiert wird. 4 Nach Maßga2
Horst Flaschka betont zurecht: »Wird das Scheitern Werthers einseitig und allein aus einer unglücklichen Liebe abgeleitet, so ist die G e f a h r einer Trivialisierung des R o mans nicht von der Hand zu weisen«. H . Flaschka: Goethes >WertherWertherMelancholie< bezeichnet: »Diesen Umstand habe ich erst kürzlich erfahren und ist, deucht mir, der Schlüssel eines großen Teils seines Verdrusses, und seiner Melancholie, die man beide aus seinen Mienen lesen konnte; ein Umstand der ihm Ehre macht und seine letzte Handlung bei mir zu veredlen scheint« (MA 1/2, 78ο). 13 Man ginge sicherlich zu weit, wollte man die Werthergestalt als eine poetische Nachbildung Jerusalems begreifen. Es scheint jedoch legitim, in Kestners Brief die Keimzelle für Goethes Dichtung zu sehen, da die Werthergestalt nach den Angaben des Berichtes konturiert wurde und einige Textpassagen sogar wortwörtlich in den Roman eingingen. Auch die Uberschrift, die Kestner seinen Ausführungen vorangestellt hat, läßt bereits die 12
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Horst Flaschka stellt in seiner Monographie die biographischen Hintergründe des Wertherromans ausführlich dar. H. Flaschka: Goethes >WertherWerthern< gefunden, das G a n z e schoß von allen Seiten zusammen und ward eine solide Masse« ( H A 9, 585).
I!
Goethe über Werther in einem Brief an Schönborn vom i . J u n i 1774 ( H A 6, 525).
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gendblüte schon von vornherein als vom tödlichen Wurm gestochen erscheine« (HA 9, 5 9 o). Bereits der erste Brief vom 4. Mai zeigt Werthers Disposition zur Melancholie. Werther befindet sich auf einer Reise, um mit seiner Tante diverse Erbstreitigkeiten beizulegen. Seine Mutter hat ihn zu dieser Reise veranlaßt, da sie hofft, durch einen vorübergehenden Ortswechsel die seelischen Konflikte ihres Sohnes lösen und dessen tatenloses Herumschlendern beenden zu können. Die Reise - sie wird bereits seit der Antike als Palliativ gegen melancholische Verstimmungen empfohlen - scheint ihre therapeutische Wirkung umgehend zu entfalten. Voller Zuversicht erklärt Werther gegenüber seinem Freund: »Ich will mich bessern, will nicht mehr ein bißchen Übel, das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen, wie ich's immer getan habe; ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein« (HA 6,7). Die Fixierung auf widerfahrenes Unglück gehört zu den markantesten Eigenschaften des Melancholikers, der sich vom Einfluß zurückliegender Ereignisse nicht emanzipieren kann und dadurch jeden Bezug zur Gegenwart verliert. Das endlose und schwermütige Wiederkäuen der Vergangenheit, das auch andere Figuren in Goethes Romanen kennzeichnet, will Werther laut eigener Aussage künftig vermeiden. Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, gelingt ihm dies jedoch - wenn überhaupt - nur für kurze Zeit. Ebenfalls im Brief vom 4. Mai berichtet Werther, daß er sich an seinem neuen Aufenthaltsort wohl fühle und sein zurückgezogenes Dasein in vollen Zügen genieße: »Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend« (HA 6, 8). Bereits in älteren medizinischen Traktaten erscheint der Melancholiker - freilich unter negativem Vorzeichen - als isolierter Einzelgänger, der sich an einen abgeschiedenen Ort zurückzieht und den geselligen Umgang mit Freunden meidet. In der melancholischen Gefühlskultur der Empfindsamkeit wird die Einsamkeit nobilitiert, da man unter dem Einfluß zivilisationskritischer Tendenzen in ihr die konstitutive Voraussetzung für ein gesteigertes Dasein sieht. Erst die Einsamkeit und die damit verbundene Stille machen es möglich, die verborgenen Geheimnisse der Natur zu ergründen. In John Miltons epochalem Melancholiegedicht >11 Penseroso< verherrlicht der >Nachdenkliche< die mit der Melancholie verknüpfte Einsamkeit und wünscht sich eine friedvolle Einsiedelei, von der aus er die Natur betrachten kann.' 6 Auch Werther kultiviert die Einsamkeit, wenn er ohne Begleitung die frühlingshafte Natur durchstreift und in einem abgelegenen englischen Garten die
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Wörtlich heißt es bei John Milton: »And join with thee calm Peace and Quiet, / [ . . . ] / And may at last my weary age / Find out the peaceful hermitage, / The Hairy G o w n and Mossy Cell, / Where I may sit and rightly spell / Of every Star that Heav'n doth shew, / And every Herb that sips the dew; / [ . . . ] / These pleasures Melancholy give, / And I with thee will choose to live«. J. Milton: The Complete Poems, S. 34-37.
Stunden des Tages verbringt. Daß er eine in diesem Garten befindliche Laube zu seinem Lieblingsplatz erklärt, mag an die Verse des >Nachdenklichen< erinnern, der sich eine stille Klausur ersehnt. Im Brief v o m io. Mai intoniert Werther erneut das Einsamkeitsmotiv: »Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend [...] Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem G e fühle von ruhigem Dasein versunken« ( H A 6, 9). Werther tritt hier wiederum als Einzelgänger auf, der sich in die Natur zurückzieht, um dort seinen G e f ü h len und Stimmungen freien Lauf zu lassen. Wie in der empfindsamen Melancholietradition vielfach vorgeprägt, schließt sich an die Evokation der Einsamkeit das mystische Naturerlebnis an. In einer pantheistischen Naturvision glaubt Werther die »Gegenwart des Allmächtigen« zu fühlen und das »Wehen des Alliebenden« zu spüren ( H A 6, 9). Im Brief vom 13. Mai tritt Werthers melancholische Veranlagung erstmals deutlicher zutage. Auf die Frage Wilhelms, ob er einige erbauliche Bücher schicken solle, antwortet Werther: »Lieber, ich bitte dich um Gottes willen, laß mir sie vom Halse! Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses H e r z doch genug aus sich selbst« ( H A 6, 10). Immer wieder verweist Werther auf sein Herz, das sich weder durch den Rückzug in die Einsamkeit noch durch stille Naturbetrachtung dauerhaft beruhigen läßt. N u r selten gelingt es, das >empörte Blut« zu besänftigen. »So ungleich, so unstet hast du nichts gesehn als dieses Herz«, bekennt Werther gegenüber Wilhelm. »Lieber! brauch' ich dir das zu sagen, der du so oft die Last getragen hast, mich vom Kummer zur Ausschweifung und von süßer Melancholie zur verderblichen Leidenschaft übergehen zu sehn? A u c h halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihm gestattet« ( H A 6, 10). In diesem Briefausschnitt finden sich gleich mehrere Symptome, die Werther als melancholischen Charakter ausweisen. Bereits in antiken Abhandlungen zeichnet sich der Melancholiker durch psychische Labilität und emotionale Unbeständigkeit aus. E r kann zu keiner stabilen und ausgeglichenen Gemütsstimmung finden, sondern oszilliert ständig zwischen depressiver Trauer und ekstatischem Uberschwang. Wenn Werther neben dem Gegensatz »Kummer« versus »Ausschweifung« auch die Opposition >süße Melancholie« versus »verderbliche Leidenschaft« erwähnt, so bezieht er sich indirekt auf die empfindsame Gefühlskultur, die eine abgeschwächte (und letztlich gefahrlose) Form der Melancholie zu kultivieren versucht. Werther gelingt es nicht, das im Sinne der Empfindsamkeit vertretbare Maß »süßer Melancholie« einzuhalten, da bei ihm die »sanfte Schwermut« immer wieder in den manischen A f f e k t der »verderblichen Leidenschaft« umschlägt. Über die psychische Instabilität hinaus verweist der oben zitierte Satz auf eine weitere Charaktereigenschaft Werthers. Wenn dieser erklärt, er halte sein H e r z wie ein krankes Kind und erfülle ihm jeden Wunsch, so entlarvt er sich selbst als Egozentriker, der beständig nur um das Wohl des eigenen Ichs kreist. Gesellschaftliche Verpflichtungen, die den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu-
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widerlaufen, ignoriert er. Werther geht fast jeder festen Bindung und jeder beruflichen Tätigkeit aus dem Weg, denn beides würde ihn daran hindern, seine zügellose Subjektivität auszuleben. In dem zitierten Brief vom 13. Mai thematisiert Werther seine emotionale Inkonsistenz. Er gesteht seinem Freund Wilhelm, daß er keine ausgewogene Gemütsruhe finden könne und ständig von extremen Stimmungen beherrscht werde. Die späten Maibriefe schildern einen solchen Stimmungsumschwung. Hat Werther erst kurz zuvor die frühlingshafte Natur verherrlicht und das einfache Leben der Ortsbewohner gepriesen, so erscheint ihm mit einem Mal und ohne erkennbaren Anlaß alles höchst fragwürdig und zwiespältig. Das pantheistische Alleinheitsgefühl weicht einer pessimistischen Erkenntniskritik, die enthusiastische Glücksvision schlägt um in radikalen Skeptizismus: »Wenn ich die Einschränkung ansehe«, erklärt Werther, »in welcher die tätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind; wenn ich sehe, wie alle Wirksamkeit dahinaus läuft, sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz zu verlängern, und dann, daß alle Beruhigung über gewisse Punkte des Nachforschens nur eine träumende Resignation ist, da man sich die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und lichten Aussichten bemalt - Das alles, Wilhelm, macht mich stumm« (HA 6,13). Der Brief vom 22. Mai demonstriert eindrucksvoll, wie rasch Werthers Stimmung umschlagen kann und auf welch brüchigem Fundament seine harmonisierende Weltsicht beruht. Im Brief vom 10. Mai erklärt er noch voller Enthusiasmus, seine Seele sei ein »Spiegel des unendlichen Gottes« (HA 6,9). Bereits zwölf Tage später fällt dann der für das weitere Handlungsgeschehen zentrale Begriff der »Einschränkung«, womit Werther auf die für ihn schmerzliche Unmöglichkeit hinweist, die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits aufzusprengen. Das Gefühl des ausweglosen Eingesperrtseins weckt in Werther den Gedanken an den Freitod, den er als Akt der Selbstbefreiung darstellt. Er feiert »das süße Gefühl der Freiheit«, den irdischen Kerker jederzeit verlassen zu können (HA 6, 14). Wie der Brief vom 22. Mai in aller Deutlichkeit zeigt, denkt Werther schon vor der Begegnung mit Lotte an den Selbstmord. Seine latente Suizidneigung ist somit durch keinen äußeren Anlaß - etwa eine unglückliche Liebe - motiviert, sondern entspringt einem pathogenen Inkludenzgefühl. Schon in der Antike, etwa bei Aristoteles oder Archigenes, ist vom krankhaften Todestrieb des Melancholikers die Rede. Und auch im medizinischen Diskurs des 18. Jahrhunderts wird immer wieder darauf hingewiesen, daß der Melancholiker zum Selbstmord neige.' 7
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Auf die Tatsache, daß Werthers Suizidneigungen nicht erst aus dem unglücklichen Verhältnis zu Lotte resultieren, verweist auch der Herausgeber am Schluß des Romans noch einmal ausdrücklich: »Werther hatte, wie w i r aus seinen Briefen wissen, nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er sich diese Welt zu verlassen sehnte« ( H A 6, 119).
Einige Maibriefe fügen den bislang genannten Charaktereigenschaften noch einen weiteren wichtigen Wesenszug hinzu. Werther zeichnet sich v o n A n f a n g an durch eine hypertrophe Einbildungskraft aus, mittels derer er die wahrgenommene Wirklichkeit projektiv überformt. G e w ö h n l i c h e Alltagserlebnisse amalgamiert er mit Bildern, E i n d r ü c k e n und Vorstellungen, die er aus der Literatur gewinnt. Im Brief v o m 12. M a i beispielsweise beschreibt er einen v o r dem O r t gelegenen Brunnen, an dem Dienstmädchen Wasser holen. Werther, der täglich eine Stunde an diesem Brunnen zubringt, v e r k n ü p f t diesen gewöhnlichen und völlig unbedeutenden Vorgang mit zahlreichen literarischen Vorstellungsmustern: » D a k o m m e n dann die Mädchen aus der Stadt und holen Wasser, das harmloseste G e s c h ä f t und das nötigste, das ehemals die T ö c h t e r der K ö n i g e selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so lebt die patriarchalische Idee so lebhaft u m mich, wie sie, alle die Altväter, am Brunnen Bekanntschaft machen und freien, und w i e u m die Brunnen und Quellen wohltätige Geister schweben« ( H A 6 , 1 0 ) . I m m e r wieder überformt Werther die w a h r g e n o m m e n e Wirklichkeit mit seiner eigenen Phantasie, so daß die G r e n z e n zwischen Realem und Imaginiertem verschwimmen. »Ich weiß nicht«, erklärt er, »ob täuschende Geister um diese G e g e n d schweben, oder o b die w a r m e , himmlische Phantasie in meinem H e r z e n ist, die mir alles rings umher so paradiesisch macht« ( H A 6,9). Werther neigt nicht nur dazu, die gewöhnliche Alltagsrealität mit fiktiven Vorstellungen aufzuladen, sondern er strebt gar danach, sich ganz aus der äußeren Wirklichkeit zurückzuziehen und in eine künstlich evozierte Phantasiewelt zu flüchten. Im Brief v o m 22. M a i heißt es: »Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!« ( H A 6, 13). Im medizinischen und philosophischen D i s k u r s des 18. Jahrhunderts
w e r d e n hypertrophe
Einbildungskraft und
schwärmerische
Phantasie als Ursachen wie auch als Folgen der Melancholie interpretiert. Vor allem die Schwärmerkritik der A u f k l ä r u n g sieht in der überhitzten Imagination das G r u n d ü b e l einer melancholischen Veranlagung.' 8 A b e r nicht erst im 18. Jahrhundert bildet die überspannte Einbildungskraft einen beliebten und vieldiskutierten Gegenstand einschlägiger Melancholie-Studien. Bereits R o b e r t B u r t o n erklärt in seinem umfassenden Werk >Anatomy of Melancholy< ( 1 6 2 1 ) : »Die Imagination besitzt erstaunliche K r ä f t e und bringt w u n d e r s a m e W i r k u n gen hervor. D a s gilt generell, wenngleich sie in Melancholikern besonders w ü tet und ihre Wahrnehmungen durch beständiges und heftiges Brüten so verfälscht, verzerrt und überzeichnet, daß sich endlich handgreifliche Folgen einstellen und zahlreiche Krankheiten entstehen«.' 9 Werthers H a n g , sich in erdichteten Welten aufzuhalten, reicht bis in seine Jugendzeit zurück. Schon als K n a b e hat er sich v o n den alltäglichen Erscheinungen abgewandt und seiner schwärmerischen Phantasie freien Lauf gelassen. 18 19
Vgl. hierzu Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 185-225. Robert Burton: Anatomie der Melancholie, S. 199.
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Als Werther nach dem gescheiterten Zwischenspiel bei der Gesandtschaft die Stadt seiner Kindheit durchreist und den Fluß aufsucht, an dessen Ufer er als Junge oft gestanden hat, blickt er zurück: »Ich erinnerte mich so lebhaft, wenn ich manchmal stand und dem Wasser nachsah, mit wie wunderbaren Ahnungen ich es verfolgte, wie abenteuerlich ich mir die Gegenden vorstellte, wo es nun hinflösse, und wie ich da so bald Grenzen meiner Vorstellungskraft fand; und doch mußte das weiter gehen, immer weiter, bis ich mich ganz in dem Anschauen einer unsichtbaren Ferne verlor« (HA 6, 73). A n dieser Stelle muß noch auf ein Randphänomen des Romans eingegangen werden, das für die Interpretation des >Werther< zwar von untergeordneter Bedeutung ist, in den letzten Jahrzehnten aber eine kuriose und nicht abreißende Debatte entfacht hat. Im Brief vom 26. Mai berichtet Werther von seinem Lieblingsplatz in dem Ort Wahlheim: »So vertraulich, so heimlich hab' ich nicht leicht ein Plätzchen gefunden, und dahin lass' ich mein Tischchen aus dem Wirtshause bringen und meinen Stuhl, trinke meinen Kaffee da und lese meinen Homer« (HA 6, i4f.). In zahlreichen Interpretationen wird seit den siebziger Jahren darüber nachgedacht, warum Werther fortwährend Kaffee trinke. Rolf Christian Zimmermann etwa geht davon aus, daß neben der Homer-Lektüre und dem gelegentlichen Zeichnen insbesondere der Kaffeegenuß Werthers luxuriösen und dekadenten Lebensstil verrate.20 Während Heinz Schlaffer in Werthers Kaffeekonsum ein Element »esoterischer« Ironie entdeckt, 21 deutet Achim Aurnhammer den Kaffee als anregendes Rauschmittel, das die künstlerische Imaginationskraft aktivieren soll.22 Bei allen Versuchen, zur tieferen Bedeutung des Wertherschen Kaffeekonsums vorzustoßen, ist bislang eines übersehen worden: die von Goethe wie von seinen Zeitgenossen gefürchtete melancholiefördernde Wirkung dieses Getränks! Richtet man den Blick auf einige Traktate des 18. Jahrhunderts, so zeigt sich, daß Kaffee neben Wein explizit zu den melancholischen Getränken gerechnet wurde. 23 Auch in der zeitgenössischen Kunst verband man das schwarze Gebräu konsequent mit der Melancholie, so etwa in Lessings Drama >Minna von Barnhelm«, wo Franziska das Getränk mit einem charakteristischen Kommentar bedenkt (IV, 1): »Hier kömmt eine Nahrung«, versichert sie der grübelnden Minna, »bei der man eher Grillen machen kann. Der liebe melancholische Kaffee!« Auch Goethe hat sich in literarischen und autobiographischen Werken wiederholt mit der gefährlichen
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Rolf Christian Z i m m e r m a n n : D a s Weltbild des jungen G o e t h e , Bd. 2, S. 198. H e i n z Schlaffer: Exoterik u n d Esoterik in G o e t h e s R o m a n e n . In: G o e t h e - J a h r b u c h 95 (1978), S. 212-226, hier S. 215t. A c h i m A u r n h a m m e r : Maler W e r t h e r . Z u r B e d e u t u n g der bildenden K u n s t in G o e thes R o m a n . In: Literaturwissenschaftliches J a h r b u c h 36 (1995), S. 83—104, hier S. 96. Vgl. hierzu H a n s - J ü r g e n Schings: Melancholie u n d A u f k l ä r u n g , S. 71.
Wirkung des Kaffees auseinandergesetzt. 24 U n d sein Urteil ist eindeutig, wie aus einem Brief an Charlotte von Stein hervorgeht, die ebenso wie ihre Zeitgenossen nur selten von jenem Suchtgetränk lassen konnte: »Unglücklicher Weise«, beklagt sich Goethe, »hast du schon lange meinen Rath in Absicht des C a f fees verachtet und eine Diät eingeführt, die deiner Gesundheit höchst schädlich ist. Es ist nicht genug daß es schon schwer hält manche Eindrücke moralisch zu überwinden, du verstärckst die hypochondrische quälende K r a f t der traurigen Vorstellungen durch ein physisches Mittel, dessen Schädlichkeit du eine Zeitlang wohl eingesehn und das du, aus Liebe zu mir, auch eine Weile vermieden und dich wohl befunden hattest« ( F A 30, 490). D i e tiefere Bedeutung des fortwährenden Kaffeekonsums in Goethes Jugendroman ist also evident: Wenn Werther ständig K a f f e e trinkt und später auch verstärkt zum Wein greift ( H A 6, 85), dann erklärt dies einmal mehr seinen Hang zur Melancholie.
3.
Werthers melancholische Erkrankung
Liest man Goethes Jugendroman aus dem Blickwinkel einer >historia morbiWilhelm Meisters theatralischer Sendung< ( F A 9, 68), vgl. ferner die Beurteilung in >Dichtung und Wahrheit« ( H A 9, 330).
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unternimmt daher alles, um sein erotisches Verlangen zu unterdrücken. Er stilisiert Lotte zur Heiligen, in deren Gegenwart alle sinnlichen Leidenschaften geläutert und zu einer keuschen Liebe sublimiert werden. »Sie ist mir heilig«, erklärt er am 16. Juli seinem Freund mit Nachdruck. »Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart« (HA 6, 39). Werther sakralisiert Lotte und beteuert in seinen Briefen mehrfach, daß die Liebe zu ihr über jedes körperliche Verlangen erhaben sei. Doch er täuscht sich - das sinnliche Begehren kann auf Dauer nicht unterdrückt werden; nach dem kurzen Zwischenspiel bei der Gesandtschaft tritt es immer stärker zutage. Erotische Phantasien bedrängen und peinigen Werther. Er vermag seine idealistische und rein platonische Liebe nicht aufrechtzuerhalten und versinkt in einem wilden Gefühlsaufruhr. 25 Die Beziehung zu Lotte steigert Werthers Melancholie ins hochgradig Pathologische, da keinerlei Aussicht auf Erfüllung seines sinnlichen Begehrens besteht. In diesem Sinne äußert sich auch Goethe in einem Brief vom 1. Juni 1774 an Gottlieb Friedrich Ernst Schönborn: »Allerhand Neues hab ich gemacht. Eine Geschichte des Titels >Die Leiden des jungen WerthersBriefe aus der SchweizVorgeschichte< nachträglich erzählen. Indem nun Säße auf die >Briefe aus der Schweiz< zurückgreift, um anhand ihrer A u s führungen Werthers gestörtes Verhältnis zur Sexualität aufzuzeigen, übernimmt er die Perspektive des fast fünfzigjährigen Goethe, der sich in nachitalienischer Zeit strikt von dem Exponenten seiner Jugenddichtung distanzierte, ihn sogar parodierte und karikierte. D u r c h den Perspektivenwechsel wird der Blick auf den ursprünglichen K o n f l i k t Werthers, wie er in dem 1774 entstandenen und 1786 erweiterten Werk angelegt ist, verstellt. G . Säße: Woran leidet Werther? Z u m Zwiespalt zwischen idealistischer Schwärmerei und sinnlichem Begehren. In: Goethe-Jahrbuch 1 1 6 (1999), S. 245-258.
prägte Liebesverhältnis verfällt Werther dann in immer stärkerem Maße der Melancholie, bis er zuletzt im Freitod seinem Leiden ein Ende setzt. 26
3.1.
Psychische Labilität
In der Schlußpartie des Briefes vom 30. Mai gesteht Werther, daß ihn das leidenschaftliche Verhältnis eines jungen Bauernburschen zu seiner Herrin so sehr angerührt habe, daß ihm nunmehr selbst der Sinn nach zärtlicher Liebe stehe. »Schelte mich nicht«, schreibt er an Wilhelm, »wenn ich dir sage, [...] daß mich das Bild dieser Treue und Zärtlichkeit überall verfolgt, und daß ich, wie selbst davon entzündet, lechze und schmachte« ( H A 6, 19). Die Erzählung des Bauernburschen hat Werther in eine heftige Gefühlserregung versetzt - er ist zur Liebe disponiert, und es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann sich seine richtungslose Leidenschaft auf eine bestimmte Einzelperson fixieren wird. Peter Pütz umschreibt Werthers Situation mit der pointierten Formulierung: »Die Liebe ist geweckt, bevor er die Geliebte überhaupt gesehen hat«. 27 Werthers glühende Leidenschaft konkretisiert sich schließlich in der Liebe zur ältesten Tochter des fürstlichen Amtmanns, um die, wie bereits der Brief vom 17. Mai betont, »viel Wesens« gemacht wird ( H A 6, 12). A m 16. Juni berichtet Werther von einer ersten Begegnung mit Lotte, die auf einem ländlichen Ball seine Aufmerksamkeit gefesselt hat. E r glaubt auf eine Seelenverwandte zu treffen, die genauso empfindet wie er selbst. In diesen seelischen Einklang mischen 16
In einer anregenden Studie hat A c h i m Aurnhammer Werthers Verhältnis zu Lotte unter einem inspirationstheoretischen Aspekt analysiert (Maler Werther. Z u r Bedeutung der bildenden Kunst in Goethes Roman. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 36 (1995), S. 83-104.). Aurnhammer deutet Goethes J u g e n d w e r k konsequent als Künstlerroman und erklärt, Werther »wähle« sich Lotte als inspirierende Muse, »nachdem« er erfahren habe, daß sie bereits verlobt sei: »Werther richtet seine A f f e k t e auf ein nicht erreichbares O b j e k t in der H o f f n u n g , die gestaute Energie durch Verschiebung als bildkünstlerischen Enthusiasmus nutzen zu können« (S. 1 0 1 ) . A u m hammers Untersuchung setzt sich in der Deutung des Verhältnisses zwischen Werther und Lotte über wesentliche Aussagen des Romantextes hinweg, wie die folgende Rekonstruktion des Handlungsverlaufs zeigen soll: A l s Werther auf dem Weg zum ländlichen Ball von einer Bekannten erfährt, daß Lotte bereits verlobt sei, reagiert er, da er Lotte noch nicht kennt, mit Desinteresse: »Die Nachricht w a r mir ziemlich gleichgültig« ( H A 6, 20). A l s Werther dann aber auf dem Ball von Lottes A n m u t zunehmend gefesselt ist und erneut von ihrer Verlobung hört, bemerkt er bestürzt: » N u n w a r mir das nichts Neues (denn die Mädchen hatten mir's auf dem Wege gesagt) und w a r mir doch so ganz neu, weil ich es noch nicht im Verhältnis auf sie, die mir in so wenig Augenblicken so wert geworden war, gedacht hatte« ( H A 6, 2 5 f.). Werthers Begeisterung f ü r Lotte entspringt also nicht dem kalkulierenden Wissen, daß sie bereits verlobt und damit f ü r ihn unerreichbar sei, sondern einer spontanen und unmittelbaren Empfindung.
27
Peter Pütz: Werthers Leiden an der Literatur. In: William J . Lillyman (Hg.): Goethe's Narrative Fiction. T h e Irvine Goethe Symposium, Berlin 1983, S. 55-68, hier S. 67.
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sich auf Seiten Werthers auch lebhafte Gefühle für Lottes sinnliche Reize. Ihre schwarzen Augen und lebendigen Lippen ziehen ihn ebenso an wie ihre harmonischen Bewegungen. Während des Balls tanzen Werther und Lotte mehrfach miteinander, bis ein aufziehendes Unwetter dem Tanzvergnügen ein vorzeitiges Ende bereitet. Schon am folgenden Tag stellt sich Werther bei Lotte ein, obwohl er mittlerweile erfahren hat, daß sie mit Albert, einem angehenden Juristen, »so gut als verlobt« ist (HA 6, 25). Da sich Albert auf einer längeren Geschäftsreise befindet, kann Werther den Gedanken, daß Lotte bereits einem anderen Mann versprochen ist, zunächst erfolgreich verdrängen. Wie sich schon bald zeigt, läßt das Verhältnis zu Lotte Werthers pathogene Züge immer stärker hervortreten. Vor allem die bereits in den Maibriefen diagnostizierte psychische Labilität verschärft sich zusehends. Werther schwankt unaufhörlich zwischen enthusiastischem Hochgefühl und depressiver Verzweiflung. Im Brief vom 21. Juni schreibt er voller Begeisterung: »Ich lebe so glückliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen aufspart« ( H A 6, 28). Und zu seinen Besuchen bei Lotte bemerkt er: »Dort fühl' ich mich selbst und alles Glück, das dem Menschen gegeben ist« (HA 6, 28). Diese von heller Euphorie bestimmten Zeilen stehen in äußerst scharfem Kontrast zu dem nur wenige Tage später, am 1. Juli geschriebenen Brief, in dem es heißt: »Was Lotte einem Kranken sein muß, fühl' ich an meinem eigenen armen Herzen, das übler dran ist als manches, das auf dem Siechbette verschmachtet« (HA 6, 31). Werthers Hochgefühle lassen sich nicht stabilisieren, sie schlagen von einem Augenblick zum nächsten in ihr Gegenteil um. Aufschlußreich und für den Melancholiker in besonderer Weise kennzeichnend ist dabei, daß sich die hektischen Stimmungsumschwünge ohne direkte äußere Einwirkung vollziehen. Albert ist für längere Zeit abwesend, so daß Werther bei seinen Zusammenkünften mit Lotte keinen Konkurrenten fürchten muß und ihre Aufmerksamkeit ganz für sich beanspruchen kann. Außerdem ist Lotte ihrem Verehrer herzlich zugetan und erlaubt ihm tägliche Besuche. Wenn Werther also dennoch über seine fortwährenden seelischen Erschütterungen klagt, so gründet dieses Leiden vor allem in seiner melancholischen Veranlagung. Werthers melancholisches Leiden - das ist von zentraler Bedeutung - wird durch das anfangs glückliche, dann aber zunehmend qualvolle Verhältnis zu Lotte nicht allererst hervorgerufen, sondern lediglich verschärft. Folglich kann es auch weder durch Lotte noch durch Albert nachhaltig geheilt werden. Bestätigt wird diese Sicht im Brief vom 3. N o vember 1772, in dem Werther explizit erklärt, die Quelle all seines Elends liege in ihm selbst - und nicht in einer seinen Wünschen sich widersetzenden Außenwelt (HA 6, 84). Die Sommerbriefe, die bereits von Werthers wachsender melancholischer Krankheit gekennzeichnet sind, schildern immer wieder heftige Stimmungsumschwünge. Am 28. August beispielsweise schreibt Werther: »Es ist ein herrlicher Sommer; ich sitze oft auf den Obstbäumen in Lottens Baumstück mit dem Obstbrecher, der langen Stange, und hole die Birnen aus dem
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Gipfel. Sie steht unten und nimmt sie ab, wenn ich sie ihr herunterlasse« ( H A 6, 54Í.). Diese Sommeridylle, die den Eindruck eines unbeschwerten Daseins weckt, wird im zwei Tage später folgenden Brief radikal zerstört; Selbstmitleid und Depressionen bestimmen erneut die Zeilen an Wilhelm ( H A 6, 55). Werther ist nicht in der Lage, seine Emotionen und Leidenschaften in ein ausgeglichenes Verhältnis zu bringen. Bereits geringe Anlässe führen dazu, daß seine A f f e k t e außer Kontrolle geraten: »Wie man eine Hand umwendet, ist es anders mit mir« ( H A 6, 76).
3.2.
Imagination und Wirklichkeitsverlust
Neben psychischer Labilität und emotionaler Unausgeglichenheit gehört insbesondere die überspannte Einbildungskraft zu den zentralen Symptomen einer melancholischen Erkrankung. Das hypersensible Imaginationsvermögen des Melancholikers befindet sich in einem fortwährenden Reizzustand; es manipuliert die Perzeption der Außenwelt, indem es die Sinneswahrnehmungen unablässig eigenen Phantasien unterwirft. Werthers Neigung, die Wirklichkeit projektiv zu überformen, tritt im Verhältnis zu Lotte mehr und mehr in den Vordergrund. Bereits im ersten Junibrief projiziert Werther auf Lotte all jene Charaktereigenschaften, die er selbst nicht besitzt: »So viel Einfalt bei so viel Verstand, so viel Güte bei so viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei dem wahren Leben und der Tätigkeit« ( H A 6, 19). Werther ist der sentimentalisch Zerrissene, dessen Sinne oft »gar nicht mehr halten wollen« ( H A 6, 17), Lotte hingegen zeichnet sich durch Heiterkeit und fröhliche Gelassenheit aus. Während Werther über sein »unstetes Herz« und sein »empörtes Blut« klagt ( H A 6, 10), bewährt sich Lotte durch Charakterstärke und Gemütsruhe. Außerdem erscheint sie als tätige und im Leben stehende Frau, die sich um ihre jüngeren Geschwister und ihren verwitweten Vater kümmert, während Werther ohne feste Aufgabe und ohne soziale Verpflichtung untätig vor sich hin lebt. Werther stattet Lotte genau mit jenen Attributen aus, die in scharfem K o n trast zu seinen eigenen Wesenszügen stehen. A u s seiner Perspektive erscheint sie als >schöne SeeleWas die Einbildungskraft für ein göttliches Geschenk ist,< rief ich aus, >ich konnte mir einen Augenblick vorspiegeln, als wäre es an mich geschrieb e n « (HA 6, 79). Immer wieder baut Werther eine Welt um sich auf, in der die als defizitär empfundene Wirklichkeit zugunsten eigener Wunschfiktionen suspendiert wird. Die hypertrophe Einbildungskraft hat jedoch nur selten diese kompensatorische Funktion, wie der Brief vom 12. September dokumentiert, in dem Werther Lottes spielerische Konversation mit einem Kanarienvogel beschreibt: »Als sie dem Tierchen den Mund hinhielt, drückte es sich so lieblich in die süßen Lippen, als wenn es die Seligkeit hätte fühlen können, die es genoß« (HA 6, 80). Lotte fordert Werther auf, sich ebenfalls von dem Kanarienvogel küssen zu lassen. Für sie handelt es sich bei diesem Spiel um eine Belustigung ohne jeden erotischen Hintergedanken, für Werther hingegen, dessen Imaginationsvermögen durch jedes noch so kleine Ereignis in Aufruhr versetzt wird, erweist sich die Episode als peinigender Zwischenfall: »Ich kehrte das Gesicht weg. Sie sollte es nicht tun, sollte nicht meine Einbildungskraft mit diesen Bildern himmlischer Unschuld und Seligkeit reizen und mein Herz aus dem Schlafe, in den es manchmal die Gleichgültigkeit des Lebens wiegt, nicht wecken!« (HA 6, 80).28 Immer häufiger regen im Herbst 1772 gewöhnliche Alltagsereignisse Werthers überspannte Phantasie an. Der Brief vom 26. Oktober beispielsweise berichtet, wie Lotte mit einer Freundin unbedeutende Stadtneuigkeiten austauscht. Die beiden unterhalten sich über Hochzeiten und leidvolle Krankheiten, die diesen oder jenen Mitbürger befallen haben: »Meine lebhafte Einbildungskraft«, erklärt daraufhin Werther, »versetzte mich ans Bett dieser Armen; ich sah sie, mit welchem Widerwillen sie dem Leben den Rücken wandten« (HA 6, 83). Bereits ein belangloses Gespräch zwischen Lotte und einer Freundin reicht aus, um Werther in wehmütige Spekulationen über das Elend unbekannter Menschen zu stürzen. Entscheidend ist dabei freilich, daß die anonymen Personen letztlich nur als Medien für das eigene Selbstmitleid dienen.
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Wie Waltraud Wiethölter bemerkt, handelt es sich bei dem Spiel mit dem Kanarienvogel um einen von der Rokoko-Malerei vielfach variierten Topos erotischer Verführung im Rahmen einer anstößigen Liaison. W. Wiethölter: Kommentar zu >Die Leiden des jungen Werthers< (FA 8, 969).
Schon bald nämlich stellt sich Werther die Frage, wie Lotte und Albert reagieren würden, wenn er selbst eines Tages sterben und ihren Kreis verlassen müßte ( H A 6, 83). Mit einer überspannten Einbildungskraft geht in der Regel ein Wirklichkeitsverlust einher, denn derjenige, der sich in imaginierte Welten zurückzieht, verliert mehr und mehr den Blick f ü r die äußere Realität. A u c h Werther erlebt im Verlauf seiner Beziehung zu Lotte einen sich ständig steigernden Wirklichkeitsverlust. Bereits die erste Begegnung mit Lotte ruft bei ihm einen solchen Gefühlsüberschwang hervor, daß er die Signale der Außenwelt, die unmittelbar auf sein Sensorium einwirken, nicht mehr wahrnimmt. »Ich stieg aus dem Wagen wie ein Träumender, als wir vor dem Lusthause stille hielten, und war so in Träumen rings in der dämmernden Welt verloren, daß ich auf die Musik kaum achtete, die uns von dem erleuchteten Saal herunter entgegenschallte« ( H A 6, 24). Immer wieder begegnen in Werthers Briefen die zentralen Begriffe >Traum< und >DämmerungLenzAnatomy of Melancholy* von 16z ι. Hier stößt man auf ein kaum zu überblickendes Arsenal antimelancholischer Heilmittel.3^ Obwohl die antike Medizin die Melancholie überwiegend als somatisch bedingte Krankheit diagnostiziert, kommt den psychotherapeutischen Heilmethoden von Anfang an eine besondere Bedeutung zu. Schon in der Spätantike etabliert sich ein relativ fester Kanon psychotherapeutischer Maßnahmen, der dann konstant bis in die Neuzeit tradiert wird. Zu den wichtigsten Palliativen zählt man erheiternde und aufmunternde Gespräche, Reisen und gelegentliche Ortswechsel, eine klar strukturierte Tageseinteilung sowie produktive und abwechslungsreiche Tätigkeit. All diese Maßnahmen sollen den Melancholiker von seiner permanenten Fixierung auf die eigene Krankheit ablenken und seine depressive Stimmung lindern. Auch die >schönen Künste< werden als ästhetische Heilmittel für die psychotherapeutische Methode nutzbar gemacht. Insbesondere die Musik und die Dichtung sollen die seelischen Verspannungen des Melancholikers lösen, indem sie reinigend auf seine Affekte einwirken und ihn je nach Stimmungslage erheitern oder beruhigen. 37 In Goethes Wertherroman begegnen so gut wie alle Therapieformen, die im vorausgehenden Abschnitt kursorisch angesprochen wurden. Schon der erste Brief vom 4. Mai verrät, daß sich Werther auf Wunsch seiner Mutter zu einer Reise entschlossen hat, die ihn von seinen seelischen Konflikten und melancho,6
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Die antimelancholische Heilpraxis der Antike und des Mittelalters wird ausführlich untersucht bei Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, S. 39-199. Die hier vorliegende Aufzählung berücksichtigt nur die bedeutendsten und durch die Jahrhunderte konstant überlieferten antimelancholischen Heilmittel. Selbstverständlich haben sich in der langen Traditionsgeschichte der Melancholie immer wieder auch neue und von den etablierten Behandlungsmethoden abweichende Praktiken herausgebildet.
lischen N e i g u n g e n ablenken soll. D i e Therapie scheint zunächst auch anzuschlagen. »Ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein«, schreibt Werther an seinen F r e u n d Wilhelm ( H A 6, 7). D e n traditionellen psychotherapeutischen Vorstellungen zufolge k o m m t Wilhelm die wichtige Funktion zu, als enger Vertrauter immer wieder mahnend, ermutigend und ausgleichend auf Werther einzuwirken. A l s sich dessen Gesundheitszustand zusehends verschlechtert, bemüht sich Wilhelm, eine Anstellung bei der Gesandtschaft zu vermitteln. Sie soll Werther v o n seiner wehleidigen Fixierung auf die eigene N o t l a g e kurieren und ihn durch produktive Tätigkeit p s y chisch stabilisieren. N e b e n diesen Therapieversuchen spielen auch Dichtung und M u s i k als ästhetische Heilmittel eine wichtige Rolle. Wenn Werther in seinem H o m e r liest oder bisweilen auch Lotte beim Klavierspielen zuhört, so übt dies eine besänftigende und melancholiebannende Wirkung auf ihn aus. D i c h tung und M u s i k gelten jedoch seit jeher als höchst ambivalente Heilmittel, da sie bei falscher A u s w a h l oder ungeschickter D o s i e r u n g auch zu gegenteiligen Ergebnissen führen und die Melancholie in erheblichem Maße verschärfen können. Diese gegensätzlichen Wirkungen der Dichtung und der M u s i k treten im Wertherroman deutlich zutage. Schließlich rückt auch die soziale Integration als melancholiemindernde K r a f t ins Blickfeld. G e r a d e der U m g a n g mit vertrauten Personen könnte Werther v o r seiner permanenten Introspektion bewahren, die ihn immer tiefer in die Melancholie treibt. Werther fällt der U m gang mit Menschen nicht schwer, er versteht es, schnell K o n t a k t e zu knüpfen. D e n n o c h erscheint er von Beginn an als isolierter Einzelgänger, der zu seinen Weggefährten in unüberwindlicher Distanz verharrt - der flüchtige K o n t a k t zu anderen Personen dient letztlich nur der melancholisch-narzißtischen Selbstbespiegelung. Einzig und allein zu Lotte baut Werther eine intensivere Beziehung auf, die freilich auch nicht frei ist v o n subjektivistischen Trübungen auch hier offenbart sich wiederholt ein A u s m a ß an E g o z e n t r i k , das jede z w i schenmenschliche Beziehung zerstören muß.
5.1.
Ästhetische Heilmittel - Dichtung und M u s i k
D i e Vorstellung einer Melancholie-Therapie mit ästhetischen Mitteln reicht zurück bis in die A n f ä n g e der abendländischen Kultur. Bereits in der A n t i k e verweisen A u t o r e n auf die konfliktlösende und melancholiebannende K r a f t der Kunst. N e b e n der M u s i k gilt insbesondere die Dichtung als erfolgreiches T h e rapeutikum im K a m p f gegen die v o n der Melancholie verursachten Leiden.' 8 In mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten offenbart sich eine ähnliche A u f f a s s u n g v o n Literatur. A u c h hier betonen Schriftsteller neben dem didakti38
Vgl. Hellmut Flashar: Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung in der griechischen Poetik. In: Hermes 84 (1956), S. 12-48. 8}
sehen Wert ihrer Werke wiederholt deren therapeutisches Potential. In Vorreden und Widmungsbriefen beteuern sie, vor allem deswegen zur Feder gegriffen zu haben, um sich selbst und ihren Lesern eine aufheiternde >recreatio< zu verschaffen. 39 Oft berufen sie sich auf die allgemein anerkannte Autorität des Horaz, dessen Poetik das >delectare< neben das >prodesseDichtung und Wahrheit< schreibt er, daß die »wahre« Poesie »durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken« (HA 9, 580). Dieses positive Dichtungsverständnis provoziert bereits in der Antike eine Gegensicht, die der Literatur keine heilende, sondern eine den Menschen gefährdende Macht zuschreibt. Bereits Piaton verweist in seiner >Politeia< (377a398b) auf die schädliche Wirkung der Dichtung, die seines Erachtens die Phantasie des Rezipienten im Ubermaß reize und ungesunde Leidenschaften hervorrufe. Auch in der Neuzeit erheben Kritiker wiederholt den Vorwurf, Literatur untergrabe die seelische Gesundheit des Lesers, da sie eine Vielzahl melancholischer Affekte entfache. Goethes Zeitgenosse Johann Georg Hamann etwa betont, häufige Lektüre sei mitunter »der gefährlichste Dünger« für das Unkraut seines »hypochondrischen Bodens«. 40 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß auch der Wertherroman unmittelbar nach seiner Erstpublikation ins Visier der Literaturkritik gerät, da er eine schwärmerische und die Melancholie verschärfende Grundtendenz zu enthalten scheint. Als besonderes Ärgernis empfindet man dabei, daß die in einem vermeintlich positiven Licht dargestellte Werthergestalt die Leser zur Identifikation einlade. Goethe sieht sich nicht zuletzt aufgrund dieser scharfen Kritik veranlaßt, in der Auflage von 1775 dem zweiten Romanteil ein vierzeiliges Motto voranzustellen, in dem es aus der Sicht Werthers bewußt distanzierend heißt: »Sei ein Mann und folge mir nicht nach«.41
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Vgl. Heinz-Günter Schmitz: Das Melancholieproblem in Wissenschaft und Kunst der frühen Neuzeit, S. 156—160. Ders.: Phantasie und Melancholie. Barocke Dichtung im Dienst der Diätetik. In: Medizinhistorisches Journal 4 (1969), S. 210-230. Johann Georg Hamann: Briefwechsel, hg. v. Walther Ziesemer u. Arthur Henkel, Bd. 5, Wiesbaden/Frankfurt a.M. 1965, S. 71. Vgl. zu Hamann die Ausführungen von Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 278-292. Goethe: Motto-Verse zur 2. Auflage des >Werther< (HA 6, 532). Interessant ist, daß Goethe, dessen >Werther< von der zeitgenössischen Literaturkritik mit den Begriffen des >UngesundenWidernatürlichen< und >Wahnhaften< torpediert wird, später dieselben Kategorien zur Charakterisierung anderer Autoren verwendet. Vor allem in seiner klassischen Zeit kritisiert Goethe mit Vehemenz das >KrankhafteSchwermütige< der romantischen Kunstauffassung.
Vor dem Hintergrund einer psychotherapeutischen Dichtungstheorie zeigt sich, daß Goethe in seinem Jugendroman sowohl die melancholiemindernde als auch die melancholieverschärfende Seite der Literatur deutlich profiliert. Wie kaum ein anderes Werk des 18. Jahrhunderts besticht der >Werther< durch seine zahlreichen literarischen Bezüge - immer wieder werden die N a m e n prominenter Autoren und die Titel bedeutender Werke genannt: neben den Epen H o mers vor allem Klopstocks >FrühlingsfeierEmilia Galotti< und James Macphersons >Ossianlesender H e i d s der auf seinen ausgedehnten Streifzügen durch die N a t u r immer von Büchern begleitet wird. Z u Beginn des R o mans liest er überwiegend in den Epen Homers, die das Helle und Vitale repräsentieren, im weiteren Verlauf treten dann nach und nach die Gesänge Ossians in den Vordergrund, die für das Dunkle, Abgründige und Todesverfallene stehen. In ihrem Einfluß auf Werthers Psyche bilden H o m e r und Ossian einen scharfen Gegensatz. Während die Homer-Dichtung Werthers anfängliche Melancholie zu lindern vermag, unterminiert die Ossian-Lektüre seine seelische Verfassung und forciert in erheblichem Maße seine fortschreitende melancholische Erkrankung. 4 3 Werthers Homer-Lektüre läßt sich nach funktionalen Gesichtspunkten in zwei unterschiedliche Kategorien einteilen. Z u m einen regt die Homerische Dichtung Werthers Einbildungskraft an und ermöglicht ihm, die als defizitär erlebte Wirklichkeit nach mythisch-archaischen Vorstellungsmustern umzuformen. Z u m anderen wirken die Epen Homers beruhigend auf Werthers melancholische Leidenschaften und regulierend auf seine unkontrollierten G e fühlsausbrüche. Die Homerische Dichtung erfüllt damit im Rahmen einer psychotherapeutischen Melancholiebehandlung eine äußerst wichtige Funktion. Bereits in den frühen Maibriefen erwähnt Werther die heilenden Energien, die er aus dem Werk des H o m e r zu schöpfen vermag. A m 13. Mai schreibt er an Wilhelm, der ihm einige erbauliche Bücher senden will: »Lieber, ich bitte dich 42
Ralph-Rainer Wuthenow verweist zurecht auch auf die außerordentliche Bedeutung der Rousseauschen Dichtung f ü r Goethes >WertherWerther< eine entscheidende Rolle spielt, [...] dann ist dies Jean-Jacques Rousseau. D o c h gerade er wird - wahrscheinlich weil dies gar nicht mehr nötig ist, so evident ist seine heimliche Anwesenheit - nicht genannt. [...] Weil er unausgesprochen in diesem Buch gegenwärtig ist, muß Goethe seinen N a m e n absichtlich verschwiegen haben«. R . - R . Wuthenow: Im Buch die Bücher oder der H e l d als Leser, Frankfurt a.M. 1980, S. 65.
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In einem Gespräch mit dem englischen Juristen H e n r y C . Robinson (1829) verteidigt sich Goethe gegen den V o r w u r f , sein R o m a n habe die Ossian-Dichtung in M o d e gebracht. E r beruft sich dabei auf das Prinzip der literarischen Spiegelung. In Robinsons Tagebuch heißt es über Goethe: » H e smiled and said: >That's partly true; but it was never perceived by the critics that Werther praised H o m e r while he retained his senses, and Ossian when he was going mad«< ( H A 6, 541).
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um Gottes willen, laß mir sie vom Halse! Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst; ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer« (HA 6, ι o). In seinem Verhältnis zu Büchern zeigt sich Werther von Anfang an gespalten. Didaktische und pädagogisch erbauliche Bücher lehnt er entschieden ab, Homer hingegen verehrt er mit großer Emphase, da dieser »Wiegengesang« für sein »brausendes Herz« bereithält. Werther findet in den Homerischen Epen ein Heilmittel, das seine heftigen Affekte eindämmt und ausgleichend auf seine melancholischen Leidenschaften einwirkt. Die Dichtung Homers stabilisiert seine Psyche, da sie ihn mit einer antimelancholischen Gegenwelt konfrontiert. Werther als der sentimentalisch Zerrissene findet hier - und zwar vor allem in der >Odyssee< - das Naive und Vitale, das Kräftige und Gesunde, das Schlichte, Volkstümliche und Idyllische, schließlich auch die einfache Lebensform des archaischen Patriarchalismus, die er mehrfach zum gesellschaftlichen Ideal verklärt (HA 6, 10 und 29). Wie konsequent Werther die lichte Homerische Welt als Therapeutikum gegen seine melancholischen Verstimmungen einsetzt, zeigt sich besonders deutlich in der Schlußpartie der Gesandtschaftsepisode: Werther hält sich in seiner Funktion als Gesandtschaftssekretär in den Gemächern des Grafen auf und ist mit diesem in ein anregendes Gespräch vertieft. Er ist sich nicht bewußt, daß er aufgrund seiner bürgerlichen Herkunft das Feld räumen muß, als sich nach und nach eine adelige Abendgesellschaft einfindet. Der Graf bemerkt schließlich, daß sich die geladenen Gäste über Werthers Anwesenheit echauffieren und bittet ihn deshalb, die höfische Soirée umgehend zu verlassen. Werther zieht sich sogleich aus der Gesellschaft zurück. »Ich strich mich sacht aus der vornehmen Gesellschaft«, schreibt er an Wilhelm, »ging, setzte mich in ein Kabriolett und fuhr nach M.., dort vom Hügel die Sonne untergehen zu sehen und dabei in meinem Homer den herrlichen Gesang zu lesen, wie Ulyß von dem trefflichen Schweinhirten bewirtet wird« (HA 6,69). Der von einem lächerlichen Standesdünkel diktierte Verweis aus der Adelsgesellschaft hat Werther tief getroffen. U m sich in dieser Situation mental zu stärken, greift er zur >Odyssee< und liest aus ihr den vierzehnten Gesang, jene Episode also, in welcher der als Bettler verkleidete und in die Heimat zurückkehrende Odysseus von seinem alten Schweinehirten Eumaios mit Ehren bewirtet wird. »Das war alles gut«, schreibt Werther an Wilhelm über die beruhigende und ausgleichende Wirkung, die diese Erzählung auf ihn ausübt.44 44
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Werther behauptet zwar, daß er sich über den Verweis aus der adeligen Gesellschaft erst ärgere, als die breite Öffentlichkeit davon erfahre, tatsächlich aber verletzt ihn bereits der Verweis als solcher. Werther verrät sich durch sein Leseverhalten: D e r inszenierte Kontrast zwischen gesellschaftlicher Realität (Demütigung) und dichterischer Fiktion (Gastfreundschaft) erlaubt eindeutige Rückschlüsse auf sein gekränktes E g o . Vgl. hierzu Hans Rudolf Vaget: >Die Leiden des jungen WerthersOdyssee< darstellt ( H A 6, 10). A m 2 1 . Juni berichtet Werther dann, daß er bei seinen häufigen Ausflügen nach Wahlheim gerne im dortigen Wirtshaus einkehre, weil er sich an diesem Ort wie ein »Freier der Penelope« fühlen könne ( H A 6, 29). Die Homer-Lektüre steht also in einer engen Beziehung zu Werthers äußerer Umwelt. Wirklichkeit und Fiktion, Gelebtes und Gelesenes greifen hier noch ineinander. Die Ossian-Lektüre hingegen löst beide Bereiche voneinander ab. Hier weitet sich die Fiktion zur Totalität und blockiert damit jeden Bezug zur Realität. Werther wird mit solcher Kraft in die nordische Nebelwelt hineingezogen, daß er schließlich selbst über die Heide zu wandern glaubt und wehmütig klagend nach dem »grauen Barden« Ausschau hält. Besonders deutlich manifestiert sich die literarische Sogwirkung der dunklen Heldendichtung im Brief vom 12. Oktober: »Welch eine Welt«, schreibt Werther über Ossian, »in die der Herrliche mich führt! Z u wandern über die Heide, umsaust vom Sturmwinde, [...] zu hören vom Gebirge her, im Gebrülle des Waldstroms, halb verwehtes Ächzen der Geister aus ihren Höhlen« ( H A 6, 82). Die Schilderung der Ossian-Welt ist grammatikalisch zunächst noch unpersönlich gehalten (>zu wandernzu hörenSongs of SelmaBerrathonSongs of Selma< miteinander verknüpft sind, handeln von dem tragischen Tod junger Männer und von den wehmütigen Klagen junger Frauen. Diese Klagen sind eingebettet in eine melancholische Naturschilderung, die zahlreiche Motive aus der empfindsamen Naturlyrik aufgreift. Immer wieder ist es Nacht, dunkle Nebelschwaden liegen über der Heide, dichte Wolkenmassen ziehen vorüber, der Wind rauscht, Wasserströme jagen dahin, der Abendstern strahlt vom Himmel herab, der Mond taucht die Ebene in mattes Licht und beleuchtet die Grabhügel, unter denen die jungen Männer ihre letzte Ruhe gefunden haben. Die Ossianischen Gesänge schöpfen das dunkel-schwermütige Stimmungsarsenal der Empfindsamkeit voll aus und verbinden es mit der permanenten Evokation des tragisch erlittenen Todes. Werthers und auch Lottes melancholische Seelenstimmung wird von den tosenden Stürmen der dunklen und abgründigen Nebelwelt, von den tragischen Schicksalen der Helden und den wehmütigen Todesklagen der jungen Frauen auf das äußerste angefacht. Entfesselte Leidenschaften und flirrende Gefühlsschauer bestimmen das Verhältnis zwischen beiden Protagonisten: »Er warf sich vor Lotten nieder in der vollen Verzweifelung, faßte ihre Hände, drückte sie in seine Augen, wider seine Stirn, und ihr schien eine Ahnung seines schrecklichen Vorhabens durch die Seele zu fliegen. Ihre Sinne verwirrten sich, sie drückte seine Hände, drückte sie wider ihre Brust, neigte sich mit einer wehmütigen Bewegung zu ihm, und ihre glühenden Wangen berührten sich«. Für 88
einen Augenblick erwidert Lotte Werthers verzweifeltes und von Todesahnung bestimmtes Liebesbekenntnis: »Die Welt verging ihnen«, bemerkt der Erzähler ( H A 6, 115). 4 6 Werthers melancholische Suizidneigung wird durch die todesschwangere Welt der Ossian-Dichtung ins Unermeßliche gesteigert. Der Tod der jungen Helden wie auch das Ende des singenden Barden erscheinen ihm als Antizipationen des eigenen Todes. Werthers Melancholie findet hier keinen »Wiegengesang« mehr wie einst im Homer, sondern Totenklage. Die OssianGesänge intonieren sein eigenes Requiem. Neben der Dichtung gilt seit jeher auch die Musik als ästhetisches Heilmittel gegen die Melancholie. Bereits in vorchristlicher Zeit findet man zahlreiche Beispiele für ihren hohen psychotherapeutischen Stellenwert. Das älteste und sicherlich auch prominenteste Beispiel für eine musikalische Melancholietherapie überliefert das Alte Testament mit der Geschichte von Saul und David. Saul wird von einem bösen Geist beherrscht und verfällt in schwere Depressionen, das Harfenspiel Davids jedoch verschafft ihm sanfte Linderung: »So nahm D a vid die Harfe und spielte mit seiner Hand; so erquickte sich Saul und es ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm« (1 Sam 16, 23). A u c h im Mittelalter setzt man die Musik - unter Berufung auf das Beispiel Davids - immer wieder als psychotherapeutisches Heilmittel gegen die Melancholie ein. Ein aufschlußreiches Dokument aus dem Jahre 1500 berichtet beispielsweise von dem Maler H u g o van der Goes, der, von der Melancholie befallen, zu einem Pater nach Brüssel gebracht wird: »Nach genauer Untersuchung fand dieser, der Patient sei von der gleichen Krankheit befallen wie Saul. U n d da er sich erinnerte, wie Saul erleichtert wurde, wenn David die Harfe spielte, gab er sofort A n weisung, daß in H u g o s Gegenwart fleißig musiziert werde. A u c h f ü r anderweitige Schauspiele und Erholung sorgte er, um die Phantasiegebilde des Gemütskranken zu vertreiben«. 47 In der Neuzeit gilt die Musik ebenfalls als ästhetisches Heilmittel, das die seelischen Konflikte des Melancholikers zu lösen und seine Hirngespinste zu vertreiben vermag. Die Musik, so die weitverbreitete Vorstellung, ist einerseits imstande, die Traurigkeit und den Trübsinn des Melancholikers zu lindern, andererseits aber vermag sie auch, dessen wahnhafte Leidenschaften und Rasereien einzudämmen. In einer 1803 publizierten psychotherapeutischen Schrift erklärt der A r z t Johann Christian Reil: »Die Musik beruhigt den Sturm der Seele, verjagt die Nebel des Trübsinns, und dämpft zuweilen den regellosen Tumult in der Tobsucht mit dem besten Erfolg. Daher ist
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Hans Rudolf Vaget betont, daß die eigentümliche Wortwahl dieses Satzes an einen »wirklichen Liebesakt« erinnere. »Werther hat [...] die völlige Vereinigung mit der Geliebten erreicht, wenn auch nur im Medium einer poetisch verklärten Todeserwartung«. H . R . Vaget: >Die Leiden des jungen WerthersGoldberg-VariationenAnatomy of Melancholy< heißt es: »Ein Glockenspiel, die Melodie, die ein Fuhrmann pfeift, ein Tanzlied, von einem Burschen vor Morgengrauen in der Straße gesungen: all das verwandelt, belebt, erheitert einen Patienten, der während der Nacht schlaflos gelegen hat«. 50 Lotte hebt in den oben zitierten Briefen vor allem die aufheiternde Wirkung der Musik hervor, Werther betont hingegen - wie sich im folgenden zeigen wird - insbesondere ihren beruhigenden und besänftigenden Einfluß. Immer wieder fühlt sich Werther in der Gegenwart Lottes von einem G e f ü h l seelischer Verwirrung und ohnmächtiger Verzweiflung erfaßt. Wenn Lotte sich dann an ihr Klavier setzt und eine bekannte Melodie erklingen läßt, erfährt er die reinigende Wirkung der Musik, die ihn von seinen Hirngespinsten und fixen Ideen wieder befreit. Im Brief vom 16. Juli schreibt er: »Sie hat eine Melodie, die sie auf dem Klaviere spielet mit der Kraft eines Engels, so simpel und so geistvoll! Es ist ihr Leiblied, und mich stellt es von aller Pein, Verwirrung und Grillen her, wenn sie nur die erste Note davon greift« ( H A 6, 39). Im gleichen Brief äußert sich Werther auch in allgemeiner Hinsicht über die melancholiebannende Wirkung der Musik, indem er auf die magische Kraft verweist, die der Tonkunst bereits in antiken Dichtungen, wie etwa dem Orpheus-Mythos, zugesprochen wird: »Kein Wort von der Zauberkraft der alten Musik ist mir unwahrscheinlich«, schreibt Werther an seinen Freund Wilhelm, um dann wieder auf Lotte zurückzulenken: »Wie mich der einfache Gesang angreift! U n d wie sie ihn anzubringen weiß, oft zur Zeit, w o ich mir eine Kugel vor den Kopf schießen möchte! Die Irrung und Finsternis meiner Seele zerstreut sich, und ich atme wieder freier« ( H A 6, 39). Gerade dann, wenn melancholische Stimmungen den Gedanken an einen Selbstmord aufkeimen lassen, vermag die Musik mittels ihRobert Burton: A n a t o m y of Melancholy. Zit. η. Jean Starobinski: Geschichte der Melancholiebehandlung, S. 84.
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rer psychotherapeutischen Kraft beruhigend und entspannend auf Werther einzuwirken. Die seelischen Verkrampfungen lösen sich, die aufgepeitschten Leidenschaften ebben ab, und das >taedium vitae< weicht einem neuen Lebensoptimismus. Die gleiche Erfahrung läßt Goethe übrigens auch den Melancholiker Faust machen, der sich nach den fehlgeschlagenen Entgrenzungsversuchen in der >MakrokosmosErdgeistTasso< die lösende und kathartische Wirkung der Musik. Die Prinzessin hat über viele Jahre hinweg nicht am höfischen Leben teilnehmen können, da eine schwere Krankheit sie an das Bett fesselte. Im Gespräch mit der Gräfin erinnert sich Leonore an die traurigen Jahre der krankheitsbedingten Einsamkeit, in der ihr allein die Musik Trost und Heilmittel war (V. i8o6ff.): Eines war, Was in der Einsamkeit mich schön ergötzte, Die Freude des Gesangs; ich unterhielt Mich mit mir selbst, ich wiegte Schmerz und Sehnsucht Und jeden Wunsch mit leisen Tönen ein.' 1
Man könnte hier noch eine lange Reihe literarischer Figuren anführen, deren melancholische Leiden durch die Kraft der Musik gelindert werden. Wie oben bereits angedeutet, geht von der Musik jedoch auch eine Gefahr aus, die unter gewissen ungünstigen Bedingungen zu einer Eskalation der Melancholie füh-
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Auch Wallenstein verweist in Schillers Dramentrilogie auf die melancholiebannende Kraft der Musik. Er erhofft sich von Theklas Gesang und Zitherspiel die Vertreibung seiner krankhaften und alptraumhaften Schreckensvisionen: »Es ist ein guter Geist auf deinen Lippen«, erklärt er seiner Tochter, »die Mutter hat mir deine Fertigkeit / Gepriesen, es soll eine zarte Stimme / Des Wohllauts in dir wohnen, die die Seele / Bezaubert. Eine solche Stimme brauch / Ich jetzt, den bösen Dämon zu vertreiben, / Der um mein Haupt die schwarzen Flügel schlägt« (>Wallensteins TodLebensansichten des Kater Murre »Nur einen Engel des Lichts gibt es«, so Kreisler, »der Macht hat über den bösen Dämon. Es ist der Geist der Tonkunst, [...] vor dessen mächtiger Stimme alle Schmerzen irdischer Bedrängnis verstummen«. E.T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke, hg. v. Wulf Segebrecht u. Hartmut Steinecke, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1992, S. 83.
ren kann.' 2 Einen ersten Hinweis auf die ambivalente Macht der Musik gibt der Brief v o m 24. November, in dem Werther über sein kaum noch zu bändigendes Liebesverlangen klagt. Lotte facht mit ihren sinnlichen Reizen seine Leidenschaften so sehr an, daß er sich kaum noch zu beherrschen weiß. Lotte erkennt Werthers Gefühlsregungen und begibt sich ans Klavier, da sie ihm anders nicht zu helfen weiß. »Sie nahm ihre Zuflucht zum Klavier und hauchte mit süßer, leiser Stimme harmonische Laute zu ihrem Spiele. N i e habe ich ihre Lippen so reizend gesehn; es war, als wenn sie sich lechzend öffneten, jene süßen Töne in sich zu schlürfen, die aus dem Instrument hervorquollen, und nur der heimliche Widerschall aus dem reinen Munde zurückklänge« ( H A 6, 87). Lottes Klavierspiel vermag Werther nicht mehr zu beruhigen, sondern stachelt seine kaum noch zu zügelnden Leidenschaften weiter an. Lotte erscheint geradewegs als Femme fatale, die mit ihrem betörenden Sirenengesang Werther in einen erotischen Sinnestaumel versetzt - ihre »reizenden« Lippen öffnen sich »lechzend«, um die »süßen Töne« zu »schlürfen«, die aus dem Klavier hervorquellen. In dem oben zitierten Brief offenbart sich erstmals die entgegengesetzte Wirkung der Musik - ihr emotionalisierender und Werthers Imagination im Übermaß anregender Charakter. Diese Seite der Musik wird auch im Brief vom 4. Dezember thematisiert: Lotte stimmt eine Melodie an, die Werther bereits aus vergangenen Tagen wohlvertraut ist ( H A 6, 39) und die nun, da er sie erneut vernimmt, eine Vielzahl von Erinnerungen wachruft. »Und auf einmal fiel sie in die alte, himmelsüße Melodie ein, [...] und mir durch die Seele gehn ein Trostgefühl und eine Erinnerung des Vergangenen, der Zeiten, da ich das Lied gehört, der düstern Zwischenräume des Verdrusses, der fehlgeschlagenen Hoffnungen, und dann - Ich ging in der Stube auf und nieder, mein Herz erstickte unter dem Zudringen. - >Um Gottes willen«, sagte ich, mit einem heftigen Ausbruch hin gegen sie fahrend, >um Gottes willen, hören Sie auf!Anatomy of Melancholy< aufzuzeigen vermag. Burton berichtet unter anderem von Autoren wie Homer, Plutarch und Montaltus, die alle in der Untätigkeit eine Hauptursache für melancholische Erkrankungen gesehen haben. Montaltus etwa vertritt laut Burton die Meinung, daß »die Untätigen häufiger der Schwermut anheimfallen als diejenigen, die mit einem Amte betraut sind oder Geschäften nachgehen«. Plutarch glaubt gar, im Müßiggang »die alleinige Ursache seelischer Erkrankungen« entdecken zu können. Burton selbst äußert sich über die Auswirkungen des Müßiggangs folgendermaßen: »Nichts erzeugt leichter Melancholie, nichts nährt und verschlimmert sie mehr als Inaktivität, ein Gebrechen, das allen Müßiggängern vertraut ist und das süße Leben wie ein unzertrennlicher Weggefährte begleitet«.54 Auch Goethe thematisiert in zahlreichen Werken die melancholieverschärfende Wirkung der Untätigkeit. Wer keiner Beschäftigung nachgeht, keine konkreten Ziele verfolgt und keine sozialen Verpflichtungen übernimmt, der erliegt schnell der Gefahr, nur noch das eigene Ich wahrzunehmen und in quälender Introspektion der Melancholie anheimzufallen. Als Beispiel für die negativen Auswirkungen der Untätigkeit sei hier an den Hauptmann aus den >Wahlverwandtschaften< erinnert, der sehr darunter leidet, keiner ihn ausfüllenden Beschäftigung nachgehen zu können. In einem Gespräch mit Charlotte äußert sich Eduard besorgt über seinen Jugendfreund: »In seinem letzten Briefe herrscht ein stiller Ausdruck des tiefsten Mißmutes; nicht daß es ihm an irgendeinem Bedürfnis fehle, denn er weiß sich durchaus zu beschränken, [...] daß er geschäftlos ist, das ist eigentlich seine Qual« (HA 6, 244). Während Müßiggang und Untätigkeit die Melancholie verschärfen, wirken Tätigkeit und Aktivität melancholiemindemd, manchmal entfalten sie sogar heilende Kräfte. Die produktive Arbeit gilt daher seit ältester Zeit als eines der wichtigsten Therapeutika im Kampf gegen melancholische Krankheiten. Auch " Goethe selbst hat in seinem langen Leben sowohl die heilende als auch die seelisch angreifende Kraft der Musik erfahren. Die beeindruckendsten Zeugnisse hierfür verbinden sich mit seiner Marienbader Leidenschaft von 1823. Vgl. dazu den Brief Goethes anZeltervom 24. August 1823 sowie die Ausführungen von Erich Trunz (HA 6,594). Vgl. außerdem den Aufsatz von Dieter Borchmeyer: >Götterwelt der TöneLehrjahre< wie auch die >Wanderjahre< zeichnen sich geradezu durch eine Tätigkeitsphilosophie aus, die auf eine aktive Aneignung der Welt ausgerichtet ist und das Individuum somit vor einer weltlosen Innerlichkeit bewahrt. In den >Lehrjahren< formuliert der A r z t der schönen Seele die zentrale Maxime: »Tätig zu sein [...] ist des Menschen erste Bestimmung« ( H A 7 , 4 1 5 ) . In den >Wanderjahren< wird die produktive Tätigkeit sogar als antimelancholisches Heilmittel par excellence empfohlen: »Seelenleiden, in die wir durch Unglück oder eigne Fehler geraten, sie zu heilen vermag der Verstand nichts, die Vernunft wenig, die Zeit viel, entschlossene Tätigkeit hingegen alles« ( H A 8, 281). Untätigkeit und Passivität spielen auch in Goethes Jugendroman eine wichtige Rolle. Werther erscheint von Beginn an als überzeugter Müßiggänger, der sich ausschließlich von spontanen Neigungen treiben läßt. E r verachtet die A r beit und verschreibt sich allein dem augenblicklichen Genuß, er geht so gut wie allen sozialen Verpflichtungen aus dem Weg und verfolgt nur selten eine über den Tag hinausreichende Aufgabe. Lediglich die sporadischen Malversuche lassen eine gewisse Kontinuität erkennen. Werther versagt sich keinen Wunsch und gibt jedem flüchtigen Begehren nach: »Auch halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihm gestattet« ( H A 6, 10). Bereits in den Maibriefen artikuliert Werther seine Abneigung gegen jede F o r m des sogenannten >BroterwerbsArbeit< und >Freiheit< schließen sich für ihn kategorial aus. Ebenso kritisiert Werther die Aktivitäten, mit denen die meisten Menschen ihre Freizeit ausfüllen - er hat nur H o h n und Spott f ü r sie übrig: »Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden. O Bestimmung des Menschen!« ( H A 6 , 1 1 ) . Werther vermeidet jede anstrengende Tätigkeit und zögert lange, in ein festes Arbeitsverhältnis einzutreten; er will - wie bereits aus dem Brief vom 4. Mai hervorgeht - vor allem sich selbst genießen. Die frühen Briefe belegen auf eindrucksvolle Weise, in welchem Maße Müßiggang und Untätigkeit auf die Selbstwahrnehmung zurückwirken können. Da Werther sich nie einer wirklichen Aufgabe verschreibt, totalisiert er seine spontanen Bedürfnisse und versinkt in einem hemmungslosen Subjektivismus. Die prekäre Liebesbeziehung zu Lotte und die pausenlose Fixierung auf die eigene Innerlichkeit stürzen Werther schließlich immer tiefer in die Melancholie, so daß seine Mutter und sein Freund Wilhelm ihn mehrfach drängen, als G e sandtschaftssekretär in die Dienste des Grafen von C.. einzutreten. Werther lehnt diesen Vorschlag zunächst ab, da er jede F o r m der Arbeit geringschätzt und insbesondere vor dem Gedanken zurückschreckt, sich einem Vorgesetzten 95
unterstellen zu müssen. A n Wilhelm schreibt er am 20. Juli 1771: »Ich liebe die Subordination nicht sehr [...]. Meine Mutter möchte mich gern in Aktivität haben, sagst du, das hat mich zu lachen gemacht. [...] Alles in der Welt läuft doch auf eine Lumperei hinaus, und ein Mensch, der um anderer willen, ohne daß es seine eigene Leidenschaft, sein eigenes Bedürfnis ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor« (HA 6, 40). Im Spätsommer verschlechtert sich Werthers Zustand zusehends, so daß ihm zuletzt gar der Müßiggang zur Qual wird. Schrieb Werther im Brief vom 20. Juli noch, er hasse die Subordination und könne keine Arbeit ergreifen, die seiner Leidenschaft zuwiderlaufe, so wünscht er sich nun geradezu in das größtmögliche ökonomische Abhängigkeitsverhältnis: »Ich kann nicht müßig sein und kann doch auch nichts tun. [...] Ich schwöre dir, manchmal wünschte ich, ein Tagelöhner zu sein, um nur des Morgens beim Erwachen eine Aussicht auf den künftigen Tag, einen Drang, eine Hoffnung zu haben. Oft beneide ich Alberten, den ich über die Ohren in Akten begraben sehe, und bilde mir ein, mir wäre wohl, wenn ich an seiner Stelle wäre!« (HA 6,5 3). Werther sehnt sich nach einer Tätigkeit, um der bedrückenden Schwermut und der zermürbenden Melancholie entkommen zu können. Selbst Alberts monotones und langweiliges Aktenstudium erscheint ihm äußerst beneidens- und erstrebenswert. Werther entscheidet sich schließlich für den bislang ausgeschlagenen Dienst bei der Gesandtschaft, wobei ihn das Amt als solches nicht interessiert. Es kommt ihm letztlich nur darauf an, durch die Annahme einer Tätigkeit seinen seelisch erdrückenden Zustand zu überwinden, in den ihn seine unglückliche Liebe zu Lotte mit wilden Phantasien und schweren Träumen getrieben hat (HA 6, 53). Die Tätigkeit bei der Gesandtschaft erscheint Werther als letzte Möglichkeit der Selbsttherapie, wie aus dem Brief vom 3. September hervorgeht: »Ich muß fort! Ich danke dir, Wilhelm, daß du meinen wankenden Entschluß bestimmt hast. Schon vierzehn Tage gehe ich mit dem Gedanken um, sie zu verlassen. Ich muß fort« (HA 6, 56). Der Gesandtschaftsdienst mit seiner klaren Tageseinteilung scheint Werther zunächst auszufüllen und von der Fixierung auf die eigene Notlage abhalten zu können. Die Arbeit wie auch der rege Umgang mit Menschen bindet seine Energien und gibt ihm eine neue Lebensperspektive. Am 26. November schreibt Werther an Wilhelm: »Das beste ist, daß es zu tun genug gibt; und dann die vielerlei Menschen, die allerlei neuen Gestalten machen mir ein buntes Schauspiel vor meiner Seele. Ich habe den Grafen C.. kennen lernen, einen Mann, den ich jeden Tag mehr verehren muß, einen weiten, großen Kopf, und der deswegen nicht kalt ist, weil er viel übersieht; aus dessen Umgange so viel Empfindung für Freundschaft und Liebe hervorleuchtet« (HA 6, 61). Werther lernt an seinem neuen Aufenthaltsort einige Personen kennen, die er schätzt und mit denen er gerne zusammenkommt. Was ihn indes verärgert und verstimmt, ist das äußerst schwierige Verhältnis zu seinem unmittelbaren Vorgesetzten, der bei jeder Gelegenheit gegen ihn intrigiert und ihm mit zahlreichen 96
Schikanen den Dienst verleidet. Werthers Verdruß steigert sich und kulminiert schließlich in dem erniedrigenden Verweis aus der höfischen Adelssoirée. Werther fühlt sich kompromittiert und reicht sofort seine Kündigung ein. Die leidenschaftlichen Gefühle für Lotte hat er ohnehin während der gesamten Zeit des Gesandtschaftsdienstes nicht vergessen können. Damit scheitert also auch der Versuch, durch produktive Tätigkeit die Melancholie zu überwinden. Werther verläßt die Gesandtschaft und folgt zunächst einem Fürsten, um mit diesem in einen Krieg zu ziehen. Liest man zwischen den Zeilen, so wird recht schnell deutlich, warum sich Werther mit einem Mal f ü r das Militär interessiert: E r will sich am blutigen Schlachtengetümmel berauschen, um alle Erinnerungen auszulöschen und die Melancholie endgültig abzutöten. Nicht zuletzt hierin gleicht er dem Melancholiker Eduard aus den >Wahlverwandtschaftensüße Trauer< vermitteln einen Eindruck von dieser empfindsamen Gefühlshaltung. Die Melancholie wird als Simultaneität kontärer Emotionen, als Gleichzeitigkeit von Wehmut und Wonne, Schmerz und Lust erfahren.
mit Werther zu provozieren. Ihr V o r w u r f ist daher kalkulierend und in der Absicht vorgetragen, Werthers Leidenschaft auf eine andere Frau zu lenken. So fährt Lotte fort: »Sollte denn in der weiten Welt kein Mädchen sein, das die Wünsche Ihres H e r zens erfüllte? Gewinnen Sie's über sich, suchen sie darnach, und ich schwöre Ihnen, Sie werden sie finden« ( H A 6, 103).
