Therapie im literarischen Text: Johann Georg Zimmermanns Werk »Über die Einsamkeit« in seiner Zeit 9783110931273, 9783484810327

The Swiss author Johann Georg Zimmermann (1728–1795) is widely regarded as a prototype of the physician-cum-writer. The

234 68 3MB

German Pages 443 [448] Year 2007

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Vorwort.pdf
Inhalt.pdf
Abb. 1.pdf
Einleitung.pdf
Kap. 1.pdf
Kap. 2.pdf
Kap. 3.pdf
Deckblatt Teil 1.pdf
Kap. 4.pdf
Kap. 5.pdf
Kap. 6.pdf
Kap. 7.pdf
Kap. 8.pdf
Kap. 9.pdf
Deckblatt Teil 2.pdf
Kap. 10.pdf
Schluss.pdf
Bibliographie.pdf
Recommend Papers

Therapie im literarischen Text: Johann Georg Zimmermanns Werk »Über die Einsamkeit« in seiner Zeit
 9783110931273, 9783484810327

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Hallesche Beitr ge zur Europ ischen Aufkl rung Schriftenreihe des Interdisziplinren Zentrums fr die Erforschung der Europischen Aufklrung Martin-Luther-Universitt Halle-Wittenberg

32

Markus Zenker

Therapie im literarischen Text Johann Georg Zimmermanns Werk ber die Einsamkeit in seiner Zeit

n Max Niemeyer Verlag Tbingen

Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Manfred Beetz, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Rainer Enskat, Jçrn Garber, Andreas Kleinert, Wilhelm Khlmann, Gabriela Lehmann-Carli, Wolfgang Levermann, Jean Mondot, Monika Neugebauer-Wçlk, Jrgen Osterhammel, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Peter Hanns Reill, Heiner Schnelling, Jrgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine VolkBirke Redaktion: Ulrich Diehl Satz: Kornelia Grn

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-81032-7

ISSN 0948-6070

? Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, Cbersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Printed in Germany. Druck: Laupp & Gçbel GmbH, Nehren Einband: Geiger, Ammerbuch

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2002/03 von der PhilosophischHistorischen Fakultät der Universität Basel als Habilitationsschrift angenommen. Für die Druckfassung ist das Manuskript leicht überarbeitet worden, seither erschienene Sekundärliteratur konnte dabei nur noch zum Teil berücksichtigt werden. Dass die Arbeit nunmehr publiziert werden kann, ist vielgestaltiger Unterstützung zu danken. Der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) ermöglichte die Fertigstellung der Studie, weil ich 1998 für ein halbes Jahr von meiner Lehrverpflichtung mit vollem Deputat als Gymnasiallehrer beurlaubt werden konnte. Dem Freund aus Münchner Zeiten Dr. Wilhelm Haefs (München/Halle), Dr. Jörn Garber (Kassel) sowie Dr. Ulrich Diehl und Frau Kornelia Grün vom Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) in Halle a. S. danke ich bestens für vielfältige Hilfe nicht nur bei der Betreuung des Manuskripts. Dem Direktorium des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung gilt mein Dank für die Aufnahme der Arbeit in seine Wissenschaftliche Reihe Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung. Prof. Dr. Karl Pestalozzi (Universität Basel) und Prof. Dr. Walter Müller-Seidel (Ludwig-Maximilians-Universität München) bin ich auf besondere Weise in Dankbarkeit verbunden. Falls mit dieser Monographie ein Beitrag zur Erhellung der Bedeutung schweizerischen Gedankenguts im Kontext des kosmopolitisch ausgerichteten 18. Jahrhunderts geleistet wird, wäre ein nicht unwesentliches Erkenntnisanliegen erreicht. Schönenberg, den 21. Februar 2007 Markus Zenker

V

Meiner Frau Regula und unseren beiden Söhnen Raphael Laurent und Fabian Christopher

Inhalt

Einleitung. Johann Georg Zimmermanns Bestimmung des Menschen im zeitgenössischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Erkenntnisziele und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Zu Person und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zu Forschungsgeschichte und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Positivistische, medizinhistorische und geistesgeschichtliche Forschungen (1890–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Publikationen nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

..... ..... .....

19 25 55

..... .....

60 68

Teil I Einsamkeitstherapeutik. Denkformen und Bewusstseinshaltungen in Johann Georg Zimmermanns Schrift „Über die Einsamkeit“ 4 5

Die Werke über die Einsamkeit (1756, 1773 und 1784/85) . . . . . . . . . Schreiben und Einsamkeit als Therapeutika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Krankheit und Medizin im Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Zu Zimmermanns Krankheitsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Literarische Heilungs- und Linderungstherapeutik . . . . . . . . . . . 5.3.1 Affektabfuhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Bemerkungen zu Zimmermanns Bild der Frau . . . . . . . . 5.3.3 „Es ist meine Manier, in jeder Absicht, frey zu schreiben“ 5.3.4 Status der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Einsame Natur und Landschaft als therapeutische Erfahrungsräume . . 6.1 Therapeutische Natur. Fünf Landschaften Zimmermanns . . . . . . 6.1.1 Eine Alpensicht bei Bern und die Umgebung Roms . . . . 6.1.2 Auf der Habsburg bei Brugg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Zwei Zürcher Landschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Ubiquitäres Arkadien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einsamkeitsbildung durch „Geschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Historische Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Teleologisches Geschichtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Zu Zimmermanns politischem Standort . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81 93 93 106 119 119 124 131 136 141 147 148 155 161 165 166 173 173 177 183 189 VII

7.5 Parallelismus von Onto- und Phylogenese . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Geschichte und Einsamkeitstherapeutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Heilsgeschichte und Einsamkeit: Zimmermanns Einsamkeitstheologie . 8.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Polemische Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Mönchskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Wunderproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Obereit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Verfälschtes Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Einsamkeitsfrömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1 Einsamkeitsverwandte Gefühlsgemeinschaft . . . . . . . . . 8.4.2 Einsamkeitsbezirke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.3 Religiöse Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Religiöse Toleranz und christliche Ökumene . . . . . . . . . . . . . . 8.5.1 Toleranzhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 „Weltreformation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Therapeutische Aspekte von Zimmermanns Sprachwelt . . . . . . . . . . . 9.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Zur Phänomenologie der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Physiognomik von Sprache und Stil . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Sprachschöpferisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.3 Metaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.4 Das Gesetz der wachsenden Glieder bei Zimmermann . . . 9.2.5 Syntaktisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Der Teil und das Ganze. Zur schriftstellerischen Verfahrensweise 9.3.1 Werkstattberichte und Rezeptionsanweisungen . . . . . . . . 9.3.2 Einheit des Planes und Vielfalt der Ausführung . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

194 197 199 199 201 201 206 208 209 210 210 214 216 223 223 227 233 233 236 236 245 250 265 269 271 271 278

Teil II Johann Georg Zimmermann: Versuch einer Ortsbestimmung 10 Zur Literarität von Zimmermanns Gesamtwerk vor dem Epochalen Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Zimmermann als Prototyp eines philosophischen Arzt-Schriftstellers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.1 Literarische Krankengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.2 Vorläufer und Nachfolger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Medizinhistorische Aspekte und wissenschaftsgeschichtliche Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.1 Zimmermann im Bezugsfeld konkurrierender zeitgenössischer Medizinkonzepte . . . . . . . . . . . . . VIII

. . . . . 285 . . . . . 285 . . . . . 292 . . . . . 296 . . . . . 312 . . . . . 312

10.2.2 Kommunizierende Therapieformen. Das Zusammenwirken von Literatur und Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Ein frommer Aufklärer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Zu Zimmermanns theologiegeschichtlichem Ort . . . . . . . . 10.3.2 Zimmermanns Verhältnis zum Pietismus . . . . . . . . . . . . . 10.3.3 Zimmermann und Lavater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.4 Komplementarität von Medizin und Religion . . . . . . . . . .

. . . . . .

346 353 353 365 378 390

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A Primäre Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ungedruckte Quellen von Zimmermann . . . . 2 Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Schriften Johann Georg Zimmermann 2.2 Gedruckte Briefe an J. G. Zimmermann . . 2.3 Streitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Sonstige zeitgenössische Primärliteratur . . B Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Sekundärliteratur bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . 2 Sekundärliteratur nach 1945 . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

409 409 409 410 410 416 417 417 422 422 424

IX

Abb. 1: Pinselzeichnung von Jacob Wilhelm Mechau (1745–1808), um 1775 (?). Im Original: 100x65 mm (Bildfläche); Kunstsammlungen der Veste Coburg. Inv Nr Z 1415

Einleitung. Johann Georg Zimmermanns Bestimmung des Menschen im zeitgenössischen Kontext

„Kenne den Menschen muss man freilich dem Menschen ohne Aufhören zurufen!“ Von der Erfahrung in der Arzneykunst. II. Theil, IV. Buch, 12. Capitel: „Von den entfernten Ursachen der Krankheiten in der allzugrossen Anstrengung des Geistes“. Zürich, bey Heidegger und Compagnie. 1764, S. 515.

Dass das Humanitätsideal der Weimarer Klassik seinen normativen Anspruch eingebüsst hat und historisch geworden ist, kann man nicht bestreiten. Die Historizität der deutschen Klassik bedeutet indessen nicht, dass die mit ihr verknüpften Probleme obsolet geworden wären. Neuere und neueste Aufklärungsforschung hat eine Bewegung erschlossen, die nicht zuletzt durch den im 19. Jahrhundert verklärend dargestellten Siegeszug der deutschen Klassik überschattet worden ist, und die mit den Stichwörtern „Anthropologie“, „Anthropologische Wende“ und „Philosophischer Arzt“ umschrieben ist. Die „Anthropologie“, von der hier die Rede ist, stellt trotz verwandter Bestrebungen einen Kontrapunkt zur deutschen Klassik dar. Zwar gravitiert auch diese „Anthropologie“ um eine Bestimmung des Menschen; als leibnähere Disziplin orientiert sie sich aber nicht an Winckelmann und an dem von ihm vermittelten Menschenbild der griechischen Klassik, sondern sie rückt den Menschen in seiner psychophysischen Doppelkonstitution ins Zentrum. Die Philosophischen Ärzte erhielten im Bezugsfeld der interdisziplinären Forschungslandschaft „Literatur und Anthropologie“ in den letzten zwanzig Jahren eingehendere Beachtung. Diese Monographie geht von der Beobachtung aus, dass in Person und Werk Johann Georg Zimmermanns,1 eines bekannten Unbekannten der Literaturund Wissenschaftsgeschichte, eine spezifische Ausprägung anthropologischen und philosophischen Arzttums vorliegt, die insgesamt wenig Beachtung gefunden hat.2 An Zimmermanns Einsamkeitskonzeption lässt sich eine Bestimmung des Menschen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts studieren, die als eine anthropologische Variante des klassischen Humanitätsideals verstanden werden kann, die therapeutisch im Zeichen von Einsamkeit dargestellt wird. In der folgenden Einleitung wird diese Generalthese problembegründend erläutert. Die einzelnen Problemfelder, die sich aus dem übergeordneten Erkenntnisinteresse nach Zimmermanns Anthropologie ergeben, sollen in ihren Anbindungen an die Forschungslage entwickelt werden. Anschliessend soll das Vorgehen dargelegt werden. Zunächst fragt sich: Was ist unter den Begriffen „Anthropologie“, „Anthropologische 1 2

Vgl. zu Leben und Werk Zimmermanns: 2 Zu Person und Werk. Vgl. dazu 3 Zu Forschungsgeschichte und Forschungsstand.

1

Wende“ und „Philosophischer Arzt“ im zeitgenössischen Kontext von Zimmermanns Bestimmung des Menschen zu verstehen? Im Exkurs „Anthropologie“ – Anmerkungen zu einem Begriff der Aufklärungsforschung in seiner Studie zu Unzers Wochenschrift Der Arzt hat Matthias Reiber die geringe Prägnanz und Konsistenz des Begriffs dargelegt und ausgeführt, dass der Anthropologiebegriff bereits in der deutschen Spätaufklärung das typische Schicksal „eines vorübergehend funktionslosen, verwaisten Terminus“ erfahren habe, indem er zum Universalbegriff geworden sei.3 Ablehnung der traditionellen Metaphysik und des rationalistischen Vernunftbegriffs, Aufwertung der unteren Seelenkräfte und des empirischen Sinnenbewusstseins seien der gemeinsame methodische Nenner, auf den die lebenspraktische Philosophie des Eklektikers, die Popularphilosophie, die Erfahrungsseelenkunde und die ‚Anthropologie‘ im 18. Jahrhundert zu bringen sind; und von hier aus wäre auch die tiefverwurzelte systematische Beziehung zur aufklärerischen Ästhetik zu rekonstruieren.4

Berechtigterweise fragt Reiber, ob es angesichts dieser terminologischen Lage angebracht sei, mit einem scheinbar zwingenden Begriff zu operieren und eine begriffliche Verbindlichkeit zu suggerieren, die den Aufklärern selber fremd war.5 Für die Zeit um 1750 fehlt allerdings ein konsensfähiger Anthropologie-Begriff, wie überhaupt „Anthropologie“ in dem Masse, als der Begriff Konjunktur bekommen hat, zunehmend eine dehnbar vieldeutige Semantik aufweist. Im 15. Buch des dritten Teils von Dichtung und Wahrheit6 kommt Goethe auch auf „Anthropologie“ zu sprechen und umreißt, in der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts, das Profil jener „medizinischen Strömung, die in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts im Rahmen der dieser Zeit verfügbaren Kenntnisse und Kategorien die Einheit von Psyche und Soma propagiert“.7 Die Anthropologische Wende kennzeichnet Goethe wie folgt: Es war […] vorzüglichen, denkenden und fühlenden Geistern ein Licht aufgegangen, dass die unmittelbare originelle Ansicht der Natur und ein darauf gegründetes Handeln das Beste sei, was der Mensch sich wünschen könne, und nicht einmal schwer zu erlangen. Erfahrung war also abermals das allgemeine Losungswort, und jedermann tat die Augen auf, so gut er konnte; eigentlich aber waren es die Ärzte, die am meisten Ursache hatten, darauf zu dringen, und Gelegenheit, sich darnach umzutun.8

Zimmermanns eindringliche Aufforderung, „Kenne den Menschen muss man freilich dem Menschen ohne Aufhören zurufen“, formuliert die aus dem 19. Jahrhun3 4 5 6 7

8

2

Reiber 1999, S. 50ff. Reiber 1999, S. 52. Reiber 1999, S. 53. Goethe, Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, 15. Buch, HA 10, S. 66. Riedel, Wolfgang, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“. Würzburg 1985 (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft 17), S. 11. Goethe, Dichtung und Wahrheit, HA 10, S. 66.

dert rückblickende Charakterisierung Goethes als zeitgenössischen anthropologischen Appell. Dieser stammt aus dem vierten Buch von Zimmermanns Erfahrung in der Arzneykunst, die während der Brugger Zeit, vor der Übersiedlung nach Hannover, entsteht und 1763/64 in zwei Teilen bei Heidegger und Compagnie in Zürich erscheint. An anderer Stelle in Dichtung und Wahrheit bezeichnet Goethe Zimmermanns Herzensfreund, den Lausanner Arzt Samuel Auguste André David Tissot, als Initiator, nach dessen Vorbild die Ärzte mit Eifer begonnen hätten auf die allgemeine Bildung zu wirken. Goethe führt aus: „Sehr grossen Einfluss hatten Haller, Unzer, Zimmermann, und was man im einzelnen gegen sie, besonders gegen den letzten, auch sagen mag, sie waren zu ihrer Zeit sehr wirksam“.9 Die Rezeption von Zimmermanns Schriften in der Spätaufklärung, auch über schweizerisch-deutsche Landes- und Konfessionsgrenzen hinweg,10 bezeugt in der Tat, dass er als ein „sehr beliebter einsichtsvoller Schriftsteller Deutschlands“11 galt, um stellvertretend nur einen zeitgenössischen Beleg zu zitieren. Nicht nur Goethe, auch Zimmermann bezieht sich, zur Bestimmung des Begriffs Philosophischer Arzt, auf das „aus alter Zeit“12 entgegenleuchtende Gestirn des Hippokrates: Obschon Hippokrates der Stifter der Arzneykunst nicht gewesen ist, so ward er doch durch die Ausübung dieser Grundsäze und die Kraft des Lichtes seiner Zeiten ihr Vater, indem er die Philosophie der Arzneykunst und die Arzneykunst der Philosophie nuzlich gemacht, und durch seine Thaten seinen Ausspruch erwiesen, dass ein philosophischer Arzt den Göttern ähnlich sey (Erf. I, 99).

Dass Philosophie ein wirksames Heilmittel gegen verwerfliche, nicht auf Erfahrung gegründete Wissenschaft bedeute, beteuert eine andere Stelle aus der Erfahrung in der Arzneykunst: „Die Philosophie allein heilt den Aberglauben. Wo keine Philosophie ist da spukt es, da sind Hexen, da sind Gespenster, da sind Kobolde, da herrscht allethalben der Teufel, da ist Aberglaube“ (Erf. II, 90). In Hippokrates’ Schülerschaft reiht sich so Zimmermann selber ein, indem er die Losung „Erfahrung“13 im „Kopfe eines philosophischen Arztes“14 fixiert haben möchte. Die Einheit von schöner Kunst und schöner Wissenschaft ist in der zeitgenössischen Bewusstseinslage kein unbekanntes Phänomen. In der Preisschrift für die Bayerische Akademie der Wissenschaften von 1779, „Über den Einfluss der Schönen auf die höheren Wissenschaften“, legt beispielsweise Herder dar, dass auch der sinnlichen Erkenntnis grundlegende Bedeutung für die höheren Wissenschaften zukomme. 9 10

11 12 13 14

Goethe, Dichtung und Wahrheit, II. Teil, 7. Buch, HA 9, S. 277. Vgl. dazu Zenker, Markus, Individualität und Soziabilität. Zu Johann Georg Zimmermanns Werk über die Einsamkeit im zeitgenössischen deutsch-schweizerischen Kontext, in: Das achtzehnte Jahrhundert 26/2 (2002), S. 163–171. Journal von und für Deutschland. Zweyter Jahrgang. Sechstes Stück. Hg. v. Freyherr von Bibra, Siegmund. Fulda 1785, S. 558. Goethe, Dichtung und Wahrheit, HA 10, S. 66. Zum Erfahrungsbegriff bei Zimmermann vgl. 12 Medizinhistorische Aspekte und wissenschaftsgeschichtliche Bezüge. Ruhr 1767, S. 358.

3

Physiologie und Ästhetik werden miteinander verknüpft, so dass sinnlicher Nervenreiz und geistige Erkenntnis aufeinander bezogen sind. Herder bestimmt die Grenzen der Philosophie also nicht transzendentalphilosophisch, weil sich nach ihm die Vernunft „nicht unberührt von der Erfahrung konstituiert, sondern immer schon Teil der historischen Welt des Menschen war“.15 Falls Philosophie in Anthropologie übergehen wird, prophezeit Herder: Alle Philosophie, die des Volks sein soll, muss das Volk zu seinem Mittelpunkt machen, und wenn man den Gesichtspunkt der Weltweisheit in der Art ändert, wie aus dem Ptolemäischen, das Kopernikanische ward, welche neue fruchtbare Entwickelungen müssen hier nicht zeigen, wenn unsre ganze Philosophie Anthropologie wird.16

Im Emanzipationsprozess der Schulphilosophie aus der theologisch orientierten metaphysischen Tradition stellt sich die Frage nach der Natur des Menschen auf zunehmend bedrängende Weise: „wie ist der Mensch zu bestimmen, wenn nicht (mehr) durch Metaphysik und (noch) nicht durch mathematisch-experimentelle Naturwissenschaft?“.17 Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert entwickelt sich Anthropologie „zu jener Philosophie des Menschen, die nicht (metaphysisch) auf Spekulation und nicht (physikalisch) auf Mathematik und Experiment setzen will, sondern auf Naturbeschreibung und Lebenserfahrung ihre Menschenkenntnis stützt“.18 In der Einleitung von Melchior Adam Wei(c)kards (1742–1803) erstem Stück seiner Zeitschrift Der philosophische Arzt von 1775 findet sich charakteristischerweise das Postulat: „Man muss die Menschen kennen gelernt haben, wenn man ihnen Gesetze, Religion, und Wissenschaften anmessen will“.19 Nach der prinzipiellen Problematisierung der cartesianischen Zwei-Substanzen-Lehre und vor der Dominanz der idealistischen Transzendentalphilosophie Kants ist das Verhältnis von Leib und Seele neu zu eruieren: „Im Gegenzug zum cartesianischen Dualismus kommt es nämlich im 18. Jahrhundert unter dem Vorzeichen der sich konstituierenden Anthropologie zu einem weitgreifenden Versuch, Körper, Geist und Psyche als physiologisch fundierte Einheit zu entwerfen“.20 Der Körper wird zum „Organon einer neuen Wahrheitssuche“, und die damit verbundene Krise der

15 16 17 18

19 20

4

Heise, Jens, Johann Gottfried Herder zur Einführung. Hamburg 1998, S. 8. Herder, Johann Gottfried, Werke. Bd. 1. Frühe Schriften 1764–1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985, S. 134. Hist. Wb. Philos. Bd. 1. Basel 1971. Spalte 363 (Odo Marquard). Hist. Wb. Philos. Bd. 1, Basel 1971. Artikel Anthropologie, Spalte 364 (Odo Marquard). Anthropologie und Metaphysik sind in diesem Prozess aufeinander bezogen: „Der Aufstieg der Anthropologie signalisiert zugleich den Fall der Metaphysik, genauer: den Verfall der metaphysisch-theologischen Lösungsversuche des Leib-Seele-Problems, wie sie von Malebranche bis zu Leibniz, Wolff und dessen Schule angeboten wurden. Zunehmend versteht sich die Erfahrungswissenschaft Anthropologie als Emanzipationswissenschaft, als Wissenschaft einer neuen autonomen Weltlichkeit, angezeigt in dem ungezählte Male nachgesprochenen Motto Popes: The proper study of mankind is man“ (Schings 1977, S. 25). Weikard 1775, Einleitung (ohne Paginierung). Leib-Zeichen 1993, S. 7.

Metaphysik findet in der „Suprematie des Körpers ihr deutlichstes – und gegenstrebiges – Pendant“.21 Von den vermittelnden Lösungsversuchen vermögen weder Influxionismus noch der Okkasionalismus oder die Leibnizsche prästabilierte Harmonie zu überzeugen: Der alte Influxus physicus, der physische, unmittelbare Einfluss des Körpers auf die Seele, verlor, streng genommen, jede Denkmöglichkeit – denn Materie, ausgedehnte, zusammengesetzte Substanzen, können nicht auf die einfache Substanz Geist einwirken. Das gleiche gilt umgekehrt […] Das System des Okkasionalismus, das auch gerne als das der Cartesianer bezeichnet wurde, regelt das Commercium durch permanente Eingriffe Gottes, der bei Gelegenheit der Veränderung in einer Substanz die korrespondierende Veränderung in der anderen hervorbringt […]Das System der prästabilierten Harmonie verlegt die Einwirkung Gottes auf einen anfänglichen Akt, der die Selbsttätigkeit aller Substanzen aufs genaueste aufeinander abstimmt und so eine Universalharmonie garantiert, deren Spezialfall der Parallelismus von Körper und Geist darstellt.22

Anthropologie hingegen versucht als Wissenschaft vom ganzen Menschen „seiner leib-seelischen Einheit theoretisch habhaft zu werden“,23 und zwar durch Inthronisierung der Empirie. In der Anthropologischen Wende, der Antwort der deutschsprachigen Aufklärung auf den französischen Materialismus,24 geht es nach Wolfgang Pross geistesgeschichtlich darum, den Mittelpunkt der Erkenntnis nicht mehr in einem abstrakten, der Körperwelt fremden spirituellen Wissen zu suchen, sondern eben den Menschen in seiner psychophysiologischen Doppelkonstitution in das Zentrum der Untersuchung zu stellen und von der anthropologischen Bedingtheit seines auf sinnlicher Erfahrung beruhenden Wissens auszugehen.25

Die Formel vom „ganzen Menschen“, „der Status des verwirklichten ganzen Menschen“,26 ist mehr Kontingenz offenhaltendes Postulat als empirisch beglaubigte Tatsache. Die auf Erfahrung statt auf Spekulationen dringende Anthropologie macht bei der Erforschung des Individuums, „welches als zugleich gewisseste wie ungesicherteste Größe unter den Erscheinungen sich darstellt“,27 die Erfahrung, 21 22

23 24 25

26 27

Leib-Zeichen 1993, S. 7. Schings, Hans-Jürgen, Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung, in: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. Hg. v. Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Rudolf Vierhaus. München 1980 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 2/3), S. 250. Pfotenhauer 1987, S. 3. Vgl. Zelle 1999, S. 36. Herder, Johann Gottfried, Werke. Hg. v. Wolfgang Pross. Bd. II: Herder und die Anthropologie der Aufklärung. München, Wien 1987, S. 1130. Pross betont die „notwendig werdende Hinwendung zur ‚Lebenswelt‘, zu den Bedingungen der „Subjektivität der Erfahrung, die die Auflösung der philosophischen Systeme zugunsten von Eklektizismus, Skeptizismus und Sensualismus bzw. Empirismus hervorbrachte“ (S. 1131). Schmidt-Biggemann, Wilhelm, Einführung zu I. Neue Diskurse von der Seele und vom Körper, in: Der ganze Mensch 1994, S. 12. Killy, Walther, „Vorbemerkung“ zu Die Deutsche Literatur vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Bd. VI: 18. Jahrhundert. Texte und Zeugnisse, in Verbindung mit Christoph Perels hg. v. Walther Killy. München 1983, S. XIII.

5

dass „hinsichtlich des Menschen seine Rätsel proportional mit dem Wissen zunehmen“.28 Im Medium der Literatur eröffnet sich ein vielgestaltiges Feld, auf dem das anthropologische Ganzheits-Postulat und eine keineswegs gewiss vorhandene Ganzheitsgarantie reflektiert werden können. Autobiographische Schriften stellen ein besonders prägnantes Konvergenzfeld von Anthropologie und Literatur dar, auch und gerade im Fall Zimmermanns.29 Nach Beendigung der zwei letzten Teile des Werks Über die Einsamkeit erfasste Zimmermann eine innere Leere; er kommt sich, wie er an Wehrs schreibt, als „armer Tropf“ vor und fühlt sich „äußerst unglücklich“.30 Eine Besserung seines desolaten Seelenzustandes konnte er sich nur denken, falls er ein neues Buch in Angriff nähme, indem er sich „seinen angenehmsten Beschäftigungen, seinen einzigen Zerstreuungen, seiner Arbeit am Schreibtische“31 überlassen würde. Er versucht die Arbeit am dritten Teil der Erfahrung in der Arzneykunst wieder aufzunehmen – ohne nachhaltigen Erfolg. An Heinrich Matthias Marcard berichtet der an Schlaflosigkeit Leidende am 16. März 1790: Ich suchte mich also mit einem Gedanken zu amüsiren, und dachte: was ich doch auch etwa schreiben wolle? Denn Schreiben – ist mein Leben. Zwey Stunden sann ich hin und her an eine Schrift über meine Verhältnisse mit den Aufklärern und überhaupt mit allen meinen Feinden. Dieser Projekt ward verworfen. Dann dachte ich an eine Ausgabe meiner kleinen Schriften. Aber da ich fand dass ich da meinen Feinden (einem Lumpengesindel) wieder in die Haare kommen würde, ward auch dieser Projekt verworfen. Dann dachte ich an den dritten Theil der Erfahrung – aber mit dem unaussprechlichsten Widerwillen, weil die Arbeit die an diesem Theil schon gethan ist, und auch der 1777 verbesserte Plan mir ganz misfiel, und weil ich glaubte, ich würde bey einer solchen Arbeit in tödtlichste Melancholie verfallen. Nun dachte ich an einen neuen Plan, wobey ich gar keiner Gelehrsamkeit bedürfte, wobey ich nichts zu thun hätte als die Grundsätze aufzuschreiben, wonach ich täglich denke und handle.32

Zahlreich sind die Textstellen, welche um die „literarische Herstellung von Menschen“33 kreisen, indem sie dem geschriebenen Text einen realitätssubstituierenden

28

29 30

31 32 33

6

Böhme, Hartmut, Einführung zu II. Erfahrungen von der Natur des Menschen, in: Der ganze Mensch 1994, S. 141. Walter Erhart bemerkt zur Problematik des „ganzen Menschen“: „Je mehr während des 18. Jahrhunderts der ‚ganze Mensch‘ ins Blickfeld rückt, desto schneller und bedrohlicher scheint seine ‚Ganzheit‘ und ‚Einheit‘ auch schon uneinholbar aufgelöst“. Nach der Aufklärungsforschung? In: Aufklärungsforschung in Deutschland. Hg. v. Holger Dainat u. Wilhelm Vosskamp. Heidelberg 1999 (Beihefte zu Euphorion 32), S. 109. Vgl. insgesamt zu diesem Problemkomplex: Pfotenhauer 1987. Brief Zimmermanns an Wehrs. Hannover, 31. August 1785. Stadtarchiv Hannover, Autographensammlung 2462 /14. Vgl. Seelenarzt und armer Tropf. Königlicher Leibarzt Johann Georg Zimmermann 1728–1795. Beschreibung der Zimmermanniana im Stadtarchiv Hannover. Projekt der Fachhochschule Hannover. Fachbereich Informations- und Kommunikationswesen 1994/95. Leitung Hans-Peter Schramm. Hannover 1995. Marcard 1796, S. 9. Universitätsbibliothek Leipzig, Sammlung Kestner, II A IV, 2089. Der Brief ist in Teilen abgedruckt in: Schramm 1998, S. 57, (im Beitrag von U. Benzenhöfer u. G. vom Bruch). Frühwald, Wolfgang, Die Entdeckung des Leibes. Über den Zusammenhang von Literatur und Diätetik in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Mitteilungen aus dem

Status zuweisen. Am Schluss eines Briefes schreibt er beispielsweise: „Mir deucht ich sehe ich höre Sie, indem ich lese, und das geliebte Blatt küsse“.34 Die Verflechtung von Literatur und Anthropologie generiert zudem tendenziell neue Gattungen, z.B. popularphilosophische Essayistik, in deren Kontext die Mehrzahl von Zimmermanns Schriften anzusiedeln ist. Der Anthropologie-Begriff lässt nach Carsten Zelle die Unterteilung in drei Hauptrichtungen zu: Unterschieden werden kann in Hinsicht auf das Wissen vom Menschen eine physische (bzw. physiologische oder biologische) Anthropologie, die Ähnlichkeiten und Unterschieden von Mensch und Tier nachgeht, eine kulturelle Anthropologie (bzw. Ethnologie oder Ethnographie), die Völker und Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart untersucht, klassifiziert und vergleicht, sowie eine philosophische Anthropologie, die dem problematischen Zusammenhang zwischen Leib und Seele und der Stellung des Menschen in der Hierarchie der Lebewesen nachspürt.35

Hans Erich Bödeker unterscheidet auch drei Bereiche, spricht aber anstatt von kultureller Anthropologie von ethnographischer und ethnologischer Anthropologie,36 während Jutta Heinz den Begriff in ihrer Dissertation zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung im zweiten Kapitel, Entstehung und Entwicklung der Anthropologie im 18. Jahrhundert – Ansätze zu einer Wissenschaftsgeschichte, noch weiter auffächert und insgesamt acht Richtungen unterscheidet.37 1794 nennt Michael Wagner (1756–1821) in der „Vorrede“ seiner „Beyträge zur Philosophischen Anthropologie und den damit verwandten Wissenschaften“ drei Anthropologiebegriffe. Die erste Bestimmung „kommt mit dem Wezelschen Gebrauch überein“,38 die zweite entspricht Ernst Platners Anthropologiebegriff und die dritte beschreibt exakt jene Kants: 1) den Innbegriff derjenigen Erkenntnisse, welche den menschlichen Körper, in so fern er zu den äussern Bedingungen der Vorstellungen, Empfindungen, Gefühle etc. gehört, und das Gemüth in Rücksicht auf seine Vermögen, Kräfte, Fähigkeiten und Zustände zum Gegenstande haben: 2) die Beobachtungen und Resultate, welche zunächst den wechselseitigen Einfluss des Körpers und der Seele betreffen: 3) die Kenntniss der Menschen in Rücksicht auf ihre DenkSinnes- und Handlungsart im gemeinen und Privatleben, in so weit sich die hieher gehörige Beobachtungen auf gewisse Regeln zurückführen lassen.39

34 35 36 37 38

39

Brenner-Archiv 10 (1991), S. 18. Helmut Pfotenhauer spricht vom „erschriebenen Menschen“, in der Einführung zu IV. Literarische Anthropologie, in: Der ganze Mensch 1994, S. 558. Banholzer 1997, S. 92. Zelle 1999, S. 35f. in: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. Hg. v. Werner Schneiders. München 1995, S. 38f. Heinz 1996, S. 19ff. Nowitzki, Hans-Peter, Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin, New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 25), S. 24. Wagner, Michael, Vorrede 1, 1794, S. VII, in: Beyträge zur Philosophischen Anthropologie und den damit verwandten Wissenschaften.

7

Als Wortführer einer philosophischen Anthropologie fungieren die sogenannten Philosophischen Ärzte, die in Personalunion Philosophen und Ärzte sind. Zimmermann ist anthropologischer Arzt und anthropologischer Philosoph. In den Briefen über Gegenstände der Philosophie von 1778 charakterisiert Michael Hissmann im 11. Brief, Theorie des Mechanismus der Empfindungen nach dem Verfasser des philosophischen Arztes, den Philosophischen Arzt folgendermassen: Lieben sie (sic) einen philosophischen Schriftsteller, – der Wahrheiten vorträgt, die kein Arzt ohne Philosophie, und ohne reife Kenntnisse in der Arzneykunde, kein Philosoph bestimmt, klar und überredend vorzutragen im Stand ist; – der seinen (sic) eignen Wege gerade fortgeht, untersucht, widerlegt, muthmasst, und den Menschen nach seinen physikalisch-moralischen Gebrechen und Vorzügen psychologisch zergliedert; der durch Studium und Erfahrungen dreist und neu in seinen Untersuchungen; deutlich lebhaft und einnehmend im Vortrag ist: so machen Sie sich mit dem Verfasser des philosophischen Arztes bekannt.40

Gemünzt ist die Charakterisierung eines Philosophischen Arztes auf Melchior Adam Wei(c)kard (1742–1803), dessen Zeitschrift Der philosophische Arzt in vier Bänden 1773–1775 anonym erscheint. Als Philosophische Ärzte können, neben Weickard, u.a. bezeichnet werden: Bonnet, Feder, Haller, Helvétius, Herder, Herz,41 Hissmann, Krüger, Ernst Anton Nicolai, Tissot, Unzer, Wezel, Zückert und der gemeinhin als Stiftergestalt angesehene Ernst Platner. Hans-Peter Nowitzki gibt zu bedenken, dass die Benennung „Philosophischer Arzt“ erst dann sinnvoll und hilfreich wird, „wenn ihr eine inhaltliche Bestimmung zur Seite steht“.42 Und Zimmermann? Eine zeitgenössische Rezension vom Juni 1784 attestiert ihm eine besondere Befähigung, die Einsamkeitsthematik zu behandlen, da er „als Arzt und Philosoph die Menschen studirt hat, dass er ihre Handlungen nicht bloss dem Scheine nach, sondern nach ihren, oft ihnen selbst nicht deutlichen Bewegungsgründen, mit Sicherheit beurtheilen [...] kann“.43 Er sei die „Leitfigur der philosophischen Ärzte“,44 urteilt im Jahr 1977 Hans-Jürgen Schings, „nicht nur eine medizinische Berühmtheit erster Ordnung […] er stellte auch die Verkörperung aller Ansprüche dar, die sich im Titel des „philosophischen Arztes“ niedergeschlagen hatten, war Freund und Korrespondent der bedeutendsten literarischen Zeitgenossen, vor allem aber selbst ein gewandter Literat und vielgelesener „Philo40 41

42 43

44

8

Hissmann, Michael, Briefe über Gegenstände der Philosophie an Leserinnen und Leser. Gotha 1778, S. 143/44. Marcus Herz’ fünfter Brief seiner Briefe an Ärzte. Zweyte Sammlung. Berlin 1784, S. 215–298, ist dem „Herrn Leibarzt Zimmermann in Hannover“ gewidmet. Herz zitiert Zimmermann in seinem Versuch über den Schwindel, Berlin 1791, S. 168. Ernst Platners Anthropologie für Aerzte und Weltweise von 1772 rezensiert er in: ADB 1773, 1. Stück, S. 25–51. Vgl. zu Marcus Herz: Lothar Müller, Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. Frankfurt/M. 1987, S. 50ff.: Porträt eines philosophischen Arztes. Nowitzki 2003, S. 27. Rezension zu den beiden ersten Teilen von Über die Einsamkeit in der Nummer 97 der „Staats=und Gelehrten Zeitung des Hamburgischen unparheyischen Correspondenten“ vom 18. Juni 1784. Schings 1977, S. 34.

soph für die Welt“.45 Gemäss der Platnerschen Begriffsbestimmung ist die Bezeichnung „Philosophischer Arzt“ ein „polysemischer Ausdruck, der zwei unterschiedliche Bedeutungen hat, die aber durch das anthropologische Moment eng miteinander verwandt sind: er bezeichnet den ‚anthropologischen Arzt‘ ebenso wie den ‚anthropologischen Philosophen‘“.46 Fluchtpunkt für den Anthropologie-Begriff der Philosophischen Ärzte ist dennoch nicht Kant, der seit 1772 Anthropologie-Vorlesungen hält, die in erster Auflage 1798 als Anthropologie in pragmatischer Absicht veröffentlicht werden, wegweisend wird Ernst Platner mit seiner Anthropologie für Ärzte und Weltweise, der ebenfalls 1772 in der ersten – von ihm später (1790) verworfenen – Auflage eine vielzitierte Anthropologie-Definition gibt: Die Erkenntnis des Menschen wäre, wie mir dünkt, in drey Wissenschaften abzutheilen. Man kann erstlich die Theile und Geschäffte der Maschine allein betrachten, ohne dabey auf die Einschränkungen zu sehen, welche diese Bewegungen von der Seele empfangen, oder welche die Seele wiederum von der Maschine leidet; das ist Anatomie und Physiologie. Zweytens kann man auf eben diese Art die Kräfte und Eigenschaften der Seele untersuchen, ohne allezeit die Mitwirkung des Körpers oder die daraus in der Maschine erfolgenden Veränderungen in Betrachtung zu ziehen; das wäre Psychologie, oder welches einerley ist, Logik, Ästhetik und ein grosser Theil der Moralphilosophie. Denn so wie es Bewegungen der Maschine giebt, welche mit der Seele in keinen erheblichen Verhältnissen stehen, welche keinen merklichen Einflus in den Körper haben, noch von dem Körper eigene und der Anzeige besonders würdige Einschränkungen leiden. Endlich kann man Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachten, und das ist es, was ich Anthropologie nenne.47

Zum Dualismus von Leib und Seele führt Platner in der Vorrede aus: „Der Mensch ist weder Körper, noch Seele allein; er ist die Harmonie von beyden, und der Arzt darf sich, wie mir dünkt, eben so wenig auf jenen einschränken, als der Moralist auf diese“.48 Zwei wichtige diskursamalgamierende Aspekte kennzeichnen die philosophische Anthropologie. Einerseits „das hohe Integrationspotential einer Wissenschaft vom Menschen, die divergierende Strömungen ihrer Zeit in einem umfassenden Konzept vereingen kann“,49 andererseits „ihre methodische Offenheit, die es zumindest im 18. Jahrhundert noch ermöglicht, dass sowohl Ärzte wie auch Philosophen, Dichter, Theologen und Naturforscher ihre unterschiedlichen Erfahrungen in den anthropologischen Diskurs einbringen konnten“.50 Zwar gibt Kant

45 46

47 48 49 50

Ebd., S. 218. Nowitzki 2003, S. 175. Nowitzki liefert, Nowitzki 2003, S. 377ff., weitere Beispiele für die spätaufklärerische Inflation des Begriffs „philosophisch“ in Verbindung mit anderen Substantiven. Ein berühmtes Beispiel ist Hans Caspar Hirzels (1725–1803) Wirtschaft eines philosophischen Bauers. Zürich 1761 u.a. Platner, Ernst, Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Erster Theil. Leipzig 1772, Vorrede XV–XVII. Ebd., Vorrede IV. Heinz 1996, S. 20. Ebd.

9

dem „Symbioseappetit der philosophischen Anthropologie“51 Nahrung, er weicht aber vor allem mit seiner Theorie der geschichtsphilosophisch perspektivierten Vervollkommnung im zweiten Teil seiner Anthropologie in pragmatischer Absicht52 von Platners Anthropologie-Konzept ab, dem im System von Kants pragmatischer, d.h. moralischer Anthropologie die Tür gewiesen wird. Kant bestimmt den Menschen als autonom sittliches Wesen, es geht ihm um den Primat des Geistes und weniger um die Existenzform des Menschen als „être-mixte“ im Sinn Bonnets. In der Vorrede definiert Kant: Eine Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefasst (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll.53

Indem Kant, als Folge seiner kritischen Wende, praktische Philosophie, d.h. Ethik und Geschichtsphilosophie, neu bestimmt, „hat er die Anthropologie nicht nur etabliert, sondern sie zugleich – indem er ihr überdies das gegenüber jeder praktischen Philosophie eigenständige ‚physiologische‘ Interesse untersagte – auch überflüssig gemacht“.54 Die Anthropologie im Sinne Platners habe sich hingegen den „Rang einer, wenn nicht der führenden Aufklärungswissenschaft“55 erobert, behauptet Hans-Jürgen Schings: „Anders als Kant favorisiert man freilich eher die Verbindung von Psychologie und medizinischer Physiologie, wie sie sich im Zeichen der anti-metaphysischen Empirie ausbildet“.56 Die Anthropologie vollzieht eine Akzentverschiebung von der Seele auf den Körper, der zum Objekt und Instrument anthropologischer Betrachtung wird, weil erst die Berücksichtigung auch der unteren Seelenkräfte zur Komplettierung des Menschen zu führen vermag. Alltägliche Erfahrungswelt, Leib und Sinnlichkeit werden ebenso aufgewertet wie physische und psychische Extremsituationen. Dadurch gelangt bislang wenig Wissenschaftsfähiges57 in den anthropologischen Blickwinkel, „die ‚dunkle‘ Seite, die ‚Nacht‘ der Psyche“,58 „die ‚höllischen‘ Seiten des Ich“,59 das „Andere der Vernunft“, „das ist inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Be-

51 52 53 54 55 56 57 58 59

10

Hist. Wb. Philos. Bd. 1, Basel 1971. Spalte 366 (Odo Marquard). Kant, Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 10: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Zweiter Teil. Darmstadt 1983, S. 282ff. Kant, Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10, 1983., S. 399. Hist. Wb. Philos. Bd. 1, Basel 1971. Spalte 366 (Odo Marquard). Schings 1977, S. 13. Schings 1977, S. 13. Pfotenhauer 1987, S. 5 stellt fest: „das kategorial Getrennte durch kritische Scheidung oder Vermittlung ist nicht ihr (sc. der Anthropologie) Geschäft“. Von Rahden 1993, S. 115. Mauser, Wolfram, Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland. Würzburg 2000, Einleitung, S. 9.

gehren, die Gefühle“.60 Die Anthropologie kann deshalb geistesgeschichtlich wie folgt charakterisiert werden: Die Wendung zum Körper, zu den Sinnen, zum Triebleben, zu den unteren Seelenkräften, zum dunklen fundus animae, zum Unbewussten rückt die Anthropologie auf die Seite des „Anderen der Vernunft“, während Transzendental- und Reflexionsphilosophie das Erbe der res cogitans antreten.61

Mit der Publikation der ersten Auflage von Ernst Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise könnte die Anthropologische Wende datiert werden, wenn man nicht Wenden vor der eigentlichen Wende namhaft machen möchte und beispielsweise Christian Friedrich Richter (1676–1711) anführt, dessen „Höchst=nöthige Erkenntnis des Menschen, sonderlich nach dem Leibe und natürlichem Leben“ in 17. Auflage 1764 in Halle erschien. Man muss sich hüten, Platners Anthropologiebegriff „für den einzigen Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts zu halten, ja Platner als Begründer der modernen philosophischen Anthropologie im 18. Jahrhundert anzusehen“.62 Tatsächlich lanciert Platner 1772 nicht neuartiges Gedankengut, sondern benennt terminologisch schon Vorhandenes. Bereits in der Frühaufklärung bahnt sich die fächerübergreifende Wissenschaft von der Anthropologie an, und zwar in Halle, das nicht nur als die Stammlande der Reformation anzusehen ist, sondern um 1750 eine wegweisende Rolle für die entstehende Anthropologie spielt. In der Jahrhundertmitte kündigt sich eine Physiologisierung der Psychologie und eine Entsomatisierung der Seelenlehre an, während die Philosophie sich tendenziell mit physiologischen Konzepten vertraut macht, was anzeigt, „dass bereits in den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts anthropologische Ansätze vorlagen, den Menschen als Ganzheit zu begreifen“.63 Es sind nicht erst die Philosophischen Ärzte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewesen, die mit einer holistisch orientierten Anthropologie wesentlich zum Menschenbild der deutschen Spätaufklärung und der Weimarer Klassik beigetragen haben. Vielmehr ist dieser entscheidende anthropologische und psychologische Aufbruch empfindsamer Aufklärung seit 1740 von Halle ausgegangen,64

60 61 62

63 64

Hartmut und Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/M. 1992, S. 13. Schings, Hans-Jürgen, Vorbemerkung, in: Der ganze Mensch 1994, S. 5. Nowitzki 2003, S. 26. Nowitzki stellt, S. 26, weiter fest: „Zugleich engte man damit das anthropologische Denken auf das Commercium-Problem im engeren Sinne ein und installierte einen dieser eingeengten Wahrnehmung korrespondierenden Anthropologentypus, den ‚Philosophsichen Arzt‘“. Dürbeck, Gabriele, Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998, S. 156. Zelle 1999, S. 41. Wichtig vor allem auch: Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Hg. v. Carsten Zelle. Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 19). Nowitzki 2003, S. 26, verweist auf Zelle 1999 und kommentiert: „Zelle kritisiert die Beschränkung der philosophie-

11

im Kreis der Halleschen Psychomediziner, die sich selbst als vernünftige, d.h. als aufgeklärte Ärzte verstanden. Folgendes vierphasiges Datierungsschema liesse sich für die akademische Disziplin „Anthropologie“ angeben: 1680–1750 1750–1770 1770–1800 nach 1800

Vorbereitungsphase Konstitution und universitäre Etablierung Verwissenschaftlichung Auflösung

Zimmermanns Arztliteratentum ist nicht voraussetzungslos. Für die Genese seiner schriftstellerischen Tätigkeit müssen, neben Haller, auch die Halleschen Psychomediziner angemessen in Rechnung gestellt werden.65 Für Haller wie für Zimmermann gilt, dass ärztliches Tun beherrscht wird „von dem Verzicht auf tiefgründige Spekulationen, auf den Griff hinter die Phänomene und vollkommen bestimmt von dem Streben, das konkret beobachtbare Detail am Krankenbett, das Symptom, mit der ganzen Schärfe ärztlicher Sinnenhaftigkeit aufzunehmen“.66 In dieser Haltung stimmen sie beide mit Platner überein, der in der „Vorrede“ der Neuen Anthropologie für Aerzte und Weltweise von 1790 ankündigt: „Von speculativer Metaphysik findet man hier gar nichts erhebliches; also auch nichts, was auf Kants Kritik eine unmittelbare Beziehung haben könnte“.67 Zimmermanns gesamtes schriftstellerisches Werk lebt von der produktiven Spannung zwischen Vorgaben der tradierten Diätetik und neuartigen, empirisch gewonnenen Erkenntnissen vom Menschen. Er ist dabei zu sehr Sensualist, als dass sich ihm Kants erkenntnistheoretischer Idealismus erschliessen könnte, der die Verlässlichkeit sinnlicher Wahrnehmung grundsätzlich problematisiert. Zimmermanns Aversion gegen System und Dogma lässt ihn von sich selber sagen, er sei kein „systemfester Philosoph“ (III, 517), die Natur werde hingegen „in der Natur langsam gesucht am geschwindesten gefunden. Man sieht sie in ihrem wahren Lichte sobald man sie durch kein System sieht“ (Erf. I, 208). Zimmermann und seine Schriften kennzeichnen Widersprüchlichkeiten und Inkonsequenzen, Zwiespältiges und Ungereimtheiten, Antithetik und Polemik in jener „Spätzeit der deutschen Aufklärung“, die eine „Zeit des Suchens und des

65 66

67

12

geschichtlichen Anthropologie-Forschung auf die Spätaufklärung durch Schings, SchmidtBiggemann und Häfner zu Recht, indem er auf die grosse Bedeutung der Halleschen psychomedizinischen Lehre in der Frühaufklärung hinweist“. Dazu vgl. 11.2 Vorläufer und Nachfolger. Rudolph, Gerhard, Hallers Lehre von der Irritabilität und Sensibilität, in: Karl Eduard Rothschuh (Hg.), Von Boerhaave bis Berger. Die Eintwicklung der kontinentalen Physiologie im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1964, S. 29. Platner, Ernst, Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie undÄsthetik. Erster Band. Leipzig 1790, Vorrede (unpaginiert).

Übergangs“68 darstellt. In seiner Abhandlung Theodizee und Tatsachen beleuchtet W. Schmidt-Biggemann die Gegenläufigkeit des „Projekts Aufklärung“. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung fasst er in den beiden Hauptrichtungen „Rationalismus“ und „Eklektizismus“, denen er die Begriffe des Möglichen und des Tatsächlichen zuordnet: „Die kontrafaktische Vernunft des Möglichen steht gegen die Logik der Tatsachen – und beide Aufklärungen behaupten von sich, ihre Position – Erfahrung oder Vernunft – sei unhintergehbar. Das Ergebnis: Der Begriff von Aufklärung ist äquivok“.69 Für das Individuum eröffnen sich dadurch notgedrungen freiheitliche Gestaltungsräume bei gleichzeitig latenter Gefahr existentieller Unbehaustheit: Die Selbstermächtigung des Menschen war auch eine Selbstentmächtigung. Das fortschreitende Wissen rückte den Menschen immer mehr aus jenem alten Zentrum, in dem er als Ebenbild Gottes noch jenen privilegierten Platz einnahm, der ihm die Garantie für eine Berufung zu Höherem zu geben schien.70

Auch Zimmermann ist dem von der Bewusstseinslage der Zeit bedingten „Trauma der Desintegration“71 ausgeliefert, dem Problem der individuellen Ganzheitssuche bei ausgesprochen dissoziierenden Epochentendenzen. Offenherzige Redseligkeit und insistierende Selbstanalyse, kompromisslose Apodiktik und beissende Polemik werden bei ihm stets von einem irritierenden Maskenspiel begleitet, das er bald bewusst, bald unbewusst inszeniert. Seine Schriften leben von diesem spannungsvollen Widerstreit „zwischen authentischer Selbsterfahrung und höfischem Rollenspiel“,72 indem sich offenkundig „die ständigen Bezweiflungen, Korrekturen, Selbstbeargwöhnungen und Läuterungsbemühungen“73 eines Menschen manifestieren, der selber therapiebedürftig ist: Gerade die Gefahren der Blendung, der Selbsttäuschung, der Eitelkeiten und Maskierungen des Ich, gehören […] zur Konstitution dieses als modern sich verstehenden Individuums – des einzelnen also, der, weitgehend freigesetzt von den traditionellen Selbstdeutungen und Sinngarantien, auch überfordert ist und sich vor sich selbst flüchtet.74

Das durch seine epochentranszendierende Tendenz zu universalisierender Ausweitung75 charakterisierte Aufklärungszeitalter hat in folgenreicher und unwiderruflicher Dialektik jene irreversiblen Umgestaltungen in der Bestimmung des Men68 69 70 71 72 73 74 75

Unger, Rudolf, Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. 2 Bde. Jena 1911, Bd. I, S. 59. Schmidt-Biggemann, Wilhelm, Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung. Frankfurt/M. 1988, S. 8. Von Rahden 1993, S. 13. Vgl. auch Schmidt-Biggemann 1988, S. 50. Pfotenhauer, Helmut, Einführung zu IV. Literarische Anthropologie, in: Der ganze Mensch 1994, S. 558. Heinz 1996, S. 339. Der ganze Mensch 1994, S. 558. Pfotenhauer 1987, S. 21. Vgl. Pütz, Peter, Die deutsche Aufklärung (Erträge der Forschung 81). Darmstadt 1991, S. 5.

13

schen, des sozialen Gefüges wie der Wissenschaften hervorgebracht, die aus der Gegenwart nicht mehr wegzudenken sind.76 Die aus der Anthropologischen Wende und ihren beträchtlich aktuellen Folgeerscheinungen resultierenden „Ambivalenzerfahrungen“77 lassen sich an der widerspruchsgesättigten Person und dem uneinheitlichen Werk Johann Georg Zimmermanns prägnant studieren. Für ihn gilt wie für die ganze Epoche: Es ist durchaus ein anderes Bild als das vom vermeintlich verstandesbesessenen, harmonieund illusionsgeneigten Vernunft-Jahrhundert, das die neuere Aufklärungshistorie zeichnet. Die Krisenerfahrungen und skeptischen Epochendiskurse des späten 18. und des späten 20. Jahrhunderts werden von der einschlägigen Forschung deutlicher denn je in ihren inneren Entsprechungen wahrgenommen.78

Im Zentrum von Zimmermanns Autorschaft steht eine therapeutische Dimension. Beteiligt ist immer auch Religiöses sowie das Postulat einer phylo- und ontogenetischen Vervollkommnung. Es wird zu untersuchen sein, was Therapeutik bei Zimmermann heisst und wie sie zu verstehen ist. Der Arzt Zimmermann selbst ist während seines ganzen Lebens ein physisch und psychisch Therapiebedürftiger; allein deshalb ist er in besonderer Weise für Fragen der Therapeutik und der „psychophysischen Diätetik“79 prädisponiert. Seine medizinischen Schriften kreisen stets um das „commercium mentis et corporis“ mit dem Ziel, diagnostische und therapeutische Ansätze von intersubjektiver Gültigkeit abzuleiten. Im ersten Buch Von der Erfahrung in der Arzneykunst, „Von der Erfahrung überhaupt“, wird ein vierphasiges Schema des Erfahrungsbegriffs dargelegt, das aus Befund, Diagnose und Therapie besteht, der sich allenfalls eine Prognose anschliesst. Während die „Erfahrung in der Arzneykunst“ eine Einführung ins gesamte Gebiet zeitgenössischer Medizin darstellt, tritt Zimmermann in der Ruhr-Abhandlung als verbesserungswütiger Sozialhygieniker auf. In beiden Schriften geht es ihm nicht nur um Prophylaktisches und die Bekämpfung empirisch zugänglicher Phänomene der Krankheit, sondern ebenso um die geistige Gesinnung von Patienten und Behörden, z.B. in der Bekämpfung von Vorurteilen und Erscheinungsformen des Aberglaubens.

76

77 78

79

14

„Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts war nicht von Dauer, aber sie hat dauerhafte Wirkungen entfaltet“, Zimmermann, Harro, Aufklärung und Erfahrungswandel. Studien zur deutschen Literaturgeschichte des späten 18. Jahrhunderts. Göttingen 1999, S. 23. Vierhaus, Rudolf, Was war Aufklärung? Göttingen 1995 (Kleine Schriften zur Aufklärung 7), S.17. Zimmermann 1999, S. 25. S. 62/63 stellt Harro Zimmermann die rhetorische Frage: „Und spricht nicht allein die ‚anthropologische Wende‘, welche die Aufklärungsforschung in den letzten Jahren genommen hat, dafür, dass der vernünftige und doch so enervierende anthropologische Skeptizismus der Spätaufklärer unserer hochtheoretischen Desillusionierungshaltung heute viel näher steht als wir bis vor kurzem glauben konnten?“ Vgl. ferner zur Korrespondenz zwischen spätem 18. und spätem 20. Jahrhundert: ebd., S. 31 ff; S. 59. Pfotenhauer 1987, S. 4.

In Zedlers „Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste“ wird Therapeutick, Therapie, Therapeutica, Therapeusis kurz und bündig definiert als „eine Hülffe oder Hülffsmittel, welches machet, dass man wieder gesund wird“.80 Im vierten Kapitel des ersten Teils seines Werks über die Einsamkeit in der Fassung von 1784/85, „Trieb zur Einsamkeit in den ersten Zeiten der Christlichen Kirche, und überhaupt in warmen Ländern“ (I, 139ff.), kommt Zimmermann auch auf die Sekte der Therapeuten zu sprechen, denen er zugute hält, dass sie sich philosophisch und naturwissenschaftlich betätigen: Voll widernatürlicher Begeisterung und abergläubischer Träumerey, verliessen sie ihre Weiber, ihre Kinder und Güter, lebten abgesondert in Cellen oder doch beysammen […] Neben ihren äusserst strengen Uebungen in der Gottseligkeit, studirten sie da, nach den Lehrsätzen des Pythagoras, Metaphysik, Astronomie und Dichtkunst (I, 145f.).

Die „Therapeuten“ evozieren die griechische Bedeutung des Wortes therapeia, das neben Ehrerbietung, Verehrung, Huldigung, Behandlung, Pflege und Heilung ebenso Kultus, Verehrung der Götter und Gottesdienst meint, also ursprünglich auch eine religiöse Dimension aufweist, die in der Folge weitestgehend wegfällt. Heutige medizinische Tätigkeit als palliative, ätiologische, zellulare, neurale, physikalische oder experimentelle Therapie stützt sich in der Regel nicht auf Religion und Formen von Literarität ab. Im Heilverständnis Zimmermanns erweist sich das Medikament „Einsamkeit“ als besonders geeignet, Einheit und Gesundung zu erwirken. Mutet nicht seine im ersten Kapitel des ersten Teils Über die Einsamkeit gegebene Definition von Einsamkeit erstaunlich modern an? Sie weist in eine therapeutische Richtung, obwohl man sich hüten wird, sie geradewegs für die Psychoanalyse zu beanspruchen: „Einsamkeit ist eine Lage der Seele, in der sie sich ihren eigenen Vorstellungen überlässt. Im Genusse wirklicher Absonderung und grosser Stille, oder auch nur durch Wegwendung der Gedanken von dem, was uns umgiebt, sind wir einsam“ (I, 3). Die drei Schriften über die Einsamkeit von 1756, 1773 und 1784/85 können gelesen werden als eine Anweisung zu gesunder Lebensführung, gemäss der Maxime: „Einsamkeit ist eine grosse Arznei; sie muss nur recht dosiert werden“.81 Um mit sich selbst ins Reine zu kommen, wird therapeutisch Lebensbemeisterung herbeigeschrieben. An diesen Schreibprozessen lässt er eine rezeptwillige Leserschaft teilnehmen. Setzt der junge und klassische Goethe die Akzente stärker auf die einzelmenschliche Existenz, stimmt Zimmermann mit Schillers viertem Brief über den „Don Carlos“ überein, wenn dort versichert wird: „Hohes wirkendes Wohl-

80 81

Zedler, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 34, Sp. 1128. Leipzig und Halle 1745. Reprint Graz 1962. Willstätter, Richard, Aus meinem Leben. Von Arbeit, Musse und Freunden. Hg. und mit einem Nachwort versehen v. Arthur Stoll. München 1949, S. 41.

15

wollen gegen das Ganze schliesst keineswegs die zärtliche Teilnahme an den Freuden und Leiden eines einzelnen Wesens aus“.82 Das Zeitalter der Aufklärung gilt als „geselliges Jahrhundert“83 und knüpft damit noch an Aristoteles’ Bestimmung des Menschen als eines „gemeinschaftsbildenden, d.h. der Polis zugehörigen Lebewesens“84 an. Vor allem die Gattung der Moralischen Wochenschriften hat für dieses soziale Verständnis in der Aufklärung bahnbrechend gewirkt. Die Moralische Wochenschrift Meine Einsamkeiten, die 1771–1772 in Prag erschien, atmet den Geist einer weltfreundlichen Einsamkeit, die der „Besinnung zu Nutz und Frommen der Allgemeinheit“85 dient. Für die Moralischen Wochenschriften insgesamt gilt geradezu eine „Pflicht zum gesellschaftlichen Leben“, die in reformerischer Absicht auch bürgerlichen Gemeinsinn wecken soll: Tugendhaftigkeit in der Einsamkeit ist unnütz; sie dient weder dem eigenen Wohlergehen noch dem gemeinen Besten. Die Menschen sind in diese Welt gesetzt, um in Gesellschaft einander nach Kräften zu helfen und einander zu fördern […] Moralisches Verhalten ist Wohlverhalten im sozialen Bereich.86

Die von Iselin inaugurierte Monatsschrift Ephemeriden der Menschheit, die von 1776–1786 erscheint, steht unter dem Cicero-Motto: „Homines hominum causa sunt generati, ut ipsi se alii alios prodesse possint“. Diese Auffassung scheint Zimmermann zu teilen: „Wir sind doch in Wahrheit, dem Himmel sey es gedankt, da, um gesellig zu seyn“ (I, 12). Sein Einsamkeitswerk bleibt auf das Geselligkeitspostulat der deutschen Aufklärung bezogen, wie es etwa in Georg Friedrich Meiers erstem Teil seiner Anfangsgründe aller Schönen Wissenschaften (1754– 1759) begegnet, in dem er ein aufklärungsspezifisches Geselligkeitsprogramm entwirft. Der Begriff der „Einsamkeit“ mutet also zunächst wenig aufklärungstypisch an, abgesehen von der paradox anmutenden Gegenläufigkeit, sich über Einsamkeit in geselliger Fiktivität auszusprechen. Einsamkeit gemahnt eher an einen pietistischen Abkehr- und Abwehrgestus gegen Geselligkeit und Gesellschaft. Die erstaunliche zeitgenössische Resonanz von Zimmermanns Einsamkeitswerk zeigt indessen an, dass sich an ihm offenbar viel Epochales bricht. Zimmermanns Einsamkeitsauffassung dient einerseits dazu, das individuelle Erreichen der Bestimmung des Menschen zu befördern, andererseits, geselligkeitsorientiert, die Mitmenschen im gleichen Bestreben zu unterstützen. Einsamkeit ist also bei Zimmermann „durchbro-

82 83 84 85 86

16

NA 22, S. 121. Vgl. Ulrich Im Hof, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. München 1982. Politeia 1253a. Martens, Wolfgang, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968, S. 294. Martens 1968, S. 288ff.

chen“, denn sie steht grundsätzlich „in einem positiven Bezug zur Gemeinschaft“.87 Es handelt sich um eine „spezifisch aufklärerische Sozialtheorie“, für die eine „komplementäre Konzeption von sozialer und intimer Interpenetration“88 gilt. Carsten Behle formuliert zusammenfassend am Schluss des Zimmermann-Kapitels in seinen Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert diesen Sachverhalt wie folgt: „Ob gesellige Einsamkeit, Genuss der Natur oder der Literatur: Nirgends darf die Befriedigung der Herzensbedürfnisse von der gewissenhaften Verfolgung der gesellschaftlichen Pflichten abhalten“.89 Zimmermann unterscheidet sich damit von barockem Verständnis, z.B. jenem Grimmelshausens, wo „einsam“ soviel bedeutet wie „allein, abgesondert oder von allen Kreaturen verlassen sein. Die ,Einsamkeit‘, lateinisch solitudo, bezeichnet im Barock den Ort, wo man alleine, wie auch die Tatsache, dass man alleine ist“.90 Sucht man nach einem größten gemeinsamen Nenner von Zimmermanns Schriften, so ist es der therapeutische Aspekt mit seinen vielfältigen Implikationen, worunter die Bedeutung der Religion vor anderen zu nennen ist. Das Einsamkeitswerk gravitiert um die Therapeutik seines Autors wie um jene seiner Leser. Mit einer eigentlichen Bildung zur Einsamkeit in und durch Einsamkeit hat man es zu tun. Bildungsziel ist eine spezifische Form eines Einsamkeitsideals oder, anthropologisch gesprochen, der „ganze Mensch“, in seiner leib-seelischen Einheit – im Zeichen von Einsamkeit, die vom Geselligkeitsbezug lebt. Zimmermanns Einsamkeitsverständnis oszilliert zwischen individueller Einsamkeitserfahrung und dem Versuch, seine ureigensten Erfahrungen im Verbund mit dem überlieferten Einsamkeitsdiskurs, zugleich originell wie naturgesetzlich gültig, therapeutisch verfügbar zu machen. Es versucht im Sinne einer Intersubjektivitätstheorie zu vermitteln „zwischen dem Anspruch des Einzelnen, selbständig zu denken und zu agieren, und der Notwendigkeit, sich mit den Anderen zu assoziieren“.91 Seine 87

88 89

90 91

Dehrmann, Mark-Georg, Produktive Einsamkeit. Gottfried Arnold – Shaftesbury – Johann Georg Zimmermann – Jacob Hermann Obereit – Christoph Martin Wieland. Hannover 2002, S. 12. Dehrmann führt S. 147 aus, dass nach Zimmermann und Wieland der Einsame in einem „reziproken Verhältnis zu seinen Mitmenschen“ zu stehen kam: „Er war ihrer Gesellschaft zur Erhaltung seiner eigenen psychischen Gesundheit bedürftig, andererseits musste seine einsame Tätigkeit Ergebnisse zeitigen, die als wissenschaftlich-normative Erkenntnis oder pädagogische Kompetenz direkt an die anderen Menschen weitergegeben konnten“. Behle, Carsten, Heil dem Bürger des kleinen Städtchens. Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 71), S. 191. Ebd., S. 275. Es fragt sich allerdings, ob damit Zimmermanns Einsamkeitsauffassung, bei aller Berechtigung dieser Schlussfolgerung, nicht zu sehr für Aufklärung und Sozialtheorie beansprucht wird und die „präromantischen“ Züge, im Sinne etwa von Auguste Bouvier 1925, S. 220ff.: „Le romantisme de Zimmermann. – Conclusion“ – etwas zu kurz kommen. Es finden sich in den Schriften zur Einsamkeit Passagen eines Genusses von Einsamkeit, die einen Eigenwert artikulieren jenseits der im Übrigen verbindlichen gesellschaftlichen Pflichten. Stadler, Ulrich, Der einsame Ort. Studien zur Weltabkehr im heroischen Roman. Bern 1971, S. 5. Mauser, Wolfram, Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland. Würzburg 2000, Einleitung, S. 10.

17

eingehenden patristischen Lektüren und Studien dienen vor allem dem Zweck, Einsamkeitserfahrungen zu sammeln, die ausserhalb seines eigenen Erfahrungshorizonts liegen und die behilflich sind bei der „Neustrukturierung des Beziehungsfeldes Einzelner-Gesellschaft-Staat“.92 Zimmermann erwirbt dadurch allgemein gültige Einsichten und Erkenntnisse, die er mit individuell gewonnenen verwebt im Bestreben, Einsamkeit in ihrer vergegenwärtigten Vergangenheit im Hinblick auf therapeutische Verwertbarkeit zu erfassen. Literatur als Therapie?93 Wie steht es um die Therapietauglichkeit und Therapiesymbiose von Literatur, Medizin und Theologie bei Zimmermann im Versuch einer einheitsstiftenden Bestimmung des Menschen? Wo ist der Ort dieser Bestimmung im epochalen Kontext, d.h. wie ist seine Einsamkeitskonzeption wissenschaftsgeschichtlich zu verstehen? Die Untersuchung dieser Fragen lässt auch vermuten, dass Aufschlüsse über die erklärungsbedürftige Diskrepanz zwischen der großen zeitgenössischen Ausstrahlung Zimmermanns und seiner nachmaligen Vernachlässigung zu gewinnen sind.

92 93

18

Ebd., S. 15. So lautet der Titel des Traktats von Adolf Muschg: Literatur als Therapie? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare. Frankfurt/M. 1981.

1

Erkenntnisziele und Vorgehen

Zimmermanns Bestimmung des Menschen im Kontext der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und im Zeichen seiner Einsamkeitskonzeption lädt zu dem lockenden Versuch ein, unter Berücksichtigung bisheriger Forschungsbemühungen1 und erneutem Schöpfen aus gedruckten wie ungedruckten Quellen, ein heutiges Zimmermann-Verständnis zu gewinnen. Die Arbeit ist auf die Untersuchung von Zimmermanns Einsamkeitswerk ausgerichtet und versucht, dieses in die epochalen Strukturen einzubetten. Als Textkorpus liegt, neben den Schriften über die Einsamkeit, grundsätzlich möglichst alles zugrunde, was Zimmermann geschrieben hat und mir zugänglich gewesen ist, mithin Briefe an und von Zimmermann, Rezensionen, Berichte von Zeitgenossen sowie die Nachlassbestände. Die vorliegende Monographie arbeitet auf diese Weise dem Desiderat einer umfassenden kritischen Biographie vor, die ursprünglich geplant war. Kommentierte Neu-Editionen,2 vor allem der drei Hauptwerke, winken als künftige Forschungsaufgaben. Der erste Hauptteil besteht, nach einleitenden Darlegungen zu den Schriften über die Einsamkeit von 1756, 1773 und 1784/85, aus einem Lektüreversuch von Zimmermanns erfolgreichster Publikation, dem zweitausendseitigen Werk Über die Einsamkeit in der Fassung von 1784/85, der von der übergeordneten Fragestellung nach Zimmermanns Einsamkeitstherapeutik her unternommen wird. Die vorliegende literarhistorisch ausgerichtete Arbeit orientiert sich also zuerst am unmittelbaren Textkontakt als dem Nächstliegenden, das bekanntermaßen nicht am einfachsten zu fassen ist. Die übrigen Werke Zimmermanns werden stets im Blick behalten zum eigentlichen Thema: eben der Einsamkeit. Über das Werk von der Einsamkeit in seiner dritten Fassung hat Rudolf Ischer vor rund hundert Jahren nicht unzutreffend geurteilt: „Alle seine Lebensweisheit, die ganze Fülle seiner Erfahrung hat er darin niedergelegt, sein religiöses und sein politisches Glaubensbekenntnis, die Geschichte seiner Seele und seines kranken Körpers. Hier haben wir, mehr als in jedem andern Werke, den ganzen Zimmermann [...]“.3 Über die 1 2

3

Vgl. 3 Exkurs II: Zu Forschungsgeschichte und Forschungsstand. Andreas Langenbachers Lesebuch Mit Skalpell und Federkiel von 1995 vermittelt einen informativen Überblick, obwohl z.B. die politisch-polemischen Schriften weitgehend fehlen. Es handelt sich jedoch meist um Auszüge, mit denen nur eingeschränkt wissenschaftlich gearbeitet werden kann. Eine kommentierte, vollständige Ausgabe des Werks Über die Einsamkeit (1784/85) ist vom Verf. in Planung. Ischer 1893, S. 334. Weiter heisst es: „Zimmermanns Hauptwerk und sein Lebenswerk im eigentlichen Sinne ist das Buch (sc. Über die Einsamkeit [1784/85]) auch deshalb, weil er darin gleichsam seine ganze schriftstellerische Tätigkeit bis zu dieser Zeit vereinigt hat.“ Ähnlich auch Bouvier 1925, S. 192: „Il convient de démontrer que la Solitude émerge du reste de ses

19

Einsamkeit, dieses summum opus, am Ende seines Lebens veröffentlicht, ist sein Thema. Unter der Annahme, dass Zimmermanns Person und seine Schriften in der vierbändigen Einsamkeitsschrift gewissermaßen fokussiert vorliegen, erscheint dieses Werk als Basistext geeignet. Die behauptete interpretatorische Ergiebigkeit wird sich im zweiten Hauptteil zu bestätigen haben. Der geduldige Leser der Werkanalyse mag selbst entscheiden, ob, sit venia verbo, das sezierende Eindringen in Zimmermanns verschriftlichte Hirnwindungen tatsächlich ermöglicht, vom Kleinen zum Grossen, vom Einzelwerk zum Gesamtwerk und schließlich zu den epochalen Strukturen zu gelangen. Fünf4 sich ergänzende mosaikartige Fragenkreise zu den Bezugsfeldern Schreiben, Natur, Geschichte, Religion und Sprache leuchten das wahrhaft komplexe Œuvre aus: 1. 2. 3. 4. 5.

Schreiben und Einsamkeit als Therapeutika Einsame Natur und Landschaft als therapeutische Erfahrungsräume Einsamkeitsbildung durch „Geschichte“ Heilsgeschichte und Einsamkeit: Zimmermanns Einsamkeitstheologie Therapeutische Aspekte von Zimmermanns Sprachwelt

Der therapeutischen – und prophylaktischen – Dimension seiner Schreibkuren geht das Kapitel Schreiben und Einsamkeit als Therapeutika nach. Es steht deshalb am Anfang der Werkanalyse, weil es eine inhaltliche Klammer für die folgenden Fragenkreise bildet, indem es verschiedenartige Aspekte von Zimmermanns Therapeutik untersucht. Das Einsamkeitswerk als Ganzes ist der Körper, in dem sich als Gefäß die seelische Befindlichkeit des unbedingt frei schreibenden Zimmermann leiblich ausformt. Welche Bedeutung Natur und Landschaft als Erfahrungsräume individueller Einsamkeit zukommt, die in Zimmermanns Einsamkeitskonzept eine bedeutende Funktion wahrnehmen, untersucht der zweite Fragenkreis anhand von fünf Landschaftsdarstellungen, die auffallenderweise am Anfang des vierten Teils sich konzentrieren. Zimmermanns Konzeption eines ubiquitären Arkadien zeigt an, dass auch durch die Schrift, allein mittels der Einbildungskraft vergegenwärtigte Naturschilderungen, die nicht eigener Anschauung entspringen müssen, therapeutisch auf Autor wie Leser zu wirken vermögen. Der Einsamkeitsbildung dient erklärtermaßen „Geschichte“, auf die sich Zimmermann unentwegt beruft. Der Begriff ist bei Zimmermann ambivalent, weil er einerseits nach wie vor ein zeitlos gültiges Archiv für Einsamkeits-Exempla

4

20

œuvres, qu’en substance elle les contient toutes.“ Für Hugo Loetscher ist das Einsamkeitswerk von 1784/85 „ein Kompendium, die Summe seiner persönlichen und schriftstellerischen Existenz“. Loetscher 2003, S. 83f. Ursprünglich war vorgesehen, der Thematik „Der Schweizer am Hof“ und Zimmermanns politischen Ansichten ein eigenes Kapitel vorzubehalten, das nunmehr in anderen Zusammenhängen zur Sprache kommt.

beinhaltet. Andererseits wird „Geschichte“ als Kollektivsingular zugleich teleologisch dynamisiert, wobei Phylo- und Ontogenetisches miteinander verbunden werden. Zwei unterschiedliche Geschichtskonzeptionen gehen also mitten durch das Werk hindurch und bestehen unvermittelt nebeneinander. Die vier Teile umfassen verdichtet eine Darstellung der Weltgeschichte, die der Denkform des Verlorenen Paradieses resp. des Goldenen Zeitalters verpflichtet ist und in der Person Josephs II. und seiner Konzeption eines aufgeklärten Absolutismus den neuen Salvator sieht, mit dem ein neues Zeitalter und eine zweite Reformation beginnen werden. Das Thema der Einsamkeit deutet unverkennbar auf christliche Herkunft. Der vierte Fragenkreis versucht einsichtig zu machen, dass die Einsamkeitsschrift mit Zügen eines säkularen Pietismus deutlich einen religionsstiftenden Anspruch verkündet. Man sieht sich berechtigt, metaphorisch von einer eigentlichen Einsamkeitstheologie zu sprechen. Dadurch werden die harsche Mönchskritik, die überzogen erscheinenden Attacken gegen Obereit und die wenig tolerante Polemik gegen intoleranten Konfessionalismus verständlicher. Zimmermanns Sprache und Stil stellen ein Konglomerat verschiedenartiger zeitgenössischer Ausdruckstendenzen dar, die unter der Devise des prodesse aut delectare stehen. Seine sprachliche Gestaltungsweise bezieht ihr charakteristisches Gepräge aus einer Verschlingung topoiverhafteter Weisen des Ausdrucks, die unterschiedliche Sprachdiskurse miteinander verbindet. Das Sprachamalgam stellt bei aller genuinen Diktion keinen unverwechselbaren Individualstil dar, weil sich Zimmermann in sprachlich vorgegebenen Bahnen bewegt. Zimmermanns synthetisch-originelle Sprache setzt Klopstock voraus; sie kann mit dessen bahnbrechender Erneuerung der deutschen Dichtersprache5 jedoch nicht verglichen werden. Die Herausarbeitung von Spezifica der Einsamkeitsschrift ruft Parallelbelege aus anderen Schriften herbei. Der Gefahr einer Verwischung von Lektüre und Zitaten versuchen textentlastend Fussnoten oder Exkurse zu begegnen. Die Interpretationsergebnisse des zweiten Teils dienen als Grundlage für eine Ausweitung ins Epochale. Wie aber können Zimmermanns Verstrebungen in die epochalen Diskurse rekonstruiert werden? Das meistverwendete, nicht genuin literaturwissenschaftliche Wort heutiger Germanistik, der Begriff „Diskurs“, zeigt analog zum Anthropologie-Begriff modische Abnützungserscheinungen. Wenn im Folgenden von Diskurs die Rede ist, dann nicht im Sinne von Diskussion, Dialog, wahrheitssuchendem Gespräch oder erörterndem Vortrag, sondern Diskurse werden aufgefasst als Muster, nach denen die Menschen Wirklichkeit wahrnehmen, fühlen, denken, handeln, miteinander umgehen. In Anlehnung an Foucault wird Diskurs präziser verstanden als „historische Gesamtheit effektiv geschehener Aus-

5

Vgl. Schneider, Karl Ludwig, Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1960.

21

sagen, denen eine spezifische Regelhaftigkeit immanent ist“,6 also eine historisch orientierte Zugangsweise zu Texten, die auch „bewusst an nicht literarische Kontexte“7 anknüpft. Die Redeordnungen beziehen sich auf Wissenschaftszweige, die vom Menschen handeln, unter Berücksichtigung der sozialen und medialen Rahmenbedingungen, die als diskursgenerierend mitzuberücksichtigen sind. Zimmermanns Werk vereint diverse Diskurse, die sich selbst in Einzeldiskurse auffächern. Die veränderte Fragerichtung im zweiten Hauptteil zielt auf Zimmermann und sein schriftstellerisches Werk im Diskursgeflecht der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Arbeitsprinzip der Zitatreihung wird aufgegeben, die Innenperspektive auf den Autor Zimmermann verlassen zugunsten „textexterner Kontexte“8 einer außenperspektivischen Epochenkontextualisierung, um zu eruieren, wie Zimmermann an epochalen Diskursen partizipiert. Literarischer, medizinischer und religiöser Diskurs erweisen sich als besonders wichtig; sie stehen deshalb im Zentrum des zweiten Hauptteils. Ein erstes Kapitel untersucht die Literarität von Zimmermanns Gesamtwerk vor dem epochalen Hintergrund, indem er als Prototyp eines philosophischen ArztSchriftstellers von beträchtlicher epochaler Bedeutung herausgestellt wird. Ein spezielles Augenmerk gilt dem Genre der Krankengeschichten, in denen Literatur in besonderer Weise als Ort der Aktualisierung des Pathischen fungiert, das in besonderem Maß therapeutischer Zuwendung bedarf. Ein zweiter Diskursstrang ist medizinhistorischen Aspekten und wissenschaftsgeschichtlichen Bezügen gewidmet. Es wird versucht, zentrale Begriffe seines Therapieverständnisses zu erläutern und seine Verknüpfung von Literatur und Medizin darzustellen. Zimmermanns erste wichtige Publikation, seine Göttinger Doktorarbeit De irritabilitate von 1751, stützt sich, im Gegensatz z.B. zu Schillers medizinischen Dissertationen, auf praktische Experimente. Mediziner ist Zimmermann als Modeschriftsteller und Modearzt zeit seines Lebens geblieben, auch wenn er seit 1754, mit der Übernahme des Stadtphysikats seiner Vaterstadt, nicht mehr experimentell forscht. Die Dachstube im dritten Stock seines Geburtshauses in Brugg oder später sein Studierzimmer gegenüber der Residenz des englischen Königs in Hannover werden zu Schriftorten, an denen der tintenklecksende Federkiel das menschenerkundende Instrument bleibt, dem im Reich der Literatur keine materiellen Eingrenzungen gesetzt werden. Man wird Zimmermann nicht gerecht, wenn man ihn ausschließlich auf sein anthropologisches Arztschriftstellertum fixiert, ohne die theologische Dimension seines Werks zu gewichten. Er ist ein frommer Aufklärer im Spannungsfeld von Orthodoxiekritik, Pietismusnähe und 6 7 8

22

Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. v. H. L. Arnold und H. Detering. München 1996, S. 652. Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hg. u. kommentiert von D. Kimmich et. al. Stuttgart 1996, S. 13f. Vgl. Koch, Hans-Albrecht, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Eine praxisorientierte Einführung für Anfänger. Darmstadt 1997, S. 34.

Neologieaffinität. Konstitutiv für die Bestimmung seines theologiegeschichtlichen Ortes ist die Komplementarität von Medizin und Religion. „Was fehlt, ist eine neuere Studie über den ‚philosophischen Arzt‘ par excellence: Johann Georg Zimmermann“, konstatiert Wolfgang Riedel in seinem Forschungsbericht über „Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung“.9 Vom 4.–7. Oktober 1995 fand aus Anlass des 200. Todestages – Zimmermann starb am 7. Oktober 1795 in Hannover – im Bibelsaal der „Herzog-AugustBibliothek Wolfenbüttel“ ein interdisziplinäres Arbeitsgespräch zu Leben, Werk und Wirkung Zimmermanns unter der Leitung von Hans-Peter Schramm (Hannover) statt, das eine „Inventur-Absicht“10 verfolgte und den Forschungsstand vergegenwärtigte. Unter den insgesamt 16 auf der Tagung gehaltenen Referaten befanden sich vier Schweizer Beiträge. Die breitgefächerten und sich ergänzenden Vorträge untersuchten von biographischem, medizinhistorischem und literaturgeschichtlichem Standpunkt aus, bei eingehender Berücksichtigung von Rezeptionsund Editionsfragen, Zimmermanns Œuvre, dessen Erforschung naturgemäß in transdisziplinärer Zusammenarbeit fortzusetzen wäre. Die Tagung bestätigte, dass Zimmermann offensichtlich nur im Bannkreis Bedeutenderer für die Forschung relevant bleibt. Zimmermann ist insgesamt marginal präsent geblieben, vor allem im Zusammenhang übergeordneter Fragestellungen, ohne selber Gegenstand einer monographischen Untersuchung geworden zu sein. Das Syndrom als „Und-Autor“, „Zimmermann und […]“, entfaltet nach wie vor eine hartnäckige Gültigkeit. Wenn es auch nicht Aufgabe der Literaturwissenschaft ist, „Wiedergutmachungen“ zu betreiben, Karl Fehrs Appellfrage zu einer Ehrenrettung Zimmermanns von 1962 verdient im beginnenden 21. Jahrhundert noch immer gehört zu werden: „Es drängt sich lediglich die Frage auf, ob hier nicht einem Phänomen der schweizerischen Geistesgeschichte gegenüber, um das sich bedeutendste Geister11 bemühten, von Seiten der Literaturwissenschaft ein Unrecht geschehen ist, das es wieder gutzumachen gilt“.12 Nicht zu einer Ehrenrettung oder Wiedergutmachung von Zimmermann und seines schriftstellerischen Werkes wird hier lautstark aufgerufen, wohl 9

10

11 12

Wolfgang Riedel, Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. IASL 6. Sonderheft 1994, S. 124. Brigitte Lohff vermerkt 1997 (In: Gesnerus 54, S. 185): „Soweit mir bekannt, gibt es nur eine einzige ausführliche Auseinandersetzung zu Zimmermanns Buch (sc. Über die Einsamkeit) in Deutschland – Leo Maduschka […] 1933.“ Martin Bircher stellt im „Bulletin Pro saeculo XVIII, Societas Helvetica Nr. 6“, Juni 1995, S. 5 fest: „Eine Handvoll Germanisten und Medizinhistoriker scheinen heute die einzigen zu sein, die sich seiner akademisch erinnern. Anlässlich des 200. Todestages des grossen Schweizers schweigt die Schweiz“. Johann Georg Zimmermann – königlich grossbritannischer Leibarzt (1728–1795). Vorträge, gehalten anlässlich eines Arbeitsgesprächs vom 4. bis 7. Oktober 1995 in der Herzog-AugustBibliothek. Hg. v. Hans-Peter Schramm. Wiesbaden 1998 (Wolfenbütteler Forschungen 82), S. 7. Fehr nennt vorher Goethe, Keller, Gotthelf und Ricarda Huch. Neue Zürcher Zeitung Nr. 1279 vom 1. April 1962.

23

aber hält diese Studie zumindest implizit ein Plädoyer für einen unterschätzten Vertreter einer der Glanzzeiten der Schweiz im deutschen Geistesleben. Unabhängig davon, dass Zimmermann nicht zu den Sternen erster Ordnung gehört, verfügt er über eine ausgesprochen epochencharakteristische Leuchtkraft. Die Auseinandersetzung mit Zimmermanns schriftstellerischen Werken verspricht den Gewinn einer differenzierteren Anschauung der Aufklärungsbewegung.13 Gleichwohl oder gerade deshalb beabsichtigt die Arbeit, auch einen Beitrag zur faszinierenden Forschungslandschaft der Literatur des 18. Jahrhunderts in der Schweiz zu leisten, die mit dem zeitgenössischen europäischen Kontext eng verflochten ist. Um den Einleitungsteil übersichtlicher zu gestalten, werden zwei Exkurse angefügt, die in loser Anbindung an die zwei übrigen Einleitungskapitel separat über Leben und Werk Johann Georg Zimmermanns sowie detailliert über die bisherige Forschungsgeschichte und den derzeitigen Forschungsstand informieren.

13

Vgl. dazu das Themenheft zum „Deutsch-schweizerischen Kulturtransfer im 18. Jahrhundert“: Das achtzehnte Jahrhundert 26 (2002), Heft 2. Hg. v. York-Gothart Mix, Markus Zenker und Simone Zurbuchen.

24

2

Zu Person und Werk1

Da eine detailgenaue Kenntnis von Zimmermanns Leben und Werk nicht vorausgesetzt werden kann, versucht das folgende Kapitel zu seinem Leben und Werk einerseits eine auf Quellen gestützte Kurzbiographie zu bieten, die sich für die Lektüre der Hauptteile als nützlich erweisen mag, und andererseits sein vielgestaltiges Werk überblicksartig vorzustellen. Johann Georg Zimmermann wird am 8. Dezember 1728 in der zu jener Zeit rund 800 Einwohner2 zählenden bernischen Munizipalstadt Brugg3 geboren, die sich in der Nachbarschaft des nachmaligen Tagungsortes der Helvetischen Gesellschaft und an der Weggabelung nach Basel, Zürich oder Bern befindet. Seine Geburtsstadt, vom Volksmund mit leiser Ironie Prophetenstädtlein geheißen, in der Pestalozzi gestorben ist und aus der die beiden späteren Minister der Helvetischen Einheitsrepublik Albrecht Rengger (1764–1835) und Philipp Albert Stapfer (1766– 1840) stammen, liegt Zürich, „dieser weisen und glücklichen Republik“ (Erf. II, 215), geographisch viel näher als Bern, so dass Zimmermann in seinen Briefen den Zürcher Stadtarzt Johann Kaspar Hirzel bisweilen als „Nachbar“ anspricht.4 Dennoch hält sich Zimmermann von 1754–1768 nur zweimal persönlich in Zürich 1

2 3

4

Vgl. zur Biographie Zimmermanns u.a.: Rengger 1830, S. III–XXXII; Johann Caspar Mörikofer, Die schweizerische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1861, S. 299–310; Bodemann 1878, S. 1–160; Jakob Baechtold, Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz. Frauenfeld 1892, S. 669–674; Ischer 1893, S. 5–211; Jacob Minor, in: Kürschners Nationalliteratur, 73. Band (Fabeldichter, Satiriker und Popularphilosophen des 18. Jahrhunderts), o. J., S. 333–354; Allgemeine Deutsche Biographie. 1. Auflage 1900, Bd. 45, S. 273– 277 (R. Ischer). Bouvier 1925, S. 7–104. Literatur Lexikon, hg. v. Walther Killy, Band 12, 1992, S. 498–500 (Günter Häntzschel). Seelenarzt und armer Tropf. Projekt der Fachhochschule Hannover. Fachbereich Informations- und Kommunikationswesen. Leitung Hans-Peter Schramm. Hannover 1995; Benzenhöfer, Udo, Zum Leben und zum Werk von Johann Georg Zimmermann (1728–1795) unter besonderer Berücksichtigung des Manuskripts „Von der Diät für die Seele“, in: Johann Georg Zimmermann, Von der Diät für die Seele. Hg. v. U. Benzenhöfer und G. vom Bruch. Hannover 1995, S. 1–35. Vgl. Schweizerische Medizinische Wochenschrift Nr. 49 vom 8. Dezember 1928, S. 1204. Der Berner Aargau umfasste vor 1798 vier Munizipalstädte: Aarau, Brugg, Lenzburg und Zofingen, die das Untere Aargäu bildeten. Heute liegt Brugg im Kanton Aargau der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Zimmermann bezeichnet Brugg als einen „einsamen, reizlosen, die Flamme des Geistes auslöschenden Ort“ (Erf. I, IIIf.). Ferner: III, 266f. Zu seiner Genugtuung hat der Preussenkönig Friedrich II. niemals etwas von seiner Geburtsstadt gehört: „König: Aus welchem Theile der Schweitz sind Sie gebürtig? Ich: Aus dem Städtlein Brugg, im Canton Bern. König: Ich kenne diesen Ort nicht“. Unterredungen 1788, S. 78 und Anhang, S. 282: „König. Aus welcher Stadt im Canton Bern sind sie gebürtig? Ich. Aus Brugg. König. Ich kenne diese Stadt nicht (Das wundert mich nicht, dachte ich!)“.

25

auf,5 und es ist ein einmaliges Ereignis, als sein Arztkollege Johann Kaspar Hirzel, „qui est un excellent homme pour son coeur et un homme fort estimable pour son savoir“,6 ihn in Brugg zusammen mit dem philosophischen Bauern Kleinjogg besucht.7 Früh verliert Zimmermann seine Eltern, 1741 seinen Vater, Ratsherr in Brugg,8 fünf Jahre später seine Mutter, Johanna geb. Pache, eine Tochter des Parlamentsadvokaten in Paris und Doktors beider Rechte David Pache aus dem französischsprachigen Morges bei Lausanne. In seiner Jugendzeit verbringt Zimmermann dort ein halbes Jahr.9 Der Mutter verdankt er seine deutschfranzösische Zweisprachigkeit. Über seine Gymnasialzeit ab 1741 an der Akademie in Bern lässt er im Essay Über die Dummheit den referierenden Narren sagen: Gewisser Ursachen wegen erinnere ich mich meiner Schuljahre nicht gar zu gerne […] Gewisse lateinische Worte und Redensarten brauche ich noch diese Stunde nicht, weil sie mir Schmerzen gekostet, und im buchstäblichen Verstande eingebläuet sind.10

Der nachmalige Arzt Zimmermann hätte dem Wunsch der frühverstorbenen Mutter gemäss Pfarrer werden sollen. Nach einer undatierten, in sehr fehlerhaftem Französisch abgefassten Quelle, die sich im Nachlass am Schluss des Briefwechsels zwischen Zimmermann und Tissot findet, heisst es: Mr Zimmerman est nee a Brougg Son Pere etait Jean Zimmermann chanceiller de la ville. Plus tard membre du petit conseil sa maire etait une Pache de Morges. Sa Maire apres la mort du 5

6 7

8

9

10

26

Vgl. Bouvier 1925, S. 38. Lavater hingegen besuchte Zimmermann öfters in Brugg. Im Brief vom 7. Mai 1761 äussert Zimmermann gegenüber Hirzel: „Ich wäre der undankbarste unter allen Menschen wenn ich nicht Zürich vor allen andern Städten der Erde vorzüglich liebte“. ZZH, FA Hirzel 238, 44. Auch im Brief vom 30. Oktober 1772 an Hirzel vermerkt er, dass man in Zürich „alles wahre und gute […] so gut als an irgend einem Orte in der Welt“ lernen würde. ZZH, FA Hirzel 240, 6. „O Gott, wer kann unzufrieden seyn am Zürchersee!“, ruft er im Brief an Hirzel vom 1. August 1784 aus. ZZH, FA Hirzel 240, 20. Im Brief vom 22. Januar 1776 aus Hannover an Hirzel schreibt er allerdings, „dass Zürich aber schon in der Zeit, als ich noch in Brugg lebte, ein Pandämonium des Neides gewesen“. ZZH, FA Hirzel 240, 15. Seine Aversion gegen die Zürcher ist in ihrem Verhältnis zu Lavater begründet: „Was ich eigentlich gegen die Zürcher habe ist die Wuth ihres Verfolgungsgeistes gegen Lavater“ ZZH, FA Hirzel 240, 15. Brief Zimmermanns an Haller vom 3. September 1761. Ischer 1910, S. 167. Vgl. ZZH, FA Hirzel 238, Nr. 130, Brief Zimmermanns an Hirzel vom 17.Juli 1762: „Si Kleinjogg occupe la premiere place entre les hommes, Rousseau la Seconde, personne ne vous disputera la troisieme“. „Die Wirthschaft eines philosophischen Bauers“ erschien 1761 in Zürich, im gleichen Jahr wie Tissots „Avis au peuple“. Vgl. IV, 390: „Mein geliebter, und mir in meinem dreyzehnten Jahre verstorbener Vater, ein Lebenslang kränklicher, aber sehr verständiger und sehr aufgeklärter Mann, dem ich meine freye Denkart, und eine edle Erziehung zu danken habe, den ich aus Zärtlichkeit und Ehrfurcht anbetete […]“. In der Einsamkeitsschrift von 1784/85 (II, 220ff.) berichtet Zimmermann von diesem Aufenthalt im Zeichen Rousseaus: „In meinem siebenzehnten Jahre sass ich […] oft in stillen Schatten, an denselben schönen Ufern. Liebe heilte meinen Zustand, Liebe unter den Bäumen am Genfersee […]“. Dazu: Andreas Langenbacher, Die erlesenen Tränen Johann Georg Zimmermanns. Versuch über den getrübten Blick in aufgeklärter Zeit, in: Schweizer Monatshefte 69, Heft 10, Oktober 1989, S. 811ff. Zu Haller äussert Zimmermann über das Weinen: „Je n’ai point honte de ce privilege de l’humanité“. Ischer 1904, S. 40. Zerstreute Blätter vermischten Inhalts 1799, S. 291.

Pere le destina pour le Ministre Eclesiastique le En voya a Berne deux annee pour faire les Etudes. Apres deux ans, Sa maire muroit aussitot il quitta la Theologie s’en va a Göttingen pour Etudier la Medecine .11

Als Waise frei über sein Vermögen verfügend,12 studiert er Medizin seit dem 12. September 1747 an der neugegründeten Universität Göttingen vor allem unter den Fittichen seines Mentors und „second père“13 Albrecht von Haller – „meines grossen Lehrers“.14 Baldinger gibt 1796 Auskunft über Zimmermanns Göttinger Studien: Damals bestund die Facultät aus Richter, Haller, Brendel, Segner. Bey Richter hörte Z. materia medica und specielle Therapie nach Boerhaave, bey Haller Anatomie, theoretisch und praktisch. Europäische Statistik hörte Z. bey Achenwall und studirte bey Tompson Englisch. Bey Brendel besuchte Z. Physiologie, Pathologie, Semiotik, allgemeine Therapie, materia medica, Chymie und Pharmacie.15

Zu seinen Kommilitonen gehören Meckel (1714–1774), Trendelenburg (1724– 1792) und Zinn.16 Bei Haller wohnt er auch als Hausgenosse, gegenüber der erst nach Zimmermanns Studienzeit 1752/53 errichteten reformierten Kirche.17 Die Stadt scheint ihm wenig behagt zu haben: „Mon aversion pour Gottingue est fondée sur le derangement de ma santé que m’a toujours causé ce sejour, sur l’ingratitude du terrain, sur la tristesse du climat, sur la stupidité des habitans“.18 In der Göttinger Zeit gewinnt der Medizinstudent seine Vertrautheit mit der englischen Sprache,19 welche seine leidenschaftlich betriebenen Lektüren maßgebend beeinflusst. Am 14. August 1751 doktoriert er mit der „Dissertatio physiologica de Irritabilitate“, die ihm zu „Celebrität“20 in der medizinischen Gelehrtenwelt verhilft. Eine konzise Zusammenfassung von Zimmermanns medizinischer Dissertation gibt Sprengel 1803 in seiner Geschichte der Arzneikunde. Zimmermann habe Hallers Versuche wiederholt und seine Resultate bestätigt,

11 12 13 14

15 16 17 18 19

20

BBB Mss hh XVIII 71, Nr. 129. Ackerknecht, Erwin H., Zimmermann, Johann Georg (1728–1795). Zu seinem 250. Geburtstag, in: Gesnerus 35 (1978), S. 224. Brief Zimmermanns an Haller vom 2. September 1751. Ischer 1904, S. 5. Ruhr 1767, S. 518. Er ist Haller dankbar verbunden auch für seine moralische Hilfe in Phasen depressiver Verstimmung: „sans vos soins genereux je me serois abandonné à mon chagrin“. Brief an Haller vom 1. März 1753. Ischer 1905, S. 131. Baldinger 1796, S. 123. Rohlfs 1875, S. 86 Untere Karspüle Nr. 2. Das Haus steht nicht mehr, wohl aber die reformierte Kirche. Brief Zimmermanns an Haller vom 12. April 1755. Ischer 1907, S. 151. Im ersten erhaltenen Brief Zimmermanns an Iselin vom 8. Dezember 1748 zitiert Zimmermann auszugsweise aus der englischen Übersetzung von Evans Chambellan von Hallers Ode „Sur l’Eternité“. Staatsarchiv-Basel-Stadt PA 98, 41, p. 2/3. Vgl. Wichmann 1796, S. 5. Rohlfs 1875, S. 102 kommentiert: „Soviel ist ausgemacht, dass Zimmermann durch seine Untersuchungen sich einen europäischen Namen verschaffte“.

27

aber er zeigte auch ausserdem, dass die Arterien, die Venen und der gemeinschaftliche Stamm der Saugadern ebenfalls Reizbarkeit besitzen. Die Reizbarkeit der Nerven sey nicht den Häuten derselben zuzuschreiben, die aus blossem Zellgewebe bestehen, sondern dem Marke. Auch er zeigt, dass das Bellini’sche Experiment mit dem phrenischen Nerven keineswegs die Abhängigkeit der Reizbarkeit von dem Einflusse der Nerven beweise. In kaltblütigen Thieren fand er diese Kraft grösser; besonders ausgezeichnet ist sie allemal im Herzen und in den dünnen Gedärmen. Ueber die Ursachen der Irritabilität wagte er nicht zu entscheiden, sondern begnügte sich damit, sie als Grundkraft anzunehmen; auch schrieb er sie mehrern Gewächsen zu.21

74 originelle Versuchsanordnungen, vor allem mit Mäusen, Fröschen (für die Gehirn- und Herzversuche) und Hunden (für Dura mater-Versuche), liegen seiner 74seitigen Dissertation, aufgeteilt in 56 Kapitel, zugrunde, die einen in der medizinischen Welt vielbeachteten Beitrag zu einem heftig diskutierten Thema experimentell-vergleichender Physiologie leistet, der auch Hallers bevorzugtes Interesse gilt. Die an Tieren gewonnenen Ergebnisse werden auf den Menschen übertragen. Zimmermann verwendet, neben thermischen Einwirkungen, sowohl mechanische Reizmittel, wie Atemhauch, Finger, Nadeln oder Skalpelle, als auch chemische, indem er u.a. mit Skalpell und Vitriolöl arbeitet. Im Gegensatz zu Haller unterscheidet Zimmermann nicht zwischen Sensibilität, d.h. Reizempfindung und Reizweiterleitung der Nervenfasern, und Irritabilität, d.h. Reizbeantwortung durch Kontraktionen des Muskelgewebes: „Id etiam hic in principio notandum me aliquando sensibilitatem pro irritabilitatem sumere et vice versa, per experimenta enim inveni irritabilitatem ut plurimum esse uti quantitas nervorum“.22 Entgegen der Titelankündigung behandelt Zimmermann also Irritabilität und Sensibilität zusammen. Im ersten Teil führt er den Beweis, dass die angebliche Irritabilität der Dura mater unhaltbar sei. Der zweite Teil behandelt die Nerven, deren Erregbarkeit und Differenzierung. Der dritte Teil enthält Versuche über die Irritabilität des Herzens und die peristaltischen Bewegungen der Gedärme. Die Intensität der Reizbarkeit, die „vis insita“, „vis contractilis“ oder „vis vitalis“ genannt wird, verhält sich nach Zimmermann proportional zur Versorgungsdichte an Nerven. Irritabilität wird zur conditio sine qua non für Leben überhaupt: „Tolle enim irritabilitatem, inertia erit per totum corpus“.23 Zimmermann unterscheidet scharf zwischen experimentell beglaubigter Beobachtung und spekulativer Ursachenerklärung, auf die er ausdrücklich verzichtet: „Non pudet ea respondere qua saepius responderunt maximi virii: rerum causas eruere nobis non licet, sufficit phoenomena explorasse“.24

21 22 23 24

28

Sprengel 1803, S. 180f. Dissertatio de irritabilitate 1751, S. 2. Dissertatio de irritabilitate 1751, S. 64. Vgl. S. 70, wo es sogar heisst: „irritabilitatem si tollas, tolleres vitam“. Dissertatio de irritabilitate 1751, S. 70.

Auf seiner Kavaliersreise durch Holland nach Frankreich sammelt Zimmermann in den Spitälern von Leyden und Paris,25 wo er dem Leibarzt von Louis XV, Sénac, mehrfach begegnet, erste praktische Erfahrungen, nachdem er während seiner Studien mit Patienten nicht direkt in Berührung gekommen ist. In Paris verliebt er sich schwärmerisch in eine berühmte Schauspielerin: „La grande actrice Mlle Du Mesnil m’a eppris d’une façon que je pensois devoir sortir malade da la pièce (sc. Iphigenie des Sophokles)“.26 In werktypisch anekdotenhafter Art berichtet Zimmermann in der Einsamkeitsschrift der Fassung 1784/85 von Carlo-Antonio Bertinazzi (1710–1783), der während nahezu eines halben Jahrhunderts an der Comédie-Italienne in Paris unter dem Pseudonym Carlin wirkte. Zimmermann wird ihn wohl selbst erlebt haben.27 Nach Göttingen zurückgekehrt, ist der junge Arzt vorübergehend Hofmeister des schottischen Adligen Murray. Am 16. Mai 1752 eröffnet Zimmermann in Bern eine ärztliche Praxis. Er muss sich, im Gegensatz zu seiner späteren ärztlichen Tätigkeit, auf Patienten beschränken, die nicht zu den ersten Kreisen zählen,28 so dass ihn immer wieder Geldsorgen belasten.29 Die beiden Haller-Schüler J. F. Meckel, der Zimmermann 1771 in Berlin operieren wird,30 und J. A. T. Sproegel begleitet er im Juli 1752 ins Berner Oberland nach Lauterbrunnen.31 1753 reist Zimmermann nach Göttingen, um 25 26

27

28

29 30 31

Vgl. Bodemann 1885, S. 3f. Brief Zimmermanns an Haller aus Paris vom 2. September 1751. Ischer 1904, S. 8f. Dass Zimmermann Marie-Françoise Dumesnil (1711–1803) auch sonst näher gekommen sein dürfte, legte eine Stelle der „Erfahrung in der Arzneykunst“ nahe: „[…] ich erinnere mich diese Wahrnehmung (sc. Erröten der Brust bei Frauen mit sehr weiser und zarter Haut) schon in Paris an der berühmten du Menil gemacht zu haben, bey welcher zwar eben nicht die Schamhaftigkeit, ein Wort das unter den Damen des französischen Theaters noch unerfunden ist, aber andere Leidenschaften eine ordentliche Röthe zuerst auf der Stirne, nachher nicht auf den Wangen denn da glänzte der Zinnober, sondern auf der ungeschminkten Brust zu meiner Erstaunung erregten“ (Erf. II, S. 472f. Vgl. auch Bouvier 1925, S. 16). Dieser Harlekin, eine versteckte Selbstdarstellung Zimmermanns, war Autor zahlreicher Komödien. In denen er „à la fois le sujet, l’auteur, l’acteur et le spectacle“ (La Grande Encyclopédie, Tome sixième, Paris 1885–1901, S. 458) verkörperte: „Kein so guter Harlekin war nie auf dem Italienischen Theater zu Paris erschienen, wie der im Jahre 1778 dort verstorbene Harlekin Carlin. (Zimmermann irrt sich: das Todesdatum Carlins ist der 7. September 1783. Zimmermann war seit 1778 korrespondierendes Mitglied der Pariser Akademie). Er beherrschte wirklich die Lungen seiner Zuhörer unumschränkt, aber ausser seinem bunten Theaterjäckgen war er ein sehr stiller und trauriger Mann. Als daher einst ein Kranker bey einem der ersten Pariser Ärzte über Anfälle der schwärzesten Melankolie klagte, rieth ihm der Arzt er müsse sich mehr heitere Zerstreuungen machen. Besuchen sie die Italienische Comedie, sagte er: ihr Übel muss sehr tief stecken, wenn sie Carlin, der Harlekin, nicht curirt. Ach, sagte der Kranke, ich bin Carlin selbst, und bin um nichts frölicher, wenn ich gleich alle andere lachen mache“ (II, 185/86). Vgl. Urs Boschung, Von „[…] dem ersten Schritte, den ich als Arzt in die Welt that […]“. Die Anfänge von Johann Georg Zimmermanns ärztlicher Praxis, Bern 1752–1754, in: Schramm 1998, S. 31–48. Vgl. den Brief an Haller vom 1. März 1753. Ischer 1905, S. 132. Mekel berichtet über die Operation in seinem „Tractatus de morbo hernioso congenito singulari & complicato feliciter curato. Berlin 1772“. Brief Zimmermanns an Haller vom 31. Juli 1752. NLB Ms XLII 1933, Nr. 39.

29

Hallers Bibliothek nach Bern zu transferieren. In Frankfurt am Main begegnet er Voltaire, der im gleichen Haus logiert.32 Im April 1754 wird Zimmermann Physikus in seiner Vaterstadt Brugg.33 Zu seinen Pflichten gehört auch, den Hebammen Unterricht zu erteilen.34 Er heiratet eine Enkelin von Hallers Onkel Niklaus Rudolf, die Witwe Katharina Elisabeth Steck, geb. Meley.35 Der Sohn Johann Jakob, für den Lavater in einem Brief an den Vater vom September 1769 Lesestoff beilegt,36 wird am 2. Januar 1755 geboren, die geliebte Tochter Katharina am 30. September 1756.37 Ihr Bruder stirbt in geistiger Umnachtung 1820.38 Der Herr D. Zimmermann ist keiner von den trocknen Biographen, die ihr Augenmerk auf nichts höhers als auf kleine chronologische Umstände richten, und uns einen Gelehrten genugsam bekannt zu machen glauben, wenn sie die Jahre seiner Geburt, seiner Beförderungen, seiner ehelichen Verbindungen und dergleichen angeben. Er folgt seinem Helden nicht nur durch alle die merkwürdigsten Veränderungen seines Lebens, sondern durch alle die Wissenschaften, in denen er sich gezeigt, und durch alle die Anstalten, die er zur Aufnahme derselben an mehr als einem Orte gemacht hat. Dabei erhebt er sich zwar über den Ton eines kalten Geschichts-

32 33

34 35

36

37

38

30

Brief Zimmermanns an Haller vom 15. Juni 1753. Ischer 1905, S. 134. Ein Empfehlungsschreiben Albrecht von Hallers, seinem „second pere“, vom 9. April 1754 sowie das Pflichtenheft des Stadtarztes, von Zimmermann eigenhändig verfasst (datiert auf den 14. September 1754), finden sich im Stadtarchiv von Brugg bei den Gerichtsakten unter der Signatur 155f. Sie umfassen das Empfehlungsschreiben Albrecht von Hallers vom 9. April 1754, das Pflichtenheft des Stadtarztes, von Zimmermann eigenhändig verfasst (14. September 1754), Zimmermanns Testament sowie die ”Pflichten die Einem jehweiligen Herrn Statt., Physico zu beobachten obliegen" von Joh. Jac. Vätterli vom 18. Juni 1768. Brief Zimmermanns an Haller vom 10. Dezember 1757. Ischer 1909, S. 226. In „L’histoire de ma santé“ (1770), NLB Ms XLII 1933 B 8b, abgedruckt in: Mit Skalpell und Federkiel 1995, S. 263–275, rühmt er seine Frau: „Ma femme se conduisit dans ces circonstances (in Hannover 1768, nach der Übersiedlung) comme un ange de raison et de douceur visà-vis de moi; elle seule soulageait mes larmes et mon désespoir; elle seule était la dépositaire de mes pensées“ S. 265. Und S. 266: „ma femme faible, languissante et tourmentée depuis 20 ans de tous les maux de nerfs imaginables, se conduisit entout ceci comme une héroïne, soutint seule touts ces choses, et porta généreusement mes peines sans me faire apercevoir les siennes“. Brief von Lavater an Zimmermann vom 6. September 1769, wo es heisst: „Ü b e r l e g u n g e n , eine kleine Brochure von T o b l e r n habe ich für den lieben Jacob beÿgelegt, von dem ich auch einmal gern einen Brief hätte“, in: Luginbühl I, S. 207. Auch die zweite Auflage der „Lieder für junge Schweizer“ ist Hans Jacobli gewidmet, vgl. Ischer 1911, S. 100. An Haller schreibt er am 4. Oktober 1756: „Jeudi à 2 h. et demi elle accoucha le plus heureusement et le plus facilement du monde d’une fille très bien conformée et bien portante“ (Ischer 1908, S. 139). Tissot gegenüber, von dem er sich Ratschläge für die Erziehung seiner Tochter holt, äussert er: „J’aime cet Enfant comme ma propre vie“. Brief von Zimmermann an Tissot vom 26. September 1767. BBB Mss hh XVIII 71 Nr. 45. Die Sorge um das Schicksal seines kranken Sohnes belastet Zimmermann lebenslang. An Johann Stapfer schreibt er im Brief vom 24. Oktober 1785: „Alle Sorgen, die mir das macht, nagen schrecklich an meinem Leben. Aufschieben soll ich, kann ich und darf ich die gäntzliche und für immer festgesetzte Beendigung dieser grössten Angelegenheit meines Lebensnicht länger, da vielleicht meine Todesstunde weit näher ist, als Sie […] glauben und vermuthen“. Luginbühl 1890, S. 47f.

schreibers; allein von der Hitze eines schwärmerischen Panegyristen bleibt er doch noch weit genug entfernt.39

Diese nicht unfreundliche Rezension Lessings beurteilt die erste in der Brugger Abgeschiedenheit entstandene Publikation von Bedeutung, die im April 1755 erschienene Biographie Hallers, die breit ausführt, was die „Lettre à Mr. (Herrenschwand) […]“ von 1752 skizzenhaft entwirft. Haller hingegen begleitet die Entstehung seiner Lebensbeschreibung von Schülerhand nicht ohne weitreichende Vorbehalte, die wohl vor allem in der Demut des Porträtierten wurzelt, der es im übrigen keineswegs unterlässt, seinen Schüler mit verwertbarem Material einzudecken.40 Auf dem „Mittelweg zwischen identifikatorischer Emphase und analytischer Distanz“41 verfolgt Zimmermann das Leben seines Lehrers im Wesentlichen chronologisch in sechs materialgesättigten Teilen: Hallers Jugendzeit, von der Zimmermann vieles aus Hallers eigenen Erzählungen erfahren hat (I); die Studienzeit in Tübingen und Leyden sowie die anschließenden Reisen, wobei Zimmermann auch auf die Umstände der Enstehung des Gedichts Die Alpen von 1729 zu sprechen kommt (II); Hallers ärztliche Tätigkeit in Bern (III); die Göttinger Zeit (IV); die zweite Berner Zeit bis 1755 (V). Der sechste Teil betrachtet den „Charakter des Herrn Hallers […] nach allen Umständen“ und geht auch ausführlich auf Hallers Religiosität ein.42 Das Urteil im dritten Teil über B. L. von Muralt, den Verfasser der Lettres sur les Anglais et les Français, wird unbewusst zur Selbstcharakterisierung, wenn Zimmermann bemerkt, an Muralt ließe sich erkennen, „wie groß, wie klein, wie verwickelt zusammengesetzt, wie majestätisch und elend der Mensch“ sei.43 Hallers lebenslange Vorbildfunktion, trotz späterer Abkühlung, veranlasste Zimmermann am Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit, von Ruhmsucht getrieben, sich in der literarischen Nachfolge seines wissenschaftlichen Lehrers poetisch zu versuchen. Bodmer und Breitinger versuchen Zimmermann in ihrer Auseinandersetzung mit Gottsched zu instrumentalisieren,44 weil sie auf Haller nicht mehr zählen können. Im Hirzel-Nachlass finden sich an poetischen Fingerübungen eine dreiseitige Ode Musa Germanorum Reipublicae civili bello dissidenti ominosa sowie ein „Himnus“, der auf Hirzels Wahl zum Zürcher Stadtarzt Bezug 39 40 41 42 43 44

Lessing, G. E., Berlinische Privilegierte Zeitung vom 17. Mai 1755, 59. Stück, in: Lessing, Werke III, Frühe kritische Schriften. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1972, S. 247f. „Ich hatte die Freyheit genommen dem Herrn von Haller mein Vorhaben zu entdecken, ein Vorhaben das er in zwanzig Briefen aufs äusserste misbilliget hat“. Leben Haller 1755, Vorrede. Mit Sklapell und Federkiel 1995, S. 54. Leben Haller 1755, S. 361–417. Leben Haller 1755, S. 227. Vgl. dazu Albert M. Debrunner, Ein Ersatz für Haller. Bodmers und Breitingers Verhältnis zu Zimmermanns literarischem Schaffen, in: Schramm 1998, S. 75–81. Über Bodmer – und Sulzer – äussert sich Zimmermann in einem späten Brief an Hirzel vom 29. März 1780: „Das wichtigste was Sultzer hinterlassen hat, sind Bodmers samtliche Briefe an ihn: ein Schatz der vielleicht seines gleichen in der Welt nicht hat“. ZZH, FA Hirzel 240, 19.