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Goethe erwähnt im dreizehnten Buch von >Dichtung und Wahrheit< all jene Werke, die den Wertherroman entscheidend beeinflußt haben: Er nennt die Dichtungen von E d w a r d Young, Oliver Goldsmith und Thomas G r a y sowie die todesschwangeren Heldensagen von James Macpherson ( H A 9, 581-584). Neben diesen Werken haben auch andere Dichtungen auf den >Werther< eingewirkt. Hier sind vor allem die Oden Klopstocks zu nennen, die Romane des A b b é Prévost und Laurence Sternes Sentimental JourneyCampagne in Frankreichs hingewiesen, w o es heißt, zum Wertherfieber der jungen Generation sei »eine gewisse Sentimentalität« hinzugekommen, »bei deren Ursprung und Fortgang man den Einfluß von Yorick-Sterne nicht verkennen darf« ( H A 10, 321 f.). Werthers Briefe an Wilhelm evozieren immer wieder eine sentimentale und melancholische Grundstimmung. Besonders aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die beiden Briefe, die Werther jeweils am Ende des ersten und am Ende des zweiten Buches schreibt, denn hier lassen sich so gut wie alle empfindsamen Melancholie-Elemente auf engstem Räume wiederfinden. Der letzte Brief des ersten Buches datiert vom 10. September 1 7 7 1 . Werther, der sich nach langem Zögern entschlossen hat, Wahlheim zu verlassen, kommt am Abend vor seiner geheimen Abreise ein letztes Mal mit Lotte und Albert zusammen. Man will sich im Garten vor Lottes und Alberts Haus treffen. Werther findet sich als erster ein und sieht voller Wehmut der untergehenden Sonne nach, die ihn an glückliche Stunden mit Lotte erinnert. Im nachlassenden Abendlicht überblickt er den Garten, der sich am Ende der Terrasse zunehmend verjüngt, bis »zuletzt alles sich in ein geschlossenes Plätzchen endigt, das alle Schauer der Einsamkeit umschweben« ( H A 6, 56). Werther, der dieses Plätzchen schon öfters aufgesucht hat, schreibt im Hinblick auf die Begegnung mit Lotte und Albert: »Ich ahnete ganz leise, was für ein Schauplatz das noch werden sollte von Seligkeit und Schmerz« ( H A 6, 57). Seligkeit und Schmerz erscheinen hier als entgegengesetzte Seelenstimmungen, die von Werther simultan erlebt werden - dies ist genau jene melancholische Haltung, die sich mit dem Schlagwort des >joy of grief< umschreiben läßt. A u c h im weiteren Verlauf des Briefes betont Werther mehrmals die >Süße< des bevorstehenden Abschiedsschmerzes. Rückblickend erklärt er: »Ich hatte mich etwa eine halbe Stunde in schmachtenden, süßen Gedanken des Abscheidens, des Wiedersehens geweidet, als ich sie die Terrasse heraufsteigen hörte. Ich lief ihnen entgegen, mit einem Schauer faßte ich ihre Hand und küßte sie« ( H A 6, 57). Gemeinsam mit Lotte und Albert begibt sich Werther in die Gartenlaube, w o »tiefe Dämmerung« herrscht, während die anderen Bereiche des Gartens durch den aufgehenden Mond in ein mattes Licht getaucht werden. Blasser Mondenschein und tiefe Dunkelheit bilden die empfindsam-melancholische Atmosphäre einer pathosgeladenen Unterhaltung über Tod, Auferstehung und jenseitiges Leben. 103
Lotte eröffnet das Gespräch, indem sie sich zu ihrem Unsterblichkeitsglauben bekennt. Werther antwortet, während ihm Tränen in die Augen schießen: »Wir werden uns wiedersehn! Hier und dort wiedersehn!« ( H A 6, 57). Nach diesem gefühlsschwangeren Präludium wendet sich das Gespräch der Frage zu, ob die Verstorbenen am Schicksal ihrer noch lebenden Verwandten teilhaben. »Ob die lieben Abgeschiednen von uns wissen«, fragt Lotte, »ob sie fühlen, wann's uns wohl geht, daß wir mit warmer Liebe uns ihrer erinnern?« ( H A 6, 57). Lotte erzählt von ihrer bereits verstorbenen Mutter, die sie voller Rührung als vortreffliche und bewundernswerte Frau darstellt, deren früher Tod ein bitterer Verlust für die ganze Familie ist. In immer neuen Anläufen wendet sich Lotte der Vergangenheit zu, die sie in sentimentalen Erinnerungsbildern als empfindsame Familienidylle darstellt. Z u Albert sagt sie: »Ich weiß, du vergissest nicht die Abende, da wir zusammensaßen an dem kleinen, runden Tischchen, wenn der Papa verreist war, und wir die Kleinen schlafen geschickt hatten. D u hattest oft ein gutes Buch und kamst so selten dazu, etwas zu lesen War der Umgang dieser herrlichen Seele nicht mehr als alles?« ( H A 6, 58). Die Erinnerungen an die verstorbene Mutter versetzen Lotte und Werther in heftige Gefühlswallungen. Selbst der ansonsten so sachliche und unsentimentale A l bert läßt sich von der larmoyanten Stimmung anstecken; gegen seine Gewohnheit verliert er jede Fassung. Im Gespräch zwischen Lotte und Werther manifestiert sich ein Jenseitsglauben, wie er für die Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts typisch ist. Der Tod wird in religiös undogmatischer Weise zu einem flüchtigen Durchgangsstadium marginalisiert, auf das ein Weiterleben im Kreis der lieben Verstorbenen folgt. Sozusagen als nachdrückliche Bestätigung dieses Jenseitsglaubens proklamiert Werther am Ende des Briefes: »Wir werden uns wieder sehen, [...] wir werden uns finden, unter allen Gestalten werden wir uns erkennen« ( H A 6, 59).61 Zahlreiche Briefe des Romans schildern Tod und Jenseits auf empfindsammelancholische Weise. Besonders charakteristisch ist in diesem Zusammenhang der Abschiedsbrief, den Werther kurz vor seinem Freitod an Lotte schreibt. In diesem Brief denkt er unter anderem über seine letzte Ruhestätte nach, die er in ein melancholisches Stimmungsbild einzeichnet. A n Lotte schreibt er: »Wenn du hinaufsteigst auf den Berg, an einem schönen Sommerabende, dann erinnere dich meiner, wie ich so oft das Tal heraufkam, und dann blicke nach dem Kirchhofe hinüber nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras im Scheine der sinkenden Sonne hin und her wiegt« ( H A 6,104Í.). Die tränenselige Kirchhofstimmung, die Werthers letzten Brief grundiert, erinnert an bedeutende Werke der empfindsamen Melancholiedichtung, so etwa - um 61
Vgl. Eudo C. Mason: »Wir sehen uns wieder!« Zu einem Leitmotiv des Dichtens und Denkens im 18. Jahrhundert. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 5 (1964), S.79109.
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nur ein prominentes Beispiel zu nennen - an Thomas G r a y s >Elegy Written in a C o u n t r y Churchyard< ( 1 7 5 1 ) . A u c h G r a y s Werk evoziert immer wieder eine sentimentale Gräberstimmung, die den Tod des Menschen lyrisch verklärt und seine Grabstätte in eine schwermütig-sanfte Naturidylle einbettet. Der Abschiedsbrief an Lotte thematisiert wie bereits der Brief v o m 10. September 1 7 7 1 das Leben nach dem Tod. A u c h hier artikuliert sich die Vorstellung eines Jenseits, in dem die Verstorbenen einander wiederfinden und das auf Erden begonnene Leben fortsetzen. Werther betont in seinem Abschiedsbrief mehrfach, daß er nach dem Tod jene Liebesbeziehung mit Lotte führen werde, die ihm im diesseitigen Leben verwehrt blieb. E r ist der festen Uberzeugung, daß die Ehe zwischen Lotte und Albert nur ein diesseitiges Provisorium darstelle, das im Jenseits seine Gültigkeit verlieren werde. Werthers Jenseitsvorstellungen und deren sprachliche Umschreibungen zeigen sich weitgehend von der empfindsamen Lyrik Klopstocks beeinflußt. In dessen O d e >An Fanny< aus dem Jahre 1 7 7 1 (ursprünglicher Titel: >An DaphneNatur< füreinander bestimmt und nur durch das >Schicksal< voneinander getrennt w o r den seien. Voller Emphase erklärt er im Brief an Lotte: »Ich gehe voran! gehe zu meinem Vater, zu deinem Vater. D e m will ich's klagen, und er wird mich trösten, bis du kommst, und ich fliege dir entgegen und fasse dich und bleibe bei dir vor dem Angesichte des Unendlichen in ewigen Umarmungen. [...] Wir werden sein! wir werden uns wieder sehen!« ( H A 6, 1 1 7 ) . Werther knüpft mit diesen Zeilen bewußt an das Abschiedsgespräch an, das er am letzten Abend vor seiner heimlichen Abreise mit Lotte und Albert geführt hat ( H A 6, 57ff.). Wenn er nun die Parole »Wir werden sein! wir werden uns wieder sehen« erneut aufgreift, so hofft er, daß sich Lotte bei der Lektüre seines Briefes an das einstige Gespräch über Unsterblichkeit und jenseitiges Leben erinnern wird. D e r Abschiedsbrief ist mit dem letzten Brief des ersten Buches fest verklammert: Scheint der Tod dort als Ahnung und Idee auf, so tritt er hier real ins Leben.
61
Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke, hg. v. Karl August Schleiden, Darmstadt 1 9 6 2 , 8 . 4 0 .
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IV. Die Geburt der Dichtung aus dem Geist der Melancholie - >Torquato Tasso
Tasso< (1789) liegt ein Zeitraum v o n f ü n f z e h n Jahren, der f ü r G o e thes künstlerischen Werdegang v o n fundamentaler Bedeutung ist. D e r p r o m i nente Repräsentant des Sturm und D r a n g wandelt sich in jenen Jahren z u m E x ponenten der Weimarer Klassik. A l s G o e t h e im N o v e m b e r 1 7 7 5 auf Einladung des H e r z o g s C a r l A u g u s t an den Weimarer H o f übersiedelt, gilt er noch als G a lionsfigur einer jungen Künstlergruppe, die sich mit leidenschaftlicher E n t schlossenheit gegen das kulturelle Establishment auflehnt und selbstbewußt neue F o r m e n des literarischen A u s d r u c k s erprobt. D a s Ritterdrama >Götz v o n BerlichingenDie Leiden des jungen Werther< sowie die ganz im Zeichen des G e n i e - K u l t s stehenden H y m n e n markieren den allgemeinen H ö h e p u n k t dieser frühesten sezessionistischen B e w e g u n g auf deutschem B o den. I m ersten Weimarer J a h r z e h n t vollzieht G o e t h e dann, und z w a r nicht zuletzt auch unter dem E i n f l u ß , den Charlotte v o n Stein auf ihn ausübt, eine A b w e n d u n g v o n seiner stürmischen und unbändigen Jugenddichtung. E r nähert sich allmählich jener klassizistischen K u n s t a u f f a s s u n g an, die während der Italienischen Reise v o n 1786 bis 1788 ihre volle A u s p r ä g u n g gewinnt. 1 D a s D r a m a >Torquato Tasso< trägt in seiner endgültigen Fassung v o n 1789 deutliche Spuren des neuen, in Italien herangereiften Stilideals. Wie bereits in der Versfassung der >Iphigenie< v o n 1 7 8 7 greift G o e t h e auch hier konsequent auf das M o d e l l der französischen >tragédie classique< zurück. >Torquato Tasso< ist ein K a m m e r s p i e l f ü r nur fünf Personen, seine Handlungsdauer u m f a ß t lediglich einen Tag, und sein einziger Schauplatz ist das fürstliche Lustschloß Belriguardo in der N ä h e v o n Ferrara. D i e A u s d r u c k s w e i s e der agierenden Personen ist streng ritualisiert und zeremoniell gedämpft, die Sprache unterliegt einer entschiedenen A f f e k t k o n t r o l l e . Fokussiert man zunächst nur diese dramenästhetischen Elemente, so offenbaren sich beachtliche D i f f e r e n z e n z w i -
' In Italien entwickelt Goethe im ständigen Austausch mit Karl Philipp Moritz eine neue Ästhetik, die von der Autonomie der Kunst und des Künstlers ausgeht. Uber Goethes >italienische< Kunstauffassung informieren die Ausführungen bei Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche, Weinheim 1994, S. 125-144. 106
sehen der klassizistischen Glätte des >Tasso< und der emotionalen Impulsivität des >Werther*. Die Diskrepanzen beziehen sich indes nicht nur auf die äußere F o r m und den Sprachduktus der beiden Werke, sondern auch auf die soziale Stellung und künstlerische Kompetenz ihrer Protagonisten. Erscheint Werther als desintegrierter Einzelgänger, der über vage künstlerische Ambitionen nur selten hinauskommt und letztlich Dilettant bleibt, so tritt Tasso als höfischer Dichter auf, der, mit genialer Schöpferkraft begabt, unermüdlich an der Vollendung seines großen Epos >Das befreite Jerusalem« arbeitet. Trotz der gravierenden Unterschiede hat Goethe in einem Gespräch mit Eckermann Tasso als einen »gesteigerten Werther« bezeichnet. 2 U n d in der Tat: Blickt man zwischen den eher an der Oberfläche auftretenden Divergenzen hindurch auf die Tiefenstruktur der beiden Werke, richtet man sein Augenmerk auf das Psychogramm der beiden Protagonisten, so lassen sich zwischen Tasso und Werther bemerkenswerte Gemeinsamkeiten aufzeigen. Tasso leidet wie sein Vorläufer an der Melancholie, bei ihm treten all jene Symptome zutage, die bereits in der Analyse des Wertherromans diagnostiziert werden konnten. Tasso ist ebenso wie Werther durch psychische Labilität und emotionale Inkonsistenz gekennzeichnet - pausenlos oszilliert er zwischen dissonanten G e fühlslagen. E r meidet den gesellschaftlichen Verkehr, sucht immer wieder die Einsamkeit auf und tendiert zu weltloser Introspektion. A u s Tassos verzerrter Wirklichkeitswahrnehmung resultiert ein realitätsblinder A r g w o h n , der sich bis zur pathologischen Wahnbildung verschärft. Weitere Eigenschaften gesellen sich hinzu, so beispielsweise eine völlig übersteigerte Fixierung auf das eigene Leid und ein äußerst ungesunder Lebenswandel, der gegen alle diätetischen Vorschriften verstößt. Die summarisch aufgeführten Melancholie-Symptome demonstrieren die überaus enge Verwandtschaft zwischen Werther und Tasso, sie erklären indes noch nicht die Redeweise von Tasso als einem »gesteigerten Werther«. Goethes berühmtes Diktum ist in der langen Rezeptionsgeschichte des Dramas auf sehr unterschiedliche Weise, zumeist jedoch ohne rechte Uberzeugungskraft ausgelegt worden. 3 A n dieser Stelle soll darum eine neue Interpretation erprobt werden. Wie die vorausgehenden Untersuchungen zeigen konnten, läßt sich die Werthergestalt mit Hilfe eines psychopathologischen Melancholiekonzepts schlüssig deuten. Dasselbe gilt auch für Tasso. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, daß die Melancholie im Tassodrama nicht auf den psychopathologischen Bedeutungsgehalt eingeschränkt ist, sondern darüber hinaus 1
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Eckermann berichtet am 3. Mai 1827, Goethe habe der Einschätzung Jean Jacques Amperes zugestimmt und Tasso einen »gesteigerten Werther« genannt ( F A 39, 607). Vgl. zu den verschiedenen Möglichkeiten der Auslegung den A u f s a t z von Elizabeth M . Wilkinson: >Tasso - ein gesteigerter Werther« in the Light of Goethe's Principle of »Steigerung«. In: Dies.u. Leonard A . Willoughby: Goethe. Poet and Thinker, L o n d o n 1962, S. 1 8 5 - 2 1 3 .
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auch unter einem inspirationstheoretischen Aspekt zum Tragen kommt. Den Vorstellungen des Florentiner Renaissancephilosophen Marsilio Ficino zufolge verleiht die Melancholie jene Begabung zur Kontemplation und Wesensschau, die zu den konstitutiven und unverzichtbaren Voraussetzungen einer ingeniösen Schöpferkraft gehört. Diese Begabung zur Ideenschau besitzt auch Tasso. »Sein Ohr vernimmt den Einklang der Natur«, erklärt Leonore Sanvitale über den Dichter des >Befreiten JerusalemsProblemata< und im Florentiner Renaissancepiatonismus hat. Tassos Melancholie erfährt gegenüber der Melancholie Werthers eine unverkennbare Nobilitierung, sie wird geadelt und >gesteigertZart Gedicht, wie Regenbogen< steht (FA 2, 395). Hier geht es nicht nur um die hemmende und zerstörerische Wirkung der Melancholie, wie sie im >Werther< zu beobachten ist, sondern insbesondere auch um ihre produktive Seite, ihre inspirierende und schöpferische Kraft. 4
4
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Gegen E n d e der siebziger Jahre hat Hans-Jürgen Schings Tassos Künstlermelancholie erstmals auf die Melancholieauffassung des Florentiner Renaissancepiatonismus bezogen. Auf eine detaillierte Textanalyse verzichtete er allerdings und begnügte sich stattdessen mit einigen Hinweisen auf besonders markante Motive, die Tasso innerhalb des Dramas als melancholischen Charakter ausweisen (H.-J. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 264-267). U m die Mitte der achtziger Jahre hat Dieter B o r c h meyer in einem A u f s a t z bestritten, daß sich Tassos Künstlermelancholie vor dem Hintergrund der neuplatonischen Melancholietradition interpretieren lasse. Gegenüber Schings erklärte er, daß die entschiedene »Melancholiefeindlichkeit« der klassischen Kunstdoktrin eine solche Nobilitierung des Dichters Tasso nicht erlaube (D. Borchmeyer: Tasso oder Das Unglück, Dichter zu sein. In: Dieter Kimpel und J ö r g Pompetzki (Hg.): Allerhand Goethe. Seine wissenschaftliche Sendung aus Anlaß des 150. Todestages und des 50. Namenstages der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1 9 8 5 , 5 . 6 7 - 8 8 , hier S . 7 j f . ) . Borchmeyers Kritik an der freilich nicht ausreichend belegten These von Schings ist nicht gerechtfertigt, wie im Verlauf des Kapitels gezeigt werden soll. F ü r die Annahme, daß Goethe seine Tassogestalt in den H o r i z o n t der von Ficino propagierten Melancholieauffassung gerückt hat, sprechen v o r allem zwei Gründe. Zunächst muß man berücksichtigen, daß bereits der historische Tasso seine Melancholie sowohl als konstitutive Voraussetzung wie auch als negative Kehrseite des künstlerischen Ingeniums begriff und nachfolgende Generationen den Renaissancedichter immer wieder in den Kontext jener pseudoaristotelischen und neuplatonischen Melancholieauffassung gerückt haben (hierzu Kap. IV.3). Tasso galt also über Jahrhunderte hinweg als Musterbeispiel eines
2.
Die Forschungsdebatte zu Goethes >Torquato Tasso
Torquato Tasso< ist ebenso facettenreich wie die zum Wertherroman. A u c h wenn sich die zahlreichen >TassoWertherTasso< dargestellten Konflikt auf Goethes Situation am Weimarer H o f zwischen 1775 und 1786 beziehen. Diese biographische Lesart des Dramas kann indes nur eine sehr eingeschränkte Geltung beanspruchen, da Tassos Stellung am H o f von Ferrara eine gänzlich andere ist als diejenige Goethes in Weimar während der Jahre vor der Italienreise. Tasso ist ausschließlich Dichter und von allen sonstigen höfischen Verpflichtungen entbunden, Goethe hingegen widmete sich in seinem ersten Weimarer Jahrzehnt zahlreichen politischen Aufgaben und war in erster Linie als Staatsmann tätig. Sein künstlerisches Schaffen trat hinter der politischen Praxis weit zurück. In einem Brief vom 14. Mai 1780 heißt es lakonisch: »Meine Schriftstellerey subordinirt sich dem Leben« (FA 29, 261). Man darf die äußere Seite der Tassogestalt nicht mit Goethe identifizieren. Wenn das Drama dennoch an einigen Stellen Rückschlüsse auf Goethes Biographie erlaubt, so handelt es sich dabei in erster Linie um einzelne Elemente, die sich sowohl Tasso wie auch Antonio zuordnen lassen. In der Beziehung zwischen Tasso und der Prinzessin etwa kann man eine leise Reminiszenz an das Verhältnis zwischen Goethe und Charlotte von Stein entdecken. In Antonios enthusiastischer R o m - R e d e schwingt sicherlich einiges von Goethes eigener Rom-Begeisterung mit. Schließlich ist dem Drama auch Goethes schmerzlicher Abschied von der Ewigen Stadt eingeschrieben. Für Goethe kam die Trennung
genial veranlagten Melancholikers, was auch Goethe aus seiner intensiven Lektüre mehrerer Tasso-Biographien zweifellos bekannt war. D a Goethe dasselbe Wissen bei seinen Zeitgenossen voraussetzen konnte und mußte, wäre es äußerst verwunderlich, wenn er in seinem D r a m a der topisch fixierten Vorstellung von Tassos schöpferischgenialer Künstlermelancholie ein anderes K o n z e p t hätte entgegenstellen wollen. Sodann bietet neben der historischen Uberlieferung auch der Dramentext mehrere eindeutige Anhaltspunkte, um Tassos Dichtertum v o r dem Hintergrund der neuplatonischen Künstlermelancholie zu deuten. Die Äußerungen der Hofmitglieder sowie Tassos Selbsteinschätzungen lassen den Zusammenhang zwischen melancholischer Veranlagung und außergewöhnlicher Begabung mehrfach aufscheinen (hierzu K a p . IV.6).
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von Rom einer unwiderruflichen Verbannung gleich, und so parallelisiert er in einer Frühfassung der italienischen Reise< den Abschied von Rom mit der Verbannung Tassos: »Wie mit Ovid dem Local nach, so konnte ich mich mit Tasso dem Schicksale nach vergleichen. Der schmerzliche Zug einer leidenschaftlichen Seele, die unwiderstehlich zu einer unwiderruflichen Verbannung hingezogen wird, geht durch das ganze Stück« (FA 15/2, 1157). Ein älterer und mittlerweile überholter Interpretationsansatz deutet das Tassodrama ebenfalls vor dem Hintergrund von Goethes ersten Weimarer Jahren, diesmal jedoch nicht in identifikatorischer, sondern in denunziatorischer Absicht. Dieser Deutungsansatz, der zuerst von Hermann August Korff und Friedrich Gundolf vertreten wurde, sieht in Tasso einen >maßlosen< Künstler, der untergehen muß, da er sich mit den gesellschaftlichen Konventionen der Hofgesellschaft nicht zu arrangieren vermag. 5 In Korffs fragwürdiger Interpretation wird die höfische Gesellschaft kurzerhand zur Trägerin der Humanität deklariert, Tasso hingegen zum unbeherrschten und maßlosen Repräsentanten des Sturm und Drang abgestempelt. Da er »die Prüfung als gesitteter und vernünftiger Mensch« nicht besteht, wird er »nicht allein von der Gesellschaft, sondern auch von Goethe selbst verurteilt«.'6 Betrachtet man das Drama mit unverstelltem Blick, so erkennt man sehr schnell, daß sich der Musenhof, der Tasso in seine Dienste nimmt, keineswegs als Hort humaner Werte feiern läßt. Immer wieder bestimmen egoistische Interessen und verdeckte Machtkämpfe das Verhalten der Hofmitglieder gegenüber Tasso. Man denke nur an die verbalen Attacken des Staatssekretärs Antonio oder an die Intrigen der selbstverliebten Gräfin Leonore. Korffs einseitige Idealisierung der Hofgesellschaft kann einer kritischen Prüfung nicht standhalten. Die bedeutendste und umfassendste >TassoTorquato TassoNatur< gegen die korrumpierenden Konventionen der Hofgesellschaft, er kämpfe gegen geistige Fremdbestimmung und poche auf künstlerische Autonomie, er berufe sich in der Auseinandersetzung mit Antonio auf sein eigenes Gewissen und verlange Gerechtigkeit. Tasso rückt an die Seite der selbstbewußten Iphigenie und avanciert zum engagierten Streiter f ü r humane Selbstbestimmung. Bei der Charakterisierung der höfischen Gesellschaft neigt Reed zu ebenso entschiedenen Urteilen, nun freilich mit inversem Vorzeichen: D e r höfische Zirkel mutiert zur autoritären und Tasso fortwährend bevormundenden Clique, die hinter einer Fassade aus gesellschaftlich sanktionierten Verhaltensmustern rücksichtslos agiert und - wie im Falle Antonios - unbeherrschte Aggressionen auslebt. Reeds Versuch, Goethes >Tasso< als Drama der A u f k l ä r u n g zu lesen, eröffnet in mancherlei Hinsicht neue Deutungsmöglichkeiten. Die Gegenüberstellung von Tasso und höfischer Gesellschaft entspricht indes einer Schwarz-Weiß-Zeichnung, der es an Grautönen mangelt. T . J . Reed: Tasso und die Besserwisser. In: J o h n L . Hibberd u. H . B . Nisbet (Hg.): Texte, Motive und Gestalten der Goethezeit. Festschrift f ü r Hans Reiss, Tübingen 1989, S. 9 5 - 1 1 2 .
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von sehr mittelbarer Bedeutung«. 5 Die Vorbehalte gegenüber Antonios Äußerungen überzeugen nicht, da Rasch sonst immer recht unvoreingenommen die Urteile anderer Personen über Tasso aufgreift. Warum aber ist der Gräfin in dem, was sie über Tasso sagt, mehr Glauben zu schenken als Antonio? Etwa nur, weil sie Tasso in einem weitaus positiveren Licht darstellt? Antonio erscheint bei Rasch immer wieder als der nüchtern abwägende und kühl kalkulierende Staatsmann, der kein Verständnis für Tassos Dichtertum aufbringen kann - er verkörpert gewissermaßen »alles Unverständnis der Welt gegenüber der unerklärlichen Erscheinung des Dichters«. 10 Zweifellos repräsentiert Antonio im Gegensatz zu Tasso die Sphäre des tätigen Handelns, den Bereich der >vita activaalt< und seine das Drama abschließende Position mit dem Begriff >neuAminta< sowie das Versepos >La Gerusalemme liberataTorquato TassoBriefen an einen jungen Dichten, diesen kennzeichne unter anderem »eine Einbildungskraft, die durch eine unfreiwillige innere Disposition alles Individuelle idealisiert, alles Abstráete in bestimmte Formen kleidet, und unvermerkt dem bloßen Zeichen immer die Sache selbst oder ein ähnliches Bild unterschiebt«. C . M . Wieland: Werke, hg. v. Fritz Martini u. Hans Werner Seiffert, Bd. 3, München 1967, S.432.
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bis Tasso schließlich, von Antonio auf das äußerste provoziert, den Degen zieht. Mit seiner Duellforderung verstößt Tasso gegen das strenge Verbot, im befriedeten Bezirk des Hofes physische Gewalt anzuwenden. N a c h den Gesetzen der Zeit hätte er eine äußerst schwere Strafe zu erwarten (in Frankreich wurde seit Richelieu sogar das Todesurteil verhängt). Der Herzog belegt Tasso jedoch nur mit einer sehr gelinden Strafe, da er um dessen Uberempfindlichkeit weiß. E r läßt ihm den Degen (damit auch die Ehre) und schickt ihn ohne Aufsicht auf sein Zimmer, w o er sich selbst bewachen soll. Trotz dieser Minimalstrafe, die man geradezu als einen Gunsterweis des Herzogs betrachten kann, reagiert Tasso mit tiefer Bestürzung. E r überformt die Realsituation aus dem Horizont seines idealistischen Dichtertums und verleiht der Bestrafung eine existentielle Bedeutung. E r sieht in ihr einen schwerwiegenden Angriff auf seine persönliche Integrität und legt deshalb sowohl den Lorbeerkranz als auch den Degen nieder. Tassos Weltbild ist bis in die Fundamente erschüttert, die Formalität der H a f t zerstört sein dichterisches Ideal: »Wer weinte nicht, wenn das Unsterbliche / Vor der Zerstörung selbst nicht sicher ist?« (V. 1589^). Tasso ist nicht in der Lage, mit nüchternem Realitätssinn die Lage einzuschätzen und an der geringen Strafe die wohlgesonnene Haltung des Herzogs abzulesen. E r betrachtet die Situation wiederum nur durch die Brille seiner idealen Dichtung und erliegt damit erneut einer verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung. Tasso lädt die Ereignisse des höfischen Gesellschaftslebens mit einem Sinngehalt auf, der ihnen de facto gar nicht zukommt. Sein zunehmender Realitätsverlust entspringt jedoch nicht nur dieser projektiven Wirklichkeitsüberformung, sondern auch jenem bereits analysierten Hang zur Einsamkeit. Tasso sondert sich beständig von der höfischen Gesellschaft ab und verliert dadurch das Vertrauen zu den Personen seiner Umgebung. Der Herzog weist bereits zu Beginn des Dramas auf diese Defizite im gesellschaftlichen Umgang hin (V. 31 off.). D a Tasso den Kreis höfischer Geselligkeit meidet, erliegt er einem gefährlichen A r g w o h n , der überall Verrat und intrigante Machenschaften wittert. Schon bei allerkleinsten Unregelmäßigkeiten glaubt Tasso, das O p f e r einer großangelegten Verschwörung zu sein. So erklärt der Herzog besorgt im zweiten Auftritt des ersten Aktes: »Begegnet ja / Daß sich ein Brief verirrt, daß ein Bedienter / Aus seinem Dienst in einen andern geht, / Daß ein Papier aus seinen Händen kommt, / Gleich sieht er Absicht, sieht Verräterei / Und Tücke die sein Schicksal untergräbt« (V. 3 lyif·). Der durchaus leicht zu ertragende Zimmerarrest nach der Duellforderung verschärft Tassos Mißtrauen gegen die Hofgesellschaft. Er bildet sich ein, Antonio habe ein Komplott initiiert, das ihn aus Ferrara vertreiben solle. Zusehends steigert er sich in einen pathologischen Wahn hinein und verdächtigt sogar die geliebte Prinzessin, an der vermeintlichen Verschwörung teilzuhaben (V. i j y i ñ . ) . Die Gräfin sucht Tasso auf und erklärt ihm, daß Antonio sein provozierendes Verhalten, das zur Duellforderung führte,
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bereue und deswegen um Vergebung bitte. Tasso hält jedoch an seinem wahnhaften Mißtrauen fest, woraufhin die Gräfin resigniert erklärt: »Du irrst gewiß, und wie du sonst zur Freude / Von andern dichtest, leider dichtest du / In diesem Fall ein seltenes Gewebe, / Dich selbst zu kränken« (V. 246iff.). Die Komplottphantasien nehmen immer groteskere Formen an und kulminieren schließlich, nach dem verhängnisvollen Versuch, die Prinzessin zu umarmen, in einem vollständigen Realitätsverlust. Tasso verflucht die gesamte Hofgesellschaft, er beschimpft Antonio als »Kerkermeister« und »Marterknecht« (V.3302), er bezeichnet den Herzog als »Tyrannen« (V.3304) und diffamiert selbst die Prinzessin als »Sirene«, die ihn erst angelockt und dann fallengelassen habe (V. 3333ff.). Tasso verkennt die Situation vollständig und gibt sich seinen entfesselten Leidenschaften und rasenden Haßphantasien rückhaltlos hin. In der Schlußszene des Dramas erliegt Tasso einem pathologischen Wahn, wie er in den Melancholie-Handbüchern des 18. Jahrhunderts häufig beschrieben wird. Seiner überhitzten Einbildungskraft entspringen immer neue Trugbilder und Hirngespinste.
4.3.
Psychische Labilität und emotionale Inkonsistenz
Betrachtet man die verschiedenen Symptome, die Tasso als Melancholiker ausweisen, so tritt vor allem die psychische Labilität hervor. Tasso ist nicht in der Lage, seine Gemütsstimmungen zu stabilisieren - wie Werther schwankt er pausenlos zwischen heller Euphorie und tiefer Depression. Tassos seelische Anfälligkeit manifestiert sich bereits im ersten Akt. Der Dichter des >Befreiten Jerusalems< hat sich zögernd der höfischen Gesellschaft genähert und sein Versepos an den Herzog übergeben. Die Auszeichnung mit dem Lorbeerkranz versetzt ihn daraufhin in einen Zustand höchster Beglückung. Tasso fühlt sich auf besondere Weise erhöht und steigert sich in eine ekstatische Vision hinein, die sein dichterisches Ideal momenthaft aufscheinen läßt. Er erlebt die Dichterkrönung als Augenblick höchster Erfüllung und erklärt den anwesenden Mitgliedern der höfischen Gesellschaft: »Ich bin entzückt« (V. 561). Dieser begeisterte Gemütszustand ist allerdings nur von kurzer Dauer, denn als Antonio in der folgenden Szene von seiner Romreise zurückkehrt und den Anwesenden die imposante Machtentfaltung des Papstes schildert, stürzt Tasso in tiefe Selbstzweifel. Seine kontemplative Dichterexistenz erscheint ihm plötzlich als überaus defizitär und minderwertig (V. 797ff.). Die Konfrontation mit Antonio, dem ganz in der konkreten Lebenswirklichkeit stehenden Staatsmann, verursacht bei Tasso einen heftigen Stimmungsabsturz. Fühlte er sich kurz zuvor noch entzückt und begeistert, so versinkt er nun in depressiver Trauer und glaubt sich in seinem Wert auf ein Minimum reduziert. Auch im weiteren Verlauf des Dramas schlägt Tassos Gemütsstimmung immer wieder um, wobei die positiven wie negativen Stimmungsamplituden stetig 124
anwachsen und am Ende des fünften Aktes in einer regelrechten Gefühlsexplosion kulminieren. Tasso zeigt sich im vierten Auftritt des fünften Aktes zunächst völlig niedergeschlagen. Im Gespräch mit der Prinzessin erklärt er, er wolle Ferrara verlassen und nach R o m gehen, um dort an der weiteren Vervollkommnung seines Epos zu arbeiten. Tassos Zukunftspläne sind von tiefer Resignation geprägt. Z u der geplanten Vervollkommnung seines dichterischen Werkes sagt er: »Verändern werd ich es, vollenden nie. / Ich fühl, ich fühl es wohl, die große Kunst / Die jeden nährt, die den gesunden Geist / Stärkt und erquickt, wird mich zu Grunde richten« (V. 3 1 3 a f f . ) . Tasso glaubt, daß auch die Prinzessin an dem vermeintlichen Komplott gegen ihn beteiligt ist. Als sie jedoch ihre Enttäuschung über sein Verhalten offen zum Ausdruck bringt (V. 3 1 6 } f f . ) , schlägt Tassos Meinung um, und er fühlt seine alte Liebe erneut aufflammen: »Du bist es selbst, wie du zum erstenmal / Ein heiiger Engel mir entgegen kamst! / Verzeih dem trüben Blick des Sterblichen / Wenn er auf Augenblicke dich verkannt. / E r kennt dich wieder! G a n z eröffnet sich / Die Seele, nur dich ewig zu verehren« (V. τ,ι^βίί.). Tassos Verse sind in zunehmendem Maße von heißer Liebesleidenschaft durchglüht. Die Prinzessin zeigt sich besorgt und bittet ihren Freund, seine heftigen Gefühlsregungen zu mäßigen. Doch die Bitte verhallt wirkungslos - Tasso ist von ekstatischer Euphorie erfüllt, er fühlt sich zu göttlicher Daseinsfülle emporgehoben und gibt sich schließlich seiner erotischen Verzückung hin: »Mit jedem Worte glänzt dein A u g e heller. / Ich fühle mich im Innersten verändert, / Ich fühle mich von aller N o t entladen, / Frei wie ein Gott, und alles dank ich dir!« (V. }2yoif.).
Tassos Begeisterung gip-
felt in der leidenschaftlichen Umarmung der Prinzessin, die daraufhin entsetzt zu den im Hintergrund verharrenden Mitgliedern der höfischen Gesellschaft eilt. Tassos alter A r g w o h n bricht mit eruptiver Gewalt wieder hervor. E r glaubt, sich endgültig in den Fängen der korrupten H o f w e l t verstrickt zu haben, und seine eben noch ins Unendliche gesteigerte Hochstimmung, seine überschwenglichen Liebeshymnen für die Prinzessin schlagen um in blinde Haßphantasien und zügellose Diffamierungen. Die beiden Schlußszenen des fünften Aktes zeigen Tassos manisch-depressives Wesen in grellen Farben. Innerhalb von nur 200 Versen wechselt seine Gemütsstimmung von tiefer Trauer und Depression zu heller Euphorie und ekstatischer Begeisterung, um dann in Raserei und pathologische Wahnbildung umzuschlagen. N o c h deutlicher als bei Werther treten hier die f ü r den Melancholiker typischen Stimmungsextreme hervor. 28
lS
A u c h der Melancholiker Faust oszilliert permanent zwischen extremen Gefühlsstimmungen. N a c h der gescheiterten Erdgeistvision versinkt Faust in tiefe Depressionen. E r fühlt sich wie ein Wurm, der im Staub lebt und v o m Tritt des Wanderers vernichtet wird (V. 6 5 2ff.). Dann aber erblickt Faust die Giftphiole, mit deren Saft er sich das Leben nehmen will. In Sekundenschnelle schlägt seine Niedergeschlagenheit in E u p h o -
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Wie die vorausgehenden Analysen bereits verdeutlicht haben, korrespondiert Tassos psychische Labilität mit einer emotionalen Inkonsistenz. Tasso wird von heftigen Leidenschaften regiert und erliegt immer wieder seinen ungesteuerten Affekten. Das aber führt zu einem unausweichlichen Konflikt mit den höfischen Verhaltensnormen, die ganz im Zeichen einer strengen Affektkontrolle stehen. Jedes Mitglied der höfischen Gesellschaft muß seine spontanen Gefühlsäußerungen unterdrücken und zugunsten ritualisierter Verhaltensweisen ausschalten. Am sinnfälligsten manifestiert sich die höfische Ausdrucksdressur in der Sprache, die weitgehend auf indirekten Andeutungen und verhüllten Anspielungen beruht (ein Musterbeispiel für die maskierte Hofsprache findet sich im Eingangsdialog der beiden Leonoren). Tasso kann sich den höfischen Verhaltensnormen nicht anpassen, da er, wie schon Werther, immer wieder von spontanen Stimmungen beherrscht wird. Diesen Charakterzug beklagt vor allem Antonio im Zwiegespräch mit der Gräfin: »Kannst du es leugnen«, fragt er, »daß im Augenblick / Der Leidenschaft, die ihn behend ergreift, / E r auf den Fürsten, auf die Fürstin selbst, / Auf wen es sei, zu schmähn, zu lästern wagt? / Zwar augenblicklich nur, allein genug, / Der Augenblick kommt wieder: er beherrscht / So wenig seinen Mund als seine Brust« (V. 2i42ff.). Tasso läßt sich von seinen Leidenschaften hinreißen und verletzt damit in eklatanter Weise die Grenzen höfischer Gefühlsdisziplin. In der dritten Szene des zweiten Aktes tritt Tassos Unbeherrschtheit erstmals deutlich zutage. Tasso hat Antonio mit enthusiastischen Worten seine Freundschaft angeboten. Dieser lehnt jedoch kalt ab und zettelt ein hitziges Wortgefecht an, in dessen Verlauf er seinen Kontrahenten mit immer neuen Vorwürfen provoziert. Tasso zeigt sich zunächst besonnen und kontert mit wohlüberlegten Antworten. Dann aber eskaliert der Streit, und Tasso gerät in einen solchen Gefühlsaufruhr, daß er sich zu physischer Gewaltandrohung hinreißen läßt. Zweifellos wird er von Antonio auf perfide Weise gereizt, doch darf ihn dies nicht zu einer Duellforderung verleiten. N o c h deutlicher treten Tassos überschwengliche Emotionen im fünften Akt hervor. Die Begegnung mit der Prinzessin entfesselt einen unbändigen Gefühlsrausch, der alle Dämme höfischer Affektkontrolle überspült. Die besorgte Prinzessin bittet Tasso, seine heftigen Leidenschaften zu mäßigen: »Wenn ich dich, Tasso, länger
rie um: »Ich fühle mich bereit, / Auf neuer Bahn den Äther zu durchdringen, / Zu neuen Sphären reiner Tätigkeit. / Dies hohe Leben, diese Götterwonne, / Du, erst noch Wurm, und die verdienest du?« (V. 703ff.). Faust wird schließlich durch das Glockengeläut und den Ostergesang von seinem Selbstmordversuch abgehalten. D e r anschließende Spaziergang durch die frühlingshafte Natur beruhigt Faust, der wiederhergestellte Seelenfrieden ist jedoch nur von kurzer Dauer. Schon in der zweiten Studierzimmer-Szene verfällt Faust wieder in einen abgrundtiefen Nihilismus, der alle Werte bis hin zu den christlichen Kardinaltugenden verflucht. Vgl. hierzu Kap. V I I I . 126
hören soll, / So mäßige die Glut die mich erschreckt« (V. 3 26 5 f.). Tasso fühlt sich jedoch von seinem G e f ü h l fortgerissen und deutet im Bild des überlaufenden Bechers seine eigene Unbeherrschtheit: »Beschränkt der Rand des Bechers einen Wein / D e r schäumend wallt und brausend überschwillt?« (V. 3267^). N a c h der Duellforderung offenbart Tasso mit der gewaltsamen Umarmung der Prinzessin zum zweiten Mal seine unbeherrschte Leidenschaft, die ihn aus dem Kreis der höfischen Gesellschaft ausschließt. Die Fluchrede im Anschluß an die unglückliche Umarmung unterstreicht einmal mehr seine exzentrische Leidenschaftlichkeit, die Antonio, der bei Tasso verharrt, mit eindringlichen Worten zu zähmen versucht: »So sehr ich weiß wie leicht dein rascher Geist / Von einer Grenze zu der andern schwankt. / Besinne dich! Gebiete dieser Wut!« (V.336off.).
4.4.
Tassos exzentrischer Lebenswandel
Neben psychischer Labilität und fortschreitendem Realitätsverlust verweist auch Tassos exzentrischer Lebenswandel in den Bereich der Melancholie. Wie die Gräfin im Gespräch mit Antonio deutlich macht, legt Tasso großen Wert auf edle und kostbare Kleidung. Gleichzeitig aber ist er unfähig, seine teuren Kleidungsstücke beisammenzuhalten und sorgsam mit ihnen umzugehen, so daß ihm nach jeder Reise ein Großteil seines Besitzes fehlt. Neben dem luxuriösen Lebensstil tritt vor allem sein ungesunder Lebenswandel hervor. Tasso mißachtet so gut wie alle diätetischen Vorschriften, die gerade er als Melancholiker besonders streng einhalten müßte. In einem Gespräch mit Alfons klagt Antonio: »Wann mischt er Wasser unter seinen Wein? / Gewürze, süße Sachen, stark Getränke, / Eins um das andre schlingt er hastig ein, / Und dann beklagt er seinen trüben Sinn« (V. 2889ff.). In den traditionellen Melancholiehandbüchern gilt vor allem der Wein als melancholieverstärkendes Getränk, das man meiden oder zumindest mit Wasser verdünnen soll. Bereits der antike A r z t Galen warnt vor unkontrolliertem und übermäßigem Weingenuß, da dieser die Melancholie besonders befördere. Wie Werther, der von Lotte wegen seines exzessiven Weinkonsums ermahnt wird ( H A 6,8 5), mißachtet auch Tasso die diätetischen Anweisungen und trinkt seinen Wein unvermischt. Darüber hinaus ist er auch diversen anderen >starken Getränken< sowie >Gewürzen< und >süßen Sac h e t zugetan, die allesamt auf der schwarzen Liste diätetischer Melancholiehandbücher stehen. 29 O b w o h l Tasso nach dem Verzehr der konzentrierten G e nußmittel über seinen »trüben Sinn« und ein »allzuheftig Wesen« klagt (V. 2892^), ist er dennoch nicht bereit, die Anweisungen herbeigerufener Arzte zu befolgen. Mit absurden Argumenten lehnt er ihre Arzneien und Therapie-
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Vgl. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 7 1 . I2
7
Vorschläge ab. Auf ein weiteres Melancholiesymptom verweist Leonore Sanvitale im zweiten Auftritt des vierten Aktes. Die Gräfin wirft Tasso vor, daß er seine Melancholie nicht zu überwinden trachte, sondern im Gegenteil geradezu kultiviere: »So lange hegst du schon Verdruß und Sorge, / Wie ein geliebtes Kind, an deiner Brust« (V. 2379^). Die Fixierung auf die eigene Notlage gehört seit jeher zu den typischen Merkmalen des Melancholikers. Unfähig, von der eigenen Person abzusehen, vergräbt er sich immer wieder in sein Leid und ist sogar darauf bedacht, dieses Leidgefühl zu konservieren. Auch in Hölderlins >HyperionTasso< einige Gemeinsamkeiten aufweist, wird dieser melancholische Wesenszug besonders exponiert. In einem Brief an Bellarmin schreibt Hyperion, indem er den bildlichen Vergleich aus Goethes >Tasso< aufgreift: »Das Leiden [...] wurde mir lieb, und ich legt es, wie ein Kind, mir an die Brust«. 30 Neben den genannten Eigenschaften verweist insbesondere auch die Metaphorik des Dunklen und Düsteren auf Tassos melancholische Verfassung. Tasso wird nach der Duellforderung vom Herzog auf sein Zimmer geschickt, wo er über sein Schicksal klagt: Zunächst spricht er von der »schwarzen Pforte langer Trauerzeit«, die sich ihm gewaltsam öffne (V. 2229), dann beschreibt er, wie er verloren auf »düstrem, schmalen Pfad« stehe, da ihm der Herzog seine Gunst entzogen habe (V. 2234). Abschließend spricht Tasso von Eulen und Fledermäusen, die auf furchterregende Weise seinen Kopf umschweben: »Das häßliche zweideutige Geflügel, / Das leidige Gefolg der alten Nacht, / Es schwärmt hervor und schwirrt mir um das Haupt. / Wohin, wohin beweg ich meinen Schritt? / Dem Ekel zu entfliehn, der mich umsaust, / Dem Abgrund zu entgehn, der vor mir liegt?« (V. 223 jff.). Tassos Verse versammeln auf engstem Raum traditionelle Motive und Metaphern der Melancholie. Zunächst evozieren die dunklen Farbwerte eine Atmosphäre des Düstren, Schattenhaften und Bedrohlichen. Vor diesem Unheil verheißenden Hintergrund erheben sich dann Eulen und Fledermäuse, die seit jeher zum festen Bestand der Melancholie-Emblematik gehören und auf die alptraumhaften Imaginationen des Melancholikers verweisen. Bereits in Dürers >Melencolia I< erhebt sich am linken oberen Bildrand eine ausgemergelte Fledermaus, die aus dem Gesamtarrangement herausgehoben ist, da sie eine Banderole mit dem Titel des Bildes trägt. Ein weiteres bekanntes Beispiel aus dem Bereich der bildenden Kunst ist Francisco de Goyas >Capricho 43 Wallensteins TodSpleenBeim jungen WeinFaustVorspiel auf dem Theater< konturiert hat. D o r t heißt es über den Poeten: »Wodurch bewegt er alle H e r z e n ? / W o d u r c h besiegt er jedes Element? / Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen dringt / U n d in sein H e r z die Welt zurücke schlingt?« (V. 1 3 8 f f . ) . Tassos harmonische Ganzheitserfahrungen konkretisieren sich immer w i e der in sinnlich faßbaren Bildern, so etwa im Sinnbild v o n A r k a d i e n , das f ü r ein Dasein in naturhafter Vollkommenheit steht. I m Zwiegespräch mit der Prinzessin entwirft Tasso eine Idylle, in der alle gesellschaftlichen K o n v e n t i o n e n zugunsten eines ursprünglichen Lebens aufgehoben sind (V. y j y i f . ) . E r beschreibt die goldene Zeit Arkadiens in leuchtenden Farben und schließt seinen H y m n u s mit dem arkadischen Wahlspruch: »Erlaubt ist was gefällt« (V.994). Bei dieser Formulierung handelt es sich nicht u m das moralisch anstößige M o t to eines zügellosen Libertin, sondern u m das elementare G r u n d g e s e t z eines ursprünglichen Daseins, w o ohne Regel und Vorschrift das Rechte getan w i r d , weil nur das Rechte und G u t e begehrt wird. Was >gefällterlaubtgut< ist. D a s übersieht die Prinzessin, w e n n sie Tassos Wahlspruch kritisiert und v o m Standpunkt höfischer Etikette in das M o t t o »Erlaubt ist was sich ziemt« umwandelt (V. 1006). Tasso geht es nicht darum, in dem engen G e f l e c h t höfischer K o n v e n t i o n e n einen Freiraum zu schaffen, w o der Mensch seine unstillbaren Triebe ungehindert ausleben kann. Wenn Tasso v o n Arkadien spricht, dann konfrontiert er die gesellschaftliche G e g e n w a r t mit einem vorzivilisatorischen Zustand, in dem Verbote und Restriktionen überflüssig sind, weil instinktiv nur das G u t e gewollt wird. D i e Metapher v o n A r k a dien steht somit f ü r ein ungebrochenes und nicht entfremdetes Dasein in ursprungshafter Glückseligkeit.
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In Kar] Philipp Moritz' Schrift >Über die bildende Nachahmung des Schönen*, die in engem Austausch mit Goethe während der Italienischen Reise entsteht, heißt es über den Dichter: »Der Horizont der tätigen Kraft aber muß bei dem bildenden Genie so weit, wie die Natur selber, sein: das heißt, die Organisation muß so fein gewebt sein, und so unendlich viele Berührungspunkte der allumströmenden Natur darbieten, daß gleichsam die äußersten Enden von allen Verhältnissen der Natur im Großen, hier im Kleinen sich nebeneinander stellend, Raum genug haben, um sich einander nicht verdrängen zu dürfen«. K. P. Moritz: Werke, hg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier, Bd. 2, Frankfurt a.M.1997, S.972.
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Wie in der Arkadien-Utopie, so manifestiert sich auch in der Elysium-Vision die ideale Dimension von Tassos Dichtertum. Im Anschluß an die Krönung mit dem Lorbeerkranz beschwört Tasso in einem Zustand dichterischer Ekstase die feste und unauflösbare Verbundenheit zwischen den großen Dichtern und Helden der Antike (V. 545ff.): O sah ich die Heroen, die Poeten Der alten Zeit u m diesen Quell versammelt! O sah ich hier sie immer unzertrennlich, Wie sie im Leben fest verbunden waren! So bindet der Magnet durch seine Kraft Das Eisen mit dem Eisen fest zusammen, Wie gleiches Streben Held und Dichter bindet. H o m e r vergaß sich selbst, sein ganzes Leben War der Betrachtung zweier Männer heilig, U n d Alexander in Elysium Eilt den Achill und den H o m e r zu suchen. O daß ich gegenwärtig wäre, sie Die größten Seelen nun vereint zu sehen!
In der Elysium-Vision artikuliert Tasso seine Sehnsucht nach einem Bündnis zwischen Held und Dichter. In ältester Zeit, so erklärt er, waren Held und Dichter eng verbunden. Homer verherrlichte die Taten der griechischen Helden Achill und Odysseus, während Alexander der Große in Elysium den Dichter Homer aufsuchte. Held und Dichter repräsentieren für Tasso die beiden Zentralbereiche des Lebens, sie stehen einerseits für Realität und >vita activas andererseits für Idealität und >vita contemplativa«. Diese beiden Bereiche gehören für Tasso eng zusammen - wo sie auseinanderfallen und unverbunden nebeneinanderstehen, gerät das Leben in die Entfremdung. Wenn sich die Tatwelt nicht an der Idealwelt orientiert, verliert sie das ihr vorgegebene Telos aus den Augen. Wenn aber die Sphäre der Idealität von der Realität abgelöst wird, so mangelt es ihr an Verwirklichung im konkreten Leben; die Idealität verkümmert dann zur illusionären Traumwelt. Held und Dichter - so will es Tassos Elysium-Vision - müssen als Repräsentanten der Realität und Idealität eng miteinander verbunden sein. Wie ein Magnet zwei Eisenstäbe zusammenschmiedet, so muß ihr Streben nach einem gemeinsamen Ziel sie vereinen. In der aktuellen Gegenwart freilich stehen Realität und Idealität unversöhnlich einander gegenüber. Das Bündnis zwischen Held und Dichter gehört ebenso wie die bukolische Idylle Arkadiens einer utopisch fernen Vergangenheit an. Tasso formuliert in seinen dichterischen Visionen immer wieder Alternativen zum gesellschaftlichen Status quo. Er kann solche Gegenmodelle entwerfen, da er aufgrund seiner >melancholia contemplativa« über den Dissonanzen der Gegenwart den Einklang einer harmonischen Lebensordnung vernimmt. Tassos Visionen wollen nicht nur unverbindliche Fiktionen sein, nicht bloß poetische Surrogate, die all das ersetzen, was die defizitäre Gegenwart versagt. 134
Sie suchen nach Verwirklichung in der konkreten Lebensrealität; sie wollen das Ideal an die Realität vermitteln und so die verlorene Einheit wieder herstellen. Tassos utopische Entwürfe verfolgen eine gesellschaftliche Wirkungsabsicht, was sich insbesondere an dem großen Versepos >Das befreite Jerusalem< zeigen läßt. A u c h diese Dichtung fixiert einen idealen Zielpunkt, von dem die gegenwärtige Realität weit entfernt ist. Während aber die Visionen von Arkadien und Elysium in die Vergangenheit gerichtet sind und den Verlust einer ursprünglichen Seinsharmonie beklagen, richtet sich die Utopie des >Befreiten Jerusalems< in die Z u k u n f t und beschwört die Wiederherstellung dieser Seinsharmonie. Im Sinnbild des >Befreiten Jerusalems< scheint die gleichsam eschatologische Vorstellung einer neuen Welt auf - das >Befreite Jerusalem< wandelt sich in ein >Himmlisches Jerusalems Daß Tasso mit seinem Versepos keine gefällige Poesie für Mußestunden schreibt, sondern ein Werk mit hohen gesellschaftlichen Zielsetzungen, wird im Verlauf des Dramas mehrfach exponiert (V. 686ff.; V. 263 i f f . ) . » Tassos Streben nach einer Verbindung von Tatwelt und Idealwelt, nach einem Bündnis von Held und Dichter manifestiert sich nicht zuletzt auch in seinem hartnäckigen Werben um Antonios Freundschaft. Antonio aber weist Tasso kalt zurück und provoziert ihn, indem er jenen Lorbeerkranz verspottet, der f ü r Tasso einen höchsten Wert besitzt. Tassos Selbstverständnis wird durch A n tonios gehässige Invektiven fundamental erschüttert.' 6 Die Auseinandersetzung zwischen beiden Kontrahenten eskaliert und gipfelt schließlich in Tassos Duellforderung. In diesem Augenblick betritt der Herzog die Szene und unterbricht den Zweikampf. E r bestraft Tasso wegen dessen physischer Gewaltandrohung mit Zimmerarrest, beläßt ihm aber seinen Degen und damit auch seine Ehre. Trotz dieser milden Strafe bricht Tassos idealistisches Weltbild gänzlich zusammen. E r glaubt, das Unrecht in Gestalt Antonios triumphiere über das Recht und er selbst sei das O p f e r einer gemeinen Willkürhandlung. Für Tasso manifestiert sich in der Provokation durch Antonio und in der Bestrafung durch den Herzog das Unheil einer Welt, die der völligen Entfremdung anheimgefallen ist und in der das Ideal keine Durchsetzungskraft mehr besitzt. Tasso legt seinen Lorbeerkranz und seinen Degen ab und bringt damit zum Ausdruck, daß er die H o f f n u n g auf eine Versöhnung von Idealität und Realität
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Vgl. hierzu Gerhard Kaiser: Der Dichter und die Gesellschaft in Goethes >Torquato T a s s o s S. 189. Walter Hinderer verkennt Tassos gesellschaftliche Wirkungsabsichten, wenn er dessen Visionen als »fruchtlose Utopie nach rückwärts« und als »poetischen Illusionismus« diskreditiert. W. Hinderer: T o r q u a t o Tasso«, S. i9of. Vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 3 4 i f . Vgl. ferner Wolfdietrich Rasch: Goethes >Torquato T a s s o s S. 108: »Für Tasso ist dieser Spott mehr als eine empfindliche Kränkung: eine Verneinung seines Daseins von G r u n d aus und fast ein Frevel, weil er nicht nur ihn als Menschen trifft, sondern die göttliche Dichtergabe selbst, die ihm verliehen ist«.
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verloren hat. E r gibt sein idealistisches Dichtertum auf: »Du nimmst dir selbst, was keiner nehmen konnte / Und was kein Gott zum zweiten Male gibt. / [ . . . ] / Wer weinte nicht, wenn das Unsterbliche / Vor der Zerstörung selbst nicht sicher ist?« (V. ι J77ff.). 3 7 Tassos Vertrauen in die Welt ist erschüttert, das Ideal, das er in seinen Visionen immer wieder besungen hat, fällt der Zerstörung anheim. Zurück bleibt eine öde Gegenwart, die von Trauer und Schmerz über das unwiederbringlich Verlorene bestimmt 1st.38 Nach der Duellszene tritt Tasso nicht mehr als ideal-utopischer Dichter auf, da er den Glauben an die Möglichkeit einer universalen Aussöhnung verloren hat. E r erscheint nicht mehr als Sänger einer kosmischen Heilsordnung, sondern als geschlagener und gebrochener Mensch, der sein Schicksal kaum noch zu tragen vermag. Den Verlust seines dichterischen Ideals beschreibt Tasso am Ende des fünften Aktes im Bild der Welle, die einst die Sonne und die Sterne des Himmels spiegelte, die nun aber, von Sturmwinden aufgepeitscht, blind und matt geworden ist: »In dieser Woge spiegelte so schön / Die Sonne sich, es ruhten die Gestirne / A n dieser Brust, die zärtlich sich bewegte. / Verschwunden ist der Glanz, entflohn die Ruhe« (V. 3442ff.). 39 Sonne und Sterne stehen in diesem Bild für die harmonische kosmische Seinsordnung, während die Welle, die Sonne und Sterne reflektiert, auf die ideale Dimension von Tassos Dichtertum verweist. Die Welle aber hat ihre Spiegelfähigkeit verloren. Tasso ist nicht mehr in der Lage, die Sphäre des Idealen in seiner Dichtung zu spiegeln und an die erlösungsbedürftige Realität zu vermitteln. Der auf sein ideales Ziel ausgerichtete Dichter zerschellt an den Widerständen der Welt. Sein Schiff, so formuliert es das letzte Bild des Dramas, läuft auf den Felsen auf, der von Antonio verkörpert wird: »Zerbrochen ist das Steuer und es kracht / Das Schiff an allen Seiten. Berstend reißt / Der Boden unter meinen Füßen auf!« Gegenüber Antonio erklärt Tasso abschließend: »Ich fasse dich mit beiden Armen an! / So klammert sich der Schiffer endlich noch / A m Felsen fest, an dem er scheitern sollte« (V. 3 4 4 8ff.).TassoTassoLila
Lila< im Kontext der zeitgenössischen Melancholie-Debatte
In den bislang analysierten Werken erwies sich die Melancholie als unbezwingbare Macht und als unheilbare Krankheit. Torquato Tasso ist am zerstörerischen Einfluß der Melancholie zerbrochen, und Werther hat auf dem Höhepunkt seiner Verzweiflung sogar Selbstmord begangen - die wiederholten Therapieversuche sind allesamt mißlungen. Das Singspiel >Lila< führt im Gegensatz zu den bisherigen Werken eine erfolgreiche Heilbehandlung vor und demonstriert damit, daß Goethe trotz seiner generellen Skepsis unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit einer gelingenden Melancholietherapie durchaus ernsthaft erwog. Wie Werther und Tasso leidet auch Lila unter depressiven Verstimmungen, die sich unter dem Eindruck einer unzutreffenden Todesnachricht bis zur pathologischen Wahnbildung verschärfen. Im Gegensatz zu ihren tragischen Vorgängern kann Lila freilich von ihrer melancholischen Krankheit geheilt werden, und zwar mit Hilfe einer psychotherapeutischen Behandlungsmethode, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts europaweit zu lebhaften Auseinandersetzungen führt. Mit seinem Singspiel setzt Goethe dem sogenannten >moral management ein literarisches Denkmal; er gibt sich als Verfechter einer modernen und von humanem Geist geprägten Medizin zu erkennen, die sich von den Methoden der traditionellen Humoralpathologie kritisch distanziert und neue Wege im Umgang mit melancholischen Patienten beschreitet. Im Oktober 1 8 1 8 schreibt Goethe aus Anlaß einer geplanten A u f f ü h r u n g seines Singspiels an Karl Friedrich Graf von Brühl: »Das Sujet ist eigentlich eine psychische Kur, w o man den Wahnsinn eintreten läßt, um den Wahnsinn zu heilen« (FA 5, 937). Mit dieser Äußerung bezieht sich Goethe auf die zeitgenössische Debatte um die Heilbehandlung des >moral management, das in Deutschland vor allem unter dem von Reil und H o f f b a u e r etablierten Begriff der >psychischen Kurmethode< breiteren Kreisen bekannt wird. Die >Lila< enthält einige interessante und aufschlußreiche Szenen, in denen die alten und über Jahrhunderte hinweg unkritisch tradierten Heilpraktiken den neuen und insbesondere im Zuge der Aufklärung entwickelten Behandlungsformen unmittelbar gegenübergestellt werden.' 1
U b e r die Heilpraktiken des >moral management informiert Kap. II.9. 1
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2.
Die drei Fassungen der >Lila< und ihr biographischer Hintergrund
D i e meisten Werke Goethes zeichnen sich durch eine lange und oftmals v e r w i k kelte Entstehungsgeschichte aus - so auch das Singspiel >LilaLilaLilaUr-Lila< bezeichnet, sind nur einige A r i e n und Chorgesänge überliefert. A n h a n d dieser erhaltenen Textpartien läßt sich der ursprüngliche Handlungsverlauf jedoch relativ gut rekonstruieren. 1 D i e vielleicht augenfälligste D i f f e r e n z zwischen der frühen Fassung und den späteren Versionen liegt in der wechselnden Personenkonstellation. W ä h rend in der ersten Version des Singspiels noch Sternthal als H a u p t p e r s o n agiert, steht ab der zweiten Textstufe Lila im Mittelpunkt der H a n d l u n g . Weitere Veränderungen zeigen sich v o r allem im Bereich der psychologischen M o t i v i e r u n g des dramatischen Geschehens. Steht die >Ur-Lila< noch ganz im H o r i z o n t einer märchenhaften Maskerade, die auf äußere W i r k u n g und überraschende E f f e k t e angelegt ist, bemühen sich die späteren Fassungen u m eine seelische Vertiefung und Verinnerlichung des zentralen Konfliktes. 3 D i e zweite Fassung des Singspiels geht auf das J a h r 1778 zurück. In dieser Version tauscht G o e t h e die Hauptpersonen aus und zentriert die H a n d l u n g nunmehr allein u m Lila, die in eine tiefe Melancholie versunken ist. Handelte es sich bei Sternthals S c h w e r m u t in der ersten Fassung lediglich u m eine v o r ü b e r -
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Vgl. in diesem Zusammenhang den Rekonstruktionsversuch von Karl Rhode: Studien zu Goethes >LilaLilaWahnsinns< durch >psychische KurLila< versehen. Vorher nannte er das Stück lediglich >Drama< oder nach dem Namen der ursprünglichen Hauptfigur - >SternthalTassoLilaJery und Bätelys alles um- und ausgearbeitet, daß man es nicht mehr kennen soll« (HA : 1,516). 141
eine Wiederaufführung des Singspiels am Berliner Opernhaus >Unter den Lind e n plante. Goethe erkannte sogleich, daß das ursprünglich für ein Liebhabertheater konzipierte Stück den wesentlich höheren Ansprüchen des Berliner Opernpublikums nicht genügen würde. Da er sich zu einer erneuten Umarbeitung gleichwohl nicht durchzuringen vermochte, ging das Singspiel in der römischen Fassung von 1788 über die Bühne. Der Erfolg fiel, wie nicht anders zu erwarten, bescheiden aus.6 Man hat die zentralen Konflikte der >Lila< wiederholt auf die Welt des Weimarer Hofes zu projizieren versucht, wobei die Lebensumstände des fürstlichen Paares naturgemäß im Mittelpunkt des Interesses standen. In der Rolle der melancholischen Lila vermeinte man die Herzogin Louise wiederzuerkennen, die während der ersten Ehejahre unter schweren depressiven Verstimmungen zu leiden hatte. Goethe wollte mit der >Lila< - so die überwiegende Meinung der Forschung - auf das Gemüt der melancholischen Herzogin einwirken und die von zahlreichen Spannungen überschattete Ehe mit Carl August positiv beeinflussen. Die Identifikation der Herzogin mit Lila greift indes zu kurz, da gerade in der ersten Fassung des Singspiels, die zum zwanzigsten Geburtstag der Herzogin aufgeführt wurde, nicht Lila, sondern Sternthal als melancholische Hauptfigur agiert. Nun ließe sich vielleicht einwenden, Goethe habe die Geschlechterrollen bewußt vertauscht, um die Anspielungen auf das Fürstenpaar leicht zu verschleiern. Gegen eine solche Argumentation spricht jedoch die Tatsache, daß gerade Carl August, der in seinen ersten Ehejahren einen ungestümen Lebenswandel nach Sturm-und-Drang-Manier führte, im Singspiel kein entsprechendes Pendant findet. 7 Einer anderen Auffassung zufolge reflektiert die frühe Version der >Lila< Goethes eigenen Hang zur Melancholie und Hypochondrie. 8 Goethe - so die Erklärung - litt während der ersten Weimarer Jahre unter dem prekären Verhältnis zu Charlotte von Stein, das die Grenzen einer rein platonischen Beziehung nicht überschreiten durfte. Er verfiel deshalb immer wieder in selbstquälerische Klagen, wie das Postskriptum eines Briefes vom 24. Juli 1776 an Charlotte von Stein eindrucksvoll dokumentiert. In geradezu masochistischer Erregung bekennt Goethe der stets auf Distanz achtenden Geliebten: »Will mich in der Melankolie meines alten Schicksaals weiden nicht geliebt zu werden wenn ich liebe« (FA 29, 53). Die Vertreter des überwiegend autobiographisch orientierten Deutungsansatzes, der Goethe mit dem melancholischen Sternthal der ersten Fassung identifiziert, versuchen ihre Position durch den Hinweis auf ei6
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Goethes Bedenken hinsichtlich der Berliner Aufführung illustriert der Brief an Friedrich Ludwig Seidel vom 3. Februar i 8 i é (FA 5, 937). Der Versuch Richard Friedenthals, Carl August mit der Rolle des Ogers zu identifizieren, entbehrt jeder hermeneutischen Grundlage. R. Friedenthal: Goethe. Sein Leben und seine Zeit, München/Zürich S. 237. Vgl. hierzu auch den >LilaStern< gewohnt habe; hinter der Fee Sonna, die lediglich in der ersten Fassung auftritt, verberge sich die Gestalt der Charlotte von Stein, f ü r die Goethe in seinen Tagebuchaufzeichnungen oft das astronomische Symbol der Sonne eingesetzt habe; mit dem dämonischen Oger indes, der im Singspiel von Graf Altenstein dargestellt wird, weise Goethe auf Charlottes Ehemann, den Oberstallmeister von Stein hin. 9 Gestützt wird diese Auslegung scheinbar durch eine Briefnotiz vom 3. Januar 1 7 7 7 , in der Goethe an Charlotte von Stein schreibt: »Heut hab ich in der Schwachheit meiner Sinne den ersten Ackt verfertigt. [...] Grüßen Sie den Freund Oger« (WA IV/3, 128). Die autobiographische Deutung, die Sternthal auf Goethe und die anderen Figuren des Dramas auf Personen des Weimarer Hofes zurückführt, bleibt letztlich spekulativ und trägt nur wenig zum Verständnis des Stückes bei. Wenn es wirklich Goethes Absicht war, sein schwieriges Verhältnis zu Charlotte von Stein in der >Lila< zu spiegeln, so stellt sich die unausweichliche Frage, warum die geliebte Freundin dann gerade in der Gestalt der Fee Sonna erscheint und nicht in der von Sternthal verloren geglaubten Lila, die aus der Gewalt des bedrohlichen Ogers gerettet werden muß. Eine weitere Unstimmigkeit ergibt sich, wenn man bedenkt, daß Goethe bei der Uraufführung der >Lila< nicht die Rolle Sternthals, sondern die des D o k t o r Verazio gespielt hat. Angesichts solcher Ungereimtheiten sollte man auf autobiographische Erklärungsmuster verzichten und statt dessen die literarischen Quellen stärker in den Vordergrund rücken, die Goethe f ü r die Konzeption seines Stückes herangezogen hat. Als wichtigste Vorlage diente ihm wohl ein Drama des Franzosen Jean de Rotrou mit dem Titel >L'Hypocondriaque ou Le Mort amoureux« (1629). In dieser Tragikomödie, die sich Goethe möglicherweise am 23. Dezember 1776 von Charlotte von Stein erbeten hat (WA IV/3, 127), erhält ein junger Aristokrat die Nachricht vom vermeintlichen Tod seiner Geliebten. E r versinkt in eine schwere Melancholie und glaubt bereits gestorben zu sein. Einige Freunde des Protagonisten inszenieren daraufhin ein skurriles Schauspiel, in dem mehrere Tote wieder zum Leben erweckt werden. Zuletzt erscheint auch die fälschlich f ü r tot gehaltene Geliebte wieder, woraufhin der kranke Protagonist von seiner Melancholie geheilt ist. Diese Tragikomödie von Rotrou erinnert in mancherlei Hinsicht an die spektakulären Geschichten, die in den psychiatrischen Handbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts immer wieder als Fallbeispiele für erfolgreiche Heilbehandlungen referiert wurden. 1 0
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Vgl. hierzu den Kommentar von Dieter Borchmeyer ( F A 5, 939Í.). Gottfried Diener hat auf eine weitere mögliche Quelle für Goethes Singspiel hingewiesen: die >Contes de Féerie< von Antoine Hamilton. Insbesondere das Feenmärchen >Die vier Facardine« enthält seines Erachtens einige markante Motive, die Goethe in
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Mit der umfangreichen Überarbeitung des Singspiels im Februar 1778 geht die Titelrolle von Sternthal auf Lila über, die im Gegensatz zum Hauptakteur der ersten Fassung nicht mehr nur an einer vorübergehenden Verstimmung leidet, sondern von einer schweren und mitunter lebensgefährlichen Melancholie heimgesucht wird. Der entscheidende Anstoß für die Neubearbeitung, die mit einer entschiedenen Wendung ins Tragische verbunden ist, geht möglicherweise auf den Freitod der jungen Offizierstochter Christiane von Laßberg zurück, die sich am Abend des 16. Januar 1778 aus Liebeskummer in der Ilm ertränkte. Ihre Leiche entdeckte man am Morgen des folgenden Tages nahe bei Goethes Gartenhaus am Ufer des Flusses; in ihrer Tasche befand sich ein Exemplar des >WertherLila< in Angriff nahm. 11 Goethe hat die Gestalt des Doktor Verazio in der Fassung von 1778 mit Einsichten ausgestattet, die zumindest teilweise auf eigene Erfahrungen im Umgang mit melancholisch verstimmten oder gar erkrankten Personen während der ersten Weimarer Jahre zurückgehen. Von besonderer Bedeutung für Goethes therapeutisches Wissen war die Begegnung mit dem Hypochonder Friedrich Victor Lebrecht Plessing, den er im Dezember 1777 während seiner Harzreise inkognito aufsuchte. Plessing litt an einer hochgradigen Melancholie mit eindeutig pathologischen Symptomen und hatte zwei selbstquälerische Briefe an Goethe geschrieben. Dieser versuchte ihm daraufhin mit verschiedenen Therapievorschlägen beizustehen und insbesondere den völlig erlahmten Tätigkeitssinn neu zu beleben - eine Behandlungsmethode, die auch in der neugefaß ten >Lila< mehrfach an zentraler Stelle begegnet. 12 In der endgültigen Version des Singspiels, die Goethe während seines zweiten römischen Aufenthalts vollendete, rückt die psychotherapeutische Kompetenz des Doktor Verazio noch deutlicher in den Mittelpunkt. Er ist zum weisen Seelenarzt gereift und kennt die Ursachen psychischer Erkrankungen ebenso gut wie die Voraussetzungen und Schwierigkeiten ihrer Heilung. In die letzte
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der >Lila< aufgegriffen hat. G . Diener: Goethes >LilaLila< vor allem aus einer Verbindung verschiedener Geschichten aus >1001 Nacht< hervorgegangen sei. Eine zentrale Bedeutung kommt ihres Erachtens der >Geschichte von Kodadad und seinen Brüdern< zu. K. Mommsen: Goethe und 1001 Nacht, S. 39-49. Vgl. zu diesem Aspekt Gottfried Diener: Goethes >LilaCampagne in Frankreich« (HA 10, 321-335).
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Fassung der >Lila< sind w o h l weitere E r f a h r u n g e n eingeflossen, die G o e t h e in den J a h r e n v o r seiner Italienreise gesammelt hat.' 1 Hingewiesen sei hier nur auf die fürsorgliche Teilnahme am Schicksal des unter V e r f o l g u n g s w a h n und schweren Depressionen leidenden J o h a n n Friedrich K r a f f t ( F A 29, 827) sowie auf das wohltätige Engagement in dem »verworrnen Handel« der Familie E i n siedel, bei welcher Gelegenheit sich G o e t h e den Ehrentitel eines >moralischen Leibarztes< zulegte ( F A 29, 378). N e b e n diesen Vorfällen, die G o e t h e als Freund und Therapeut aus nächster N ä h e miterlebte, haben zweifellos auch eigene Seelenkrisen während der Weimarer J a h r e die künstlerische Auseinandersetzung mit der Melancholie geprägt. 1 4
3.
Lilas Melancholie - Pathogenese und Therapie
D i e der folgenden A n a l y s e zugrundeliegende E n d f a s s u n g der >Lila< entstand im R a h m e n der ersten Werkausgabe, die G o e t h e v o n 1 7 8 7 bis 1790 bei G ö s c h e n in L e i p z i g herausbrachte. Es ist sicherlich kein Z u f a l l , daß das Singspiel gerade mit dem D r a m a >Torquato Tasso< im sechsten B a n d der A u s g a b e zusammengeführt w u r d e , umkreisen doch beide Werke in analoger Weise die Problematik der Melancholie. A u f den zentralen Stellenwert der Melancholie in beiden Dichtungen verweist bereits die Titelvignette des sechsten Bandes mit einer geflügelten Psyche, die auf ihre K n i e niedergesunken ist, beide A r m e mit Stricken gefesselt auf dem R ü c k e n hält und den Blick trauernd zur E r d e neigt. Im Titelk u p f e r treten die ambivalenten Wirkungen der Melancholie s o w i e die therapeutischen K r ä f t e der Dichtkunst deutlich zutage. D i e P s y c h e ist z w a r gefesselt, zugleich aber trägt sie, ähnlich w i e D ü r e r s Melencolia, zwei mächtige F l ü gel.
3.1.
Melancholische E r k r a n k u n g und empfindsame Schwärmerei
D i e knappe Regieanweisung zu Beginn des ersten A u f z u g s beschreibt eine G r u p p e junger Leute beim Tanz - heitere Geselligkeit und ausgelassene F r ö h lichkeit bestimmen die Szene. D i e Lebensfreude, die aus dem Tanzvergnügen zu sprechen scheint, ist freilich trügerisch, denn auf dem Landgut des Barons Sternthal herrschen Ratlosigkeit und Trauer. Lila, die zu S c h w e r m u t und Trüb13
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Vgl. Frank Nager: Der heilkundige Dichter. Goethe und die Medizin, Zürich/München 1990, S. 128-134. Die hier nicht weiter auszuführende Begegnung mit der >schönen MailänderinLehrjahren< nach der Untersuchung des Harfners artikuliert (HA 7, 43éf.).
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den können. Sie war immer mit ihren Gedanken zu wenig an der Erde« ( F A 5, 843). Schon vor der Schreckensnachricht vom angeblichen Tod ihres Gatten zeichnete sich Lila durch eine hypertrophe Einbildungskraft, durch einen ausgeprägten Hang zur Selbstisolierung und durch fortwährende Stimmungswechsel aus. Die Unglücksbotschaft hat also die Melancholie nicht allererst hervorgerufen, sondern lediglich in hohem Maße verschärft. D e n Übergang von der >habituellen< zur >krankhaften< Melancholie schildert Graf Friedrich, als D o k t o r Verazio ihn zu den möglichen Ursachen und Bedingungen der E r krankung befragt. E r erklärt, Lilas Hang zur trübsinnigen Schwärmerei sei unter dem Eindruck jener falschen Todesnachricht in ein >hitziges Fieber< umgeschlagen und habe sich dann in einem >wahnhaften< Wirklichkeitsverlust fixiert. »Aber wer unterscheidet ihn von der tiefen Melancholie, in der sie [seit je] vergraben war?« ( F A 5, 844). Mit dieser rhetorischen Frage hebt Friedrich den engen Zusammenhang zwischen >habitueller< und >krankhafter< Melancholie besonders deutlich hervor. Vergleicht man Lilas melancholische Erkrankung mit derjenigen Werthers, so lassen sich einige interessante Analogien aufweisen. Auch Werther verrät bereits in den ersten Briefen, die er an seinen Freund Wilhelm schreibt, eine deutliche Disposition zur Schwermut, die sich dann unter dem Eindruck der Beziehung zu Lotte sukzessive verschärft und schließlich in eine pathologisch ausartende Melancholie umschlägt. Wie bei Werther, so tritt auch bei Lila ein gefährlicher Realitätsverlust zutage. Bereits zu Beginn des zweiten Aktes erklärt Lila in ihrer ersten Arie: »Ich schwinde, verschwinde, / Empfinde und finde / Mich kaum. / Ist das Leben? / Ist's Traum?« (FA 5, 848). D e r T r a u m als C h i f f r e f ü r eine sich nach und nach auflösende Wirklichkeitswahrnehmung konnte bereits in der Analyse des >Werther< als typisches Symptom einer paranoiden Melancholie diagnostiziert werden. In der >Lila< ist die abgebrochene Beziehung zur realen Außenwelt die wesentliche und grundlegende Ausdrucksform der Melancholie. Lila erklärt: »Ich schwanke im Schatten, habe keinen Teil mehr an der Welt« (FA 5, 848). Eine weitere aufschlußreiche Parallele zu Werther manifestiert sich in Lilas melancholischer Empfindsamkeit. Der empfindsam-schwärmerische Habitus, der Werther in zahlreichen Briefen kennzeichnet, charakterisiert auch Lila in besonderem Maße. N a c h der Unglücksbotschaft etwa bezieht sie eine abgelegene Hütte, um sich dort, fernab aller menschlichen Gesellschaft, ihren schwermütigen Phantasien überlassen zu können. Lila nimmt die typischen Schwärmer-Attitüden an: Sie kleidet sich in schwarze Gewänder, schläft während des Tages in ihrer Hütte und spaziert nachts beim matten Licht des Mondes allein umher. Der Baron, der Lila in ihrer Einsamkeit von Zeit zu Zeit heimlich beobachtet, berichtet Verazio: »Mit halb unsicherm Tritt schleicht sie auf und ab, neigt sich bald vor den Sternen, kniet bald auf den Rasen, umfaßt einen Baum, verliert sich in den Sträuchen wie ein Geist!« ( F A 5, 842). Diese Beschreibungen
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erinnern unwillkürlich an die schwermütigen Nachtphantasien Ossians, die Werther kurz vor seinem Selbstmord gemeinsam mit Lotte liest.' 6 Wenn Lila zu Beginn des zweiten Aktes erstmals selbst die Bühne betritt, manifestiert sich ihre empfindsame und schwärmerische Melancholie vollends. Schon die ersten Worte, die sie spricht, lauten: »Süßer Tod! süßer Tod! komm und leg' mich in's kühle Grab!« (FA 5, 848). Mit den gleichen Formulierungen endet auch die Arie, die Lila kurz darauf anstimmt: »Komm, süßer Gedanke, / Tod! Bereite mein Grab!« Diese gefühlsselige Todessehnsucht, die in mancherlei Hinsicht an die Tradition des >joy of grief< anknüpft, zeigt deutlich, daß Goethe in der >Lila< nach dem gleichen Muster verfährt wie bereits im >WertherLila< erhielt, da sie unter den Mitgliedern des Zirkels die weitaus >Empfindsamste< war. Louise von Ziegler pflegte einen schwärmerischen Todeskult. Sie ließ in ihrem Garten unter Rosenlauben eine Gruft anlegen, in die sie sich immer wieder hineinlegte, um die vermeintlich melancholischen Gefühle einer Sterbenden oder gar schon Gestorbenen auszukosten. A n diese Lila aus Goethes Darmstädter Freundeskreis erinnert auch die Lila des Singspiels, wenn sie im zweiten Aufzug wiederholt den >süßen Tod< beschwört oder der wohlwollenden Fee Almaide erklärt: »Vom Grabe her säuselt die Stimme des Windes lieblicher, als deine süße Lippe mich locken kann« (FA 5, 855). 17
3.2.
Doktor Verazio als kundiger Seelenarzt
Bereits in den Anfangsdialogen des ersten Aktes kreist das Gespräch immer wieder um Ärzte, die vor Lilas melancholischem Wahnsinn kapitulieren mußten. Verhängnisvollerweise haben viele der herbeigerufenen Mediziner nicht 16
Der Wortlaut dieser Sätze erinnert überdies auch an die fünfte Strophe der >Harzreise im Winten, w o es unter Anspielung auf den hochgradig hypochondrischen Plessing heißt: »Aber abseits, wer ist's? / Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, / Hinter ihm schlagen / Die Sträuche zusammen, / Das Gras steht wieder auf, / Die Ode verschlingt ihn« (HA 1 , 5 1 ) . ' 7 Ein literarisches Denkmal hat Goethe Louise von Ziegler im Fräulein von B. gesetzt, das Werther während seiner Zeit als Gesandtschaftssekretär kennenlernt und das er im Brief vom 20. Januar ausführlich charakterisiert. Uber Louise von Ziegler und über den empfindsamen Melancholiekult des Darmstädter Kreises informiert die (leider ebenfalls allzu empfindsam gestimmte) Arbeit von Valerian Tornius: Die Empfindsamen in Darmstadt. Studien über Männer und Frauen aus der Wertherzeit, Leipzig 1910, zu Louise von Ziegler bes. S. 110—121. 148
nur jämmerlich versagt, sondern darüber hinaus mit dubiosen Heilmethoden Lilas ernsten Zustand noch verschlimmert. E s verwundert daher nicht, daß das Vertrauen der höfischen Gesellschaft in die Kunst der Medizin nachhaltig gestört ist. Mit bitterem Spott gedenkt man der unzähligen »Quacksalber«, die mit gewalttätigen Roßkuren Lilas Qualen lediglich vergrößert haben. »Wenn sie nur was zu sezieren, klystieren, elektrisieren haben, sind sie bei der Hand, um nur zu sehen, was eins f ü r ein Gesicht dazu schneid't, und zu versichern, daß sie es wie im Spiegel voraus gesehen hätten« ( F A 5, 840). Von »Zahnbrechern« und »Marktschreiern« will sich die höfische Gesellschaft keine Hilfe mehr erbitten, und schon gar nicht will sie sich noch einmal zum Kauf ominöser »Pferdearzneien« überreden lassen. »Wir werden keinem mehr G e h ö r geben« - so lautet das kurze und bündige Fazit des Grafen Friedrich (FA 5, 838). Wie bereits dargelegt wurde, führen im 18. Jahrhundert aufklärerische Grundsätze zu einer weitgehenden Neuorientierung im Umgang mit Geisteskranken. Mediziner verzichten zunehmend auf schmerzhafte Behandlungsformen und entwickeln statt dessen humane Therapiemodelle, die nicht auf die gewaltsame Beseitigung somatischer Störungen abzielen, sondern mit meist sanften Methoden Defekte im Bereich des Seelenlebens zu beheben versuchen. Trotz dieses allgemeinen Wandels im Umgang mit psychisch Kranken finden sich auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch traditionelle Behandlungsmethoden, die auf grobe und schmerzhafte Eingriffe nicht verzichten zu können glauben. Gerade in den Niederungen der medizinischen Kunst begegnen häufig die bereits überholten und als abträglich verworfenen Methoden. O f t sind es die von Stadt zu Stadt reisenden »Wunderheiler«, die sich auf zweifelhafte Weise das Vertrauen der hilflosen Patienten und ihrer Angehörigen erschleichen und dann mit ebenso veralteten wie fragwürdigen Heilpraktiken großen Schaden anrichten. Solche Wunderheiler haben sich auch an der kranken Lila vergangen, wie aus den erregten Worten des Barons Sternthal hervorgeht. »Mir schaudert's«, erklärt er, »wenn ich an die Kuren denke, die man mit ihr gebraucht hat, und ich zittre, zu was f ü r weitern Grausamkeiten gegen sie man mich verleiten wollte, und fast verleitet hätte« (FA 5, 841). Trotz aller Enttäuschungen und definitiven Beschlüsse hat Graf Altenstein erneut einen A r z t um Beistand gebeten. Daß es sich bei diesem Arzt mit dem bedeutungsvollen Namen >Doktor Verazio< um keinen gewöhnlichen Mediziner handelt, wird sehr schnell deutlich. Er tritt bescheiden und zurückhaltend auf, solange es um seine eigene Person geht; ihm liegt weder am rasch verdienten Geld noch am schnell erworbenen Ruhm. Sobald indes das Schicksal der Kranken in den Vordergrund tritt, zeigt er sich von einem energischen Tatendrang und einer unbeirrbaren Hartnäckigkeit beseelt. Dem Baron, der sich von ihm belästigt fühlt, entgegnet er: »Jeder, der in sich fühlt, daß er etwas Gutes wirken kann, muß ein Plaggeist sein. E r muß nicht warten, bis man ihn ruft; er muß nicht achten, wenn man ihn fortschickt. E r muß sein, was H o m e r an den 149
Helden preis't, er muß sein wie eine Fliege, die, verscheucht, den Menschen immer wieder von einer andern Seite anfällt« (FA 5, 840). Wenn Verazio gegenüber Sternthal die Unerbittlichkeit der Fliege lobt und mit der Beharrlichkeit des Homerischen Helden vergleicht, so spielt er auf eine Sequenz in der >Ilias< an, w o es von dem durch die Göttin Athene angefeuerten Menelaos heißt: »Und in das Herz ihm gab sie der Flieg unerschrockene Kühnheit: / Welche, wie oft sie immer vom menschlichen Leibe gescheucht wird, / Doch anhaltend ihn sticht, nach Menschenblute sich sehnend«. 18 Dieses Ethos des Homerischen Helden verkörpert auch Doktor Verazio auf seine Weise, denn mit leidenschaftlicher Entschlossenheit verfolgt er den Vorsatz, Lila von ihrer Melancholie zu heilen. Das Ziel fest vor Augen, läßt er sich durch die Skrupel und Bedenken ihrer Verwandten nicht beirren. Er erinnert an seinen großen englischen Vorfahren William Battie, der die psychotherapeutische Methode des >moral management gegen alle Widerstände energisch verteidigte und von der Möglichkeit einer nachhaltigen Heilung des englischen Königs Georg III. fest überzeugt war. Doktor Verazio beeindruckt die skeptische Gesellschaft durch seine kraftvolle und zugleich sensible Persönlichkeit. Sein außergewöhnliches Charisma und seine bemerkenswerte Menschenkenntnis führen dazu, daß die verunsicherten Verwandten Lilas schließlich neuen Mut schöpfen. Selbst Sternthal, der lange zweifelt und an seinen Vorbehalten festhält, läßt sich zuletzt von der edlen Gesinnung und dem Sachverstand des neuen Arztes überzeugen. Durch geschickte Fragen und kluge Verknüpfungen rekonstruiert Verazio zunächst das Ursachengeflecht, das Lilas melancholische Erkrankung hervorgerufen hat. Er erkennt dabei, daß Lilas Schock in enger Beziehung zu ihrer Hypersensibilität und psychischen Labilität gesehen werden muß. Noch während Doktor Verazio mit der Rekonstruktion des Krankheitsverlaufs beschäftigt ist, überbringt Graf Altenstein eine Nachricht, die für die abschließende Diagnose von zentraler Bedeutung sein wird: Lila hat ihrem Kammermädchen unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, daß ihr eine Offenbarung zuteil geworden sei. Sie wisse nun, daß Sternthal nicht tot sei, sondern lediglich von »feindseligen Geistern< gefangen gehalten werde, die es auch auf sie selbst abgesehen hätten. Sie müsse sich deshalb verstecken und den Zeitpunkt abwarten, der eine Befreiung ihres Gemahls ermögliche. Diese neue Nachricht stimmt mit einer Vermutung überein, die Doktor Verazio bereits während der Anamnese erwogen hat: »Dies bestätigt in mir einen Gedanken, den ich schon lang' in mir herumwerfe« (FA 5, 845). Doktor Verazio sieht in den vom Wahn produzierten Phantasiebildern Lilas nicht bloß sinnlose Hirngespinste, sondern er erkennt in ihnen Momente einer 18
Homer: Ilias, Siebzehnter Gesang, V. 570-572. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß.
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symbolisch verschlüsselten Zeichensprache, die es zu dechiffrieren gilt. Im Gegensatz zu seinen unseriösen Vorgängern lehnt Doktor Verazio physiologische Heilmethoden unter der Prämisse einer materialistischen Anthropologie ab. Sowohl operative Eingriffe wie auch humoralphysiologische Roßkuren führen seines Erachtens zu keinem Erfolg, sondern verschlimmern lediglich die Beschwerden des Patienten. Verazio vertraut allein auf die psychotherapeutische Behandlung, die auf mentalem Wege in die melancholische Phantasiewelt des Patienten eindringt und diesen von dort in die reale Welt zurückzuführen versucht. Dem immer noch skeptischen Baron gegenüber erklärt Verazio: »Es ist hier nicht von Kuren noch von Quacksalbereien die Rede. Wenn wir Phantasie durch Phantasie kurieren könnten, so hätten wir ein Meisterstück gemacht« (FA 5, 845). >Phantasie durch Phantasie kurieren< - mit dieser griffigen Kurzformel umschreibt Verazio die Heilmethode, die von der modernen Psychotherapie auch als >Psychodramatik< bezeichnet wird. Im Rahmen dieser Heilmethode kommt der höfischen Gesellschaft eine bedeutende Aufgabe zu. Sie soll sich nämlich im dramatischen Spiel der Vorstellungswelt Lilas vorübergehend anpassen und ihre überhitzten Phantasien zum Schein bestätigen. Doktor Verazio erklärt: »Lassen Sie uns der gnädigen Frau die Geschichte ihrer Phantasien spielen! Sie sollen die Feen, Ogern und Dämonen vorstellen. Ich will mich ihr als ein weiser Mann zu nähern suchen und ihre Umstände ausforschen« (FA 5, 846). Lilas Verwandte sollen sich einstweilen als märchenhafte Gestalten verkleiden und auf diese Weise Lilas Traumwelt nachstellen. In einem zweiten Schritt soll dann die als Realität inszenierte Phantasiewelt wieder an die Sphäre der Wirklichkeit herangeführt werden, bis sie schließlich mit dieser koinzidiert. »Zuletzt wird Phantasie und Wirklichkeit zusammen treffen«, erläutert Doktor Verazio das Ziel der Gruppentherapie (FA 5, 846). Doktor Verazio hat im Zuge der Anamnese erfahren, daß sich die höfische Gesellschaft stets mit großer Leidenschaft der Musik und dem Tanz hingab, bevor Lila erkrankte und vom aristokratischen Geselligkeitsideal abrückte. Er faßt darum den Entschluß, auch während der Therapie Musik und Tanz einzusetzen. Auf diese Weise soll die gedrückte Stimmung möglichst rasch gehoben werden. »Musik, Tanz und Vergnügen«, erklärt Doktor Verazio den erstaunten Verwandten Lilas, »sind wie das Element, darin Ihre Familie bisher gelebt hat. Glauben Sie denn, daß die tote Stille, in der Sie versunken sind, Ihnen und der Kranken Vorteil bringe? [...] Sie alle, wenn Sie die gewohnten Freuden wieder genießen, werden sein wie Menschen, die in einer vaterländischen Luft sich von Mühseligkeit und Krankheit auf einmal wieder erholen« (FA 5, 845^). Mit dieser Empfehlung erweist sich Doktor Verazio einmal mehr als Verfechter des >moral managements Als erfahrener Psychotherapeut weiß er, daß Musik und Tanz die Seele positiv beeinflussen und kathartische Wirkungen entfalten können. Freilich ist die Musiktherapie sehr viel älter als das Behandlungsprogramm 151
des >moral managements - im Rahmen dieser Heilmethode aber erlebt sie eine Renaissance und gewinnt eine neue Wertschätzung; sie erhält einen festen Platz im Therapieplan für Melancholiker und deren Angehörige.' 9 Der von Doktor Verazio entworfene Therapieplan ruft bei einigen Mitgliedern der höfischen Gesellschaft eine leidenschaftliche und kaum zu bändigende Spiel-Lust hervor. Graf Altenstein fordert seinen Sohn Friedrich sogleich auf, alle Masken und Kostüme herbeizuschaffen: »In unsern beiden Häusern müssen sich so viele alte und neue finden, daß man das ganze Cabinet der Feen damit fournieren könnte. Alles was Hände, Füße und Kehlen hat, berufe herbei! Suche Musik aus, und laß probieren wie es in der Eile gehn will« (FA 5, 847). Angesichts solcher Theaterleidenschaft mahnt Doktor Verazio zur Umsicht und zur Besonnenheit im Umgang mit der Kranken. Er weiß, daß der Heilungsprozeß nicht gewaltsam forciert werden darf und daß die Therapie, wenn sie gelingen soll, vorsichtig entfaltet werden muß. Verazio dämpft die Erwartungen auf einen schnellen Erfolg und fordert Graf Altenstein auf: »Kommen Sie, wir wollen der Sache weiter nachdenken; Sie sollen nicht übereilt werden« (FA 5, 847). Auch während des dramatischen Spiels wird Doktor Verazio die Verwandten Lilas in ihrer Spiellaune mehrfach bremsen müssen, um den Genesungsprozeß der Kranken nicht zu gefährden. Andererseits aber wird er die verschiedenen Akteure von Zeit zu Zeit auch ermutigen müssen, nämlich dann, wenn sie Lila überfordert und dadurch einen vorübergehenden Rückfall provoziert haben. Während des ganzen Spiels also greift Verazio, der selber als weiser Magus auftritt, in den Handlungsablauf ein, um zu ermahnen oder zu ermutigen. Hierdurch rückt sein reicher Erfahrungsschatz im Umgang mit kranken wie mit gesunden Menschen ein weiteres Mal deutlich in den Vordergrund. 20
3.3.
Die therapeutische Kraft des Psychodramas
Das Psychodrama wird zu Beginn des zweiten Aktes durch Doktor Verazio eröffnet, der sich in Gestalt eines alten und nach Kräutern suchenden Magus der scheuen und ängstlichen Lila nähert. Lila zeigt sich überrascht und reagiert zunächst mit Argwohn und Skepsis. Doktor Verazio aber weiß, wie er diese Wand des Mißtrauens durchstoßen und Lilas Zweifel zerstreuen kann. Schonend erkundigt er sich nach ihrem Befinden: »Willst du dich einem Wohlmeinenden 19
20
Die besondere Bedeutung der Musiktherapie im Rahmen des >moral management« wird ausführlich in Kap. II.9 dargestellt. F ü r Goethe bilden Sensibilität, Geduld und Behutsamkeit unerläßliche Voraussetzungen im U m g a n g mit psychisch Kranken. W o diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, können Therapien nicht gelingen. Vgl. in diesem Kontext die Bemühungen um den Harfner in den >Lehrjahren< ( H A 7, 347) sowie die von Luciane in den W a h l v e r wandtschaften« durchgeführte Zwangstherapie, die die kranke Patientin völlig überfordert und ihren Zustand dadurch weitaus verschlimmert ( H A 6, 399-401).
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vertrauen, so sage, w i e fühlst du dich?« ( F A 5, 849). Lila, die langsam M u t und Zutrauen zu dem M a g u s faßt, antwortet: »Wohl, aber traurig; und v o r dem G e danken, daß ich fröhlich werden könnte, fürchte ich mich w i e v o r dem größten Ü b e l « ( F A 5, 849). Wenn Lila die Sorge hegt, ihre trübe und abgedunkelte Seelenstimmung k ö n n e durch irgendein Ereignis aufgeheitert werden, so deutet dies ein weiteres M a l auf ihre hochgradige Melancholie hin. Anstatt sich aus der Seelennot befreien zu wollen, verharrt sie bewußt in finsterer Schwermut, w i e ja bereits auch Werther und Tasso k a u m je einen ernsthaften Versuch unternehmen, die depressiven Selbstquälereien abzumildern. D e r M a g u s formuliert seine erste zentrale B o t s c h a f t an Lila: » D u sollst nicht fröhlich sein, nur Fröhliche machen« ( F A 5, 849). A l s erfahrener A r z t weiß D o k t o r Verazio, daß sich eine paranoide Melancholie nur sehr langsam therapieren läßt und daß sich F r ö h lichkeit erst nach einem langen Genesungsprozeß wieder einstellen kann. Wenn er nun Lila dazu auffordert, bei anhaltender S c h w e r m u t wenigstens andere Menschen glücklich zu machen, so will er sie damit aus ihrer Apathie und Passivität herausführen. Lila soll nicht durch tatenloses Ausharren die eigene Melancholie unnötig verschärfen, sondern, indem sie aktiv am L e b e n ihrer U m g e b u n g teilnimmt, die lähmende Selbstfixierung überwinden. A u f Lilas skeptische Frage, o b denn ein >Unglücklicher< überhaupt andere Menschen fröhlich machen könne, antwortet der Magus: »Das ist sein schönster Trost. Vermeide niemand, der dir begegnet« ( F A 5, 849). D a s zentrale Anliegen D o k t o r Verazios besteht darin, die >Selbsttätigkeit< Lilas neu zu aktivieren. E r folgt damit einer Behandlungsmethode, die G o e t h e in seinen Dichtungen ebenso w i e in seinen B r i e f e n und Gesprächen immer w i e der propagiert hat. Bereits Werther w i r d ja v o n seinem Briefpartner a u f g e f o r dert, die chronische Passivität zugunsten einer Beschäftigung als Gesandtschaftssekretär aufzugeben. U n d auch der zur Melancholie neigende Wilhelm Meister vernimmt v o n dem Landgeistlichen, der einen Therapieplan f ü r den wahnsinnigen H a r f n e r e n t w o r f e n hat, daß kontinuierliche und geordnete T ä tigkeit selbst hochgradige Melancholiker kurieren könne. » M a n errege ihre Selbsttätigkeit, man g e w ö h n e sie an O r d n u n g , man gebe ihnen einen B e g r i f f , daß sie ihr Sein und Schicksal mit so vielen gemein haben«, erklärt der L a n d geistliche, dessen Heilmethode den H a r f n e r zumindest vorübergehend genesen läßt ( H A 7, 346). G o e t h e hat zeit seines Lebens die Tätigkeit als das zuverlässigste Heilmittel im K a m p f gegen die Melancholie angesehen. Wie ein roter Faden zieht sich diese Ü b e r z e u g u n g , die auch zu den Grundsätzen des >moral m a n a g e m e n t gehört, durch sein gesamtes Œ u v r e . 2 1 D i e aufmunternden Worte des Magus erregen in Lila einen neuen Lebenswillen. Dieser Wille ist aber noch nicht stark genug, u m sich auch ohne den Beistand des Therapeuten behaupten zu können: »Deine Stimme gibt mir M u t « , 21
Vgl. hierzu Kap. VI.5.
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erklärt Lila dem Magus. »Kehr' ich aber in mein Herz zurück, so erschrecke ich über den ängstlichen Ton, der darin widerhallt« (FA 5,851). Der Magus räumt Lila gegenüber ein, daß sie im gegenwärtigen Stadium erst wenig aus eigener Kraft vermöge. Genau darum aber müsse sie auf dem eingeschlagenen Weg weiter fortschreiten und dürfe sich nicht willenlos in den überwundenen Zustand zurückfallen lassen. Bevor der Magus Lila verläßt, um die Therapie von einigen als Feen verkleideten Frauen fortführen zu lassen, intoniert er noch eine kurze Arie, mit der er Lilas Psyche weiter stabilisieren will. In zwei sechszeiligen Strophen, die kontrastiv aufeinander bezogen sind, betont er, daß jeder Patient seine Passivität aus eigenem Antrieb überwinden müsse, damit auch die Hilfe von außen den Heilungsprozeß unterstützen könne. Die helfenden >Arme der Götter«, die am Ende der Arie in metaphorisch mythisierender Redeweise genannt werden, verweisen exakt auf diesen Zusammenhang (FA 5, 851): Feiger Gedanken Bängliches Schwanken, Weibisches Zagen, Angstliches Klagen Wendet kein Elend, Macht dich nicht frei.
Allen Gewalten Zum Trutz sich erhalten, Nimmer sich beugen, Kräftig sich zeigen, Rufet die Arme Der Götter herbei.
Lila hat während des ersten Therapieabschnitts neue Zuversicht geschöpft und will nun, nach dem Abgang des Magus, die vernommenen Ratschläge befolgen. Gleichsam um sich selbst Mut zuzusprechen, erklärt sie: »Nein, ich will mich einsam nicht mehr abhärmen, ich will mich der Gesellschaft erfreuen, die mich umgibt« (FA 5, 852). Lila ruft die Feen herbei, die sogleich, unter Führung der Fee Almaide, mit Gesang und Tanz den Schauplatz ausfüllen. In ihrer Begrüßungsarie, die sich durch daktylische Kurzverse und onomatopoetische Lautverbindungen auszeichnet, stellen sich die Feen als hilfreiche Luftgeister vor, die Lilas Genesung befördern wollen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der Chorgesang zahlreiche Parallelen zu dem Geisterchor der Elfen aufweist, der am Beginn des >Faust IIAnmutige GegendLilaSelbsttätigkeit< des Menschen spricht Almaide zweifellos eine der Grundmaximen G o e thes aus. In der konkreten Situation jedoch erweist sich ihr feuriger und leidenschaftlicher Aufruf als therapeutische Ungeschicklichkeit, da Lila aufgrund ihres geschwächten Selbstgefühls noch nicht in der Lage ist, zur Selbsthilfe zu greifen. Dies demonstriert ihre jähe Klage: »So fahret wohl! Ich gehe allein auf dunkelm Pfade« (FA 5, 855). Indem Almaide schonungslos auf >Selbsttätigkeit< insistiert, überfordert sie die noch hilfsbedürftige Lila und provoziert dadurch einen schweren Rückfall. Die bereits erzielten Therapieerfolge scheinen zunichte gemacht, und die H o f f nungen auf einen weiteren Heilungsprozeß verflüchtigen sich im weiten Raum des Bühnenareals. In exakter Entsprechung zu der vorausgehenden Dialogpartie, in der Begriffe mit aufsteigender Bewegungsrichtung dominierten, finden sich nun überwiegend Wendungen, die eine abwärts gerichtete Bewegung beschreiben. »Auf dem Pfade des Todes gleitet mein Fuß willig hinab«, sagt Lila zu Almaide, die angesichts einer solch fatalistischen Haltung betroffen feststellt: »Sie fällt zurück! Ich habe zu viel gesagt!« ( F A 5, 855). Almaide erkennt, daß sie Lilas psychische Konstitution falsch eingeschätzt hat, und bemüht sich nun, die folgenschweren Konsequenzen des Rückfalls abzuwenden. Sie bittet Lila, auf einem Ruhebett Platz zu nehmen, und verspricht ihr, während der Nacht mit den anderen Feen bei ihr zu wachen. Lila kann jedoch die Hilfe der Feen nicht mehr annehmen. »Es ist vergebens, ich kann nicht ergreifen was ihr bietet. Eure Liebe, eure Güte fließt mir wie klares Wasser durch die fassenden Hände« (FA 5, 855). In diesem resignativen Ausruf artikuliert sich eine mentale Lähmung, die bereits im Rahmen der Werther-Analyse als Symptom einer hochgradigen Melancholie diagnostiziert werden konnte. Im Bild der Hände, die nicht zugreifen können, verdeutlicht Lila ihre depressive Bewegungslosigkeit, die nicht nur eigene Initiativen im Keim erstickt, sondern auch äußere Hilfe zwanghaft negiert. Lila sinkt in ihre melancholische Schattenwelt zurück und »verliert sich in die Büsche« (FA 5, 8y 2J
Die Vorstellung vom >Fassen< und >Ergreifen< hat f ü r Goethe zeitlebens auch eine poetologische Valenz besessen. So zeichnet sich nach Goethe der wahre Dichter nicht nur durch eine gesteigerte Sensitivität aus, sondern vor allem auch durch die Fähigkeit, das Wahrgenommene und Erlebte zu >ergreifenanzufassen< und in eine künstlerische F o r m zu transformieren. Diesen Aspekt erhellt ein Brief Goethes an Herder v o m 10. Juli 1772: »Dreingreiffen, packen ist das Wesen ieder meisterschafft«
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Die erste Szene des dritten Aufzugs zeigt die völlig ratlose Almaide im Gespräch mit dem Magus, der sich von Lilas schwerem Rückfall genau unterrichten läßt, um die weitere Behandlung entsprechend modifizieren zu können. Doktor Verazio stellt in dieser kritischen Situation seine große Erfahrung im Umgang mit psychisch Kranken unter Beweis. So erklärt er der betroffenen Almaide, daß der Genesungsprozeß eines Kranken niemals linear verlaufe, sondern immer wieder von vorübergehenden Rückfällen begleitet werde. »Diese Rückfälle müssen uns nicht erschrecken«, erklärt er. »Jede Natur, die sich aus einem gesunkenen Zustande erheben will, muß oft wieder nachlassen, um sich von der neuen, ungewohnten Anstrengung zu erholen« (FA 5, 857). Doktor Verazio rechnet also mit weiteren Rückschlägen und ist dennoch der festen Überzeugung, daß Lilas Genesung durch solche Zwischenfälle nicht ernsthaft gefährdet werde. Für den Augenblick sieht er es bereits als Erfolg an, daß sich Lila in dem Glauben hat bestärken lassen, Sternthal könne nur von ihr allein befreit und gerettet werden. Nachdem der Magus mit Almaide die Bühne verlassen hat, betritt Lila erneut den Schauplatz des Psychodramas. Sie hat ihren mentalen Rückfall noch nicht vollends überwunden, zeigt aber dennoch eine spontane und bislang unbekannte Handlungsbereitschaft, als sie aus einer im Bühnengrund gelegenen Höhle klagende Hilferufe vernimmt. Lila horcht auf, denn die Stimmen, die sie hört, identifiziert sie als die Stimmen ihrer Verwandten. »Ja, es sind die Deinen« (FA 5, 858). Lila darf im gegenwärtigen Stadium des Genesungsprozesses noch nicht mit ihrem Gatten Sternthal zusammentreffen, denn diese Begegnung würde für sie mit einer zu großen seelischen Erschütterung verbunden sein. Der von Doktor Verazio entwickelte Therapieplan sieht deshalb vor, daß sich Lila zunächst ihren Verwandten wieder annähert - auf diese Weise soll ihre emotionale Belastbarkeit und psychische Elastizität stufenweise gesteigert werden. In der inszenierten Scheinwirklichkeit des Psychodramas treten nun Lilas Verwandte als Gefangene auf, die sich wie Sternthal in der Gewalt des Ogers befinden und auf fremde Hilfe angewiesen sind. Ein elementares Gefühl der Betroffenheit erfaßt Lilas Psyche und fördert eine verschüttete Hilfsbereitschaft zutage. Energien werden freigesetzt, die bislang durch die Melancholie unterdrückt wurden. Lila agiert nunmehr als tatkräftige und fest entschlossene Persönlichkeit, die sich von ihrem Rettungsgedanken trotz der vermeintlichen Gefahren nicht mehr abbringen läßt. Ihren gefangenen Verwandten entgegnet sie, als diese ihr zur Flucht raten: »Ihr werdet mich nicht bewegen euch zu verlassen. Vielleicht bin ich bestimmt euch zu befreien und glücklich zu machen«
(FA 28, 256). Das >Dreingreifen< und >Packen< gelingt Lila ebensowenig wie Werther. Während dieses Versagen in der >Lila< jedoch auf den Bereich des elementaren Lebensvollzugs beschränkt bleibt, schwingt im >Werther< immer auch das künstlerische Versagen mit (vgl. hierzu den bekannten Brief vom 10. Mai). 156
( F A 5, 858). Indem sich Lila berufen fühlt, ihren Verwandten Freiheit und G l ü c k zu bringen, zeigt sie sich als gelehrige Schülerin des Magus, der im zweiten A k t genau dies von ihr gefordert hat. Graf Friedrich, der ohne eigene Verkleidung die Gruppe der Gefangenen anführt, tritt auf Lila zu und begrüßt sie. Als Lila ihn erkennt, ruft sie freudig, wenn auch noch von Zweifeln geplagt, seinen N a m e n aus: »Friedrich! Darf ich mir trauen?« ( F A 5, 858). Erstmals seit ihrer melancholischen Erkrankung kommuniziert Lila wieder mit einem ihrer Verwandten. Z w a r ist zunächst noch ein gewisses Quantum an Skepsis und A r g w o h n unter die Wiedersehensfreude gemischt, doch schließlich erklärt Lila: »Seid Zeugen, meine Hände, daß ich ihn wieder habe!« (FA 5, 858). >Sie faßt ihn ananfaßtLilaIphigenie< deutlich gemacht. D o r t ist es vor allem der von den Furien verfolgte Orest, der während seiner Hadesvision vorübergehend den Bezug zur äußeren Lebenswirklichkeit verliert. Orests Imaginationen überwuchern und verzerren alle Sinneswahrnehmungen, bis Pylades, der mit Iphigenie bei ihm kniet, ihn eindringlich auffordert: »Faß / Uns kräftig an, wir sind nicht leere Schatten« (V. 133 5f.). In der >Iphigenie< wie in der >Lila< betont G o e the die Geste des Fassens und Zugreifens, da er in ihr den konkreten Ausdruck einer gelingenden Rückwendung zur Wirklichkeit erkennt. Derjenige, der auf die vermittelnde Instanz seiner Sinnesorgane wieder zu vertrauen lernt und das, was ihm die Sinne vermitteln, auch ergreift, der eignet sich die Außenwelt an und bemächtigt sich ihrer. D e r Gefahr, in irreal-melancholische Traumwelten abzusinken, ist damit ein fester Riegel vorgeschoben. Nachdem Lila Friedrich berührt und begrüßt hat, wendet sie sich auch den anderen Gefangenen zu, die ebenfalls ohne Verkleidung auftreten. Lila zeigt sich hier, wie bereits zu Beginn der Szene, als willensstarke und zielstrebige Persönlichkeit, die auf eine baldige Rettung ihrer Verwandten sinnt. Dennoch wird sie plötzlich und völlig unerwartet von einem neuen Rückfall heimgesucht. In der Regieanweisung heißt es: »Sie sieht sie [ihre Verwandten] voll Ver-
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wundrung an, schweigt und sieht sie immer starrer und starrer an. Endlich wendet sie sich ängstlich hinweg« (FA 5, 859). Lila erleidet einen seelischen Einbruch, der die Umstehenden erschüttert, der vor allem aber Befremden hervorruft. Lila selbst betont nämlich, es sei weder Feigheit noch Furcht vor dem Dämon, was sie in ihrer Aktivität lähme, sondern die herzliche Zuneigung Friedrichs und seiner Begleiter: »Eure Gegenwart ängstigt mich, eure Liebe! [...] Eure Liebe, die ich mir nicht zueignen kann, treibt mich von hinnen« (FA 5, 859). Für Lilas ersten Rückschlag gab es einen konkreten und klar bestimmbaren Anlaß: Almaides weit überzogene Forderung nach Selbsttätigkeit. Hier aber wird Lilas psychischer Einbruch anders und indirekter motiviert. Es scheint, als habe sich Lila in einer zu kurzen Zeitspanne zu viel zugemutet und dadurch ihre noch schwachen Seelenkräfte überfordert. Ihre emotionale Belastungsfähigkeit ist noch nicht groß genug, um der Wiedersehensfreude standhalten zu können. Sie zieht sich deshalb in ihre melancholische Sonderwelt zurück, wo alles, wenn überhaupt, nur durch einen dämpfenden Filter auf sie eindringt. Lila sieht sich in ihrem Heilungsprozeß jäh zurückgeworfen und artikuliert ihre Verzweiflung im Wechselgesang mit Friedrich: »Ach, mir ist nicht beschieden / Der Erde mich zu freuen, /[...]/ Ach alle Himmelsgaben / Sollt' ich im Traume haben? / Wandre zum Grabe schon« (FA 5, 859!). Die beiden Begriffe >Traum< und >Grab< zeigen in aller Deutlichkeit, daß Lila vorübergehend in den bereits überwunden geglaubten melancholischen Bewußtseinszustand zurückfällt. Die Welt löst sich ihr wieder in diffuse Traumbilder auf, und der Ruf des Grabes, der sie zu Beginn des zweiten Aktes so mächtig anlockte, dann aber zunehmend verstummte, ertönt mit neuer Vehemenz. In dieser kritischen Situation ist vor allem die Erfahrung des Seelenarztes gefragt, der die Szene aus der Ferne beobachtet hat und nun lenkend eingreift. Doktor Verazio hält die betroffenen Verwandten, die Lila folgen wollen, energisch zurück und erklärt ihnen, daß es nun an der Zeit sei, die Behandlungsmethode erneut zu modifizieren. »Da sie der Liebe wenig Gehör gibt, laßt uns sehen, ob Gewalt und Unrecht sie nicht aus dem Traume wecken« (FA 5, 860). Als überzeugter Anhänger des >moral management hat Doktor Verazio eine schmerzhafte Behandlungsmethode abgelehnt und statt dessen eine auf Vertrauen und Zuneigung aufbauende Psychotherapie angewandt. Diese psychotherapeutische Heilmethode erschöpft sich jedoch nicht in einer behutsamen Reaktivierung verlorener Vitalität, sondern umfaßt auch aufschreckende Maßnahmen, die den Patienten überraschen, bestürzen und auf diese Weise gewaltsam in einen anderen Gemütszustand versetzen sollen.24 Eine solche Schocktherapie, die bei vielen Psychotherapeuten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts sehr beliebt ist, wendet auch Doktor Verazio an, indem er den furchterregenden Oger auftreten läßt. Hierdurch wird Lila aus ihrer tiefen Apathie aufge24
Vgl. hierzu Jean Starobinski: Geschichte der Melancholiebehandlung, S. 68f.
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schreckt - sie mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Kräfte, tritt dem D ä mon zornig entgegen und verlangt von ihm die Freilassung ihrer Verwandten. Als der Oger daraufhin zu spotten beginnt und Fesseln herbeischaffen läßt, intoniert Lila eine Arie, deren kämpferischer Sprachduktus in scharfem Gegensatz zu der seelischen Starre steht, die wenige Augenblicke zuvor noch ihr ganzes Wesen ausmachte (FA 5, 861): Ich biete dir Trutz! G i b her deine Ketten! Die Götter erretten, G e w ä h r e n mir Schutz.
Ich soll vor dir erzittern? M i r regt sich alles Blut, U n d in den Ungewittern Erzeigt sich erst der Mut.
Die Schocktherapie hat Lila mit einem Schlag aus ihrer lähmenden Melancholie herausgerissen. A n die Stelle der ehemals depressiven Handlungshemmung tritt ein temperamentvolles Sendungsbewußtsein und ein geradezu stürmischer Aktivismus. Das vorübergehend völlig zusammengebrochene Wechselspiel zwischen U m w e l t und eigenem Ich regeneriert sich ebenso wie die psychische Elastizität und mentale Spannkraft. Feurige Leidenschaftlichkeit und flammendes Pathos kennzeichnen Lilas neuen Sprachhabitus: »Ich brenne vor Begierde«, erklärt sie, als Friedrich ihr ankündigt, sie werde nun bald auch ihre gefangenen Schwestern Wiedersehen ( F A 5, 861). Friedrich warnt Lila vor ihrem übereilten Rettungseifer, er mäßigt ihre neu erwachte Betriebsamkeit und ruft die Feen herbei, damit diese die Fortsetzung des Psychodramas übernehmen. Almaide, von D o k t o r Verazio entsprechend instruiert, gibt nun einige Anweisungen, die Lila befolgen muß, wenn sie die Gefangenen befreien will. Lila soll einen Brunnen aufsuchen, um dort Gesicht und Hände zu waschen. Dabei werden ihr - das verspricht Almaide - die Fesseln von den Armen fallen. Sodann soll Lila sich in eine mit Rosenbüschen umschattete Laube begeben, w o sie ein weißes G e w a n d finden wird. All diese Handlungen, zu denen sich noch weitere hinzugesellen, erinnern an sakrale Zeremonien und Riten. Sie symbolisieren einen A k t geistiger Reinigung und seelischer Erneuerung. Wenn Lila in dem nun abschließenden A u f z u g ihre schwarze Trauerkleidung ablegt und statt dessen ein weißes Gewand überwirft, so manifestiert sich ihre Heilung auch auf einer metaphorisch-figurativen Ebene. Die lähmende und quälende Melancholie gehört mit ihren dunklen Attributen der Vergangenheit an, die Z u k u n f t aber steht im Zeichen eines neuen heiteren Liebesglücks, worauf vor allem die mit Rosen geschmückte Laube unmißverständlich hinweist. Zunächst aber - als wären der bedeutungsschweren Motive noch nicht genug genannt - wendet sich Lila an die Sterne des Himmels, die sie als Garanten für die unmittelbar bevorstehende Begegnung mit Sternthal anruft: »Sterne! Sterne! / E r ist nicht ferne! / [...] / Hier im Walde / Balde / Gebt mir den Geliebten frei. / J a ich fühl' beglückte Triebe! / Liebe / Lös't die Zauberei« ( F A 5, 862). Interessant ist, daß Lila die Liebe als eine Seelenkraft erfährt, die I
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den Oger bezwingen, damit aber letztlich auch ihre eigene Melancholie überwinden kann. Schreckte Lila bei ihrem zweiten Rückfall noch vor der liebevollen Zuneigung ihrer Verwandten zurück, so ist ihr Heilungsprozeß nun bereits so weit fortgeschritten, daß sie der Liebe nicht nur standhalten, sondern in ihr auch ein wirksames Therapeutikum erkennen kann.
3.4.
Lilas Genesung
Nachdem der dritte Akt Lilas Heilung weiter vorangetrieben hat, führt der abschließende Aufzug zur endgültigen Genesung. Lila hat die Anweisungen der Fee Almaide befolgt und tritt nun erneut unter die Gefangenen, zu denen sich in der Zwischenzeit auch ihre beiden Schwestern gesellt haben. Sie werden von Lila stürmisch begrüßt und leidenschaftlich umarmt, obwohl sie ohne jede Maskierung auftreten. Die Elementarkräfte der Realität dringen nun immer stärker in die Welt des Psychodramas ein und substituieren die inszenierte Scheinwirklichkeit. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität werden zunehmend durchlässiger, so daß die Gestalten und Gegenstände der Wirklichkeit wieder schärfere Konturen gewinnen. D e r Oger, in dessen vermeintlicher Gefangenschaft man sich noch befindet, muß sich endgültig ergeben - seine Gewalt ist gebrochen, und er mutiert zur harmlosen Randfigur, die lediglich noch im Hintergrund als >maître de ballet< agiert (dies mag niemanden verwundern, steckt doch hinter seiner furchterregenden Maske der Ballettmeister höchstpersönlich, der für die verschiedenen Tanzeinlagen zuständig ist). In der allgemeinen Wiedersehensfreude tritt noch einmal Doktor Verazio in seiner Verkleidung als alter Magus auf. E r erkundigt sich bei Lila, ob sie ihn denn nicht wiedererkenne, worauf diese verwundert fragt: »Sagt mir, woran ich bin? Es kommt mir alles, ich komme mir selbst so wunderbar vor. Ist das nicht unser Garten? Ist das nicht unser Gartenhaus? Was soll die Mummerei am hellen Tage?« (FA 5, S6jí.). Lila erkennt ihre Umgebung wieder und entlarvt das Schauspiel als »Mummerei«. Damit aber kehrt sie endgültig in die Wirklichkeit zurück. Nicht ohne Witz erklärt sie dem Magus: »Irr' ich mich nicht, so scheinst du älter als du bist. Dieser Bart schließt nicht recht an's Kinn« (FA 5, 868). Doktor Verazio erkennt, daß Lila vollständig von ihrem melancholischen Wahn genesen ist und einer Begegnung mit Sternthal nichts mehr im Wege steht. E r verläßt daher kurz die Bühne und kehrt mit dem Baron sowie mit Graf Altenstein zurück - »in Hauskleidern«, wie die Regieanweisung anmerkt. Die reale Welt überflutet nun vollends die Schutzwälle des inszenierten Spiels, und die letzten Reste der Fiktion gehen in der neu gewonnenen Wirklichkeit unter. Lila fällt ihrem Gatten um den Hals, während die Umstehenden in den Schlußchor einstimmen. Friedrich, der Lila als erster ohne Verkleidung entgegentrat und damit die Rückwendung zur Wirklichkeit einleitete, resümiert in seiner Solopartie noch einmal die Strategie des Psychodramas: »Was Lieb' und Phan160
tasie entrissen, / Gibt Lieb' und Phantasie zurück« ( F A 5, 869). Das Singspiel endet in einem lauten Jubelchor, der Lilas neues Liebesglück feiert. Heitere Lebensfreude und ausgelassene Fröhlichkeit bestimmen das Schlußtableau. In anderen Werken Goethes, die sich ebenfalls mit der Melancholie auseinandersetzen, sucht man vergeblich nach einem solch hochgestimmten Ende. Meistens dominiert die Tragik, und selbst in Dichtungen wie den >LehrjahrenLila< daher vor allem mit dem Verweis auf jenen gattungspoetischen Systemzwang erklären, dem sich auch Goethe aufgrund des festlichen Anlasses der A u f f ü h r u n g nicht entziehen konnte? Oder hat Goethe die Gattung des Singspiels möglicherweise auch bewußt genutzt, um hier einmal jene H o f f n u n g und Zuversicht zu formulieren, die er sonst nur wesentlich vorsichtiger zu artikulieren wagte? >Lila< ist jedenfalls die heiterste der Goetheschen Dichtungen, die sich mit dem Phänomen der Melancholie auseinandersetzen.
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VI. Panoptikum der Melancholie >Wilhelm Meisters Lehrjahre
Wilhelm Meisters Lehrjahren
Wilhelm Meister< zu unterstreichen. »Man sucht einen Mittelpunkt«, erklärt er, »und das ist schwer und nicht einmal gut. Ich sollte meinen, ein reiches, mannigfaltiges Leben, das unsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas ohne ausgesprochene Tendenz, die doch bloß für den Begriff ist« (HA 7, 619). Goethe hat sich stets geweigert, eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der zentralen Gesamtaussage des >Wilhelm Meister« zu geben. Mit Nachdruck verwies er auf die komplexe und polyvalente Anlage des Romans, die Widersprüche immer wieder bewußt inszeniere und darum von harmonisierenden Deutungsansätzen nicht angemessen erfaßt werden könne. Trotz der Bedenken Goethes unternahm Schiller den Versuch, die >Lehrjahre< auf einen eindeutigen Aussagegehalt hin zu interpretieren. Er glaubte, die im Roman angelegte Grundidee erkennen zu können, auch wenn sie - so seine Kritik - nicht deutlich genug profiliert sei (HA 7, 641). Noch bevor Goethe das letzte Buch der >Lehrjahre< im August 1796 an den Verleger schickte, skizzierte Schiller in einem Brief vom 8. Juli die zentralen Positionen seiner Deutung. »Wenn ich das Ziel, bei welchem Wilhelm nach einer langen Reihe von Verirrungen endlich anlangt, mit dürren Worten auszusprechen hätte, so würde ich sagen: Er tritt von einem leeren und unbestimmten Ideal in ein bestimmtes tätiges Leben, aber ohne die idealisierende Kraft dabei einzubüßen« (HA 7, 642). In der Sicht Schillers stellt sich Wilhelms Entwicklung als ein Weg der sukzessiven Selbstvervollkommnung dar. Wilhelm durchläuft eine Vielzahl einseitiger Lebensmöglichkeiten und findet am Ende des Romans zu einer harmonischen Ganzheit. Er bildet seine Anlagen und Fähigkeiten zu einer individuellen Totalität aus und verwirklicht so das humanistisch-klassische Bildungsideal des >uomo universalem Schiller erklärt, daß Wilhelm »von einem vagen Streben zum Handeln und zur Erkenntnis des Wirklichen übergeht, ohne doch dasjenige dabei einzubüßen, was in jenem ersten strebenden Zustand Reales war« (HA 7, 162
642). Wilhelm wendet sich also der Realität zu und bewahrt dennoch seinen idealen Anspruch. Dadurch gelingt ihm der harmonische Ausgleich von individueller Existenz und gesellschaftlicher Ordnung. In Ubereinstimmung mit Schiller deutet auch Körner Wilhelms Weg als kontinuierliche und geradlinige Höherentwicklung. A m 5. N o v e m b e r 1796 schreibt er in einem Brief an Schiller: »Die Einheit des Ganzen denke ich mir als die Darstellung einer schönen menschlichen Natur, die sich durch die Z u sammenwirkung ihrer innern Anlagen und äussern Verhältniße allmählich ausbildet. Das Ziel dieser Ausbildung ist ein vollendetes Gleichgewicht - Harmonie mit Freyheit«. 1 A u c h Körner interpretiert Wilhelms Bildungsprozeß als aufsteigende Entwicklung, an deren Endpunkt die Verwirklichung des klassischen Humanitätsideals steht. Alle widerstreitenden Kräfte sind in eine harmonische Balance gebracht, so daß der Konflikt zwischen persönlichen Interessen und gesellschaftlichen Anforderungen in einer höheren Einheit aufgehoben wird. Körners Brief versammelt bereits alle zentralen Begriffe, die in der späteren Wirkungsgeschichte des >Wilhelm Meister« immer wieder angeführt worden sind, um das >Klassische< an Goethes >Bildungsroman< hervorzuheben. Bereits Goethe hat mit subtiler Ironie Schillers und Körners harmonistische Interpretationen zurückgewiesen. So erklärt er in einem Brief, der Schillers Kritik an der vermeintlich zu schwachen Profilierung seiner organisierenden Grundidee aufgreift: »Der Fehler, den Sie mit Recht bemerken, kommt aus meiner innersten Natur, aus einem gewissen realistischen Tick, durch den ich meine Existenz, meine Handlungen, meine Schriften den Menschen aus den Augen zu rücken behaglich finde« ( H A 7, 643). Goethe betont mehrfach, daß es ihm um die Darstellung einer widersprüchlichen Lebenswirklichkeit und nicht um die poetische Einkleidung einer abstrakten Idee gehe. Darum verwahrt er sich immer wieder gegen alle harmonisierenden Deutungsansätze, die die zahlreichen Inkohärenzen im Werdegang Wilhelms zugunsten einer aufsteigenden Bildungslinearität bagatellisieren. Mit kaum verstellter Ironie erklärt Goethe über die vermeintlichen Aussagen der >LehrjahreHoren< gedruckt wurde, erlangte in der Wirkungsgeschichte des > Wilhelm Meister< f ü r lange Zeit repräsentative Bedeutung. Abgedruckt in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begr. v. Julius Petersen, fortgef. v. Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese, hg. v. N o r b e r t Oellers u. Siegfried Seidel, Bd. 3 6 / 1 , Weimar 1972, S. 368—375, hier S. 370.
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Grille - zu verringern« (HA 7, 644).2 Trotz Goethes kritischer Einschätzung galten Schillers und Körners optimistische Deutungen bis weit in dieses Jahrhundert als Paradigma der >Wilhelm-MeisterMetamorphose der Pflanzen< zu interpretieren. Günther Müller beispielsweise zeigte sich überzeugt, daß Wilhelms Werdegang als »dauerndes Reifen in gewissen, ihrer Abfolge nach streng geordneten Stufen« zu verstehen sei,3 und Karl Viëtor erklärte, Wilhelms Bildungsweg zeige die »teleologische Richtung eines organischen Prozesses«. 4 Ein besonderes Verdienst gebührt Karl Schlechta, der mit seiner Studie von 1953 erstmals die harmonistische Interpretationsnorm der >Lehrjahre< aufgebrochen hat.5 In mancher Hinsicht von der frühen Kritik des Novalis beeinflußt, interpretierte Schlechta den Werdegang des Protagonisten als sukzessiven Abstieg. Er ging davon aus, daß Wilhelm mit seinem Theaterenthusiasmus und seiner leidenschaftlichen Liebe zu Mariane eine höchste Lebensintensität verwirkliche, dann aber immer mehr an Farbe und Tiefe verliere, bis er schließlich den Disziplinierungsmaßnahmen der gefühlskalten und allein ökonomisch interessierten Turmgesellschaft zum Opfer falle. Die provozierende Studie von Karl Schlechta konnte sich mit ihrer einseitig negativen Auslegung nicht durchsetzen, sie hat aber zu einer kritischen Revision alter Positionen geführt. Kurt May beispielsweise modifizierte bereits gegen Ende der fünfziger Jahre das Bildungsziel Wilhelm Meisters, indem er an die Stelle der humanistisch-klassischen Harmoniekonzeption die Realisierung einer »sittlich sozialen Haltung« rückte. May erklärte, daß in den letzten Büchern des >Wilhelm Meister< ein neues Bildungsmodell etabliert werde, das die universale Entfaltung aller im Menschen angelegten Fähigkeiten zugunsten eines sozialen Ethos aufgebe - in diesem Paradigmenwechsel konkretisierte sich für May »eine verhaltene Kritik am harmonisch-ganzheitlichen Bildungsgedanken«. 6 Die Skepsis, mit der Karl Schlechta den Bildungsprozeß Wilhelms interpretiert hat, kennzeichnet auch einige neuere, freilich wesentlich differenziertere Studien. Die Arbeiten von Klaus-Dieter Sorg, Wilhelm Voßkamp und Günter
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Vgl. hierzu auch Goethes Äußerung gegenüber Eckermann am 6. Mai 1827: »Je inkommensurabeler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser« (FA 39, 616). Günther Müller: Gestaltung-Umgestaltung in »Wilhelm Meisters Lehrjahren«, Halle (Saale) 1948, S. 15. Karl Viëtor: Goethe. Dichtung - Wissenschaft - Weltbild, Bern 1949, S. 1 3 1 . Karl Schlechta: Goethes »Wilhelm Meister«, Frankfurt a.M. 1953. Kurt May: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, ein Bildungsroman? In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 31 (1957), S. 1 - 3 7 , hier S.28.
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Säße gehen davon aus, daß der Roman das Phänomen >Bildung< zwar diskutiere und problematisiere, dabei jedoch auf endgültige Antworten verzichte. 7 Besonders interessant ist der Deutungsansatz von Wilhelm Voßkamp, der im Gegensatz zu Kurt M a y nicht einzelne Bildungskonzepte gegeneinander ausspielt, sondern von einer wechselseitigen Relativierung spricht. Für Voßkamp kristallisieren sich in den >Lehrjahren< zwei utopische Entwürfe heraus: Auf der einen Seite steht Wilhelms Bildungsutopie, die eine universale Ausbildung aller Anlagen anstrebt, auf der anderen Seite steht die Sozialutopie der Turmgesellschaft, die eine Zurücknahme individueller Interessen zugunsten gesellschaftlicher Belange fordert. Beide Entwürfe haben ihre Berechtigung, müssen aber in ihrem Anspruch auf absolute Geltung relativiert werden. »Beide Konzepte«, erklärt Voßkamp, »sind in den >Lehrjahren< korrelativ aufeinander bezogen, sie gehen aber nicht ineinander auf. Die Darstellung einer Kongruenz von Bildungsutopie (im Sinne totaler Vervollkommnungsfähigkeit des Subjekts) und Sozialutopie (im Sinne einer Institutionalisierung typisch neuzeitlich-moderner Tendenzen) wird vielmehr bewußt vermieden. Damit bietet der Roman aber Möglichkeiten, beide Entwürfe in schärferem Licht wechselseitig zu vergleichen und (ironisch) zu relativieren«. 8 Von einer anderen Seite nähert sich Günter Säße dem Problem >Bildung< im >Wilhelm Meistere Er arbeitet vor allem den Widerspruch heraus, der zwischen den formulierten Bildungszielen einerseits und den Realitäten der inszenierten Lebenswirklichkeit andererseits besteht. Wilhelm und die Repräsentanten der Turmgesellschaft stellen zahlreiche Bildungspostulate auf: Wilhelm fordert die allseitige und harmonische Entfaltung aller im Menschen angelegten Fähigkeiten, die Turmgesellschaft hingegen verlangt die spezielle Ausbildung einzelner Fähigkeiten, die praktischen Nutzen stiften und den Interessen der Allgemeinheit dienen. Ferner pocht sie auf vernunftorientiertes Handeln, das sich über alle Zufälle erhebt und einer methodischen Lebensführung verpflichtet ist. Alle diese Postulate werden Säße zufolge durch die Handlung des Romans widerlegt oder zumindest relativiert, so daß es zu einer ironischen Diskrepanz zwischen den normativen Bildungsmodellen und den Möglichkeiten ihrer Verwirklichung kommt. »Immer wieder entfalten die >Lehrjahre< den Horizont ei-
7
Klaus-Dieter Sorg: Gebrochene Teleologie. Studien zum Bildungsroman von Goethe bis Thomas Mann, Heidelberg 1983. Wilhelm Voßkamp: Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen > Wilhelm Meisters Lehrjahre< und >Wilhelm Meisters WanderjahreWilhelm Meisters Lehrjahre< im Spannungsfeld von Subjektivität und Intersubjektivität. In: Monika Fludernik u. Ruth Nestvold (Hg.): Das 18. Jahrhundert, Trier 1998, S. 69-89.