31

nimmt.45 Wieland hat Zimmermann bald von der Unersprießlichkeit seiner dichterischen Versuche überzeugt. Es war ein hochaktuelles Ereignis, an dem sich Zimmermanns poetisch übt: das Erdbeben vom 1. November 1755 in Lissabon. Eine erste Fassung sendet Zimmermann im Dezember 1755 an Haller, dessen Kritik ihn zu einer Überholung des Gedichts, eines „miserablen Dilettantenopus’“,46 veranlasst, das er unter dem Titel Die Zerstörung von Lisabon im Juli 1756 seinem „cher Patron“47 wieder zukommen lässt.48 Von einem Lehrgedicht wird man nicht sprechen: Zimmermann wählt für seine poetischen Beschreibungen meist Typen, der Geizige, der König, der Priester, welche eine Verbindung zwischen dem Ereignis und dessen moralischer Deutung ermöglichen; die exakten Fakten werden in den Anmerkungen nachgetragen.49

Metrische Inhomogenität, uneinheitliche Rhythmik, stümperhafte Reimerei kennzeichnen insgesamt Zimmermanns Gedichte. Sie können literarhistorisch kaum noch Interesse beanspruchen. Immerhin lassen sich in den drei Erdbeben-Gedichten Ansätze zu einer „Fundierung der Ästhetik in der Sinnlichkeit, d.h. in jenen ‚unteren‘, ans Physiologische grenzenden Erkenntnisvermögen“50 im Sinne der sensualistischen Ästhetiken Baumgartens und Burkes erkennen. Die Ode auf den Krieg von 1758 legt unter dem Einfluss Gleims Zeugnis von Zimmermanns kritikloser Bewunderung des preußischen Königs ab, dessen Schlachten im „Siebenjährigen Krieg“ er mit glühender Anteilnahme verfolgt. Im dritten Band von Bürklis Schweitzerischer Blumenlese findet sich aus der Feder Zimmermanns ein nicht über alle poetischen Zweifel erhabener Sechszeiler, „Als zwey Mädchen auf einen Maskenball giengen“, der Züge einer Selbstinterpretation und ansatzweise eine versteckte Rezeptionsanweisung für den Leser seiner Schriften enthält: Ihr Lieben, nehmt in dieser Nacht Vor Maskenträgern euch in Acht, Es möcht euch sonst gereuen.– Bedenket wol, was Zeus gethan: Zog dieser Heide Masken an, So giengs auf Schelmereyen.51

Entschieden mehr Erfolg erlangt Zimmermann mit seiner Schrift über den Nationalstolz, deren erste Auflage 1758 erscheint. Wenn von Zimmermanns „National45 46 47 48 49 50 51

ZZH, FA Hirzel 238.22; 238.151. Vgl. den Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich III: Familienarchive. Von Jean-Pierre Bodmer. Zürich 1996, Spalte 267. Milch 1937, S. 68. Brief Zimmermanns an Haller vom 2. September 1751. Ischer 1904, S. 9. Vgl Martin, Rector, Johann Georg Zimmermanns Gedicht Die Zerstörung von Lissabon (1756), in: Schramm 1998, S. 83–92. Siegrist, Christoph, Das Lehrgedicht der Aufklärung. Stuttgart 1974, S. 47. Mit Skalpell und Federkiel 1995, S. 94. Zimmermann, J. G., Als zwey Mädchen auf einen Maskenball giengen (1782), in: Schweitzerische Blumenlese. Hg. v. J. Bürkli. Zürich und Winterthur 1783, S. 43.

32

stolz“ die Rede ist, müssen drei Fassungen unterschieden werden. Die geplante Vorrede für eine Sammlung von Bildnissen und Biographien des Zürcher Kupferstechers Herliberger verselbständigt sich zu einer Untersuchung über die Nationaltemperamente. Bereits im Rahmen seiner Dissertation hat sich Zimmermann mit Nationaltemperamenten befasst und versucht, die Unterschiede physiologisch zu erklären, indem er sie auf verschiedenartige Nervenempfindlichkeiten zurückführt.52 Das aus Zensurgründen anonyme Erscheinen der ersten Auflage von Anfang 1758, die aus zwei Abteilungen besteht, ist eine stark von Rousseau geprägte Satire, die sich anekdotengewürzt mehr um effektvolle Unterhaltung als um Belehrung des Lesers bemüht: „Er wechselt geschickt ab zwischen hohem pathetischem Fluge und trocken-witziger, schmuckloser Erzählung, zwischen satirischen Ausfällen und sentimentalen Anwandlungen“.53 Es ist kein „ouvrage définitif, mais un essai sincère“,54 der Thomas Abbt als Vorbild dient, als „Modell im Teutschen“, wie er etwas zu schreiben wünschte.55 Zimmermann berücksichtigt auch den asiatischen Raum, Ägypten und Lappland. Der Religionsstolz und die Beeinflussung des Temperaments durch die klimatischen Verhältnisse finden besondere Beachtung.56 Die zweite, „durchaus verbesserte“, 1760 in Zürich veröffentlichte Version enthält siebzehn Kapitel bei gleichzeitiger Reduktion des Umfangs und Weglassung sämtlicher Anmerkungen. Das Ende jedes Kapitels gibt eine Zusammenfassung und leitet zum nächsten über. Einleitung und Schluss umrahmen die Darstellung des falschen (Kapitel 2–9) und des wahren Nationalstolzes (Kapitel 10–15). Eine dritte Umarbeitung bietet einen inhaltlich modifizierten Text, erweitert und vertieft durch die Anreicherung weiterer illustrierender Belege. Im Rahmen dieser Arbeit wird in der Regel aus dieser Fassung zitiert, die ihm europäische Resonanz verschafft, wovon zahlreiche Neuauflagen, Raubdrucke und Übersetzungen zeugen.57 Auffallend ist im Vergleich der drei Versionen der Wandel von Zimmermanns politischem Standort. Die erste Fassung kennt nur die Alternative zwischen frei-

52 53 54 55

56

57

Der Titel von Zimmermanns Inauguralrede lautet: De temperamentis integrarum gentium, quae a climate et vitae ratione sunt, per variam nervorum sensilitatem explicandis. Ischer 1893, S. 255. Bouvier 1925, S. 151. Brief Abbts an Zimmermann vom 20. Oktober 1765, in: Bodemann 1878, S. 28f. Weiter heisst es: „Im folgenden Jahre (sc. 1760) versuchte ich mich nach meinem Muster mit dem ‚Tode für’s Vaterland‘“. Die Thematik der Temperamente von Individuen und Nationen hat Zimmermann immer schon interessiert. Vgl. Bouvier 1925, S. 159: „Or la mentalité des nations est une résultante de celle des individus“. Vgl. die Bibliographie. Bouvier hingegen meint zu den verschiedenen Auflagen: „A notre avis, la deuxième édition est la bonne, l’édition définitive: elle traite honnêtement, brièvement son sujet. La quatrième, plus variée, enjolivée d’ornements, amusante à lire, est plus attrayente pour le grand public. C’est elle qui a eu les honneurs de la traduction, et fait un renom européen à son auteur“ (Bouvier 1925, S. 169).

33

heitlicher Republik und zu verabscheuender Despotie.58 Invektiven gegen Bern fehlen nicht, wie es ohnehin nicht die schweizerischen Verhältnisse sind, denen Vorbildfunktion zukommt. In der dritten Version artikuliert sich ein überzeugter Monarchist, nachdem die zweite ihn als aristokratisch Gesinnten ausweist. Die lebenslangen Freundschaften zu Lavater und Hirzel59 entstehen im Umkreis der „Helvetischen Gesellschaft“. Zimmermann gehört zu ihren Gründungsmitgliedern 1761 und 1762: M. Zimmerman, ami des deux fondateurs (sc. Hirzel und Iselin), fut le premier à qui ils communiquèrent leur plan; il etoit bien fait pour l’accueillir, aussi il le saisit avec le plus grand empressement & fut un des neuf membres qui se reunirent à Schinznach en May 1761; & il n’a jamais manqué de se trouver aux assemblées, aussi longtemps qu’il a été en Suisse.60

Über seine gesellschaftliche Stellung in Brugg äußert Zimmermann am Krankenlager Friedrichs II.: „Vorher (sc. vor seiner Übersiedlung nach Hannover) war meine Lage so gering und klein als möglich: denn ich war ein kleiner Doctor und ein comisches Magistratsglied, im kleinsten Städtlein der Schweitz!“.61 Im Gegensatz zu vielen seiner Schweizer Freunde, wie den Bernern Vinzenz Bernhard und Niklaus Tscharner, dem Basler Isaak Iselin, den Zürchern Bodmer, Breitinger, Hirzel und Gessner, denen als Patriziersöhnen führende politische Ämter offenstanden, war Zimmermann als einem Bürger einer bernischen Munizipalstadt „– Intelligenz und Bildung ungeachtet – eine politische Karriere über die engen Grenzen seiner Vaterstadt hinaus und damit die höchste Anerkennung grundsätzlich verwehrt“.62 Im Reich des Geistes, in „einer intellectuellen Welt […], wo alle Scenen viel man58 59

60

61 62

34

Vgl. zu Zimmermanns politischem Standort den Exkurs 8. 4., S. 221ff. „Meines Zimmermanns [...] des Freunds meines Herzens [...]“, nennt ihn Hirzel im Brief an Gleim vom Juni 1774. H. C. Hirzel, Die Wirthschaft eines philosophsichen Bauers. 9. vermehrte Auflage. Zürich 1774, S. 246. Tissot 1797, S. 46f. Vgl. Zimmermanns Bericht III, 475f. Ferner: Ulrich Im Hof und François de Capitani, Die Helvetische Gesellschaft. Spätaufklärung und Vorrevolution in der Schweiz. Frauenfeld und Stuttgart 1983. Band 1: Die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit in der Schweiz, u.a. S. 15ff. Band 2: Die Gesellschaft im Wandel, S. 310. Zu Zimmermanns Verhältnis zur Helvetischen Gesellschaft bemerkt Bouvier 1925, S. 186 treffend: „Evidemment, pour Zimmermann, les assemblées de Schinznach étaient avant tout une occasion d’égayer sa solitude, de distraire son ennui grondeur ou morose, de revoir ses amis“. Unterredungen 1788, S. 257. Stüssi-Lauterburg, Barbara, Johann Georg Zimmermann (8. Dezember 1728 – 7. Oktober 1795). Die Einsamkeit des konservativen Intellektuellen. Separatdruck aus Familienforschung Schweiz 50 (1996), S. 34f. Stüssi-Lauterburg führt zur gesellschaftpolitischen Ausgangslage Zimmermanns in der Republik Bern vor 1798 aus (S. 34): „In der Republik Bern galten Wissenschaft und Literatur wenig, bedeutete der Staatsdienst alles. Die ganze Erziehung der Patriziersöhne war in der Regel auf den Eintritt in den Rat der Zweihundert ausgerichtet, womit ihnen die Türen zu den höheren Ämtern. Insbesondere den Landvogteien offenstanden“. Vgl. dies., „Ne quis emineat“ – oder warum es Johann Georg Zimmermann in der alten Republik Bern zu eng wurde, in: Schramm 1998, S. 21–29. Vgl. auch Loetscher 2003, S. 77: „Das Nicht-dazu-Gehören schärfte bei Zimmermann den Sinn für das Nichtkonforme, gleichzeitig auch eine geradezu peinliche Bereitschaft, dankbar zu sein, wenn er dazugehören durfte. Diese Ambivalenz sollte Leben und Werk bestimmen“.

nigfaltiger und ungleich einnehmender sind, als diejenigen, die täglich unsere Augen ermüden“,63 erkundet Zimmermann während der als bedrückend empfundenen und viel geschmähten Brugger Zeit (1754–1768) kompensatorisch eine raumunabhängige Heimat, die vor allem literarisch fruchtbar wird.64 1760 wird Zimmermann Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, es folgen die Mitgliedschaften in den Akademien von Zürich, Bern, Basel, München, Palermo, Petersburg und Göttingen sowie der medizinischen Gesellschaften von Paris, London, Edinburg und Kopenhagen.65 Zwar beabsichtigt er in den 1780er Jahren mehrfach, die Erfahrung in der Arzneykunst durch einen dritten Teil zu vollenden, doch sein 1763/64 in zwei Teilen erscheinendes Werk bleibt Fragment. Die Erfahrung in der Arzneykunst ist als eine Einführung ins gesamte Gebiet der „Arzneykunst“66 gedacht, die sich sowohl gegen Empiriker und Practicis als auch gegen Dogmatiker richtet, die alle über eine „falsche“ Erfahrung verfügen. Sprengel charakterisiert das Werk folgendermaßen: Der Werth der wahren Erfahrung und ihr Unterschied von der falschen, oder der blinden Uebung, die Vortheile der Gelehrsamkeit und die Nothwendigkeit der Verbindung derselben mit der Erfahrung; die Hindernisse des Beobachtungsgeistes, die Nothwendigkeit, die Eigenschaften und der Nutzen guter Beobachtungen; die Wirkungen des Genie’s, und die Methode aus Analogie und Induction zu schliessen: das sind die Hauptgegenstände, womit sich der Verfasser dieses klassischen Werkes beschäfftigt.67

Das von Sprengel als klassisch gelobte Werk bietet aufs Ganze gesehen eine geschickte Zusammenstellung zeitgenössischer ärztlicher Auffassungen, ohne neue Forschungsergebnisse zu enthalten. Die beiden Teile bestehen jeweils aus vier Büchern mit zunehmendem Umfang,68 die um einen Schlüsselbegriff kreisen: Erfahrung (Buch I) und ihr Verhältnis zu Gelehrsamkeit (Buch II), Beobachtungsgeist (Buch III) und Genie (Buch IV). Die Bücher II–IV beginnen mit Einleitungskapiteln, die den Leitbegriff erörtern, während das erste Buch insgesamt diese Funktion für das Ganze der Abhandlung übernimmt. „Wahre“ Erfahrung ist eine heilwirkende Realisierung theoretischer Grundsätze, die auf Gelehrsamkeit, Beobachtungsgeist und Genie beruht und durch Experimente bestätigt wird, etwa durch die „Zergliederungskunst“. Genie ist im Sinne Zimmermanns eine Herz und Kopf, Körper und Geist umfassende angeborene Begabung, die Einbildungskraft wie 63 64 65 66

67 68

Betrachtungen über die Einsamkeit. Zürich 1756, Vorbericht, S. 9f. Ischer 1893, S. 290: „In Brugg, wo Zimmermann die fruchtbarste Periode seines Schriftstellerlebens verbrachte […]“. Rohlfs 1875, S. 87. Arzneykunst beschränkt sich nicht auf den Gebrauch von Arzneimitteln, sondern bezeichnet „umfassender die gesamte wissenschaftliche Medizin und ärztliche Kunst der damaligen Epoche“ (Gurtner 1998, S. 51). Der Begriff verschwindet mit dem Siegeszug der Wissenschaftsmedizin des 19. Jahrhunderts. Sprengel 1803, S. 342. Das erste Buch enthält drei Kapitel mit 33 Seiten, das zweite Buch fünf Kapitel mit 40 Seiten, das dritte Buch neun Kapitel mit 180 Seiten, das vierte Buch 15 Kapitel mit 344 Seiten.

35

Verstand gleichermaßen umschließt. Als Kombinationsfähigkeit bewährt sich Genie vor allem in der ärztlichen Praxis, z.B. durch Analogieschlüsse oder durch die Eruierung von Krankheitsursachen. In der 1767 erschienenen Schrift Von der Ruhr unter dem Volke im Jahr 1765, und denen mit derselben eingedrungenen Vorurtheilen, nebst einigen allgemeinen Aussichten in die Heilung dieser Vorurtheile protokolliert Zimmermann beobachtete Tatsachen und gelebte Erfahrungen. Er erweist sich mit diesen Aufzeichnungen als Sozialhygieniker in der Nachfolge Tissots, den er häufig zitiert und dessen „Avis au peuple“ (1761) er nachdrücklich empfiehlt.69 Als Zimmermann von der Berner Regierung während der epidemischen Ruhr im Jahre 1765 zum verantwortlichen Arzt im Amt Wildenstein ernannt wird, kümmert er sich um die körperliche und geistige Gesundheit der Bevölkerung, für die er zuständig ist. Neben den eigentlichen medizinischen Ausführungen steht das leidenschaftliche Plädoyer gegen Vorurteile (und daraus erwachsende Widerstände von ländlicher Bevölkerung und unsachgemässen Heilern) und für eine Verbesserung der hygienischen Verhältnisse. Die zehn Kapitel behandeln systematisch Beschreibung der Krankheit, Ursachen, wie Witterung und Ansteckungsgefahr, sowie Heilungsmittel und Heilmethoden. Zimmermann unterscheidet leichte, mittelschwere und schwere Dysenteriefälle, die alle 1765, im Gegensatz zu Fällen der Epidemie von 1766, bei frühzeitiger und anhaltender richtiger Behandlung entscheidend hätten bekämpft werden können. Zimmermann diagnostiziert das gallichte Faulfieber als Begleiterscheinung der Ruhr und tritt für eine Kur ein, die mit einem Brechmittel beginnt und in der Folge alle Nahrungsmittel meidet, welche die Fäulnis fördern. Insbesondere verbietet er strikt den Genuss von Alkohol, der sich grosser Beliebtheit auch als Heilmittel erfreut. Das achte Kapitel, Vorurtheile, die sich den Anstalten der Landesobrigkeit, den Bemühungen der Aerzte, und der lauten Stimme der Vernunft widersezten, verlangt, dass angehende Pfarrherren auch in praktischer Heilkunde unterrichtet werden. An Hans Kaspar Hirzel (1725–1803) schreibt Zimmermann im Brief vom 17. Februar 1758: „Herr Wieland hat wieder angefangen mir zu schreiben, welches mir sehr angenehm ist“.70 Sulzer allerdings gegenüber seufzt Zimmermann einmal: „Nun muss ich eine entsetzliche Menge Briefe beantworten“.71 In siebzehn Tagen hat er einmal nach eigenen Angaben 178 Briefbogen beschrieben.72 Ein Grossteil seiner medizinischen Tätigkeit erfolgt über das Medium des „Brief-Conversations-

69 70 71 72

36

Vgl. zu den Zensurproblemen der Ruhrschrift Zimmermanns den Brief an Haller vom 18. Oktober 1766. Ischer 1911, S. 75ff. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 17. Februar 1758. ZZH, FA Hirzel 238, Nr. 4. Brief Zimmermanns an Sulzer vom 15. September 1776. Bodemann 1878, S. 255. Heinicke, Wilfried, Zimmermann als Arzt der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau. Die medizinhistorische Bedeutung der Korrespondenz, in: Schramm 1998, S. 65.

wesens“.73 Seine Briefe sind wichtige Zeugnisse. Zu seinen Briefpartnern zählen Lavater, Hirzel, Tissot, Haller, Wieland, Gessner, Sulzer, Herder, Goethe, Frau von Stein und die Zarin Katharina II., zu schweigen von Korrespondenten wie Abbt, Baldinger, Bodmer und Breitinger, der Bondeli, Jean André Deluc (1727– 1817) von Genf, dem Naturforscher und Physiker, der seit 1793 meist in England als Vorleser der Königin lebt, dem Winterthurer Portraitmaler Graff, de Haen, Hotze in Richterswil, Kämpf, Kotzebue, Marcard, Nicolai, Vater Daniel und Sohn Philipp Albert Stapfer,74 van Swieten. Stellvertretend für Zimmermanns Briefe stehe in diesem Zusammenhang ein wenig weltbewegender Brief vom 24. Januar 1761, in dem er sich beim Zürcher Naturforscher Johannes Gessner (1709–1790)75 für das Anliegen des Herrn Felice76 der „Societé litteraire de Berne“ verwendet, der nach Übersendung des Werks „De quibusdam plantes rarioribus“ von Harduini, Professor in Padua, keine Antwort erhielt, obwohl er ihn um ein „petit Extrait de cet ouvrage“ gebeten hatte und um Unterstützung in einem damit zusammenhängenden Plagiatsfall: […] und bitte also gantz gehorsamst Er. Woledelgeborenen entweder selbst oder durch dero würdigen Anverwandten den Herrn Doktor Schinz (?) Herrn Felice aus der Noth zu helfen. Es ist mir sehr angenehm bey dieser Gelegenheit die Versicherung der zärtlichen Hochachtung wiederholen zu können, mit welcher ich zeitlebens die Ehre haben werde zu seyn.Er. Woledelgeborenen Gehorsamster und unterthänigster Diener Brugg, den 24. Jan. 1761 Zimmermann Dr.77

Zimmermann entfaltet, anregend und angeregt, ab 1750 eine nach Art eines „Katalysators und Multiplikators“78 weitgespannte Vermittlertätigkeit, der man indirekt eine Wesensbestimmung Zimmermanns durch Lavater verdankt, dessen physiognomische Begabung er als erster erkannt und gefördert hat:79

73

74 75

76

77 78 79

Baldinger 1796, S. 138. Die Unzahl von Konsultationsschreiben (Hermann Schollenberger, Ein Brief Zimmermanns, in: Euphorion, 13. Ergänzungsheft 1921, S. 19) wäre eine eigene Untersuchung wert. Vgl. Adolf Rohr, Philipp Albert Stapfer. Eine Biographie. Im alten Bern vom Ancien régime zur Revolution (1766–1798). Bern 1998. Für Johannes Gessner als nicht genannten Adressaten spricht die Erwähnung des Verwandten „Doctor Schinz“ (Salomon Schinz, 1734–1784, Gessners Neffe) sowie die Tatsache, dass es um eine botanische Schrift geht (Haller, Bibl. bot. II, S. 486). Ich danke Herrn Prof. Dr. Urs Boschung (Medizinhistorisches Institut der Universität Bern) für die Identifizierungshilfe. Vgl. zum ganzen Fall die Ausführungen bei Eynard 1839, S. 276f. Vgl. den „Avis“ ZZH, FA Hirzel 238, Nr. 122. „Herr de Felice, ehmals der Mathematik und Experimentalphysik Professor“ , anerbietet sich u.a., „eine Anzahl von Kostgängern anzunehmen, vornemlich von deutschen Jünglingen, die sich die vielen Vorzüge dieses Aufenthaltes (sc. in Isserten) zu Erlernung der französischen Sprache zu nuze machen möchten“. L. A. S., 3 SS., Brugg, 24. Januar 1761, Privatbesitz. Die graphische Anordnung entspricht jener des Originals. H. Röhling, Katharina II. und J. G. Zimmermann. Bemerkungen zu ihrem Briefwechsel, in: Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. XL, Heft 2, 1978, S. 365. Vgl. 13.3. Zimmermann und Lavater, S. 436ff.

37

Aus welchen Kontrasten ist der Charakter zusammengesetzt! wie so leicht verführt er zu einseitigen, schrecklich falschen Urtheilen! – Also Fragment seines wahren Charakters – Kälte des Todes und verzehrendes Blitzfeuer – in Einer Seele, einem Gesichte. Heiterer Frühling und stürmendes Donnerwetter schnell auf einander – Eisenfeste Härte mit der zärtlichsten Empfindsamkeit; Muth und Muthlosigkeit; Heldenmässige Dreistigkeit mit höflicher Unterwürfigkeit – scheinbare Eitelkeit mit wahrer Bescheidenheit; beissende Satyre mit sanfter, schonender Herzensgüte – unbeschreibliche Reizbarkeit mit ausharrender Geduld. Peinliche Genauigkeit und keine Spur von Pedanterey – unermüdliche Treue, und für den, der ihn nicht kennt, beleidigende Kaltheit – die im Augenblicke wieder Eifer und Liebeshitze ist. Den Einen Augenblick keine Herrschaft über sich selbst – und dann wieder alle mögliche Herrschaft. Ein Arzt mit königlicher Macht. Itzt zerschmilzt sein Aug’ in den sanftesten, menschenfreundlichsten Thränen – dann durchschneidet es euch wieder mit dem Blicke des Blitzes. Ein herzregierender Mann – den jedoch ein Kind leiten kann, wenn es ihn kennt – gebildet, keinem Menschen Langeweile zu machen, aber oft Langeweile mit Todesangst zu dulden.80 Neben Gmelin, Hirzel und Ryhiner u.a. ist Zimmermann beratender Mitarbeiter an Baldingers Biographien jetzlebender Aerzte und Naturforscher in und ausser Deutschland.81 Bei allen späteren Distanzierungsversuchen von Haller bleibt dieser bis zu seinem Tod 1777 die auch im Widerspruch dominierende Vatergestalt.82 Bei der Verheiratung von dessen Tochter Marianne (1732–1811) im Jahre 1753 spielt Zimmermann als Brautwerber für seinen Freund Franz Ludwig Jenner (1725– 1804) keine unwichtige Vermittlerrolle.83 Haller ist der Initiator für die Freundschaft mit Tissot: „Il paroit que vous vous interesses pour la gloire de Mr. de Haller, c’est mon Héros et par là vous êtes mon ami“,84 und vor seiner Schweizerreise 1775 kündigt er Haller an: „Je viendrai directement a Berne pour vous y consulter (sc. wegen seines Hodenleidens)“.85 Die sehr persönlich gehaltene, von gegenseiti-

80

81 82 83 84 85

38

Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniss und Menschenliebe, Bd. III, Leipzig und Winterthur 1777, S. 339f. Vgl. „wer sieht nicht […] in Zimmermann das seltenste Gemisch der edelsten Feinheit und der zermalmendsten Stärke? – die tiefste Kenntnis der menschlichen Natur unter das Laubgewand des philosophischen Satyrs verborgen? – so viel warmes Herz mit so viel Weisheitsheiterkeit – so viel Laune als Ernst und so viel Ernst als Laune?“ Physiognomische Fragmente Bd. II, Leipzig und Winterthur 1776, S. 53. Biographien jetzlebender Aerzte und Naturforscher in und ausser Deutschland. Ersten Bandes erstes Stück. Jena 1768, Vorrede (unpag.). „Le souvenir de vos bontés reste eternellement dans mon cœur“ versichert Zimmermann aus Paris im Brief vom 2. September 1751 an Haller. Ischer 1904, S. 9. Vgl. Ischer 1904, S. 33ff. Brief Zimmermanns an Tissot vom 24. August 1754, BBB Mss hh XIV 151. Brief Zimmermanns an Haller vom 22. Mai 1775. BBB: Z A 1 Nr. 213 1164.

ger vertrauensvoller Hochschätzung86 getragene und belebte Brieffreundschaft von 1758–1794 mit Tissot legt Zeugnis davon ab, dass der Lausanner Arzt sein psychischer Regenerationsgarant ist. Zimmermann konsultiert ihn wegen seines Verhältnisses zu Haller, zitiert dabei Ausschnitte aus Briefen an und von Haller, befragt ihn über Erziehungsfragen seiner beiden Kinder. Er holt sich Trost beim Tod von Schwiegermutter und Frau, berät mit ihm berufliche Fragen, z.B. seine etwaige Berufung nach Warschau als Leibarzt des Königs von Polen, bittet um medizinischen Rat bei Behandlungsfragen seiner Bruchoperation und seiner quälenden Hämorrhoiden.87 Für Wielands „grosse Wandlung“, seine anthropologische Bekehrung, während seines Schweizeraufenthaltes hat Zimmermann eine wesentliche Rolle gespielt. Er vermittelt dem dank Bodmer anglophil Ausgerichteten eine eingehendere Bekanntschaft mit der französischen Literatur. Die Begegnung mit Zimmermann bleibt für Wielands weitere literarische Entwicklung nicht ohne Folgen: Auch Zimmermann ist ein sehr eleganter Causeur, und Wieland hat manches von ihm gelernt. Er hat den Erfolg des Buches Vom Nationalstolz noch in Zürich erlebt; und wenn er auch über Zimmermanns kavaliersmässige Art zu philosophieren spottet, so ist doch unverkennbar, dass sie auf ihn Eindruck gemacht hat. So muss man schreiben, wenn man Erfolg haben will!88

Dass Zimmermanns Werk Von dem Nationalstolze, dessen erste Auflage 1758 erscheint, übrigens auch im katholischen Raum gelesen wird, bezeugt beispielsweise die Reminiszenz eines ehemaligen Schülers am kurfürstlichen Gymnasium in München. Zimmermann rangiert in der Lektüreliste an erster Stelle: Ich erinnere mich noch mit warmem Dankgefühle meines ehemaligen Lehrers, des Exjesuiten Franz von Paula Gerhardinger, welcher mir im Jahre 1777 Zimmermanns Werk vom Nationalstolze, Wielands goldenen Spiegel, Cramers nordischen Aufseher, Klopstocks Messias, und Gellerts Schriften aus seiner mit den besten deutschen Werken versehenen Bibliothek zum Privatgebrauch mittheilte.89

Die Hölle der Gemütlichkeit in Brugg bedeutet Mangel an intellektuellem Austausch: „Je suis si isolé, si destitué de toute ressource hors de chez moi, si ennuyé

86

87

88 89

Tissot äussert Haller gegenüber: „Je l’aime véritablement, parce qu’indépendamment de ses talens, je trouve chez lui un caractère de droiture, de franchise, de probité qui me plaît partout“. (Eynard 1839, S. 60). Eynard 1839, S. 59 charakterisiert den Briefwechsel zwischen Tissot und Zimmermann folgendermassen: „Il (sc. Zimmermann) lui faisait confidence de tous les ennuis, les désagrémens et les dégoûts que son génie ardent, son genre nerveux sensible et délicat, stimulé par l’ambition et un vif désir de gloire, lui causaient dans cette enceinte resserrée (sc. Brugg), où les intérêts de la science, les lettres et la philosophie ne touchaient personne“. Sengle, Friedrich, Wieland. Stuttgart 1949, S. 94f. Wolf, Peter Philipp, Allgemeine Geschichte der Jesuiten von dem Ursprunge ihres Ordens bis auf gegenwärtige Zeiten. Zürich 1789–1792, Bd. 4, S. 126.

39

et si souvent degouté de tout ce qui m’environne“.90 An den Winterthurer Miteidgenossen Sulzer (1720–1779), der seit 1747 in Berlin lebt, schreibt er kurz und bündig: „Ich lebe ein dummes, freudenloses Leben“,91 und in einem Brief an Hirzel von 1763 fleht er: „O Himmel erlöse mich aus Brugg!“.92 Der von verzehrendem Ehrgeiz und unstillbarer Ruhmsucht Getriebene sehnt sich nach Ausweitung seines Lebenskreises und vermehrter internationaler Resonanz. Einen Ruf als Professor der Medizin an die Universität Göttingen sowie Angebote nach Warschau als Bibliothekar und als Leibarzt des Königs von Polen lehnt er jedoch ab. Zimmermanns Persönlichkeit ist ein ausgesprochen intrigantischer93 und eitler Wesenszug eigen. Narzisstische Veranlagung und moralisierender Anspruch kommen sich immer wieder in die Quere. Seine Frage in einem Brief, „An meiner Discretion werden Sie doch nicht zweifeln?“,94 lässt sich aufgrund der überlieferten Quellen entschieden bejahen. Einige Beispiele sollen genügen. Eine der Predigten seines Jugendfreundes Daniel Stapfer95 lässt er ohne dessen Wissen drucken, wie er auch in seiner Eigenschaft als wirkungsmächtiger Förderer der Physiognomik im Hannoverischen Magazin vom Februar 1772 Lavaters Schrift „Von der Physiognomik“96 unverzüglich und anonym mit Anmerkungen aus seiner Feder erscheinen lässt. Wieland wird das Opfer einer viel beachteten Indiskretion Zimmermanns, der ein persönliches Bekenntnis Wielands aus dem Brief vom 8. November 1762 in das Werk Von der Erfahrung in der Arzneykunst übernommen hatte: Einem Arzte der edel denkt soll es eben so wenig schwer fallen, der Welt zu gestehen dass er im Irrthum war, als es izt einem Wieland schwer fiele zu gestehen, dass er den Horaz dem Plato, den Chaulieu dem Young, die Arien des Galuppi der Harmonie der Sphären, den Tokayer der Hungaren dem Nectar der Götter, und eine wohlbeleibte Phillis einer ätherischen Panthea vorzieht (Erf. I, 210f.).97

Wielands Antwort ist bei aller Nachsicht eindeutig: „Indessen kann ich Ihnen doch Ihre Waschhaftigkeit nicht verzeihen. Müssen Sie denn meine Briefe gleich drucken lassen, sobald Sie einen Platz finden, wo Ihnen meine Thorheiten zur Erläute-

90

91 92 93 94 95 96 97

40

Hamel 1881, S. 51. Im Brief vom 5. Dezember 1761 an Haller klagt Zimmermann über Brugg: „La vie y est insipide, ennuyante au possible, mais je puis travailler et je le fais constamment“. Ischer 1910, S. 172. Brief Zimmermanns an Sulzer vom 1. November 1766. Bodemann 1878, S. 203. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 19. November 1763. ZZH, FA Hirzel 238, Nr. 255. Vgl. Eynard 1839, S. 255, der von „indiscrétion personnifiée“ spricht. Brief Zimmermanns an von Glutz-Ruchti vom 11. 3. 1767. Banholzer 1997, S. 79. Vgl. III, 4. Lavater, Johann Caspar, Von der Physiognomik, in: Hannoverisches Magazin, 10. Jg., 10.–12. Stück, 3., 10. und 14. Februar 1772, S. 146–153; S. 162–175; S. 178–191. Vgl. Von der Einsamkeit. Frankfurt und Leipzig 1777, S. 49: „In dem einsamen und kleinen Biberach ward Wieland die Ehre des deutschen Geschmackes, der Stolz seiner Nation, und einer der grössten Schriftsteller von Europa“.

rung oder Unterstützung einer Hypothese gut seyn können […]“.98 Der nicht ernstlich Gekränkte bestraft den kleinen Verrat mit einem literarischen Racheakt, indem er dem leichtfertigen Märchen, der Verserzählung Das Urtheil des Paris aus den Comischen Erzählungen, deren drei erste Ausgaben die Widmung „Herrn Doctor Z. in B.“ tragen, eine an Zimmermann gerichtete, ihn kompromittierende Vorrede mit Apologie voranstellt.99 Ungefragt ernennt er sich zum geistlichen Anwalt der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau (1750–1811), indem er dem Gerücht entgegentritt, seine aristokratische Patientin wolle zum römisch-katholischen Glauben konvertieren.100 Ohne Lavater zu fragen, zeigt er der Fürstin bedenkenlos Briefe seines Zürcher Freundes und verbreitet Klatschnachrichten über ihn.101 Nicolai gegenüber behauptet er im Brief vom 20. Oktober 1787 fälschlicherweise, er wolle seine Gespräche mit Friedrich II. keinesfalls publizieren, obwohl er zur Veröffentlichung entschlossen ist.102 Zimmermann korrespondiert direkt mit Katharina II., ohne Weikard darüber zu informieren, der erst viel später davon erfuhr. Zimmermann erwartete also, dass Weikard seine an diesen adressierten Briefe weiterhin der Zarin übergab trotz dieser direkten Korrespondenz; für Zimmermann sicherlich ein willkommenes Spiel mit zwei Bällen.103

Weltmännische Bildung, ausgedehnte Kenntnisse und treffende, auf eindringender Beobachtung beruhende Urteile verbinden sich mit andersgearteten Eigenschaften, die Rudolf Luginbühl aufzählt: Seine Eitelkeit und Selbstgefälligkeit, sein Paradiren mit den Komplimenten hoher Gönner, sein Grossthun mit der Freundschaft berühmter Personen, sein Wichtigthun mit Neuigkeiten, sein launenhaftes, raschen Stimmungswechseln unterworfenes Wesen, seine Ueberschwänglichkeit im Ausdruck freundschaftlicher Gefühle und seine gallichte, oft verletzende Schärfe.104

Dabei sagt Zimmermann von sich, er sei kein Philosoph und kein Gelehrter, „weiter nichts als ein schlichter alter Biedermann, der gern etwas Gutes thut, wenn er

98

Ausgewählte Briefe von C. M. Wieland an verschiedene Freunde in den Jahren 1751 bis 1810 geschrieben, und nach der Zeitfolge geordnet. Bd 1–4. Zürich 1815–1816. Bd. 2, S. 225f. 99 Vgl. Dittrich, Wolfgang, Erzähler und Leser in C. M. Wielands Versepik. Diss. Freie Universität Berlin 1971. Berlin 1974, S. 221ff. 100 Vgl. Heinicke, Wilfried, Die Schweizer Ärzte der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau. Ein Beitrag zu den Beziehungen Anhalt-Dessaus zur Schweiz im 18. Jahrhundert, in: dessauer Kalender 45 (2001), S. 16–27. 101 Heinicke, Wilfried, Zimmermann als Arzt der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau. Die medizinhistorische Bedeutung der Korrespondenz, in: Schramm 1998, S. 65. 102 Vgl. Habersaat 1, 2001, S. 152. 103 Michler 1995, S. 106. Michler charakterisiert Zimmermann als „ehrgeizig und eloquent“; er habe „briefliche Schmeicheleien einschliesslich intriganter Feinheiten in hohem Masse“ beherrscht (S. 106). Zu den näheren Umständen vgl. S. 40ff. Der Briefwechsel zwischen Zimmermann und Weikard bestand seit 1774. 104 Luginbühl 1890, S. 7.

41

kann!“105 Gleichzeitig weiß er, dass Großmut und Feindesliebe in der Art Lavaters nicht seine Sache sind, und der bei aller Eitelkeit Selbstkritische bekennt Lavater in einem Brief: „Diese Tugend (grossmüthig zu seÿn, wenn man doch gleichwol beleidiget ist) habe ich nicht, denn jeden Hieb gebe ich zehenfach wider; und in dieser Absicht bin ich eigentlich ein böser Mensch“.106 1768 übersiedelt Zimmermann mit seiner Familie nach Hannover in das von 1714–1837 mit Grossbritannien in Personalunion verbundene Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg, weil er, auf Empfehlung Tissots,107 zum königlich Grossbritannischen und Churbraunschweigischen Leibarzt und Hofrat König Georgs III. ernannt wird, den er während seiner ganzen Amtszeit nur einmal behandelt. Die abenteuerliche Reise von Brugg nach Hannover dauert siebzehn Tage.108 Damit besitzt Zimmermann jene für das schweizerische 18. Jahrhundert typische „Aussenorientierung“,109 indem er, wie zahlreiche andere Schweizer Gelehrte, auswandert. In seiner Geschichte der exakten Wissenschaften in der Schweizerischen Aufklärung (1680–1780) führt Eduard Fueter neben Zimmermann u.a. folgende Beispiele angesehener Schweizerärzte im Ausland an: Albrecht von Haller, Abel Socin, Johann Kaspar Bauhin, Claudius Passavant.110 Die norddeutsche Landschaft,111 missgünstig gesinnte Kollegen, quälendes Heimweh und Pflichtüberbür105

Brief Zimmermanns vom 20. Dezember 1791 (unveröffentlicht). Aus: Autographen. Auktion 95 vom 6. Mai 1999, Hartung & Hartung (München). 106 Brief Zimmermanns an Lavater vom 13. August 1766. ZZH, FA Lav. Ms. 79. Auch Ischer 1893, S. 419 hat Zimmermanns Widersprüchlichkeit im Auge, wenn er feststellt, dieser sei „ein sich selbst so oft und in solchem Masse widersprechender Charakter, dass es schwer ist, ihm gerecht zu werden“. 107 Tissot verwendet sich für Zimmermann, obwohl er selber eigentlich von Haller als Werlhofs Nachfolger vorgesehen war: „[…] mais je voudrais bien que ce poste put passer à M. Zimmermann qui le rempliroit certainement mieux que moi […]. Il a l’honneur d’etre connu de Votre Altesse dont le suffrage seroit d’un bien grand poids dans cette circonstance, et j’ose prendre la liberté de vous le recomander“. Brief von Tissot an den Prinzen Louis Eugen von Württemberg, in: B. Reber, Lettres inédites des célèbres médecins Tissot et Zimmermann. Paris 1912, S. 14. Zimmermann schreibt am 4. März 1768 an Hirzel: „Ich bin Leibarzt des Königs von England an der Stelle des seligen Werlhofs […] dieses Glück habe ich Tissot zu verdanken“. ZZH, LA Hirzel 239, 229. Die Abreise nach Hannover kann er kaum erwarten: „Aber jubilieren werde ich den Augenblick, wenn der Kutscher zu den Pferden sagt: marsch.“ ZZH, FA Hirzel, 239, 235. 108 Vgl. die detaillierte Schilderung Zimmermanns im Brief an Haller vom 8. August 1768. Ischer 1912, S. 121f.; ferner bei Eynard 1839, S. 164f. und bei Rohlfs 1875, S. 93. 109 Zurbuchen, Simone, Artikel Schweiz in: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. Hg. v. Werner Schneiders. München 1995, S. 376. Im Brief vom 12. Februar 1785 an Hirzel spricht Zimmermann davon, dass ein ausgewanderter Schweizer von seine Landsleuten „als einen todten Hund!“ angesehen werde. ZZH, FA Hirzel 240, 22. 110 Fueter, Eduard, Geschichte der exakten Wissenschaften in der Schweizerischen Aufklärung (1680–1780). Aarau, Leipzig 1941 (Veröffentlichungen der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften XII), S. 151f. Tissot wirkte auf die Initiative Josephs II. von 1781–1783 in Padua. 111 Im Brief vom 17. Februar 1769 schreibt er an Haller: „Ici l’air est constamment humide, et les rues remplies de plus de boue qu’il n’y en a peut-être dans tout le canton de Berne“. Ischer 1912, S. 131.

42

dung stürzen Zimmermann in eine tiefe Melancholie, und er erwägt anfänglich ernsthaft, in die Schweiz zurückzukehren. Selbst im noblen Badekurort Pyrmont, den er öfters aufsucht, findet er die ersehnte Ruhe nicht: Morgens (sc. 25. Juni 1776) geht meine Tochter […] auf fünf Wochen nach Pÿrmont. Den 1. Julius folge ich nach, und bleibe bis Ende des Monats. Eine Menge fürstlicher Personen, und eine ausserordentliche Anzahl Personen von Stande kommen dahin; und da (ach Gott!) suche ich Gesundheit und Ruhe!!.112

Zeitgenössische Urteile aus der Zeit in Hannover (1768–1795) bekräftigen die Janusköpfigkeit Zimmermanns, die zu einer Hydra wird, der stets neue Köpfe zuwachsen, um in jenem Bild zu bleiben, das Goethe für Zimmermanns Verhalten gegenüber seinen Feinden wählt: Ob er sich mit dem Krankenwärter oder mit Paracelsus, mit einem Harnpropheten oder Chymisten balgte, war ihm gleich; er hieb ein wie das andre Mal zu, und wenn er sich ausser Atem gearbeitet hatte, war er höchlich erstaunt, dass die sämtlichen Köpfe dieser Hydra, die er mit Füssen zu treten geglaubt, ihm schon wieder ganz frisch von unzähligen Hälsen die Zähne wiesen.113

Für einen von Zimmermanns erbittertsten Kontrahenten, C. F. Bahrdt, steht dabei fest, dass der in englischen Diensten stehende Schweizer die geschichtliche Selektion nicht überleben werde: „Denn soviel ist doch zuverlässig dass […] Zimmermanns Name im Meere der Vergessenheit ersoffen […] seyn wird“.114 Zimmermann verfügt zu seinen Lebzeiten in Hannover über eine ausgesprochen einflussreiche gesellschaftliche Stellung. Er gewinnt einen ausgedehnten Patientenkreis und avanciert zum aristokratischen Modearzt. Das imposante Äussere und das formvollendete Auftreten des Erfolgsverwöhnten in der Öffentlichkeit115 verraten jedoch nicht, wie krank an Leib und Seele der 112

Brief Zimmermanns an Iselin. Hannover 24. Junius 1776. Staatsarchiv Basel, PA 98, 41, p. 356. Ähnlich schreibt er im Brief vom 30. Oktober 1772 an Hirzel: „Den gantzen Julius brachte ich mit baden und trinken in Pyrmont zu; beydes griff mich entsetzlich an, weil ich anstatt von Geschäften frey zu seyn, mit Consultationen der äusserst zahlreichen Brunnengäste fast zu Tode geplagt wurde“. ZZH, FA Hirzel 240, 6. 113 Goethe, Dichtung und Wahrheit, HA 10, S. 67. Dass sich Zimmermann in der Öffentlichkeit vollständig zu bezähmen wusste und nur in seinen Schriften seinen Leidenschaften freien Lauf liess, wie Goethe berichtet, vgl. die briefliche Bestätigung Zimmermanns im Brief an Haller vom 9. April 1767: „Le silence de mes passions ne passe cependant pas dans mes ouvrages, c’est la seule occasion où ma maniere d’être ne ressemble pas à celle d’une huitre“. Ischer 1911, S. 93. 114 (C. F. Bahrdt) Das Religions-Edikt. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Von Nicolai dem Jüngern. Thenakel 1789, S. 21. 115 Vgl. Marcard 1796, S. 49: „Sein Äusseres war sehr hervorstechend und imposant. Sein Körper gross und wohl gebildet; seine Gesichtsbildung männlich, schön, verständig und redlich; seine Manieren im Weltumgange gebildet und edel; sein Wesen voll Würde, seine Stimme wohlklingend; seine Sprache, deutsch oder französisch, schön und voll Stärke, […] seine Rede war voller Verstand. Das minuit praesentia famam war unmöglich bey ihm anzubringen“. Marcard erkennt hinter dem mondänen Modearzt den Diener an der leidenden Kreatur: „Ein wahrlich mitleidiges Herz hatte Zimmermann von Natur. Nichts Hartes und nichts Fühlloses war an ihm,

43

Leibarzt des Königs von England insgeheim ist.116 Der Fürstendiener Zimmermann, ein „unruhiger Bürger“117 auch er, korrespondiert mit Katharina II. von 1785–91. Die Zarin liest ihn begeistert und sucht den Kontakt118 wohl auch deshalb, wie im Falle Voltaires und Diderots, „um durch seine einflussreiche und tonangebende Stimme die öffentliche Meinung Europas für sich zu gewinnen“.119 Zimmermann schreibt überwiegend für jenes Lesepublikum, dessen gesellschaftliche Welt er ungeschminkt, „plus sincere et moins politique“,120 zeichnet und auch hemmungslos kritisiert. Ein „Gesellschaftslöwe“121 ist er gleichwohl, von dem Goethe feststellt: „Er bezaubert alle Welt, sonderlich die Weiber“.122 Der Tod seiner Frau am 23. Juni 1770 und jener seiner im gleichen Haushalt lebenden Schwiegermutter (27. März 1771) verdüstern sein Gemüt.123 Zwischen Zimmermann und Mendelssohn entwickeln sich ab 1770 freundschaftliche Bande.124 Mo-

ses Mendelssohn, die sinnvollste und edelste Menschenseele, habe ich als Patient täglich in Pyrmont gesehen. Er hatte mit langer Zeit die Kraft des Denkens auszuhalten verloren, kam sehr elend nach Pyrmont, und befand sich am Ende so gut, dass sein Kopf thun konnte was er in seinen besten Jahren that. Dieser gebesserte Zustand kann und muss nicht von Dauer seyn, schreibt Zimmermann im November 1773 an Hirzel.125 Vom Berliner Arzt Dr. Marcus Eliezer Bloch wird wenn er leiden sah; deswegen, und aus religiösen Grundsätzen, war er auch sehr wohlthätig, ohne je den geringsten Schein davon haben zu wollen“. Marcard 1796, S. 40. 116 Vgl. 5.2. Zu Zimmermanns Krankheitsgeschichte, S. 106ff. 117 Vgl. Michelsen, Peter, Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Würzburg 1990. 118 Zimmermann „devint pour Catherine II, qui le créa chevalier, ce que Mr. d’Alembert étoit pour Fréderic II“. Abbé C. G. M. Denina, La Prusse littéraire sous Fréderic II, Tome 3, Berlin 1791, S. 523. Vgl. Der Briefwechsel zwischen der Kaiserin Katharina II. von Russland und Joh. Georg Zimmermann. Hg. v. Eduard Bodemann, Hannover und Leipzig 1906. Zu den Bemühungen der Zarin um Zimmermann in Form von materiellen Geschenken und dem Versuch, ihn nach Russalnd zu verpflichten vgl. den Brief an Hirzel vom 1. August 1784. ZZH, FA Hirzel 240, 20. 119 Rohlfs 1875, S. 97. 120 Zimmermann an Haller im Brief vom 12. Dezember 1752. Ischer 1904, S. 46. 121 Rothert, Wilhelm, Hannover unter dem Kurhut 1646–1815. Hannover 1916, S. 342. Weiter heisst es: „Pariser Perücke, schwarzsammetnes Kleid mit weissem Atlas gefüttert, Weste von Silberstoff, langer Degen, Manchetten von flandrischen Spitzen, ein seidnes Schnupftuch, durch und durch parfümiert, und in der Hand die Tabatière aus Braunschweig mit ihren 57 Diamanten. Was Wunder, dass der elegante, stattliche Mann mit den geistvollen Augen, so geläufig in seiner französischen Unterhaltung, so geistreich und witzig in seinen Bemerkungen, so glücklich als Arzt, so gefeiert als Schriftsteller. In Hannover eine viel umworbene Persönlichkeit wurde“. 122 Goethe im Brief an Sophie v. La Roche vom 11. Oktober 1775, WA IV, 2, S. 300. 123 Zu Zimmermanns Hilflosigkeit in lebenspraktischen Fragen vgl. Bouvier 1925, S. 46: „Son esprit de méthode scientifique l’abandonnait dès que surgissaient des questions de vie pratique“. 124 Vgl. Meyer Kayserling, Moses Mendelssohn und Johann Georg Zimmermann, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums. Leipzig 1882. 42. Jg. Nr. 36–38, S. 613–614, S. 629–630. 125 Brief Zimmermanns an Hirzel vom 6. November 1773. ZZH, FA Hirzel 240, 7. Zimmermann empfiehlt Mendelssohn, bei Zürich ein Landgut zu mieten, um sich zu erholen.

44

Zimmermann beigezogen, und er behandelt den an Schlaflosigkeit und Herzrhythmusstörungen leidenden Mendelssohn 1771, nachdem dieser ihn an seinem eigenen Krankenbett anlässlich seiner Bruchoperation durch Johann Friedrich Meckel vom 24. Juni 1771 in Berlin besucht hat.126 Die gesamte Berliner Aufklärungsprominenz schenkt ihm grosse Aufmerksamkeit. Die Karschin verfasst eigens zwei Gedichte zu Zimmermanns Besuch in Potsdam und zu seiner Genesung.127 Am 26. Oktober 1771 hat er „das mit keinen Worten zu beschreibende Glück gehabt, den König von Preussen fünf Viertel Stunden in Sans Souci zu sprechen“.128 Am 24. April 1773 begegnen sich Zimmermann und Herder zum ersten Mal persönlich in Bückeburg. Mit Schwerpunkt auf den Jahren 1774–76 erstreckt sich der Briefwechsel auf die Zeit vom 17. Juni 1773 bis zum 3. Mai 1779. Nach ihrer ersten Begegnung gesteht Herder am 2. Februar 1774 dem neugewonnenen Freund: Es ist würklich gut, liebster Freund, dass wir uns gefunden haben, und zwar gewissermassen ungesucht gefunden! Denn so hatte ich mir Zimmermann in keinem Elemente gedacht, als ich ihn fand, und ich kann mich fast keines Freundes erinnern, der mir so oft meine eignen Ideen und Gefühle, und zwar zum e r s t e n Mal, und Knoten des Herzens, die man sich selbst nur ungern sagt, von weitemher zu winken und aus seinem Herzen zu winden geschienen hat, als Sie – oft nur mit e i n e m Blick, e i n e r Wendung voll stummer Bedeutung.129

Zimmermann setzt sich vehement bei den zuständigen Instanzen für eine Berufung Herders an die Universität Göttingen ein, die jedoch nicht zustande kommt; die verheißungsvoll begonnene Freundschaft führt u.a. deshalb zur Entfremdung.130 1775 reist Zimmermann für vier Monate in die Schweiz, zum ersten und letzten Mal seit seiner Übersiedlung nach Hannover, um Geburtsland und Freunde wiederzusehen, aber auch um insgeheim eine vorteilhafte Rückkehr zu erkunden.131 Auf der Hinreise, beim Besuch seines in Strassburg Medizin studierenden Sohnes, begegnet er Goethe, den er auf der Rückreise in dessen Elternhaus am Hirschgraben wiedersieht. Nach dem Wunsch der Frau Rat hätte ihr Sohn Zimmermanns Tochter Katharina heiraten sollen.132 Goethe schreibt an Lavater Ende September 126 127

Vgl. Luginbühl II 1997, S. 556. Die beiden Gedichte vom 17. Oktober 1771 und vom 1. November 1771 befinden sich im Iselin-Nachlass im Staatsarchiv Basel-Stadt PA 98, 41, p. 288–291. Auch Bodemann 1878, S. 313ff. und Ischer 1893, S. 123f. 128 Schreiben 1773, S. 4. 129 Herder an Zimmermann. Brief vom 2.2.1774. Bodemann 1878, S. 320. 130 Emilie von Berlepsch verdankt übrigens ihre verhängnisvolle Freundschaft mit Herder der Vermittlung Zimmermanns. 131 In den Briefen an den Ratsherrn Schmid in Brugg ist die Rede davon, früher oder später in die Schweiz zurückzukehren. Im Brief vom 12. September 1768 heisst es: „Sie sehen aus allem, mein theuerster Freund, dass ich nicht immer in Hannover zu bleiben gedenke. Meine Absicht wäre, wenn Gott will, so lange hier zu bleiben, bis meine Kinder auferzogen sind […]“. Rengger 1830, S. 88. Im Brief vom 14. September 1775 aus Bern spricht er davon, sein letzter Wunsch sei ein Landgut bei Bern. Rengger 1830, S. 230. 132 HA 10, S. 63ff. „Wenn es eine Waise wäre“, versetzt’ ich, „so liesse sich darüber denken und unterhandeln, aber Gott bewahre mich vor einem Schwiegervater, der ein solcher Vater ist!“. J. W. Goethe, Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, 15. Buch, HA 10, S. 65. Frau Rat schreibt aus

45

1775 nach Zimmermanns Abreise: „Zimmermann ist fort, und ich bin biss zehn im Bett liegen blieben um einen Catharr auszubrüten, mehr aber um die Empfindung häuslicher Innigkeit wieder in mir zu beleben“.133 Immerhin stellt Goethe im selben Brief fest: „Zimmermann und ich waren trefflich zusammen“.134 Bei ihrer Begegnung 1775 ist der Arzt-Schriftsteller, trotz des einsetzenden Wertherfiebers,135 noch der Berühmtere mit größerem sozialem Kapital, der über ein verästeltes Netz von Beziehungen zu den ersten Gesellschaftskreisen verfügt. Der Vertraute der Frau von Stein korrespondiert mit ihr über den „Werther“ und „Clavigo“ und wird brieflicher Wegbegleiter der Liebesbeziehung zwischen dem kurz zuvor nach Weimar Berufenen und der Frau von Stein, bei der Goethe anfänglich wenig Gegenliebe erwarten kann. Am 6. März 1776 schreibt nämlich Frau von Stein an Zimmermann: […] da springt er wild auf vom Kanape, sagt ich muss fort, läufft ein paar mahl auf und ab um seinen Stock zu suchen, find ihn nicht, rent so zur Thüre hinaus ohne Abschied ohne gute Nacht; Sehen Sie lieber Zimmermann so wars heute mit unsern Freund […] Ich fühls Goethe und ich werden niemahls Freunde […].136

Am 15. Juli 1775 verlässt Zimmermann Strassburg in Richtung Basel,137 nachdem er Iselin, den er bisweilen „Geliebter meiner Seele“,138 „mein allerliebster und ewig verehrter Hertzensfreund“139 nennt, aus der freien Reichsstadt Frankfurt am 4. Juli seine Ankunft in Aussicht gestellt hat: Frankfurt am 16. Februar 1776 an Zimmermann: „[…] erlauben Sie, dass ich mir die Freude mache und die Zahl meiner Kinder durch dieselbe (sc. Zimmermanns Tochter Katharina) vermehre“. Aus dem Briefwechsel des Leibmedicus J. G. Zimmermann aus Hannover, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung München. Nr. 128, Nr. 15, 5. Juni 1891, S. 4. 133 Goethe an Lavater, (Ende September 1775), WA IV, 2, S. 296, in II, 39 äussert Zimmermann über Goethe: „Alles um Liebe, sagt Goethe, und wer ihn gesehen hat, weiss wie er durch Anmuth die Kraft seines Geistes zudecket, und durch Freundlichkeit den Ernst seiner einsamen Stunden“. 134 WA IV, 2, S. 296. 135 Vgl. den Brief Zimmermanns an Sulzer vom 4. Dezember 1774. Bodemann 1878, S. 241: „Ich muss hingegen gestehen, dass Werthers Leiden von Göthe mir ein meisterhaftes Buch scheinen, weil Alles darin s o w a h r ist“. An Haller schreibt er am 30. Januar 1775: „Le caractere de Werther au coup de pistolet près, est le caractere de Goethe lui-même“ und verweist auf Nicolais „Freuden des jungen Werthers“, die zum Totlachen seien. Ischer 1912, S. 147f. 136 Briefe von Goethe und Frau von Stein an Joh. Georg Zimmermann. Veröffentlicht von Bernhard Suphan. Wartburgstimmen. Maiheft I. Eisenach u. Leipzig 1904, S. 173f. Vgl. auch Heinrich Funck, Ein neuer Fund über die Persönlichkeit der Frau von Stein, in: Illustrierte Deutsche Monatshefte Mai 1900, S. 182–187. 137 Im Brief vom 11. Juli 1775 aus Strassburg an den Ratsherrn Schmid in Brugg berichtet Zimmermann detailliert über den geplanten Verlauf seiner Schweizerreise: Rengger 1830, S. 221f. 138 Zimmermann an Iselin. Brief vom 23. Juni 1775. Staatsarchiv Basel-Stadt PA 98, 41, S. 332. 139 Zimmermann an Iselin. Brief vom 9. Mai 1773. Staatsarchiv Basel-Stadt PA 98, 41, S. 298. Im Brief vom 8. November 1768, PA 98, 41, S. 268 heisst es: „lieber, lieber, lieber Iselin“. Zur Kennzeichnung der Freundschaft Zimmermanns zu Iselin kann folgende Stelle aus dem Brief vom 31. März 1782, PA 98, 41, S. 389/390, kurz vor Iselins Tod, dienen: „Hier ist meine Hand edler, treuer, grosser Freund! Ach könnte ich die ihrige küssen, bey Ihnen Weisheit und

46

Liebster Iselin so weit bin ich, und zwar überaus glücklich. Von hier bis Basel reisen ist eine Kleinigkeit. Heute Nachmittag gehe ich nach Darmstadt, wo ich vielleicht ein paar Tage bleibe: sodann grade nach Strassburg, aber auch auf einige Tage und dann f l i e g e ich in ihre Arme.140

Am 16. Juli weilt Zimmermann in Basel. Der Eintrag ins Fremdenbuch der Universität Basel lautet: „Zimmerman (sic) prémier medecin de la majesté Brittanique J. J. Zimmermann (sic) Etudiant en Médecine F. Meckel Ph. St.“.141 Isaak Iselin äußert sich nachträglich Folgendermaßen: Il m’est impossible de vous dépeindre combien je l’ai trouvé le même qu’il fut auparavant, et combien je l’ai trouvé changé. Le fond en est le même; le même feu, le même enthousiasme, le même esprit, la même gaieté; mais tout cela exalté, poli, adouci d’une manière inconcevable.142

In Zürich besucht Zimmermann u.a. Bodmer, Gessner, Hirzel und Lavater, in Bern am 8. und 10. September, mit einem kurzen Abschiedsbesuch am frühen Morgen des 11. September, Haller.143 Zimmermann stattet nicht nur Haller eine Visite ab, sondern auch Michael („Micheli“) Schüppach in Langnau. Der Bericht darüber an Tissot gemahnt in seiner Art an jene erzählte Komödie des Besuchs Obereits 1782 in Hannover (III, 77–101). Zimmermann erzählt mit lauernd prustendem Vergnügen, aber nicht ohne eigentümliche Faszination:144 Ce Micheli n’est rien moins qu’un sot […] Quelques fois il n’a point regardé l’urine, mais bien attentivement la Physiognomie et tout l’exterieur des malades, et a vu très bien […] Si cet homme echoue souvent dans ces cures, comme je le crois, il est incontestable aussi qu’il guérit très souvent uniquement par la force de l’imagination, et par la puissance qu’a toujours un esprit hardi sur des tétes foibles.145

Standhaftigkeit lernen […] und Ihnen jeden Augenblick zeigen wie hertzlichst und innigst ich sie liebe und verehre“. Brief Zimmermanns an Iselin vom 4. Juli 1775. Staatsarchiv Basel-Stadt PA 98, 41, p. 332. Fremdenbuch der Universität Basel 1664–1822. Der Vater unterschreibt für den Sohn, während Meckel sich eigenhändig einträgt. UB AN II 30, 242 r. 142 Brief vom 24. Juli 1775 von Iselin an Frey. R. Ischer, Neue Mitteilungen über Zimmermann, in: Euphorion 8 (1901), S. 637. 143 Vgl. den Brief von Zimmermann an Tissot vom 13. 9. 1775, BBB, Mss hh XVIII 71. Nr. 112. Zimmermann beklagt sich, dass ihn Haller bei seinem ersten Besuch nicht gebührend empfangen habe, im Gegensatz zu seinem zweiten Besuch vom 10. 9. 1775: „Il me reçut trés bien; mais bientot il y eut une grande dispute entre nous deux sur sa maladie“. Haller möchte trotz seiner Diabetes seinen Lebensstil nicht ändern, Zimmermann diagnostiziert eine seelische Erkrankung (Hypochondrie und Melancholie). 144 Vgl. I, 179: „Für seine Patienten hielt Antonius Tafel, wie Michel Schuppach in Langnau. Aber bey weitem nicht so gut […] Bey Tische war Antonius auch wirklich nicht so lustig und amüsant und amüsabel wie Schuppach […]“. 145 Brief Zimmermanns an Tissot vom 13. September 1775. BBB Mss hh XVIII 71 Nr. 112. An den Ratsherrn Schmid in Brugg schreibt er aus Bern am 14. September 1775: „Mit Micheli zu Langnau und seiner Frau habe ich den lustigsten Tag von meiner ganzen Reise zugebracht. M i c h e l i und i c h haben öffentlich zusammen Brüderschaft getrunken“. Rengger 1830, S. 230. Vgl. M. Meyer-Salzmann, Michel Schüppach 1707–1781. Bern 1981, S. 87. 140 141

47

Auf dem Weg nach Genf kommt es in Lausanne zum Wiedersehen mit Julie v. Bondeli und zur einzigen persönlichen Begegnung mit dem lebenslangen Briefpartner Tissot, in dessen kinderlose Familie Zimmermann seine Tochter in Obhut gibt. Sie schreibt darüber in einem unpersönlich gehaltenen Brief an Iselin: „Je me trouve fort heureuse a l’ausane (sic), Monsieur et Madame Tissot, on Milles bontés pour moi je jouis de tous les plaisirs con peut avoir dans cette agreable saison […]“.146 Zimmermann rühmt in der Ruhr-Schrift Tissots „edle Einfalt“147 und bezeichnet ihn als „le seul ami en Suisse auquel je me confiai, mon ami le plus intime dans ce monde“,148 oder in einem Brief an Iselin nennt er ihn den grössten Arzt in Europa.149 Aus Lausanne schreibt er an Hirzel am 15. August 1775: Ich werde am Anfang der künftigen Woche von Lausanne verreisen. Ich würde wieder nach Zürich kommen, wenn ich gewiss wäre da in der äussersten Stille leben zu können, täglich zwey Stunden lauwarm zu baden, die Molke zu trinken, und dies in Lavaters Hause.150

Es sollte nicht dazu kommen. Am 13. September 1775 ist Zimmermann wieder in Bern, wo er an Hirzel schreibt: „Gegen das Ende dieser Woche reise ich von hier über Basel nach Hannover. Die Reise wird lang seyn, weil ich auf derselben an lieben Orten Deutschlands einige Tage verweilen will; und eben deswegen komme ich auch nicht auf Zürich“.151 In Hannover trifft er am 5. Oktober 1775 ein. Der todkranke und mittellose Hölty in Göttingen wird im Frühjahr 1775 von der Kapazität Zimmermann in Hannover behandelt, der fälschlicherweise glaubt, ihm geholfen zu haben; der Hainbündler stirbt im Herbst 1776.152 Auf der Rückreise von Eutin, wo er im Auftrag der Zarin Katharina II. und des dänischen Königs den schwachsinnigen Prinzen von Holstein zu untersuchen hatte, kommt es im August 1776 zu flüchtigen Begegnungen mit Klopstock und Lessing,153 den er in Wolfen-

146

Katharina Zimmermann aus Lausanne an Isaak Iselin in Basel. Brief vom 14. Juni 1773. Staatsarchiv Basel-Stadt PA 98, 41, p. 302. 147 Ruhr 1767, S. 536. 148 L’histoire de ma santé (1770). NLB Ms XLII 1933 B 8b, abgedruckt in: Mit Skalpell und Federkiel 1995, S. 266. 149 Brief Zimmermanns an Iselin vom 23. Juni 1775. „Der grösste Arzt in Europa“ ist im Original unterstrichen. Staatsarchiv Basel-Stadt PA 98, 41, p. 334. 150 Brief Zimmermanns an Hirzel vom 15. August 1775. ZZH, FA Hirzel 240, 10. 151 Brief Zimmermanns an Hirzel vom 13. September 1775 aus Bern. ZZH, FA Hirzel 240, 11. Im Brief vom 18. Dezember 1775 aus Hannover bedankt sich Zimmermann für den „herrlichen“ Antwortbrief Hirzels, den er in Basel erhalten habe, „und das theure Geschenk Deiner Lebensgeschichte, die ich geküsst und mit meinen Thränen benetzet habe“. ZZH, FA Hirzel 240, 13. 152 Vgl. die Charakteristik Zimmermanns über Hölty bei Heinrich Funck, Joh. Georg Zimmermann über L. H. Ch. Hölty, in: Studien zur vergleichenden Litteraturgeschichte. Hg. v. Max Koch. 1. Bd., Heft III. Berlin 1901. Zimmermann meint, Hölty sei „so einfältig als das einfältigste Kind“, das „allernachlässigste Phlegma“, in Göttingen habe er ausgesehen „wie ein Schwein“. 153 In Lessings Kollektaneen aus dem Nachlass zu Jo. Val. Merbitzii de Varietate Faciei humanae discursus physicus (Dresden 1676) kommt Zimmermann schlecht weg. Merbitzius unterscheidet fünf Profiltypen. Zum fünften bemerkt Lessing: „recurva (die hässlichste von allen. Die ich bei niemanden so arg als an D. Zimmermann gefunden“. Lessing, Werke. Achter Band. Theo-

48

büttel mehrfach besucht. Nach dem Tod Hallers 1777 trägt sich Zimmermann mit dem Plan, sein Jugendwerk zu überarbeiten, den er jedoch bald aufgibt.154 Die einzige Tochter Katharina stirbt am 10. September 1781.155 Der Witwer heiratet 1782 Luise Margarethe von Berger (1755–1826). Diese zweite, durch Frau v. Döring arrangierte glückliche Ehe gibt Zimmermann neuen Lebensmut: „Je celebre aujourd’hui le Jour de mes Noces. C’est un jour d’action de graces envers Dieu“.156 Ein schwärmerischer Ton klingt aus einem Brief Georg Forsters vom Februar 1788, vor Ausbruch der Französischen Revolution nota bene: Ich liebe und verehre Sie als meinen edelsten Freund, unabhängig von allem, was Sie für mich gethan haben, welches meine Dankbarkeit erheischt, und hege keinen lebhaftern Wunsch, als den, durch jede Handlung meines Lebens mein Verlangen Ihres Beyfalls und Ihrer Liebe, würdig zu seyn, an den Tag zu legen.157

Er vermittelt dem Altertumswissenschafter Chr. G. Heyne eine zweite Frau, erwirkt für dessen Schwiegersohn Georg Forster bei Katharina II. eine finanzielle Entschädigung für eine vereinbarte, aber durch Krieg vereitelte Expedition in die Südsee, zudem rührt er bei der Zarin eifrig die Werbetrommel für die „Göttinger Gelehrten Anzeigen“.158 Bei seinem Verleger Reich setzt sich Zimmermann im Juli 1781 dafür ein, dass der Nachlass von Helferich Peter Sturz (1736–1779) publiziert wird, obwohl dieser seiner Frau auf dem Totenbett das Versprechen angenommen hatte, nichts davon drucken zu lassen.159 Der Leibarzt des Königs von England wird zum todkranken Preussenkönig gerufen und behandelt ihn vom 24. Juni 1786 an während 17 Tagen durch 33 Konsultationsunterredungen. Zimmermann, „dieser sonderbarste aller sonderbaren Menschen“,160 berichtet darüber mit zu Widerspruch reizendem Imponiergehabe zu seinem eigenen Nachteil161 in seinem Werk Über Friedrich II. und meine Unterredungen mit Ihm kurz vor seinem Tode, einem „der eitelsten und peinlichsten logiekritische Schriften III, Philosophische Schriften. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1979, S. 399. 154 Vgl. „Ankündigung und Bitte Hallers Leben betreffend“. Hannover, den 10. Februar 1778. Ferner: Bodemann 1885, XI–XV. 155 In III, 232–234 berichtet Zimmermann über Tod und Autopsie seiner Tochter. An Tissot schrieb er am 13. Juli 1770 (BBB, Mss hh XVIII 71, Nr. 93: „ma fille est pale comme la mort (elle aura ou devra avoir bientot ses regles, etant agée de 13 1/2 ans) remplie de tristesse, qu’elle cache soigneusement, ne parle presque rien, a Souvent de grands maux de tete et d’estomac“. 156 Brief Zimmermanns an Deluc vom 2. Oktober 1786. StAAG NL. A–193 Fasc. 11/5. 157 G. Forster an Zimmermann, 6. 2. 1788. Bodemann 1878, S. 352. 158 Vgl. Bodemann, E. , Acht bisher ungedruckte Briefe von Chr. G. Heyne an J. G. Zimmermann, in: Zeitschrift des hist. Vereins für Niedersachsen 1878, S. 225ff. 159 Brief Zimmermanns an Reich vom 5. Juli 1781. Bayerische Staatsbibliothek. Autogr. Johann Georg Zimmermann. 160 Weinhold, Karl, Boie, Johann Christian. Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Halle 1868, S. 83. 161 „Es war keine Prophetengabe nöthig, um voraus zu sehen, wie es dem armen Zimmermann mit seinem Königsbuche gehn würde“. Baldinger 1796, S. 136.

49

Elaborate schriftstellersichen Ehrgeizes“.162 Im Zentrum der Unterredungen von 1788 stehen nicht medizinische Fragen, sondern die Wiedergabe der Gespräche, die rollenverteilt in direkter Rede mitgeteilt werden. Der unheilbare Gesundheitszustand des Königs wird zwar detailliert beschrieben und seine Disziplinlosigkeit im Essen sachte getadelt. Die Gespräche umkreisen Themen wie die dichterische Ader der Zarin Katharina II., die Architektur von Berlin und Hannover im Vergleich, die politischen Verhältnisse der Eidgenossenschaft, die englischen Historiker Gibbon und Robertson, die Freimaurer. Voller Bestürzung kolportiert Zimmermann die Aussage des Königs, er tauge als altes Gerippe zu nichts mehr, als auf den Schindanger geworfen zu werden.163 Im Juli 1786 kommt es zufällig zu einem wiedersehen mit Lavater in Wörlitz auf der Sommerresidenz des Fürsten von Anhalt-Dessau. Zimmermann schreibt in Lavaters Album unter dem 15. Juli 1786: „Ach, wir sahen uns und sahen uns nicht. Jenes wird mich freuen und dieses wird mich peinigen, solange ich lebe“.164 Nach dem Erscheinen der letzten Einsamkeitsschrift165 hat Zimmermann den Höhepunkt seiner Schriftstellerlaufbahn überschritten, die Werke zu Friedrich II. markieren den mit viel Polemik begleiteten Niedergang, sie verkommen, „bei unterhaltsamen und gewohnt brillanten Schlaglichtern, zur peinlichen Selbstapotheose eines Arztes und Schriftstellers“.166 Die Aversion des Preußenkönigs gegen die deutsche Literatur verschont auch Zimmermann nicht: Friedrich II. hat ihn nie gelesen. Die Schriften über Friedrich II. sind mindestens ebenso sprechend für den Patienten wie für den behandelnden Arzt selbst. An ihnen lässt sich jener paradoxe Schweizerreflex der Selbstverkleinerung bei gleichzeitiger Selbstzufriedenheit ablesen, ein Kokettieren „in chamäleonartiger Verwandlungskunst mit der Personifikation politischer Grösse und Macht, um als Beobachter seiner eigenen Reaktionen etwas vom Widerschein der Weltgeschichte für sich zu reklamieren“.167 In seiner Lettre remise à Frédéric Guillaume II. Roy regnant de Prusse, jour den son Avénement au Trône von 1787 unterbreitet Mirabeau Vorschläge zur Verbesserung des preussischen Staates, indem er das Soldatenkönigtum und diverse Massnahmen, z.B. das Verbot für verschuldete Adlige, ihren Landbesitz an Bürgerliche zu verkaufen, kritisiert. Zimmermann konstruiert eine Verbindung zwischen Mirabeau, der, aus französischem Kerker entlassen, im Auftrag Calonnes 1785 nach Berlin gekommen ist, und der Berliner Aufklärung. Zimmermann weist Mira-

162

Schrader, Christine, Knigge parodiert Johann Georg Zimmermann, in: „[...] in mein Vaterland zurückgekehrt“. Adolph Freiherr Knigge in Hannover 1787–1790. Hg. v. Paul Raabe (KniggeArchiv 3). Göttingen 2002, S. 107. 163 Unterredungen 1788, S. 157. 164 Pestalozzi, Rudolf, Lavaters Fremdenbücher, in: Neujahrsblatt auch das Jahr 1959, Zum besten des Waisenhauses Zürich,122, Stück, S. 43. 165 Vgl. 5. Einleitendes: Die Werke über die Einsamkeit (1756, 173, 1784/85), S. 100ff. 166 Meier 1999, S. 358. 167 Mit Skalpell und Federkiel 1995, S. 450.

50

beaus Vorwürfe in der Schrift Vertheidigung Friedrichs des Grossen gegen den Grafen von Mirabeau von 1788 entschieden zurück. In der Vorrede versichert er: Die folgenden Blätter […] schlagen nicht nur alle in jenem Briefe geäusserten Vorurtheile und Irrthümer des französischen Redners zu Boden, sondern sie rechtfertigen auch die Regierung des gegenwärtigen Königs. Sie sind also das Gegengift der Aufklärung, womit Mirabeau anizt die preussische Monarchie durch ein grosses noch nicht bekanntes Werk bedrohet; und sie setzen das Licht, das Er in dem Geiste Friedrich Wilhelms des Zweiten verbreiten will, beynahe in gleiche Classe mit den elenden Lampen einiger anderer Aufklärer Berlins.168

Die Fragmente über Friedrich den Grossen zur Geschichte seines Lebens, seiner Regierung und seines Charakters von 1790 wollen seine beiden früheren Schrif-

ten mit der Fülle des neuen Stoffes, der sich ihm seither dargeboten, zu einem einheitlichen Werke verschmelzen und, wie schon der Titel andeutet, zu einem historischen Werke ausbauen; dann einige Irrthümer und Fehler der früheren Schriften verbessern, und endlich seinen Gegnern die Angriffe auf die Schrift „Ueber Friedrich den Grossen und meine Unterredungen mit Ihm“ mit Zinsen heimzahlen.169 „Mich interessiert in meinem Alter der Gang der politischen Welt weit mehr als Alles übrige“,170 bekennt Zimmermann im April 1788 Hirzel. Seine Gegnerschaft zur Französischen Revolution wird nicht erst nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793 kompromisslos, rabiat, radikal. Im Gefolge der Bahrdt-Kotzebue-

Knigge-Zimmermann-Affäre […] radikalisierte sich Zimmermanns gegenaufklärerische und antirevolutionäre Einstellung zusehends und kulminierte in seinem um die Jahreswende 1791/92 an Kaiser Leopold II. gerichteten Memoire, mit dem er diesen vor den Anstrengungen der Aufklärer, die Revolution nach Deutschland zu importieren, warnen wollte.171 Zimmermann läuft Sturm gegen den „Wahnwitz“ des Zeitalters, gegen Aufklärung und Französische Revolution, obwohl er in der Berlinischen Monatsschrift 168

Vertheidigung Friedrichs des Grossen gegen den Grafen von Mirabeau. Hannover 1788, Vorrede (unpag.). 169 Ischer 1893, S. 371. 170 Brief vom 7. April 1788. ZZH, FA Hirzel 240, 34. 171 Weiss, Christoph, Deutschlands Hohn und Schmach. Der Beginn des Briefwechsels zwischen Johann Georg Zimmermann und Heinrich August Ottokar Reichard, in: Schramm 1998, S. 186. Vgl. auch ders., „Royaliste, Antirépublicain, Antijacobin et Antiilluminé“. Johann Georg Zimmermann und die „politische Mordbrennerey in Europa“, in: Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert. Hg. v. Ch. Weiss in Zusammenarbeit mit W. Albrecht (Literatur im historischen Kontext 1), St. Ingbert 1997, S. 367–401. Zimmermann hatte bereits im August 1778 Bern vertraulich Mitteilungen über Teilungsvorhaben Oesterreichs gegenüber der Eidgenossenschaft gemacht, was den Abschluss des Bündnisses mit Frankreich beschleunigt haben soll. Dazu: Stephan Meyer, Vorbote des Untergangs. Die Angst der Schweizer Aristokraten vor Joseph II. Zürich 1999 (Diss. Univ. Zürich 1997), beso. S. 63f., 92f., S. 313ff. Vgl. Luginbühl 1890, S. 39, Anmerkung 1. Zimmermann war offenbar auch über „die Massregeln, welche die Bernerische Regierung gegen die Aufklärung im Pays de Vaud hat nehmen müssen“ genau informiert und billigte diese ganz und gar (Luginbühl 1890, S. 78).

51

und der Allgemeinen Deutschen Bibliothek publiziert und mit Nicolai Briefe gewechselt hat. Im dreizehnten Band der Berlinischen Monatsschrift kommentieren die Herausgeber Gedike und Biester Zimmermanns politische Aktivitäten: „man weiss, Hr. Z. wirft sich seit einiger Zeit sehr in die Politik, und versäumt fast seine alte Freundinn, die Philosophie etwas darüber“.172 Der Sohn von Zimmermanns Jugendfreund Pfarrer Daniel Stapfer,173 Philipp Albert Stapfer, um den sich Zimmermann während dessen Göttinger Studienzeit väterlich kümmert, sieht im Kampf seines Landsmannes „den classischen Schriftsteller der Deutschen, den philosophischen Arzt und den Vertheidiger der Religion“174 am Werk. Zimmermann befürwortet entschiedenen das 1788 erlassene „Edict, die Religions-Verfassung in den Preussischen Staaten betreffend“, das sogenannten „Wöllnersche Religionsediktes“.175 Er kritisiert am Ende seines Lebens „unsere jungen Herren von grosser Aufklärung“176 und spricht nunmehr von der „hundertköpfigen Schlange, diesem Ungeheuer das man jezt Aufklärung nennt“,177 der mit Hilfe von Monarchen und Fürsten alle Köpfe auf einmal abgeschlagen werden sollten. Nachdem sich Zimmermann Ende der 1770er Jahre in eine Polemik gegen Lichtenberg wegen der Lavaterschen Physiognomik verstrickt hat,178 folgen aufreibende Fehden vor allem mit Kästner,179 Nicolai180 und Knigge. Zimmermann hält sich dabei selbst nicht an eine früher erteilte Lebensregel, „mit allen Menschen in 172 173

Berlinische Monatsschrift, 13. Bd. Januar-Junius Berlin 1789, S. 391. Vgl. III, 4/5: „In meinen Schuljahren hatte ich einen einzigen Freund; er war ein treflicher Kopf und für mich alles in allem. Unsere Mitschüler hassten und verfolgten ihn alle, und oft schlug ich mich für ihn gegen alle. Mit ihm besuchte ich am liebsten einsame Örter […]“. In einer Anmerkung (III, 4) zu der zitierten Stelle führt Zimmermann aus, dass er 1755, als Daniel Stapfer noch Pfarrer in Brugg war, eine seiner Predigten drucken liess, die Wieland begeistert habe. 174 Brief von Philipp Albert Stapfer an Zimmermann vom 2. Februar 1793, in: Philipp Albert Stapfer. Briefwechsel 1789–1791 und Reisetagebuch. Mit Einführung und Kommentar aus dem handschriftlichen Nachlass herausgegeben v. Adolf Rohr. Aarau 1971, S. 236. 175 Vgl. 8.4. den Exkurs zu Zimmermanns politischem Standort (S. 221ff.) und den Brief Zimmermanns an Reichard vom 19. November 1792: „Ihren Brief an Wöllner, den ich hier beÿlege und alle ihre herrlichen Handlungen lohne Ihnen Gott“. Christoph Weiss, „Deutschlands Hohn und Schmach“. Der Beginn des Briefwechsels zwischen Johann Georg Zimmermann und Heinrich August Ottokar Reichard, in: Schramm 1998, S. 201. 176 Unterredungen 1788, S. 122. 177 Unterredungen 1788, S. 122. 178 Vgl. Ischer 1893, S. 299ff. Ulrich Joost in Schramm 1998, S. 123ff. 179 1779 kommt es wegen eines Aufsatzes von Zimmermann, „Liebe für Kästnern“, im Hannoverischen Magazin von 1779 (auch Versuch 1779, XVII., S. 33f.) zur Polemik. Zu den Einzelheiten vgl. Ischer 1893, S. 319ff. 180 Zimmermann lieferte Nicolai für die „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ ab 1765 Beiträge. Er lernte ihn 1771 in Berlin persönlich kennen; es entwickelte sich eine ausgedehnte Korrespondenz bis 1788, dem Erscheinungsjahr der „Unterredungen“, in denen Zimmermann die Berliner Aufklärung schmäht: „Dadurch verwickelte er sich auch mit Nicolai in eine von beiden Seiten mit Erbitterung geführte litterarische Fehde, n der von der früheren Freundschaft keine Spur mehr zu erkennen war“. Ischer 1893, S. 100. Vgl. Sigrid Habersaat, Zimmermann und die Berliner Aufklärung: Friedrich Nicolai, in: Schramm 1998, S. 179–184. Ischer 1893, S. 98ff., S. 387ff.

52

Frieden leben, ist klug, und christlich“.181 Unter Knigges Namen veröffentlicht August von Kotzebue 1790 ein Schauspiel in vier Aufzügen, „Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn, oder Die deutsche Union gegen Zimmermann“, in dem neben Bahrdt und Zimmermann u.a. auch Biester, Boie, Campe, Gedike, Nicolai, Kästner, Blanckenburg sowie Luthers Geist mit Aufwärtern, Huren und himmlischen Heerscharen auftreten. Als Autor dieser scharfen Attacke gegen die Berliner Aufklärung wird fälschlicherweise zunächst Zimmermann verdächtigt, der 1792 in der von Leopold Aloys Hoffmann herausgegebenen Wiener Zeitschrift ein Pamphlet unter dem Titel Adolph Freiherr von Knigge dargestellt als deutscher Revolutionsprediger und Demokrat erscheinen lässt. Knigge strengt in der Folge einen Ehrverletzungsprozess an, den Zimmermann kurz vor seinem Tod verliert.182 Er beabsichtigt allerdings, eine antiaufklärerische Komödie mit dem Titel Die Aufklärer zu verfassen, die nicht zustande kommt.183 Zimmermanns betätigt sich lebenslang als Rezensent und Jornalist z.B. in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, in der Berlinischen Monatsschrift, in Lavaters Erinnerer oder im Hannoverischen Magazin. Obwohl dabei auch viel Dutzendware entstanden ist, stellen diese Arbeiten einen nicht zu vernachlässigenden Beitrag zur Erschliessung von Zimmermanns geistiger Statur dar. Besonders die Beiträge im Hannoverischen Magazin sind vor anderen zu nennen. Zimmermann selbst charakterisiert sie wie folgt: Diese Aufsätze enthielten viel Gleichgültiges über Dinge, die uns nicht nahe liegen; und dann auch wohl einige treuherzige Aeusserungen, die den Fehler hatten, dass sie gedruckt sind. Kleine Experimente dieser Art sind schon ganz lustig, der Steinchen wegen, die einem dabey um den Kopf fliegen; aber auch sehr unterrichtend in Absicht auf die etwanige Aufnahme des liberaliter sentire et scribere.184

Diese Beiträge erscheinen 1779 als selbständige Schrift unter dem Titel: „Versuch in anmuthigen und lehrreichen Erzählungen, launigten Einfällen und philosophischen Remarquen über allerley Gegenstände“. Ulrich Joost hat 1998 den bisher 181 182

Brief Zimmermanns an Hirzel vom 5. Februar 1768. ZZH, FA Hirzel 239, 212. Zum Prozess Knigges gegen Zimmermann vgl. Der Prozess mit dem Ritter von Zimmermann, in: Aus einer alten Kiste. Originalbriefe, Handschriften und Documente aus dem Nachlasse eines bekannten Mannes (Knigge). Leipzig 1853, S. 234–292. Ferner: Ischer 1893, S. 196ff., S. 203ff., S. 352ff., S. 416ff. – Wilhelm Rothert, Die beiden Antipoden Knigge und Zimmermann, in: Hannover unter dem Kurhut 1646–1815. Hannover 1916, S. 329–347. – Werner Rieck, „Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn […]“. Zimmermann und Kotzebue im Kampf gegen die Aufklärung, in: Weimarer Beiträge XII (1966), S. 909–935. – Carl Haase, Knigge contra Zimmermann. Die Beleidigungsklage des Oberhauptmanns Adolph Franz Friedrich Freiherr Knigge (1752–1796) gegen den Hofmedicus Johann Georg Ritter von Zimmermann (1728–1795), in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 57 (1985), S. 137–160. 183 Brief Zimmermanns an Philipp Albert Stapfer vom 15. Mai 1790. Luginbühl 1890, S. 54f. Stapfer bittet er, ihm Gedanken mitzuteilen über „Recepte eines modernen deutschen Gottesgelehrten zu der heilsamen und jezt so sehnlichst gewünschten Untergrabung und Vertilgung der christlichen Religion“. Luginbühl 1890, S. 55. 184 An Herrn Hofrath und Professor Kästner in Göttingen. Flugschrift. Hannover (1779). S. 18f.

53

übersehenen Sachverhalt aufgedeckt, dass diese Publikation im Zusammenhang mit der Kontroverse zwischen Zimmermann und Lichtenberg zu sehen ist. Lichtenberg veranlasst die mit den ursprünglich im Hannoverischen Magazin publizierten Texten übereinstimmende Herausgabe, anonym und ohne Verlagsangabe, um seinen Kontrahenten allein durch eine selbstsprechende „Physiognomik des Stils“ dem öffentlichen Gelächter preiszugeben.185 Auch anonym, aber ohne jegliche polemische Absicht, veröffentlicht zwanzig Jahre später „ein Freund des berühmten Mannes“, Georg Friedrich Palm, Zerstreute Blätter vermischten Inhalts. Im Brief vom 24. Oktober 1785 an Johann Stapfer äussert Zimmermann: „Ach, ich muss mein Haus bestellen, damit ich bereit sey, willig zu gehen, wenn der Herr kommt, und mich von der Welt abruffet“.186 Er betrachtet sich nunmehr als den verrufensten Menschen in Deutschland.187 Der zum Skelett Abgemagerte und von Verfolgungs– und Verarmungswahn Heimgesuchte stirbt, „in diesen Zeiten, da alles in der Welt drunter und drüber geht […] in dieser bösen Zeit“,188 am 7. Oktober 1795 in Hannover. Physisch und psychisch zerfallen, soll Zimmermann auf seinem Sterbebett immer wieder ausgerufen haben: „O Jesus! O Jesus!“.189 Seine Grabstätte befindet sich auf dem Neustädter Friedhof in Hannover.

185

Joost, Ulrich, Eine „Physiognomik“ des Stils gegen „Don Zebra Bombast“. Lichtenbergs Polemiken gegen Johann Georg Zimmermann, in: Schramm 1998, S. 133ff. Damit ist ebenso wenig hilfreich wie unzutreffend Baldingers Bemerkung (Baldinger 1796, S. 132): „Aber die ganze Sammlung ist nicht von Kästner, sondern von einem Andern“. Im unterdrückten „Vorbericht zur zweyten Auflage“ rühmt Lichtenberg ironisierend Zimmermann als Nachfahren Montaignes: „einer der ersten Genies unsrer Zeit und Deutschlands künftigen Montaigne“ (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Ms. Licht. IV, 37 Bl. 26). 186 Luginbühl 1890, S. 48. 187 Brief Zimmermanns an Philipp Albert Stapfer vom 15. Mai 1790. Luginbühl 1890, S. 59. 188 Baldinger 1796, S. 135. Baldinger zitiert aus dem Brief Zimmermanns an ihn vom 15. Juli 1793. 189 Wichmann 1796, S. 40.

54

3

Zu Forschungsgeschichte und Forschungsstand

Im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Wezel, dem „die immer auch etwas kokette Aura des großen Unbekannten nicht mehr recht zu Gesicht“ stehe, da er „zu einem über die Literaturwissenschaft hinaus in der Öffentlichkeit beachteten und auch geachteten Schriftsteller aufgestiegen“1 sei, lässt sich Analoges für Zimmermann und sein schriftstellerisches Œuvre nicht behaupten. Die vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit, die dieser „représentant suisse du cosmopolitisme littéraire au 18e siècle“2 in der Aufklärungsforschung gefunden hat und findet, lässt tatsächlich die Wertschätzung seiner Person und die Verbreitung seines Werkes im Zeitalter der Aufklärung nicht ermessen. Zimmermann teilt eher das Schicksal verlorengegangenen Ruhms mit dem Schaffhauser Historiker Johannes von Müller, der praktisch nur noch von Spezialisten beachtet wird. In der Medizingeschichte ist Zimmermann zwar immer präsent geblieben, er steht jedoch keineswegs im Brennpunkt medizinhistorischer Forschung.3 Drei Phasen der Zimmermann-Forschung lassen sich überblicksmässig unterscheiden: Verblassender Ruhm eines Klassikers (1795–1890) Positivistische, medizinhistorische und geistesgeschichtliche Forschungen (1890–1945) Publikationen nach 1945. Unmittelbar nach 1795 erscheinen biographisch orientierte Lebenszeugnisse von Zeitgenossen, die ihm nahestanden, die um den Preis mangelnder Distanz lebensnahen Informationsgehalt bieten. Aus dem Kreis seiner Arztkollegen nimmt Marcard4 Zimmermann gegen angeblich ungerechtfertigte Verzeichnungen Wichmanns5 in Schutz, während Samuel Auguste André David Tissot kurz vor seinem eigenen Tod ein im Geiste freundschaftlicher Nachsicht gezeichnetes, wohlwollend positives Bild gibt, das sich auf die lebenslang geführte Korres-

1 2 3

4

5

Wezel, Johann Karl (1747–1819). Hg. v. Alexander Kosenina, und Christoph Weiss. St. Ingbert 1997 (Literatur im historischen Kontext 2), S. 7. So lautet der Untertitel von Auguste Bouviers Genfer Thèse „J. G. Zimmermann“ von 1925. Als einen „Wegbereiter der Heilkunde“ führt ihn eine neuere populäre Medizingeschichte auf: Bernt Karger-Decker, An der Pforte des Lebens. Wegbereiter der Heilkunde im Porträt. Zweiter Band: René Hyacinthe Laënnec bis Johann Georg Zimmermann. Berlin 1991. Marcard, Heinrich Matthias, Beytrag zur Biographie des seel. Hofraths und Ritters von Zimmermann vom Leibmedicus Marcard in Oldenburg veranlasst durch die von Herrn Leibmedicus Wichmann in Hannover herausgegebene Krankheits-Geschichte. Hamburg 1796. Ders., Zimmermanns Verhältnis mit der Kaiserin Katharina II. Bremen 1803. Über Marcard schreibt Zimmermann an Tissot am 5. September 1785: „c’est l’ami le plus intime que j’ay en Allemagne, mon ami et mon confident depuis 1773“. BBB Mss hh XVIII 71. Nr. 114. Johann Georg Zimmermann’s Krankheits-Geschichte. Ein biographisches Fragment für Ärzte bestimmt. Von Johann Ernst Wichmann. Hannover 1796.

55

pondenz stützt.6 In einem Brief vom 25. Februar 1797 aus Coppet an den Autor lobt Necker das Werk ausdrücklich.7 Tissot endet seine Schrift, die viel primäres Quellenmaterial enthält, mit einer Prophezeiung, welche an eine gerechter urteilende Nachwelt adressiert ist, indem er Zimmermanns Aufopferung für die gegenrevolutionäre Sache ins Feld führt: „la postérité, mieux instruite que nous peut-être de l’importance de la cause dont il s’etoit chargé, rendra plus de justice encore qu’on ne peut le faire aujourd’hui“.8 Leopold Aloys Hoffmann, der sich auf Tissot bezieht, endet seinerseits in seinen Erläuterungen über einige Stellen der Lebensbeschreibung J. G. Zimmermanns, von Herrn Tissot vom Prof. Hoffmann zu Wienerisch-Neustadt mit prophetischen Worten: Wenn Z i m m e r m a n n in der langen Laufbahn seines Lebens, ein grosser, berühmter, von Europa mit Recht bewunderter Mann war, so muss man es auch der Nachwelt nicht verschweigen, um wie viel grösser er in den letztern Jahren seines Lebens gewesen ist, eben da, wo eine verschworne Rotte litterarischer Meuchelmörder ihm seinen alten Ruhm zu stehlen und zu zerlästern suchte. Man muss es erzählen, welche grosse Dinge dieser grosse Menschenfreund am Abend seiner Tage zum Besten dieser Welt wirklich that […] Verewigter Freund! höre meine Gelübde! Ich werde die Thaten deines Alters erzählen, und deine gelästerte Ehre retten.9

Ein Militärarzt der napoleonischen Ägypten-Expedition erweist Zimmermann sehr wohl diese Ehre: „J’ai tiré le plus grand parti de la lecture et de la méditation des ouvrages de Sydenham, de Pringle et de Zimmermann et que si j’ai eu la consolation d’obtenir quelques succès, c’est principalement aux savants leçons de ces grands médecins que je les dois“.10 Im zweiten Stück des achtzehnten Bandes seines Neuen Magazins für Aerzte beleuchtet Ernst Gottfried Baldinger 1796 auch Schattenseiten Zimmermanns: [...] in aller Rücksicht ein so grosser und bedeutender Mensch dieses Jahrhunderts […] Bey seinem durchdringenden Verstande, bey seinem lebhaften Gefühl, feuriger Einbildungskraft, Gedächtniss – Ruhmbegierde, drängten sich bey ihm Ideen auf Ideen – und überspannten sich schon damals – und noch mehr in seinen letztern Schriften. Daher bey grossen originellen, höchst frappanten Ideen, scharfen und sinnreichen Urtheilen, grösstem Witz, so mancher 6 7 8 9

10

56

S. A. Tissot, Vie de M. Zimmermann. Lausanne 1797. Eynard, Charles, Essai sur la vie de Tissot. Lausanne 1839, S. 378f. Tissot 1797, S. 121f. in: Eudämonia oder Deutsches Volksglück. Ein Journal für Freunde von Wahrheit und Recht. Bd. 6 (1798), S. 127. Über Hoffmanns politische Instrumentalisierung Zimmermanns vgl. Christoph Weiss, „Royaliste, Antirépublicain, Antijacobin et Antiilluminé“. Johann Georg Zimmermann und die „politische Mordbrennerey in Europa“, in: Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“: gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert. Hg. v. Ch. Weiss in Zusammenarbeit mit Wolfgang Albrecht. St. Ingbert 1997 (Literatur im historischen Kontext 1), S. 367–401. Zit. von J. Karcher in: Schweizerische Medizinische Wochenschrift Nr. 49, S. 1212. Die Stelle findet sich in Des Genettes’ „Observations sur les maladies et en particulier la dyssenterie qui ont régné en fructidor an VI dans l’armée d’Orient“ und stammt aus dem Bericht des Militärarztes J. B. Bruant, dem Chefarzt des hôpital Nr. 1 in Kairo.

übertriebener Gedanke, so mancher schiefe Ausdruck, und Mangel an Correctheit der Schreibart.11

Im Sommer 1798 veröffentlicht „ein Freund des berühmten Mannes“, G. F. Palm, Zerstreute Blätter vermischten Inhalts, von dem verstorbenen Hofrath und Leibarzt Ritter von Zimmermann in Hannover, als ob er geahnt hätte, wie schnell Zimmermanns Ruhm verblassen sollte: Sein Andenken, so wie sein moralisches Bild, werde noch lange in unverkennbaren Zügen unter denen erhalten, für welche er so unaussprechlich viel war und wirkte; und unter allen, die seinen wahren Werth zu würdigen wussten, müsse sein Gedächtniss, als das Gedächtniss eines um die Menschheit verdienten Mannes, noch lange mit Liebe und Dank gefeyert werden!.12

Gegen eine ungerechtfertigte Ächtung Zimmermanns wegen seines politischen Standpunkts setzt sich I. V. Rothe 1799 ein: Man verfuhr zu strenge mit ihm. Sanft ruhe seine Asche. Lange wird sein Name noch genennet werden, wenn die, so über ihn herfielen, längst vergessen sind […] Es ist ein klassisches Buch geworden (sc. Von der Erfahrung in der Arzneykunst) […] Ich bitte jeden Arzt, dies Werk (sc. Über die Einsamkeit) zu lesen. Jeder Arzt muss es lesen, er wird viel daraus lernen.13

In diesen Zusammenhang gehören auch Goethes Darstellung im 15. Buch des dritten Teils von Dichtung und Wahrheit,14 die reichhaltige Briefsammlung, die Albrecht Rengger, der Sohn des seit der Brugger Zeit mit Zimmermann vertrauten Pfarrers Abraham Rengger, 1830 herausgab,15 sowie Ulrich Hegners informative „Beiträge zur nähern Kenntniss und wahren Darstellung Johann Kaspar Lavater’s“, die ausgiebig aus den Briefen Zimmermanns zitieren.16 Kurt Sprengel rühmt in seinem einflussreichen „Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde“ ( 1803) im fünften Teil Zimmermanns Erfahrung in der Arzneykunst als

Muster eines kräftigen, selbst glänzenden Stils, einer hinreissenden Beredtsamkeit, und der glücklichsten Kunst, dunkle Gegenstände mit unübertrefflicher Klarheit und Bestimmtheit abzuhandeln. So lange Geist und Geschmack, so lange Wissenschaft und Kunst geschätzt werden, wird man Zimmermanns Meisterwerk immer den gelungensten Producten des menschlichen Verstandes an die Seite setzten.17 11 12

13

14 15 16 17

Baldinger 1796, S. 121, S. 139. Zerstreute Blätter vermischten Inhalts, von dem verstorbenen Hofrath und Leibarzt Ritter von Zimmermann in Hannover. Hg. v. einem Freunde des berühmten Mannes (G. F. Palm). Leipzig 1799, Vorerinnerung IX/X. Imanuel Vertraugott Rothe, Handbuch für die medizinische Litteratur nach allen ihren Theilen oder Anleitung zur Kenntnis der besten auserlesenen medicinischen Bücher. Leipzig 1799, S. 348. HA 10, S. 63–68. J. G. Zimmermann’s Briefe an einige Freunde in der Schweiz. Aarau 1830. Hegner, Ulrich, Beiträge zur nähern Kenntniss und wahren Darstellung Johann Kaspar Lavater’s. Aus Briefen seiner Freunde an ihn, und nach persönlichem Umgang. Leipzig 1836. Sprengel 1803, S. 342.

57

Die Vertreter der vitalistischen und neohippokratischen Schule von Montpellier finden am Anfang des 19. Jahrhunderts durch Zimmermanns medizinische Schriften ihre eigenen Auffassungen bestätigt, entsprechend groß ist die ihm zuteil werdende Aufmerksamkeit: In Deutschland hatte Zimmermann nicht einen so hohen Ruf wie in Frankreich, wo er in eine Reihe mit dem „englischen Hippokrates“ Thomas Sydenham, dem niederländischen Arzt Herman Boerhaave, dem Göttinger Professor für Anatomie, Botanik und Chirurgie Albrecht von Haller, dem französischen Arzt Théophile Bordeu und dem Professor der Medizin in Montpellier Jean Paul Barthez gestellt wurde.18

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wird Zimmermann wie selbstverständlich zu den deutschen Klassikern gezählt. 1817 erscheint eine prachtvoll ausgestattete „EtuiAusgabe“ des Werks Von der Einsamkeit,19 und um 1830 veröffentlicht die Reclam-Vorläuferreihe „Meyer’s Groschen-Bibliothek der deutschen Classiker“ eine Auswahl aus dem vierteiligen Einsamkeitswerk.20 Vom „unvergänglichen Ruhm“,21 den er sich als Schriftsteller durch seine drei Hauptwerke erworben habe, ist die Rede. Ludwig Börne zitiert Zimmermanns Namen z.B. in den Schilderungen aus Paris „als einen altbekannten“.22 Im siebten Kapitel des zweiten Teils von Gottfried Kellers Grünem Heinrich, Fortsetzung des Schwindelhabers, berichtet Heinrich, wie er in der mütterlichen Dachkammer in schöpferischer Abgeschiedenheit in freundschaftlichem Wettstreit Aufsätze verfasste, die von seinem Schwindlerfreund regelmässig übertroffen wurden, weil er von klassischen Schriftstellern abschrieb, zu denen, neben Diderot, Rousseau, Goethe, Lessing, Sterne, Hippel, Byron und Heine, auch Zimmermann und sein Werk Über die Einsamkeit gehörten. Er zitiert eine Stelle aus dem zehnten Kapitel, Vortheile der Einsamkeit für den Geist: „Auf deiner Studirstube möchte ich dich fetshalten, da dich zu grossen Absichten erwärmen und stärken […]“ (III, 243ff.).23 In den Aphorismen zur Lebensweisheit erwähnt Schopenhauer Zimmermanns „berühmtes“ Einsamkeitswerk und vermutet Petrarca als Quelle: „In gleichem Sinn führt er (sc. Petrarca) die Sache aus, in seinem schönen Buche de vita solitaria, welches Zimmermann’s Vorbild zu seinem berühmten Werke über die Einsamkeit gewesen zu sein scheint“.24 Auch im angelsächsischen Raum wird Zimmermanns Einsamkeitsschrift 18 19 20 21 22 23 24

58

Lohff, Brigitte, Die Rezeption der Werke Johann Georg Zimmermanns in Montpellier, in: Gesnerus 54 (1997), S. 175. Von der Einsamkeit. Von J. G. Ritter von Zimmermann. Aachen (bei F. W. Forstmann) 1817 (Etui-Bibliothek der deutschen Classiker Nr. XXXII). Meyer’s Groschen-Bibliothek der Deutschen Classiker für alle Stände. Hildburghausen o.J. Eine Anthologie in 300 Bändchen. Eilftes und zwölftes Bändchen. Meyer’s Groschen-Bibliothek. Eilftes Bändchen. O. J., S. 8. Vgl. Ischer, Rudolf in Euphorion 4 (1897), Miscellen, S. 557. Vgl. Ermatinger, Emil, Gottfried Kellers Leben. Mit Benutzung von Jakob Baechtolds Biographie. Zürich 1950, S. 56f. Schopenhauer, Arthur, Aphorismen zur Lebenswiesheit. Hg. v. Arthur Hübscher. Stuttgart 2001, S. 152.

bis um 1850 stark beachtet: „In seinen englischen Fassungen wurde Zimmermanns Werk zu einem erstaunlich erfolgreichen Bestseller, von dem bis 1856 mehr als sechzig neue Auflagen, unterschiedliche Ausgaben, Raubdrucke und Auszüge erschienen“.25 Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts schwindet das Interesse an Zimmermann kontinuierlich. In der 1861 erschienenen Schweizerischen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts von J. C. Mörikofer ist Zimmermann ein „Repräsentant der Sturm- und Drangzeit“.26 Für den im Zeitalter nationalstaatlicher Einigungsbewegungen schreibenden Mörikofer liegt der bedauernswerte Prestigeverlust, den Zimmermann mit Ludwig Meyer von Knonau, Martin Usteri, Johann Kaspar Hirzel, Karl Friedrich Drollinger und Johann Jakob Spreng teile, darin begründet, dass die Kritik sich berechtigt glaubte, das Übermass des persönlichen Ansehens, welches einzelne jener Schweizer erworben zu haben schienen, an ihren Schriften zu rächen und dieselben eine Ungunst erfahren zu lassen, welche mit der Anerkennung der Zeitgenossen in einem grellen Widerspruch steht.27 Diese monokausale Begründung für die merkwürdige Geschichte von Zimmermanns Ruhm bedarf modifizierender Ergänzungen. Jakob Baechtold hebt in seiner Geschichte der Deutschen Literatur in der Schweiz (1892)28 Zimmermanns eigentümliche Stellung zwischen Sturm und Drang und Aufklärung hervor, indem er ihn als leidenschaftlichen Sitten- und Weltverbesserer mit einer heftigen, ungebändigten Natur charakterisiert, der keine mittleren Töne gekannt habe, sondern einem unaufhörlichen Stimmungswechsel zwischen schroffstem Unmut und sentimentalster Schwärmerei, z.B. bei der Schilderung der landschaftlichen Schönheiten seiner Schweizer Heimat, ausgesetzt gewesen sei. Die Kapitel des Werks Über die Einsamkeit, welche die Pikanterien des Mönchs- und Nonnenwesens nach der skandalösen Seite hin entfalteten, trügen den Charakter eines aufklärerischen Parteipamphlets von einem Autor, der zugleich als Typus der empfindsamen Zeit gelten könne, weil er in jedem Augenblick bereit gewesen sei, in Tränen zu zerfliessen. C. F. Meyer vermerkt 1881 zu den 1756 erschienenen Betrachtungen über die Einsamkeit, sie seien „jetzt sehr selten“29 25

26

27 28 29

L. Kurth-Voigt, Zimmermanns Über die Einsamkeit (1784/85): Zur Rezeption des Werkes, MLN 116/3, 2001, S. 587, gibt einen informativen Überblick über Zimmermanns Rezeption besonders in den USA. J. C. Mörikofer, Die Schweizerische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1861, S. 299. Der Zimmermann gewidmete Abschnitt unter dem Titel „Zimmermann, ein Repräsentant der Sturm- und Drangzeit“ S. 299–310. „Er blieb Rationalist […]“ meint hingegen Hans Röhling, „Katharina II. und J. G. Zimmermann. Bemerkungen zu ihrem Briefwechsel“, in: Zeitschrift für slavische Philologie. Bd. XL, Heft 2, 1978, S. 361. Auf S. 375 liest man: „[…] dass Zimmermann wiederum kein Verständnis für alles ausserhalb rationalem Aufklärertum stehende Denken hatte“. Mörikofer 1861, S. IV (Vorwort). Baechtold, Jakob, Geschichte der Deutschen Literatur in der Schweiz. Frauenfeld 1892. S. 669–674. C. F. Meyer 1881, S. 203.

59

geworden. Dem angeblichen Wunsch vieler Leser nachkommend, werden 1878 in Berlin Ausschnitte aus dem seit langer Zeit vergriffenen Werk publiziert.30 Für den redigierenden Herausgeber hat Zimmermann nichts an Aktualität verloren, er zähle „mit Recht zu den grössten philosophischen Schriftstellern und zu den merkwürdigsten Männern seiner Zeit“.31 Er gibt indessen die beherzigenswerte Leseanleitung: „Wer aber flüchtig liest, wird gerade bei diesem Buche (sc. Über die Einsamkeit) das Beste und Treffendste zweifellos übersehen“.32 Der Grand Dictionnaire universel du XIXème siècle von Pierre Larousse widmet Zimmermann und dem Thema der „Solitude“ eigene Artikel,33 und Xavier Marmiers Anthologie Über die Einsamkeit, die für französische Leser bis heute das Bild Zimmermanns als „philosophe du sentiment“ geprägt hat, wurde zwischen 1845–1869 nicht weniger als fünfmal aufgelegt.34 1865 nimmt Claude Bernard in der berühmten Introduction à l’étude de la médecine expérimentale immer noch Zimmermanns Definition von Beobachtung und Experiment zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen.35 Auch H. Rohlfs stellt Zimmermann 1875 ausführlich in seiner Zusammenstellung medizinischer Klassiker Deutschlands vor. Zimmermann mit seinen „paradoxen Launen“36 sei deshalb nicht in gleichem Masse in Vergessenheit geraten wie sein Vorgänger Werlhof, weil er „seinen Namen in der schönwissenschaftlichen Literatur bekannter und berühmter machte als in der medicinischen“.37 Verschiedene Strömungen und Bestrebungen seiner Epoche hätten sich in Zimmermann abgespiegelt, so dass er als „ein culturhistorischer Spiegel“38 erscheine.