8
Wilhelm Voßkamp: Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen >Wilhelm Meisters Lehrjahre< und »Wilhelm Meisters Wanderjahres S. 235. 165
nes teleologisch ausgerichteten Bildungswegs, und immer wieder wird der figurale Schematismus von Verheißung und Erfüllung ironisch relativiert. Goethes Roman gibt nicht abschließende Antworten auf entscheidbare Fragen, sondern formuliert kritische Fragen auf Antworten, die zeitgenössische Diskurse zum Bildungsproblem gegeben hatten«.9 Konzentrieren sich die bislang skizzierten Deutungsansätze insbesondere auf das Problem der >Bildung< im »Wilhelm Meisten, so fokussieren andere Untersuchungen vor allem dessen sozialgeschichtlichen Gehalt. In einer 1936 entstandenen Studie analysiert Georg Lukács die >Lehrjahre< vor dem Hintergrund der Französischen Revolution, deren gewaltsames Vorgehen Goethe zwar verurteilte, deren Reformziele er jedoch weitgehend bejahte und auf evolutionärem Wege auch in Deutschland verwirklichen wollte. 10 Die Studie von Lukács ist aufgrund ihrer einseitig marxistischen Ausrichtung wiederholt kritisiert und zurückgewiesen worden, sie hat der sozialhistorisch inspirierten Deutungstradition jedoch entscheidende Impulse verliehen. Aus der Vielzahl sozialgeschichtlicher Arbeiten ist vor allem die fundierte Studie von Dieter Borchmeyer hervorzuheben, die der Kontrastierung adliger und bürgerlicher Wertsysteme im >Wilhelm Meister< nachgeht und diese vor dem Hintergrund der Französischen Revolution interpretiert." Wie Borchmeyer in der Nachfolge von Rolf-Peter Janz zeigen kann, formulieren die beiden letzten Bücher des Romans ein ökonomisches Reformprogramm, das zu einer Uberwindung des Gegensatzes zwischen Adel und Bürgertum führen soll. Die adlige Turmgesellschaft zeigt sich dabei weitgehend von bürgerlichen Wertvorstellungen durchdrungen. 12 Neben den beiden Hauptrichtungen der Forschung, die den »Wilhelm Meisten entweder als >Bildungsroman< oder als >Sozialroman< interpretieren, haben sich in den vergangenen Jahren zahlreiche neue methodische Ansätze etablieren können. Symbolistische, ikonographische und mythologische Deutungen stehen heute neben psychoanalytischen, geschichtsphilosophischen und diskursanalytischen Untersuchungen. Es ist weder möglich noch sinnvoll, an dieser Stelle auf alle genannten Ansätze genauer einzugehen; es soll jedoch wenigstens noch auf die zahlreichen Arbeiten von Hans-Jürgen Schings hingewiesen werden, welche die Forschung zum >Wilhelm Meister< um wichtige Aspek9
Günter Säße: Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« im Spannungsfeld von Subjektivität und Intersubjektivität, S. 85. 10 Georg Lukács: Goethe und seine Zeit, Bern 1947, S. 31-47. " Dieter Borchmeyer: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik, Kronberg i. Ts. 1977, S.9-53 u. S. 1 3 1 - 2 2 1 . " Rolf-Peter Janz: Zum sozialen Gehalt der >LehrjahreMelancholie< sind polyvalent, bisweilen sogar widersprüchlich. Die Harmonie des Schlußakkords wird von einer leisen, aber deutlich vernehmbaren Dissonanz beeinträchtigt.
2.
Frühe Melancholie - Wilhelms Kindheit und Jugend
Die erste Notiz zum »Wilhelm Meister< findet sich in Goethes Tagebuch unter dem Datum des 16. Februar 1777, die letzte Bemerkung, die mit wenigen Worten den endgültigen Abschluß der >Lehrjahre< mitteilt, stammt vom 26. Juni 1796. Fast zwanzig Jahre liegen zwischen dem Beginn der Arbeit an >Wilhelm Meisters theatralischer Sendung< und der Vollendung von >Wilhelm Meisters Lehrjahren< - eine in vielerlei Hinsicht entscheidende Zeitspanne. Goethe hat die sechs Bücher der »Theatralischen SendungSendung< sind zwar komplett gestrichen, stark gekürzt oder zumindest neu strukturiert worden, wesentliche Elemente - vor allem auch im Hinblick auf den Protagonisten - finden sich jedoch in den >Lehrjahren< wieder. Es ist ein altes und beständig wiederholtes Vorurteil, daß Wilhelm in der >Sendung< einen frischen, zuversichtlichen und talentierten Nachwuchskünstler verkörpere, während die Betonung seines Dilettantismus und die Fokussierung seiner übrigen Defizite erst ein Resultat der >Lehrjahre< sei. Eine genaue Lektüre läßt erkennen, daß bereits die »Theatralische Sendung< deutliche Signale enthält, die eine glatte und vorschnell harmonisierende Interpretation von Wilhelms Persönlichkeit verhindern. 15 Zu den auffallendsten Umarbeitungen, die Goethe bei der Neukonzeption des Romans in den 1790er Jahren vorgenommen hat, gehört Wilhelms Jugendgeschichte. Während in der »Theatralischen Sendung< Wilhelms Kindheit und Jugend von einem Erzähler in chronologischer Folge beschrieben werden, berichtet Wilhelm in den >Lehrjahren< selbst von seiner Knabenzeit - im Rückblick schildert er seiner Geliebten die zentralen Erlebnisse und prägenden Einflüsse. Neben der Erzählperspektive modifiziert Goethe auch das Personenensemble. Manche Gestalten (so etwa die liebenswürdige Großmutter, die in der »Theatralischen Sendung< ihren Enkel gegen dessen gefühllose Eltern ver14
Vgl. Gerda Röder: Glück und glückliches Ende im deutschen Bildungsroman. Eine Studie zu Goethes »Wilhelm Meister«, München 1968, S. 161. Vgl. ferner Hans-Jürgen Schings: Einführung (MA 5, 642). '* Vgl. in diesem Zusammenhang Goethes aufschlußreiche Bemerkungen in den »Tagund Jahresheften< - Abschnitt >Bis 1786« (HA 10,432). Vgl. ferner Wulf Köpke: »Wilhelm Meisters theatralische SendungLehrjahren< einer strengen Erzählökonomie zum Opfer. Andere Gestalten wie etwa Mariane oder Wilhelms Mutter werden aufgewertet, während Wilhelms Freund Werner eindeutig negativer dargestellt wird. Die Umgestaltung und Neukonzeption hat auch Konsequenzen f ü r die Thematisierung der Melancholie. Während der Erzähler der theatralischen Sendung< immer wieder explizit auf Wilhelms Hang zur Schwermut hinweist und eine ausführliche Beschreibung seiner Liebesmelancholie im Anschluß an die Mariane-Katastrophe gibt, tritt in den >Lehrjahren< die direkte Schilderung der Melancholie zugunsten einer indirekten und symbolisch verschlüsselten Darstellung zurück. Besonders aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die Einführung des Motivs vom kranken Königssohn, der f ü r Wilhelm aufgrund seiner melancholischen Seelenqual zu einer zentralen Identifikationsfigur wird. Die folgenden Kapitel analysieren die melancholischen Neigungen des jungen Wilhelm, indem sie sich sowohl auf die >Theatralische Sendung< als auch auf die >Lehrjahre< beziehen. Sie beruhen auf der Uberzeugung, daß die Unterschiede, die im Vergleich zwischen beiden Fassungen des >Wilhelm Meister* zutage treten, die Darstellung der Melancholie nur formal, nicht aber inhaltlich berühren. Die eher indirekte Schilderung der Melancholie, wie sie in den >Lehrjahren< überwiegt, ist einem neuen, >nachitalienischen< Stilideal geschuldet und modifiziert nicht den Problemgehalt als solchen. Wilhelms melancholische Neigungen haben in der >Sendung< wie in den >Lehrjahren< denselben U r sprung, und die pathologische Verschärfung der Melancholie nach der Trennung von Mariane ist ebenfalls in beiden Fassungen analog motiviert.' 6
2.1.
Eskapistischer Rückzug in fiktive Sonderwelten
Die ersten Kapitel der theatralischen Sendung* illustrieren die lieblose A t m o sphäre, die in Wilhelms Elternhaus herrscht. Die launische und streitsüchtige Mutter vernachlässigt ihre erzieherischen Pflichten und sucht die Nähe ihrer Kinder lediglich dann, wenn sie diese gegen ihren Gatten aufstacheln kann. D e r Vater erscheint zwar als redlicher und rechtschaffener Bürger, dem das materielle Wohl seiner Familie am Herzen liegt, doch auch er hat kein Gespür f ü r die Wünsche seiner Kinder. Als nüchterner Kaufmann, der ausschließlich in ökonomischen Kategorien zu denken vermag, steht er der ganz anders orientierten Kinderwelt verständnislos gegenüber. Die Kälte, die Wilhelm in seinem Elternhaus fortwährend entgegenschlägt, veranlaßt ihn schon früh zum Rückzug ins
16
Ü b e r die formalen Änderungen in den >Lehrjahren< (Erzählerinstanz, Erzählperspektive, Sprachduktus, Leitmotive, Technik der gegenseitigen Personenspiegelung) informiert der profunde Aufsatz von Wolfdietrich Rasch: Die klassische Erzählkunst Goethes. In: Hans Steffen (Hg.): Formkräfte der deutschen Dichtung vom Barock bis zur Gegenwart, Göttingen 1963, S. 8 1 - 9 9 .
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eigene Innere (FA 9, 17). Er verschließt sich vor der tristen Realität des familiären Lebens und kompensiert die fehlende Zuneigung durch seine rege Einbildungskraft, die ihn in eine Welt voller Abenteuer und Sensationen führt. Wie der junge Anton Reiser in Moritz' gleichnamigem Roman baut sich Wilhelm eine imaginäre Welt auf, in der er all das findet, was ihm die banale Alltagswirklichkeit in Gestalt einer zänkischen Mutter und eines allzu prosaischen Vaters versagt.' 7 In der theatralischen Sendung« bildet allein die Großmutter einen Gegenpol zur frostigen Lieblosigkeit, mit der die Eltern Wilhelm begegnen. Gegen die Bedenken ihres Sohnes und gegen den Widerstand ihrer Schwiegertochter setzt sie an einem Weihnachtsabend die Aufführung eines Marionettenspiels durch, das sie selbst in mühevoller Kleinarbeit vorbereitet hat. Für Wilhelm wird dieses Marionettentheater zu einem Schlüsselerlebnis, da es nicht nur seiner Einbildungskraft neue Nahrung gibt, sondern auch seine Begeisterung für die Schauspielkunst weckt. Der Erzähler betont mehrfach die außergewöhnliche Aufmerksamkeit, mit der Wilhelm dem dargestellten Kampf zwischen David und Goliath folgt. Dem Knaben erschließt sich hier eine Welt, von der er sich besonders angezogen fühlt, da sie in scharfem Kontrast zur bedrückenden Eintönigkeit seiner Lebenswirklichkeit steht. Nach dem Ende der Darbietung sinnt Wilhelm noch lange über das Marionettenspiel nach, während die anderen Kinder, von den zahlreichen Reizen des Weihnachtsabends erschöpft, bereits in tiefen Schlaf fallen. »Die ganze kleine Gesellschaft war wie betrunken taumelnd und begierig in's Bett zu kommen, nur Wilhelm der aus Gesellschaft mit mußte lag allein, dunkel über das Vergangene nachdenkend, unbefriedigt in seinem Vergnügen, voller Hoffnungen, Drang und Ahndung« (FA 9, 15). 18 In seiner Theaterleidenschaft durchstöbert Wilhelm die Bibliothek seines Vaters nach immer neuen Dramen. Unter den zahlreichen Werken, die er in den reichbestückten Bücherregalen auftreiben kann, befindet sich eine Dichtung, die ihn besonders fasziniert: Tassos großes Epos >Das befreite Jerusalem«. Wilhelms Leseverhalten, das in der theatralischen Sendung« ebenso wie in den >Lehrjahren< von sympathetischer Anteilnahme am Schicksal der literarischen Gestalten geprägt ist, offenbart erstmals eine deutliche Disposition zur Melancholie. Wilhelm identifiziert sich mit dem unglücklichen Helden Tankred, der Chlorinde im Kampf tötet, ohne sie zu erkennen, und daraufhin einer furchtbaren Verzweiflung anheimfällt. Doch auch Chlorindes tragisches Schicksal ergreift sein Einfühlungsvermögen mit besonderer Gewalt: In der empfindsamen
17
18
Vgl. Bengt Algot Sürensen: Ü b e r die Familie in Goethes > Werther« und »Wilhelm Meister«. In: Orbis Litterarum 42 (1987), S. 1 1 8 - 1 4 0 , hier S. 1 2 8 - 1 3 0 . In den »Lehrjahren« übt das Marionettentheater eine ähnliche Faszination auf Wilhelm aus; dort veranlaßt allerdings nicht die Großmutter, sondern die Mutter das Puppenspiel, was sie noch nach Jahren in der Rückschau bedauert ( H A 7, 12).
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Stimmung der Abenddämmerung, die f ü r schwermütige Gefühlsregungen besonders prädestiniert ist, vergegenwärtigt er sich »hundert und hundertmal« jene beiden Verse, die den Tod der heidnischen Kriegerin ankündigen: »Allein das Lebensmaß Chlorindens ist nun voll, / U n d ihre Stunde kommt, in der sie sterben soll!« ( H A 7, 27). Wilhelm vertieft sich mit immer neuer Emphase in diese dunkle Tankred-Welt, die in aufschlußreicher Weise an Werthers OssianGesänge anknüpft. Hier wie dort bestimmen Finsternis, tragische Fatalität und schicksalhafte Schuldverstrickung die Szene, hier wie dort verschränkt sich die melancholische Liebesklage mit tiefem Todesschmerz. Wilhelms Imaginationsvermögen wird durch die intensive Lektüre so stark affiziert, daß es ihn zu einer szenischen Umsetzung des Gelesenen drängt. E r will Tassos Epos f ü r die Bühne bearbeiten und gemeinsam mit Freunden aufführen. A u c h wenn das Projekt zuletzt scheitert und der ersehnte Erfolg ausbleibt, ist Wilhelm von der Theaterwelt fasziniert, da hier die drückenden Lebensbedingungen des monotonen Alltags zumindest vorübergehend suspendiert sind. Wie sehr Wilhelm dieser schwärmerischen Vorstellung vom Theater auch in späteren Jahren noch anhängt, zeigt sich vor allem in jener Auseinandersetzung, die er mit seinem Vater über die künftige Berufswahl führt. Der Vater wünscht, daß sein Sohn den Beruf eines Kaufmanns ergreife, Wilhelm weigert sich jedoch, da seines Erachtens nur kleinliches Profitstreben und schnöde Geldgier die Welt des Warenhandels bestimmen. Das Kaufmannsgewerbe hält er »für eine drückende Seelenlast« (FA 9, 34). 19 Wilhelm fühlt sich von der Tristesse seines Elternhauses und von den Lebensbedingungen des gewerbetreibenden Bürgertums abgestoßen. E r flüchtet sich in die Welt des Theaters, da er dort einen »Heilort« zu finden glaubt, an dem nur hohe Gesinnungen und edle Empfindungen sowie die »größten G e fühle der Menschheit« kultiviert werden (FA 9, 39). Die Bühne besitzt die Funktion eines Refugiums, das vor der profanen Alltagswirklichkeit und ihren korrumpierenden Einflüssen schützt (FA 9 , 3 5). Wilhelms schwärmerische Begeisterung f ü r die Schauspielkunst trägt von Anfang an eskapistische Züge; darüber hinaus aber offenbart sie auch einen geringen Realitätsbezug und eine erstaunliche Naivität. Obgleich Wilhelm im Umgang mit verschiedenen Schauspielern nachdrücklich auf die zahlreichen Mängel und moralischen Mißstände der Theaterpraxis hingewiesen wird, hält er unbeirrt an seinen Überzeugungen fest. Bereits hier bestätigt sich, was die erfahrene Schauspielerin Aurelie später
' ' A u c h in den >Lehrjahren< wird die D i f f e r e n z zwischen Wilhelm und seinem Vater deutlich exponiert. D o r t will der Vater Wilhelm den häufigen Besuch des Theaters untersagen, woraufhin dieser, den Materialismus des Vaters beklagend, erklärt: »Ist denn alles unnütz, was uns nicht unmittelbar G e l d in den Beutel bringt, was uns nicht den allernächsten Besitz verschafft?« ( H A 7, 1 1 ) .
171
gegenüber Wilhelm betonen wird: »Von außen kommt nichts in Sie hinein« ( H A 7, 2 5 7 ) . Wilhelms latente Neigung zur Melancholie manifestiert sich zunächst vor allem im Bereich des identifikatorischen Lesens. D i e Melancholie
flackert
mehrfach auf, wird dann aber von der zunehmend enthusiastischen Theaterleidenschaft überlagert. Man könnte nun annehmen, daß Wilhelms schwärmerische Begeisterung f ü r die Schauspielkunst ein Gegengewicht zu seiner melancholischen Disposition darstelle. Die Analyse des weiteren Handlungsverlaufs führt indes zum gegenteiligen Befund. D e r psychische Zusammenbruch im Anschluß an die Mariane-Katastrophe zeigt, daß sich Wilhelm mit seiner Theaterleidenschaft vor den Gefahren der Melancholie nicht schützt, sondern daß er sie durch seinen wirklichkeitsfremden Enthusiasmus unterschwellig forciert. D e r idealistisch-illusorische und von problematischen Projektionen bestimmte Rückzug in die Welt des Theaters führt zum potenzierten Ausbruch der Melancholie. Das auslösende Moment dafür ist die Liebestragödie mit Mariane.
2.2.
Die Katastrophe der ersten Liebesbeziehung
Durch die Bekanntschaft mit der Schauspielerin Mariane gerät Wilhelm in den ersten großen Liebestaumel seines Lebens. E r fühlt sich aus der Enge des öden Alltags herausgerissen und in neue Daseinsbereiche emporgehoben. D a er das Verhältnis zu Mariane im Theatermilieu anknüpft, kann er zwei gleichwertige Leidenschaften miteinander verbinden, ohne einer von beiden den Vorrang geben zu müssen. In der bruchlosen Synthese von Kunst und Liebe, in der innigen Verflechtung von Eros und Theaterleidenschaft glaubt er den Gipfelpunkt seiner bisherigen Existenz erreicht zu haben. Wilhelms Freund Werner indes verfolgt das leidenschaftliche Liebesverhältnis mit großem Unbehagen. E r zieht Erkundigungen ein und erfährt, daß Mariane von mehreren Liebhabern gleichzeitig unterhalten wird. Mit dieser pikanten Information h o f f t er seinen Freund desillusionieren zu können, doch Wilhelm ignoriert in seiner Gefühlsseligkeit alle Einwände. E r überläßt sich seinen Leidenschaften und kultiviert in zunehmendem Maße auch hybride Wunschvorstellungen. So sieht er sich an der Seite von Mariane bereits als künftiger Schöpfer eines großen Nationaltheaters, das von vielen Zeitgenossen ersehnt wird (FA 9, 50). E r schwelgt in Z u kunftsphantasien, die großen R u h m und höchstes Liebesglück verheißen. U m so ruinöser ist der seelische Einbruch, als er eines Abends seinen Nebenbuhler entdeckt und einen Brief von ihm an Mariane in die Hände bekommt. Wilhelm stürzt in eine tiefe Liebesmelancholie, die aufgrund der engen Verknüpfung von Eros und Bühnenwelt auch die Theaterleidenschaft mit in den 20
Später erklärt der Erzähler im Rahmen der Hamlet-Rezeption, Wilhelm habe eine »fast unüberwindliche Neigung« zum »Selbstbetrug« ( H A 7, 210).
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A b g r u n d reißt. E i n schweres Fieber überfällt ihn - sein vormaliger Enthusiasmus weicht einer zerstörerischen Depression. Wilhelm zeigt eine Vielzahl typischer M e l a n c h o l i e - S y m p t o m e , die bereits bei Werther, Tasso und Lila zu beobachten waren. I m m e r wieder und geradezu z w a n g h a f t vertieft er sich in das eigene Leid; pausenlos kontrastiert er das ehemalige Liebesglück mit der darauffolgenden Katastrophe, u m so das quälende Elend zu forcieren. »Wenn er sich zur möglichsten H ö h e hinaufgearbeitet hatte«, resümiert der Erzähler, »wenn ihm der Sonnenschein voriger Tage wieder die Glieder zu beleben, den Busen zu heben schien, sah er rückwärts auf den schrecklichen A b g r u n d , labte sein A u g e an der zerschmetternden Tiefe, warf sich hinunter und erzwang v o n der N a t u r die bittersten Schmerzen. Mit so wiederholter Grausamkeit zerriß er sich selbst« ( H A 7, 78). E s gehört zu den signifikantesten M e r k m a l e n des M e lancholikers, daß er vergangenes U n g l ü c k nicht vergessen kann und in der fortwährenden Betrachtung des Geschehenen verharrt. Goethes Dichtungen bieten im Hinblick auf diese A u s d r u c k s f o r m der Melancholie reiches A n s c h a u ungsmaterial. Bereits Werther bekennt in seinem ersten Brief eine solche rückwärtsgewandte Haltung, u m dann sogleich Besserung zu geloben: »Ich will [...] nicht mehr ein bißchen Ü b e l , das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen, w i e ich's immer getan habe« ( H A 6, 7). D a s >Wiederkäuen< der unglücklichen Vergangenheit, das Werther entgegen seiner zuversichtlichen A n k ü n d i g u n g zu keinem Zeitpunkt unterlassen kann, betreibt auch Wilhelm mit zerstörerischer Energie. Werner bemüht sich deshalb bei seinen allabendlichen Besuchen, das G e s p r ä c h auf Gegenstände zu lenken, die ihn v o n seiner Fixierung auf das z u rückliegende Ereignis lösen: »Werner kam [...] u m ihn mit Erzählen, Vorlesen, auch w o h l o f t durch die bloße G e g e n w a r t v o n den heimlichen G e d a n k e n abzubringen, in denen der Unglückliche sein Schicksal wiederzukäuen, und sich selbst zu verzehren eine Wollust fand« ( F A 9, 65). D e r Erzähler der t h e a t r a l i schen Sendung< greift hier jene F o r m u l i e r u n g auf, die bereits in den >Leiden des jungen Werther< begegnete. H a t sich Wilhelm v o r der Katastrophe einer euphorischen H o c h s t i m m u n g hingegeben, so sieht er sich nun aller Lebenskräfte beraubt. E r lehnt jede H i l f e ab und facht seine Seelenqualen immer wieder neu an: »Jede freudige sonst teilnehmende A d e r haßt' er an sich, und nährte dagegen jene stillstehende, schleichende, in sich gekehrte E m p f i n d u n g , die heimlich den K e r n des Lebens aushöhlt« ( F A 9,68). 2 1 Zuletzt versinkt Wilhelm in einer bedrohlichen Apathie: E r bricht den K o n t a k t zu Freunden ab, verschanzt sich in seinem überheizten Z i m m e r und vernachlässigt sogar seine Ernährung. A l l e drei Faktoren verschärfen die dunklen und depressiven Stimmungen. N i c h t umsonst warnen seit der A n t i k e einschlägige medizinische H a n d b ü c h e r v o r Isolation, v o r dauerhaf21
Die >Lehrjahre< sprechen in diesem Zusammenhang von Tagen »des lauten, ewig wiederkehrenden und mit Vorsatz erneuerten Schmerzes« (HA 7, 76).
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tem Aufenthalt in warmen und schlecht gelüfteten Räumen sowie vor falscher Diät. Weit entfernt vom Wunsch nach baldiger Genesung steigert sich Wilhelm immer weiter in seine finstere Gemütslage hinein. Häufig greift er dabei auch zu jenen Getränken, vor denen die Psychopathologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts eindringlich warnt. Ganz besonders spricht ihn der Kaffee an, der von Zeitgenossen als überaus gefährlich eingestuft und auch von Goethe entschieden abgelehnt wird. 22 Wilhelm steigert die tägliche Dosis, um so seine Einbildungskraft zu immer neuen und immer abgründigeren Phantasien zu verleiten: »Seine Vorstellung wurde mit schwarzen leicht beweglichen Bildern erfüllt, mit welchen seine Imagination ein rastloses Drama, das die Hölle des Dante zum würdigen Schauplatz erwählet hätte, aufzuführen sich gewöhnte« (FA 9, 68). Wilhelm konsumiert nicht nur schwarzen Kaffee, sondern greift auch zu Tee und Wein. Daß der Wein die psychische Labilität des Melancholikers besonders fördert, gehört seit den Schriften des antiken Arztes Galen zu den Gemeinplätzen in der Diskursgeschichte der Melancholie. Doch auch der Tee wird in einigen Schriften des 18. Jahrhunderts als gefährliches Getränk erwähnt. So heißt es in einer Arbeit des Arztes Johann Ulrich Bilguer von 1767: »Ich sehe aber als Hauptquellen der heutigen Tages so allgemein herrschenden Hypochondrie an: [...] Misbrauch des Zuckers und Backwerks, des Thee-Caffee-Schocolade und Brandtweingetränkes, wie auch des Rauchtabaks«. 23 Der Tee - und hier ist natürlich an schwarzen Tee zu denken - ruft nach zeitgenössischer Auffassung ähnliche psychische Wirkungen hervor wie der Kaffee. Dementsprechend äußert sich der Erzähler über Wilhelms Trinkgewohnheiten: »Der Tee, ein würdiger, obgleich weitläufiger Anverwandter der verderblichen Bohne, ward als ein guter Gesellschafter, die häusliche Langeweile zu ergötzen auch Abends gewöhnlich aufgefordert, und da dann gleichfalls der Wein, nicht immer mäßig, genommen wurde, [...] so entstand daraus, und aus andern Verknüpfungen, ein widriges Unbehagen, in seinem ganzen Wesen« (FA 9, 68). Die >falsche DiätWerther< vgl. den letzten Absatz in Kap. III.2. Interessanterweise warnt auch die Verfasserin der >Bekenntnisse< im sechsten Buch der >Lehrjahre< vor den gefährlichen Wirkungen des Kaffees (HA 7, 380). Johann Ulrich Bilguer: Nachrichten an das Publicum in Absicht der Hypochondrie. Zit. n. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 71.
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Wechsel zwischen Zuständen völliger Passivität und leidenschaftlichen G e fühlsausbrüchen. Wilhelm meidet jede Abwechslung, legt den Schlafrock nicht mehr ab und findet, wie der Erzähler anmerkt, »zuletzt gar in einer Pfeife Tobak sein Glück« - man erinnere sich an die oben zitierte Schrift Bilguers, die nicht nur vor Kaffee, Tee und Wein, sondern insbesondere auch vor Tabak warnt. Die Charaktereigenschaften, die Wilhelm vor der Liebeskatastrophe auszeichneten, sind bis zur Unkenntlichkeit entstellt; ihm droht der vollständige Zusammenbruch: »Es fehlte nun fast nichts mehr, ihn den Wohlgebildeten, Reinlichen, Freien, in den Zustand jener Menschen zu versetzen, die oft ohne Geist und innern Beruf, über mißverstandenen Büchern wie Schuster auf dem Schemel verkümmern« (FA 9, 69). Mit jenem Vergleich, der die Pathographie Wilhelms an dieser Stelle abschließt, demonstriert Goethe noch einmal seine profunde Kenntnis der weitverzweigten Melancholie-Debatte im 18. Jahrhundert. In den Schriften der Aufklärung wird nämlich der Schuster immer wieder jenen Berufsgruppen zugerechnet, die aufgrund ihrer Tätigkeit eine besondere Disposition zur Melancholie verraten. Durch das permanente Stillsitzen während der Arbeit und durch die dauerhaft gebückte Haltung, die den Unterleib in unnatürlicher Weise zusammenpreßt, entsteht ein körperliches Mißbehagen, das zusammen mit den monotonen Arbeitsabläufen zu Trübsinn und schwermütiger Schwärmerei führt. Die Verbindung von ungesunder Arbeitshaltung und wenig abwechslungsreicher Tätigkeit prädestiniert den Schuster ebenso wie andere Handwerker zur Melancholie. D e r Aufklärer Karl Spazier resümiert in seiner Schrift >Der neue Origenesc »Daher wird man finden, daß Schneider, Schuster, Weber und dergleichen Leute von jeher am mehresten zu religiöser Schwermuth und stiller Grübeley aufgelegt waren«. 2 4 Das Bild vom melancholischen Schuster erfreut sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einer außerordentlichen Beliebtheit. So porträtiert beispielsweise Lavater in seinen populären >Physiognomischen Fragmentens an deren Ausarbeitung auch Goethe beteiligt war, einen schwermütigen Schuhmacher, der eine Vielzahl melancholischer Symptome zeigt. 25 Besondere Aufmerksamkeit verdient auch die von Julius Friedrich Knüppeln verfaßte Schrift >Ueber den Selbstmords die - im Jahre 1790 publiziert - sicherlich nicht zufällig das empfindsame und melancholische >Wertherfieber< an einem Schustergesellen exemplifiziert: »Man kennt das Wertherfieber«, erklärt Knüppeln, »wie solches in teutschen Landen graßirte [...] das Lesen der empfindsamen schwärmerischen Schriften, stiftete viel Unheil, und ver24
25
Karl Spazier: D e r neue Orígenes, oder Geschichte seltsamer Verirrung eines religiösen Schwärmers. Nebst einer Abhandlung über die Quellen und Gefahren der Schwärmerey, Berlin 1792, S. 33f- Landarbeiter, Maurer, Zimmerleute, Schreiner und Feuerarbeiter werden sich nach Spazier kaum »an die Schaar der stillen Jünger anschlieszen« (S. 34). Vgl. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 2 1 1 ( . Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, Bd. 2 / 1 , S. 1 3 .
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breitete sich selbst auf die niedern Stände - zu Halle erhieng sich ein Schustergeselle, und man fand Werthers Leiden in seiner Tasche«.26 Wenn der Erzähler der theatralischen Sendung< Wilhelms Melancholie mit dem geistigen Zustand jener Menschen vergleicht, »die oft ohne Geist und innern Beruf über mißverstandenen Büchern wie Schuster auf dem Schemel verkümmern«, so ist für den zeitgenössischen Leser die Anspielung unmißverständlich. Als Angehöriger der sozialen Unterschichten verkörpert der Schuster das, was der Gelehrte (oder auch seine Karikatur!) als Mitglied der gebildeten Stände personifiziert: Er ist Repräsentant einer berufsbedingten und durch schädliche Arbeitsverhältnisse hervorgerufenen Melancholie.
3.
Wilhelms Melancholie in leitmotivischer Spiegelung das Bild vom kranken Königssohn
Das Bild vom kranken Königssohn gehört zu den bedeutendsten Erweiterungen, die Goethe bei der Neukonzeption des >Wilhelm Meister< vorgenommen hat. Als Leitmotiv durchzieht es den gesamten Handlungsverlauf der >Lehrjahre< und tritt an den entscheidenden Wendepunkten immer wieder ins Blickfeld des Lesers. Die Geschichte, die dem Bildmotiv zugrunde liegt, geht auf eine Episode zurück, die Plutarch in den Vergleichenden Lebensbeschreibungen erzählt (>DemetriosWilhelm Meister< hat sich in den vergangenen Jahrzehnten des öfteren mit der F r a g e beschäftigt, welches reale G e m ä l d e G o e the v o r A u g e n stand, als er das M o t i v v o m kranken K ö n i g s s o h n in die >Lehrjahre< einfügte. Zunächst erklärte man ein G e m ä l d e des Niederländers G é r a r d de Lairesse zum >UrbildDe patrum amore et indulgenza in liberosThe Love of Antiochus with Faire Stratonica« in Art. In: The Art Bulletin 27 (1945), S. 221-237. Vgl. hierzu Erika Nolan: Wilhelm Meisters Lieblingsbild: Der kranke Königssohn. Quelle und Funktion. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1979, S. 13 2 - 1 5 2, hier S. i}6{. - Die Gemälde von Belucci und Zick sind abgebildet in FA 9 (Abb. 9 u. 10).
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Malers Januarius Zick hinwies. 30 Zick kommt in mancherlei Hinsicht als Gewährsmann für Goethe in Frage, doch auch in seinem Gemälde finden sich einige Details, die mit der Bildbeschreibung der >Lehrjahre< nicht übereinstimmen. 31 Die Frage, an welchem realen Gemälde sich Goethe orientiert hat, ist also nicht mit letzter Sicherheit zu beantworten. Indes erweist sich die Frage nach dem >Urbild< auch als sekundär, wenn man bedenkt, daß die Geschichte vom kranken Königssohn im 17. und 18. Jahrhundert äußerst beliebt war und Künstler aller Gattungen zu zahlreichen Gemälden, Romanen, Dramen und Opern anregte. Unter kunsthistorischen und ikonographischen Gesichtspunkten ist für die >Lehrjahre< zunächst nur die allgemeine Beobachtung wichtig, daß Goethe bei seiner Motivbeschreibung jenem Bildtypus folgte, der lediglich die zweite Phase der Geschichte fixiert und auf eine simultane Darstellung der dritten Phase verzichtet. Wenn Friedrich am Schluß des Romans das Gemälde beschreibt und dabei auf den König hinweist, »der sich am Fuße des Bettes um seinen kranken Sohn abhärmt« (HA 7, 606), dann verdeutlicht dies, daß das Gemälde nur die mittlere Phase des Geschehens darstellt. Aber nicht allein Friedrichs Bildbeschreibung ist entscheidend; auch im Hinblick auf Wilhelms Äußerungen ist davon auszugehen, daß das Gemälde die Entsagungs-Geste des Königs nicht zeigt. Nur so läßt sich erklären, warum Wilhelm die entscheidende Pointe der Geschichte und ihre Wendung zum Glück lange Zeit ignorieren kann. 32 Das Bild vom kranken Königssohn hing viele Jahre lang in Wilhelms Elternhaus. Es wurde zwar nicht besonders geschätzt und deshalb auch in den »äußersten Vorsaale« verbannt (HA 7, 70), dort aber begegnete ihm der junge Wilhelm täglich, weil er hier seine Spiele ausbreiten durfte. Im Gespräch mit dem Unbekannten am Ende des ersten Buches erinnert sich Wilhelm an seine frühen Bildimpressionen, und er weist eindringlich darauf hin, daß das Bild vom kran3
° Für Gerard de Lairesse votiert Heinrich Diintzer: > Wilhelm Meisters Lehrjahre« von Goethe, Leipzig 2 i 875, S. 129. Düntzer weist daraufhin, daß Goethe das Gemälde von Lairesse ( 1 6 4 1 - 1 7 1 1 ) über Winckelmann kannte, der es ausführlich beschreibt. - Für Antonio Belucci (1654-1726) plädieren: Christoph E. Schweitzer: Wilhelm Meister und das Bild vom kranken Königssohn. In: Publications of the Modern Language Association of America 72 (1957), S.419-432. Hellmut Ammerlahn: Goethe und Wilhelm Meister, Shakespeare und Natalie: Die klassische Heilung des kranken Königssohns. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1978, S. 47-84. Auf das Gemälde von Januarius Zick (1730-1797) als Vorlage für Goethe verweist Wolfgang Stechow: >The Love of Antiochus with Faire Stratonica< in Art, S. 233!.; im Anschluß auch Erika Nolan: Wilhelm Meisters Lieblingsbild: Der kranke Königssohn, S. 136-139. 31 In Friedrichs Bildbeschreibung heißt es, der König verweile »am Fuße des Bettes« (HA 7, 606); auf dem Gemälde von Zick sitzt Seleukos indes beinahe an dessen Kopfende, direkt neben dem Haupt seines kranken Sohnes. 32 Aus diesem Grund kommt weder das Gemälde von Gerard de Lairesse noch das von Antonio Belucci in Frage - auf beiden Gemälden ist bereits die Entsagung des Königs dargestellt. 178
ken Königssohn in jenen Kindertagen »einen unauslöschlichen Eindruck« auf ihn gemacht habe ( H A 7, 70). D e r Unbekannte betont im weiteren Verlauf des Gesprächs, daß das Gemälde in seiner künstlerischen Anlage mißlungen sei. Wilhelm aber ignoriert solche formalästhetischen Einwände und beharrt auf dem ergreifenden Gefühl, das er einst beim Anblick des Bildes empfunden hat. Seine apologetischen Ausrufe erinnern in ihrer melancholischen Sentimentalität an Goethes Jugendroman, da sie mit äußerster Emphase die aufzehrende Innerlichkeit umkreisen, die sich bereits in Werthers späten Briefen manifestierte: »Wie jammerte mich, wie jammert mich noch ein Jüngling, der die süßen Triebe, das schönste Erbteil, das uns die N a t u r gab, in sich verschließen und das Feuer, das ihn und andere erwärmen und beleben sollte, in seinem Busen verbergen muß, so daß sein Innerstes unter ungeheuren Schmerzen verzehrt wird« ( H A 7, 7 0 ) . " Wilhelms leidenschaftliches Interesse an der aufreibenden Liebessehnsucht des Antiochos läßt erneut eine unterschwellige Disposition zur M e lancholie erkennen. Wilhelm fühlt sich von den Seelenqualen des Antiochos angesprochen und beschreibt dessen Liebesschmerzen mit identifikatorischer Anteilnahme. E r erkennt im kranken Königssohn eine Gestalt, auf die er, ähnlich wie bei Tankred, seine eigenen Stimmungen projizieren kann. Wie sehr Wilhelm bei der Deutung des Bildes dem ästhetischen Subjektivismus Wertherscher Prägung anheimfällt, geht aus der harschen Kritik des Unbekannten deutlich hervor: »Diese Gefühle sind freilich sehr weit von jenen Betrachtungen entfernt, unter denen ein Kunstliebhaber die Werke großer Meister anzusehen pflegt; wahrscheinlich würde Ihnen aber, wenn das Kabinett ein Eigentum Ihres Hauses geblieben wäre, nach und nach der Sinn f ü r die Werke selbst aufgegangen sein, so daß Sie nicht immer nur sich selbst und Ihre Neigung in den Kunstwerken gesehen hätten« ( H A 7, 70). Wie bereits dargelegt, zeigt das G e mälde, das Wilhelm und der Unbekannte unterschiedlich beurteilen, die mittlere Phase der Geschichte vom kranken Königssohn: Stratonike betritt das Z i m mer des Antiochos und nähert sich seinem Lager, woraufhin der Arzt die Krankheitsursache blitzartig erkennt. Damit eröffnet sich die Möglichkeit einer Heilung des kranken Königssohns, auch wenn Seleukos noch nicht mit einer Geste seinen großmütigen Verzicht signalisiert. Diese optimistische B o t schaft des Bildes hat Wilhelm bislang verkannt, da seine Wahrnehmung ständig von subjektiven Stimmungen projektiv überformt wurde. D o c h auch jetzt noch, im Gespräch mit dem Unbekannten, hat Wilhelm bei der Vergegenwärtigung des Gemäldes allein die erste Phase der Geschichte vor Augen. N u r diese 35
Hannelore Schlaffer geht davon aus, daß Wilhelm durch das Gemälde vom kranken Königssohn zur Liebe disponiert wird: »Das Bild vom kranken Königssohn entzündet ihn zur Liebe, die zu erfüllen er auszieht«. Schlaffers Deutung verkennt, daß das Gemälde v o m kranken Königssohn Wilhelm in erster Linie wegen der unglücklichen und aussichtslosen Liebessehnsucht des Antiochos anzieht. H . Schlaffer: Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des M y t h o s , Stuttgart 1980, S. 30.
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interessiert ihn - und so sieht er ausschließlich die quälende Melancholie seines Alter ego Antiochos. 34 Das Gespräch mit dem Unbekannten über das Gemälde vom kranken Königssohn entspinnt sich just an jenem Abend, an dem Wilhelms erste Liebesbeziehung ihrem abrupten Ende entgegeneilt. Es stellt sich daher die Frage, ob dem Bildmotiv angesichts seiner exponierten Stellung noch eine weitere Funktion zukommt, die über die oben erläuterte hinausgeht. U m diese Frage beantworten zu können, bedarf es eines kurzen Exkurses: Die antike und mittelalterliche Medizin führt im Gegensatz zur modernen Psychopathologie fast alle melancholischen Erkrankungen auf somatische Störungen zurück. Es gibt jedoch auch einige Ausnahmen, deren bekannteste die Liebesmelancholie ist. Hier verzichtet man weitgehend auf somatische Erklärungsmuster und macht stattdessen vor allem psychogenetische Faktoren verantwortlich. 35 Die Geschichte vom kranken Königssohn etabliert sich bereits in der Antike als beliebte Fallstudie für die prominente Sonderform der Melancholie: Antiochos wird zum Prototypen des Liebesmelancholikers. Zahlreiche Schriften greifen die Geschichte seiner Erkrankung und Heilung auf, um sie über Jahrhunderte hinweg bis in die Goethezeit zu tradieren; selbst »die ernsthaftesten Abhandlungen mögen nicht darauf verzichten«. 3Lehrjahre< eingeführt hat: Die Leiden des Antiochos verweisen nicht nur allgemein auf Wilhelms melancholische Veranlagung, sondern sie präfigurieren auch konkret jene Liebesmelancholie, in der Wilhelm nach der Entdeckung des vermeintlichen Betrugs für lange Zeit versinken wird. Goethe hat das Motiv vom kranken Königssohn in den Rang einer zentralen Metapher erhoben, die Wilhelms Entwicklungsgang leitmotivisch kommentiert. Von besonderer Bedeutung ist dabei, daß sich die Wahrnehmung des Bildes im Handlungsverlauf des Romans aus ihrer anfänglichen Statik löst und zunehmend ins Gleiten gerät. Wie oben gezeigt, projiziert Wilhelm lange Zeit nur seine eigene Schwermut auf die Gestalt des kranken Königssohns; als befangener Betrachter sieht er ausschließlich das Siechtum des Antiochos, der sich in unglücklicher Liebe zu Stratonike aufzehrt. Im Anschluß an die Begegnung mit der schönen Amazone verschiebt sich jedoch Wilhelms visuelle Wahrnehmung. Sie fokussiert einen neuen Bildbereich und deutet auf eine psychische Entwicklung hin, an deren Ende die Uberwindung der Melancholie steht. Da Wilhelm nach dem Überfall auf der Waldlichtung für mehrere Wochen das Bett hüten muß, kann er in Ruhe über die zurückliegenden Ereignisse nach-
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Vgl. Hans-Jürgen Schings: Wilhelm Meisters schöne Amazone, S. \ Vgl. Kap. II.}.
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heldenmütigen< Chlorinde verweist bei aller erotischen Faszination immer noch auf die Sphäre des tragischen Untergangs; sie figuriert die unauflösbare Verbindung von Liebe und Tod. Das Bild vom kranken Königssohn hingegen, das die Erinnerung an Chlorinde überblendet, führt aus der Sphäre heilloser Liebessehnsucht heraus. Wilhelm - und das ist entscheidend - entdeckt nach der Begegnung mit der Amazone erstmals auch die therapeutischen Valenzen, die dem Gemälde von Antiochos und Stratonike eingezeichnet sind. Er fixiert
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Hans-Jürgen Schings hat in seinem anregenden A u f s a t z über >Wilhelm Meisters schöne Amazone< darauf hingewiesen, daß die Szenerie auf der Waldlichtung nach dem Uberfall (IV, 6) bis ins Detail mit dem Personenarrangement auf dem Gemälde v o m kranken Königssohn übereinstimmt. D a nun die Begegnung zwischen dem verwundeten Wilhelm, der schönen A m a z o n e und ihren beiden Begleitern (Oheim, Arzt) bereits zur Textschicht der Theatralischen Sendung< gehört, das Bildmotiv vom kranken Königssohn jedoch erst in die >Lehrjahre< eingefügt wurde, zieht Schings den faszinierenden, wenngleich spekulativen Schluß, daß Goethe durch die Szenerie auf der Waldlichtung zur Wahl des Motivs v o m kranken Königssohn angeregt worden sei: »Das Personal, das sich dort [auf der Waldlichtung] gruppiert, nimmt ja bis ins Detail der Konfiguration das Gemälde vorweg. Schwer vorstellbar, daß die bildermächtige und bilderkundige Aufmerksamkeit Goethes daran vorbeigesehen haben sollte. So bedurfte es nur eines - freilich genialen - Einfalls, um solche Anschauung riickzuübersetzen, aus der poesis die pictura hervorgehen zu lassen, aus des Szene das G e mälde zu erschließen - und ihm eine eigenständige Existenz zu geben.« H.-J. Schings: Wilhelm Meisters schöne A m a z o n e , S. I73Í. 181
sich nicht länger auf die erste Phase der Geschichte, die von aussichtsloser Liebe und verzehrender Innerlichkeit bestimmt ist, sondern richtet sein Augenmerk insbesondere auf jenen prägnanten Moment, in dem die »teilnehmende« Prinzessin »mit stiller Bescheidenheit« an das Bett des Antiochos herantritt und die Entdeckung der Krankheit herbeiführt. Das Bildmotiv vom kranken Königssohn gewinnt in Wilhelms Bewußtsein eine spezifische Dynamik: Symbolisierte es bislang qualvollen und unüberwindbaren Liebesschmerz, so versinnbildlicht es nun, nach der Begegnung mit der helfenden Amazone, Zuwendung und Heilung. 38 Wenn die Erscheinung der Amazone zunächst die Gestalt der Chlorinde ins Bewußtsein rückt und dann die Erinnerung an Stratonike wachruft, so generiert sie zwei einander ablösende Bildeindrücke, die eine Klimax bilden und von tragischem Verderben zu verheißungsvollem Glück führen. Wie Günter Säße in einer konzisen Studie überzeugend gezeigt hat, wird diese Steigerungsbewegung auch auf syntaktischer Ebene realisiert. Zumindest in der Textausgabe von 1816 und in der Ausgabe letzter Hand von 1828/30 verdeutlicht ein Doppelpunkt, daß es sich bei der Bilderabfolge nicht bloß um eine additive Reihung, sondern um eine gestufte und aufeinander aufbauende Bildsequenz handelt.'? Bevor Wilhelm die schöne Amazone Wiedersehen und seine Melancholie endgültig überwinden wird, muß er noch verschiedene Stadien durchlaufen. Insbesondere die Auseinandersetzung mit Hamlet, die erst nach und nach von emphatischer Identifikation zu kritischer Distanzierung führt, wird ihn noch geraume Zeit im Bannkreis der Melancholie halten. Die Erinnerung an die Amazone aber und die dadurch ausgelöste Akzentverschiebung in der Deutung des Bildes vom kranken Königssohn antizipieren den glücklichen Ausgang. Einer verheißungsvollen Zukunft gewiß, erklärt Wilhelm: »Sollten nicht [...] uns in der Jugend wie im Schlafe die Bilder zukünftiger Schicksale umschweben und unserm unbefangenen Auge ahnungsvoll sichtbar werden? Sollten die Keime dessen, was uns begegnen wird, nicht schon von der Hand des Schicksals ausgestreut, sollte nicht ein Vorgenuß der Früchte, die wir einst zu brechen hoffen, möglich sein?« (HA 7, 235). Wenn Wilhelm hier von einem
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Vgl. Erika Nolan: Wilhelm Meisters Lieblingsbild, S. 145. Vgl. ferner Günter Säße: Wilhelm Meister als Leser Tassos. In: Achim Aurnhammer (Hg.): Torquato Tasso in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, Berlin/New Y o r k 1995, S. 370-381, hier S. 377. Im Hinblick auf die oben zitierte Textpartie erklärt Säße: »Der in der Ausgabe letzter Hand anstelle des Semikolons der Erstausgabe eingesetzte Doppelpunkt macht aus der parataktischen Aneinanderreihung der beiden Bilder eine auseinander hervorgehende Abfolge und führt so den psychischen Vorgang der Bildüberlagerung mit den Mitteln der Interpunktion vor Augen«. G. Säße: Wilhelm Meister als Leser Tassos, S.377Í.
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»Vorgenuß der Früchte« spricht, dann zielt er damit auf seine frühen Kunsteindrücke, die er als Kind aus der Lektüre Tassos und aus der Betrachtung des G e mäldes vom kranken Königssohn gewonnen hat. Hatte aber dieser vermeintliche Vorgenuß nicht einen recht bitteren Beigeschmack? Standen Tankred und Chlorinde sowie Antiochos und Stratonike nicht für verhängnisvolle Liebe und unerfüllte Sehnsucht? Wenn Wilhelm seine frühen Kunsteindrücke nachträglich als Präfigurationen eines künftigen Glücks interpretiert, dann zeigt sich daran nochmals deutlich, wie sehr sich seine Bilderinnerung unter dem Eindruck der schönen Amazone gewandelt hat. Gegen Ende des siebten und zu Beginn des achten Buches häufen sich die Hinweise auf das Bild vom kranken Königssohn. Zunächst wird das Gemälde erneut von jenem Unbekannten erwähnt, der bereits im ersten Buch Wilhelms ästhetischen Dilettantismus getadelt hat. »Sollten Sie«, fragt er Wilhelm während der zeremoniellen Aufnahme in die Turmgesellschaft, »unter andern Dingen, die Sie wissen möchten, nicht auch zu erfahren wünschen, w o die Kunstsammlung Ihres Großvaters sich gegenwärtig befindet? Erinnern Sie sich des Gemäldes nicht mehr, das Ihnen so reizend war? Wo mag der kranke Königssohn wohl jetzo schmachten?« ( H A 7, 494). Mit dieser spöttischen Frage spielt der Unbekannte auf Wilhelms frühere Gewohnheit an, im Bild vom kranken Königssohn nur die eigene Melancholie abzuspiegeln. Nach der Aufnahme in die Turmgesellschaft begegnet Wilhelm erneut der Kunstsammlung seines Großvaters mit dem vielgeliebten Gemälde. Entscheidend ist dabei, daß er jenes Bild im Hause von Lotharios Oheim erblickt, unmittelbar bevor er die schöne Amazone wiedersieht. Damit erweist sich das Gemälde tatsächlich, wie Wilhelm bereits im vierten Buch vermutete, als symbolische Präfiguration seines >künftigen SchicksalsLehrjahreWilhelm Meisters LieblingsbildWanderjahrenLehrjahren< das Entsagungsmotiv, das dann in den >Wanderjahren< zum alles bestimmenden Thema werden sollte, so deutlich v o r Augen, daß er das Gemälde daraufhin in die >Lehrjahre< einführte, und zwar zunächst mit der A b sicht, vorauszudeuten auf Wilhelms Entwicklung v o m nach Unerlaubtem verlangenden Knaben und Jüngling zum Entsagenden«. Indem Erika N o l a n bei ihrer Deutung des Gemäldes über die >Lehrjahre< hinausgeht und immer wieder den geistigen Zielpunkt der wesentlich später entstandenen >Wanderjahre< fixiert, überdehnt sie das semantische Potential des Bildes. Würde Nolans Behauptung zutreffen, so ließe sich das Motiv vom kranken Königssohn im H o r i z o n t der >Lehrjahre< nicht deuten, obwohl es doch nur dort begegnet. E . Nolan: Wilhelm Meisters Lieblingsbild, S. 1 4 1 .
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nen Zweck aus dem Sinne verliert, ohne doch jemals wieder froh zu werden« (HA 7 ) 246). Shakespeares >Hamlet< übte auf das deutsche Publikum des ausgehenden 18. Jahrhunderts eine gewaltige und kaum zu überschätzende Wirkung aus. 4 ' Vor allem die junge Generation identifizierte sich mit dem schwermütigen Prinzen, da sie in seiner Melancholie ihr eigenes Lebensgefühl wiedererkannte. Im dritten Teil von >Dichtung und Wahrheit* erklärt Goethe: »Hamlet und seine Monologen blieben Gespenster, die durch alle jungen Gemüter ihren Spuk trieben. Die Hauptstellen wußte ein jeder auswendig und rezitierte sie gern, und jedermann glaubte, er dürfe ebenso melancholisch sein als der Prinz von Dänemark, ob er gleich keinen Geist gesehn und keinen königlichen Vater zu rächen hatte« (HA 9, 582). Was Goethe hier rückblickend über seine eigene Generation schreibt, das gilt in gleicher Weise für Wilhelm - auch er entdeckt in Hamlet eine Identifikationsfigur und memoriert die »stärksten Stellen«, in denen der Prinz sein melancholisches Wesen offenbart (HA 7, 217). 42 Zunächst begegnet Wilhelm dem Theater Shakespeares mit harscher Ablehnung. Vom Geist des französischen Klassizismus durchdrungen, glaubt er in den Dramen des Elisabethaners nur Unordnung und Formlosigkeit entdecken zu können. »Indessen hat mich alles, was ich von jenen Stücken gehört, nicht neugierig gemacht, solche seltsame Ungeheuer näher kennen zu lernen, die über alle Wahrscheinlichkeit, allen Wohlstand hinauszuschreiten scheinen« (HA 7, 180).43 Die Vorbehalte, die Wilhelm hier artikuliert, entsprechen exakt jenen literaturkritischen Argumenten, die man in Deutschland bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts gegen Shakespeares Dramen ins Feld führte. 44 Jarno muß darum betonen, Wilhelm solle sich bei der Lektüre der Dramen in erster Linie auf den Inhalt konzentrieren und die vermeintliche Formlosigkeit ignorieren; ferner solle er sich aus der höfischen Atmosphäre des Schlosses zurückziehen, um in der »Einsamkeit« ungestört die Stimme des Dichters vernehmen zu können: »Sie können Ihre Zeit nicht besser anwenden, als wenn Sie sich gleich von
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Vgl. Hans Wolffheim (Hg.): Die Entdeckung Shakespeares. Deutsche Zeugnisse des 18. Jahrhunderts, Hamburg 1959. Über Goethes Shakespeare-Rezeption informiert die umfangreiche Studie von Kurt Ermann: Goethes Shakespeare-Bild, Tübingen 1983. Wilhelm mißt das Drama Shakespeares an den poetologischen Kategorien des französischen Klassizismus. Er wirft dem Elisabethaner vor, die Regeln der >vraisemblance< und >bienséance< verletzt, dadurch aber dem Drama seine ästhetischen und ethischen Qualitäten genommen zu haben. Die Bezeichnung >Ungeheuer< geht wohl zurück auf Voltaires berühmte Shakespeare-Kritik. Vgl. Dieter Borchmeyer: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe, S. 1 3 1 - 1 3 9 . Zu den verschiedenen Phasen der deutschen Shakespeare-Rezeption im 18. Jahrhundert vgl. Günther Erken: Wirkungsgeschichte in Deutschland. In: Ina Schabert (Hg.): Shakespeare-Handbuch, Stuttgart 1972, 5.662-690.
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allem losmachen und in der Einsamkeit Ihrer alten Wohnung in die Zauberlaterne dieser unbekannten Welt sehen« ( H A 7, 180). Wilhelm zieht sich mit Shakespeares Dramen zurück und ist sogleich gefesselt. Vor allem der >Hamlet< übt eine unwiderstehliche Gewalt auf ihn aus. Wie bereits bei der früheren Lektüre des >Befreiten Jerusalems< fühlt er sich auch jetzt wieder in eine dunkle Welt hineingezogen, deren melancholische Tragik ihn überwältigt. Wilhelm identifiziert sich mit dem Schicksal Hamlets und übernimmt dessen Rolle, als man das Drama im Kreis der Schauspielertruppe rezitiert. E r lädt die drückende »Last der tiefen Schwermut« auf sich, um so mit seinem Helden »zu einer Person« verschmelzen zu können ( H A 7, 217). Wilhelm sucht indes nicht nur die innere, sondern auch die äußere Ubereinstimmung: K u r z vor der Reise, auf der die Schauspieler überfallen werden, verschafft er sich neue Kleider, die unverkennbar an Hamlets Tracht erinnern, und als er sich während der Fahrt mit Laertes in der Kunst des Fechtens übt, adaptiert er wiederum die Perspektive seines Idols ( H A 7, 223L / F A 9, 296). Die Grenzen zwischen Realität und Imagination verschwimmen immer mehr. 45 Die existentielle Aneignung der Hamlet-Rolle geht in ihrer Intensität weit über die Identifikation mit Tankred und Antiochos hinaus. Sie markiert den Höhepunkt des melancholischen Subjektivismus, leitet aber zugleich auch dessen Uberwindung ein. Auf dem Gipfel seiner Hamlet-Nachfolge erkennt Wilhelm plötzlich, daß kaum etwas unangemessener ist als jene Einstellung, die literarische Gestalten nur unter dem Aspekt ihres Identifikationspotentials beurteilt. Eine solche Einstellung reduziert den vielschichtigen Charakter der Figur, sie verkennt zugleich die polyvalente Anlage des gesamten Kunstwerks und fragmentiert dieses damit in unzulässiger Weise. Gegenüber den Schauspielern räumt Wilhelm seinen >Rezeptionsfehler< offen ein: »Ich habe den Fehler, ein Stück aus einer Rolle zu beurteilen, eine Rolle nur an sich und nicht im Zusammenhange mit dem Stück zu betrachten, an mir selbst in diesen Tagen so lebhaft bemerkt, daß ich euch das Beispiel erzählen will, wenn ihr mir ein geneigtes G e h ö r gönnen wollt« ( H A 7, 216). Auf dem Höhepunkt der HamletAdaption stößt Wilhelm zu der Einsicht durch, daß die komplexe Anlage eines Kunstwerks zerstört wird, sobald man die Perspektive einer einzigen Gestalt verabsolutiert, mit der man sich in besonderer Weise identifiziert. Wilhelm erkennt, daß er seine Aufmerksamkeit bislang nur jenen Gestalten geschenkt hat, auf die er seine melancholischen Neigungen übertragen und deren Charakterzüge er gleichzeitig zur eigenen Selbststilisierung übernehmen 4S
Während die >Lehrjahre< nur eine kurze Beschreibung der altertümlichen Tracht geben ( H A 7, 210), stellt die t h e a t r a l i s c h e Sendung< den Bezug zum dänischen Prinzen explizit her ( F A 9, 287). Die Radikalität, mit der sich Wilhelm der Hamlet-Gestalt anzugleichen versucht, erinnert mehrfach an die Erzählung >Sankt Joseph der Zweite< am Beginn der >WanderjahreHamlet< hervorgetreten. In langen Diskussionen mit dem Theaterdirektor Serlo und dessen Schwester Aurelie bemüht sich Wilhelm nun um eine adäquate Deutung, die dem Beziehungsreichtum und den verschiedenen Facetten des Shakespeare-Stückes gerecht wird. A n die Stelle der ehemals emphatischen Identifikation tritt eine distanzierte Analyse, und an die Stelle der projektiv überformten Aneignung rückt eine reflektierte und nach Objektivität strebende Interpretation: »Nicht traurig, nicht nachdenklich von Natur, wird ihm Trauer und Nachdenken zur schweren Bürde«, erklärt Wilhelm gegenüber Serlo. »So sehen wir ihn auftreten. Ich glaube nicht, daß ich etwas in das Stück hineinlege oder einen Zug übertreibe« (HA 7, 245). Wilhelm läßt sich von Serlo als Schauspieler engagieren, verlangt aber als Gegenleistung, daß Shakespeares >Hamlet< »unzerstückt« auf die Bühne gebracht werde (HA 7, 293). Da Serlo noch ganz der klassizistischen Kunstdoktrin verhaftet ist, mag er dieser Forderung nur unter Vorbehalt zustimmen. Schließlich aber einigt man sich, so daß einer Aufführung nichts mehr im Wege steht. Wilhelm übernimmt die Rolle des Hamlet, wobei seine innere Distanzierung immer deutlicher in den Vordergrund rückt. Schon bald dominieren im persönlichen Vergleich mit Hamlet die Differenzen über die Gemeinsamkeiten: Hatte sich Wilhelm noch vor der Reise zu Serlo altertümliche Kleider schneidern lassen, um damit der Gestalt Hamlets auch äußerlich möglichst nahezukommen, so insistiert er nun auf vermeintlich unüberbrückbaren Divergenzen in der äußeren Erscheinung: »Je mehr ich mich in die Rolle studiere, desto mehr sehe ich, daß in meiner ganzen Gestalt kein Zug der Physiognomie ist, wie Shakespeare seinen Hamlet aufstellt« (HA 7, 306). Im Gespräch mit Aurelie hebt Wilhelm den ungleichen Gesichtsausdruck hervor, aus dem er interessanterweise auch einige wesentliche Charaktermerkmale ableitet. Hamlets »schwankende Melancholie«, seine »weiche Trauer« und »tätige Unentschlossenheit« begreift er geradezu als seelische Korrelate zur äußeren Erscheinung (HA 7, 306). In der zunehmenden Distanzierung von Hamlet manifestiert sich ein komplexer und vielschichtiger Emanzipationsprozeß: Zum einen überwindet Wilhelm seinen ästhetischen Subjektivismus, der ihn bei der Beurteilung von Kunstwerken immer wieder »aufs äußerste irregeführt« hat (HA 7, 306); zum anderen befreit er sich von seiner lähmenden Melancholie, wie aus der Selbstcharakterisierung im Zusammenhang mit der Interpretation Hamlets eindeutig hervorgeht. Während Wilhelm den melancholischen Prinzen als korpulent, schwächlich und passiv bezeichnet, beschreibt er sich selbst als schlank, vital und fest entschlossen. Aurelie protestiert angesichts des unvorteilhaften Bildes, das Wilhelm von Hamlet zeichnet. Sie fordert einen »Reiz, der uns homogen ist«, einen Hamlet also, der ihrem Identifikationsbedürfnis entgegenkommt 188
( H A 7, 307). Z u solchen Konzessionen aber ist Wilhelm nicht mehr bereit; er zieht eine klare Grenze zwischen der darzustellenden Rolle und der eigenen Person. Damit nimmt er vorweg, was Serlo kurze Zeit später von jedem Schauspieler verlangen wird ( H A 7, 309Í.). Unter solchen Vorzeichen gerät die A u f f ü h r u n g des >Hamlet< im elften Kapitel des fünften Buches zu einem psychologischen Nachspiel, das Wilhelm ein letztes Mal in seinen früheren Bewußtseinszustand zurückführt, bevor er dann endgültig in die neue Lebenssphäre der Turmgesellschaft eintritt. Während der Premiere des Shakespeare-Stückes fällt Wilhelm noch einmal in seinen alten Fehler zurück: E r verschränkt die eigene Identität mit seiner zeitweiligen Rollenexistenz und zieht die Wirklichkeit in den Bereich der theatralischen Illusion hinüber. Die Szene zwischen Hamlet und dem Geist seines ermordeten Vaters macht dies besonders deutlich. Als Wilhelm auf der Bühne von dem unbekannten Darsteller des Geistes zur Rache aufgerufen wird, glaubt er voller Schrecken die Stimme seines eigenen Vaters wiederzuerkennen. Alte »Erinnerungen« und wundersame »Empfindungen« steigen in ihm auf, er verwechselt noch einmal Schein und Sein, Fiktion und Realität ( H A 7, 322). Die lang ersehnte A u f f ü h r u n g des >Hamlet< markiert das endgültige Ende der Theaterlaufbahn. Wilhelm wird in der Folge die Bühnenwelt f ü r immer verlassen und der Gesellschaft Lotharios endgültig beitreten. Die Rolle Hamlets hat er »nach A r t einer psychischen Kur« zu Ende gespielt. 46 Wilhelms Beschäftigung mit dem Melancholiker Hamlet führt von leidenschaftlicher Identifikation zu kritischer Distanzierung. Die Interpretation der Hamlet-Rolle unterliegt damit - ähnlich wie die Deutung des Bildes vom kranken Königssohn - einem Wandel, der Wilhelms lebensgeschichtliche Überwindung der Melancholie leitmotivisch kommentiert. Im folgenden Kapitel sollen nun die konkreten Voraussetzungen und einzelnen Entwicklungsphasen genauer untersucht werden, die Wilhelms »Heilung* ermöglichen oder zumindest begünstigen. Warum findet Wilhelm Meister im Gegensatz zu Werther einen A u s w e g aus seiner Melancholie? Inwieweit kann er eigene Energien mobilisieren, und inwiefern trägt die Turmgesellschaft mit ihrer Tätigkeitsphilosophie zur Genesung bei?
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Hans-Jürgen Schings: Wilhelm Meisters schöne A m a z o n e , S. 184. Vgl. zum gleichen Themenkomplex auch die psychoanalytisch ausgerichtete Interpretation von David Roberts: The Indirections of Desire. Hamlet in Goethes >Wilhelm Meisten, Heidelberg 1980.
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5·
Strategien der Melancholieabwehr
Vergleicht man die psychische Verfassung Wilhelms mit der seelischen Veranlagung Werthers, so lassen sich zahlreiche Affinitäten feststellen. Beide Protagonisten offenbaren einen ausgeprägten Hang zur Innerlichkeit, sie kultivieren beide einen verhängnisvollen Subjektivismus und fallen dabei immer wieder einer pathologisch ausartenden Melancholie anheim. Warum aber vermag Wilhelm dem fatalen Ende zu entgehen, das seinen Vorgänger mit innerer Notwendigkeit ereilt? Warum führt seine Melancholie nicht in den Tod? Die >Lehrjahre< geben auf diese Frage eine eindeutige Antwort, indem sie mit Nachdruck auf eine Therapieform hinweisen, die bei Wilhelm zur Genesung führt, während sie bei Werther nach anfänglichen Erfolgen versagt. Es geht um das von Goethe besonders geschätzte »Heilmittel« einer methodischen Lebensführung, die kontinuierliche und planmäßige Tätigkeit ins Zentrum ihrer Bemühungen rückt. Ob in pathetischen Appellen, formelhaften Sentenzen oder psychotherapeutischen Erörterungen - immer wieder propagieren die >Lehrjahre< ein tätiges Leben, wenn es um die Frage geht, unter welchen Bedingungen die Melancholie abgewehrt oder überwunden werden kann. In keinem anderen Werk Goethes ist so oft und so eindringlich von Tätigkeit die Rede: »Tätig zu sein [...] ist des Menschen erste Bestimmung«, erklärt der Arzt des Oheims im Gespräch mit der schönen Seele (HA 7, 415). »Das Erste und Letzte am Menschen sei Tätigkeit«, fordert auch der Abbé, der zu den höchsten Repräsentanten der Turmgesellschaft gehört (HA 7, 520). Mit der planmäßigen Tätigkeit verbinden die >Lehrjahre< eine ganze Reihe weiterer >HeilmittelLeiden des jungen Werther< ebenso wie in »Torquato TassoLehrjahre< eine gedankliche Brücke zu den >WanderjahrenLehrjahre< vor. Auch Wilhelm fällt nach der Liebeskatastrophe mit Mariane einer schweren Melancholie anheim. Nach einer Phase der lähmenden Verzweiflung verschreibt er sich jedoch mit großem Eifer jenen Handelsgeschäften, für die er zuvor nur Spott und Hohn übrig hatte. »Zum Erstaunen seines Freundes und zur größten Zufriedenheit seines Vaters war niemand auf dem Comptoir und der Börse, im Laden und G e wölbe tätiger als er; Korrespondenz und Rechnungen und was ihm aufgetragen wurde, besorgte und verrichtete er mit größtem Fleiß und Eifer« ( H A 7, 79). Wilhelm findet nach wie vor kein Gefallen am ökonomischen Kalkül; dennoch vertieft er sich in diese Materie, da sie seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit fordert, vor permanenter Selbstreflexion bewahrt und innere Distanz zu den vergangenen Ereignissen schafft. Sie drängt die zerstörerische Melancholie zurück, die ihn bereits in einen »schrecklichen Abgrund« hinabgestürzt und in einer »zerschmetternden Tiefe« festgehalten hatte ( H A 7, 78). Wenn sich Wilhelm in Handelsgeschäfte wirft, um seine melancholischen Schmerzen zu betäuben, so ist er noch weit entfernt vom Tätigkeitsideal der Turmgesellschaft, das eine methodische Lebensführung voraussetzt und eine strenge Regelmäßigkeit erfordert. Es zeigt sich jedoch bereits hier, daß in fast jeder Form von Tätigkeit eine Möglichkeit effektiver Melancholieabwehr liegt. Wenngleich Wilhelm im Sog der gescheiterten Liebesbeziehung auch seine literarischen Ambitionen und seine Hoffnungen auf eine Karriere als Schauspieler aufgibt, verschlägt es ihn doch bald schon wieder in die bunte Welt des Theaters. Gemeinsam mit einer neu formierten Schauspielertruppe reist er auf ein Grafenschloß, um vor der dort ansässigen Gesellschaft aufzutreten. Nach kurzer Zeit muß Wilhelm indes erkennen, wie sehr die höfische Kultur, nach 191
der er sich lange gesehnt hat, im leeren Zeremoniell und platten Amüsement erstarrt ist. Als Jarno ihn daraufhin mit einigen Dramen Shakespeares bekannt macht, eröffnet sich für Wilhelm eine neue Welt jenseits aller höfischen Maskerade. Er faßt den Entschluß, fortan »in der wirklichen Welt schnellere Fortschritte vorwärts zu tun«, woraufhin Jarno bestätigend erwidert: »Lassen Sie den Vorsatz nicht fahren, in ein tätiges Leben überzugehen, und eilen Sie, die guten Jahre, die Ihnen gegönnt sind, wacker zu nutzen« (HA 7, i92f.). Als Abgesandter der Turmgesellschaft bemüht sich Jarno, Wilhelm für ein tätiges Leben zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund muß auch seine harsche Kritik an Wilhelms Umgang mit Mignon und dem Harfner gesehen werden. Beide Gestalten verkörpern - zumindest aus Sicht der Turmgesellschaft - all jene Gefahren, denen auch Wilhelm in besonderer Weise ausgesetzt ist (HA 7, 193). Die brüskierende Zurechtweisung kränkt Wilhelm so sehr, daß er für einige Zeit das Vertrauen zu Jarno verliert (HA 7, 194). Er schließt sich wieder enger an seine Gefährten an und sucht sein Heil erneut in der Welt des Theaters. Allmählich erkennt er jedoch, daß ihn das Theaterspiel mit der fahrenden Truppe in eine Sackgasse manövriert hat. Nach dem Überfall auf der Waldlichtung diagnostiziert er die Unordnung, in die sein Lebenswandel geraten ist, und beschließt, seinen weiteren Weg einer geordneten Tätigkeit zu unterstellen: »Er wollte nicht etwa planlos ein schlenderndes Leben fortsetzen, sondern zweckmäßige Schritte sollten künftig seine Bahn bezeichnen« (HA 7, 238). Obwohl Wilhelm schon bald wieder hinter sein hochgestecktes Ziel zurückfällt, begleitet ihn doch fortan zumindest der Wunsch nach einer planmäßigen Tätigkeit. Sogar die Welt des Handels und Gewerbes, die er früher nur verachtet hat, weckt nunmehr sein Interesse: »Die lebhafte Handelsstadt, in der er sich befand, gab ihm [...] den anschaulichsten Begriff eines großen Mittelpunktes, woher alles ausfließt, und wohin alles zurückkehrt, und es war das erste Mal, daß sein Geist im Anschauen dieser Art von Tätigkeit sich wirklich ergötzte« (HA 7, 276). Während die Welt des regen Warenverkehrs Wilhelm in zunehmendem Maße fasziniert, erscheint ihm die Sphäre des Theaters immer zwielichtiger. Zuletzt fragt er sich sogar, ob die Schauspielkunst für ihn nur ein »Ausweg« gewesen sei, um den unbequemen Pflichten des alltäglichen Lebens zu entgehen (HA 7, 277). Die Selbsterkundung gelangt hier noch nicht über den Modus des Fragens hinaus. Es ist jedoch aufschlußreich, daß Wilhelm in seiner Theaterleidenschaft erstmals selbst eskapistische Tendenzen zu erkennen glaubt. Auch wenn die alten Gewißheiten zunehmend fragwürdiger werden, ist Wilhelm am Ende des vierten Buches noch nicht in der Lage, eine definitive Entscheidung gegen das Theater zu treffen. In der für einen Melancholiker typischen Entscheidungsunfähigkeit läßt er sich weiter treiben, ohne eine wirklich planmäßige Tätigkeit zu ergreifen, die nach den Maximen der Turmgesellschaft mit einem ökonomischen oder sozial-karitativen Engagement verbunden sein muß. »Es scheint dir unmöglich, dich zu entscheiden«, sinniert Wil192
helm in einem Selbstgespräch, »du wünschest, daß irgendein Übergewicht von außen deine Wahl bestimmen möge« ( H A 7, 276). Indem Wilhelm schließlich auf das von Serlo angebotene Bühnenengagement eingeht, verzögert er den Bewußtseinswandel, der bereits im Verlauf des vierten Buches eingesetzt hat. Die Idee einer geregelten Tätigkeit tritt zugunsten einer neuerlichen Beschäftigung mit Hamlet kurzfristig in den Hintergrund, nach dem endgültigen Theaterabschied am Ende des fünften Buches rückt sie jedoch wieder in den Mittelpunkt des Geschehens. Die Mitglieder der Turmgesellschaft, die Wilhelm nach und nach kennenlernt, verfolgen das Ideal einer planmäßigen Tätigkeit mit unnachsichtiger Strenge. In diesem Punkt kennen sie keine Toleranz, wie bereits die Verfasserin der >Bekenntnisse< im Gespräch mit dem A r z t des Oheims erfahren mußte. »Tätig zu sein«, erklärt dieser, »ist des Menschen erste Bestimmung, und alle Zwischenzeiten, in denen er auszuruhen genötigt ist, sollte er anwenden, eine deutliche Erkenntnis der äußerlichen Dinge zu erlangen, die ihm in der Folge abermals seine Tätigkeit erleichtert« ( H A 7, 41 jf.). Die Verfasserin der >Bekenntnisse< hat sich f ü r ein kontemplatives Klosterleben fernab aller höfischen Öffentlichkeit entschieden. Damit aber entzieht sie sich in den Augen des Arztes einem aktiven Leben, für das sie bestimmt ist, und einer sozialen Sphäre, der sie angehört. N u r die Tätigkeit, so der Arzt, kann den Menschen vor gefährlicher Introspektion und damit einhergehender Melancholie bewahren. Darum sollen sogar die Pausen, in denen sich die geistigen und körperlichen Kräfte regenerieren, auf die Sphäre der >vita activa< bezogen bleiben. In exakter Ubereinstimmung mit dem A r z t des Oheims erklärt auch der A b b é die Tätigkeit zum Orientierungspunkt aller menschlichen Existenz. Für ihn ist »das Erste und Letzte am Menschen« Tätigkeit ( H A 7, 520). Die strikten Forderungen des A b b é und des Arztes verdeutlichen, daß die Turmgesellschaft ihr Tätigkeitsideal mit einer strengen methodischen Lebensführung verbindet. Hierdurch soll die Melancholie nicht erst nachträglich zurückgedrängt, sondern von vornherein verhindert werden. Die planmäßige und auf festen Grundsätzen ruhende Tätigkeit dient also nicht nur der Therapie, sondern in noch stärkerem Maße der Prophylaxe. Ein Musterbeispiel für die methodische Lebensgestaltung, wie sie der Turmgesellschaft als Ideal vorschwebt, bietet Therese, die puritanische Ö k o nomin, die ihr ganzes Tun unter feste und ständig kontrollierte Grundsätze stellt. Wenn von ihr die Rede ist, dann fallen mit geradezu monotoner Häufigkeit immer wieder die gleichen Formulierungen. »Nichts bleibt weniger verborgen und ungenutzt als zweckmäßige Tätigkeit«, erklärt der Erzähler, als er im siebten Buch auf Thereses Vergangenheit zu sprechen kommt ( H A 7, 461). U n d von Wilhelm heißt es, er schäme sich gar, weil er »gegen ihre großen Tugenden nichts aufzustellen hatte, was eine zweckmäßige Tätigkeit beweisen konnte« ( H A 7, 505). Therese ist bislang auf »einem schönen, reinen Wege in einer sichern Folge gegangen«; sie hat »keine Zeit verloren«, was natürlich ins-
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besondere Wilhelm beeindruckt, der nichts zu erzählen hat als »Irrtümer auf Irrtümer, Verirrungen auf Verirrungen« (HA 7,446). 47 Therese ist neben Natalie diejenige, die das Ideal einer methodischen und streng geregelten Lebensführung am reinsten verkörpert. In einem Gespräch mit Wilhelm, das um den Sinn und Nutzen einer sozialen Ethik kreist, bekennt sie sich ohne Einschränkung zu dieser Lebenspraxis. Viele Menschen, erklärt Therese, würden »alles Gute und Sittliche wie eine Arznei« ansehen, die man mit Widerwillen zu sich nehme, wenn eine akute Erkrankung dazu zwinge. »Ich aber gestehe gern, ich habe vom Sittlichen den Begriff als von einer Diät, die eben dadurch nur Diät ist, wenn ich sie zur Lebensregel mache, wenn ich sie das ganze Jahr nicht außer Augen lasse« (HA 7, 459f.). Therese unterstellt ihr Leben einer strengen Organisation und planmäßigen Tätigkeit. Sie geht ganz in der Sphäre der >vita activa« auf und ist darum weitgehend immun gegen die Gefahren der Schwermut.48 Von dieser Form der strikten Melancholie-Prophylaxe ist Wilhelm noch weit entfernt, als er in die Welt der Turmgesellschaft eintritt. Er glaubt indes, daß die neue Umgebung auch ihn zu planmäßiger Tätigkeit animieren werde. An seinen Freund Werner schreibt er voller Zuversicht: »Ich verlasse das Theater und verbinde mich mit Männern, deren Umgang mich in jedem Sinne zu einer reinen und sichern Tätigkeit führen muß« (HA 7, 491). Auf dem Weg des ökonomischen und sozialen Engagements will Wilhelm den alten »Schlendrian« abschütteln und seinen Hang zu selbstquälerischer Introspektion überwinden. Auch der geisteskranke Harfner, den Wilhelm nach der gefährlichen Brandnacht dem Landgeistlichen anvertraut, soll mit Hilfe der Tätigkeit von seiner pathologisch ausartenden Melancholie geheilt werden. Im Gespräch erläutert der Landgeistliche die Grundsätze seiner Therapie: »Es sind ebendieselben, wodurch man gesunde Menschen hindert, wahnsinnig zu werden. Man errege ihre Selbsttätigkeit, man gewöhne sie an Ordnung« (HA 7, 346). Angesichts der wahnhaften Schuldvorstellungen des Harfners erklärt der Landgeistliche außerdem: »Ein tätiges Leben führt so viele Ereignisse herbei, daß er bald fühlen muß, daß jede Art von Zweifel nur durch Wirksamkeit gehoben werden kann« 47
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Vgl. zum Motiv der verlorenen Zeit Dieter Borchmeyer: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe, S. 1 6 1 , S. 166 u. S. 189. Besonders deutlich tritt Thereses psychische Stabilität im zehnten Kapitel des achten Buches hervor: Nach dem Selbstmord des Harfners und der langen Ungewißheit, ob Felix von der vergifteten Milch getrunken hat, gerät die gesamte Turmgesellschaft in eine »Art von fieberhafter Schwingung [...] Die Stunden des Schlafens und Wachens, des Essens, Trinkens und geselligen Zusammenseins waren verrückt und umgekehrt. Außer Theresen war niemand in seinem Gleise geblieben« ( H A 7, 604)·.). Freilich fällt Therese mit ihrer strengen Rationalität und Selbstdisziplin einer gewissen Einseitigkeit anheim, vor der sich Natalie trotz aller methodischen Lebensführung zu bewahren weiß. Vgl. hierzu Dieter Borchmeyer: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe, S. 168 u. S. 192-195.
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( H A 7,347). Der Landgeistliche und die Mitglieder der Turmgesellschaft erklären die Tätigkeit zum universalen Therapeutikum gegen jede F o r m der Melancholie. Sie stehen damit in einer langen Tradition, die bis in die Antike zurückreicht und während des 18. Jahrhunderts vor allem in der Heilmethodik des >moral management einen Höhepunkt erlebt. Die planmäßige und auf festen Grundsätzen ruhende Tätigkeit gehört nicht nur zu den Lebensmaximen der Turmgesellschaft, sondern zählt zweifellos auch zu den Grundkonstanten in Goethes Menschenbild. Von den frühen Dichtungen bis zu den Alterswerken hat Goethe auf die zentrale Bedeutung der Tätigkeit hingewiesen, die den Menschen vor der Gefahr des melancholischen Versinkens im eigenen Ich bewahrt. In den >WanderjahrenBekenntnisse< wird mit der F o r derung konfrontiert, die fortwährende Selbstbespiegelung zugunsten eines stärkeren Realitätsbezugs aufzugeben. Vor allem der Arzt, den sie im Hause des Oheims kennenlernt, mißbilligt ihr permanentes Nachsinnen über die U n sterblichkeit der eigenen Seele, da diese weltlose Träumerei - so seine Uberzeugung - große Risiken berge. »Er zeigte mir«, erklärt die Verfasserin der >Bekenntnisse« rückblickend, »wie sehr diese Empfindungen, wenn wir sie unabhängig von äußern Gegenständen in uns nähren, uns gewissermaßen aushöhlen und den Grund unseres Daseins untergraben« ( H A 7, 415). D e r A r z t des Oheims warnt vor der Neigung, eine nach außen hin abgeschlossene Innerlichkeit zu kultivieren. N u r wer auf weltentrückte Selbstbeobachtung und permanente Zergliederung des eigenen Seelenlebens verzichte, entgehe den Gefahren der Melancholie. Ähnlich wie die Verfasserin der >Bekenntnisse< weicht auch Wilhelm zunächst vor den Widerständen der Außenwelt zurück, um sich auf sein eigenes
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Innenleben konzentrieren zu können. In einem Gespräch mit der Schauspielerin Aurelie gesteht er: »Ich habe von Jugend auf die Augen meines Geistes mehr nach innen als nach außen gerichtet, und da ist es sehr natürlich, daß ich den Menschen bis auf einen gewissen Grad habe kennen lernen, ohne die Menschen im mindesten zu verstehen und zu begreifen« (HA 7, 257^). Wilhelm erliegt lange Zeit der Faszination durch das eigene Innere, auch wenn er immer wieder erkennt, daß der daraus resultierende Wirklichkeitsverlust immense Ausmaße annimmt. Noch unmittelbar vor dem Eintritt in die Turmgesellschaft beschwört Wilhelm seine Innenwelt. »Kehre in dich selbst zurück«, ruft er sich zu, als ihm erneut jener geheimnisvolle Schleier in die Hände fällt, der am Abend nach der >HamletWanderjahre< greifen den Standpunkt des Abbé wiederholt auf. So erklären die Betrachtungen im Sinne der Wanderer« am Ende des zweiten Buches: »Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist« (HA 8, 283). Es ist den Mitgliedern der Turmgesellschaft nicht daran gelegen, jede Selbstbesinnung zu unterbinden und jede Seelenanalyse zu verbieten. Doch das >Erkenne dich selbst*, jene antike Losung, die in den >Betrachtungen< der >Wanderjahre< wieder anklingt, erfährt im Bereich der Turmgesellschaft eine wesentliche Einschränkung: Jede Rückwendung ins eigene Innere muß auf den Bereich der >vita activa« bezogen bleiben. Wo der Horizont des praktischen Handelns ausgeblendet wird, w o die Konzentration auf das eigene Seelenleben alle Verbindungen zur Außenwelt abbricht, da führt jede Introspektion notwendigerweise in den Abgrund der Melancholie. 196
5·3·
Selbstrelativierung und Selbstbeschränkung
Die vergleichende Selbstrelativierung gehört neben der kontinuierlichen Tätigkeit zu den wichtigsten Strategien der Melancholieabwehr. Sie sorgt für eine Depotenzierung der eigenen Seelennot, indem sie diese mit den qualvollen Erfahrungen anderer Menschen in Beziehung setzt. Vor allem die Angehörigen der Turmgesellschaft und der Landgeistliche betonen wiederholt die N o t w e n digkeit eines Vergleichs mit anderen Personen, da nur auf diesem Wege die Durchschnittlichkeit der eigenen, vermeintlich außergewöhnlichen Leiderfahrung erkannt und einer Verabsolutierung des persönlichen Unglücks vorgebaut werden kann. Es geht also um eine relativierende Kontextualisierung der eigenen Lebensgeschichte. In einem Gespräch mit Wilhelm erläutert der Landgeistliche, der die Behandlung des geisteskranken Harfners übernommen hat, seine therapeutischen Grundsätze. E r hebt zunächst die Heilbehandlung mittels kontinuierlicher und geordneter Tätigkeit hervor, verweist dann aber auch auf die Strategie der vergleichenden Selbstrelativierung. Mit Blick auf seine Patienten konstatiert er: »Man gebe ihnen einen Begriff, daß sie ihr Sein und Schicksal mit so vielen gemein haben, daß das außerordentliche Talent, das größte G l ü c k und das höchste Unglück nur kleine Abweichungen von dem Gewöhnlichen sind« ( H A 7, 346). Der Landgeistliche warnt vor der weit verbreiteten Tendenz, die eigene Persönlichkeit aufgrund bestimmter Ereignisse oder Eigenschaften besonders hervorzuheben: Sowohl im ungewöhnlichen Glück wie auch im außergewöhnlichen Unglück erliege man leicht der Gefahr, den Maßstab zu verlieren und das eigene Ich mit seiner jeweiligen Seelenstimmung absolut zu setzen. Genau dies hat der Harfner lange Zeit getan, wie der Arzt, der den Landgeistlichen in seiner Arbeit unterstützt, im siebten Buch zurückblickend berichtet: »Seit vielen Jahren hat er«, der Harfner, »an nichts, was außer ihm war, den mindesten A n teil genommen, ja fast auf nichts gemerkt; bloß in sich gekehrt, betrachtete er sein hohles, leeres Ich, das ihm als ein unermeßlicher Abgrund erschien« ( H A 7, 436). Der Harfner hat über viele Jahre hinweg den Kontakt zur Außenwelt gemieden. In fortwährender Introspektion kreiste er ausschließlich um die eigene Seelenqual, die sich aufgrund mangelnder Kommunikation ständig verschärfte und zuletzt verheerende Ausmaße annahm. Angesichts dieser psychischen Aberration favorisiert der Landgeistliche ein Heilverfahren, das der kritischen Selbstrelativierung eine wichtige Aufgabe zuspricht: Der Harfner soll von der ruinösen Ich-Fixierung ablassen und seine Eigenheiten ablegen, durch die er sich bislang von anderen Personen abzugrenzen pflegte. E r soll die Vorstellung von der Einmaligkeit seines Leidens aufgeben und allmählich wieder die Fähigkeit erwerben, »im allgemeinen Sinne mit vielen Menschen zu leben« ( H A 7, 347). Die Forderung, die eigene Persönlichkeit mit anderen Individuen in ein vergleichendes Verhältnis zu setzen, wird auch von den Repräsentanten
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der Turmgesellschaft ausgesprochen. Besonders aufschlußreich ist dabei, daß die Notwendigkeit des gegenseitigen Vergleichs und der relativierenden G e genüberstellung dezidiert mit dem Tätigkeitspostulat des Geheimbundes und dem Entsagungsethos der späteren Auswanderer in Verbindung gebracht wird. Jarno erklärt, daß es f ü r einen jungen Menschen, der zunächst in verschiedenen Bereichen gewisse Fertigkeiten erwerbe, ab einem gewissen Zeitpunkt von Vorteil sei, »wenn er sich in einer größern Masse verlieren lernt, wenn er lernt, um anderer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen. D a lernt er erst sich selbst kennen; denn das Handeln eigentlich vergleicht uns mit andern« ( H A 7, 493). In dieser Empfehlung, die abermals den notwendigen Vergleich mit anderen Individuen betont, klingt auch der bereits zitierte Grundsatz des A b b é noch einmal an, demzufolge jede Selbsterkenntnis nur im Medium des praktischen Handelns möglich ist. Unüberhörbar schwingen hier biblische Formeln mit, die freilich aus ihrem religiösen Kontext herausgelöst und vollständig säkularisiert sind. A u s den bisherigen Analysen ging mehrfach hervor, daß die Turmgesellschaft der Tätigkeit einen hohen psychotherapeutischen Wert beimißt. Wie aber muß diese Tätigkeit konkret beschaffen sein, damit sich ihre heilenden Energien voll entfalten können? Wenn Jarno über die Möglichkeiten einer effektiven Melancholieabwehr mittels praktischen Handelns spricht, dann weist er nachdrücklich darauf hin, daß jede Aktivität einer klaren Beschränkung und fest umrissenen Eingrenzung bedarf: »Der Mensch ist nicht eher glücklich«, erklärt er, »als bis sein unbedingtes Streben sich selbst seine Begrenzung bestimmt« ( H A 7, 553). Wie der Lebensweg Fausts auf beklemmende Weise verdeutlicht, führt eine rastlose Tätigkeit, die in fiebriger Unruhe über jedes erreichbare Ziel hinausdrängt, zu keiner Linderung, sondern im Gegenteil zu einer gefährlichen Steigerung der Melancholie. Permanentes Ungenügen und schleichende Selbstzerstörung sind die Resultate einer solchen ins Endlose ausgreifenden Tätigkeit. »Unbedingte Tätigkeit, von welcher A r t sie sei, macht zuletzt bankerott«, heißt es in den Betrachtungen* der >Wanderjahre< ( H A 8, 286). Das praktische Handeln muß also, wenn es zur A b w e h r der Melancholie beitragen soll, einer einschränkenden Bestimmung unterliegen; es muß gewisse Grenzen anerkennen, wie Jarno im vierten Kapitel der >Wanderjahre< am K o h lenmeiler-Gleichnis verdeutlicht ( H A 8, 39f.). Die Mitglieder der Turmgesellschaft unterwerfen die Tätigkeit nicht nur einer begrenzenden Einschränkung, sondern verbinden sie auch mit einem sozialen Ethos. Eine Tätigkeit, die allein auf Selbstverwirklichung und Selbstvervollkommnung angelegt ist, führt ihres Erachtens genauso in die Melancholie wie jene Aktivität, die keine Einschränkung anerkennen will. Wilhelm muß dies an seiner eigenen Theaterleidenschaft schmerzlich erfahren. Lange Zeit glaubt er, auf dem Weg über die Bühne eine allseitig harmonische Ausbildung seiner Persönlichkeit erlangen zu können. Das humanistisch-aristokratische 198
Ideal des >uomo universale< vor Augen, strebt er nach einer gleichmäßigen Entfaltung aller im Menschen angelegten Möglichkeiten. Sein anvisiertes Ziel erweist sich jedoch als Illusion, denn gesellschaftliche Hindernisse und persönliche Unzulänglichkeiten, vor allem aber historische Veränderungen hindern ihn an der Realisierung seines Bildungsideals. Die Turmgesellschaft weist Wilhelms Konzept einer universalen Selbstvervollkommnung als anachronistisch zurück. Sie demontiert sein Ideal einer individuell-menschlichen Totalität, da es in der modernen Gesellschaft mit ihrer Arbeitsteilung und vielfachen Spezialisierung nicht mehr verwirklicht werden kann. An die Stelle des alten humanistischen Bildungsmodells setzt die Turmgesellschaft deshalb ein soziales Ethos, das nicht die Vervollkommnung des einzelnen, sondern die der Gesellschaft im Auge hat. Der einzelne soll sich zwar bis zu »einem gewissen Grade« bilden, dann aber muß er »in einer größern Masse« aufgehen und »um anderer willen« leben (HA 7, 493). Die Turmgesellschaft will auf die Vergegenwärtigung einer Totalität nicht verzichten, im Gegensatz zu Wilhelm aber verankert sie diese Totalität nicht mehr im Einzelmenschen, sondern in der Gemeinschaft, von wo sie jeder einzelne über die Vermittlung eines kollektiven Bewußtseins zurückgewinnen kann. Im Gespräch mit Wilhelm erläutert Jarno: »Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt« (HA 7, 552). Das zentrale Thema der >Wanderjahre< wird bereits in den >Lehrjahren< deutlich exponiert: In einer Zeit zunehmender Differenzierung und Spezialisierung muß derjenige, der am Ideal einer universalen Selbstvervollkommnung festhält, mit innerer Notwendigkeit einer melancholischen Trauer anheimfallen. Unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft gelingt es ihm nicht mehr, die humanistische Bildungsidee einer individuellen Totalität zu verwirklichen. Die Trauer über den Verlust dieser Totalität des Einzelmenschen, die im Falle Wilhelms mehrfach zu melancholischer Resignation führt, läßt sich in den Augen Jarnos nur durch eine bewußte Hinwendung zur Gesellschaft überwinden. Jeder Mensch muß sich als Einzelglied einer größeren Gemeinschaft aufopfern, er muß sich als konstitutiver Teil eines Ganzen begreifen lernen und die individuelle Beschränkung mit dem Bewußtsein einer kollektiven Ganzheit verbinden. In den >Wanderjahren< erklärt Jarno: »In dem einen«, was der Mensch »recht tut, sieht er das Gleichnis von allem, was recht getan wird« (HA 8, 37). Daß Jarno hier Überzeugungen ausspricht, die auch Goethe im Gegensatz etwa zu Schiller wiederholt propagierte, belegen mehrere Äußerungen gegenüber Eckermann sowie einige Textpassagen aus >Dichtung und WahrheitWanderjahren< wird sowohl auf die Ergebnisse der persönlichen Melancholietherapie wie auch auf die allgemeine Neuorientierung des Individuums in einer modernen Gesellschaft antworten.
6.
Aurelie als Melancholikerin
Goethes >Wilhelm Meister< zeichnet sich durch ein umfangreiches, weitverzweigtes und äußerst heterogenes Personenensemble aus. Während die Akteure einer umherziehenden Schauspielertruppe vor den Repräsentanten eines leichtlebigen Rokokoadels auftreten, verhandeln die Vertreter einer bürgerlichen Wirtschaftsethik mit den progressiven Exponenten einer aristokratischen Bildungselite. Einige Personen ziehen sich aus dem lauten Treiben der Welt zurück, um in einem abgeschlossenen Zirkel pietistischer Frömmigkeit das eigene Ich zu erkunden, andere hingegen brechen als Offiziere in die Neue Welt auf, um an den amerikanischen Freiheitskämpfen teilzunehmen. Orthodoxer Katholizismus steht neben aufgeklärtem Freimaurertum, konservative Hofkultur neben liberaler Reformbewegung - das soziale und kulturelle Spektrum des späten 18. Jahrhunderts ist fast vollständig erfaßt, so daß sich vor den Augen des Lesers ein Gesellschaftspanorama von beeindruckender Weite öffnet. Betrachtet man die Repräsentanten der einzelnen Gruppen genauer, so fällt auf, daß ihnen in der langen Wirkungsgeschichte des >Wilhelm Meister< ein sehr unterschiedliches Interesse zuteil geworden ist. Manche Figuren konnten im-
Goethe, S. 200-204. Borchmeyer analysiert die Positionen Goethes, Schillers und Humboldts im Hinblick auf das humanistische Ideal einer individuellen Totalität. s ° Vgl. Wilhelm Voßkamp: Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen >Wilhelm Meisters Lehrjahre« und >Wilhelm Meisters WanderjahreLehrjahre< auftritt. Aurelie hat die Zeitgenossen Goethes und nachfolgende Forschergenerationen zwar zu einigen lakonischen Äußerungen bewegen können, eine differenzierte Analyse ihrer Leidensgeschichte fehlt jedoch bis auf den heutigen Tag. 5 '
6.1.
Psychosoziale Frustration und melancholische Erkrankung
Aurelie wird im dreizehnten Kapitel des vierten Buches als Schwester des Theaterdirektors Serlo in die Handlung der >Lehrjahre< eingeführt. Mit freundlichen Worten begrüßt sie Wilhelm, als dieser, von seinen schweren Verletzungen genesen, in das Haus ihres Bruders eintritt. N o c h bevor der Erzähler genauere Einzelheiten über Aurelie mitteilt, deutet er auf einen »entschiedenen Zug des Kummers« hin, der ihrem »geistreichen Gesicht« eine eigentümliche Ausstrahlung verleihe ( H A 7, 243). Dieses physiognomische Charakteristikum übersieht Wilhelm in der ersten Begegnungsfreude; f ü r den Leser jedoch verweist es bereits auf die tragisch überschattete Biographie, von der Aurelie im Verlauf des vierten Buches berichten wird. Als es zur ersten längeren Begegnung zwischen Wilhelm und Aurelie kommt, tritt diese an ein Fenster, durch das sie auf den abendlichen Sternenhimmel schaut ( H A 7, 246). Über dieses vermeintlich nebensächliche Detail mag man zunächst hinweglesen, es erscheint jedoch in einem ganz anderen Licht, sobald man es mit einer Sequenz aus Wilhelms Traum in Beziehung setzt, die der Erzähler am Beginn des siebten Buches schildert. Dort heißt es: »Sonderbare Traumbilder erschienen ihm gegen Morgen. E r fand sich in einem G a r ten, den er als Knabe öfters besucht hatte [...] Wilhelm eilte nach dem Garten-
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Vereinzelte Bemerkungen von Goethes Zeitgenossen finden sich in den folgenden Briefen: Wilhelm von Humboldt an Goethe (15. Juni 1795); Friedrich Schiller an G o e the (2. Juli 1796); Christian Gottfried Körner an Schiller (5. N o v e m b e r 1796). A u s der wissenschaftlichen Literatur zu Goethes >Wilhelm Meister« sind zwei Untersuchungen hervorzuheben, die sich etwas eingehender mit Aurelie auseinandergesetzt haben. Gerhard Storz: Goethe-Vigilien, Stuttgart 1953, darin: Aurelie, S. 1 2 6 - 1 3 5 . Außerdem Ingrid Ladendorf: Zwischen Tradition und Revolution. Die Frauengestalten in >Wilhelm Meisters Lehrjahren« und ihr Verhältnis zu deutschen Originalromanen des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1990, darin: Aurelie, S. 59-72. Die Arbeit von Gerhard Storz ist durch eine assoziative und unpräzise Textanalyse gekennzeichnet, deren andächtiger und weihevoller Sprachduktus jede sachliche Annäherung an den vielschichtigen Charakter Aurelies verhindert. A u c h die Untersuchung von Ingrid Ladendorf bietet keine überzeugende Interpretation der Schauspielerin; sie deutet A u r e lie lediglich als »Medium«, mittels dessen Goethe »Gefahren und Chancen tatsächlicher Empfindsamkeit dem Leser sichtbar macht« (S. 62).
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saale, fand ihn aber ganz leer, nur sah er Aurelien an dem entgegengesetzten Fenster stehen« (HA 7, 425). Während Wilhelms Freunde jenen Traumgarten in reicher Zahl bevölkern und in surrealer Manier miteinander kommunizieren, steht Aurelie abseits in einem Gartenhaus, durch ein Fenster von allen anderen abgeschieden. Von dieser Traumsequenz aus läßt sich die symbolische Bedeutung des Fensterblicks genauer bestimmen. Wenn Aurelie während ihres ersten Gesprächs mit Wilhelm wehmütig aus einem Fenster schaut, so kann dies als ein erster verschlüsselter Hinweis auf ihr distanziertes Weltverhältnis, ihre seelische Isolation und ihre vom >eigentlichen< Leben abgeschiedene Existenz gelesen werden. Sie entpuppt sich damit als Vorläuferin einiger bekannter literarischer Gestalten, die ebenfalls durch das Motiv des distanzierten Fensterblicks als vom Leben abgeschnittene Individuen charakterisiert werden. Man denke hier nur an den Protagonisten Ulrich in Robert Musils >Mann ohne Eigenschaften^' 2 Bevor Aurelie im weiteren Verlauf des Dialogs Wilhelm als ihren Freund bezeichnet, dem sie die eigene Lebensgeschichte anvertrauen möchte, lenkt sie das Gespräch auf die Gestalt der Ophelia. Wilhelm hat in einem vorausgehenden Meinungsaustausch mit Serlo seine Interpretation der Hamletfigur vorgetragen - daran anknüpfend wendet sich Aurelie nun der Ophelia zu, deren Leiden sie in dunklen Farben darstellt. Wilhelm greift ihre Ausführungen auf, wobei ihm jedoch entgeht, daß sich Aurelie mit dem tragischen Schicksal der Ophelia weitgehend identifiziert und in der typischen Haltung einer Melancholikerin verharrt: Sie stützt ihren Kopf auf die Arme und richtet den Blick in eine unbestimmte Ferne (HA 7, 247).» Einige Tage nach dem Gespräch über Shakespeares Drama kommt es zu einer erneuten Begegnung zwischen Aurelie und Wilhelm. Als Wilhelm ihr Zimmer betritt, findet er sie auf einem Kanapee liegend: »Sie schien an Kopfweh zu leiden, und ihr ganzes Wesen konnte eine fieberhafte Bewegung nicht verbergen« (HA 7, 251). Die heftigen Kopfschmerzen und Fieberanfälle verweisen ein weiteres Mal auf Aurelies schwere Melancholie, die sich bis zu ihrem Freitod kontinuierlich verschärft. 54 Wilhelm, der sich zu Aurelie gesetzt hat, ver' 2 Das Motiv des melancholisch-distanzierten Fensterblicks begegnet auch in Heinrich Heines Gedicht >SeegespenstWahlverwandtschaften< haben die Kopfschmerzen der beiden Melancholiker Eduard und Ottilie eine leitmotivische Funktion. Sie werden bereits im dritten K a p i -
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nimmt nun ihre Kindheits- und Jugendgeschichte, die sich geradezu als Exempel einer gestörten Sozialisation lesen läßt. Aurelie hat, wie sie selbst erklärt, die >allerschlechteste< Erziehung genossen, »durch die jemals ein Mädchen hätte verderbt werden sollen« ( H A 7, 252): Als Waise wächst sie bei ihrer Tante auf, die sich zum Schrecken des noch unerfahrenen Kindes einem Leben voller A u s schweifungen überläßt. Aurelie muß erfahren, wie ihre Tante ein ganzes Heer grober und taktloser Männer anlockt, um mit diesen ein wüstes und lasterhaftes Leben zu führen. A u s nächster N ä h e beobachtet sie die hemmungslosen Exzesse der Erwachsenen, so daß sie schon als Jugendliche dem anderen Geschlecht ebenso wie dem eigenen mit Abscheu und Verachtung gegenübersteht ( H A 7, 2 5 3 ) . " Aurelie wird durch das sittenlose Milieu, in dem sie aufwächst, schwer traumatisiert. D a sie weder das G e f ü h l einer aufrichtigen Zuneigung noch das einer ernsthaften Sympathie erfährt, begegnet sie der Welt über viele Jahre hinweg in misanthropischer Abneigung - sie geht jeder Beziehung aus dem Weg und verkapselt sich in ihrem eigenen Inneren.' 6 In den >Lehrjahren< beschließt Aurelie ihre Jugendgeschichte mit diesem bedrückenden Bild einer verlorenen Kindheit, in der theatralischen Sendung« hingegen ergänzt sie ihren Bericht um einen Satz, der für die weitere Analyse von zentraler Bedeutung ist. Wilhelm gegenüber bemerkt sie: »Sie sollten von mir hören wie mich die Liebe der Kunst hinauf stimmte« (FA 9 , 3 3 1 ) . A u f g r u n d der schockierenden Kindheitserfahrungen fühlt sich Aurelie in der Alltagsrealität fremd und von allen Menschen isoliert. Sie zieht sich darum in eine sublime Kunstwelt der hohen Gesinnungen zurück, w o alles Geringe und von niederen Trieben Bestimmte eliminiert ist. Besonders deutlich manifestiert sich diese ästhetische Existenzweise in ihrem anfänglichen Theaterengagement. Bei der dritten Zusammenkunft mit Wilhelm berichtet Aurelie von ihren ersten Auftritten - sie beschreibt, wie sie einst »mit dem höchsten Begriff« von
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tel als »bedeutend« hervorgehoben und nach mehrfachen Verweisen noch einmal im 16. Kapitel des zweiten Teils besonders exponiert ( H A 6, 264 u. 470). Vgl. hierzu Bernhard Buschendorf: Goethes mythische D e n k f o r m , S. i4of. Aurelies prekäres Verhältnis zum eigenen Geschlecht manifestiert sich mehrfach in ihren Ressentiments gegen die sinnlich attraktive und im U m g a n g mit Männern recht freizügige Philine. Vgl. Aurelies Bemerkungen gegenüber Wilhelm im fünften Buch der >Lehrjahre< ( H A 7, 300 u. 318). A n einem ähnlichen Trauma leidet Laertes, wie aus dem biographischen Rückblick im vierten Buch der >Lehrjahre< hervorgeht: Als Achtzehnjähriger hat Laertes ein junges Mädchen geheiratet, das ihn bereits am Morgen nach der Hochzeitsnacht mit einem Liebhaber betrog. Seit diesem Schock, der ihn zum Melancholiker werden ließ, begegnet Laertes allen Frauen in misogyner Abneigung ( H A 7, Z19L). Vgl. Hans-Jürgen Schings: Wilhelm Meisters Geselle Laertes. In: Euphorion 77 (1983), S . 4 1 9 - 4 3 7 . Schings weist überzeugend nach, daß Goethe im Melancholiker Laertes Karl Philipp Moritz porträtiert hat. Besonders deutlich manifestiert sich Laertes' Melancholie im ersten und siebzehnten Kapitel des vierten Buches ( H A 7, 203 u. 267).
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sich selbst und ihrer Nation die Bühne betreten hat: »Was waren die Deutschen nicht in meiner Einbildung, was konnten sie nicht sein! Z u dieser Nation sprach ich, über die mich ein kleines Gerüst erhob, von welcher mich eine Reihe Lampen trennte, deren G l a n z und Dampf mich hinderte, die Gegenstände vor mir genau zu unterscheiden« ( H A 7, 258). Auf der Bühne vermag Aurelie die persönliche Bindung, die sie im realen Leben nicht verwirklichen kann, durch die Beziehung auf ein relativ unbestimmtes und dadurch abstrakt bleibendes Kollektiv zu substituieren. Das Tableau könnte kaum schärfer gezeichnet sein: Aurelie steht auf einer Bühne, die sie über die Zuschauer erhöht, wobei die strahlenden Lichtkegel dafür sorgen, daß sie keine Einzelpersonen erkennen kann. A u f diese Weise geblendet, vermag sie von ihren hohen Idealen und edlen Gesinnungen zu sprechen. Der Kompensationsmechanismus, der hier am Werke ist, enthüllt sich in aller Deutlichkeit: D a Aurelie das andere wie das eigene Geschlecht verachtet, fixiert sie sich auf überindividuelle und gleichsam geschlechtslose Instanzen. Es ist auffällig, mit welcher Beharrlichkeit sie K o l lektivbegriffe wie >MengeNation< und >Publikum< verwendet ( H A 7, 258): Wie willkommen w a r mir der Klang des Beifalls, der aus der Menge herauftönte; wie dankbar nahm ich das Geschenk an, das mir einstimmig von so vielen Händen dargebracht wurde! Lange wiegte ich mich so hin; wie ich wirkte, wirkte die Menge wieder auf mich zurück; ich war mit meinem Publikum in dem besten Vernehmen; ich glaubte eine vollkommene Harmonie zu fühlen und jederzeit die Edelsten und Besten der N a t i o n vor mir zu sehen.
A u s der Enge und Widrigkeit des frustrierenden Alltags steigt Aurelie auf das Bühnenpodest, um dort mit dem vermeintlich edlen Publikum ihre Sehnsucht nach Reinheit und hoher Gesinnung zu stillen. Wie sehr aber entsetzt sich A u relie, als sie erkennen muß, daß auch die »Edelsten und Besten der Nation« nur kulturlose und triviale Zeitgenossen sind. Aus dem anonymen Publikum schälen sich plötzlich einzelne Individuen heraus, die ihre (zweideutige) Begeisterung über Aurelies Spiel auch persönlich artikulieren wollen. Mit Platitüden und geistlosen Phrasen nähern sie sich der Schauspielerin und zerstören damit ihr Wunschbild von der weisen Nation. »Es war mir eben, als wenn die ganze Nation sich recht vorsätzlich bei mir durch ihre Abgesandten habe prostituieren wollen. Sie kam mir im ganzen so linkisch vor, so übel erzogen, so schlecht unterrichtet, so leer von gefälligem Wesen, so geschmacklos« ( H A 7, 260). Die glänzende Vision zerstäubt, die sublime Kunstwelt zerbricht. Aurelie ist nicht in der Lage, ihren hohen Anspruch an die Kunst und an sich selbst mit der Oberflächlichkeit und geistigen Ignoranz des Publikums in Einklang zu bringen. Solange das Publikum eine unbestimmte Fläche bildete, auf die sie ihre Ideale problemlos projizieren konnte, ließ sich die Fiktion aufrecht erhalten. N u n aber, da aus der konturlosen Masse einzelne Repräsentanten heraustreten, erweist sich das Wunschbild als leere Illusion. Die alte Misanthropie bricht erneut durch. »Ich dachte nicht mehr an Welt und Nation. Mit der Welt hatte ich 204
nichts zu teilen, und den Begriff von Nation hatte ich verloren« ( H A 7, 261). Aurelie verfällt in eine schwere Melancholie; sie denkt an Selbstmord, ergibt sich dann aber einer resignativen Apathie. Auf Wunsch ihres Bruders heiratet sie einen Mann, mit dem sie nichts verbindet. Was folgt, ist an Beziehungslosigkeit und seelischer Vereinsamung kaum zu überbieten. Aurelie zieht sich in eine verödete Innenwelt zurück, während das Theaterspiel für sie zur geistlosen Tätigkeit verkommt. In dieser scheinbar ausweglosen Situation begegnet Aurelie einem Mann, der sie nach und nach aus ihrer Melancholie zu befreien vermag. Während ihr Gatte, dessen N a m e an keiner Stelle genannt wird, an einer schweren Krankheit stirbt, entdeckt Aurelie zum ersten Mal das G e f ü h l einer persönlichen Zuneigung - sie lernt Lothario kennen, den einfühlsamen Aristokraten, der an den amerikanischen Freiheitskämpfen teilgenommen hat. Lothario verkörpert all jene Gesinnungen, die Aurelie während ihres Theaterengagements vergeblich dem anonymen Publikum anzudichten versuchte. E r weiß ihre Schauspielkunst zu schätzen, er teilt ihre hohen Ideale, und er begegnet ihr mit respektvoller Sympathie. »Es war das erste Mal in meinem Leben«, erklärt Aurelie gegenüber Wilhelm, »daß ich eines herzlichen, geistreichen Umgangs genoß. Ich war von ihm angezogen, von ihm hingerissen, eh' ich über mich selbst Betrachtungen anstellen konnte« ( H A 7, 263). N a c h Jahren der inneren Emigration begegnet Aurelie einem Mann, der sie anzieht und fasziniert, der ihre Freuden und Leiden zu teilen vermag, dem sie sich rückhaltlos anvertrauen kann. Dadurch ist sie imstande, ihre melancholische Gleichgültigkeit zu überwinden und ihrem Verhältnis zum Publikum eine neue Qualität zu verleihen. Das Publikum muß nicht mehr wie einst in kongenialer Einfühlung dem dramatischen Spiel folgen können, sondern es soll sich leiten und belehren lassen. Das Bühnengerüst mutiert zur säkularisierten Kanzel, das Publikum zur einfältigen, aber aufmerksam zuhörenden Gemeinde ( H A 7, 264). >Müssen denn, können denn einzelne Menschen so interessant sein? Keinesweges! Es fragt sich, ob unter der großen Masse eine Menge von Anlagen, Kräften und Fähigkeiten verteilt sei, die durch günstige Umstände entwickelt, durch vorzügliche Menschen zu einem gemeinsamen E n d z w e c k e geleitet werden können.< Ich freute mich nun, so wenig hervorstechende Originalität unter meinen Landsleuten zu finden; ich freute mich, daß sie eine Richtung von außen anzunehmen nicht verschmähten.
Aurelie sieht das Publikum und mit ihm die ganze Nation als formbare und lenkbare Gemeinschaft an. Sie erhebt sich selbst im Gefolge Lotharios zur geistigen Heerführerin und erliegt damit wiederum einer problematischen Illusionsbildung. D o c h auch diese Phase seelischer Regeneration und geistiger Erneuerung ist nur von kurzer Dauer. Lothario zieht sich plötzlich ohne genauere Erklärung zurück, er verläßt Aurelie und stürzt sie in ein neues Elend, von dem sich die gerade erst Genesene nicht mehr erholen wird. Die alte Melancholie überfällt sie wieder und zerrüttet das noch labile seelische Gleichgewicht. A u 205
relie gerät in eine furchtbare Verzweiflung, da die einzige persönliche Bindung, die sie seit Kindestagen eingegangen ist, auf tragische Weise zerbricht. A u f der Bühne spielt sie nun vorwiegend die Rollen verlassener Frauen, da sie sich mit deren Schicksal besonders identifizieren kann. Die Darstellung der Ophelia aus Shakespeares >Hamlet< und die Darbietung der Orsina aus Lessings >Emilia Galotti< werden für sie zum persönlichen Bekenntnis. Aurelie hat jeden Lebenswillen verloren und gerät in eine depressive Untergangsstimmung - sie beschreibt ihre Existenz als widersinnige Addition leerer Lebensmomente, als ewige und sinnlose Wiederkehr des immer Gleichen. »Heute früh hab' ich gelernt, jetzt wiederholt und versucht. Ich bin müde, zerbrochen, und morgen geht es wieder von vorn an. Morgen abend soll gespielt werden. So schlepp' ich mich hin und her; es ist mir langweilig, aufzustehen, und verdrießlich, zu Bette zu gehen. Alles macht einen ewigen Zirkel in mir« ( H A 7, 278). Wenn Aurelie resigniert über die Sinnlosigkeit ihres Tuns klagt, erinnert sie an andere Gestalten Goethes, die in ähnlicher Weise am Leben verzweifeln. Werther schreibt in einem Brief vom 3. November, kurz vor seinem Selbstmord, voller Lebensüberdruß: »Weiß Gott! ich lege mich so oft zu Bette mit dem Wunsche, ja manchmal mit der Hoffnung, nicht wieder zu erwachen: und morgens schlage ich die Augen auf, sehe die Sonne wieder, und bin elend« ( H A 6, 84). Ein ähnliches Leiden an der Widersinnigkeit und Leere des Lebens manifestiert sich auch in Fausts großer Melancholie-Klage am Beginn der zweiten Studierzimmer-Szene. Faust verzweifelt an seinem Leben, das sich in Entbehrungen und Enttäuschungen, in Langeweile und Monotonie erschöpft: »Nur mit Entsetzen wach' ich morgens auf, / Ich möchte bittre Tränen weinen, / Den Tag zu sehn, der mir in seinem Lauf / Nicht Einen Wunsch erfüllen wird« (V. 15 54ff.). In allen zitierten Textpassagen kehrt dasselbe Motiv wieder: das Erwachen am Morgen eines neuen Tages. Der Morgen wird hier jedoch nicht wie in der Eingangsszene des >Faust II< als Zeichen der Erneuerung und des Aufbruchs gefeiert, sondern - typisch für die Morgendepression des Melancholikers - als Beginn einer neuen Leidensphase verworfen. Der Morgen gerinnt zum Symbol einer perpetuierten Seelenqual. 57
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Hinter der Gestalt der Aurelie hat man schon früh die hochbegabte Schauspielerin Charlotte Ackermann als Modell erkannt, die nach einer A u f f ü h r u n g in Hamburg am 9. Mai 1775 zusammenbrach und unter mysteriösen Umständen starb. D e m Gothaischen Theaterkalender von 1776 zufolge fand man in der Kammer der erst Siebzehnjährigen >Die Leiden des jungen WertherIch habe ihn wieder!< rief Aurelie, indem sie die blanke Klinge in die H ö h e hielt; >ich will meinen treuen F r e u n d nun besser verwahren. Verzeih mirdaß ich dich so vernachlässigt habe!WertherDichtung und Wahrheit« berichtet Goethe über seine Selbstmordexperimente. Er erwähnt in diesem Zusammenhang einen »kostbaren wohlgeschliffenen Dolch«, den er in seiner »ansehnlichen Waffensammlung« verwahrt: »Diesen legte ich mir jederzeit neben das Bette, und ehe ich das Licht auslöschte, versuchte ich, ob es mir wohl gelingen möchte, die scharfe Spitze ein paar Zoll tief in die Brust zu senken. Da dieses aber niemals gelingen wollte, so lachte ich mich zuletzt selbst aus, warf alle hypochondrische Fratzen hinweg, und beschloß zu leben« (HA 9, 585)·
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stand mit einer kaum noch verschleierten Sinnlichkeit. Das erotisch grundierte Todesverlangen bildet die Kontrastfolie zum ehemaligen Streben nach Reinheit und hoher Gesinnung. Die hitzige und heftige Todessehnsucht gewinnt an dieser Stelle noch keine endgültige Gewalt über Aurelie. Gleichwohl sind ihre Tage gezählt: Wie später der Harfner, so versinkt auch sie immer tiefer in ihrer Melancholie. Wilhelms Versuche, Aurelie psychisch zu stabilisieren, schlagen allesamt fehl. Gegen E n de des vierten Buches bemüht er sich, Aurelie all das vor Augen zu führen, was ihr trotz der Liebeskatastrophe geblieben ist. Mit leisen Anklängen an die eben analysierte Szene erklärt er: »O, meine Freundin, [...] könnten Sie doch aufhören, selbst den Dolch zu schärfen, mit dem Sie sich unablässig verwunden! Bleibt Ihnen denn nichts? Ist denn Ihre Jugend, Ihre Gestalt, Ihre Gesundheit, sind Ihre Talente nichts? Wenn Sie ein G u t ohne Ihr Verschulden verloren haben, müssen Sie denn alles übrige hinterdrein werfen?« ( H A 7, 278). Wilhelms Beschwichtigungsversuche sind gut gemeint, bleiben letztlich aber ebenso wirkungslos wie die an Tasso gerichteten Ratschläge Antonios oder die Empfehlungen Wilhelms gegenüber Werther. Wie bereits Werther und Tasso ist auch Aurelie so tief in den Strudel der Melancholie geraten, daß sie nur noch in h o f f nungsloser Verzweiflung und fortgesetzter Introspektion um das eigene Seelenleiden kreisen kann. »Sie versank in sich«, heißt es im Anschluß an die aufmunternden Worte Wilhelms ( H A 7, 2 7 9 ) . " Aurelie fällt, ähnlich wie Faust in der zweiten Studierzimmer-Szene, einem radikalen Nihilismus anheim. Die Liebe, die sie lange Zeit von sich wies, die sie dann aber in der Begegnung mit Lothario neu entdeckte, wird ihr nun zur sinnlosen und törichten Zeitverschwendung: »Ich weiß es wohl, daß es Zeitverderb ist, nichts als Zeitverderb ist die Liebe! Was hätte ich nicht tun können! tun sollen! N u n ist alles rein zu nichts geworden. Ich bin ein armes, verliebtes G e schöpf, nichts als verliebt!« ( H A 7, 278^). Aurelie haßt die Liebe, da sie sich von ihr betrogen fühlt, zugleich aber kann sie Lothario nicht vergessen, der ihr half, in einer Welt profaner Nichtigkeiten an den eigenen Idealen festzuhalten. Sie verstrickt sich in ein N e t z innerer Widersprüche und verfällt schließlich ihrem alten Männerhaß, den sie seit Jugendtagen nie ganz hat ablegen können. Mit einer an der Rolle Orsinas geübten Schärfe holt sie zur Generalabrechnung mit der patriarchalischen Gesellschaftsform aus. Sie prangert die Unterdrückung der Frau an und klagt über die Treulosigkeit der Männer, die zwar das flüchtige amouröse Abenteuer goutieren, darüber hinaus jedoch eine Frau nicht zu schätzen wissen. Gegenüber Wilhelm erklärt sie: »Ihr seid gewohnt, daß sich euch alles an den Hals wirft. Nein, ihr könnt es nicht fühlen, kein Mann ist im-
" Goethe fertigte f ü r die Arbeit am >Wilhelm Meister« ein Schema an, das die verschiedenen Figuren des Romans auf jeweils eine konkrete Eigenschaft fixiert. Z u Aurelie vermerkt die Skizze: »Hartnäckiges selbstquälendes Festhalten« ( H A 7, 616).
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Stande, den Wert eines Weibes zu fühlen, das sich zu ehren weiß!« (HA 7, 279). Der Erzähler vermeidet an dieser Stelle jede ironische Distanzierung. Er verweist zwar auf Aurelies >halb natürlichen« und >halb erzwungenen« Zustand, die leidenschaftlichen Anklagen aber relativiert er nicht. Man fühlt sich an Iphigenie erinnert, die ebenfalls, freilich in einer wesentlich besonneneren Art, die Unterdrückung der Frau anprangert. 60 Aurelie versenkt sich immer tiefer in die Abgründe der Melancholie, sie beschleunigt ihre >Krankheit zum Tode< und zehrt sich wie Werther willentlich auf. »Sie hatte eine Art von überspringendem Fieber, dem um so weniger beizukommen war, als sie die Anfälle nach ihrer Art vorsätzlich unterhielt und verstärkte« (HA 7, 349). Aurelie schwankt zwischen apathischer Teilnahmslosigkeit und heftigen Gefühlsausbrüchen, sie oszilliert fortwährend zwischen emotionalen Extremen und findet zu keiner ruhigen Besinnung. Als sich ihr gesundheitlicher Zustand bedenklich verschlechtert, wird ein Arzt zu Rate gezogen, der indes ebenfalls hilflos ist. Er gibt einige diätetische und medizinische Ratschläge, verspricht das Manuskript der Bekenntnisse einer schönen Seeledüsteren Unbedingtheit< Aurelies und der heiter-flüchtigen Erotik Lotharios, die von Leidenschaftlichkeit frei ist, auch wenn sie durchaus >warme Gemütstöne< kennt. »Liebe bleibt also f ü r Lothario in der Sphäre des Unernstes«.
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A u r e l i e , die den anderen A k t e u r e n nach der Vorstellung halb ohnmächtig begegnet, verläßt, v o n Serlo gereizt, in n o c h erhitztem Z u s t a n d das T h e a t e r u n d läuft o h n e Mantel d u r c h die kalte u n d verregnete N a c h t . D i e F o l g e n stellen sich alsbald ein: D a s F i e b e r steigt an, die K r a n k h e i t verschärft sich, u n d binnen w e niger Tage stirbt A u r e l i e . U b e r Wilhelms Verhältnis z u ihr b e m e r k t der E r z ä h ler abschließend: »Bei der A c h t u n g , die er f ü r sie gehabt, u n d bei der G e w o h n heit, mit ihr zu leben, w a r ihm ihr Verlust sehr schmerzlich. Sie w a r die einzige P e r s o n , die es eigentlich gut mit ihm meinte« ( H A 7, 355).
6.2.
A u r e l i e als Parallel- und K o n t r a s t f i g u r zu W i l h e l m
Vergleicht man die B i o g r a p h i e der M e l a n c h o l i k e r i n A u r e l i e mit d e m L e b e n s w e g des nicht minder gefährdeten Wilhelm, so ergeben sich einige aufschlußreiche Parallelen. A u c h w e n n die Ereignisse und E r f a h r u n g e n , die A u r e l i e s E n t w i c k l u n g bestimmen, w i e d e r h o l t extreme G r e n z w e r t e markieren (ein P h ä n o m e n , das bei den anderen N e b e n f i g u r e n des R o m a n s ebenfalls hervortritt), so lassen sich ihre C h a r a k t e r z ü g e d e n n o c h mit den E i g e n s c h a f t e n Wilhelms in eine enge B e z i e h u n g setzen. S c h o n die p r o b l e m a t i s c h e K i n d h e i t u n d die daraus e r w a c h s e n d e Begeisterung f ü r die Welt des Theaters ist beiden F i g u r e n gemeinsam. Wie A u r e l i e w i r d auch W i l h e l m schon f r ü h auf sich selbst z u r ü c k g e w o r fen. Seine Kindheitsgeschichte, die in den >Lehrjahren< w e i t g e h e n d ausgeblendet, in der t h e a t r a l i s c h e n Sendung< j e d o c h ausführlich erzählt w i r d , ist gleichermaßen überschattet v o n Isolation und E i n s a m k e i t . G l e i c h im dritten K a p i tel des ersten B u c h e s heißt es: » E r kriegte [...] eine E n t f r e m d u n g gegen seine Mutter, und w a r daher recht übel dran, weil sein Vater auch ein harter M a n n w a r ; daß ihm also nichts übrig bliebe als sich in sich selbst zu verkriechen, ein Schicksal, das bei K i n d e r n und A l t e n v o n großen F o l g e n ist« ( F A 9, 1 7 ) . W i l helm verschließt sich v o r der Welt u n d flüchtet sich in eine erhabene K u n s t sphäre, aus der die b e d r ü c k e n d e und nüchterne Alltagsrealität ausgeschlossen bleibt. D i e intensiven G e f ü h l s r e g u n g e n , die er in seinem prosaischen E l t e r n haus entbehren muß, findet er hier im U b e r m a ß . Freilich ist Wilhelms A d o l e s z e n z nicht so traumatisierend w i e A u r e l i e s J u g e n d , hinter seiner Begeisterung f ü r das T h e a t e r verbirgt sich j e d o c h der gleiche K o m p e n s a t i o n s m e c h a n i s m u s . Selbst in den >LehrjahrenLehrjahreDivina Commedia« erdulden müssen (FA 9, 68). Abschließend ist noch auf eine vierte bedeutende Analogie hinzuweisen, die sich vor allem im Umgang mit dramatischen Rollen und bildlichen Darstellungen konkretisiert. In wertherähnlicher Manier identifizieren sich sowohl Aurelie wie auch Wilhelm immer wieder mit melancholischen Gestalten, die ihnen im Bereich der Kunst begegnen. Während Aurelie die Rollen der Ophelia und 212
der Orsina mit dem eigenen Schicksal verknüpft, amalgamiert Wilhelm die R o l len Tankreds und Hamlets mit seiner eigenen Person; auch den kranken K ö nigssohn - eine Zutat der >Lehrjahre< - betrachtet er wiederholt als Alter ego. Der ästhetische Subjektivismus, der sich in dieser identifikatorischen Haltung ausdrückt, schlägt eine thematische Brücke nicht nur zum >Werther Wahlverwandtschaften^ Wilhelm und Aurelie sind in ihrer psychischen Disposition eng aufeinander bezogen. Sie zeigen unverkennbare Affinitäten in ihrem depressiven Leiden und identifizieren sich immer wieder mit jenen Kunstgestalten, auf die sie ihre eigene Schwermut projizieren können. Es bestehen indes auch wesentliche U n terschiede zwischen Wilhelm und Aurelie, die sich vielleicht am besten verdeutlichen lassen, wenn man beide Figuren mit Werther vergleicht, der für fast alle Melancholiker im Werk Goethes Modell gestanden hat. Im Gegensatz zu Werther bezwingt Wilhelm schließlich die Gefahren der Melancholie, indem er sich dem Tätigkeitsideal der Turmgesellschaft unterstellt. »Ich verlasse das Theater«, schreibt er an Werner, »und verbinde mich mit Männern, deren U m gang mich in jedem Sinne zu einer reinen und sichern Tätigkeit führen muß« ( H A 7, 491). In den beiden letzten Büchern der >Lehrjahre< überwindet Wilhelm die permanente Fixierung auf die eigene Gefühlslage, er unterzieht seinen wertherähnlichen Subjektivismus einer schonungslosen Selbstkritik und versagt sich fortan die heillose Introspektion, mit der er seine melancholischen Neigungen immer wieder forciert hat. Aurelie indes bleibt der finsteren Werther-Welt verhaftet. Sie vermag sich vom Schicksal ihres tragischen Vorläufers nicht zu lösen und geht schließlich in einem Meer der immer erneuerten Seelenqual unter. Die Entwicklung Wilhelms kann als Geschichte einer Heilung und eines neuen Aufbruchs gelesen werden, Aurelie jedoch verharrt bis zum traurigen Tod unter dem Schatten der Melancholie. Sie muß sterben, noch bevor Wilhelm in den Kreis der Turmgesellschaft eintritt - so will es die Regie des R o mans.
7.
Melancholie und Wahnsinn - der Harfner
Wilhelms Melancholie spiegelt sich nicht nur im tragischen Schicksal der Schauspielerin Aurelie, sondern auch in der verhängnisvollen Lebensgeschichte des Harfners. Interessant ist dabei vor allem, daß Aurelie von Anfang an als Melancholikerin auftritt, während der Harfner zunächst als heiterer und in sich ruhender Sänger charakterisiert wird. Auf den ersten Blick personifiziert er geradezu jenes Dichterideal, das Wilhelm am Beginn des zweiten Buches im G e spräch mit Werner entworfen hat: Selbstgenügsam scheint er über den Wirrnissen des Alltags zu schweben und allein die Schönheiten des Gesangs zu kultivieren. Dieses sublime Dichterbild entpuppt sich jedoch schon bald als trüge-
21}
risch, denn hinter der Maske des weisen und würdevollen Barden verbirgt sich ein verzweifelter und von Todesangst gequälter Melancholiker. 61 7. ι.
Künstlertum und Einsamkeit
Die >Lehrjahre< führen den Harfner im elften Kapitel des zweiten Buches ein. Der Sänger tritt vor die versammelte Schauspielertruppe und rezitiert zu den Klängen seiner Harfe einige Lieder. Er singt vom Glück des Barden und vom geselligen Leben, um zuletzt in einer sechsstrophigen Ballade das ideale Verhältnis zwischen Künstler und Gesellschaft zu umreißen. Die Ballade des Harfners weist vielschichtige Beziehungen zu Wilhelms großem Dichterhymnus auf (HA 7, 82f.). Am signifikantesten zeigt sich dies in den ersten Versen der fünften Strophe, w o die Vogelmetapher, die Wilhelm bereits für seine Dichterapotheose bemüht hat, erneut aufgegriffen und variiert wird. Wie der singende Vogel in den hohen Zweigen nistet und von den ängstlichen Sorgen der Welt nicht berührt wird, so lebt auch der Dichter in einer idealen Sphäre, die der defizitären Alltagsrealität enthoben ist. Vom Gefühl einer tiefen Seelenverwandtschaft durchdrungen, preist Wilhelm den Harfner als segensreichen Genius (HA 7, 1 2 9 ) * Wegen des kleinlichen Gezänks in der Schauspielertruppe und angesichts der von Philine ausgehenden Annäherungsversuche gerät Wilhelm in »ein Unbehagen, dergleichen er in seinem Leben noch nicht empfunden hatte« (HA 7, 13 5). Er sucht den Harfner auf, da er sich von dessen Saitenspiel eine Linderung seines Seelenaufruhrs verspricht. Deutlich schimmert hierbei das biblische Bild von Saul und David durch die transparente Oberflächenhandlung. Wie der melancholische und von bösen Dämonen bedrängte Saul einst durch Davids Saitenspiel beruhigt wurde, so hofft auch Wilhelm nun durch die Lieder des Harfners besänftigt zu werden: »In der verdrießlichen Unruhe, in der er sich befand, fiel ihm ein, den Alten aufzusuchen, durch dessen Harfe er die bösen Geister zu verscheuchen hoffte« (HA 7, 136). Der Erzähler bezieht sich hier unverkennbar auf den biblischen Urtext, der in seiner langen Rezeptionsgeschichte immer
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62
D i e folgenden Ausführungen zur Gestalt des Harfners orientieren sich relativ eng an der Chronologie der Romanhandlung. Auf diese Weise können sie die fortschreitende Pathologisierung des Harfners nachvollziehen, die sich mit der sukzessiven Enthüllung seiner Vorgeschichte verknüpft und dabei die Heilung Wilhelms antithetisch kommentiert. Vgl. hierzu M o n i k a Fick: Destruktive Imagination. Die Tragödie der Dichterexistenz in >Wilhelm Meisters LehrjahrenLehrjahren< analysiert M o n i k a Fick: Destruktive Imagination, S. 2 0 7 - 2 0 9 . Z u r generellen Bedeutung der Vogelmetapher im Werk Goethes vgl. die Studie von Werner Keller: Goethes dichterische Bildlichkeit. Eine Grundlegung, München 1 9 7 2 , 8 . 6 2 - 7 3 .
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wieder als Musterbeispiel für die außerordentliche Heilkraft der Musik zitiert w o r d e n 1st. 63
Als Wilhelm die ärmlich eingerichtete Dachkammer des Harfners betritt, wird er Zeuge eines äußerst melancholischen Gesangs. Hier begegnet er nicht mehr dem lebensfrohen Sänger, der kurz zuvor die Gesellschaft erfreute, sondern trifft auf eine schwermütige und verzweifelte Gestalt, die sich in der Einsamkeit ihren Schmerzen überläßt und Gesänge voller Hoffnungslosigkeit anstimmt. Gleich im ersten Lied, das dem Parzenlied der Iphigenie gedanklich nahesteht, klagt der Harfner über den ohnmächtigen Menschen, der sich - einem unentrinnbaren Schicksal ausgeliefert - mit Notwendigkeit in schwere Schuld verstrickt, für die er dann mit peinigenden Reuequalen büßen muß. Wilhelm fühlt sich vom Klagegesang des Harfners ergriffen: »Die Trauer des Unbekannten schloß sein beklommenes H e r z auf«, resümiert der Erzähler. »Alle Schmerzen, die seine Seele drückten, lösten sich zu gleicher Zeit auf«. D e r Gesang entfaltet eine kathartische Wirkung: »Was hast du mir für Empfindungen rege gemacht«, ruft Wilhelm dem Harfner entgegen, »alles, was in meinem Herzen stockte, hast du losgelöst« ( H A 7, 137). Es spricht vieles dafür, daß Wilhelm durch die tragische Botschaft des Liedes an die Katastrophe seiner ersten Liebesbeziehung erinnert wird. 64 Wie aber läßt sich das schmerzliche Gedenken an Mariane mit der seelischen >Reinigung< in Einklang bringen, die Wilhelm zweifellos empfindet? U m diesen zunächst paradox anmutenden Heilmechanismus besser nachvollziehen zu können, empfiehlt es sich, eine ähnlich strukturierte Passage aus den >Wanderjahren< genauer zu betrachten. Die Novelle >Der Mann von fünfzig JahrenWanderjahre< eingeflochten ist, berichtet unter anderem von der tragischen Liebe, die Flavio für eine junge,
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Vgl. beispielsweise >Anton Reisen von Karl Philipp Moritz: »Indes gelang es ihm doch einmal, wie dem David beim Saul, den bösen Geist des Hrn. L . . . durch die Kraft der Musik zu vertreiben«. K . P . Moritz: Werke, hg. v. Heide H o l l m e r u. Albert Meier, Bd. ι , Frankfurt a.M. 1999, S. 139. U b e r die Bedeutung der Geschichte von Saul und David f ü r die bildende Kunst informiert die Studie von G ü n t e r Bandmann: Melancholie und Musik. Ikonographische Studien, Köln/Opladen i960, S. 1 1 - 2 1 .
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Im zweiten Kapitel des zweiten Buches entschuldigt Wilhelm das Verhalten Marianes und erklärt, daß die Beziehung nicht zerbrochen wäre, hätten nicht >Mißverständnisse< und verhängnisvolle >Umstände< einen Keil zwischen die beiden Liebenden getrieben. Das Scheitern der Beziehung wird von Wilhelm somit als Resultat eines undurchschaubaren Geschicks gedeutet, das ihn selbst in Schuld und Reue getrieben habe: »Weh' über mich und über mein Schicksal! [...] Wer weiß, in welchen Zustand ich sie versetzt habe, und erst nach und nach fällt mir's aufs Gewissen, in welcher Verzweiflung, in welcher Hülflosigkeit ich sie verließ! [...] Wieviel Mißverständnisse können die Welt verwirren« ( H A 7, 8 5 f.). Das individuelle Leid, das Wilhelm in der Liebeskatastrophe mit Mariane erfährt, korrespondiert mit dem allgemeinen M e n schenschicksal, das der Harfner in seinem Lied besingt. Die Pein und die Reuequalen, die dort in der zweiten Strophe hervorgehoben werden, empfindet auch Wilhelm lange Zeit.
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früh verwitwete Frau empfindet. N a c h einer Phase des regen Gedankenaustausche und der zärtlichen Annäherung kommt es zu einem Zerwürfnis. Flavio verfällt in eine schwere Liebesmelancholie, von der er jedoch nach und nach wieder geheilt werden kann. Von besonderer Bedeutung f ü r den Genesungsprozeß ist dabei die poetisch-musikalische Konversation, die Flavio mit seiner Cousine Hilarie führt. D e r Erzähler konstatiert: »Hier nun konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Kräfte erweisen. Innig verschmolzen mit Musik, heilt sie alle Seelenleiden aus dem Grunde, indem sie solche gewaltig anregt, hervorruft und in auflösenden Schmerzen verflüchtigt« ( H A 8, 206). Diese Erzählerreflexion läßt sich auch auf die oben geschilderte Szene zwischen Wilhelm und dem Harfner beziehen. D e r Harfner trägt zu den Klängen seines Instruments ein Lied vor, das die Hilflosigkeit des Menschen angesichts eines inhumanen Schicksals beklagt. Wilhelm fühlt sich daraufhin an das erschrekkende Ende seiner ersten Liebesbeziehung erinnert; die schmerzlichen E m p findungen werden im ästhetischen Nachvollzug noch einmal angeregt, zugleich aber im dialektischen Umschlag auch gemildert. Die Analogie zur aristotelischen Katharsislehre ist unverkennbar: D e r traurige Gesang erregt Wilhelms Leidenschaften und beruhigt sie zugleich; die A f f e k t e verlieren ihre schneidende Schärfe und lösen sich schließlich auf/ 5 Wilhelm fühlt sich durch Gesang und Saitenspiel neu belebt. E r wendet sich an den Harfner und preist ihn glücklich: »Ich finde dich sehr glücklich, daß du dich in der Einsamkeit so angenehm beschäftigen und unterhalten kannst und, da du überall ein Fremdling bist, in deinem Herzen die angenehmste Bekanntschaft findest« ( H A 7 , 1 3 7 ) . Dieser Satz macht deutlich, in welchem Maße Wilhelm die wahre Situation des Harfners verkennt. E r geht davon aus, daß die seelische Belebung, die er selbst durch den Gesang empfunden hat, auch dem Harfner zuteil werden muß. Dieser aber hat sich bereits so sehr in die eigene Melancholie verstrickt, daß ihm das vorgetragene Lied lediglich zur vertiefenden Betrachtung der fortwährenden Seelenqual dient. Wilhelm deutet die Einsamkeit des Harfners als schöpferische Abgeschiedenheit und aktualisiert damit ein weiteres Mal das eigene Dichterideal. Das Lied, das der Harfner im folgenden anstimmt, schreibt der Einsamkeit indes die gegenteiligen Valenzen zu. Hier erscheint die Einsamkeit nicht als idyllisches Refugium, das der Einzelgänger aufsucht, um die Fülle des eigenen Herzens zu genießen; vielmehr erweist sie sich als peinigende und beängstigende Isolation, die das Subjekt aus allen Bindungen herauslöst und in die Abgründe einer qualvollen Melancholie 65
A l s aufschlußreich erweist sich in diesem Zusammenhang Goethes Brief an Zelter v o m 24. August 1823. Goethe berichtet darin, wie sehr er - noch unter dem Eindruck der aufzehrenden Liebe zu Ulrike von L e v e t z o w - durch die Konzerte der Sängerin A n n a Milder-Hauptmann und der Pianistin Maria S z y m a n o w s k a aufgewühlt und zugleich besänftigt worden sei ( F A 37, 88f.). Vgl. auch Goethes >Märchen< in den U n t e r haltungen deutscher Ausgewandertem ( H A 6, 229).