3.1 Positivistische, medizinhistorische und geistesgeschichtliche Forschungen (1890–1945) Eine wissenschaftliche Zimmermann-Forschung setzt im späten 19. Jahrhundert mit den Arbeiten von Eduard Bodemann (1827–1906) und Rudolf Ischer ein. Die vor rund hundert Jahren erschienene Dissertation Ischers, J. G. Zimmermann’s Leben und Werke. Litterarhistorische Studie,39 die bei dem Haller-Forscher Lud30 31 32 33 34

35 36 37 38 39

60

Über die Einsamkeit. Von Joh. Georg v. Zimmermann. Berlin (Verlag von Elwin Staude) 1878. Über die Einsamkeit 1878, Vorwort, S. V. Über die Einsamkeit 1878, Vorwort, S. III. Artikel „Zimmermann“ Bd. 15, S. 1485 (Paris 1876) und Artikel „Solitude“ Bd. 14, S. 848f. (Paris 1875). Seifert, Hans-Ulrich, J. B. Merciers Übersetzung von Über die Einsamkeit und K. H. Heydenreichs Rückübersetzung. Zur Zimmermann-Rezeption in Frankreich, in: Schramm 1998, S. 219f. Bernard, Claude, Introduction à l’étude de la médecine expérimentale. Paris 1865, S. 13. Rohlfs 1875, S. 97. Rohlfs, H. , Die medicinischen Classiker Deutschlands. Erste Abtheilung. Stuttgart 1875 (Nachdruck 1970), S. 84. Rohlfs 1875, S. 84. Bern 1893.

wig Hirzel in Bern entstand, hat weitere monographische Untersuchungen zu Zimmermann insofern gehemmt, als dieses dem Positivismus verpflichtete einschlägige Referenzhandbuch zum Nachschlagen das Kapitel Zimmermann aufgearbeitet zu haben schien. Ischers materialreiche Monographie handelt, ohne Inhaltsverzeichnis und Bibliographie, wenig inspiriert, aber kenntnisreich und in der Regel zuverlässig, Leben und Werk in zwei getrennten Hauptkapiteln ab. Chronologisch werden Zimmermanns Schriften nach dem Schema „Entstehungsgeschichte, kommentierende Inhaltsangabe, Rezeption des Werks“ besprochen. Breiten Raum gewährt er der Darstellung der literarischen Fehden Zimmermanns in den letzten Lebensjahren. Ischers Opus, das aus dem Briefwechsel mit Haller40 schöpft, enthält trotz allem sachliche Irrtümer. Zimmermann und Lavater kannten sich bereits vor 1765,41 über Zimmermanns Anteil an der Entstehung von Lavaters Physiognomischen Fragmenten wird der Leser unzureichend informiert. Der Briefwechsel zwischen Zimmermann und de Luc sei 1788 abgebrochen, obwohl Briefe bis zum 26. Dezember 1795 vorliegen.42 Ischer, der nicht am Nachlass in Hannover arbeitete, anscheinend auch die Briefwechsel mit Hirzel und Tissot nicht zur Kenntnis nahm, grenzt sich polemisch gegen Bodemann ab, den Leiter der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover von 1867–1906, der 1878 eine Zimmermann-Biographie vorgelegt hatte mit dem Titel Johann Georg Zimmermann. Sein Leben und bisher ungedruckte Briefe an denselben von Bodmer, Breitinger, Gessner, Sulzer, Moses Mendelssohn, Nicolai, der Karschin, Herder und G. Forster,43 die unveröffentliche Briefe aus dem Nachlass enthält und damit die Grundlage für eine weiterführende Beschäftigung mit Zimmermann überhaupt erst ermöglichte. Bereits 1874 war die Briefsammlung Julie v. Bondeli und ihr Freundeskreis. Wieland, Rousseau, Zimmermann, Lavater, Leuchsenring, Usteri, Sophie Laroche, Frau von Sandoz u.a. nebst bisher ungedruckten Briefen der Bondeli44 an

40

41

42

43 44

Unter Tilgung der medizinhistorischen Passagen veröffentlichte Ischer später Zimmermanns Briefe an Haller: „J. G. Zimmermanns Briefe an Haller (1751–1775)“. Hg. v. Rudolf Ischer, in: Neues Berner Taschenbuch. Bern 1903–1911. Vgl. auch ders., Neue Mitteilungen über Zimmermann, in: Euphorion 8 (1901), S. 625–639. Diese „Mitteilungen“ enthalten u.a. Briefe von Zimmermann an das Mitglied der Helvetischen Gesellschaft Herzog Ludwig Eugen von Württemberg, dem Bruder Karl Eugens. Ferner: ders., J. J. Rousseau und J. G. Zimmermann, in: Neues Berner Taschenbuch 1899, S. 249–266. Ischer 1893, S. 83 datiert den Beginn der Freundschaft fälschlicherweise auf 1765, obwohl sich die beiden im Umkreis der Zürcher Naturforschenden Gesellschaft zu Beginn der 1760er Jahre kennengelernt haben. Vgl. Schramm, Hans-Peter, Der Zimmermann-Nachlass in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover, in: Schramm 1998, S. 224. Ischer behauptet auch fälschlicherweise, Zimmermann habe sich Ende November und Anfang Dezember 1761 in Bern aufgehalten, obwohl Zimmermann in einem Brief an Hirzel vom 25. November 1761 seine Rückkehr nach Brugg mitteilt. Vgl. dazu Bouvier 1925, S. 37. Hannover 1878. Eine Monographie zu Julie v. Bondeli stellt ein Forschungsdesiderat dar. Vgl. Angelica Baum, Brigitte Schnegg, „Cette faiblesse originelle de nos nerfs“. Intellektualität und weibliche Kon-

61

Zimmermann und Usteri45 erschienen, es folgten 1874 Von und über Albrecht von Haller46 und 1885 Der Briefwechsel zwischen der Kaiserin Katharina II. von Russland und Johann Georg Zimmermann.47 Rudolf Luginbühls Einschätzung in der Einleitung zu seiner Ausgabe „Briefe von J. G. Zimmermann, E. von Fellenberg, S. Schnell, K. Schnell und G. L. Meier von Knonau an Philipp Albert Stapfer“ (1890) entspringt eher einem Wunsch als der Realität: Seine (sc. Zimmermanns) ärztliche Praxis war eine ausserordentlich ausgedehnte; trotzdem war seine Thätigkeit auf dem literarischen Gebiete so gross, dass sein Name unter den Prosaschriftstellern des 18. Jahrhunderts nie fehlen darf. Seine Schriften Vom Nationalstolz und Ueber die Einsamkeit sind Werke, die noch heute mit Nutzen gelesen werden können und die noch heute etwas von der Zugkraft, die sie einst auf die ganze gebildete Welt ausübten, bewahrt haben.48

Als Bernhard Suphan 1904 unbekannte Briefe von Goethe und der Frau von Stein an Zimmermann veröffentlicht, stellt er hingegen fest, dass Zimmermann damals (sc. Mitte der 1770er Jahre) auf der Höhe seines Ruhmes gestanden sei, aber jetzt gehe er „als ein Schemen durch die Litteraturgeschichten“.49 Im Jahre 1920 erscheint in Basel eine stark gekürzte Auswahl des 1788 erstmals publizierten Gesprächsberichts über Zimmermanns Unterredungen mit dem todkranken Preussenkönig Friedrich II., der ein umfangreicherer biographischer Essay über das Leben Zimmermanns vorangestellt ist.50 Autorin dieser „tragischen Biographie“, die verschiedene Lebensstationen in dramatisch verdichteten Szenen vergegenwärtigt, ist Ricarda Huch, die Zimmermann als fiktive Gestalt „Hans Georg Zimmermann“ auftreten lässt, „gerahmt wird die Darstellung von zwei Gesprächen des Arztes mit der Melancholie, die ihn von Anbeginn bis zum letzten Tag seines Lebens begleitete“.51 Warum beschäftigt sich die Verfasserin einer zweibändigen Romantik-Studie mit einem damals weithin vergessenen Autor, dem immer wieder präromantische Züge zugeschrieben worden sind? Vielleicht er-

45 46

47 48 49 50 51

62

stitution – Julie Bondelis Krankheitsberichte, in: Gesundheit und Krankheit im 18. Jahrhundert. Hg. v. H. Holzhey und U. Boschung. Amsterdam/New York 1995, S. 5–17. Hannover 1874. Hannover 1885. Eine Überprüfung der Haller-Briefe an Zimmermann im Nachlass der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover (Ms XLII 1933, A II 39) zeigt, dass Bodemanns editorische Praxis reichlich willkürlich verfährt, indem er etwa Briefe zusammenzieht, ohne dies kenntlich zu machen, abgesehen davon, dass er handschriftliche Notizen in den Originalbriefen hinterlassen hat. Hannover und Leipzig 1906. Luginbühl 1890, S. 4. Briefe von Goethe und Frau von Stein an Joh. Georg Zimmermann. Veröffentlicht von Bernhard Suphan. Wartburgstimmen Maiheft I. Eisenach und Leipzig 1904, S. 178. Friedrich des Grossen letzte Tage. Erinnerungen von Johann Georg Zimmermann. Mit Zimmermanns tragischer Biographie von Ricarda Huch. Im Rhein-Verlag zu Basel 1920. L. Kurth-Voigt in: Zimmermanns Über die Einsamkeit (1784/85): Zur Rezeption des Werkes, in: Modern Language Notes 116/3, April 2001, S. 587.

schien ihr Zimmermann als besonders geeignetes historisches Beispiel für die Virulenz einer Vereinheitlichungsaufgabe des modernen Menschen, dem die Einheit von Natur und Geist, von Unbewusstem und Bewusstem problematisch geworden sind. Eine Hassliebe, die mancherlei Schwankungen unterworfen sei, verbinde Zimmermann mit seiner Schweizer Heimat. Ricarda Huch deutet Zimmermanns Heimatlosigkeit psychologisch, indem sie in ihm den Renegaten sieht, der, enggeistigem Gross- und Kleinbürgertum entflohen, an aufgeklärten Höfen Bildung, Humanität und Sitte bestaunt; der etikettesichere Hannöversche Leibarzt, mit dem die grosse Katharina Briefe wechselt; der heimliche glühende Patriot, der seine Heimat um so leidenschaftlicher liebt, je unglücklicher diese Liebe ist.52 1925 stellt Auguste Bouvier mit seiner geschliffen geschriebenen, von Gonzague de Reynold und Adolf Frey mitangeregten Genfer Thèse, Jean Georges Zimmermann. Un représentant suisse du cosmopolitisme littéraire du 18e siècle, eine mehr geistesgeschichtlich ausgerichtete Studie an die Seite von Ischers positivistischer Doktorarbeit. Bouvier, der Zimmermann dem Vergessen entreißen möchte,53 sieht in ihm einen Vorläufer des „romantisme“: „Il est plus qu’un précurseur du romantisme: il présente tous les caractères de l’écrivain romantique“54 und betont seine vielgestaltige Vermittlertätigkeit55 sowie seine vorausweisende Modernität, etwa in der ansatzweisen Vorwegnahme psychoanalytischen Gedankenguts. Zerrissenheit ist für Bouvier das Wesensgesetz, nach dem Zimmermann angetreten sei: „Les difficultés que Zimmermann eut à surmonter dans la vie tiennent tout entières dans ce mot: désaccord“.56 Von den acht Kapiteln behandeln drei die Biographie (Jeunesse et études – Brugg – Hanovre), je zwei Zimmermanns „Caractère et tempérament“ und die medizinischen Schriften, resp. die Besprechung der Werke über den Nationalstolz und die Einsamkeit. Die „Conclusion“ – „Le romantisme de Zimmermann“ – betont Zeitgebundenheit wie überzeitliche Gültigkeit vor allem seines Hauptwerks: Lors même que Zimmermann, épris de progrès, veut franchir les étapes et se dégager de son temps, il se relève encore contenu par le cadre social et intellectuel du XVIIIe siècle […] Ce qui lui (sc. dem Werk über die Einsamkeit) donne une valeur durable, c’est ce qu’il montre de simplement humain, miroir grossissant et cependant fidèle, où se reflète, à côté de l’homme et de son temps, l’image d’une Vérité tour à tour sévère, mélancolique ou moqueuse.57

Die Obereit-Polemik wird gänzlich ausgeblendet, wissenschaftsgeschichtliche Bezüge kommen nur am Rande vor.

52 53 54 55 56 57

Friedrich des Grossen letzte Tage. Erinnerungen von J. G. Zimmermann. Mit Zimmermanns tragischer Biographie von Ricarda Huch. Basel 1920, S. 103. „Il est donc un oublié“. Bouvier 1925, S. 1. Bouvier 1925, S. 2. Bouvier 1925, S. 3: „ce rôle d’intermédiaire […]“. Bouvier 1925, S. 239. Bouvier 1925, S. 240.

63

Anlässlich von Zimmermanns 200. Geburtstag widmet die noch junge Schweizerische Medizinische Wochenschrift, auf die Pflege schweizerischen Patrimoniums bedacht, dem weitgehend Vergessenen zum 8. Dezember 1928 eine Sondernummer.58 Die sechs Arbeiten stammen von A. Bouvier, H. E. Sigerist, J. Karcher, A. Kielholz, O. Temkin und R. von Fellenberg. Sie beleuchten von medizinhistorischem Standpunkt aus aspektreich vor allem den „Krankheitsfall Zimmermann“. Der Schweizer Medizinhistoriker H. E. Sigerist, der vor seiner Emigration in die USA am Institut für Geschichte der Medizin in Leipzig lehrte, stellt in seinem Beitrag die rhetorische Frage: Aber wem würde es heute einfallen, zu diesem Werk zu greifen? Ist der Literat Zimmermann vergessen, so ist es der Arzt in noch viel höherem Masse […] Die Entwicklung der Medizin ist in keiner Weise von ihm beeinflusst worden. Wir wissen, dass er kein überragender Geist, kein schöpferischer Mensch war. Hätte es ihn nicht gegeben, die Welt wäre kaum ärmer gewesen.59

Rund 150 Jahre früher hingegen fragt, auch rhetorisch, allerdings in gegenteiligem Sinn und bezogen auf Zimmermanns Widmung an Frau v. Döring (I, XX),60 eine zeitgenössische Rezension zum Einsamkeitswerk: „Darf dieser Mann fürchten, dass einst sein Name in Teutschland erlöschen werde, wie eine Seifenblase?“.61 Sigerist, der insbesondere auf das Verhältnis Haller und Zimmermann sowie dessen Tätigkeit als Leibarzt des Königs von England in Hannover eingeht, würdigt Zimmermann hingegen später in seinen wiederholt aufgelegten Grossen Ärzten im Rahmen des Kapitels über Haller.62 O. Temkin, der nach 1932 neben Sigerist der führende amerikanische Medizinhistoriker wurde, behandelt anhand der Erfahrung in der Arzneykunst Zimmermanns Philosophie des Arztes.63 Die historische Leistung Zimmermanns sieht Temkin darin begründet, „dass er (sc. in seinem Buch über die Erfahrung) nicht nur die Rolle aufweist, die die Erfahrung in der Medizin spielt, sondern dass er den Typus des Arztes aufstellt, wie ihn seine Zeit forderte, und wie ihn die Medizin selbst zu ihrer weiteren Entwicklung bedurfte“.64

58 59 60

61

62 63 64

64

Schweiz. Med. Wochenschrift Nr. 49 vom 8. Dezember 1928, S. 1197–1222. Schweiz. Med. Wochenschrift Nr. 49 vom 8. Dezember 1928, S. 1200. Immerhin fügt Sigerist hinzu: „Was uns an ihm fesselt, ist der Mensch, sein menschliches Schicksal“. „Ach wie vieles wird […] bey Ihnen, und einer andern guten und geliebten Seele, auch alsdann noch oft von mir und für mich sprechen, wenn ich nicht mehr bin, und wenn in Deutschland mein Name erloschen seyn wird, wie eine Seifenblase“ (I, XX). Vgl. III, 31: „Ja, Seifenschaum ist wenigstens ein grosser Theil dieses Buches für die Bärte der Weltüberwinder“. Historische Litteratur für das Jahr 1784. 9. Stück, September, S. 202. NLB : MS LXII, 1933, B 35. Gegen Wichmann gerichtet, fragt Zimmermanns Freund Marcard zuversichtlich in seiner Schrift von 1796, S. 17: „Was wird übrig bleiben, um die vieljährige Meynung der Welt zu rechtfertigen?“. Sigerist, Henry E., Grosse Ärzte. Eine Geschichte der Heilkunde in Lebensbildern. 6. verbesserte Auflage. München 1970, S. 177. Auch O. Temkin, The Double Face of Janus. Baltimore, London 1977, S. 239–245. Temkin 1928, S. 1218.

Kielholz gibt ein psychiatrisches Gutachten65 ab. Zimmermann sei, erblich belastet, stark depressiv gewesen. Er habe sich stets für psychische Symptome und Affektionen, für psychologische Auffassung und Behandlung aller Krankheiten interessiert, war als guter Beobachter seiner Patienten und seiner selbst durch sein reizbares Temperament und seine sensible Konstitution zur Einfühlung praedestiniert und hat so Erkenntnisse gewonnen und angeregt, die heute (sc. 1928) noch die Beachtung speziell des Psychiaters verdienen.66 Der Tod eines gleichnamigen Bruders, der, 1725 geboren, im Alter von zweieinhalb Jahren starb, sei nicht ohne weitreichendere Einflüsse auf Zimmermanns psychischen Haushalt geblieben. Sein Streben nach Unsterblichkeit hänge damit zusammen.67 Kielholz gelangt zu folgender Diagnose: „Aus schizothymer Spannung zwischen polaren Gegensätzen entsprang die unermüdliche Tätigkeit des Arztes und Schriftstellers, entsprossen seine Werke und sein Ruhm, daraus entwickelte sich aber auch sein Leiden“.68 J. Karcher referiert eingehend Zimmermanns Dissertatio physiologica de Irritabilitate, die Erfahrung in der Arzneykunst und die Ruhr-Schrift. Die Bedeutung Zimmermanns für Lavaters Physiognomik untersucht vor den Arbeiten August Ohages69 Heinrich Funk in einem Aufsatz von 1926: „Zimmermann als Charakterologe. Sein Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten“.70 E. Olivier widmet dem Verhältnis Zimmermanns zum Urinbeschauer Micheli Schüppach im bernischen Langnau eine aufschlussreiche Miszelle.71 Im 1931 erschienenen Aufsatz Der Dichter und die neue Einsamkeit spricht Walther Rehm vom „grossen und höchst zwiespältigen Werk über die Einsamkeit“,72 wobei Zimmermann in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang mit Rousseau, Shaftesbury und Bolingbroke und, über Zwischenglieder, zu Montaigne gebracht wird. In den 1930er Jahren werden drei Zimmermann gewidmete Monographien publiziert: die geistesgeschichtlich ausgerichtete Dissertation von Friso Melzer: „J. G. Zimmermanns Einsamkeit in ihrer Stellung im Geistesleben des ausgehenden 18. Jahrhunderts“,73 die im Umkreis der problemgeschichtlichen Schule Ru65 66 67

68 69 70 71 72 73

Vgl. auch Arthur Kielholz, Johann Georg Zimmermann zum zweihundertsten Geburtstag. Ein pathographischer Versuch, in: Imago 25 (1929), S. 241–262. Kielholz 1928, S. 1212. „Er suchte […] jene Unsterblichkeit zu erreichen, die sein gleichnamiger Bruder im Andenken seiner Eltern sich erworben hatte, und von dem er wohl in zarter Jugend viel als einem ewigen Bürger der himmlishcen Seligkeit erzählen hörte“. Kielholz 1928, S. 1213. Kielholz 1928, S. 1215. Vgl. Schramm 1998, S. 109–122, beso. S. 114f.: „Zimmermanns Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten“. Euphorion 27 (1926), S. 521–534. E. Olivier, La visite de J. G. Zimmermann à Michel Schuppach, in: Schweizerische Medizinische Wochenschrift Nr. 14 vom 6. April 1929, S. 381–384. Walther Rehm, Der Dichter und die neue Einsamkeit. Aufsätze zur Literatur um 1900. Göttingen 1969, S. 9. Zuerst: Zeitschrift für Deutschkunde 1931, S. 547. Breslau 1930.

65

dolf Ungers entstandene Münchner Doktorarbeit Leo Maduschkas, „Das Problem der Einsamkeit im 18. Jahrhundert, im besonderen bei J. G. Zimmermann“74 und die Gegenüberstellung von Obereit und Zimmermann durch Werner Milch, „Die Einsamkeit. Zimmermann und Obereit im Kampf um die Überwindung der Aufklärung“.75 Weder Melzer noch Maduschka erwähnen den französisch schreibenden Bouvier. Beide tragen der Frankophonie Zimmermanns keine Rechnung, obwohl wichtige Teile des Briefwechsels in französischer Sprache geschrieben sind. Melzer zielt auf den geistesgeschichtlich-philosophischen Gehalt des Werks, und Maduschka, der die Bedeutung der religiösen Dimension für Zimmermann vernachlässigt, ja negiert, richtet sein Augenmerk vorerst auf die als epochales Problem verstandene Einsamkeit, um Melzers zuerst publizierter Dissertation auszuweichen. Die Einsamkeitsthematik wird schließlich bei Zimmermann studiert. Obwohl Maduschka Zimmermanns Übergangszeitlichkeit vermerkt, versucht er, der Einsamkeitsproblematik mit Jonglieren von Epochenbegriffen76 beizukommen. Dabei wird Zimmermann etwas plakativ als Prototyp des vernunftgläubigen Popularphilosophen bezeichnet. Milchs 1937 erschienene, noch immer lesenswerte Doppelbiographie weiß sich Melzer verpflichtet und stellt, gegen Ischers Obereit-Bild gerichtet, die beiden Kontrahenten Zimmermann und den nicht akademisch gebildeten Obereit, dessen „Spintisiererei bestes Schweizer Erbe“77 sei, einander gegenüber. Die beiden Schweizer würden in der Einschätzung des Mönchswesens und der damit verbundenen Bedeutung der Einsamkeit, deren Freund beide seien, divergieren. Während eine „erkleckliche Menge“ wissenschaftlicher Literatur zu Zimmermann erschienen sei und sich die einschlägigen Kompendien nachdrücklich mit ihm beschäftigt hätten, habe sich von Obereits Wirken hingegen „kaum eine Spur erhalten“.78 Milch möchte, im Sinne einer Ehrenrettung, dem verkannten Obereit historische Gerechtigkeit widerfahren lassen,79 indem er zugleich Zimmermanns Ruhm relativiert, obwohl dieser noch in den 1930er Jahren zu den „hervorragenden Ärzten aller Zeiten und Völker“ gezählt wird.80 Milch sieht Zimmermann pauschalisierend als „den nahezu typischen Exponenten einer Generation, der in

74 75 76

77 78 79 80

66

München 1932. Die Schweiz im deutschen Geistesleben, Bde. 83–85. Frauenfeld und Leipzig 1937. Vgl. Zweiter Teil. Das Problem der Einsamkeit im 18. Jahrhundert. I. „Rationalismus, Aufklärung und Einsamkeit“ S. 17ff., II. „Mystik, Pietismus und Einsamkeit“ S. 22ff., III. „Sentimentalismus, Empfindsamkeit und Einsamkeit“ S. 29ff., V. „Sturm und Drang und Einsamkeit“ S. 56ff., VI. „Klassiker und Einsamkeit“ S. 66ff. Milch 1937, S. 10. Milch 1937, S. 14. „Obereit hat seinen Platz in der Geistesgeschichte verdient als selbständiger Denker, nicht nur als ein kleiner von Zimmermann in seine Schranken gewiesener Literat“. Milch 1937, S. 23. Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker. Hg. v. A. Hirsch. Fünfter Band. Berlin und Wien 1934, S. 1042–1043 (W.Stricker).

Jahrzehnten dachte und seinen Gegner verlachte, weil sein Denken in Jahrhunderten rechtens Schwärmerei heissen durfte“.81 In Josef Nadlers 1932 erschienener Literaturgeschichte der deutschen Schweiz und in Emil Ermatingers Dichtung und Geistesleben der deutschen Schweiz von 1933 dominiert eine undifferenzierende Abwertung Zimmermanns. Nadlers verständnislose Abfertigung umfasst knapp zwei Seiten. Er hebt die charakterlichen Gegensätze Zimmermanns hervor – „spöttisch und gläubig, zweifelsüchtig und ernst, geschmacklos witzelnd und schwungvoll überredend“82 – und attestiert ihm, der erste Schriftsteller gewesen zu sein, dessen Ruhm mit der Schweiz selber verbunden gewesen sei. Der „eitle und ehrgeizige, hochmütige und lobsüchtige Mann“83 habe allerdings durch das Werk Über die Einsamkeit eine enttäuschte Rechnung mit der Gesellschaft beglichen. Es sei ein Buch galligen Überdrusses und jener Menschenverachtung, in der die Aufklärung des philosophischen Jahrhunderts sich selber zum Ekel wurde […] Dieser kalte Menschenkenner und leidenschaftliche Sittenmaler hat an nichts geglaubt als an seine Ansprüche und nichts geliebt als die Sätze, die er feilte. Er redet mit einem Munde die Sprache des Leichtsinns und der Würde. Er versteht sich auf den Schwung des Selbstbetruges, der wie Begeisterung aussieht.84 Ähnlich diagnostiziert Ermatinger, der Zimmermann als Popularphilosophen ohne persönliche Weltanschauung versteht, „eine Ich-Besessenheit“85 mit unersättlichem Geltungsdrang. Zum Einsamkeitswerk stellt er fest: „Zimmermann verdammt die Welt nicht. Im Grunde liebt er sie, wie sein Leben zeigt, und er flüchtet sich nur in die Einsamkeit, weil die Welt seine Ansprüche nicht erfüllt. Dieser Zwiespalt einer an der Gesellschaft leidenden Seele bildet die eigentliche Idee des Buches“.86 Seine assoziativ schweifende, widersprüchlich unsystematische Komposition bestehe aus „lose aneinandergereihten Betrachtungen, Aphorismen, Beobachtungen, Ergüssen, Anekdoten, Ausfällen“.87 Offenbar verzeiht Ermatinger Zimmermanns als unschweizerisch aufgefasste Fürstendienerei nicht – er spricht von literarischer „Reisläuferei“. „Aber auch sein Groll gegen die Demokratie und die kleinlichen Verhältnisse der Schweiz“ mache sich im Einsamkeitswerk Luft.88 Der Schweizer Literarhistoriker Walter Muschg folgt in der moralischen Verurteilung Zimmermanns seinem wissenschaftlichen Antipoden Nadler wie 81

82 83 84 85 86 87 88

Milch 1937, S. 9. Insbesondere fragwürdig ist seine Behauptung, die Weimarer Klassik habe keinerlei Widerhall in Zimmermanns Werken gefunden, „die in den engen Bahnen einer ‚Aufklärung‘, wie sie die Mitte des Jahrhunderts verstand, befangen blieben“ (S. 17). Nadler, Josef, Literaturgeschichte der deutschen Schweiz. Leipzig u. Zürich 1932, S. 302. Nadler 1932, S. 302. Nadler 1932, S. 302f. Ermatinger, Emil, Dichtung und Geistesleben der deutschen Schweiz. München 1933, S. 444. Ermatinger 1933., S. 445. Ermatinger 1933, S. 446. Ermatinger 1933, S.°446. Warum Ermatinger vor 1798 für die Schweizer Verhältnisse von „Demokratie“ sprechen kann, bleibt unklar!

67

seinem Lehrer Ermatinger. Zimmermann ist für Muschg „der unstete Literat des achtzehnten Jahrhunderts“.89 Die Typologie seiner „Tragischen Literaturgeschichte“ klassifiziert ihn unter „Entweihung“ als „Poetentragik“.90 Ein 1937 in Braunschweig erschienener Faksimiledruck der Erstauflage Vom Nationalstolz von 1758 sieht Zimmermanns Werk über den Nationalstolz zwar schweizerisch geprägt, aber er lasse sein „im ganzen freilich mehr spontanen Stimmungen folgendes als planvoll angelegtes Werk dahin ausklingen, dass der wahre Nationalstolz nichts anderes sei als die Liebe zum Vaterlande“.91 Durch dieses dem Herausgeber sympathische Ethos werde das Werk gekrönt, „das uns im übrigen nur als eine etwas bunte Aneinanderreihung willkürlich gewählter geschichtlicher und völkerpsychologischer Kenntnisse erscheinen will“.92 Während der Zeit der geistigen Landesverteidigung gilt Zimmermann 1938 auch in der Schweiz als einer der 110 „grossen Schweizer“.93

3.2 Publikationen nach 1945 Die wissenschaftliche Erforschung der schweizerischen Aufklärung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhält im Gefolge der 68er-Bewegung neuen Auftrieb, der zusätzlich dadurch verstärkt wird, dass im späteren 18. Jahrhundert die von Koselleck als Sattelzeit bezeichnete „eigentliche“ Neuzeit beginne. Dieses verstärkte Interesse an der rupture (Foucault) der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bewirkt eine Intensivierung auch der schweizerischen Literaturgeschichtsforschung und ruft in der Folge Forschungen und Editionsvorhaben zu Lavater, Bonnet, Bräker, Bonstetten, Iselin, Bodmer u.a. ins Leben. Um Zimmermann kümmert sich niemand ernsthaft. Nach Gert Mattenklotts Studie zur Melancholie im Sturm und Drang-Drama von 196894 beleben die Arbeiten von Lepenies und Schings die Melancholie-Forschung neu, wodurch mittelbar auch Zimmermann ins Blickfeld einer literaturanthropologischen Aufklärungsforschung rückt. Nachdem Claude Bernard 1865 Zimmermanns Erfahrungs- und Beobachtungsbegriff zum Ausgangspunkt seiner Er-

89 90

91 92 93 94

68

Muschg, Walter, Tragische Literaturgeschichte. Bern 1948. 3. Aufl. 1957, S. 331. Muschg, W. 1957, S. 331. Wenig differenzierend urteilt Walter Muschg über Zimmermanns Einsamkeitsbegriff, der nur als negativer Wert eingestuft wird, als Abwesenheit aller Störungen. Petrarca wird zum direkten Vorfahren Zimmermanns, für den gleichermassen gelte: „Alles, was er sagte und tat, war Pose, es stand kein gelebtes Leben dahinter, und er wusste es und genoss den unlösbaren Widerspruch seines Wesens“ (S. 331). Johann Georg Zimmermann, Vom Nationalstolz. Hg. u. eingeleitet von Konrad Beste. Braunschweig 1937 (Die Seltenheiten der Weltliteratur), Einleitung (unpaginiert). Vom Nationalstolz 1937, Einleitung (unpaginiert). Grosse Schweizer. Hundertzehn Bildnisse zur eidgenössischen Geschichte und Kultur. Zürich 1938, S. 311–318. Autor von Zimmermanns „Bildnis“ ist A. Bouvier. Mattenklott, Gert, Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. Stuttgart 1968.

örterungen genommen hat, steht auch Michel Foucault in seiner 1963 erstmals erschienenen Naissance de la clinique. Une archéologie du regard médical in dieser Tradition einer französischen Wertschätzung Zimmermanns.95 Für Foucault ist Zimmermann ein typischer Vertreter einer klassifizierenden, vorklinischen Medizin: La clinique apparaît comme un nouveau profil, pour l’expérience du médecin, du perceptible et de l’énonçable […] Cette nouvelle structure est signalée […] par le changement infime et décisif qui a substitué à la question: „Qu`avez-vous? “, par quoi s’inaugurait au XVIIIe siècle le dialogue du médecin et du malade avec sa grammaire et son style propres, cette autre où nous reconnaissons le jeu de la clinique et le principe de tout son discours: „Où avez-vous mal?“.96

Zimmermanns Bestimmung von Symptom und Zeichen in der Erfahrung in der Arzneykunst ist für Foucault paradigmatisch für die klassifizierende Medizin.97 Die veränderte Funktionsweise des medizinischen Blicks im Horizont ihres Wechsels zu einer „spatialisation institutionnelle de la maladie“98 findet Foucaults ausgesprochenes Interesse, „une réorganisation épistémologique de la maladie où les limites du visible et de l’invisible suivent un nouveau dessin; l’abîme d’en dessous le mal et qui était le mal lui-même vient de surgir dans la lumière du langage“.99 Zimmermann, der an der Krankheit Melancholie zeit seines Lebens leidet und 1763 ein Werk über Melancholie und Hypochondrie plant,100 ist für Lepenies in Melancholie und Gesellschaft (1969),101 im Gegensatz zu Schings, ein Kronzeuge bürgerlicher Einsamkeitssehnsucht und Melancholie. Melancholie wird von Lepenies als „bürgerliches Leiden und als Leiden an der bürgerlichen Gesellschaft“ interpretiert: Gerade die politische und ökonomische Rückständigkeit Deutschlands im 18. Jahrhundert hätten das deutsche Bürgertum anfällig für die Melancholie gemacht, die als Folge der aufgezwungenen politischen Abstinenz in der kompensatorisch ausgeweiteten Literatur ihren Ausdruck gefunden habe. Allerdings habe diese Art der Bewältigung das Bürgertum auch zu politisch-revolutionärem Handeln unfähig gemacht.102

Im vierten Kapitel, Zum Ursprung bürgerlicher Melancholie: Deutschland im 18. Jahrhundert, erklärt Lepenies, dass Einsamkeit das Thema dieses Jahrhunderts gewesen sei und Zimmermanns Einsamkeitsauffassung sich besonders eigne, die Affinität zum melancholischen Denken der Zeit aufzuweisen: 95 96

Vgl. Lohff 1997, S. 175ff. Foucault 1963, Préface, S. XIV. Vgl. zur Kritik an Foucaults Zimmermann-Verständnis: 12.1.2. Zentrale Begriffe von Zimmermanns Therapieverständnis, S. 380ff. 97 Foucault 1963, S. 90f. 98 Foucault 1963, S. 19. 99 Foucault 1963, S. 199. 100 Brief Zimmermanns an Hirzel vom 12. April 1763. ZZH, FA Hirzel 238, 89. 101 Frankfurt/M. 1969. Neuauflage 1998: Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt/M. 1998. 102 Schneider 1987, S. 9.

69

In seiner Einsamkeits-Neigung schafft sich das Bürgertum des 18. Jahrhunderts die Vorbedingung für die Wertschätzung der Melancholie. Ohnmächtig angesichts der Herrschaft des Adels wird Natur der Gesellschaft vorgezogen […] Die Innerlichkeit, die die deutsche bürgerliche Literatur zu einem grossen Teil im 18. Jahrhundert propagiert, wird erst möglich durch das Ausspielen von Einsamkeit gegen Gesellschaft, Genie gegen Weltling, Muße gegen (adelige) Langeweile, Land gegen Stadt, Kleinstadt gegen Residenz, Natur gegen Sozietät und innerlicher Freiheit gegen äusseren Zwang.103

Schings hingegen führt Zimmermann in seiner Habilitationsschrift, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts (1977),104 als führenden anti-melancholischen Vertreter der deutschen Aufklärung an: Der „philosophische Arzt“ Zimmermann, Lepenies’ Hauptzeuge für die Melancholie des deutschen Bürgertums, gibt […] allen Anlass, die pauschale These zu revidieren, zumindest zu differenzieren. Sollte es eine „bürgerliche“ Melancholie geben, so gibt es auch eine nicht weniger bürgerliche Kampfansage an die Melancholie. Und diese ist für das Gesamtbild der Aufklärung dominant […].105

Schings’ Argumentation weiss bemerkenswerterweise „ausgesprochen pietistische Züge“106 in Zimmermanns Plädoyer für die wahre Einsamkeit auszumachen. An Schings’ Arbeit ist von Wolfram Mauser kritisiert worden, dass eine eigentliche These fehle, indem bei der Auswertung des Erkannten Zurückhaltung geübt werde, was einen beinahe vollständigen Erklärungsverzicht hervorrufe, „auch im Hinblick auf die Fragen, die Schings selbst stellt“.107 Matthias Reiber gewinnt durch seine Analyse „Anatomie eines Bestsellers. Johann August Unzers Wochenschrift Der Arzt (1759–1764)“ den Eindruck und die zutreffende Überzeugung, dass terminologische Verbindlichkeit eher Sache der Schings-Schule gewesen sei, als dass sie ein Anliegen Platners und Weikards – und Zimmermanns – gewesen wäre: Denn überall dort, wo nach der Vorgabe Schings’ die Ideengeschichte der „Anthropologie“ betreibenden philosophischen Ärzte rekapituliert wird, darf diese erst bei Platner oder Weikard beginnen, als jener nämlich den Begriff „Anthropologie“ „inthronisiert“ oder dieser das „Kennwort“ vom philosophischen Arzt „geliefert“ habe.108

103 104 105

Lepenies, Wolf, Melancholie und Gesellschaft (wie vorhergehende Anm.), S. 89f. Stuttgart 1977. Schings 1977, S. 224. Weiter heisst es: „Wir konnten uns davon überzeugen, dass Zimmermann, alles andere als ein Einzelfall, einer eingeschliffenen aufklärerischen Tradition folgt. Die Kritik der Melancholie, ihrer enthusiastischen und fanatischen Konsequenzen, gehört geradezu zur Definition der Aufklärung“. S. 222 stellt Schings fest: „Trotz idyllisch-weltflüchtiger Anklänge, die man gelegentlich wahrnehmen mag, hat das freilich mit Eskapismus wenig zu tun […] Einsamkeit gilt als Reservat moralischer und intellektueller Kräfte, die dazu bestimmt sind, in der Gesellschaft, zur Verbesserung der Menschen zu wirken“. 106 Schings 1977, S. 221. 107 Mauser, Wolfram, Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik, in: Lessing-Yearbook 13 (1981), S. 262. 108 Reiber 1999, S. 48. Reiber zitiert die medizinhistorische Dissertation von Stefan Schneider zur Hypochondrie-Problematik bei Unzer (1987) nicht.

70

Schon vor der Mitte des 18. Jahrhunderts ertönt in Unzers Jugendschriften der Ruf nach einer „mitleren Wissenschaft“, nach einer Koalition von Philosophen und Ärzten.109 Die von Unzer postulierte medizinisch-philosophische Synthese einer „mitleren Wissenschaft“ sei in der Sache identisch mit Platners AnthropologieDefinition von 1772.110 Carsten Zelle bekräftigt mit seinen wegweisenden Arbeiten zu Begriff und Datierung der „Anthropologie“ diese Beurteilung und hat sie argumentativ weiter fundiert.111 Ohne Position zu beziehen, gibt Toellner grundsätzlich zu bedenken, dass im Falle Zimmermanns wichtig wäre, die „Verwahrlosungstendenz der Hypochondriebegriffe im 18. Jahrhundert“ zu berücksichtigen, „ehe man Melancholie – positiv oder negativ – zur Signatur eines Zeitalterbewusstseins macht“.112 Fischer-Homberger weiss z.B. einige, im 18. Jahrhundert weitgehend synonyme Bezeichnungen anzuführen, wie Hypochondrie, Hysterie, malum hypochondriacum, English malady, splenn, Milzsucht, vapeurs, Dünste und Blähungen, windige Melancholey.113 Mit Irmgard Egger könnte man vermittelnd die Schlussfolgerung ziehen: „Zimmermann kann sowohl als einer der entschiedensten Melancholiekritiker der Aufklärung gelten (Schings), wie er auch gleichzeitig selbst Teil der Melancholie des bürgerlichen Zeitalters ist (Lepenies)“.114 Im sechsten Band der Geschichte der deutschen Literatur, Aufklärung, Sturm und Drang, Frühe Klassik (1740–1789), wird Zimmermanns Bedeutung als philosophischer Arzt im erfahrungspsychologischen „Einbruch“ der deutschen Spätaufklärung betont. Er habe in der Erfahrung in der Arzneykunst von 1763/64 die Möglichkeiten der Medizin, der „Erfahrungsseelenkunde“ eine physiologisch tragfähige Grundlage zu geben, untersucht, während er im Werk Über die Einsamkeit von 1784/85 die Optik ausweite auf die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Soziabilität des Menschen.115 Eine immerhin „respektable Reihe von Aufsätzen und Untersuchungen zu einzelnen Fragen“116 hat sich seit 1968 mit Zimmermann beschäftigt.117 Adolf 109 110 111 112

Reiber 1999, S. 49. Reiber 1999, S. 50. Vgl. 12. Medizinhistorische Aspekte und wissenschaftsgeschichtliche Bezüge, S. 358ff. Toellner 1979, S. 16. Die Diagnose „Verwahrlosungstendenz des Hypochondriebegriffs“ stammt aus der Abhandlung von Esther Fischer-Homberger, Hypochondrie, Melancholie bis Neurose: Krankheiten und Zustandsbilder. Bern / Stuttgart / Wien 1970, S. 52–57. 113 Fischer-Homberger 1970, S. 37f. 114 Egger, Irmgard, Goethe liest Zimmermann. Die Bedeutung der Einsamkeit für Wilhelm Meisters Lehrjahre und die Wahlverwandtschaften, in: Schramm 1998, S. 175. 115 Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Band 6: „Aufklärung, Sturm und Drang, Frühe Klassik (1740–1789)“ von S. A. Jörgensen u.a. München 1990, S. 62ff. 116 Banholzer 1997, S. 61. 117 An neueren und neuesten Arbeiten seien in diesem Zusammenhang erwähnt: Simone Zurbuchen, Berliner ‚Exil‘ und Schweizer ‚Heimat‘: Johann Georg Zimmermanns Reflexionen über die Rolle des Schweizer Gelehrten, in: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Hg. v. M. Fontius und H. Holzhey. Berlin 1996, S. 57–68; Christoph Weiss, J. G. Zimmermann und die ‚politische Mordbrennerey in Europa‘, in: Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“. Gegen-

71

Rohr, der 1971 Philipp Albert Stapfers Briefwechsel (1789–1791) publizierte,118 setzt sich in seiner Stapfer-Biographie von 1998119 allerdings entschieden für Zimmermann ein und ermahnt die schweizerische Aufklärungsforschung, „nachzubessern“. In der „Kurzen Geschichte der grossen Schweizer Ärzte“ von 1975 figuriert Zimmermann im Kapitel Aufklärung neben Haller, Daniel Bernoulli, Tronchin, Tissot, Venel, Hirzel und Rahn.120 Dass Zimmermanns Persönlichkeit und Werk auch in der medizinhistorischen Forschung der letzten dreißig Jahre nicht vergessen sind, belegen Beiträge, die sich um ein sachgerechtes Urteil bemühen, insbesondere, was Zimmermanns Beitrag zur Irritabilitätslehre betrifft.121 Die Aufsätze von Erwin H. Ackerknecht122 und Richard Toellner123 beleuchten im eigentlichen Sinn kritisch das Phänomen Zimmermann von medizinhistorischer Warte aus. Ackerknecht legt dar, dass die „Erfahrung“ „nichts über Experimente und erstaunlich wenig wirklich Beobachtetes“ enthalte. Mit den damals neuesten Fortschritten der medizinischen Wissenschaft, wie Perkussion oder effiziente Skorbutbehandlung, sei Zimmermann nicht vertraut, einzig auf dem Gebiet des Seelischen nimmt er manches vorweg wie „Organminderwertigkeit“ oder „Refoulement“, lässt sich aber auch zu solchen

aufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert. Hg. v. Christoph Weiss in Zusammenarbeit mit W. Albrecht (Literatur im historischen Kontext, Bd. 1). St. Ingbert 1997; René v. Niederhäusern, Die ‚heiligen Halunken‘. Einsamkeit und Eremitentum bei J. G. Zimmermann (1728–1795), in: R. Velhagen (Hg.), Eremiten und Ermitagen in der Kunst vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Ausstellungskatalog Basel 1993, S. 38– 46; Barbara Stüssi-Lauterburg, Johann Georg Zimmermann (8. Dezember 1728 – 7. Oktober 1795). Die Einsamkeit des konservativen Intellektuellen. Separatdruck aus Familienforschung Schweiz. Jahrbuch 1996, S. 27–50. Vgl. Barbara Stüssi-Lauterburg, „Von Thalheim nach Brugg. Briefe von Georg Ludwig Schmid d’Auenstein an Johann Georg Zimmermann“, in: Brugger Neujahrsblätter 99 (1989), S. 141–155. 118 Stapfer, Philipp Albert, Briefwechsel 1789–1791 und Reisetagebuch. Mit Einf. u. Komm. aus dem handschriftlichen Nachlass Hg. v. Adolf Rohr. Aarau 1971. Insgesamt acht Briefe an Zimmermann, nachdem Rudolf Luginbühl 1890 („Briefe von J. G. Zimmermann, E. v. Fellenberg, S. Schnell, K. Schnell an Ph. A. Stapfer“, in: Arch HVB XIII/1) Briefe Zimmermanns an Stapfer veröffentlicht hatte. 119 Rohr, Adolf, Stapfer, Philipp Albert. Eine Biographie. Im alten Bern vom Ancien régime zur Revolution (1766–1798). Bern 1998. 120 Erwin H. Ackerknecht, Heinrich Buess, Kurze Geschichte der grossen Schweizer Ärzte. Bern 1975, S. 43f. Vgl. auch die Studie von Erwin H. Ackerknecht, Johann Georg Zimmermann (1728–1795). Zu seinem 250. Geburtstag, in: Gesnerus 35 {1978), S. 224–229. 121 Schmallenbach, Hans-Joachim, Johann Georg Zimmermann und die Irritabilitätslehre. Diss. med. Münster 1967. Klaus Sproedt, Analyse von Zimmermanns „Erfahrung in der Arzneykunst“. Diss. med. Münster 1970. Bereits 1948 erschien in Düsseldorf die Dissertation von Rolf Hartwig „Die hypochondrisch-depressive Grundstimmung im Leben und in den Werken des Arztes und Popularphilosophen Johann Georg Zimmermann“. 122 Zimmermann, Johann Georg (1728–1795). Zu seinem 250. Geburtstag, in: Gesnerus 35 (1978), S. 224–229. 123 Zimmermann, Johann Georg (1728–1795). Der Arzt als Genie oder über die Gewissheit der Vorhersage in der Heilkunst, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 2 (1979), S. 13–24.

72

psychogenetischen Exzessen hinreissen wie die Erklärung von Pockenepidemien und Ruhrepidemien als psychisch bedingt.124 Zimmermanns an Rousseau orientiertes Lob der Einsamkeit sei „in eine Art präromantische Trauer gehüllt“,125 enthalte allerdings einsichtige psychiatrische Krankheitsbeschreibungen. Toellner, der Zimmermann attestiert, „einer der glänzendsten Prosaisten der deutschen Aufklärung“126 zu sein, hebt die zentrale Rolle von Zimmermanns Geniebegriff für sein medizinisches Denken hervor: „Der gute Arzt ist der geniale Arzt“.127 In der „Erfahrung“ sieht Toellner Zimmermanns „eigenständigste und wirkmächtigste Leistung“.128 Obwohl diese Theorie der Medizin als Erfahrungswissenschaft weder Neues noch Originelles biete und sich bewusst nicht an gelehrte Fachgenossen richte, habe das Buch eine breitere und tiefere Wirkung ausgeübt, als bisher angenommen und wahrgenommen worden sei. Antoinette Emch-Dériaz’ Aufsatz „A propos de l’expérience en médecine de Zimmermann“ von 1992129 sieht Zimmermann als innovativ im Rahmen der Tradition, ohne dass ein eigentlicher Traditionsbruch vorläge: „La philosophie médicale de Zimmermann retrace d’une façon exemplaire les tensions de sa profession qui se débattait alors pour réconcilier les découvertes récentes avec les vérités passées afin de découvrir de nouvelles méthodes“.130 Zimmermanns Wissenschaftsverständnis kann so, im Gegensatz zu Foucaults Einschätzung, nicht mehr einer klassifizierend verfahrenden „systematischen“ Naturgeschichte alter Schule zugerechnet werden, obwohl es einem Wissenschaftsmodell verpflichtet bleibt, das sich an Beobachtung und Deduktion hält und weniger auf Experiment und Messung gründet als die spezialisierte Wissenschaftsmedizin des 19. Jahrhunderts. Die medizinhistorische Dissertation von Reinhard Kunz, „Johann Caspar Lavaters Physiognomielehre im Urteil von Haller, Zimmermann und anderen zeitgenössischen Ärzten“ (1970), mutmaßt, dass das Charisma und die spezifische Religiosität Lavaters Zimmermanns Beurteilung der Physiognomik maßgebend beeinflusst haben. Kunz sieht Zimmermann als „eine der schillerndsten Gestalten im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts“131 und stellt fest, dass die Physiognomischen Fragmente ihre Existenz Zimmermann zu verdanken haben, ohne dass dieser selbst anatomisch-physiologische Beiträge dazu geleistet hätte. Martin Dinges untersucht in seinem 1996 erschienen Aufsatz Medizinische Aufklärung bei Johann Georg Zimmermann. Zum Verhältnis von Macht und Wissen bei einem Arzt der 124 125 126 127 128 129

Ackerknecht 1978, S. 226. Ackerknecht 1978, S. 227. Toellner 1979, S. 13. Toellner 1979, S. 20. Toellner 1979, S. 18. in: Canadian Bulletin of Medical History 9 (1992), S. 3–15. Vgl. auch: Dies., Orgueil national et santé privé, in: Gesundheit und Krankheit im 18. Jahrhundert. Hg. v. H. Holzhey und U. Boschung. Amsterdam-Atlanta 1995, S. 157–19. 130 Emch-Dériaz 1992, S. 13. 131 Kunz 1970, S. 29.

73

Aufklärung132 anhand der Ruhr-Schrift und der „Unterredungen“ Zimmermanns Selbstverständnis als repräsentativer Arzt der Aufklärung und vertritt die These,

dass in beiden Werken eine eigentümliche Gemengelage von ärztlichen Wissensbeständen und Positionsbestimmungen in einem Machtgefüge mitgeteilt wird, die die medizinische Aufklärung als eine besondere Mischung von Vorurteilen und Machtstrategien erscheinen lässt, die den von Michel Foucault unterstrichenen engen Zusammenhang von Macht und Wissen eindrücklich belegt.133 Dinges kommt zum Schluss, dass Zimmermann ein gutes Beispiel biete „für die Ambivalenz der okzidentalen Moderne, in der Wissen von Machtpotentialen untrennbar ist, Machtausweitung immer auch mit Wissensbeständen zusammenhängt und Gewalt im Horizont bleibt“.134 Im 1974 erschienenen ersten Band von Gerhard Sauders „Empfindsamkeit“ z.B. findet Zimmermann, bezogen auf Wezels Versuch über die Kenntnis des Menschen (1784/85), einmal Erwähnung,135 in Helmut Pfotenhauers Literarischer Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes von 1987 kommt Zimmermann zweimal vor, bezeichnenderweise im Zusammenhang mit Wielands Roman Don Sylvio von Rosalva und als Widmungsträger von Lavaters Aussichten in die Ewigkeit.136 Die 1996 erschienene Dissertation von Jutta Heinz zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung,137 die nach grundsätzlichen Erörterungen zum Verhältnis von Literatur und Anthropologie im zweiten Hauptkapitel einen kenntnisreichen Überblick über die Entwicklung der Anthropologie im 18. Jahrhundert gibt, nennt als „philosophische Ärzte“ Krüger, Unzer, Platner, Weickard und Wezel – Zimmermann sucht man vergebens.138 Auch Christoph Böhrs wichtige Studie über die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung139 nimmt keinen Bezug auf Zimmermann. Ebenso nennt Matthias Reibers 132

in: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Hg. v. M. Fontius und H. Holzhey. Berlin 1996, S. 137–150. 133 Dinges 1996, S. 137. 134 Dinges 1996, S. 150. 135 Sauder, Gerhard, Empfindsamkeit. Bd. I. Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. 72. Wezels „Versuch über die Kenntnis des Menschen“ sei bestrebt, die Position Condillacs mit den physiologischen Forschungen von Bonnet, Tissot und den Erkenntnissen von Haller und Zimmermann zu vereinen, heisst es an derselben Stelle. 136 Pfotenhauer 1987: S. 24; S. 92 (und nicht, wie im Namenregister angegeben, S. 97). 137 Heinz, Jutta, Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin; New York 1996. Diss. Univ. Erlangen, Nürnberg 1995; Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 6 (240), S. 23. 138 Immerhin wird der Name Zimmermann zweimal erwähnt, symptomatischerweise allerdings in Verbindung mit Tissot, im Aufsatz von Jutta Heinz, Erzählen statt Klassifizieren. Wezels Theorie der Empfindungen in seinem „Versuch über die Kenntnis des Menschen“ im Kontext zeitgenössischer Affektenlehren, in: Johann Karl Wezel (1747–1819). Hg. v. A. Kosenina u. Ch. Weiss. St. Ingbert 1997 (Literatur im historischen Kontext 2), S. 237ff. 139 Böhr, Christoph, Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003 (Forschungen und Materialien zur deut-

74

Untersuchung zu Unzers Wochenschrift Der Arzt als philosophisch denkende Ärzte und medizinisch denkende Philosophen der Spätaufklärung, die „in Deutschland eine psycho-physiologische, eine in diesem Sinne umfassende Menchenkunde propagierten“,140 Hissmann, Friedrich Justus Riedel, Platner, Schiller, Abel, Herder und in der dazugehörigen Anmerkung als weitere bekannte Vertreter dieser Bewegung Johann Kaspar Lavater, Johann Bernhard Basedow, Johann Heinrich Campe, Christian Garve und Karl Philipp Moritz – Zimmermann ist offenbar keiner Erwähnung wert. Für Albrecht Koschorke“141 steht Zimmermann mit seinem Werk Über die Einsamkeit an der Schwelle, an der aus dem ständischen Gelehrten der moderne Intellektuelle hervorgehe, indem es mit sozialkritischem Furor zum einen gegen Anachoretentum und Mönchswesen polemisiere, andererseits entwerfe es „ein Lebensideal, für das ein Nonkonformismus der Ungeselligkeit die Grundlage“142 bilde. Im einsamen Individuum verkörpere sich das Berufsbild des modernen Autors: Im Zeichen der Einsamkeit gehorcht das Schreiben einer paradoxen Konstellation. Seine Produkte sind zugleich anonym und intim, monologisch und mitteilsam, in ihrem Verbreitungsradius unüberschaubar und doch auch wieder mit den Insignien echter Freundschaft, mit der Weihe des Arkanums versehen.143

Dass Zimmermann offenbar keinen Anspruch auf eine ihm allein gewidmete Monographie erheben kann, bezeugt indirekt Pirmin Meiers 1999 publiziertes Buch Die Einsamkeit des Staatsgefangenen Micheli du Crest. Eine Geschichte von Freiheit, Physik und Demokratie, indem es Zimmermanns Biographie und ansatzweise auch sein Werk mit der Lebensgeschichte des Genfer Dissidenten und Autors der Methode eines Universellen Thermometers Jacques-Barthélemy Micheli du Crest (1690–1766) verknüpft.144 Zimmermanns Status als „und-Autor“ erweisen auch neuere und neueste Publikationen, in denen er im Zusammenhang mit übergeordneten Fragestellungen behandelt wird: Sigrid Habersaats zweibändige Verteidigung der Aufklärung. Friedrich Nicolai in religiösen und politsichen Debatten besteht aus einem Abhandlungsband und der verdienstvollen kommentierten Edition des Briefwechsels zwischen Zimmermann und Nicolai, der von 1765 bis 1788 reicht.145 Mark-Georg Dehrmann erhellt den Einsamkeitsdiskurs des 18. Jahrhunderts in schen Aufklärung. Hg. v. Norbert Hinske, Lothar Kreimendahl und Clemens Schwaiger. Abt. II: Monographien, Bd. 17). 140 Reiber 1999, S. 47f. 141 Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. 142 Koschorke 1999, S. 178f. 143 Koschorke 1999, S. 181. 144 Zürich u. München 1999. 145 Habersaat, Sigrid, Verteidigung der Aufklärung. Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten. Zwei Teile. Teil 2: Editionsband. Friedrich Nicolai (1733–1811) in Korrespondenz mit Johann Georg Zimmermann (1728–1795) und Christian Friedrich von Blanckenburg (1744–1796). Edition und Kommentar. Würzburg 2001(Epistemata; Bd. 316).

75

seinen Studien zu Gottfried Arnold, Shaftesbury, Johann Georg Zimmermann, Jacob Hermann Obereit und Christoph Martin Wieland unter dem Titel Produktive Einsamkeit.146 Carsten Behle widmet Zimmermann ein umfangreiches Kapitel in seinen Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert, indem er Zimmermanns Konzeption Geselliger Einsamkeit und einsamer Geselligkeit, die Differenzierungen des Geselligkeitsgrundsatzes in der spätaufklärersichen Sozialphilosophie sowie das Problemfeld „Einsamkeit und Idylle“ kundig entfaltet.147 Hans-Peter Nowitzki informiert in seiner materialreichen Monographie Der wohltemperierte Mensch über Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, wobei er naturgemäss immer wieder auf Zimmermann zu sprechen kommt.148 Erwähnt sei in diesem Zusammenhang der Schweizer Autor Dieter Bachmann, der Zimmermann in seinem 1998 erschienenen Roman Der kürzere Atem attestiert, dass der „Einsamkeitsklassiker Johann Georg Zimmermann, Königlich-Grossbritannischer Hofrat und Leibarzt in Hannover“, in seinem vierbändigen Werk „alles, wirklich alles Wissenswerte“ gesagt habe über den „Trieb zur Einsamkeit“. Diese Wendung, „mit sanfter Anspielung auf die Dialektik zwischen Eros und Entsagung“,149 sei angeblich von Zimmermann geprägt worden. Im Mittelteil von Bachmanns dreiteiligem Roman Der Affe meldet sich der Protagonist Schlösser alias Serbelloni auf das Inserat in der Wochenendausgabe einer grossen deutschen Zeitung, in dem Sir und Lady Stroke, Baronet und Baronesse, zur Vervollständigung ihrer Gartenanlage für ihre frisch renovierte Eremitage in Shuffoldshire auf Somerleyton einen Zier-Eremiten auf Zeit suchen. Beim Versuch Schlössers, sich „eine kleine Ikonografie der Einsiedlerei unter Einschluss ihrer Zieraspekte“ zuzulegen, stösst er auf C. V. Bonstettens Alpengeschichte Der Einsiedler von 1793 – und auf Zimmermann. Übt sich Zimmermanns Polemik unablässig und mit tierischem Ernst am historischen Eremitentum als einer ernstzunehmenden Negativfolie, so lebt der Zier-Eremit Schlösser-Serbelloni, vom auktorialen Erzähler ironisch umspielt, unter dem Schein-Sein-Dilemma zwischen einem Berufs-Eremitentum und dem eigentlichen Sendungs-Eremitentum, das er gegen Entlöhnung zu markieren hat. Er sucht vergeblich jenen Punkt, an dem Eremitieren und Zier-Eremitieren zusammenfallen. In das sich entwickelnde Liebesverhältnis zur Baronesse, die Schlösser ein „Zierverhältnis“ vorschlägt, mischt sich ein Affe ein. Die Bilanz ist 146

Dehrmann, Mark-Georg, Produktive Einsamkeit. Studien zu Gottfried Arnold, Shaftesbury, Johann Georg Zimmermann, Jacob Hermann Obereit und Christoph Martin Wieland. Hannover 2002, beso S. 67ff.: „Einsamkeit und Anthropologie – Johann Georg Zimmermann“. 147 Behle, Carsten, Ihr lebt alle in Arcadien wenn ihr wollt. Johann Georg Zimmermanns Einsamkeit und das „arkadische Modell“ in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, in: Carsten Behle, „Heil dem Bürger des kleinen Städtchens“. Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2002, S. 191–275. 148 Nowitzki, Hans-Peter, Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 25). 149 Bachmann, Dieter, Der kürzere Atem. Salzburg und Wien 1998, S. 96.

76

ernüchternd: „Ein Zier-Eremit kann echt sein, ein Eremit ein Betrüger. Ein Affe ist immer echt“.150 Die Rede über die Gottesebenbildlichkeit des Menschen wird hier offensichtlich grundsätzlich problematisiert, und ob der Mensch verdiene, erstes und letztes Studienphänomen der Menschheit, ehedem, im Zeitalter von Aufklärung und Anthropologie, und heute zu sein, muss ernsthaft bezweifelt werden. Den handschriftlichen Nachlass Zimmermanns bewahrt die Niedersächsische Landesbibliothek in Hannover151 auf, wo sich an Unpubliziertem z.B. Briefe an ein Frauenzimmer über die Einsamkeit und nicht ausgearbeitete Dispositionen zu einem auf zwei Bände konzipierten Werk über Vortheile der Dummheit in dem menschlichen Leben finden lassen, ganz abgesehen von den übrigen Korrespondenzen und sonstigen Schriften, z.B. den 328 Briefen von Georg Ludwig Schmid d’Auenstein (1720–1805).152 Umfangreichere Nachlassbestände liegen im HallerNachlass der Burgerbibliothek Bern, die auch Zimmermanns unpublizierte Briefe an Tissot aufbewahrt. Der nicht veröffentlichte Briefwechsel zwischen Zimmermann und DeLuc liegt im Staatsarchiv Aarau. Im Staatsarchiv Basel-Stadt befinden sich die Briefe Zimmermanns an Isaak Iselin (1748–1782), in der Zentralbibliothek Zürich jene an seinen Arztkollegen Johann Caspar Hirzel und die LavaterZimmermann-Korrespondenz, in der Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz (Berlin) Briefe, die Zimmermann an Nicolai gerichtet hat. Das von Bouvier im Anhang seiner Dissertation unzulänglich edierte Fragment Von der Diät für die Seele, das die Erfahrung in der Arzneykunst abschliessen sollte, haben U. Benzenhöfer und G. vom Bruch neu ediert.153 Andreas Langenbacher hat zu Zimmermanns Leben und Werk im Rahmen der Schweizer Texte ein chronologisch aufgebautes Lesebuch mit erhellenden Einführungen zu den einzelnen Kapiteln und einer Bibliographie unter dem Titel Johann Georg Zimmermann. Mit Skalpell und Federkiel herausgegeben.154 Zimmermanns Solothurner Briefe (1765–1768) an Karl Stephan von Glutz-Ruchti liegen in einer Edition von Max Banholzer vor. Von Zimmermanns Schriften existieren keine modernen Nachdrucke, geschweige denn eine Gesamtausgabe, womöglich auf historisch-kritischer Basis, obwohl eine ungekürzte Neuedition zumindest des Werks Über die Einsamkeit in der Fassung von 1784/85 wünschenswert wäre.155 Die Lavater-Zimmermann-Korrespondenz (1764–1793), welche die Zentralbibliothek Zürich aufbe150 151

Ebd., S. 117. Vgl. die informative Darstellung von Hans-Peter Schramm, Der Zimmermann-Nachlass in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover, in: Schramm 1998, S. 221–229. 152 Ein Verzeichnis ist abgedruckt in Schramm 1998, S. 231–267. 153 Zimmermann, Johann Georg, Von der Diät für die Seele. Hg. v. Udo Benzenhöfer u. Gisela vom Bruch. Hannover 1995. Ergänzend dazu: U. B. u. G. vom B., Zu Johann Georg Zimmermanns Plänen für den dritten Teil seiner Erfahrung in der Arzneykunst, in: Schramm 1998, S. 49–60. 154 Bern 1995 (Schweizer Texte. Neue Folge-Band 5. Hg. v. Martin Stern, Hellmut Thomke, Peter Utz). 155 Eine kommentierte Neuedition ist vom Verf. in Planung.

77

wahrt, umfasst insgesamt rund 500 Briefe. Die abgeschlossene, aber noch nicht publizierte Edition des Briefwechsels der Jahre 1772–1779 birgt in ihren 204 Briefen gewiss eine Fülle von Forschungsimpulsen.156

Abb. 2: Titelseite der Erstausgabe des ersten Teils Über die Einsamkeit von 1784.

156

78

Zum Zimmermann-Nachlass in der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover vgl. Hans-Peter Schramm, Der Zimmermann-Nachlass in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover, in: Schramm 1998, S. 221–229.

Teil I Einsamkeitstherapeutik. Denkformen und Bewusstseinshaltungen in Johann Georg Zimmermanns Schrift „Über die Einsamkeit“

4

Die Werke über die Einsamkeit (1756, 1773 und 1784/85)

Die Einsamkeitsthematik hat Zimmermann schriftstellerisch ein Leben lang beschäftigt.1 Jede der drei veröffentlichten Fassungen von 1756, 1773 und 1784/85 ist ein „Versuch über die Einsamkeit“ (II, 230). Während der Brugger Zeit entsteht „der erste Keim“ (III, 5), die Emanuel Tscharner, „Hofmeister zu Königsfelden und Mitglied des grossen Raths der Republik Bern“, gewidmeten Betrachtungen über die Einsamkeit von 1756, „Kontemplationen in aphoristischer Form, die sich mit persönlichen Problemen befassen“,2 nach Bodmer „Betrachtungen nicht ü b e r , sondern i n der Einsamkeit“.3 Diese gelten bei nicht wenigen zeitgenössischen wie späteren Lesern als Zimmermanns bestes Werk. Zimmermann selbst spricht von einer mauvaise brochure qui ne dit rien du sujet qu’elle annonce qui n’a été ecrite que pour quelques personnes qui ne meritoient pas qu’on leur repondit publiquement, et que j’ai eu très grand tort de faire imprimer. C’est une sottise qui m’empechera d’en faire d’autres de ce genre.4

Dieser gut hundertseitige Traktat über „gemässigte Einsamkeit“5 atmet empfindsame Einsamkeitsbegeisterung und preist eine glückseligkeitsbefördernde Lebensführung, die Zimmermann immer so vorzüglich gefallen habe (III, 20), wie er rückblickend im dritten Teil der Ausgabe von 1784/85 schreibt. Seine „süssesten Empfindungen für Religion und Tugend“ (II, 6) habe er darin ergossen, um dem empfänglichen Leser „ein Glück anzupreisen, und eine Lebensart beliebt zu machen“, die er, bei vernünftigem Gebrauch, über alles schätzen werde (III, 20). In der Widmungsadresse von 1756 führt der Brugger Stadtphysikus aus: Der Verfasser dieser geringen Blätter hat sich vorgenommen, eine vernünftige Anwendung der eilenden Zeit beliebt zu machen, den wahren und dem Menschen am angemessensten Gebrauch der vornehmsten Wissenschaften zu entwerfen, und die Empfindungen für Religion und Tugend, nach seinem kleinen Vermögen, bey dem Nächsten zu vermehren.6

1

2 3 4 5 6

Zur Vorgeschichte vgl. u.a. Ischer 1893, S. 324ff.; Friso Melzer, J. G. Zimmermanns ‚Einsamkeit‘ in ihrer Stellung im Geistesleben des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Breslau 1930 (Diss. Univ. Breslau vom 23. Juli 1930), S. 45ff., S. 57ff.; Hamel 1881, S. 24f. Im Nachlass in Hannover befindet sich ein fünf Blatt umfassendes Fragment, bestehend aus einer Vorrede und einem Brief, mit dem Titel „Briefe an ein Frauenzimmer über die Einsamkeit“. Kurth-Voigt, Lieselotte E., Zimmermanns Über die Einsamkeit (1784/85): Zur Rezeption des Werkes, in: Modern Language Notes 116, Nr. 3, April 2001, S. 579. Brief Bodmers an Zimmermann vom 4. Oktober 1756. Bodemann 1878, S. 164. Brief Zimmermanns an Haller vom 4. Oktober 1756. Ischer 1908, S. 141. Zimmermann, Johann Georg, Betrachtungen über die Einsamkeit. Zürich 1756, S. 28. Unpaginierte Widmungsadresse der Ausgabe von 1756.

81

Mit der Beschränkung auf die Natur und den Menschen „treten Schreibsituation und Gegenstand ‚Einsamkeit‘ zu dem programmatischen Gestus des anthropologischen Forschers zusammen, der an sich und an der Natur genug hat, um aus der gelehrten Welt den Qualm der alten Wissenschaften zu vertreiben“.7 Reichhaltige Anmerkungen bezeugen die Erudition des Verfassers, von Horaz zu Platner, von Wieland, Euler, Newton zu Plutarch, von Pope zum Prediger Salomo.8 Die Begriffe „Genie“ und „Erfahrung“ finden bereits Erwähnung, ohne vertieft zu werden. Der Schluss mündet in eine gebetsartige Predigt, die den Glauben an einen persönlichen Gott und die Unsterblichkeit der menschlichen Seele verkündet: Ach wie trostreich ist […] die Kraft des Glaubens, und der Unterwerfung! Sie giesset den heilenden Balsam in dem Thale der Schrecken über uns aus, wann auch die Aerzte selbst in stillem Mitleiden ihre Unmacht beseufzen; sie schenket uns, an dem Rande der Zeitlichkeit, ein neues Leben.9

„Les Considérations décrivent les avantages d’une retraite studieuse, et la Solitude de 1773 n’est autre chose que l’échantillon d’un livre que Zimmermann se proposait d’écrire à loisir“, charakterisiert Bouvier das Verhältnis der Fassungen von 1756 und 1773.10 Die erste Fassung von 1756 unterscheidet sich von der Ausgabe 1784/85, in deren erstem Teil die Schrift von 1773 gedanklich aufgeht, wesentlich dadurch, dass sie keine historische Perspektivierung besitzt. Zimmermann versucht, eine überzeitlich gültige Wesensbestimmung des Phänomens „Einsamkeit“ vorzunehmen, ohne diese in ihrer historischen Dimension zu betrachten, wie es später geschieht. Die gesamte Mönchskritik und die Obereit-Polemik fehlen in der Fassung von 1756. Im Hannoverischen Magazin, im elften Jahrgang von 1773, erscheint in vier Teilen die Schrift Von der Einsamkeit,11 ein „dem Geist und dem Herzen gewiedmetes Werk“,12 das wie ein Präludium der Fassung von 1784/85 klingt. Zimmermann untersucht in dieser eilig verfassten Skizze Beweggründe für die „Einsamkeit“, die seelisch und örtlich verstanden wird, und nennt u.a. Mitteilungsbedürfnis des Menschen, Freundschaft und Liebe, Flucht vor Langeweile, Trieb zur Ruhe, Ekel vor sich selbst und vor der Welt, Selbstvervollkommnung, Modezwang wie auch physische Ursachen, bedingt durch klimatische Verhältnisse, die 7 8 9 10 11

12

82

Dehrmann 2002, S. 69. Vgl. 10.2. Zur Phänomenologie der Sprache, S. 276ff. Betrachtungen 1756, S. 83. Bouvier 1925, S. 201. Hannoverisches Magazin, worin kleine Abhandlungen, einzelne Gedanken, Nachrichten, Vorschläge und Erfahrungen, so die Verbesserung des Nahrungs-Standes, die Land- und StadtWirthschaft, Handlung, Manufacturen und Künste, die Physik, die Sittenlehre und angenehmen Wissenschaften betreffen, gesamlet und aufbewahret sind. Eilfter Jahrgang, vom Jahre 1773. Hannover 1774. Erstes Stück, Freytag, den 1. Januar 1773, S. 1–16; 2. Stück, Montag, den 4. Januar 1773, S. 17–32; 3. Stück, Freytag, den 8. Januar 1773, S. 33–48; 4. Stück, Montag, den 11. Januar 1773, S. 49–60. Von dem Nationalstolze. Zweite durchaus verbesserte Auflage. Zürich 1760. Vorrede, S.VI.

speziell im Orient beleuchtet werden. Der Schluss der Einsamkeitsschrift von 1773 verweist auf eine Fortsetzung, die rund eine Dekade später erscheinen wird: Beleuchtet habe ich nunmehr den Trieb zur Einsamkeit, und die vorzügliche Neigung zu derselben in den Morgenländern, aber von der Einsamkeit selbst habe ich im Grunde wenig gesagt. Noch sollte ich meine ehemals aus den Archiven der Kirchenväter und den Lebensbeschreibern der Heiligen, aus den Werken der Asceten und den Philosophen aller Zeiten gemachten Auszüge durchblättern, und dieses alles mit meinen eigenen Empfindungen und Beobachtungen vergleichen, damit aus einem so äusserst unvollkommenen Versuche ein Ganzes werde. Noch hätte ich jene für die Naturgeschichte des Menschen so merkwürdigen Nachtheile der Einsamkeit in Absicht auf den Verstand, die Einbildungskraft und die Leidenschaften zu betrachten. Alsdenn erst wäre ich dem Zwecke nahe, der mich in den sanften Erholungsstunden meiner Jugend zu diesen Kenntnissen angeflammet, dem vielleicht für mich allzukühnen Zwecke, die Geist und Herz erhöhenden Vortheile der Einsamkeit zu übersehen und zu empfinden, und dieses grossen Gegenstandes voll ein p h i l o s o p h i s c h e s W e r k v o n d e r E i n s a m k e i t zu schreiben, das vor mir niemand geschrieben hat.13

Im März 1781 beginnt Zimmermann mit der Abfassung dieses Werks, das nunmehr den Titel Über die Einsamkeit trägt und in vier Teilen mit durchgehender Kapitelzählung quasi historisch-genetisch verfährt. Das Widmungsvorwort zum ersten Teil trägt das Datum vom 25. September 1783.14 Die beiden ersten Teile erhielt Alessandro Volta (1745–1827), der Zimmermann in Hannover zusammen mit dem Anatom Scarpa im Oktober 1784 besuchte, als Geschenk, da der Physiker aus Pavia die deutsche Sprache sehr gut beherrschte.15 Die beiden ersten Teile verkaufen sich besser als die nachfolgenden. Der erste und zweite Teil erscheint zur Leipziger Messe 1784, der dritte auf Michaelis 1784 (29. September) und der vierte zu Ostern 1785.16 Zimmermanns Werk Über die Einsamkeit entfaltet einen kaleidoskopartigen Facettenreichtum mit einer historischen Spannweite, welche nicht nur die gesamte abendländische Kultur umfasst, sondern auch den asiatischen Raum einbezieht. Wie verhalten sich die auch in seinen übrigen Schriften auf Schritt und Tritt anzutreffende Traditionsfestigkeit mit seiner prätendierten Originalität? Verfolgt Zimmermanns Hauptwerk als medizinischer Traktat eine autotherapeutische Intention, die zugleich auf eine allgemein verfügbare diätetische Wirkung, auch in prophy13 14 15 16

Von der Einsamkeit. Frankfurt und Leipzig 1777, S. 109f. Im Nachlass der NLB finden sich mehrere Entwürfe zum Vorwort: Ms XLII, 1933 B 13, 11. Vgl. den Brief von Zimmermann an Tissot vom 5. September 1785. BBB Mss hh XVIII 71. Nr. 114. Rengger 1830, S. 48. Das Einsamkeitsmanuskript für die Druckerei ist im Nachlass erhalten (Ms LXII, 1933, B 13). Jeweils ein Bogen (Doppelblatt) ist in der Mitte gefaltet, d.h. es bestehen vier halbe Seiten pro Faltblatt. Davon ist die rechte Seite beschrieben, der linke Teil bleibt leer oder wird gegebenenfalls für Korrekturen genutzt. Die Überschriften weisen Verzierungen von Zimmermanns Hand auf. Auf flüssig geschriebene Passagen ohne Korrekturen folgen Abschnitte mit vielen Streichungen und mit Korrekturen auf der rechten Seite. Den Stich zum Titelblatt des zweiten Teils beschreibt Zimmermann selber mit einem Plazierungshinweis: „hieher den Mönch, der mit einem Crucifix in der einen Hand und mit einer Fackel in der andern wütend aus seinem Kloster läuft“. Schwer lesbare Wörter hat Zimmermann (oder der Drucker?) rechts in lateinischer Schrift ausgeschrieben.

83

laktischer Absicht, zielt? Ist es ein epochentypischer popularphilosophischer Essay der deutschen Spätaufklärung in der Art Garves, der sich z.B. „Über die Geduld“, „Über die Moden“, „Über die Unentschlossenheit“ oder „Über den Stolz“ verbreitet,17 und, als Buch über den Wert der Einsamkeit, einen wesentlichen Beitrag leistet „zu einer praktischen Untersuchung über menschliche Glückseligkeit“ (I, 9)? Ist es eine Diätetik, Phänomenologie, Geschichte und Kritik der Einsamkeit, vermischt mit Philosophie, Literaturgeschichte, Gesellschaftskritik, eine Absage an Katholizismus und an pietistische Schwärmerei, sodann ein Porträt seiner Heimat mit satirischer Charakteristik ihrer Kleinstädte und nicht zu vergessen der Bericht über ein Jahrhundertereignis aus der Schweiz, die Gründung der Helvetischen Gesellschaft im Bade Schinznach?18 Ist es eine empfindsame, versteckte oder teilweise fiktive Autobiographie in moralischer, politischer und unbewusst selbstrechtfertigender Absicht? Ist es ein Dokument der Rousseau- und Petrarca-Rezeption im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts, „ein Amalgama von Pietisterey und Rousseauismus“?19 Knüpft Zimmermann, der „partisan de Rousseau“,20 an den citoyen de Genève an21 und liefert eine „psychologische Analyse des Individuums in der menschlichen Gesellschaft“,22 die psychoanalytisches Gedankengut vorwegnimmt? Ist es eine Art aufklärerischer Reiseroman, der den global geweiteten Gesichtskreis am roten Faden der Einsamkeit ausschreitet? Handelt es sich um einen enzyklopädischen Kommentar zu Goethes Werther? Liegt ein verkappter Briefroman vor, der Einsamkeit und Gesellschaft, tätiges Nichtstun und geselliges Alleinsein, ausgewogen miteinander zu verbinden trachtet? Ist es der Versuch, ein neues Bild vom Menschen zu erkunden angesichts des beträchtlichen Kenntniszuwachses der empirisch verfahrenden exakten Wissenschaften? Ist es eine Streitschrift um Religionssachen, eine beissende Mönchssatire, mithin eine Streitschrift gegen Obereit? Ist es ein verschriftlichtes unterhaltend-unverbindliches Gespräch23 mit rokokohaft-idyllischen Zügen, das stellenweise Gessner imitiert, über Religion, Politik und allgemeine Fragen und Modeerscheinungen, z.B. über die viel diskutierte Physiogno-

17 18 19 20

21 22 23

84

Vgl. Garve, Christian, Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben. Erster Teil. Breslau 1792, Fünfter Teil. Breslau 1802. Meier 1999, S. 25. Der Erinnerer, Eilftes Stück, 13. März 1766, S. 104. Julie von Bondeli und ihr Freundeskreis Wieland, Rousseau, Zimmermann, Lavater, Leuchsenring, Usteri, Sophie Laroche, Frau v. Sandoz u.a. Nebst bisher ungedruckten Briefen der Bondeli an Zimmermann und Usteri. Von Eduard Bodemann. Hannover 1874, S. 186. Vgl. Ischer 1899, S. 266: „So stellt das ganze Werk über die Einsamkeit zugleich ein Denkmal dar für Rousseau und beweist, wie gross der Einfluss seiner Schriften in Deutschland war“. Ulrich Im Hof, Aufklärung in der Schweiz, Bern 1970, S. 77. Auch Bouvier 1925, S. 217 vermerkt die Gesprächsnähe des Einsamkeitswerks und fügt hinzu: „Mais il lui manque un contradicteur, une interruption“. Am Ende eines längeren Briefes steht: „Das war ein langer Schnack! Vale! J. G. Zimmermann“. Zimmermann an Reimarus. Brief vom 13. Mai 1788. SuUB Hamburg Hss-Abt NRS:Br.:Z 4.

mik, gebündelt durch die Klammer „Einsamkeit“ – es hätten auch „Dummheit“,24 Pedanterei,25 Schwatzhaftigkeit,26 Erfahrung oder Nationalstolz gewählt werden können? Oder eine Propagandaschrift für Friedrich II., Joseph II. und den aufgeklärten Absolutismus?27 Bezeichnenderweise ließe sich das umkreisende Fragen recht leicht fortsetzen. Das Werk Über die Einsamkeit (1784/85) ist, in aller überblicksmässigen Kürze, wie folgt aufgebaut. Nach „Einleitung und Plan“ wird je ein Kapitel kontrastiv dem „Trieb zur Geselligkeit“ und dem „Trieb zur Einsamkeit“ gewidmet, bevor Zimmermann die Entstehung des abendländischen Mönchtums entfaltet, von Paul, dem ersten Einsiedler bis zum hl. Hieronymus. Der zweite Teil behandelt die Nachteile der Einsamkeit und wendet sich im siebten Kapitel wieder nachteiligen Einwirkungen der Einsamkeit auf die Leidenschaften von Einsiedlern und Mönchen zu. Im sechsten Kapitel des zweiten Teils, das Aspekte einer „Nachtheiligen Einwirkung der Einsamkeit auf die Einbildungskraft“ zum Gegenstand hat, untersucht Zimmermann auch eingehend das Wechselspiel von Leib und Seele zersetzender Melancholie und individuell zu dosierender Einsamkeit. Der dritte Teil – Hertz und Seele habe ich in den dritten und vierten Theil gantz vergossen28 – enthält die Auseinandersetzung mit Jacob Hermann Obereit, „Erörterungen über die Vorteile der Einsamkeit, in allgemeiner Hinsicht und für den Geist“.29 Das elfte Kapitel des vierten Teils hält eine Art Überschau auf das Ganze, stellt indessen wiederum polemisch ausgerichtete Reflexionen über „Mystik und Möncherei“ an. Vergegen24

25 26

27

28 29

Im Nachlass NLB (Ms XLII 1933, B 20) werden ca. 300 Blatt umfassende, kapitelweise geordnete Entwürfe und Exzerpte aufbewahrt über „Vortheile der Dummheit in dem menschlichen Leben“. Vgl. auch Zimmermann an Sulzer ohne Datum (Januar 1773), Bodemann 1878, S. 216f.: „Im nächsten Briefe bitte ich mir inständigst Ihr philosophisches Gutachten über folgende Fragen aus, ebenso wie Sie zuweilen mein Gutachten über medicinische Fragen verlangen: 1) was ist Dummheit, und was ist ein Dummkopf, im a l l g e m e i n s t e n Verstande? 2) was ist die Pedanterey, und was ist ein Pedant, im a l l g e m e i n s t e n Verstande?“. Bodemann 1878, S. 216f. Vgl. Zerstreute Blätter 1799, S. 271/272: „Anfrage über Dummheit“, „Beantwortung“ (S. 273–336). Vgl. Zerstreute Blätter 1799, S. 237–241: „Encyclopädische Fragen, die Pedanterey, Pedanten und Pedantinnen betreffend“. Vgl. Zerstreute Blätter 1799, S. 205–223: „Über Schwatzhaftigkeit“. Zimmermann entwirft, polemisch ausgerichtet, ein kritisches Psychogramm und eine analysierende Charakteristik des Schwatzhaften, dem er die Haltung wahrer, vertrauenswürdiger Freundschaft gegenüberstellt. Bouvier 1925, S. 202f. charakterisiert das Einsamkeitswerk 1784/85 wie folgt: „Livre étrange en vérité que cette accumulation de pensées diverses, d’aperçus, de souvenirs, de considérations générales et de questions particulières, ce mélange de fantaisie et de réalité, de poésie et d’histoire où s’allient l’âpre satire et la déclamation, où l’esprit des encyclopédistes rejoint l’âme sensible du Rousseau des Rêveries, tandis que l’apôtre de la solitude cède parfois la place à l’homme de science“. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 1. August 1784. ZZH, FA Hirzel 240, 20. Im Brief an Reich in Leipzig vom 5. Juli 1781 bemerkt Zimmermann ungeschminkt, er werde mit seinem Buch Obereit und dessen 1781 erschienenes Buch bei Adam Friedrich Böhme in Leipzig „niederhauen […] dies versteht sich von selbst. Erschrecken Sie aber darüber nicht; denn der niedergehauene Heilige läuft gewiss mit dem Kopf im Arme davon“. Bayerische Staatsbibliothek München. Autogr. Johann Georg Zimmermann.

85

wärtigt man sich das vierteilige Werk als Ganzes, so scheint ein lückenhafter, in Gegenwartsbezüge und sonstige Exkurse ausufernder Durchgang durch die heilsgeschichtlich perspektivierte Weltgeschichte auf, der chronologisch verfährt und Kirchengeschichtlichem breiten Raum gewährt. Nach den ersten drei einleitenden Kapiteln über Plan, Trieb zur Geselligkeit und Trieb zur Einsamkeit setzt nämlich der erste Teil ein mit der breiten Darstellung der Entstehung des abendländischen Mönchtums: den ersten Mönchen Paulus (I, 163–169), Antonius (I, 169–199) und Pachomius (I, 200–223). Es folgt die Darstellung der Entstehung des ersten Klosters, Hilarion und die Ausbreitung des Mönchtums (I, 234–253), Chrisostomus (I, 254–261) und Hieronymus (I, 261–327). Der zweite Teil zieht die Linien weiter ins Mittelalter. Die Rede ist u.a. von Mystikern, z.B. Thomas a Kempis (II, 145f.) und Jacob Böhme (II, 147ff.), ausführlich von sog. „Weibermystik“ (II, 151–172), vom hl. Benedikt und dem hl. Bonifazius (II, 413f.), auch von Petrarca (II, 269f. und passim). Ein umfangreicherer Exkurs erzählt die mittelalterliche Geschichte von Abélard und Heloïse (II, 253–268). Im dritten Teil, dem Obereit-Buch, ist die zeitgenössische Gegenwart erreicht. Zimmermann entfaltet hier ausführlich die Polemik gegen den „Weltüberwinder“ Obereit (III, 1–104). Der Schluss des vierten Teils gipfelt, „im Zeitalter Kaiser Josephs des Grossen und Miskennten“ (II, 513), in einer eifernden Hypostasierung Josephs II.30 Das Einsamkeitswerk lebt kompositorisch von Digressionen und unvermittelten Übergängen. Selbständige Einlagen finden sich u.a. zu Juden und Christen, Heiden und Türken (I, 140), zu Spanien und Portugal, zum mongolischen Reich, zu Diogenes und Plato (I, 127), zu Lavater und dem heiligen Hieronymus (I, 272), zu Mendelssohn und Garve (II, 15), zu Islam und Vatikan (II, 473),, zu Franz von Assisi und Obereit (IV, 450). Als ausgearbeitete Exkurse finden sich u.a.: Charakterskizzen eines Hypochonders (I, 68ff.), eines Melancholikers (I, 358ff.), eines Schwärmers (II, 2ff.). In Anlehnung an Tissots De la santé des gens de lettres verfasst er eine Gelehrtenpersiflage (II, 13ff.). Ausführlich erzählt Zimmermann die Posse Obereit in Hannover (III, 80ff.). Leicht aus dem Erzählzusammenhang lösbar und anthologietauglich sind die Einlagen, die mit „Lob des Buches“ (III, 366ff.), „Vom Nutzen des Schreibens“ (III, 382ff.), „Über Dummheit“ (IV, 94ff.) betitelt werden könnten. In seiner Selbstinterpretation im Brief vom 1. August 178431 an Hirzel, die im Sinne seiner Vorverteidigungsstrategie32 auf den dritten und vierten Teil gespannt machen möchte, spricht Zimmermann davon, dass der erste und zweite Theil seines 30

31 32

86

Joseph II., eine der bedeutendsten, wenn nicht die bedeutendste Über-Ich-Gestalt Zimmermanns. Vgl. Wiener Zeitschrift, II. Band VI. Heft, 1792, S. 267: „das glorreiche Andenken des unsterblichen Kaisers Joseph“, in Sanssouci stand auf einer Kommode im Vorzimmer Friedrichs II. ein Bildnis Josephs II., „ein schönes und grosses Portrait dieses Kaisers“. Unterredungen 1788, S. 21. ZZH, FA Hirzel 240, 20. Vgl. 10.3.1. Werkstattberichte und Rezeptionsanweisungen, S. 318ff.

Buches, „die itzt in die Welt hinauswandern“, der „uninteressante Theil desselben“ seien, denn er habe in den zwei ersten Teilen mehrentheils mit Menschen und Gegenständen zu thun gehabt, die fern von uns sind, und uns also weniger interessiren. Indessen ist diess alles doch ein wenig durch die häufige verstreute Satyre auch da gehoben, wo ich der alten Geschichte vollkommen getreu bin, und wo man am allerwenigsten Satyre vermuthet.33

An Reich in Leipzig schreibt Zimmermann im Juli 1781 in einer anderen Selbstinterpretation, das Buch über die Einsamkeit beruhe und gründe auf „M e n s c h e n b e o b a c h t u n g , H i s t o r i e und e i g e n e E m p f i n d u n g . Es kommt eine sehr grosse Menge von wenig bekannten historischen Factis darin vor; auch sehr viele Anecdoten. Alles vom Anfang bis ans Ende geht von dem Menschen aus, und endet mit dem Menschen“.34 Zimmermann gibt sich überzeugt davon, dass sein geplantes Werk viele Leser anlocken werde, allein wegen des Titels, auch wenn sie den Verfasser nicht kennen würden. Über die Einsamkeit (1784/85), das in Leipzig von Weidmanns Erben und Reich verlegt35 und mit vier Titelvignetten von Geyser ausgestattet wird, gehört zu den meistverkauften popularphilosophischen Büchern des achtzehnten Jahrhunderts. Für ein exklusives Lesepublikum wurde eine Prachtausgabe mit einem Bildnis Zimmermanns von Schröder angeboten – toujours ce même souci d’illustration,36 – die als eine der schönsten Publikationen eines literarischen Werkes des 18. Jahrhunderts gelten kann.37 Die zwei parallelen Ausgaben von 1784/85 33

34 35

36 37

Er fährt fort: „Man muss meine spätere Lebensgeschichte wissen um zu merken, ubi Lucianus latet in herba“. Nur so könne man wissen, wie manchen Bonasus er skalpiere. ZZH, Fa Hirzel 240, 20. Brief Zimmermanns an Reich vom 5. Juli 1781. Bayerische Staatsbibliothek München. Autogr. Johann Georg Zimmermann. An Hirzel schreibt Zimmermann nicht ohne Stolz: „Herr Reich in Leiptzig bezahlt mir für mein Buch über die Einsamkeit über fünfzehnhundert Thaler in baarem Gelde“. Brief vom 12. Februar 1785. ZZH, FA Hirzel 240, 22. Bouvier 1925, S. 165. Die Exemplare der Prachtausgabe im Format 23,5 x 16,5 cm sind auf holländischem Bütten gedruckt. Das Titelportrait stammt von Geyser nach Schröder und enthält ferner 12 Vignetten von Geyser nach Mechau. „Eine Prachtausgabe des kleinen Buches v o n der E i n s a m k e i t lieferte Degen in Wien, im Jahre 1803, in einem Gross-Quartbande“. Von der Einsamkeit. Von J. G. Ritter von Zimmermann. Aachen (bei F. W. Forstmann) 1817 (Etui-Bibliothek der deutschen Classiker. Nr. XXXII), S. VIII. Zimmermanns ausgesprochen dekorativen Sinn für Ausstattungsfragen bezeugt seine Korrespondenz, z.B. im Brief vom 23. 12. 1791 an L. A. Hoffmann in Wien: „Damit aber auch diese drei Pakete nicht zu gross werden, muss ich die Bogen voll anschreiben, welches mich sehr ärgert, weil es unanständig ist, und weil man an eine so hohe Person sonst nicht so schreibt“. Erläuterungen 1798, S. 120f. Die Grossoktavausgabe kostete 5 Reichstaler und 12 Groschen, die Kleinoktavausgabe 2 Reichstaler. Vgl. Thomas Rütten, Johann Georg Zimmermann im Zeichen der Melancholie, in: Schramm 1998, S. 158. Vgl. zu Zimmermanns ästhetischen Druckansprüchen den Brief an Reimarus vom April 1788: Papier und kostbarer Druck seines Buches über Friedrich II. seien von einer Ausstattung, „als man sonst gewöhnlich in Deutschland auch ungleich bessere Bücher druckt“. Brief Zimmermanns an Reimarus vom 11. 4. 1788. SuUB Hamburg. Hss-Abt. NRS Br Z 2.

87

differieren in der unterschiedlichen Größe des Satzspiegels (14,5 x 7,4 cm bzw. 12,2 x 6,4 cm) und entsprechend im Buchformat und im Umfang (Quart, Oktav). Die beiden Ausgaben unterscheiden sich auch geringfügig, jedoch ohne inhaltliche Relevanz, durch sprachliche Einzelheiten.38 In Karlsruhe erscheint, bei Schmieder, ein Raubdruck. Eine Rezension rühmt die Publikation des Werks Über die Einsamkeit als verlegerische Tat gerade auch dem „Nachdruckergesindel“ gegenüber: Übrigens hat sich der Hr. Verleger, durch die besondere typographische Schönheit und Pracht dieses Buches während des gegenwärtigen schlimmen Zustandes des teutschen Buchhandles um die teutsche Litteratur neuerdings verdient gemacht. Ausser der grossen und kostbaren Edition in grössten Oktav auf holländisch Royalpapier mit dreyzehn niedlichen Kupferstichen, hat er noch eine kleine und wohlfeile aber darum nicht weniger geschmackvolle Ausgabe veranstaltet, um weniger begüterten Lesern die Versuchung zu ersparen, vom Nachdruckergesindel gestohlne Waaren zu kaufen.39

Der unentwegt nach Ruhm Strebende, dabei „ein geborener Unzufriedener“,40 versichert zwar in zahlreichen Modestiebezeugungen41 seine literarische Belanglosigkeit. Angeberisch berichtet Zimmermann hingegen im September 1785 brieflich an Tissot in Lausanne über die Wirkung der Veröffentlichung seines Einsamkeitswerks: Cet ouvrage a fait une sensation etonnante par tout où la Langue allemande est connue. Mon Libraire en a donné deux editions à la fois, une ordinaire, et l’autre infiniment superbe; trois autres Libraires l’ont reimprimé, l’un à Carlsruhe, l’autre à Munich […] et le troisième à Vienne. Depuis les thrones jusques dans les chaumières on m’a lu. Dans tous les etats de la vie et dans tous les pays ou on a pû me lire, j’ay emûs les coeurs, et gagné amis et ennemis. On m’a comblé d’honneurs de toute part par reconnaissance pour cet ouvrage.42

38

39

40 41

42

88

Die beiden Ausgaben weisen unterschiedliche „Druckfehler und Verbesserungen“ auf. Der erste Band enthält in beiden Ausgaben zahlreiche Korrekturen, z.B. „anstellet“ in „anstellt“. S. 56 steht in der Grossen Ausgabe: „Lies – Doch nein, lieber Leser, lies wie du willst; denn ich habe die Gedult nicht, dich noch ferner mit allen diesen mir in Leipzig aus blosser Liebhaberey aufgebürdeten Wortbeugungen und Dehnungsbuchstaben zu unterhalten“. Der Teutsche Merkur vom Jahre 1785. Drittes Vierteljahr. Weimar 1785. Anzeiger des Teutschen Merkur. October 1785, S. CLXI. Für K. V. von Bonstetten verhält sich der in London 1793–1812 erschienene Abdruck der Vergil-Ausgabe des Göttinger Altphilologen Ch. G. Heyne zu seiner „Leipziger Edition“ (1787–1789) „wie der Karlsruher-Nachdruck von Zimmermanns Buche über die Einsamkeit, zur grossen Originalausgabe dieses Werks auf Royalpapiere“. Bonstettiana. Historisch-kritische Ausgabe der Briefkorrespondenzen Karl Viktor von Bonstettens und seines Kreises 1753–1832. Mit Einl. und Komm. hg. v. Doris und Peter Walser-Wilhelm. Bern 1998. Teilbd. VII/1, S. 51. Benzenhöfer/v. Bruch 1995, S. 1. Ähnlich auch Bouvier 1925, S. 182: „Sa disposition d’esprit le porte à voir le côté de l’ombre plutôt que celui de la lunière“. Vgl. u.a. Wichmann 1796, S. 43: „Zu einer andern Zeit zeigte er einen so kleinen Begriff von der Geringfügigkeit seiner Existenz, sprach mit solcher Verächtlichkeit und Geringschätzung seiner Person, dass er selbst, Friedrich II. zitierend, oft den Ausdruck gebrauchte: qu’on me jette à la voirie“. Vgl. zur Selbsteinschätzung des todkranken Preussenkönigs: Unterredungen 1788, S. 157. Brief Zimmermanns an Tissot vom 5. September 1785. BBB Mss hh XVIII 71. Nr. 114.

Reimarus gegenüber prahlt Zimmermann über den enormen Absatz: „Daher riss man sich hier (sc. in Hannover) mein Buch über die Einsamkeit aus den Händen“.43 Am Urteil der Schweizer Gelehrtenrepublik ist ihm sehr gelegen, trotz gegenteiliger Äusserungen. An Hirzel schreibt er: „Was für eine Sensation mein Buch in der Schweitz gemacht hat, davon weiss ich noch kein eintziges Wort; und wenn ich es durch Dich nicht erfahre, so erfahre ich es nie“.44 Die Schweizer Freunde reagieren zurückhaltend und keineswegs begeistert. Die polemischen Seitenhiebe des aristokratischen Modearztes gegen seine alte Heimat scheinen sie nicht zu goutieren. An Johann Stapfer schreibt Zimmermann im April 1785 indigniert, dass Katharina II. von seinem Buch über die Einsamkeit „mit einer Teilnehmung, mit einer Wärme und mit einer Liebe“ gesprochen habe, „wie wenige Menschen in Deütschland davon gesprochen haben, und wie kein Mensch in der Schweitz niemals davon sprechen wird“.45 In diesem Brief ist auch die Rede davon, dass sein Werk bei allen jenen Schweizern, denen er es gesandt habe, vom Herzen und vom Kopf abgeprallt sei wie ein Kieselstein von einer Mauer, „der einzige Herr Pfarrer Rengger unterschied sich von den übrigen dadurch, dass er mir doch schrieb und sich für mein Buch bedankte, so wie er sich etwa in Brugg bey mir für ein Paar geschenkte Bratwürste bedankt hätte“.46 Johann Stapfer allerdings gegenüber äußert er im Oktober 1785, dass er „herzinniglich“ wünsche, dass er hundert Dinge nicht geschrieben hätte, die im Buch über die Einsamkeit stehen. Er könne das Buch gar nicht mehr ansehen, wie er überhaupt für literarischen Ruhm gleichgültig geworden sei und sich sogar dafür schäme, dass er diesen jemals habe wünschen oder sich darüber freuen können.47 Zimmermanns Buch über die Einsamkeit ist viel rezensiert worden. Eine Eloge verfasst Esdras Heinrich Mutzenbecher im 61. Band der Allgemeinen Deutschen Bibliothek,48 An Hirzel schreibt der Autor: „Mein Buch hat eine äusserst unerwartete Sensation in Deutschland gemacht. Es wird von allen Menschen gelesen, von den höchsten Ständen bis zu den niedrigsten, und macht Wirkungen, die ich mir im Traume geahndet hätte“.49 Er hofft, Hirzel sei mit ihm zufrieden, „und dann – Sublimi feriam Sidera vertice!“.50 Welcher Art sind diese Wirkungen? Die Rezension vom Oktober 1785 im Teutschen Merkur hebt die besondere Brauchbarkeit des Buches für den „Menschenforscher“ hervor. Es gehöre, „trotz allen seinen methodischen Mängeln und Sonderbarkeiten unter die vorzüglicheren Erscheinungen unserer schreibseligen Tage“, und es werde „ein Denkmal der ungewöhn43 44 45 46 47 48 49 50

Brief Zimmermanns an Reimarus vom 22. April 1788. SuUB Hamburg, Hss-Abt. NRS: Br.: Z 3. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 1. August 1784. ZZH, FA Hirzel 240, 20. Brief Zimmermanns an Johann Stapfer vom 8. April 1785. Luginbühl 1890, S. 35. Luginbühl 1890, S. 29. Brief Zimmermanns an Johann Stapfer vom 24. Oktober 1785. Luginbühl 1890, S. 48. ADB, 61. Bd., 1. Stück (1785), S. 141–157. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 1. August 1784. ZZH, FA Hirzel 240, 20. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 1. August 1784. ZZH, FA Hirzel 240, 20.

89

lichen Fruchtbarkeit des Geistes, der ausgebreiteten Gelehrsamkeit, der vielen und glänzenden Talente, so wie der hervorstechenden Eigenthümlichkeiten eines Mannes bleiben […], den Teutschland schon lange her unter seine beliebtesten Schriftsteller zählt“.51 Das Werk biete einen schätzbaren Beytrag zur Geschichte des

menschlichen Geistes und Herzens. Der Psycholog wird in demselben eine beträchtliche Menge theils einfacher theils raisonnirter Beobachtungen über den Menschen in der Einsamkeit nach ihren mannichfaltigen Ursachen, Wirkungen, Veranlassungen und Folgen, Vortheilen und Schaden, bey verschiedenen Temperamenten, Regierungsformen, Glaubenssekten, Himmelsgegenden und Zeitaltern antreffen.52 Ein ausländischer Leser, der sich um 1790 mit neuerer deutscher Literatur beschäftigte, nennt als besonders erwähnenswert Klopstocks Messias, Lavaters Aussichten und Zimmermanns Einsamkeit.53 In dessen Nachlass findet sich ein dreistrophiges vertontes Gedicht Werth der Einsamkeit nach Zimmermann von Johann Friedrich Reichardt.54 Die 1788 erstmals gedruckte, von J. B. Mercier übersetzte französische Ausgabe kürzt den deutschen Text um vier Fünftel.55 Das von Johann Samuel Ersch herausgegebene Allgemeine Repertorium der Literatur für die Jahre 1785–1795 verzeichnet, neben der Übersetzung Merciers,56 eine italienische und eine niederländische Übersetzung.57 Goethe erhielt von Reich die beiden ersten Teile, wohl der Luxusausgabe, zugesandt: „Für die mir überschickten schönen Bücher dancke ich auf das beste, sie sollen mit mir nach Eisenach wandern, wo Landschaffts Versammlung seyn, und wohin der Hof sich begeben wird. Vielleicht findet sich doch eine einsame Stunde um der Einsamkeiten geniesen zu können“.58 51

52 53 54 55

56

57

58

90

Der Teutsche Merkur vom Jahre 1785. Drittes Vierteljahr. Weimar 1785. Anzeiger des Teutschen Merkur. October 1785, S. CLIX. Die Besprechung in „Der unterhaltende Arzt“, Viertes Bändchen. Kopenhagen und Leipzig 1789, S. 31, spricht von einem der lesenswürdigsten Bücher, die je geschrieben worden seien, „die jeder vernünftige Mann aus der gelehrten und feinen Welt besitzen und nutzen sollte“. Der Teutsche Merkur vom Jahre 1784. Drittes Vierteljahr. Weimar 1784. Anzeiger des Teutschen Merkur. August 1784, S. CXIV. Brief von Nils Adam Bielke an Charles Bonnet vom 20. Mai 1790, in: Luginbühl I, S. 261. NLB Hannover, Ms XLII, 1933, A II, 76. Vgl. Seifert, Hans-Ulrich, J. B. Merciers Übersetzung von Über die Einsamkeit und K. H. Heydenreichs Rückübersetzung. Zur Zimmermann Rezeption in Frankreich, in: Schramm 1998, S. 214. Ersch führt in seinem „Repertorium“ unter Nr. 821 auf: „La Solitude considerée relativement à l’Esprit et au Coeur“, trad. de l’allem. de Mr. Zimmermann, par Mr. Mercier. Paris 1790. Vgl. zu Merciers französischer Übersetzung und Heydenreichs Rückübersetzung: Hans-Ulrich Seifert in Schramm 1998, S. 211–220. Allgemeines Repertorium der Literatur für die Jahre 1785–1790. Hg. v. Johann Samuel Ersch. Erster Band, enthaltend des systematischen Verzeichnisses in- und ausländischer Schriften Erste Hälfte. Jena 1793. Nr. 820: Saggio sopra la Solitudine del Sgr. J. G. Zimmermann. Trad. dal Tedesco. Vicenza 1788. Im Band Weimar 1799 ist aufgeführt unter Nr. 967: De Eenzaamheid, door J. G. Zimmermann, naarhet Hoogduitsch. Amsterdam 1. Teil 1789, 2. Teil 1791, 3. Teil 1791. Brief Goethes an Reich vom 24. Mai 1784. WA IV, 6, S. 280.

Auch Mendelssohns Familie liest so eifrig die Neuerscheinung, dass der Vater Moses Mendelssohn gar nicht zu einer eingehenderen Lektüre kommt. Dieser erkennt, dass Zimmermann den „Zeitgeist“ getroffen hat, denn er schreibt am 1. September 1784 an den Verfasser, er habe „zur sehr gelegenen Zeit“59 gesprochen. Zimmermann fungiert als Propagator in eigener Sache, was er zeit seines Lebens auch in anderen Angelegenheiten bedenkenlos zu tun pflegt.60 Hirzel bittet er, Erkundigungen darüber anzustellen und ihm das Ergebnis mitzuteilen, wo die vom Verleger Steiner in Winterthur verschickten „vier Exemplare desselben, auf Royal-Papier, für Herrn Rathsherr Schmid in Brugg“ geblieben seien.61 So verschenkt er sein Opus magnum an Deluc mit der von gespielter Demut durchsetzten Bitte, es an Hutton weiterzugeben „et de lui dire que je n’ose lui offrir cet ouvrage, que puisque je suis intimement persuadé qu’il en excusera les fautes et les erreurs en faveur de ce qu’il renferme peutetre par cy par là d’utile et de bon“.62 Auch als Lektüre für Schwangere erweist sich das Werk offensichtlich geeignet, wie das Beispiel der Gemahlin Georg Forsters, Therese, der Tochter Heynes, zeigt. In einem Brief vom 7. Januar 1788 äußert Forster zu Zimmermann: „Ihnen dankt sie (sc. Forsters Frau Therese) manche frohe heitere Stunde in Wilna, wo ich ihr während ihrer Schwangerschaft das Buch von der Einsamkeit alle Abende vorlas […]“.63 Der anonyme Redaktor des Basler Almanachs für das Jahr 1800, eines Taschenbuchs über Geschichte, Natur und Kunst des Kantons Basel, schließt seine Herausgebererklärung vom 30. November 1799 mit einem Hinweis auf J. G. Zimmermanns vierbändiges Einsamkeitswerk: Während für literarische Tätigkeit eine Einsiedlerzelle von entschiedenem Vorteil sei, da man in ihr allein „den still rieselnden Quell der Ruhe – der Anspruchslosigkeit einzig zu erwartenden Lohn!“ finde, gelte im übrigen: Das absolute Einsiedlerleben in der physischen Welt hat – wie Zimmermann (auch ihm gebühre ein Denkmal im Pantheon Helvetiens!) in seinem klassischen Werke vortrefflich und

59

60

61 62 63

Brief von Mendelssohn an Zimmermann vom 1. September 1784. Bodemann 1878, S. 290. Ganzer Brief in: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläums-Ausgabe (JubA). Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzbog. Bd. 13 (1977), S. 221ff., Nr. 655. Mit Anmerkungen d. Herausgebers, Alexander Altmann, auf S. 405f. Beispielweise hinsichtlich der Verbreitung seiner „Unterredungen“ mit Friedrich II., als er die gesellschaftliche Stellung seiner damaligen Patientin, der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau, sich dienstbar macht, um sein Werk in adligen Kreisen bekannt zu machen. Vgl. Wilfried Heinicke, Zimmermann als Arzt der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau. Die medizinhistorische Bedeutung der Korrespondenz, in: Schramm 1998, S. 65. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 1. August 1784. ZZH, FA Hirzel 240, 20. StAAG NL A–193 Fasc 11/5 Brief an Deluc vom 2.10.1786. Bodemann 1878, S. 343.

91

schön auseinandergesetzt hat – gegen einige nicht zu läugnende Vorteile, seine diese weit überwiegenden Nachteile für den Menschen, als Mensch.64

Die zitierte Stelle kann als Beispiel dafür dienen, dass Zimmermanns Werk Über die Einsamkeit bis um 1800 als allgemeines Referenzwerk über Konfessions- und Landesgrenzen hinweg weite Verbreitung fand und ihr Autor als ein „sehr beliebter einsichtsvoller Schriftsteller Deutschlands“65 galt. Die am 1. November 1791 in Schulpforta gehaltene Rede von K. H. Lommatzsch Von den Vortheilen wohlgebrauchter Einsamkeit66 bezeugt mittelbar die Rezeption von Zimmermanns Einsamkeitswerk.

64 65 66

92

Basler Almanach für das Jahr 1800. Taschenbuch der Geschichte, Natur und Kunst des Kantons Basel. Basel (bey Samuel Flick) 1800, S. 229. Journal von und für Deutschland. Zweyter Jahrgang. Sechstes Stück. Hg. v. Siegmund Freyherr von Bibra. Fulda 1785, S. 558. Vgl. 3. Forschungsgeschichte und Forschungsstand, S. 65ff. Vgl. „Allgemeines Repertorium der Literatur für die Jahre 1791 bis 1795“. Hg. v. Johann Samuel Ersch. Erster Band. Erste Hälfte. Weimar 1799, Nr. 968.

5

Schreiben und Einsamkeit als Therapeutika

5.1 Krankheit und Medizin im Text Vieles an Zimmermanns verwirrender Widersprüchlichkeit wird einsichtiger und verständlicher, wenn angemessen berücksichtigt wird, dass er ein physisch und psychisch Kranker war, unabhängig davon, ob dieser Sachverhalt von seinen Zeitgenossen wahrgenommen wurde. Er „hatte viele körperliche und viele Seelenleiden“.1 In einem Brief vermerkt Zimmermann allerdings ironisch: „J’ay appris hier d’Altona qu’on me disoit mort à Zurich, ou du moins à l’extremité. Messieurs de Zurich sont bien obligeants; il y a deux ans qu’ils me disoient maniaque“.2 Uneingeschränkt gilt für Zimmermann selbst, was er über Rousseau sagt, von dem nie gesagt werde: „er war krank“ (II, 190). Die Einsamkeitsschrift erscheint in einem anderen Licht, wenn die Krankheitsdarstellungen nicht ausschließlich nach rein rationalen Maßstäben registriert werden, sondern der auch unwägbaren Einwirkung von Zimmermanns eigener seelischer Konstitution behutsam Beachtung geschenkt wird. Mit einem pathologischen Fall hat man es zu tun, und der Leser von Zimmermanns Schriften tut gut daran, dieses lebenslang erkenntnisfördernde Kranksein mit seinen Implikationen zu bedenken. Die befremdliche Unverhältnismäßigkeit der Attacken gegen Obereit, die diametral unterschiedlichen Stimmungslagen einzelner Abschnitte, das disparat Überbordende der Form beispielsweise könnten den Leser selber zu apodiktischen Urteilen nach Zimmermanns Muster verleiten, wenn seine Therapiebedürftigkeit nicht in Rechnung gestellt würde. Zimmermanns eingestreute Klagen über Schwäche, Nervosität und Melancholieanfälle sind bis zu einem gewissen Grad auch zeittypisch.3 Seine Gedanken bey einer tiefen Melancholie vom November 1748 tragen den Vermerk „damals habe ich noch keinen Anfall von der Hypochondrie gehabt“.4 Neben eingebildeter Kränklichkeit und Melancholie finden sich im Einsamkeitswerk, dessen Autor sich selbst als „enfant gaté“5 bezeichnet, Züge tatsächlicher Krankheit. Streitsucht, Selbstüberschätzung und Narzissmus verbinden sich mit einer ausgeprägten Neigung zu Indiskretionen aller Art, Klatschsucht

1 2 3 4 5

Baldinger 1796, S. 137. Brief Zimmermanns an Tissot vom 29. März 1771. BBB Mss hh XVIII 71. Nr. 101. Vgl. zu diesem Komplex insgesamt Schings 1977. Mit Skalpell und Federkiel 1995, S. 24. Brief Zimmermanns an Haller vom 1. Dezember 1755. Ishcer 1907, S. 194.

93

und Obszönitäten.6 Im Wissen um seine seelische Labilität und sein aufbrausendes Temperament bekennt Zimmermann: „Utinam una cervix! – dachte ich oft (Gott verzeih es mir) in meiner zu feurigen Jugend“.7 Müsste Zimmermanns Schrift nicht auch als kompensierender Ausdruck von unbefriedigtem Narzissmus verstanden werden, in dem sich „seine notorische Geltungssucht und masslose Eitelkeit“8 erweisen? Für Bahrdt ist Zimmermann „mein eitler, stolzer und selbstgefälliger Herr Ritter“,9 und er fragt höhnisch, unbelastet vom Wissen um Zimmermanns tatsächliche psychische Verfassung: „Sagen Sie mir, woran sich Ihre Frau Mutter versehn haben muss, dass Sie so ein ganz entsetzlich eitler und in sich selbst verliebter Mann geworden sind?“10 Ein verständnisvoll ausgerichtetes Erkenntnisinteresse begegnet Zimmermann nicht bloß mit eilfertigem Achselzucken oder oberflächlichem Mitleid. Das Werk Über die Einsamkeit in der Fassung von 1784/85 kann, wie mit unterschiedlicher Berechtigung alle übrigen Schriften, vor allem der zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichte dritte Teil der Erfahrung in der Arzneykunst, als der Versuch Zimmermanns gelesen werden, die eigene Grunddisposition durch Schreiben zu stabilisieren im Bestreben, die subjektiv gewonnenen und im Schreibprozess unmittelbar vorgeführten Bewältigungsrezepte für Leser allgemein verfügbar zu machen. Zimmermanns Existenzschwierigkeiten mit sich selbst und mit allem, was ihm als „Gesellschaft“ begegnet, weisen auf eine sowohl physische wie psychische Labilität, die maßgeblich durch Schreiben, und in gewissem Sinn auch durch Lesen von Literatur, Ausgleich und Selbstfindung in der Einsamkeit sucht, wenn körperliches und seelisches Gleichgewicht auch nur ephemer zu finden sind, hauptsächlich während des Schreibens selber. Eine eigentliche Genesungsbildung durch Erschreiben liegt vor, die zu einer gesunden Lebensführung verhelfen soll. Im Folgenden wird diese zentrale therapeutische und prophylaktische Dimension seiner Autorschaft anhand der Einsamkeitsschrift eingehender untersucht. Seine eigene Krankheitsgeschichte und die Darstellungsformen der Krankheiten Anderer sind auch symptomatischer Ausdruck der Bewusstseinslage der Zeit, wie im abschließenden Teil dieser Arbeit zu zeigen sein wird. Die Leitfragen für dieses erste Kapitel der Werkanalyse lauten: Wie verhalten sich die Hinweise auf Krankheiten, Zimmermanns eigene und die anderer, zur Einsamkeitsthematik? Wie werden Schreiben und Einsamkeit zu Therapeutika, und welche Funktion kommt dabei dem Geschriebenen zu? 6

7 8

9 10

94

Treffenderweise bemerkt Bouvier 1925, S. 113: „ce qui n’était que tendance, hypocondrie dans le sens qu’on donnait alors à ce mot, est devenu folie hypocondriaque telle qu’on la définit aujourd’hui“. Versuch 1779, S. 39. Bahrdt, Carl Friedrich, Mit dem Herrn (von) Zimmermann […] deutsch gesprochen. Mit einem Nachwort hg. v. Christoph Weiss. St.Ingbert 1994 (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts 19), S. 62. Carl Friedrich Bahrdt 1994, S. 21. Carl Friedrich Bahrdt 1994, S. 30.

Der Beginn der Schrift Von der Einsamkeit (1773) wirbt exordialtopisch um geneigtes Interesse der Leserschaft und manifestiert zugleich eine psychohygienische Dimension seines Schreibens, die durch imaginative Erinnerung belebt wird: In diesem unruhevollen Leben, unter dem Zwange der Welt und der Pflichten, unter der drückenden Last der Geschäfte, unter diesem für mich ewig fremden und ewig trüben Himmel, möchte ich noch einmal die Freuden meiner muntern Jugend zurückrufen, etwas von jenen unschuldigen Freuden meiner besten Jahre, in welchen ich keine höhere Wollust gekannt, als die Wollust des einsamen Denkens: keine bessern Vergnügungen als die häuslichen, die itzt auf ewig von mir verschwunden sind.11

Bei Zimmermanns lebenslanger schriftstellerischer Tätigkeit sind indessen stets zwei Hauptkomponenten beteiligt: ein mit dem Leser kokettierendes, auf ehrenvolle Anerkennung bedachtes Trachten nach möglichst uneingeschränktem Beifall, gesellschaftlicher Geltung und unvergänglichem Ruhm – „Ne Suis-je pas deja Horace lui meme?“12 – neben und mit einem existentiellen Schreibbedürfnis. Erfolg, Einfluss und damit verbundener materieller Reichtum durch Schrift ist ein mächtiger Anreiz eines karrierebewussten Bürgerlichen im Ancien Régime, zumal eines Schweizer Arztes, der am Totenbett Friedrichs II. Gespräche führt mit „dem grössten Manne, den das achtzehnte Jahrhundert hervorbrachte“:13 „Schreiben war für die Ärzte der Aufklärung neben praktischer Berufsausübung, Geselligkeit und Reflexion eine wichtige Beschäftigung“, konstatiert M. Dinges in einer „machtsoziologischen“ Analyse der Erschreibung von Macht durch gelehrte Ärzte.14 Kräftig mitspielende Ruhmsucht und Schreiben als auf seelischen Ausgleich zielende Selbstgesundung sind bei Zimmermann also stets im Spiel, seine antirevolutionäre Publizistik nicht ausgenommen. Schreiben ist für Zimmermann passioniert betriebene „Lieblings-Zerstreuung“,15 die zum Bedürfnis wird, das wenigstens Erholung, „wahre und wünschenswerthe Erholung nach Arbeit und Sorge“ (I, 44),16 spendet und damit Heilung oder wenigstens Linderung herbeiführt. Zunächst verschafft der physische Schreibvorgang psychische Erleichterung, ja Befreiung, weil er bedrängende Widersprüche im Schreiben zeitweilig aufzuheben vermag: „Üble Laune verdränget man augenblicklich, wenn man ein Buch schreibt, und sie dann, mit Erlaubnis, nur gleich in sein Buch ausgiesset. So ergreift man oft sauersehend und brummisch die Feder, und lachet schon wieder, indem man sie weglegt“ (III,

11 12 13 14

15 16

Hannoverisches Magazin. Eilfter Jahrgang vom Jahre 1773. Hannover 1774. 1. Stück, Freytag, den 1. Januar 1773, S. 1. Hamel 1881, S. 16. Unterredungen 1788, S. 3. Dinges, Martin, Medizinische Aufklärung bei J. G. Zimmermnann. Zum Verhältnis von Macht und Wissen bei einem Arzt der Aufklärung, in: Schweizer im Berlin des 18. Jhds. Hg. v. M. Fontius u. H. Holzhey. Berlin 1996, 141ff. Wichmann 1796, S. 12. Vgl. Wichmann 1796, S. 26.

95

338).17 Eine andere Stelle empfiehlt schriftstellerische Tätigkeit als ein „Hülfsmittel zur Heiterkeit des Geistes, ein Gegengift der Melankolie, und ein wahrer Vortheil der Einsamkeit“ (III, 416), weil „jede überwundene Schwierigkeit in Anordnung und Vortrag, jede gelungene Wendung, jede wohlgestellte Periode, jedes glückliche Wort“ (III, 416) von drückenden Gedanken befreie. Offensichtlich vermag das Ergebnis seiner Schreibkuren auch zur Gesundung des Lesers beizutragen, wie eine zeitgenössische Besprechung feststellt: Als Arzney betrachtet dient dies ausserordentliche Werk als eine Herzstärkung und Erquickung. Es befördert einen freyen Einfluss der Lebensgeister in das Herz, kömmt einer Verhärtung und Einschrumpfung desselben kräftig zuvor, bringt ein schwarzes dickes Blut zum Fliessen, lindert eine ängstliche Beklemmung circa praecordia, wehrt der Niedergeschlagenheit und Schwermuth, und bringt erleichternde Seufzer zuwege, und verschafft ruhigen, wohltätigen Schlaf.18

Im Schreibprozess erfährt sich Zimmermann als „Ganzheit“, in diesem „therapeutischen Argumentationsziel“19 liegt seine eigentliche Zweckbestimmung: Sich selbst alles seyn, ohne alle äussere und fremde Hülfe von Menschen; Stunden, die sonst Traurigkeit, Unmuth, und Schmerz, aus unserm Leben wegrissen, vielleicht in nicht ganz unnützer Arbeit hinbringen: diess ist der grösste Vortheil den Schriftstellerey hat und giebt, und mich befriedigt dieser allein und ganz (III, 417).20

Die intendierte Wirkungsorientierung verfolgt demnach eine therapeutische wie prophylaktische Absicht mit dem Erziehungsziel der Ausbildung einer möglichst harmonisch geeinten Persönlichkeit, für Autor und Leser gleichermaßen. Tissot bittet Zimmermann, mit seinen intimen Geständnissen diskret zu verfahren: „C’est un Soulagement pour moi quand je puis parler de ma melancolie, mais je n’en parle aprés ma femme qu’à Marcard qui me connoit à fond et d’ailleurs ici à personne. Je vous supplie aussi de n’en parler à qui que ce soit au monde“.21 Diese Haltung ruft Lepenies’ These vom Eskapismus des Bürgertums in Erinnerung, „wie die 17

18 19 20

21

96

Vgl. III, 384: „Da macht man, wenn man schreiben kann und mag, seinem Herzen Luft“. Hirzel rät er: „Schreib ein Buch! Diess, und eine Frau zu haben wie Du und ich, ist das grösste arcanum gegen alle Lebenspein“. Brief vom 12. Februar 1785. ZZH, FA Hirzel 240, 22. Zutreffend kommentiert Pirmin Meier: „Die Briefe sind, wie ihm selber gelegentlich klar wird, eine Therapie, womit er sich für die Dauer der Niederschrift von der Hypochondrie, einem klassischen Namen für die Depression, wegstemmen kann“. Meier 1999, S. 364. Tode, D. Johann Clemens, Der unterhaltende Arzt. Viertes Bändchen. Kopenhagen und Leipzig 1789, S. 36. Pfotenhauer 1987, S. 9. Vgl. die Ablehnung einer psychoanalytischen Behandlung durch Rilke im Brief an Emil Freiherr von Gebsattel vom 24. Januar 1912, um sich seine dichterische Kraft zu erhalten, die selbsttherapeutisch genug ist: „[…] ich bin über die ernstesten Erwägungen zu dem Ergebnis gekommen, dass ich mir den Ausweg der Analyse nicht erlauben darf, es sei denn, dass ich wirklich entschlossen wäre, jenseits von ihr, ein neues (möglicherweise unproduktives) Leben zu beginnen […]“. Rainer Maria Rilke, Briefe. Hg. v. Rilke-Archiv in Weimar. Erster Band. Frankfurt/M. 1987, S. 322. (Erste Auflage Frankfurt/M. 1950). Brief von Zimmermann an Tissot vom 13. August 1790. BBB Mss hh XVIII 71 Nr. 115.

Melancholie sich hier in einer Klasse ausbreitet, die sich als Ort ihrer Gesellschaftsflucht die Literatur wählt“.22 Fehlt die Möglichkeit einer direkten Aussprache mit einem anteilnehmenden menschlichen Wesen, „einem lichthellen erhabenen Verstande und einer reinen sanften Seele (III, 3), vermag stellvertretend Schreiben als Therapie zu dienen, so z.B. nach dem Wegzug seines Jugendfreundes Stapfer von Brugg: „Ich war untröstbar, schrieb um mein Leid zu lindern, mein Buch über die Erfahrung in der Arzneykunst“ (III, 7).23 Ziehen wir zum Vergleich einen besonders in diesem Kontext interessanten Autor des 20. Jahrhunderts heran: Kafka. Eine Tagebucheintragung Kafkas vom September 1912 äußert Vorbehalte seinen eigenen Romanen gegenüber und lässt nur die eruptiv entstandenen Erzählungen gelten: „Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele“.24 Man wird den Vergleich mit Kafkas Schreibverständnis nicht strapazieren wollen, aber Zimmermann ist insofern doch ein moderner Verwandter Kafkas, als er auch eine aus dem Inneren gleichsam herausschleudernde Arbeitsweise bevorzugt: „Soll ich so gut schreiben, als ich nach meinen kleinen Kräften schreiben kann, so muss ich glauben, ich sey nun auf vier, fünf, bis sieben Stunden frey; und dann werfe ich auf einmal alles aus, was in mir ist“ (III, 390).25 Zimmermanns Schriftstellerverständnis unterscheidet sich von Kafkas Unerbittlichkeit auch dadurch, dass er neben der selbstgesetzlichen, unentrinnbaren Notwendigkeit zum Schreiben eine moralische Absicht von Selbstvervollkommnung26 und „edleren Gesinnungen“ (III, 390) verfolgt, die wichtiger sei als der Aspekt publizistischer Resonanz: Gut schreibt man nie, wenn man nicht durch einen innern Ruf getrieben ist zum schreiben, wenn man nicht die glücklichen Minuten ablauert, in welchen der Kopf helle ist, und das Herz warm. Man muss erwecket seyn durch lebhafteres Anschauen, erhöhet durch edlere Gesinnungen, gestählt durch Nichtachtung der Hindernisse; dann wird man alles gewaltig anfassen, aber 22 23

24 25

26

Lepenies, Wolf, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969, S. 87. Vgl. Zimmermann über die Entstehung der „Erfahrung in der Arzneykunst“: „Je l’ay ecrit dans des années de souffrance, dans une situation qui sans endurcir le coeur vous apprend à dire la verité en grondant“. Brief an Ludwig Eugen von Württenberg vom 31. Mai 1766. R. Ischer, Neue Mitteilungen über Zimmermann, in: Euphorion 8 (1901), S. 633. Nach einem umfangreichen Brief an Hirzel, den er um Verzeihung für seine „Weitläufigkeit“ bittet, bemerkt er: „Dieser Brief ist lange mein lieber Freund: aber es ward meinem Hertze wohl indem es mit Dir sprach“. Brief vom 29. März 1780. ZZH, FA Hirzel 240, 19. In der Flugschrift gegen Kästner vom 28. Oktober 1779, S. 20, bemerkt Zimmermann: „Es ist wahr, dass es Fälle giebt, in welchen man zur Linderung seiner Schmerzen schreibt und mahlt“. Kafka, Franz, Kritische Ausgabe. Tagebücher. Hg. v. H. G. Koch u.a., Frankfurt/M. 1990 (KKAT) I, S. 461. IV, 176f. versichert: „Aber es giebt Fächer in der Seele, die verschlossen bleiben eine lange Zeit, und stösst ihr die Thür nur ein wenig auf, so stürzet alles heraus“. Vgl. auch den Brief Zimmermanns an Rengger vom 29. Februar 1788: „Soll ich etwas schreiben, so muss es schneller und leichter Ausguss irgend einer guten oder üblen Laune seyn, und dazu brauche ich freylich nicht viel Zeit“. Rengger 1830, S. 75. Vgl. „Wir können immer mehr als wir glauben, wenn wir nur nicht aufhören uns zu üben“ (III, 447).

97

auch sorgsam seine Gedanken auslesen, und seine Worte ausbilden. Dann fraegt man sich selbst nicht mehr: soll ich schreiben oder nicht? Man muss schreiben; und fiele auch Hauswesen, Familie, Liebe der Freunde, Gunst der Grossen, Alles, darüber zu Trümmern (III, 389ff.)

Für Zimmermann ist Schreiben vor allem ein Bewusstseinsprozess, in den auch Unbewusstes einfließt. Zimmermann gehört wie Lavater zu jener Kategorie von Menschen, die schneller schreiben als denken. „So schnell geschrieben als die Feder läuft, und die der Verstand nicht wiegt“ (II, 256) lautet eine für sein Schreiben kennzeichnende Maxime. Sie dient letztlich einer bewussten Selbsterkenntnis mittels eines Schreibkonzepts, das auch Unbewusstes umfasst und eine Art Selbsterlösung anstrebt. Was er über das Einsamkeitswerk in der Fassung von 1784/85 schreibt, gilt weitgehend für die anderen Schriften auch: „Dieses Buch über die Einsamkeit sollte in meinen Trübsalen Muth bey mir anfachen […] vielleicht auch meine Seele hie und da befreyen von einem drückenen Gedanken“ (I, XIII). Eine Rezension von Heydenreichs Rückübersetzung des Werkes Über die Einsamkeit (1784/85) aus dem Französischen in der Neuen Allgemeinen Deutschen Bibliothek von 1798 bemängelt, die Begriffe „Einsamkeit“ und „Muße“ würden nicht mit der nötigen Trennschärfe voneinander abgegrenzt.27 Konturenscharfe Begriffsbestimmungen sind Zimmermanns Sache nicht. Einsamkeit steht in einem Bezugsfeld verwandter Gemütsphänomene, welche auf die leib-seelische Doppelkonstitution des Menschen weisen: Schwärmerei und Enthusiasmus sowie Hypochondrie, Langeweile und Melancholie. Wie steht es beispielshalber um „Langeweile“ in Zimmermanns Verständnis? Langeweile sei eine Hauptursache des Triebes zur Geselligkeit, dem alle Menschen unterworfen seien wie dem Schnupfen und dem Husten (I, 36). Viele bevorzugen eine Art von Geselligkeit, die nicht persönlichkeitsbildend wirke: „In Schaaren dränget man sich auf Assembleen, Bälle, Reduten, unter Haufen von Lichtern und Diamanten, und unter unabsehbare Reihen schnell athmender Damen“ (I, 39). Langeweile und Ekel vor sich selbst treibe die meisten in Gesellschaft, und nur wenige ergäben sich aus Ekel vor Gesellschaft der Einsamkeit (I, 36). Die Lektüre des Einsamkeitswerks verspricht, Langeweile, die wie Heimweh als Krankheit aufgefasst wird, nicht nur für die Dauer der Lektüre, sondern für immer zu verscheuchen. Zimmermann definiert: „Die Langeweile, diese schreckliche Krankheit der Seele, ist die Abwesenheit angenehmer Ideen. Sie stürzet uns in eine gedankenlose Unthätigkeit, sie erreget die Empfindung einer unüberwindlichen Leerheit in der Seele, sie tödet alle Kräfte des Verstandes“.28 Er unterscheidet zwei Arten von Langeweile: Ekel vor sich selbst und Ekel vor der Welt, der das Einsamkeitsverlangen begünstigt: „Solche Elende wissen nur darum nicht weder mit sich selbst 27

28

98

NADB 38.1 (1798), S. 266–268. Vgl. Hans-Ulrich Seifert, J. B. Merciers Übersetzung von Über die Einsamkeit und K. H. Heydenreichs Rückübersetzung. Zur Zimmermann-Rezeption in Frankreich, in: Schramm 1998, S. 217. Von der Einsamkeit, Hannoverisches Magazin, Eilfter Jahrgang (1773), 1. Stück. Freytag, den 1. Januar 1773, S. 7.

noch mit andern umzugehen, weil sie die Seele nicht im Kopfe haben, sondern im Magen; ihr ganzes Leben ist eine lange Unverdaulichkeit“.29 Eingehend beschäftigt sich Zimmermann mit der Problematik der Langeweile bei Mönchen und Einsiedlern. Im sechsten Kapitel des zweiten Teils der Schrift Über die Einsamkeit behauptet er, dass bei diesen „schreckliche Langeweile und mannigfaltige Kränklichkeit der Seele und des Körpers“ (II, 122) eine unbestreitbare Wirkung der Einsamkeit sei. Zimmermann, der „religiöse Melancholie und acedia ausdrücklich mit Langeweile im Sinne einer empirisch determinierten Stimmung übersetzt, diese Langeweile aber in ihrer Bildlichkeit im Umfeld der Todsünde belässt“,30 richtet, „das bereitgestellte Muster der Argumentation religiöser Orthodoxie bewusst nur halbwegs profanisierend“,31 seine scharfe Religionskritik gegen Schwärmer und Phantasten aller Zeiten. Einsamkeit wirkt je nach individueller seelischer Disposition als Heilmittel gegen Melancholie oder verursacht diese: „Melankolie wird darum zuweilen eben so gut durch Einsamkeit geheilt, als in vielen Fällen durch Einsamkeit erzeugt“ ( II, 182). Im zehnten Kapitel des dritten Teils bestimmt er in diesem Sinn Schreiben als Therapie. Schriftstellerei sei „ein Hülfsmittel zur Heiterkeit des Geistes, ein Gegengift der Melankolie, und ein wahrer Vortheil der Einsamkeit […] (III, 416). Diese seine eigene Funktionsbestimmung von schriftstellerischer Tätigkeit gilt allgemein: „Wer freuet sich nicht im Stillen, wenn er sieht was er in einem einzigen Abend thun kann, indess da zweyhundert Kutschen durch seine Gasse rollen, und alle Wände seines Hauses von der allgemeinen Visitenwuth zittern“ (III, 417). Im Brief vom 5. Juli 1781 an seinen Verleger Reich in Leipzig verspricht Zimmermann: „Es kommt sehr vieles von Melancolie in diesem Buche vor; fürchterliche Schilderungen; aber dann auch Räthe und Vorschläge in Menge für Traurige und Betrübte, damit sie sehen, wie Melancolie sich auflösen könne in heilige Unterwürfigkeit unter die Fügungen Gottes und in süsses Leyden“.32 So verstandenes Schreiben hat eine heilsame Wirkung, indem es emotionale Spannungen löst, allerdings um den Preis einer Art von Suchtentfachung, die nach erneuter Schreibbefreiung verlangt. Bleibt diese aus, steht es schlecht um Zimmermanns Seelenhaushalt. Neben der Betonung der Wichtigkeit von Kindheit und Jugend im Leben eines Menschen behauptet er, der Mensch vergesse grundsätzlich nichts: „Ach das erste Erröthen, der erste kleine Händedruck, der erste Zorn über eine unerwartete Störerinn, oder einen unbehaglichen Zerstörer ihrer süssen Unterredungen, diess alles sind unvertilgbare Eindrücke! Oft glaubt man die Zeit habe 29 30 31 32

Von der Einsamkeit. Hannoverisches Magazin, Eilfter Jahrgang (1773), 1. Stück. Freytag, den 1. Januar 1773, S. 11. Langenbacher, Andreas, Langeweile und Imagination. Untersuchungen zur literarischen Wertung von Langeweile. Diss. phil. Bern 1982 (Masch.), S. 35. Langenbacher 1982, S. 35. Brief Zimmermanns an Reich vom 5. Juli 1781. Bayerische Staatsbibliothek München. Autogr. Johann Georg Zimmermann.

99

sie ausgelöscht […] Ewig bleibet der Eindruck“ (IV, 176f.). Zimmermann versucht nicht, in systematischer Analyse der Gesetzlichkeit der sich manifestierenden psychischen Übel auf die Schliche zu kommen, sondern er betreibt Schreiben eher in der erklärten Absicht, sich zu befreien: Psychohygiene ohne ursacheneruierendes Systeminteresse gemäss Montaignes Wort, dass er sein Buch nicht mehr gemacht habe als dieses ihn selbst. Auf Empirie beruhende Selbstbeobachtung steht spannungsreich neben einem nicht mehr rational kontrollierten, unbewussten Schreibverfahren, das sich an keinen vorgegebenen Richtlinien orientiert.33 Dieses trifft sich insofern mit Goethes „Bruchstücken einer grossen Konfession“,34 als es seelisch befreiend und damit lindernd, ja heilend wirkt. Rousseau, ein bei Zimmermanns Schreibprozessen immer versteckt oder offen beteiligter Autor, beansprucht am Anfang seiner „Confessions“, ein einzigartiges Werk zu unternehmen: „Je forme une entreprise qui n’eut jamais d’exemple, et dont l’exécution n’aura point d’imitateur. Je veux montrer à mes semblables un homme dans toute la verité de la nature; et cet homme, ce sera moi. Moi seul“.35 Zimmermanns Einsamkeitswerk erscheint als Nachahmung der „Confessions“, indem auch er auf Originalität pocht, weil sein Werk Gedanken darbiete, die vor ihm noch niemand ausgesprochen habe. Seine spezifische Variante ist ein autobiographisches Dokument der Selbstbeobachtung und -prüfung, das mit analytischer Wahrhaftigkeit der Selbstverständigung und Selbsterkenntnis dient. Die Einsamkeit bildet den übergeordneten Problemrahmen, in dem Zimmermann erst erfährt, wer er eigentlich sei und worin seine Bestimmung im Gesamtganzen von Gesellschaft und Natur bestehe. Rousseau und sein von Zimmermann eingehend gelesenes Werk haben auch die Funktion, im Sinne einer versteckten Autobiographie als Mittel zum Zweck der Selbstcharakterisierung zu dienen. Im Werk über die Einsamkeit findet sich ein derartiger längerer Passus einer Selbstdarstellung in der Maske Rousseaus: Rousseau floh in seinen letzten Lebensjahren die Menschen. Er glaubte, sie haben sich alle gegen ihn verschworen […] Fürchterliche Keime von Hypochondrie und Melancholie lagen sodann seit früher Jugend in seinen Eingeweiden. Er hatte tausendfachen Tod durch martervolle Krankheiten gelitten. Man sagt, er war ein Narr, oder höchstens, er war ein erhabener Narr, aber nie sagt man, er war krank. Er […], der die Menschen bloss deswegen floh, weil er sie

33

34 35

Ischer 1893, S. 212 verkennt den Suchtcharakter und die Dimension der Psychohygiene von Zimmermanns schriftstellerischer Existenz, wenn er meint: „Zimmermann gehört nicht zu den Schriftstellern, deren Leben ganz in ihren Werken aufgeht. Er hat nicht aus unmittelbarem, innerem Schaffensdrange die litterarische Laufbahn betreten […]“. Ischer sieht die äusseren Verhältnisse als bestimmend an und Ehrgeiz als mächtigste Triebfeder. Ähnlich problematisch H. Röhling 1978, S. 392): „Die poetische Kraft hätte die Düsternis von Zimmermanns Ende aufhellen können“. Zimmermanns schriftstellerische Tätigkeit wirkte durchaus psychohygienisch, war aber gegen seine seelische Disposition machtlos. Vgl. Dichtung und Wahrheit, 7. Buch, HA 9, S. 283. Rousseau, Jean Jacques , Œuvres complètes I. Bibliothèque de la Pléiade. Les confessions, autres textes autobiographiques. Edition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond. Paris 1959, S. 6.

100

nur in seiner schrecklichen Hypochondrie immer durch einen schwarzen Flor sah; Er, der in den Zeiten der grössten Kraft seiner Feder gut war wie ein Kind; Er, der mit dem unaussprechlichen Zauber seiner Beredsamkeit aus uns macht was er will; Er, der einzig und allein durch das Feuer und die Zärtlichkeit in seinem Herzen uns so hinreisst, so bewegt, so entzücket, uns wenn und wie er will die Brust erweitert und zusammenpresst […] (II,260f).

Rousseau ist für Zimmermann ein therapiebedürftiger Melancholiekranker, und er hat seine eigene Therapie im Sinn, wenn er über Rousseau vermerkt: Man hat nie bedacht, dass dieses fürchterlich melancholische Buch, und die seinen Bekenntnissen angehängten Reverien eines einsamen Wanderes […] ein demütigendes und rührendes Beispiel menschlicher Schwachheit sind, und für alle Zeiten schauderhafte Beweise, wie schwarz und falsch auch ein solcher Geist, wenn er krank ist, in der Einsamkeit sieht (II, 262f.).

Dem objektiven Trachten nach allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten durch empirisches Abklären antwortet ein individuelles Bestreben, sich ein inneres Gleichgewicht zu erschreiben: die Regenerierung einer zerrissenen Psyche, das inselhafte Erleben seelischer Ganzheit. Die auf diese Weise verstandene und ausgeübte schriftstellerische Tätigkeit vermittelt eine Seelenlage, die auf „weise Selbstgenügsamkeit“ (IV, 303) zielt und den Geist der Stoa – „stoische Liebe“ (III, 16) – atmet. Das Rezept lautet: „Man übe seine Kräfte, trage Unglück heroisch, kämpfe gegen jede Schwäche und komme dadurch zur Ruhe (IV, 197)“.36 Ruhe, als Harmonie von Körper und Seele, ist eines der Schlüsselwörter der ganzen Schrift, sowohl deren Mittel wie deren Zweck. Die Einsamkeitsschrift ist das Exerzitium Zimmermanns sowie nachfolgewilliger Leser für eine Gemütsruhe, die an die antike Ataraxia denken lässt. Worin besteht das Ziel demnach? Die Antwort Zimmermanns lautet: „sich selbst alles zu seyn, ohne alle äussere und fremde Hülfe von Menschen“ (III, 417).37 Dieser paradiesische Seelenzustand vom Erleben der Zeitlosigkeit, also des Glücklichseins, bedeute auch, dass der Zeit ihr gleichsam göttliches Recht gegeben wird: „O Zeit, du bist das gröste Gut, das der Himmel den Sterblichen schenket? […] Lasst uns die so schnelle dahin eilenden Stunden mit der genauesten Sorgfalt abmessen, und mit einem weisen Gebrauche dieselbe zu unserm Besten und dem Nutzen des Nächsten, zu unserer Erleuchtung und zu unserm Heile anwenden!“.38 Ziel ist Friede mit sich selbst, der Friede mit der ganzen Welt bedeute (IV, 92),

36

37

38

Z.B. III, 156: „ruhige Erhabenheit der Seele“; III, 157: „wahre Erhabenheit“. Ein Vergleich zwischen Zimmermanns „Erhabenheit der Seele“ und Schillers Autonomie-Konzept wird hier nicht ausgeführt. Vgl. Nationalstolz 1789, S. 199: „es ist nicht möglich, ausserhalb dem immer heitern Bezirke der Religion eine gewaltigere Stütze im Unglück zu finden, als die redliche Achtung für sich selbst“; dazu auch I, 9: „Je weniger der Mensch bedarf; und je emsiger er sich bestrebet, in sich selbst Quellen von Vergnügen zu entdecken: desto leichter sondert er sich von andern Menschen ab, und desto gewisser findet er wahres Glück“. Einsamkeit 1756, S. 107ff.

101

oder „weise Selbstgenügsamkeit“ (IV, 303).39 Schreiben und Einsamkeit wappnen aber nicht gegen jegliche existenzbedrohende Wechselfälle des Lebens, denen sie machtlos gegenüberstehen können. Die psychische Erkrankung seines Sohnes Jakob liess sich durch Schreiben nicht bewältigen, wie Zimmermann gegenüber Lavater im Brief vom 23. November 1778 äußert.40 Zimmermann versucht, modern gesprochen, zu verdrängen, was sich schriftlich nicht verarbeiten lässt, und schätzt desto kostbarer die symbiotische Wirksamkeit von Schreiben und Einsamkeit als Therapeutika. In diesem ausgrenzenden Sinn ist der „ganze Mensch“ Zimmermanns ein erschriebener, der vor allem im Medium der Literatur eine postulierte Realität erhält. In diesem eingegrenzten Ort der Schriftlichkeit, die eine Ich-Konstitution immer schon voraussetzt, ist es vielleicht überhaupt zu haben, „dieses unausgesetzt Schreibende und im Schreiben sein Anderes, das ganze Leben Imaginierende“.41 Krankheitsbilder, die immer in ihren leib-seelischen Interdependenzen Beachtung finden, sollen im folgenden anhand ausgesuchter Beispiele aus dem Einsamkeitswerk betrachtet werden. Besonders interessiert sich Zimmermann für Normabweichendes, Merkwürdiges und Abartiges, das im Schatten der Vernunft ein aufzuhellendes Dasein fristet. Auf Krankheiten der Imagination liegt das Hauptgewicht. An Johann Peter Hebels Geheilten Patienten aus dem Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes erinnert die Fallstudie eines wohlstandsverweichlichten Patienten Zimmermanns aus Hannover mit verstopfter Leber, der im Bad Pfeffers in Graubünden kurt und durch ausreichende Bewegung gesund wird (IV, 33–35). Zimmermann legt dar, dass Essensdisziplin mit der geistigen Einstellung beginnt, die dem Körper gebietet. Die Hinwendung zu affektiven Seelenvorgängen in ihren körperlichen Bedingtheiten verknüpft er ausdrücklich mit der Einsamkeitsthematik: „Die Geschichte des Triebes zur Einsamkeit enthält ja auch die Geschichte von mancher traurigen Krankheit der Seele“ (IV, 341). So versteht er die breit entfaltete

39

40

41

Vgl. „Stoische Heiterkeit“ (Erf. I, 463). Die „Stoische Philosophie“, wie die geoffenbarte Religion auch, beruhe auf dem Grundsatz, „dass die Seele heiter und still seyn kann, indem der Körper mit Qual und Schmerzen ringt“ (Erf. I, 448). Wie sehr Zimmermann derart seelischer Ausgeglichenheit bedurfte, zeigt das Postskriptum einer Briefstelle, das kurz nach dem Verlassen der Schweiz im Dezember 1768 in Hannover entstand: „P. S. En relisant toute cette Lettre je fremis à l’idée des peines que je vous cause, cher ami (Deluc), par mes lamentations. Consolés-vous! cela ne durera pas. Une mort bienfaisante m’imposera le Silence bientot“ (BBB Mss hh XVIII 71, Nr. 68. Brief an Deluc vom 23. 12. 1768). Gerade das insistierende Wiederholen und die autosuggestive Beschwörung innerer Ausgeglichenheit und leidenschaftsloser Unerschütterlichkeit verweisen auf den Wunschcharakter der angestrebten Seelenlage, die der Schriftlichkeit selbst einen spezifischen Status zuweist. Nachdem er Lavater um Entschuldigung gebeten hat, dass er wegen seines Sohnes längere Zeit nicht mehr schreiben konnte, schliesst er: „Ich muss weg, weg, weit weg, von allem was so fürchterlich auf meine Seele wirkt“. Pfotenhauer, Helmut, Einführung zu IV. Literarische Anthropologie, in: Der ganze Mensch 1994, S. 558.

102

Biographie Obereits (III, 37–104) letztlich als Krankengeschichte, mit der er einen Beitrag zur Spukgeschichte der menschlichen Seele (III, 36) leiste. Zimmermanns Geschichte der Sexualität hat zum Generalthema die Überwindung der Unkeuschheit in der Einsamkeit, die an Beispielen „christlicher Mönche und Nonnen, Heiliger und Anachoreten“ (II, 341) belegt wird bei einer Ausweitung auf den asiatischen Raum (II, 342ff.). Die Rede ist u.a. von nächtlichen Pollutionen, Bewahrung der Jungfräulichkeit, auch Boccaccios Decamerone fehlt nicht (II, 322ff.). Die von Zimmermann ausführlich erzählten Mönchsviten, die ihm durch seine eingehend betriebenen kirchengeschichtlichen Lektüren detailreich zur Verfügung stehen, werden hauptsächlich unter dem Aspekt einer Lebensgestaltung entfaltet, welche die physische wie psychische Gesundheit bedrohe. Als Beispiele werden die Krankengeschichten von vier berühmten Mönchen gegeben, von Basilius dem Grossen, Gregor von Nazianz, Chrysostomus und Palladius (I, 380ff.). Er berichtet, sich auf einen Brief des hl. Hieronymus an Rusticus beziehend, von einem für „Seelenärzte“ (I, 325) interessanten Fall eines jungen Mönchs in Ägypten (I, 325f.), der einer drastischen Form von Psychotherapie unterzogen wird. Auf den „von unzüchtigen Gedanken unaufhörlich“ (I, 325) Geplagten werden auf Anweisung des Abtes durch seine Mitbrüder psychische Pressionen ausgeübt, indem sie ihm seine sexuellen Phantasien drohend vorhalten, so dass er gezwungenermaßen von diesen abkommt. Um die Überzeitlichkeit dieses Fallbeispiels zu unterstreichen, berichtet Zimmermann von einer modernen Parallelgeschichte, eines vom „Unzuchtteufel“ heimgesuchten katholischen Priesters: „Am meisten rettete er sich noch durch schreiben, und doch war dieses Mittel auch nicht allezeit wirksam“ (II, 282). Der hl. Franz von Assisi ist für Zimmermann ein „närrischer“ (II, 75) Schwärmer, dem es an ordnender, tatorientierter Vernunft mangelt. Zimmermann pflichtet nachdrücklich dem Vater bei, der seinen Sohn für geistesgestört hält (II, 73–75). Die Heiligkeit des Franz von Assisi wird zu einem psychischen Phänomen, das unter dem Aspekt nicht bewältigter Schwärmerei zu verstehen ist. Als positives Gegenbeispiel berichtet Zimmermann von jenem 1780 in London verstorbenen exzentrischen Arzt Dr. Fothergill, der wie Newton zeit seines Lebens nie mit einer Frau Geschlechtsverkehr gehabt habe. In einem Anfall von Schwärmerei wandelte Fothergill bei hellichtem Tag nackt durch Edinburgh und drohte allen Einwohnern mit der Rache Gottes. Bei aller Verschrobenheit wusste dieser Quäker die Gefährlichkeit seiner Anlagen zur Schwärmerei durch eine vernünftige und tatkräftige Lebensführung zu bannen. Aufs energischste widerspricht Zimmermann dem „grössten geistlichen Don Quichotte in Deutschland, Sanct Obereit“ (II, 172), der einen Zusammenhang zwischen Melancholie und psychischen Krankheiten der Anachoreten Ägyptens leugne und allen Ernstes behaupte, „das ganze Heer von Thebaischen Eulen und Uhus, alle diese schwarzgelben Bewohner unwirthbarer Höhlen und dunkler Felsenklüfte seyen lustige Vögel gewesen, schnackselige Gesellschafter, und Männer von der äussersten Heiterkeit der Seele“ (II, 172). Selbst Hallers Krankheitsgeschichte sieht Zimmermann in dieser Traditionslinie. 103

„Hyperorthodox“ (II, 217) habe er seine körperliche Krankheit verursachende Melancholie und die Angst vor dem Gericht Gottes durch „Opium und Arbeit“ (II, 220) zu betäuben versucht, ohne auf „die ewige Liebe Gottes, die besser sieht als du und ich“ (II, 219f.) zu vertrauen. Allerdings räumt Zimmermann ein, dass (positiv bewerteter) Enthusiasmus und (negativ belegte) Schwärmerei oft auch Heilmittel gegen Melancholie sein können und nennt das zeitgenössische Beispiel Whitefields, der an religiöser Melancholie erkrankte, dank der Begegnung mit Wesley in der „Sekte der Methodisten“ (II, 174) jedoch vollkommen gesund wurde. An Garves lebenslangen körperlichen Beeinträchtigungen hingegen lasse sich die Kraft des Geistes ermessen, denn seine Krankheit lehrte ihn, „was der Geist über den Körper vermag“ (III, 188), nämlich die physische Krankheit psychisch zu besiegen. Mit starker innerer Beteiligung berichtet Zimmermann den Tod seiner Tochter Katharina, die Körperschwäche durch Seelenstärke überwand (III, 229–233). Diesem Vorbild mittelalterlicher staete und barocker constantia stellt er das sündhafte Leben des zeitgenössischen adligen und ehemals reichen Engländers Damer gegenüber, der sich, fünfunddreißigjährig und hochverschuldet, in einem Bordell erschoss. Er sei gestorben, wie er gelebt habe. Ein Beispielfall psychosomatischer Erkrankung handelt von einem innerschweizerischen Kaufmann aus Luzern, der „nur etwas finster und widerhaarig aussah“ (II, 199), aber im übrigen durchaus als ein „redlicher, stiller, fleissiger und in aller Menschen Augen vernünftiger“ (II, 199) Mann zu gelten habe (II, 199–204). Seine körperlichen Beschwerden, „ein elender Magen, eine schlechte Verdauung, viele Blähungen, und ein immer sehr eingenommener Kopf“ (II, 199), wurden von berühmten Ärzten mit diversen Medikamenten erfolglos behandelt. Erst durch eindringliches Fragen Zimmermanns nach versteckt nagenden Sorgen wird aus seiner anfänglichen Sprachlosigkeit sprudelnde Redseligkeit. Seine Ehefrau habe angeblich ihn selber und ihren Sohn vergiften wollen.42 Die alleinige Schuld an seinem Unglück wie am ruchlosen Verhalten seiner Frau, die er auch eines Verhältnisses mit ihrem Beichtvater bezichtigt, trügen die „verfluchten Pfaffen“, welche die einzigen Teufel in der Welt seien (II, 202). Zimmermanns ebenfalls in direkter Rede wiedergegebene Antwort versucht beschwichtigend zu vermitteln: „Mein lieber guter Herr, ich bin kein grosser Freund von Mönchen und Pfaffen. Aber so böse sind gewiss eure Pfaffen nicht, wie ihr glaubt“ (II, 202). Schließlich bekennt der nunmehr geheilte Timon „mit einer sanften Thräne im Auge“ (II, 204), keiner Arzneimittel mehr zu bedürfen. Die Beispielerzählung findet sich im Problemfeld, das die der Einsamkeit innewohnende Gefahr untersucht, Einbildungen und Tatsachen zu verwechseln. Erst die gesprächstherapeutische Behandlung der körperli-

42

„Des Morgens frühe war er noch gesund, wie ein Fisch im Lucernersee, und des Abends mausetodt. Mich wollte sie am Frohnleichnamstage (sic) vergiften; ich bekam nur drey Tropfen von dem Weine, in den sie mir Ratzenpulver streute; aber gleich darauf hatte ich ein Zittern in allen Gliedern, und es war mir als wenn man mir das Herz aus dem Leibe risse“ (II, 201).

104

chen Krankheitssymptome bewirkt Heilung, indem sich der Kaufmann seinen bedrängenden Verdruss von der Seele reden kann. Noch weit gefährlicher (sc. als unmässiger Geschlechtsverkehr) ist die so sehr überhand nehmende Selbstbefleckung (sic). Die Ärzte können die Eltern über diese frühe Verderbnis ihrer Kinder nicht genug aufmerksam machen. In der Schweiz scheinen sie hierüber noch mehrentheils blind, da doch Herr Tissot zuerst in lateinischer und nachher weit ausführlicher in französischer Sprache ein unverbesserliches Buch über die fürchterlichen Folgen der Selbstbefleckung geschrieben hat (Erf. II, 400). Von missionarischem Furor beseelt, nicht ohne Entlarvungseifer und mit ausgeprägtem Sinn für Pikanterie,43 sekundiert Zimmermann seinem Lausanner Herzensfreund im Kampf gegen diese „Greuel“ (Erf. II, 404) und diese „Todtsünde“ (Erf. II, 401). Tissots lateinisch verfasste Schrift Tentamen de morbis ex manustupratione ortis erschien 1758 und zwei Jahre später, in französischer Sprache, unter dem Titel L’onanisme. Zimmermanns Besprechung der dritten, 1764 in Lausanne erschienenen Auflage für die Allgemeine Deutsche Bibliothek vermerkt dankbar: Wir kennen nicht leicht ein gemeinnützigeres Werk für alle junge Leuthe und besonders ihre Väter, ihre Mütter, ihre Aufseher. Die grausamen Folgen von Onans Sünde sind darinnen mit einer Kraft und einer Wahrheit abgemalt, der die eingewurzelste Bosheit nicht zu widerstehen vermag: propriis exstinctum vivere criminibus – !.44

Auf drastische Weise werden angeblich durch Onanie herbeigeführte Krankheitsgeschichten vor Augen geführt, die nach Zimmermanns Auffassung eigentlich Imaginationskrankheiten mit körperlichen Symptomen sind.45 Sein im Deutschen Museum publizierter Aufsatz Warnung an Eltern, Erzieher und Kinderfreunde wegen der Selbstbefleckung, zumal bei ganz jungen Mädchen enthält drei Fallgeschichten.46 Körperliche Symptome der Onanie sind verwelkte Lebensblüte, ein matter und scheuer Blick, eingefallene Wangen und zitterhafte Hände (II, 271). Der Onanie Verfallene bezahlen ihr Laster schliesslich mit geistigen Verfallser-

43

44 45

46

Vgl. Erf. II, 401: „Herr Tissot führet sogar an, dass die Studenten einer Schweizerischen Academie durch diese Bosheit in einem metaphysischen Collegio den Schlaf brachen, und die Langeweile verjagten“. Allgemeine Deutsche Bibliothek 1766, II, 2, S. 252f. Rohlfs 1875, S. 96 kolportiert diese Ansicht, wenn er als Ursache für den Tod von Zimmermanns Sohn Epilepsie angibt, die er sich durch Onanie zugezogen habe. Vgl. Albrecht Koschorke, Onanie, in: A. K., Körperströme und Schriftverkehr: Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 76–86; Christian Begemann, Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung. Zu Literatur und Bewusstseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1987, besonders S. 208ff. Die pädagogische Perhorreszierung der Sexualität. Zur Habitualisierung von Triebkontrolle auf der Basis von Furcht und Angst. Deutsches Museum 1778 I, S. 452–460. In Erf. II, 403f. berichtet Zimmermann von einem dreiundzwanzigjährigen Offizier, der wegen Onanie an Epilepsie erkrankt und schliesslich elend gestorben sei.

105

scheinungen.47 Im VI. und VII. Kapitel, die mit „Nachteilige Einwirkung der Einsamkeit auf die Einbildungskraft“ bzw. „Nachteilige Einwirkung der Einsamkeit auf die Leidenschaften, zumal bey Einsiedlern und Mönchen“ überschrieben sind, berichtet Zimmermann von einem gesellschaftlich gewandten katholischen Priester und Domherrn (II, 280–285), der, als „überaus merkwürdiger Kranker“, von „geilen Bildern“ (II, 281) verfolgt wird und deshalb, „unter den inbrünstigsten Religionsübungen“ (II, 281), in die Einsamkeit flieht. Seine „kranke Imagination“ (II, 280), im tätigen Leben überspielt, wird jedoch in der Einsamkeit verstärkt. Vorausweisend modern mutet Zimmermanns Erklärung an. Den Keim der Imaginationskrankheit findet er in der Kindheit des Priesters, der in seinem Knabenalter von einem Dienstmädchen zur Unzucht verleitet worden sei. Eine weitere Krankheitsgeschichte handelt von einem Mann aus Genua, der bereits als Knabe der Onanie verfiel. Erst als er hört, dass Selbstbefriedigung Sünde sei, erkennt er wie ein „Blitz“ sein „Verbrechen“ (II, 221). Zimmermann berichtet, mit gespielter Diskretion auf Lateinisch, wie der Genueser von einer mehrjährigen religiösen Melancholie ergriffen wird, die sich zu einer eigentlichen Nervenkrankheit, d.h. einer schweren Neurose steigert, die seine intellektuelle Leistungsfähigkeit stark beeinträchtigt. Obwohl er immer erneut beichtet, glaubt er fortwährend zu sündigen, auch bei alltäglichen Verrichtungen (II, 221–229). Seiner eigenen Imagination wird der Leser bei einer durch Onanie verursachten, angedeuteten Krankheitsgeschichte religiöser Melancholie überlassen, denn Zimmermann vermerkt (II, 229f.): „Die Feder würde mir aus den Händen fallen, wenn ich die schauderichte Geschichte einer religiösen Melankolie erzählen sollte, die ein in Hannover noch lebender aber unbekannter Mann von guter Herkunft […] hat“ (II, 229). Im Gefolge Tissots ist Onanie für Zimmermann ein krankhaftes Fehlverhalten, das nicht bloss mit beschreibender Wahrnehmung des medizinischen Befunds erfasst wird. Die ausgesprochenen Drohungen kennen keinerlei Nachsicht. Die Behandlung gehört wegen des behaupteten Sündencharakters48 der Onanie ebenso in den Zuständigkeitsbereich der Medizin wie der Religion.

5.2 Zu Zimmermanns Krankheitsgeschichte Zimmermann stand seiner eigenen physischen und psychischen Verfassung praktisch machtlos gegenüber. Goethe wirbt, aus der Einsicht in Zimmermanns Psyche, um Verständnis und nicht um vorschnelle Verurteilung: 47

48

„Alle Verstandeskräfte werden endlich bey diesen Elenden zernichtet, das Gedächtnis verloren, die Begriffe verdunkelt, sie schweben in einer beständigen innerlichen Unruhe und in einer immerwährenden Gewissensangst“ (Erf. II, 402f.). „Das den Beyschlaf nachahmende Laster hat Gott an dem Onan mit dem Tode bestraft, die Wirkungen desselben auf den Körper und die Seele sind erschreklich, es ist eine Sünde wider die Natur“ (Benzenhöfer/vom Bruch 1995, S. 123).

106

Wir wollen aber bedenken, dass dieser so rüstig scheinende Mann in seinen besten Jahren leidend war, dass ein Leibesschaden unheilbar den geschickten Arzt quälte, ihn, der so manchem Kranken geholfen hatte und half. Ja, dieser brave Mann führte, bei äusserem Ansehen, Ruhm, Ehre, Rang und Vermögen, das traurigste Leben, und wer sich davon, aus vorhandenen Druckschriften, noch weiter unterrichten will, der wird ihn nicht verdammen, sondern bedauern.49

Die Überprüfung von Goethes Einschätzung dieses „traurigsten Lebens“ bestätigt seine Diagnose. Depressive Gemütsstimmungen durchziehen Zimmermanns ganzes Leben, wie beispielsweise eine Briefstelle vom Juli 1753, jenseits zeittypischer Allüre und modischer Verstellung, illustriert: „Je n’ai point de bien, je n’ai point d’espérance chez moi. Que me reste-t-il pour l’année prochaine? Je vous le dis de sang-froid: un pistolet et du courage“.50 Zimmermann wird durch die ärztliche Praxis, durch „tausenderley erwartete und unerwartete Geschäfte, Pflichten, Gefälligkeiten, Aufträge, Bitten, Zudringlichkeiten, und Impertinenzen“51 in den 1770er Jahren immer wieder an den Rand körperlicher und seelischer Erschöpfung getrieben. Dem Herzensfreund Sulzer in Berlin eröffnet er seine schwerwiegenden Gesundheitsprobleme, z.B. im Oktober 1773: „Ich leide alle Qualen der tieffsten Melancholie“52 oder im Mai 1776: „Ich versank diesen Winter wieder ganz in meine alte Nervenschwachheit und verlor allen Muth“.53 Die Bruchoperation von 1771, durch die ihm in anderthalb Stunden ungefähr zweitausend Messerschnitte zugefügt wurden,54 verlief zwar soweit erfolgreich, aber Zimmermann konnte fortan nicht mehr ohne Schmerzen schreiben: „Ich schreibe […] nun freilich ohne alle Gefahr, jedoch nur selten ohne Qual und Schmerz. Ich kann auch nie zu einer andern Zeit anhaltend die Feder führen als des Morgens“.55 Im Mai 1775 klagt er Tissot im Zusammenhang mit seinem Netzbruch: „[…] mais si je ne me trompe point allors je Suis a coup Sur un des hommes du monde les plus malheureux“.56 Die im Juli 1770 verfasste, die Jahre 1764–1770 umfassende Histoire de ma santé beginnt mit einer konfessionsartigen Offenlegung seines Gesundheitszustandes, der extrem von der seelischen Verfassung abhängt: L’histoire de ma santé demande une confession parfaite à l’égard de mes circonstances morales, qui en tout temps ont décidé de mon état physique. Une âme très sensible, jointe à une imagination très facile à émouvoir et susceptible des impressions les plus fortes et les plus du-

49 50 51 52 53 54 55

56

Goethe, Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, 15. Buch, HA 10, S. 65f. Brief Zimmermanns an Haller vom 1. Juli 1753. Zitiert bei Ischer 1893, S. 32 und Bouvier 1925, S. 18. Vgl. Zu Zimmermanns Krankheitsgeschichte S. 126ff. Versuch 1779, S. 80. Brief von Zimmermann an Sulzer vom 27. 10. 1773. Bodemann 1878, S. 228. Brief von Zimmermann an Sulzer vom 26. 5. 1776. Bodemann 1878, S. 252. Unterredungen 1788, S. 257. Vgl. zu Vorgeschichte und Verlauf der Bruchoperation S. 257ff. Versuch 1779, S. 79. Wichmann 1796, S. 23 vermerkt, dass Zimmermann nach der Bruchoperation immer wieder von plötzlichem Schmerz und dadurch ausgelöster „Höllenangst“ befallen worden sei. Brief von Zimmermann an Tissot vom 22. Mai 1775. BBB Z A 1 1164 Nr. 213. Nach J. F. Meckel lag ein Netzbruch vor. Die Operation bestand darin, den Bruchsack zu eröffnen, das Netz nach Lösung einer „cohaesio“ zum Hoden zu reponieren und den Bruchsack zu ligieren.

107

rables font le caractère distinctif de mon esprit, qui ne paraît doux et tranquille qu’à ceux qui ne le connaissent pas. Les circonstances de ma vie ont été telles, que malgré tout mon penchant pour une gaieté raisonnable je fus souvent plongé dans la tristesse; abattu cependant un million de fois en Suisse, je m’y suis relevé un million de fois. Ce n’est que depuis que je suis en Allemagne, que je suis devenu triste sans ressource, et inutile à la société à l’âge de 41 ans.57

Das Brugger Tagebuch des Fünfundzwanzigjährigen von 1753 gibt sich eine auf sein Hauptwerk vorausweisende Rechenschaft über die konstitutive und unabwendbar scheinende Zwiespältigkeit seines Innern und seine therapiebedürftige Affektdisposition: „Ich solle beständig glauben, das ich meine gröste (sic) Feinde in mir selber hege. Diese wachen, wenn ausser mir eine endlose Stille herschen würde, diese verfolgen mich, wenn ich einsam mit Nacht und Finsternus umgeben bin. Sie gehen vor mir her, wann ich den Fussstapfen der Menschen ausweiche“.58 Zimmermanns Arztkollege und Freund E. G. Baldinger berichtet, wie „von der grössten Stärke des Geistes bis zur Kleinmüthigkeit“ Zimmermanns „Seele unter seinen körperlichen Leiden“ herabsank.59 Gemäss der oben zitierten Diagnose des Schweizer Psychiaters A. Kielholz ging Zimmermann als mit endogenen Depressionen erblich Belasteter nach manischen Lebensphasen an der schizothymen Spannung polarer Gegensätze schliesslich elend zugrunde.60 Kielholz macht darauf aufmerksam, dass Zimmermann einen gleichnamigen Bruder hatte, der ein Jahr vor seiner Geburt gestorben war. Diese Tatsache liefere wichtige Anhaltspunkte für Zimmermanns Krankheitsgeschichte. Er habe nämlich versucht, jene Unsterblichkeit zu erreichen, „die sein gleichnamiger Bruder im Andenken seiner Eltern sich erworben hatte, und von dem er wohl in zarter Jugend viel als einem ewigen Bürger der himmlischen Seligkeit erzählen hörte“.61 Zudem habe der Tod des Erstgeborenen den Grund für die spätere Hypochondrie des Jüngeren gelegt. Auch Bodemann spricht von Zimmermanns nervösem Temperament mit krankhafter Empfindsamkeit, die „wie mit einem Trauer-Schleier seinen Geist und sein Herz umhüllte“,62 Reber wähnt ihn als pathologischen Fall: 57 58 59

60

61 62

L’histoire de ma santé (1770), NLB Ms XLII 1933 B 8b, abgedruckt in: Mit Skalpell und Federkiel 1995, S. 263. J. G. Zimmermanns Tagebuch aus dem Jahre 1753. Hg. v. C. Hummel, in: Brugger Neujahrsblätter 85 (1975), S. 134. Baldinger 1796, S. 139. Baldinger führt weiter aus: „Man weiss ja, dass selbst Haller in Göttingen nicht gut vegetiren konnte, und immer das Heimweh bekam. Hinzugerechnet Z.s körperliche Leiden, seine ewige Hämorrhoidalkrämpfe, die seine hernia connata so sehr verschlimmerten, seine Hypochondrie, sein schwaches, gefühlvolles Nervensystem, sein Kopfschmerz, verursachten Ihm oft Leiden, die Ihn muthlos machten, seine ganze Seele, Kraft, Geistesstärke, niederdrückten. Mehrmals sahe ich Ihn in den Stunden seiner Leiden. Betäubt von Schmerzen, Missmuth, lag mein Freund, jedes zerknirschte Sandkorn, jedes laute Wort verursachte Z. Höllenleiden“. Baldinger 1796, S. 138f. Kielholz, A. , Johann Georg Zimmermann und die Psychiatrie. Nach einem Vortrag gehalten an der 73. Versammlung des schweizerischen Vereins für Psychiatrie in Königsfelden am 19. Mai 1928, in: Schweizerische Medizinische Wochenschrift Nr. 49 (1928), S. 1212–1215. Kielholz 1928, S. 1213. Bodemann 1878, S. 158.

108

La grande exagération chez lui dans tout, ses louanges comme ses incriminations démesurées, son état hypocondrique prolongé, à la place d’une réflexion philosophique une poétique mélancolie, des colères épouvantables à le rendre malade à chaque instant, tout Erschliessung emandé, si dans sa mentalité il n’avait pas quelque chose de pathologique.63

Goethe spricht in Dichtung und Wahrheit von Zimmermanns Härte seinen Kindern gegenüber, die er als „Hypochondrie“ einstuft. Es sei „ein partieller Wahnsinn, ein fortdauerndes moralisches Morden“ gewesen, das er, „nachdem er seine Kinder aufgeopfert hatte, zuletzt gegen sich selbst kehrte“.64 Ende September 1775 schreibt Goethe an Lavater aus Frankfurt über Zimmermanns Tochter Katharina: „Seine Tochter ist so in sich, nicht verriegelt nur zurückgetreten ist sie, und hat die Thüre leis angelehnt. Eh würde sie ein leise lispelnder Liebhaber als ein pochender Vater öffnen“.65 Zimmermann selbst zitiert den in mancher Hinsicht seelenverwandten Garve, der zu ihm und Spalding am 16. Juli 1781 in Pyrmont äusserte: „ich habe von meiner Krankheit den Vortheil, dass sie mich zu genauer Beobachtung meiner selbst geleitet hat“ (III, 220). Seine Beobachtungsweisheit gründet auf einer übersteigerten Sensibilität. Das gesamte Einsamkeitswerk steht unter dem Postulat des nosce te ipsum in therapeutischer Absicht, obwohl Zimmermann einräumt: „Menschenkennerey ist schwer, und Kenntnis seiner selbst ist selten“ (IV, 299). Das Werk versucht handlungsanweisend, die „Kunst mit sich selbst fertig zu werden“ (IV, 71) zu vermitteln, und stellt sozusagen die Fortsetzung der Erfahrung in der Arzneykunst dar, deren dritter Teil Von der Diät für die Seele erst posthum veröffentlicht wurde. Im Februar 1763 fragt er mit bedrängenden Vorahnungen Haller um Rat wegen seiner gesundheitlichen Störung, die ihn während fünf bis sechs Wochen am Lesen und Schreiben gehindert hätten: Tout le long du jour je voyais partout où je portois mes yeux et presque à chaque moment des etincelles, des mouches, des taches noires qui se montrerent et disparurent tout à coup, tantot selon l’axe de la vue, tantot entierement de coté; souvent pendant le jour et plus souvent à la chandelle j’avois une petite douleur aux yeux, et toutes ces visions augmenterent à la chandelle; la nuit je voyois quelques fois des flammes, le moment que j’y pensois le moins. Je ne fus jamais echauffé, mon pouls alloit lentement et petitement, et mon mal etoit le même à jeun et après le repas, quand je ne buvois du vin et quand j’en buvois. J’avois beaucoup lu et beaucoup ecrit à la chandelle le long du mois d’Octobre et de Novembre, sur la fin de ce mois je pris une fievre catarrhale pas forte, mais fort accablante etc.66

Sein immenser Briefwechsel ist vor allem auch Mittel zum Zweck der Selbstbeobachtung. Was findet sich nicht alles an anscheinend Bemerkenswertem über die eigene Person darin behandelt! Deluc erfährt beispielsweise in einem Brief vom Januar 1777: „J’ay fumé dans ma jeunesse, mon cher ami, mais je ne fume plus 63 64 65 66

Reber, B. , Letrres inédites des célèbres médecins Tissot et Zimmermann. Paris 1912, S. 5f. Goethe, Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, 15. Buch, HA 10, S. 65f. Goethe an Lavater, (Ende September 1775), WA IV, 2, S. 296. Brief Zimmermanns an Haller vom 7. Februar 1763. Ischer 1910, S. 192.

109

puisque la fumée du Tabac me tourne la tete et me donne des envies de rendre, et outre cela puisque je n’aime pas que mes habits Sentent ni le Musc, ni le Tabac“.67 Nach des Tages Mühsal kennt Zimmermann ein probates Heilmittel: „trois ou quatre verres d’Eau avec du Syrop de Framboise, et aprés cela de n’avoir jusqu’au lendemin plus pensé à rien“.68 In einer Briefstelle vom Januar 1774 eröffnet er Sulzer ein Ergebnis seiner Selbstbeobachtung: „Wenn ich die verborgensten Schliche meines Herzens erforsche, so finde ich immer, wie wenig ich im Grunde dazu gemacht bin, glücklich zu seyn“.69 Das Werk Über die Einsamkeit stellt deshalb den autotherapeutischen Versuch dar, sich in der Einsamkeit Heilwirkung, auch und gerade seiner peinigenden Melancholie gegenüber, zu erschreiben, indem der Autor Klarheit über sich selbst zu gewinnen sucht. Hypochondrische Veranlagung, melancholische Gemütsverfassung und Einsamkeitsstreben stehen in einem Bedingungsverhältnis zueinander. Tissot hat diesen Zusammenhang im Auge, wenn er feststellt: „ayant toujours eu le genre nerveux très-sensible et très-délicat, ce sentiment fréquent de mécontentement le jetta dans l’hypocondrie, et l’hypocondrie augmenta le gout pour la solitude, qui peut aussi etre indépendant de toute peine d’ame“.70 Der Lausanner Arzt zitiert Zimmermanns Tendenz, in einer selbstgewählten Einsamkeit psychische Erleichterung zu suchen: „J’aime la SOLITUDE, et je ne trouve de plaisir que chez moi; j’écris pour me procurer un amusement“.71 In diesem Unternehmen der Selbstbeobachtung und -findung durch schriftstellerische Tätigkeit kommt der Darstellung der eigenen Krankheitsgeschichte eine zentrale Bedeutung zu. Zimmermann begnügt sich nicht damit, statisch die Anamnese und eine feststehende Diagnose seiner Leidensgeschichte festzuhalten, sondern versucht, sich dynamisch mittels seiner ausgebreiteten Krankheitsgeschichte als krank Gewordener und hoffentlich gesund Werdender zu begreifen. Darlegung der individuellen Krankheitsgeschichte mit allgemeingültigen Therapierezepten und Ich-Erkundung werden miteinander verknüpft als offener Prozess, der seelisch-körperliche Erleichterung und Gesundung herbeiführen soll. Zimmermann vergegenwärtigt seine Seelenzustände mit einer leidenschaftlichen Intensität, als wolle er dem anteilnehmenden Leser eine Vorstellung vom für Gesunde Unvorstellbaren vermitteln. Eine verästelte Metaphorik hilft, die Leiden zu veranschaulichen: „wie der heilige Laurentius als er auf einem Rost gebraten ward“ (II, 233), „als wenn man mir in einem fort heisses Bley auf meinen Kopf gösse“ (II, 234), heisst es beispielsweise. Im evozierenden Beschreiben seiner Seelenzustände steigert er sich rhetorisch in eine obsessive Erregtheit, um sich Linderung und vor-

67 68 69 70 71

Brief Zimmermanns an Deluc vom 10. 1. 1777. StAAG NL. A–193–193 Fasc. 11/1. Brief Zimmermanns an Tissot vom 11. 6. 1768. BBB, Msshh XIV 151. Brief Zimmermanns an Sulzer vom16. 1. 1774. Bodemann 1878, S. 232. Tissot 1797, S. 23. Tissot 1797, S. 20.

110

übergehende Heilung zu verschaffen. Als Beispiel diene vorerst der 47. „Versuch“, der den Titel Eine Krankengeschichte trägt: Zerbrochen, zermalmt sind meine Nerven. Das Maas meiner Leiden ist voll. Sieh an, den Elenden – wie er liegen muss! Es ist genug. Sieh diesen blutenden Engel, diese Martyrerinn – für mich! – Sieh uns alle an, wie wir aus Harm wegsterben! – Das Mark meiner Seele empfindet nichts. Nichts als Schwäche, Angst, Pein, Verzweiflung; keinen Wink des Himmels, keine Aussicht. Ich sehe keinen Lichtstrahl des Lebens! Schwarz, schwarz, schwarz ist die ganze Schöpfung umher. Die Sonne nicht helle, die Erde nicht grün, kein Frühling. Ich ersticke, ich ersticke – unter diesen Nebeln: in diesem Sumpf, den ich durchwaden soll, jeden Tag!72

In unüberhörbar biblischem Anklang lässt Zimmermann einer himmelschreienden Gottverlassenheit freien Lauf. Mit der Märtyrerin ist Zimmermanns 1770 verstorbene Frau gemeint. Auslöser für den beschriebenen Depressionsschub ist sein Heimweh. Zimmermann fährt fort: Freund! Du lebst, und wirst auch hier leben in einem Lande der Freyheit; im Lande eines ganz Brittischen Königs, der hier Vater ist; dort Menschenfreund, Bürger, Mensch […] Ich dachts, und floh die ausgeartete Schweiz! – Aber ausgelöscht ist jenes antirepublikanische Hohnlächeln der Hölle! Vergessen diese Narben – empfangen im Lande der Freyheit, von Feinden der Freyheit! O wie bin ich itzt ein armer Sklav der Liebe, ich ehemals Starker, Unerschrockener, Kühner!73

Die sehnsüchtig erhoffte Befreiung von Zwängen durch Übersiedlung nach Hannover hat sich als Illusion erwiesen, da er die eigene Persönlichkeit durch den Ortswechsel nicht zurücklassen konnte. Die kraft der Imagination erinnerte, einst geschmähte Schweizer Heimat wird zum fiktiven Projektionsziel seiner Hoffnungen und Wünsche – und zum Quell der Genesung, die der Text selber vorführt: Liebe glüht in jedem Hinblick zu dir, mein Vaterland! Liebe, allumfassende Liebe für jeden Tropfen Zeit im Umgang Schweizerischer Despoten, gäbe ich hin; alle meine Habschaft um diesen Trunk Wasser – aus einer Schweizerquelle! Ausgelitten, ausgefochten hat er, und – überwunden. Sein Mund ist frölich (sic), wie ein Adler! Er fliegt heim, ins Vaterland! Siehts vom Rhein zur Aar, zur Limmat, zum Rhodan! Muss zurück. Denkt an Deutschlands Gränze, unweit Basel, an Georg den dritten – und weint seine letzte Thräne.74

Lavater will Zimmermanns Heimweh in Hannover im Brief vom 6. September 1769 nicht verstärken, obwohl er das gerade tut, indem er sich nicht an seine vorausgehende Ankündigung hält: Von S c h i n z n a c h habe ich dir mit Schmerzen nichts gemeldet, um das Heimwehe nicht rege zumachen. So vergnügt waren wir noch niemals. Wir sangen alle aus Einem Mund in Renggers Melodie H e i l d r e ÿ m a l H e i l ! Wir machten G a l a n t e r i e n in Versen über dem Tisch d e v i s e n a r t i g . Kurz: der G e i s t war wieder da. – Nie72 73 74

Versuch 1779, S. 76. Versuch 1779, S. 76. Versuch 1779, S. 76f.

111

mand als d u fehlte mir. Mitten in der Freüde war Nacht! du fehltest mir. Sonst war uns himmelwohl!.75

Zimmermann wünscht sich um alles in der Welt in die Schweiz zurück, selbst wenn er ein Leben in Armut führen müsste und seine Kinder Bauern würden.76 Im Dezember 1792 gesteht Zimmermann seinem Gesinnungsfreund Reichard angesichts der revolutionären Umtriebe, die auch die Alte Eidgenossenschaft erfasst hatten: „Das Herz blutet mir indem ich, edler Freünd der Schweitzer, ihren Enthusiasmus für mein Vaterland so herabstimmen muss“.77 Das vierte Buch Von der Erfahrung in der Arzneykunst beschreibt „Heimweh“78 oder „Mutter sucht“ als besondere Form der Trauer, also als krankhafte Leidenschaft: Eine Traurigkeit aus der vergeblichen Begierde seine Leute wieder zu sehen zeugt eine Krankheit die man das Heimweh nennt, und die zuweilen nach einer kurzen Schwermuth, einem Zittern in den Gliedern und andern nicht sehr drohenden Übeln dem Tode überliefert, doch mehrentheils langsam abzehrt. Die Schweizer sind aus einer überhaupt gegründeten Überzeugung von den Vortheilen ihres Vaterlandes gewohnt diese Melancolie sich allein zuzueignen, da doch andere Völker so viel Recht dazu haben (Erf. II, 483).

Heimweh galt als typisch schweizerisches Phänomen, dessen Krankheitssymptome Johannes Hofer in seiner Basler Dissertatio medica de Nostalgia oder Heimwehe (1688) beschrieben und Johann Heinrich Jung-Stilling in seinem vierteiligen Roman Das Heimweh literarisch behandelt hatte.79 Im Artikel Nostalgie der Encyclopédie kennzeichnet Albrecht von Haller Heimweh als eine nicht eigentlich klimatisch verursachte, sondern psychisch bedingte, melancholische Krankheit, die tödlich verlaufen könne. Sie sei angesichts der Abschirmungstendenz der Schweizer typisch für Eidgenossen. Ihr entging Jacob Burckhardt während seines Berliner Studienaufenthaltes (1839–1843) nicht,80 und Vladimir Nabokov berichtet in seiner Erzählung Mlle O von seiner Lausanner Gouvernante in Russland, die sich im Heimweh nach der Schweizer Heimat verzehrte. Haller hat seinen Schüler, den 75 76 77

78 79

80

Brief von Lavater an Zimmermann vom 6. September 1769, in: Luginbühl I 1997, S. 206. Vgl. den Brief von Zimmermann an Tissot vom 23. Dezember 1768. BBB Mss hh XVIII 71. Nr. 68. Brief von Zimmermann an Reichard vom 8. Dezember 1792. Zitiert bei Christoph Weiss, Deutschlands Hohn und Schmach. Der Beginn des Briefwechsels zwischen Johann Georg Zimmermann und Heinrich August Ottokar Reichard, in: Schramm 1998, S. 206. Vgl. zur Heimweh-Thematik: Fritz Ernst, Vom Heimweh. Zürich 1949. Zückert 1768, S. 74ff. bezieht sich bei seiner Bestimmung des Heimwehs auf Zimmermann. Vgl. Ulrich Stadler, Die theuren Dinge. Studien zu Bunyan, Jung-Stilling und Novalis. Bern 1980, S. 33–115: „Johann Heinrich Jung (Stilling): Das Heimweh“. Ferner: Zimmermann, Harro, Erleuchtete Vernunft. Jung-Stillings Roman „Das Heimweh“ und die Französische Revolution, in: Zimmermann, Harro, Aufklärung und Erfahrungswandel. Studien zur deutschen Literaturgeschichte des späten 18. Jahrhunderts. Göttingen 1999 (Zugl. Habil-Schr. Univ. Oldenburg), S. 113–146. Vgl. Werner Kaegi, Jacob Burckhardt. Eine Biographie. Bd. II: Das Erlebnis der geschichtlichen Welt. Basel 1950, S. 11.

112

Medizinstudenten Zimmermann in Göttingen, vor Augen, wenn er schreibt: „J’ai vu un étudiant Suisse violemment affecté de la nostalgie dans une ville d’Allemagne, guérir, dés qu’il en fut à une demi-journée par la seule espérance de revoir bientot sa patrie, & sans aucun changement de l’air“.81 Hallers Behauptung wird u.a. durch eine Briefstelle eindrucksvoll bestätigt, die auch etwas von Zimmermanns erlittener Pein mitteilt: „tous mes meaux corporels derivent du desespoir de me voir ici (sc. Hannover), desespoir qui me tuera ou qui me tournera la tête, si je ne puis etre rapellé en Suisse. Ma Santé, ma gayeté, mes forces reviendroient au meme instant qu’on me diroit: vous pouvés retourner en Suisse […] mais si cela arrive trop tard, je n’arriverai en Suisse que pour y mourir “.82 In „L’histoire de ma santé“ klagt er: „Le Heimweh le plus cruel déchirait sans cesse mon cœur ulcéré par l’idée de me voir à Hanover“.83 Die folgende Beschreibung seelisch-körperlicher Niedergeschlagenheit aus dem zehnten Kapitel des dritten Teils des Einsamkeitswerkes verbreitet einen ausgesprochen depressiven Eindruck: Ich war krank, ich hatte ein zerbrochenes Herz, mich drückte unaussprechliches häusliches Unglück, das alle meine Gedanken fesselte, und mir jeden andern Gedanken benahm. Jahre hindurch war mein Kopf ein Stein, ich war viele Stunden im Tage ohne alle Besinnlichkeit, ich sagte mannigfaltig das Gegentheil von dem was ich sagen wollte, ich lebte fast ganz ohne alle Nahrung, ich vertrug nichts von allem was andere stärket, in Armen und Beinen war ich den ganzen Tag wie gerädert, ich glaubte niederzustürzen bey jedem Schritte, und litt alle Marter der Hölle wenn ich sass und schrieb. Alles in der Welt war mir nichts, ausser dem geheimen Gegenstande meines Kummers, den ich in meinem blutenden Herzen verschloss (III, 449).

Wieder wird für diesen apathischen „schrecklichen Zustand“ (III, 448) das Fehlen von „Schweitzerluft“ (III, 448) verantwortlich gemacht, das während Jahren, „bey kurzen Zwischenräumen“ (III, 448), „Krankheit und unnennbares Leiden“ (III, 448) über ihn gebracht habe. Doch Zimmermann sucht nach allgemeingültigen Heilmitteln, und wieder ist es der Schreibprozess selber, der heilend zu wirken vermag: „[…] er thut durch unsere Feder seine Wirkung“ (III, 447). Im sechsten Kapitel des zweiten Teils beschreibt Zimmermann einen Depressionsschub zunächst als überindividuelles Phänomen: Wer wollte Nervenkranken von Zerstreuung sprechen, wenn jeder kleine Laut den sie hören, jeder Mensch der sich stellt als wenn er mit ihnen sprechen wollte, ihnen ein Gefühl erreget, als wenn er ihnen Nerven, Hirn und Herz zerrisse. Von dieser Todesmarter die Nervenkranke in 81

82

83

Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences et des métiers par une société de gens de lettres. Mis en ordre & publié par M. Diderot, & quant à la Partie Mathematique, par M. D’Alembert. Lausanne et Berne 1753. Art. Nostalgie. Tome XXIII, S. 122. Brief an Tissot vom 9. 1. 1769. BBB Mss hh XVIII 71, Nr. 69. Vgl ähnlich im Brief vom 14. 11. 1768: „le Heimweh „me tue […] à chaque instant de mon existence, mon coeur est dechiré par le repentir le plus afreux sur la demence que j’ay eu de me plonger dans un etat, qui m’a fait Soufrir, depuis le Second Jour de mon arrivée à Hanover jusqu’au moment ou je vous écris, toutes les peines de l’Enfer“. BBB Mss hh XVIII 71 Nr. 67. Vgl. auch den Brief an Haller vom 4. Juni 1769. Ischer 1912, S. 136f. In „L’histoire de ma santé“ (1770), NLB Ms XLII 1933 B 8b, abgedruckt in: Mit Skalpell und Federkiel 1995, S. 266. S. 269 spricht er vom Heimweh als „ce tourment infernal“.

113

dem Zustande einer allzugrossen Reitzbarkeit leiden, versteht ein Kerngesunder mehrentheils gerade so viel als eine Kuh von der Metaphysik. Fliehen muss man darum allen Umgang und alle Menschen, wenn alle Nerven im Aufruhr sind und aufs Äusserste gereitzet, und wenn die Einbildungskraft gleichsam Convulsionen hat (II, 231/232).84

Anschliessend exemplifiziert Zimmermann die allgemeingültigen Krankheitssymptome an einem konkreten Fall – sich selber: „Es widerfuhr mir selbst oft, durch eine zu grosse Menge von Sensationen, dass ich keine Sensation mehr vertrug“ (II, 232). In einer weit gespannten Satzkonstruktion, die dreimal mit „wenn“ ansetzt – „Wenn ich meiner elenden zerbrochenen Nerven wegen […] nicht mehr sah, nicht mehr hörte“; „wenn mir die lustigste Cokette nun eben so gleichgültig ward als das dickste adelstolze Weib, wenn mich die Conversation des witzigsten Kopfes itzt nicht mehr interessirte als der gemeinste Schnickschnack“ (II, 232f.) – und sich symmetrisch dazu dreistufig entspannt, – „und dann“ […] „so“ […] „nun“ (II, 235) – erzählt er mit Selbstironie seine eigene Leidensgeschichte (II, 234ff.). Nachdem seine Berufung als Stadtarzt Solothurns 1765 fehlgeschlagen ist, kommentiert er Tissot gegenüber: Vous savés mon cher Tissot que je pensois aussi peu de devenir le medecin du Roi de Pologne que vous pensiez etre medecin de l’Empereur du maroc, tous mes voeux etoient tourné du coté de Soleure […] qu’a present que je suis dans la BOUE. Adieu mon Bienfaiteur. Soyés mon SAUVEUR. Je suis de coeur et d’ame Votre pauvre Diable ZimmermannQue tout cela soit un secret pour le Dr Hirzel […] Le chagrin m’etouffe presque, Si ce disappointment ne me tue pas il est trés propre à me tourner la tete.85

1766 schreibt er an den Solothurner Staatsmann Karl Stephan von Glutz-Ruchti, der 1767 die Helvetische Gesellschaft präsidierte, im Zusammenhang mit einer geplanten Reise nach Solothurn: „Ihr Pferd würde ich mit vielem Danke annehmen, allein nach meiner Ankunft in Solothurn hätte ich weiter nichts zu thun als mich ins Bett zu legen, und daselbst bis zu meiner Abreise zu verbleiben, weil mir das viele Reiten die Hämorrhoiden bringt“.86 Mitte der 1760er Jahre stellt Zimmermann an sich selbst Anzeichen von Tuberkulose fest, die den Bedrohten das Schlimmste befürchten lassen. Seit 1768 ist Zimmermann nicht mehr gesund. Die Übersiedlung nach Hannover zerstörte nach seiner eigenen Einschätzung seine Nervenkraft.87 Zimmermann, der bis zu seinem elften Lebensjahr Nachtwandler war,88 schreibt am 29. August 1768 an Pfarrer Abraham Rengger in Gebensdorf bei Brugg:

84

85 86 87 88

Zugleich wird ein aussichtsreiches Heilmittel geliefert: „Nichts hilft in diesem Zustand als Kühlung und Ruhe, und zu dieser Ruhe wird man gelangen, wenn man sich bestrebet seine Seele auf eine einzige einfache Idee einzuschränken, und dann mit dieser wegvegetirt so gut man kann, bis der Sturm sich legt“ (II, 232). Brief Zimmermanns an Tissot vom 20. März 1765. BBB, Msshh XVIII 71 Nr. 20. Brief aus Brugg, 7. Brachmonat 1766. Banholzer 1997, S. 68. „[…] zermalmte meine Nerven für mein ganzes Leben“. Unterredungen 1788, S. 259. „Je l’ai eu dans un degré eminent jusqu’à l’age d’onze ans“. Ischer 1904, S. 39.

114

Gott hat mich auf einen wichtigen Platz, in Ehre, in Ansehen und in die Möglichkeit gesetzt, auch das sogenannte zeitliche Glück sehr geschwind zu befördern. Ich bin der erste Arzt in einem grossen Lande. Aber, mein Freund, ich bin bey allem dem auch ein Lastesel, dem jeden Abend die Knie sinken. Man sehnt sich in der Welt nach einem grossen Glücke, man erhält es, und doch ist man nicht glücklich.89

Seine gesundheitliche Verfassung vor der Bruchoperation in Berlin zeigt, auch wenn man Übertreibungen durch Zimmermanns hypochondrische Veranlagung in Rechnung stellt, einen desolaten Zustand: Im Frühling 1770 war ich, seit bald zwey Jahren, in der allertiefsten Schwermuth; tiefer in dieselbe versunken, als vielleicht kein Gefangener in dem engsten unterirdischen Kerker. Man verlangte viel von mir, und meine Gesundheit war vernichtet. Ich konnte nie ohne Todesangst und Todesgefahr in einer aufrechten Lage meines Körpers essen. Mein einziger Trost und meine einzige Stütze, meine Frau, lag seit vier Monaten an den erschrecklichsten Gichtschmerzen. Sie war lahm. Sie hatte ein Lungengeschwür. Das Fleisch fiel ihr in Stücken vom Leibe.90

Er weiss um seine krankheitsbedingte Reizbarkeit, denn er schreibt an Tscharner: J’ay ecrit […] une Lettre à Mr. Fellenberg le 15. Nov. sorti à peine d’une maladie et dans un grand accès d’hypochondrie. Je vous supplie de lui faire mes trés humbles excuses si j’ay dit quelque chose dans cette Lettre qu’assurement je n’aurois pas dit dans une assiete de mon ame plus calme et plus raisonnable.91

Er wünschte, in ein utopisches Land der Gesundheit zu ziehen, weiss aber illusionslos um die Vergeblichkeit seiner Sehnsucht.92 Ab 1771, ausgelöst durch familiäres Leid, den Tod seiner Frau vor allem, ereignet sich eine Art „Explosion“,93 der ein physisch-psychischer Zerfallsprozess bis zu Zimmermanns Tod gefolgt ist. Dès le mois de Novembre (sc. 1794), il avoit perdu le sommeil, l’appétit, les forces, & maigri sensiblement […] l’insomnie, la faiblesse augmentoient rapidement; il ne prenoit presque plus aucune nourriture […] à soixante-six ans il étoit dans un état de décrépitude complette, & son corps étoit un vrai squelette.94

89

90

91 92 93 94

Rengger 1830, S. 26. Der Brief endet: „Gott sey ewig mit Ihnen, lieber guter Freund. Tout à vous. Hans Jörg.“ Vgl. zur Mühsal des Ärztealltags Unterredungen 1788, S. 11: „Ach wie oft kann ich mir am Ende meines Tages weiter nichts sagen, als heute bin ich so viele hölzerne Treppen auf, und so viele hölzerne Treppen abgestiegen“. Versuch 1779, S. 73. Zimmermann wird von einer vermutlich tuberkulösen, schmerzhaften Geschwulst am rechten Testikel geplagt. Vgl. Briefe an Sulzer vom 12. 6. 1772 und 8. 1. 1777. Bodemann 1878, S. 214, S. 260. Hamel 1881, S. 49. Brief Zimmermanns an Sulzer vom 16. 1. 1774. Bodemann 1878, S. 231. Vgl. auch S. 237, S. 241. Wichmann 1796, S. 27. Tissot 1796, S. 113ff. Marcard 1796, S. 56 schreibt zu Zimmermanns Zerfall: „Es ist überhaupt schon sehr niederschlagend, einen Geist von der Erhabenheit so tief gesunken zu sehn; einen so fürchterlichen Abend auf einen so glänzenden Tag“.

115

Zimmermanns Frau hatte sich am 20. Mai 1761 in einem Briefanhang hilfesuchend an Hirzel gewandt: „Quand viendrés vous donc digne Ami? […] En vérité votre pauvre ami a grand besoin de votre presence; votre eloquence, plus persuasive que la mienne, disipera ces nuages vaporeux, qui resistent a mes eforts et me percent l’ame“.95 In Zusammenhang mit der endgültigen Geisteserkrankung seines Sohnes Johann Jakob (1755–1820) nach einem erfolgreich abgeschlossenen Medizinstudium erleidet Zimmermann einen „schlagflussähnlichen Zufall“ (mit Hörsturz).96 Deluc gegenüber gibt er sich im Oktober 1779 ganz offenherzig: „Mes Melancolies frequentes me font craindre la mort tous les Jours. Cela m’engage à mettre ordre à mes affaires le plutot qu’il m’est possible“.97 Hirzel gegenüber klagt er, er sei mehr oder weniger immer krank: „[…] das Maass meines Leydens ist alles was ein Mensch tragen kann. Ich bin jeden Tag meines Lebens entsetzlich mit Krämpfen geplagt, die mir den Kopf so einnehmen, dass ich kaum sehen und denken kann“. Werde er nicht von Kopfschmerzen geplagt, so falle der Schmerz in die Beine und Verdauungsbeschwerden stellten sich ein, verbunden mit „großer Angst“. Bei nasskalter Witterung bekommt Zimmermann verstärkte krampfartige Fieberanfälle. „Zu diesem kommt das schrecklichste Übel dem ein Mensch unterworfen seyn kann, eine beynahe täglich wiederkommende und alle meine Kräfte verzehrende schwartze Melancolie, die Folge des Grams in den ich durch das Unglück mit meinem Sohn seit dem December 1777 verfallen bin“.98 Ohne dass man ihm die peinigenden Schmerzen ansähe, vergehe er davon und unter der Melancholie, die ihm alle Freude und alles Glück des Lebens in Bitterkeit verwandle, ohne dass man wisse, warum er melancholisch sei. Zimmermann schliesst die Darlegung seines Krankheitszustandes mit den Worten: „Dies ist der Lauf meines Lebens, O mein Freund. Urtheile nun selbst wie thöricht alle diejenigen seyn müssten, die mich meines Glückes wegen beneiden. Mein eintziger Trost liegt allein in dem Guten, das Gott etwa hier und da durch mich bewirken läßt“.99 Seinen Krankheitszustand im Sommer 1790 schildert Zimmermann folgendermaßen: Notre Eté etoit un vray Hiver […] malgré toutes mes précautions je me refroidis presque tous les jours depuis que je sors, et dès que je suis refroidi mon pouls va à 100 battemens et au de là, et je suis dechiré du matin au soir par les spasmes les plus douloureux dans les bras et dans les jambes, par une lassitude et une pesanteur affreuse qui ne me quitte jamais, et par la melancolie la plus noire. Je sors tous les matins en voiture pour voir mes malades, aussi un peu vers le soir; le grand matin j’écris quelques lettres pour tout le reste du tems je suis couché, puisque les douleurs spasmodiques […] me rendent trop faible pour me soutenir sur une chaise. Rien ne me soulage que le Sommeil aprés diner, si j’y parviens, mais ce n’est que pour trés peu de tems, et 95 96 97 98 99

Brief, datiert vom 20.Mai 1761, von Katharina Elisabeth Zimmermann, geb. Meley, an Hirzel. ZZH, FA Hirzel 238, 48. Brief Zimmermanns an Lavater vom 11. Januar 1778. ZZH, FA Lav. Ms. 272. Brief Zimmermanns an Deluc vom 12. 10. 1779. StAAG NL. A–193 Fasc. 11/3. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 29. März 1780. ZZH, FA Hirzel 240, 19. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 29. März 1780. ZZH, FA Hirzel 240, 19. Einschränkend fährt Zimmermann fort: „aber leider wirkt ein eintziger Kranker der mir stirbt, mehr Böses bey mir, als hundert vom Tode gerettete wieder gut machen können“.

116

un bain de pied trés chaud, que je prends le soir avant de me mettre au lit quand il me fait suer, me fait de bien pour la premiére heure de la matinée. Voilà tout mon secours physique. Ma digestion se fait infiniment mal, mes selles ne sont rien: je ne connois aucun remede pour me tenir le ventre libre, aucun remede qui puisse me Soulager le moins du monde. Tout ce qui fait du bien à d’autres, m’irrite et reste sans effet. La compagnie constante de ma femme infiniment sensée et infiniment aimante est mon unique soutien et mon unique consolation.100

Im Oktober 1790 schreibt er an Hirzel: „So krank bin ich in meinem Leben noch nie gewesen; oder wenigstens war ich nie so gantz ohne alle Hoffnung krank. Ich strebe indessen gegen alles an, weil ich aus Liebe für meine Frau den mir sonst bey unglaublichen Leiden so höchst willkommenen Tod nicht wünschen darf“.101 Aus dem Briefwechsel mit L. A. Hoffmann wird ersichtlich, wie Zimmermanns Gesundheit anfangs der 1790er Jahre vollends zerrüttet ist. „Mein Leben ist ganz auf der Neige“,102 schreibt er im November 1793, nachdem er schon früher apokalyptische Töne angeschlagen hat: „Mir ist heute, als wenn der Himmel über mir eingestürzt, und die Erde unter mir versunken wäre, und ich läge da unter den schrecklichen Ruinen!“103 Reichard klagt er am 22. Oktober 1792 über seine reduzierte Sehkraft: „Für mich ist es, wegen meiner schlechten Augen, eine wahre Calamität, dass ihr Revolutions-Allmanach so ganz unleserlich klein gedruckt ist. So oft ich eine Seite herunter gelesen habe, bin ich beÿnahe blind“.104 Der junge Philipp Albert Stapfer erhält im Brief vom 22. Februar 1793 die mitleiderregende Beschreibung einer „schrecklichen Melankolie“ Zimmermanns.105 Sein labiler Gesundheitszustand, den er einmal als „Todeszustande“106 bezeichnet, wird zudem negativ beeinflusst von der für Zimmermann ungünstigen Entwicklung der politischen Lage.107 Johann Ernst Wichmann, sein Vertrauter der letzten Lebensjahre und zweiter Leibarzt des Königs von England in Hannover, diagnostiziert in seiner Schrift Zimmermann’s Krankheitsgeschichte von 1796,108 die eine modifizierende

100 101 102

Brief Zimmermanns an Tissot vom 13. August 1790. BBB Mss hh XVIII 71, Nr. 115. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 4. Oktober 1790. ZZH, FA Hirzel 240, 36. Erläuterungen 1798, S. 126. Vgl. S. 117: „Ich bin alt und kränklich, und hundertmal weniger schnellthätig wie Sie. Jeden Tag muss ich des Nachmittags einige Stunden auf dem Bette liegen, wenn ich am Abend im Stande seyn will, auch nur eine Seite zu lesen, auch nur einen kleinen Brief zu schreiben. Dies ist beinahe seit zwanzig Jahren mein Loos“. 103 Erläuterungen 1798, S. 102. 104 Brief Zimmermanns an Reichard vom 22. Oktober 1792. Christoph Weiss, „Deutschlands Hohn und Schmach“. Der Beginn des Briefwechsels zwischen Johann Georg Zimmermann und Heinrich August Ottokar Reichard, in: Schramm 1998, S. 191. Vgl. den Brief vom 8. Dezember 1792, S. 207: „[…] ich habe der Schriftstellereÿ entsagt, und trete heüte in mein 65. Jahr. Dabeÿ bin ich sehr kränklich, aber übrigens, insonderheit auch zu patriotischem Zwecke, gar nicht unthätig“. 105 Luginbühl 1890, S. 82f. 106 Im Brief Zimmermanns an Philipp Albert Stapfer vom 22. Februar 1793. Luginbühl 1890, S. 84. 107 Vgl. den Brief an Philipp Albert Stapfer vom 22. Februar 1793. Luginbühl 1890, S. 83ff. 108 Johann Georg Zimmermann’s Krankheits=Geschichte. Ein biographisches Fragment für Ärzte bestimmt von Johann Ernst Wichmann. Hannover 1796.

117

Gegendarstellung aus der Feder Marcards109 veranlasst, eine latent depressive Anlage und „schwärzeste Melancholie“,110 die auch für seine Stimmungsschwankungen mit einhergehender sehr grosser Reizbarkeit verantwortlich gewesen seien. Schon in den letzten Monathen vor dem völligen Ausbruche der Krankheit bemerkte ich in Zimmermanns Briefen ein, zu dem Grade nicht gewohnten gedämpften Ton, ein Überfliessen von Sanftmuth, Mildigkeit, Güte und Liebe, der mich mit Rührung durchdrang, ohne dass ich damahls noch ahndete, wozu dieses der Anfang war,

stellt Marcard fest.111 Im Auftrag von Zimmermanns Witwe berichtet noch am Todestag, dem 7. Oktober 1795, ihre Freundin Luise von Wüllen in einem Brief an Deluc über die Umstände des Todes „de cet homme si cheri, et si malheureux“.112 Luise von Wüllen lobt die Aufopferungsbereitschaft, mit der ihre Freundin den Toten gepflegt habe, und bestätigt das Bild eines mitleiderregenden Marasmus,113 dem Zimmermann anheimfiel, „il ne restoit plus qu’à demander à Dieu de vouloir rendre sa fin douce et tranquille; ces voeux ont été exaucés, et il s’est endormi tranquilement la nuit passée“. Zu verlockend, um wahr zu sein, mutet deshalb der immer wieder bemühte Bericht Tissots an, der Wichmanns Behauptung kolportiert, Zimmermann habe vierzehn Stunden vor seinem Tod gebeten: „laissez-moi seul, je me meurs“.114 Wichmann bietet am Schluss seiner Krankengeschichte den von ihm ins Lateinische übersetzten Autopsiebericht des Leibchirurgus Lampe und Dr. Lodemanns. Die Sektion bestätigt u.a. die anatomischen Ursachen seiner hartnäckigen Verstopfungen, an denen Zimmermann zeit seines Lebens litt und die nicht ohne Einfluss auf seine psychische Verfassung bleiben konnten.115 Der Autopsiebericht liest sich wie eine nachträgliche medizinische Bestätigung von Zimmermanns Auffassung des commercium mentis et corporis.116 109

Beytrag zur Biographie des seel. Hofraths und Ritters von Zimmermann vom Leibmedicus Marcard in Oldenburg veranlasst durch die vom Herrn Leibmedicus Wichmann in Hannover herausgegebene Krankheits=Geschichte. Hamburg 1796. Marcard vertritt die Ansicht, Wichmanns Krankengeschichte hätte überhaupt nicht geschrieben werden müssen, da sie nur die Neugierde des Publikums zu befriedigen trachte (S. 4). 110 Wichmann 1796, S. 30. Seine Anlage zur Hypochondrie ist von sehr altem Dato. Wichmann 1796, S. 21. Marcard 1796, S. 40f. bestätigt: „Erhöht war noch die Zartheit seiner Empfindungen durch eine hypochondrische Stimmung, in die er schon früh, in Göttingen, über sein angestrengtes Studieren fiel, die ursprünglich wohl blos in empfindlichern Organen des Gefühls und der Leidenschaften ihren Grund hatten, ohne dass damals noch materiellere Ursachen darauf einwürkten. Wenn eine solche kränkliche Empfindlichkeit einmahl Wurzel gefasst hat; wenn einmahl diese Gefühlswerkzeuge übel getönt haben: so unterlassen sie es nie wieder ganz“. 111 Marcard 1796, S. 60. 112 Brief von Luise von Wüllen an Jean André Deluc vom 7. 10. 1795. StAAG NL. A–193 Fasc 13. 113 Wichmann 1796, S. 34 berichtet von Winseln und lautem Klagen, der Absonderung wässriger Exkremente und von Inkontinenz. 114 Tissot 1796, S. 116. 115 Wichmann 1796, 45ff. 116 Vgl. 12.1.2. Zentrale Begriffe von Zimmermanns Heilverständnis, S. 377ff.

118

5.3 Literarische Heilungs- und Linderungstherapeutik 5.3.1 Affektabfuhr Im Brief vom 16. Januar 1774 an Sulzer bekennt Zimmermann: „Wenn ich die verborgensten Schliche meines Herzens erforsche, so finde ich immer, wie wenig ich im Grunde dazu gemacht bin, glücklich zu seyn. Mir deucht, ich verstosse immer gegen die grosse Regel: wenig zu verlangen!“.117 Bescheidenheit ist bei Zimmermann eine wenig ausgeprägte Eigenschaft, und seine Schrift Über die Einsamkeit ist das Werk verweigerter Gefolgschaft, indem sie in bewusster Widerborstigkeit Verstösse gegen das gemeinhin Konventionelle inszeniert. Hirzel klagt er im März 1758 über seine Neigung zu affektabführender Satire: „Danken Sie dem Himmel dass er ihnen die Neigung zur Satÿre nicht eingepflanzet hat“.118 Allein der Umfang des gegen 2000 Oktavseiten zählenden Werks über die Einsamkeit ohne verbindliche Gesetzmässigkeiten der Komposition sprengt das übliche Mass. Bereits im Vorwort zum ersten Teil bekommt der Leser zu hören, worauf er sich einstellen sollte: „Manche Erzählung musste ich wagen, die das feine moralische Gepräge der guten Conversationssprache nicht hat. Aber ich musste entweder meine Materie gar nicht abhandeln, oder doch sehr oft Dinge sagen, die man unter weiblichen Augen nur Lateinisch denkt“ (I, XVI). So kommt Zimmermann im sechsten Kapitel des zweiten Teils im Zusammenhang einer polemischen Erörterung der Schwärmerei – „sie ist vielleicht die am weitesten herrschende Krankheit unsers Zeitalters“ (II, 63) – und der Schwärmer, womit die Schweiz immer reichlich versorgt gewesen sei, auf die Wiedertäufer zu sprechen: Wenn wir nicht werden wie die Kindlein, so mögen wir nicht ins Reich Gottes eingehen, heisst es; und nun setzten sich diese Exegeten (sc. die Anabaptisten) nackt auf Stecken und hölzerne Pferdchen, und ritten hin und her in grossen Haufen. Ihre Weiber und Weibsleute galopppirten mit, und ebenfalls nackt. Endlich galoppirten sie alle nach Hause, und warfen sich, in der reinsten Unschuld und Engeley, übereinander und durcheinander, auf Bänke und Betten: damit sie werden wie die Kindlein! (II, 63).

Die Rezension im Teutschen Merkur vom August 1784 schliesst denn auch mit indigniertem Tadel an Zimmermanns Verstössen gegen das „Geziemende“: Übrigens zweifeln wir ob gewisse Bilder und Ausdrücke die sehr oft im Werke vorkommen, über die sich der Verf. in seiner Zueignungsschrift zu rechtfertigen suchet, […] ob diese Bilder

117

Zimmermann an Sulzer, 16. 1. 1774. Bodemann 1878, S. 232. Vgl. IV, 98: „Kein Mensch ist ein Dorn in dessen Auge, der nicht mehr will, als er hat“. 118 Zimmermann an Hirzel. Brief vom 8. März 1758. ZZH, FA Hirzel 238, Nr. 5. Eines unter zahllosen Beispielen für satirische Affektabfuhr findet sich im Birief vom 26.Dezember 1767, ZZH, FAHirzel 239, 206, in dem Zimmermann es für „einen feinen wirthschaftlichen Streich hält, alle Klostergüter einzuziehen, und alle Nonnen (die alten ausgenommen) zu schwängern“.

119

nicht manchmal zu getreue Copien natürlicher Dinge sind, die eine Dame in einem Buche so wenig als im Umgange vor ihr Anschaun bringen lässt.119

Offenbar hält sich Zimmermann an den Grundsatz: „höflich im Umgange seyn, und derbe in seinen Schriften“ (III, 433),120 eine Einschätzung, die auch Goethe in Dichtung und Wahrheit teilt: Zimmermann […], gross und stark gebaut, von Natur heftig und gerade vor sich hin, hatte doch sein Äusseres und sein Betragen völlig in der Gewalt, so dass er im Umgang als ein gewandter weltmännischer Arzt erschien, und seinem innerlich ungebändigten Charakter nur in Schriften und im vertrautesten Umgang einen ungeregelten Lauf liess.121

Zimmermann fragt demgemäss rhetorisch: „Ist es nicht besser, dass man im Umgange vergütet was man mit der Feder versieht, als dass man seine Feder zwingt, und nie seine Zunge?“ (III, 434). Seine durch Normverstösse charakterisierte schriftstellerische Verfahrensweise bringt er auf folgenden Nenner: „Wer also im Umgange sanft und nachgebend ist, kann doch wol etwa einmal in Schriften einen Ausdruck wagen der auffällt und trift; und hie und da eine Wahrheit in der Nachtkappe sagen, wenn andere im Sonntagsrocke immer lügen“ (III, 434). Tatsächlich stösst der vorgewarnte Leser immer wieder auf Zimmermanns Vorliebe für weidliches Ausbreiten frivoler Themen und derb Gewagtes, die bisweilen wie Voltaires Zadig (1747) à la Suisse anmutet. Medizinische Beobachtungen und Erfahrungsbeispiele erstrecken sich bevorzugt auch auf Intimes, als ob nur durch eine derartige Bereichserweiterung der Mensch in seiner Ganzheit zu erfassen sei: „Manches muss man darum dem Arzte verzeihen, der gewohnt ist, den Menschen von allen Seiten auszuspähen, Alles zu Hülfe zu nehmen was jede Falte seiner Natur entwickelt, nichts vorbeyzugehen von dem was die Seele mit dem Körper gemeinhat, und was dieser in die Seele wirket“ (I, XV). Gewiss sind dabei eine effekthascherische Wirkungsabsicht und eine indiskrete Ventilfunktion für den von Berufs wegen zur Diskretion Verpflichteten mit im Spiel. Obwohl Zimmermann in

119

Der Teutsche Merkur vom Jahre 1784. Drittes Vierteljahr. Weimar 1784. Anzeiger des Teutschen Merkur. August 1784, S. CXVII. Teile der Krankheitsgeschichte eines jungen Mannes, welcher exzessiver Onanie verfiel, werden denn auch Lateinisch erzählt (II, 222ff.). 120 Vgl. III, 421: „Seinem Leser Gesellschaft machen, ist, wie ich das Ding nehme, weiter nichts, als in Schriften rund und frey heraus, wie unter vier Augen sagen, was man im allgemeinen Umgange mit Anstand und Glück so nicht sagen kann“; III, 384f.: „Einsamkeit ist also der Canal aus dem alles hervorgeht, was man im Umgange verheelet. Da macht man, wenn man schreiben kann und mag, seinem Herzen Luft […] Das Vergnügen seine Gedanken und Gesinnungen vor ein grösseres Publikum zu bringen, als das Publicum worinn man lebt, ist der grösste und beynahe der einzige Lebensgenuss für denjenigen, der da, wo er lebt, nicht sagen kann und mag was er denkt“. Auch IV, 347: „[…] hier alles grade vom Herzen wegzusagen wie ich es fühle, und wie es ist“. 121 Goethe, Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, 15. Buch. HA 10, S. 63. Auch Marcard, Wichmann zustimmend, berichtet, „dass Z. im persönlichen Umgange und in seinen Unterredungen sich nie heftig beleidigend, beissend, spöttisch oder satyrisch geäussert habe, sondern, seinem Character gemäss, von allen dem, grade das Gegentheil gewesen sey“. Marcard 1796, S. 10.

120

der Fremdbeobachtung von Sexuellem freizügig verfährt, spart er kompensatorisch in der Selbstbeobachtung Geschlechtliches konsequent aus. Das Spektrum der Normverstösse reicht von frivolen Anspielungen und pikanter Anzüglichkeit bis zu derben Zoten. Die folgenden Belege deuten die schiere Unerschöpflichkeit der Beispiele und die erstaunliche Themenvielfalt illustrierend an, über die ein Leser urteilte: Z i m m e r m a n n sait se rendre très intéressant, mais il épuise la matière, ne laisse rien au lecteur et ne sait pas s’arrêter. Jamais je n’ai lu d’Ecrivain dont le Stile m’a paru plus rabotteux plus inégal. Tantôt il s’eleve sur les ailes de l’Aigle jusqu’à l’Empyrée, d’autres fois il rempe avec l’Escarbot dans la poussière.122

Zunehmendes Alter begünstigt Bigotterie: „Alle coketten Damen frömmeln mehrentheils, wenn sie nicht mehr schön sind“ (IV, 376). Eine junge Schweizerin meint am Morgen nach der Hochzeitsnacht: „Ists nur das?“ (IV, 420). Anzüglich fragt er an anderer Stelle: Sollte wol empfindsamen Mädchen, die auch gar nichts in der Welt gelesen hätten als etwa zwey oder drey Bücher vollgeistiger Empfindung, aus blosser Geistigkeit die Sprache vergehn, die Knie zittern, der Busen schwellen, die Augen schmachten, der Athem brennen, wenn ihr sie küsst? (II, 170).

Neben einer bissigen Polemik gegen Kleinstädte (III, 255–278) findet sich die Geschichte des englischen Selbstmörders Damer, der Prostituierte in Bordellen besucht und bezahlt, „ohne von ihnen zu verlangen, was sie sehr gerne geben“ (III, 227). Unter freiem Himmel lässt sich gut leben: „Nirgends hebt sich da, vor einem dicken adelstolzen Weibe, oder einem hochgezäumten Baron, das Mark in seinen Knochen. Keine vornehme Affe jagt ihn da mit ihrer Kutsche zu Boden. Da ärgert er sich über keine hochadeliche Hure, und über keine stiftsmässige Gans“ (IV, 68). Auf Pezzls Reise durch den Baierschen Kreis Bezug nehmend, berichtet Zimmermann von einer Reliquie mit „Milchtropfen aus der Brust der lieben Mutter Gottes“ (IV, 457). Petrarcas Verhältnis zu Fräulein von Beccaria interessiert ihn besonders (IV, 274f.). Zu seiner eigenen Erbauung und Belehrung sammelte Zimmermann Urteile deutscher Damen über Rousseaus Confessions. Ihm gefiel jenes am besten, das Rousseaus Werk zum Totlachen findet. Er kommentiert: „Wer denkt hier nicht wenigstens an den Suppentopf der grunzigen Madame Clot, in den Rousseau gepisst hat?, und an die letzten Worte der Frau von Vercellis – Femme qui pette n’est pas morte?“ (IV, 279). Im zweiten Teil (II, 288–342) entwirft Zimmermann eine Physiognomik der Unkeuschheit (II, 328), die von den ersten Einsiedlern bis zur zeitgenössischen Gegenwart reicht. Generalthema sind die Gefahren der Keuschheit in der Einsamkeit anhand von Beispielen christlicher Mönche, Anachoreten, Nonnen und Heili-

122

Brief von Nils Adam Bielke an Bonnet vom 20. Mai 1790, in: Luginbühl I 1998, S. 261.

121

gen, ausgeweitet auf Asien (II, 342ff.).123 Da ist vom Phänomen der Entmannung die Rede („dieses allgemeine Abhacken eines brauchbaren Gliedes“ I, 368), z.B. von Jünglingen, die sich aus falschem Bibelverständnis entmannen (I, 151) oder von der Entmannung des Abtes Seranus (II, 120f.), denn „es war eine grosse Kleinigkeit für einen Asceten, sich zu entmannen“ (II, 94), von Anachoreten, die als Tugendübung Freudenhäuser besuchen und in öffentlichen Bädern mit nackten Frauen baden (I, 239), von der Überwindung des Unzuchtteufels bei Dioscorus, dem hl. Antonius, bei Hilarion und Ruffinus, von der Bewahrung der „Jungfernschaft“ (II, 309), von „Päderastie“ (II, 317f.), von den Anfechtungen des hl. Hieronymus und seiner mit missionarischem Eifer betriebenen Erziehung des schönen Geschlechts in Rom, insbesondere auch von seinem Brief über die Bewahrung der Jungfräulichkeit, den Zimmermann ausführlich wiedergibt. Die Persiflage des Bonasus und die Replik des Hieronymus (I, 263–306) werden dem Leser nicht vorenthalten. Vom Märtyrertod der Hypatia sagt Zimmermann nicht, sie sei gesteinigt und verbrannt worden, sondern man „fieng an mit scharfen Steinen ihr Fleisch zu zerstossen, zu zerquetschen, und vom Leibe zu reissen […] Sie rissen ihren Leib in Stücken mit tausend Lästerworten durch alle Gassen von Alexandrien; dann warfen sie dieselben auf einen Haufen zusammen, und verbrannten sie“ (II, 469f.). Zur Fastnachtszeit versuchen ausgelassene Mönche, leicht bekleidete Heiligenbilder zu erhaschen (IV, 439f.), und er berichtet im Rahmen einer grundsätzlichen Reliquienschelte und beissenden Devotionalienpolemik, sich wiederum auf Pezzls Reise durch den Baierschen Kreis beziehend, von der Reliquiensammlung des Benediktinerklosters Andechs. Eine andere Stelle (II, 152–172) behandelt eingehend das Thema „Weibermystik“. Er betont die besondere Empfänglichkeit von Frauen, speziell von Nonnen, für Phantasieeindrücke (Weiberepidemien II, 79) und versucht zu erweisen, „welche seltsame Wendung die Mystik bey Weibern gerade durch ihre Sinnlichkeit nimmt, da man doch denken sollte, Mystik sey das höchste Gegengift der Sinnlichkeit“. Als Fallbeispiele dienen Catharina von Siena, die französische Ursulinerin Armelle Nicolas (II, 155ff.), Johanna von Cambrai, Angelina von Foligny, Mechthild von Sachsen, Marie de l’Incarnation, Maria Magdalena von Pazzis, Catharina von Genua und Gertrud von Sachsen. Zimmermann verfolgt die Thematik in den asiatischen Raum hinein und berichtet von der Sekte der Gioghis, die sich nackt auf einen Säulenfuss stellen. In unmittelbarer Nähe verrichten Inderinnen Ritualwaschungen und beten die indischen Mönche an (I, 342ff.), „indess da diese auf eine fürchterliche Weise ihre Augen verdrehen, und nicht die allergeringste Spur von Empfindsamkeit äussern. Gleichwohl sagen die Indianerinnen, diese Anbetungen seyen sehr befruchtend“ (I, 344). Die Inderinnen küssen und beten sogar die Genitalien der Gioghis an, während 123

An anderer Stelle spricht Zimmermann von der Allmacht der Fleischeslust der Asiaten, „wie bey allen hitzigen und müssigen Menschen“ (I, 373), die „Wollust in Marter, Leiden und Schmerz“ (I, 374) fänden.

122

diese in mystische Betrachtungen versunken sind (I, 350). Mohammedanische Mönche nehmen Frauen auf der Strasse „sanft und milde und höflich“ (I, 365) bei der Hand und „ergötzen sich dann, vor aller Menschen Augen, mit ihnen nach zynischer (d.h. hündischer) Weise“ (I, 365f.), worüber sich niemand beklage, die öffentlich geschändeten Frauen am wenigsten, wie Zimmermann hinzufügt. Auf den französischen Reiseschriftsteller Sonnerat wird verwiesen, der von indischen Mönchen zu erzählen weiss, die Hab und Gut verlassen und neben einem Tigerfell als Schlafgelegenheit nur ein Phallussurrogat bei sich führen, einen Lingam, „den sie in einem fort anbeten“ (I, 348). Desgleichen berichtet Zimmermann von indischen Fakiren, „diesem heiligen und geilen Lumpengesindel“ (I, 346), die bei Nacht das erste beste Weib zu sich nehmen oder Freudenhäuser besuchen (I, 344ff.). Bernier dient ihm als Quelle für den Bericht über einen exhibitionistisch veranlagten Fakir in Dehli, dem bei Todesstrafe verboten wurde, sich nackt zu zeigen, weil er von dieser Obsession nicht ablassen konnte; er wurde schliesslich hingerichtet (I, 346). Die folgenden Belege veranschaulichen abrundend, wie Affektabfuhr sich variationenreich durch das Gesamtwerk zieht. In den Unterredungen mit Friedrich II. berichtet Zimmermann vom sittenstrengen Friedrich Wilhelm I., „als Er einst einer Dame in ihren zu sehr entblössten Busen spie“,124 und im „Versuch in anmuthigen und lehrreichen Erzählungen, launigten Einfällen und philosophischen Remarquen über allerley Gegenstände“ erwähnt er das Nacktbaden der Gebrüder Stolberg und Goethes, dem Wieland einst bei bitterer Kälte im Winter sein trockenes Hemd lieh „und gieng mit ihm, eine Stunde weit, ohne Hemd wieder nach Weimar zurück“.125 Warum meidet Zimmermann die Ecke des Wohnhauses in Hannover, wo Leibniz gelebt hatte, „dessen Geist in der Mitte stand zwischen der menschlichen Natur, und der Natur höherer Wesen“?126 Die Antwort lautet: „An die Mauer, auf welcher die Fenster von Leibnizens Studierstube ruhen, sehe ich alle Tage pissen“.127 In der Radotage übers Geniewesen ist von genialen Söhnen die Rede, die Briefe schreiben, „auf kleine abgerissene Papierwische, die man sonst nur auf Abtritten braucht“.128 Wenn eine Frau mit anderen Männern in einer Kutsche fährt, „so darf sie der Freyheit ihrer Nation gemäss, in einer gewissen Noth in der Kutsche bleiben, und ohne zu erröthen, einen Pisstopf in dem Nächsten Hause fordern“.129 „Operationsmesser, Bastillie, Dolche und Dominicanerkutten“ hingegen erschrecken Zimmermann

124 125 126

Unterredungen 1788, S. 155. Versuch 1779, S. 58. Versuch 1779, S. 29. Zu Leibniz als Quelle für Zimmermanns „Nationalstolz“ vgl. Hans Trümpy, Schweizerdeutsche Sprache und Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Basel 1955 (Schriften der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 36), S. 81. 127 Versuch 1779, S. 29. 128 Versuch 1779, S. 49. 129 Nationalstolz 1789, S. 74.

123

nicht im Vergleich „mit dem fürchterlichsten unter allen Menschen, einem wichtigen Dummkopf, mit oder ohne Hosen“.130 In einem Brief an einen Ehemann mahnt Zimmermann, vorläufig eine Schwangerschaft zu vermeiden, „sonst wünsche ich Euer Hochwolgebornen das Schicksal des Abelard“.131 Jungen Ehemännern rät Zimmermann, „in der Absicht die Feder der Mannheit zu spannen“, Schokolade zu trinken (Erf. II, 353), weil „Weintrinker ihre Mannheit verlieren, oder wie die Engländer im Scherze sagen nur Mädgen zeugen“ (Erf. II, 304). Über einen Krankheitsverlauf berichtet er: „Vom neunten bis zum zwölften Tage befand er sich sehr gut, soff Wein und starb“ (Erf. I, 402), und er erinnert sich an einen nunmehr verstorbenen frommen Patienten, der das Unglück hatte, „durch die bekannte List des leidigen Satans in einen Tripper zu verfallen“ (Erf. II, 611). Trotz der fraglosen Bedeutung von Gerüchen für den Körper nimmt Zimmermann Linné nicht ab, dass nur Mädchen, die wegen des Geruchs einer Alcea ohnmächtig werden, nicht mehr jungfräulich seien und „dass ein geiles Mädgen die Jünglinge bezaubere gleichwie die Ausdünstungen gewisser Theile einer Hündin die Hunde“ (Erf. II, 559). In Italien würden Verstösse gegen den Glauben der katholischen Kirche weit strenger geahndet als „die schrecklichsten Verbrechen wider die Natur“, ja sogar mit Ehebrechern werde so milde verfahren „als eine Nonne mit ihrem Gewissen, wenn sie an die Sünden ihrer Finger denkt“.132 Ein ehrlicher Kapuziner habe Zimmermann versichert, „dass ein gewisser ihm nicht gleichgültiger Theil niemals so handfest sey als im Vollmond“ (Erf. II, 109), eine Ansicht, die Zimmermann durchaus ablehnt, wie jene Torellas, der die wahre Ursache der „Lustseuche […] in eine gewisse Vereinigung der Planeten (sezt), da sie doch von der bekanntesten aller Vereinigungen abhängt“ (Erf. II, 103). 5.3.2 Bemerkungen zu Zimmermanns Bild der Frau Das Einsamkeitswerk ist ein Beispiel eines aus männlicher Perspektive geführten anthropologischen Diskurses über die Natur der Frau, die „in eigener Sache keine eigene Stimme“133 hat, weil im Geiste von Pierre Roussels Système physique et moral de la femme (1775) die organische Differenz zwischen Mann und Frau „von dem universalistischen Erklärungsprogramm eines animierten Physiologismus“134 eine gleichberechtigte Zuteilung der Rollenparts nicht zulässt. Im Gefolge Platners finden sich auch bei Zimmermann „nur Rudimente einer Geschlechteranthropologie“,135 von einer systematischen Theorie der bipolaren Geschlechterdifferenzierung und einer weiblichen Sonderanthropologie kann die Rede nicht sein. Insbe130 131 132 133 134 135

Versuch 1779, S. 38. Banholzer 1997, S. 71. Nationalstolz 1789, S. 114. Riedel 1994, S. 118. Honegger 1991, S. 150. Honegger 1991, S. 119.