216
stürzt. Die Verzweiflung, die den Einsamen und Verlassenen überfällt, gleicht einem argwöhnischen Liebhaber, der um das Haus seiner Geliebten schleicht ( H A 7, 138). Die Gefahren der Einsamkeit werden im dichterischen Werk Goethes immer wieder thematisiert. Wie die Ausführungen zu >Werther< und >Tasso< bereits verdeutlicht haben, führt die Abgeschiedenheit unausweichlich in trübsinnige Isolation und melancholische Beziehungslosigkeit, auch wenn sie im Schaffensprozeß des Künstlers durchaus von großer Bedeutung ist. Die Einsamkeit gehört im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu den umstrittensten Phänomenen bürgerlicher Lebenskultur. Auf der einen Seite wird sie emphatisch gefeiert, da sie die notwendige Voraussetzung f ü r eine empfindsame Einkehr ins eigene Ich schafft, auf der anderen Seite jedoch wird sie entschieden verurteilt, da sie zu schwerer Hypochondrie und ruinöser Melancholie führt. Das Lied des Harfners thematisiert unübersehbar diesen zweiten Aspekt der Einsamkeit - es beklagt die zerstörerischen Auswirkungen der Abgeschiedenheit und beschreibt die Qualen des von aller Gesellschaft Gemiedenen. Wilhelm hingegen schreibt der Einsamkeit überwiegend positive Eigenschaften zu und vertritt damit jene Position, die vor allem von der Empfindsamkeit verfochten wird: solitudo musis amica.
7.2.
Schuldverstrickung und pathologische Wahnbildung
Im weiteren Handlungsverlauf fallen immer dunklere Schatten auf den H a r f ner; vor allem sein latenter Wahnsinn tritt nach und nach offen zutage. Bereits im Eingangskapitel des vierten Buches erklärt der Harfner gegenüber Wilhelm, daß er von einem unerbittlichen Fluch verfolgt werde und überall dort U n glück bringe, w o er f ü r längere Zeit verweile. Die Ursachen f ü r diese paranoide Vorstellung lassen sich zunächst nicht genau ergründen, es ist jedoch offensichtlich, daß der Harfner, wie Wilhelm vermutet, »durch Zufall oder Schikkung eine große Schuld auf sich geladen hat und nun die Erinnerung derselben immer mit sich fortschleppt« ( H A 7, 209). Erst die beiden letzten Bücher der >Lehrjahre< werden das Ursachengeflecht für das Verhalten des Harfners aufdecken, der als junger Mann einige Jahre im Kloster verbracht und während dieser Zeit ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Schwester angeknüpft hat. Das aus dieser Beziehung hervorgegangene Kind ist dem Harfner nie zu Gesicht gekommen, da sich unmittelbar nach Bekanntwerden der A f f ä r e seine geistlichen Vorgesetzten und leiblichen Brüder einschalteten. D e r Harfner bemühte sich anfangs, seine inzestuöse Beziehung unter Verweis auf entsprechende Verhältnisse in antiken Gesellschaften zu legitimieren, die unabwendbaren Schuldgefühle aber stürzten ihn schließlich in einen melancholischen Wahnsinn. Seit dieser weit zurückliegenden Zeit verfolgt den Harfner eine fixe Idee: »Sein größter Wahn ist«, erklärt der Medikus, »daß er überall Unglück bringe, und daß ihm
217
der Tod durch einen unschuldigen Knaben bevorstehe« (HA 7,437). Der Harfner lebt in der ständigen Angst vor einem Knaben, der des Nachts immer wieder mit einem blanken Dolch an sein Bett herantritt und Vergeltung für die vergangene >Blutschande< ankündigt. N u r durch ständige Flucht glaubt er diesem Knaben entkommen zu können, mit dem er wohl das eigene, widerrechtlich gezeugte Kind identifiziert. 66 Der Verfolgungswahn sowie die zwanghafte Fixierung auf jenes in der Vergangenheit liegende Unglück charakterisieren den Harfner als schwerkranken Melancholiker, dessen Symptome eine unverkennbare Affinität zu den ebenfalls abnormen Verhaltensweisen des wahnsinnigen Orest in Goethes >Iphigenie< verraten. Gerade die Obsessionen des Harfners verweisen auf das Schicksal Orests, der ebenfalls aufgrund eines unverarbeiteten Schuldkomplexes von Wahnideen verfolgt wird. Den fortwährenden Knabenhalluzinationen, die den Harfner quälen, korrespondieren bei Orest die Erinnyen, die als imaginierte Rachegöttinnen die Erinnerung an den Muttermord wachhalten.67 Als der Harfner im Eingangskapitel des vierten Buches die Theatertruppe verlassen will, greift Wilhelm das >Geniushilfreichen Schutzgeistmoral management
Rächeropfern< müsse, wenn er sich selbst am Leben erhalten wolle. In der unheilvollen nächtlichen Szene offenbart die Geisteskrankheit des Harfners ihr destruktives Potential. D e r Tötungsversuch, der erst im letzten Augenblick abgewendet werden kann, nötigt Wilhelm, das monomanische Leiden des Harfners nicht länger zu bagatellisieren und ernsthaft über Möglichkeiten einer effektiven Behandlung nachzudenken. In dieser prekären Situation erfährt er von Laertes, daß ein Landgeistlicher in der Stadt sei, der selbst »die heftigsten Anfälle von Melancholie« zu therapieren wisse ( H A 7, 335). Wilhelm beschließt daraufhin, den
68
Das Zitat folgt der vierten und letzten Entwurfsstufe, die zum >Woyzeck< überliefert ist. G e o r g Büchner: Werke und Briefe, hg. v. Karl Pörnbacher u.a., München 1988, S. 220. — Wenn hier die Untergangsvision des Harfners mit der Halluzination W o y zecks parallelisiert wird, so soll dies nicht über die D i f f e r e n z hinwegtäuschen, die trotz aller Seelenverwandtschaft zwischen beiden Gestalten bestehen bleibt: Die U n tergangsvision des Harfners wird durch die F o r m des Liedes und durch die Evokation des >Bildes< in eine ästhetische Distanz gerückt; die apokalyptische Imagination W o y zecks hingegen ist nicht vermittelt, sie bricht spontan hervor und läßt keinen R a u m f ü r eine Selbstreflexion im Medium der Kunst.
219
Harfner in die medizinische Obhut des Landgeistlichen zu geben, der sich mit Nachdruck zur Heilmethode des >moral management« bekennt.69 Nach eingehender Untersuchung ergreift der Landgeistliche eine Vielzahl konkreter Maßnahmen, die zur allmählichen Heilung des Harfners führen sollen. In einem Gespräch mit Wilhelm erklärt er: »Ich habe des alten Mannes Stunden eingeteilt, er unterrichtet einige Kinder auf der Harfe, er hilft im Garten arbeiten und ist schon viel heiterer. Er wünscht von dem Kohle zu genießen, den er pflanzt, und wünscht meinen Sohn, dem er die Harfe auf den Todesfall geschenkt hat, recht emsig zu unterrichten, damit sie der Knabe ja auch brauchen könne« (HA 7, 347). Der Landgeistliche konzentriert sich insbesondere auf zwei Behandlungsstrategien: Er gewöhnt den Harfner wieder an geordnete Tätigkeit, indem er ihm einen klar untergliederten Tagesablauf vorschreibt, und er reaktiviert seinen erloschenen Weltbezug, indem er ihm verschiedene Aufgaben erteilt. Neben dem Musikunterricht spielt dabei vor allem die Feldarbeit eine wichtige Rolle, da sie die tätige Aufmerksamkeit auf konkrete Gegenstände lenkt und überdies körperliche Anstrengung verlangt. 70 Unter der Leitung des Landgeistlichen lernt der Harfner wieder aktiv an den Ereignissen seiner unmittelbaren Umwelt teilzunehmen. Er übernimmt Verantwortung sowohl für sich selbst wie für andere und entdeckt einen neuen Sinn in seinem Tun. Angesichts dieser ersten Heilerfolge denkt der Landgeistliche über weitere Schritte nach, die den Genesungsprozeß des Harfners vorantreiben sollen. Eine besondere Bedeutung schreibt er hierbei dem äußeren Erscheinungsbild des Alten zu. Er will dem Harfner die Mönchstracht und den langen Bart abnehmen, da
69
7
Auf das >moral managements das seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue Epoche in der Behandlung melancholischer Krankheiten einleitete, wurde bereits im ersten Teil dieser Arbeit ausführlich eingegangen. Vgl. dazu Kap. II.9. Besonders aufschlußreich ist die Tatsache, daß in den >Lehrjahren< gerade ein Kleriker die Methode des >moral management propagiert. Im 18. Jahrhundert wurde die Betreuung und Behandlung von schwerkranken Melancholikern sehr häufig erfahrenen Geistlichen anvertraut. Auch Francis Willis, der bedeutendste englische Therapeut des 18. Jahrhunderts, war von Hause aus kein Arzt, sondern Kleriker. Das gleiche gilt für den elsässischen Pfarrer Johann Friedrich Oberlin, der sich im Januar und Februar 1778 des geisteskranken Jakob Michael Reinhold Lenz annahm.
° Daß auch Goethe der Feldarbeit eine bedeutende Funktion im Genesungsprozeß eines Melancholikers beimißt, geht vor allem aus dem Therapieplan für den Hypochonder Friedrich Victor Lebrecht Plessing hervor, den er während seiner Harzreise inkognito besucht. In der »Campagne in Frankreich berichtet Goethe rückblickend: »Da ich an mir und andern schon glücklich erprobt hatte, daß in solchem Fall eine rasche gläubige Wendung gegen die Natur und ihre grenzenlose Mannigfaltigkeit das beste Heilmittel sei, so wagt' ich alsobald den Versuch, es auch in diesem Falle anzuwenden«. Und so lautet der entscheidende Ratschlag: »Schon die allgemeinste Bekanntschaft mit der Natur, gleichviel von welcher Seite, ein tätiges Eingreifen, sei es als Gärtner oder Landbebauer, als Jäger oder Bergmann, ziehft] uns von uns selbst ab« (HA 1 0 , 3 3 1 ) .
220
durch beide Merkmale die Erinnerung an die frühere abgeschiedene Sonderexistenz wachgehalten wird. Die Kleidung, die das unheilvolle Vorleben in jedem Augenblick neu vergegenwärtigt, besitzt also einen entscheidenden Stellenwert f ü r den Erfolg der Therapie. Wie bereits Lila in Goethes gleichnamigem Singspiel ihre schwarze Trauerkleidung ablegen muß, bevor sie endgültig geheilt werden kann, so muß sich auch der Harfner von seiner Kutte und seinem Bart trennen, um von den psychischen Leiden vollends genesen zu können. Der Landgeistliche versäumt es nicht, seine anvisierten Therapiemaßnahmen mit einer einschränkenden Bemerkung zu verknüpfen, die seine Orientierung an den zentralen Grundsätzen des >moral management« noch einmal deutlich hervortreten läßt. Gegenüber Wilhelm betont er: »Ich gehe sachte zu Werke« ( H A 7, 347). Wie bereits D o k t o r Verazio im Singspiel >Lila< spricht auch der Landgeistliche die Überzeugung aus, daß Geduld, Vorsicht und Behutsamkeit auf Seiten des Therapeuten unerläßliche Voraussetzungen f ü r einen dauerhaften Heilerfolg darstellen. D e r Patient darf sich während seines Genesungsprozesses nicht überfordert fühlen. E r soll zwar ständig animiert und ermuntert werden, die aufeinander abgestimmten Maßnahmen müssen jedoch jederzeit mit seinem aktuellen Leistungsvermögen korrespondieren - andernfalls ist mit schweren Rückschlägen zu rechnen. 7 ' Die schonende Therapie des Landgeistlichen läßt den Harfner allmählich gesunden. E r macht zwar nur kleine, dafür aber stetige Fortschritte, wie der Medikus, der dem Geistlichen bei der Behandlung zur Seite steht, berichtet: »Es geht langsam vorwärts, [...] aber doch nicht zurück. Seine bestimmten Beschäftigungen treibt er fort, und wir haben ihn gewöhnt, die Zeitungen zu lesen, die er jetzt immer mit großer Begierde erwartet« ( H A 7, 438). Mit der regelmäßigen Zeitungslektüre tritt der Genesungsprozeß in ein neues Stadium ein. D e r Harfner interessiert sich nun auch für solche Nachrichten, die über seinen eingeschränkten Erfahrungshorizont hinausgehen, und öffnet sich f ü r das, was ihm über das Medium der Zeitung aus aller Welt zugetragen wird. Die Hinwendung zur äußeren Wirklichkeit erreicht damit eine neue Qualität, und die G e f a h r der weltlosen Introversion wird weiter zurückgedrängt. 7 2
7
' Die Notwendigkeit einer geduldigen und nur langsam fortschreitenden Heilbehandlung wird auch in Goethes N o v e l l e »Der Mann von f ü n f z i g Jahren< betont: Dort übernimmt ein verständiger Hausarzt die Betreuung des gemütskranken Flavio. E r bittet die besorgten Angehörigen um Geduld und achtet genau darauf, daß die verschiedenen Therapiemaßnahmen nicht überstürzt werden ( H A 8, 203-207). 71 Wenn der Harfner »mit großer Begierde« die Zeitungen erwartet, dann manifestiert sich in dieser Haltung unter anderem auch ein neu erwachtes Interesse an der vergehenden Zeit. V o r der Behandlung durch den Landgeistlichen hatte der Harfner in der fortwährenden Fixierung auf die eigene Seelenqual jedes Zeitbewußtsein verloren ( H A 7 , 437).
221
Im zehnten Kapitel des achten Buches tritt der Harfner zusammen mit dem Medikus vor die versammelten Mitglieder der Turmgesellschaft. Seine Mönchstracht hat er inzwischen abgelegt, und auch sein Seelenleben scheint sich normalisiert zu haben. Wie tiefgreifend die äußeren und inneren Veränderungen sein müssen, läßt sich daran ermessen, daß Wilhelm den Harfner zunächst gar nicht wiedererkennt. Selbst der Erzähler bezeichnet den Sänger anfangs als einen >Fremdenmoralischen< und >physischen< Therapiemaßnahmen viel zur Regeneration des Harfners beigetragen. Die vermeintliche Heilung ist indes nur durch einen seltsamen Vorfall herbeigeführt worden, der einen Schatten auf die Gesundung wirft. Der Harfner hat aus der Apotheke seines Arztes ein Opiumfläschchen gestohlen, das darin befindliche Gift jedoch nicht eingenommen, sondern lediglich bei sich verwahrt. Nach dem Sinn dieser Handlung befragt, erklärt er: »Die Möglichkeit, sogleich die großen Schmerzen auf ewig aufzuheben, gab mir Kraft, die Schmerzen zu ertragen, und so habe ich, seitdem ich den Talisman besitze, mich durch die Nähe des Todes wieder in das Leben zurückgedrängt« (HA 7, 597). Die Genesung des Harfners beruht auf der Option, dem eigenen Dasein jederzeit ein Ende setzen zu können. Damit steht die Rückkehr in die Normalität jedoch auf tönernen Füßen, sie ist nur eine Rückkehr unter Vorbehalt und auf Widerruf. Schon das nächste erschütternde Ereignis kann die Heilerfolge wieder zunichte machen. Der ungebrochene Optimismus des Harfners und seiner Therapeuten erweist sich als unbegründet und beruht letztlich auf einer Selbsttäuschung. Im weiteren Verlauf bewahrheitet sich, was Zedlers Universallexikon zu den dauerhaften Heilungschancen ehemaliger Melancholiker erklärt: »Sie behalten doch immer einige Überbleibsel von dem vorigen verwirreten Wesen, und es kan 222
auch, v e r m ö g e gewisser darzu stossender U m s t ä n d e , gar sehr leichte geschehen, daß sie v o n einem melancholischen Sturme v o m neuen überfallen, und eben in denjenigen Zustand, in welchem sie einmahl gesessen, wiederum gestiirtzet werden«. 7 3
7.4.
D i e Vorgeschichte des H a r f n e r s und ihre Spiegelfunktion f ü r Wilhelms E n t w i c k l u n g
D i e Mitglieder der Turmgesellschaft haben unmittelbar v o r der A n k u n f t des H a r f n e r s dessen tragisch überschattete Vorgeschichte vernommen. Vieles, was im Verlauf der H a n d l u n g dunkel blieb oder nur von ferne angedeutet w u r d e , erscheint nunmehr in einem helleren Licht. Wie aus dem biographischen A b r i ß hervorgeht, ist der H a r f n e r zusammen mit zwei älteren B r ü d e r n auf einem italienischen Landgut aufgewachsen. N a c h dem Wunsch seines Vaters sollte er in den Soldatenstand eintreten. E r fühlte sich jedoch schon früh zu einer anderen L e b e n s f o r m hingezogen - zur >vita contemplativa': » D e r Jüngste schien zu einer A r t v o n schwärmerischer R u h e geneigter, den Wissenschaften, der M u s i k und der Dichtkunst ergeben« ( H A 7,580). N a c h langen Auseinandersetzungen gab der Vater dem D r ä n g e n des Sohnes nach und erlaubte ihm, als M ö n c h einem O r d e n beizutreten. D i e ersten M o n a t e im Kloster bescherten dem H a r f n e r mystisch-ekstatische Grenzerfahrungen sowie den »Genuß einer heiligen Schwärmerei«; nach geraumer Zeit schlug die sublime H o c h s t i m m u n g jedoch in melancholische V e r z w e i f l u n g u m und ließ ihn »in einen A b g r u n d v o n O h n macht und leeres Elend versinken« ( H A 7, 581). D i e Gefahr, die v o n einem abgeschiedenen Klosterleben ausgeht, w u r d e im medizinischen, psychologischen und religionskritischen Schrifttum des späten 18. Jahrhunderts immer wieder thematisiert. Dabei bildeten insbesondere die als unnatürlich betrachtete Einsamkeit sowie die N e i g u n g zu
religiöser
Schwärmerei den Hauptgegenstand kritischer A n g r i f f e . Z u den profiliertesten A u t o r e n in der >Klosterdebatte< gehörte der v o n G o e t h e in >Dichtung und Wahrheit« porträtierte A r z t J o h a n n G e o r g Z i m m e r m a n n , dessen einflußreichste Arbeit in den J a h r e n 1784/85 unter dem Titel >Ueber die Einsamkeit« erschien ( H A 10, 6}iî.).
Z i m m e r m a n n betrachtet in seinem vierbändigen Werk
die Einsamkeit unter verschiedenen Gesichtspunkten, w o b e i sein besonderes A u g e n m e r k der monastischen Lebensweise gilt, die er scharf kritisiert. D e r landläufigen M e i n u n g , w o n a c h allein die Abgeschiedenheit des klösterlichen Lebens zu seliger Zwiesprache mit G o t t erhebe, begegnet er mit dem E i n w a n d , daß »schreckliche Langeweile und mannigfaltige Kränklichkeit der Seele [...] b e y M ö n c h e n und Einsiedlern eine unläugbare Wirkung der Einsamkeit«
7Î
Johann Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universallexikon, Bd. 36, S p . 4 7 1 . 22
3
seien.74 Neben Zimmermann analysieren im ausgehenden 18. Jahrhundert auch andere Autoren das Klosterleben unter aufklärerischen Gesichtspunkten. Verwiesen sei hier nur auf Christian Heinrich Spieß (>Biographien der Wahnsinnigens 1795/96) und Christian Friedrich Duttenhofer (>Geschichte der Religionsschwärmereien in der christlichen KircheDavid spielt Harfe vor Saul< (1629/30), Händeis großes >SaulSauls Gesang vor seiner letzten Schlacht« (1815). 7 9 Saul ist der Ahnherr aller Melancholiker und rückt immer dann ins Zentrum des künstlerischen Interesses, wenn es um die Darstellung von tiefer Trauer und tragischem Scheitern sowie um die reinigende und heilende Wirkung der Musik geht.80 Diesen kulturhistorischen Horizont nimmt Friedrich freilich nicht wahr, wenn er Wilhelms Glück mit Sauls unverhoffter Erhöhung durch Gott vergleicht. Seine kunstgeschichtlichen Einblicke sind ebenso rudimentär wie seine Bibelkenntnisse, die lediglich auf ein scherzhaftes Spiel mit Philine zurückgehen, bei dem jeweils ein Spielpartner dem anderen wahllos aufgeschlagene Textstellen vorlesen muß ( H A 7,5 5 8). Was aber mag Goethe intendiert haben, als er mit Friedrichs Hinweis auf Sauls vermeintliches Glück den Roman 77
78 79
8c
Christoph Martin Wieland: Werke, hg. v. Fritz Martini u. Hans Werner Seiffert, Bd. 1, München 1964, S.35. Hans-Jürgen Schings: Einführung (MA 5, 642). Zur Rezeption der Saul-Gestalt in der europäischen Kunst vgl. Martin Bocian: Lexikon der biblischen Personen, Stuttgart 1989, S. 468-470. Vgl. Werner Kümmel: Melancholie und die Macht der Musik. Die Krankheit König Sauls in der historischen Diskussion. In: Medizinhistorisches Journal 4 (1969), S. 189209.
228
ausklingen ließ? D a Goethe ein hervorragender Kenner des Alten Testaments war, wird man nicht davon ausgehen dürfen, daß er die Geschichte von Saul ebenso lückenhaft kannte wie Friedrich und lediglich an den intertextuellen Bezug zu Wielands >Don Sylvio< dachte, w o das tertium comparationis explizit ausgesprochen wird. Friederike Eigler und Günter Säße haben zurecht betont, daß durch das Bibelzitat ein dunkler Schatten auf das glückliche und heitere Romanende fällt. 8 ' Das Schlußbild der >Lehrjahre< erweist sich als ambivalent und doppelbödig: Auf den ersten Blick bestätigt es zwar jenes Glück, das Wilhelm f ü r sich reklamiert, als er von Natalies Eheabsichten hört; auf den zweiten Blick aber verweist es auf die bedrohliche Gewalt der Melancholie, die im Verlauf des R o mans zahlreiche O p f e r gefordert hat und auch Wilhelm immer wieder in gefährliche Situationen brachte. Möglicherweise hat Goethe im Schlußbild diese beiden Aspekte miteinander verbinden wollen, was insofern durchaus wahrscheinlich ist, als sich unter der Oberflächenhandlung des harmonischen R o manendes eine zweite, äußerst tragische Schlußvariante abzeichnet, die nur durch glückliche Zufälle und überraschende Wendungen in den Bereich der Potentialität zurückgedrängt wird. Daß Wilhelms Sohn Felix nicht von der vergifteten Mandelmilch des Harfners trinkt und dadurch sein Leben rettet, ist letztlich einem zufälligen Umstand zu verdanken. Daß sich Natalie mit Wilhelm verbindet, nachdem sie mehrfach ihre emotionale Distanz artikuliert hat, ist ebenfalls überraschend und in der vorausgehenden Handlung keineswegs überzeugend motiviert. Natalies unverhoffte Bereitschaft zur Ehe läßt sich auf Therese zurückführen, die in eine Verbindung mit Lothario nur unter der Bedingung einwilligt, daß Natalie Wilhelm heirate ( H A 7, 607). Plötzlich lesen sich die Worte ganz anders, die Friedrich bereits im siebten Kapitel des achten Buches an Natalie gerichtet hat: »Wenn von Liebe die Rede ist, solltest du dich gar nicht drein mischen. Ich glaube, du heiratest nicht eher, als bis einmal irgendwo eine Braut fehlt, und du gibst dich alsdann nach deiner gewohnten Gutherzigkeit auch als Supplement irgendeiner Existenz hin« ( H A 7, 565). 82 81
Friederike Eigler: W e r hat >Wilhelm Schüler< zum >Wilhelm Meisten gebildet? >Wilhelm Meisters Lehrjahre< und die Aussparungen einer hermeneutischen Verstehensund Bildungspraxis. In: G o e t h e - Y e a r b o o k 3 (1986), S. 9 3 - 1 1 9 , hier S. 1 1 3 . Günter Säße: Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre< im Spannungsfeld von Subjektivität und InterSubjektivität, S. 81.
82
Man hat sich seit Schillers harmonisierender Deutung daran gewöhnt, in Natalie die vollendete Frau zu sehen, die ihre Anlagen zu einer harmonischen Ganzheit entwikkelt hat und mit Wilhelm eine ideale Ehegemeinschaft eingehen kann. Zweifellos lassen sich Textstellen anführen, die eine solche Deutung nahelegen. Es gibt aber ebenso gewichtige Textstellen, die das Eheglück und die Liebe Natalies zu Wilhelm in Z w e i fel ziehen. So zeigt sich Natalie gegenüber Wilhelm lange Zeit sehr zurückhaltend und distanziert. Wilhelms nur leicht verhülltes Liebesgeständnis beantwortet sie mit dem Hinweis, daß ihr das, was man >Liebe< nenne, »immer nur als ein Märchen erschienen
22 9
Unmittelbar vor der glücklichen Schlußwendung gerät Wilhelm erneut in eine schwere Sinnkrise. In einem Gefühl existentieller Ohnmacht klagt er wie früher schon über die Sinnlosigkeit und Absurdität des menschlichen Lebens: »Wir sind elend und zum Elend bestimmt, und ist es nicht völlig einerlei, ob eigene Schuld, höherer Einfluß oder Zufall, Tugend oder Laster, Weisheit oder Wahnsinn uns ins Verderben stürzen?« (HA 7, 607). Wilhelm spricht diese Worte wohlgemerkt - unmittelbar vor dem Ende des Romans aus. 8 ' Wie so oft lockt Goethe die Interpreten auf eine falsche Fährte, wenn er gegenüber Eckermann betont, der Vergleich zwischen Wilhelm und Saul solle darauf hinweisen, »daß der Mensch trotz aller Dummheiten und Verwirrungen [...] doch zum glücklichen Ziele gelange« (HA 7, 620). Entgegen seiner eigenen Äußerung hat Goethe durch den Vergleich mit Saul einer eindimensionalen Interpretation des Schlusses vorgebaut. Das Bibelzitat ist keineswegs nur ein Sinnbild für das Glück, das Wilhelm nach vielen Irr- und Umwegen widerfährt; unterschwellig verweist es auch auf ein anderes Ende, das nicht ausgestaltet, aber doch zumindest als Möglichkeit angedeutet wird. Obwohl die Regie des Romans den Handlungsverlauf zu einem glücklichen Ende führt, obwohl sich Wilhelms Genesung trotz aller Rückschläge als dauerhaft erweist, wird der dunkle Hintergrund dennoch nicht vollends überblendet. Die Gefahr der Melancholie bleibt auch am Schluß des Romans im Vergleich mit Saul präsent. Wilhelm entgeht zwar dem Schicksal, das Aurelie, Mignon und den Harfner heimsucht. Doch auch seine Heilung im Kreis der Turmgesellschaft ist keine Selbstverständlichkeit - die Möglichkeit des Scheiterns wird bis zum Ende mitgedacht.
sei«. Und auf Wilhelms verwirrte Rückfrage, ob sie denn nie geliebt habe, antwortet sie ausweichend: »Nie oder immer!« (HA 7, 538). In diesem Zusammenhang lohnt auch ein Vorblick auf die > Wanderjahre«. Dort setzt sich nämlich fort, was bereits in den »Lehrjahren« angedeutet wird. Während Wilhelm immer wieder Briefe an Natalie sendet, in denen er - zumindest anfangs - seine Sehnsucht nach einem familiären Zusammenleben ausspricht, vernimmt man von Natalie kein einziges Wort. Erst am Ende der >Wanderjahre< hört man noch einmal von ihr - aber lediglich, daß sie mit ihrem Bruder Lothario und Therese bereits nach Amerika ausgewandert sei, ohne vorher noch einmal mit Wilhelm zusammenzutreffen. 85
Die letzten Kapitel der >Lehrjahre< sind vor allem in der jüngeren Forschung wiederholt einer kritischen Analyse unterzogen worden. Dabei zeigte sich, daß die Schlußpartie des Romans - ganz abgesehen vom Tod Mignons und des Harfners - keineswegs so harmonisch und zielgerichtet verläuft, wie das in früheren Interpretationen gerne unterstellt wurde. Vgl. hierzu Klaus Gerth: »Das Wechselspiel des Lebens«. Ein Versuch, >Wilhelm Meisters Lehrjahre« (wieder) einmal anders zu lesen. In: GoetheJahrbuch 1 1 3 (1996), S. 105-120. Erwin Seitz: Die Vernunft des Menschen und die Verführung durch das Leben. Eine Studie zu den >LehrjahrenWilhelm Meisters Lehrjahre« im Spannungsfeld von Subjektivität und InterSubjektivität, S. 69-89.
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VII. Trauma und Tod - Melancholie in den >Wahlverwandtschaften
Wahlverwandtschaften
Wahlverwandtschaften< führt den Leser in die weitläufige Gartenlandschaft ein, die Eduard und Charlotte von ihrem Landsitz aus kultivieren. Eduard, ein vermögender Aristokrat, ist auf eigenen Wunsch hin vorzeitig aus seinen öffentlichen Amtern ausgeschieden. Dem Hof mit seinen aufwendigen Repräsentationspflichten hat er den Rücken gekehrt, um gemeinsam mit Charlotte in einer Idylle jenseits aller gesellschaftspolitischen Umbrüche seinen privaten Liebhabereien nachgehen zu können. Während Lothario und dessen Anhänger in den >Lehrjahren< als Repräsentanten eines liberalen Reformadels den sozialen Ausgleich der Stände anstreben, vertritt Eduard in den Wahlverwandtschaften* eine restaurative und reaktionäre Adelsideologie, wie sie für weite Teile des deutschen Landadels um 1800 charakteristisch ist. Mit Nachdruck beharrt Eduard auf den Prärogativen seines Standes. »Ich mag mit Bürgern und Bauern nichts zu tun haben, wenn ich ihnen nicht geradezu befehlen kann«, erklärt er gegenüber dem Hauptmann, als dieser ihn für ein gemeinnütziges Projekt zu gewinnen versucht (HA 6, 286). 19 Eduard und Charlotte haben sich auf ihrem Landsitz eingerichtet, um ein spätes Eheglück ungestört genießen zu können. Charlotte hat sogar ihre Tochter Luciane sowie ihre Nichte Ottilie einem Mädchenpensionat übergeben, damit die abgeschiedene Zweisamkeit durch niemanden gestört wird. »Das alles geschah mit deiner Einstimmung«, bekräftigt Charlotte gegenüber Eduard, »bloß damit wir uns selbst leben« (HA 6, 246). >Sich selbst leben* - das ist eine im ersten Kapitel mehrfach wiederholte Wendung, die aufhorchen läßt, da sich in ihr die übermäßige Ich-Fixierung der beiden Ehegatten formelhaft verdichtet. Jeder Kontakt zur gesellschaftlichen Wirklichkeit jenseits des Landgutes wird abgebrochen, alle Verbindungen, die den beschränkten Horizont der unmittelbaren Nachbarschaft überschreiten, werden konsequent aufgegeben. Im Gespräch mit Eduard versichert Charlotte, daß die gemeinsam gefaßten Vor-
18
Vgl. Gonthier-Louis Fink: Goethes Wahlverwandtschaften*. Romanstruktur und Zeitaspekte. In: Ewald Rösch (Hg.): Goethes Roman >Die Wahlverwandtschaften*, Darmstadt 1975, S.438—483, hier S.444. Vgl. Hans Rudolf Vaget: Ein reicher Baron, S. 1 3 1 - 1 3 3 u. S. 148.
238
sätze »sich gewissermaßen nur auf unser beiderseitiges Zusammensein« beziehen ( H A 6, 24 7 ). 2 0 Völliger Rückzug aus gesellschaftlichen Verpflichtungen sowie übersteigerte Ich-Konzentration führen in Goethes Werken immer wieder zu melancholischen Gemütszuständen. Bereits Werther, der sich aus allen Verbindungen zurückzieht und in seinem narzißhaften Subjektivismus jeder gesellschaftlichen Verpflichtung ausweicht, gerät durch seine übersteigerte Ich-Fixierung in eine gefährliche Isolation, die seine melancholischen Stimmungen in hohem Maße verschärft. A u c h in den acht Büchern der >Lehrjahre< begegnen wiederholt G e stalten, die sich aus allen Bindungen lösen, um in einer nach außen hin abgeschlossenen Privatsphäre ausschließlich den eigenen Interessen nachzugehen. Vor allem die fragile Verfasserin der >Bekenntnisse< gibt ihre gesellschaftliche Position auf, um jene religiösen Schwärmereien ausleben zu können, die der A r z t des Oheims als ruinös kritisiert, da sie in eine verhängnisvolle Passivität führen. Eduard und Charlotte haben sich in die Privatsphäre ihres Landschlosses zurückgezogen, um in der Erinnerung die Vergangenheit wiederzubeleben. Bereits in jungen Jahren wollten sich die beiden miteinander verbinden, doch die ökonomischen Interessen ihrer Elternhäuser erzwangen eine Trennung. N u n , da ein spätes Ehebündnis doch noch möglich geworden ist, gedenken Eduard und Charlotte die über einen langen Zeitraum hinweg getrennten Lebenswege in der Erinnerung zu rekapitulieren. Die Erinnerung wird zum wesentlichen Bezugspunkt des frisch vermählten Ehepaars. A u s Eduards Reisetagebüchern, jenen »verworrenen Heften und Blättern«, soll ein lebensgeschichtliches K o n tinuum gestiftet werden. »Wir dachten es uns so bequem, so artig, so gemütlich und heimlich«, erklärt Charlotte, »die Welt, die wir zusammen nicht sehen sollten, in der Erinnerung zu durchreisen. Ja, der A n f a n g ist schon gemacht« ( H A 6, 247). Die eheliche Verbindung zwischen Eduard und Charlotte gründet sich auf kein lebhaftes und leidenschaftliches Liebesverhältnis, sondern lediglich auf ein vergangenes jugendliches Gefühl, das in der gemeinsamen Rückschau erneuert werden soll. Z u der bereits oben erwähnten Gefahr einer übermäßigen Ich-Fixierung gesellt sich somit die G e f a h r einer nostalgischen Konzentration auf weit zurückliegende Lebensabschnitte. D e r Gegenwartsbezug verflüchtigt sich unter der Präsenz des Vergangenen, und die Lebendigkeit der neuen Verbindung erliegt dem Gewicht bereits abgeschlossener Lebensepochen. Die Be10
Eine vergleichbare Rückzugstendenz läßt Graf Appiani in Lessings >Emilia Galotti< erkennen. A u c h er will sich dem H o f und dessen Repräsentationspflichten entziehen, um mit Emilia auf den eigenen Ländereien ein Leben in ruhiger Zweisamkeit fernab aller zeremoniellen Etikette zu führen. Emilias Vater O d o a r d o erklärt als entschiedener Gegner des Hoflebens voller Stolz über seinen künftigen Schwiegersohn: »Alles entzückt mich an ihm. U n d v o r allem der Entschluß, in seinen väterlichen Tälern sich selbst zu leben« (II, 4).
239
ziehung zwischen Eduard und Charlotte hat keine Gegenwart, da sie sich in der gemeinsamen Erinnerung an entschwundene Jahre erschöpft. Eine ausgesprochene Leblosigkeit kennzeichnet diese späte Ehe, die den zeitgemäßen Herausforderungen ausweicht, um in eine unwiederbringliche Vergangenheit zurückzutauchen (HA 6, 246). 11 Die rückwärtsgewandte und allen gesellschaftlichen Verpflichtungen enthobene Lebensweise zeitigt bereits in den ersten Kapiteln bedenkliche Folgen. Eine schleichende Melancholie legt sich über das Landschloß mit seinen ausgedehnten Parkanlagen und Gartenlandschaften. Die unterschiedlichen Tätigkeiten, mit denen Charlotte und Eduard das Ubermaß ihrer Freizeit auszufüllen versuchen, dienen immer weniger der kreativen Selbstverwirklichung und immer mehr der zwanghaften Abwehr von lähmender Langeweile. Die zunehmende Gehaltlosigkeit des rein privaten Landlebens soll überdeckt werden, wie der Hauptmann beiläufig anmerkt, als er mit Eduard die verschlungenen Gartenwege besichtigt, die Charlotte nach eigenen Plänen hat anlegen lassen. »Es ist ihr [...] mehr daran gelegen, daß sie etwas tue, als daß etwas getan werde«, erklärt er mit dem nüchternen Blick des erfahrenen Fachmanns, der Dilettantismus und Meisterschaft zu unterscheiden weiß (HA 6, 261). Die Aktivitäten Eduards und Charlottes sind allesamt durch ihre Nutzlosigkeit und durch ihre bedenkliche Stümperei charakterisiert. Sie sind keinem sinnvollen und klar definierten Ziel verpflichtet, sondern dienen lediglich dem flüchtigen und oberflächlichen Zeitvertreib. Dadurch aber büßen die mannigfaltigen Aktivitäten ihr therapeutisches Potential ein, das sie unter anderen Umständen durchaus entfalten könnten. Bei Ottilie und dem Hauptmann mobilisiert die Tätigkeit immer wieder antimelancholische Energien, da sie konsequent mit einer methodischen Lebensführung verknüpft wird. Bei Eduard und Charlotte erschöpft sich die Tätigkeit hingegen in nutzlosen Halbheiten und dilettantischem Stückwerk, so daß die latenten Heilkräfte nicht wirksam werden können. Bereits Achim von Arnim hat diesen Sachverhalt in einem Brief an seine spätere Gattin Bettina Brentano deutlich erkannt. Uber die Verschränkung von tatenloser Geschäftigkeit, trüber
21
Vgl. Ernst Loeb: Liebe und Ehe in Goethes »Wahlverwandtschaften^ In: Ewald Rösch (Hg.): Goethes Roman >Die Wahlverwandtschaften^ Darmstadt 1975, S.416-437, hier S. 427: »Nicht der Liebe, sondern der Liebe zur >Erinnerung< verdankt diese Ehe ihre Existenz, nicht dem Liebeserfahren einer erfüllten Gegenwart, sondern der bläßlichen Konservierung einer teils aus Trotz, teils aus wohlmeinender Entschlossenheit heraufbeschworenen Vergangenheit.« Vgl. in diesem Zusammenhang auch Eduards selbstkritische Einsicht nach seiner Rückkehr aus dem erfolgreichen Feldzug: »Wer in einem gewissen Alter frühere Jugendwünsche und Hoffnungen realisieren will, betriegt sich immer; denn j edes Jahrzehnt des Menschen hat sein eigenes Glück, seine eigenen Hoffnungen und Aussichten. Wehe dem Menschen, der vorwärts oder rückwärts zu greifen durch Umstände oder durch Wahn veranlaßt wird!« ( H A 6, 448).
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Langeweile und quälender Melancholie schreibt er am 5. N o v e m b e r 1809 ( H A 6, 660): Diese Langeweile des unbeschäftigten, unbetätigten Glückes, die Goethe in der ersten Hälfte des ersten Bandes so trefflich dargestellt, hat er mit vieler Beobachtung in das H a u s eines gebildeten Landedelmannes unserer Zeit einquartiert. Ich habe Manchen der A r t kennen gelernt, und Alle leiden an einer ganz eigentümlichen Hypochondrie. [...] O h n e eine mögliche Richtung ihrer Tätigkeit zur allgemeinen Verwaltung, kochen sie ihre häusliche Suppe meist so lange über, bis Nichts mehr im Topfe.
Auf einer vordergründigen Ebene inszeniert das Eingangskapitel ein spätes und abgeklärtes Eheglück. Zwischen den Zeilen aber zeichnen sich die künftigen Konflikte bereits in aller Schärfe ab. Eduard und Charlotte finden weder im Medium eines sterilen Vergangenheitsbezuges noch im gemeinschaftlichen Gartendilettantismus zueinander. Die forcierte Konzentration auf weit zurückliegende Zeiten, das jeder gesellschaftlichen Einbindung enthobene Landleben sowie der in quälende Langeweile umschlagende Müßiggang - all das bildet den melancholischen Hintergrund für den rigorosen Sinneswandel, der Eduard veranlaßt, die abgeschiedene Zweisamkeit aufzugeben und unter altruistischen Vorwänden den Hauptmann auf das Landschloß einzuladen. Charlotte hat an einer dem Schloß gegenüberliegenden Felswand eine Mooshütte errichten lassen, die eine großzügige Aussicht über die Parkanlagen und das angrenzende Waldtal ermöglicht. Eduard ist indes mit der Anlage der Mooshütte nicht zufrieden und erklärt gegenüber Charlotte: »Die Hütte scheint mir etwas zu eng« ( H A 6, 243). Mit dieser Bemerkung erfährt der Leser mehr über Eduards Innenleben als über die tatsächliche Größe des Gebäudes. Denn wie aus dem folgenden Wortwechsel hervorgeht, bietet die Hütte nicht nur ausreichend Platz f ü r die beiden Ehepartner, sondern kann darüber hinaus noch zwei weitere Gäste problemlos aufnehmen. Was veranlaßt also Eduard zu seinem kritischen Einwand? Es ist nicht die Enge des neu errichteten Gebäudes, die ihn bedrängt, sondern die Enge der zurückgezogenen Zweisamkeit, die sich von allen gesellschaftlichen Verpflichtungen suspendiert hat und in fortwährender Konzentration nur das eigene Beziehungsverhältnis fixiert. N o c h bevor das Eingangskapitel die Verbindung zwischen Eduard und Charlotte ausführlicher darstellt, markiert es mit dieser vermeintlich nebensächlichen Bemerkung die zentrale Eheproblematik. Eduard und Charlotte haben sich mit ihrer abgeschiedenen und allein der Erinnerung gewidmeten Lebensweise in eine Sackgasse manövriert. Sie haben sich bereits auseinandergelebt, noch bevor der Hauptmann und Ottilie auf dem Landschloß eintreffen. Man kann die Einladung an beide geradezu als Reaktion auf die ausweglose Ehesituation deuten, in der Langeweile, Sinnverlust und Melancholie das »endlich spät erlangte Glück« verdrängen ( H A 6, 246). Eine weitere Textpartie des Eingangskapitels ist in diesem Zusammenhang besonders aufschlußreich. Nachdem sich Eduard für eine Einladung des 241
Hauptmanns auf das Schloß ausgesprochen und Charlotte zunächst einige Einwände vorgetragen hat, stellt er die überraschende Frage: »Was ich im Garten leiste, du im Park, soll das nur für Einsiedler getan sein?« (HA 6, 247). Mit dieser Frage verrät Eduard seine neuen Gesinnungen und Absichten. Er verabschiedet sich von der starren Zweisamkeitsdoktrin, die Charlotte soeben noch einmal aufgerufen hat, und verlangt nach einem Gefährten, mit dessen Hilfe er die in zunehmendem Maße als bedrückend empfundene Isolation überwinden will. Um seinem Ansinnen den Schein eines uneigennützigen Freundschaftsdienstes zu verleihen, beruft sich Eduard auf einen Brief des Hauptmanns, in dem dieser seine prekäre Situation und unfreiwillige Tatenlosigkeit schildert. Im Brief des Hauptmanns herrscht laut Eduard »ein stiller Ausdruck des tiefsten Mißmutes«, der zu einer freundschaftlichen und selbstlosen Einladung auffordere (HA 6, 244). Es ist jedoch fraglich, ob Eduard auf seinem von aller Außenwelt abgeriegelten Landschloß dem Hauptmann wirklich das bieten kann, was dieser sucht. Der Hauptmann - und das weiß auch Eduard sehr genau - ist einem strengen Tätigkeitsethos verpflichtet. Nur wo er sich bedeutenden Aufgaben von gesellschaftlicher Tragweite stellen kann, fühlt er sich wohl. Auf dem Landschloß mit seinem trägen Müßiggang aber wird er schwerlich das finden, wonach er strebt. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang eine spätere Reflexion des Hauptmanns, die sich exakt auf das hier erörterte Problem bezieht: »Ernst erschien der Hauptmann; ihm war bei der Unterredung mit dem Grafen [...] nur zu fühlbar geworden, daß er eigentlich hier«, auf dem abseits gelegenen Landsitz, »seine Bestimmung nicht erfülle und im Grunde bloß in einem halbtätigen Müßiggang hinschlendere« (HA 6, 322). Wenn Eduard den Hauptmann auf sein Schloß einladen will, dann denkt er entgegen seinen Beteuerungen in erster Linie an sich selbst. Ihm geht es weniger darum, die Einsamkeit des Hauptmanns zu lindern. Es liegt ihm aber auch nicht viel an der Ausmessung seines Landgutes, die er mit Hilfe des sachkundigen Freundes durchführen will. Von der Ankunft seines ehemaligen Gefährten erhofft sich Eduard vor allem Beistand, um der einengenden Verbindung mit Charlotte zu entkommen und dem schleichenden Sinnverlust entgegenzuwirken. 22 Charlotte kritisiert Eduards Abrücken von den gemeinsam gefaßten Vorsätzen. Sie insistiert mit Nachdruck auf den Vorzügen der abgeschiedenen Zweisamkeit und erweckt damit den Eindruck, als leide sie nicht unter der Monotonie ihrer leblosen Ehe. Dem Drängen Eduards begegnet sie mit dem Hinweis, erst kurz zuvor alles für ihn und die gemeinsame neue Existenzweise aufgegeben zu haben: »Meine Einrichtung ist gemacht, dir in allem entgegenzukommen, nur für dich allein zu leben; laß uns wenigstens eine Zeitlang versuchen, inwiefern wir auf diese Weise miteinander ausreichen« (HA 6, 246). Obwohl Charlotte zahlreiche Argumente gegen die Einladung des Hauptmanns an22
Vgl. André François-Poncet: Goethes »Wahlverwandtschaften«, S. 50.
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führt, kann sie Eduard nicht von seinen Plänen abbringen. So kapituliert sie schließlich und willigt nach dem Auftritt des immer ruhelosen Mittler in das Vorhaben ein. Nachdem der Hauptmann auf dem Schloß eingetroffen ist und Eduards gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hat, fühlt sich Charlotte »täglich einsamer« ( H A 6, 263). A u c h bei ihr regt sich nun immer stärker der Wunsch, eine Bekannte einzuladen und mit deren Hilfe die zunehmende Langeweile zu bezwingen. N a c h einem erneuten Brief aus dem Mädchenpensionat, der wiederum auf Ottilies allzu geringe Fortschritte hinweist, beschließt Charlotte, die Nichte ebenfalls auf den Landsitz zu bitten. Gegenüber Eduard betont sie, daß sich Ottilie mit ihrer zarten Konstitution unter den im Pensionat herrschenden Lebensbedingungen nicht entfalten könne und darum auf das Schloß kommen müsse. Diese Einschätzung ist zweifellos richtig. Verwunderlich ist jedoch, daß Charlotte, die ihre Nichte erst kurz zuvor in die Pension abschob, um sich ausschließlich dem Gatten widmen zu können, plötzlich ein ausgeprägtes Verantwortungsbewußtsein an den Tag legt und Ottilie lieber den eigenen als fremden Erziehungskünsten anvertrauen will. Gründet sich also auch ihr Altruismus in erster Linie auf den Wunsch, einen Weg aus der allgemeinen Beziehungskrise zu finden und die Tatenlosigkeit zu überwinden? A u f schluß gibt hier das sechste Kapitel, w o es nach Ottilies A n k u n f t auf dem Landschloß über Charlotte heißt: »Ottilie ward ihr eine liebe Gesellschafterin, und sie hoffte, dereinst an ihr eine zuverlässige Freundin zu finden« ( H A 6, 282).
3.
Melancholieprophylaxe durch Tätigkeit und Selbstdisziplinierung - der Hauptmann
Goethe reflektiert in seinen Dichtungen immer wieder die Bedingungen und Voraussetzungen einer effektiven Melancholieabwehr. Bereits Werther thematisiert in seinen Briefen verschiedene antimelancholische Heilmittel, deren Auswirkungen er beschreibt und kritisch beurteilt. Die umfangreichste und zweifellos auch detaillierteste Beschäftigung mit antimelancholischen Therapeutika findet sich in den letzten vier Büchern der >Lehrjahre Wahlverwandtschaften vor allem durch den tatkräftigen Hauptmann propagiert. Dieser erscheint im Eingangskapitel zwar zunächst selbst als ein von der Melancholie bedrohter Charakter, im weiteren Handlungsverlauf aber verrät er ein erstaunliches psychotherapeutisches Geschick, mit dessen Hilfe er nicht nur seiner eigenen Verstimmung, sondern zumindest vorübergehend auch derjenigen seiner Gastgeber zu begegnen weiß. Bevor der Hauptmann im dritten Kapitel auf dem abgeschiedenen Landsitz eintrifft, wird er zunächst mittels eines Gespräches zwischen Eduard und Charlotte indirekt eingeführt. Er erscheint dabei als hochgebildeter und zugleich bescheidener Aristokrat, der sich auf vielen Feldern besondere Fertigkeiten erworben hat und diese stets zum Wohl der Allgemeinheit einsetzen möchte. Was den Hauptmann am Beginn des Romans zu bedrücken scheint und zum bereits erwähnten Brief an Eduard veranlaßt, ist seine quälende und paralysierende Tatenlosigkeit, deren sozialer Hintergrund nicht weiter erläutert wird. »Wie schmerzlich«, erklärt Eduard, »muß es einem Manne von seinen Kenntnissen, seinen Talenten und Fertigkeiten sein, sich außer Tätigkeit zu sehen« (HA 6, 243^). Der Hauptmann glaubt seiner individuellen Bestimmung nur dann gerecht zu werden, wenn er sich für andere Personen einsetzen und Aufgaben von gesellschaftlicher Relevanz übernehmen kann. So bemerkt Eduard: »Das Vielfache, was er an sich ausgebildet hat, zu andrer Nutzen täglich und stündlich zu gebrauchen, ist ganz allein sein Vergnügen, ja seine Leidenschaft« (HA 6, 244). Die qualvolle Passivität des Hauptmanns bietet Eduard einen idealen Vorwand für seinen geheimen Wunsch, einen ehemaligen Gefährten für längere Zeit auf das Landschloß einzuladen und dadurch aus der schwelenden Ehekrise auszubrechen. Gegenüber Charlotte hebt Eduard wiederholt die »traurige Lage« des Hauptmanns hervor (HA 6, 243), die einen sofortigen und uneigennützigen Freundschaftsdienst verlange; insgeheim jedoch dient ihm die prekäre Situation des Hauptmanns als willkommene Gelegenheit, hinter der sich die eigenen Interessen geschickt verbergen lassen. Möglicherweise dramatisiert Eduard sogar die gedrückte Gemütslage des Freundes, um seinem Vorhaben dadurch mehr Nachdruck zu verleihen. Als der Hauptmann nämlich zu Beginn des dritten Kapitels auf dem Schloß eintrifft, scheint sein psychischer Zustand 23
Vgl. hierzu Kap. VI. 5. Es ist allerdings zu konstatieren, daß den programmatischen Parolen, die von den Mitgliedern der Turmgesellschaft ausgegeben werden, nicht immer auch wirklich Taten folgen.
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gar nicht so desolat zu sein, wie man nach Eduards Ausführungen befürchten mußte. Der Erzähler konstatiert: »Der Hauptmann kam. E r hatte einen sehr verständigen Brief vorausgeschickt, der Charlotten völlig beruhigte. Soviel Deutlichkeit über sich selbst, soviel Klarheit über seinen eigenen Zustand, über den Zustand seiner Freunde gab eine heitere und fröhliche Aussicht« ( H A 6, 258). Wie aus dem letzten Zitat hervorgeht, besitzt der Hauptmann die Fähigkeit zur distanzierten und nüchternen Selbstanalyse. E r weiß um die Ursachen seiner Verstimmung und vermag sich entsprechend zu verhalten. Schon die Art und Weise, wie er sein neues Quartier in einem Seitenflügel des Schlosses einrichtet, läßt auf einen dynamischen und tatkräftigen Charakter schließen, der seine psychische Stabilität allenfalls kurzfristig verloren und nach einer Phase der nüchternen Selbstbesinnung die alte Souveränität zurückgewonnen hat ( H A 6, 260). Ein auf den ersten Blick nebensächliches Detail ist in diesem Z u sammenhang besonders aufschlußreich, da es nicht nur die antimelancholische Selbstdisziplin des Hauptmanns sinnfällig vor Augen führt, sondern auch die große Distanz markiert, die zwischen ihm und den melancholischen Charakteren bestehen, die das Werk Goethes in reicher Zahl bevölkern. Der Hauptmann ist ein passionierter Frühaufsteher, wie der Erzähler an mehreren Stellen des Romans deutlich hervorhebt. E r nutzt gerade die frühen Morgenstunden mit besonderer Vorliebe, um in dieser Zeit all jene Arbeiten zu erledigen, für die er während des Tages nicht die notwendige Ruhe findet. N o c h bevor die Gastgeber seine Gegenwart und Aufmerksamkeit beanspruchen, widmet er sich den topographischen Karten, auf denen er das vermessene Landgut Eduards einträgt: »Die Abende und frühsten Morgen brachte er mit Aufzeichnen und Schraffieren zu« ( H A 6, 261). Melancholiker wie Werther, Aurelie und der Harfner empfinden die frühen Morgenstunden als besonders lähmend und peinigend, da sich für sie im Tagesanbruch der Beginn einer immer neuen Leidensphase konkretisiert. Der Hauptmann hingegen schätzt die ersten Stunden des Tages und nutzt sie zu konzentrierter Arbeit. A m A n f a n g des vierten Kapitels bemerkt der Erzähler über den Hauptmann: »Weniger Schlaf als dieser tätige Mann bedurfte kaum jemand, so wie sein Tag stets dem augenblicklichen Z w e c k e gewidmet und deswegen jederzeit am Abende etwas getan war« ( H A 6, 266). Der Hauptmann bringt mit seinem Tätigkeitsethos neue Bewegung in die träge und lethargische Atmosphäre des Landschlosses. 24 Schon bald nach seiner A n k u n f t entwickelt er f ü r seine beiden Gastgeber ein regelrechtes Therapieverfahren, das aus der prekären Ehesitua-
24
Vgl. André François-Poncet: »Es genügt die A n k u n f t dieses Organisators, dieses unvergleichlichen Verwaltungsgenies, um das Schloß aus dem Dämmerschlaf zu reißen, in den es zu versinken drohte«. A . François-Poncet: Goethes Wahlverwandtschaften«, S. 62.
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tion herausführen und die melancholische Stimmung vertreiben soll. Zunächst geht der Hauptmann gegen Eduards Unfähigkeit vor, das eigene Leben einer klaren Ordnung zu unterstellen. E r widmet sich dessen wahllos zusammengewürfelten und völlig konfusen Aufzeichnungen, um sie nach einem einfachen und übersichtlichen Schema neu zu gruppieren: »Sie errichteten auf dem Flügel des Hauptmanns eine Repositur für das Gegenwärtige, ein Archiv für das Vergangene, schafften alle Dokumente, Papiere, Nachrichten aus verschiedenen Behältnissen, Kammern, Schränken und Kisten herbei, und auf das geschwindeste war der Wust in eine erfreuliche Ordnung gebracht, lag rubriziert in bezeichneten Fächern« (HA 6, 267). Der Hauptmann beschäftigt sich nicht nur mit Eduards unübersichtlichen Aufzeichnungen, sondern ebenso mit dessen ungeregeltem Tagesablauf, den er neu zu strukturieren versucht. Besonderes Gewicht legt er dabei auf die strenge Unterscheidung zwischen konzentrierter Beschäftigung und leichter Zerstreuung. Eduard gegenüber erklärt er: »Trenne alles, was eigentlich Geschäft ist, vom Leben! Das Geschäft verlangt Ernst und Strenge, das Leben Willkür; das Geschäft die reinste Folge, dem Leben tut eine Inkonsequenz oft not, ja sie ist liebenswürdig und erheiternd« (HA 6, 266). Wie bereits der fachkundige Landgeistliche in den >LehrjahrenSelbsttätigkeit Wahlverwandtschaften werden Ottilie und Charlotte von einem englischen Lord aufgesucht, der sich für den kunstvoll angelegten Landschaftsgarten interessiert und gemeinsam mit seinem Begleiter die reizvollsten Aussichtspunkte erkunden möchte. Den beiden Frauen sind die weitgereisten Gäste sehr willkommen, da der Landsitz nach dem Abschied des Hauptmanns und nach der fluchtartigen Abreise Eduards weitgehend vereinsamt ist. Die wiederholten Zusammenkünfte führen indes nicht zu der unbeschwerten Geselligkeit, die man sich versprochen hat. Durch unglückliche Zufälle berühren der Lord und sein Begleiter mit ihren zahlreichen Erzählungen immer wieder die prekären Verhältnisse der vier Protagonisten. Die Novelle von den »Wunderlichen Nachbarskindern« steht in einem engen Zusammenhang mit dem Schicksal des Hauptmanns, wie aus den Bemerkungen des Erzählers und den Reaktionen Charlottes im Anschluß an die erzählte Begebenheit hervorgeht (HA 6,442). Was aber beunruhigt Charlotte so sehr, da doch die Geschichte mit einer überaus glücklichen Wendung endet, die den mutigen Helden mit seiner Geliebten zusammenführt, nachdem er sie aus den reißenden Fluten eines Flusses gerettet hat? Einige über den Roman verstreute Bemerkungen legen die Vermutung nahe, daß die Geschehnisse in der Novelle von den »Wunderlichen Nachbarskindern« mit den Jugenderlebnissen des Hauptmanns übereinstimmen, im Hinblick auf das glückliche Ende der Geschichte jedoch eklatant von diesen abweichen. Die weitgehende Kongruenz der geschilderten Ereignisse bestätigt die Reaktion Charlottes, die nach dem Ende der Novelle »höchst bewegt« das Zimmer verläßt: »Die Geschichte war ihr bekannt. Diese Begebenheit hatte sich mit dem Hauptmann und einer Nachbarin wirklich zugetragen, zwar nicht ganz wie sie der Engländer erzählte, doch war sie in den Hauptzügen nicht entstellt« (HA 6, 442). Der Hauptmann stand also in jungen Jahren ebenfalls mit einer Frau in Beziehung, die ihn zunächst mit feindseligen Attacken bedrängte, dann aber nach mehrjähriger Trennung leidenschaftlich begehrte und zuletzt, da der Geliebte nichts für sie zu empfinden schien, einen Selbstmordversuch unternahm. Die tragische Differenz zwischen der Geschichte des Engländers 248
und den Jugenderlebnissen des Hauptmanns liegt nun darin, daß der Rettungsversuch, der in der Novelle von den »Wunderlichen Nachbarskindern« mit einem glücklichen Ausgang endet, dem Hauptmann seinerzeit nicht gelang. Belegt wird dies durch eine gedankenlose Äußerung Eduards im Zusammenhang mit jenen Vorkehrungen, die der Hauptmann unmittelbar nach seiner Ankunft auf dem Landschloß »zur Rettung der Ertrunkenen« trifft: »Eduarden entschlüpfte die Bemerkung, daß ein solcher Fall in dem Leben seines Freundes auf die seltsamste Weise Epoche gemacht. Doch als dieser schwieg und einer traurigen Erinnerung auszuweichen schien, hielt Eduard gleichfalls an« ( H A 6, 268). Was am Ende der Novelle als utopisches Glück aufscheint, steht in einem scharfen Kontrast zur Katastrophe des Hauptmanns, der die unglücklich liebende Nachbarin, die sich seinetwegen in die Fluten stürzte, seinerzeit nicht retten konnte. Seit jenem einschneidenden Erlebnis leidet der Hauptmann unter einem schweren Trauma, dem er fortwährend »auszuweichen« versucht. Er blendet die Ereignisse der Vergangenheit ab und unterdrückt jede Erinnerung an den fehlgeschlagenen Rettungsversuch. Doch auch wenn der Schock totgeschwiegen wird, lassen sich seine Fernwirkungen diagnostizieren, da sie das Verhalten des Hauptmanns bis in die Gegenwart hinein bestimmen. Allem Anschein nach hat der Hauptmann nie geheiratet oder eine Liebesbeziehung unterhalten, sondern stets in strenger Askese seine Fähigkeiten der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Das Leben mit seinen zahlreichen Unwägbarkeiten unterwarf er einer vernunftgemäßen und vorausplanenden Ordnung, die emotionale Gefahrenpotentiale frühzeitig durch systematische Rationalisierung entschärfte. Vor dem prägenden Hintergrund der einstigen Katastrophe fällt nunmehr auch ein anderes Licht auf die strikte Selbstdisziplinierung und das entschieden antimelancholische Tätigkeitsethos des Hauptmanns. Es erwächst wie so oft bei Goethe - aus einem traumatisierenden Erlebnis im zwischenmenschlichen Erfahrungsbereich. 2 ' Die psychische Konstitution des Hauptmanns verrät einige signifikante Analogien zur seelischen Verfassung von Lenardo und Odoard aus den >Wanderjahrennußbraunen Mädchen«, die ihn nach der Rückkehr von seiner dreijährigen Reise wieder ein26
Hier konkretisiert sich eine Identitätskonzeption, die nicht auf Entwicklung und Erinnerung basiert. D i e traumatisch besetzte Vergangenheit wird nicht in den L e b e n s z u s a m m e n h a n g integriert, sondern mit aller Entschiedenheit von der G e g e n w a r t abgespalten. D i e dem Augenblick verpflichtete Tätigkeit substituiert als identitätsstiftendes M o m e n t die Erinnerung an zurückliegende Lebensepochen. D i e Eliminierung der Vergangenheit durch Fixierung auf G e g e n w a r t und Z u k u n f t gelingt freilich nur auf einer vordergründigen Bewußtseinsebene. 2
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holt; bei Odoard ist es die Entfremdung von seiner treulosen Gattin sowie das Aufbrechen einer alten Leidenschaft für die ehemals geliebte Prinzessin. Lenardo und Odoard überwinden ihre traumatischen Erfahrungen, indem sie sich einer rational gesteuerten und von persönlichen Emotionen befreiten Tätigkeit an der Spitze eines ökonomischen und arbeitsteilig organisierten Kollektivverbands widmen. Das praktische Engagement zum Wohle anderer ist eine Tätigkeit ganz im Sinne des Hauptmanns, von dem es ja bereits zu Beginn der Wahlverwandtschaften heißt: »Das Vielfache, was er an sich ausgebildet hat, zu andrer Nutzen täglich und stündlich zu gebrauchen, ist ganz allein sein Vergnügen, ja seine Leidenschaft« (HA 6, 244). Der Hauptmann läßt sich mit einigem Recht an die Seite von Lenardo und Odoard stellen, die am Ende der >Wanderjahre< ihre persönlichen Konflikte abgebaut haben und den Bund der Auswanderer sowie die Gruppe der Binnenkolonisatoren in eine rationalisierte Arbeitswelt einführen. 27 Der Hauptmann führt ein weitgehend melancholiefreies Leben, da er sich einer methodischen Lebensführung verschreibt und Leidenschaften nur bis zu einem gewissen Grade zuläßt. Er steht damit in einer denkbar scharfen Opposition zu Eduard, der sich in seiner hemmungslosen Egozentrik keiner Ordnung zu unterstellen vermag und von unkontrollierten Affekten beherrscht wird. Während Eduard blind und instinktiv seinem Begehren folgt, entsagt der Hauptmann seiner Leidenschaft. Er orientiert sich am Sittenkodex seiner Zeit und respektiert das eheliche Band zwischen Eduard und Charlotte. Entscheidend für den Verzicht sind indes nicht nur moralische Grundsätze, sondern vor allem auch die im jugendlichen Trauma gründenden Ängste vor emotionalen Erschütterungen, die das vernunftzentrierte Handeln unterlaufen und die latente Gefahr melancholischer Verdunklung heraufbeschwören. Der Hauptmann bekennt sich zu einer weitgehend affektfreien und von der Ratio dominierten Lebensweise. Auch er wird zwar für kurze Zeit in den Strudel der >Wahlverwandtschaft< hineingerissen, auch bei ihm ziehen sich kurzfristig die Spuren einer trüben Leidenschaft durch das »Reich der heitern Vernunftfreiheit«.28 Doch da er über effiziente Abwehrmechanismen verfügt, kann er die
27
Goethe konzipierte die > Wahlverwandtschaften ursprünglich als Novelleneinlage für die weitaus umfangreicheren > Wanderjahre*. So liegt es nahe, das entsagungsvolle Tätigkeitsethos des Hauptmanns mit dem sozialen Engagement Lenardos und Odoards zu analogisieren. Auffällig ist auch, daß der Roman den persönlichen Namen des Hauptmanns fast vollständig ausspart. Lediglich im dritten Kapitel des ersten Teils erfährt der Leser, daß der auf das Landgut eingeladene Gast den Vornamen Otto trägt (HA 6, 258). Das Aussparen des individuellen Namens ist ein weiteres Indiz dafür, daß der Hauptmann, der schließlich zum Major avanciert, ganz in seiner sozialen Funktion aufgeht, um alle persönlichen Konflikte abblenden zu können.
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Goethe erklärt in einer Selbstanzeige zu seinem Roman, daß »auch durch das Reich der heitern Vernunftfreiheit die Spuren trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit sich
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Beziehung zu Charlotte zügig auf eine gefahrlose Normaltemperatur abkühlen lassen. E r zieht schließlich an einen fremden H o f , w o er einen einflußreichen Posten übernimmt und aus finanziellen Interessen sogar eine vermögende A d lige heiraten will ( H A 6,340). Gewiß: D e r Hauptmann kommt schließlich noch einmal auf das Schloß zurück, da Eduard immer heftiger auf eine Scheidung drängt und seinen ehemaligen Gefährten um eine Vermittlung bittet. E r hält nun auch um Charlottes Hand an, da sich die anvisierte Finanzehe zerschlagen hat und Charlotte durch die Scheidung von Eduard wieder frei wird. Die Fernwirkungen des Jugendtraumas bleiben gleichwohl sichtbar - sie bestimmen das Handeln des Hauptmanns bis zum Ende des Romans.
4.
Versäumtes Leben, verdrängter Tod Charlotte als Melancholikerin
Auf den ersten Blick entspricht Charlotte jenem ausgeglichenen und wohltemperierten Frauentypus, der das umfangreiche Werk Goethes über weite Strekken prägt. Bereits in den ersten Kapiteln des Romans sticht ihre ruhige und besonnene Haltung deutlich von dem unsteten und sprunghaften Charakter ihres Mannes ab. Charlotte scheint ihrem Wesen nach manche Gemeinsamkeiten mit Therese und Natalie aus den >Lehrjahren< zu besitzen. Wie diese liebt sie die Ordnung und Reinlichkeit des Hauswesens; sie strebt ein Gleichmaß der Stimmungen an und meidet jedes leidenschaftliche Extrem. Ihre Äußerungen zeugen eher von sittenstrenger Gefühlsdisziplin als von sinnenfroher Erotik und unbekümmertem Lebensgenuß. Trotzdem ist Charlotte keine gefühlsarme oder ungesellige Gemahlin, die ihrem impulsiven und leicht erregbaren Ehemann jede Freude verdirbt. Sie ist geistig rege und in der Kunst der ungezwungenen Konversation äußerst versiert. Souverän beherrscht sie die verschiedenen Register adeliger Geselligkeitskultur. Charlotte scheint mit vielen Eigenschaften ausgestattet zu sein, die sie gegen die verschiedenen Formen der Melancholie immunisieren. D o c h dieser Eindruck täuscht, denn die vermeintliche Seelenruhe bildet nur eine Fassade, hinter der sich traumatische Erfahrungen und schwere seelische Erschütterungen verbergen. Charlottes Biographie - und das hat die bisherige Forschung zu selten herausgestellt - ist von unfreiwilligem Verzicht und zermürbender Melancholie gekennzeichnet. In ihrer ersten Ehe hat Charlotte als noch junge Frau das »Opfer der besten Jahre« bringen müssen ( H A 6, 3 1 1 ) , und in ihrer späten Verbindung mit Eduard sucht sie ebenfalls vergeblich nach dem so lang ersehnten Lebensglück. Eine H y p o t h e k lastet auf ihrer Existenz, der sie unter andeunaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine höhere H a n d und vielleicht auch nicht in diesem Leben völlig auszulöschen sind« ( H A 6, 639).