124

sondere folgt Zimmermann Roussel in der Auffassung einer ganz von der Sensibilität bestimmten Konstitution der Frau, was wenig verwundert, wenn man bedenkt, dass er an der „innermedizinischen Aufwertung von Nervensystem und Sensibilität“136 durch seine Göttinger Dissertation bei Haller nicht unwesentlich beiträgt. Die typisch weibliche nervliche Disposition erklärt dem Physiologen Zimmermann die besondere Anfälligkeit für Erscheinungsformen des Mystischen. Aufs Ganze seines Werks gesehen, kolportiert Zimmermann ein Bild der Frau, das in heutiger Sichtweise ein vorurteilbefrachtetes Sammelsurium darstellt. Zeittypisch ist seine bisweilen in Ausbrüchen sich Luft bahnende Misogynie, die durch Passagen einer ausgesprochenen Wertschätzung der Frau, im Rahmen ihrer naturfixierten Bestimmung, gemildert erscheint. Die siebzehnseitige Widmung An die Frau Regierungsräthinn von Döring gebohrne Strube in Ratzeburg, seine Muse, die Hannover am 21. September 1781 verlassen hatte, im ersten Teil von Über die Einsamkeit ist eine empfindsame Eloge in höchsten Tönen: Ohne Sie, meine geliebte Freundinn, und ohne die Fähigkeit solches Feuer zu fassen wie Sie mittheilen, hätte ich seit vielen Jahren keine Feder mehr in die Hand genommen. Sie allein, auf Erden, haben mich aus dem gefährlichen Todesschlummer erwecket, in den ich versunken lag, durch unaussprechliche Traurigkeit [...] Ich müsste seyn was Sie sind; wie Sie [...] in ihrem ersten Worte, Gefühl, Darstellung, Leben, Reflexion, und Wahrheit vereinigen! (I, IV; XIXf.).

Grundsätzlich wird in Zimmermanns Einsamkeitswerk wie in seinen übrigen Schriften vom Mann her gedacht, und es ist primär ein männliches Lesepublikum das er vor Augen hat.137 Dass Zimmermanns Schrift über die Einsamkeit von 1784/85 letztlich nur Männern zumutbar sei, vermerkt ein Rezensent 1798: „Dennoch bleibt Rec. der Meynung, dass nur Leser von schon geprüfter Erfahrung und verdauter Belesenheit, Männer mit einem Wort, sich an Zimmermanns Werke ohne Nachtheil ergötzen können“.138 Oft bedient er sich in anekdotenmässig zugespitzten Erzählungen eines pikant-lüsternen Untertons. Konkrete Rezepte zur „Bildung eines moralischen Charakters“ (III, 242) werden nur der männlichen Jugend verschrieben – wie selbstverständlich ist von der weiblichen keine Rede (III, 237ff.). Auch folgendes Rezept erwähnt keine Frauen: „Männer musst du kennen, Grie-

136 137

Honegger 1991, S. 133. Darin trifft sich Zimmermann mit Weikard, der in der „Vorrede“ zu seinen „Vermischten medizinischen Schriften“ bemerkt: „Ich habe mir Mühe gegeben, meine Schriften durch Wahrheit, Gründlichkeit, und Nützlichkeit so auszuarbeiten, dass ich für sie bey Männern von Geist und Erfahrung Beyfall zu erhalten habe“. M.A.Weikard, Vermischte medizinische Schriften. Erster Bd. Frankfurt/M. 1793, Vorrede, S. III/IV. Vom möglichen Beifall von Frauen ist nicht die Rede. Vgl. den Schluss der „Vorrede“ der Neuausgabe des „Philosophischen Arztes“ von 1798: „Nur von vernünftigen und tugendhaften Männern möchte ich mir Beyfall wünschen“. Der Philosophische Arzt, Erster Bd. Frankfurt/M. 1798, Vorrede, S. XV. Lichtenberg spricht allerdings von Zimmermanns „Prunkzötchen für die Damen“. G. C. Lichtenberg. Schriften und Briefe, 3. Band. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1972, S. 569. 138 Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 38/1 (1798), S. 268.

125

chen, Römer, Engländer, durch die man Alles um sich her übertreffen lernt. Oder wo haben wir berühmtere Beyspiele menschlicher Grösse ?“ (III, 244).139 Ironisch und mit gespielter Befürchtung charakterisiert Zimmermann typisch weibliches Verhalten im Essay Über Dummheit: „Die Originale, so ich copiren soll, haben zu viel Reizbarkeit, und sind zu gefährlich. Das schöne Geschlecht würde mir die Perüke weidlich zausen, und wohl gar die Augen auskratzen“.140 Genüsslich zitiert er den Jesuiten Benzi. Dieser habe „Vorschriften hinterlassen, wie eine Nonne ohne Hülfe eines Mannes auf verschiedene Art könne ihren Lüsten genug thun“. Die diesbezüglichen Vorschriften würden in allen Nonnenklöstern Italiens „getreulichst befolget“ (II, 336). Zimmermann stimmt Rousseau zu, wenn dieser meint, dass die Liebe für Frauen wichtiger als für Männer sei, „denn die Weiber bringen die Hälfte ihres Lebens mit der Liebe zu, da hingegen sehr oft die Männer durch tausend verschiedene Geschäfte gezwungen werden die Liebe zu vergessen, oder sich mit derselben nur im Vorbeygange zu beschäftigen“ (Erf. I, 183). Die Frau wird festgelegt auf die ihr zugewiesene naturgemässe Aufgabe, „mit wahrer Weiberlist“141 ewig lockend und anziehend zu sein, wobei die Bestimmung der Frau als Mutter bemerkenswerterweise weitgehend ausgespart ist. Zimmermann zitiert Heloïse, ohne zu wissen, dass ihre Briefe auch aus Abélards Feder stammen: „Weibernatur ist nichts als Schwäche“ (II, 322), während es an anderer Stelle heisst: „Weib und Dame wollen doch zu jeder Zeit, an jedem Orte, in jedem Alter, immer nach Möglichkeit interessiren“ (IV, 200), so dass sie „bekanntlich lieber ihr Leben als ihre Schönheit“ (Erf. II, 45) verlören. Die Frau ist demnach mit besonderen Eigenschaften ausgestattet, etwa einem differenzierenden Beobachtungsvermögen: „Die Weiber sehen sehr viele Dinge die wir (sc. die Männer) nicht sehen, weil sie einen weit grössern Vortheil haben sie zu sehen; feine Beobachtungen sind darum nur insofern die Wissenschaft der Weiber, als ihnen unendlich an dem Herzen liegt diese Beobachtungen beser zu machen als wir“ (Erf. I, 145). Insofern wäre das weibliche Geschlecht in gewissem Sinn geeigneter als Männer, Beiträge zur Physiognomik zu leisten: „Die Weiber sollen weit besser in unsern Physionomien lesen als wir in ihren; und vielleicht ist kein Weib fähig die Physionomie eines Mannes zu beurtheilen, wenn sie hesslich ist“ (Erf. I, 179). Die Ursache religiöser Inspirationen der Frauen seien „sehr oft unter ihrer Schürze“ zu finden.142 In der Einsamkeit jedoch verblasse weibliche Koketterie. Das notorische Kalkül der Frau, eine gute Partie zu machen, kann bisweilen nicht aufgehen. Zim-

139

Vgl. Erf. I, 161: „Die Geschichte ist in ihrem vornehmsten Gesichtspunkt eines der wichtigsten Hülfsmittel zu Vermehrung unserer Kenntnis der Moral. Wir suchen die Vorwelt aus der Nähe zu kennen, damit wir unsere Zeitgenossen grundlicher kennen lernen, und in derselben eine Richtschnur für unsere Urtheile und unser eigen Betragen finden“. 140 Zerstreute Blätter 1799, S. 334f. 141 Brief Zimmermanns an Hirzel vom 1. August 1784. ZZH, FA Hirzel 240, 20. 142 Benzenhöfer und vom Bruch 1995, S. 152.

126

mermann erzählt die Geschichte einer Frau von Stand, die vergeblich heiratet, um der Langeweile zu entgehen (I, 24f.). Weibische Schwatzhaftigkeit, „weibisches Geschwäz“ (Erf. I, 29), ist in Zimmermanns Einschätzung sprichwörtlich: „Unermüdet und unaufhaltsam wie die Zunge eines hirnlosen Weibes“ (Erf. I, 27) verbreiten sie „Weiberunsinn“ (II, 151). Der desolate Zustand der ägyptischen Medizin der Anachoretenzeit sei wie „ein weibisches Geschwäz“ (Erf. I, 28/29). Die Definition von „schnacken“ erfolgt über ein (angeblich) typisch weibliches Verhaltensmuster: Schnacken ist ein vollströmendes herzliches Reden, ein obstructionsfreyer Guss, eine unaufhaltsame Ejakulation weiblicher Behaglichkeit. Drey oder vier redselige Frauenzimmer zerfliessen auch darum, in süssester und innigster Vereinigung, durch einen ächten und wahren Herzensschnack, über alles was in der ganzen Welt, auf eine Viertelmeile Weges, vorgeht (III, 296f.).

Die Sekte der „Chimisten“, „zu welcher sich der ganze dumme Theil des weiblichen Geschlechtes“ geschlagen hatte (Erf. I, 188), habe allein in der Behandlung der Kinderpocken mehr Menschen umgebracht als Alexander der Grosse. Der „ganze schnatternde Chor der medicinischen Weiber beyderley Geschlechts“ speit „seine ungehirnte Erfahrung den erfahrensten Ärzten ins Angesicht“ (Erf. II, 141).143 Zimmermann verwahrt sich nämlich insbesondere gegen Frauen, die pfuschend als Heilerinnen wirken und damit unstatthaft die Männern vorbehaltene Domäne der Wissenschaften betreten. „Wie männlich ist die Wissenschaft?“144 hat im Problembewusstsein Zimmermanns als Fragestellung keine Berechtigung: „Jedes dumme Weib glaubt, es müsse sein Licht leuchten lassen vor den Leuten“.145 In der Erfahrung berichtet er, im Pariser Narrenhospital nur drei Klassen von Narren gefunden zu haben: „die Männer aus Hochmuth, die Mädchen aus Liebe, die Frauen aus Eifersucht“ (Erf. II, 496). Das grösste Übel sei daher das Zusammenlaufen von Frauen an den Krankenbetten, weil sie alles veranlassten, was dem Arzt hinderlich sein kann. Die Frauen würden zwar durch den im „Wesen ihrer Seele liegenden Instinkt“ angehalten, intensiver zu helfen als Männer. Dennoch seien helfende Frauen „auf dem Lande eine ordentliche Pest; so nützlich sie mir sonst bey dem Krankenbette scheinen, wenn diesen wahren Weiberinstinkt eine aufge-

143 144

Unterredungen 1788, S. 92: „und vorzüglich immer aus dem bekannten Canal – der Weiber!“. Vgl. Wie männlich ist die Wissenschaft? Hg. v. Karin Hausen u. Helga Nowotny. Frankfurt/M. 1990. 145 Ruhr 1767, S. 257. „Die Baumfrüchte und Staudenfrüchte werden von allen Ärzten nach dem alten Schlage, und von allen unsern medicinischen Weibern, als die eigentliche und wahre Ursache aller Ruhren angegeben“. Ruhr 1767, S. 37. Vgl dazu Platner 1772, Vorrede S. VIII: „Es sind mir in unserer Stadt (Leipzig), wo die Quacksalberey schon längst über das sinkende Ansehen der Aerzte triumphirt hat, einige Weiber bekannt, welche eine sehr starke Praxin haben, und dieselbe ursprünglich ganz allein der Geschicklichkeit Clystiere zu setzen, zu verdanken haben“.

127

klärte Vernunft begleitet“.146 Frauen reiht Zimmermann in eine umfassende Schwärmergalerie ein: Singende Fische, redende Kürbisse, Wallfische in deren Bauch man Sonne Mond und Sternen sieht, Salz in der Tasche das uns vor Verhexungen verwahren soll, Weiber die alles Abwesende in Wasser sehen, alle mystische Erfahrungen und aus den Därmen stammende Gnadenführungen sind Schwärmereyen einer Art.147

Dummen Kranken muss sich ein Arzt anpassen, indem er vorgeht „wie jeder Practicus und jedes medicinische Weib“.148 Bei der Bekämpfung der Ruhr bedeute die Auswahl wirkungsvoller Arzneien selbst für erprobte Ärzte eine anspruchsvolle Aufgabe, die „insbesondere sehr weit ausserhalb dem Verstandsgebiete eines medicinischen Weibes liegende Sache ist“.149 Zimmermann berichtet von einer zwanzigjährigen Bruggerin, die während der Ruhrepidemie im Jahre 1765 schwer erkrankte. Als herbeigerufener Arzt muss er feststellen, dass die Kranke „auf den Befehl einer für ihre Erfahrung in der Arzneywissenschaft unter uns berühmten Vettel, eine gute Portion Wein getrunken“ hatte.150 Sarkastisch bemerkt er über die Behandlung der Kinderpocken in Schweden, dass diese mehr Mädchen als Knaben töten, „vermuthlich weil in Schweden, wie bey uns, die Weibspersonen die Arzneykunst besser verstehen, als die Ärzte die sie studiren“.151 Über die Wirkung eines gewiegten Arztes äussert er: „So viel sehe ich, dass ein Feuerkopf Weiber immer führen kann, wohin er will, wenn er dunkel auf ihren Verstand und lebhaft auf ihre Empfindung wirket. Wer dies kann wie Lavater, dessen Herrschaft ist immer gross in der Welt“ (I, 272). Pulsfühlen sollte ein Arzt direkt am Herzen, „aber unsere Sitten erlauben wenigstens bey Weibspersonen diese Untersuchung nicht“ (Erf. I, 343). In Zusammenhang mit der Mönchsthematik ist Jungfräulichkeit für Zimmermann ein besonders weidlich behandeltes Thema. Was dem Dummkopf sein vermeintlicher Verstand, sei jeder ältlichen und leider niemals auf die Probe gesetzten Jungfrau ihre Keuschheit.152 Drastisch werden jene charakterisiert, die Hieronymus bezichtigt, Weiberverführer und Zauberer zu sein: „Dann schlugen sich izt alle Gekken, alle Schöpse, alle Halbköpfe, der grosse Haufen der Idioten und der Wahrheitshässer, wie gewöhnlich, zur Partey der Damen. Alle Weiber und alle Damen selbst waren bereit, dem Hieronymus die Finger abzuschneiden, die Augen 146 147 148 149 150

Ruhr 1767, S. 257. Benzenhöfer/vom Bruch 1995, S. 148. Benzenhöfer/vom Bruch 1995, S. 137. Ruhr 1767, S. 235. Ruhr 1767, S. 164. Zimmermann berichtet auch von einem Fall einer jungen Frau, die mit Scharlatan-Methoden auf Anraten einer anderen Frau behandelt wurde, z.B. durch Verabreichung von Wein. Zimmermann versucht, den Vater der erkrankten Tochter über die verhängnisvolle Behandlungsweise aufzuklären, so dass dieser ihm schliesslich weinend verspricht, „er wolle nun weiter keinem Weibe gehorchen“. Ruhr 1767, S. 170. 151 Ruhr 1767, S. 273. 152 Nationalstolz 1789, S. 17.

128

auszukratzen, den Bart auszurupfen“ (I, 290). Mehr augenzwinkernd bemerkt Zimmermann zum Verhältnis des Hieronymus zur Witwe und Nonne Marcella: „man weiss was das bedeutet, wenn man eine schöne und vornehme Frau auf seiner Seite hat“ (I, 273). Im zehnten Kapitel des vierten Buches der Erfahrung in der Arzneykunst verweist er auf Hippocrates, der das Spriessen von Bärten bei Jungfrauen auf das Ausbleiben der Menstruation zurückführt, und fährt fort: „Wir haben in der Schweiz auch Jungfern mit Bärten, ob es aus dieser Ursache sey weis ich nicht, aber man wusste in Lesbos was solche Bärte bedeuten“ (Erf. II, 419). Einen Sonderfall stellt die eingehende Darstellung der Liebesgeschichte zwischen Heloïse und Abélard (u.a. II, 253ff.) dar. Sie richtet ihr spezielles Augenmerk auf die erotische Steigerung in der Einsamkeit und singt das hohe Lied einer Liebe, in der Gottesliebe und Geschlechterliebe unauflösbar miteinander verschlungen sind. Neben diesen pejorativ gefärbten Einschätzungen der Frau als Geschlechtswesen entwirft Zimmermann positive Gegenbilder, die insbesondere ein Idealverhältnis von Mann und Frau rühmen. Sie folgen einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Frau naturgegebene häusliche Pflichten zuweist: „Un esprit cultivé et toutes les vertus domestiques“.153 Weil in aller Regel Frauen emotional empfänglicher seien als Männer, stellen sie im Idealfall eine Art Synthese von Kopf und Herz, von Leib und Seele dar, mit „erhabener Denkart, tiefem Blicke, liebeathmendem und liebevollem Herzen“ (III, 252). Die wahre Mutter vermag deshalb in der Erziehung mehr zu bewirken als der gestrenge Vater: „Philosophie aus dem Munde einer klugen und mit der Menschheit bekannten Mutter, fliesset durch das Herz in den Kopf“ (III, 252). Zimmermann bezieht sich auf seinen Freund Iselin, wenn er einmal mehr die Wichtigkeit der Jugend hervorhebt: „Es ist noch nicht genug anerkannt, wie wichtig eine unschuldig und untadelhaft zugebrachte Jugend für das ganze Leben eines Menschen ist […] und wie sehr überhaupt die Vollkommenheit und das Glück der Menschheit sich auf Weiberverstand und Weibertugend gründet“ (III, 253). Zimmermann beschreibt seinen eigenen Hausstand häuslich-familiären Glücks, wie e r ihn erlebte, als jenen Hort von Geborgenheit und Seelenruhe, die höher zu schätzen seien als jeder äussere Erfolg im Leben (IV, 100f.). Den Tod seiner (ersten) Frau würde er nicht überleben,154 was nicht zutreffen sollte. Über seine zweite Frau schreibt Zimmermann im April 1785, sie mache ihn „unaussprechlich glücklich […] Wir leben zusammen in der vollkommensten und ununterbrochensten, häuslichen Glückseligkeit“, wie aus vielen Stellen seines Buches über die Einsamkeit zu sehen sei.155 Hirzel empfängt den Segenswunsch: „Gott segne und erhalte Deine Gemahlin – Deinen Schutzengel – bis in die spätesten Jahre“. Demselben Adressaten gibt er zu bedenken, ein Buch zu 153

Im Brief an Haller vom 17. März 1775 über seine Wunschvorstellung für seine Tochter. Ischer 1912, S. 149. „Dieu la conserve, je ne saurai lui survivre“. Brief Zimmermanns an Haller vom 30. Dezember 1754. Ischer 1906, S. 217. 155 Brief Zimmermanns an Johann Stapfer vom 8. April 1785. Luginbühl 1890, s. 31f. 154

129

schreiben und eine Frau zu haben, „wie Du und ich“, sei das „grösste arcanum gegen alle Lebenspein.“156 Die Hauptaufgabe der Frau besteht demnach in der Vermittlung und Bewahrung häuslichen Glücks. Eine nicht auf Liebe beruhende Heirat, etwa aus dynastischem Diktat, wird dennoch abgelehnt. Zu wahrem Glück bedarf es „eines mit dem unsrigen gleichgestimmten und uns liebenden Herzens“ (IV, 214). „Häusliche Glückseligkeit und geistvoller Umgang mit einer schönen weiblichen Seele“ (III, 409) vermittle das höchste der Gefühle. Durch „Ergiessung ihres Herzens in unser Herz“ (III, 410)157 entwickelt die Frau die Anlagen des Mannes, indem er sich an und durch sie bildet und das Beste aus sich herauszuholen vermag. Aus eigener Lebenserfahrung und mit deutlich emotionalem Engagement entwirft Zimmermann diese Form idealer, weil naturgemässer Partnerschaft (IV, 215ff.), in welcher der Mann durch die geliebt-vertraute Frau eine existentielle Daseinserweiterung erfährt: „Hier fällt kein gutes Wort auf die Erde; hier bleibt keine Wirkung ohne Gegenwirkung; kein Gedanke der nicht aufgefasst, kein Beweis der Liebe der nicht vergolten, keine Freude die nicht mitgenossen würde, und keine Empfindung die sich nicht beyden Herzen mittheilete!“ (IV, 215).158 Zimmermanns Grundhaltung schliesst nicht aus, dass er gelegentlich bei der Behandlung des Verhältnisses von Mann und Frau auch die Perspektive der Frau versuchsweise wählt, wie folgende Stelle zeigt: Wie manche geistreiche Frau vermodert auf dem Lande, wenn ihr Mann für ihren Geist, und ihr Herz gar keinen Sinn hat; wenn ihr nur etwa ein paar wüste und leere Grafen und Landjunker, ab und zu, ins Haus stiefeln; wenn sie niemand hat und niemand sieht, der sie versteht und befriedigt, der Ohren hat wenn sie spricht, und ein Herz für ihr Herz. Aber wie glücklich ist dann auch die Frau, welche in der Welt keine Lage nach ihrem Sinne verlanget, aber selbst den Sinn für jede Lage findet, also immer Ruhe in der Ausübung ihrer Pflicht, Reitze in der Heide, und Blumen unter Dornen (IV, 335).

Doch im allgemeinen ist die Frau für Zimmermann, auch wenn er ihr als einer Gefährtin in Freundschaft oder Liebe begegnet, dazu berufen, „nicht nur seine

156 157

Brief Zimmermanns an Hirzel vom 12. Februar 1785. ZZH, FA Hirzel 240, 22. An Tissot schreibt er: „Tout ce qui peut me soulager à présent, c’est de verser un torrent de larmes dans le sein de ma femme“. Eynard 1839, S. 168. 158 Dass diese Passagen aus dem Einsamkeitswerk einen autobiographischen Hintergrund haben, lässt sich im Briefwechsel ersehen, z.B. schreibt Zimmermann aus Hannover an Hirzel im Oktober 1768 über das Verhalten seiner Frau: „Meine Frau beträgt sich bey diesem allem wie eine Heldin, und gegen mich wie ein wahrer Engel. Ohne sie könnte ich hier gar nicht seyn […] Mit himmlischer Liebe verträgt sie dieses alles, keine Ungeduld übernimmt sie, sie ist meine Stütze und mein Stab“. ZZH FA Hirzel 239, 240. Nach dem Tod seiner Frau schreibt er, kühn den Tod seiner Frau als Opfertod beschwörend, am 2. Juli 1770 an Hirzel: „Allethalben suche ich meine Geliebte und finde sie nicht; meine Thränen vertrocknen nicht; jede Stunde vermehret sich meine Sehnsucht nach der, die als ein Opfer für mich hingestorben ist!“. ZZH, FA Hirzel, 239, 248.

130

körperlichen, sondern auch seine geistigen und seelischen Bedürfnisse“159 zu befriedigen. Die Kategorie „Geschlecht“ ist für ihn noch nicht eine dominante gesellschaftliche Ordnungskategorie, wie sie es im Verlauf des 19. Jahrhunderts werden wird, wo Geschlecht zu einem konstitutiven Strukturelement bürgerlicher Gesellschaft „mit weitreichenden sozialen Bedeutungen“160 wird, indem die Geschlechterdifferez „als natürliche, schliesslich auch anatomisch an der Ungleichheit der Körper wissenschaftlich fundierte Tatsache“161 ausgestattet erscheint. 5.3.3 „Es ist meine Manier, in jeder Absicht, frey zu schreiben“162 „Mein freyer und alle Sklaverey, von was Art und Gattung sie immer seyn mag, verabscheüender Geist!“163

„Frey“ und „Freyheit“ sind Schlüsselwörter im schriftstellerischen Œuvre Zimmermanns, die auch im Einsamkeitswerk häufig begegnen, oft in formelhafter Verbindung von „frey“ mit einem anderen Adjektiv, wie „rund und frey“ (I, 278), „frey und froh“ (I, 111), „heiter und frey“ (IV, 31), „edel und frey“ (IV, 499).164 Ein Tagebucheintrag vom September 1753 verkündet: „Ich liebe die Freyheit“,165 eine Denkart, die er von seinem Vater geerbt habe.166 In der Widmungsadresse an Frau v. Döring des ersten Teils bekennt Zimmermann: „Es ist meine Manier, in jeder Absicht, frey zu schreiben“ (I, XVI) und nimmt damit in Kauf, dass man sich in Zürich und Bern sehr gegen die Freiheit erzürnt habe, mit der er sein Werk über die Einsamkeit geschrieben habe.167 An Reich in Leipzig schreibt er im Juli 1781 über das geplante Buch über die Einsamkeit: „Alles ist mit der grössten Freymüthigkeit und mit der grössten Naivheit aus Kopf und Hertzen weggeschrie159

Stollberg-Rilinger, Barbara, Geschlechterverhältnisse, in: Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart 2000, S. 155. 160 Hausen 1998, S. 27. 161 Hausen 1998, S. 27. 162 I, XVI. 163 Zimmermann an Lavater, Brief vom 9. Januar 1765. ZZH, Familienarchiv Lavater, Ms 18. 164 Weitere Belege: „zutraulicher und freyer“ (III, 211), „frey und unbefangen“ (IV, III Vorrede), „unabhängig und frey“ (I, 71; IV, 146), „frey und abgesondert“ (III, 332), „ruhig […] und frey“ (IV, 4; IV, 286), „rund und frey“ (III, 421), „reiner und freyer“ (IV, 139), „frey und ungehindert“ (IV, 350), „fest und frey“ (IV, 411), „frey und aufrichtig“ (Erf. I, 340). Er sieht in sich selbst „immer freyer und schärfer“ (IV, 289) als „eines unbefangenen, freyen, und ehrlichen Mannes“ (IV, 401) würdig. 165 Tagebucheintrag vom 7. 9. 1753. Carz Hummel, J. G. Zimmermanns Tagebuch aus dem Jahre 1753, in: Brugger Neujahrsblätter 85 (1975), S. 132. 166 IV, 390: ein „sehr verständiger und sehr aufgeklärter Mann, dem ich meine freye Denkart, und eine edle Erziehung zu danken habe“. 167 Vgl. den Brief Zimmermanns an Tissot vom 5. September 1785, BBB Mss hh XVIII 71. Nr. 114: „quelques Philosophes scholastiques n’en ont pas été contents en Allemagne, quelques Fanatiques ont crié contre, quelques envieux ont voulu le décrier et on dit qu’à Zurich et à Berne on s’est bien faché contre la liberté avec laquelle j’ay ecrit“.

131

ben“.168 In vergleichbarem Sinn bekommt Lavater im September 1764 zu lesen: „Ich hasse überhaupt das Mittheilen meiner Briefe von ganzem Herzen, weil ich an meine Freünde freÿ, nachlässig, und niemals zur Parade schreibe“.169 Was heisst nun aber „frey“ in der Einsamkeitsschrift? Der Begriff beinhaltet hauptsächlich eine Aversion gegen jeglichen Regelzwang, ein Insistieren auf politische Unabhängigkeit und schliesslich eine seelische Gestimmtheit, die aus dem eigenen Herzen keine Mördergrube macht. Zunächst bezeichnet Freiheit eine Sprachgestaltung, die nicht an Regelzwang gebunden ist: „Wenn ich keck und frey170 sage was ich sehe“ (I, XIX).171 Zimmermann richtet sich damit gegen „Geschmacksführer und Volkslehrer“ (I, 74), gegen „unsere Gottschede“172 und „Demagogen des Geschmacks“,173 unter deren Sklavenjoch sich kein freier Kopf beuge. Offen bekennt er, dass für ihn Wirkung vor Korrektheit komme: Ich habe auch deswegen gegen alle Regeln der Schriftstellerey gesündigt, wenn ich glaubte, meine Worte werden wirken. Weit weg habe ich sogar die Regeln unserer deutschen Grammatiker geworfen, wenn ich sah, dass unter denselben der Styl hinkt und ermattet. So oft es mein Periodenbau erfoderte, habe ich Wortstellungen gewagt, die gegen alle Regeln sind, die aber doch jedermann versteht, nicht weil ich die Regeln nicht wusste, oder sie nicht sehr leicht hätte befolgen können, sondern weil ich nicht gern meine Perioden mit schaalen Wörtern schliesse (I, XVIf.).174

Diese eigenmächtige Sprachgestaltung, „ohne welche ich kein Schriftsteller seyn möchte“ (Erf. II, 119), mündet in das Postulat einer umfassenden „Denkfreyheit“ (III, 421) mit einem „freyen Untersuchungsgeist“,175 die für ihn zum Zeichen zunehmender Aufklärung wird. Sie ist dadurch gekennzeichnet, „dass jeder frey für sich denkt, was er will“ (I, 73). In diesem Sinn kann er in der fünften Auflage der Schrift über den Nationalstolz feststellen: „Die Engländer sind nur darum freyer als andere Nationen, weil sie aufgeklärter sind“.176 Eine Stelle der Einsamkeitsschrift 168

Brief Zimmermanns an Reich vom 5. Juli 1781. Bayerische Staatsbibliothek München. Autogr. Johann Georg Zimmermann. 169 Zimmermann an Lavater. Brief vom 19. September 1764. ZZH, Familienarchiv Lavater, Ms 13. 170 Zu „keck und frey“: Marcard wird von Zimmermann im Brief vom 16. 3. 1790 gebeten, den Plan vom März 1790 für einen dritten Teil der „Erfahrung in der Arzneykunst“ zu begutachten: „Nun entstand der neue Plan den ich hier beylege, mit der Bitte dass Sie, nach Belieben, keck und frey darinn wegstreichen und dazu setzen was Sie gut finden“. Universitätsbibliothek Leipzig, Sammlung Kestner, II A IV, 2089. 171 Vgl. II, 26: „Es ist also wol in meinem Charakter, keck und ehrlich die Wahrheit zu sagen“. Vgl. „gerade von der Leber weg sagen“ (Erf. II, 325). 172 Versuch 1779, S. 26. Vgl. in der Flugschrift an Kästner 1779, S. 9: „Gottsched leitete in Deutschland lange den Geschmack der Schulen; und man weiss wie“. 173 Versuch 1779, S. 21. 174 Vgl. Rengger 1830, S. 49, Brief vom 20. 2. 1784: „Ich habe ungleich freyer geschrieben, als man in der Schweiz schreiben darf, und als auch irgend ein anderer Mensch hier (sc. Hannover) schreiben würde“. 175 Unterredungen 1788, S. 236. 176 Nationalstolz 1789, S. 159.

132

fragt rhetorisch: „Ist Denkfreyheit nicht die Ursache von jedem Fortschritt der Vernunft?“ (III, 378). Zimmermann antwortet sich selber im vierten Teil: „Wer denken und sagen und für sich arbeiten kann so viel er will, ist frey“ (IV, 130).177 Diese Definition von Freiheit steht in einem politischen Kontext ureidgenössischer Freiheit, in dem ihn auch Goethe sieht: „Zimmermann ist gar brav! Ein gemachter Charackter! Schweizer frey gebohren, und am deutschen Hof modificirt“.178 Der Vergleich zwischen den reichen Bewohnern der Lombardei, die durch materielle Güter verschwenderisch ausgestattet sind, mit den Eidgenossen, die in karger Gebirgslandschaft wohnen, fällt entschieden zugunsten der freiheitsmässig reicheren Bergbewohner „zu Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Glaris, und Appenzell“ (IV, 130) aus, weil Freyheit einen mildern Einfluss auf das Glück der Menschen hat, als Sonnenschein und Zephire; sie deckt den rauhen Fels mit Erdreich, trocknet den elenden Sumpf, und bekleidet die braune Wüste mit schönem Grün; sie macht den Landmann freundlich lächeln, und zeigt ihm seine anwachsende Familie mit Wohlgefallen und Frohlocken; Freyheit hat die schönen Felder der Lombardey verlassen, und wohnet in Helvetien (IV, 130). Von „Freyheitsliebe und Streben nach Unabhängigkeit“ (I, 388) der „freien“ Schweizer in enthusiastisch gefeierter Gebirgswelt ist leitmotivisch die Rede, z.B. von der „so theuer erfochtenen Freyheit“ (IV, 19) in der Schlacht von St. Jakob an der Birs – eine Beurteilung, die auf die Zustimmung heutiger SchweizergeschichtsForschung nicht rechnen kann – oder in jener Anekdote vom sterbenden Schwyzer Bauern, der in einem Streit tödlich verwundet wurde. Er erwidert dem Geistlichen, der ihm Höllenstrafen vor Augen hält, falls er seinem Mörder nicht verzeihe: „Ich bin ein freyer Schwyzer, ich kann hin wo ich will!“ (IV, 21). Der Schweizer am Hof nimmt sich die Freiheit heraus, ungeniert die Wahrheit zu sagen: „Wenn ich darum überhaupt, als ein unparteyischer Ausländer, die Dinge rund und frey heraus sagen soll wie sie in Deutschland sind […]“ (III, 285). Im zwölften Kapitel des vierten Teils fasst Zimmermann im Zusammenhang mit dem Josephinismus und dessen „Freyheitsgefühl gegen Rom“ (IV, 491) diese Freiheits-Konzeption zusammen: „Freyheit allein hebt ein Volk“ (IV, 491). In einem der Solothurner Briefe erhebt Zimmermann ex negativo diese politische Freiheitsforderung angesichts drohender Repressionsversuche der Obrigkeit gegen die Helvetische Gesellschaft: viele unter uns müssen mit den alten Staatspedanten andächtlen, damit sie desto gewisser an ihre Stellen kommen, und auf den Patriotismus schimpfen um Patrioten zu scheinen […]. Und

177

Vgl. Nationalstolz 1789, S. 157: „Der Geschmack am gründlichen Studieren gewinnt in Italien überall; viele Verfasser schreiben frey, und ihre Gedanken sind nicht nach dem alten Herkommen gebildet“. 178 Brief Goethes an Sophie v. La Roche vom 11. Oktober 1775. WA IV, 2, S. 300.

133

doch wollen die Schweizer noch von Freyheit reden, und doch sind sie auf ihr Vaterland stolz und machen allen Nationen ein schief Gesicht.179

Nicolai gegenüber charakterisiert er in einem der ersten Briefe, im September 1766, seine politisch „unfreie“ Situation in Brugg: Allerdings macht mir meine Freyheit im Denken in meinem Vaterlande unzähliche Feinde, eben darum weil sie selten, und in unserm Canton mir beynahe eigen ist. Ich bin ein Unterthan der Republik Bern, deren Regierung eine völlige Aristocratie ist; nun bestehet der Unterschied zwischen Ihrer Regierung in Berlin und unserer nur darinn, dass Sie einen Herren haben, und ich 299. Zu diesem kommt ein Umstand, aus welchem Sie begreifen werden, dass Sie unendlich mehr Freyheit haben als wir; alle Aristocratien sind furchtsam, folglich argwöhnisch, folglich unaussprechlich aufmerksam auf einen Menschen von dem man weis dass erfrey schreibt.

Die Willkürherrschaft der asiatischen Monarchen, „wo die unterjochte Natur ihre Seufzer verheelet, wo der Despot alles ist, und der Unterthan nichts“,180 habe den Hang zur Einsamkeit begünstigt, Freunde der Wahrheit und der Tugend hingegen seien voll Verachtung dieser Tyrannei entflohen „und fanden, auf blumichten Hügeln und in quellenreichen Gefilden, mehr als alles was sie verloren hatten, unter allen Glücksgütern das g r ö s s t e , die F r e y h e i t “.181 Bürger einer freien Gelehrtenrepublik hingegen möchte Zimmermann durchaus sein: „Man wird mir endlich auch erlauben, dass ich mich in dem Labirinthe menschlicher Meinungen niemals blindlings den Meinungen irgend eines Menschen unterwerfe; dass ich überhaupt das Reich der Gelehrten für eine Republik halte, und zwar für eine freye“.182 Freiheit in diesem vagen politischen Sinn bedeutet indessen kein Plädoyer für Volksherrschaft.183 Schriftstellerische und politische Freiheit sind aufgehoben in einer Sinnschicht innerer Freiheit, die einer Seelenverfassung allseitiger Selbstgenügsamkeit entspricht, diesem „so seltenen und seligen Zustand der Seele, in dem man sagen kann, ich habe genug“. Wer diese innere Haltung erreicht, verfügt über „die höch179

Banholzer 1997, S. 71. Der Brief ist datiert: „Mayland den 22. des Monats in welchem sich die Engländer henken“, d.h. November oder Dezember 1766. Vgl. die Definition von Freiheit in Nationalstolz 1789, S. 166ff.: „Die Freyheit ist derjenige Zustand des Menschen, darinn er von keinem äusserlichen Zwange abgehalten wird, nach überlegten Bewegungsgründen seine Handlungen einzurichten, wenn sie gut sind […]. Die Freyheit bestehet also nicht darinn, dass man keine höhere Macht auf Erden über sich habe, sondern darinn, dass diese höhere Macht nicht von dem unbedingten Willen eines einzigen abhange“. Dazu Nationalstolz 1789, S. 11: „[…] obschon ich in Parisischen Augen deutsch schreibe, und vollends auch darinn einem Deutschen gleiche, dass ich jeden mir benachbarten Österreichischen oder Schwäbischen Edelmann einen gnädigen Herrn nenne, das ist, meine Freyheit eigenhändig an den Galgen dieses Edelmanns hänge“. 180 Hannoverisches Magazin. Eilfter Jahrgang vom Jahre 1773. Hannover 1774. 1. Stück. Freytag, den 1. Januar 1773, S. 58. 181 Hannoverisches Magazin, Freytag, den 1. Januar 1773, S. 58. 182 Ruhr 1767, S. 524. 183 Vgl. 8. 4. Exkurs: „[…] Friederich, der grösste Monarch des Erdbodens, der Schrecken von Europa […]“. Zu Zimmermanns politischem Standort, S. 221ff.

134

ste Philosophie des Lebens“ (IV, 131) und ist nach Zimmermanns Verständnis frei. Er hat seine Identität gefunden. Freiheitsliebe ist in Geistesfreiheit übergegangen (III, 278). „Frei sein“ kann eine Seelenverfassung bezeichnen, die nicht belastend wirkt. So schreibt er während seiner Schweizerreise aus Bern an den Ratsherrn Schmid in Brugg: „Ich bin auch hier auf vier bis fünf Tage verliebt gewesen. Aber nun ist alles vorbey, und ich ziehe f r e y nach Hannover“.184 Auf dem Hintergrund eines derartigen Freiheitsbegriffs185 versucht das ganze Einsamkeitswerk, lebensdiätetische Anweisungen abzugeben, um an dieses Ziel zu gelangen, ja es führt selber den Versuch vor, schreibend sich im Prozess schriftstellerischer Selbstentfaltung zumindest zeitweilig als Freier zu finden, gerade weil man sich so leicht verliert: „[…] ich möchte ihre (sc. der Menschen) elenden Fesseln zerbrechen, ihnen Nichtachtung für die Welt und Liebe zur Einsamkeit einflössen, damit sie sich doch wenigstens ein paar Stunden im Tage sagen können, wir sind frey“ (IV, 237).186 In dieser Freiheit gelebter Selbstgenügsamkeit in der Einsamkeit herrscht „vollkommenste Unabhängigkeit“ (III, 237). Einsamkeit als „Entfernung vom Menschengewühle und allen unwillkührlichen Weltverhältnissen“ (IV, 106) gewährt auf unvergleichliche Weise „Freyheit, wahre Freyheit“ (IV, 106). Der Mensch erfährt nunmehr „unter allen Glücksgütern das grösste, die Freyheit“ (I, 391). Nach seiner Bruchoperation 1771 in Berlin erlebte Zimmermann einen derart „freien“ Seelenzustand: „Noch nie, in meinem Leben, hatte meine Seele so frey geathmet. Noch nie in Deutschland, war mir Herz, Geist und Imagination, durch alles was ich sah und hörte, so erheitert, so gehoben, so gestärket, so bezaubert worden, wie in Berlin“.187 Diese ersehnte Freiheit gehorcht gerade in ihrer Vorbehaltlosigkeit Mechanismen einer selektiven Selbststeuerung, die auf eine bewusstunbewusste Selbststilisierung hinausläuft. Zimmermanns Konzeption vom freien Schreiben bedeutet keine Selbstbegegnung als Selbstberauschung, weil sie der Identitätsfindung dienen soll, aber die vermeintlich freie Konfession artikuliert selbstzensierend, was Zimmermann mitgeteilt haben möchte.

184 185

Brief Zimmermanns an J. Schmid vom 14. September 1775. Rengger 1830, S. 230. Vgl. IV, 106: „Freyheit, wahre Freyheit, findet sich nirgends so gut, wie in der Entfernung vom Menschengewühle, und allen unwillkührlichen Weltverhältnissen“. 186 Die in diesem Zusammenhang gegebene Definition von Freiheit gemahnt an den Schluss von Grimmelshausens „Simplizissimus“, wo Simplex seine Welterfahrungen zusammenrechnet. Das Fazit ergibt Weltflucht: Adieu Welt! Auch bei Zimmermann geht es nicht um Verfallensein an das Weltgeschehen, sondern um Erkenntnis des wahren Gesichts der Welt! Bei ihm lautet die Lebensbilanz ähnlich wie am Schluss von Grimmelshausens Roman: „Wer lange in der Welt herumgeworfen ward, und da erfahren hat, was Welt und Menschen werth sind; nun alles unparteyisch überzählet, und sein Glück auf dem steilen Wege der Tugend, in sich selbst findet, der ist frey“ (III, 237). 187 Unterredungen 1788, S. 274f.

135

5.3.4 Status der Schrift Das Zentrum von Zimmermanns Auffassung seiner schriftstellerischen Tätigkeit erhellt eine wichtige Stelle im zehnten Kapitel des dritten Teils. Dort führt er aus, er möchte nicht nur über seinen ihn kennzeichnenden, „originellen“ Stil verfügen, sondern sein ganzes Buch sich selbst so ähnlich machen als möglich (III, 423), und er fährt fort: Mir scheint es eben so erlaubt, den Zustand seiner Seele öffentlich zu zergliedern, und Beobachtungen über sich selbst andern zum Besten anzustellen, als es erlaubt ist, andern zum Besten seinen Leichnam einem öffentlichen Lehrer der Anatomie zu vermachen (III, 423).188

Zimmermanns literarische Selbstrepräsentation beinhaltet, dass die Schrift selbst der Leib i s t , in dem sie sich verkörperlicht und damit therapeutischer Behandlung zugänglich wird.189 In einem Brief schildert er seinem Lausanner Arztkollegen den Zustand seiner todkranken Frau: 188

Goethes Wort an Reinhard im Brief vom Sylvester 1809, „Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene“, (WA IV, 21, S. 153) gehört in diesen Zusammenhang. Es etabliert Dichtung als eine zweite Natur mit eigener Gesetzlichkeit, die mit der Wirklichkeit zwar verbunden, aber ihr nicht untertan ist. Vgl. Walter Müller-Seidel, Deutsche Klassik und Französische Revolution. Zur Entstehung einer Denkform, in: Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sieben Studien. Göttingen 1974, S. 59. Auch an Werthers Brief vom 10. Mai des ersten Buches wäre zu erinnern: „Ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, dass es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes!“ (HA 6, S. 9). Zimmermanns Schriftverständnis hingegen betont die Identität von Geschriebenem und Geschehenem, von Schrift und Körper. „La Nature respire dans chaque ligne; je la vois, je l’entends, je la touche“ suggeriert Zimmermann über ein bukolisches Gedicht Vinzenz Bernhard v. Tscharners (Hamel 1881, S. 40). Der Brief Zimmermanns an Hirzel vom 20. Oktober 1762 bezeugt das obsessive Schreibbedürfnis Zimmermanns in einem Zeitalter ohne zeitverzugslose Telekommunikationsmittel. Anstelle einer Anrede steht „Tÿrann“, und Zimmermann beklagt sich darüber, dass Hirzel seinen „langen sehr langen Brief“ unbeantwortet lasse. Noch einmal wiederholt Zimmermann als Unterschriftsersatz das Wort „Tÿrann“ und fügt hinzu „ich sterbe“, weil Hirzel nicht sogleich antwortet. Vgl. auch die in diesen Zusammenhang gehörende Stelle in III, 399: „Viele grosse Leute waren darauf bedacht, ihre Gesichtszüge der Nachwelt in Erz und Marmor zu hinterlassen, und warum sollten wir nicht vielmehr wünschen unsern Geist und unser Herz für sie abzubilden?“ Wichmann 1796, 44f. nimmt übrigens als sicher an, dass Zimmermann vor seinem Tod eine Autopsie verfügt habe. Der Leibchirurgus Lampe nahm, bei Anwesenheit des Doctors Lodemann, die Autopsie vor. Den nach ihren Angaben von Wichmann lateinisch verfassten Sektionsbericht zitiert er (Wichmann 1796) S. 45–48. 189 Zu Zimmermanns literarischer Selbstrepräsentation findet sich ein teilweise wörtlich an Zimmermann anlehnendes Parallelzitat bei K. Ph. Moritz in der Vorrede zu seinen „Beiträgen zur Philosophie des Lebens“: „[…] und man kann den Gedanken nicht gut vermeiden, dass man seiner eignen Person eine zu grosse Wichtigkeit beilegt, indem man gerade selber der Gegenstand dieser Beobachtungen seyn will. – Aber kann es denn ein anderer seyn? Können wir in die Seele eines andern blicken, wie in die unsrige? Und opfern wir uns nicht beinahe eben so auf, wenn wir, andern zum Besten, den Zustand unsrer Seele zergliedern, wie derjenige, der andern Menschen, nach seinem Tode, durch die Zergliederung seines Körpers nützlich wird?“. K. Ph. Moritz, Beiträge zur Philosophie des Lebens. 3. Auflage, Berlin 1791. Auch: Werke. Hg. v. Horst Günther. Frankfurt/M. 3. Bd., S. 9. Die Bedenken von Moritz, Selbstbeobachtungen verfügbar zu machen, sind bei Zimmermann allerdings nicht vorhanden.

136

Encore un mot de ma pauvre femme, de cette amie qui a été mon unique soutien, ma raison, ma consolation – elle est dans un état de Stupidité, on ne peut rien lui faire comprendre: depuis hier au soir elle a pris quantité de petits absces á l’anus et á la vulve: des urines Sans doute, qui comme les excrements, coulent dans le Lit. Quant mes Excrements couleront aussi dans mon Lit, et que je verrai comme l’effet certain du Sort que j’ay dans ce pays, ma dissolution prochaine, allors je soupirerai encore (comme a present) apres vos Lettres et je vous apellerai encore le plus digne et le plus cher de mes amis, que Dieu veuille benir eternellement.190

Die drastisch realistische Schilderung der Krankheit seiner Frau geht über in die Prognose seiner eigenen Zukunft und verschmilzt mit dem ungebrochenen Wunsch nach dem ersehnten Briefverkehr, der als Therapeutikum wirke. Der beobachtete leib-seelische Zerfall seiner Frau wird sofort schriftlich umgesetzt, im Bestreben, das Erlebte und Erlittene durch den Krankenbericht literarisch-psychisch zu bewältigen. Zwar ist sich Zimmermann bisweilen der Zumutung seiner seelischen Ausschüttungen im Wort bewusst, die sie für den Leser bedeuten können.191 Aufgrund einer einzigen persönlichen Begegnung zwischen Zimmermann und Tissot bemerkt dieser: „l’ami causant me rappelloit à chaque instant l’ ami écrivant, & ressembloit parfaitement au portrait que je m’en étois fait […] sa phisionomie étoit toujours animée & expressive“.192 Im Brief vom 3. Februar 1766 an Tissot kommentiert Zimmermann den vergeblichen Versuch des Senats von Bern, seinen Herzensfreund in Lausanne zu halten mittels Titel und Geld, damit er das Angebot des Königs von Polen, nach Warschau als Leibarzt zu ziehen, ablehne. Er setzt ein homerisches Gelächter in Schrift um: „Ha, ha, hi, par des titres? c’est se moquer de toi. par de l’argent? Cent ecus contre mille Ducats? Non, mon ami, ce n’est pas ainsi qu’il faut te prendre“.193 So kann der Text der Einsamkeitsschrift als „bibliotherapeutische Diätetik“194 aufgefasst werden, weil Schreiben für Zimmer-

190

BBB, Mss hh XVIII, Nr. 88, Brief von Zimmermann an Tissot vom 28. Mai 1770, in „L’histoire de ma santé“ (1770), NLB Ms XLII 1933 B 8b (abgedruckt in: Mit Skalpell und Federkiel 1995, S. 271) berichtet Zimmermann vom Tod seiner Frau und der dadurch ausgelösten psychischen Verfassung: „Elle est morte avec un foie corrompu, avec un poumon suppuré, avec une contracture de jambes terrible, avec la gangrène au fondement, ayant été sujette depuis 20 ans aux maux de nerfs les plus terribles, ayant souffert pour moi dès mon arrivée à Hanover les tourments les plus affreux, ayant pris une fièvre lente sur la fin de l’année 1769, et ayant eu depuis le milieu de février 1770 jusqu’à la fin de ses jours le rhumatisme le plus cruel que j’aie vu de ma vie, joint à la conformation la plus parfaite. Je sentais pendant tout ce temps tout ce que la tristesse et le désespoir ont de plus affreux; et depuis sa mort je suis déchiré par la mélancolie la plus cruelle, tout mon bonheur, tous mes plaisirs, et toutes mes espérances étant descendus avec elle au tombeau“. 191 Vgl. den Brief Zimmermanns an Tissot vom 23. Dezember 1768 (BBB, Mss hh XVIII 71, Nr. 68): „En relisant toute cette lettre je frémis à l’idée des peines que je vous cause, cher ami, par mes lamentations“. 192 Tissot 1797, S. 68. 193 BBB, Mss hh XVIII, Nr. 30, Brief von Zimmermann an Tissot, Brugg 3. Februar 1766. Auf Tissots Frage einer Übersiedlung nach Hannover antwortet er: „Je reponds donc à votre question […] oui, oui, oui“. Mss hh XVIII 71 Nr. 44 Brief vom 13. 9. 1767. 194 Frühwald 1991, S. 15.

137

mann eine nicht nur geistige, sondern auch körperliche Repräsentation seiner selbst manifestiert. Die Schrift beansprucht letztlich keinen eigenen Gegenstandsbereich, sondern sie ist selber Körper, der die unverkennbare Signatur des schreibenden Individuums übernimmt: „Der Erkennende spricht nicht einfach über Objekte, sondern vergegenständlicht sich, insofern der Mensch Gegenstand ist, selbst“.195 Der individuellen Imagination kommt eine entscheidende Bedeutung zu im Prozess einer Selbstvergewisserung, die auf seelisch-körperliche Einheit zielt. Zimmermann preist den von der gesellschaftlichen Umgebung Verkannten, der einsam schreibt, „dessen ganze Seele man ebenso natürlich in seinem Buche sieht, wie in einem Spiegel“ (III, 382). Der zur Verstellung zwingende und Krankheit befördernde gesellschaftliche Umgang kennt ein Heilmittel: selbstbefreiendes Schreiben. Man „ergreift dann aus lauter Unmuth die Feder, wäre es auch nur, um doch einmal sein Herz auszuleeren“ (III, 419). Ex abundantia cordis os loquitur lässt sich als Zimmermanns spezifische Schreibmaxime angeben: „dass ich Alles von mir gebe was ich fühle, und wenn ich nichts mehr fühle, dann die Feder weglege“ (III, 517).196 Dieses lebenserhaltende Schriftverständnis formuliert Zimmermann anhand des Einsamkeitswerks: J’etois réduit à la dernière extremité en 1781, et ma vie etoit comme eteinte, soit par mes maux de nerfs, soit par la plus profonde tristesse. Cet ouvrage Sur la Solitude, commencé en 1781, et fini en 1784 et 1785, m’a fait revivre, aussi longtems que j’y ai travaillé. Tous mes maux me restoient, mais je les Sentois beaucuop moins vivement. Mon ame reprennoit de l’energie […] J’endurai aussi le travail qui d’ailleurs m’a voit tué pendant tout le tems que j’ay été à Hanover, et qui m’avoit toujours rendu le plus malheureux des hommes. Mais notés bien que dans cet ouvrage sur la Solitude j’ay exhalé mon ame, et que j’y ai dit mille choses qui me pressoient le coeur […] je suis redevenu malheureux et aussi malade que jamais depuis que je n’ay plus un Livre à ecrire.197

Die Bandbreite seiner seelischen Befindlichkeiten breitet er im gesamten Werk aus, indem er sich den dazugehörenden Leib generiert: das Textcorpus der Einsamkeitsschrift. Das Einsamkeitswerk erörtert das Verhältnis von Leib und Seele, indem es die gegenseitigen Wechselbeziehungen experimentierend im Schreiben ausprobiert. Der Imagination kommt dabei eine besondere Bedeutung zu als Trans195 196

Pfotenhauer 1987, S. 16. Vgl. Banholzer 1997, S. 92: „O wie viel schöner, wie viel reizender, wie viel rührender ist die Beredsamkeit die ganz aus dem Herzen fliesst, als jene andere die nur eine Hirngeburt ist“. Ferner: Unterredungen 1788, S. 178: „Das menschliche Herz wünscht sich immer einen Ergiessungsort für seine liebsten Gedanken und Empfindungen“ und S. 293: „Am dreissigsten October ergoss ich […] den tiefen Herzensdank, den ich dem König für jene fünf Viertelstunden schuldig war, in einen Brief an Herrn von Cat“. So bemerkt Zimmermann am Ende eines vierzehnseitigen Briefes an Tissot erleichtert: „Je n’en puis plus Tout a Vous Zimmermann“. BBB, Mss hh XVIII 71, Brief Zimmermanns an Tissot vom 13. Februar 1758. Ein entsprechendes Beispiel aus dem Briefwechsel mit Hirzel: „Ich kann nicht mehr. Vale“. Zimmermann setzt dennoch den Brief mit Anmerkungen und Fragen fort. ZZH, FA Hirzel 239, Nr. 155. 197 Brief Zimmermanns an Tissot vom 5. September 1785. BBB Mss hh XVIII 71. Nr. 115.

138

formationsmittel zur Konstituierung jener zu erschreibenden Ganzheit, in der die ausgeschüttete Seele, sich selbst vorübergehend im Schreibprozess erlösend, den ihr gemässen Körper erschafft. Indem das Geschöpf Gottes Zimmermann in seinen Schreibprozessen quasi seinen eigenen Körper reproduziert, weist er sich selbst im Schreibakt Schöpferkraft zu. Zimmermann will bei aller fraglosen umfassenden Gebieterkraft Gottes partiell selbst Schöpfer sein im und durch das Medium seiner Texte. Zimmermanns schriftstellerische Tätigkeit steht zugleich im Zusammenhang mit einem Unsterblichkeitsanspruch, der alles andere denn selbstgenügsame Einsamkeit möchte. Die Einsamkeitsschrift wird zum Versuch, die Vergänglichkeit menschlichen Daseins in der Schrift durch individuelle Schöpferleistung aufzuheben: „Ich wenigstens dachte immer bey allem was ich that, ich säe für die Zukunft, und zum ewigen Andenken bey der ganzen Welt“ (III, 399). Der allgegenwärtige Appell an wahlverwandte Seelen ist auch immer erneuerte Werbung um ein den Autor verewigendes Lesepublikum. Das Narkotikum „Schreiben“ antwortet auf das „Verlangen nach Unsterblichkeit“ (III, 395). Es vermittelt ihm eine „Ahndung der Unsterblichkeit“ (III, 394), denn „unsere Schriften sind unser Nachlaß“ (III, 412). Zimmermanns Schriften verbinden das Streben nach unvergänglichem Ruhm mit religiös ausgerichteter, autotherapeutischer Identitätssuche. Obwohl die Einsamkeitsschrift nicht einen „Prozess der sich verdoppelnden, verfielfältigenden Kommunikation“198 darstellt, wie sie sich in Goethes „Wanderjahren“ charakteristisch manifestiert, bezieht Zimmermann in seinen insgesamt stark monomanisch geprägten Schreibprozessen jedoch, offen oder stillschweigend, seine fiktiven Leser mit ein.

198

Fues, Wolfram Malte, Wanderjahre im Hypertext, in: Klassik und Anti-Klassik. Goethe und seine Epoche. Hg. v. Ortrud Gutjahr u. Harro Segeberg. Würzburg 2001, S. 153.

139

6

Einsame Natur und Landschaft als therapeutische Erfahrungsräume

„Schattigte Gärten und stille Landgegenden […]“1 Nach eigenem Bekunden ist Zimmermann für „die heilige Einfalt der ungezierten, unverwöhnten und unverfälschten Natur äusserst eingenommen“ und „tausend Scenen auf dem Lande“ würden ihn „in eine süsse Schwärmerey“ einwiegen.2 Im gesamten Einsamkeitswerk aktualisiert Zimmermann aus dem überkommenen Traditionsarsenal arkadischer Landschaftlichkeit3 stereotyp einzelne Versatzstücke. Es begegnen insbesondere die zeitspezifischen Topoi des Stadt-Land-Gegensatzes, die Verherrlichung des einfachen Lebens der Alpenbewohner in der Nachfolge Hallers und Rousseaus, die Italiensehnsucht des Nordländers, die in deutschen Landen ausgeprägter als in der Schweiz ist, die Vorstellung vom verlorenen Paradies resp. des goldenen Zeitalters. In seiner spezifischen Darstellungsweise der „gepuderten Mythologie“4 begegnet leitmotivisch und variationenreich die formelartige Fügung „schattigte Gärten und stille Landgegenden“ (I, 109). Evoziert werden Gärten, Gräber, Grünanlagen, Höhlen und Wälder oft kontrastiv verbunden mit Lichtphänomenen, wie Feuer, Glanz, Schatten oder Dunkelheit, die vom „höchsten Glück auf Erden“ (I, 54) umfangen sind: Ruhe und Stille. Diese stehen geradezu als Synonyme für Einsamkeit und werden allenfalls nur durch wenig aufdringliche Geräusche, z.B. Wasserplätschern oder Vogelgesang, durchbrochen. „Sanfte Winde, klare Quellen, fischreiche Flüsse, dichte Gehölze, kühle Höhlen, Bänke von Rasen und blumenreiche Wiesen“ (IV, 105) lassen alles Niederträchtige und Böse in der Welt vergessen, zumal im „freundlich einladenden Schatten“ (I, 107),5 „bey dem Murmeln eines Baches, oder nach einem kleinen Schlaf unter einer hohen Tanne“ (IV, 91), begleitet von den „Melodien der Vögel mit dem sanften Wehen der Gebüsche und dem Geräusch kleiner Wasserbäche“ (I, 111). Stille, die „immer aus dem Herzen quillen“ (IV, 91) sollte, oder „Lungern im Schatten“ (IV, 54) in gelebter Einsam1 2 3

4 5

I, 109. Ruhr 1767, S. 205. Zum Begriff „Landschaft“ vgl. Rainer Gruenter, Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte, in: GRM NF III (1953), S. 110–120. Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf zur Landschaft aus Sprache. Die Romantisierung der Alpen in den Reiseschilderungen und die Literarisierung des Gebirges in der Erzählprosa der Goethezeit (Studien zur deutschen Literatur 123). Tübingen 1993, S. 7ff. Alewyn, Richard, Maler Müllers heidnische Landschaft, in: R. A., Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt/M. 1974, S. 252. III, 106: „die Schatten trauriger Cypressen gefallen mir besser als Kartenspiel und Tanz“.

141

keit können jene Gemütsverfassung und Seelenstimmung mitbewirken, die Zimmermann bald „Eingezogenheit“ (III, 107), bald „Ruhe der Seele“ (III, 144) nennt oder häufiger mit der „umfassendsten Sinngebungs- und Erfüllungskategorie der Zeit“:6 „Glückseligkeit“ (III, 144 und passim). Einem „klischeehaften Denkschema“7 folgt Zimmermann auch in der Ausgestaltung der Stadt- und Landthematik, die einen breiten Raum einnimmt. Apodiktisch bilanziert er: „In allen Stücken hat darum das Land einen grossen Vorzug vor den Städten“ (I, 37). Immer wieder werden die Vorzüge eines stillen Landlebens erörtert im Vergleich zu der „Verstellung, der Arglist, der Falschheit, der kindischen Eitelkeit“ (IV, 101) der Stadt, die eine einzige „glänzende und langweilige Sklaverei“ (IV, 128) sei: wenn ich den guten Leuten auf dem Lande begreiflich mache, wie bald jede Quelle von Freude in den Städten versiegt; wie man auch mitten unter wilder Lustigkeit eiskalt durch unsere Tanzsäle hinhüpft; wie erbärmlich und wie früh alle unsere falschen Vergnügungen zerplatzen; wie liebenswürdig hingegen das Landleben ist; wie leicht man da Müssiggang und Langeweile vertreibt; welche ruhige und heitere Gefühle, welchen Frieden, welche Glückseligkeit jeder Blick ins Grüne gewähret, und beym Niedergange der Sonne das Heimgehen der Heerden; wie jeder Tritt in wilde und furchtbar erhabene Gegenden, jede Aussicht auf die einsamen Wohnungen froher Menschen, die Seele entzücket; wie viel fröhlicher derjenige seine Zeit hinbringt, der selbst sein Heu einerndet, als jener dort am Spieltische; und wie viel glücklicher man auch in Kummer und Betrübniss hier am stillen Wasser ist, als dort mit frostigem Lächeln und einem Herzen voll Sorge an der Tafel bey Hofe (I, 18f.).

„Wie liebenswürdig hingegen das Landleben ist“ stellt das Scharniergelenk im antithetischen Verfahren der Textstelle dar. Zuerst wird mit drei aneinandergereihten „wie“-Sätzen versucht, den von der lockenden Stadt verblendeten Landleuten ihre Illusion einsichtig zu machen. Defizienzerscheinungen kennzeichnen das mit leerer Geschäftigkeit behaftete Stadt- und Hofleben, versiegende Lebensfreude, eiskaltes städtisches Leben, zerplatzende falsche Vergnügungen sind die Stichworte. „Stadt“ ist bei Zimmermann synonym für Lärm, Unruhe, Verstellung, „Land“ hingegen steht für Stille, Ruhe, Echtheit, die den Menschen sich selbst zurückgeben: „Aller Ekel den Überfluss giebt, verschwindet bey der Einfalt des Landlebens […] Alle unsere Gefühle werden reiner und freyer“ (IV, 139). Sie blühen auf im Angesicht der ländlichen Natur: „ruhige und heitere Gefühle“, innerer Friede und Glückseligkeit stellen sich ein. Die gewonnene Daseinssteigerung wird fassbar in den Komparativen „fröhlicher“ und „glücklicher“. Eine religiös gefärbte Wasser-Metaphorik8 lässt sich darin ablesen, dass in der Stadt „jede 6

7

8

Mauser, Wolfram, Glückseligkeit und Melancholie. Zur Anthropologie der Frühaufklärung, in: Mauser 2000, S. 216. Mauser spricht an anderer Stelle von der „Forderung, sich persönlich und in Hinsicht auf das allgemeine Wohl an den Leitbildern der Glückseligkeit als summum bonum zu orientieren“ (Ebd., S. 14). Lohmeier, Anke M., Zur Bestimmung der deutschen Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Schäferdichtung. Hg. v. Wilhelm Vosskamp. Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur Band 4. Hamburg 1977, S. 125. Vgl. 10.2.4. Metaphorik, S. 292ff.

142

Quelle von Freude […] versiegt“, ein „eiskaltes“ Leben herrscht, das mit „frostigem Lächeln“ wirbt. Der Sonnenuntergang auf dem Land verbreitet innere Ruhe, die Eiseskälte schmilzt und beruhigt sich „am stillen Wasser“. Ein Eigenkommentar zu dieser Textstelle findet sich im elften Kapitel: Aber auch in jedem Alter, und in jedem fernen Lande wird unter jedem schönen Baume, im Stillen und Freyen die entzückte Seele mit den Worten des Predigers ausrufen: wie selig ist nicht da jedes innige reine Gefühl der Menschheit, dieser stille Genuss von wahrer, innerer, ganz von äussern Dingen unabhängiger Vollkommenheit und Würde (IV, 39).

Stadtschelte schliesst Kritik an den Repräsentationsformen der höfischen Gesellschaft ein. Nur ein Aufenthalt auf dem Land kann nach Zimmermanns Einschätzung als Heilmittel wirken. Stadtgeschädigte lernen auf dem Land wieder, was Freude ist. Die „blosse Stille des Landlebens, nur der Anblick der Heuerndte“ bewirkt „Wunder der Ruhe im Herzen“ (IV, 36). Ländliche Glückseligkeit steht im Gegensatz zum „Glückswahn in Pallästen“ (III, 144), zu „Schickerey“, „Künsteley“ und „Lügen“, zum „erjagten und erhaschten Glück einer Visite in der Stadt“(III, 114), zum „Schauspiel der Verstellung, der Arglist, der Falschheit, der kindischen Eitelkeit“ (IV, 101). Unermüdlich, als wolle er potentielle Zweifel zerstreuen, umkreist Zimmermann die Vorzüge des Landlebens, die er dem „Weltmenschen“ (III, 144) in der Stadt vor Augen hält: „Zwitschernde Vögel und murmelnde Gewässer tönen alsdann den Ohren lieblicher, als Operngesang und Kunstfidlerey. Am Himmel, im Wasser, und an Felsengebirgen ruhen die Augen vergnügter, als auf Assembleen und Bällen, und Petitsoupers“ (IV, 141). „Edle Einfalt“ (IV, 41) beseelt den Landeinsamen, er wird zu „höherer Natur“ (IV, 139), „sanft und erhaben, unschuldig und rein, dauerhaft und voll Ruhe“ (IV, 139). Die vergangene Jugendzeit lebt wieder auf in der verjüngend wirkenden Erinnerung. Im achten Kapitel, zu Beginn des dritten Teils, der Apologie gegen einen falschen Apostel der Einsamkeit, gibt Zimmermann eine autobiographische Begründung für seine Landbegeisterung: „Stille und Eingezogenheit waren meine erste und sind meine letzte Liebe“ (III, 4). Er gedenkt seines Jugendfreundes Daniel Stapfer, mit dem er am liebsten „einsame Örter“ (III, 5) aufsuchte. Die Erinnerungen etwa an das erste Verliebtsein, an „Possen die wir in der Schule ausübten“ (III, 145), an geplünderte Obstgärten, sind untrennbar mit dem Landleben verknüpft und bedeuten einen unverlierbaren Erinnerungsschatz, der ein Leben lang Bestand hat. Zimmermanns Eloge auf ein Landleben, das seelische Harmonie verbürgt, orientiert sich, abgesehen von Hallers Vorbild, an zwei Einsamkeitsbegeisterten, deren eifernder Propagator er ist: Petrarca und Rousseau.9 Als ein „sehr junger Feuerkopf“ (III, 392) sonderte sich Petrarca von der „lasterhaftesten und schmut9

Leitsterne sind auch Theokrit , Pope, Blair und Gessner. In IV, 51 wird versichert: „Nie findet man die Natur so schön, nie athmet man so leicht, nie schlägt das Herz so sanft, nie ist man so glücklich, als wenn man Theocrits oder Gessners Idyllen liest“.

143

zigsten aller damaligen Städte in der Welt, der Stadt Avignon“ (III, 391f.) ab, um sich in die Einsamkeit von Vaucluse zu begeben. Analog zu Petrarcas tatsächlich vollzogener Stadtflucht fand Zimmermann 1756 günstige Voraussetzungen für die Abfassung der Betrachtungen über die Einsamkeit dort, wo er nichts sah und nichts hörte (III, 6): in seiner Brugger Dachstube. Die Formel „sah nichts und hörte nichts“ zeigt an, dass ideale Arbeitsbedingungen in einer Atmosphäre schöpferischer Zurückgezogenheit vorhanden sind.10 Der folgende Ausschnitt liesse sich mit Petrarca wie mit seinem modernen Geistesverwandten Zimmermann identifizieren, der aus einem Brief Petrarcas an den Kardinal Colonna zitiert, in dem jener den Freund in die Einsamkeit von Vaucluse einlädt: „Ich verspreche dir ein Rosenbett im Schatten, das Concert der Nachtigallen, Feigen, Trauben, Wasser aus kühlen Quellen geschöpft, kurz, alles was die Hände der Natur vom wahren Vergnügen darbieten“ (IV, 140). Rousseau, „der grosse Herzensbändiger, der durchsehende Philosoph, der glänzende Schriftsteller“ (IV, 67), sei für Paris nicht geschaffen gewesen und erst durch seine einsamen Spaziergänge auf der ländlichen Petersinsel genesen, wo er jene Ruhe wiedergefunden habe, die „Weltlinge“ (IV, 74) nie kennenlernten: „Wer sitzt dort, in eurem Speisesaal bey Hofe, so vergnügt wie Rousseau bey seinem Butterbrodt?“ (IV, 74). Im zweiten Band seiner Theorie der Gartenkunst, die Hirschfeld Zimmermann schenkte, wie dieser selbst bezeugt (IV, 221), rühmt der Gartentheoretiker den Genfersee auf superlativische Weise: „Dieser See ist unstreitig eines der herrlichsten Gewässer, die auf unsrer Erdfläche wallen“.11 Auch Hirschfeld empfiehlt Stadtflucht: „Die Liebe zur Einsamkeit, der Ekel an den Unruhen und Beschwerlichkeiten der grössern Gesellschaft, die Aussicht auf eine bequeme Art der Erholung unterstützten den Trieb zum ländlichen Vergnügen“.12 In ländlicher Einsamkeit weinte Rousseau in Vevey am Genfersee „wie ein Kind“ (IV, 219) und sah seine Tränen mit Vergnügen ins Wasser fallen. Als Siebzehnjähriger imitierte Zimmermann sein Idol und überliess sich am gleichen Ort im „stillen Schatten […] unter den Bäumen am Genfersee“ jener süssen Melancholie, traurig zu sein, „ohne recht zu wissen warum“ (IV, 220), einer Seelenverfassung, die sich bevorzugt im

10

11

12

Es gehört zu Zimmermanns Mythisierung des Preussenkönigs, dass er den Schlossbezirk von Sanssouci in Potsdam nicht von betriebsam lauter Geschäftigkeit beherrscht sieht, sondern paradiesische Ruhe ausstrahlen lässt. Am 24. Juni 1788, auf dem Weg zum todkranken König, berichtet er: „Einsamkeit umgab mich da, nah und fern, die feyerlichste Stille; ich erblickte nichts als Einsamkeit und Ruhe“. Unterredungen 1788, S. 17, einen Eindruck, den er schon anlässlich seiner ersten persönlichen Begegnung mit Friedrich II. im Jahre 1771 gewonnen hatte: „sah nichts und hörte nichts“ (I, 111); vgl. auch „Unterredungen 1788“, S. 39: „ganz alleine, in der allgemeinsten feyerlichsten Stille und weit umher herrschenden Ruhe“. Hirschfeld, Christian Cay, Theorie der Gartenkunst. Leipzig 1779–85. Band II: Landschaftsteile und zugeordnete Empfindungskategorien (1780), S. 95. Vgl. Erf. II, S. 487: „[…] das schönste Land von Europa den längst dem Genfersee gelegenen Französischen Theil des Cantons Bern“. Hirschfeld, C. C. 1780, Bd. II, S. 3.

144

Anblick der „Schönheiten erhabener oder lieblicher Natur“ (IV, 221) einzustellen vermag.13 In loserem Zusammenhang mit der epochentypischen Stadt- und Landthematik stehen drei nachfolgend zu beachtende Phänomene, die Zimmermann oft beissend kritisiert: Mönche, die als Tugendübung Städte aufsuchen; die Tendenz gewisser Mönche, in städtische Politik einzugreifen; die „Abderitheit“ von Kleinstädten und schliesslich Landflucht als Modeerscheinung. Um die Bedenklichkeit einer gegen den durchschnittlichen Menschenverstand verstossenden extremen Lebensführung aufzuzeigen, erwähnt Zimmermann im vierten Kapitel des ersten Teils (I, 239f.) Anachoreten, die ihre angestammte ländliche Einsamkeit verlassen, „um da (sc. in Städten), wie Nicephorus sagt, Hurenhäuser zu besuchen“ (I, 239). Sie setzen sich dem öffentlichen Leben in Städten aus, um ihre Resistenz physischen Anfechtungen gegenüber zu beweisen. „Einsame Gegenden, Wälder und Gebirge waren […] nicht lange für die orientalischen Mönche Wohnsitze stiller Ruhe, oder nützlicher Geschäftigkeit“ (II, 358), weil sie von Natur aus „neidisch, zänkisch, verläumderisch, aufrührisch, grausam, wütend, und endlich selbst den Kaisern gefährlich“ (II, 358) geworden seien, wie Zimmermann anschaulich und ausführlich darlegt (I, 354ff.). Als Reflex eigener Erlebnisse in Brugg übt Zimmermann mit einem längeren Exkurs Kritik an kleinen Städten, die in Stil und Tonfall verwandt ist mit dem Moralischen Catechismus für kleine Städte von 1766 (III, 255–278).14 Kleine Städte und Klöster werden dabei in Beziehung gebracht: Trennung von allem ausgebreitetem Umgang, Mangel von Aufklärung, zerdrückter Freyheitssinn, felsenfeste Einschränkung des Geistes auf die Begebenheiten einer nasenlangen Welt, Armuth, Ehrgeitz, Langeweile, Freßsucht, allmächtiger Einfluß einer einzigen Plaudertasche oder eines einzigen hungrigen Schurken wirken zusammen in äusserst kleinen Städten eben so viel Böses als die grausamsten Leidenschaften in Klöstern (II, 247).

Landflucht kann für „Leute von Stande“ (I, 119) Diktat der Mode sein: „Diese will, dass am Anfang des Sommers alles, was vornehm ist, oder sich für vornehm hält, auf das Land gehe“ (I, 119f.). Allerdings sieht sich diese Sorte von Stadtflüchtenden bald enttäuscht, falls sie nicht über die seelische Disposition verfügt, Einsamkeit zu fühlen: „Leute, die ihre Tage dem Müssiggang hingeben, haben nichts von waldichten Schatten und blumichten Thälern zu hoffen“ (I, 120). Junge Frauen, die zwar auf dem Land wohnen, aber mit ihren Herzen in der Stadt geblieben sind, werden keinen Seelenfrieden erlangen (II, 6f.). Die durchgehende Antithetik von Stadtkritik, die vor allem der höfischen Gesellschaft gilt, und enthusia13

14

Vgl. Langenbacher, Andreas, Die erlesenen Tränen Johann Georg Zimmermanns. Versuch über den getrübten Blick in aufgeklärter Zeit, in: Schweizer Monatshefte, 69. Jahr, Heft 10, Oktober 1989, S. 807–819. Der Erinnerer II, S. 97. 13. Merz 1766: „Moralischer Catechismus für kleine Städte“ vom 22. Februar 1766, S. 97–105. Nachdruck: Brugger Neujahrsblätter 94 (1984). Vgl. ferner II, 242ff.

145

stischem Landlob vergegenwärtigt eine in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weit verbreitete Denkform, die von einer verlorengegangenen paradiesischen Einheit ausgeht. Der schmerzlich empfundene Verlust soll in der einsamen Landidylle rückgängig gemacht werden. Dort wird der Mensch gereinigt und sich selber zurückgegeben: „Aller Ekel den Überfluss giebt, verschwindet bey der Einfalt des Landlebens […] Alle unsere Gefühle werden reiner und freyer“ (IV, 139).15 Leitmotivisch durchzieht das Werk Über die Einsamkeit eine formelhafte Aktualisierung von Topoi aus dem arkadischen Arsenal, die massgeblich durch die Gegensätzlichkeit von Stadt und Land belebt wird. Die Kulturlandschaftlichkeit des locus amoenus und die tradierte Melancholielandschaft werden empfindsam getönt und nicht selten inhaltlich erweitert um die Dimension des Gebirges, die Zimmermann aus seiner Schweizer Heimat vertraut ist, sowie um das Element der Nacht: „Bey dem fernern ländlichen Klang einer Klosterglocke, bey der Stille der ganzen Natur in einer schönen Nacht, auf jedem hohen Gebirge, bey jedem verfallenen Denkmal alter Zeit, in jedem schauerichten Walde […]“ (III, 105). Der locus amoenus der Einsiedlerklause des hl. Antonius auf dem Berg zwischen Babylon und Heraclea besteht aus einem Berg- und Talteil: Sonst war dieser Berg noch angenehm genug, felsicht, hoch, und nur von tausend Schritten Umkreis. Aus seinem Fusse floss ein kleiner leiser Bach, dessen Ufer eine grosse Menge von Palmbäumen beschatteten. Antonius hatte Weinstöcke da gepflanzt und Bäume, und ein Gärtchen angeleget, und den Acker gebaut […] (I, 184f.).

Zimmermanns Idyllenbezirke weiten sich horizontal als „freye Aussicht ins Weite“ (IV, 4) und vertikal zu „dunkeln, engen, schauerichten Theilen“ (IV, 197). Gemischte Empfindungen, „ehrfurchtsvolle Schauer und süsses Entzücken“ (IV, 5) sollen auch im Leser evoziert werden, etwa durch „das schwarze Gehölze, durch das fürchterlich abhängende Felsengebirge, und durch jede prachtvolle und erhabene Erscheinung, vereinigt mit kleinen Aussichten in eine lachende Landschaft“ (IV, 5). Zimmermann versichert im übrigen, dass seine Übernahme des locus amoenus für jeden Geschmack eine individuelle Baumart bereithalte: „Behagt dir der Anblick der Eiche oder der Ulme, oder irgend eines der hochstämmigen Bäume der Wälder nicht […] o so bleibt dir doch die zarte Myrte, der Mandelbaum, der Jasmin, der Granatbaum, und der Traubenberg“ (IV, 29f.). Zumal Verliebte fühlen sich „eben so wohl im hohen waldichten Schatten, und bey dem schauerigten Geschrey der Adler, als auf Fluren wo eine einsame Hirtin ihrem Säugling die Brust reichet, indem ihr Geliebter neben ihr seinen harten Bissen Brot bricht“ (IV, 176). Wie Haller sieht auch Zimmermann den in Städten verlorengegangenen Urzustand in den Alpentälern bewahrt: „In den Thälern der Alpen kennet man sie 15

Vgl. Müller-Seidel, Walter, Deutsche Klassik und Französische Revolution. Zur Entstehung einer Denkform, in: Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sieben Studien von R. Brinkmann u.a. Göttingen 1974, S. 39–62.

146

(sc. die Langeweile) nicht, auf keinem Gebirge wo die Unschuld noch wohnt“ (III, 144). Die gepredigte Stadtflucht in einsame, Seelenharmonie spendende Natur impliziert politische Freiheit gemäss dem Grundsatz „Einheit mit der Natur beinhaltet auch politische Freiheit“.16 Die Eidgenossenschaft, die einen Bund mit Arkadien eingeht, stellt so ein Freiheitsreservat dar: „Freyheit hat die schönen Felder der Lombardey verlassen, und wohnet in Helvetien“ (IV, 130), genauer in ihren Gebirgsgegenden, denn „Freyheit gedeyet eigentlich nur in den Alpen“ (IV, 13) und nicht in der Stadt Bern. Neben der modifizierenden Belebung des Arkadiendiskurses begegnen bei Zimmermann Landschaftsschilderungen, die geographisch identifizierbar sind, obwohl auch sie unter dem Spannungsverhältnis „von topischer Ideallandschaft und topographischer Verbindlichkeit“17 stehen.

6.1 Therapeutische Natur. Fünf Landschaften Zimmermanns Zu Beginn des vierten Teils, im elften Kapitel, das Vortheile der Einsamkeit für das Herz untersucht, reihen sich unerwartet fünf Landschaftsschilderungen aneinander, die, mit Ausnahme der zweiten und teilweise der ersten, auf eigener Anschauung gegründete Naturbeobachtung enthalten: 1. Die Alpensicht vom Gurten bei Bern (IV, 11–13) 2. Die Aussicht aus dem Garten des Kapuzinerklosters bei Albano auf Frascati, Castel Gandolfo, Rom und die Hügel von Tivoli über den Apennin hinweg zum Mittelmeer (IV, 30–33) 3. Zimmermanns Lieblingsspaziergang von seiner Geburtsstadt Brugg auf die Habsburg (IV, 57–65) 4. Der Rundblick von Lavaters Hausdach in Zürich (IV, 77–80) 5. Die Landschaft in Richterswil am Zürichsee, dem Wohnort von Dr. Hotze (IV, 81–91) Hinter allen Landschaftsdarstellungen steht in unterschiedlicher Bedeutungsaktualisierung die Kategorie des Erhabenen, an der sich die Theorie des Sturm und Drang profiliert.18 Die fünf Landschaftsschilderungen, die alle „empfindungs-

16

17 18

Jamme, Christoph, Entwilderung der Natur. Zu den Begründungsformen einer Kulturgeschichte der Natur bei Schiller, Hölderlin und Novalis, in: Evolution des Geistes. Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte. Hg. v. Friedrich Strack. Stuttgart 1994, S. 579. Vgl. 6.3.3. „Es ist meine Manier, in jeder Absicht, frey zu schreiben“. Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Hg. v. Alexander Ritter (Wege der Forschung. Band CCCCXVIII). Darmstadt 1975, S. 13. Vgl. Zelle 1996, S. 160.

147

weckende Spuren menschlichen Tuns“19 enthalten, sollen unter der wirkungsästhetischen Leitfrage, was der „Anblick der Natur durch die Imagination in das Herz wirket“ (IV, 53), betrachtet werden, um den therapeutischen Sinn und die regenerierende Funktion von Zimmermanns Naturauffassung zu beleuchten. 6.1.1 Eine Alpensicht bei Bern und die Umgebung Roms Bei der ersten Landschaftsbeschreibung vom Gurten bei Bern übernimmt Zimmermann einen vergleichbaren Standort des Betrachters, den sein Lehrer Haller als Ausgangspunkt seines philosophischen Lehrgedichts Über den Ursprung des Übels (1734) wählte. Im Juli 1752 begleitete Zimmermann die beiden Haller-Schüler J. F. Meckel und J. A. T. Sproegel von Bern nach Lauterbrunnen,20

so dass ihm der beschriebene Anblick zumindest aus der Distanz bekannt ist. In der Schweiz, und zumal bey der Stadt Bern, haben die Alpen von ferne ein fast unglaubliches Ansehn von Pracht; aber ganz in der Nähe schien mir jedes Bild, das die Alpen in meiner Seele erregten, erhaben und fürchterlich. Durch eine Art von Grösse die an Unendlichkeit gränzet, wird zwar schon das Auge in einer weiten Entfernung bezaubert, wenn man die unabsehbare Reihe der Alpen in einer beständigen Stufenfolge grosser Theile der Schöpfung da stehen und glänzen sieht; aber eben die schönen hellen Farben der Alpen, mildern den Eindruck, und geben dieser ungeheuren Felsenmauer mehr Anmuth, als Erhabenheit. Ohne Schauer hingegen sieht kein empfindliches Gemüth zum erstenmal in der Nähe diese Gebirge, ihr ewiges Eis, ihre senkelrechten Abgründe, ihre finstern Klüfte, ihre herunterrauschenden Ströme, die schwarzen Tannenwälder an ihren Seiten, und die seit Jahrtausenden herabgestürzten Felsen an ihrem Fuss. Wie klopfte mir das Herz, als ich das erste mal auf dem kleinen schmalen Fusssteig diese erhabenen Einöden hinangieng, und immer neue Berge sah über meinem Scheitel, und Todesgefahr unter mir bey jedem Fehltritt. Aber wie bald erhebet sich auch da die Phantasie, wenn man sich alleine sieht mitten unter aller dieser Grösse der Natur, und dagegen an die ganze Kleinheit menschlicher Kräfte denkt, auf diesen Himmelshöhen an Monarchenschwäche (IV, 12/13).

Der statische Beobachter betrachtet aus sicherer Distanz des schweizerischen Mittellandes von Ferne die glänzenden Alpen, die durch prachtvolle21 Grösse wie ein idyllisches Naturschauspiel erscheinen. Der Blick aus der Nähe jedoch, der die Vertikaldimension eröffnet, erweist die Ambivalenz des Phänomens. Es vollzieht sich ein Übergang von Pracht, Anmut und Helligkeit zu Erhabenem, Ungeheurem und Finsterem. Der Blick wandert von oben nach unten, vom ewigen Eis, das zu „herunterrauschenden Strömen“ schmilzt, zu schwarzen Tannenwäldern und herabgestürzten Felsen. Der unterschiedliche Sinneseindruck im Wechsel von sicherer Fernsicht zu beglaubigender Naturnähe, die als gemischte Empfindung „angeneh19

20 21

Jäger, Hans-Wolf, Landschaft in Lehrdichtung und Prosa des 18. Jahrhunderts. Drei kleine Kapitel, in: Landschaft und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. H.Wunderlich. Heidelberg 1995, S. 53. Zimmermann an Haller, 31. Juli 1752, NLB Ms XLII 1933, Nr. 39. Vgl. 1. Zu Person und Werk, S. 13. Vgl. IV, 63: „die Alpen in aller ihrer Pracht“.

148

mes Grauen“22 hervorruft, wird vorerst objektiv beschrieben, bevor das Schaudererregende der zerklüfteten Alpenwelt vom Ich-Erzähler durch den fiktiven Erlebnisbericht einer subjektiven Begehung nachvollzogen wird, was sprachlich im Übergang vom Indefinitpronomen „man“ zum Personalpronomen „mir“ fassbar wird. Der Wanderer steigt, einsam und allein, unter „Todesgefahr“, auf einem „kleinen schmalen Fußsteig“ hinauf, womit zugleich die Einbildungskraft an Intensität gewinnt und die menschlichen Behauptungskräfte mobilisiert werden, indem sich Todesgefahr in Erkenntnis verwandelt. Eine allgemeingültige Einsicht stellt sich ein (Zimmermann kehrt zum „man“ zurück), welche die „Grösse der Natur“ und die „ganze Kleinheit menschlicher Kräfte“ erkennt. Die „Himmelshöhen“ der Natur gewähren Freiheit und Unabhängigkeit von „Monarchenschwäche“, also von korrumpierender Gesellschaft, ja von Geschichte überhaupt. Der nicht namentlich genannte „grosse engländische Lehrer des Erhabenen“ (IV, 11), auf den er sich als Autorität bezieht, ist Edmund Burke. Zimmermann beruft sich also auf den „psychologischen Empirismus“23 Burkes, wie er in seiner Schrift „A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful“ mit ihrer physiologischen Ästhetik des Schrecklichen folgenreich formuliert ist, „dass das Schreckliche schön erscheint und das Abstossende anziehend wirkt“.24 In Burkes physiologischer Ästhetik wird unterschieden zwischen „pleasure“, das er mit dem Schönen verbindet, und „delight“, welches die Betrachtung des Erhabenen hervorruft und aus der Entfernung des Schmerzes entspringt: „Das Erhabene erschreckt durch die darin eingschlossenen Wahrnehmungen der Gefahr oder der Unendlichkeit; dadurch, dass dieser peinvolle Eindruck durch die Betrachtung der eigenen Sicherheit aufgehoben wird, entsteht ‚delight‘ “.25 In der vorliegenden Landschaftsdarstellung ist im Sinne Burkes von „erhaben und fürchterlich“ die Rede gemäss einer Stelle am Anfang des vierten Teils: „Ehrfurchtsvolle Schauer und süsses Entzücken, werden wechselweise erreget, durch das ganze Gehölze, durch das fürchterlich abhängende Felsengebirge, und durch jede prachtvolle und erhabene Erscheinung, vereinigt mit kleinen Aussichten in eine lachende Landschaft“ (IV, 5). Zimmermann bezieht sich zwar auf Burke, übernimmt jedoch nicht dessen konsequente Dichotomie von Schönheit und Erhabenheit. Stille und Ruhe, Einsamkeit und Natur bilden eine Einheit, sich gegenseitig steigernd. Zimmermann kommentiert an anderer Stelle: „Einsamkeit, und die Stille der ganzen Natur, heben dann jeden einfachen und edlen Gegenstand“ (IV, 5). Das „ange-

22

23 24 25

Vgl. zu diesem für das 18. Jahrhundert zentralen ästhetischen Terminus und zum gesamten Problemkreis: Carsten Zelle, Angenehmes Grauen. Literarhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987. Viëtor, Karl, Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur (1937), in: K. V., Geist und Form. Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte. Bern 1952, S. 255. Carsten Zelle, Das Erhabene, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. G. Ueding. Bd. 2. Tübingen 1994, Spalte 1367 Hist. WB. Philos. Bd. 2. Basel 1972, Spalte 626.

149

nehme Grauen“, das sich erst bei der imaginierten Begehung der Alpenwelt einstellt, nach Überwindung der Pracht vermittelnden Sicherheitsdistanz, steht im Zeichen eines Harmoniestrebens, das seelischen Ausgleich sucht,26 also letztlich nicht ein ästhetisches Phänomen darstellt, sondern therapeutisch wirken will. Das schweizerische Hirtenvolk, das durch Einsamkeit und Phantasie seine Bildung erhalte, sei wie das herrschende Klima abwechselnd „wild und gütig“ (IV, 27). Der zwar oft rauhe Schlag der Schweizer, bedingt durch den beständigen Anblick „erhabener Wildheit“ (IV, 27) der Alpenwelt, erlangt zugleich emotionalen Gewinn, der ubiquitär gilt: „So gewinnt dann doch das Herz, auch da wie in allen Ländern der Welt, Sanftheit und Güte im Genusse ländlicher Ruhe, und beym Anblicke stiller Schönheit“ (IV, 27). Diese seelische Ausgleichswirkung schweizerischer Landschaftlichkeit erstreckt sich nicht allein auf die überragende Gebirgswelt, sondern auch auf zugänglichere Landgegenden: Zu welchem Genusse, ladet dann auch die Schweitz ein, auf ihren romantischen Hügeln, in so manchem lieblichen Thale, an den Ufern von so manchem spiegelhellen See; und wie liegt da jede Schönheit Schweitzerischer Natur dem Auge näher, und erscheint in ihrer ganzen liebenswürdigen Blüte (IV, 27ff.).

Der durch das Naturerleben vermittelte innere Frieden, der immer auch eine religiöse Dimension aufweist, übertrifft entschieden die Wirkung von Architekturwerken, die durch Menschenhand errichtet wurden: „Die Natur und ein ruhiges Herz, sind ein schönerer und weit mehr erhabener Tempel Gottes, als die Peterskirche in Rom, oder die Paulskirche in London“ (IV, 76). Die Bedrohlichkeit der Alpen wird nicht als „besonderer Kitzel“27 empfunden, und wenn K. Eibl feststellt, „dass das Furchterregende oder Unermessliche zur Quelle eines Schauderns wird, das genossen werden kann, ohne dass noch irgendein Nutzen hinzugedacht zu werden braucht“,28 so lässt sich der Unterschied ermessen, den die deutsche Entwicklung der Naturauffassung im 18. Jahrhundert von der spezifisch schweizerischen Zimmermanns trennt.

26

27 28

Ein Beispiel für die Verwendung des Begriffs „erhaben“ in diesem spezifischen Zimmermannschen Sinn findet sich z.B. im Beitrag „Über den Katholizismus der Fürstin von Dessau“ für die „Berlinische Monatsschrift“ vom Januar 1788, S. 67, das zugleich typisch für Zimmermanns Sytax ist: „Dass übrigens die Fürstin von Dessau rein und frei von allem Aberglauben und jeder Schwärmerei ist, dass sie mit dem hohen und durchdringenden Geiste des Brandenburgischen Hauses, die grösste Achtung für Menschheit mit der herablassendsten Güte und Menschenliebe verbindet; dass sie in der Stille die grössten Tugenden ausübt, aber freilich aus der ganzen Welt nicht mehr macht als sie werth ist, und dass eine solche erhabene Seele, eben wegen der Höhe, auf der sie steht, von den meisten Menschen misskannt und missverstanden wird: das weiss ich .„. Vgl. „Man sagt, er (sc. Rousseau) war ein Narr, oder höchstens, er war ein erhabener Narr […]„ (II, 190). Eibl, Karl, Abgrund mit Geländer. Bemerkungen zur Soziologie der Melancholie und des „angenehmen Grauens“ im 18. Jahrhundert, in: Aufklärung 8/1 (1993), S. 9. Eibl 1993, S. 9.

150

An die vorliegende Naturbeschreibung schweizerischer Alpenwelt schliesst sich unmittelbar ein umfangreicher historischer Exkurs an über ein Kapitel der Geschichte des Kantons Schwyz vor dem Untergang der dreizehnörtigen Eidgenossenschaft, die Zimmermann Gelegenheit gibt, ganz im Geiste Hallers den Verlust altschweizerischer Tugend und Gesittung zu beklagen: „Erloschen ist, gewiss schon lange, der ächte, alte Schweitzergeist, zumal bey den vornehmen, polierten Schweitzern, und ihren Knechten“ (IV, 17). Zimmermanns Plädoyer für eine historische Sittenlehre steht in der Bodmer-Nachfolge. Dieses moralisierend didaktische Bedauern über den Verlust althergebrachter Werte mit dem Ziel einer Erneuerung in der Gegenwart aus dem goldenen Geist der mittelalterlichen Eidgenossenschaft könnte ohne weiteres aus den Schriften Bodmers stammen, beispielsweise aus seiner Abhandlung Vom Wert der Schweizergeschichte von 1721, wo es heisst, das „Haubtabsehen der Histori“ bestehe darin, der „Nachwelt eine rühmliche Ämulation tugendhafter Leüthen“29 einzuflössen, „die mich anreget, diese hohe Exempel nachzufolgen“.30 Bodmer bestimmt an anderer Stelle den Zweck einer Vermittlung der Schweizergeschichte folgendermassen: „Geist und Feür in unsre junge Burger legen, einen munteren Entschluss die Tugend ihrer Vätteren nachzuahmen, und sich würdig zu machen, gleichen Boden zu treffen, den sie getretten haben, und gleichen Lufft einzuziehen“.31 Zimmermann setzt seine Erneuerungshoffnungen in die „Helvetische Gesellschaft“, die „Schweitzergesellschaft in Schinznach“ (IV, 17), die „seinen todkranken Geist vielleicht wieder anfachet“ (IV, 17). Er würdigt die Naturszenerie schweizerischer Alpenpracht also nicht bloss ästhetisch, vielmehr verknüpft er mit der Beschreibung eine didaktische Bestimmung, die eine moralische und politische Hebung der zeitgenössischen Eidgenossenschaft beabsichtigt. Auch seine wiederkehrenden Appelle an die – nicht nur schweizerische – Jugend zur Bildung eines moralischen Charakters32 sind diesem Vorbild verpflichtet. In loser Anlehnung an Hirschfelds Gartentheorie, die im ersten Teil des ersten Bandes von 1779 „Von den verschiedenen Charakteren der Landschaft und ihren Wirkungen“33 handelt, zaubert Zimmermann die Gegend von Albano vor Augen, die er selber nicht aus eigener Anschauung kennt. Diese Landschaftsschilderung,

29

30 31 32

33

Das geistige Zürich im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Max Wehrli. Zürich 1943. Neuedition Basel 1989, S. 60. Vgl. Albert M. Debrunner, Das güldene schwäbische Alter. Johann Jakob Bodmer und das Mittelalter als Vorbildzeit im 18. Jahrhundert. Würzburg 1996. (Epistemata 170), S. 21ff. Das geistige Zürich 1943, S. 59. Das geistige Zürich 1943, S. 61. U.a. III, 237; III, 246; III, 514: „Lieber Jüngling, dem dieses Buch in die Hände fallen kann, nimm du das Gute darinn mit Liebe auf, und verwirf alles Kalte und Schlechte, alles was nicht rühret, und eindringt!“. Hirschfeld, Christian Cay, Theorie der Gartenkunst. Leipzig 1779–1785. Bd. I (1779), Erster Teil, Zweiter Abschnitt, S. 33: „[…] Grösse und Mannigfaltigkeit heroischer Gegenstände […]“.

151

ein Dokument schweizerischer (und deutscher) Italiensehnsucht im 18. Jahrhundert, folgt der Wirkungsästhetik, die der aus dem schweizerischen Mittelland Gebürtige, der im formlos und grau empfundenen Hannover wirkt, an einer Stelle zusammenfasst: „So wirket jede erhabene und jede schöne Aussicht auf verschiedene Weise in das Herz, bald schreckhaft und schauerigt, bald sanft und liebevoll und mit der edelsten Ausbreitung und immer durch erhöhtes Selbstgefühl“ (IV, 32). Erhabene Natur und die Nacht würden „feyerlicher“ (IV, 30) auf die Phantasie als „sanfte ländliche Schönheit“ (IV, 30) wirken, lautet die romantisierende Einschätzung.34 Zimmermann beschreibt die Umgebung Roms, indem er den phantasiebelebten inneren Blick zuerst von Frascati zum Nemi-See wandern lässt, der tief unten in „Todtenstille und fürchterlicher Ruhe“ (IV, 31) liegt, umschlossen von Bergen und Wäldern, die jeglichen Wind von ihm fernhalten, was „schwarze Melankolie“ (IV, 31) auszudrücken scheint. Bei verändertem Blickwinkel hingegen, vom Garten des Kapuzinerklosters bei Albano aus, wird die Seele zunehmend „heiter und frey“ (IV, 31) gestimmt. Der Rundblick erfasst Castel Gandolfo, dann auf der einen Seite Frascati und seine Landhäuser, auf der anderen Albano, La Riccia und Gensano mit ihren Traubenhügeln. Der unverstellte Blick weitet sich in die Campagna hinein, mit Rom und der Peterskirche in der Mitte, den anschliessenden Hügeln von Tivoli, bis die Hügelkette des Apennins und das Mittelmeer am Horizont den Abschluss bilden. K. Ph. Moritz begegnet – am 10. März 1787 laut seinen 1792 erschienenen Reisen eines Deutschen in Italien35 – derselben Landschaft bei Frascati. Liegt ein Beispiel von Zimmermann-Rezeption vor? Moritz’ Landschaftsauffassung verschränkt Ästhetisches und Psychologisches.36 Sein gewohnter Spaziergang zur Villa Ludovisi vor den Toren Roms endet in einer Melancholie der Vergänglichkeit, die historisches Bewusstsein wachruft: Dichter und Geschichtsschreiber der Vorzeit hier gelesen, wo man den Schauplatz der Ereignisse, die sie schildern, mit allen seinen Merkmalen vor sich ausgebreitet sieht, versetzen die Seele in eine sanfte melancholische Stimmung, indem sie gleichsam mitleidsvoll über die Flucht der Zeit und über die hinrollenden Menschenalter trauert.37

Auch bei Zimmermann ist von „schwarzer Melankolie“ (IV, 31) die Rede, aber seine seelische Verarbeitungsweise geht von der Prämisse aus, dass erhabene Natur nach seinem Verständnis hebe, ja erschüttere, in jedem Fall das Herz bereichere.

34

35 36 37

Das Zitat lautet wörtlich: „Erhabene Natur hebt, erschüttert, und schwellt das Herz, und insofern wirkt sie feyerlicher auf die Phantasie, als sanfte ländliche Schönheit, so wie die Nacht auch mehr Feyer und Erhabenheit hat, als der Tag“ (IV, 30). Moritz, K. Ph. , Reisen eines Deutschen in Italien. Erster Teil. Frascati, den 10. März (1787), in: K. Ph. Moritz, Werke. Hg. v. H. Günther. Zweiter Band. Frankfurt/M. 1981, S. 208. Vgl. Dirk Niefanger, Melancholie und ästhetischer Genuss. Landschaft in den „Reisen eines Deutschen in Italien“ von Karl Philipp Moritz, in: Aufklärung 8/1 (1994), S. 17ff. Moritz, K. Ph., Reisen eines Deutschen in Italien 1787, S. 208.

152

Die durch die Landschaftsschilderung gewonnene Schlussfolgerung wird bei Zimmermann verallgemeinert: Jeder Deutsche […] wird erfahren, wie viel der Anblick der Natur durch die Imagination in das Herz vermag […] glaubt Er […] auch nicht Herr und Meister der Natur zu seyn, und Schöpfer und Zerstörer; hat er da auch nicht Aussichten wie Lavater, und Visionen wie Rousseau: so giebt ihm doch der Anblick jeder anmuthigen Gegend, die beständige Abwechslung neuer Hinblicke ins Freye, die frische herrliche Luft, der schöne Himmel, der Jägerappetit (sc. auf poetische Bilder) ein Gefühl von Gesundheit (IV, 32f.).

Die beschriebenen Empfindungen, welche die Landschaft hervorruft, werden wirkungsästhetisch funktionalisiert. Auf die römische Landschaftsschilderung lässt Zimmermann in einer ausführlichen Anmerkung eine Krankheitsgeschichte folgen (IV, 33ff.), welche das Behauptete durch einen Tatsachenbericht bestätigen soll. Seine Landschaftsdarstellung bleibt nicht auf das erlebende Ich zentriert wie bei K. Ph. Moritz, sondern orientiert sich in didaktischer Absicht am textexternen Aspekt der gesundheitsfördernden Erbauung des Lesers. Die Umgebung Roms hat Zimmermann nie gesehen, so wenig wie er über genauere Kenntnis der Gebirge verfügte. Die beiden vorliegenden Landschaftsschilderungen legen modellartig Zeugnis von den schöpferischen Wirkungsmöglichkeiten der Einbildungskraft ab. Sie bilden ein Ganzes, indem sie Alpenwelt und arkadisch anmutende klassische Ideallandschaft umspannen als jenen Erhabenheitsbereich Zimmermannscher Prägung, der perspektiviert wird auf die „Ausbildung einer selbstreferentiellen Struktur innerer Empfindung“38 im Zeichen einer „Erhabenheit der Seele“ (I, 300; IV, 349), die Ausgleich, Stille und Frieden anstrebt. Zahlreich sind die Umschreibungen für den ersehnten Seelenzustand der Erhabenheit. Folgende gemahnt geradezu an Kant: Ehrfurchtsvolle Schauer und süsses Entzücken, werden wechselsweise erreget, durch das schwarze Gehölze, durch das fürchterlich abhängende Felsengebirge, und durch jede prachtvolle und erhabene Erscheinung, vereinigt mit kleinen Aussichten in eine lachende Landschaft. Alle Wehmuth ist vorüber bey solcher ernsthafter und doch freundlicher Rührung, und alles löset sich auf in lieblich träumende Ruhe (IV, 5).

Im zehnten Kapitel des dritten Teils nennt Zimmermann den Englischen Garten von Marienwerder bei Hannover in einem Atemzug mit der heimatlichen Naturszenerie seines Lieblingsspaziergangs auf die Habsburg (III, 317). Im elften Kapitel des vierten Teils kommt er auf diesen Englischen Garten eingehender zu sprechen, bevor er unmittelbar anschliessend die oben betrachtete Naturdarstellung in der Nähe von Bern entfaltet. Längst sei er „mit dem Erhabensten in der Natur“ (IV, 5) bekannt gewesen, als er dem Englischen Garten von Marienwerder bei Hannover begegnet sei, der „elende Sandhügel durch eine neue Art von Schöpfung in

38

Zelle 1987, S. 416.

153

eine freundliche Landschaft verwandelt“ (IV, 6) habe. Unnatürlich-Künstliches ist zwar gut genug zum Lachen, was immerhin Erleichterung verschafft: Oder sollte man nicht lachen, wenn man Pappelnwälder sieht, die kaum hinreichend wären einen Ofen auf einen Tag einzuheitzen; Maulwurfshaufen, die man Berge nennt; in Lebensgrösse auf Eisenblech gemahlte Menagerien von wilden und zahmen Thieren, Vögeln und Amphibien; zahlreiche und erstaunende Brücken über Meere, die ein paar Hühner aussaufen könnten; hölzerne Fische auf Canälen, in die jeden Morgen das Wasser gepumpt wird? Diess alles ist weit unnatürlicher als der ehemalige elende Geschmack (der Holländische) (IV, 8).

Die „magische Kunst“ (IV, 6) jedoch des Englischen Gartens dringe tief in die Seele und bewirke „alle frohen Gefühle im Herzen, alles was durch Einsamkeit, ländliche Ruhe, und Absonderung von den Menschen befriedigt“ (IV, 6). Die neue Vereinigung von Kunst und Natur, die ein Englischer Garten darstelle, erzeuge ein Gefühl „Arkadischer Wollust“ (IV, 7).39 Dieses Gartenerlebnis beseitigt die „schwärzeste Melankolie, und das fürchterlichste Heimweh“ (IV, 6), zumindest für die Dauer des Aufenthalts im Gartenbezirk. Die ersehnte Ruhe im Herzen kann demnach durch imaginationsbelebte Kunst wie durch wirkliche Natur erzeugt werden. Unmittelbare Naturbegegnung, künstlich-natürlicher Garten oder ausschliesslich imaginierte Landschaftlichkeit werden vergleichbar. Richtig dosierte Einsamkeit beflügelt dabei die Imagination und hält Seelenschwelgerei, Schwärmerei und Melancholie wohltuend fern. Im Anschluss an Addison definiert Zimmermann: „Einsamkeit ist die Mutter der herrlichsten Werke der Imagination“ (II, 237). Diese bleibt gottbehütet, denn Gott vermag unmittelbar in, durch und mit der Imagination zu gebieten. Ob Kunst oder Natur: Es geht nicht um die Entfaltung individueller Autonomie durch Imagination in der Einsamkeit ohne göttlichen Beistand. Gott bedeutet die Quelle aller Imagination, denn er „kennet alle Wege und Mittel zur Wirkung auf unsere Imagination“ (II, 237). Diese Auffassung einer Imagination, die göttlichen Ursprungs ist, gibt Zimmermann Tissot in einem Brief vom Sommer 1790 zu bedenken: „Pensés sans cesse et n’oubliés jamais ce qu’Addison a dit: que notre imagination nous rend susceptibles d’une immense mesure de felicité et de misére, mais que Dieu seul connoit les voyes et les moyens pour agir sur notre imagination“.40 Das „Erlebnis der menschlichen Subjektivität als ein zentrales Moment des Landschaftsgartens“41 enthält nach „Zimmermann-Hirschfelds-Gartentheorie“ im Zeichen ephemerer Einsamkeit und der Konzeption eines ubiquitären Arkadien42 keine Einschränkung 39

40 41

42

Weitere Belege: IV, 9: „dass meinem Herzen wohl ward“; IV, 10: „sanfter Friede“; IV, 57: „Ich bewunderte und genoss die stille Natur, und empfand nichts als leises Vergnügen“; IV, 69: „im Frieden mit uns selbst“; IV, 170: „Alles ist itzt Einklang“; IV, 243: „innerer Freiden“; IV, 361: „Gemüthsruhe“ u.a. Brief Zimmermanns an Tissot vom 13. August 1790. BBB Mss hh XVIII 71, Nr. 115. Gamper, Michael, „Die Natur ist republikanisch“. Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert. Würzburg 1998 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 247), S. 252. Siehe unten: 7.3. Ubiquitäres Arkadien, S. 195ff.

154

der Religion. Im Gegenteil! Das „Ideal des ‚Sich-selber-Lebens‘ “43 im Gartenerlebnis impliziert genuin religiöse Erfahrung, die identitätsstiftend zu wirken vermag.44 Zimmermanns begrifflich unscharfe Auffassung des Erhabenen vollzieht als eigentliches Ziel der Naturbegegnung eine objektunabhängige harmonisierende Introspektion, die Ästhetik in Therapeutik übergehen lässt. Eine individualitätszentrierte Form von Therapie, die den geneigten Leser einbezieht, ist auch die Schilderung von Zimmermanns Lieblingsspaziergang. 6.1.2 Auf der Habsburg bei Brugg Im elften Kapitel des vierten Teils verschreibt Zimmermann „bey allem Gewirre von Leidenschaft und Thränen, allem Unglücke“ (IV, 57) ein von ihm selbst oft erprobtes Heilmittel. Er verlässt das drückende, ekelerregende Stadtleben, um sich in einsamer Natur zu ergehen, wo er die Welt und die Welt ihn vergisst. „Ein mir ähnliches Herz“ (I, 22) nimmt er fiktiv mit auf einen Spaziergang in die Umgebung seiner Geburtsstadt Brugg, den er einst mit der „verschwisterten Seele“ (I, 22) Gessner unternommen hat. Zimmermann nennt den verstorbenen Herzensfreund und „Wohltäter der Menschheit“ (IV, 51) in einem Atemzug mit Theokrit, die gemeinsamen Spaziergänge am Fuss der Habsburg vergegenwärtigend.45 Im zehnten Kapitel des dritten Teils spricht er die Habsburg direkt an: „Einsam und frey […] wie dort unter deinen Tannen, geliebter Hapsburg“ (III, 317) und fügt kommentierend hinzu: „Beynahe an dem Fusse dieses berühmten Berges, auf dem die Überbleibsel des Stammhauses der Österreichischen Kaiser stehen, bin ich gebohren; und der Wald mit dem dieser Berg bewachsen ist, war mein liebster Spaziergang“ (III, 317). Die folgende Landschaftsschilderung, in der im Gegensatz zu Gessners „Idyllen“ auch die Alpenwelt vertreten ist, erscheint wie eine nachahmende Befolgung jener Stelle in der Vorrede „An den Leser“ zu Gessners „Idyllen“ von 1756, wo es heisst: Oft reiss ich mich aus der Stadt los, und fliehe in einsame Gegenden, dann entreisst die Schönheit der Natur mein Gemüth allem Ekel und allen den wiedrigen Eindrüken, die mich aus 43 44

45

Gamper 1998, S. 252. Vgl. S. 20 die Verwendungsweise von „erhaben“ auf menschliche Eigenschaften bezogen: „Gottesfurcht und ein Menschenherz bey einem Offizier, sind für mich etwas sehr Erhabenes […] Mein Herz erhebt sich in Ehrfurcht und Bewunderung, so oft ich mit Officieren von sanften Sitten in Gesellschaft bin“. Den Geltungsbereich von Zimmermanns Auffassung vom Erhabenen, der sich auf die Landschaftlichkeit Helvetiens als Alpenland wie auf ein imaginiertes Arkadien erstreckt, belegt die Naturschilderung der Schweiz in „Versuch“, S. 74. Der Heimwehgeplagte träumt von „jener unaussprechlichen Majestät der Natur, jener erhabenen Wildheit, mitten über lieblichen Trifften, und Hügeln von mannigfaltigem Grün; jenem Ausguss von Riesenschönheiten, zwischen blumichten Thälern; jenen unabsehbarn Reihen in weissem blauem und rosichten Glanze sich erhebender Himmelspfeiler – an Ufern spiegelglatter, friedsamer Seen, auf deren Oberfläche ihre Bilder glänzen“. Vgl. zur Wertschätzung Gessners durch Zimmermann: „Aber Leibniz, Newton, Colbert und Turenne waren sowohl Genies als Homer, Milton und Gessner“, Erf. II, S. 9.

155

der Stadt verfolgt haben; ganz entzükt, ganz Empfindung über ihre Schönheit, bin ich dann glüklich, wie ein Hirt im goldnen Weltalter und reicher als ein König.46

5

10

15

20

25

30

35

40

45 46 47

Oft blickte ich im Gefühle dieser sanften Wollust, im Frühling, in das herrliche Thal hinab, wo die Trümmer des Wohnsitzes Rudolfs von Hapsburg, da alleine, auf dem Rücken eines waldichten Berges unter allem möglichen Grün (*)47 sich erheben. Ich sah da, wie die Aar bald unter hohen Ufern in einem weiten Bette herabströmt, bald durch enge Felsen sich stürzet, und dann wieder ruhig und langsam durch die schönen Auen sich schlängelt, indem ihr von einer andern Seite die Reuss, und weiter unten die Limmat zufliessen, und friedsam sich mit ihr vereinigen. In dem schönen blumichten Vorgrund, sah ich die königliche Einsamkeit (*), wo die Gebeine Kaiser Albrechts des ersten, und so vieler fürstlichen Personen des Hauses Österreich, und so vieler von den Schweitzern erschlagener deutscher Fürsten, Grafen, Ritter, und Edlen in klösterlicher Stille ruhen. Weit umher lag vor mir das lange Thal, wo die grosse Stadt Vindonissa (*) stand, und die Ruinen, auf denen ich so oft, in stiller Betrachtung, über die Vergänglichkeit menschlicher Grösse sass. Im fernsten Gesichtskreise hinter dieser herrlichen Gegend (*) erhuben sich über anmuthige Hügel, alte Schlösser, und Gebirge, die Alpen in aller ihrer Pracht, und mitten unter allen diesen grossen Scenen, fielen dann meine Augen vom hohen Walde, wo ich stand, über die Weinberge herab, tief zu meinen Füssen auf meine kleine reinliche Vaterstadt, auf jedes Haus, und auf jedes Fenster in meinem Hause. Wenn ich diess alles sah, fühlte, überdachte, und verglich, dann sprach ich zu mir selbst: Ach warum ward doch meine Seele so enge, mitten unter so vielen Veranlassungen zu grossen Gedanken? Warum ward mir da doch der schöne heitere Winter so trübe? Warum hatte ich da, so viele Langeweile, so viel Unlust, so viel Gram; da ich doch itzt, bey dieser schönen Aussicht, nichts empfinde als Liebe und Ruh, und alle schiefen Urtheile verzeihe, und alles erlittene Unrecht vergesse? Warum ist dieses kleine hier zu meinen Füssen zusammengepresste Häuflein von Menschen, so unruhig, so uneinig? Warum lebt da manche gute Seele so verscheucht? Warum ist da der Regierende so gross, und der Regierte so klein? Warum ist da so wenig Freyheit, Keckheit, und Selbstgefühl? Warum ist da der eine so stolz, und der andere so demüthig und zerschlagen? Warum ist da, bey so vieler angebohrner Gleichheit, so viel Stolz und so viel Neid da doch jeder Vogel in der Luft neben dem andern Platz hat, und alle ihre Myriaden die Ströme ihrer Lieder milde zusammen vereinen in einen Gesang zum Lobe unsers Schöpfers? Dann stieg ich immer vergnügt und friedsam von meinem Berge herab, machte den Regenten meiner Vaterstadt tiefe Reverenzen, gab jedem meiner geringern Mitbürger Freundeshand, und behielt diese selige Stimmung der Seele, bis ich wieder die schönen Berge und das lachende Thal, und die friedsamen Vögel, unter Menschen vergass (IV, 57–65).