251
rem - ähnlich wie der Hauptmann - durch strenge Selbstdisziplinierung zu begegnen versucht. Entscheidend für Charlottes Charakter sind jedoch weniger die verschiedenen Methoden der Selbstbeherrschung als ihre vielfältigen Verdrängungsstrategien, die im Verlauf des Romans nach und nach sichtbar werden. Ihre Hauptfunktion besteht darin, die Tiefenschichten eines melancholischen Bewußtseins zu verschütten.
4.1.
Das Trauma der ersten Ehe
Eduard und Charlotte bildeten als junges Paar den glanzvollen Mittelpunkt einer höfischen Adelsgesellschaft. Bei öffentlichen Festen wurden sie bewundert und gefeiert, umjubelt und beneidet. Ihnen allein galt die besondere Aufmerksamkeit der anwesenden Gäste, wie der Graf - nostalgisch zurückblickend - gegenüber Charlotte betont: »Wenn ich mir die Jahre zurückerinnere, da Sie und Eduard das schönste Paar bei Hof waren; weder von so glänzenden Zeiten noch von so hervorleuchtenden Gestalten ist jetzt die Rede mehr. Wenn Sie beide zusammen tanzten, aller Augen waren auf Sie gerichtet, und wie umworben beide, indem Sie sich nur ineinander bespiegelten« (HA 6, 311). Obwohl Eduard und Charlotte damals als »schönstes Hofpaar« (HA 6, 290), ja sogar als »wahrhaft prädestiniertes Paar« (HA 6, 312) geschätzt wurden, sollte es zu keiner ehelichen Verbindung kommen. Das Haupthindernis lag in der ökonomisch ungünstigen Ausgangsposition Charlottes, die, da sie aus einem niederen Adelsgeschlecht stammte, keine Aussicht auf ein reiches Erbe hatte. Eduards Vater intervenierte »aus nie zu sättigender Begierde des Besitzes« (HA 6, 246) und verheiratete seinen Sohn an eine wesentlich ältere und sehr viel vermögendere Frau. Charlotte mußte daraufhin - »ohne sonderliche Aussichten« - in die Verbindung mit einem Aristokraten einwilligen, den sie zwar ehren, keinesfalls aber lieben konnte (HA 6, 246). Die erste Ehe diente Charlotte ausschließlich als Mittel der sozialen Absicherung und wirtschaftlichen Konsolidierung. Die ausschlaggebenden Beweggründe beruhten allein auf ökonomischen Sekuritätsinteressen, so daß Fragen eines gegenseitigen Liebesverhältnisses eine völlig untergeordnete Rolle spielten.29 Auch wenn die rein wirtschaftlich motivierte Eheschließung um die Wende zum 19. Jahrhundert durchaus typisch ist für die Kreise des niederen und von ökonomischem Abstieg bedrohten Landadels, so rechnet sie der Graf dennoch unmißverständlich zu jenen »Heiraten von der verhaßten Art« (HA 6, 313). Und tatsächlich: Die nach der Trennung von Eduard allein aus finanziellem Kalkül geschlossene Ehe hat Charlotte in hohem Maße traumatisiert. Die seelischen Verwundungen, die aus dieser Verbindung zurückgeblieben sind, treten
29
Vgl. Hans Rudolf Vaget: Ein reicher Baron, S. I33Í.
252
im ersten Teil des Romans immer wieder deutlich hervor, auch wenn Charlotte über die Erfahrungen ihrer ersten Ehejahre weitgehend schweigt. Charlotte fühlt sich um die besten Jahre ihres Lebens betrogen und hofft nun, in der Ehe mit Eduard das Versäumte nachholen zu können ( H A 6, 313). Sie träumt sich in die »frühsten Verhältnisse« zurück, als sie zusammen mit ihrem Jugendfreund das galanteste Paar am H o f e bildete ( H A 6, 246). Zugleich widmet sie sich all jenen Reisen, die Eduard in den Jahren der Trennung ohne ihre Begleitung unternommen hat ( H A 6, 247). Charlotte will die Frustrationen der ersten Ehe aus ihrem Gedächtnis tilgen und die dunklen Jahre an der Seite des ungeliebten Aristokraten auslöschen. Geradezu zwanghaft versucht sie jene Melancholie zu vertreiben, die sich im Laufe ihrer monotonen und unerfüllten Zweckehe über sie gelegt hat. Ihre >Arbeit an der Vergangenheit ist somit von zahlreichen Verdrängungs- und Kompensationsmechanismen bestimmt - all das, was sie nur f ü r kurze Zeit genießen und später dann f ü r viele Jahre entbehren mußte, soll zumindest in der Imagination noch einmal auferstehen: »Wir wollen versuchen«, erklärt sie dem Grafen mit Blick auf Eduard, »wieder einzubringen, was wir versäumt haben« ( H A 6, 3 1 3 ) . Charlotte bemüht sich, die verlorene Vergangenheit nachzuholen. Damit aber verspielt sie die Möglichkeit, aus ihrer späten Verbindung die so lang ersehnte und allein dem Augenblick verpflichtete Lebensfreude zu schöpfen. Das zweite Ehebündnis steht von Anfang an unter der Last des Gewesenen und entbehrt dadurch aller Impulse f ü r die Gestaltung einer lebendigen Gegenwart. Die quälende Schwermut, die Charlotte mit aller Gewalt vertreiben will, stellt sich unvermittelt wieder ein. Das »spät erlangte Glück« erweist sich als trügerisch, es läßt sich aufgrund der übermächtigen Vergangenheit keineswegs, wie Charlotte anfangs hofft, »ungestört genießen« ( H A 6, 246).
4.2.
Die Illusionen der zweiten Ehe
A n der Seite Eduards kultiviert Charlotte einen Lebensstil, der ihrer sozialen Stellung nur sehr bedingt entspricht. Sie widmet sich mit besonderem Eifer der Gestaltung eines englischen Landschaftsgartens, sie musiziert abends regelmäßig mit Eduard und empfängt von Zeit zu Zeit private Besuche aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Ein offenes Haus hingegen führt Charlotte nicht - ihr Landschloß läßt sich nur schwerlich als kultureller Mittelpunkt bezeichnen, der auf das öffentliche Leben der Umgebung ausstrahlt. Charlotte richtet sich in der abgeschiedenen Idylle des Landsitzes ein und bemüht sich, das vermeintliche G l ü c k ihrer zweiten Ehe zu stabilisieren und zu konservieren. Bereits die ersten Kapitel des Romans illustrieren Charlottes Versuche, den Fluß der Zeit aufzuhalten und den Wandel der persönlichen Verhältnisse stillzustellen. Die gegenwärtige Lebenssituation soll vor jedem Umbruch bewahrt und vor jeder Veränderung geschützt werden. Mit welcher Entschlossenheit sich Charlotte gegen
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jede Veränderung im Bezirk des Landsitzes sperrt, zeigt besonders deutlich die kontroverse Auseinandersetzung um die Einladung des befreundeten Hauptmanns. Als Eduard mit der eindringlichen Bitte an Charlotte herantritt, seinen ehemaligen Weggefährten für einige Zeit auf das Schloß holen zu dürfen, entgegnet diese sogleich mit großer Sorge: »Nur daß wir nichts Hinderndes, Fremdes hereinbringen!« (HA 6, 247). Eduard bemüht sich mit immer neuen Argumenten, die zahlreichen Bedenken seiner Gattin zu zerstreuen und so ihre Zustimmung zu gewinnen. Charlotte zeigt sich jedoch entschlossen, dem Vorhaben ihre Einwilligung zu verweigern. Sie erinnert Eduard an den gemeinsam gefaßten Plan, ein Leben in stiller und abgeschiedener Zweisamkeit zu führen: »Du wirst mir eingestehen«, beharrt sie, »daß die Berufung des Hauptmannes nicht so ganz mit unsern Vorsätzen, unsern Planen, unsern Einrichtungen zusammentrifft« (HA 6,246). Charlotte hat Angst vor einer Zukunft, die von dem einmal beschlossenen Lebensplan abweicht. Sie will die aktuellen Verhältnisse zementieren, da sie fest überzeugt ist, nach Jahren der erzwungenen Entsagung nun endlich das lang ersehnte Glück gefunden zu haben. Mit Blick auf ihre neuen Lebensgewohnheiten erklärt sie gegenüber Eduard: »Ich wenigstens habe mir aus allem diesem den ersten wahrhaft fröhlichen Sommer zusammengebaut, den ich in meinem Leben zu genießen dachte« (HA 6,247). Mit dieser Bemerkung verweist Charlotte, ohne es selbst zu bemerken, auf das Konstruierte und Artifizielle ihres neuen Lebensglücks, das sie sich im wahrsten Sinne des Wortes »zusammengebaut« hat. Sie will sich in diesem Glück verbarrikadieren und alle Türen verschließen, um »nichts Fremdes« hereinlassen zu müssen. Charlotte will die lähmende Melancholie ihres vergangenen Lebens überwinden und die Gefahren einer ungewissen Zukunft im voraus ausschalten. Daß sie beides durch ihr Verhalten umso sicherer heraufbeschwört, bemerkt sie erst spät - zu spät, wie der weitere Handlungsverlauf zeigen wird. In der Auseinandersetzung um die Einladung des Hauptmanns erklärt Charlotte gegenüber Eduard, daß »man an seinen Lebensverhältnissen nicht soviel zupfen und zerren, nicht immer was Neues an sie heranziehen soll« (HA 6, 251). Mit dieser allgemeinen Verhaltensregel charakterisiert Charlotte ihre persönliche Hakung, die in fundamentalem Widerspruch zur Einstellung Eduards steht. Dieser empfindet das abgeschiedene Leben schon bald nach der Eheschließung als einengend und möchte darum den Hauptmann auf das Schloß einladen. Gleichzeitig drängt er seine Gattin, Ottilie aus der Pension zu holen und ebenfalls für einige Zeit auf dem gemeinsamen Landsitz zu beherbergen. Anfangs scheint der Plan trotz aller Bedenken aufzugehen: Eduard lebt an der Seite des tatkräftigen Hauptmanns merklich auf, während Charlotte in Ottilie eine angenehme Gesellschafterin findet. Doch dann nehmen die Ereignisse einen anderen Lauf, und es tritt exakt jener Fall ein, den Charlotte krampfhaft abzuwenden versuchte. Die neuen Verhältnisse widersetzen sich ihrem Lebensplan und zertrümmern das in mühevoller Arbeit zusammengezimmerte Glück.
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J e weiter die Handlung fortschreitet, desto deutlicher zeigt sich, daß die Ehe zwischen Eduard und Charlotte nicht zu retten ist. Beide Partner entfremden sich voneinander: Während Charlotte im Hauptmann einen Gefährten kennenlernt, der ihrer eigenen Persönlichkeit in hohem Maße entspricht, entdeckt Eduard seine unwiderstehliche Leidenschaft f ü r Ottilie. Trotz dieser veränderten Personenkonstellation, die das Fundament der zweiten Ehe schon nach kurzer Zeit zerstört, hält Charlotte beharrlich an ihrem einmal gefaßten Lebensplan fest. Sie glaubt, den alten Zustand restituieren zu können, wenn nur Eduard bereit sei, ihrem Vorbild zu folgen und die ausgebrochene Leidenschaft zu unterdrücken. Charlotte will Eduard analog zur neuen Melusine der >Wanderjahre< ins >Kästchen< ihrer biederen Häuslichkeit zurückstecken. E r soll O t tilie aufgeben und die alte Beziehung erneut bejahen. »Ihr eigenes Verhältnis hoffte Charlotte zu Eduard bald wiederherzustellen, und sie legte das alles so verständig bei sich zurecht, daß sie sich nur immer mehr in dem Wahn bestärkte: in einen frühern, beschränktem Zustand könne man zurückkehren, ein gewaltsam Entbundenes lasse sich wieder ins Enge bringen« ( H A 6, 329). Charlotte verstrickt sich in zahlreiche Illusionen und will nicht erkennen, daß ihr Projekt, nach Jahren der Melancholie eine eng umfriedete Glücksidylle einzurichten, von A n f a n g an zum Scheitern verurteilt war. Gegen alle Anzeichen beharrt sie auf der Möglichkeit, die Beziehung zu Eduard wieder herzustellen. Sie beruft sich geradezu auf ihren Glücksanspruch: »Kannst du mir zumuten«, fragt sie Eduard ungläubig, »daß ich auf mein wohlerworbenes Glück, auf die schönsten Rechte, auf dich so geradehin Verzicht leisten soll?« ( H A 6, 342f.). In der Forschung zu den »Wahlverwandtschaften« ist immer wieder Charlottes Wertschätzung moralischer Grundsätze sowie ihr tugendhaftes Ideal der Ehe betont worden. Und in der Tat: Charlotte entsagt dem Hauptmann trotz aller Sympathien, die sie für ihn empfindet, trotz aller Leidenschaften, die er in ihrem Inneren freigelegt hat. Warum aber tut sie dies? Wo liegen die versteckten Wurzeln für dieses Entsagungsethos, das Charlotte zu ihrem Verzicht auf den Hauptmann veranlaßt? Letztlich ist es wohl die existentielle Verunsicherung, die sie im Zuge ihrer ersten Eheschließung erfahren hat. Diese weit zurückliegende Traumatisierung prägt ihr Verhalten in der aktuellen Krisensituation. Das >kleine G l ü c k s das sie in der späten Ehe mit Eduard errungen zu haben glaubt, soll nicht aufs Spiel gesetzt, sondern gegen alle Gefahren erfolgreich behauptet werden. Daß dieses Glück indes nur eine Chimäre ist, die der Sehnsucht nach einem ruhigen Leben jenseits aller Melancholie entspringt, erkennt Charlotte erst am Ende des Romans; vorher gibt sie sich noch einmal der H o f f nung hin, ein »altes Glück« wiederherstellen zu können ( H A 6, 470).
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5 J
4-3 ·
Ästhetische Entmachtung des Todes
Die Verdrängungsmechanismen, die Charlottes Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bestimmen, kennzeichnen auch ihre Beschäftigung mit der Zukunft und dem unausweichlichen Faktum des Todes. Charlotte bemüht sich, den Tod aus dem Wahrnehmungshorizont ihres Lebens zu verbannen und alle Gedanken an die Endlichkeit ihrer Existenz zu unterdrücken. Schon die außergewöhnlichen Vorsichtsmaßnahmen und Sicherheitsvorkehrungen, die sie im Haushalt trifft, sind ein deutliches Indiz für ihr unbewältigtes Verhältnis zum Tod. »Da sie gern leben mochte, so suchte sie alles Schädliche, alles Tödliche zu entfernen. Die Bleiglasur der Töpferwaren, der Grünspan kupferner Gefäße hatte ihr schon manche Sorge gemacht« (HA 6, 268). Mit unterkühlter Ironie verweist der Erzähler hier auf Charlottes Todesfurcht, die zu einer übertriebenen Ängstlichkeit im Umgang mit alltäglichen Gebrauchsgegenständen führt. Noch weitaus signifikanter manifestiert sich Charlottes Todesphobie indes in ihrer Umgestaltung des nahe dem Schloß gelegenen Friedhofs. Charlotte hat das gesamte Gräberfeld des Kirchhofs beseitigt. Sie hat die zahlreichen Grabsteine von ihrem früheren Standort entfernt und entweder an der Mauer des Friedhofs oder aber am Sockeigeschoß der kleinen Kirche ihrem Alter gemäß aufgereiht. Die ehemalige Grabanlage wird nun von einer ebenmäßigen Rasenfläche überzogen, so daß die eigentliche Bestimmung des Terrains kaum noch zu erkennen ist. In Charlottes Maßnahmen zur Umgestaltung des Friedhofs manifestiert sich nach den Worten von Bernhard Buschendorf eine »Tendenz zur ästhetisierenden Fernstellung des Todes«. 30 Der Tod soll hinter einer Fassade des schönen Scheins verschwinden und auf diese Weise zumindest seinen Schrecken verlieren. Wie sehr Charlottes Umbaumaßnahmen vom Wunsch nach ästhetisierender Besänftigung des Todes geprägt sind, erhellt aus den zahlreichen Bemerkungen der Protagonisten, die das neue Erscheinungsbild des umgestalteten Friedhofs durchweg in rein ästhetischen Kategorien erfassen. So erklärt beispielsweise Eduard gegenüber Mittler, als dieser ihn am Eingang des Friedhofs aufsucht: »Seht, wie schön Charlotte diese Trauer ausgeschmückt hat« (HA 6, 254). Eduard hat den Friedhof bislang gemieden, da er ebenso wie Charlotte jede Auseinandersetzung mit dem Tode scheut. Nun aber hat die alte Stätte des Totengedenkens ihren Schrecken für ihn verloren. Die bedrohliche Atmosphäre ist einer anmutigen und idyllischen Stimmung gewichen, die das ästhetische Empfinden des Betrachters auf angenehme Weise stimuliert. Das von allen Grabsteinen bereinigte und mit einer künstlichen Wiese überzogene Gräberfeld bildet einen »schönen bunten Teppich« und gewährt eine ebenso »heitere« wie »würdige« Ansicht (HA 6, 361). Auch die unterschiedli30
Bernhard Buschendorf: Goethes mythische Denkform, S. 114.
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chen Kleesorten, die ringsherum »auf das schönste« grünen und blühen, verleihen der Grabanlage eine liebliche Note. Charlotte hat ganze Arbeit geleistet: D e r Friedhof ist zu einem integralen Bestandteil ihres Landschaftsgartens geworden und fügt sich widerspruchslos in das kunstvolle Arrangement des weiträumigen Geländes ein. Das Gräberfeld mutiert zur Miniaturidylle. Die Verdrängungsmechanismen, von denen oben bereits die Rede war, treten hier erneut in unverstellter Deutlichkeit zutage: D a Charlotte an einem unausgefüllten Leben leidet und vergeblich nach authentischen Gefühlsintensitäten strebt, kann sie den Tod als zeitliche Grenze ihres Daseins nicht annehmen. Sie kann das Faktum des Sterbens nicht akzeptieren, da sie niemals wirklich gelebt hat. Die Verdrängung des Todes ist die unmittelbare Konsequenz ihres von Entbehrung und Verzicht geprägten Lebens. D e r Versuch einer gefühlvollen Asthetisierung des Todes begegnet im umfangreichen Werk Goethes immer wieder. Bereits die >Leiden des jungen Wert h e r umkreisen die Problematik des ästhetisierten Friedhofs, wobei es hier allerdings nicht um konkrete Umbaumaßnahmen geht, sondern vor allem um veränderte Wahrnehmungsmodi. In seinem Abschiedsbrief schreibt Werther an Lotte: »Wenn du hinaufsteigst auf den Berg, an einem schönen Sommerabende, dann erinnere dich meiner, wie ich so oft das Tal heraufkam, und dann blicke nach dem Kirchhofe hinüber nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras im Scheine der sinkenden Sonne hin und her wiegt« ( H A 6, io4f.). Werthers sentimentale Beschreibung seines künftigen Grabes steht ganz im Horizont der empfindsamen Melancholietradition: Das öde Gräberfeld verwandelt sich in eine elegische Naturkulisse, während die kalte Gnadenlosigkeit des Todes einer sanften und zarten Trauerstimmung weicht. Eine verklärende Abendstimmung legt sich über den Schauplatz und hüllt alles in den goldenen G l a n z der untergehenden Sonne. Die Asthetisierung und Sentimentalisierung des Totenkultes resultiert in erster Linie aus der englischen Gartenbaukunst des 18. Jahrhunderts sowie dem gefühlsbetonten Kult der Empfindsamkeit mit seiner besonderen Vorliebe f ü r sentimentale Stimmungen. 3 ' Vor diesem kulturhistorischen Hintergrund muß man Werthers elegische Gräberromantik und Charlottes ästhetisierende U m bauarbeiten wahrnehmen. Jedes Wort ist bewußt gewählt, wenn Eduard gegenüber Mittler betont, wie »schön Charlotte diese Trauer ausgeschmückt« habe ( H A 6, 254). Trotz desselben zeitgeschichtlichen Horizonts jedoch liegen Werthers Grabbeschreibung und Charlottes Verschönerungsmaßnahmen äußerst unterschiedliche Motivationen zugrunde. Werther sentimentalisiert zwar den Tod, aber er verdrängt ihn nicht. Im Gegenteil: Bereits die Gespräche zwi-
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Vgl. Klaus Lindemann: »geebnet« und »verglichen« - der Friedhof in Goethes W a h l verwandtschaften^ In: Literatur f ü r Leser 1984, S. 1 5 - 2 4 , hier S. 15. 2
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sehen ihm und Lotte kreisen immer wieder um den Tod, der als ständiger Gefährte apostrophiert und als flüchtiges Durchgangsstadium zu einem jenseitigen Leben begriffen wird. Werther und Lotte genießen die Tränen, die sie im zarten Eingedenken an verstorbene Verwandte vergießen, und zugleich lassen sie sich von der todesverfallenen Welt, die ihnen aus den Werken Ossians entgegentritt, in melancholische Schwärmereien und schwermütige Gefühlsaufwallungen versetzen. Der wehmütig genossene und sympathetisch nachempfundene Tod wird für Werther zum sentimentalen Bezugspunkt seiner letzten Lebensmonate. Die gegenteilige Haltung verbindet sich mit den Friedhofsaktivitäten von Charlotte. Hier geht es nicht um empfindsam-melancholischen Vorgenuß des Todes oder um dessen Asthetisierung im Hinblick auf eine sentimentale Gefühlssteigerung. Charlotte will den Tod ästhetisch entmachten, sie will ihn aus ihrem Gesichtskreis verbannen und nicht mehr wahrnehmen müssen. Ihr ist an einer Annihilierung des Todes gelegen, wie insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Rechtsgelehrten am Beginn des zweiten Romanteils verdeutlicht. Der Rechtsgelehrte wirft Charlotte vor, sie habe mit der Entfernung der Grabsteine den Lebenden die Möglichkeit genommen, an Ort und Stelle ihrer verstorbenen Angehörigen zu gedenken. Mit prägnanten Formulierungen erläutert er ihr seinen Standpunkt: »Sie sehen, daß dem Geringsten wie dem Höchsten daran gelegen ist, den Ort zu bezeichnen, der die Seinigen aufbewahrt. [...] Dieser Stein ist es nicht, der uns anzieht, sondern das darunter Enthaltene, das daneben der Erde Vertraute. [...] Ein geliebtes Abgeschiedenes umarme ich weit eher und inniger im Grabhügel als im Denkmal« (HA 6, 362). Der Rechtsgelehrte beharrt in der Auseinandersetzung mit Charlotte auf der Priorität des Begräbnisortes. Weder Denkmal noch Denkstein akzeptiert er, sondern allein das Grab, das die leiblichen Überreste des Verstorbenen aufbewahrt. Charlotte widerspricht indes den Äußerungen des Rechtsgelehrten: »Ihre Argumente haben mich nicht überzeugt. Das reine Gefühl einer endlichen allgemeinen Gleichheit, wenigstens nach dem Tode, scheint mir beruhigender als dieses eigensinnige, starre Fortsetzen unserer Persönlichkeiten, Anhänglichkeiten und Lebensverhältnisse« (HA 6, 363). Charlottes Worte sind bemerkenswert und rufen im ersten Augenblick den Eindrípk hervor, als wolle sie aus einem aufgeklärten und emanzipierten Bewußtsein heraus gegen alte und überholte Traditionen vorgehen. Der weitere Gesprächsverlauf führt jedoch zum gegenteiligen Befund. Das Wort >Gleichheit< hat für Charlotte weder soziale noch religiöse Implikationen. Es geht ihr weder um die Vorstellung eines jenseitigen Daseins, wo alle gesellschaftlichen Fesseln von den Menschen abfallen, noch um den christlichen Erlösungsgedanken, dem zufolge alle Menschen auf die nicht nach irdischen Maßstäben messende Gnade Gottes angewiesen sind. Wenn Charlotte von einer allgemeinen Gleichheit« nach dem Tode spricht, dann denkt sie an eine Gleichheit, die alle individuellen Unterschiede 258
auslöscht, eine Gleichheit, die den Menschen ihre persönliche und unverwechselbare Lebensgeschichte entreißt. Charlotte zielt auf eine A n o n y m i s i e r u n g der Toten und auf eine Eliminierung der sich im Totengedenken artikulierenden Erinnerungskultur. A n die Stelle des Erinnerns soll das Vergessen treten, w i e sie dem Architekten gegenüber zu verstehen gibt, der im Streit mit d e m Rechtsgelehrten einen dritten Standpunkt vertritt und auf die zentrale Bedeutung des menschlichen Porträts hinweist. »Selbst gegen die Bildnisse habe ich eine A r t v o n A b n e i g u n g « , erklärt Charlotte, »denn sie scheinen mir immer einen stillen V o r w u r f zu machen; sie deuten auf etwas Entferntes, Abgeschiedenes und erinnern mich, wie schwer es sei, die G e g e n w a r t recht zu ehren« ( H A 6, 365). M i t dieser kurzen, aber äußerst aufschlußreichen B e m e r k u n g unterstreicht C h a r lotte ihr gestörtes Verhältnis gegenüber allen F o r m e n des Totengedächtnisses. Eigentlich müßte die Position des Architekten f ü r sie annehmbar sein, täuscht doch auch dessen Erinnerungskultur über die Wirklichkeit des Todes hinweg. D o c h selbst die Konservierung der »lebenden F o r m e n « im Porträt ist f ü r C h a r lotte peinigend, da die Bildnisse ihres Erachtens einen stillen V o r w u r f erheben, indem sie an etwas »Abgeschiedenes« mahnen ( H A 6, 365). G e n a u jenem Vorwurf aber will Charlotte entgehen, da sie sich bewußt ist, w i e wenig sie die G e genwart auskosten kann, w i e wenig sie diese zu »ehren« vermag. 3 2 Charlotte leidet unter der Melancholie eines nicht gelebten Lebens. Ihre G e genwart ist ebenso w i e ihre Vergangenheit v o n unerfüllten Wünschen und verpaßten Lebenschancen geprägt. D o c h Charlotte will nicht resignieren und bemüht sich deshalb, den Tod als immer näherrückende G r e n z e ihres Daseins zu annullieren. Sie entwickelt zahlreiche Strategien der Verdrängung, w o b e i die Asthetisierung des Friedhofs und die A n o n y m i s i e r u n g der Verstorbenen als besonders signifikante Methoden in den Vordergrund treten. Charlotte verdrängt die Melancholie, w o sie nur kann: im Blick auf die Vergangenheit durch einseitige und selektive Erinnerungen, im Blick auf die G e g e n w a r t durch p r o blematische Illusionsbildungen und im Blick auf die Z u k u n f t durch ästhetische Entmachtung des Todes und pietätlose A n o n y m i s i e r u n g der Verstorbenen. D i e Melancholie läßt sich indes nicht verdrängen, sondern verschärft sich in dem Maße, wie sie geleugnet wird.
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Vgl. hierzu Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman >Die Wahlverwandtschaften, Berlin 1988, S. 114. Herrmann weist auch darauf hin, daß Charlotte am Schluß des Romans gegen ihre eigenen Überzeugungen handelt, wenn sie Eduard neben Ottilie in der neu eingerichteten Kapelle beisetzt. 2
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j.
Pathologie der Leidenschaft - Eduards Liebesmelancholie
Mit Eduard hat Goethe einen Charakter geschaffen, der in vielerlei Hinsicht an das Persönlichkeitsprofil des jungen Werther anknüpft. Wie dieser erweist er sich als hemmungsloser Enthusiast, selbstbezogener Dilettant und melancholisch veranlagter Narziß. Bereits das zeitgenössische Lesepublikum hat mit gesteigerter Aufmerksamkeit die enge Seelenverwandtschaft der beiden Protagonisten sowie die Gemeinsamkeiten der anderen Romanfiguren wahrgenommen. Rudolf Abeken beispielsweise erklärt in seiner von Goethe besonders geschätzten Rezension, die >Wahlverwandtschaften< seien mit dem >Werther< »in mehr als einer Hinsicht verwandt« (HA 6,650), und Therese Huber konstatiert in einem Brief an ihre Tochter: »Goethes Wahlverwandtschaften« können gewissermaßen als ein Nebenstück zu Goethes >Werther< angesehen werden« (HA 6,662). Es ist natürlich unangemessen, wenn Therese Huber die >Wahlverwandtschaften< zu einem »Nebenstück« des >Werther< degradiert, zweifellos aber antizipiert Goethes berühmter Jugendroman zentrale Aspekte des späteren Werkes, die vor allem im Hinblick auf das Psychogramm der männlichen Protagonisten Bedeutung erlangen. Auch wenn die sozialen und lebensgeschichtlichen Rahmenbedingungen äußerst unterschiedlich sind, lassen sich zwischen Werther und Eduard dennoch zahlreiche Affinitäten beobachten. Die augenfälligsten Gemeinsamkeiten treten im Zusammenhang mit jenem unbedingten Liebesanspruch hervor, der so gut wie keine Rücksichtnahme kennt und in hemmungsloser Leidenschaft alle gesellschaftlichen Ordnungen ignoriert. Werther und Eduard gehen jeder Verpflichtung aus dem Weg und entziehen sich weitgehend ihrer Verantwortung. Sie folgen allein ihren spontanen Wünschen, konzentrieren sich ausschließlich auf die eigene Innerlichkeit und kultivieren einen exzessiven Subjektivismus, der sich mit rücksichtslosem Egoismus paart und letztlich in die Katastrophe führt. Werther und Eduard setzen das Gefühl und die leidenschaftliche Gemütsbewegung absolut, sie suchen das emotionale Extrem und feiern die berauschende Erregung. Trotz dieser engen Seelenverwandtschaft, die sich bis in den Bereich des Dilettantismus erstreckt, gibt es auch zentrale Unterschiede zwischen beiden Protagonisten. Werther etwa zeigt bereits vor der Begegnung mit Lotte eine ausgesprochene Disposition zur Melancholie. Schon in den ersten Briefen, die er an Wilhelm sendet, lassen sich zahlreiche melancholische Symptome diagnostizieren, die von massiven Stimmungseinbrüchen bis zu latenten Suizidneigungen reichen. Im Gegensatz zu Werther entwickelt sich Eduard erst im Verlauf seines Liebesverhältnisses zum Melancholiker. Die Unmöglichkeit einer dauerhaften Beziehung mit Ottilie, vor allem aber die permanent angefachten und selbstquälerisch forcierten Leidenschaften treiben ihn in eine verzweifelte Untergangsstimmung. Eine weitere Differenz zwischen beiden Protagonisten 260
manifestiert sich im Bereich der Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. Werther analysiert fortwährend seinen seelischen Zustand und verhehlt sich nicht, daß eine Heilung seiner depressiven Erkrankung unmöglich ist. Eduard hingegen untersucht nur selten die tieferen Ursachen seiner Melancholie. E r überläßt sich seinen Leidenschaften fast instinktiv und glaubt bis zum bitteren Ende, daß ihn eine Verbindung mit Ottilie aller Seelennöte entheben könnte. Wenn Tasso aufgrund seiner schöpferischen Melancholie, die zu genialen dichterischen Leistungen befähigt, zurecht als ein gesteigerter Werther< beschrieben worden ist, so erscheint Eduard in gewisser Weise als ein reduzierter WertherStella< erinnere ( M A 9, 12.33). Karl Wilhelm Ferdinand Solger bemängelt an Eduard, daß er keine innere G r ö ß e besitze und sich nicht zu beherrschen wisse ( H A 6, 653Í.). Selbst Goethe steht seinem literarischen Geschöpf mit kritischer Distanz gegenüber, wie aus einem Gespräch mit Eckermann vom 2 1 . Januar 1827 hervorgeht. Im Hinblick auf die Rezension von Solger erklärt er: »Ich kann ihm nicht verdenken, [...] daß er den Eduard nicht leiden mag, ich mag ihn selber nicht leiden« ( H A 6, 643).
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das Schloß einladen, da er das abgeschiedene Landleben mit seiner neuen Gattin schon nach kurzer Zeit als einengend empfindet. Die von Charlotte vorgetragenen Bedenken weist er eigensinnig zurück und insistiert so lange auf seinen Wünschen, bis Charlotte schließlich resigniert nachgibt (HA 6, 25 6). Verzicht und Entsagung - diese ethischen Kategorien, die das Spätwerk Goethes über weite Strecken bestimmen, sind für Eduard unbekannte Größen. Ihn interessieren lediglich seine egoistischen Wünsche sowie deren augenblickliche und uneingeschränkte Befriedigung. »Auch halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihm gestattet« - dieses offene Bekenntnis des jungen Werther könnte in gleichem Wortlaut auch von Eduard stammen, freilich nur, wenn er sein Verhalten von Zeit zu Zeit selbst analysieren würde (HA 6, 10). Eduard versteht es bisweilen vortrefflich, seinen hemmungslosen Egoismus hinter einer Fassade aus charmanter Rhetorik und geheucheltem Altruismus zu verbergen. Die Situationen, in denen seine Selbstsucht unverhüllt zutage tritt, häufen sich jedoch mit fortschreitendem Handlungsverlauf. Besonders deutlich zeigt sich Eduards verletzender und menschenverachtender Egoismus an jenem Abend, an dem er Ottilies Geburtstagsfeier mit einem großen Feuerwerk an einem See krönen will. Zahlreiche Schaulustige drängen sich auf einem schmalen Deich, der infolge von Überlastung plötzlich bricht und mehrere Zuschauer ins Wasser stürzen läßt. Ein Knabe droht sogar zu ertrinken und kann nur mit Mühe gerettet werden. Als sich die Gesellschaft daraufhin in großer Aufregung zerstreut, wendet sich Charlotte mit der Bitte an Eduard, er möge auf das Feuerwerk verzichten. Dieser greift jedoch nach Ottilie, die sich zum Gehen anschickt, und erklärt voller Zynismus: »Wir wollen diesen Tag nicht im Lazarett endigen! [...] Auch ohne uns werden die Scheintoten erwachen und die Lebendigen sich abtrocknen« (HA 6, 338). Nachdem die Menge den Schauplatz verlassen hat und Charlotte ins Schloß zurückgeeilt ist, verfolgt Eduard »mit lebhaft zufriedenem Blick« die »feurigen Erscheinungen« am Abendhimmel. In seinen Armen hält er Ottilie, auf deren Gewinn es ihm in diesem Augenblick alleine ankommt (HA 6, 338). Eduard ist äußerst empfänglich für die Reize seiner Umgebung. Seine Neugier ist rasch geweckt, seine Aufmerksamkeit sogleich gefesselt und sein Begehren schnell entfacht. Eduard läßt sich leicht erregen und für vieles begeistern, sobald es jedoch an die Umsetzung eines Gedankens und an die Realisierung eines konkreten Vorhabens geht, fehlen ihm Ausdauer und Disziplin, Selbstbeherrschung und innere Ordnung. Die Vermessung des Landgutes, die Kultivierung der Ländereien, die Durchsicht und Gliederung der Tagebücher - dies sind nur einige all jener Pläne, deren vorzeitiges Scheitern allein durch das umsichtige Eingreifen des Hauptmanns abgewendet wird. Eduard erweist sich in der Nachfolge Werthers und Wilhelms als Dilettant, der in seinem hemmungslosen Selbstbezug keinen äußeren Zwang und keine überindividuelle Gesetz 262
mäßigkeit anerkennen kann. Besonders deutlich manifestiert sich Eduards Dilettantismus in seinem Flötenspiel, das Charlotte auf dem Klavier zu begleiten pflegt. »Charlotte spielte sehr gut Klavier, Eduard nicht ebenso bequem die Flöte; denn ob er sich gleich zuzeiten viel Mühe gegeben hatte, so war ihm doch nicht die Geduld, die Ausdauer verliehen, die zur Ausbildung eines solchen Talentes gehört. E r führte deshalb seine Partie sehr ungleich aus, einige Stellen gut, nur vielleicht zu geschwind; bei andern wieder hielt er an, weil sie ihm nicht geläufig waren« ( H A 6, 257). Eduard erliegt hier der typischen Dilettanten-Manier, das Tempo bei schwierigen Passagen zu verlangsamen, bei leichten Stellen hingegen zu beschleunigen. E r ist nicht in der Lage, eine Komposition so exakt einzustudieren, daß er das mit seiner Begleiterin vorab vereinbarte Zeitmaß über das ganze Stück hinweg durchzuhalten vermag. Was während des Musizierens als technisches und rhythmisches Unvermögen hervortritt, ist repräsentativ für Eduards gesamte Existenz. In keiner Lebenssituation kann er sich einem höheren Gesetz unterstellen und um der Gemeinschaft willen seinen schrankenlosen Subjektivismus überwinden. Die »Flötendudelei«, die den Worten des Hauptmanns zufolge »für die Zuhörer so lästig« ist, korrespondiert aufs Ganze gesehen einem bodenlosen Lebensdilettantismus ( H A 6, 330). Goethe hat in seinen Romanen ebenso wie in seinen theoretischen Schriften wiederholt auf die enge Verbindung zwischen Dilettantismus und Melancholie hingewiesen. Ausschlaggebend für das enge Beziehungsverhältnis ist vor allem das quälende Insuffizienzgefühl, das den Dilettanten immer dann heimsucht, wenn er seine fragwürdige Stümperei einer schonungslosen Prüfung unterziehen muß. Der Dilettant Wilhelm Meister ist mehrfach diesen melancholischen Erschütterungen ausgesetzt - vor allem während des Theaterengagements bei Serlo, das ihm sein mangelndes Talent zur Schauspielkunst deutlich vor Augen führt. A u c h Eduard erliegt der Melancholie, als er nach dem Tod Ottilies immer klarer erkennen muß, daß sein ganzes Leben unter dem Signum eines zweifelhaften Dilettantismus steht. »>Ach!< sagte er einmal zu dem Major, der ihm wenig von der Seite kam, >was bin ich unglücklich, daß mein ganzes Bestreben nur immer eine Nachahmung, ein falsches Bemühen bleibtfalsche Bemühen« zu den auffälligsten Eigenschaften des Dilettanten. Hiervon wird im weiteren Verlauf des Kapitels noch zu sprechen sein. 54 34
Z u r engen Beziehung zwischen Dilettantismus und Melancholie äußert sich Goethe auch in den >Tag- und Jahresheftenangenehme
unterhaltende< Frau, weil sie seinen Ansichten und Äußerungen keine eigene Meinung entgegensetzt, sondern schweigend alles aufnimmt. Ottilie widerspricht nicht, und das macht sie im Gegensatz zu Charlotte äußerst attraktiv. Sie erfüllt f ü r Eduard exakt jene Funktion, die später - von E . T . A . H o f f mann freilich ins groteske Extrem gesteigert - Olimpia für Nathanael erfüllen wird. Die Analogien zwischen Nathanael und Eduard sind unter dem G e sichtspunkt ihrer Beziehung zum anderen Geschlecht äußerst frappierend. Denn wie sich Nathanael von seiner selbstbewußten und redegewandten Braut Clara abwendet, bevor er seine Liebe zur stummen Olimpia entdeckt, so distanziert sich auch Eduard von seiner geistreichen und resoluten Gattin Charlotte, bevor er das leidenschaftliche Verhältnis zur schweigsamen Ottilie anknüpft. Beide Protagonisten entfernen sich innerlich von ihren Frauen, da diese den narzißhaften Subjektivismus ihrer Gatten nicht kritiklos hinnehmen wollen. Wie sehr Eduards Narzißmus die Liebe zu Ottilie überwölbt, geht besonders deutlich aus der ersten gegenseitigen Liebeserklärung hervor. Ottilie hat f ü r Eduard ein Vertragsdokument abgeschrieben und dabei ihre Handschrift der seinigen bis zur vollständigen Ubereinstimmung angeglichen. Als Eduard im Beisein von Ottilie das Original mit der Abschrift vergleicht, ist er überwältigt: » U m Gottes willen!was ist das? Das ist meine Hand!< E r sah Ottilien an und wieder auf die Blätter, besonders der Schluß war ganz, als wenn er ihn selbst geschrieben hätte. Ottilie schwieg, aber sie blickte ihm mit der größten Zufriedenheit in die Augen. Eduard hob seine Arme empor: >Du liebst mich!< rief er aus, >Ottilie, du liebst mich!« und sie hielten einander umfaßt« ( H A 6, }2}i.).
Man darf sich vom Pathos dieser Szene nicht blenden lassen, son-
dern muß die egozentrischen Anmaßungen nachvollziehen, die den emphatischen Ausrufen Eduards ihr spezifisches Gepräge verleihen. Wenn Ottilie ihre Handschrift derjenigen Eduards so weit anzugleichen vermag, daß keinerlei Unterschiede mehr auszumachen sind, dann konkretisiert sich darin ihre Bereitschaft, die eigene Persönlichkeit vollständig aufzugeben. In dem Augenblick nun, da Ottilie sich zur rückhaltlosen Selbstaufgabe bereit erklärt, da sie ihre eigene Identität vorbehaltlos opfern will, sieht sich Eduard seinerseits zum Liebesgeständnis veranlaßt. E r bekennt indes keineswegs seine eigene Liebe, sondern konstatiert vielmehr nur jenes Gefühl, das seine jugendliche Freundin ihm entgegenbringt: »Ottilie, du liebst mich!« Eduard verfügt über Ottilie und verehrt in ihr vor allem sich selbst. E r veranschaulicht an seiner eigenen Person, was er zu Beginn des Romans in allgemeiner Hinsicht formulierte: »Der Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich überall gern selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter« ( H A 6, 270). Eduard kultiviert in seiner Beziehung zu Ottilie einen Narzißmus, der bereits in Werthers Verhältnis mit Lotte zutage trat. A u c h Werther suchte in Lottes Liebe die stimulierende Bestätigung und Verherrlichung seiner selbst: »Wie wert ich mir selbst werde«, heißt es in 265
seinem Brief v o m 1 3 . Juli, »wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt!« ( H A 6, 38). N i c h t nur in ihrem dilettantischen Subjektivismus stehen sich Werther und E d u a r d nahe, auch in ihrer selbstbezogenen Liebe erweisen sie sich als enge Verwandte. 3 5 G e g e n E n d e des ersten Romanteils nimmt E d u a r d s narzißhafter E g o i s m u s immer bizarrere Z ü g e an. E d u a r d versinkt geradezu in einem schrankenlosen Solipsismus, nachdem er das Landschloß verlassen hat und an einem abgelegenen O r t die weiteren E n t w i c k l u n g e n abwartet. A l s ihn Mittler aufsucht und zur R ü c k k e h r in die mit Charlotte geschlossene E h e bewegen will, legt er - o h ne dies selbst zu bemerken - ein Bekenntnis seiner hemmungslosen Selbstverfallenheit ab. E r erklärt, daß er in G e d a n k e n immer mit Ottilie zusammen sei und sich dadurch der angenehmsten Gesellschaft erfreue. »Ich sehe sie v o r mir tun und handeln w i e gewöhnlich, schaffen und vornehmen, freilich immer das, w a s mir am meisten schmeichelt. [...] N u n arbeitet meine Phantasie durch, w a s Ottilie tun sollte, sich mir zu nähern. Ich schreibe süße, zutrauliche B r i e f e in ihrem N a m e n an mich, ich antworte ihr und verwahre die Blätter zusammen« ( H A 6, 353). E d u a r d interessiert sich nicht f ü r die Sorgen und Ä n g s t e , denen Ottilie nach seiner überstürzten Abreise ausgesetzt ist. Vielmehr bestärkt er sich selbst in der U b e r z e u g u n g , daß Ottilie ihn in seiner Einsiedelei aufsuchen sollte: »Wenn sie mich liebt, w i e ich glaube, wie ich weiß, w a r u m entschließt sie sich nicht, w a r u m wagt sie es nicht, zu fliehen und sich in meine A r m e zu w e r fen? Sie sollte das, denke ich manchmal, sie könnte das« ( H A 6, 354). E d u a r d erweist sich in seiner Liebe zu Ottilie nicht nur als Egoist, sondern auch als Dilettant. Z u keinem Zeitpunkt vermag er seiner »falschen Tendenz« eine entscheidende Wendung zu geben. E d u a r d s Liebesdilettantismus tritt v o r allem in jener N a c h t o f f e n zutage, in der es z u m »doppelten Ehebruch« mit Charlotte k o m m t . N a c h einer anregenden Abendunterhaltung führt E d u a r d
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Waltraud Wiethölter hat darauf hingewiesen, daß dem Liebesverhältnis zwischen Eduard und Ottilie das mythologische Beziehungsmuster von Narziß und Echo zugrundeliegt. Neben der vollständigen Angleichung von Ottiliens Handschrift an diejenige Eduards ist hier vor allem an jene in völligem Gleichklang entstellten musikalischen Darbietungen der beiden Liebenden zu denken (HA 6, 297). W. Wiethölter: Legenden. Zur Mythologie von Goethes >WahlverwandtschaftenSandmannSie beschäftigt sich f ü r mich!imitatioTränenreiche Männer sind gutZeichen< in der Providentialisierung seiner individuellen Liebesgeschichte mit O t tilie. E r setzt sich an die Stelle jenes kunstvollen Glases, damit das Schicksal noch einmal seine Antwort gebe: »So will ich mich denn selbst [...] zum Zeichen machen, ob unsre Verbindung möglich sei oder nicht« ( H A 6, 447). Eduard inthronisiert den Krieg als eiserne Schicksalsmacht. E r erklärt den Tumult des Schlachtfeldes und die Kontingenz des militärischen Erfolgs zu Medien der Vorsehung. 39 D e r militärische Erfolg bestärkt Eduard in seiner Uberzeugung, Ottilie f ü r sich beanspruchen zu dürfen. » N u n finde ich mich«, erklärt er rückblickend, »wie einen, der zu seinem Ziele gelangt ist, der alle Hindernisse überwunden hat, dem nun nichts mehr im Wege steht. Ottilie ist mein« ( H A 6,447). Eduard interpretiert den Ausgang des Krieges als definitiven Schicksalsspruch, so daß 37 38
39
Gabriele Brandstetter: Poetik der Kontingenz, S. 134. Die Initialen verweisen nicht nur auf die beiden N a m e n Eduard und Ottilie, sondern sie stehen auch, und zwar in ihrer ursprünglichen Bedeutung, f ü r die beiden Vornamen des Protagonisten: Eduard und Otto ( H A 6, 303). In dieser aufschlußreichen Ambivalenz, die den Bewußtseinshorizont der Romanfiguren freilich überschreitet, konkretisiert sich ein weiteres Mal die narzißtische Selbstbezüglichkeit der Liebe Eduards. Ottilie wird von Eduard nicht als eigenständige Persönlichkeit wahrgenommen, sondern schonungslos der eigenen Existenz inkorporiert. Die Initiale O kontrahiert Ottilie zu Otto. Bereits der junge Wilhelm Meister neigt zu einer Providentialisierung des Zufalls, wie aus dem Gespräch mit dem Unbekannten am Abend vor der Liebeskatastrophe mit Mariane hervorgeht. D e r Unbekannte kritisiert Wilhelms Schicksalsgläubigkeit und erklärt: »Wehe dem, [...] der dem Zufälligen eine A r t von Vernunft zuschreiben möchte, welcher zu folgen sogar eine Religion sei. Heißt das etwas weiter, als seinem eignen Verstände entsagen und seinen Neigungen unbedingten R a u m geben? Wir bilden uns ein, f r o m m zu sein, indem wir ohne Überlegung hinschlendern, uns durch angenehme Zufälle determinieren lassen und endlich dem Resultate eines solchen schwankenden Lebens den N a m e n einer göttlichen Führung geben« ( H A 7, 71).
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auch der Hauptmann, der mehr Verständnis für Charlottes prekäre Situation einklagt, auf völlig taube Ohren stößt. Vor den Folgen und Konsequenzen einer Scheidung schreckt Eduard nicht zurück. Im Gegenteil: Die späte Ehe mit Charlotte bezeichnet er geradewegs als schweren Fehler, den es nun rückgängig zu machen gelte (HA 6,448). Eduard fühlt sich zu einer Verbindung mit Ottilie berechtigt und verfolgt sein Ziel mit einer Ungeduld, die sich in der Folge als Auslöser einer tragischen Kettenreaktion erweist und zum Tod seines Sohnes sowie zur endgültigen Entsagung Ottilies führt. Ottilies Entsagung stürzt Eduard in eine zerstörerische Liebesmelancholie, von der er sich bis zu seinem baldigen Tod nicht mehr erholt. Die melancholischen Leiden, die sich bereits nach der heimlichen Abreise vom Landgut am Ende des ersten Romanteils beobachten ließen, verschärfen sich nun ins Unermeßliche. Vor allem die obsessiven Verzweiflungszustände, die bereits Werthers und Tassos melancholische Erkrankung kennzeichneten, treten nach der Begegnung mit Ottilie in der Herberge immer deutlicher zutage. Eduard erliegt einem krankhaften Argwohn und droht in einem pathologischen Realitätsverlust zu versinken. Charlotte, die seinen bedenklichen Zustand erkennt, will ihn retten, indem sie auf alle Ansprüche verzichtet. Ihre Bereitschaft zum Verzicht kommt indes zu spät - Eduard ist bereits ein Opfer seiner zerstörerischen Leidenschaft und Liebesmelancholie geworden: »Eduard fühlt den Wert, die Liebe, die Vernunft seiner Gattin; aber seine Neigung beherrscht ihn ausschließlich. Charlotte macht ihm Hoffnung, verspricht ihm, in die Scheidung zu willigen. Er traut nicht; er ist so krank, daß ihn Hoffnung und Glaube abwechselnd verlassen; er dringt in Charlotten, sie soll dem Major ihre Hand zusagen; eine Art von wahnsinnigem Unmut hat ihn ergriffen« (HA 6, 476). Der Erzähler begreift Eduards melancholische Erkrankung als Folge einer pathologisch ausartenden Leidenschaft. Auch die Figuren des Romans stiften wiederholt einen engen Zusammenhang zwischen dem Auftreten heftiger Leidenschaften und dem Ausbruch seelischer Krankheiten. Eduard selbst schreibt vor seiner Abreise vom Landgut an Charlotte: »Das Übel, meine Liebe, das uns befallen hat, mag heilbar sein oder nicht, dies nur fühle ich: wenn ich im Augenblicke nicht verzweifeln soll, so muß ich Aufschub finden für mich, für uns alle« (HA 6, 344). Eduard bezeichnet die Eruption seiner Leidenschaften kurzerhand als >ÜbelUbel< verstanden wissen will. Aufschlußreich ist indes, daß Eduard mit den Formulierungen >heilbar< und >nicht heilbar< seine Leidenschaft für Ottilie explizit in einen pathologischen Kontext rückt - und damit sein Verhalten einer moralischen Bewertung entzieht. Auch Ottilie betrachtet die auf dem Landschloß ausbrechende Leidenschaft als Krankheit, im Gegensatz zu Eduard negiert sie jedoch die Möglichkeit ihrer Heilung. Apodiktisch erklärt sie: »Große Leidenschaften sind Krankheiten ohne Hoffnung. Was sie heilen könnte, macht sie erst recht gefährlich« (HA 6, 385). Diese Sen2
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tenz aus Ottilies Tagebuch formuliert zwar ihrer Gattung gemäß einen allgemeinen Sachverhalt, ihr Bezug auf Eduard und die konkrete Situation des leidenschaftlichen Liebesverhältnisses ist jedoch unverkennbar. Das heißt: A u c h wenn die von Eduard ersehnte Verbindung mit Ottilie zustande käme, könnte seine krankhafte Leidenschaft nicht geheilt und die aufzehrende Liebesmelancholie nicht therapiert werden. Eine Heilung ist und bleibt unmöglich, da der Krankheitsherd nicht in den äußeren Verhältnissen, sondern in Eduard, in seiner ihn selbst restlos verzehrenden Leidenschaft liegt. Es ist nicht zu bezweifeln, daß Eduards extreme Gefühlsregungen ihren ersten Impuls durch ein äußeres Ereignis erhalten, nämlich durch Ottilies Ankunft auf dem Schloß. D i e heftigen Emotionen bleiben jedoch immer als narzißtischer Reflex auf das eigene E g o bezogen und suchen in Ottilie nur den Spiegel, der die Richtung des Blicks umkehrt. D i e Sentenz des Tagebuches spricht eine abgründige Diagnose aus, die auf Eduard ebenso wie auf Werther und - mit Einschränkungen - auch auf Tasso zutrifft. Freilich: Eduards Melancholie läßt sich nicht wie diejenige Werthers und Tassos auf eine psychische Prädisposition zurückführen; sie erwächst aus den konkreten Umständen der abgeschiedenen Adelsexistenz und der in den Bezirk des Landschlosses einbrechenden Leidenschaften. D o c h am Ende des Romans gilt für Eduard dasselbe, was für Werther und Tasso von A n fang an gilt: Seine Krankheit ist unheilbar, da die pathologisch ausartenden Leidenschaften das Fundament seiner Existenz untergraben und irreversibel zerstört haben.
6.
Ottilie als Melancholikerin - »eine gar anmutige Penserosa«
D i e Gestalt der Ottilie hat den Interpreten der >Wahlverwandtschaften< seit jeher zahlreiche Rätsel aufgegeben: Erinnert Ottilie an eine Heilige, die über seherische Fähigkeiten verfügt und in ekstatischen Visionen die Schranken des Diesseits transzendiert, oder gleicht sie einer geistig zurückgebliebenen Träumerin, die überdies an Migräne und Magersucht leidet? Agiert Ottilie als M ä r tyrerin, die sich vor der kruden Realität in die »Phänomenalität« des schönen Bildes rettet, 4 0 oder ist sie womöglich ein »Kind des goldenen Zeitalters«, das sich »im Tod als N a t u r « restituiert, da es »in der modernen Welt des R o m a n s « und unter den »Bedingungen der Reflexion« nicht existieren kann? 4 ' Die rätsel-
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° So Peter Michelsen in seiner anfangs sehr erhellenden, dann aber zunehmend kryptischen und vor allem gegen Ende nur noch schwer nachvollziehbaren Studie. P. Michelsen: Wie frei ist der Mensch? Uber Notwendigkeit und Freiheit in Goethes Wahlverwandtschaften«. In: Goethe-Jahrbuch 1 1 3 (1996), S. 139-160, hier S. 1 ¡yf. 41 Michael Holtermann: >Thierischer Magnetismus« in Goethes Roman >Die Wahlverwandtschaftens S. 196. Holtermanns Aufsatz erwirbt sich große Verdienste, indem er 273
hafte Gestalt der Ottilie entzieht sich anscheinend jeder kategorisierenden Festlegung und erlaubt allenfalls verhaltene Annäherungen. Goethe selbst hat gegenüber Ottilie eine Haltung eingenommen, die unentschieden zwischen liebevoller Verehrung und spöttischer Distanzierung oszilliert. Besonders deutlich zeigt sich diese Ambivalenz im elften Buch von D i c h tung und Wahrheit*, wo Goethe eine Exkursion schildert, die er während seiner Straßburger Zeit zum Wallfahrtsort am Ottilienberg unternommen hat. Im Rückblick auf die dort von vielen Gläubigen gepflegte Verehrung der heiligen Ottilie erklärt er: »Das Bild, das ich mir von ihr machte, und ihr Name prägte sich tief bei mir ein. Beide trug ich lange mit mir herum, bis ich endlich eine meiner zwar spätem, aber darum nicht minder geliebten Töchter damit ausstattete, die von frommen und reinen Herzen so günstig aufgenommen wurde« (HA 9, 497). Goethes Verhältnis zu Ottilie schwankt zwischen Zuneigung und Ablehnung. Die Rückschau offenbart einerseits unverkennbare Sympathien, andererseits aber setzt sie auch unübersehbare Distanzsignale, indem sie Ottilie zum Idol jener empfindsam und religiös gestimmten Schwärmer erklärt, die Goethe in seinen romantikkritischen Schriften spöttisch verhöhnt und entschieden bekämpft hat.42 Will man die Gestalt der Ottilie angemessen interpretieren, so muß man den unterschiedlichen Facetten ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit Rechnung tragen und jede einseitige Profilierung vermeiden. Vor allem die prägenden Erfahrungen im Mädchenpensionat und die traumatischen Enttäuschungen auf dem Landgut sind zu berücksichtigen, da diese das bisweilen widersprüchliche Verhalten der Heranwachsenden erst schlüssig motivieren. Es ist erstaunlich, daß viele Deutungen Ottilie als gleichsam ätherische Existenz begreifen und ihre psychophysische Entwicklung von allen konkreten Alltagserfahrungen ablösen. Die folgenden Ausführungen wollen diesen Fehler vermeiden und vor
42
Goethes Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Mesmerismus analysiert und die zentrale Bedeutung des animalischen Magnetismus f ü r die Wahlverwandtschaften« herausstellt. Die Deutung Ottilies vor dem Hintergrund animalmagnetischer A n schauungen führt indes zu keinem befriedigenden Ergebnis - was nicht am durchaus überzeugenden Ansatz, sondern lediglich an seiner teils einseitigen, teils inkonsequenten A n w e n d u n g liegt. Vgl. zur Kritik an Holtermanns Thesen die aufschlußreiche und klug abwägende Studie von Jürgen Barkhoff: Tag- und Nachtseiten des animalischen Magnetismus. Z u r Polarität von Wissenschaft und Dichtung bei Goethe, S.485, A n m . 28. André François-Poncet verkennt die hintergründige Distanzierung, wenn er angesichts der oben zitierten Äußerung über Goethes Verhältnis zu Ottilie erklärt: »In seinen Augen ist Ottilie aus einem besonders feinen und empfindlichen Stoff gebildet; die Intensität ihres seelischen Erlebens, die Empfindsamkeit und der Reichtum ihres Gemüts, jene außerordentliche intuitive Erkenntniskraft lassen sie mit der N a t u r enger verbunden sein als andere Menschen«. A . François-Poncet: Goethes »Wahlverwandtschaften', S. 69.
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allem Ottilies soziale Desintegration während der Jahre im Pensionat sowie die damit einhergehenden seelischen Verletzungen analysieren. Sie beschreiben sodann die Versuche einer psychischen Autotherapie nach der A n k u n f t auf dem Landschloß und diagnostizieren die Bedeutung von Charlottes unerwarteter Schwangerschaft f ü r die Liebesbeziehung zu Eduard. Im Zentrum der Analyse steht Ottilies melancholische Konstitution, die der Erzähler nicht nur konkret beschreibt, sondern wiederholt auch in symbolisch verschlüsselten Hinweisen vergegenwärtigt. So charakterisiert er Ottilie beispielsweise als »eine gar anmutige Penserosa« und ruft damit eine kulturelle Tradition auf, die Milton im 17. Jahrhundert mit seinen epochalen Melancholiegedichten begründet hat.
6.1.
Ottilie als soziale Außenseiterin
Als letzte der vier Hauptfiguren betritt Ottilie den Schauplatz des abgelegenen Landgutes. Ihre A n k u n f t auf dem Adelssitz wird im sechsten Kapitel geschildert, das die Exposition der Romanhandlung abschließt. Trotz ihrer adligen Abstammung ist Ottilie als mittellose Waise auf die ökonomische Unterstützung durch Eduard und Charlotte angewiesen. Ihr bescheidenes Auftreten und ihre überaus beflissene Dienstbarkeit resultieren somit zumindest partiell aus dem Bewußtsein finanzieller Abhängigkeit. Es gibt jedoch zweifellos noch eine weitere Triebfeder für Ottilies ehrerbietiges Verhalten gegenüber ihren Gastgebern - und das ist Dankbarkeit angesichts der Entlassung aus dem Mädchenpensionat, w o die Heranwachsende unter äußerst »drückenden Verhältnissen« zu leiden hatte und als Außenseiterin von allen Mitschülerinnen gemieden w u r de ( H A 6 , 2 5 1 ) . Wenn Ottilie im sechsten Kapitel erstmals selber auftritt, ist der Leser über ihren Charakter schon weitgehend im Bilde. Die Diskussionen zwischen Eduard und Charlotte, v o r allem aber die Briefe der Pensionsvorsteherin sowie die Zusätze ihres Gehilfen haben das Persönlichkeitsprofil der jungen Schülerin deutlich hervortreten lassen. D e n Äußerungen der Erwachsenen zufolge verrät Ottilie eine klare Disposition zur Melancholie. Die bekannten Symptome, die bei Werther, Wilhelm oder Eduard dominieren, zeigen sich zwar erst während des späteren Handlungsverlaufs, doch auch in den ersten Kapiteln offenbart Ottilie bereits einige Verhaltensweisen, die sie unverkennbar als Melancholikerin ausweisen. Besonders signifikant ist in diesem Zusammenhang die ostentative Schweigsamkeit, die der Gehilfe in seinen Berichten mehrfach hervorhebt. Im Gegensatz zu ihren geselligen und extrovertierten Mitschülerinnen verharrt Ottilie in einer nach außen hin abgeschlossenen Innenwelt. Sie zieht sich zurück und schweigt zu fast allem, was sie umgibt; selbst in entscheidenden Prüfungssituationen bleibt sie verschlossen und einsilbig. Nach der Ankunft auf dem Landschloß löst sich Ottilies Schweigsamkeit allmählich; doch auch hier hält sie sich noch sehr zurück, da sie oftmals nicht fähig oder willens ist, das zu
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artikulieren, was in ihrer Innenwelt vorgeht. Neben der beharrlichen Schweigsamkeit verweist auch eine eigentümliche Langsamkeit auf Ottilies melancholische Charakteranlage. Immer wieder betont der Gehilfe die ausgesprochene Langsamkeit, mit der seine schweigsame Schülerin die verschiedenen Inhalte des Unterrichts aufnimmt und die gestellten Aufgaben bearbeitet: »Solange ich sie unterrichte, sehe ich sie immer gleichen Schrittes gehen, langsam, langsam vorwärts« ( H A 6, 264). Die Konsequenzen dieser reduzierten Lerngeschwindigkeit sind unabwendbar: »Bei diesem langsamen Vorschreiten bleibt sie gegen ihre Mitschülerinnen zurück, die mit ganz andern Fähigkeiten immer vorwärtseilen, alles, auch das Unzusammenhängende, leicht fassen, leicht behalten und bequem wieder anwenden« (HA 6, 265). Es stellt sich die Frage, warum man Ottilies auffällige Langsamkeit und Schweigsamkeit einer melancholischen Veranlagung zuschreiben soll, wenn sich doch beide Phänomene auch mit dem lapidaren Hinweis auf mangelnde Intelligenz und gestörtes Sozialverhalten erklären lassen. Gewiß: Ottilies Verhalten kann allein auf kognitive und psychosoziale Defizite zurückgeführt werden, sofern man sich ausschließlich auf die ersten Kapitel des Romans konzentriert. Berücksichtigt man hingegen den weiteren Handlungsverlauf, der Ottilies Charakter immer wieder mit traditionellen Melancholiekonzepten in Verbindung bringt, so erscheinen auch die oben analysierten Eigenschaften vor einem durchaus anderen Hintergrund. Die überlieferten Abhandlungen zur Melancholie sowie die zahlreichen bildlichen Darstellungen schildern den Melancholiker vielfach als stillen und verschwiegenen Charakter. Die populäre und überaus einflußreiche >Iconologia< des Cesare Ripa etwa zeigt einen lesenden Mann als Melancholiker, dessen Mund mit einem Tuch verhüllt ist, so daß an seiner tiefen Schweigsamkeit keine Zweifel bestehen können. Auf einer anderen Abbildung der >Iconologia< erscheint eine in Gedanken versunkene Melancholikerin, die ihren Kopf zur Erde geneigt hat und ebenso verschwiegen wirkt wie ihr männliches Pendant. Bei der von Ripa gegen Ende des 16. Jahrhunderts publizierten Bildersammlung handelt es sich um ein ikonographisches Kompendium, das typisierte Charaktereigenschaften und standardisierte Verhaltensweisen als allegorische Figuren mit jeweils kennzeichnenden Attributen darstellt (»imagini di virtù, vitii, affetti, passioni humane«). Ripas Bildersammlung hat als ikonographisches Ideenarsenal einen immensen Einfluß auf die verschiedenen Gattungen der europäischen Kunst im 17. und 18. Jahrhundert ausgeübt - sie war auch Goethe gut bekannt. 43
4Î
Vgl. R a y m o n d Klibansky, E r w i n Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, S . 3 3 1 - 3 3 3 u. S. 5 2 3 ^ A n m . 4 . Eine Abbildung des lesenden Melancholikers, dessen M u n d mit einem Tuch verbunden ist, findet sich in derselben Studie auf Tafel 69. D i e schweigende und in der typischen Haltung verharrende Melancholikerin ist auf S. 569 abgebildet.
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Die Langsamkeit gehört ebenso wie die Schweigsamkeit zu den traditionsreichen Attributen des Melancholikers. Sie geht auf spätantike und mittelalterliche Vorstellungen zurück, denen zufolge alle Melancholiker dem verlangsamenden Einfluß des Planeten Saturn ausgesetzt sind. Wie im ersten Teil dieser Studie bereits dargelegt, gilt Saturn in der Astrologie des Mittelalters als weitaus langsamster Himmelskörper, der vermittels seiner astralen Ausstrahlung auch auf der Erde all das verzögert, was in seinen Einflußbereich fällt. Goethe war natürlich kein Verfechter dieser kosmologischen Korrespondenzenlehre, die im umfangreichen Werk des Renaissancephilosophen Marsilio Ficino noch einmal vertieft und systematisiert worden ist. Gleichwohl aber überschaute er die vielgestaltige Tradition - und zwar auch im Hinblick auf die spezifische Langsamkeit des unter saturnischem Einfluß stehenden Melancholikers. Im Rahmen jenes Maskenzuges, der am 30. Januar 1784 zum Geburtstag der Herzogin Louise in Weimar aufgeführt wurde, hat Goethe dem als Planetenbild auftretenden Saturn die überaus charakteristischen Verse in den Mund gelegt: »Grau und langsam, doch nicht älter / Als ein andres Himmelslicht, / Still und ernsthaft, doch nicht kälter / Tret' ich vor Dein Angesicht« (FA 5, 456). In diesen vierhebigen Trochäen, die sich zu einer vierzeiligen Strophe mit Kreuzreim zusammenschließen, konzentriert Goethe alle markanten Eigenschaften, die dem Melancholiker-Gestirn in der mittelalterlichen Astrologie zugeschrieben werden - sowohl die Langsamkeit wie auch die Schweigsamkeit treten als deutlich profilierte Charakteristika hervor. Es versteht sich von selbst, daß der G e hilfe in Goethes >Wahlverwandtschaften< nicht an den astrologischen Kontext der Melancholie denkt, wenn er Ottilies außerordentliche Langsamkeit und ihre auffällige Schweigsamkeit exponiert. Der kundige Leser hingegen kann den versteckten Anspielungshorizont entdecken, insbesondere wenn er auch die anderen Attribute ins Auge faßt, die Ottilie als Melancholikerin ausweisen. G e radezu unübersehbar ist beispielsweise jene topisch fixierte MelancholikerHaltung, in der Ottilie ebenso wie Eduard mehrfach beschrieben wird. 44 Die Briefe aus dem Mädchenpensionat schildern Ottilie als soziale Außenseiterin, die aufgrund ihrer introvertierten Haltung und eingeschränkten Lernfähigkeit keine Anerkennung erfährt. Lediglich der Gehilfe bemüht sich um eine angemessene Bewertung, die dem eigentümlichen Charakter der Heranwachsenden Rechnung trägt. Ottilie verschließt sich vor den herabsetzenden Urteilen, die ihre Lehrer und Mitschülerinnen über sie fällen. Mit innerer Distanz reagiert sie auf die gehässigen Invektiven, denen sie sich nach der mißglückten Schulprüfung ausgesetzt sieht. Doch auch wenn Ottilie den Angriffen ihrer Umwelt scheinbar gelassen begegnet, leidet sie gleichwohl unter den permanenten Kränkungen. Sie somatisiert die Kritik an ihrer schwachen und angeblich zurückgebliebenen Persönlichkeit; sie reagiert mit Kopfschmerzen auf 44
Vgl. Bernhard Buschendorf: Goethes mythische D e n k f o r m , S. 1 4 0 - 1 4 4 .
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den äußeren Leistungsdruck, dem sie nicht gewachsen ist. Daß es sich bei den häufig auftretenden Kopfschmerzen u m ein psychosomatisch verursachtes Leiden handelt, geht auch aus einem Brief der Pensionsvorsteherin hervor, die Ottilies Beschwerden als »bedeutend« charakterisiert und damit - möglicherweise ohne es selbst zu bemerken - auf den seelischen Ursprung der körperlichen Beschwerden hinweist ( H A 6, 264).
6.2.