Gessner, Salomon, Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Th. Voss. Stuttgart 1973, S. 15. (*) bezeichnen, im Sinne breitgestreuter Fussnotengelehrsamkeit (vgl. Schramm 1998, S. 214), ebenso umfangreiche Anmerkungen wie der Text der eigentlichen Naturbeschreibung. Es handelt sich um wenig interpretationsdichte historische Erklärungen für die hier zur Diskussion stehende Problematik, die deshalb hier weggelassen worden sind.

156

Die in sich geschlossene Naturbeschreibung besteht aus drei getrennten, aber aufeinander bezogenen Teilen: aus der eigentlichen Landschaftsbeschreibung (1–22), einem inneren Monolog (22–39) und der Rückkehr in die Stadt (40–45).48 Als Perspektivpunkt dient ein vorerst statisches, beobachtendes Ich, mit Zimmermann identisch, das die ihn umgebende Natur „alleine“ (3), „vom hohen Walde“ (19) des Traubenbergs über Brugg, vogelschauartig überblickt. In einer Anmerkung gibt Zimmermann topographisch genau Auskunft über seinen gewählten Blickpunkt: Die Seite des Schlosses Hapsburg, die ich hier beschreibe, ist ungleich schöner als die Seite die man von der grossen Landstrasse von Zürich nach Bern erblicket. Von dem Tannenberge über der Stadt Brugg, auf dessen Gipfel ich gewöhnlich unter einem hohen Eichbaum mich hinwarf, zeigt sich das alte Hapsburg auf einem romantischen Berge über einem lieblichen Thale, frey und alleine (IV, 57/58).

Nach der Ankunft auf dem ländlichen Beobachtungsstandort – „im Frühling“ (1) – erwachen in Zimmermann „bey dieser schönen Aussicht“ (27) Empfindungen einer „sanften Wollust“ (1). Der bewaldete Bergrücken mit seinen abgestuften Grüntönen, „allem möglichen Grün“ (4), verstärkt den Eindruck von hoffnungsfrohem, neuem Leben, kontrastiv gesteigert durch die steinerne Umgebung {„Trümmern“ (2), „Felsen“ (6), „Ruinen“ (14), „Schlösser“, „Gebirge“, „Alpen“ (18)}. Aus verschiedenen Himmelsrichtungen heranfliessend, vereinigen sich Aare, Reuss und Limmat zu einer Einheit, die dem Blick entschwindet. Im Gegensatz zu diesem harmonischen Bild der Natur steht das zu Zimmermanns Füssen „zusammengepresste Häuflein von Menschen, so unruhig, so uneinig“ (30/31), das keinesfalls „ein einzig Volk von Brüdern“ darstellt, das sich in keiner Not und Gefahr trennt. Naturvorgänge werden also im Zeichen von Gesellschaftlichem gesehen, indem der Strom des Lebens ebenso der Zeitstrom ist, der Vergänglichkeit anzeigt, und, wie der Lethe-Strom, „Vergessen“ (29; 45) birgt. Die „herrliche“ (2; 16), „schöne“ (7), „friedsame“ (8), „schöne blumichte“ (9), „anmuthige“ (17) Naturszenerie „in aller ihrer Pracht“ (18) wird in einem dynamischen Wechselspiel von Kontrasten eingefangen. Als Gegensatzpaare lassen sich feststellen: – oben und unten:

– schnell und langsam:

48

„in das herrliche Thal hinab“ (2) „sich erheben“ (4; 17) „unter hohen Ufern […] herabströmt“ (5) „vom hohen Walde […] über die Weinberge herab“ (19/20) „tief zu meinen Füssen“ (20) „bald […] sich stürzet, und dann wieder ruhig langsam […] sich schlängelt […] und friedsam sich […] vereinigen“ (5ff.)

Zimmermanns Gedicht „Die Zerstörung von Lissabon“ von 1756 weist insofern ein analoges Verlaufsmuster auf, als auch dort äusseres Geschehen reflexiv ausgewertet wird.

157

– eng und breit: – gross und klein: – nah und fern: – beweglich und fest:

– lebendig und tot:

„in einem weiten Bette […] durch enge Felsen“ (5/6) „unter allen diesen grossen Scenen […] meine kleine reinliche Vaterstadt“ (18/21) „in dem Vordergrund (9) […] im fernsten Gesichtskreise“ (16) die Beweglichkeit der Flussläufe: „herabströmt“ (5), „sich stürzet“ (6), „sich schlängelt“ (7) die unbeweglichen Steinmassen: „Trümmern“ (2), „Felsen“ (6), „Ruinen“ (14), „anmuthige Hügel, alte Schlösser, und Gebirge, die Alpen“ (17/18) die gesamte dynamische Naturszenerie und die Grabstätten, die „Vergänglichkeit menschlicher Größe“ (15/16).

Zwei gegenläufige Trichterbewegungen vermitteln zwischen Vorder-, Mittel- und Hintergrund: zuerst weitet sich der horizontal ansteigende Blick über die Trümmer der Habsburg und des römischen Vindonissa sowie den Einsamkeitsbezirk des Klosters Königsfelden mit Grabstätten „deutscher Fürsten, Grafen, Rittern und Edlen“ (12) hinweg zum majestätischen Alpenmassiv, dem eine sich verengende, vertikal ausgerichtete Fokussierung folgt, die schliesslich auf seine „kleine reinliche Vaterstadt, auf jedes Haus, und auf jedes Fenster“ in seinem Hause (20ff.) zielt, also bis zu Zimmermanns Fenster seiner Studier- und Schreibstube, in der die als Erinnerung vergegenwärtigte Landschaft beschrieben wird. Bezeichnenderweise ist denn auch vom „Weinberge herab“ (17) und „von meinem Berge herab“ (32) die Rede. In diesem ersten Teil werden Natur und Geschichte auf charakteristische Weise miteinander verknüpft. Die der „Landschaft inhärente Geschichtlichkeit“49 wird einerseits in Anmerkungen erläutert, die mindestens soviel Text einnehmen wie die Landschaftsbeschreibung selber, andererseits wird sie historisch gestaffelt. Je weiter sich die Natur topographisch vom Betrachter entfernt, desto weiter liegt sie zeitlich zurück: die Habsburg, das Kloster Königsfelden, womit zugleich die Mönchsthematik anklingt, die römische Provinzialstadt Vindonissa, das vorgeschichtliche Alpenmassiv. Die Trümmer des „Wohnsitzes Rudolfs von Hapsburg“ (2/3), die „Gebeine Kaiser Albrechts des ersten“ und „so vieler fürstlichen Personen des Hauses Österreich und so vieler von den Schweitzern erschlagener deutscher Fürsten, Grafen, Ritter und Edlen“ (11/12) sowie die „Ruinen der einstmals grossen Stadt Vindonissa“ scheinen atmosphärisch auf den zeitgenössischen historischen Trivialroman und die verbreiteten Ritterdramen zu reflektieren. Auffällig ist die zumal in den beigegebenen Anmerkungen betonte Hinfälligkeit menschlicher Einrichtungen; die anorganische Natur bleibt von den Wechselfällen der Geschichte unberührt. 49

Niefanger 1994, S. 17.

158

Vom Erleben der Landschaftlichkeit erfüllt, vollzieht Zimmermann nunmehr eine stark gefühlsbetonte Wendung nach innen, um zu begreifen, was ihn ergreift, die syntaktisch in einer an Klopstock gemahnenden „wenn-dann“-Konstruktion nachgebildet wird und durch die Abfolge von sehen, fühlen, überdenken und vergleichen (4ff.). Das der Fragenfolge vorangestellte „ach“ verdichtet die Gefühlslage, welche die Landschaftsbetrachtung in Zimmermann erweckt hat. Der innere Monolog sucht mit bohrenden Fragen nach Gründen für die seelischen Defizienzerscheinungen angesichts der harmonisch erlebten Natur. Das neunmalige „warum?“ ist so angeordnet, dass sich mit den ersten drei Fragen die eigene winterliche Seele in melancholischer Gemütsverfassung vorfindet, die vierte bis achte wendet sich von individueller Gefühlslage kollektiven Empfindungen50 zu, um wieder nach aussen gewendet aufschwungartig in das Lob der Schöpfung einzustimmen, das nunmehr „alle“ (38) umfasst. Mit dem „Vogel in der Luft“ (37) wird nicht nur erstmals die organische Natur angesprochen, sondern, im Gegensatz zum ersten optisch geprägten Teil, die akustische Dimension wahrnehmbar („Ströme ihrer Lieder“, 38 – „Gesang zum Lobe unseres Schöpfers“, 39). Das Ohr wird wach als Ausdruck der Verinnerlichung, es hört auf die innere Stimme, der aussen der Lobgesang der Vögel auf Gottes Schöpfung entspricht. Im Prozess insistierenden Fragens hat Zimmermann, als Teil der Schöpfung aufgehoben im Gesamtganzen der Natur, seine innere Harmonie und leib-seelische Ganzheit wiedergefunden. Im dritten Teil kehrt Zimmermann „immer vergnügt und friedsam“ (40) nach Brugg zurück, wobei „immer“ auf das „oft“ (1/15) des ersten Teils seines Spaziergangs verweist, der Ausgeglichenheit verschafft. „Friedsam“ nimmt die harmonische Naturszenerie51 als seelische Gestimmtheit auf und deutet zugleich auf die friedlichen Vögel am Schluss (44) voraus. Die Flussmetaphorik unterstreicht die Naturharmonie: dort das Zusammenfliessen von Aare, Reuss und Limmat, hier die milde Vereinigung der „Ströme“ des Vogelgesangs zum Lobe des Schöpfers (38/39). Die Rückkehr wiederholt insofern den lyrischen Monolog, als sie in einem gleichsam emotionalen Trichter von den „Regenten“ (32) über „jeden meiner geringeren Mitbürger“ (33) sich der individuellen Gefühlslage zuwendet (43: „diese selige Stimmung der Seele“). In der Stadt schwindet Zimmermanns seelische Ausgeglichenheit, so dass bald als Heilmittel erneut ein Spaziergang erwünscht sein wird.

50

51

„Häuflein von Menschen“ (30/31); soziale Hierarchie (32/33); zwischenmenschliche Beziehungen (35ff.). Vgl. folgende Stelle in Goethes „Novelle“: „Es ist nicht das erstemal“, sagte die Fürstin, „dass ich auf so hoher, weitumschauender Stelle die Betrachtung mache, wie doch die klare Natur so reinlich und friedlich aussieht und den Eindruck verleiht, als wenn gar nichts Widerwärtiges in der Welt sein könne, und wenn man denn wieder in die Menschenwohnung zurückkehrt, sie sei hoch oder niedrig, weit oder eng, gibt’s immer etwas zu kämpfen, zu streiten, zu schlichten und zurechtzulegen“. HA 6, S. 500. Vgl. 8/9: „friedsam sich mit ihr vereinigen“.

159

Aufs Ganze gesehen hat man es mit einem einsamen erhöhten Ich zu tun, dessen Standort topographisch genau bestimmbar ist, im Angesicht einer Landschaft, die durch ein dynamisierend kontrastives Verfahren erfasst wird. Diese Art der Landschaftsdarstellung erinnert mit ihrer statisch-distanzierten Beobachtungsweise an den Beginn von Hallers Lehrgedicht Über den Ursprung des Übels, weil sie in einem geordneten Bildaufbau auf ein beobachtendes Ich perspektiviert ist und auch auf erklärende Anmerkungen nicht verzichtet. Eine durchseelte Bewegungslandschaft hingegen liegt nicht vor.52 Die Naturbegegnung weckt in Zimmermann die Bereitschaft, sich in eingehender Selbstbefragung von allem Negativen zu reinigen. Allerdings weiss er vorerst auf seine eigenen Fragen keine Antwort. Aber allein das Fragen wirkt befreiend. Die pietistisch gefärbte Diktion ist unüberhörbar: „sprach ich zu mir selbst“ (23), „Selbstgefühl“ (34), auch das Einheit stiftende Zusammenfliessen, das vorerst einen Naturvorgang bezeichnet, im inneren Monolog allerdings eine übertragene Bedeutung bekommt.53 Die Natur wirkt als Regenerationsgarantin und harmonisierende Gleichgewichtsvermittlerin. Die Schrecken erweckende Alpenwelt wirkt glimpflich nur von Ferne. In der städtischen Zivilisation und ihren Einrichtungen liegt zum einen der Schatten der Vergänglichkeit, andererseits korrumpiert sie den Menschen. Die Naturbegegnung lässt alles echte oder vermeintliche Unrecht vergessen (28f.), während umgekehrt das Leben in Brugg die gewonnene Harmonie wieder auflöst (45). Rousseaus „Discours sur l’origine de l’inégalité parmi les hommes“ klingt an: „Warum ist da, bey so vieler angebohrner Gleichheit, so viel Stolz und soviel Neid […]?“ (35ff.). Der Durchbruch, d.h. die reinigende Erweckung als Wiedererkennen der Harmonie des Gesamtganzen, vollzieht sich nicht ausschliesslich in der Vereinigung mit Gott als alleiniger Bezugsperson, sondern massgeblich in und mit der Natur im Horizont einer natürlichen Theodizee: „Die um den Bereich der Gesellschaft verkürzte Welt erweitert sich, indem sie als Natur zum Schöpfungsganzen wird“.54 Pantheistisches verdrängt den persönlichen Gott nicht, vielmehr bürgt der Schöpfer55 für die Gesamtharmonie, er wird aber entrückt in vogelferne Höhen; unmittelbare Hoffnungsträgerin, die psychischen Ausgleich zeitigt und an die man sich immer erneut halten kann, ist die ewig sich offenbarende Natur. Die vorliegende, deutlich unter dem Einfluss Rousseaus stehende Naturbeschreibung wird transparent auf die christliche Geschichtstheologie, indem sie vom Verlust der Harmonie mit der Schöpfung Gottes ausgeht und im Text die Wiederherstellung des Urzustandes im

52

53 54 55

Vgl. August Langen, Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus. Darmstadt 1965 (unveränderter Nachdruck des Ausgabe Jena 1934). „alle Myriaden, die Ströme ihrer Lieder milde zusammen vereinen in einem Gesang zum Lobe unseres Schöpfers“ (38/39). Wölfel, Kurt, Kosmopolitische Einsamkeit. Über den Spaziergang als poetische Handlung, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 15 (1980), S. 54. Es ist nicht von „Schöpfung“ die Rede, sondern vom „Lobe unseres Schöpfers“ (39).

160

Zeichen der Natur vorführt, bis, angesichts erneuter Erlösungsbedürftigkeit, die korrumpierenden Stadteinflüsse einen neuen Spaziergang bedingen. Mittels der erinnerten sprachlichen Gestaltung der Introspektion eines einsamen Spaziergängers in einsamer Natur, deren Regenerationswert durch die in ihr aufbewahrten individual- und universalgeschichtlichen Bezüge steigt, wird Einsamkeit zum Therapeutikum. 6.1.3 Zwei Zürcher Landschaften Lavater pflegte mit Besuchern auf die „Zinne des Dachs“ (IV, 77) seines Elternhauses „Zum Waldries“ im Zentrum von Zürich56 zu steigen, wo er bis 1778 wohnte, so auch mit Zimmermann auf dessen Schweizerreise im Jahre 1775.57 Den damaligen Aufstieg vergegenwärtigt er erinnernd „mit innigster Rührung“ (IV, 77– 80). Der stufenweise ansteigende Blick schweift bei schönster Wittterung von der Stadt Zürich auf die ländliche Umgebung, vom nahen Seespiegel des Zürichsees zu den Schneebergen in der Ferne. Die sich eröffnende Landschaft, die „Himmelsruhe“ (IV, 78) vermittelt, lässt Zimmermann eine zeitlos empfundene Harmonie der Schöpfung erfahren, wodurch ein klassischer Vergleich ermöglicht wird: „wie mein geliebter Brydone auf dem Gipfel des Ätna“ (IV, 77) fühlt er sich, und er zitiert auf deutsch die diesbezügliche Stelle aus der Reise durch Sicilien und Malta, in Briefen an William Beckford des schottischen Reiseschriftstellers (IV, 77/78). Eine Rezeptionsanweisung zur sich eröffnenden Landschaftsszenerie gibt Zimmermann selber unmittelbar vor dem literarischen Gang auf Lavaters Hausdach: Wir eilen aufwärts oder steigen nieder, keinen Staub finden wir, den nicht seine (=Gottes) Macht erfüllet; aber auch keine Stäte, die das Feuer der Andacht mehr entzündet, als eine Gegend, in der das Erhabenste und Angnehmste in der Natur, das Herz bey jedem Blicke entzücket, und alle unsere Empfindungen zerschmelzet in Bewunderung, Liebe, und Ruhe (IV, 76f.).

Die Landschaftsbeschreibung von Lavaters Hausdach ist zweiphasig. Auf die im Vergleich zu den weiter oben untersuchten Landschaftsbeschreibungen kurze Naturbeobachtung folgt ein bedeutend umfangreicherer seelischer Rückbezug. Mit der zweimaligen Wendung „Hier, auf Lavaters Hausdach, ward mir begreiflich […]“ versucht Zimmermann die Wirkung der Aussicht auf Lavaters Gemüt zu erfassen. Lavater, so meint Zimermann zu begreifen, stehe deshalb in unerschöpflichster 56

57

Heute Spiegelgasse 11. Lavater wohnte in Zürich im Verlauf seines Lebens an drei Orten: Haus Zum Waldries (1747–1778), Haus Zur Reblauben an der Peterhofstatt (1778–1784), Neue Helferei (1784–1801). Auf dieser Reise lernte Zimmermann in Lausanne seinen Briefpartner Tissot persönlich kennen und traf in Strassburg sowie auf der Rückkehr nach Hannover in Frankfurt mit Goethe zusammen. Vgl. 1. Zu Leben und Werk. Ferner: Dichtung und Wahrheit. Dritter Teil, 15. Buch. HA 10, S. 63ff. Vgl. auch III, 5: „mit ihm (sc. Daniel Stapfer) lebte ich auf dem Hausdach meines Vaters […]“.

161

Feindesliebe58 über den „Herren Unfreunden“, die „jede ihn schändende und erniedrigende Lüge mit Triumph und Jubel aufhaschen“ (IV, 79), weil er durch den täglich unternommenen Aufstieg auf sein Aussichtsdach die Niederungen menschlicher Zwietracht immer erneut überwinde.59 Eine aus eigener Anschauung geschöpfte, aber idealisierte Landschaftsschilderung entfaltet Zimmermann im elften Kapitel des vierten Teils (IV, 81–91), die sich auf die Gegend um Richterswil am Zürchersee bezieht, wo Dr. Hotze wohnt, „noch ruhiger und schöner als Lavater, und mitten unter allem was die Schweitz in der grössten Mannigfaltigkeit, Erhabenes, Anmuthiges, und Reitzendes hat“ (IV, 89). Dr. Johannes Hotze (1734–1801), „qu’il aimoit si tendrement & qu’il a si bien peint“,60 „Arzt und Philosoph“ (IV, 89), ein „ausnehmend geschickter, sehr erfahrner, und verdienstvoller Schweizerischer Arzt“,61 gehört mit Tissot und dem Zürcher Stadtarzt Hans Caspar Hirzel (1725–1803)62 zu Zimmermanns „Herzensfreunden“ (IV, 89). Richterswil war im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert vielbesuchter Kurort63 und das Gut Hotzes mit seiner enzyklopädischen Bibliothek Treffpunkt einer inund ausländischen Gelehrtenrepublik. Dr. Hotze, Cousin Johann Heinrich Pestalozzis (1746–1827) und Bruder des Freiherrn v. Hotze, des Generalmajors in der österreichischen Armee und Kommandeurs des Theresienordens, verband eine

58

59

60 61 62 63

Ein Beispiel für Lavaters bemerkenswerte Langmut, die er an den Tag zu legen genötigt war, berichtet Zimmermann im Brief vom 8. Dezember 1792 an Reichard (Christoph Weiss, „Deutschlands Hohn und Schmach“. Der Beginn des Briefwechsels zwischen Johann Georg Zimmermann und Heinrich August Ottokar Reichard, in: Schramm 1998, S. 205.): „Lavater hat in Zürich eine Predigt über die politischen moralischen und religiösen Folgen der französischen Revolution gehalten, und wollte sie drucken lassen. Der Censor (einer der ersten Männer der dortigen Regierung) schrieb darunter, es möchte gehen wenn Herr Lavater sagte, solche Greüel sind in Frankreich geschehen, aber er müsse nicht sagen, solche Greüel geschehen in Frankreich! – Am Abend des Sonntags, da Lavater diese Predigt gehalten hatte, schrie man als er durch die Gassen gieng: seht da spaziert die Aristokratie! Nachher ward zum dritten Mal ein Galgen und ein Strick sehr künstlich an Lavaters Haus gezeichnet“. In seiner Selbstinterpretation im Brief vom 1. August 1784 an Hirzel führt Zimmermann aus: „Da stehe ich auf der Zinne von Lavaters Hausdach (1775) und alles was nicht Sanftheit und Erhabenheit ist, verschwindet in meiner Seele! Zürich und der Zürchersee stehen da allenthalben in meinem Gemählde oben an, und Gessner schwebet mir allenthalben vor der Seele“. ZZH, FA Hirzel 240, 20. Vgl. Zimmermann an Ph. E. Reich am 26. Mai 1776: „Vergessen Sie ja nicht, wenn das Wetter schön ist, Lavater zu bitten dass er Sie und ihre liebenswürdige Gefährtinn auf sein Hausdach führe: sterben will ich wenn Sie da nicht so sehr entzückt sind als Sie es in ihrem Leben vielleicht noch nie über solche Scenen waren“, in: Helvetien und Deutschland 1994, S. 128. Tissot 1797, S. 60 bezogen auf die vorliegende Darstellung IV, 81–91. Ruhr 1767, S. 384. Hirzel, Hans Caspar ist der Bruder von Salomon Hirzel (1727–1818). Beide gehören zu den Gründungsmitgliedern der „Helvetischen Gesellschaft“ in Schinznach im Jahre 1762. Vgl. Wild, Kurt, Alt-Richterswil. Ein kulturgeschichtlicher Bilderbogen. Richterswil 1992, S. 27ff. Ders., Richterswil – wie es einst war. Landschaft–Häuser–Menschen. Richterswil 1996, S. 69ff.

162

enge Freundschaft mit Lavater,64 der viele prominente Besucher nach Richterswil wies, z.B. Goethe, der im 18. Buch von Dichtung und Wahrheit schreibt: „Wir landeten in Richterswyl, wo wir an Doctor Hotze durch Lavater empfohlen waren. Er besass als Arzt, als höchst verständiger, wohlwollender Mann ein ehrwürdiges Ansehn an seinem Orte und in der ganzen Gegend“.65 Hotze nahm sich des kranken Sohnes von Zimmermann an.66 Er förderte Lavaters Physiognomik und verfügte seinerseits über ein umfangreiches Bildnisarchiv. Zimmermanns Porträt war in der Stube des mittleren Stockwerks aufgehängt. Im Jahr von Goethes dritter Schweizerreise 1797 war der berühmte Arzt bereits in Goethes Geburtsstadt Frankfurt am Main emigriert, wo er im selben Jahr wie Lavater starb. Am 25. Juli 1789 kommt es zu einer persönlichen Begegnung zwischen Dr. Hotze und Ulrich Bräker (1735– 1798), auf die der arme Mann im Toggenburg nicht wenig stolz ist. Bräker findet Hotze „wie es ihme sein Porträit und H. D. Zimmermanns Zierliche Beschreibung gesagt haten“.67 Bei einem Glas starken Branntweins nimmt das Gespräch „einen Lavaterianischen Schwung“.68 Zwischen Landschaftlichem und Seelischem besteht in Zimmermanns Darstellung ein Kausalnexus, indem die Landschaftsbeschreibung funktional auf die psychische Verfassung des Arztes bezogen wird: „Erhaben und sanft wie die Natur die ihn umgiebt ist seine Seele“ (IV, 82). Diesmal handelt es sich nicht um eine Heilungsgeschichte des Betrachters, eher um die Idealisierung der Reallandschaft am Zürchersee zu einer paradiesischen Gegend, die kein psychisches Leiden mehr kennt. Das Heilmotiv tritt insofern auf, als der Arzt Dr. Hotze als Vermittler der Natur seine Heilfähigkeit aus der von Zimmermann beschriebenen Natur zieht. Der „Menschenfreund“ (IV, 89) ist dank seiner Heilerfolge quasi ungekrönter König, 64

65

66

67

68

Vgl. den Brief Lavaters vom 6. September 1769 an Zimmermann: „Herr Doctor Hotz, der sich deiner mit der aufrichtigsten und zärtlichsten Ergebenheit erinnert […]“, in: Luginbühl I 1997, S. 202. Lavater übermittelt in demselben Brief auch die Verbundenheitsgrüsse des Abtes von Einsiedeln Niklaus Imfeld (1734–1773). Im Zimmermann-Nachlass in der NLB Hannover befindet sich ein Manuskript Hotzes „Über Physiognomik“ (Ms XLII 1933, B 24 c). Goethe, Dichtung und Wahrheit, 18. Buch, Vierter Teil, HA 10, S. 140. Die folgende Landschaftsdarstellung auf dem Weg nach Maria Einsiedeln ist auf die sich abzeichnende Trennung von Lili Schönemann perspektiviert. Die Beschreibung von Richterswil in der von Eckermann bearbeiteten „Reise in die Schweiz 1797“ (WA I, 34/1), S. 382f.) steht in andersgearteten Bezügen. Lavaters Sohn, Dr. med. Heinrich Lavater (1768–1819), absolvierte 1791 bei Hotze in Richterswil sein erstes Praktikum und war 1793/94 dessen Stellvertreter. Die „Idylle Richterswil im 18. Jahrhundert“ verdiente eine separate Darstellung unter Berücksichtigung von Meiners, Matthisson und Ebel u.a. An Hirzel schreibt Zimmermann im Brief vom 29. März 1780: „Herr Doctor Hotze in Richtersweil besorgt was meinen unglücklichen Sohn betrift mit einer Rechtschaffenheit und mit einer Treü und mit einer Schonung für mich, die Gott im Himmel allein lohnen kann. Aber leider kostet es mir jedesmal beynahe das Leben, wen ich an ihn schreibe“. ZZH, FA Hirzel 240, 19. Chronik Bräker, Ulrich auf der Grundlage der Tagebücher 1770–1798. Zusammengestellt u. hg. v. C. Holliger, C. Holliger-Wiesmann, H. Graber, K. Pestalozzi. Bern u. Stuttgart 1985, S. 352. Ferner: Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften. Hg. v. Andreas Bürgi et. al. Dritter Band. Tagebücher 1789–1798. Bearbeitet von Andreas Bürgi et. al. München u. Bern 1998. Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 352.

163

denn er empfindet „wie es einem König zu Muthe seyn muss, in der Stunde, da Er einem ganzen Volke wohlthut“ (IV, 89). Berufungen an ausländische Fürstenhöfe als Leibarzt, Weimar eingeschlossen, hat er abgelehnt. Sein Patientenkreis erstreckt sich auch auf Bewohner der angrenzenden katholischen Innerschweiz. Hotzes medizinisches Wirken wird denn auch bemerkenswerterweise mit der seelsorglichen Tätigkeit der Beichtväter im Kloster Einsiedeln verglichen. Die gesamte Landschaftsschilderung weist eine religiös gefärbte Terminologie auf: sein Haus ist ein „Tempel der Gesundheit“ (IV, 82) bei „Himmelsruhe“ in „paradiesischer Gegend“ (IV, 90). Diese dem Unsagbarkeitstopos unterliegende Sonntagslandschaft gleicht einem unerschöpflichen „Amphitheater“ (dreimal: IV, 82/83), das „noch kein Mahler anders, als in ausgehobenen kleinen Theilen zu zeichnen wagte“ (IV, 82). Nach einer Grobsituierung des Dorfes Richterswil im Ganzen vollführt die detailgenaue Landschaftserfassung einen Kreis von Norden über Osten nach Süden und Westen, als gelte es, ein harmonisches Schöpfungsganzes zu umfangen. Die für die Textstelle von Zimmermanns Lieblingsspaziergang charakteristische Vorgehensart, Natur in Gegensätzen zu erfassen, beruhigt sich in der evozierten Naturharmonie. Die Beschreibung verfährt, wiederum in Anlehnung an Haller, von unten nach oben, vom Seespiegel „himmelan“ (IV, 83) zu Baumgärten, Korn und Gras, Wäldern, Dörfern, Kirchen hinauf zu den Alpen – „mit ewigem Schnee bedeckten Felsenhäuptern“ (IV, 83). Als wolle Zimmermann die zur FrascatiLandschaft vorgebrachte Behauptung, die Nacht habe mehr „Feyer und Erhabenheit“ (IV, 30), anschaulich belegen, lässt er über der klassisch anmutenden, lichtdurchströmten Landschaft die Sonne untergehen und zaubert eine romantische Naturszenerie hervor. Sieht man „in tiefer Nacht“ (IV, 86) einsam aus den Fenstern, ist man von erfrischenden Blumendüften umgeben, der Mond wandert hinter den Bergrücken hervor, man hört in dieser „Todtenstille“ (IV, 86) den Schlag der Kirchenglocken, die Stimme des Nachtwächters, das Bellen treuer Haushunde, auch den langsam herbeirudernden Kahn des Schiffers „wie er in der feurigen Heerstrasse69 fährt, und mit den glänzenden Wellen spielt“ (IV, 86): ein „Hauptstück der ganzen Erdschöpfung“ (IV, 87), das für Zimmermann noch höher rangiert als der durch Rousseau gefeierte Genfersee.70 Der Wechsel von Tag und Nacht, auf den die Angabe des chronologischen Tagesablaufs von Dr. Hotze folgt, verleiht der Beschreibung Dynamik. Sie gemahnt an Goethes Verfahren der auf „Umsicht“ beruhenden „Begriffsbildung“, die auf das Anschauen der „Totalität eines Zustandes“ zielt,71 sich allerdings darin von Zimmermann unterscheidet, dass dieser nicht so sehr wie Goethe gefühlte Wirklichkeit im Wort abbildet, sondern

69 70 71

Der Mondschein erzeugt die feurige Heerstrasse. Die vorliegende Textstelle ist die Vorlage für C. F. Meyers Gedicht Nachtgeräusche. Vgl. Staiger, Emil, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller. (1. Aufl. Zürich 1953). München 1976, S. 112.

164

der Einbildungskraft und einer damit verbundenen Idealisierungstendenz grösseren Raum gewährt. Es sind derartige „Aussichten voll Erhabenheit und Anmuth“ (IV, 84), die Freundschaft, Einfalt, Friede, Unschuld, Freiheit, Ruhe hervorrufen, wie Zimmermanns Landschaftsdarstellung selbst: „Solches Glückes ist das Herz empfänglich, wenn es Freude hat an erhabener Natur […] an allem wodurch wir die Seele erweitern, oder was sich in sanfte Bilder verschmelzt“ (IV, 2). 6.1.4 Zusammenschau Alle fünf betrachteten Landschaftschilderungen sind auf den Perspektivpunkt eines statischen und aufnahmebereiten Beobachters ausgerichtet. Für Zimmermanns Naturauffassung ergibt sich, dass Naturbegegnung und seelische Verfassung aufeinander bezogen werden, indem sich ein Rückbezug von eingehender Naturbetrachtung und daraus resultierender seelischer Gestimmtheit im Zeichen von Harmonie und Heilung vollzieht. Nicht um Empirie handelt es sich, sondern um eine zweiphasige, sich der Natur öffnende Wahrnehmungsweise. Im Innern werden antwortende Gegenbilder entdeckt, die eine emotionale Eigengesetzlichkeit entfalten. Fluchtpunkt ist die Erfahrung leib-seelischer Einheit des beobachtenden Individuums, das mit sich selbst durch die Regenerationsgarantin „Natur“ ins Reine kommt. Seien es arkadische Versatzstücke, die seelisch belebt werden, sei es die Einwirkung einer idealen Reallandschaft oder einer realen Ideallandschaft, immer liegen unterschiedliche Prägungen einer Naturauffassung vor, die auf eine ihnen zugrundeliegende Einsamkeitskonzeption verweisen, nämlich jene auf ein Ganzes zielende Versöhnung von objektiv gegebener und subjektiv wahrgenommener Gegensätzlichkeit. Jede reale oder imaginierte Naturdarstellung steht unter dem Gebot von Stadtflucht. Der topographisch nicht genau feststellbare Betrachter der fünften Textstelle scheint der Stadt Zürich den Rücken gekehrt zu haben, um das von Lavaters Hausdach aus gesichtete, gleichsam gelobte Land unmittelbar aufzusuchen. Die beiden ersten Landschaften stellen zwei Modelle seelischer Wirkungsmöglichkeiten von Natur dar, die in der ästhetischen Diskussion der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielen: die Idee des Erhabenen und der locus amoenus, der bei Zimmermann um die Gebirgsdimension erweitert wird. Die drei restlichen Landschaften konkretisieren an Beispielen aus Zimmermanns näherer Heimat die Heilwirkung erhabener Natur, wie er sie erlebt und versteht. Während Zimmermann durch seinen Lieblingsspaziergang ein örtlich und zeitlich begrenztes seelisches Gleichgewicht wiedergewinnt, verfügt Lavater über unerschütterliche Seelenstärke. Er bedarf statt wiederholter, regenerierender Spaziergänge nur eines kurzen Ganges auf sein Hausdach. Die fünfte Naturbeschreibung entwirft das Gesamtbild einer vollendeten Welt, welche klimaxartig eine Art Synthese zu den vorangegangenen Landschaftsschilderungen darstellt.

165

Die Landschaftsdarstellung manifestiert eine vollständig intakte, heilkräftige Naturszenerie, die insofern als typisch schweizerische Variante eines klassischen locus amoenus erscheint, als sie um gebirgige Hügel, das Alpenmassiv und unentwegten Fleiss aller Altersstufen ergänzt wird. „Angenehme Spaziergänge durch schattige Wälder und allenthalben die Aussichten voll Erhabenheit und Anmuth“ (IV, 84) ergreifen jeden Wanderer und jeden Fremdling, der „stille steht, der Auge ist […] jeder Fussbreit dieser schönen Erde ist benutzet, bepflanzet, bebaut; aller Menschen Hände arbeiten, Kinder und Greise sind emsig“ (IV, 84/85). Die Oberfläche des Nemi-Sees der Frascati-Gegend wird anscheinend von keinem Wind bewegt, der See vermittelt den Eindruck „fürchterlicher Ruhe“ (IV, 31), so dass die Natur traurig werde, jede Blume beschattet und jeder grüne Platz geschwärzt (IV, 31). Den Zürchersee hingegen, dessen Wellen, durch sanfte Winde bewegt, „wie eine Heerde Schafe gaukeln“ (IV, 86), bringen „nie gefährliche Stürme in Aufruhr“ (IV, 86). Der Beschreibung der Landschaft von Richterswil – „dieser paradiesischen Gegend“ (IV, 90) – , die Klopstocks Ode evoziert, fügt Zimmermann eine Rezeptionsanweisung an den Leser hinzu, die sein Konzept eines ortsunabhängigen Arkadien im Reich der Imagination enthält: „Aber solcher Ruhe bist du fähig, lieber Leser, wer du auch seyn magst, wenn du auch nicht auf einem so schönen Erdenfleck wohnst, nicht bey meinem lieben Doctor Hotze zu Richterswyl, nicht im Kapuzinerkloster bey Albano, nicht in meines Königs Haus zu Windsor“ (IV, 90/91).

6.2 Ubiquitäres Arkadien Dem Erleben einsamer Natur kommt in Zimmermanns Einsamkeitsschrift durch „ruhige und gefühlvolle Anschauung der Natur, und durch Empfindsamkeit für alles Schöne und Gute“ (III, 518) als Lebenselixier naturgemäss eine zentrale Bedeutung zu. Alle Erscheinungsformen der Natur leben von einem Spannungsverhältnis zwischen Tradition und individueller Beglaubigung. Kontemplative Introspektion, als seelische Rückwendung einer betrachteten Landschaft, entfaltet dank der Einbildungskraft, jenem „Zentralvermögen der Ästhetik, Psychologie und Literatur der Zeit (sc. der Spätaufklärung)“,72 eine eigengesetzliche Unabhängigkeit der Realität gegenüber. Im Leben des Herrn von Haller (1755) definiert Zimmermann die Einbildungskraft wie folgt: „Aus dem Temperament fliesst eine mehrere oder mindere Einbildungskraft, die der Seele, die abwesenden Vorwürfe, nach allen ihren verschiedenen Eigenschaften, auszeichnet, und in grösserer oder kleinerer Anzahl, nach verschiedenen Staffeln von Dauer und Lebhaftigkeit vor72

Helmut Pfotenhauer, Einführung zu IV. Literarische Anthropologie, in: Der ganze Mensch 1994, S. 559. Vgl. ebd., S. 557: „Die Einbildungskraft tritt in ihr Recht. Sie vergegenwärtigt das Abwesende der tätigen Körper und Sinne“.

166

stellet!“.73 Einbildungskraft bedeutet bei Zimmermann zunächst Affizierbarkeit, ein intensives Aufnahmevermögen äusserer Sinneseindrücke. In einem Brief vom Juni 1768, kurz vor der Übersiedlung nach Hannover, gibt er Tissot „une legere idée de l’histoire naturelle de ma Tete“,74 in deren Zentrum seine Einbildungskraft steht: L’imagination y domine. Tout ce qui est frappant me frappe vivement et fortement. Quant beaucoup d’idées se presentent à la fois et sur tout quant ces idées sont desagreables, allors je commence par etre bouleversé totalement, et je Suis d’une humeur féroce et diabolique. Cet etat ne dure pas. À mesure que je reduis les idées complexes à des idées simples ma tête se remet, je deviens plus calme. Dès que j’ay trouvé mon plan de conduite, je suis entièrement content.75

Dieser Briefausschnitt belegt das für Zimmermanns gesamtes schriftstellerisches Schaffen bezeichnende Bestreben, Ausgeglichenheit zu schaffen angesichts eines stets latent bedrohten Gleichgewichts. Seine Auffassung der Imagination ist auch hier geprägt von Bodmer, dessen Einfluss in den 1740er Jahren am nachhaltigsten wirkt, in jener Dekade, als Zimmermann schulisch an der Berner Akademie sozialisiert wird. In Bodmers Schrift Von dem Einfluss und Gebrauche der EinbildungsKrafft (1727) bedeutet Einbildungskraft Vergegenwärtigungskraft, welche die betrachtete Wirklichkeit im dichterischen Text im Sinne des „ut pictura poesis“ naturgerecht zu reproduzieren vermag und dadurch auf die Aussenwelt bezogen bleibt. Zimmermann modifiziert Bodmers Imaginationsverständnis, indem er zu bedenken gibt, dass „in jeder Landgegend von gefälligem Augenblick“ dank dem „Zauber der Imagination“ (IV, 4) Glückseligkeit in der Einsamkeit möglich sei. Im Anschluss an die Schilderung der Richterswiler Idylle stellt er fest, dass es leicht sei, in dieser Landschaft „Glück“ (IV, 91) zu empfinden und „Freudenfähigkeit“ (IV, 56) wiederzugewinnen, „aber auch leichter als ihr glaubt, in der Kammer da ich dieses Buch über die Einsamkeit schreibe, wo ich seit sieben Jahren nichts sehe, als ein paar elende unförmliche Dächer, und die Spitze eines traurigen Kirchenthurms“ (IV, 91). Zimmermanns ubiquitäre Phantasie ist nicht mehr von bloss reproduktiv-instrumenteller Funktion, sondern verfügt über eine objektunabhängige, selbstveranlassende schöpferische Kraft. Er definiert denn auch Einbildungskraft in „Von der Diät für die Seele“ als das Vermögen, das „unabhängig von den Sinnen Ideen hervorzubringen verstehet, die eben so lebhaft sind als wenn sie durch die Sinne in die Seele gekommen wären“.76 Zimmermann lädt deshalb seine Leserschaft zu orts- und zeitunabhängigen „Wanderungen der Einbildungskraft“ (IV, 45) ein, die in der Einsamkeit begünstigt werden. Gott dankt er ausdrücklich für die ihm zuteil gewordene Gabe seiner Ein73 74 75 76

Leben Haller 1755, S. 369. Vgl. 12. Zentrale Begriffe von Zimmermanns Heilverständnis. Brief Zimmermanns an Tissot vom 11. Juni 1768. BBB Msshh XIV 151. Brief vom 11. Juni 1768, BBB Msshh XIV 151. Von der Diät für die Seele. Hg. v. Udo Benzenhöfer und Gisela vom Bruch. Hannover 1995, S. 56.

167

bildungskraft: „So danke ich Gott für meine Einbildungskraft“ (IV, 10). Das gesamte Werk Über die Einsamkeit soll ihn, mittels seiner Einbildungskraft, „in fremde Länder versetzen, Bilder aus entfernten Jahrhunderten“ (I, XIII) in ihm hervorrufen. Zimmermann zitiert zustimmend Rousseau: „Ich genoss mich selbst, die ganze Natur, alles was ist, alles was seyn kann, alles der sichtbaren Welt, und alles was man sich einbilden kann von der intellektuellen Welt“ (IV, 47). Er verweist auf die ubiquitäre Vergegenwärtigungskraft der Imagination, die ihm auch erlaubt, einen immerwährenden Kontakt mit den Freunden in der fernen Heimat imaginär aufrechtzuerhalten: Ach, wenn meine ältesten Schweizerischen Freunde wüssten, wie oft sie mich itzt in schlaflosen Nächten unterhalten: wie keine Entfernung und keine Jahre in meiner Seele auslöschen, was sie mir in meiner Kindheit, in meiner Jugend, und in meinem männlichen Alter gewesen sind; wenn sie wüssten, wie viele gegenwärtige Traurigkeit, wie manches Ungemach des Lebens, ich bey diesem süssen Zurückstaunen vergesse: So würden auch sie vielleicht sich freuen, dass ich in der Einbildung noch immer mit ihnen lebe, ob ich gleich in der Wirklichkeit für sie todt bin (IV, 46).

Zimmermanns Einbildungskraft ermöglicht dem Heimwehkranken, „bey jedem Blick des Auges, bey jedem Athemzug, bey jedem Fußtritt“77 sein Vaterland geistig zu verlebendigen. Die Einbildungskraft ist keine subjektunabhängige Konstante, sondern individuell verschieden ausgeprägt, denn nicht jeder besitzt „Aussichten wie Lavater, und Visionen wie Rousseau“ (IV, 33). Über minimalen „Jägerappetit“ (IV, 33) verfügen alle, um auf poetisch gesundheitsfördernde Bilderjagd gehen zu können (IV, 32). Petrarca, der die „Kunst mit sich selbst fertig zu werden“ (IV, 71) verstand, dient als Paradebeispiel eines imaginativen Bilderjägers gemäss Zimmermanns Verständnis. Petrarca lässt er sagen: „Hier, in Vaucluse, finde ich Athen, Rom, Florenz, wie es meinem Geiste am besten behagt“ (I, 72). In anderem Zusammenhang findet sich als Vorbild der blinde Homer, der die einsamen Örter derart eindrücklich gemalt habe, „dass wir, wie Cicero sagt, durch seine Beschreibungen sehen, was er selbst nicht gesehen hat“ (I, 107). Die über Ort und Zeit gebietende Einbildungskraft ermöglicht also ein inneres Schauen ohne äusseres Sehen. Es bedarf nicht unbedingt einer äusseren Naturszenerie – „sanfte Winde, klare Quellen, fischreiche Flüsse, dichte Gehölze, kühle Höhlen, Bänke von Rosen, und blumenreiche Wiesen“ (IV, 105) –, um seelischen Ausgleich zu finden. Innerer Friede ist „überall, im Stillen“ (IV, 105) der Einsamkeit qua Einbildungskraft. Die Schlüsselstelle zu Zimmermanns Konzept eines ubiquitären Arkadien, die den Kern seiner Naturauffassung enthält, findet sich im elften Kapitel des vierten Teils: Im Stillen, wo die Seele sich ganz entbunden glaubt von allem was sie in Städten peinigt und drückt; wo sie frey ist von allen erkünstelten Bedürfnissen, bey deren Sättigung man sich eben so unglücklich fühlet, als wenn man ohne Hoffnung danach strebt, wo sie nichts liebet als die Natur, und an nichts Geschmack hat, als an ihrer Reinheit und Einfalt: da wohnet Glückseligkeit. Sieht und höret man nichts mehr von allem was uns schmerzet, lebt man in Liebe und 77

Versuch 1779, S. 75.

168

Unschuld mit Wenigem vergnügt, mit allem zufrieden, so lebt man ja in den goldenen Zeiten der Dichter, deren Verlust ihr mit Unrecht bedauert. Liebe und Ruhe, und Geschmack an reiner Natur, waren nicht bloss den Haynen von Arcadien eigen. Ihr lebt alle in Arcadien wenn ihr wollt. Tage voll Herzensgenuss, und unschuldige Freuden, finden sich auf jeder beblümten Wiese, an jeder crystallenen Quelle, unter jedem schattigten Baume (IV, 49f.).

Das goldene Zeitalter ist nicht endgültig verloren, sondern kann sowohl durch unmittelbares Naturerlebnis als auch auf imaginativen Spaziergängen zurückgewonnen werden. Die Verschriftlichung von Natur ist selber Landschaftsgebilde. „Beherzige die gelesenen Landschaftsbeschreibungen, und überlasse dich deiner eigenen Einbildungskraft, sie wird therapeutisch wirken“: so könnte Zimmermanns Rezept lauten.78 Die gelesene Landschaftsschilderung allein wirkt therapeutisch. Damit nimmt Zimmermann zugleich implizit eine Funktionsbestimmung von Dichtung vor. Zum einen wird das geschilderte Naturerlebte, das gar nicht unbedingt auf eigener realer Anschauung beruhen muss, im lesendem Nachvollzug erneut vergegenwärtigt. Zusätzlich eröffnet die Einbildungskraft des Autors wie jene des Lesers, die beide im Idealfall eine verschworene Imaginationsgemeinschaft bilden, seelische Erinnerungsunabhängigkeit, harmonisierende „Seelenschwelgerey“ (IV, 48), die objektunabhängig ihren je individuellen Gesetzen gehorcht. Man erinnert sich an Zimmermanns Bestimmung der Einbildungskraft, die er in der postum erschienenen Schrift „Von der Diät für die Seele“ gibt. Dort heisst es wörtlich: „Die Macht des Körpers äussert sich sichtbarlich auf der Einbildungskraft durch die man das Vermögen unabhängig von den Sinnen Ideen hervorzubringen verstehet, die eben so lebhaft sind als wenn sie durch die Sinne in die Seele gekommen wären“.79 Diese kontemplative Introspektion ohne äussere Anschauungsveranlassung ist verwandt mit den Konzeptionen Mendelssohns und Winckelmanns und deutet zugleich auf die unendliche Reflexionshaltung der Romantik voraus, lässt aber vor allem an Schillers Wesensbestimmung der Dichtung in seiner Rezension Über Bürgers Gedichte denken, die 1791 erschien. Dort wird über die Dichtkunst ausgeführt, sie sei es beinahe allein, „welche die getrennten Kräfte der Seele wieder in Vereinigung bringt, welche Kopf und Herz, Scharfsinn und Witz, Vernunft und

78

79

Behle, Carsten, „Heil dem Bürger des kleinen Städtchens“. Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 71. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext. In Verbindung mit der Forschungsstelle ‚Literatur der Frühen Neuzeit‘ an der Universität Osnabrück, hg. v. Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt) stellt denn auch S. 274 fest, dass die Imagination den Verfasser in einen Zustand versetze, „in dem er sich einer vergangenen Existenz versichern kann, in der er sowohl äusseren als auch der eigenen inneren Natur näher war“ und weiter S. 274, Anm. 376: „Zimmermanns melancholische Neigung, der er durch die Abfassung seiner grossen Einsamkeitsschrift Herr zu werden beabsichtigte, verdeutlicht den therapeutischen Effekt, den er von einer solchen Imagination erwartete.“ Benzenhöfer und vom Bruch 1995, S. 56.

169

Einbildungskraft in harmonischem Bunde beschäftigt, welche gleichsam den g a n z e n M e n s c h e n in uns wieder herstellt“.80 Zimmermanns Naturverständnis manifestiert in der Rousseau-Nachfolge Teile der Genese jener Naturauffassung, die sich im 18. Jahrhundert von Hallers Lehrgedicht Über den Ursprung des Übels, an das Zimmermann anknüpft, zu autonomen und dynamischen Seelenlandschaften vollzieht. Indem ein modifizierter Arkadiendiskurs reale oder imaginierte Landschaften und persönliches Erleben aufeinander bezieht, werden im Horizont von Zimmermanns Konzeption eines ubiquitären Arkadien in nuce Phasen der Entstehung des subjektautonomen Naturgefühls evident. Zimmermann nimmt dabei Bezug auf die Kategorie des Erhabenen. Einen originellen Beitrag zur zeitgenössischen poetologischen Diskussion des Erhabenen leistet er zwar nicht; er adaptiert den Begriff auf charakteristisch eklektische Weise, indem er in der Nachfolge Burkes und Blairs sich im Bezugsfeld Pyras,81 Mendelssohns und Herders bewegt, die allesamt eine „frühidealistische Kunstanschauung“82 aufweisen und nicht als diametrale Entgegensetzungen zu Kants Analytik des Erhabenen im zweiten Buch seiner Kritik der Urteilskraft zu verstehen sind. Kants transzendentalkritischen Erörterungen über das Erhabene folgt Zimmermann, der erklärte Erzfeind jeglicher Systematik, nicht. Kants Bestimmung des Erhabenen als „negative Lust“83 führt bei Zimmermann nicht klärend weiter, denn er kennt weder eine Dichotomie von Schönem und Erhabenem, noch vollzieht er die Trennung des Gefühl des Erhabenen selbst in ein Mathematisch-Erhabenes und ein Dynamisch-Erhabenes der Natur nach. Zimmermann unterscheidet nicht zwischen Endlichem und Unendlichem, Sinnlichem und Übersinnlichem, sondern, im Sinne Herders, kommt er „in anthropologisch begründeter Abgrenzung zu Kants dualistischem Idealismus und skeptisch gegenüber dem ‚erhabnen Schauder‘ […] zu einer harmonisierenden Sichtweise […], in der das Erhabene als das ‚höchste Schöne‘ aufgefasst wird“.84 An den fünf untersuchten Landschaftsdarstellungen lassen sich skizzenhaft Phasen der zeitgenössischen Debatte über das Erhabene ausmachen. Die beiden ersten Landschaftsdarstellungen stehen stärker unter dem Einfluss von Burkes Konzeption des Erhabenen als die folgenden, welche die Dimension des Schreckli-

80 81

82 83

84

Schiller, Friedrich, Über Bürgers Gedichte. NA Bd. 22, S. 245. I. J. Pyra, Über das Erhabene (um 1737). Hg. v. Carsten Zelle. Frankfurt/M. 1991, unterscheidet, gegen Gottsched gerichtet, das Bewunderung erregende Prächtige, das in Erstaunen versetzende Grosse und das Schrecken erweckende Pathetische. Viëtor 1937, S. 252. Vgl. Kants Bestimmung im zweiten Buch der „Kritik der Urteilskraft“: „[…] indem das Gemüt von dem Gegenstande nicht bloss angezogen, sondern wechselweise auch immer wieder abgestossen wird, das Wohlgefallen am Erhabenen nicht sowohl positive Lust als vielmehr Bewunderung oder Achtung enthält, d. i. negative Lust genannt zu werden verdient“. Kant. Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 8 (Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie). Darmstadt 1983, S. 329. Zelle 1994, Spalte 1373.

170

chen einer seelischen Beruhigung zuführen, der ein eminent therapeutisches Moment innewohnt. Wenn von einem eigenständigen Beitrag Zimmermanns zur Problematik des Erhabenen gesprochen werden könnte, dann wäre es allenfalls jener einer therapeutischen Ausrichtung des Erhabenen. Fluchtpunkt seiner auf den „ganzen“ Menschen gerichteten Naturdarstellungen ist Therapeutik, quasi eine therapeutische Entschrecklichung des Schrecklichen im Erlebnis des Erhabenen, in der sich die für Zimmermann letztlich wichtigste Wirkung des Erhabenen bezeugt. Bei Zimmermann verschwimmen die Bezeichnungen des Angenehmen, Anmutigen, Prächtigen, Schönen, Erhabenen, wobei das Erhabene auf der höchsten Stufe der Reihung steht. Erhaben erscheint auch als Steigerung zu schön, prachtvoll, mild, angenehm oder anmutig, z.B. „Alles Erhabene, alles Schöne; und alles Milde […]“ (IV, 176). Die Übergänge der einzelnen Begriffe sind fliessend: „eine Gegend, in der das Erhabenste und Angenehmste in der Natur, das Herz bey jedem Blicke entzücket, und alle unsere Empfindungen zerschmelzt in Bewunderung, Liebe, und Ruhe“ (IV, 77). Zimmermann modifiziert die Burkesche Konzeption insofern, als „erhaben“ in seinem Sprachgebrauch auf eine seelische Gestimmtheit zielt, die Gesundung, Ganzheit, Seelenruhe verheisst. Herders Formel vom erhabensten Schönen gilt deshalb auch für Zimmermanns Naturverständnis, weil seine literarischen Naturdarstellungen im Zeichen des Erhabenen eine seelische Verfassung schreibend vermitteln wollen, die „Ruhe“ spendet, „das höchste Glück auf Erden“ (IV, 1; IV, 54). Schliesslich werden das Erhabene und Ruhe praktisch synonym,85 und beide gehören konstitutiv zu Zimmermanns Einsamkeitsauffassung. Entscheidend ist bei seinen Landschaftsdarstellungen, dass der Naturkontakt, auch unabhängig vom Objektbezug, niemals eine bloss ästhetische Funktion besitzt, sondern das Emotionspotential des angenehmen Schreckens Zimmermanns Einsamkeitstherapeutik dienstbar gemacht wird, um Gesundung durch realen oder fiktiv-literarischen Naturkontakt zu befördern. Die Bedeutung der Naturschilderungen insgesamt für Zimmermanns Einsamkeitskonzept besteht darin, orts- und zeitunabhängige Wanderungen der Einbildungskraft literarisch anzubieten, die in der Einsamkeit begünstigt werden und die ihre heilsame Vermittlung beim Lesen entfalten können. Die therapeutische Wirkung erfüllt sich dabei nicht in individueller Bewusstseinslage allein, und der therapeutische Fluchtpunkt der Glückseligkeit ist nicht arbiträr z.B. dem Zufall

85

Vgl. etwa III, 239: „Jeder gutgesinnte und herzhafte Versuch zu höherer Tugend, jedes Emporstreben des Geistes, jedes heroische Unternehmen, reisset hin, und rühret. Ein kraftvoller Mönch ist doch auch ein Held. Eine schöne Nonne, voll sanfter Erhabenheit, und süsser aber theuer erkaufter Ruhe der Seele, wirket noch tiefer auf unser Herz, als jeder andre weibliche Engel“ oder III, 317: „Einsam und frey sei also unsere Lage […] wo alles zu stillen und frommen Gefühlen und erhabenem Nachdenken einladet“. In Versuch 1779, S. 20 spricht Zimmermann davon, dass Gottesfurcht und ein Menschenherz bei Offizieren für ihn „etwas sehr Erhabenes“ seien.

171

überlassen, sondern erscheint als „die natürliche Folge einer entsprechenden Lebensführung“,86 wie sie Zimmermann im Einsamkeitswerk variationenreich entfaltet. Carsten Behle87 hat auf umsichtige und überzeugende Weise nachgewiesen, wie die „Entfernung aus dem Rahmen der Gesellschaft“ in Zimmermanns arkadischem Modell keine Vernachlässigung der „geselligen Pflichten des Menschen“88 bedeutet. „Gesellige Einsamkeit und einsame Geselligkeit“:89 beide zielen auf die Vermeidung extremer Haltungen. Zimmermann, wie Gessner auch, verlegen „den Ort intimer Interpenetration aus den Kreisen höfischer Geselligkeit in den handlungsentlasteten Rahmen kleingesellschaftlicher Intimität“,90 wodurch Geschäftigkeit nach bürgerlich adaptiertem Muster höfischer Geselligkeit, komplementär einen harmonisierenden Ausgleich findet.

86 87

88 89 90

Mauser, Wolfram, Glückseligkeit und Melancholie. Zur Anthropologie der Frühaufklärung, in: Mauser 2000, S. 215. Behle, Carsten, „Ihr lebt alle in Arcadien wenn ihr wollt.“ Johann Georg Zimmermanns Einsamkeit und das „arkadische Modell“ in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, in: Behle 2002, S. 191–275. Ebd., S. 191. Ebd., S. 234ff. Ebd., S. 272. Behle führt S. 200 zu Zimmermanns Einsamkeitsauffassung aus: „Dieser Ort jenseits des gesellschaftlichen Getriebes eröffnete eine Möglichkeit, im vertrauten Umgang mit Gott, mit den schriftlichen Zeugnissen vergangener Jahrhunderte oder mit einem durch gegenseitige Sympathie geprägten kleinen Kreis von Familie und Freundschaft eine Seite der menschlichen Natur zu erfahren, die im gesellschaftlichen Umgang zu selten aufschien“.

172

7

Einsamkeitsbildung durch „Geschichte“

„Unsers achtzehnten Jahrhunderts letztes Viertel ist merkwürdiger als alle Jahrhunderte vor und nach Christi Geburt […]“. Über die Einsamkeit. Vierter Theil. Leipzig, bey Weidmanns Erben und Reich. 1785, S. 268.

7.1 Einleitung Im Zeitalter der Aufklärung, die „alles andere als eine ahistorische Bewegung“1 war, verstärkte sich zunehmend „im gebildeten Publikum die Vorstellung vom moralischen und politischen, vom aufklärenden Nutzen historischen Wissens“.2 In den Statuten der Helvetischen Gesellschaft heisst es etwa: „Die Geschichtskunde wird billig als eines der vornehmsten Mittel angesehen, die Tugend der Bürger und die Glückseligkeit der Staaten zu befördern“,3 und Schiller stellt für das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts einen immer stärker verbreiteten Geschmack an historischen Schriften fest.4 Im Werk Über die Einsamkeit, das auch vorgibt, Kirchengeschichte zu schreiben, spielt „Geschichte“ eine zentrale Rolle. Unterschiedlichste historische Episoden auch anekdotischer Art, die mit der Einsamkeitsthematik in Verbindung stehen, machen einen grossen Teil des Werks aus. In Goethes Rezension zu J. von Sonnenfels’ Über die Liebe des Vaterlandes in den „Frankfurter gelehrten Anzeigen“ ist schon 1771 die Rede von feiner Würzung durch „historische Bonmots und Chronikmährchen à la Zimmermann und Abbt“.5 Ein anderer Rezensent urteilt im September 1784: „Ein Werk, das so viele grosse Resultate aus der Geschichte liefert, verdient in der Litteratur der Geschichte einen vorzüglichen Rang. Die Kirchengeschichte hat noch keinen Arzt gehabt, der sie mit Zimmermanns Geist studiert […] hätte“.6 Zimmermann selbst rät einer nervenkranken Frau auf dem Land, sich oft mit griechischer und römischer Geschichte zu beschäftigen. Nach drei Monaten schreibt sie ihm: „welchen Respect haben Sie mir 1 2

3 4 5 6

Möller, Horst, Herkunft und Zukunft: Aufklärung der Geschichte, in: H. M., Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1986, S. 144. Vierhaus, Rudolf, Historisches Interesse im 18. Jahrhundert, in: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert. Hg. v. H. E. Bödeker u.a. Göttingen 1986, S. 267. Zit. bei P. Stadler, Die historische Forschung in der Schweiz im 18. Jahrhundert, in: Hist. Forschung im 18. Jhd. Hg. v. K. Hammer u.a. Bonn 1976, S. 304. F. Schillers sämtliche Werke. Säkularausgabe. Hist. Schriften, Erster Teil, Stuttgart o. J., S. 106. WA I, 37, S. 271. Historische Litteratur für das Jahr 1784, September, S. 202.

173

für das Alterthum eingeflösset; was ist das Mückenvolk aus unserer Welt, gegen jene Männer! Sonst war die Geschichte nicht meine liebste Lectüre; nun lebe ich ganz in der Geschichte“ (III, 471). Der Leser sollte ihrem Beispiel folgen. Eine beträchtliche Masse an Quellen ist ins Einsamkeitswerk eingegangen. Zimmermann verweist immer wieder, mit und ohne genauen Nachweis, auf seine deutschen, französischen und vor allem englischen Gewährsleute, die er offensichtlich eingehend studiert hat. Am Anfang des dritten Teils gibt der Kirchenhistoriker Zimmermann Auskunft über seine Patristik-Lektüren im Zusammenhang mit der seit seiner Kindheit7 für ihn bedeutungsvollen Einsamkeits-Thematik: „Um diese schöne Materie in ihren ersten Quellen zu studiren, wagte ich mich damals in die Kirchengeschichte. Ich las auch einige Kirchenväter und viele Lebensgeschichten der Heiligen.“ (III, 11). Zimmermann hat „die grössten Kirchenschriftsteller“ (II, 450), wie Fleury, Cave, Mosheim, Stillingfleet und Jortin, neben Hissmann, Spalding (II, 494; IV, 367) und Sonnenfels (III, 509) gelesen. Er zitiert zudem z.B. Spittlers Grundriss der Geschichte der christlichen Kirche (vgl. II, 73; II, 362), Tillemonts Denkwürdigkeiten der Kirchengeschichte, aber auch „unsern Möser in Osnabrück“, der als Unsterblicher bezeichnet wird (III, 347). Mit grossem Lob werden Robertson, Gibbon,8 Leisewitz und Meiners (III, 511)9 bedacht, wobei es sich im Falle von Leisewitz um eine persönliche Hommage an den Freund handelt, der zwar dreissig Jahre lang an einer Geschichte des Dreissigjährigen Krieges arbeitete, sie jedoch nie publizierte.10 Geschichtserzählungen, in der Belehrung und Unterhaltung zusammen wirken und die anekdotengewürzte Lebensbilder historischer Persönlichkeiten bieten, finden sich ausgesprochen häufig. Auch darin steht Zimmermann unter dem Einfluss Bodmers, der durch literarische Erzählung eine moralisch-didaktische Zielsetzung verfolgt, indem er Geschichte poetisiert,11 auch im Falle des Eremiten Klaus von Flüe (IV, 408ff.). Das Schicksal des in französischen Diensten stehenden Generals Nazar von Reding aus Schwyz erzählt Zimmermann anschaulich und spannend in 7 8

9

10 11

I, 387: Obereits Vorwand, Zimmermann schreibe über Einsiedler und Mönche ohne Sachkenntnis, hält er entgegen, dass er „seit fünf und zwanzig Jahren mit diesen Dingen umgehe“. I, 331. „Herr Gibbon, ein grosser Engländischer Geschichtsschreiber und nach meinen Gefühle unter allen itzigen Schriftstellern in Europa das grösste Muster für Styl und Sprache und Geschmack“. Auch Unterredungen 1788, S. 46/47: „König. Hume und Robertson sind Geschichtsschreiber vom ersten Range. Ich schätze beyde sehr hoch. Ich. Gibbon uebertrift sie vielleicht beyde. Alle Würde und jeder Reitz des historischen Styls, sind in Gibbon vereinigt. Seine Perioden haben einen entzückenden Wohlklang, und alle seine Gedanken haben Nerv und Kraft. König. Was hat Gibbon geschrieben? Ich erzählte nunmehr den Hauptinhalt von Gibbons Werke über die Abnahme und den Sturz des Römischen Reiches“. Vgl. Unterredungen 1788, S. 48: „König. Ich kenne Meiners. Er hat ein gutes Buch über die Schweitz geschrieben. Ich. Ein sehr gutes Buch, und mit wahrer Liebe für die Schweitz geschrieben; wofür man aber auch, aus allen dreyzehn Cantonen, nach Meiners Kopfe mit Steinen warf“. Zu Leisewitz vgl. Versuch 1779, S. 23 (Anekdote), S. 49 (Leisewitz wird gelobt als Deutschlands künftiger Robertson und Hume). Debrunner 1996, S. 21ff.

174

einem umfangreichen Exkurs (IV, 16ff.). Durch eine für die Schwyzer finanziell unvorteilhafte Änderung der Söldnerbesoldung, die im Dienst der französischen Krone stehen, verbreitet sich allgemeine Empörung. Der Bruch mit Frankreich scheint unvermeidlich. Die Gemahlin des Generals Reding, „das freche Weib“ (IV, 20), das weiterhin in Eigenregie Söldner für die französische Krone anwirbt, verurteilt vor einer viertausendköpfigen Landgemeinde den Söldnerstreik, um die lukrativen Einträge nicht zu verlieren. Reding droht als angeblichem Verräter an alten Schweizer Freiheiten und Privilegien nach seiner Heimkehr aus Versailles der Tod. Es gelingt ihm, vor einer aufgebrachten Volksversammlung das Schlimmste abzuwenden, doch er geht mit der Generalin nach Uri in ein Nonnenkloster ins Exil, später „in eine Felsenhöhle, und lebt da, ein paar Jahre, als Eremit“ (IV, 26), bis er nach Schwyz zurückkehren kann und 1771 sogar zum Landammann gewählt wird. Zimmermanns Geschichtserzählungen scheinen H. White zu bestätigen, der Geschichtsschreibung grundsätzlich als Geschichtserzählung verstanden wissen will, weil auch Klio dichte.12 Zimmermann beansprucht allerdings für sich selbst eine empirische Geschichtsbetrachtung, die nicht auf Meinungen, sondern auf Tatsachenbeobachtung basiert: „[…] da ich meine Ideen nicht wie der Weltüberwinder Obereit aus romanhaften Sätzen, Wahn und Einbildung herhohle, sondern aus der Geschichte“ (I, 366). An anderer Stelle beteuert er: „[…] dies kann ich durch Geschichte und Thatsachen beweisen“ (IV, 16).13 Er will keinen „Roman über die Einsamkeit“ (II, 4) vorlegen. „Träume und Dichtungen und Ideale von lustigen Vögeln in der Thebaischen Wüste“ stünden einem „Heer von Zeugen und Thatsachen“ (II, 174f.) gegenüber. In dieser vermeintlich objektiven Sichtweise wird die „Imitatio Christi“ des Thomas a Kempis als von „müssiger, spielender und ins Romanhafte fallender Empfindung“ (II, 146) beurteilt. Derartige „Tatsachenbeobachtungen“ lassen Zimmermann glauben und glauben machen, er sei seinem Antipoden Obereit weit überlegen: „Aber auch unzähliche aus den ersten Quellen der alten und aus den bewährtesten Schriftstellern der neuern Zeit geschöpfte Thatsachen beweisen eben das, und werden meinen Gegner in dem zweiten Theile dieser Schrift niederschlagen“ (I, 339). Obwohl Zimmermann vorgibt, sich an Tatsachen zu halten, vermischt er mit seiner eklektischen Verfahrensweise Tatsachen und Meinungen; im Umgang mit den Quellen lässt er kein kritisches Bewusstsein erkennen. So präsentiert er z.B. zur Charakterisierung der geistigen Persönlichkeit Obereits unbekannte „Thatsachen, Züge und Anecdoten“ (III, 74). Was Friedrich Nicolai an den historischen 12 13

White, Hayden, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1991. Vgl. I, 360: „Geschichte und Beobachtung“; II, 205 „Einbildungen für Thatsachen hält“; II, 520 „Thatsachen und Erfahrungen“; III, 14: „Mein Fragment ( von 1773) über die Einsamkeit war auf Beobachtungen, Geschichte und Thatsachen gegründet“; IV, 267: „Wie man lacht, wenn […] ein Historicus über die wenigen Facta in Yoricks Reisen erstaunt“.

175

Schriften über Friedrich II. grundsätzlich bemängelt, gilt mutatis mutandis auch für das Einsamkeits-Werk: „Bloss die Quellen machen noch keinen Geschichtsschreiber“.14 Nicolais Kritik fällt allerdings bei Zimmermann auf keinen fruchtbaren Boden. „Was für Begriffe müssen solche Leute von Historie haben?“, fragt dieser empört Reimarus in einem Brief vom April 1788.15 Nicolais Kritik ist beileibe keine Ausnahme. Im Heft F der „Sudelbücher“ notiert Lichtenberg im Zusammenhang einer grossangelegten, aber nicht zustandegekommenen Polemik gegen Zimmermann im Oktober 1778: Des Leibmedicus Zimmermanns Stärke besteht darin zuweilen die Wahrheit in einer Art von Pracht-Prose zu sagen, dass sie wie eine Lüge klingt. Es scheint dieses das Fach vom Erhabenen zu sein, für welches er allein einiges Gefühl hat […] Gott bewahre die Philosophie vor solchen Beobachtern und solchen Geschichtsschreibern.16

Typisch für Zimmermanns Geschichtsauffassung ist die globale Erweiterung einer europazentrierten Perspektive: „Die Welt war universal geworden und universal zu erfassen“.17 Zimmermann liefert – bemerkenswerterweise ohne Nord- und Südamerika – im Einsamkeitswerk in gewissem Sinn einen gegenüber allem lockenden Reiz des exotisch Fremden aufgeschlossenen universalen Reisebericht, der auf das Mönchswesen fokussiert wird und stark anekdotisch gefärbt ist. Der „Blick ins Grosse und Weite“ (II, 81), der sich einen neugierigen, durch die zahlreichen geographischen Kompendien allenfalls vorgebildeten Leser wünscht, bietet „griechische, egyptische, indische, chinesische, japanische, siamesische und malabarische Pröbchen“ (II, 138) an und versucht, die asiatische Seele zu erfassen (I, 370ff.). Wie in den verschiedenen Auflagen des Werks Über den Nationalstolz finden sich Ansätze zu einer Typologie der Völkermentalitäten. Zimmermann verweist in diesem Zusammenhang, ungenau zitierend, auf die „einst so berühmten Briefe sur les Anglois, sur les Francais, et sur les Voyages“ (IV, 389) von Muralt. Fällt ein Franzose in Ungnade, ist er gesellschaftlich erledigt im Gegensatz zu einem Engländer (IV, 147/48), der allerdings, von Melancholie befallen, Selbst-

14

15

16 17

Nicolai, Friedrich, Freymüthige Anmerkungen über des Herrn Ritters von Zimmermann Fragmente über Friedrich den Grossen von einigen brandenburgischen Patrioten, 2 Abteilungen, Berlin, Stettin 1791/92, S. 3. Vgl. Horst Möller, Aufklärung in Preussen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai. Berlin 1974, S. 361ff. MarkGeorg Dehrmann, Dehrmann 2002, S. 95, führt stellvertretend ein weiteres Beispiel an, und zwar zu Zimmermanns tendenziösem Quellenumgang mit Benoît de Maillets (1659–1738) „Description de l’Egypte, contenant plusieurs remarques curieuses sur la geographie ancienne et moderne de ce pais“. La Haye 1740. Brief vom 22. 4. 1788. SuUB Hamburg. Hss-Abt. NRS: Br. Z 3. Ein nicht genannter „practischer Patriot“ hatte ihn in diesem Brief „als ein Scheusal behandelt, und (ihn) die Verachtung aller Menschen aus allen Weltgegenden, allgemeine Schande, Mord, Tod und Vernichtung an(ge)kündigt“. Die Kritik richtet sich gegen die „Unterredungen“ von 1788. Lichtenberg, Georg Christoph, Schriften und Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. Erster Band: Sudelbücher I. 1. Auflage München 1968 (3. Auflage 1994), S. 623. Ulrich Im Hof, Das Europa der Aufklärung. München 1993, S. 204.

176

mord begehe, während ein melancholischer Franzose Karthäuser werde (II, 176).18 Das „köstliche Nichtsthun der Italiener“ (IV, 42), deren Bibliothekare häufig Esel seien,19 bedeutet für den englischen „Reisebeschreiber“ (IV, 42) Moore, den Zimmermann zustimmend zitiert, dass sie die grössten Faulenzer der Welt seien. Indem sie auf ihren Feldern spatziren, oder ausgestreckt im Schatten liegen, geniessen sie die Heiterkeit und frohe Wärme ihres Himmels, mit einer ihnen ganz eigenen Seelenschwelgerey. Sie rennen nie in die frechen Ausschweifungen der Britten, nie zeige sich bey ihnen das lebhafte und lustige Wesen der Franzosen, oder das unüberwindliche Phlegma der Deutschen (IV, 42).

Dass die landschaftlichen Schönheiten der Schweiz jedem internationalen Vergleich gewachsen sind, geben sogar die Engländer zu, „die, im Grunde, noch unendlich mehr Nationalstolz haben, als die Deutschen“ (IV, 62/63). Das Sozialprestige des Mönchstandes ist in Spanien und Portugal hoch, „und in dem Mongolischen Reiche hält es ein Vater für eine Ehre, wenn ein Heiliger bey seiner Tochter schläft“ (I, 127). Vermessen erscheint hingegen „eine Anzahl Sprudelgeister […], die vor einigen Jahren sich über alle Bande des Universums hinwegsetzten“ (II, 8), weil diese Stürmer und Dränger der 1770er Jahre der Illusion verfielen, sie herrschten „von Winterthur bis nach Astrakan über alles Volk, wie über Hunde und gemein Vieh“ (II, 9). Was heisst „Geschichte“ in der Einsamkeitsschrift? Worin liegen Sinn und Funktion von „Geschichte“ für Zimmermanns eigene Einsamkeitsauffassung, die beansprucht, originell zu sein, angesichts einer von ihm viel beschworenen Totalisierung abendländischer Tradition?

7.2 Historische Erfahrung Im zehnten Kapitel des dritten Teils kommt Zimmermann am Ende eines längeren Exkurses über das „Lob des Buches“ (III, 366ff.) nach Alexander dem Grossen, Brutus, Cicero, Plinius, Petrarca u.a. auf Pitt den Älteren (1708–1778) zu sprechen. Dieser Gegenspieler Walpoles, der im Siebenjährigen Krieg an der Seite Preussens gegen Frankreich die Weltmachtstellung Grossbritanniens massgeblich mitbegründete, war ein äusserst pflichtbewusster Soldat, der sich aber nach Dienstschluss in die Einsamkeit zurückgezogen und „beständig die grössten Schriftsteller der Griechen und Römer“ (III, 372) gelesen habe. Zimmermann zieht daraus die Folgerung: 18

19

In den Unterredungen 1788, S. 104f. kommen Engländer und Franzosen bei Friedrich II. wie bei Zimmermann schlecht weg: „Die Franzosen sind nur aus Temperament lüderlich, aber die Engländer sind lüderlich aus Grundsätzen“. Versuch 1779, S. 53. Vgl. I, 355: „Darum sagen die Italiener, das köstliche Nichtsthun (il delicioso far niente) sey die Erste Glückseligkeit in einem heissen Lande“.

177

Solche Männer giebts nicht mehr, wird man sagen. Mir deucht, das solle man nicht sagen, und nicht denken. Alles Grosse und Gute gedeyet zu seiner Zeit. War Pitt der Vater, kleiner als irgend ein Römer? Wird sein Sohn, der als ein Knabe im Englischen Parlamente zuerst wie Demosthenes donnerte, dann wie Pericles die Herzen lenkte, und nun, in seinem fünf und zwanzigsten Jahre, als Englands erster Minister sich ehrwürdig und furchtbar macht, in irgend einer Lage jemals kleiner denken und handeln als sein Vater? Was die Menschen einmal waren, das können sie immer seyn (III, 373).

Nietzsche hätte in seiner zweiten unzeitgemässen Betrachtung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ in diesem Fall von monumentalischer Historie gesprochen, die annimmt, „dass das Grosse, das einmal da war, jedenfalls einmal m ö g l i c h war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird“,20 denn sie basiert auf der Überzeugung: „Das, was einmal vermochte, den Begriff „Mensch“ weiter auszuspannen und schöner zu erfüllen, das muss auch ewig vorhanden sein, um dies ewig zu vermögen“.21 Für den Menschen, der Zimmermann folgt, eröffnen sich erpriessliche Möglichkeiten, so dass ihm schlechterdings alles möglich werde.22 In Zimmermanns Einsamkeitsschrift lässt sich zunächst eine das gesamte Werk durchziehende Denkform verfolgen, die Geschichte als „Archive der Zeit“ (III, 403) in der „Ewigkeit der Zeiten“23 versteht, die aufbewahren, was seit jeher gegolten hat, gilt und gelten wird, „eine Art Sammelbecken multiplizierter Fremderfahrungen“.24 Den Topos der „historia magistra vitae“ definiert Zimmermann explizit 20 21 22

23 24

Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzini Montinari. III/1. Berlin u. New York 1972, S. 255. Nietzsche Werke 1972, S. 256. Zimmermann versichert in der Schrift „Von der Ruhr unter dem Volke im Jahre 1765“: „denn man kann alles, was Menschen möglich ist, wenn man nur will“. (Ruhr 1767, S. 163). Versuch 1779, S. 53. Vgl. I, 355: „Darum sagen die Italiener, das köstliche Nichtsthun (il delicioso far niente) sey die Erste Glückseligkeit in einem heissen Lande“. Unterredungen 1788, S. 213. Koselleck, Reinhart, Historia magistra vitae, in: Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag. Stuttgart u.a. 1967, S. 196. Vgl. Erf. I, 399: „Folglich bleibt ewig wahr […]“. Ein Beispiel für die Lebendigkeit des Topos’ und dessen kritische Beurteilung durch Friedrich II. findet sich in Unterredungen 1788, S. 50. Zimmermann verschreibt dem König „den zur Honigdicke eingekochten Saft von Löwenzahn“ mit dem begründenden Hinweis: „dessen sich die Griechen und Römer schon bedienten“, während Friedrich II., der über das Heilmittel enttäuscht ist, später anmerkt: „Aber der Löwenzahn, kann die Kraft verlohren haben, die er zur Zeit der Griechen und Römer hatte“ (S. 57). An der Tafel des Staatsministers Herzberg in Berlin glaubt er zugleich im alten Athen zu sein, und nach der Publikation seiner Unterredungen mit dem Preussenkönig (1788) sieht er sich als Leidensgenossen des heiligen Hieronymus: „Ich hatte haarklein, zum Danke für meine patriotische That, das nemliche Schicksal in Hannover, wie mein Freund der hl. Hieronymus in Rom“ (Unterredungen 1788, S. 297). Zimmermann setzt Vinzenz Bernhard von Tscharner einem schweizerischen Thukydides und Tacitus gleich. Weitere Beispiele aus der „Erfahrung in der Arzneykunst“: Nur „jeder schlechte Kopf“ sucht „die Weisheit aller Zeiten in sich selbst“ (Erf. I, 25), anstatt aus dem „Reichthum des Weltweisen“ (Erf. I, 64) zu schöpfen, gibt er zu bedenken, und er zitiert Pope, der gesagt habe, dass alles Vernünftige zu allen Zeiten vernünftig sei (Erf. I, 233). Die überzeitlich handlungsanleitende Funktion der Geschichte als Vermittlerin von Fremderfahrung illustriert z.B. folgende Stelle: „Die Geschichte ist in ihrem vornehmsten Gesichtspunkt eines der wichtigsten

178

in der Erfahrung in der Arzneykunst: „Die Erfahrung aller Jahrhunderte ist unsere beste Lehrmeisterin, weil sie aus dem Munde aller Zeiten und aller Völker in jedem Falle uns das beste lehrt“ (Erf. I, 130). Zimmermann eruiert auch in der Einsamkeitsschrift „für alle Zeiten und alle Völker“ (Erf. I, 234) verbindliche Konstanten, die als naturgesetzlich angesehen werden.25 Geschichte wird zum globalen Untersuchungsgegenstand, der diagnostizierbaren, kausaldeterministischen Mustern gehorcht: „In allen Jahrhunderten erwekten in der moralischen und in der physischen Welt die gleichen Ursachen, bey gleichen Umständen, die gleichen Wirkungen“ (Erf. I, 231).26 Mit Gesetzescharakter haben bestimmte Ursachen unter identischen Umständen dieselbe Wirkung: „Einerley Ursachen darf man doch […] bey einerley Wirkungen vermuthen“ (I, 361). Eine andere Stelle liefert die Begründung: „weil man des Climats ohngeachtet zu Peking einen Chineser mit einem guten Brechmittel so gut brechen machen kann als einen Schweizer, gleichwie man einen Curländer mit einer Kugel todtschiessen kann wie einen Schwaben“ (Erf. I, 86). In diesem zeitübergreifenden Sinn führt Zimmermann im Einleitungskapitel des ersten Teils der Einsamkeitsschrift aus, seine Aufgabe bestehe darin, „über ihren (sc. der Einsamkeit) in allen Zeiten und unter den berühmtesten Völkern gekannten, aber vielleicht nie genug geprüften Wert“ (I, 2) nachzudenken. Die Formel „in allen Zeiten und bey allen Völkern“ kehrt tatsächlich im Werk stereotyp wieder,27 z.B. heisst es: „Schiefheit und Witzwuth, Intoleranz und Neid tobten in allen Zeiten und bey den berühmtesten Völkern am liebsten gegen gute

25

26

27

Hülfsmittel zu Vermehrung unserer Kenntnis der Moral. Wir suchen die Vorwelt aus der Nähe kennen, damit wir unsere Zeitgenossen gründlicher kennen lernen, und in derselben eine Richtschnur für unsere Urtheile und unser eigen Betragen finden“ (Erf. I, 161). Zur Analogie der Geschichtsauffassung Zimmermanns zu jener bei Lorenz von Westenrieder vgl. Wilhelm Haefs, Aufklärung in Altbayern. Leben, Werk und Wirkung Lorenz Westenrieders. Neuried 1998, XIX.: Historische Aufklärung im populären Medium: Der (Baierisch-) Historische Calender (1787–1815), S. 529ff. Ferner Erf. I, S. 161/162: „Da wir unter den Menschen mit denen wir leben nur einen unendlich kleinen Theil der Welt sehen, so bemühen wir uns in der Geschichte zu der Kenntnis der ganzen Welt zu gelangen […] Wir glauben nur das im allgemeinen wahr und dem Menschen eigen, was ihm in allen Zeiten und unter dem Einflusse der verschiedensten Ursachen eigen gewesen“, in einer Anmerkung zu Hallers Abhandlung über das Faulfieber bemerkt er, ohne den unterschiedlichen geographischen Gegebenheiten im Kanton Bern und in Niedersachsen Rechnung zu tragen: „Allein da sich seit unsrer wahren Epidemie (von 1785) […] bis auf diese Stunde die gallichten und fäulenden Fieber niemals ganz aus der Stadt und dem Churfürstenthum Hannover verlohren haben; da diese Fieber vollkommen die nemlichen sind, die der Herr von Haller hier beschreibt; da sie gleiche Zufälle, gleiche Zeichen, gleichen Ausgang haben; da sie vollkommen auf gleiche Art geheilet, und auch zuweilen eben wie in der Schweiz vollkommen gleich mishandlt werden“. Abhandlung über das Faulfieber. Solothurn 1786, S. 3. Sie findet sich vor allem in der „Erfahrung in der Arzneykunst“: Erf. I, 80; I, 83; I, 84; I,90; I, 95; Erf. II, 507 u.a. In Erf. I, 127 versichert Zimmermann: „Aus diesen von der Vergänglichkeit gesicherten Archiven (sc. den Archiven der Arneywissenschaft) fliessen die Göttersprüche, die […] das vergangene erklären, das gegenwärtige beleuchten, und das künftige verkünden“. Die Schriften über den Nationalstolz bezeugen diese Suche nach übernationalen Gültigkeiten.

179

Menschen“ (I, 79, auch II, 482).28 Signalwörter wie „Immer“ und „Jeder“ verweisen auf historisch invariant Gültiges. Die historischen Beispielfälle, Belege und Anekdoten stammen aus allen Epochen. Neben einem Zeitgenossen Zimmermanns, dem Quäker Dr. Fothergill, steht Franz von Assisi (II, 7ff.), neben Plato stellt er den „edeln Mendelssohn, und den liebenswürdigen Garve“ (II, 15), Hieronymus wird mit Lavater verglichen,29 Sokrates und Wieland brauchen von der Philosophie nur „was sie sanftes und bequemes hat […]“ (II, 36), und Theokrit wie Gessner sind dank ihrer Idyllendichtung Wohltäter der Menschheit (IV, 51). Gleiche Imaginations-Mechanismen wirken nach Zimmermann bei der Anbetung der heiligen Mutter Gottes in Einsiedeln und in betenden Anachoreten der ägyptischen Wüste (II, 50). Die Belegreihe liesse sich problemlos fortsetzen. Eine zentrale Funktion von Geschichte besteht für Zimmermann demnach darin, ein „Arsenal“ überzeitlich gültiger Belege für seine Behauptungen bereitzustellen. Geschichte meint bei Zimmermann zudem Geschichtserzählung30 von mustergültigen Leistungen repräsentativer Vorbilder. Deren Taten werden bei dieser Form des exemplarischen Geschichtsbewusstseins zu nachahmungswerten Handlungsregeln und Möglichkeiten des Menschen gemäss einer auch für das Einsamkeitswerk gültigen Stelle der Schrift Vom Nationalstolze: „Beispiele dieser Art glänzen in der Geschichte zu ewigen Mustern für die Nachwelt“.31 So finden sich im zehnten Kapitel des dritten Teils, das die „Vortheile der Einsamkeit für den Geist“ untersucht (III, 237ff.), konkrete Rezepte an die männliche Jugend zur „Bildung eines moralischen Charakters“ (III, 242). Zimmermann spricht den um Selbstvervollkommnung bemühten Jüngling, der „Furcht vor dem seidenen Händedruck schmeichelnd lockender Versuchung“ (III, 238) empfindet, direkt an: Lieber Jüngling, den die listige, gleissende, maulspitzende Weiberwelt noch nicht aus den Vorposten der Zucht getrieben hat, der durch ihren eitelen Müssiggang noch nicht angestecket, durch alle Verfeinerung und Verstellung verbuhlter List noch nicht aller Lust und Kraft beraubet ist etwas Grosses zu beginnen […] Einsamkeit ist deine Welt. Auf deiner Studirstube möchte ich dich festhalten […] Du hast recht, dass du dich herausreissest aus einer Welt, die zu klein ist, um dir grosse Beyspiele zu geben. Männer musst du kennen, Griechen, Römer, Engländer, durch die man Alles um sich her übertreffen lernt (III, 243f.).

28

29

30

31

An anderer Stelle wendet sich Zimmermann gegen Fleischkonsum bei Fieber, weil er sich mit dieser Massnahme einig weiss „mit allen wahren Ärzten aller Zeiten und aller Völker“ (Erf. I, 84). I, 272. „Wer dies (sc. dunkel auf den Verstand und lebhaft auf die Empfindung von Frauen wirken) kann wie Lavater, dessen Herrschaft ist immer gross in der Welt, und das konnte Hieronymus“. Nationalstolz 1789, S. 204: „Grosse Thaten aus der Geschichte in rührenden Schilderungen an die Herzen gedrängt, Leben ruhmwürdiger Männer, wie sie Plutarch und Caspar Hirzel beschreibt, Gessnerische Gedichte voll edler und unsterblicher Natur, sind darum bey der Jugend von erstaunender Wirkung“; auch S. 207: „was müssen nicht aus einer ganzen Nation zusammengehäufte Beyspiele wirken […]“. Nationalstolz 1789, S. 214.

180

Am besten eignen sich Vorbilder, „deren Namen glänzen in der Geschichte Deutschlands, und genannt werden in den Jahrbüchern fremder Völker“ (III, 246). Zimmermann muss allerdings einräumen, dass Rousseau dafür nicht taugt.32 Dass der Mensch von Natur aus gemeinschaftsbildend sei, ist in Zimmermanns Einsamkeitswerk eine überzeitlich gültige Erkenntnis: „Die ganze Geschichte der hochgelobten Einsiedler von Egypten und dem ganzen Orient, bezeuget diese Wahrheit“ (IV, 305), wie beispielsweise auch typisch weibliches Verhalten: „Weib und Dame wollen doch zu jeder Zeit, an jedem Orte, in jedem Alter, immer nach Möglichkeit interessiren“ (IV, 200). Im Kapitel über den „Trieb zur Einsamkeit in den ersten Zeiten der Christlichen Kirche, und überhaupt in warmen Ländern“ gelangt Zimmermann zum Untersuchungsergebnis: „Alle Einsamkeitsschwärmer in allen Religionen sind sich also gleich. Alle machen sich die Einsamkeit lästig, und alle suchen dadurch Seligkeit im Himmel, Vereinbarung mit Gott, und Anbetung auf Erden. Alle drehen sich um einen gemeinschaftlichen Thorheitspunkt“ (I, 352). Um die Beweiskraft seiner Behauptungen zu verstärken, dehnt Zimmermann das Untersuchungsfeld auf aussereuropäische Kulturkreise aus: „Aber auch ein Blick nach China und Siam (sc. Thailand) und Japan zeiget, wie übereinstimmend die Natur unter ähnlichen Umständen überall in ihren Wirkungen ist, und wie gefährlich Einsamkeit überall für die Leidenschaften wird“ (II, 341/342). Der christliche Mönch, der Eremit, der europäische Theosoph und „sein Bruder“ in Hindustan werden in einem Atemzug genannt. Bei den Japanern wie bei „unsern Bettelmönchen“ (I, 136) sei der Trieb zur Einsamkeit nur Vorwand, nicht Zweck, und an anderer Stelle versichert er: „Juden und Christen, Heiden und Türken haben in jenen Ländern auch so viel gemeinschaftliches […]“ (I, 140/141). In dieser Argumentationslinie liegt Zimmermanns Bestreben, die Verflechtungen zwischen Christlichem und Heidnischem (unter Berücksichtigung des asiatischen Raumes) aufzuzeigen.33 So versucht er, das mönchisch-christliche Fasten auf heidnische Ursprünge zurückzuführen (II, 108). Der Ursprung aller Mystik liege, abgesehen von falschem Bibelverständnis, im Neuplatonismus, der „Heiden und Christen unter eine Kapuze bringen wollte“ (II, 139). Die unio mystica sei konfessionsübergreifend der Fluchtpunkt jeglicher Mystik: „Heidnische und christliche Einsame kamen darinn völlig überein, um die Seele von dem Körper zu entbinden und ganz Eins zu werden mit Gott […]“ (II, 133). Ein indischer Bussmönch verzichtet auf alle materiellen Güter ausser einem Tigerfell als Schlafgelegenheit und ein Lin-

32 33

„Er ist kein Muster zur Nachahmung, das gebe ich zu“ (II, 194), was ex negativo die Maxime bestätigt. Z.B. I, 334ff. mit einem Brückenschlag zu Formen des Mönchtums in Indien, Siam (Thailand), China, Korea, Indoustan, Pegu, bei den Singalesen und Tartaren einschliesslich eines Blicks auf Persien. Vgl. I, 338: „So vollkommen stimmt diese Vorstellungsart des Brittischen Weisen (sc. Gibbon) mit meiner Meinung […] überein“. Die Augenzeugen Bernier und Sonnerat dienen ebenso als Kronzeugen.

181

gam.34 Angesichts der kulturübergreifenden Analogien kann Zimmermann zur Erklärung jeweils vertraute europäische Entsprechungen angeben: „Die Religion des Fo ist die herrschende Religion in Ostindien, und das Buch worinn man seine Religionsvorträge nach seinem Tode für alle Völker Asiens zusammenzog, heisst Fokelio […] das Buch, das Buch aller Bücher, die Bibel“ (I, 342). Und was haben Pythagoras, Plato, die Neuplatoniker, die christlichen Mönche, Anachoreten und indische Fakire gemeinsam? Zimmermanns Antwort lautet: „Die zu allen Religionen sich passende Sekte der Mystiker“ (II, 82). Ein Vergleich des Islam mit der römisch-katholischen Kirche gipfelt in der Schlussfolgerung: „So gründete sich Muhammeds Religion und Reich; und so das Reich des Vatikans“ (II, 473). Dass ein Verhältnis zwischen Klima und Einsamkeitsstreben besteht, ist nicht nur für den Mediziner Zimmermann ausgemacht: „Wahrscheinlich wird wol überhaupt kein Gottesgelehrter und kein Philosoph die Einwirkung der physischen Ursachen in den orientalischen Mönchsgeist miskennen, wenn sie auch etwa ein borstiger Schwärmer ableugnet“ (I, 361), deshalb können die „Wirkungen der Egyptischen Luft, des Egyptischen Bodens und Temperaments“ (I, 360) überzeugende Beweiskraft für die Erklärung der Entstehung des Mönchtums beanspruchen.35 Auch für seine Miteidgenossen gilt der Kausalnexus von Klima und Mentalität: „Aber wie der Himmel sich nach einem fürchterlichen Gewitter freundlich aufschliesset, so sind auch die Köpfe und Herzen der Schweitzer, wie ihr Himmel, abwechselnd wild und gütig“ (IV, 16).36 Die ausgebreiteten Einzelbeispiele münden jedenfalls in eine universell postulierte Gesetzmässigkeit, welche für die Problematik des Triebs zur Einsamkeit in „warmen“ Ländern folgendermassen aussieht: „Diese ganze Geschichte des Triebs zur Einsamkeit in warmen Ländern hat etwas Zusammentreffendes bey Heiden und Juden, Muhammedanern und Christen […] Vielleicht lässt sich auch daher der gemeinschaftliche Trieb zur Einsamkeit unter so ganz verschiedenen Religionsverwandten dieser Welttheile erklären und begreifen“ (I, 353). Dieses Geschichtsbewusstsein setzt eine Einheit der Geschichte voraus und hält „an der konstanten Menschennatur als Substrat der geschichtlichen Entwicklung“37 fest. In seiner Konzeption der Konstanteneruierung ist Zimmermann nicht Kant verpflichtet, der unter dem Begriff der akzidentiellen Faktoren in seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ prinzipiell verneint, dass der Charakter der 34 35

36

37

Zimmermann erläutert: „Lingam ist bey den Indianern eben das, was die bey den Egyptern, Israeliten, Moabitern, Madianiten Figur des Phallus und des Priapus“ (I, 348). In der „Erfahrung in der Arzneykunst“ formuliert Zimmermann schablonenhaft: „Eine warme und feuchte Luft hat auf dem ganzen bekannten Erdboden die gleichen Wirkungen“ (Erf. II, 165), Ausnahmen bestätigen nur die Regel. An anderer Stelle wird – widersprüchlich zum Vorhergehenden – behauptet, Medikamente würden unter gleichen Umständen auf gleiche Weise wirken, also unabhängig von den unterschiedlichen Klimaverhältnissen (Erf. I, 85f.). Scholtz, G. , Lemma „Geschichte“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u.a., Bd. 3, Sp. 357.

182

Menschheit „aus der Geschichte, wie sich andere Menschen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern gezeigt haben“, zu ersehen sei.38 Am Schluss des ersten Teils verweist Zimmermann auf die Fortsetzung: „Aber alle diese Betrachtungen über den Trieb zur Einsamkeit in warmen Ländern, führen mich nur etwas den Gränzen dieses Theiles der Naturgeschichte des Menschen näher“ (I, 391). Nicht Geschichte der Natur also, sondern Naturgeschichte des Menschen. Nicht ein Ende der Naturgeschichte39 liegt vor, sondern die Verkündigung der durch Beobachtung eruierten naturgesetzlichen Konstanten.40 Wichtig ist dabei festzuhalten, dass Zimmermanns unermüdlicher exempla-Fleiss ihn zwar dazu bringt, ad infinitum neue Beispiele herbeizuzitieren, die er für überzeitlich gültig hält. Er scheint allerdings nicht zu realisieren, dass seine Konstanten durchaus nach Lokalität und Klima differieren und deshalb relativiert werden müssten. Dieses mangelnde Unterscheidungsvermögen lässt ihn am Postulat überzeitlicher Gültigkeit festhalten, wo konsequenterweise differenziert werden müsste. Hier setzt denn auch Herders Kritik am Einsamkeitswerk an: „Zimmermanns Buch von der Einsamkeit bliebe etwa allein unserm Verfasser (sc. C. F. Duttenhofer, Geschichte der Religionsschwärmereyen in der christlichen Kirche) zur Seite: denn auch in ihm sind die angeführten Begebenheiten gänzlich ihren Boden entpflückt und effleuriret“.41 Doch zu einer differenzierenden Betrachtungsweise, die noch andersgeartete Phänomene berücksichtigte, will oder kann Zimmermann nicht aufbrechen, weil seine Grundabsicht von einem Einsamkeitsverständnis getragen wird, das in der Geschichte Bestätigung sucht.

7.3 Teleologisches Geschichtsbewusstsein Neben der beschriebenen Geschichtskonzeption Zimmermanns einer Eruierung von Konstanten findet sich im Einsamkeitswerk eine Sinnschicht, die nicht Einzelereignis, Summe von Einzelbegebenheiten oder deren Erzählung ist, sondern einem dynamischen Entwicklungsprozess unterliegt, der als Fortschritt aufgefasst wird, indem er von Vergangenheit und Gegenwart einer aufgeklärteren Zukunft ent-

38

39 40

41

Kant, I. , Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Kant. Werke, hg. v. W. Weischedel, Bd. VI, Wiesbaden 1964, S. 687. Für Herder ist die Bedeutung der Lebensumstände von zentraler Bedeutung. Vgl. Lepenies, Wolf, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1976. Vgl. dazu einen Parallelbeleg aus der Erfahrung in der Arzneykunde: „Von der Gottheit begeistert überbrachten diese (sc. die Orakel der Propheten und Apostel) ihre ewigen Wahrheiten der Nachwelt; von der Natur unterrichtet, die so wahr als ihre Ursache so wahr als Gott ist, überwanden jene (sc. die Beobachtungen der wahren Ärzte aller Zeiten) die Zeit“ (Erf. I, 234). Herders Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Zwanzigster Bd. Berlin 1880, S. 279.

183

gegenführt.42 Es handelt sich um eine Geschichtsaufassung, die sich vollzieht „in der teleologisch-geschichtsphilosophisch geprägten politischen Argumentation, die explizit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“43 miteinander verbindet. Vom „Fortgang der Erleuchtung“ (III, 500) ist in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder die Rede, und Zimmermann verkündet zuversichtlich, dass im Provinziellen wie im Globalen Aufklärung obsiegen werde.44 In den „Betrachtungen über die Einsamkeit“ preist Zimmermann jenen, „der ein Vergnügen in den Geschichten findet“.45 Seine intellektuelle Neugierde richtet sich nicht auf die platten Erzählungen von Schlachten und Belagerungen; nicht die Nahmen der Fürsten, die sich selbst zur Vergessenheit verdammet haben; nicht eine spitzfündige Untersuchung kleinfügiger Begebenheiten; nicht der pedantische Fleiss in Dingen, die die Aufmerksamkeit eines Weisen nicht verdienen; nicht die Vorwürfe der mühsamen Erforschungen eines einsamen Benedictiners, oder eines altfränkischen Professors, sind der Gegenstand seiner Wissensbegierde,46

sondern die besondern Schicksale der Völker; die sittlichen Ursachen, Absichten und Hülfsmittel der Begebenheiten; die Anfänge von Knechtschaft und Freyheit; die Blüthe, Reiffe und Abnahme von Künsten und Wissenschaften; die Gesetze, Einrichtungen und Gebräuche glücklicher Nationen; die Quellen von Reichthum und Ueberfluss, die Charactere der Sitten, der Zeiten und Völker, und endlich selbst das Angedenken der Schande unsers Geschlechtes47

seien allein eines denkenden Geistes würdig. Dieses Geschichtsverständnis, der Erbsünde eingedenk, orientiert sich am Grossen und missachtet das nicht wissens42

43 44

45 46 47

Es gilt dabei: „das vergangene erklären, das gegenwärtige beleuchten, und das künftige verkünden“ (Erf. I, 127). Vgl. dazu: Reinhart Koselleck et. al., Lemma Geschichte, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 2, Stuttgart 1975, S. 593ff. Möller 1986, S. 145. Am Schluss des zehnten Kapitels der Ruhr-Schrift von 1767, „Anmerkungen, Beobachtungen, und nähere Aufschlüsse, die Kenntnis und Heilung der meisten Gattungen der Ruhr betreffend“, wird jeglichem – nicht durch die normative Kraft der Empirie verbürgten – medizinischen Aberglauben eine radikale Absage erteilt im Bewusstsein, besseren, d.h. aufgeklärteren Zeiten entgegenzugehen: „Andere grosse Leute, und hochberühmte Herren Doctores, haben ein im Vollmond verfertigtes Pulver, aus einem gewissen gedörrten Gliede der Hirschen, Wallfische, und Stieren, als ein ausnehmend fürtrefliches Specificum wider die Ruhr angepriesen; andere versprechen in epidemischen Ruhren nicht wenig von einer gewaltigen Prügelsuppe; andere von der gedörrten Nachgeburt einer Stute; andere von verbrannten Filzhüten und Schuhsolen. In der Kunkelphilosophie hocherfahrne Practici haben sogar ein Stück Leinwand, in dem Schweisse eines von der Ruhr Sterbenden nass gemacht, mit der schönsten Hoffnung dem Kranken über den Hintern geschlagen. Nun wird in unsern lichtvollen Zeiten freilich kein wahrer Arzt solche Armseligkeiten empfehlen“ (Ruhr 1767, S. 304). Als Leitspruch gilt, „der Welt den Staub der Vorurtheile aus den Augen zu blasen“ (Nationalstolz 1789, S. 162), denn man kann „alles was Menschen möglich ist, wenn man nur will“ (Ruhr 1767, S. 265). Einsamkeit 1756, S. 35. Einsamkeit 1756, S. 37. Betrachtungen 1756, S. 36.

184

werte Kleine, ohne dass es eine Zielgerichtetheit kennte, sondern wird, wie das Vorbild Montesquieu, „der spätesten Nachkommenschaft […] Nutzen und Bewunderung erwecken“.48 Geschichte wird zur überzeitlich gültigen Exempla-Lieferantin zum Nutzen des Einzelnen wie der Völker. „Geschichte“ begegnet 1784/85 hingegen nunmehr als Kollektivsingular. Zimmermann beansprucht, im Gegensatz zu Obereit, nicht „aus romanhaften Sätzen, Wahn und Einbildung“ seine Ideen zu nehmen, „sondern aus der Geschichte“ (I, 366). Die Inspiration der menschlichen Vernunft und der Geschichte stellt er im dritten Teil einander gegenüber: „Ein Inspirierter denkt durchaus von Mystik und Einsiedlerleben ganz etwas anderes, als einer der diess alles nur bey der Fackel der Vernunft und der Geschichte betrachtet“ (III, 103). Die Bewusstseinshaltung, in Zeiten gleichsam progredierender Aufklärung zu leben, durchzieht Zimmermanns gesamtes Œuvre bis an sein Lebensende und gilt auch und gerade für seine Revolutionspublizistik: „Kraft zu allem ist da. Weisheit und Tugend gedeyen, sobald man das will und mag, bey Hofe wie in der grössten Dunkelheit des Privatlebens, im Pallaste wie auf der Dachstube“ (III, 374). Schlecht bestellt sei es jedoch um jeden Jüngling, der den Einflüssen einer unaufgeklärten Umgebung, z.B. in einer Kleinstadt, ausgesetzt werde. Da nützt es leider wenig, wenn er „an der Brust der redlichsten, aufgeklärtesten, und freyesten Menschen aufgewachsen ist, Unterricht und Bildung von den grössten Männern seiner Zeit erhielt, und durch immer fortgesetzte Correspondenz mit aufgeklärten Menschen immer noch erhält“ (III, 271), da er mit der Zeit „niedergeworfen und zerdrücket“ (III, 270) wird. In aufklärerischer Erkenntniszuversicht meint er zu wissen: „Auch in solchen kleinen Städten kommt endlich die Zeit der Aufklärung, da Abderitheit zertreten wird durch Weltverstand und Menschenverstand“ (III, 268f.). Diese Aufklärungswirksamkeit gilt ebenso für seine Wirkungsstätte ab 1768: Unsere izt (sc. 1788) so sehr ausgebildete Welt, hat gar keinen Begriff von unserer ehmaligen Roheit. Hannover ist umgeschaffen, ist neugebohren, ist ganz und gar nicht mehr, was es im Jahre 1772 war. Unsere Denkart war sklavisch, izt ist sie frey, selbstständig, männlich, liberal, und edel, unter gebildeten Menschen von allen Ständen. Jede Art von Unvernunft muss, Gott lob, izt in Hannover im Dunkeln schleichen.49

48 49

Betrachtungen 1756, S. 41. Im Werk Von der Erfahrung in der Arzneykunst wird die Dunkelheit vergangener Jahrhunderte mit der Gegenwart verglichen: „Wir empfangen dankbar das gute des Galenus, der Araber, einiger Ärzte der mittlern Zeiten, die durch die Dunkelheit ihres Jahrhunderts wie entwölkte Sterne an dem Horizont herausbrachen“ (Erf. I, 128). Im „Versuch“ wird unter „XXIV. Fortschritte des gesunden Denkens“ zuversichtlich festgestellt: „Das Licht des gesunden Denkens leuchtet immer weiter. Die Zeit bringt alles in die Richte […] Auch da sagt man itzt die ehrliche Wahrheit laut, wo noch vor wenig Jahren niemand eher reden oder handeln durfte, bis er sich, durch die ängstlichsten Erkundigungen, versichert hielt, niemand dadurch zu misfallen.“ (Versuch 1779, S. 40f.). Der Gesprächsbericht „Über Friedrich den Grossen und meine Unterredungen mit Ihm kurz vor seinem Tode“ (1788) spricht von „der grossen Darstellungskraft unsers Zeitalters“ und vom „hellen Sonnenlichte unserer grossen Aufklärung“ (Unterre-

185

Im Dienst dieses Fortschrittsdenkens stehen die im ganzen Werk verstreuten Gegenwartsbezüge. Zimmermann bewegt sich in den ersten Jahrhunderten der Christenheit, springt jedoch ständig ins späte 18. Jahrhundert. Immer wieder wird die Vergangenheit zum Gradmesser der Gegenwart im Hinblick auf eine aufgeklärtere Zukunft. Auch die ätzende Mönchskritik erklärt sich dadurch, dass das Mönchswesen als eingeschwärzte Negativfolie dient, um auf den erreichten Stand an Aufklärung zu reflektieren. Zu Aufgeklärtheitsmessungen dienen zeitgenössische Publikationen, z.B. Pezzls mönchskritische „Reise durch den Baierschen Kreis“ von 1784 (IV, 463), Sonnerats50 Werk „Voyage aux Indes orientales et a la Chine“ in den Jahren 1774–81 (I, 348) oder die Bezugnahme auf die „Ephemeriden der Menschheit“ seines „verewigten Herzensfreundes“ Iselin, der 1782 gestorben war. Dazu kommt der persönliche Augenschein im Kloster Einsiedeln (II, 48ff.), der Besuch beim Domherrn Weichs in Hildesheim vom August 1784 (IV, 439) oder die Erwähnung eines Autodafé von 1781, als ein Mädchen in Sevilla verbrannt wurde „wegen Verdachts eines Liebeshandels mit dem Teufel“ (II, 508). In einer Stelle des zweiten Teils berichtet Zimmermann von den Vorbereitungen einer Exekution in Bern, denen er als Vierzehnjähriger beiwohnte, ohne sich die Ausführung selber zuzumuten (II, 303). Er erwähnt auch den Brief Papst Pius’ VI. vom 4. April 1782 an den Jesuiten Aloisius Merz in Augsburg, den Besuch Obereits in Leipzig vom Juni 1784, die jährliche Versammlung von Schweizer Offizieren zum Gedenken an die Schlacht von Sempach (1386) im Juli 1784, um nur diese Gegenwartsbezüge zu nennen. Zimmermanns Prognose und Diagnose des Geschichtsprozesses, „Aufklärung dämmert Überall“ (III, 375), steht in Zusammenhang mit der vielzitierten Revolutionsprognostik im Werk Vom Nationalstolze, die nicht eigentlich eine konkrete Prophezeiung des sozialen Geschehens der Französischen Revolution ist, sondern Ausdruck des Bewusstseins, Zeitzeuge eines Epochenumbruchs zu sein: „Doch wir leben in der Dämmerung einer grossen Revolution […] alles ist in der Gährung, alles verkündiget eine Reformation in der Philosophie des gemeinen Lebens“.51 Seine Einschätzung einer sich anbahnenden Revolution ist übrigens auch im Kontext der zitierten Stelle durchaus ambivalent. Er kritisiert zugleich „eine Dreistigkeit im Denken, die oft in eine strafbare Frechheit ausartet“.52 Zimmermann warnt:

50 51

52

dungen 1788, S. 297f.), und in der fünften Auflage des Werks „Über den Nationalstolz“, im Revolutionsjahr 1789 erschienen, meint Zimmermann von „unsern lichtvollen Zeiten“ in diesen „Tagen der Vernunft“ (Nationalstolz 1789, S. 82f.) reden zu können. Sonnerat ist für Zimmermann „ein vortreflicher und ganz neuer Französischer Reisebeschreiber“ (I, 348). Nationalstolz 1789, S. 118ff. In einem Brief an den Ratsherrn Schmid vom 31. Juli 1778 drückt er dieses Bewusstsein aus: „Grössere Revolutionen, als seit Jahrhunderten vorgegangen sind, stehen uns bevor. Aber der Herr im Himmel zerstöret alle Erwartungen der Menschen mit einem Hauch. Darum habe ich Muth“. Rengger 1830, S. 250. Nationalstolz 1789, S. 119. Tissot versteht und billigt, aus intimer Kenntnis des Lebensganges seines Herzensfreundes, dessen antirevolutinäre Haltung: „Il faut se représenter un homme très

186

„Fürchterliche Revolutionen können entstehen, wenn man nur den rechten Augenblick versäumt. Aufschub ist der Tod aller Geschäfte“ (IV, 353). Von ungetrübtem Fortschrittsglauben kann also die Rede nicht sein. Die allgemeine Zielrichtung zunehmender Aufklärung steht für Zimmermann zwar ausser Frage, doch hegt er auch Zweifel am Verlauf und am endgültigen Gelingen des gesamten „Projekts Aufklärung“. Immer wieder sei mit Rückschlägen zu rechnen: „Alles wird langsam reif, die schönsten Früchte fallen wieder ab und vergehen“ (IV, 485).53 Beinahe resigniert stellt er in der Ruhr-Schrift fest: „Alle unvernünftigen Meinungen sind unsterblich“.54 So ist es irrig zu meinen, die Aufklärung habe jegliche Schwärmerei zum Verschwinden gebracht: Allein […] steiget schon von der andern Seite des Horizonts, die Nacht mit allen ihren Gespenstern wieder empor. Mit Schrecken sieht man, dass das Übel so thätig und durchgreifend ist, dass die Schwärmerey immer wirket, und die Vernunft nur spricht (III, 65).

Eine andere Stelle spricht vom Blick auf die dem Aufklärungsprozess inhärenten Wechselfälle, auf die Fortschritte zu so manchem Guten und Schönen, auf die Rückfälle in so manche uralte Thorheit, auf die verdrängte Barbarey, auf den unterjochten Aberglauben, und auf alle Barbarey unter der wir noch schmachten, und auf allen Aberglauben der noch mitten unter uns grünet und gedeyt; auf die Riesenschritte in Wissenschaften und Künsten; auf die Flüge des Geistes der Zeit, und auf seine unbegrenzten Albernheiten (III, 146).

An gewissen Orten sei man um funfzig oder hundert Jahre zurück, […] alles lässt sich nicht umschaffen. Es ist wenigstens klug, wenn mancher, der an einem Hofe die Fackel der Philosophie doch wol bisweilen auf einen Augenblick könnte leuchten lassen, da lieber nur leuchtet wie ein Johanniswürmlein (III, 375).55

53

54 55

fortement, et presqu’uniquement occupé, depuis plusieurs années, d’un fléau tombé sur la terre, dont il a prévu les affreuses conséquences, dont il voit déjà des millions de victimes, et dont les ravages s’étendent avec une rapidité effrayante: qui s’est consacré à en découvrir les sources, à en faire connoitre tous les dangers, à chercher et à indiquer les moyens de les prévenir; qui n’avoit eu jusque-là aucun succès, qui s’étoit fait une foule d’ennemis par son courage à poursuivre, presque seul“ (Tissot 1797, S. 105). Erf. I, 101: „Nun ist die Erfahrung des ältesten und beschäftigtesten Arztes nicht zulänglich, weil die menschliche Erkenntnis sehr langsam wächst, von unmerklichen Anfängen über Stufen an das Licht steigt, die Jahrhunderte sind, und weil ganze Nationen und Weltalter ihre Kräfte verbinden müssen, eh eine Wissenschaft in einigen Theilen vollkommen wird“. Ruhr 1767, S. 134. Vgl. zu Zimmermanns Zuversicht in die kommende Aufklärung die folgenden Belege aus der „Erfahrung in der Arzneykunst“: Die „Barbarey der mittlern Zeiten“ (Erf. II, 91) geht vorüber, und „Zum Glüke für die Wissenschaften ist der Zepter des Aberglaubens mehrentheils zerbrochen, und sein Thron sizt fern von dem Lichte des Jahrhundertes in der Finsternis“ (Erf. I, 197). Es gilt auf der Hut zu sein vor den „Feinden“ der Aufklärung! Nicht dass es dem Zeitalter so ergeht wie den wahren Jüngern des Hippocrates, die das Licht der Natur anbliesen, während ihre Feinde es wieder ausbliesen (Erf. I, 204). Vgl. auch Nationalstolz 1789, S. 145: „Die allgemeinen Irthümer der Nationen, die Vorurtheile und der Wahnwitz aller Weltalter liegen vor einem aufgeklärten Geiste offen; er allein weis, was gut, schön, und wahr ist. Gleich einem

187

Joseph II. avanciert zum Vollender des aufklärerischen Fortschrittglaubens, ja des gesamten Geschichtsprozesses. Der Kaiser und sein Reformwerk sollen die letzten Zweifel verscheuchen, ob die Menschheitsgeschichte tatsächlich aufgeklärteren Zeiten entgegengehen wird oder eben doch nicht. In prophetischem Ton verkündet Zimmermann unisono mit josephinischer Broschürenliteratur und unkritischer Apologeten wie Pezzl:„Kaiser Joseph sprach: es werde Licht und das Licht wird kommen mit der Zeit. Seine ersten Strahlen haben die alte lange Nacht verdrängt“ (IV, 483). In Kontrast zum polemisch behandelten Mönchswesen erscheint das so gelobte, im übrigen zum Zeitpunkt von Zimmermanns Eloge bereits vom Scheitern gezeichnete Reformwerk Josephs II., das als „Kaiser Josephs Reformation“ (IV, 492) von aller angeblich herrschenden Unvernunft reinige, desto heller und aufgeklärter. Das in der Zukunft liegende Ideal allgemeiner Aufgeklärtheit entspricht nicht der spekulativen Idee eines ahistorischen, gereinigten Naturzustandes, sondern wird in der zeitgenössischen Wirklichkeit konkret verankert: Philosophie und Menschheit werden nie ohne Freudenthränen sich erinnern, was im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts zur Rettung von verjährter Seelensklaverey, zur Vertilgung geheiligter Misbräuche, und zur Emporhebung der Vernunft gegen angebetete Volksverführer, in Wien geschah […] Auf einmal durchbrach in Wien, ein Streben nach Wahrheit, ein Geist der prüfenden Vernunft jene alte dicke Nacht welche dort die Gemüther niederhielt, unter der Zuchtruthe elender Kahlköpfe (IV, 488ff.).56

Der josephinische aufgeklärte Absolutismus, der sich in Joseph II. personifiziert, wird allenfalls durch den Preussenkönig Friedrich II., dem Zimmermann kritiklos ergeben ist, überstrahlt. Für die Schweizer Aufklärung manifestiert er „les lumières“ schlechthin,57 für Zimmermann ist er das Vorbild des „einsamen Weltweisen“,58 „le premier homme de Son Siècle!!“.59

56 57

58

Wesen das vom Himmel auf uns herabsähe, schauet er ruhig von der hellen Höhe herab auf die Menschen, die noch in der Dunkelheit wandeln, auf ihre Irthümer und Ausschweifungen, auf die trüben Gewitter in den Thälern der Welt“. Über den medizinischen Unverstand der gegeisselten Practici könnte Zimmermann geradezu verzweifeln, er befürchtet, „das Licht des Jahrhunderts leuchte nicht für diese Herren“ (Ruhr 1767, S. 137), aber selbst akademisch studierte Ärzte seien vor unsachgerechtem Handeln nicht gefeit, so dass er „über den Mangel der philosophischen Fassung der Gedanken in unserm vorzüglich philosophischen Zeitalter“ erstaunen würde, wenn er nicht „mit Augen sähe, wie mancher hochberühmte Arzt von dem Lichte unserer Tage noch keine Nachricht hat“ (Ruhr 1767, S. 486). Als mörderischen Aberwitz bezeichnet Zimmermann eine medizinische Betreuung von Patienten, die nicht methodisch verfährt, und er fordert für diese fahrlässige Behandlung wider besseres Wissen und rationale Erfahrung „eine Strafe zur Besserung, zum Unterricht, und zum Schrecken“ (Ruhr 1767, S. 265). Vgl. III, 67: „In derjenigen Gegend von Deutschland, die sich anizt, mit so grossem Eifer und so glücklichem Fortgang vom Aberglauben purgirt, in Wien“. „Friedrich verkörperte einfach ‚les lumières‘, darin war sich die ganze Schweizer Aufklärung einig“. U. Im Hof, Friedrich II. und die Schweiz, in: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Hg. M. Fontius u. H. Holzhey. Berlin 1996, S. 28. Unterredungen 1788, S. 203.

188

Unter den Prämissen seines teleologischen Geschichtsbewusstseins vollzieht Zimmermann die Selbstinthronisierung seiner Individualität zum souveränen Bezugspunkt, von dem aus die Universalgeschichte selbstherrlich gesichtet wird. Die Beobachtung seiner Person in ihrer individuellen Entwicklung weitet er aus in ein universalgeschichtliches Bezugsfeld, wo er mit subjektiver Willkür waltet und – eklektisch60 – stets nach geeigneten Beispielen von Vorbildern, wie er sie versteht, im Gang der Zeiten sucht. Innerhalb eines providentiell abgesicherten Geschichtsverlaufs laden kontingente Handlungsräume, tastend und vehement zugleich, zu individueller Gestaltung der eigenen Biographie ein. Geschichte als überhistorisches Archiv der Zeiten und Geschichte als universalgeschichtlicher Prozess wird zugleich zu individuell frei verfügbarer Auswahl funktionalisiert, die „freier“ Erkenntnis und individueller Vervollkommnung dient.

7.4 Zu Zimmermanns politischem Standort Im Zusammenhang mit Zimmermanns politischem Standort und seiner FriedrichAdoration61 steht ein Kapitel, das nicht unerwähnt bleiben darf, weil es auch zu Zimmermann gehört: seine Elogen für den Heldentod. „Germana Pubes. occidit, occidit Suis ruens heu! Patria viribus“ beginnt die dritte Strophe von Zimmermanns Ode „Musa Germanorum Reipublicae civili bello dissidenti ominosa“.62 Marcard urteilt 1796: „Wäre er ein Kriegsmann geworden, und hätte nie studiert, er wäre ein Held gewesen“.63 Die von Gegnern viel geschmähte Schilderung seines ersten Besuches am Krankenbett Friedrichs II.64 nimmt Zimmermann zum Anlass, die „den edelsten den grössten Heldenmuth […] und die aufrichtigste Todesverachtung“ verleihende Kraft religiöser Gesinnungen anzupreisen. Sie komme „allein von Gott“ und fliesse „allein aus unserm Vertrauen zu Gott“. In Bürklis dreibändiger Anthologie „Schweitzerische Blumenlese“, in der Zimmermann mit zehn Bei-

59

60 61 62 63

64

Brief an Deluc vom 18. 4. 1788. StAAG NL. A-193-Fasc. 11/5. Vgl. Unterredungen 1788, S. 74: „der grösste Mann des achtzehnten Jahrhunderts“. Unterredungen 1788, S. 38: Zimmermann steht allein vor dem todkranken König, diesem „an der Spitze des achtzehnten Jahrhunderts stehenden Held und König, den Europa so oft gefürchtet und immer bewundert hat“. Vgl. die monumentale Arbeit von Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart 1994. Baldinger berichtet, dass in Zimmermanns Haus ein Bildnis Friedrichs II. hing, „zum Sprechen getroffen“. Baldinger 1796, S. 136. ZZH, FA Hirzel 238, Nr. 22. Marcard 1796, S. 43. Die Vorbereitungen für die Übersiedlung nach Hannover vergleicht Zimmermann „wie in vollem Kriege“. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 8. Juni 1768. ZZH, FA Hirzel 239, 233. Z.B. C. F. Bahrdt: „Ihre horrible Ängstlichkeit (sc. zu Freidrich II. zu gehen), bei welcher Sie sich so treufleissig mit Gebet zu waffnen suchten“. Mit dem Herrn (von) Z […] deutsch gesprochen (1790). Mit einem Nachwort hg. v. Ch. Weiss. St. Ingbert 1994 (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts 199), S. 50.

189

trägen vertreten ist, findet sich im ersten Teil eine „Ode auf den Krieg. Im Frühling 1758“ abgedruckt, unterzeichnet mit „J. G. Zimmermann von Brugg“, die also drei Jahre vor dem Tode fürs Vaterland von Abbt erscheint.65 Diese Schrift, die von Zimmermanns Vom Nationalstolz angeregt worden ist, fordert den Heldentod des Bürgers für das Vaterland als selbstverständliche Pflicht ein. Die ersten Strophen von Zimmermanns Gedicht beklagen das todbringende Geschehen des „Siebenjährigen Krieges“ (1756–63): „O möchten auf dem Schlachtfeld Stygens Nächte, Die Leichenberge unserm Blick entziehn! Noch wütet, Ruhmsucht, deine Höllenflamme, Der Völker Thräne löscht sie nicht!“.66 Das anfängliche Bedauern wird allerdings übertönt durch eine Lobpreisung des militärischen Genies von Friedrich II. und seiner todesbereiten Soldaten: „Sie scheuen nicht den Tod, der mit des Blitzstrahls Geschossen, in zerschmetterndem Getös, In ihre Glieder rund umher sich dränget“.67 Die ganze Ode kulminiert in den siegverheissenden Posaunentönen der letzten Strophe: „Wer stirbt, der stirbt, o Friedrich deiner würdig, Wer lebt, der pflanzet in der Feinde Blut Für dich, und Deutschlands Freyheit deine Fahnen. Die Erde bebt – Der Sieg ist dein!“.68 Diese Ode aus dem Jahre 1758 ist kein Einzelfall, wie man annehmen könnte. Derartig entschiedenes Eintreten für den Heldentod auf dem Schlachtfeld im Dienste des Preussenkönigs begegnet auch an anderen Stellen, wie folgende Belege illustrieren. Der dritte „Versuch“, „Gottesfurcht bey Officieren“, sieht zwischen Christentum und Kriegertum keinen Widerspruch: „Auf die Knie möchte ich fallen, wenn ich alle Merkmale einer heroischen Seele in dem Menschenfreunde sehe, von dem ich weiss, wie oft er noch ein Engel Gottes seyn wird mitten unter Mord und Brand“.69 Zimmermann endet mit der Versicherung, dass nichts liebenswürdiger ist, als Officiere, die sich biegen vor Gott, und mit Fröhlichkeit geblutet haben in den Schlachten. Gesegnet deucht mir jedes Land, in welchem bey Officieren von allen Regimentern Menschlichkeit und Grossmuth gepaart gehen, mit der höchsten Tugend und der Verachtung aller Gefahren.70

In der fünften Auflage Über den Nationalstolz von 1789 drückt Zimmermann die innigste Verehrung für jene Männer aus, „die das Vergnügen des Todes für das Vaterland kannten“.71 Und in den Unterredungen liest man tatsächlich Sätze wie diese: 65

66 67 68 69 70 71

Zu Abbt bemerkt Wolfram Mauser: „Im Bannkreis eines Herrschers, dem man aufklärerische Reformen zutraute, musste es nicht unzeitgemäss erscheinen, das eigene Feld zu bestellen. So gesehen ist die Wende ‚anakreontischer‘ Dichter zu patriotischer Kriegsdichtung (1756) keineswegs überraschend“, in: Wolfram Mauser, Anakreon als Therapie? Zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung, in: Mauser 2000, S. 328. Schweitzerische Blumenlese. Hg. v. J. Bürkli. 1. Teil Zürich & Winterthur 1780, S. 51f. Schweitzerische Blumenlese 1780, 1. Teil, S. 53. Schweitzerische Blumenlese 1780., 1. Teil, S. 54. Versuch 1779, S. 20. Versuch 1779, S. 21. Nationalstolz 1789, S. 207.

190

Die Thaten des Königs und seiner unüberwundenen Heere wusste ich auswendig, seit dem siebenjährigen Kriege! Aber nun sah ich hier (sc. Berlin) den Kern der Preussischen Armee, die Garde des Königs, diese furchtbare Legion von schönen Menschen, die so oft niedergeschossen immer zu neuen und der Ewigkeit würdigen Heldenthaten wieder aufstand und auflebte! Diess alles rührte, bewegte, und erschütterte mich unaussprechlich!.72

Friedrich II. stellt Zimmermann über Cäsar, der „als Gelehrter, als Philosoph, als Schriftsteller, als Staatsmann, als Feldherr, und als Monarch, unter allen Menschen nur den einzigen unnachahmlichen Friedrich über sich hat“ (Erf. II, 578). Zimmermann glaubt fest: Wenn eine vernünftige und redliche Seele sich der aufgehenden Sonne gefällig machen wolle, wenn sie hoffen darf sich Achtung bey einem Thronfolger zu erwerben, so sey diess das untrüglichste Mittel: dass sie mit allen ihren Kräften und Neigungen, mit aller ihrer Redlichkeit und aller ihrer Treu sich dem Monarchen hingebe und aufopfere, der nun einmal noch auf dem Throne sizt.73

In seinem Bericht über die Audienz von 1771 erfährt der Leser, dass Zimmermann in Potsdam eine Militärparade erlebte, „ein eben so grosses Wunder der Welt, als das neue Schloss in Sans Souci ist“.74 Vor seiner Abreise besucht Zimmermann noch einmal das Königsschloss und betet „zu dem Herrn im Himmel für diesen grossen König, für die Verlängerung seiner Jahre, für seine und seines Landes Wohlfarth“ und zerfliesst „fast den ganzen einsamen Hügel in Thränen“.75 Friedrich II. vereint in der hypostasierenden Auffassung Zimmermanns ein zeitlos gültiges „Muster für alle Monarchen“ und zugleich, neben Joseph II., ein anzustrebendes zeitgenössisches Vorbild, dessen wahre Stunde erst noch kommen werde. Zimmermann weiss sich dem aufgeklärten Absolutismus verpflichtet, in Übereinstimmung mit vielen Aufklärern bis zu Goethe. Ohne die grundsätzliche Problematik, Aufklärung und Gegenaufklärung begrifflich zu trennen, zu vertiefen, steht im Falle Zimmermanns fest, dass dieser „als Vermittler von Kontakten und Informationen eine wichtige Schaltstelle im antirevolutionären Kommunikationsnetz“76 gewesen ist, was u.a. auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass er sich an der Gründung der Zeitschrift „Eudämonia“ (1795–1798) beteiligte. In diesem Kontext seien einige Bermerkungen zu Zimmermanns immer wieder behaupteter Entwicklung seiner politischen Position angeführt: vom Demokrat und Rousseau-Enthu72 73 74

75 76

Unterredungen 1788, S. 278. Unterredungen 1788, S. 231. Schreiben 1773, S. 6. S. 15 berichtet Zimmermann, wie der General de Rossières ihm alle Generale der Infanterie und der Kavallerie vorstellte, „und in Gesellschaft aller dieser Helden, sahe ich mit äusserster Entzückung alle Bataillons drei Schritte vor mir in einer Staatsuniform vorbei marschieren“. Schreiben 1773, S. 16. Weiss 1997, S. 389. Vgl. auch S. 368: Zimmermann sei „als unermüdlicher Sammler von Informationen und als Vermittler zwischen den einzelnen antirevolutionären Publizisten eine der zentralen Gestalten auf seiten des gegen die Spätaufklärung in Deutschland und die Revolution in Frankreich agitierenden Lagers“.

191

siast zum Reaktionär und Renegat der Aufklärung. Sigrid Habersaat benennt in ihrer Monographie „Verteidigung der Aufklärung. Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten“ vier Aspekte, die in Rechnung zu stellen seien: 1. Der Einfluss Hallers; 2. Die Kontroverse zwischen Nicolai und Lavater; 3. Seine Tätigkeit als Leibarzt des Königs von England in der konservativen Residenzstadt Hannover ab 1768; 4. Sein ehrgeiziger und eitler Charakter als sozialer Aufsteiger.77 Gewiss haben alle diese Aspekte in gegenseitiger Resonanzverstärkung eine letzlich unwägbare Rolle gespielt. Mit Emil Ermatinger lässt sich zunächst behaupten, dass Zimmermann „schon durch seine Geburt in eine schiefe Lage geraten“ sei: „Er war bernischer Untertan und gehörte doch dem Patriziat des Städtchens an“.78 Die mächtigen Triebfedern seines Handelns, sein ungebändigter Ehrgeiz und sein „Minderwertigkeitstrauma“79 mussten unbefriedigt bleiben. Für eine Stelle als einer der sieben beamteten Berner Stadtärzte kam er als Nicht-Burger von vornherein nicht in Frage. Er empfindet diese Zurücksetzung als diskriminierend.80 Sein Patientenkreis bleibt in Bern und Brugg im wesentlichen auf Angehörige seiner Schicht begrenzt, nur in Ausnahmefällen behandelt er Bauern oder Angehörige der regimentsfähigen Familien. Diese soziale Schieflage beeinflusst Zimmermanns politische Überzeugungen nachhaltig. Stets schwebt ihm eine modifizierte Ständegesellschaft im Sinne des aufgeklärten Absolutismus vor. Seine Verbundenheit mit der Schweiz, die vor allem im Alter oft eine tränenfeuchte Sentimentalität aufkommen lässt, ändert nichts an seiner Präferenz für den aufgeklärten Absolutismus preussischer und josephinischer Ausprägung. Gegen Ende seines Lebens ist die Eidgenossenschaft das Land in der Welt, wo er am wenigsten Freunde habe.81 Nach wie vor interessiert ihn aber alles, was den

77 78

79

80

81

Habersaat 1, 2001, S. 156f. Ermatinger, Emil, Dichtung und Geistesleben der deutschen Schweiz. München 1933, S. 442. Tissot gegenüber äussert er: „je ne suis pas noble, je suis bourgeois“. Eynard 1839, S. 61. Im Brief vom 1. Juli 1753 an Haller spricht Zimmermann von seiner „peché originel“, kein Berner Burger zu sein. Ischer 1905, S. 139. Vgl. S. 13f. und B. Stüssi-Lauterburg, Johann Georg Zimmermann. Die Einsamkeit des konservativen Intellektuellen, in: Familienforschung Schweiz 50 (1996), S. 34. „Zimmermanns Ziel ist eindeutig: wenn schon nicht Magistrat in Bern, dann wenigstens in Brugg. ‚Zwölfer‘ wird er dann auch tatsächlich. Zum ‚conseiller‘, Kleinrat, reicht’s dann aber nicht mehr“. Vgl. auch B. Stüssi-Lauterburg, „Ne quis emineat“ – oder warum es Johann Georg Zimmermann in der alten Republik Bern zu eng wurde, in: Schramm 1998, S. 23. Milch 1937, S. 142. Am Schluss des Briefes an Hirzel vom 29. März 1780 vermerkt Zimmermann kleinlaut: „Gott lohne Dir, und Deinen Kindern, alles was Du mir gewesen bist; und lasse Dein gutes Hertz verstehen warum ich in zwölf Jahren nichts war für Dich“. ZZH, FA Hirzel 240, 19. Entsprechend ausfällig ist seine Polemik gegen Bern, z.B. im Brief an Haller vom 11. Januar 1753: „Ces Bernois qui ne sont que les copies et les singes des autres nations […]“ (Ischer 1905, S. 126) oder im Brief vom 20. Juni 1753: „Je trouve mille raisons de hair ma patrie et de detester Berne“. Ischer 1905, S. 136. Im Brief vom 1. Juli 1753 stellt er fest: „Je ne suis point fait pour Berne et Berne n’est point fait pour moi“. Ischer 1905, S. 139. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 12. Februar 1785. ZZH, FA Hirzel 240, 22.

192

politischen und literarischen Zustand der Schweiz betrifft,82 wie er auch ein treuer und guter Schweizer sein und bleiben möchte.83 Obwohl Zimmermanns Einsamkeitskonzeption stark von Rousseau beeinflusst und ohne ihn nicht denkbar wäre, hält er eine mit Abwehr durchsetzte Distanz zu den politischen Konzepten des citoyen de Genève. An Haller schreibt er beschwichtigend, wie er sich überhaupt auf den jeweiligen Adressaten einrichtet: Je n’ai jamais ajouté la moindre foi à aucun des systemes de Rousseau. J’avoue que plusieurs de ses reflexions particulieres m’ont plu, puisque je les croyai vraies; j’avoue encore que tout ce qu’on m’a raconté du caractère de Rousseau m’a donné de l’enthousiasme pour sa personne, lorsqu’il fut chassé de la France; mais cet enthousiasme a passé peu à peu, et il fut aneanti lorsque j’ai lu sa controverse avec Hume, où il me parut qu’il s’etoit conduit (pour parler honnetement) comme un fou.84

Eine Erklärung der Genese dieser bei allen pendelartigen Ausschlägen nicht wegzudiskutierenden politischen Grundauffassung sollte berücksichtigen, dass nicht eine einmalige, radikale Kehrtwende,85 sondern eine keimartig in seiner Persönlichkeit angelegte, von jugendlichem Enthusiasmus in der Brugger Zeit überdeckte Entfaltung vorliegt, die sich nach 1768 in monarchischer Umgebung zunehmend akzentuiert. Bereits 1767 begrüsst er das Verbot des „Erinnerers“, womit er „bei dieser Gelegenheit klar seine aristokratische Grundhaltung, wie schon im Disput mit den Jünglingen über die Henzi-Affäre“86 bekundet. Seine zunehmende Erkrankung und die Einwirkung der Lebensumstände als Modearzt der Aristokratie im untergehenden Ancien Régime begünstigen zusätzlich seine politische Gesinnung. Eine Aversion gegen den „Pöbel“ hat Zimmermann seit jeher gehegt. Die erste Auflage Von dem Nationalstolze (1758) zeugt von der Hassliebe des „Ausburgers“ gegen die Berner Oligarchie, der doch selber zu den wenig Privilegierten zählen möchte. Haller teilt er mit: „Un homme vertueux, un homme plein de lumière, un homme de tête est inutile dans une Republique à mon avis“.87 Der Patriotismus der „Helvetischen Gesellschaft“ zu Schinznach ist für ihn nicht eine Herzensangelegenheit. So heisst es in einem Brief an Hirzel: „Ich bekümere mich um die Patrioten in Zürich und ihren Beyfall […] so wenig als um die Fische im Zürrisee“.88 Ischer diagnostiziert zutreffend: „Als Bürger eines bernischen Munici82 83 84

85 86 87 88

Brief Zimmermanns an Johann Stapfer vom 8. April 1785. Luginbühl 1890, S. 37. Brief Zimmermanns an Johann Stapfer vom 8. April 1785. Luginbühl 1890, S. 40. Brief an Haller vom 7. Dezember 1767. Ischer 1912, S. 102. In diesem Brief nimmt Zimmermann Iselin, Lavater, J. C. Hirzel und einen nicht namentlich genannten Theologen gegen den Verdacht von Rousseauismus in Schutz. Ischer 1912, S. 104. Auch Sigrid Habersaat, Haberssat 1, 2001, S. 156, stellt fest, „dass seine Abkehr von der Aufklärung die Folge eines längeren Prozesses war“. Volz-Tobler 2000, S. 9. Brief Zimmermanns an Haller vom 16. Januar 1756. Ischer 1908, S. 102. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 20. Februar 1768. ZZH, FA Hirzel 239, 214. Im Brief vom 30. Oktober 1772 fragt er höhnisch: „Dauert die Patriotenseuche in Zürich noch?“. ZZH, FA Hirzel 240, 6. Hirzel gegenüber äussert Zimmermann sein Missfallen über sein „republikanisches Bedürfnis und die daher entstehende Gewohnheit sich jedermann verbindlich machen zu

193

palstädtchens, der Verachtung bewusst, welche die gnädigen Herren gegen die ‚Ausburger‘ hegten, vernahm Zimmermann jene Kunde von den Rechten der Menschen und von der Vorzüglichkeit der Demokratie. Aber diese Ideen wurzelten nicht tief“.89 In einer Rezension für die „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ fliessen die republikanischen Sätze ein: „Ueber die Staatsverfassungen der Schweiz denket Hr. Fäsi zuweilen frey. Dieses ist in jenem vorgeblichen Lande der Freyheit, eine sehr seltene und immer sehr gefährliche Sache, weil man oft in Republicken auch selbst von den gleichgültigsten Sachen nicht sagen darf, was man denkt“.90 Demokratische oder republikanische Staatswesen bedeuten für ihn kein erstrebenswertes Ziel, wie folgende Stelle einer eigentlichen Demokratieverwerfung aus dem Textcorpus des Einsamkeitswerks illustriert: Die Griechischen Philosophen lebten unter Volksherrschaft, oder unter Tyrannen. Beydes ist ein Unglück, aber gewöhnlich wirket ein vielköpfiges Ungeheuer noch viel mehr Böses als ein einköpfiges. Volksherrschaft war immer vermessen und übereilt, schwindlich und unbeständig; immer ward die blinde Menge hintergangen durch listige Betrüger. Jeder demokratische Staat ist darum, seiner innern Natur nach, immer despotisch, wie alle wissen die aus alter und neuer Zeit solche Staaten kennen und ihre Galgen und ihre Märtyrer (I, 389).

Deutlicher wird er im Brief vom 7. Dezember 1767 an Haller: „De tout temps très decidé qu’un gouvernement democratique etoit un gouvernement detestable“.91

7.5 Parallelismus von Onto- und Phylogenese Kants Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, im selben Jahr wie die beiden ersten Teile von Zimmermanns „Einsamkeits-Werk“ erschienen, sieht das Ziel der Geschichte nicht in individueller Bewusstseinslage erreichbar, vielmehr bleibe es dem Gattungswesen vorbehalten:

89

90 91

wollen“, die dazu verleite, „Complimente links und rechts auszutheilen“. Brief vom 29. März 1780. ZZH, FA Hirzel 240, 19. Ischer 1899, S. 251. Ischer bemerkt treffend an anderer Stelle (S. 79f.) zum Verhältnis Zimmermanns zur „Helvetischen Gesellschaft“: „Er mochte freilich in der Gesellschaft von Anfang an mehr die freundschaftliche Vereinigung als die Lösung einer politisch-socialen Aufgabe im Auge haben“ und zitiert aus dem Brief Zimmermanns an Iselin kurz nach der Gründung der Gesellschaft vom 24.Mai 1761, in dem Zimmermann gesteht: „Ich bin, Gott sei gedankt, kein Patriot“. Trotz seiner Rousseaubegeisterung sei seine ganze politische Denkart aristokratisch gewesen, „während zugleich der gekränkte Ehrgeiz in dem verachteten Unterthanen Bern’s einen ungestümen Hass gegen die herrschende Aristokratie erzeugte“, der in Hannover als Leibarzt des Königs von England mit überwiegend aristokratischen Patienten verflogen sei. Vgl. auch Milch 1937, S. 67, der nicht die Ansicht vertritt, dass Zimmermann „den Geist dieser vaterländischen Vereinigung recht eigentlich nicht begreifen konnte“ und die Schinznacher Tagungen nicht als „Quell vaterländischen Empfindens“ von seiten Zimmermanns einschätzt, „sondern als anregende Plauderstunden mit interessanten Männern nach einsamen Monaten in Brugg“. Allgemeine deutsche Bibliothek, 1766, III, 1, S. 266f. Ischer 1912, S. 103.

194

Die Geschichte […] lässt dennoch von sich hoffen: dass, wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im grossen betrachtet, sie einen regelmässigen Gang derselben entdecken könne; und das auf die Art, was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen fällt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende, obgleich langsame Entwicklung der ursprünglichen Anlagen derselben werde erkannt werden können.92

Bei Zimmermann manifestiert sich eine Denkform, die eine säkularisiert verstandene heilsgeschichtliche Zukunftserwartung im Sinne der epochentypischen Phylound Ontogenese individuell beglaubigt. Er verknüpft den dem Werk inhärenten universalgeschichtlichen Teleologie-Rahmen mit individuellem Glückseligkeitsstreben. Im Gegensatz zu Kant wird eine zunehmende Vollkommenheit des Gesamtganzen mit individueller Entwicklung angenommen, die einer auf Empirie beruhenden Analyse der anthropologischen Situation des Menschen in entwicklungsgeschichtlicher Absicht entspringt. Dieses Bestreben kann nicht ohne Zielkonflikte bleiben, indem es Entwicklungsgeschichtlichem sowie überzeitlich gültiger Naturgesetzlichkeit gerecht werden müsste. Dem Durchleuchten und Verstehen seiner „Selbstheit“ (III, 36) antwortet eine universalgeschichtliche Betrachtungsweise mit dem Ziel „weltweiter“ Vermehrung von Glückseligkeit. So erfährt der Leser verstreut Einzelheiten von Zimmermanns Leben,93 von äusserem Geschehen wie von der „geheimen Geschichte“ (IV, 262) seines Kopfes und seines Herzens. Mit einem längeren Exkurs des dritten Teils (III, 1ff.) erzählt er seine eigene Lebensgeschichte kontrastiv zu jener Obereits.94 Schon mit dem Schluss der Widmung an Frau von Döring (I, I–XX) rückt er die Darlegung der Entstehungsbedingungen des Einsamkeits-Werks in eine autobiographische Perspektive. Er bekennt, dass das gesamte Werk um die Offenlegung der „Geschichte meines Herzens, meiner Denkart und meines Lebens“ (I, XX) kreise. Es handelt sich um eine auf ihn selbst zentrierte Weiterentwicklung jenes Verfahrens, das er schon in seinem Jugendwerk Das Leben des Herrn von Haller (1755) versucht. Diese Biographie seines Ersatzvaters zeigt Ansätze zu einer Entwicklungsbiographie.95 Darlegung der individuellen Lebensgeschichte heisst, aufzuzeigen, wie ein Mensch „ward was er ist“ (III, 36). Um Ansätze entwicklungsgeschichtlichen Denkens handelt es sich in der Tat, wenn die verschiedenen Lebensstufen in einen Zusammenhang gebracht werden : „Das wilde Feuer der Jugend ist gedämpft, des Lebens Mittagshitze ist vorbey, und der Abend kommt mit sanfter Ruhe und erfrischender Stille“ (IV, 92

93 94 95

I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: I. K. Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. 9: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, S. 33. Vgl. III, 204 (Bericht über seine Bruchoperation) und III, 449ff.: „Ich war krank […]“ u.a. III, 36 legt dar, dass die Lebensgeschichte Obereits „eine sichere Spur zu Quell und Keim seiner Sinnesart, Selbstheit und Originalität“ sei. In der Jugend ist der Keim von Hallers späterer Entwicklung enthalten gemäss einer Stelle der „Erfahrung in der Arzneykunst“: „Die Samen der erhabensten Talente zeigen sich schon in der Kindheit, sie steigen nach und nach in ihre volle Blüthe, und endlich wachsen sie in die schönsten Früchte aus“ (Erf. I, 155).

195

270). Im zehnten Kapitel des dritten Teils, das die „Vortheile der Einsamkeit für den Geist“ untersucht (III, 237ff.), finden sich konkrete lebensdiätetische Rezepte für die männliche Jugend zur „Bildung eines moralischen Charakters“ (III, 242). Dem Alter misst er besondere Vorzüge zu: „Grosse Glückseligkeit verheisset Einsamkeit uns allen, wenn unser Alter herannahet, und unser Leben verfällt“ (IV, 262). Im vierten Teil (IV, 262–281) entwirft Zimmermann eine eigentliche Altersdiätetik, indem er über die Thematik „Einsamkeit und Alter“ eingehend nachdenkt. Jugend und Erwachsenenalter bleiben dabei im Blickfeld: „Abwechslung von Wünschen, Glauben, Hofnung, und Betrug, gehöret zur Geschichte unsers Eingangs in das Leben. Unsere mittlern Jahre sind das Alter des Trübsinns. Aber nichts erschüttert und befremdet den erfahrnen Mann“ (IV, 263). Der Freiherr von Schrautenbach, Rousseau, Petrarca und Kaiserin Maria Theresia dienen als Muster für anzustrebende Gelassenheit im Alter, die durch „nichts erschüttert und befremdet“ (IV, 263) werden kann. Zimmermanns Einsamkeits-Konzeption ist gekennzeichnet durch ein eigentliches Tatethos, das zielgerichtet auf „Perfektibilität“ hinwirkt. Wie sein Anthropologieverständnis, „von Einzelnen betrieben [...] ihren Sinn und Zweck in Erklärung der Phänomene für alle Menschen“96 hat, steht individuelle Verbesserung stellvertretend für die Steigerung der Menschheit insgesamt. Der Einzelne kann selber entscheidend zu seiner „Vollkommenheit“ und „Glückseligkeit“ (III, 353) beitragen, z.B. durch Lektüre der „Schriften grosser Geister“ (III, 366), durch „Umgang der besten Köpfe und Herzen aller Zeiten und Völker“ (I, 104),97 zu denen sich Zimmermann billig selbst zählt. Geschichte ist ein geeignetes Mittel, anhand von Beispielen vorbildlicher gelebter Einsamkeit aus dem Fundus der Universalgeschichte seinen moralischen Charakter zu bilden. Sein Geschichtsverständnis lässt sich von medizinischen Kategorien leiten. Der Mediziner und der Historiker werden identisch, indem die individuelle Beobachtung universal ausgeweitet und Geschichte als universales Beobachtungsfeld aufgefasst wird. In der Erfahrung in der Arzneykunst gibt Zimmermann folgende Definition von Geschichte: „Die Historie selbst ist nichts anders als eine Sammlung von Beobachtungen in Absicht auf die Kenntnis des Menschen und der Welt“ (I, 159), und eine andere Stelle erklärt apodiktisch: „Was man einmal deutlich beobachtet hat, ist für alle Zeiten und alle Völker beobachtet“.98 Der „menschenmöglichst scharfe und genaue Historiker“99 ist zugleich wahrer Mediziner. Genaue Kenntnis alter Chroni-

96 97

98 99

Dehrmann 2002, S. 87. III, 357: „Es ist immer gut, dass man seine Begriffe an der Hand der Weisen aus jedem Zeitalter erweitert“. In Erf. I, 129 rät er, „von den Verfasssern aller Jahrhunderte den gehörigen Gebrauch“ zu machen. Vgl. Erf. I, 162: „Die Betrachtung der Dinge welche geschehen und vorhanden sind, ist darum eine der besten Übungen in der Kunst die Menschen zu beobachten“. Fragmente über Friedrich den Grossen zur Geschichte seines Lebens, seiner Regierung und seines Charakters. Erster Band, Leipzig 1790, S. 21.

196

ken, Genealogien und Siegel ist zwar nützlich, blosse Faktenanhäufung macht aber noch keinen Geschichtsschreiber „vor den Augen der Beobachter aller Jahrhunderte“ (Erf. II, 499) aus: „Erudition ist nicht Aufklärung, Professoren der Geschichtskunde sind deswegen noch nicht Geschichtschreiber, und äusserst pedantisch genaue Geschichtschreiber sind oft sehr erbärmliche Menschenkenner, und noch erbärmlichere Philosophen“ (IV, 472).100 Zimmermann hat doppelperspektivisch den Menschen als Einzelwesen wie die Menschheit als Ganzes vor Augen. Diese Sichtweise ist eminent anthropologisch: „Die Konvergenz von Menschenkunde und Selbstdarstellung durch die subjektive Reflexion auf erlebte Menschennatur ist literarische Anthropologie im emphatischen Sinne“.101 Sie ist aber nicht weniger didaktisch angelegt im Hinblick auf eine Erziehung zur Einsamkeit im Sinne Zimmermanns durch Geschichte.

7.6 Geschichte und Einsamkeitstherapeutik Das Einsamkeitswerk von 1784/85 zeigt eine Auffassung von Geschichte, die ein Entwicklungsstadium im „Transformationsprozess in den Grundlagen der Geschichtswissenschaft“102 in der Epoche der deutschen Spätaufklärung mit ihrem charakteristischen „Verzeitlichungsschub“103 darstellt. Der emanzipatorische Impetus einer sich disziplinär selbständig organisierenden Geschichtswissenschaft nährt bei Zimmermann die polemische Energie. „Die Gestaltungskraft des alten Topos’, dass die Historie die Lehrmeisterin des Lebens sei“,104 beansprucht nach wie vor Gültigkeit. Das Spannungsverhältnis zwischen Heilsgeschichte und Fortschrittsdenken geht mitten durch das Einsamkeitswerk hindurch. Die spezifischen Spannungen, denen das Werk ausgesetzt ist, reproduziert es, letztlich unreflektiert, als epochale. Ein übergeordneter teleologischer Bezugsrahmen bleibt bestehen, der transparent wird auf ein triadisches Geschichtsmodell, das Heilsgeschichtliches säkularisiert.105 Weltgeschichte bleibt Heilsgeschichte, exemplifiziert an der Heraushebung einzelner Gestalten, die im Archiv der Menschheit auf Nachahmer warten, wie Zimmermann und sein Werk sie sich wünschen. Dass das „Providenzmodell heilsgeschichtlicher Weltordnung 100

Was Zimmermann damit meint, kann an einem Beispiel aus den Unterredungen 1788, S. 19 abgelesen werden. Zimmermann erkennt sogleich, dass er sich mit dem Kammerhusar Schöning gut stellen musste: „Also fasste ich mich auch zusammen, und sagte und that alles was mich Menschenkenntnis und Menschenerfahrung in meinem ganzen Leben gelehret hatten, um izt so gut ich konnte und vermochte, den Herrn Kammerhusar zu studiren und zu gewinnen“. 101 Pfotenhauer 1987, S. 27. 102 Blanke, Horst Walter/Rüsen, Jörn, Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens. Paderborn u.a. 1984 (Historisch-politische Diskurse 1), S. 10. 103 Begemann, Christian, Diskussionsbericht zu IV. Literarische Anthropologie, in:Der ganze Mensch 1994, S. 750. 104 Koselleck 1967, S. 196. 105 Vgl. 9. Heilsgeschichte und Einsamkeit: Zimmermanns Einsamkeitstheologie, S. 233ff.

197

auf die Ebene individueller Glückserwartung übertragen ist“,106 bedeutet nicht, dass die Heilsgeschichte ihre Verbindlichkeit einbüsste. Beide Pole, der universalgeschichtliche der christlichen Heilsbotschaft sowie das Streben nach individueller Glückseligkeit, bleiben spannungsreich aufeinander bezogen im Horizont einer Geschichtskonzeption der Menschheit als „Geschichte ihres Fortschritts“ mit dem Endzweck der „Vervollkommnung und Glückseligkeit“107 des Menschen, wie es auch Zimmermanns Herzensfreund Iselin in seiner „Geschichte der Menschheit“108 sah. Mit und neben dem Topos der historia magistra vitae ist also dem Werk ein Verständnis von Geschichte als Fortschrittsgeschichte des Einzelnen in Einsamkeit sowie des menschlichen Geschlechts als Ganzes eingeschrieben. Zimmermanns historisches Interesse ist letztlich ein anthropologisches, und vielleicht manifestiert seine ambivalente Auffassung von Geschichte deshalb besonders deutlich den „Zwiespalt zwischen empirischer Geschichtswissenschaft und rationaler Geschichtswissenschaft“109 als epochenspezifische Grundspannung zwischen Raionalismus und Empirismus überhaupt, an denen beiden nicht nur Zimmermanns Geschichtsbild partizipiert. Die prognostizierte zunehmende Aufklärung gilt nicht ohne Einschränkungen. Die artikulierte Ungewissheit über den tatsächlichen Verlauf der Geschichte (als Kollektivsingular) erweckt den Anschein, dass durch eifernde Propagierung des aufgeklärten Absolutismus dieses Unbehagen kompensiert und dieser zum Hoffnungsgaranten für onto- wie phylogenetischen Fortschritt und Aufklärung hypostasiert wird. Zimmermann betreibt Kirchengeschichte zwar in heilsgeschichtlichem Rahmen, aber auch nach Gesichtspunkten, die das Werk selbst festlegt. Das eklektische und aphoristische Verfahren, das im Einsamkeitswerk zu Zimmermanns historischer Methode wird, gehorcht dem Diktat eines übergeordneten Interesses. Die Einsamkeitsschrift ist Ausdruck für ein sich veränderndes und verändertes Verhältnis zur Theologie als der traditionellen Leitwissenschaft, die nunmehr in andersgeartete, d.h. einsamkeitsorientierte Problemzusammenhänge gerückt wird. Im Parallelismus von Onto- und Phylogenese manifestiert sich ein Entwicklungsdenken, welches das Individuum als werdendes sieht. Damit wird die Einsamkeitsschrift zum Erziehungsmittel, das aus der Geschichte nach Kriterien schöpft, welche eine Einsamkeitsbildung fördern, die Historisches und Theologisches therapeutisch perspektiviert. Oder anders formuliert: Geschichte, wie Zimmermann sie versteht, steht im Dienst seiner Einsamkeitstherapeutik, die seiner Einsamkeitstheologie verpflichtet ist. 106

Brandstetter, Gabriele, Poetik der Kontingenz. Zu Goethes Wahlverwandtschaften, in: JbSG 39 (1995), S. 133. 107 Möller 1986, S. 179. 108 Iselin, Isaak, Über die Geschichte der Menschheit. Neueste mit dem Leben des Verfassers vermehrte Auflage. o. O. 1791. Vgl. auch: Andreas Urs Sommer, Geschichte als Trost. Isaak Iselins Geschichtsphilosophie. Basel 2002. 109 Ebd., S. 149.

198

8

Heilgeschichte und Einsamkeit: Zimmermanns Einsamkeitstheologie

„[…] Selbst die Religion mit ihrer Allmacht […]“. Über die Einsamkeit. Dritter Theil. Leipzig, bey Weidmanns Erben und Reich. 1785, S. 222.

8.1 Einleitung Das Einsamkeitswerk, von dem Tissot feststellt: „Par-tout il revient à la Religion, des vérités de laquelle il étoit intimement pénetré“,1 ist ein religiöses Buch wie auch ein Buch über Religion. Eine zeitgenössische Rezension stellt, gleichermassen gegen eiskalte Philosophie und „Religionisiren der Tröster von Gewerbe“ gerichtet, abschliessend fest: „Hier aber haben wir die wahre, reine, fixe, concentrirte Kraft der Religion, so wie sie für Sinn und Seele ausgezogen seyn soll“.2 Auf die konstitutive Bedeutung der religiösen Dimension von Zimmermanns Einsamkeitswerk deutet schon Haller im Januar 1757 in seiner Rezension der Betrachtungen über die Einsamkeit (1756) in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen hin: „Hingegen weiset er den Einsamen zur Religion, dem Hauptgeschäfte der Menschen, dessen Nothwendigkeit bis in die Ewigkeit fortgeht, und beständig zunimmt, wenn wir alle andere Arbeiten hinter uns lassen müssen“.3 Es erstaunt, 1

2 3

Tissot 1797, S. 76. Am Schluss eines Briefes an Tissot ruft er emphatisch aus: „Ah mon Dieu, tu seul connois mon coeur –!“. Brief von Zimmermann an Tissot vom 3. Februar 1766. BBB, Msshh XVIII 71. Eynard 1839, S. 196 zitiert die Briefstelle, in der Zimmermann Gott um „Erlösung“ von Hannover anfleht: „Je te supplie, Seigneur, délivre-moi de ce martyre perpétuel, sauve-moi de l’endroit où j’ai tout perdu […]“. Tissot macht er Vorwürfe, ihm Horaz, Petronius, Montaigne und Voltaires Candide zur Lektüre empfohlen zu haben, anstatt die Bibel und Erbauungsbücher (Eynard 1837, S. 193). Herzensfrömmigkeit lässt ihn in einem Brief vom Mai 1793 sagen, nachdem er nicht zum Berner Burger gewählt wurde: „[…] aber das einzige Bürgerrecht, das ich mir noch wünsche, ist das Bürgerrecht im Himmel“. Zimmermann an den Ratsherrn Schmid, Brief vom 18. 5. 1793, in: Rengger 1830, S. 377. Die Inschrift des Grabsteins auf dem Neustädter Friedhof verkündet die Verheissung: „Philipper am Iten Cap. v. 21. Christus ist mein Leben und Sterben mein Gewinn“. Der unterhaltende Arzt. Von D. Johann Clemens Tode. Viertes Bändchen. Kopenhagen und Leipzig 1789, S. 37. Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen, 13. Stück, 29. Januar 1757, S. 120. Was Zimmermann über Hallers religiöse Ansichten in seinem Leben des Herrn von Haller 1755, S. 375 ausführt, gilt auch für ihn: „Nunmehr sind bey ihm die lebhaftesten Empfindungen für die Religion, die aufrichtigste Liebe und rührungsvolle Ehrfurcht für die Lehren der höchsten Weisheit, und die Quelle aller Weisheit GOTT mit der vollkommensten Ueberzeugung verknüpfet […] Wie oft versinket nicht unsere Seele unter Fluthen von Unmuth und Zweifel? Und

199

dass Paul Wernle Zimmermann tiefergehendes religiöses Interesse abspricht: „Zimmermann war immer ein Mensch ohne eigenes religiöses Leben gewesen“.4 In Zimmermanns Werk Über die Einsamkeit finden sich Passagen voll tiefer religiöser Innigkeit,5 die nicht zum Sturm und Drang passen wollen, wohl aber „von dem für den Pietismus so bezeichnenden Zugleich von individualistisch-autonomem Selbstgefühl und kreatürlicher Demut“6 zeugen. Im Rahmen dieses Kapitels soll einsichtig gemacht werden, dass die befremdlich überzogen erscheinende Mönchskritik nicht allein an einer epochentypischen Aversion partizipiert, sondern umfassender und tiefer begründet ist. Zimmermanns propagierte Einsamkeit stellt nämlich ihrerseits eine Form von säkularem Mönchtum dar, das dialektisch auf das altchristliche bezogen bleibt. Mit missionarischem Einsamkeitseifer jedoch beansprucht Zimmermann, mit seinem Einsamkeitsideal die wahre Nachfolge darzustellen. Daraus ergeben sich Abgrenzungsprobleme, die oft genug in unkontrollierte Polemik münden. Bezeichnenderweise wird Zimmermanns religiöse Position im Einsamkeitswerk zunächst in polemischen Abgrenzungen fassbar, vor allem gegen Mönchstheologie, Wunder und Obereit. Das dahinterliegende Positive ist, wie zu zeigen sein wird, seine Einsamkeitstheologie, die einen religionsstiftenden Anspruch erhebt und von grosser Pietismusnähe gekennzeichnet ist.

4 5

6

wie kräftig wird dieselbe durch die Religion allein, aus dem Abgrunde erhoben, wenn wir derselben einen Tempel in unserm eigenen Herze zu bauen bereit sind?“ Wernle 1925, S. 255. Das Briefende vom 27. November 1778 an Deluc z.B. lautet: „Veuille le Ciel, mon bon ami, vous combler de toutes ses benedictions“, oder er schliesst einen langen Brief mit der Bitte: „priès pour moi et je prierai pour vous“. Brief von Zimmermann an Deluc vom 20. 6. 1780. StAAG NL A–193 Fasc 11/4. Im Brief vom 4. Juni 1770, BBB Mss hh XVIII 71, Nr. 90, bittet er Tissot um Unterstützung im Gebet. Zimmermann weiss, dass „auf unserer Wahlfart“ letzlich ein gütiges Geschick herrscht, „auch alsdenn, wenn das Vertrauen auf die Güte Gottes bey Seite gesezt wird, steigt […] mit jedem Unglüke das uns in der Welt aufstösst, die Hofnung dass es besser gehen werde“ (Erf. I, 456). Im Brugger-Tagebuch von 1753 stellt Zimmermann fest: „Das ein Gott seye, bin ich überzeugt“. Tagebuch 1753, Hummel 1975, S. 129. Im Brief vom 13. März 1767 an Hirzel steht unvermittelt mitten im Brieftext: „Glück, Glück, Glück, allen denen die dich berufen, und allen denen du rathest: Glück dir von allen Seiten in Ewigkeit, amen“. ZZH, FAHirzel, 239, 186. Über Hirzels Sulzer-Buch prophezeit er seinem Autor, er werde „in der Ewigkeit, und vor dem Throne Gottes“ sich an seinem Werk erfreuen. Brief vom 9. Januar 1778. ZZH, FA Hirzel 240, 19. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch die fingierten „Gedanken bey einer tiefen Melancholie“ vom November 1748. Dort ist die Rede von den Vorhöfen der Ewigkeit, „beglückte Wohnungen wo jenseits des Grabes und der Zeitlichkeit die Seele mit Inbrunst und gewisserer Hoffnung ihrer Erlösung und Verherrlichung entgegen siehet“. Am Schluss heisst es: „O Gott […] lasse doch deine Gnade vom Himmel über mich kommen. Ich liege vor dir“. Mit Skalpell und Federkiel 1995, S. 24f. Viëtor 1952, S. 249.

200

8.2 Polemische Abgrenzungen 8.2.1 Mönchskritik Zimmermanns Mönchsschelte entspricht einem epochentypischen Lieblingsthema der deutschen Literatur um 1770–1780.7 Als bekanntere Beispiele seien nur Nicolais Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 17818 und Johann Pezzls (1756–1823) Reise durch den Baierschen Kreis9 genannt. Er applaudiert den „berühmten Briefen“ (II, 414), welche die „hochwürdigen Herren Benedictiner in Bayern“ (II, 414) als „armselige Tröpfe und wilde Idioten“ (II, 414) hinstellen würden und zitiert ausführlicher daraus (IV, 439ff. und IV, 463ff.), wobei unkritisch ohne Quellenprüfung kommentiert wird: Die Erziehung der ganzen Bayerischen Nation übergab man zwar vor ganz kurzer Zeit wieder den Mönchen. Weltliche und weltgeistliche Professoren verlohren ihre Ämter; und nun ist, nach einer vielversprechenden Morgenröthe, das Licht des Jahrhunderts für Bayern, wieder ganz in den Händen lichtscheuer Mönche (IV, 463).10

Zimmermann hat von der zeitgenössischen mönchskritischen Literatur wahrscheinlich auch die süddeutschen, von G. M. Franck-Laroche und J. K. Riesbeck verfassten „Briefe über das Mönchswesen von einem catholischen Pfarrer an einen Freund“11 gelesen. Zahlreich sind Zimmermanns polemische Ausfälle gegen das Phänomen des Mönchtums und des Klosterwesens, das er anhand einer Fülle abendländischer

7

8 9 10

11

Vgl. Jäger, Hans-Wolf, Mönchskritik und Klostersatire in der deutschen Spätaufklärung, in: Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland. Hg. v. Harm Klueting in Zusammenarbeit mit Norbert Hinske und Karl Hengst. Hamburg 1993, S. 192–207. In Michael Hissmanns „Briefen über Gegenstände der Philosophie, an Leserinnen und Leser“ von 1778, die Zimmermann sehr schätzt, heisst es z.B., dass einige menschenähnliche Geschöpfe, Philosophen genannt, „in der rauhen Tracht der Schulpedanten, in der Mönchskutte, und den Pfaffenmänteln auf die Katheder“ traten, „gaben vor, die Weltweisheit habe sich nun aus der Sphäre des Lebens in die Sphäre der Katheder versezt; stimmten ein Te Deum an, wenn sie den gemeinen Menschenverstand mit allerley Spitzfindigkeiten barbarischer Kunstwörter verdumpfet, eingeschläfert, besiegt, und erwürgt“. Hissmann 1778, S. 9. 12 Bde. Berlin und Stettin 1783ff. Salzburg und Leipzig 1784. In IV, 464ff. heisst es weiter: „Man verzeihe es mir, dass ich ein kleines Vorurtheil gegen Mönchserziehung habe. Wie können Mönche irgend einem Menschen eine gute Erziehung geben, da sie selbst so übel erzogen sind, und da nichts in der ganzen Welt auch nur an die Roheit grenzet, mit welcher die Bayerischen Herren Benedictiner, also doch unstreitig die gelehrtesten unter allen Bayerischen Mönchen, die Zöglinge ihres Ordens bilden. Wenn man die Sündenbekenntnisse liest, welche die Novitzenbrüder dort, in Kaiser Josephs Zeitalter, ihrem geistlichen Zuchtmeister ablegen müssen, und wie sie dann dieser heilige Mann dafür abkanzelt, so vergisst man wahrlich, dass man am Ende des achtzehnten Jahrhunderts lebt“. Zürich 1771.

201

Beispiele untersucht.12 Im Rahmen der vertieften Beschäftigung mit der Einsamkeitsthematik stösst Zimmermann auf die Patristiker und wird zu einem Kirchenhistoriker, der sich eine ganz individuell geprägte Sichtweise der Dinge vorbehält. Lässt er dabei „in seinem reifsten Lebenswerk seinen schlechtesten Phantasien freien Lauf“, wie Wernle meint?13 Im dritten Teil berichtet er selber: „Um diese schöne Materie (sc. der Einsamkeit) in ihren ersten Quellen zu studiren, wagte ich mich damals in die Kirchengeschichte. Ich las auch einige Kirchenväter und viele Lebensgeschichten der Heiligen“ (III, 11).14 Er verwahrt sich ausdrücklich gegen eine Kritik an der Substanz des Christentums: Aber so sehr auch der Anblick aller dieser Greuel (sc. der Auswüchse der Mönchstheologie) die Seele bewegt, so sehr thäte es mir Leid, wenn man, aus allen diesen Übeln die mit der christlichen Religion in die Welt gekommen sind, irgend etwas zu ihrem Nachtheil schlösse (II, 510).

Einige Beispiele mögen einen Eindruck von Zimmermanns Mönchsscheltevermitteln. Bilanz ziehend, hält er am Ende des zweiten Teils fest, es gebe Verhältnisse und Fälle, in welchen es nicht gut ist, unter wenigen Menschen auf einem kleinen Fleck zu wohnen […] verbannet zu seyn in die Wohnungen der Fledermäuse, oder als Götz gestellt auf eine Säule; oder zu ewiger Langenweile und Melankolie verdammt unter Ungeheuer und Mönche (II, 520).

Da ist beispielsweise „der arme Sonderling“ (I, 197) Antonius, der eine „melankolische Hirnwuth“ (I, 201) besass und „bald einen unglaublich grossen Haufen christlicher Sonderlinge und Abentheurer“ (I, 199) erzeugte, die bisweilen auch „dieses ganze heilige Gesindel“ (I, 229), das „ganze Anachoretenpack“ (II, 365), dieses „heilige Lumpenpack“ (II, 365) genannt werden. Für Zimmermann ist ausgemacht: „Jesus Christus lehrte uns keine Mönchsreligion“ (II, 511), und das Mönchswesen, „einige wenige Fälle ausgenommen“, sei „nichts anderes, als ein Misbrauch der Religion“ (IV, 314). Oft lässt Zimmermann jegliche Differenzierung vermissen. So diagnostiziert er eine Allmacht der Fleischeslust bei Asiaten, „wie bey allen hitzigen und müssigen

12

13

14

Zur Entstehung und Funktion des Asketen- und Mönchtums in der Spätantike und im Frühmittelalter vgl. die grundlegende Monographie von Georg Jenal, Italia ascetica atque monastica. Das Asketen- und Mönchtum in Italien von den Anfängen bis zur Zeit der Langobarden (ca. 150/250–604). 2 Bde. Stuttgart 1995 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 39, I). Wernle 1925, S. 255, wo es weiter heisst: „das ganze Bände ausfüllende Sammelsurium schnurriger Anekdoten, das Wühlen im geilen Schmutz und die besondere Freude, Heilige und Fromme ausschliesslich von ihrer allzumenschlichen, sagen wir: ihrer dreckigen Seite zu zeigen […]“. Vgl. Erf. II, 154: „Aus einer Menge Morgenländischer Schriftsteller, Kirchenväter, und Lebensbeschreibungen von Anachoreten habe ich gelernt […]“; Erf. II, 524: „In sehr vielen von mir durchstudirten Leben der mystischen Heiligen habe ich wahrgenommen […]“.

202

Menschen“ (I, 373), und die Entstehung von Nonnenklöstern erklärt er folgendermassen: Alle Mädchen in der Welt, die Dummheit, Aberglauben und unmenschlicher Wahnwitz in Klöster einsperret, damit sie da die Welt zertreten, der Natur entsagen, ihr Herz tödten, und ihre unschuldigsten und süssesten Gefühle verdammen lassen von einer runzlichten Domina, alle diese armen und frommen Schafe, führen ein solches Marterleben blos wegen einer Grille des grossen Pachomius. Er stiftete das erste Nonnenkloster in Tabenna (I, 211).15

Pauschalisierend wird das entstehende Mönchtum mit theologischer Unduldsamkeit und intolerantem Verfolgungsgeist – „Verfolgung, Marter und Todesstrafe“ (II, 472) – in Verbindung gebracht. In Mönchszellen und einsamen Höhlen habe diese Mönchstheologie grösste Verbreitung gefunden. Alle christlichen Mönche waren seitdem, in allen Jahrhunderten, mit dieser Theologie besessen. Tod und Verwüstung kam durch sie über alle Welttheile. Durch sie rauchte überall die Erde von dem Blute unschuldig abgeschlachteter Millionen von Menschen. Sie machte Dummköpfe, Bluthunde und Tyger aus Nationen die man itzt in Europa für am meisten gesittet hält (II, 472).16

Episch breit entfaltet Zimmermann, wie am Ende des vierten nachchristlichen Jahrhunderts Mönche „die unruhigsten Bewegungen in den Städten erregten“ (II, 355ff.) und sich aus Anachoretenlangeweile, aber politisch fanatisiert, „in alle Welthändel“ (II, 356) mischten. Sein Bild ist voller Feindbildstereotypien. Die als falsche Apostel der Einsamkeit apostrophierten Mönche seien „neidisch, zänkisch, verläumderisch, aufrührisch, grausam, wütend, und endlich selbst den Kaisern gefährlich“ (II, 358). Für besonders mönchscharakteristisch hält er intrigante Machenschaften und unterwürfigen Gehorsam: „Was Mönche nicht selbst thaten, lehrten sie doch Könige und Kaiser; und was der Obermönch in Rom befahl, führten Franciskaner und Dominikaner aus, als seine Henkersknechte“ (II, 501f.).17 Eingehend erzählt er in dieser Absicht die Liebesgeschichte des Sabinianus (I, 315ff.). Zimmermann gewinnt dem Mönchswesen auch positive Seiten ab, und neben den polemischen Ausfällen lobt er bisweilen mönchische Gelehrsamkeit. Die My15

16

17

Nach der Regel des Pachomius wurden Frauen zwar in den Klöstern aufgenommen. Es herrschte aber Klausur, und sie durften die Klosterkirche nur in Abwesenheit der Mönche betreten (I, 208f.). Eine Stelle aus dem zehnten Kapitel der fünften Auflage aus dem Werk über den Nationalstolz bringt sich in Erinnerung, die von einer Religionsauffassung spricht, die „Menschen hart, grimmig, unbarmherzig und grausam“ (Nationalstolz 1789, S. 112) mache: „Sie gab ihnen Schwert und Feuer in die Hand. Sie trieb die Fürsten an, diese Welt in eine Hölle zu verwandeln, und im Namen eines gütigen Gottes die zu martern und zu quälen, die sie lieben und bedauern sollten“. Vgl. Nationalstolz 1789, S. 198 über Unterwürfigkeit, die auf mangelndem Selbstbewusstsein beruht: „[…] wenn sie immer […] kriechen wie vor einem Tyrann, und ebenso kläglich an ihn heraufschauen als ein verzweifelnder Sünder zu seinem Gott, oder ein sündhafter Mönch zu seinem Abbt“.

203

stik wird nicht pauschalisierend abgelehnt, sondern die Bedenklichkeit von Extremhaltungen und (in Zimmermanns Urteil) Missentwicklungen durch eine masslos anmutende Kritik zu zeigen versucht. Einige wenige Beispiele mögen genügen! Die Hasstiraden gegen das Mönchtum korrigiert folgende positivere Einschätzung: Jeder gutgemeinte und herzhafte Versuch zu höherer Tugend, jedes Emporstreben des Geistes, jedes heroische Unternehmen reisset hin, und rühret. Ein edler kraftvoller Mönch ist doch auch ein Held. Eine schöne Nonne, voll sanfter Erhabenheit, und süsser aber theuer erkaufter Ruhe der Seele, wirket noch tiefer auf unser Herz, als jeder andre weibliche Engel. Ach wie oft empfand ich, alle Achtung und alles Wohlwollen, das jeder redliche Mönch verdient, alle Innigkeit der Ehrfurcht, für die Helden in diesem Stande, für ihre ausserordentliche Liebe zu Gott, für ihre Selbstüberwindung, ihr Ausharren, ihre Treu (III, 239f.).18

Nicht ohne Anerkennung legt Zimmermann am Ende des zweiten Teils dar, wie die Benediktiner gemäss dem „ewigen Gesetze“ (II, 413) des ora et labora ihres Gründervaters verödetes Land urbar machten, Moräste austrockneten, Wälder rodeten und sich neben der schweren Handarbeit dem Studieren widmeten, so dass sie gegen schwärmerische Ideen resistent blieben mit dem Ergebnis, dass „nicht nur Wissenschaften sondern auch vorzüglich Künste und Handwerke nirgends so sehr wie in Benedictiner Klöstern blühten“ (II, 413). In IV, 408ff. findet sich ein positiv würdigender Einschub über Bruder Klaus. Die das gesamte Werk als Grundtenor durchziehende Mönchspolemik, die im Vergleich zu einschlägigen französischen Schriften, die „schon in der ersten Jahrhunderthälfte dem geistlichen Thema mit prickelnden Enthüllungs- und Sensationsnovellen zu Leibe“19 rücken, eher moderat ausfällt,20 hat einerseits, wie oben 18

19 20

Zimmermann fährt fort: „Wie oft schien mir doch ein Kloster, in dem ich auch nur einige gute Menschen fand, eine trostvolle Zuflucht in grosser Unruhe des Herzens. Nie verkannte ich, auch in der schauerichsten Mönchswohnung, die Vortheile einer rauhen und heldenmässigen Lebensart zur Beförderung strenger Tugend“ (III, 240). Jäger 1993, S. 192. Gemäss dem Romanisten Hans-Ulrich Seifert (Trier), dem ich für Auskünfte zur Mönchsschelte im französischen Sprachraum danke, hat die französische Mönchspolemik wesentlich schärfer Kritik geübt als Zimmermann, z.B. Diderot im 1796 postum erschienenen Roman „La Religieuse“, der 1797 ins Deutsche übersetzt wurde, abgesehen von den pornographischen Romanen einer (dem Marquis d’Argens zugeschriebenen) „Thérèse philosophe“ oder eines „Portier des Chartreux“, die Zimmermann gekannt haben dürfte, wie auch die einschlägigen Primärtexte: das anonyme Pamphlet „Les Jesuites en belle humeur“ und das mehrfach aufgelegte Werk von Antoine Gavin, „Le Passe-Par-Tout de l’Eglise Romaine ou Histoire des tromperies des prêtres et des moines“. Tomes 1–3. Londres 1727, die in diesem Zusammenhang genannt seien. Zimmermann hatte im Original die beiden bekannten Vertreter des französischen Frühmaterialismus La Mettrie und Holbach gelesen. An weiterführender Literatur nenne ich: Gerhard Schneider, Der Libertin. Zur Geistes- und Sozialgeschichte des Bürgertums im 16. und 17. Jahrhundert. Stuttgart 1970. Auf aktualisierten Forschungsstand gebracht und ins 18. Jahrhundert hinein erweitert wird sein Ansatz in dem Beitrag von Michel Delon, „Débauche, Libertinage“, in Heft 13, S. 7–45, des „Handbuchs politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. Hg. v. Rolf Reichardt u. Hans-Jürgen Lüsebrink. München 1992“, wo weitere Literatur angeführt ist. Vgl. Hans-Ulrich Seifert, J. B. Merciers Übersetzung von Über die Einsamkeit und K. H. Heydenreichs Rückübersetzung. Zur Zimmermann-Rezeption in Frankreich, in: Schramm 1998, S. 214.

204

festgestellt,21 die Funktion, als Negativfolie auf den Grad erreichter Aufklärung zu reflektieren. Als anthropologischer Arzt ist er in einer merkwürdigen Vermischung von Irritation, Polemik und Faszination bestrebt, durch seine zu Extremen neigende charakterliche Veranlagung begünstigt, „l’histoire complette de l’homme“ darzustellen, „celle de ces ordres chez lesquels on trouve les exemples du plus grand courage, de la plus grande résignation, des privations les plus inouies soutenues avec la plus grande sérénité; & des tours de forces moraux & physiques, que l’on a peine à croire quoique très-bien attestés“.22 Zimmermann berichtet (II, 85ff.) vom Versuch der ersten Mönche, „moralische Vollkommenheit“ (II, 85) durch Abstreifung der Physis zu erlangen, mittels Schlafentzug, strikter Enthaltsamkeit, Hungern und harter Arbeit, um zu verhindern, dass sich der Teufel durch fleischliche Begierden bei ihnen einniste, „welches Er aber doch zuweilen that, wie man sehen wird“ (I, 307). Anstelle leibvernachlässigender Heiliger tritt säkularisierend ein bürgerlich anmutendes Tatethos. Andererseits weist Zimmermanns Mönchskritik eine zusätzliche Dimension auf. Sie bleibt mit der christlich-abendländischen Tradition dialektisch verbunden. Da er auf die Eruierung historischer Konstanten aus ist, bedeutet Mönchskritik auch Zeitkritik in historischem Gewand im Namen der menschlichen Vernunft. Die Mönchspolemik richtet sich gegen analoge zeitgenössische Phänomene, die seinem säkularen Mönchtum nicht folgen, allen voran Jakob Hermann Obereit sowie allgemein empirischer Überprüfung nicht standhaltende „Schwärmerey“ unterschiedlichster Provenienz. Zimmermann macht gerade nicht tabula rasa mit dem Phänomen des altchristlichen Mönchtums, indem er es ein für allemal erledigt haben will, sondern in der reibenden Auseinandersetzung mit der monastischen Tradition, vor allem ihren (angeblichen) Entartungsformen, postuliert er sein eigenes Einsamkeitsideal, das ein säkulares Mönchtum verkündet. Seine Abgrenzungspolemik fällt deshalb so heftig aus, weil er zumindest ahnt, ohne es eingestehen zu wollen, dass auch seine Form der Nachfolge die gleichen Gefahren und Gefährdungen aufweist wie das so harsch kritisierte altchristliche Mönchtum, in dem er eine Deklination des wahren Christentums zu erkennen glaubt. Dass er dem altchristlichen Mönchtum positive Seiten abgewinnen kann, zeigt an, dass dieses positive Elemente enthält, die auch in seiner Einsamkeitskonzeption Platz haben. Legitimationsinstanz seines säkularen Mönchtums ist und bleibt seine eigene Individualität. Der Übergang von Kirchengeschichte als Heilsgeschichte zu einer profanen Historiographie in der Art Mosheims, der pragmatische Methode mit Kirchengeschichtsschreibung verbindet, kündigt sich unübersehbar an.

21 22

Vgl. 8. 3. Teleologisches Geschichtsbewusstsein, S. 220ff. Tissot 1797, S. 73. Vgl. Riedel 1994, S. 111, der ein für die deutsche Spätaufklärung insgesamt bezeichnendes neuartiges Interesse erkennt, „in dem menschliche Grenzsituationen und extreme Verhaltensvarianten ausgeleuchtet werden“.

205

8.2.2 Wunderproblematik Die kompromisslose Gegnerschaft, die Zimmermann zur „Wunderexegetik“ (II, 106) und zu Obereit, dem Apologeten der „Weltüberwinder“, an den Tag legt, manifestiert zunächst eine Polemikbereitschaft, die Polemik als Selbstzweck inszeniert. Zimmermanns Attacken richten sich gegen Absolutheitsansprüche, gegen „Teufelsbanner und Alchymisten, Propheten, Zauberer, Sterndeuter, Jongleurs und Schwärmer, Urinbeschauer und Wunderthäter von jeder Art“ (II, 64), gegen „die Thaumaturgen unserer Zeit“ (II, 112), die alle, seiner Einschätzung nach, die menschliche Vernunft desavouieren, weil „jede freye Beobachtung und der bescheidenste Gebrauch der Vernunft“ (II, 2) verunmöglicht werde. Der Kraftapostel der Geniezeit, der Winterthurer Christoph Kaufmann, gehört beispielsweise in diese Kategorie oder der angeblich Wunder wirkende Offizier Feer aus dem Regiment Castellar, der auch Lavaters Interesse findet, Zimmermann hingegen zum Bekenntnis verleitet: „mais les miracles n’ont pas la faculté de m’emouvoir, puisque je n’y crois point“.23 Überleitend zu den ägyptischen Anachoreten und der betäubenden Wirkung des dort herrschenden Klimas auf die Phantasie, berichtet Zimmermann von einem schweizerischen Beispiel: von seinem Besuch im Marienheiligtum des Benediktinerklosters Einsiedeln, das im Kanton Schwyz liegt. Er nimmt dabei, erklärtermassen Wunderskeptiker, ironisch-provokant in Kauf, nach katholischer Auffassung als Ketzer zu gelten (II, 48ff.).24 Wunder werden nämlich „menschlich“ (I, 50), wenn man die täuschenden Phänomene „im Auge der prüfenden Vernunft“ (I, 50) auflöse. Im Zusammenhang mit dem Wunderheiler Gassner, der „praktisch das zu thun schien, was Herr Lavater in Zürich exegetisch verhiess“ (I, 177), erklärt Zimmermann seine dezidierte Ablehnung von dessen „Gauckelkünsten“ (III, 403): „denn an den Teufel, als Ursache irgend einer Krankheit, glaube ich nun freilich eben so wenig, als an die Wegschaffung irgend einer Krankheit, vermittelst dieser Wegschaffung des Teufels“ (I, 177). Genau genommen, lässt diese Textstelle die Frage nach der Existenz des Teufels offen. Auch sein Verhältnis zu Wundern bleibt ambivalent. Den Teufel als Erklärungsursache für Krankheiten zu verwenden, wird abgelehnt, ganz zu schweigen von der Verwerflichkeit exorzistischer Heilpraktiken. Einerseits wendet er sich, in Opposition zu Lavater stehend, entschieden gegen Wunderphänomene und pau23 24

Brief Zimmermanns an Tissot vom 24. 1. 1767. BBB Mss hh XVIII 71, Nr. 43. Dem todkranken Preussenkönig gegenüber äussert er: „Wunder habe ich nie gethan, werde sie nie thun, und glaube an keine als an diejenigen die Euer Majestät im siebenjährigen Kriege thaten“.Unterredungen 1788, S. 61. „Wunder“ in diesem übertragenen Sinn begegnet manchmal, z.B. im Brief an Tissot vom 13. August 1790: „Mais si vous pouvés travailler, reprenés au nom de Dieu votre Traité des nerfs, cet ouvrage immortel, et pensés aux Miracles que produira une occupation pareille […]“ (BBB Mss hh XVIII 71. Nr. 115). Wunder wirken könnte auch Tissot, wenn es ihm gelänge, ihn psychisch wiederherzustellen: „Ah si Vous pouviés me ranimer si Vous pouviés m’exciter au travail, si vous pouviés jetter quelques idées dans ma tete et quelques etincelles de feu dans mon ame […] vous fairiés un miracle“. Brief von Zimmermann an Tissot vom 5. September 1785. BBB Mss hh XVIII 71. Nr. 114.

206

schal gegen die katholische Kirche, aber auch gegen seine Zeitgenossen de Haen,25 Euler, Haller und Bonnet, die sich nicht an Wundern stossen, ja den biblischen Offenbarungs- und Wunderglauben verteidigen. Zimmermann kritisiert die „Wundergierigkeit“ seines Freundes Lavater, ohne dass die innige Verbundenheit beider dadurch bleibenden Schaden nähme.26 Andererseits schliesst er die Möglichkeit von Wundern grundsätzlich nicht aus und befürwortet eine Art Verlust-These. Die ersten Nachfolger der Apostel hätten nämlich ohne Zweifel die Gaben des heiligen Geistes noch besessen, sie seien jedoch später verlorengegangen (II, 101ff.). Lavater hingegen hält gemäss seiner „Wundertheorie“ (II, 105) Wunder unter bestimmten Voraussetzungen nach wie vor für möglich und für den „untrüglichsten Probierstein eines wahren Christen“ (II, 103).27 Von Lavaters Nachruhm ist Zimmermann gleichwohl aufrichtig überzeugt: „dann wird Niemand mehr wissen, dass Lavater, der Schöpfer so mancher neuen Wahrheit und seiner Sprache, an Fortdauer der Wunder und an Gassners Gauckelkünste glaubte“ (III, 402f.). Zimmermanns Wunderkritik richtet sich gegen eine abergläubische Gesinnung: „Wunder mag man glauben, wenn man Wunder sieht. Aber keinen Glauben verdienen jene Hirngeburten einer durch Einsamkeit fliegsam gewordenen phantastischen Einbildungskraft“ (II, 110).28 Letztlich überlässt er das Ereignis von Wundern dem 25

26

27

28

In seiner Spätschrift „De miraculis“ von 1776 verteidigt de Haen Wunder und die kirchliche Lehre von Hexerei und Zauberei. Die neuen Philosophen der Aufklärung nennt er „audax hominum genus, pervicax, hosticum Deo, Religioni infensum, societati inimicum, unice proprii amoris commodique studiosum“. Vgl. Julius Petersen, Hauptmomente in der älteren Geschichte der medicinischen Klinik. Kopenhagen 1890, S. 152. Vgl. 13.3. Zimmermann und Lavater, S. 439ff. Im Juni 1787 schreibt er, halbherzig vermittelnd, nicht ohne Unaufrichtigkeit, dem Lavater-Antipoden Nicolai: „Ihr Streit mit Lavater und Jesuitismus sind allerdings zwey höchst verschiedene Dinge, denn Lavater ist so wenig ein Catholik als Sie und ich. Ich war voriges Jahr ärgerlich auf Sie, mein hochverehrter Freund, weil ich glaubte dass Sie Lavatern für einen Catholiken halten; seitdem sah ich aber, dass Sie diess nicht glauben, und nun bin ich Ihnen wieder gut. Lavaters Wundergierigkeit, und viel anderes an ihm, ist mir nicht weniger zuwieder als Ihnen; aber ich bin im Grunde Lavatern doch gut, so wie Sie Ursache haben es nicht zu seyn“. Brief von Zimmermann an Nicolai vom 16. Juni 1787. Zitiert bei Sigrid Habersaat, Zimmermann und die Berliner Aufklärung: Friedrich Nicolai, in: Schramm 1998, S. 181. Unbeirrt beteuert er, die Freundschaft für Lavater währe „in Ewigkeit“ (Brief von Zimmermann an Sulzer vom 14. 12. 1777. Bodemann 1878, S. 270.) Lavaters wundergläubigem Biblizismus, auf den sein naturwissenschaftlich-christliches System missdeutend von seiner Gegenerschaft festgelegt wird, begegnet er bald ironisch, bald mit unverhohlener Skepsis. „Lavater thut doch Wunder, wie man weiss“ (Versuch 1779, S. 52) lässt Zimmermann Lavaters Antipoden Hottinger zu Wieland in einem fingierten „Gespräch über Physiognomik“ sagen, und in einem Brief vom Dezember 1777 an Sulzer heisst es: „[…] eigentliche Lavatersche Wunder verlache ich wie Sie“. Brief von Zimmermann an Sulzer vom 14. 12. 1777. Bodemann 1878, S. 268. Zu bedenken bleibt allerdings, dass Zimmermann infolge seiner antithetischen Verfahrensweise Lavater einem Schwärmertum zuweist, das der religiösen Position des Sohnes und Bruders eines Arztes nur eingeschränkt gerecht wird. Lavater kennt ein Tribunal der Vernunft durchaus. Angeblich Übernatürliches findet bei Zimmermann eine natürliche Erklärung: „Tausenderley Wunderdinge, Erscheinungen, und Gesichter […] erkläre ich aus dem Hunger dieser heiligen Väter (sc. Anachoreten) aus ihrer gänzlichen Enthaltung von dem Schlafe, aus der Hize (sic) dieser Weltgegenden, und aus den natürlichen Wirkungen der Einsamkeit“ (Erf. II, 298).

207

Walten eines persönlichen Gottes. An den die Orthodoxie bekämpfenden Zürcher Theologen Johann Jakob Zimmermann (1695–1756) – kein blutsmässig Verwandter – gerichtet, fasst er seine Position zusammen: „Wissen kannst du zwar, Herr Professor, eben so wenig als ich, dass Gott heute nicht mehr thun werde was Er gestern that. Aber das weiss ich doch, dass die Wunder der Egyptischen und Orientalischen Mönche und Anachoreten keinen Pfennig werth sind“ (II, 109f.). 8.2.3 Obereit Zimmermanns Verhältnis zu Obereit, der seine Vorbildung in einer Barbierstube erhalten habe (III, 38), lässt eine Polemik verfolgen, die sich gegen einen in jeder Hinsicht ungleichen Gegner richtet, der damit unfreiwillig aufgewertet wird. Werner Milch hat eine einseitige Ehrenrettung Obereits versucht. Zimmermann erzählt ausführlich die Begegnung mit Obereit in Hannover am 5. 8. 1782. Beim Nachtessen, zu dem auch Marcard und nicht ohne Absicht eine Dame der Gesellschaft geladen sind, macht der „Weltüberwinder“ der Frau „ungemein liebliche Augen“ (III, 96). Die aus den Mönchsviten sattsam bekannte Anzüglichkeit soll sich also bei Obereit bestätigen, der durch einen Handkuss tatsächlich ekstatisch geworden sei (III, 99f.). Zimmermann richtet sich gegen eine den Körper veruntreuende mystische Frömmigkeit, die einen Seelenzustand herbeiführt, der nicht mehr der Vernunft gehorcht.29 Eine Apologie der Mystik bietet er hingegen im vierten Teil des Einsamkeitswerks (IV, 390ff.). Er bestreitet der Mystik nicht ihre Existenzberechtigung: „erlaubt ists, ein Mystiker zu seyn, wie es erlaubt ist, unverheurathet zu bleiben“ (IV, 390). Mystik habe eine „erhabene Seite“ und sei den Menschen „oft wahrhaftig nützlich gewesen“ trotz „ihrem Dampf und Nebel“ (IV, 391). Fénelon, Muralt und sein eigener Vater werden als Beispiele einer derartigen „Religion des Herzens, und Theologie des Friedens“ (IV, 391) genannt, nicht aber er selbst. „In den Zeiten des schrecklichsten Unverstandes, in der schwärzesten Nacht des Aberglaubens, unter der allgemeinen Herrschaft der Orthodoxie, des Glaubenszwangs, und der Laster, war Mystik, Kühlung und Labsal für Herzen die keinen Gefallen hatten an den Spitzfindigkeiten der Schultheologie, an blossen Ceremonien, und an einer fruchtlosen Religion“ (IV, 391). Mystik wird nicht in jedem Fall verworfen, sondern positiv eingeschätzt, falls sie dem Menschen heilsam nützt, d.h. wenn Mystik letztlich therapeutisch wirkt.

29

Ein Beispiel für seine Polemik findet sich im zwölften Kapitel des vierten Buchs der Erfahrung in der Arzneykunst: „Die Leidenschaften ändern unter den heftigsten Übungen einer überspannten Gottseligkeit nur ihre Richtung, weil eine geistliche Turteltaube sich zu dem Gipfel der mystischen Schwärmerey mit dem eigensten Temperamente einer verbulten Turteltaube erhebet. Die mystischen Nonnen werden durch ihr beständiges Geschrey von Liebesbegierden, Eröfnungen und Zusammenfügungen, Überströmungen und Entzükungen, jedem vernünftigen und christlichen Leser äusserst ekelhaft“ (Erf. II, 523).

208

8.3 Verfälschtes Christentum Wie ein roter Faden durchzieht das Einsamkeitswerk die Denkform der Deklination und Depravation vom wahren, unverfälschten Christentum. Eine falsch verstandene Religionsausübung und ein verfehltes Verständnis der biblischen Botschaft hätten das ursprüngliche Christentum durch „Mönchstheologie“ verunreinigt. Der Abfall von der wahren Nachfolge durch institutionelle Verfälschung lässt Zimmermann gebieterisch Freilegung, Erneuerung und Aufklärung fordern. Zimmermann steht in der geistigen Nachfolge von Gottfried Arnolds Geschichtstheologie „Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie von Anfang des Neuen Testaments bis auff das Jahr Christi 1688“, die 1699 in Frankfurt/M. erscheint. Aus den „Zeiten der ersten und noch unverfälschten Reinheit des Christenthums“ (I, 81) wird durch „übel verstandenes Evangelium“ (I, 159)30 des Mönchtums die „Knechtschaft des Aberglaubens und der Schwärmerey, bis sie endlich die christliche Religion völlig umkehrten“ (I, 150),31 so dass Christus „nicht mehr gehöret oder nicht mehr verstanden“ (I, 243) wird. Die Benediktiner im zehnten Jahrhundert befolgten demnach längst nicht mehr treu die Regel ihres Stifters (II, 416), weil „alle Klöster überall Wohnsitze der Faulheit und der Schwelgerei“ (II, 417) geworden seien. Zimmermann beruft sich argumentativ auf die „aufgeklärtesten Ausleger“ (IV, 312) – man denkt vor anderen an die von ihm vielzitierten Mosheim und Spittler, die kirchliche und profane Historiographie verknüpfen: Die aufgeklärtesten Theologen sagen uns, der Heiland der Welt habe durch seine Lehren und sein Leben jene anachoretischen Grundsätze widerleget, welche die Menschen wol zu eigensinnigen Sonderlingen und Menschenfeinden machen, aber nicht zu tugendhaften Weltbürgern. Nur dazu fodere uns der Erlöser mit seinem Beyspiele auf, dass wir zu gewissen Zeiten uns in die Einsamkeit begeben (IV, 312f.).

Kirchengeschichte des frühen Mönchtums wird in dieser Sehweise zu einer Geschichte des Abfalls von der „ersten und reinen Christlichen Kirche“ (Erf. I, 198), gekennzeichnet durch „Melankolie, Misanthropie, und Grausamkeit“ (II, 420). Die christliche Kirchengeschichte biete das Bild einer „abscheulichen Geschichte“ (II, 30

31

Vgl. „missverstandene Lehren des Evangeliums“ II, 139; „missverstandene Reden unseres Heilands und teils auch die übel ausgelegten Lehren des Pythagoras“ (II, 90). I, 252f.: „Der ganze Mönchshaufen, alle diese ungelehrten Schwärmer, alle diese frommgesinnten aber trübseligen Köpfe, alle diese mürrischen und menschenfeindlichen Sonderlinge, alle diese stolzen Heuchler, wären zwar bey der falschen Richtung ihrer äusserst angestrengten Kräfte vor dem besser erkannten Licht des Evangeliums bald verstummet und verschwunden“. Auch Erf. I, 198f. Aus der „ersten und reinen Christlichen Kirche“ entstehen Zeiten, „da das ganze Christliche Europa in dem Schlamme der Barbarey“ versunken lag. Es gelte zu unterscheiden zwischen „den sträflichen Misgeburten des Aberglaubens und den allerheiligsten Geheimnissen der Religion“. Vgl. I, 158: „[…] müssige Grillen und abentheuerliche Phantastereyen flossen nun in Egypten in die Christliche Religion, und verdarben sie bis zur Unkennbarkeit“, auch Erf. I, 116: „Aber die reine Lehre des Hippocrates versank in diesem Meere von Spitzfindigkeiten“.

209

421), und die Anachoretenzellen erscheinen als „Herbergen des Teufels“ (II, 421).32 Eine derartige Haltung unterscheidet sich deutlich von religiöser Toleranz und christlicher Ökumene. Wie und warum diese auf spezifische Weise dennoch bei Zimmermann möglich werden, untersuchen die folgenden Kapitel.

8.4 Einsamkeitsfrömmigkeit 8.4.1 Einsamkeitsverwandte Gefühlsgemeinschaft Zimmermanns Einsamkeitsauffassung ist insofern gesellig ausgerichtet, als im gesamten Einsamkeitswerk in wahlverwandten Seelen gleichgerichtete Gefühle geweckt werden wollen, die der Autor als ein auf Resonanz bedachtes Sprachrohr vorempfindet.33 Die darin zum Ausdruck kommende mitmenschliche Haltung verbindet medizinische Tätigkeit als moralische Verpflichtung mit religiösen Inhalten.34 Diverse Stellen verkünden eine „aufgeklärte Menschenliebe“:35 „Alles ist gut was die Menschen vereiniget, was sie durch Mittheilung ihrer Empfindungen und Begriffe aufgeklärter, weiser, tugendhafter, unter sich selbst liebreicher, zutraulicher, und einträchtiger macht“ (IV, 314). In III, 205ff. suggeriert der Einsamkeitsprophet Zimmermann im Ton biblischer Diktion eine einsamkeitsverwandte, trostspendende Emotionsgemeinschaft mit einer fiktiven Seele, „eines mit uns gleichdenkenden Geistes, eines mit dem unsrigen Gleichgestimmten und uns liebenden Herzens“ (IV, 214), welche „die beste Schule der Menschenkenntnis und der Menschenliebe“ sei (I, 45):36 Wenn […] du eine Stimme gehört hättest, die aus dem Himmel zu kommen schien, und die zu dir sagte: Komm ich will deine Thränen abtrocknen; ich will Muth aus deiner kranken Seele hervorrufen, ich will dich pflegen; ich will die Vertraute aller deiner Seelenleiden seyn; ich will sie alle tragen helfen; ich will dich leiten aus deiner Traurigkeit, dort ins Grüne, zum An32

33

34

35 36

Zimmermann ist davon überzeugt, dass „in unsern aufgeklärtern Tagen“ (Erf. I, 198) „die Gemüther der bessern Menschen durch die Ausbreitung der Wissenschaften, und die durch Philosophie immer mehr gesicherte Herrschaft der Vernunft von Segnereyen, Bezauberungen und Entzauberungen gereinigt“ (Erf. II, 199) seien. In seinem „Versuch“ erzählt Zimmermann packend die Geschichte eines Schiffbruchs hannoveranischer Soldaten auf dem Weg nach Gibraltar im November 1775, die von Franzosen schliesslich gerettet werden. Am Schluss erwartet er ein gleichgesinntes Mitempfinden: „Kann alsdann noch Jemand diese uns so werthe Nationalgeschichte nicht empfinden, so bedaure ich ihn, aber meine Seele wendet sich von ihm weg, denn er ist ein Unmensch“. Versuch 1778, S. 18. Zimmermann sieht sich dazu berufen, „das Gute zu tun“ und „die Wahrheit zu sagen oder zu schreiben“, gemäss einer Maxime in der Erfahrung in der Arzneykunst: „Wer die Fähigkeit das Gute zu thun, und die Wahrheit zu sagen, oder zu schreiben hat, und nicht thätig macht, gleicht dem Narr der seinen Harn zurükhielt, damit er die Welt nicht überschwemme“ (Erf. II, 499). Erf. I, 13. Das Zitat mit dem von Lavaters „Physiognomischen Fragmenten“ entlehnten Titel (I, 44f.) steht im Zusammenhang mit positiver Einschätzung von Umgang und Geselligkeit („Weltumgang“) für jedes Alter.

210

schauen der schönen Natur, und zu dem Gotte der auch hier wohltätig ist […] da mit dir meine Hände zu Gott erheben, wenn du verschmachtest […] ich will alles für dich thun was dich erleichtert, und was dir Freude macht; ich will dir alle Segnungen des Friedens und der Ruhe zeigen […] (III, 205f.).

Zimmermann konkretisiert seine didaktisch-therapeutische Absicht, die auf Geborgenheit in einer Einsamkeitsgemeinschaft zielt. Im ersten Kapitel des ersten Teils flösst er sich selbst Mut zu seinem Vorhaben ein: „wenn es mir nur gelingt, meine Gefühle auszudrücken, und wenn nur die Hoffnung mich nicht zu oft verlässt, dass doch einige gute Menschen in der Welt mich verstehen werden“ (I, 19). Seine Seele „sehnet sich nach einer verschwisterten Seele“, sein Herz „suchet ein ihm ähnliches Herz“ (I, 22). Unermüdlich ist denn auch seine Suche nach „antwortenden Herzen in allen Jahrhunderten“ (I, 113). So entwirft Zimmermann eine auf Gefolgschaftstreue basierende, werkautonome Einsamkeitstheologie. Die Einsamen sollen untereinander eine letztlich orts- und zeitunabhängige Gefühlsgemeinschaft bilden. Sein Angebot gilt eingeschränkt allerdings nur für Gleichgesinnte. Es handelt sich nicht um unverbindlich lockende Einladungen, sondern um eindringliche Appelle zur Nachfolge, die mit insistierender Überzeugungskraft vorgetragen werden. Ein Vergleich zwischen der „Denkart des religiösen Einsamen“ (III, 171) mit jener „irreligiöser Weltlinge“ (III, 171) zeigt, dass „religiöse Seelen sich hingeben und schmiegen unter jede Fügung Gottes um Himmelsfreude“ (III, 171f.) und deshalb eine beherzigenswerte Mahnung darstellen, „Kraft zum Leiden und Sterben zu finden, durch stille Einkehr in uns selbst, und religiösen Umgang mit Gott“ (III, 172). Zu einer definitiven Entscheidung wird der Leser ermahnt: „Jeder wähle sich nun zwischen der Welt, die ihn locket, und der Tugend, die ihn ruft“ (IV, 494).37 Gebotsartige Handlungsanweisungen sprechen unmissverständlich eine Gefolgschaft an: „so gehe doch jeder, so oft als es ihm möglich ist, in die Einsamkeit, und versinke da vor Gott und seinem eigenen Herzen“ (III, 222), ist doch „der Gedanke, Gott alles aufzuopfern, gross, und bey einem feurigen guten Herzen, sehr natürlich“ (IV, 284). „Geh […] abseite so oft du kannst, um dich zu prüfen […] und dich da völliger und länger den Rührungen deines Herzens zu überlassen“ (IV, 288),38 heisst es an anderer Stelle. „Wahre Apostel der Einsamkeit“ (IV, 238) rufen hoffentlich nicht „in taube Ohren“ (IV, 285), sie verkünden nämlich eine Einsamkeitsbotschaft, die jeder „wahrhaftig gute Mensch“ (IV, 239) beherzigen soll. Auch an Drohungen39 und Verheissungen lässt es Zimmermann nicht fehlen. Verfallenheit an die Welt bedeutet „Sitz der Langenweile und des Überdrusses, der 37

38 39

Zimmermann sucht eine Komplizenschaft mit dem geneigten Leser, z.°B. gegen Formen von Geselligkeit, wo die „unwitzigsten und geschmacklosesten Dinge“ (III, 515) Beifall finden: „O so denke, dass ich, in solcher Gesellschaft, eben so stumm bin wie Du!“ (III, 515°f.). Vgl. auch die Anleitungen zu einsamkeitsgerechter Lebensführung in I, 92f.: „Erniedrige dich nicht […] Mache doch […] Widersetze dich […] Murre nicht […]“. Vgl. III, 218: „In jenen Stunden da vielleicht durch eine Veränderung im Körper die Seele eine neue Richtung nimmt, das Gewissen aufwacht und mit allen Drohungen Gottes spricht, werfen wir uns am eifrigsten und feurigsten nieder vor Gott“.

211

Kampfplatz niedriger wilder Leidenschaften, die Wohnung des Grams, der üblen Laune, des mannigfaltigen Streites, der boshaften Qualsucht, und ein Vorspiel der Hölle“ (IV, 241). Für den Einsamkeitsjünger hingegen gilt: „Frieden und Glückseligkeit wohnen bey dem, der allen unreinen Hülfsquellen des Vergnügens entsagt“ (IV, 241). Durch Absonderung und Unabhängigkeit von der Welt und dank dem „andächtigen, unzerstreuten und feurigen Gebet“ (IV, 240) kann den „Reitzungen zur Sünde“ (IV, 240) wirkungsvoller widerstanden werden. „Unser Vater, der ins Verborgene und in die ehrwürdigen Finsternisse einer solchen Einsamkeit sehe, vergelte es uns“ (IV, 240). Zentral ist der altruistische Aspekt, das Gebot einer Art Nächstenliebe im Einsamkeitserleben, wie folgende Beispiele zeigen: „Gutes unter ihnen (sc. den Menschen), oder für sie thun“ (IV, 290); „gerne jedem beystehen in seiner Noth“ (III, 216); „sich selbst alles mögliche Gute zu verschaffen, um dann auch für andere alles mögliche Gute zu thun“ (IV, 334). In der Einsamkeit gewonnene Herzensruhe ermöglicht die Bezwingung egoistischer „Selbstliebe“ (IV, 290) zugunsten der „Liebe des Nächsten“ (IV, 290) zwecks Beförderung seiner Glückseligkeit: „Die Glückseligkeit anderer Menschen befördern, ihre Klagen anhören, ihren Jammer erleichtern […] Gutes thun, wenn es auch die Welt nicht sieht“ (III, 217).40 Eine andere Stelle richtet sich speziell an die Jugend, die vielleicht „einen unerklärlichen Ruf schon in früher Jugend“ (III, 171) vernommen habe: „Das Gute was ich von der Einsamkeit denke, möchte ich der Welt anpassen, in der ich lebe […] auf die ich auch wol wirken kann, weil es gewiss junge Herzen giebt, in denen solche Betrachtungen gedeyen“ (III, 241). Die Anweisungen für die männliche Jugend zur „Bildung eines moralischen Charakters“ (III, 237ff.) berücksichtigen immer auch den Mitmenschen. Zimmermann will Jünglingen Selbstvervollkommnung anempfehlen, was bedeutet, dass er sie über die Verführungen der Welt aufklären und vor ihnen eindringlich warnen muss. Er impft dem für seine Altersgenossen stehenden Jüngling „Furcht vor dem seidenen Händedruck schmeichelnd lockender Versuchung“ (III, 238) ein und legt ihm die verheissene Welt der Einsamkeit als Lebenselixier und Grundlage aller Bestrebungen ans Herz, indem er ihm zuruft: Lieber Jüngling, den die listige, gleissende, maulspitzende Weiberwelt noch nicht aus den Vorposten der Zucht getrieben hat, der durch ihren eitelen Müssiggang noch nicht angestecket, durch alle Verfeinerung und Verstellung verbuhlter List noch nicht aller Lust und Kraft beraubet ist etwas Grosses zu beginnen (III, 243)

– folge meinen Geboten! Eine direkt anschliessende, strikt antithetisch aufgebaute Textstelle führt dem nach innerer Grösse strebenden jungen Herakles am Scheide-

40

Vgl. III, 354. Es gilt, „auch einst zum Vergnügen gleichgestimmter Seelen“ altruistisch wirksam zu werden.

212

weg41 in säkularisierender Umdeutung von Mt 7, 13f.42 suggestiv zwei gegensätzliche Wege vor Augen: Zwei Wege hast du vor dir. Jenen dort, der zwischen düftenden Gärten und Lustwäldern hinleitet, der dir die schönsten Ruheplätze anbietet, von mannigfaltigem Grün, und mit Rosen bewachsen. Musik, Tanz, und Liebe, locken da überall; jenen Weg gehen die meisten. Wenige trifft man auf dem zweiten Wege an, der holperigt ist, und steil; man kommt nur langsam darauf fort, und fällt oft von den Felsen herab, wenn man glaubt, man sey schon weit. Wilde Ochsen begegnen dir da brüllend; das Geschrey der Waldesel hallet durch Berg und Thal; allenthalben umgiebt dich das Gekrächze der Raben, und das Gezische der Schlangen, und ein ganzes Fliegenvolk, Hornissen, Wespen, und Mücken; eine weite schwarze Einsamkeit macht dir jede Aussicht schauerlich. Der schöne Weg dort, zwischen den Gärten, ist der Weg der Welt; der rauhe Weg hier, ist der Weg der Ehre. Jener führet mitten in das gesellschaftliche Leben, in Ämter und Bedienung, bey Hofe und in der Stadt; dieser immer tiefer in die Einsamkeit. Auf jenem wirst du, ein süsser allbeliebter Mann, auch wol ein Schurke; auf diesem wirst du verhasst, miskennt, und ein Mann nach meinem Herzen (III, 246f.).

Es fällt auf, dass Beschwerlichkeit und Bedrohung des rauhen Weges der Ehre, den nur wenige beschreiten, detailgenauer und anschaulicher ausgemalt werden im Vergleich zur eher summarischen Evokation des falschen Weges, den bezeichnenderweise die meisten Menschen wählen. Dieser „Weg der Welt“ führt durch eine idyllische Landschaft, die stark optisch lockt. Vielleicht hat Zimmermann den Rosengarten in Bern vor Augen, während der rauhe „Weg der Ehre“ auf eine Gebirgslandschaft weist, wie sie etwa vom Gurten bei Bern aus sichtbar wird. Nicht Musik und Tanz, sondern abgestufte Naturgeräusche – vom Gebrüll wilder Ochsen, dem hallenden Geschrei von Waldeseln über das Gekrächz von Raben zum Schlangengezisch und Summen von Insekten – begleiten den Weg der wahren, d.h. inneren Ehre, der vom Lärm der veräusserlichten Stadt nach einsamer, ländlicher Stille führt. Unter vielgestaltigen Anfechtungen und inneren Kämpfen, bei Missgunst und Hass, weiss sich der Einsamkeitsjünger, nach Massgabe der gepredigten Botschaft, dem im Visitenwesen „allbeliebten Mann“ überlegen, zumal dieser sogar zum „Schurken“ werden kann.43 Eine zeitgenössische Besprechung im vierten Bändchen des „Unterhaltenden Arztes“44 hat diesen Zusammenhang von therapeutischer Wirkungsästhetik und Religion in einer einsamkeitsverwandten Gefühlsgemeinschaft, wie sie das Werk 41

42

43

44

Vgl. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Hamburg 1955, S. 324ff. und Erwin Panofsky, Hercules am Scheideweg und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst. Leipzig u.a. 1930 (Studien der Bibliothek Warburg 18). Mt 7, 13–14: „Geht durch das enge Tor! Denn das Tor ist weit, das ins Verderben führt, und der Weg dahin ist breit, und viele gehen auf ihm. Aber das Tor, das zum Sehen führt, ist eng, und der Weg dahin ist schmal, und nur wenige finden ihn“. In III, 237f. liegt insofern eine Parallelstelle vor, als Zimmermann von dem „steilen Wege der Tugend“ (III, 237) spricht, der Glück und Freiheit birgt: „Wüste, dunkel, und rauh, ist freylich dieser Weg; aber er führet nach mühsamem Steigen, auf erhabene Ruheplätze, an friedsame Ufer, und in freye Himmelsluft“ (III, 237). Der unterhaltende Arzt. Von Tode, D. Johann Clemens. Viertes Bändchen. Kopenhagen und Leipzig 1789, S. 31–37.

213

selber vorlebt, erkannt. Der Rezensent stellt fest, dass die besten Wahrheiten des Buches über die Einsamkeit nicht gelesen werden können, ohne sie zu fühlen, da Zimmermann, der geprüfte Weise, ganz aus der Fülle des Herzens spreche im wahren Ton des Gefühls als Resultat unendlichen Lesens und Denkens, lebenslanger Beobachtung und teuer erkaufter Erfahrung. Das Einsamkeitswerk spende jeder zu schmerzlicher Empfindung erweckten Seele Trost. Die Zimmermannschen Wahrheiten werden sich immer geltend machen; man wird mitten im Weltgetümmel ihre Stimme hören, und ihnen folgen; man wird den Werth der Einsamkeit recht schätzen lernen, man wird fühlen, dass sie […] Seelenrettung ist […] Unzähliges, unaussprechliches Übel wird dadurch verhütet werden: und die Rettung vieler Tausende vom Verderben wird den Verfasser in jenen Wohnungen, wo alles wird an das Licht kommen, erfreuen und seine Seligkeit erhöhen.

Diese Prophezeiung zeigt an, dass Zimmermanns Einsamkeitstheologie eschatologisch ausgerichtet ist, wobei er das Heil der Mitmenschen mit seiner eigenen Rettung verbindet. 8.4.2 Einsamkeitsbezirke Zimmermanns Einsamkeits-Wegweiser zeigen Einsamkeitsbezirke an, die mit religiöser Terminologie erfasst werden. Einsamkeitserleben und Religionsausübung gehen ineinander über. „Heilige Einsamkeit“ (III, 216) und „heilige Stille“ (IV, 358) umfangen die gefolgsamen Adepten, denn Zimmermann verspricht: „Suchet ländliche Stille, und abgelegene Gärten! Da werdet ihr Himmelsruhe finden“ (III, 236). In der Einsamkeit wird Liebe „getauft und geheiligt“ (IV, 214), und sie findet dort „ihre Auferstehung“ (IV, 176). Die Einsamkeitsschrift propagiert „die grossen Vortheile religiöser Entfernung von der Welt, und heiliger Stille“ (III, 171). Sie erkundet als Ganzes reale oder imaginierte Bezirke, die gegen das „Gewirre der Welt“ (III, 222) abgeschirmt und für gleichgesinnte EinsamkeitsEingeweihte zugänglich sind. Diese haben den „Ruf zur Einsamkeit“ (III, 217) gehört! In den Einsamkeitsbezirken, welche die breite Masse fernhalten,45 herrscht Glückseligkeit, weil die nicht mehr fremdbestimmte Seele mit sich selbst zur Deckung kommt. Gewisse Einsamkeitsbezirke Zimmermanns liegen „so wohl in hohen waldichten Schatten, und bey dem schauerigten Geschrey der Adler, als auf Fluren wo eine einsame Hirtinn ihrem Säugling die Brust reichet, indem ihr Geliebter neben ihr seinen harten Bissen Brodt bricht“ (IV, 176). Eindringlich beschwört er: „Wer freuet sich nicht im Stillen, wenn er sieht was er in einem einzigen Abend tun kann, indess da zweyhundert Kutschen durch seine Gasse rollen und alle Wände seines Hauses von der allgemeinen Visitenwuth zittern“ (III, 417). Die Behausun45

Vgl. Erf. II, 87: „Die Stimme des Pöbels ist nicht die Stimme Gottes, sondern des Teufels“.

214

gen der ersten christlichen Mönche werden auffallend summarisch von aussen und wenig inspiriert beschrieben. Sie dienen als Kontrastbeispiele für die „wahren“, später vorgestellten Einsamkeitsbezirke. Der heilige Paulus beispielsweise begibt sich tief ins Gebirge in eine Höhle an einem Bergfuss. „Er ging hinein, und kam zu einem geräumigen Platz, der oberhalb eine Öffnung hatte, die ein alter Palmbaum mit weit ausgebreiteten Ästen bedeckte (I, 164), auch eine klare Quelle findet sich. Der heilige Antonius lebt in der Wüste zwischen Babylon und Heraclea auf einem Berg „felsicht, hoch […] aus seinem Fusse floss ein kleiner leiser Bach, dessen Ufer eine grosse Menge von Palmbäumen beschatteten“ (I, 184). Die Zelle des heiligen Hieronymus wird „sein Paradies auf Erden“ (I, 300).46 Wiederum sind es in diesem Zusammenhang Rousseau und Petrarca, die als Vorbilder dienen und historische Beispiele von Einsamkeitsbezirken liefern. Wieviel farbiger im Vergleich zu den Anachoretenklausen gerät die Beschreibung des Refugiums von Petrarca bei der Quelle von Vaucluse (IV, 212ff.), die nur nachvollziehen könne, wer „oft in einer heiligen Einsamkeit“ (III, 216) gelebt habe. Als ein säkularisierter Sakralort enthält der Einsamkeitsbezirk eine utopische Dimension, welche die ersehnte Einsamkeit in Aussicht stellt: „Immer strecke ich auch anitzt noch vergebens meine Arme aus, nach einer friedsamen Hütte disseits des stillen Grabes, nach einem kleinen Laubdach, in dessen Schatten ich zu erzählen wünschte, wie sehr ich die Einsamkeit liebe“ (III, 2). Einsamkeitsergebenheit läutert das religiöse Empfinden, befreit von der fehlgeleiteten Gesinnung eines „Wegsehens von Gott und Ewigkeit“ (III, 222) und bezwingt die „grössten Hindernisse der Frömmigkeit“ (III, 171). Sie lässt durch Denken und Fühlen die dem Menschen bestimmte Glückseligkeit zumindest ahnend erfahren. Folgender, in diesem Zusammenhang wichtiger Beleg ist zugleich eine Beschreibung jenes identitätsstiftenden Seelenzustandes, der von Zimmermann immer wieder „erhaben“ genannt wird: Überall erblicken wir Gott in der Einsamkeit. Nicht mehr unter sinnlichem Geräusche versunken, mit gereinigten Neigungen, mit geistiger Freude, denken wir da ernsthafter und lebhafter, zutraulicher und freyer an unsere höchste Glückseligkeit, und fühlen sie, indem wir daran denken. In solcher heiligen Stille verschwinden alle unedlen Gedanken, alle niedrigen Angelegenheiten und Sorgen (III, 210f.).

Zimmermanns Einsamkeitsbezirke sind letztlich nicht räumlich definiert. Die wenig prätentiös wirkende Residenz Friedrichs II. zu Sanssouci wird als zeitenthobener Bezirk aufgefasst. Dort

46

Vgl. II, 452ff. die Gebirge von Nitrien, sechzehn Wegstunden von Alexandria entfernt, wo am Ende des vierten Jahrhunderts rund 5000 Einsame wohnen: „Jeden Abend hörte man aus jeder Celle solche Lobgesänge auf unsern Heiland durch die Wolken schallen, dass man hätte glauben sollen, sagt Palladius, man sey in den Himmel gehoben, und man lebe mit diesen Einsamen mitten im Paradiese“.

215

herrschet weit umher eine Stille, in der man den leisesten Hauch von jedem sanften Winde höret. Ich bestieg diesen Hügel zum erstenmal im Winter in der Abenddämmerung. Als ich dieses Welterschütterers kleines Haus vor mir erblickte, schon nah war an seinem Zimmer, sah ich zwar Licht, aber keine Wache vor des Helden Thür, keinen Menschen, der mich gefragt hätte, wer ich sey, und was ich wolle? Ich sah nichts und hörte nichts, und gieng frey und froh umher vor diesem kleinen und stillen Hause (I, 110f.).

Die wahren Einsamkeitsbezirke tendieren gegen raumunabhängige Seelenlandschaften im Innern des erlebenden Ich, „wo man sich jeder stillen Tugend weihet“ (III, 171), zu der „jeder Mensch, in jedem Tage seines Lebens, wenn er auch nicht aus seiner Kammer kommt, Veranlassung und Ruf“ (III, 217) verspüren kann. Topographische Verengung und, umgekehrt proportional dazu, imaginative Ausweitung in eine fiktive, autonom belebte Orts- und Zeitunabhängigkeit kennzeichnen die Zimmermannsche Konzeption der Einsamkeitsbezirke. An einer zentralen Textstelle rügt er vorerst ausdrücklich, dass die „gewöhnlichen Zerstreuungen des gesellschaftlichen Lebens“ (III, 214) die „Religionspflichten nur flüchtig, gleichgültig, ohne Eindruck und Rührung“ (III, 215) erfüllen lassen, und fährt fort: Wer hingegen durch eine ernsthafte Einkehr in sich selbst, und stille Überlegung, sein Herz überall zu Gott erheben kann, wer seinen ganzen Wirkungskreis unter den Menschen, wie das Gewölbe des Himmels, wie die beblümte Erde, wie jeden Berg und jeden Wald, für einen Tempel Gottes hält, wer überall sein Herz zu dem Urheber und Regierer aller Dinge richtet, immer seines allsehenden Auges sich erinnert, der muss oft in einer heiligen Stille gelebet haben, und in beharrlichem, innigem, und feurigem Gebet (III, 215f.).

Die Einsamkeisbezirke in der Natur bilden seelische Ersatzkirchen, die raumenthoben ins Innere der im Einsamkeitserleben Geeinten weisen. Worin besteht Zimmermanns propagierte und in den Einsamkeitsbezirken gelebte Einsamkeitsfrömmigkeit? 8.4.3 Religiöse Einsamkeit Näher und inniger sehen wir in der Einsamkeit, das Auge, das uns alle sieht. Allgegenwärtig wirket da, wo alles umher schweigt, dieser hohe Gedanke, dieses süsse, und reine, und seligste Gefühl, dass Gott uns sieht, umgiebt, über uns herrschet, und alles um uns her lenket durch seine Macht, und Güte (III, 210).

Für Zimmermann ist ausgemacht, dass Naturbeobachtung („Anblick der ganzen Natur“, IV, 282) zur Religion rufe, deren „erhabenste Wirkung“ (IV, 282) Ruhe sei, die mit religiöser Terminologie erfasst wird. In der Einsamkeit wird der Einzelne bevorzugt der unmittelbaren Gegenwart Gottes inne. „Gott vor Augen haben“ (IV, 358) ist nicht blosse Redensart, sondern im Licht von Zimmermanns Ausführungen wörtlich zu nehmen als Gegenwärtigwissen eines persönlichen

216

Gottes:47 „Ihn, den alle Welten nicht umfassen, müssen Würmer nicht wollen in Mauern einschliessen. Er sieht uns allenthalben ins Herz und höret allenthalben auf ein frommes Gebet“ ( IV, 76). Gott wird dereinst Weltgericht halten und dann haben alle Erdenbürger den „Strick am Halse vor Gott, dem Richter unserer Taten“.48 Dabei gilt: „Ein Gott der Liebe wird uns richten; er wird uns nach der Aufrichtigkeit und der Treue richten, mit der wir ihm dienen“.49 Am Ende des irdischen Lebens werden die Menschenkinder wünschen, mehr mit sich selbst und mehr mit Gott gelebt zu haben: „Umringet sind wir da, von allen unsern Sünden; und Sünder wurden wir, weil wir die Fallstricke der Welt nicht genug flohen, nicht genug in der Einsamkeit uns vorbereiteten zur Behütung unsers Herzens unter den Menschen und in der Welt“ (III, 223). Mitmenschliche Zuwendung bei körperlicher und seelischer Krankheit wird nicht ohne himmlischen Lohn bleiben: „dann segne Gott, unserer Freunde heilende Hand; und vergelte, auch in der Ewigkeit, die Liebe, die uns beystand, und tragen half in solchen Leiden!“ (III, 235f.). Gewissheit, gerechtfertigt und gerettet zu sein, kann jedoch niemand besitzen. Zimmermann liest seiner todkranken Frau am Sterbebett aus Karl Wilhelm Ramlers „Tod Jesu“ vor (III, 201). Nach einer fünfmonatigen „Todesmarter“ (III, 200) stirbt Zimmermanns Frau, „das liebste was du in der Welt hattest“ (III, 205). Obwohl der untröstliche Witwer von „ihrer Reinheit und Unschuld vor Gott, und ihres sanften Sinnes für alle Menschen“ (III, 200) felsenfest überzeugt ist, wird er in „Abgründe qualvoller Zweifel“ (III, 200) über ihre (und seine eigene) Errettung geworfen. Die ganze Einsamkeitsschrift ist im Grunde genommen ein pietistisch

47

48

49

IV, 126 heisst es: „mit der ganzen Natur und ihrem unergründlichen Urheber“. Für den Glauben an die Existenz eines persönlichen Gottes zeugen die Bezeichnungen „der Schöpfer“ (Erf. II, 300), „das Oberste Wesen“ (Erf. II, 522), „Herr der Natur“ (Erf. II, 259), auch „Vorsehung“ (u.a. Unterredungen 1788, S. 10, S. 259). In seinen Briefen insgesamt wird auf das unmittelbare Wirken Gottes immer wieder verwiesen. Die Belege sind Legion. Zwei Beispiele aus dem Briefwechsel mit Hirzel: „Wir (sc. das Ehepaar Zimmermann) wünschen beyde dass Gott euch (sc. das Ehepaar Hirzel) alle stärke, bewahre, und segne“. ZZH, FA Hirzel, 239, 1. „Gott erhalte dich, und segne dich, und beglücke dich mit allen die das Verdienst haben dein zu seÿn, Mein liebster, bester, theürester Freund. Gott bewahre […] dein Hertz, diese Quelle meines Segens und meiner Freude, und meines Trosts“. ZZH, FA Hirzel 239, 53. Vgl. ferner den Brief von Zimmermann an Sulzer vom 3. 8. 1768: „Es ist noch zur Zeit Gott allein bekannt, inwiefern ich hier (sc. Hannover) meine Absichten erreichen werde“. Bodemann 1878, S. 204; nach dem Besuch bei Friedrich II. 1771: „Ich sezte mich nieder zum Kamin, und dankte Gott, aus dem vollsten und gerührtesten Herzen, für seine Hilfe, und für seinen Beystand“ Unterredungen 1788, S. 291. Rengger 1830, S. 36 im Brief Zimmermanns an Abraham Rengger vom 2. 3. 1778. Eine Briefstelle beklagt selbstzerknirscht die Sünden, die Gottes Beistand fraglich erscheinen lassen: „mais mes pechés ont été trop grands pour que je puisse etre exaucé“. Brief von Zimmermann an Tissot vom 14. November 1768. BBB Mss hh XVIII 71, 67. Ferner z.B. im Brief an den Herzog Friedrich von Braunschweig, den Schwager Friedrichs II.: „Meine schwachen Augen, reichen nicht bis an die Wage, in welcher Gott die Schicksale der Völker wiegt“ (Unterredungen 1788, S. 140): „Die Standhaftigkeit im Tode ist zwar bey dummen Menschen die Wirkung ihrer eingebildeten Gerechtigkeit vor Gott“ (Erf. I, 461). Nationalstolz 1789, S. 59.