Antimelancholische Therapeutika
Wie sehr Ottilies Verschlossenheit durch die laute Atmosphäre des Mädchenpensionats befördert wird, zeigt sich bereits unmittelbar nach der A n k u n f t auf dem Schloß. D i e vorläufig entlassene Schülerin findet in der ihr anvertrauten Verwaltung des adligen Hauswesens eine Aufgabe, die sie rasch aufleben läßt. Die neue Tätigkeit ist ihrem stillen Wesen weitaus angemessener als die auf exklusive Bildungsinhalte und gesellige Konversationskunst ausgerichtete Erziehung des Mädchenpensionats. »Ottilie hatte schnell die ganze Ordnung eingesehen«, erklärt der Erzähler, »ja, was noch mehr ist, empfunden. Was sie f ü r alle, f ü r einen jeden insbesondre zu besorgen hatte, begriff sie leicht. Alles geschah pünktlich. Sie wußte anzuordnen, ohne daß sie zu befehlen schien, und w o jemand säumte, verrichtete sie das Geschäft gleich selbst« ( H A 6, 282). Befreit vom quälenden Leistungsdruck des Pensionats zeigt sich Ottilie als aufmerksame und talentierte Hausverwalterin, die ihren melancholischen Neigungen mit erstaunlicher Selbstdisziplin zu begegnen weiß. Was Eduard und Charlotte nur durch die Unterstützung des Hauptmanns verwirklichen, das realisiert Ottilie ohne jede Hilfestellung: Sie unterwirft ihre Tätigkeit einer klaren Tageseinteilung, so daß die Stunden der Arbeit und Erholung in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. »Sobald sie gewahr wurde, wieviel Zeit ihr übrigblieb, bat sie Charlotten, ihre Stunden einteilen zu dürfen« ( H A 6, 282). Indem sich Ottilie einer methodischen Lebensführung verschreibt, erhebt sie sich über ihre Gastgeber, die allein durch den kundigen Hauptmann aus ihrem amorphen Müßiggang herausgeführt werden können. Die innere Balance, die Ottilie nach den aufzehrenden Jahren im Pensionat endlich findet, ist indes nur von kurzer Dauer. Unvermittelt entwickelt sich eine Leidenschaft, durch deren tragischen Verlauf die Heranwachsende in die gerade erst überwundene Melancholie zurückgetrieben wird. Eine schwermütige Todessehnsucht überfällt sie, nachdem Eduard den Landsitz heimlich verlassen und Charlotte das in jenem »doppelten Ehebruch« gezeugte Kind zur Welt gebracht hat. N u r mit äußerster Anstrengung kann Ottilie die aufkeimenden Todeswünsche unterdrücken. Z u Gebote stehen ihr dabei allein jene antimelancholischen Therapeutika, die bereits Werther und Wilhelm in ihren psychischen Konfliktsituationen geholfen haben. Ottilie widmet sich mit aller Konzentration ihren häuslichen 278
Pflichten, um durch fortwährende Tätigkeit das zerstörerische Seelenchaos entschärfen zu können. Die tägliche Verwaltung des Hauswesens wird f ü r sie zum letzten Halt in einer aus den Fugen geratenen Gefühlswelt: »Nichts konnte sie vor völliger Verworrenheit retten, als daß sie jeden Tag ihre Pflicht tat« ( H A 6,420). Bereits zu Beginn des zweiten Romanteils betont der Erzähler die der Tätigkeit inhärenten Kräfte, die Ottilie vor einem völligen Absturz in die Melancholie bewahren. Im Zusammenhang mit der A n k u n f t von Charlottes Tochter Luciane auf dem weitgehend verwaisten Landschloß erklärt er: »Es war daher, als wenn ein guter Geist f ü r Ottilien gesorgt hätte, indem er auf einmal in diese Stille, in der sie einsam und unbeschäftigt zu versinken schien, ein wildes Heer hereinbrachte, das, indem es ihr von außen genug zu schaffen gab und sie aus sich selbst führte, zugleich in ihr das G e f ü h l eigener Kraft anregte« ( H A 6, 376). Ottilie wird bis zuletzt an ihrem Tätigkeitsethos festhalten. Das uneigennützige Handeln zum Wohle anderer betrachtet sie als Heilmittel, das selbst in psychischen Extremsituationen innere Festigkeit und neue Orientierung verleiht. Selbst nach dem tragischen Tod des ihr anvertrauten Kindes glaubt Ottilie der Verwüstung ihrer Innenwelt mit selbstloser Tätigkeit begegnen zu können. Mit Charlotte überlegt sie, wohin sie sich wenden solle, da sie auf dem Landsitz keine Z u k u n f t für sich sieht, zugleich aber ein Angebot nicht annehmen möchte, das sie zu einer Freundin ihrer Tante und deren Tochter führen würde. Charlotte erklärt resigniert: »Klöster haben wir nicht, in denen sonst eine Freistatt f ü r solche Gefühle zu finden war«. Ottilie bemerkt daraufhin, daß ein Rückzug in die Einsamkeit ohnehin keine Möglichkeit zur Heilung biete. »Die schätzenswerteste Freistatt«, betont sie, »ist da zu suchen, w o wir tätig sein können« ( H A 6, 466). Ottilie faßt den Entschluß, in das Pensionat zurückzukehren, um dort an der Seite des Gehilfen nunmehr selbst heranwachsende Mädchen auszubilden. Das Vorhaben scheitert indes an Eduard, der in seiner unbändigen Liebesleidenschaft Ottilie auf ihrem Weg ins Pensionat nachstellt und sie zur U m k e h r veranlaßt. Ein weiteres Mittel der Melancholieabwehr entdeckt Ottilie in der Lektüre verschiedener Dichtungen, die sie aus ihrer trostlosen Lage auf dem verwaisten Adelssitz herausreißen und in imaginative Lebensräume entführen. Ottilie phantasiert sich wie der junge Wilhelm Meister in fiktive Sonderwelten, um ihrem Geliebten zumindest auf diese Weise möglichst nahe zu sein. Mit Hilfe der Literatur kompensiert sie die triste Realität, wie aus den wiederholten Schilderungen des Erzählers deutlich hervorgeht: »Sie sprang in den Kahn und ruderte sich bis mitten in den See; dann zog sie eine Reisebeschreibung hervor, ließ sich von den bewegten Wellen schaukeln, las, träumte sich in die Fremde, und immer fand sie dort ihren Freund« ( H A 6, 351). Mit ihrer Lektüre reiht sich Ottilie in die lange Reihe lesender Romanhelden ein, die Goethes Œuvre in hoher Zahl bevölkern. Während indes bei Werther oder Wilhelm so gut wie immer 2
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von konkreten Dichtungen gesprochen wird, deutet der Erzähler bei Ottilie nur vorsichtig und zurückhaltend die bevorzugten Gattungen an - zunächst sind es Reisebeschreibungen, dann empfindsame Romane. So heißt es, als Ottilie an einem Nachmittag mit Charlottes Sohn durch die weiten Parkanlagen zum See spaziert: »Der Knabe w a r eingeschlafen; sie setzte sich, legte ihn neben sich nieder und fuhr fort zu lesen. Das Buch war eins von denen, die ein zartes Gemüt an sich ziehen und nicht wieder loslassen. Sie vergaß Zeit und Stunde« ( H A 6, 454). Ottilie taucht in die empfindsame und sentimentale Atmosphäre der Dichtung ein. Möglicherweise spiegelt sie ihr Schicksal in einem gemütvollen Roman von Samuel Richardson, möglicherweise aber liest sie auch einen elegischen Briefroman, wie ihn etwa Goethe selbst nach seiner prekären und aussichtslosen Beziehung zu Charlotte Kestner verfaßt hat. Im psychopathologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts gilt die Literatur als äußerst ambivalentes Heilmittel, da sie gemäß der Lektüreauswahl völlig entgegengesetzte Wirkungen hervorrufen kann. Ein plastisches Beispiel für die polaren Wirkungsintensitäten der Literatur gibt Goethes früher Briefroman, in dem Werther seine M e lancholie durch die Lektüre der Homerischen Epen zunächst zurückdrängt, später jedoch durch die identifikatorische Beschäftigung mit Ossians Dichtungen in hohem Maße forciert. A u c h wenn sich die von Ottilie bevorzugten Dichtungen nur dem Genre nach genauer spezifizieren lassen, so können sie gleichwohl unter dem G e sichtspunkt ihrer therapeutischen Valenz relativ exakt beurteilt werden. Wie oben angedeutet, handelt es sich bei den gelesenen Büchern um Reisebeschreibungen und empfindsame Dichtungen, deren sentimentale Stimmungen mit Ottilies Trauer um den Verlust Eduards korrespondieren. Die Auswirkungen auf die Psyche der Lesenden treten deutlich hervor: Einerseits ermöglicht die Lektüre zwar eine Distanzierung von der bedrückenden Atmosphäre, die auf dem Landsitz herrscht, andererseits aber befördert sie auch eine dem Tätigkeitsethos zuwiderlaufende Passivität. Ottilie zieht sich durch die fortgesetzte Lektüre in sich selbst zurück und vergißt die Welt zugunsten einer imaginierten Traumwirklichkeit an der Seite ihres Geliebten. Sie verliert sich in empfindsamen Gefühlsregungen und kultiviert eine elegische Trauer um Eduard, von dessen Kriegszug sie auf Umwegen erfahren hat. Ottilies Lektüre vertieft somit die melancholische Disposition, auch wenn sie diese in eine spezifisch empfindsame und sentimental-poetische Gefühlshaltung transformiert. Während Ottilie auf ihren Spaziergängen mit Charlottes Sohn durch die weiträumigen Anlagen des Schloßparks schlendert, versenkt sie sich regelmäßig in ein Buch, das sie aufgeschlagen mit sich führt. »Und so bildete sie«, erklärt der Erzähler, »das Kind auf dem A r m , lesend und wandelnd, eine gar anmutige Penserosa« ( H A 6, 446). Diese tableauhafte Personenschilderung, die an die zarten Genreszenen eines Watteau oder Chardin erinnert, verweist gleich auf mehrere Melancholietraditionen, wie Bernhard Buschendorf in sei280
ner Untersuchung zur Ikonographie der >Wahlverwandtschaften< betont hat. Sie aktualisiert einmal die auf J o h n Milton zurückgehende Tradition der poetisch-empfindsamen Melancholie (»II Penseroso«) und spielt gleichzeitig auf den traditionellen Bildtypus der mit einem B u c h in der H a n d dargestellten M e lancholia an. D a s aufgeschlagene B u c h gehört als Requisit zu den festen Attributen des melancholischen Charakters. Es indiziert seinen Studiertrieb s o w i e seine besondere Geistestätigkeit, es verweist aber auch - und dieser A s p e k t ist hier v o n zentraler Bedeutung - auf seinen R ü c k z u g aus der äußeren Realität zugunsten einer H i n w e n d u n g z u r kontemplativen Innerlichkeit. 4 5 Ottilies K o p f s c h m e r z e n , die bereits zu Beginn des R o m a n s exponiert w e r den, treten auch im weiteren Handlungsverlauf wiederholt in das Blickfeld des Lesers. Interessant ist dabei v o r allem, daß sie nicht allein auf psychosomatische, sondern auch auf geologische und mineralogische Ursachen zurückgef ü h r t werden. D e n Z u s a m m e n h a n g zwischen Ottilies K o p f s c h m e r z e n und ihren möglicherweise terrestrischen Ursachen stellt der Begleiter des L o r d s w ä h rend eines gemeinsamen Spaziergangs durch den Schloßpark her. Ottilie bittet auf dem Weg zu einem besonders schönen Aussichtspunkt, den v o n beiden G ä sten eingeschlagenen P f a d meiden und mit einem R u d e r b o o t über den See jenen vereinbarten O r t ansteuern zu dürfen. V o m G e f ä h r t e n des L o r d s begleitet, gesteht sie, daß sie immer wieder v o n einem »Schauer« überfallen werde und unter plötzlich auftretenden K o p f s c h m e r z e n leide, w e n n sie den betreffenden Seitenpfad betrete. D e r Begleiter untersucht daraufhin die v o n Ottilie beschriebene Wegstrecke und entdeckt eine »deutliche Spur von Steinkohlen« ( H A 6, 443). Fest davon überzeugt, daß das K o p f w e h mit einer besonderen Gesteinsfühligkeit in Beziehung stehe, erforscht er, o b Ottilie auch auf Metalle reagiere. E r führt mit ihr diverse Pendelversuche durch, die bei Charlotte ergebnislos geblieben sind, und erlebt eine außerordentliche Überraschung: D a s Pendel w i r d »in einem entschiedenen Wirbel fortgerissen« und rotiert je nach metallischer Unterlage in unterschiedlichen Richtungen und verschiedenartigen Kreisbahnen ( H A 6, 444). D e r Begleiter des L o r d s zeigt sich begeistert, als Ottilie über ihre wiederkehrenden K o p f s c h m e r z e n klagt und die Pendelversuche abzubrechen wünscht. Voller Enthusiasmus erklärt er, »daß er sie v o n diesem Ü b e l völlig heilen wolle, w e n n sie sich seiner Kurart anvertraue« ( H A 6, 44J). 4 6 Bei der hier angepriesenen K u r a r t handelt es sich u m eine Magnetkur, die im Z u g e des Mesmerismus an der Wende v o m 18. z u m 19. Jahrhundert vielerorts
45 4é
Vgl. Bernhard Buschendorf: Goethes mythische Denkform, S. 204-206. Wie Otto Brahm bereits 1882 bemerkt hat, geht die Episode mit den Pendelversuchen auf jene Experimente zurück, die Johann Wilhelm Ritter 1806 in München mit dem Erz- und Wasserfühler Campetti durchführte. O. Brahm: Eine Episode in Goethes >WahlverwandtschaftenAllflut< eine Stockung in den Nervenbahnen des Menschen, so führt dies zu physischen und psychischen Störungen, die nur durch einen mit umfangreichen animalmagnetischen Kräften ausgestatteten Arzt geheilt werden können. Die sogenannte Magnetkur wird als Therapieverfahren von der zeitgenössischen Melancholie-Debatte mit großem Interesse aufgenommen, wobei enthusiastische Zustimmung oft neben strikter und unerbittlicher Ablehnung steht. Die Vertreter der rationalistischen Spätaufklärung brandmarken die Phänomene des organischen Magnetismus sowie die darauf aufbauenden Heilmethoden als reinen Schwindel und gefährliche Scharlatanerie. Die der Romantik zugeneigten Mediziner indes heben die Bedeutung des Mesmerismus oft unkritisch heraus und erkennen in ihm sogar einen Beweis für die göttliche Abkunft des Menschen. Manche Ärzte wie Goethes Leibarzt Hufeland versuchen zwischen den beiden Extrempositionen zu vermitteln, indem sie einerseits die Existenz animalmagnetischer Phänomene wie Somnambulismus, Telepathie oder Prophetie anerkennen, andererseits aber jede pseudowissenschaftliche Systembildung sowie alle daraus abgeleiteten Therapiemethoden kritisieren. Mit der vom Begleiter des Lords angepriesenen Kurart piaziert Goethe in den >Wahlverwandtschaften< einen unübersehbaren Hinweis auf die antimelancholische Heilmethode des organischen Magnetismus. Zugleich verrät er jedoch auch eine skeptische Haltung gegenüber diesem Therapieverfahren, indem er seine Vorbehalte von Charlotte artikulieren läßt, die das Angebot einer Magnetkur entschieden zurückweist: »Man war einen Augenblick ungewiß; Charlotte aber, die geschwind begriff, wovon die Rede sei, lehnte den wohlgesinnten Antrag ab, weil sie nicht gemeint war, in ihrer Umgebung etwas zuzulassen, wovor sie immerfort eine starke Apprehension gefühlt hatte« (HA 6, 445). Mit »Apprehension« begegnet auch Goethe in zahlreichen Briefen dem animalmagnetischen Zauber, wenngleich er keineswegs die reduktiven Verweigerungsargumente der rationalistischen Spätaufklärung teilt. Goethe geht ebenso wie sein Leibarzt Hufeland von der Faktizität animalmagnetischer Phänomene aus und nutzt sie auch als handlungsmotivierende Elemente in den >Wahlverwandtschaften< und >Wanderjahren/. Eine magnetische Kurart lehnt er jedoch ab, da diese auf die Nachtseite der Natur fällt, w o der Mensch jede Orientierung verlieren muß.48
47
Schon Rudolf Abeken hat im neunten Kapitel seiner 181 o veröffentlichten Rezension zu den »Wahlverwandtschaften* die vom Begleiter des Lords propagierte Kurart als Magnetkur identifiziert (vgl. H A 6, 651).
48
Vgl. Jürgen Barkhoff: Tag- und Nachtseiten des animalischen Magnetismus, S . 7 5 -
282
6.3·
Todessehnsucht und Selbstnegation
Z u den auffälligsten und signifikantesten Eigenschaften des Melancholikers gehört seine unstillbare und mitunter in den Suizid führende Todessehnsucht. Werther, die Leitfigur aller von Goethe entworfenen Melancholiker, erschießt sich mit einer Pistole am Abend vor Weihnachten. Der Harfner durchtrennt in einem Zustand hoffnungsloser Verzweiflung seine Halsadern und verblutet an seinen Wunden. Aurelie verwahrt einen Dolch als >Talisman< und steigert sich zuletzt in eine Krankheit mit tödlichem Ausgang hinein. Mignon möchte den als Gefängnis empfundenen Körper verlassen, und Lila sehnt sich nach einer Vereinigung mit dem >süßen< Tod, den sie als stillen Freund und zartfühlenden Bruder herbeisehnt. Eduard zieht in den Krieg, um auf dem Schlachtfeld den sicheren Untergang zu finden, und Faust greift zur Giftphiole, um dem Kerker seiner Gelehrtenstube entkommen zu können. Goethes Melancholiker sind in hohem Maße suizidgefährdet. Sie leiden an traumatischen Erfahrungen, erstikken an enttäuschten Lebenshoffnungen und scheitern an zerbrochenen oder unmöglichen Liebesbeziehungen. Ihre Körperlichkeit, die sie im Freitod transzendieren wollen, nimmt dabei wiederholt eine zentrale Stellung ein. Sie erscheint als quälende Fessel, die es aufzulösen gilt, um in einem lichten Jenseits ein neues und melancholiefreies Leben führen zu können. In besonders starkem Maße leidet Ottilie unter den materiellen Grundlagen ihrer Existenz. Das Körperliche tritt bei ihr in eine unversöhnliche Opposition zu allem Seelischen und Geistigen. Signifikante Hinweise auf Ottilies psychophysische Dissoziation finden sich bereits in den frühen Briefen aus dem Mädchenpensionat, w o die Heranwachsende mit einer ausgeprägten Neigung zum Fasten ihre Vorgesetzten beunruhigt ( H A 6, 263 f.). A u c h nach der A n k u n f t auf Eduards Landsitz verweigert Ottilie einen Großteil der ihr zugedachten Nahrung. Sie lebt zwar merklich auf in der neuen Umgebung, übt sich jedoch auch weiterhin in Verzicht und Entsagung, wie Charlotte mit Sorge feststellen muß ( H A 6, 283). Ottilie hungert im Verlauf der Romanhandlung immer entschlossener, bis sie zuletzt sogar den Folgen ihres Fastens erliegt. Die Nahrungsverweigerung dient ihr als Werkzeug zur Negation einer an den Körper gebundenen Existenzweise. Durch Eduards Abreise und Charlottes Schwangerschaft fühlt sich Ottilie in ihrer liebenden Zuneigung hintergangen und in ihren geheimen Wünschen betrogen. Sie stürzt in eine quälende Melancholie, da sich alle Z u k u n f t s h o f f -
100, bes. S. 92. Barkhoff geht in seiner Untersuchung nicht nur auf die Bedeutung des animalischen Magnetismus f ü r die > Wahlverwandtschaften ein, sondern berücksichtigt auch die >WanderjahreNunc dimittis< des Simeon einzustimmen. D e r bejahrte Priester aber kann dieser Aufforderung nicht mehr nachkommen, da ihn das fortwährende Stehen während Mittlers langer Ansprache so sehr erschöpft hat, daß er zusammenbricht und augenblicklich stirbt. Die versammelte Taufgemeinde reagiert mit Bestürzung und Entsetzen auf das unvermittelte Nebeneinander von »Geburt und Tod«, von »Sarg und Wiege«. Ottilie indes zeigt sich von anderen Gefühlsregungen durchdrungen - »mit einer Art von Neid« blickt sie auf den freundlich und entspannt lächelnden Leichnam ( H A 6, 422). Ottilie sympathisiert mit dem Tod, der ihr in den Gesichtszügen des verstorbenen Geistlichen als die Erlösung von allen peinigenden Seelenqualen aufscheint. »Das Leben ihrer Seele war getötet; warum sollte der K ö r p e r noch erhalten werden?« N a c h dem tragischen Unfall auf dem See, bei welchem Charlottes Sohn ertrinkt, bestimmt der Gedanke an den Freitod immer stärker Ottilies Lebensweise. Sie bemüht sich zwar, die andrängenden Suizidneigungen zu unterdrükken, kann ihnen zuletzt jedoch nicht widerstehen. Jene Eigenschaften, die bereits zu Beginn des Romans in den Briefen aus dem Pensionat hervorgehoben wurden, treten nun immer deutlicher in den Vordergrund. Der Erzähler konstatiert, »daß Ottilie kaum Speise noch Trank zu sich nimmt, indem sie immerfort bei ihrem Schweigen verharrt. Man redet ihr zu, sie wird ängstlich; man unterläßt es« ( H A 6, 476). Ottilie hat sich unmittelbar nach dem Tod des Knaben noch einmal zu ihrem Tätigkeitsethos bekannt und den Wunsch geäußert, nunmehr als Erzieherin in das Mädchenpensionat zurückkehren zu können. Sie will Eduard endgültig entsagen und erwartet auch von ihm, daß er fortan keine Ansprüche mehr gegen sie erhebe. Ihr Vorhaben scheitert indes an der unbe-
schwanke im Schatten, habe keinen Teil mehr an der Welt, [...] Ich schwinde, verschwinde, / E m p f i n d e und finde / Mich kaum. / Ist das Leben? / Ist's Traum?« ( F A 5,
848). 285
herrschten Leidenschaft des Geliebten, der sie in einer Herberge auf halbem Wege überrascht und damit ihre letzte Willensanstrengung zunichte macht. Ottilie kehrt auf das Schloß zurück, unterhöhlt jedoch nun systematisch ihre Gesundheit. Sie fastet sich zu Tode, um die Ketten ihrer an das Irdische gebundenen Körperlichkeit zu sprengen.
6.4. Ottilie und Mignon - zwei Schwestern im Zeichen der Melancholie Vergleicht man die Gestalt der Ottilie mit anderen Frauenfiguren in Goethes Romanen, so lassen sich signifikante Analogien und Parallelen entdecken. Bereits die ersten Rezipienten der >Wahlverwandtschaften< haben Ottilie mit anderen Frauengestalten des Dichters in Beziehung gesetzt und dabei vor allem in Mignon ein prägendes Vorbild wiedererkannt. Wieland bezeichnet Ottilie gegenüber Karl August Böttiger als eine »neue Auflage« Mignons, die es indes an Authentizität und Glaubwürdigkeit fehlen lasse (MA 9, 1233). Ob Wielands negative Einschätzung zutrifft, sei dahingestellt. Durchaus überzeugend ist jedoch seine Bemerkung, daß Goethe mit Ottilie eine Figur entworfen habe, die in enger Verwandtschaft zu jenem rätselhaften und geheimnisvollen Wesen aus dem >Wilhelm Meisten stehe. Ottilie läßt sich zweifellos auch mit anderen Frauengestalten Goethes vergleichen, so etwa mit Makarie oder mit der Verfasserin der >Bekenntnisse einer schönen SeeleLehrjahre< mehrfach betont. Mignon wählt überwiegend außersprachliche Kommunikationsformen, um sich ihrer Umwelt mitzuteilen. Sie verständigt s
° Vgl. André François-Poncet: Goethes >Wahlverwandtschaftenewigen< Augenblick im Sinne des >nunc stans< und >totum simul< denkt. Es ist vielmehr der Augenblick des flachen und trivialen Sinnengenusses, den er an dieser Stelle im Auge hat und der ihn - so seine feste Uberzeugung - niemals zu dem Wunsch nach Dauerhaftigkeit bewegen kann. Diesen Zusammenhang verkennt Schings, wenn er behauptet, Faust attackiere in den oben zitierten Versen den »erfüllten Augenblick«, der für Goethe zeitlebens höchste Bedeutung besessen habe. »Was tut Faust da? Fortgerissen von seiner gewohnten Rhetorik und ihrem Assoziationsstrom, schwärzt er in einem großen Atemzug mit Faulbett, Selbstgefallen und Genuß gleich auch noch ein Phänomen ein, das für Goethe höchste Dignität hat: den erfüllten Augenblick«. H.-J. Schings: Fausts Verzweiflung, S. 1 2 1 . In der Begegnung mit Helena wird Faust jenen »erfüllten Augenblick« erleben, den er Schings zufolge im Pakt mit Mephisto verflucht hat (V.941 iff.).
294
bart sich eine Kontinuität, die von Werther und Tasso über Lila und Wilhelm Meister bis hin zu Eduard und Faust reicht.
2.
Pathographie der Gelehrtenexistenz Fausts Auftrittsmonolog
Die Melancholie ist die »Geißel der Gelehrten« und deren »unzertrennlicher Begleiter«; sie resultiert aus einer »außerordentlichen Wißbegier« und einem abgeschiedenen Forscherdasein, das sowohl die körperliche Gesundheit als auch das seelische Gleichgewicht unterminiert. 10 Dieser pathologische Befund des englischen Gelehrten Robert Burton aktualisiert um die Mitte des 17. Jahrhunderts eine lange und bis in die Antike zurückreichende Melancholietradition. Bereits die medizinischen Traktate aus der römischen Kaiserzeit knüpfen ein enges Band zwischen der stillen und allein dem Erkenntnisgewinn verpflichteten Gelehrtenexistenz sowie den vielfältigen Gefahren einer schweren Depression. D e n expliziten Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit und melancholischer Erkrankung stellt zum ersten Mal der römische A u t o r Aulus Cornelius Celsus her, der sich als medizinischer Laie freilich auf ältere, vermutlich hippokratische und hellenistische Quellen stützt. Im zweiten Jahrhundert beschreiben R u f u s von Ephesos und Galen erstmals auch konkrete Krankheitsursachen, um die bislang nur allgemein formulierte Beziehung zwischen Wissenschaft und Melancholie an spezifischen Einzelfällen zu verifizieren. R u f u s etwa berichtet von einem Gelehrten, dessen »ständiges Brüten über den Wissenschaften der Geometrie« eine »melancholische« Erkrankung ausgelöst h a b e . " Die heute nur noch partiell rekonstruierbaren Schriften des Rufus von Ephesos haben auf die Tradition der Gelehrtenmelancholie eine kaum zu überschätzende Wirkung ausgeübt. N o c h die Abhandlung des Constantinus A f r i canus aus dem 1 1 . Jahrhundert zeigt sich von den Schriften des R u f u s weitgehend beeinflußt. Erwartungsgemäß begegnet auch hier wieder die enge Verbindung von forcierter wissenschaftlicher Tätigkeit und gefährlicher melancholischer Erkrankung: »Ebenso wie die körperliche Uberanstrengung zu schweren Krankheiten führt, von denen die Ermüdung die leichteste ist, so führt geistige Uberanstrengung zu schweren Krankheiten, deren schwerste die Melancholie ist«. 12 Constantinus Africanus hat aufgrund seiner engen Verbindung zur be-
10
Robert Burton: Anatomie der Melancholie, S. 248f. " R u f u s von Ephesos: Krankenjournale, hg., iibers.u. eri. ν. Manfred Ulimann, Wiesbaden 1978, S. 72. 12 Zit. n. R a y m o n d Klibansky, E r w i n Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, S.148.
¿95
rühmten salernitanischen Ärzteschule einen entscheidenden Einfluß auf die europäische Medizin des Mittelalters ausgeübt. Es ist also nur folgerichtig, wenn die Gelehrtenexistenz seit dem Hochmittelalter als besondere Lebensform angesehen wird, die in hohem Maße auf therapeutische Hilfestellungen angewiesen ist. Interessanterweise rückt während des späten 13. und 14. Jahrhunderts auch die psychische Bipolarität des gelehrten Melancholikers wieder ins Blickfeld, die bereits in den pseudoaristotelischen >Problemata< eingehend beschrieben wurde. Arnaldus de Villanova etwa spricht von Gelehrten, »die zu intensiv studieren und die wegen ihrer geistigen Arbeit, ihrer Gemütsbewegungen und ihrer Enthaltsamkeit manisch und melancholisch werden«.' 3 Im Humanismus mißt man der Frage nach der seelischen und körperlichen Gesundheit des Gelehrten eine fundamentale Bedeutung bei. Den entscheidenden Impuls für diese geschärfte Aufmerksamkeit liefert das gewachsene Selbstwertgefühl vieler Renaissancegelehrter, deren weltliches Sendungsbewußtsein auch zu einer verstärkten Sorge um die eigene Gesundheit führt. Das immense Interesse an einer ausgeklügelten Diätetik für den gelehrten Wissenschaftler manifestiert sich während des 15. und 16. Jahrhunderts nicht nur in der rasant steigenden Anzahl therapeutischer Ratgeber, sondern insbesondere auch in deren sukzessiver Ausweitung zu eigenständigen und umfangreichen Monographien. Die zweifellos einflußreichste Arbeit stammt aus der Feder des berühmten Florentiner Renaissancephilosophen Marsilio Ficino, der vor allem in den ersten beiden Bänden seines Werkes >De vita libri tres< mit einer Vielzahl diätetischer Ratschläge aufwartet. Ficino warnt den gefährdeten Gelehrten vor nächtlicher Arbeit, unangenehmen Sinneseindrücken und heftigen Gemütszuständen. Mit ganz besonderem Nachdruck warnt er ihn zudem vor übermäßiger geistiger Anstrengung, da diese das Gehirn austrockne, das Blut verdicke, ferner die für alle Denkfunktionen wichtigen Lebensgeister aufzehre und schließlich eine melancholische Trauer heraufbeschwöre. Ficino, dessen Gesundheitslehre auf der traditionellen Humoraltheorie beruht, entwickelt seine Lebensdiätetik unter dem Gesichtspunkt eines Gleichgewichtes der vier Körpersäfte und einer Ausgewogenheit aller äußeren Lebensverhältnisse. Als wirksame Therapeutika empfiehlt er deshalb leichte Speisen, edle Düfte und wohlklingende Musik, Spaziergänge an Flüssen und Wiesen sowie regelmäßige Kontakte mit sympathischen Menschen. Neben den überwiegend diätetischen Mitteln kennt Ficino auch pharmazeutische und astrologische Heilmethoden. So propagiert er den positiven Einfluß gewisser Planetenkonstellationen als wichtige Ergänzung zu den herkömmlichen Therapieansätzen. Ficinos Schrift >De vita libri tres< ist die bedeutendste Monographie in der langen Reihe antimelancholischer Lehrbücher, auch wenn ihr astrologischer und neuplatoni13
Zit. n. Werner Friedrich Kümmel: Der Homo litteratus und die Kunst, gesund zu leben, S. 73.
296
scher Gedankenhorizont von späteren, überwiegend empirisch orientierten Studien ausgeblendet wurde. A u c h die über die reine Diätetik hinausgehende Konzeption einer engen Verknüpfung von Genialität und Melancholie konnte sich im Rahmen der Gelehrtentradition nur punktuell behaupten; sie lebte lediglich im hermetischen Schrifttum des 16. und 17. Jahrhunderts fort.' 4
z.i.
Fausts Absage an die Wissenschaften
Die Tradition der Gelehrtenmelancholie bildet den motivgeschichtlichen Hintergrund f ü r Fausts großen Auftrittsmonolog. Die tiefe Resignation des Protagonisten sowie die dunkel getönten Stimmungselemente der Eingangsszene verweisen unverkennbar auf das bereits im Humanismus topisch fixierte Beziehungsgeflecht zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit und pathologisch ausartender Melancholie. Bereits die Regieanweisung, die dem Auftritt Fausts vorangestellt ist, gibt einen wichtigen Fingerzeig: In der engen Studierstube des ruhelosen Gelehrten herrscht finstre Nacht, es regiert also jene Zeitspanne, die den antimelancholischen Ratgebern zufolge eine besondere G e f a h r f ü r den wachenden und rastlos forschenden Wissenschaftler darstellt. Burton warnt ebenso wie Ficino ausdrücklich vor Nachtarbeit, denn viele Gelehrte »werden dadurch krank, daß sie nächtelang über ihren Büchern sitzen«. 15 Auch Faust gehört zu jenen Wissenschaftlern, die gegen den natürlichen Lebensrhythmus verstoßen, indem sie die Stunden der Nacht lesend und forschend am Schreibpult verbringen. Die physischen und psychischen Konsequenzen treten in der Eingangsszene des Dramas deutlich zutage. Von vergeblicher Arbeit übermüdet, erklärt Faust bedrückt: » O sähst du, voller Mondenschein, / Z u m letztenmal auf meine Pein, / D e n ich so manche Mitternacht / A n diesem Pult herangewacht: / Dann über Büchern und Papier, / Trübsel'ger Freund, erschienst du mir!« (V. 3 86ff.). 1 6 D e r Szenenkommentar am Beginn des Auftrittsmonologs gibt nicht nur A u s k u n f t über die Nachtzeit, sondern enthält auch einen Hinweis auf das aus der Balance geratene Seelenleben Fausts. Wenn sich nach dem pompösen Pro14
Ü b e r die Diätetik Ficinos informiert Werner Friedrich Kümmel: D e r H o m o litteratus und die Kunst, gesund zu leben, S. 74-78. Interessante Hinweise finden sich auch bei R a y m o n d Klibansky, E r w i n Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, S. 383— 386.
'* Robert Burton: Anatomie der Melancholie, S. 248. Ferdinand van Ingen und Jochen Schmidt verweisen im Zusammenhang mit der Nachtzeit der Eingangsszene auf den melancholischen Nachtkult der E m p f i n d s a m keit, wie er sich besonders markant in den epochalen >Nachtgedanken< des Engländers E d w a r d Young oder auch in James Macphersons >OssianFaust< mit ihrer beklemmenden Atmosphäre und den nutzlos herumstehenden Gerätschaften an Dürers berühmten >MelencoliaMelancholie< in der französischen und englischen Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 30(1976), S. 67-85. Finke betont, daß in der französischen Rezeption des Dürerschen Stichs Goethes >Faust< »die wichtige Rolle eines Katalysators« spielte (S.71)· Théophile Gautier: Poésies complètes. Nouvelle édition revue et augmentée, hg. v. René Jasinski, Paris 1970, Bd. 2, S. 87. Deutsche Übersetzung: »Tausend Gegenstände liegen ungeordnet um ihn herum, es sind Kennzeichen von Wissenschaften und K ü n sten; das Lineal und der Hammer, der emblematische Zirkel, die Sanduhr, die G l o c k e
299
Der Gelehrte Faust fühlt sich in seinem Studierzimmer auf unerträgliche Weise bedrängt. Von »Gläsern« und »Büchsen« umstellt (V. 406), von staubenden B ü chern umzingelt (V.402), sehnt er sich nach der belebenden Natur (V.414). Faust leidet nicht nur unter der Vergeblichkeit seines theoretischen Erkenntnisstrebens, sondern auch unter der erdrückenden Last einer von Generation zu Generation fortgeschriebenen Wissenschaftstradition. Der Spielraum f ü r innovative Ideen und selbständig entwickelte Erkenntnisansätze ist auf ein kümmerliches Minimum zusammengeschrumpft - alles steht im Schatten der Vergangenheit. Wenn Faust gegen die Sinnlosigkeit seiner Gelehrtenexistenz rebelliert, dann richtet sich sein Unmut nicht nur gegen die im Studierzimmer nutzlos herumliegenden Instrumente, sondern auch gegen die Vorwelt, die ihm diese Gerätschaften vermacht hat. Faust verwünscht all das, was er von seinem Vater geerbt hat: »Du alt Geräte, das ich nicht gebraucht, / D u stehst nur hier, weil dich mein Vater brauchte« (V. 6γ6{.). Daß die Gegenwart unter dem Gewicht der Vergangenheit verkümmert, läßt sich nicht nur an Fausts Angriff gegen die Welt der Väter, sondern auch an der beklemmenden Atmosphäre des Studierzimmers ermessen. Alles atmet hier den Geist des Zerfalls und der Verwesung: Die Bücher sind von Würmern angefressen, die hohen Wände von Ruß und Staub überzogen (V. 402ff.). Es ist eine dem Untergang geweihte Welt, deren Leblosigkeit sich in dem von Faust angesprochenen Totenschädel symbolisch verdichtet: »Was grinsest du mir, hohler Schädel, her, / Als daß dein Hirn wie meines einst verwirret / Den leichten Tag gesucht und in der Dämmrung schwer, / Mit Lust nach Wahrheit, jämmerlich geirret?« (V. Der Totenschädel gilt seit jeher als Symbol für die Vergänglichkeit des Menschen. In den Vanitas-Stilleben des 17. Jahrhunderts hat er ebenso seinen Platz wie in den zahllosen Gemälden zum Thema >Et in Arcadia EgoMemento mori< gehört der Totenschädel auch zu den topischen Requisiten der Gelehrtenklause und zur traditionellen Ikonographie der Melancholie. Auf einem >MelancholieMelancholiegrinsende< Totenschädel wird für Faust zum gespenstischen Menetekel seiner sterilen und lebensfernen Gelehrtenexistenz. Wenn Faust in der Eingangsszene des Dramas über die gescheiterten Hoffnungen und psychischen Deformationen seines abgeschiedenen Forscherdaseins klagt, dann scheint in dieser melancholischen Klage paradigmatisch das Lebensgefühl des modernen Gelehrten auf. Faust repräsentiert das tragische Los des in einer kulturellen Spätzeit lebenden Wissenschaftlers, der unter seiner Lebensferne und seinem Spezialistentum ebenso leidet wie unter dem von Generationen angehäuften Wissensballast. Goethe vollzieht im >Faust< die gleiche Operation wie in »Torquato TassoFaust. Eine Tragödie« ( 1808). In: Walter Hinderer (Hg.): Goethes Dramen. Neue Interpretationen, Stuttgart 1980, S. 244-280, hier S. 25 5-258. Aristoteles: Werke in deutscher Ubersetzung, Bd. 19, S.253.
302
den, die permanent umgepolt werden und dadurch jeden emotionalen A u s gleich verhindern. E s ist sehr aufschlußreich, von der Forschung jedoch bislang übersehen worden, daß Fausts Exaltationen nach den vorausgehenden Klagen einige Motivkorrespondenzen zu Tassos trunkener Begeisterung während der letzten Begegnung mit der geliebten Prinzessin aufweisen. Tasso zeigt sich im vorletzten Auftritt des Schlußaktes zunächst verzweifelt. E r fühlt sich von den Mitgliedern des höfischen Zirkels hintergangen und hat überdies jede H o f f nung verloren, sein großes Epos einer definitiven Vollendung zuführen zu können. Im Gespräch mit der Prinzessin aber weicht seine Resignation zunehmend einer Euphorie, die vor allem durch die aufmunternden Worte der verehrten Freundin hervorgerufen wird. Tasso glaubt sich im Uberschwang seiner E m o tionen geliebt und steigert sich in eine hemmungslose Gefühlsekstase hinein, die er mit einer rhetorischen Frage metaphorisch umschreibt, als ihn die Prinzessin bittet, seine heftige »Glut« zu mäßigen: »Beschränkt der Rand des Bechers einen Wein / D e r schäumend wallt und brausend überschwillt?« (V. 3267^). Die Metapher des berauschenden Weines nimmt auch Faust auf, als er sich der Sphäre des Erdgeistes zuwendet. »Schon glüh' ich wie von neuem Wein«, erklärt der ekstatisch Ergriffene, als er das Nahen des Geistes verspürt (V.463). Doch nicht allein der Wein stiftet eine auffällige Motivanalogie zwischen den erregten Versen des Dichters und den begeisterten Worten des G e lehrten. Hervorstechender noch ist der Topos der Gottgleichheit, der von beiden Figuren aufgegriffen wird. Als Faust in die Vision des Makrokosmos eintaucht, fragt er entzückt: »Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!« (V.439). U n d Tasso erklärt, bevor er sich zur stürmischen Umarmung der Prinzessin hinreißen läßt: »Ich fühle mich von aller N o t entladen, / Frei wie ein Gott« (V. 3272^). Auf die exaltierte Selbstvergottung folgt eine neue Depression, die sich im Fall des Gelehrten Faust sogar zum akuten Todeswunsch steigert. Nach der kurzen Kontroverse mit Wagner gewinnt das alte >taedium vitae< abermals die Oberhand. Faust entschließt sich zum letzten Grenzübertritt und greift nach der schmalen Phiole, die das erlösende G i f t enthält. A n der Schwelle zum Tode wird Faust plötzlich von einem neuerlichen Stimmungsumschwung ergriffen er hebt zu einem Preis auf das jenseitige Leben an, w o sich seinem Erkenntnisstreben und seinem Tätigkeitsdrang keine Hindernisse mehr in den Weg stellen sollen: »Ins hohe Meer werd' ich hinausgewiesen, / Die Spiegelflut erglänzt zu meinen Füßen, / Z u neuen U f e r n lockt ein neuer Tag« (V. 699tf.). Z u m dritten Mal wird Faust von einer schwärmerischen Begeisterung erfaßt, die in scharfem Kontrast zu den Depressionen nach den beiden gescheiterten Entgrenzungsversuchen steht. Aufschlußreich ist vor allem die Pointierung des Neuen und Neuartigen, die fast alle Äußerungen im Anblick der Phiole bestimmt. Faust glaubt sich am Beginn einer neuen Ära, die ihm neue Daseinsbereiche eröffnet. »Auf neuer Bahn« will er durch den Äther schweben und zu »neuen Sphären reiner Tätigkeit« aufbrechen (V. 704^). Die euphorische Betonung des Neuan-
303
fangs, die sich programmatisch durch die erregte Jenseitsvision zieht, bildet einen scharf profilierten Gegensatz zur affektiven Verwünschung alles Alten nach der kurzen Begegnung mit Wagner. Hatte Faust dort die »alte Rolle« ebenso wie das »alt Geräte« als Zeichen einer überständigen und lebensfernen Gelehrtenkultur verdammt (V. 6j6fí.),
so weiht er sich nun dem vermeintlich
schöpferischen Neuanfang. Der Topos der Gottgleichheit, der bereits die M a krokosmosvision kennzeichnete, stellt sich umgehend wieder ein und markiert das manisch Übersteigerte der fiebrigen Suizidanwandlung: »Dies hohe Leben, diese Götterwonne«, jubelt Faust, »du, erst noch Wurm, und die verdienest du?« (V. 7oéf.). In keinem Verspaar des gesamten Dramas konzentriert sich Fausts manisch-depressives Wesen so sehr wie hier.
3.
Therapeutisches Zwischenspiel - der Ostermorgen
Als Faust die Giftschale an den Mund führt, um seinem melancholischen Leiden ein Ende zu setzen, erfährt er plötzlich Linderung von anderer Seite. D e r Festgesang eines Chores dringt unter österlichem Glockengeläut an seine O h ren und verkündet die glorreiche Auferstehung des gekreuzigten Christus. Faust fragt ergriffen: »Welch tiefes Summen, welch ein heller Ton / Zieht mit Gewalt das Glas von meinem Munde?« (V. 742Í.). Die Osterbotschaft vernimmt Faust mit innerer Anteilnahme, auch wenn er der siegreichen Auferstehung Christi keinen Glauben schenkt. Es ist in erster Linie die Macht der M u sik, die ihn aus seiner seelischen Erstarrung löst und seine melancholische Verzweiflung lindert. Die Musik hält Faust v o m Selbstmord ab und führt ihn zurück ins Leben: » O tönet fort, ihr süßen Himmelslieder! / Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!« (V. 783^). Fast alle Melancholiker im Werk Goethes erfahren die therapeutische Kraft der Musik: Werther und Wilhelm Meister ebenso wie Lila und Leonore von Este. Immer wieder vermag die Musik ihre erregten Gemüter zu beruhigen und die psychischen Leiden zu lindern. Werther etw a bekennt im Brief vom 16. Juli, es sei allein Lottes anmutiger Gesang, der ihn in dunklen Stunden von seinen Selbstmordgedanken abbringen könne ( H A 6, 39)· Wie bereits die vorausgehenden Werkanalysen hervorgehoben haben, gilt die Musik seit der Antike als antimelancholisches Palliativ par excellence. E s gibt w o h l kein anderes Therapeutikum, das die Jahrhunderte hindurch so konstant empfohlen und gepriesen wurde. Freilich finden sich auch Autoren, die vor der besonderen Gewalt der Musik warnen, da ihre Wirkung auf die Psyche des Melancholikers nicht immer kontrollierbar sei und unter ungünstigen Bedingungen auch zu kontraproduktiven Resultaten führen könne. Die überwiegende Mehrheit befürwortet jedoch den Einsatz von Musik, wobei theologische Autoren vor allem den geistlichen Chorgesang und das religiös erbauliche 304
Kirchenlied propagieren. D e r Leipziger T h e o l o g i e p r o f e s s o r J o h a n n M u e h l mann etwa erklärt in seinem 1 6 1 8 publizierten >Flagellum Antimelancholicumc »Wenn du nun / lieber Christ / Melancholische trawrigkeit vnd schwermütigkeit b e y dir befindest / so nimb alßbald f ü r dich das schöne Psalterbüchlein D a vids / oder das herrliche Gesangbüchlein des H e r r n Lutheri / daraus bete oder singe ein lieblichen Psalm oder G e s a n g « . 1 6 In der N a c h f o l g e Luthers erörtert M u e h l m a n n die therapeutischen Energien des geistlichen Gesangs, der das biblische Wort mit harmonischen Melodien v e r k n ü p f t und dadurch eine besonders günstige Wirkung auf den v o n melancholischer Trauer befallenen Christen ausübt. » D e n n es kan beydes w o l b e y s a m m e n seyn / ein schöner Text / vnd eine liebliche M e l o d e y « . 2 7 D i e Wechselgesänge des Osterchores besänftigen Faust. D o c h auch die J u genderinnerungen, die durch die Melodien der Kirchenlieder hervorgerufen werden, bewirken eine seelische Entspannung. Sie führen in jene J a h r e zurück, die v o n empfindsamer Religiosität und gläubiger H i n w e n d u n g zu G o t t geprägt wurden. Eine nostalgische Sehnsucht ergreift den zurückblickenden Faust: »Sonst stürzte sich der Himmelsliebe K u ß / A u f mich herab, in ernster Sabbatstille; / D a klang so ahnungsvoll des G l o c k e n t o n e s Fülle, / U n d ein G e b e t w a r brünstiger G e n u ß « (V. 7 7 i f f . ) . D e r junge Faust kultivierte eine emotionale und v o m pietistischen E r b e geprägte Gottesbeziehung. D a s autonome Erkenntnisstreben führte ihn dann jedoch aus dieser Sphäre mit ihren regressiven Tendenzen heraus und ließ ihn die propagierte Einheit mit dem Schöpfergott als A u s geburt eines jugendlichen und unreifen Subjektivismus erkennen. »Die B o t schaft h ö r ' ich w o h l , allein mir fehlt der G l a u b e « , erklärt der Desillusionierte in seinem resignativen Skeptizismus, als er den Kirchengesang des österlichen C h o r e s vernimmt (V. 765). T r o t z aller kritischen Distanz w i r d Faust v o n seinen Erinnerungen an die religiösen Jugenderlebnisse bewegt und besänftigt. Sie lassen eine glückliche Zeit aufscheinen, in der er mit der Welt und ihrem vermeintlichen Schöpfer noch in inniger Verbindung lebte. »Erinnrung hält mich nun mit kindlichem G e f ü h l e / V o m letzten, ernsten Schritt zurück« (V. 781 f.). D i e an den Ostergesang anschließende Szene >Vor dem Tor< zeigt Faust erstmals in der freien N a t u r während eines Spaziergangs mit seinem Famulus Wagner. Markante Kontraste setzen diese Szene v o n der vorausgehenden ab: N i c h t mehr Fausts enge und staubige Gelehrtenklause bildet den R a h m e n f ü r das dramatische Geschehen, sondern das weite Panorama der allmählich erwachenden Frühlingsnatur. A u c h die Tageszeit hat sich gewandelt: Herrschte in der E i n gangsszene noch finstre N a c h t , so beleuchtet nun die M o r g e n s o n n e das bunte Treiben v o r dem Stadttor. Überdies erfährt das Personenensemble eine bedeu-
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Zit. n. Johann Anselm Steiger: Melancholie, Diätetik und Trost. Konzepte der Melancholie-Therapie im 16. und 17. Jahrhundert, Heidelberg 1996, S. 129. Ebenda.
3°5
tende Erweiterung. Während der erste Auftritt fast ausschließlich Faust in seiner melancholischen Verzweiflung zeigte, bevölkern nunmehr junge und alte Stadtbewohner den Bühnenraum, die in gesellige Unterhaltungen vertieft sind oder in einfachen Liedern ihrer neu erwachten Lebenslust Ausdruck verleihen. Die belebenden und entspannenden Wirkungen der neuen Umgebung stellen sich unvermittelt ein. Faust, der mit Wagner durch die morgendliche Frühlingsnatur spaziert, hat die melancholischen Nachtgedanken überwunden und erbaut sich nun an den flanierenden Menschen, die wie er die engen Häuser verlassen haben, um die ersten Strahlen der Sonne zu genießen. Faust säkularisiert das Ostergeschehen, indem er es als Wiedererwachen der Natur und der menschlichen Lebensfreude nach der dunklen Zeit des Winters interpretiert. Gegenüber Wagner erklärt er: »Jeder sonnt sich heute so gern. / Sie feiern die Auferstehung des Herrn, / Denn sie sind selber auferstanden« (V. 92off.). Inmitten der Natur und im Anblick der freudig erregten Ausflügler schöpft auch Faust neue Lebenszuversicht. Wie die Bewohner der Stadt aus den »dumpfen Gemächern« ihrer Häuser hervorströmen (V. 923), so verläßt er sein »verfluchtes dumpfes Mauerloch« (V. 399), um die sich belebende Landschaft zu durchstreifen. »Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein«, bekennt er ergriffen, nachdem er die Sonntagsfreuden der Stadtbewohner aus sentimentalischer Perspektive geschildert hat (V. 940). Das Spazierengehen in der freien Natur gehört ebenso wie der Aufenthalt unter heiter gestimmten Menschen zu den wichtigsten und über die Jahrhunderte hinweg immer wieder propagierten antimelancholischen Therapeutika. Bereits antike Autoren wie Aulus Cornelius Celsus betonen die besondere Heilkraft der körperlichen Bewegung, und in den humanistischen Regimina für >studiosi< und >viri litterati< spricht man dem Spazierengehen neben anderen Formen der körperlichen Bewegung sogar eine zentrale Bedeutung für die Vermeidung psychischer und somatischer Krankheiten zu.28 Faust erfährt während seines Osterspaziergangs die verjüngende Kraft der Natur und die belebende Wirkung der menschlichen Gesellschaft. Trotzdem bleibt er auf eigenartige Weise distanziert. Die herumziehenden Menschen gewinnen keine klaren Konturen in seiner Beschreibung, sie bleiben unbestimmt und schemenhaft. Auch bei der Begegnung mit den tanzenden Bauern gibt sich Faust reserviert und verschlossen. Er dankt zwar freundlich für den dargereichten Erquickungstrank, bleibt aber ansonsten maskiert und wortkarg - lediglich vier Verse kann er sich abringen, die kaum mehr als höfliche Floskeln enthalten. Eines wird zunehmend deutlich: Der Spaziergang in der freien Natur läßt Fausts nächtliche Suizidanwandlung zwar in den Hintergrund treten, die zermürbenden Depressionen indes kann er nicht nachhaltig zurückdrängen. Als 28
Vgl. Werner Friedrich Kümmel: Der Homo litteratus und die Kunst, gesund zu leben, S. 77-80.
306
Faust sich schließlich mit Wagner auf eine Anhöhe begibt, um von dort der untergehenden Sonne nachzuschauen, erstarkt die alte Melancholie mit ihren charakteristischen Symptomen. Erneut bricht jenes Entgrenzungsverlangen auf, das bereits die Eingangsszene mit ihren magischen Experimenten bestimmte. Im Anblick der abendlichen Sonne versenkt sich Faust in die Vision eines schwerelosen Vogelflugs, der ihn über alle irdischen Niederungen hinweg in die Weite des grenzenlosen Meeres führt. Wie sehr die erhabenen und lyrisch getönten Imaginationen die Wahrnehmung der realen Abendszenerie überlagern, erweist sich an Fausts erregter Rede, die unversehens von einem optativischen in ein präsentisches Sprechen umschlägt. Der noch eine gewisse Distanz anzeigende und im Irrealis gehaltene Wunsch mündet in ein unmittelbares Erleben: »Schon tut das Meer sich mit erwärmten Buchten / Vor den erstaunten Augen auf« (V. io82f.). Faust scheint seine irdische Gebundenheit zu vergessen und erklärt, als die Sonne hinter den Horizont sinkt: »Ich eile fort, ihr ew'ges Licht zu trinken, / Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht, / Den Himmel über mir und unter mir die Wellen« (V. io86ff.). Fausts Entgrenzungsverlangen entspringt einem heftigen Inkludenzgefühl, das bereits Werther wiederholt heimsuchte ( H A 6, 6 5 f.). Doch nicht nur dies - auch seine Imaginationen entsprechen in ihrer Bildlichkeit jenen Phantasmata, denen sich schon Werther mit besonderer Emphase hingab. Auch er sehnte sich bereits nach den Flügeln eines Vogels, um mit ihrer Hilfe die >conditio humana< zu suspendieren. Im Brief vom 18. August schrieb er: »Wie oft habe ich mich mit Fittichen eines Kranichs, der über mich hin flog, zu dem U f e r des ungemessenen Meeres gesehnt, aus dem schäumenden Becher des Unendlichen jene schwellende Lebenswonne zu trinken« ( H A 6,52).
Sowohl die Metapher des unendlichen Meeres als auch
das Bild des Kranichs, das Fausts Vision abschließt, sind bei Werther vorgeprägt.* 9 Im Angesicht der untergehenden Sonne liefert sich Faust erneut dem Totalitätsdrang seiner Seele aus. In visionärer Erregung eilt seine Vorstellungskraft dem sinkenden Gestirn nach, das symbolisch für den schöpferischen Urgrund des gesamten Kosmos steht. Doch auch die Sonnenvision läßt Faust nach einem kurzen ekstatischen Aufschwung in einer tiefen Resignation zurück. Es ist erstaunlich, wie analog sich diese Szene zu den vorausgehenden Entgrenzungsversuchen verhält. Wiederum begegnen die Bilder einer gottgleichen Existenz (V. 1080), die Hervorhebung des Neuen und Neuartigen (V. 1085) sowie die unausweichliche Enttäuschung über die flüchtige Irrealität des in der Vision G e schauten. Stand am Ende der Makrokosmosvision die desillusionierende Ein-
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Peter Michelsen hat eine detaillierte und aufschlußreiche Deutung zu Fausts visionären Imaginationen vorgelegt. Ihren Einsichten sind auch die vorangehenden A u s f ü h rungen teilweise verpflichtet. P. Michelsen: D e r Einzelne und sein Geselle. Fausts Osterspaziergang. In: Euphorion 72 (1978), 8 . 4 3 - 6 7 , hier S. 53-58.
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sieht in den täuschenden Schein des kosmischen Schauspiels, so gipfelt die Vision einer schwerelosen Existenz im ewigen Anblick der Sonne in der ernüchternden Feststellung: »Ein schöner Traum, indessen sie entweicht. / Ach! zu des Geistes Flügeln wird so leicht / Kein körperlicher Flügel sich gesellen« (V. io89ff.). Fausts Sehnsucht nach dem Absoluten kann wiederum nicht befriedigt werden. Doch führt diese neuerliche Enttäuschung keineswegs zu einer Haltung, die das irdische Los des Menschen annimmt und die Grenzen der menschlichen Existenz akzeptiert. Während Wagner zum philiströsen Lob seiner bornierten Gelehrtenexistenz anhebt und dabei offen bekennt, daß er »des Vogels Fittich« sicherlich nie beneiden werde (V. 1103), wendet sich Faust an die »Geister in der Luft«, damit sie ihn aus seiner desolaten Lage befreien: »So steiget nieder aus dem goldnen Duft / Und führt mich weg, zu neuem, buntem Leben« (V. ii2of.). Das im Anschluß an die Sonnenvision artikulierte Bedürfnis nach zerstreuenden Ereignissen resultiert nicht aus einer unbeschwerten Daseinslust, sondern entspringt vielmehr einer resignativen Einsicht in die Unmöglichkeit, die dem Menschen gesetzten Grenzen zu transzendieren. Die von Mephisto nach Pakt und Wette initiierte Weltfahrt, die den Wunsch nach »buntem Leben« erfüllen soll, hat somit von Anfang an die Funktion des betäubenden Surrogats. Sie soll einen berauschenden Sinnestaumel entfesseln, damit Faust nicht länger an die zahlreichen Enttäuschungen seiner Erkenntnissuche denken muß und die tief wurzelnde Sehnsucht nach einer Schau des Absoluten vergessen kann. Vor dem Hintergrund der mißlungenen Entgrenzungsversuche entpuppt sich Fausts Wunsch nach »buntem Leben« als verzweifelte und hoffnungslose Fluchtbewegung.
4.
Melancholischer Nihilismus - Fausts Pakt mit Mephisto
Im Winter und Frühjahr 1801 nimmt Goethe die weitere Ausarbeitung des bis dahin nur fragmentarisch vorliegenden >Faust< in Angriff. Vor allem die sogenannte »große Lücke«, die nach wie vor zwischen Wagners Auftritt in der Eingangsszene und Mephistos spöttischer Universitätssatire klafft, soll nunmehr endlich geschlossen werden (FA 7/1, 782). Das Vorhaben erweist sich indes als schwierig. Die Herausforderung, vor die sich Goethe gestellt sieht, ist immens, muß doch in den neu einzufügenden Szenen Fausts Verbindung mit Mephisto psychologisch begründet werden. Wie also einen Nexus zwischen Fausts melancholischer Verzweiflung und Mephistos spektakulärem Auftritt stiften? Im Februar 1801 entleiht Goethe aus der Weimarer Bibliothek einige Bücher, die ihm bei der Bewältigung der anstehenden Aufgabe behilflich sein sollen. Unter ihnen befindet sich auch das bekannte >FaustLogos< finden kann. Zunächst übersetzt er >Logos< mit >WortSinnKraft< und >TatLehrjahren< - als ewige Wiederkehr des Immergleichen. Ein Befreiungsschlag gegen diese übermächtige Monotonie scheint aussichtslos, und so gipfelt das >taedium vitae< schließlich in einem abermaligen Todeswunsch: »Und so ist mir das Dasein eine Last, / Der Tod erwünscht, das Leben mir verhaßt« (V. 157of.). Mephisto spielt Fausts Suizidverlangen als Spleen herunter und erinnert mit einem spöttischen Seitenhieb an den fehlgeschlagenen Selbstmordversuch der Osternacht. Auf diese Weise gereizt, holt Faust zu seiner nihilistischen und alles vernichtenden Fluchrede aus. E r rüttelt jetzt nicht mehr nur an den quälenden Einschränkungen seines Wissenschaftlerdaseins, sondern prangert ganz grundsätzlich die Nichtigkeit und Trivialität aller Lebensgüter an. Nichts entgeht diesem reißenden Katarakt aus heftigen Flüchen und wilden Schmähungen. Die verbale Destruktion erstreckt sich auf alle Lebensbereiche und zertrümmert in einer weit gespannten Klimax sämtliche Werte bis hin zu den drei christlichen Hochtugenden, die Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther zusammengefaßt hat: Glaube, H o f f n u n g und Liebe ( 1 K o r 1 3 , 1 3 ) . Ausnahmslos alles gerät in den rasenden Strudel einer Weltzerstörung, die mit dem Fluch auf die Geduld ihren nihilistischen Höhepunkt erreicht. Wie eng im Werk Goethes die Geduld mit den christlichen Kardinaltugenden verknüpft ist, geht aus einer Passage der >Wanderjahre< hervor, w o der als Redakteur agierende Erzähler die »Quintessenz« eines Gespräches zwischen Wilhelm und Friedrich wiedergibt. Danach resultiert die Tugend der Geduld aus der religiösen Haltung desjenigen, der im Glauben an Christus nicht wankt und die göttliche Gnadenzusage zum Fundament seines Lebens macht. »Daß der Mensch ins Unvermeidliche sich füge«,
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erläutert der Redakteur, »darauf dringen alle Religionen, jede sucht auf ihre Weise mit dieser Aufgabe fertig zu werden. Die christliche hilft durch Glaube, Liebe, Hoffnung gar anmutig nach; daraus entsteht denn die Geduld, ein süßes Gefühl, welch eine schätzbare Gabe das Dasein bleibe, auch wenn ihm, anstatt des gewünschten Genusses, das widerwärtigste Leiden aufgebürdet wird« (HA 8, W · ) · Mit der nihilistischen Fluchrede besiegelt Faust noch einmal seinen endgültigen und unwiderruflichen Abfall vom Christentum. Doch auch die Verwünschung aller irdischen Lebensgüter besitzt die Qualität einer irreversiblen Entwertung. »Du hast sie zerstört, / Die schöne Welt«, klagt der unsichtbare Geisterchor über Fausts Fluchkaskaden, die eine abgrundtiefe und durch nichts mehr aufzuhellende Verzweiflung erkennen lassen (V. i6o8f.). Der höchste Grad der säkularisierten >acedia< ist erreicht. Aus dieser Melancholie - so scheint es - führt kein Weg mehr ans Licht; vielmehr münden von hier aus alle Pfade in eine Verbindung mit Mephisto. Noch im höchsten Alter wird sich Faust an sein »Frevelwort« erinnern, mit dem er in der zweiten StudierzimmerSzene die gesamte Welt und seine eigene Existenz verflucht (V. 11409). Interessanterweise wird er genau in jenem Augenblick zurückschauen, da die durch den Pakt für lange Zeit verdrängte Melancholie im allegorischen Gewand der Sorge seinen Palast aufsucht und ihn nach einem kurzen Streitgespräch blendet. Mephisto zeigt sich nach der gewaltigen Fluchrede bemüht, den anvisierten Pakt erfolgreich abzuschließen. Zunächst jedoch stimmt er Faust auf die bevorstehende Weltfahrt ein, die alle melancholischen Verstimmungen vergessen machen soll. Seinem materialistischen Menschenbild gemäß führt er Fausts Depressionen nicht auf dessen verzweifeltes Leiden an der Begrenztheit alles Irdischen zurück, sondern auf eine falsche, da unausgewogene Lebensführung, die in stockenden Körpersäften ihren ungesunden Niederschlag finde (V. 1633). Wenngleich Mephisto das komplexe Ursachengeflecht der faustischen Melancholie geschickt auf einige humoralphysiologische Mißstände reduziert, so sind doch die Befunde seiner Diagnose keineswegs nur aus der Luft gegriffen. Vielmehr lassen sie einige symptomatische Verhaltensweisen hervortreten, die Faust in eine enge Beziehung zu anderen Melancholikern rücken, vor allem zu Werther und Tasso. Die anhaltende Einsamkeit, »wo Sinnen und Säfte stokken«, hält Mephisto, der hier die Maske des philanthropischen Therapeuten aufsetzt, für ganz besonders schädlich (V. 1632). Doch auch die hartnäckige Fixierung auf das eigene Seelenleiden kritisiert er mit spöttischem Unterton: »Hör auf, mit deinem Gram zu spielen, / Der, wie ein Geier, dir am Leben frißt« (V. 163 5 f.). Faust erscheint hier als Melancholiker, der sich in der Rolle des gefesselten Prometheus gefällt und seine Verstimmungen bewußt kultiviert. Die übersteigerte Konzentration auf das eigene Leid begegnet bei so gut wie allen Melancholikern im Werk Goethes. In einem Gespräch mit Tasso etwa beklagt
314
Leonore Sanvitale, daß dieser seine Melancholie keineswegs zu überwinden trachte, sondern im Gegenteil gewaltsam zu forcieren versuche: »So lange hegst du schon Verdruß und Sorge, / Wie ein geliebtes Kind, an deiner Brust« (V. 2379Í.). A u c h Eduard treibt ein masochistisches Spiel mit seiner eigenen M e lancholie. E r zelebriert sie geradezu, nachdem er Ottilie verlassen und ein abgelegenes Quartier bezogen hat. »Es gibt Fälle«, betont er gegenüber Mittler, »wo jeder Trost niederträchtig und Verzweiflung Pflicht ist« ( H A 6, 355). Mephisto propagiert das gesellige Amüsement als effizientes Therapeutikum gegen die Melancholie: Schon die »schlechteste Gesellschaft« werde Faust zu der Einsicht führen, daß auch er ein »Mensch mit Menschen« sei (V.
i6}j{.).
Diese Worte sind verräterisch, lassen sie doch bereits erkennen, was Mephisto im Sinn führt und welche Stationen er auf der künftigen Weltfahrt ansteuern will. Faust soll sich im bunten Gewimmel der Welt verlieren und seine Sehnsucht nach dem Absoluten und Überirdischen vergessen. Der wüste Rausch entfesselter Triebe soll ihn narkotisieren und zuletzt im Strudel zügelloser E x zesse untergehen lassen. Zunächst akzeptiert Faust das Angebot Mephistos, da er nach einem A u s w e g aus seiner lebensgeschichtlichen Sackgasse sucht. Seiner kontemplativen Existenz überdrüssig, sehnt er sich nach einem bewegten Leben fernab aller gelehrten Spekulation: »Des Denkens Faden ist zerrissen, / Mir ekelt lange vor allem Wissen« (V. i748f.). Die mit der ersten Station in A u e r bachs Keller< einsetzende Weltfahrt - darauf wurde bereits hingewiesen - erweist sich von A n f a n g an als ein verzweifelter Ausbruchsversuch. Faust tritt diese Reise nicht frohen Mutes an, sondern unter dem Signum einer Flucht vor sich selbst und seinem sterilen Gelehrtendasein. D e r Weltfahrt liegt ein entschiedener und von Faust selbst artikulierter Eskapismus zugrunde. Wenn Faust in das »Rauschen der Zeit« eintaucht (V. 1754), um »glühende Leidenschaften« zu stillen (V. 1 7 5 1 ) , dann wendet er sich einer Sphäre zu, die er in seiner nihilistischen Fluchrede bereits vollends entwertet hat. E r läßt sich auf ein zweifelhaftes Abenteuer ein, das ihn zwar kurzfristig betäuben, keineswegs aber endgültig heilen und von seinem Verlangen nach Höherem kurieren kann. Diese Ambivalenz ist von zentraler Bedeutung f ü r die Verbindung mit Mephisto (V. i692ff.). Faust erkennt noch vor dem Abschluß der Wette, daß er sich selbst nicht entfliehen und im sinnlichen Genuß keine Befriedigung finden wird. Das »Faulbett« bietet keine Alternative, da es während der Fluchrede bereits in seinem Wert negiert worden ist (V. 1692). Fausts Melancholie offenbart damit ein zweites, bislang verborgenes Gesicht. Als Folge einer zermürbenden Gelehrtenexistenz hat sie zwar den Wunsch nach heiterem Daseinsgenuß und »buntem Leben« provoziert (V. 1 1 2 1 ) , als Auslöser einer universalen Weltentwertung bewahrt sie Faust jedoch zugleich vor einem besinnungslosen A u f g e hen in den niederen Genüssen und primitiven Vergnügungen, die Mephisto in seiner Eigenschaft als kruder Materialist anpreist. Wie Jochen Schmidt in seiner luziden Studie bereits hervorgehoben hat, erweist sich die Melancholie einer-
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seits als lebensbedrohliche Gefahr, andererseits aber auch als existentielles R e gulativ. Sie führt Faust in den Machtbereich des Teufels, hebt ihn aber zugleich auch über diesen hinaus; sie bewahrt das Moment des ruhelosen Strebens, das schließlich in der >BergschluchtenDie Wahlverwandtschaften^ Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808-1832, Weinheim 1983. Hamann, Johann Georg: Briefwechsel, hg. v. Walther Ziesemer u. Arthur Henkel, 7 Bde., Wiesbaden/Frankfurt a.M., 1955-1979. Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, 6 Bde., Darmstadt 19681976. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe, 3 Bde., hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt a.M. 1992-1994. Hoffbauer, Johann Christoph: Untersuchungen über die Krankheiten der Seele und die verwandten Zustände, 3 Bde., Halle 1802-1807. - Grundriß der Erfahrungs-Seelenlehre, Halle 2 i 8 i o . Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: Sämtliche Werke, hg. v. Wulf Segebrecht u. Hartmut Steinecke, 6 Bde., Frankfurt a.M. 1985ff. Homer: Ilias. Odyssee, übers. v.Johann Heinrich Voß [1793], Frankfurt a.M. 1990. Kant, Immanuel: Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, 6 Bde., Darmstadt 1998. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Ausgewählte Werke, hg. v. Karl August Schleiden, Darmstadt 1962. Knüppeln, Julius Friedrich: Ueber den Selbstmord. Ein Buch für die Menschheit, Gera 1790. Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, 4 Bde., Leipzig/Winterthur 1775-1778. - Vermischte Schriften, 2 Bde., Winterthur 1 7 7 4 - 1 7 8 1 . Nachdruck: Hildesheim/Zürich 1988. Leuret, François: Du traitement moral de la folie, Paris 1840. Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. »Tischredens hg. v. Ernst Kroker, 6 Bde., Weimar 1 9 1 2 - 1 9 2 1 . Milton, John: The Complete Poems, hg. v. B . A . Wright, Einl. u. Anm. v. Gordon Campbell, London 1980. Mörike, Eduard: Sämtliche Werke. Briefe, hg. v. Gerhart Baumann, 3 Bde., Stuttgart 2 i96i. Moritz, Karl Philipp: Werke, hg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1997-1999. Pinel, Philippe: Artikel >MélancolieMédecine W a h l v e r w a n d t s c h a f t e n und die C h e m i e seiner Zeit, M ü n c h e n 1987. A m m e r l a h n , H e l l m u t : G o e t h e u n d Wilhelm Meister, Shakespeare u n d Natalie: D i e klassische H e i l u n g des kranken K ö n i g s s o h n s . In: J a h r b u c h des Freien D e u t s c h e n H o c h stifts 1 9 7 8 , S . 4 7 - 8 4 . A u r n h a m m e r , A c h i m : Pathographie des Poeten. Z u r B e d e u t u n g v o n L e i d e n und M e l a n cholie f ü r das f r ü h e T a s s o - B i l d . In: U d o B e n z e n h ö f e r u. Wilhelm K ü h l m a n n (Hg.): H e i l k u n d e u n d K r a n k h e i t s e r f a h r u n g in der f r ü h e n N e u z e i t . Studien am G r e n z r a i n v o n Literaturgeschichte u n d Medizingeschichte, T ü b i n g e n 1992, S. 1 8 7 - 2 0 0 . -
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