217

geprägtes Dokument von Selbstprüfung: „Jeden Morgen der genaueste Plan, und jeden Abend die strengste Rechnung mit sich selbst“ (III, 332) tun not, denn „am Ende steht höchst vermuthlich der schwärmerische Selbstbeobachter bey Gott doch weit über dem witzigen Kopfe, der sein Tagebuch verlachet“ (III, 219). Einsamkeit ermöglicht „Prüfung seiner selbst,50 zur Wegwerfung der Vorurtheile des geselligen Lebens, und zur wahren Erhöhung des Herzens“ (III, 165). Der Einsame weiss wie jeder Christ, dass der Erlöser lebt und der Tod das Tor zum wahren Leben ist: „so wird er (sc. der Einsame) dann auch mit Festigkeit glauben an die Morgenröthe jenseits des Grabes, und den Tod weiter für nichts halten, als für sanften Sonnenuntergang des Lebens“ (IV, 281). Das anfällige Ich bedarf beständiger Überprüfung, um Selbstlosigkeit und innere Reinheit zu erlangen. Es muss auf „die stille Sprache des Gewissens“ (III, 166) hören, um möglichst bekannt mit sich selbst zu werden. Nur zu oft wird der Mensch von „Schlaffheit und Trägheit“ überwunden und von „Unfähigkeit, Erschöpfung, Ekel an sich selbst, und verdrüsslichem Wesen“ geplagt. „Eben weil der Mensch so ist, muss er sich angreiffen, um mehr zu seyn, als er ist“. Melancholie ist förderliches Ingrediens im Tugendkampf (IV, 363), da sie „die Seele wecket“ (III, 218). Melancholie ist „die Schule der Demuth, und Selbstverachtung die erste Stufe zur Selbstkenntnis. In den einsamsten, traurigsten Stunden einer aufrichtigen Selbstprüfung, verschwindet jede Sophisterey unserer Leidenschaften“ (III, 218). Melancholie vermag in diesem Sinn zur Tugendbeförderung beizutragen.51 Wer auf der „Heldenbahn der Tugend“ (III, 222) „in tugendhaftem Kampfe mit sich selbst“ (IV, 363) voranschreitet, wird „wahre Religion im Herzen“ (IV, 282) erlangen. Einsamkeit wird ihm dabei entscheidend helfen. Er gewinnt eine „Gemüthsruhe“ (IV, 361), die „stille Erhabenheit der Seele“ (IV, 360) bedeutet und zugleich an Stoisches wie an Christliches denken lässt. Freiheit und Ruhe (oder Stille) sind Schlüsselwörter der Einsamkeitsschrift. Sie verschmelzen als Trias von Freiheit, Ruhe und Einsamkeit im Erleben jenes Seelenzustandes, der Zimmermanns Auffassung religiöser Einsamkeit kennzeichnet und nicht immer leicht vom abendländischen mönchischen Ideal und christlicher Mystik zu unterscheiden ist, gegen die Zimmermann anrennt. Einsam sein bedeutet auch, der Zeit ihr metaphysisches Recht zu geben. Wer als Einsamer haushälterisch mit seiner Zeit umgeht, ermöglicht Gott, zu seinem Herzen zu sprechen. Zimmermann verweist auf den Weltheiland (IV, 362), der immer 50 51

Vgl. III, 216: „Jede Stunde von ruhiger Sammlung des Gemüths, und ernsthafter Einkehr in sich selbst, giebt unserm Geiste mehr Festigkeit und Stärke […]“. Solche Belege widersprechen Schings, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 217ff. Vgl. auch IV, 41: „Eine Art von süsser Melankolie, befällt uns zwar bisweilen, im Schosse ländlicher Ruhe, beym Anblick aller Schönheit der Natur. Zu lauter Freude sind wir alsdann nicht gestimmet; aber deswegen geniessen wir nur desto besser jeden freundlichen Ruheplatz“.

218

wieder religiöse Einsamkeit aufsuchte. Ihm gilt es nachzufolgen, damit sich die Seele „durch das stete Anschauen unserer Verhältnisse mit Gott erhebe“ (IV, 362). Dann werde die Träne der Zerknirschung von den Augen fallen, kein Seufzer werde ohne Wirkung zum Himmel steigen, „wie da die Seele schmelze, in der ganzen Zärtlichkeit der Andacht, vor dem der sie erschaffen hat und vor dem der sie erlöset“ (IV, 362). Zimmermann appelliert gerade an die Traurigen, Beladenen, durch Schwermut Niedergeworfenen, denn die Zeit wird kommen, die ihren „Herzen Ruhe gewähret“ (III, 339) in religiöser Einsamkeit und „erhabene Freude“ (III, 235) erleben lässt, in einer „seligen Mitte […] zwischen Erde und Himmel“ (III, 235). Es ist ein Seelenzustand von Unschuld52 und Glückseligkeit, womit der „erste und letzte Zweck des Lebens […] doch wol glücklich zu seyn“ (IV, 334) erreicht ist.53 Die gesamte Einsamkeitsschrift tritt mit der Absicht auf, einen „Beitrag zu einer praktischen Untersuchung über menschliche Glückseligkeit“ (I, 9) zu leisten, und berührt sich darin mit G. S. Steinbarts 1778 erschienenem „System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christentums“, für das Christentum Glückseligkeitslehre und als solche Moral ist.54 Zimmermanns Gefühlsreligiosität lässt Herz und Kopf zusammenwirken gemäss der Anleitung in III, 164: „Gehe darum doch jeder abseite, und rede da mit seinem Herzen, wenn er besser und klüger will denken lernen, als er denket“. Gefühl und Verstand verschränken sich in symbiotischer Beförderung, um „den rechten Weg“ (III, 164) zu finden, „in steter Prüfung des Wahren, und in ungehinderter Übung praktischer Philosophie“ (III, 165).55 Wiederum führt Zimmermann zunächst eine Negativliste an, die enthält, was nicht „ein klein wenig wahre Philosophie“ (III, 164) sei. „Nicht Schwärmerey“, „nicht dunkele Empfindungen, spielende Gefühle, und sinnliche Vorstellungsarten“ sind anstelle „deutlicher Begriffe“ zu setzen, „nicht Träumereyen“ für „Erfahrungen“ zu nehmen, auch „nicht Kopfhängerey und Pietisterey“ und „trauriges Zurückweichen von unschuldigen Vergnügungen“ 52 53

54 55

Vgl. IV, 282: „Ein Leben der Unschuld, der Einfalt, und der Ruhe, macht das Herz viel geschickter zu Gott aufzusteigen“. „Glückseligkeit ist der einzige letzte und höchste Wert, der der natürlichen Vernunft durch sich selbst einleuchtet und nach dem von Haus aus alle lebendigen Wesen streben“. Wernle 1923, S. 12. Das Verhältnis Zimmermanns zu Steinbart im Horizont der jeweiligen GlückseligkeitsKonzeptionen wäre eine eigene Untersuchung wert. Philosophie und Religion bilden gleichsam „ein schönes Band. Sie führen uns beyde in uns selbst“ (III, 221). Neben vernunftdiktiertem Erwägen steht inniges Gebet: „Du aber, du Seele der Welt, Gott, du erste Quelle der Bewegung und des Lebens, du der mich leben macht, du der die Quelle meiner Gedanken bist, weil meine Seele in dir ihren Ursprung hat, lenke und stärke meinen Willen, stärke meine Begierde zum Guten“. Tagebuch 1753, Hummel 1975, S. 128. Gottesgewissheit schliesst zweifelnde Gefühlsschwankungen nicht aus, die ihm seine Erlösungsbedürftigkeit vor Augen führen: „Eiteler Wunsch! Eiteles Gebet! Das Gebet erhebet die Seele zu ihrem Schöpfer. Ich habe mich im Sturm zu ihm gewandt. Habe ich dann an dich! o du! (dann dein Nahme ist Schreken), habe ich an dich gedacht in dem Thale der Ruhe? […] Meine Fehler deken sich auf. O wie glükselig bin ich, das ich in mich selbst sehe! Was erblike ich --- Nein, ich will nicht verzweifeln“. Tagebuch 1753, Hummel 1975, S. 128.

219

(IV, 285) sind nötig. Zimmermann wendet sich gegen die „zanksüchtigen Schriftgelehrten, Pharisäer, Buchstabenmenschen, und Pedanten“ (IV, 396) und „Glaubensmeisterey“ (II, 504), gegen „steife Pedantentheologie die dem Herzen nichts sagt, und durch ihr Schulgeschwätz weder erleuchtet noch bessert“ (IV, 396f.),56 aber er setzt sich mit pädagogischem Furor ein für „wahre und wesentliche Religion“ (IV, 396). Vita activa und vita contemplativa57 müssen sich gegenseitig ergänzen im Hinblick darauf, „der Absicht Gottes zu entsprechen“ (IV, 339). In jenem Abschnitt des Werks Vom Nationalstolze, der eine Revolutionsprognostik enthält, bringt Zimmermann dieses Zusammenwirken von Herz und Verstand, das keine Herrschaft der Vernunft bedeutet, auf die Formel: „rührend für das Herz […] und einleuchtend für den Verstand“.58 Für Gott steht der Verstand nicht über dem Herzen, im Gegenteil, da „Gott unsere Herzen richten wird, und nicht unsern Verstand“.59 Worin besteht das anzustrebende Ziel der Einsamkeitsgefolgschaft? Eine Stelle im zehnten Kapitel gibt zusammenfassend Auskunft: Aber Zug nach grossen Gegenständen und entzündete Leidenschaft, zeigen dem Einsamen die Möglichkeit auf einer Höhe zu stehen, vor der dem Weltling schwindelt. Jener ist umgeben von allem was den Verstand erweitert, das Herz erhöhet, den Menschen über sich selbst erhebet; er fühlet dass er unsterblich ist (III, 445).

Tatsächlich finden sich im elften Kapitel des vierten Teils Zimmermanns „Aussichten in die Ewigkeit“.60 Im Einsamkeitswerk nämlich gibt Zimmermann einen Bericht vom Tod und der Verklärung seiner Tochter (III, 228–234) durch expressis verbis genannte „Aussichten in die Ewigkeit“ (IV, 293–298). Zimmermanns Tochter hatte „einen aus Naturkräften mir unerklärbaren Heldenmuth zum Dulden und Leiden“ (III, 230), der ihr eine „selbstständige Erhabenheit“ (III, 230) verlieh auch und gerade bei Befolgung der Religionspflichten: „Göttlich freudig sah ich sie immer, wenn sie vom heiligen Abendmahl kam“ (III, 230). Im Alter von 25 Jahren stirbt die Todessehnsüchtige nach neunmonatiger Krankheit 1781. Ihre letzten, in der Agonie ausgesprochenen Worte sollen gewesen sein: „Himmelsfreude heute!“ (III, 233). In ihren Schriften findet der Vater die „feurigsten von ihrer Hand geschriebenen Gebete zu Gott, dass sie sterben könne, dass sie bald sterbe, bald hingenommen werde zu ihrer heiligen Mutter!“ (III, 233). Durch ihren Tod, dessen ist der „nach diesen Wohnungen des Friedens“ (III, 234) aufsehende Zimmermann gewiss, ist seine Tochter „itzt durch Himmelsfreude vollkommen, ewig mittheilsam, ewig thätig“ (III, 234). Für die diesseitig Zurückbleibenden 56

57 58 59 60

Vgl. IV, 397: „Aber für Menschen, die ohne Enthusiasmus und Schwärmerey nicht gut seyn oder werden können, ist Mystik, ist Herrnhuterey, ist Alles was man will, besser, als steifer und herzloser theologischer Unterricht“. Vgl. IV, 338: „Der Mensch ist eben so gut zum denken wie zum handeln, also zum speculativen wie zum thätigen Leben gemacht; aber mit der Absicht, dass er in beyden sich übe“. Nationalstolz 1789, S. 119f. Nationalstolz 1789, S. 116. Vgl. 13. Zu Zimmermanns theologiegeschichtlichem Ort, S. 408ff.

220

gewinnt der erzählte Tod Vorbildcharakter und Zimmermann fragt eindringlich: „Wer wollte nicht alles hingeben, alles wagen, alles versuchen, um Kraft zum Leiden zu finden, und geduldige Unterwürfigkeit, bey jeder stillen Einkehr in uns selbst, in jeder einsamen Unterredung mit Gott?“ (III, 234). Es ist der heilige Niklaus von Flüe, der von Zimmermann in diesem Zusammenhang gewürdigt wird, zunächst seiner politisch einheitsstiftenden Leistung wegen, die zum Stanser Verkommnis von 1481 führte (IV, 408–411). Indem er den Heiligen, der den Tod von Zimmermanns Tochter gleichsam kommentiert, gegen Devotionalienkitsch immunisiert, verlangt er: „so gesegnet hingegen, so edel und gross, ist in den Herzen aller Schweitzer die noch wissen dass sie Schweitzer sind, das Andenken dieses Heiligen“ (IV, 411). Niklaus von Flüe wird in Lavaters Schweizerliedern als Retter des Vaterlandes besungen: „Ein Heiliger, und war ein Held. Wo, Brüder, ist ein frömmrer Bether? Ein bessrer Bürger in der Welt?“61

Das zehnstrophige Lied über Niklaus von Flüe ist „ökumenischer Patriotismus“,62 in deren Tradition auch Zimmermann mit seiner Einbeziehung des Heiligen steht: „Die Reformierten haben ihn […] als Vorläufer ihrer Reformation und als Pazifikator in patriotischer Erinnerung behalten […] Der ‚Held‘ ist die Verdeutlichung dessen, dass nicht allein Kriegshelden – wie in den übrigen historischen ‚Schweizerliedern‘ – Vorbild sein sollten […] Niklaus von Flüe ist denn auch in der Helvetischen Gesellschaft neben Tell zum bedeutendsten nationalen Vorbild aus der Heroenzeit geworden, und dies, wie sich nachweisen lässt, bewusst ökumenischpatriotisch“.63 Das Gebet des Schweizer Nationalheiligen, „Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich trennet von dir“, entspricht in ihrer Selbstaufopferung auch der religiösen Grundhaltung von Zimmermanns Tochter: „Sie traute Gott ganz, sich selbst durch eigenen Antrieb, in nichts“ (III, 230). Seine „Aussichten in die Ewigkeit“ konkretisiert Zimmermann am Ende des elften Kapitels, indem diese eine therapeutische Wendung nehmen. Der oben beschriebene Seelenzustand von Einsamkeitsfrömmigkeit wird durch die Symbiose von Einsamkeit und Religion zunehmend vervollkommnet und zeitigt Läuterung und Erhöhung und damit Heilung sowie Heil, weil er „wahrscheinlich auch einige Analogie mit den Freuden der Ewigkeit“ (IV, 294) aufweist. In direkter Anknüpfung an seine Aussichten von 1766 führt Zimmermann aus: „Bis Grab, Wolken, und Dunkel die Ewigkeit nicht mehr umhüllen, bis die Decke fällt, und bis geoffenbaret seyn wird, was kein Auge gesehen, kein Ohr gehöret, und in keines Men-

61 62 63

Lavater, Johann Kaspar, Schweizerlieder mit Melodien. 4. Auflage, Zürich 1794, S. 31. Vgl. Im Hof 1985, S. 102. Im Hof 1985, S. 103.

221

schen Herz nie gekommen ist“ (IV, 295).64 Es wird eine „Welt von Ruhe ohne Sinnlichkeit“ (IV, 297) sein mit endloser Glückseligkeit.65 Wer die in der Einsamkeitsschrift verordneten Rezeptgebote befolgt, jene „Fertigkeiten der Seele“ (IV, 298) zu erwerben trachtet, die sie zu vermitteln sucht, der wird religiös gelebte Einsamkeit praktizieren, die ihn ewigkeitstauglicher werden lässt. Er erfährt bereits zu Lebzeiten unbestreitbar den „Anfang der Seligkeit“ (IV, 297).66 Vergegenwärtigt man sich Zimmermanns Einsamkeitstheologie, wird man eine ausgesprochen lebendige Gefühlsreligiosität feststellen, die gerade bei aller Polemik gegen „Pietisterey“ (IV, 285) stark pietistisch geprägt bleibt. Im Insistieren auf eine individuelle Akzentuierung von Religiosität im Zeichen von Einsamkeit vollzieht sich jedoch ein feststellbares Abrücken von heteronomen Positionen. Wichtig wird die thearpeutische Wirksamkeit von Religion. Die christliche Offenbarung mit ihren Verheissungen sowie die Erfüllung der Religionspflichten67 werden keinesfalls pauschal in Abrede gestellt. Alle religiösen Ausrichtungen, Orthodoxie oder radikaler Pietismus68 nicht ausgenommen, behalten ein Existenzrecht, sofern sie therapeutisch innere Harmonie und Ganzheit begünstigen. Zimmermann schliesst sich Petrarcas Behauptung an, dass Kultivierung des Geistes durch die „schönen Wissenschaften, die uns zunächst der Religion, das grösste Vergnügen gewähren“ (III, 349) unabdingbar in praktizierte Einsamkeit führen müsse. Flucht-

64

65 66

67

68

„Was dem Blindgebohrnen die Purpurfarbe war, die er sich wie den Schall einer Trompete dachte“ (IV, 295), Vgl. Versuch 1779, S. 55. Beim Eislauf in Hannover machte eine „Gleichheit des Bedürfnisses […] fast alle Stände gleich. Alles näherte sich der (von der unsrigen vielleicht etwas verschiedenen) Rangordnung im Himmel“. Zimmermanns Sehnsucht nach Seelenruhe gemahnt auch an die Totenfürbitte: „Herr gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen, lass sie ruhn in Frieden. Amen“. Vgl. den Schluss der Haller-Biographie, die in die Apotheose Hallers mündet: „[…] wann wir in jenem Lande der Unsterblichkeit […] unsere betrachtenden Augen erheben, wann unsere Seelen geschwinder als die wallenden Ausflüsse der fernen Sonne die entlegensten Oerter des unermesslichen Aethers durchstralen, die Natur in der Natur, Wesen in Wesen, und Kräfte in den Kräften finden werden“. Leben Haller 1755, S. 417. In der Brugger Zeit verrichtet er jeweils sein Abendgebet: „Um zehen Uhr legte ich mich ohne die geringste Beschwerde in meinem Leibe und in meiner Seele zu verspüren, ganz heiter und friedsam zu Bette. Ich richtete nach meiner Gewohnheit mein Herz zu GOTT, und schlief ein“. Der Erinnerer. Eine Wochenschrift. Auf das Jahr 1766. Zwölftes Stück, 20. Merz 1766, S. 107. Am Ende seines Lebens, im dritten Teil des „Memoire an Seine Kaiserliche Königliche Majestät Leopold II. über den Wahnwitz unseres Zeitalters und die Mordbrenner, welche Deutschland und ganz Europa aufklären wollen“, bekennt Zimmermann ohne Wenn und Aber: „Ich bin ein Protestant von der Helvetischen Confession“. Memoire. Hg. v. Ch. Weiss. St. Ingbert 1995, S. 70 (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts 24). Diese Erklärung einer Konfessionszugehörigkeit in seiner letzten grösseren Schrift steht im Zusammenhang mit dem Bestreben, Konfessionshader der antirevolutionären Sache wegen unbedingt zu vermeiden, und ist deshalb nicht zwingend als Schlusswort seiner religiösen Auffassungen zu verstehen. Massgeblich durch seine politischen Aktivitäten und durch seinen beschleunigten physisch-psychischen Zerfall nach 1793 verursacht, scheint er sich einer orthodoxen Position anzunähern. Vgl. Schrader, Hans-Jürgen, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Heinrich Reitz’ Historie der Wiedergebohrnen und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989 (Palaestra Band 283).

222

punkt ist und bleibt die über alles ersehnte Seelenruhe, zu der Medizin, richtig verstandene religiöse Einsamkeit und schriftstellerische Tätigkeit mit ihren je eigenen therapeutischen Wirkmöglichkeiten beitragen. Der Schluss des elften Kapitels umreisst in nuce diese religiöse Toleranzhaltung: „Übrigens lebe jeder wie es ihm gefällt, und übe Tugend aus wo Er will, und verschaffe sich nach eigener Wahl jedes Vergnügen, wovon er überzeugt ist, es habe hier, und in der Ewigkeit, den Beyfall Gottes und seines Gewissens“ (IV, 298).69

8.5 Religiöse Toleranz und christliche Ökumene 8.5.1 Toleranzhaltung Zimmermanns Religionskritik, die seiner spezifischen Einsamkeitskonzeption entspringt, verschont grundsätzlich die Kirchen als sowohl vor- wie nachreformatorische Einrichtungen nicht.70 Katholiken wie Protestanten werden mit polemischer Kritik bedacht: „Aber Controverspredigten sind anitzt in Deutschland, bey Catholiken und Protestanten, alter reichsstädtischer Bocksbeutel, Mahlzeichen noch herrschender Dummheit, ewiger Zunder zu blindem Menschenhass und unaufgeklärtem Eifer“ (II, 497). Zimmermann macht keinen Unterschied zwischen katholischen und evangelischen Würdenträgern, zwischen „Päbsten und Consistorialräthen, Cardinälen und Superintendenten, Bischöfen und Hauptpastoren, Bettelmönchen und Predikanten“ (II, 499), wenn ihm intransingent dogmatische, buchstabengläubig intolerante Religionsauffassung begegnet, denn er weiss, „dass wol Menschen von allen Ständen und von allen Religionen, andere Menschen durch Marter zwingen würden ihre Meinungen anzunehmen, wenn sie die Macht dazu hätten“ (II, 499).71 Gleichwohl begegnet masslose Polemik gegen die Institution der römisch-katholischen Kirche: „Jesus Christus […] sagte uns nichts von seinem Stadthalter im Vatikan. Dreyfach gekrönter Aberglauben ist nicht sein Evangelium. Der heilige Geist wohnte nie in Rom. Einsamkeit erzeugte den Mönchsgeist, und Unmenschlichkeit erfand die Inquisition. Das Evangelium Jesu Christi erhebt sich über das Pabstthum durch seine Milde […] Hildebrandt und seine Kirche, und alle 69

70

71

Vgl. die Stelle in Nationalstolz 1789, S. 59: „Gehet nicht jeder den nächsten und bequemsten Weg, so ist er doch allemal auf einem Wege, der ihn zum Ziele führet, wenn er an die Offenbarung glaubt, die uns zu einem reinen und tugendhaften Leben, und durch dieses zur Theilnehmung an allen Verheissungen der Religion leiten soll“. In seinem zwar ästhetisch misslungenen, aber für Zimmermanns religiöse Haltung aufschlussreichen Gedicht Die Zerstörung von Lissabon (1756), übt er strenge Kritik an der römischkatholischen Kirche, die sich „mit Weihrauch, Opfer und Ablass über die ‚wahre Busse’ hinwegheuchle und diese Heuchelei sogar institutionalisiert habe in Gestalt der heiligen Inquisition, vor der selbst die Throne zitterten“. Martin Rector, Johann Georg Zimmermanns Gedicht Die Zerstörung von Lissabon (1756), in: Schramm 1998, S. 88. In Leben Haller 1755, S. 399, ist vom „zu Rom herrschenden Verderben, und der protestantischen Länder Fehler“ die Rede, die ein „Freygeist“ gegen das Christentum vorbringen könnte.

223

Glaubensmeister und Ketzermacher in allen Religionen, waren doch nie genug schlau und mächtig, die Religion Jesu ganz zu ersticken“ (II, 511).72 Daneben findet sich eine bemerkenswerte religiöse Toleranzhaltung, auch der katholischen Kirche gegenüber, auf die nachfolgend kurz eingegangen werden soll. Sie berechtigt, im Falle des Einsamkeitswerks von einer ökumenischen Toleranzschrift zu sprechen. Die „deutliche Annäherung der Konfessionen in der Schweiz im späteren 18. Jahrhundert“ bei bestehenden strengen konfessionellen Schranken deutet sich auch bei Zimmermann an.73 Er berichtet von der jährlichen Versammlung schweizerischer Offiziere, die sich in Sursee, unweit des Schlachtfelds von Sempach, freundschaftlich begegnen: „Officiere zwischen zwanzig und siebenzig Jahren, beyder Religionen, giengen Arm in Arm umher, bey diesem herzlichen Nationalfeste“ (IV, 17ff.).74 Das ist „ökumenischer Patriotismus“, der in der „Helvetischen Gesellschaft“ eine zentrale Rolle spielte, denn wenn man die „Vertraulichkeit“ unter den Eidgenossen wieder wecken wollte, so hiess das in erster Linie, Bürger von katholischen und reformierten Kantonen in helvetischer Freundschaft zusammenzuführen, als Schweizer sicherlich, aber auch als Christen zweier Konfesionen.75

72

73

74

75

An Haller schreibt er am 8. Dezember 1755: „Quant j’ai comparé Rome, Luther et Calvin, j’ai parlé du faux zele que je croyois avoir observé dans l’une de ces sectes comme dans l’autre“. Ischer 1907, S. 200f. Vgl. die Zustimmung für den bayerischen Aufklärer Johann Pezzl (1756– 1823) und dessen „Reise durch den Baierschen Kreis“ (1784) in II, 414; IV, 439f.; IV, 463– 470. Lindt, Andreas, Zum Verhältnis der Konfessionen in der Schweiz im 18. Jahrhundert, in: Zwischen Polemik und Irenik. Untersuchungen zum Verhältnis der Konfessionen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Hg. v. G. Schwaiger. Göttingen 1977, S. 62. Lindt verweist S. 62 auch auf Lavaters Schweizerlieder: „Wir sind ein Leib nur, nur ein Herz“. Iselin behandelt in seinen „Ephemeriden der Menschheit“ ab 1776 zunehmend katholische Themen; auch die „Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz“ (Freiburg 1994) stellt für das Zeitalter der Aufklärung fest, dass „der konfessionelle Gegensatz eine eklatante Relativierung erfährt“ (S. 185). Es war besonders das Anliegen der Helvetischen Gesellschaft, die konfessionelle Spaltung in der Eidgenossenschaft aufzuheben, um u.a. zu verhindern, dass in fremden Diensten nicht Schweizer gegen Schweizer kämpfen. Vgl. Nabholz, H., Die Helvetische Gesellschaft 1761–1848. Zürich 1961 (Schriften der neuen Helvetischen Gesellschaft im Atlantis Verlag Bd. 8). Wolfgang Albrecht relativiert: „Über das Verhältnis der Konfessionen und über die kirchlichen Reunionsbestrebungen um 1800 gehen die Ansichten (weiterhin) auseinander“. W. A., Deutsche Spätaufklärung. Ein interdisziplinärer Forschungsbericht bis 1985. Halle 1987 (Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1987/64). Vgl. auch Beda Mayr, Der erste Schritt zur künftigen Vereinigung der katholischen Kirche, gewagt, fast wird man es nicht glauben, von einem Mönche. München 1778. P. Mayr OSB ist führender und viel angefeindeter Propagator einer ökumenischen Annäherung von protestantischer und katholischer Kirche. Das Werk kommt 1783 auf den index librorum prohibitorum. Vgl. Erf. II, S. 557: „[…] unter einigen Freunden unsers Schweizerischen Vaterlandes beyder Religionen gestiftete, und nun daselbst (sc. Bad Schinznach) jährlich sich versammelnde Helvetische Gesellschaft“. Ulrich Im Hof 1985, S. 95. Im Brief an Deluc vom 18. 4. 1788 liest man: „si nos opinions sur mille et mille choses etoient et seroient eternellement aussi differentes que celles de Calvin et du Pape, je ne cesserois pourtant jamais de Vous aimer de toute ma tendresse“. StAAG NL. A193, Fasc. 11/5. Am Ende seines Lebens arbeitet Zimmermann mit dem ehemaligen Jesuiten

224

Begeistert zeigt sich Zimmermann von seinem Miteidgenossen G. J. Zollikofer (1730–1788), dem reformierten Prediger in Leipzig, der 1771 Lavaters „Geheimes Tagebuch eines Beobachters seiner selbst“ herausgab und mit Garve korrespondierte. Im Einsamkeitswerk wird der gebürtige St. Galler eingeführt mit der Anrede „O mein Zollikofer“ (IV, 40). Garve berichtet von Zollikofers einsamem Tod in einer selbständigen Schrift,76 worin er ausführt, dass „er (sc. Zollikofer) in seinen letzten Tagen die vollkommene Einsamkeit, selbst der Gegenwart seiner Gattin und seiner Freunde vorzog […] und dass er sich von ihnen nur deswegen entferne, um sie weniger leiden zu lassen, und um seine ganze Stärke zum Kampfe gegen seine eigene Leiden aufzubehalten“.77 Seine Predigten, die trotz ihres abweisenden Umfangs von Zimmermann als Lektüre für jedermann empfohlen werden, seien „nicht mit hölzerner und viereckter Theologie, sondern in der wahren Sprache des Herzens“ gehalten, so dass sich beim Geschäftsmann, beim Gelehrten, überhaupt bei allen Menschen das Herz erweitere: „Hier werde der Niedergeschlagene aufgerichtet, der Fehlende zurechte gewiesen, der Träge ermuntert, der Ängstliche beruhigt“ (IV, 41).78 Zimmermann ist derart in seelischem Gleichklang mit Zollikofer, dass er sich seiner Worte bedient, um seine eigenen Gesinnungen über die Vorteile der Einsamkeit im Hinblick auf Aussöhnung mit sich selbst, mit seinen Mitmenschen und der Welt auszudrücken: „Es sind die Worte eines öffentlichen Lehrers meiner Religion und meiner Theologie, aber nicht einer Religion die herrschen will, nicht einer Theologie die von den Herzen abprellt“ (IV, 102).79 Eine

76 77 78 79

Leopold Aloys Hoffmann zusammen und tritt für die Gründung eines überkonfessionellen Fürstenvereins ein, um dem „Wahnwitz unsers Zeitalters“ entgegenzuwirken: „Wo liegt zu diesem grossen Zwecke zwischen den katholischen und protestantischen Souverains der wahre und ewige Vereinigungspunkt?“. Brief von Zimmermann an Hoffmann vom 26. Oktober 1791. Erläuterungen 1798, S. 115. Hoffmann schreibt aus der Haltung gekränkter Eitelkeit, die wünscht, die eigene Rolle angemessen herausgestellt zu sehen. Es gelte nicht das Trennende zu sehen, sondern das Verbindende für die gemeinsame Sache. In diesem Sinn und Geist äussert er sich im dritten Teil seiner „Memoire an seine Kaiserliche Königliche Majestät Leopold II. über den Wahnwitz unseres Zeitalters und die Mordbrenner, welche Deutschland und ganz Europa aufklären wollen“: „Aufrechterhaltung der christlichen Religion und ernsthafte Handhabung ihrer Wahrheit und Gesetze, muss jezt der höchste und lezte Zweck seyn aller catholischen und protestantischen Souverains […] weil doch jezt eine wahre Gemeinnoth fodert, dass man sich mit dem Pabst (sc. Pius VI.) völlig vereinige um einem dringendern Feinde zu begegnen! – Alle Religionsstreitigkeiten wären jezt vollends Unsinn“. Vgl. Memoire an Seine Kaiserliche Königliche Majestät Leopold II. über den Wahnwitz unseres Zeitalters und die Mordbrenner, welche Deutschland und ganz Europa aufklären wollen. Hg. v. Christoph Weiss. St. Ingbert 1995. (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts 24), S. 70. Garve, Christian, Über den Charakter Zollikofers an Herrn Creyssteuer-Einnehmer Weisse in Leipzig. Leipzig 1788. Garve, Über den Charakter Zollikofers., S. 45. An anderer Stelle vermerkt Zimmermann, Zollikofers Predigten seien von der Art, dass sie die „Menschen von allen Religionen mit gleicher innigster Erbauung lesen werden“ (II, 84). Nicht um verbissenen Konfessionshader handelt es sich, wenn Zimmermann, den Schalk im Nacken, an Lavater schreibt: „Meine grösste Ambition wäre ein wirksames Mitglied von einer societe de morale einer C a t h o l i s c h e n Stadt zu sein; ich mache mir hievon einen sublimen Begriff“. Brief von Zimmermann an Lavater, 1. Juli 1766, in: Rudolf Ischer, Neue

225

Toleranzhaltung, die sich im Rahmen des ethisch Vertretbaren gegenseitig zugesteht zu glauben, was jeder will, würde nach der Einschätzung Zimmermanns seinen Streit mit Obereit sofort beseitigen: „Aller Streit über Einsamkeit zwischen Obereit und mir wäre augenblicklich geschlichtet, wenn nur Einer dem Andern zu gut hält, dass er glaubt was er will und kann. Glauben kann doch jeder was er will, wenn er nur thut was recht ist?“ (III, 102f.). Im zwölften Kapitel des vierten Teils findet der Leser eine Apologie der Mystik, die ganz oekumenisch ausgerichtet ist. Vor allem im reformatorischen Zeitalter herrschte zwischen den verschiedenen konfessionellen Parteiungen unversöhnlich engstirniger Religionsstreit. Auch auf das protestantische Lager erstreckt sich Zimmermanns Religionskritik: „[…] aus jeder Falte von protestantischen Mänteln und Kragen blickt Mönchsgeist, wenn Vorurtheile den Kopf benebeln, und das Herz nach Beförderung und Herrschaft und mehr Beichtmünze lüstert. Nicht Mönche allein haben mit dem Menschenverstande ihres Zeitalters gespielt“ (II, 504). Christliche Mystik jedoch bezeichnete eine über jeder Konfessionsapologetik stehende Dimension: „Mystik brachte alle Köpfe unter einen Hut“ (IV, 394). Lang ist die Liste der katholischen Mystiker, die auch von Lutheranern und Reformierten „gelesen, benutzet, bewundert“ (IV, 393) worden seien; sie enthält neben vielen anderen die Namen Tauler, Johannes vom Kreuz, den Dominikaner Heinrich Suso, den spanischen Jesuiten Alphons Rodriguez (IV, 392f.). Umgekehrt sei auch von katholischer Seite evangelisches Schriftgut, wie jenes der Madame Guyon, rezipiert worden. Ächte catholische und protestantische Mystiker […] haben aus ihren Schriften alle orthodoxen Schulfüchsereyen, allen Zwist, und alle Glaubensstreitigkeiten verbannt. Mystik allein vereinigte Catholiken und Protestanten, war eine allgemeine Herzenssprache, welche catholische und protestantische Frömmeley verstand und liebte (IV, 394).

Mit seiner Problematisierung von Konfession überhaupt steht Zimmermann am Beginn eines vorausweisenden Prozesses, der das menschliche Dasein losgelöst

Mitteilungen über Zimmermann, Euphorion 8 (1901), S. 634. Auf keinen abgrundtiefen Hass Katholischem gegenüber lassen die Grüsse an solothurnische katholische Persönlichkeiten und die Ermahnung an die Gemahlin seines Briefpartners Glutz aus Solothurn schliessen. Banholzer 1997, S. 84: „[…] so belieben Sie zu bedenken dass man aus Klöstern doch auch zuweilen an uns Unheilige schreibt, ja dass es sogar in Europa ein Jesuitenkloster giebt in welchem man für einen Kezer betet“; S. 85: „Meine herzlichen Complimente an dero würdigen Herrn Bruder, Herrn Chorherr Gugger, Herrn Abbe Hermann […] und alle meine theuersten Gönner, auch an den Hochwürdigen Herrn Pater Guardian der Franciscaner, und den Hochwürdigen Herrn Pater Rector der Jesuiten“ Brugg, 17. Juni 1767; „Sie, liebe Frau Seckelmeisterin, machen sich ihr Rückenweh selbst. Sie gehen zu oft in die Kirche, Sie bleiben zu lange darinn; und die Versorgung von sechs Spieltischen ist eine Sünde, für die ich Ihnen schlechterdings keine Absolution gäbe, wenn ich die Ehre hätte ihr Beichtvater zu seyn“ (Brugg, 6. April 1768), S. 90. Über die Dragonaden Ludwigs XIV. meint Zimmermann nicht ohne Ironie, dass sich die Hugenotten bekehren liessen „zu der mächtigern in Frankreich allein seligmachenden Religion, oder sie wurden wahnwizig“ Erf. II, 369.

226

von Konfessionszugehörigkeit und unabhängig von dogmatischer Theologie zu begründen sucht.80 8.5.2 „Weltreformation“81 Zimmermanns Einsamkeitswerk ist vom Bewusstsein geprägt, an einem säkularen Wendepunkt zu stehen, und ist deshalb durchdrungen von der Vorstellung einer sich vollziehenden zweiten Schöpfung.82 Zimmermann sieht sich deshalb mit seiner Einsamkeitsschrift in einem schlüssigen Traditionszusammenhang mit dem reformatorischen Geschehen des 16. Jahrhunderts. Damals wie heute sei eine Reformation unumgänglich gewesen. Die unreinen Sitten der Mönche und Nonnen waren einer von den dringenden Beweggründen der grossen Reformation, die im sechzehnten Jahrhundert ihren Gegnern so unbegreiflich vorkam, und deren Nothwendigkeit itzt endlich auch jeder äusserst mittelmässig aufgeklärte Catholik begreift (II, 334). Nunmehr gilt: Kraft zu allem ist da. Weisheit und Tugend gedeyen, sobald man das will und mag, bey Hofe wie in der grössten Dunkelheit des Privatlebens, im Pallaste wie auf der Dachstube. Weise Einsamkeit ist nirgends so ehrwürdig wie in einem Pallaste. Von da lässt sich bey dem Adel wie bey dem Volke, Geist und Ungeist, Licht und Finsterniss scheiden, wenn alles dazu vorbereitet ist (III, 374).

Die Bewusstseinshaltung einer „Weltreformation“ (III, 104) findet sich am deutlichsten im siebten Kapitel des zweiten Teils formuliert, das die „Nachtheilige Einwirkung der Einsamkeit auf die Leidenschaften, zumal bey Einsiedlern und Mönchen“ behandelt: Wir sind augenscheinlich der Zeit nahe in welcher Christi Religion nunbald wieder so rein durch die Hände der Menschen gehen wird, als sie vor mehr als siebenzehnhundert Jahren in dieselben kam; in welcher allen Völkern bekannt werden wird, was zum glücklichen Leben und seligen Sterben allein wesentlich ist, für Catholische, Lutherische, und Reformirte Christen; also eine Religion allgemeiner Liebe und Rechtschaffenheit, die nichts übels mehr wirket, viele tröstet, alle bessert und keinen verbrennt. (II, 514)

80

81 82

In Leben Haller 1755, S. 402 heisst es: „Aber mein Herz entsetzet sich vor allen Glaubens= Streitigkeiten. Es rauchen die geheiligten Altäre, es erthönen die Chöre in hellem Hosianna. Was fehlet meiner Freyheit?“. III, 104. Vgl. Nationalstolz 1789, S. 118. Zimmermann spricht vom Bewusstsein, „in den Tagen einer zweiten Scheidung von Licht und Finsternis“ zu leben Alles sei in Gärung, „alles verkündiget eine Reformation in der Philosophie des gemeinen Lebens“, die seinem „Weltalter“ grosse Verbesserungen brächten (Nationalstolz 1789, S. 120). Im Brief vom 26. Dezember 1767 an Hirzel prognostiziert er: „Aber das glaube ich, dass eine zweite Reformation vielleicht in den meisten catholischen grossen Staaten entstehen würde, wenn man in einem eintzigen anfienge […]“. ZZH, FA Hirzel, 239, 206. Im Brief vom 13. Januar 1768 schreibt er: „Die fetten Einkünfte der Klöster sind freilich eine Hauptursache der Revolution die in den catholischen Staaten nahe scheint“. ZZH, FA Hirzel 239, 208.

227

Wiederum begegnet die Denkform vom verunreinigten Christentum, das durch die angesagte Reformation, die alle Völker betrifft, in seinem wahren Gehalt wiederhergestellt werden wird im Geist christlicher Ökumene. Zimmermanns damit verknüpfte Religionskritik mündet in eine umfassende Gesellschaftskritik, die alle Stände, vom Palast zur Dachstube, einbezieht mit dem grössten gemeinsamen Nenner: „Weise Einsamkeit“ (III, 374). Zimmermanns durchgehende, stilbildende Antithetik gewinnt im Zeichen solch apokalyptischen Denkens auch tiefere Bedeutung als dualistischer Ausdruck des Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis in einer „Endzeit“. Widersprüchlichkeit findet sich demnach nicht bloss in individueller Bewusstseinslage, sondern ist ebenso Ausdruck zeitgenössischer Gärung, welche die Stürme der Französischen Revolution vorwegzunehmen scheint. Zimmermann unterscheidet dabei scharf zwischen göttlicher Religion und menschenabhängiger Theologie: „Religion allein bleibt ewig, und Theologie vergeht; denn Religion kommt von Gott und Theologie von Menschen“ (II, 505).83 Die Kleinstadtsatire des dritten Teils stellt lippenbekenntnishafte heuchleri83

Im Werk Vom Nationalstolze nimmt Zimmermann eine Funktionsbestimmung von Religion vor, indem er versichert, der Mensch könne zwar durch seine Verdienste vor Gott nicht bestehen, doch die Religion erhebe seine ganze Natur, indem sie ihn die Grösse seiner Bestimmung zeige und die Art, wie sie sich erreichen lasse (Nationalstolz 1789, S. 199). Vgl. „Allerheiligste Religion, du bist mein höchstes Gut!“ Betrachtungen über die Einsamkeit. Zürich 1756, S. 98. Weitere Belege aus dem Werk über den Nationalstolz, welche die Forderung nach einer konfessionsunabhängigen Religiosität belegen, bei der grundernstes Bestreben eine gottgefällige Lebensführung ist und bleibt, wobei die Verheissungen auch der konfessionellen Religionen wichtig bleiben: „Ehre“ und „Dienst“ gelten einem „von uns erkannten“ Gott, der sich den menschlichen Verstehensmöglichkeiten öffnet. Intoleranz hat scheinbar keinen Platz mehr: „Je mehr der gesunde Geschmack an dem wesentlichen der christlichen Religion überhand nimmt, je mehr begreift man, wie unaussprechlich albern und pöbelhaft die Vorurtheile sind, die bey allen armseligen Köpfen unter den Protestanten wider die Mitglieder der Römischen Kirche, und bey allen armseligen Köpfen in der Römischen Kirche wider die Protestanten wüten“. Nationalstolz 1789, S. 115. Von der Forderung nach Toleranz werden besonders auch orthodoxdogmatische Protestanten nicht ausgenommen: „Hochmuth, und Verfolgungsgeist gebähren […] auch gegen Confessionsverwandte die harte und argwöhnische Polemik, das inquisitionsmässige Verfahren, nach welchem in der Theologie nicht mehr gedacht, sondern nur nachgesprochen werden soll, nach welchem Wahrheit und Freyheit, und Wissenschaft, durch jene berüchtigte Eiferer unter den heutigen protestantischen Zorntheologen endlich verloren gienge, wenn man ihnen nicht zuweilen die Köpfe mit einer Lauge waschen würde, die beizend ist“. Nationalstolz 1789, S. 111. Der Absolutheitsanspruch einer einzelnen Konfessionsreligion, der nicht ein philosophischer Prüfstein beigegeben ist, muss als verwerflich gelten, weil sie dem „Teufel in seinem Handwerk“ vorgreift: „Die unvermeidliche Folge der Vorurtheile für die Untrüglichkeit seiner Kirche, ist die Intoleranz; und diese zeuget hinwieder das zahlreiche Ungeziefer giftiger Vorurtheile, die jedem mit dem Fliegennetz der Philosophie nicht gesicherten Menschen wie die Mücken in heissen Ländern bey Myriaden um die Ohren summsen, um ihn mit ihren Stacheln zu quälen. So lange man hoft, dass die ganze Welt sich doch zulezt zu einem einzigen Lehrbegriffe werde bekennen müssen, so lange hält man sich auch für schuldig und verbunden, das grosse Werk der Bekehrung zu befördern“. Nationalstolz 1789, S. 109. Ökumenischer Wunsch ist der Vater des Toleranz-Gedankens in einer konfessionell geeinten Gelehrtenrepublik: „Der Pöbel unter uns ist gewohnt, ordentlich zu erstaunen, wenn er von dem edeln Verfahren eines Catholiken gegen einen Protestanten hört; wenn er sieht, dass zwischen ihnen und uns die grösste Hochachtung, die zärtlichste Freundschaft, und der aufrichtigste

228

sche Theologie und eine lebenspraktische religiöse Haltung einander gegenüber bei gleichzeitig vehementer Ablehnung von Aberglauben und Freigeistern (III, 264ff.).84 Dass man auch als Katholik im josephinischen Oesterreich wahrhaft fromm sein könne,85 belegt die rhetorische Frage: „Welcher vernünftige Catholike kann sich von seiner Kirche sondern wollen, da sie doch Kaiser Joseph von aller Unvernunft gereinigt hat?“ (IV, 493). Seine Konzeption von Ökumene lässt eine Denkform erkennen, die der christlichen Geschichtstheologie von Sündenfall, Zwischenzeit und göttlicher Erlösung folgt, indem sie vom Verlust einer Harmonie mit dem Ganzen der Schöpfung Gottes ausgeht, für welchen massgeblich, aber nicht ausschliesslich, die behauptete Verfälschung durch sogenannte Mönchstheologie verantwortlich gemacht wird, „alle diese Vorurtheile über Orthodoxie und Irrglauben, Bekehrungssucht und Verdammung“ (II, 505). Die göttliche Erlösung am Ende der Zeiten wird keineswegs preisgegeben. Die dritte Phase erneuerter Einheit wird partiell vorweggenommen, indem sie der Eigenverantwortlichkeit der Menschen anheimgestellt wird: „Wir sind Alle orthodox, Catholiken Lutheraner und Reformirte, wenn wir uns alle lieben“ (II, 505). Die Apotheose Josephs II.86 und dessen kritiklos bewundertes Reformwerk realisieren zeitgenössisch, was sich am Ende der Zeiten voll-

84

85

86

Diensteifer Platz hat“. Nationalstolz 1789, S. 115. In Leben Haller 1755, S. 394, heisst es kurz und bündig: „Der Lehrer von Genf (sc. Calvin) ist ein Mensch, und die Religion kommt von GOTT“. Eine Stelle aus dem sechsten Kapitel Von dem Religionsstolz der fünften Auflage Vom Nationalstolz (1789) spricht eine deutliche Sprache, voll innerer Beteiligung und ohne Verstellung: „Ein Gott der Liebe wird uns richten; er wird uns nach der Aufrichtigkeit und der Treue richten, mit der wir ihm dienen. Gehet nicht jeder den nächsten und bequemsten Weg, so ist er doch allemal auf einem Wege, der ihn zum Ziele führet, wenn er an die Offenbarung glaubt, die uns zu einem reinen und tugendhaften Leben, und durch dieses zur Theilnehmung an allen Verheissungen der Religion leiten soll. Die Hofnung (sic) gründet sich nicht auf die Theologie eines Menschen, sondern auf seine Religion: nicht so sehr auf seine Meinungen und sein Wissen, als auf die Würdigkeit, Reinigkeit, und Rechtschaffenheit seines Lebens. Man kann darum in allen Religionen fromm seyn, wenn man sich die Richtung des Herzens angewöhnet hat, der zufolge die Ehre und der Dienst des von uns erkannten Gottes der oberste Bestimmungsgrund aller unserer ernsthaften Handlungen ist, und bleibet“. Nationalstolz 1789, S. 59. In der Schrift Vom Nationalstolze stellt Zimmermann fest, dass man „in allen Religionen wahrhaftig fromm seyn“ (Nationalstolz 1789, S. 59) könne, falls man jener „Richtung des Herzens“ folge, für welche „die Ehre und der Dienst des von uns erkannten Gottes“ die Handlungen des Einzelnen bestimme. Die „Hofnung der Seligkeit“ gründe sich nicht auf die Theologie eines Menschen, sondern auf seine Religion, „nicht so sehr auf seine Meinungen und sein Wissen, als auf die Würdigkeit, Reinigkeit und Rechtschaffenheit seines Lebens“ (Nationalstolz 1789, S. 59). Sein Charakterzug, sich einer übermächtig empfundenen Instanz kritiklos zuzuwenden, zeigt sich bereits im Lehrgedicht der Zerstörung Lissabons von 1755 in der Anrede an den guten Fürsten José II., den König von Portugal. Am Schluss von Pezzls Episodenroman „Faustin oder das philosophische Jahrhundert“ findet sich übrigens eine seitenlange Apologie Josephs II. Zum Faustin-Roman vgl. Christoph Siegrist, Antitheodizee und Zeitkritik. Zur Situierung von Pezzls Roman „Faustin“, in: Herbert Zeman (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (1750–1830). Bd. 2. Graz 1979, S. 829–851.

229

ziehen wird: „Sind wir nicht Eins geworden, seit der grossen Reformation im Jahre 1781?“ (IV, 493). Seine Botschaft der Enttheologisierung durch Ökumene lautet: Darum mein Lieber, höre du immer deine Messe in der Stephans Kirche in Wien, und lass mich geruhig in Hannover in meine Reformirte Kirche gehen, die keinen Thurn hat, und keine Glocke. Im Grunde ist die Religion deines Herzens und meines Herzens einerley. Also trennet uns nichts. (IV, 493).87

Die eschatologische Naherwartung verbindet Zeitgeschichte mit der christlichen Heilsbotschaft. Zimmermanns Ökumenedenken ist also heilsgeschichtlich ausgerichtet, bewegt sich aber, im Unterschied zum Chiliasten Lavater, auf zwei Bezugsebenen. Er unterscheidet zwischen einer individuell geprägten, im Einsamkeitserleben gedeihenden Herzensreligion, die konfessionsübergreifend wahr ist, und einer erstarrt verstandesmässig operierenden Theologie, deren üble Folgen vor allem im Mönchtum aufgegangen seien. Zimmermanns Art von eschatologischer Säkularisation besteht darin, dass er in den oben ausführlich zitierten Textstellen selbst eine heilsgeschichtliche Erfüllung proklamiert und auch im Text partiell bereits diesseitig herbeizwingt. Die biblische Verheissung wird dabei nicht in Frage gestellt. Im verbindlichen Bezugsrahmen christlicher Heilsgeschichte nistet sich eine ökumenisch orientierte, überkonfessionelle Herzensreligion ein, die je persönliches Glücksstreben und Heilsgeschichte der Menschheit miteinander verknüpft und damit einen individueller Gesetzlichkeit gehorchenden Freiraum eröffnet, der nichts von festlegender und festgelegter Theologie wissen will. Zimmermanns Einsamkeitsschrift gehört in den Umkreis von Erweckungs- und Erbauungsschriften, die dem Pietismus nahestehen.88 Pietistisches Erbe im Einsamkeitswerk zeigt sich allein darin, dass der immer erneut ergehende Appell an empfängliche Leserseelen der Herbeiführung einer Emotionsgemeinschaft89 dient, obwohl oder besser: weil Zimmermann kein eigentliches Bekehrungserlebnis als Legitimation vorzuweisen hat. Einzuübende Einsamkeitstherapeutik, die eine eminent religiöse Dimension gewinnt, ersetzt das einmalige heilversprechende Durchbruchserlebnis. Zimmermann wirbt um den Leser, ja er erfindet und bildet eine Leserrolle. Damit er wirken kann, muss er den Leser vorerst erwecken und erleuchten. Seine Sprachwelt legt von dieser heilsamen Grundabsicht beredtes Zeug87

88

89

Vgl. die Briefstelle vom 13. Februar 1758 an Tissot: „On va différemment au Ciel, il y a und Porte Lutherienne une porte Genevoise une porte Romane etc. etc. il est naturel qu’il y aye differentes manières pour nous donner la santé“. Zit. bei E. Olivier, Schwiez. Med. Wochenschrift Nr. 14 vom 6. April 1929, S. 382. Der Verlag Orell, Gessner, Füssli & Comp. verfügte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über ein Verkaufsangebot von rund 37000 lieferbaren Werken. Im Zeitraum von 1761–1768 wurden etwa 700 Werke verlegt, die in der überwiegenden Mehrzahl Erbauungsschriften sind. Vgl. Thomas Bürger, Aufklärung in Zürich: die Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner, Füssli & Comp. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie der Verlagswerke 1761–1789. Frankfurt/M. 1997. Koschorke spricht von der „Geheimgesellschaft der Zurückgezogenen“ (Koschorke 1999, S. 178) bei Zimmermann, ohne die theologischen Implikationen angemessen zu bedenken.

230

nis ab.90 Aus seiner Schreibeinsamkeit wendet er sich an einen imaginären Leser, mit dem er wie mit einer realen Person spricht in unterhaltender und zugleich belehrender, d.h. vor alllem therapeutischer Absicht.91 Das auffällige und wildwüchsig anmutende Parabantische der Komposition gewinnt unter diesem therapeutisch-eschatologischen Gesichtspunkt eine wichtige Funktion. Es gilt, breitflächig die Voraussetzung zu schaffen für die Wirkung seiner Hauptabsicht, nämlich Leser und Autor in eine Erlebnisgemeinschaft einzustimmen, wozu möglichst viele Appellbereiche medizinischer, religiöser und literarischer Art zweckdienlich, ja nötig sind. Nicht um gemeinsame erbauliche Bibellektüre geht es, die unverbindlich folgenlos bleiben kann, sondern um eine im Prozess des inszenierten, monologisch geführten Dialogs sich lesend vollziehende Bildung einer geschwisterlichen Emotionsgemeinschaft, die immer auch das körperliche wie geistige Heil von Autor und Leser befördern will. Zimmermanns sorglos Quellenmaterial einverleibendes Verfahren bezeugt das im Strom des Erweckungsversuchs Zerfliessende, das die Konturen zu anderen Texten, aber auch die Grenze zwischen Autor und Leser aufzulösen bestrebt ist, um jene erlöste Einheit von Leib und Seele zu erschreiben, in der eschatologische Naherwartung und therapeutische Einsamkeitbildung eins geworden sind.

90 91

Vgl. 10. Therapeutische Aspekte von Zimmermanns Sprachwelt, S. 275ff. Die therapeutische Wirksamkeit von Zimmermanns Einsamkeitsschrift insgesamt hebt Katharina II. hervor, die er in der Vorrede zum vierten Teil (IV, III–VI) zitiert: „[…] aus Dankbarkeit für manche schöne Recepte, die der Menschheit im Buche von der Einsamkeit verordnet worden“ (IV, VI). Die Zarin II. betont ebenso im Brief vom 22. 2. 1785 an Zimmermann die heilende Dimension des Einsamkeitswerks : „In diesem Buche ist Kraft und Macht und Reitz der Seele; c’est je crois la meilleur antidote pour ou plutot contre les dispositions hipocondres qu’on puisse imaginer, à en juger d’apres l’effet que ce livre precieux a fait sur moi, tout bon médecin devroit l’inscrire sur le registre des prescriptions de son art, et souvent il sera plus efficace que bien des drogues“. Bodemann 1906, S. 4.

231

9

Therapeutische Aspekte von Zimmermanns Sprachwelt

9.1 Einleitung In seiner Biographiensammlung Helvetiens berühmte Männer von 1799 attestiert Leonhard Meister Zimmermann neben hellem philosophischem und medizinischem Beobachtungsgeist eine umfassende Belesenheit, bevor er Sprache und Stil seiner Schriften charakterisiert: „Stärke des Ausdrucks, poetische Lebhaftigkeit, Laune, und reiner Witz, der bisweilen zur scharfen Satyre wird, machen seine Schriften allgemein gefällig und nützlich“.1 An einer Stelle des zweiten Teils der Einsamkeitsschrift von 1784/85 bemerkt Zimmermann, Rousseau, die „Feuerzunge“ (II, 271), überlasse sich „immer zwanglos und vertraulich (sich) allen Begeisterungen, Sprüngen, Abfällen und Launen seiner Imagination und seines Charakters“ (II, 194) und nimmt damit eine indirekte Selbstcharakterisierung vor. Offenbar gehorcht das „freie Ich“ einer eigenen sprachlich-stilistischen Gesetzlichkeit, die sich keinem Regelzwang unterordnet, vor allem nicht auf Kosten von Wirkung: „Es ist meine Manier, in jeder Absicht, frey zu schreiben. Ich habe auch deswegen gegen alle Regeln der Schriftstellerey gesündigt, wenn ich glaubte, meine Worte werden wirken“ (I, XVI/XVII). So schreibt Zimmermann nach seinen Angaben zum Selbstgenuss und zugleich in der Absicht, Gleichgesinnte belehrend zu unterhalten. „Allgemein gefällig und nützlich, zum Vergnügen oder zum Unterricht“ ( III, 420) heisst es an einer typischen Stelle, und an einer anderen, seine Absicht sei, „eher Nützliches zu sagen und auf einige Stunden zu unterhalten, auf einige Augenblicke zu bewegen“ (I, 3).2

1

2

Meister, Leonhard. Helvetiens berühmte Männer in Bildnissen. Zürich 1799, Band 1, S. 316. Rohlfs 1875, S. 106 attestiert Zimmermann: „Der Stil ist edel, die Sprache blühend und anziehend, doch von einigen Härten nicht frei“. In der Abhandlung von der Ruhr charakterisiert Zimmermann im IX. Kapitel die Sprache, die sich im Umgang mit der Landbevölkerung empfiehlt, eine Empfehlung, der auch das Einsamkeitswerk weitgehend folgt: „Der Styl oder der Vortrag solcher Schriften (sc. „Popularbücher“) ist darum niemals gut wenn man sich wissenschaftlicher Ausdrücke bedient, daran man sich durch sein Studiren gewöhnt, und womit man oft allein seine Begriffe zu verbinden gelernt hat; vielmehr soll der simple, populare, und sinnliche, oder besser zu reden der vom Anschauen der Sache hergenommene Ausdruck, dessen sich ein Arzt von Verstand im Umgange mit den Kranken bedient, die eigentliche, allgemeine, und herrschende Sprache in solchen Schriften seyn“. Ruhr 1767, S. 276f. In einer Rezension zu einer englischen Übersetzung des Werks über den Nationalstolz wird Zimmermann als einer „unsrer tiefsinnigsten Schriftsteller“ bezeichnet. Frankf. gel. Anz. Nr. XI vom 7. Februar 1772, S. 86.

233

Bis zur „scharfen Satyre“ lässt sich der bisweilen derbe Schweizer Zimmermann „mit schweizerischer Offenherzigkeit“3 nicht selten hinreissen, wie ein Eigenkommentar anzeigt: „Manche Erzählung musste ich wagen, die das feine moralische Gepräge der guten Conversationssprache nicht hat“ (I, XVI). Sprachliche Normmissachtungen werden provokant einkalkuliert. Im zehnten Kapitel des dritten Teils versucht Zimmermann diese sprachlichen Verstöße mit seiner Schweizer Sozialisation zu rechtfertigen: „Schweitzerische Derbheit des Geschmackes und des Styls, fanden Deutsche in allem was ich vormals geschrieben habe, und diese Derbheit war freylich eine Folge meines abgesonderten Lebens“ (III, 431). Was der Leser sprachlich demnach zu erwarten habe, spricht die Rezension im „Teutschen Merkur“ vom Oktober 1785 folgendermaßen aus: Übrigens giebt die, bey der Trockenheit des Gegenstandes, um so viel mehr überraschende Fülle und Mannigfaltigkeit des Inhaltes, so wie der Scharfsinn, der Witz, die Imagination, die Laune, die lebendige Sprache des zarten und feurigen Gefühls, welche abwechselnd durch alle vier Bände mit unerschöpflicher Kraft fortwirken, dem Buche für die ganze Leserwelt ein gemeinschaftliches Interesse, und rechtfertigen die gute Aufnahme, die es unter allen Klassen von Lesern gefunden hat.4

Zimmermann wendet sich gegen sprachlich bindende Normen und setzt mit trotziger Emphase kontrastiv seine eigene Sprachauffassung einem (fiktiven) Stil-Kontrahenten entgegen: Er, möchte eine allgemein geltende Regel der Styls; und ich, Freyheit des Styls, in Büchern für Menschen von allerley Laune. Er will, dass man fremde Modelle im Kopfe habe; und ich glaube, jeder sey sich selbst das beste Modell. Er will, dass man nach einem fremden Styl strebe; ich möchte, dass man nicht nur etwa seinen Styl, sondern sein ganzes Buch sich selbst so ähnlich mache als möglich (III, 422f.).

Wie ist die Sprachwelt im Werk Über die Einsamkeit tatsächlich geartet? „Woher diese Heftigkeit?“.5 Dieses abschliessende Kapitel der Werkanalyse versucht, Fragmente einer Physiognomik von Zimmermanns Sprache im Einsamkeitswerk mit Blick auf das Gesamtoeuvre beizubringen. Es fragt sich insbesondere, inwiefern der sprachliche Befund sprachtherapeutische Momente aufweist. Diese übergeordnete Fragestellung ist ausgerichtet auf die therapeutische Dimension einer

3

4 5

Hoffmann, Erläuterungen 1798, S. 110. Hoffmann, Erläuterungen 1798, S. 101 räumt denn auch ein: „Zimmermann lies sich allerdings von seinem lebhaften Temperament hinreissen, Ausdrücke zu gebrauchen, die nicht genau genug abgemessen waren […]“. Ähnlich auch Breitinger an Zimmermann 1756: „[…] ich habe wohl gemerkt, dass Sie vorzüglich zur Satyre geneigt seyn: Sie haben diese Neigung in allen Ihren Schriften bisher verrathen“. Bodemann 1878, S. 190. Der Teutsche Merkur vom Jahre 1785. Drittes Vierteljahr. Weimar 1785. Anzeiger des Teutschen Merkur. October 1785, S. CLX. Berlinische Monatsschrift. Hg. v. F. Gedike u. J. E. Biester. 13. Bd., Januar-Junius 1789, S. 388. Es handelt sich um die von den beiden Herausgebern gestellte Frage wegen Zimmermanns offenem Fehdebrief gegen Gedike und Biester.

234

Sprache, die in der „Mobilisation der Affekte aus ihrer konfliktbestimmten Tiefe“6 zum Heilmittel werden soll. Die Einsamkeitsschrift ist „als Beitrag zur Seelendiät“7 in diesem therapeutischen Sinn die breite Ausführung der Nachlassschrift Von der Diät für die Seele, des dritten Teils des Werks Von der Erfahrung in der Arzneykunst. Als Teilfragen ergeben sich: Wie werden „Stärke des Ausdrucks“ und „poetische Lebhaftigkeit“ in der Einsamkeitsschrift sprachliche Wirklichkeit? Wo sind seine sprachgeschichtlichen Voraussetzungen zu suchen, und auf welche Quellen stützt er sich ab? Wie sind seine schriftstellerische Verfahrensweise und die Komposition zu charakterisieren? Worin bestehen die „übergeordneten Ausdruckstendenzen“?8 Bevor das Sprachmaterial detailliert untersucht wird, wobei auf eine umfangreichere Präsentation von Belegstellen nicht verzichtet werden kann, lässt sich vorwegnehmend und zusammenfassend konstatieren: Zimmermanns Sprache stellt ein Konglomerat verschiedenartiger zeitgenössischer Ausdruckstendenzen dar. Auf einer pietistisch-empfindsamen Grundlage mit satirisch-polemischen Einsprengseln und feuilletonistischen Konversationsmomenten des Salons steht die ganze Schrift durchgehend unter der aufklärerischen Devise des prodesse et delectare. Sie kann aufgefasst werden als eine Art enzyklopädisches Kompendium, das sich von vielfältigen Lesefrüchten, Elementen der Rhetorik und einer lebendigen Gegenwart des biblischen Sprachschatzes nährt. Ein spezifisch Zimmermannscher Personalstil lässt sich nur schwer ausmachen. Zwar pocht Zimmermann auf Originalität, und derAutor, der den Geniebegriff lanciert, ist bestrebt, sich seine eigene Sprache zu schaffen, mithin originell zu sein. Es handelt sich aber um eine synthetische Originalität: Zimmermanns spezifische Art sprachlich-stilistischer Originalität besteht gleichsam in origineller Unoriginalität. Tradiertes Sprachmaterial wird originell vermischt, wobei ihm einzelne okkasionelle Neologismen gelingen. Das Sprachamalgam stellt keinen unverwechselbaren Individualitätsstil dar, weil sich Zimmermann in sprachlich vorgegebenen Bahnen bewegt, in denen er originell zu sein wünscht. Zimmermanns Einsamkeitswerk von 1784/85 kann Klopstocks bahnbrechender Erneuerung der deutschen Dichtersprache9 daher in keiner Weise gleichwertig an die Seite gestellt werden, weil seine Sprache vielmehr Klopstock voraussetzt und wie eine anthropologisch Variante anmutet. Zimmermanns versatile Sprache entdeckt, weckt und entfaltet ein therapeutisches Potential. Mit Affektabfuhr hat man es zu tun, die kathartisch in, mit und

6 7 8 9

Gurtner 1998, S. 260. Benzenhöfer/vom Bruch 1995, S. 18. Karl Ludwig Schneider, Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1960, S. 8. Vgl. August Langen, Klopstocks sprachgeschichtliche Bedeutung, in: Wirkendes Wort 1952/53; S. 330–346. Auch: A. L., Gesammelte Studien zur neueren deutschen Sprache und Literatur. Zum 70. Geburtstag des Verfassers ausgewählt u. hg. v. Karl Richter u.a. Berlin 1978, S. 87–108.

235

durch Sprache als Heilmittel Affekte erregt, um sich von ihnen zu befreien. Die Einsamkeitsschrift führt diese körperliche und seelische Abreaktion selbst vor, mit der Anteilnahme geneigter Leser.10 Zimmermanns durchgehende Antithetik und seine Wortkaskaden lassen den Wechsel seiner Stimmungsschwankungen unmittelbar mitverfolgen. Er trifft offensichtlich damit den zeitgenössischen Geschmack, der sich aber so schnell wandelt wie der medizinische Diskurs, so dass Zimmermanns Sprachduktus relativ schnell veraltet. Dennoch ist man berechtigt, das Einsamkeitswerk als ein Dokument von Sprachtherapeutik im Konstituierungsprozess der deutschen Prosa zu würdigen, die auch europäisch zunehmend an Ansehen gewinnt.

9.2 Zur Phänomenologie der Sprache 9.2.1 Physiognomik von Sprache und Stil Die Einsamkeitsschrift wurde von einer Mehrzahl der lesenden Zeitgenossen als ein klassisches Werk aufgenommen, eine Einschätzung, die Carl Friedrich Bahrdt allerdings nicht teilte: „Sie bilden sich’s wahrhaftig nur ein, mein Herr Zimmermann, dass Sie unter den deutschen Schriftstellern brilliren und wohl gar den Namen eines klassischen verdienen.“11 Während Lichtenberg vom „Geläute von Prose“12 spricht, die mangelnde Gedankentiefe übertöne, urteilt Lessing im 14. Literaturbrief entschieden freundlicher: Man muss den neuesten schweizerischen Schriftstellern die Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass sie itzt weit mehr Sorgfalt auf die Sprache wenden, als ehedem. Gessner und Zimmermann schreiben ungemein schön und richtig. Man merkt ihnen den Schweizer zwar noch an, aber doch nicht mehr, als man andern, den Meissner oder Niedersachsen anmerkt.13

10

11

12 13

Als Beispiel aus der Korrespondenz diene folgender Briefschluss: „Gott stärke deinen Arm den Nothleidenden zur Hülfe, deinen Freunden zur Freude, und zur Wollust, und allen Hundsfötten zum Schrecken“. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 24. Februar 1768. ZZH, FA Hirzel 239, 214. Bahrdt, C. F. , Mit dem Herrn (von) Zimmermann deutsch gesprochen. Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts. Hg. v. Ch. Weiss. St. Ingbert 1994, S. 14. Weiter heisst es zu Zimmermanns Sprache: „Ich will hier nicht weiter die Pöbelsprache rügen, deren Sie sich bedienen und die daher entstandene platte und gemeine Phraseologie […] dass Ihre Perioden nicht nur schlecht und oft ganz undeutsch gebaut sind, dass auf allen Seiten fehlerhafte Konstruktionen vorkommen […]“ (S. 15). Lichtenberg, G. Ch.. Schriften und Briefe. Hg. v. W. Promies. III. Band. München 1972, S. 569. Lessing, Briefe, die neueste Literatur betreffend. Den 1. Februar 1759, 14. Brief, in: G. E. Lessing, Werke, Fünfter Band. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1973, S. 61. Marcard wirbt um Verständnis für Zimmermanns Diglossie: „Er war ein Schweizer, folglich war unsre Hochdeutsche Sprache, für ihn eine gelernte und nicht seine angebohrne Sprache […] Alle seine Schriften haben mehr oder weniger Schweizerismen, und manche andere Vergehungen gegen Correctheit“ (Marcard 1796, S. 52f.).

236

Noch freundlicher urteilt Nicolai in einem Brief an Zimmermann über die Ausgabe von 1773: „Ich habe die neue Auflage Ihres Werkes von der Einsamkeit bekommen und danke Ihnen recht sehr dafür. Fahren Sie fort, unsere Sprache mit guter Prosa zu bereichern, daran es ihr weit mehr als an guter Poesie fehlt“.14 Auch bei Mendelssohn findet Zimmermanns Sprache zustimmende Aufnahme, der vor allem die Gemüts- und Verstandeskräfte umfassenden Wirkungen seines Stils rühmt: Der beste Ton ist, wie mich dünkt, der, den Sie gewählt haben. Sie lassen dem gesunden Menschenverstande die L a u n e zur Seite gehen, Sie geben der Vernunft ihre Nahrung und lassen auch die Einbildungs- und Dichtungskraft nicht darben. Man denkt und empfindet, bedauert, lacht und bewundert, nachdem der Gegenstand es erfordert.15

Tissot gar sieht sich berechtigt, in Zimmermann „un des restaurateurs de cette langue (sc. des Deutschen)“16 zu sehen, und der Oldenburger Marcard hält in seiner Krankheitsgeschichte Zimmermanns fest: „Dass Zimmermann schön schrieb ist wohl gewiss. Mit Vergnügen erinnere ich mich noch, was ein grosser Meister im Schreiben, der berühmte Gibbon, mir über das Werk von der Einsamkeit sagte“.17 Wichtig für eine Charakterisierung von Zimmermanns Sprache und Stil ist seine Beheimatung in der deutschen und französischen Sprachwelt, bedingt durch seinen Bilinguisme, wobei der englische Einfluss nicht zu vergessen und zu unterschätzen ist. Vielleicht rührt sein beflissenes Stilbewusstsein vom überkompensierenden Bestreben her, ein sicherer deutscher Stilist zu sein, denn „il a dû, au début de sa carrière littéraire, faire effort pour écrire correctement l’allemand“.18 Sein geschmeidiger Stil hat wohl durch den französischen Einfluss an Eleganz, Lebendigkeit und Klarheit gewonnen. Ischer rühmt ihn vor allem als einen der „anerkannt vorzüglichsten Prosaiker des XVIII. Jahrhunderts“, wegen der „eigenthümlichen Praegnanz, Kraft und Klarheit seines Stiles, die er wohl seiner französischen Bildung zu danken hatte“.19 Im Rahmen tradierter Sprachformen realisiert Zimmermann einen auf den Säulen „Stärke“ und „Schönheit“ beruhenden charakteristischen Stil, der „Eleganz der Diktion“ und „Stärke des Ausdrucks“ mit Satire und Polemik würzt, um nicht zuletzt „angenehmste Unterhaltung“ zu erzeugen. Zimmermanns sprachliche Gestaltungsweise im Einsamkeitswerk bezieht ihr charakteristisches Gepräge aus einem Stilbemühen, das in einer Verschlingung topoiverhafteter und kreativer Wei-

14

15 16 17 18 19

Nicolai an Zimmermann, 25. 6. 1773. Bodemann 1878, S. 302. Vgl. den Brief vom 2. 8. 1766, Bodemann 1878, S. 298: „[…] aber ich glaube, dass in der Schweiz nur sehr wenige Leute gut schreiben, und dies mag wohl das Schibboleth seyn, woran man Sie erkannt hat“. Bodemann 1878, S. 290. Tissot 1797, S. 32. Marcard 1796, S. 51. Marcard teilt leider das Urteil Gibbons nicht mit. Bouvier 1925, S. 9. Der Romand Bouvier führt weiter aus: „alors que son sens du style, sa clarté d’exposition et d’expression viennent plutôt du tempérament latin de sa mère“. Ischer 1893, S. 423.

237

sen des Ausdrucks vielgestaltig und wirkungsvoll verschiedene Sprachdiskurse miteinander verstrebt. Zu nennen sind vor anderen: – Stilmittel aus der Tradition der klassischen Rhetorik, die Zimmermann während seiner Gymnasialzeit an der Berner Akademie (1742–1746) vermittelt wurden und lebenslang prägend nachwirken – der Sprachschatz der Bibel – die Sprache von Pietismus und Empfindsamkeit – seine ausufernde, breitgefächerte Belesenheit, die der bilingue Zimmermann, der auch problemlos Englisch liest, international ausrichtet.20 Über weite Strecken atmet dieses kompositorische Mobile die Dynamik gesprochener Sprache. Man denkt an den Konversationston des Salons, den Zimmermann in höfischer Umgebung in Hannover kennenlernt. Ein breites Spektrum an Stimmungsschwankungen wird dargeboten. Monomanische Züge dominieren, und die Einsamkeitsschrift mutet als Gespräch des Autors mit sich selbst an, wodurch streckenweise der Leser vergessen wird. Diese insgesamt gesprächsnahe Prosa lebt als „simulierte Mündlichkeit“21 vom produktiven Verhältnis zwischen bindenden Regeln und einer kombinatorischen Originalität, die eigene Wege sucht. Von Gottscheds Reformwerk profitiert auch Zimmermann, obwohl er ihn in einem Brief an Haller als „cet homme de rien“22 bezeichnet.23 Die bezeichneten Sprachschichtungen sollen im Folgenden überblicksmässig betrachtet werden. Rhetorische Figuren wie Wortspiel und Worthäufungen, Antithese, Klimax, Hyperbel, Inversion, rhetorische Fragen, Ausrufe, Parallelismus, Wiederholung und die Formenwelt der Bilder, wie Metapher und Personifikation, durchziehen das ganze Werk. Allgegenwärtig, auch als stofflicher Fundus für nicht spezifisch religiöse Inhalte, ist die Bibel, z.B. in der Übernahme von Redensarten, von zitatähnlichen Anspielungen oder dem unvermittelten, oft nicht eigens gekennzeichneten Übergang von auktorialem Erzählbericht zu einem sinngemäß einverleibten Bibelzitat. Folgende Beispiele mögen in diesem Zusammenhang genügen. Zimmermann dankt im Musenanruf der Widmung zum ersten Teil, dass sie „aus einem grossen Kreise Hungriger die Sie gespeiset und Nackter die Sie gekleidet hatten“ (I, XI) auch ihm, dem „Halberstorbenen“ (I, V), wieder Lebensmut einflößte. An anderer Stelle versichert er, dass Einsamkeit Taubeneinfalt, aber nicht Schlangenklugheit 20

21 22 23

Vgl. weiter unten zu Zimmermanns Quellen. Obwohl Zimmermann sich vornimmt, Italienisch zu lernen, räumt er Tscharner gegenüber ein: „vous ne deves pas m’ envoyer des Livres Italiens, j’ai le malheur de ne pas Savoir cette langue“. Hamel 1881, S. 27. Käuser, Andreas, Anthropologie und Physiognomik im 18. Jahrhundert. Besprechung einiger Neuerscheinungen, in: Das 18. Jahrhundert 20/1 (1996), S. 80. Brief an Haller vom 19. Juli 1756. Ischer 1908, S. 127. V. B. von Tscharner gegenüber bemerkt Zimmermann ironisch: „Aussi me prend-on à Zuric pour un digne Gottschedien“. Hamel 1881, S. 41.

238

gebe (IV, 351). Der „wahrhaftig gute Mensch“ (IV, 239), im Gegensatz zum „Weltmenschen“, zum „Wollüstling“ und zum „Geselligen“ (IV, 239), „ziehe seine Strasse frölich“ (IV, 240). „Mit innigstem Danke“ erinnert sich Zimmermann, wie Lavater ihn beim Tod seiner Frau „durch ein einziges Wort gerettet hat“ (III, 200).24 In der folgenden Textstelle zitiert Zimmermann Lavater: „Wie der kleine Schmerz eines Lanzettenstichs bey einer Aderlässe, schrieb Er mir, zu der darauf folgenden Befreyung von einer grossen Krankheit sich verhält, so verhält sich alles überstandene Leiden dieser Zeit, zu der darauf folgenden Freude in der Ewigkeit“ (III, 201). Immer wieder werden Lebensdiätetik und Religion miteinander verknüpft: Grosse Glückseligkeit verheisset Einsamkeit uns allen, wenn unser Alter herannahet, und unser Leben verfällt. Das Leben des Menschen ist eine kleine Reise, und sein Alter ein schneller Tag. In der Einsamkeit können wir seine Stürme vergessen. Ich will euch tragen bis ins Alter, und bis ihr grau werdet; Ich will es thun; ich will heben und tragen, spricht der Herr (IV, 262).

Dass Zimmermann oft auf die Bibel verweist, nicht aber wörtlich zitiert, illustriert folgendes Zitat: Aber auch in jedem Alter, und in jedem fernen Lande, wird unter jedem schönen Baume, im Stillen und Freyen die entzückte Seele mit den Worten des Predigers ausrufen: wie selig ist nicht da, jedes innige reine Gefühl der Menschheit, dieser stille Genuss von wahrer, innerer, ganz von äusseren Dingen unabhängiger Vollkommenheit und Würde! (IV, 39).25

„Sie lieben zu sehr die Sprache des Herzens und des Gefühls“,26 gibt die Karschin in einem Brief an Zimmermann zu bedenken, und tatsächlich finden sich im Einsamkeitswerk Passagen von hymnisch-enthusiastischem, stark pietistisch gefärbtem Sprachgestus voller Emphase, in denen das Ich sich selbst und den „enthusiastischen Aufwallungen einer erregten Einbildungskraft“27 überlässt. Zimmermann fusst auf „einer Unterschicht von kaum zu überschätzender Breite und Wirksamkeit“ – dem Pietismus.28 Nur „Klopstock, der göttliche Dichter“ vermöchte beispielsweise die seelenstärkende Kraft beim Eislaufen durch „kalte, reine und 24

25

26 27 28

Belege aus der Erfahrung in der Arzneykunst: „Jeder Mensch hat in gesunden wie in kranken Tagen seine Plage“ (Erf. I, 457). In Anspielung an die Redensart vom Berge versetzenden Glauben: „Aber viel leichter wäre es Alpen zu versezen, als ein hirnloses Weib von den Nachtheilen des Breyes zu überführen“ (Erf. II, 265). Vgl. auch „mit allzumattem Lichte leuchtende, mit allzuschwachem Feuer noch erwärmende Wünsche und Hofnungen sind und bleiben so lange noch Visionen und Träume, bis Grab, Wolken, und Dunkel die Ewigkeit nicht mehr umhüllen, bis die Decke fällt, und bis geoffenbaret seyn wird, was kein Auge gesehen, kein Ohr gehöret, und in keines Menschen Herz nie gekommen ist“ (IV, 295). Die Karschin an Zimmermann, Brief vom 7. 11. 1771. Bodemann 1878, S. 317. Einsamkeit 1756, S. 81. Langen, August, Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts. ZfdPh 70 (1949), S. 265. Auch: A. L., Gesammelte Studien zur neueren deutschen Sprache und Literatur. Zum 70. Geburtstag des Verfassers ausgewählt u. hg. v. Karl Richter u.a. Berlin 1978, S. 36.

239

stille Luft“ auszudrücken, behauptet er im 33. „Versuch“, der den Titel Eislauf und kalte Bäder trägt.29 Ganz in Zimmermanns Sinn predige in der „wahren Sprache des Herzens“ (IV, 40) der aus St. Gallen gebürtige Zollikofer, Pfarrer der reformierten Gemeinde in Leipzig. Zimmermann möchte in (deutschen) Herzen, „an die Herzen gedrängt“, bürgerlichen Mut „entzünden“ (IV, 347), um „alles grade vom Herzen wegzusagen“, wie er es fühle, und wie es sei (IV, 347).30 29 30

Versuch 1779, S. 54. Eine Begründung liefert er in den kleinen Aufsätzen über verschiedene Gegenstände: „Jede aufgeklärte Nation zählte in jedem Zeitalter Güte und Grösse des Herzens zu den Merkmalen einer erhabenen Sinnesart. Die edelmüthigsten Thaten fliessen aus Empfindsamkeit“. Versuch 1779, S. 6. Vor allem in Zimmermanns Briefen ist der empfindsame Stil seiner „Ausdrucksprosa“ weit verbreitet. In einem Brief an Tissot von 1768 z.B. wechselt er vom „Sie“ am Anfang zum „Du“ am Schluss. Brief von Zimmermann an Tissot vom 3. Februar 1768, BBB, Msshh XVIII 71, : „Je vous en dirai mon Sentiment tel qu’il existe dans mon coeur […] Mais mon ami tu es heureux a Lausanne“. Im Juni des gleichen Jahres schreibt er an Glutz: „Mein Herz hängt ganz an ihrem Herzen, mein Glück kann ohne ihr Glück nicht bestehen, bester, liebster und edelster unter den Menschen“. Brief an v. Glutz vom 17. 6. 1766. Banholzer 1997, S. 84. Am Anfang eines der letzten Briefe an Tissot kondoliert er diesem auf folgende Weise: „Ah mon ami de quarante ans, que ne suis-je avec vous, que ne puis-je vous serrer dans mes bras, vous presser à mon coeur, mêler mes larmes aux votres, pleurer, vivre et mourir avec vous! “. Brief von Zimmermann an Tissot vom 13. August 1790. BBB, Mss hh XVIII 71, 115. Der Autoritätsperson Haller eignet die Anrede „Monsieur et trés cher et trés honoré (oder gracieux) Patron“ mit der üblichen Schlussformel, vor der die Anrede in der Regel wiederholt wird: „Votre trés humble et trés obeissant Serviteur“. Anrede und Schluss lauten in den vertraulich-empfindsam geprägten Briefen an Tissot hingegen „Mon cherissime Tissot“. Nicht selten sind emotionale Wendungen wie „Je vous embrasse du fond de mon Ame“ oder „ma femme et moi vous embrassent du fond de notre ame, avec des Sentiments que des mots ne Scauroient exprimer“. BBB, Mss hh XVIII 71 Nr. 42 Brief vom 11. 1. 1767 und Nr. 44 vom 13. 9. 1767. Deluc versichert er: „nos larmes ne cesseront de se joindre aux votres“. StAAG NL. A–193 Fasc. 11/5 Brief vom 5. 12. 1788. Zwei Beispiele aus den „Unterredungen mit Friedrich II.“ von 1788 mögen das Bild abrunden: „mein Herz floss ganz zusammen mit seiner sanften und schönen Seele“ beteuert er, und die enthusiastische Eloge auf Friedrich II. gipfelt in den Worten: „Weichgeschaffene und erhabene Seele; Wunder des achtzehnten Jahrhunderts; Weltweiser; Gesezgeber; Held und Überwinder; König von dem niemals keine Zeit schweigen wird […]“. Unterredungen 1788, S. 268, S. 249f. Das Gefühlsspektrum in Zimmermanns Schriften atmet „la plus grande gaiete, et sont pleines de ce genre d’esprit que les Anglois appellent humour“ (Tissot 1797, S. 47) urteilt Tissot. Im Zimmermann-Nachlass in der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover Msc S. 339, Nr. 414 „Die Ruinen von Lissabon. besungen von Dr. Johann Georg Zimmermann, Stadt-Physicus in Brugg“. Über den gedruckten Vorspann („Wir theilen unsern Lesern folgende schöne Gedancken mit, über den kläglichen Umsturz Lisabons. Sie kommen von einem jungen Arzt und Dichter Helvetiens, welcher in beyden Stücken unsern grossen Haller, als ein recht würdiger Jünger, ruhmlich nachahmet. Wir haben ihm dieses Gedicht gleichsam abgedrungen, und liefern es als das erste, so er in seinem Leben unter die Presse gegeben“) steht von Hand geschrieben: „Charlataneria, Charlataneriarum! et ubique Charlataneria!“). Ein Beispiel für schabernackartige „Charlataneria“ findet sich etwa in einem Brief an die Frau seines Solothurner Briefpartners Glutz: „Da aber zur Bewerkstellung einer Schwangerschaft (so viel mir in Wissen ist) insgemein zwey müssen beysammen seyn, so frägt es sich also, was ich als Beichtvater von ihrem Herrn Ehgemahl halte? Warhaftig der hat etwas mehr als ein Peccadillo auf dem Gewissen! Sie waren, meine wertheste Frau Beichtschwester, nur der leidende Theil, aber ihr Herr Ehgemal der angreifende. Seine Sünde ist also eine Sünde vom zweiten, oder damit ich es wohlfeil mache, vom dritten Rang; ihren Ehgemahl absolvire ich darum nicht, es sey denn 1. dass er alle Tage zu gesezten

240

Wie steht es mit Zimmermanns Quellen? Der intellektuell Neugierige war zeit seines Lebens ein leidenschaftlicher Leser,31 für den Lesen die Schlüsselqualifikation par excellence bedeutet: „Ein Mensch der gar nichts liest sieht in der Welt nichts als sich selbst […] Wir kommen durch das Lesen in die Gesellschaft der aufgeklärtesten Leute, und werden durch dieselben mit der Weisheit aller Völker bekannt“ (Erf. I, 91f.).32 Seine breitgefächerten Lektüren sind ein immer wieder erörtertes Thema in seinen Briefen.33 Im Brief an Philipp Albert Stapfer vom 4. November 1791 berichtet Zimmermann über die Lektüre von drei stark gegen die deutsche Aufklärung gerichteten Werken von Georg Adam Kayser, die alle 1790 erschienen sind und als deren Verfasser Zimmermann irrtümlicherweise Goethe vermutet.34 Über die aktuelle Literatur informiert sich Zimmermann vor allem aus den „Göttinger Gelehrten Anzeigen“.35 Er liest Harvey, Stahl und Linné36 ebenso wie Brockes, Garve, Hirschfeld, Pezzl und Spittler. Zudem schöpft

31 32

33

34

35 36

Stunden dreymal die Worte ausspreche mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. 2. dass er von nun an nicht mehr bey ihnen schlafe. 3. dass im Fall er sich meinem zweiten Befehle nicht unterziehet, man ihn zwey ganze Jahre auf Wasser und Brodt setze“. Banholzer 1997, S. 74. Bouvier 1925, S. 170: „Zimmermann était un liseur enragé“. Tissot weiss von Zimmermanns breiter Belesenheit und von seiner Vorliebe für englische Romane zu berichten. Er stellt fest: „Les romans anglais lui faisoient le plus grand plaisir“. Tissot 1797, S. 20. Ferner: „M. Zimmerman lisoit beaucoup, non seulement en medecine, mais en morale, en philosophie, en histoire, en voyages, en journeaux […]“. Tissot 1797, S. 19/20; Tissot 1797, S. 27: „partageant son tems entre l’exercice & l’etude de la medecine, la lecture d’excellens livres & la correspondance de ses amis“. Von Tscharner bittet er z.B. aus der Brugger Provinzialität, er möge ihm in Bern, neben Reiseberichten über Ägypten, Syrien und Mesopotamien, „l’Essay de Mr. Hume sur le genie et le caractere des Nations, et le Discour de Rousseau sur l’utilité absolue et relative du Theatre“ beschaffen. Lektüre ist der Schlüssel zu epochenübergreifender „Weisheit“: „Wir kommen durch das Lesen in die Gesellschaft der aufgeklärtesten Leute, und werden durch dieselben mit der Weisheit aller Völker bekannt“ (Erf. I, 92). Lesen dient zudem der Bildung von „Geschmack“: „Wir lernen durch das Lesen der besten Schriftsteller den Geschmak (sic). Ein Mann von Geschmak weis alles in seinem Kopfe zu ordnen, er findt jeder Materie ihr Maas und jeder Sache ihr Wort; er unterscheidet sich am meisten durch die Deutlichkeit und kräftige Fassung seiner Gedanken“ (Erf. I, 93). Leseabstinenz kann sogar verhängnisvoll werden: „ein Practicus der nicht liest gähnt gelassen bey jedem Anfall (sc. des Kranken), und sieht erstaunt bey dem dritten oder vierten den Tod“ (Erf. I, 107). Lesen dient auch der Vorurteilsbekämpfung: „Wache auf und lies, ist die beste Maxime zur Heilung der Vorurtheile wider Nationen, die man nicht kennt“. Nationalstolz 1789, S. 120. Es handelt sich um folgende drei Werke von Georg Adam Keyser: „Ein Büchlein zu Beförderung einfältiger Lebensweisheit unter verständigen, ehrlichen Bürgern und Landleuten von einem oberdeütschen Landmann. Nebst einem Conterfey in Fine. Erfurt 1790“; „Meines Vaters Hauschronika. Ein launigter Beytrag zur Lebensweisheit, Menschen- und Weltkunde. Mit Belegen, Anecdoten und Charakterzügen. Herausgegeben von Martin Sachs. Erfurt 1790“; „Gespräche über Gallicismen und Germanismen nebst einer Vorrede, welche gelesen werden muss. Im Jahr 1 nach der neüesten Gallischen Zeitrechnung. Erfurt 1790“. Vgl. den Brief an Philipp Albert Stapfer vom 4. November 1791. Luginbühl 1890, S. 79f. Vgl. den Brief Zimmermanns an Haller vom 24. Oktober 1757: „[…] les Götting. Anzeigen dont j’ai fait usage“. Ischer 1909, S. 219. Vgl. den Brief Zimmermanns an Hirzel vom 22. Oktober 1760: „Mein letzter Brief ist, wenn ich nicht irre, vom 4. Sept. und mit demselben werden sie den Harvey, Stahl und Linnaei amoenitates zurückerhalten haben“. ZZH, FA Hirzel 238, 19.

241

er aus den Trankenbarischen Missionsberichten (vgl. Erf. II, 322) und aus den Kirchengeschichten von Schröckh und Henke. Beat von Muralts Lettres sur les Anglais et les Français von 1725 werden mit grossem Lob bedacht. Muralt sei „der grösste Denker, der geschmackvollste Philosoph, und damals der beste Schriftsteller in der Schweiz“ (IV, 389). Von seinen patritischen Studien war schon im Zusammenhang seiner Einsamkeitstheologie die Rede. Heiligenviten und Devotionsbücher37 sind seine Quelle wie Cowley38 und der Geschichtsschreiber von Louisiana, Le Page du Praz. Für die philosophiegeschichtlichen Daten hat er Johann Lorenz von Mosheim und Jacob Brucker konsultiert.39 Seine schon von Albrecht Rengger40 beobachtete stilbildende Vorliebe für englische und französische Autoren ist insofern bemerkenswert, als er sie mittelbar durch seine Schriften verbreitet und ihr nachahmender Propagator im deutschen Sprachraum wird. Sein Hätschelkind, neben Rousseau und Petrarca, ist Sterne, den er über alle Massen schätzt.41 Er liest aber auch, neben Bolingbrooke und Chesterfield, Bacon und Blair, etwa dessen Lectures on Rhetoric and Belles Lettres von 1783, „ein unübertrefliches, und jedem, der die Kunst zu reden und zu schreiben studiren will, ganz unentbehrliches Werk“ (III, 308). Genannt werden auch Burke, Gibbon, Johnson und Robertson. In IV, 77 zitiert er Patrick Brydones Ätna-Schilderung aus dessen Reise durch Sicilien und Malta, in Briefen an William Beckford (1783). Eine wichtige Quelle für das Einsamkeitswerk ist der durch Wieland vermittelte Petrarca, dessen De vita solitaria er eingehend gelesen hat. Zimmermann beansprucht allerdings Petrarca gegenüber grössere Originalität: „Ich habe in meinem Werke über die Einsamkeit eine ungleich grössere Menge von Ideen umfasset, als Petrarca […]“ (III, 101f.).42 Zimmermann benutzte, wie Exzerpte im Nachlass belegen,43 das Standardwerk über Petrarca im 18. Jahrhundert, die Petrarca-Biographie des Abbé Jacques-François de Sade, eines Verwandten des Marquis de Sade,

37 38 39

40

41

42

43

Vgl. den Brief an Haller vom 4. Juni 1769. Ischer 1912, S. 137. Cowley, Abraham, Works. London 1721 (drei Bände). Im zweiten Band S. 640 findet sich ein Essay über die Einsamkeit. Im Falle Mosheims u.a. den „Versuch einer unpartheiischen und gründlichen Ketzergeschichte“ (Helmstaedt 1748) und Bruckerus’ „Historia Critica Philosophiae. A Mundi Incunabilis ad nostram usque aetatem deducta“ (Lipsiae 1742–1767). Im Vorwort von Rengger 1830, S. XXVff. Die sprachlich-stilistische Rezeption englischfranzösischer Werke und ihre Verbreitung im deutschen Sprachraum durch Zimmermanns Schriften wäre eine eingehendere und selbständige komparatistische Studie wert. „Lorenz Sterne, ein Doctor der Gottesgelehrtheit, ein Landpfarrer bei London, und Verfasser des Lebens und der Meinungen des Tristram Shandy, des ausserordentlichsten Buches das jemals geschrieben worden und jemals wird geschrieben werden […]“ (Erf. II, 590f.). Im Nachlass in Hannover finden sich zwei Umschläge mit Exzerpten aus Petrarcas De vita solitaria. NLB, Ms XLII 1933, B 13. Francisci Petrarchae, de vita Solitaria, Lib 1 Edit. 2 Bernae 1605. Das Exzerpt enthält die lateinischen Überschriften der einzelnen Sektionen und Kapitel. NLB, Ms XLII 1933, B 13.

242

„Mémoires pour la vie de François Pétrarque“.44 Die Ausführungen über „Weibermystik“ (II, 151–172) schöpfen aus François Hemsterhuis’ (1720–1790) Traité de désir.45 Montesquieu und lebenslang Rousseau, wohl unter dem Einfluss Bodmers, nicht aber Voltaire,46 gehören zu seinen bevorzugtesten Autoren: „Il avoit lu & medité L’Esprit des loix; il s’etoit fort occupé du Contrat social“.47 Im Brief vom 7. Dezember 1767 gesteht er Haller in Anlehnung an Rousseaus „Profession de foi du vicaire savoyard“ im „Emile“: „Voici donc ma profession de foi. J’ai lu tous les ouvrages de Rousseau, je les ai lu (à l’exception du contrat social) avec le plus grand plaisir, puisqu’ils m’ont paru superieurement bien ecrit“.48 So kann sicher angenommen werden, dass Zimmermann insbesondere auch mit den „Confessions“ und den „Rêveries d’un promeneur solitaire“ vertraut gewesen ist. Hat Zimmermann Montaigne gelesen? Er erwähnt ihn nur an einer Stelle in der Einsamkeitsschrift von 1773.49 Bodmer, der sich mit Breitinger zusammen Zimmermanns Eitelkeit und Ruhmsucht zunutze machen wollte, um ihn im Literaturstreit gegen Gottsched auf die Seite der Schweizer zu ziehen, erblickt im Leibarzt des Königs von England die Anlagen zu einem Montaigne redivivus: „Ich (sc. Bodmer) hoffe auch, dass ich Ursach seyn werde, dass Sie Montaigne lesen und in Montaigne verliebt werden“.50 „Ein sanftes, liebes, kleines Gedicht über die Einsamkeit» (IV, 137) habe der zwölfjährige Pope geschrieben, aus dem er paraphrasierend zitiert (IV, 137ff.). Über Pope urteilt er an anderer Stelle: „Tausendmal geben die Franzosen sogar dem superficiellen Parisischen Kleinigkeitenmaler Boileau, den Vorzug über den so harmonischen, gleich richtig und tief denkenden, und den Menschen mit ewigen Farben abmalenden Pope“.51 Die Geschichte von Abélard und Heloïse (u.a. II, 253–268) wurde Zimmermann durch Pope vermittelt.52 Reiseschriftsteller gehören zu Zimmermanns Lieblingslektüren. So heisst es in einem Brief an Hirzel: „Herr Professor Breitinger hat mir das du Halde Histoire et Description de la chine 44

45 46

47 48 49

50 51 52

Amsterdam 1764–1767. Vgl. ZZH, FA Hirzel 240, 20: Zimmermann rät Hirzel, „memoires pour Servir à la vie de Bodmer“ zu schreiben, „so wie des Abbé de Sade drey vortrefliche Quartbände über Petrarcha auch solche memoires sind“. Am 8. April 1785 heisst es zum gleichen Ratschlag: „[…] wie ich aus des Abbé de Sade memoires sur Petrarque Petrarca’s Leben ziehen möchte“. ZZH, FA Hirzel 240, 22. Deutsch in drei Bänden in Leipzig 1782–1797 erschienen als „Vermischte philosophische Schriften“ I, S. 85f. Vgl. Bouvier 1925, S. 85f. Im Brief vom 4. Juni 1769 an Haller berichtet Zimmermann, Voltaires „Candide“ gelesen zu haben: „[…] que j’ai regardé comme un ouvrage amusant et detestable après l’avoir lu“. Ischer 1912, S. 137. Tissot 1797, S. 88. Ischer 1912, S. 102. „Montaigne fand sich nur in grossen Gesellschaften einsam“ S. 7. Die Plagiatsbezichtigung, die Lichtenberg teilt, in ADB 1790, 91. Band, 1. Stück, S. 219f., bleibt unbewiesene Behauptung. Bodemann 1878, S. 168, Brief vom 23. 2. 1758; vgl. auch S. 166: „[…] in meinem Briefe an einen Menschen (sc. Zimmermann), der uns Montaigne werden soll […]“. Nationalstolz 1789, S. 41. Bouvier 1925, S. 208.

243

in 4. Quartbänden im October 1757 gütigst geliehen, und dieselbe im December 1757 von mir wieder erhalten“.53 Die Briefe über die Schweiz von Christoph Meiners verteidigt er gegen August Ludwig von Schlözers Kritik.54 Bernier, Forster, John Moore (1729–1802), „ein mir sehr werther Englischer Reisebeschreiber, der Doctor Moore“ (IV, 42) sind weiter zu nennen. Mehr der Kuriosität halber sei erwähnt, dass Zimmermann in einem Postscriptum des zweiten Bandes der „Eunomia“ (1803) von Eschke des Plagiats bezichtigt wird: „Welche Sensation Zimmermanns Schrift: Von der Einsamkeit, erregte, ist bekannt. Allein das ist vielleicht nicht so bekannt, dass fast alles, was darin steht, sich schon in einem weit ältern lateinischen Schriftsteller findet“.55 Eschke will den Nachweis in einer anonymen Schrift erbracht haben, die jedoch nicht veröffentlicht worden sei. Im Jahrgang 1804 der „Eunomia“ liefert einer der Herausgeber den Titel des gesuchten Buches: Heriberti Rosweydi vita Patrum, lässt aber offen, ob Zimmermann das Buch verschwiegen oder als Quelle zitiert habe – was er nicht tut –, schliesst allerdings vermittelnd: „Das Räsonnement aber, worauf es doch vorzüglich ankommt, gehört unstreitig dem verewigten Zimmermann“.56 Ästhetik des Kontrasts Lavater hebt in den „Physiognomischen Fragmenten“ vor allem die Anhäufung extremer charakterlicher Gegensätze bei Zimmermann hervor,57 die sich im Stilprinzip der Gegensatzbildung, z.B. von hell und dunkel, von Feuer und Wasser, von innen und aussen niederzuschlagen scheint. Ein sprachliches Grundmuster antithetischer Redeformen, ein Denken in Gegensätzen, verleiht denn auch dem gesamten Einsamkeitswerk sein spezifisches sprachliches Gepräge. Diese Antithetik gilt für den Mikrokosmos einzelner gegensätzlicher Formulierungen, Vergleiche oder Sätze und Passagen wie für den Makrokosmos der ganzen Komposition. In der Polemik gegen Obereit z.B. referiert Zimmermann zunächst in indirekter Rede die (angebliche) Schmähkritik Obereits („Ich sey ein Lügner […] Ich habe den schwarzen Staar im Verstande […] Ich sey […] ein Materialphilosoph […] III, 26f.), um kontrastiv dazu, mit dem Scharniergelenk „Misverstanden hat mich doch wol Obereit“ (III, 29), eine Häufung von rhetorischen Fragen folgen zu lassen („Er, der mich nicht kannte […] hätte mich sonst nicht für den Freund des steten Wech53 54

55 56 57

Zimmermann an Hirzel. Brief vom 7. Februar 1760. ZZH FA Hirzel 238, Nr. 12. Vgl. die Briefe an Johann Stapfer vom 8. April 1785 (Luginbühl 1790, S. 38) und vom 24. Oktober 1785: „Alle die unangenehmen Eindrücke, die Schlötzer den Deutschen in Absicht auf die Schweitz verursachte, hat Meiners völlig verdrängt und vernichtet“ (Luginbühl 1890, S. 44). Eunomia. Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts. Von einer Gesellschaft von Gelehrten. Hg. v. Fessler und Fischer. Zweiter Band. Julius bis December. Berlin 1803, S. 333. Eunomia. Zweiter Band. Julius bis December. Berlin 1804, S. 240. Lavater, J. C., Physiognomische Fragmente III (1777), S. 337, XII. Abschnitt, V. Fragment: „[…] eisenfeste Härte mit der zärtlichsten Empfindsamkeit […] unbeschreibliche Reizbarkeit mit ausharrender Geduld“.

244

sels und Taumels betäubender Gesellschaften gehalten? […] Er hätte nicht gesagt […]? Er hätte eingesehen […]? […] III, 29ff.). Da diese Ästhetik des Kontrasts das Werk als Ganzes kennzeichnet, wird in diesem Zusammenhang auf weitere Beispiele verzichtet und pauschal auf die folgenden Kapitel verwiesen. 9.2.2 Sprachschöpferisches Zimmermanns sprachschöpferische Kraft, die Stilbrüche und Normverstösse konsequent als Stilmittel einsetzt, und der aus ihr erwachsende Bilderreichtum können als Auflehnung gegen regelbindenden Zwang verstanden werden, im Bestreben einen individuellen Stil zu erkunden. Es begegnen eigentliche Wortbildungen neben einer sprachschöpferischen Polemik, die mit leidenschaftlicher Affektsprache geführt wird. Der folgende Anhang liefert illustrierend Belege aus dem Einsamkeitswerk wie aus den übrigen Schriften. Anhang: Neologismen und sprachschöpferische Polemik Neologismen „Geistesimpotenz“ (I, 39); „Mattherzigkeit im Denken“ (I, 44); „Abderitenfieber“ (I, 79); „melancholische Hirnwut“ (I, 201); seine „Zornschale“ jedem ins Gesicht giessen (II, 3); „Erfahrungstheologie“ (II, 8); „wegschreckende Maske“ (II, 36); „Imaginationsrausch“ (II, 82); „Liebesergiessung“ für Orgasmus (II, 159); „Sitz des Begehrens“ für Penis (II, 279 und passim); „Unzuchtsteufel“ (II, 280 und passim); „Geistesbeugung“ für Depression (II, 197); „Ein Blick ins Grosse und Weite wird aber aus Beyspielen der Einsamen von allen Religionen […] zeigen, wie die Einbildungskraft mit allen dazu erforderlichen Hülfsmitteln in der Einsamkeit rappelt“ (II, 81f.);58 bei Besuchen in Frauenklöstern stellt Zimmermann immer wieder fest, wie „heiter und froh“ die Nonnen sind, „wie sie hüpfen trippeln und quiecken“ (II, 456). In IV, 362 ist die Rede von „christlicherhaben“ denkenden Religionslehrern und von Lavater „mit einem so unbewölkbarfrohen Gefühle seines Daseyns und seiner Kräfte“ (IV, 78). Für die Pflege gesellschaftlichen Lebens gebraucht Zimmermann die Wendung „Weltumgang“ (I, 44), und im dritten Teil spricht er davon, dass sein Werk Seifenschaum für die Bärte der „Weltüberwinder“ sei (III, 31). Sprachschöpferische Polemik „tiefklug“ (II, 67); „mystische Temperamentssünden“ (II, 170); „Geiles Girren jener mystischen Turteltauben“ (II, 170); „geistliche/verbulte Turteltaube“ (Erf. II, 523); „alles Hohnlächeln und Grinsen aus dem Galgenfelde des Neides und der 58

Vgl. Erf. II, 389 „rappelköpfisch“, Erf. II, 417 „rappelköpfisches Wesen“.

245

Schmähsucht“ (II, 198); „Katzenstreiche“ (II, 198); „Rousseaus Feuerzunge“ (II, 271) und seine „Zuhausekunst“ (IV, 74); „wahrheitsliebende Bockssprünge“ (III, 19); „der Originalphilosoph, und ewige Universal=Lichts=und Friedensgeist“ (III, 39); Obereits „inwendige Theologie“ (III, 104); „unersättlicher Visitenhunger“ (III, 110); „Tummelplätze des Lasters“ (III, 116); „Provinzialhöflichkeit“ (III, 158); „Weltknechte“ (III, 161); „so oft erprobte und so trostreiche Erfahrungswahrheit“ (III, 174); „Flohbisse des Schicksals“ (III, 170); „das süsse, ungesalzne, lendenlahme Herrchengeschmeiss“ (III, 250); „Insektenqualen“ (III, 339); „Winkelpolitik“ (III, 483); „gottselig“ (I, 62); „wegwässern“(IV, 361); „Lesewelt“ (IV, 270, 277); „allmächtiger Einfluss einer einzigen Plaudertasche oder eines einzigen hungrigen Schurken“ (II, 247).59 Zur Abrundung folgen weitere Belege zu Zimmermanns sprachlichen Normverstössen und zu seinen sprachschöpferischen Tendenzen aus dem Gesamtwerk. In den Gehirnen von Dummköpfen glitschte „jeder gute Einfall eines andern von diesen Marmorwänden ab“. Vgl. Erf. I, 150: „Jede moralische oder physische Erscheinung glitscht über seinen (sc. des gemeinen Mannes) Kopf weg, wie eine Kugel über Marmor wegglitscht“. „Wie elend, wie gebrechlich, wie lahm, hinket nicht ihr Gernwiz einher; wie wollüstigstolz wölbet sich nicht ihre Brust, wenn sie ihr vermeintes Lob schmeken“ (Erf. II, S. 503). Überhaupt hält der Dummkopf „die Oberfläche für das ganze, das Kleid für den Mann, einen hübschen Busen für Verstand“ (Erf. I, 402). In der Schrift „Über Friedrich den Grossen und meine Unterredungen mit Ihm kurz vor seinem Tode“ ist die Rede vom „Sultansstolze der allerkleinsten deutschen Prinzen“;60 „feldscheererischdumm“;61 „Tausend-Sakkerments-Feldsscheerer“;62 neben den „sprudelnden Köpfen“ Voltaire, d’Argens und Algarotti kam dem preussischen König mancher deutsche Gelehrte „bengelhaft“63 vor; „deistische Korporale“;64 „Barbiersausdruck“.65

59

60 61 62 63 64 65

Zimmermans Gelehrtenschelte entspringen folgende Charakterisierungen: „Die Kenntnis der meisten (sc. Gelehrten) verhält sich wie das Gold in dem Schranke eines Geizigen […] die Gedächtnisgelehrten […] sammeln immer und gebrauchen nie. Zum schleppen nicht zum bauen geboren, trachten sie Haufen Steine, nicht regelmässige Gebäude aufzuführen“ (Erf. I, 111f.). Die Bezeichnung „Gedächtnisgelehrter“ hat Zimmermann von A. G. Kästner übernommen. „Wie thöricht wir sind uns todt zu arbeiten um leben zu können, oder uns das Leben zu nehmen um unsterblich zu werden; wie viel besser es für die Gesundheit wäre ein Holzhauer zu seyn als ein Gelehrter“ (Erf. II, 545). Vgl. dazu: Gunter E. Grimm, Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983. Unterredungen 1788, S. 52. Unterredungen 1788, S. 148. Unterredungen 1788, S. 169. Unterredungen 1788, S. 188/89. Unterredungen 1788, S. 240. Unterredungen 1788, S. 287.

246

Die von Zimmermann verabscheuten Empiriker werden in der Erfahrung in der Arzneykunst vom Pöbel durch „dankbares Zujauchzen zu auserwählten Gefässen der Weisheit aufgeblasen“ und wandeln so „sicher und breit in den Wolken“ (Erf. I, 66). Wahrer wissenschaftlicher Ruhm ist für die Empiriker ohnehin wie „geruchlose Blumen“ (Erf. I, 35); „durch scholastische Grillen verdorben“ (Erf. I, 114); „Gernwizlinge“ (Erf. I, 156); „Der elende Jansenitische Anbeller des Werkes von dem Geiste der Geseze“ (Erf. I, 180); „seinen ganzen Geist in einen Nachttopf einschränken“ (Erf. I, 375); „harngläubig“ (Erf. I, 377); „Harnpropheten“ (Erf. I, 378); „wütende Geilheit“ (Erf. I, 401); „ein langes psychologisches Haspeln“ (Erf. II, 7); „ungehirnte Erfahrung“ (Erf. II, 141); „Saufbrüder und Brandtweinschluker“ (Erf. II, 345); „Dunstmaschine“ im Sinne von Schweissausdünstung (Erf. II, 381); „das Hirn […] zusammen schmurren“ (Erf. II, 393); „etwas meerkazisches in ihrer Physionomie“ (Erf. II, 395); „das sieghafte Rohrdrommelgeschrey der wohlhergebrachten Unvernunft“ (Erf. II, 477); anstelle der Wahrheit Spinnweben umarmen (Erf. I, 117); „wollustathmende Wölbung“ (Busen) (Erf. II, 549); „Liliputischer Verrükungen und Orangoutangischer Afterreden“ (Erf. II, 618); „viele woledelgeborne, edelgeborne und geborne, wohlehrwürdige, ehrwürdige, und würdige Schweizer“ (Erf. II, 622). Im Nationalstolz finden sich die Formulierungen „Menschenbeobachter“,66 „herzerhöhende Gedanken“,67 „menschenfeindlichen Eiter in der Brust“68 und „Wespenstiche des Neides“,69 im „Versuch“ die „aus vielen unserer neuesten deutschen Schriften eingeschlurften Kraftsuppen deutscher Mannheit, die mit ihrer Würze die Eingeweide und den Verstand verbrennen“.70 In den „Zerstreuten Blättern vermischten Inhalts“ steht u.a. „Menschenmelancholie“, „metaphysische Nachtlampe“ und „Reimjagd“.71 „Paracelsischer Wahnwitz eines dem Tollhause entgangenen Hermetischen Schwärmers“.72 Hirzel bittet er: „Gieb allen Schurken und Eseln in Zürich (einer grossen Armee) Stösse in den Hintern“.73 In einer Anmerkung zu Hallers „Abhandlung über das Faulfieber“ bemerkt er: „Beobachtung und Erfahrung sind die Seele und das Wesen der Arzneykunst; alles andere demonstriren, raisoniren, und expliciren ist blosse Alfanzerey für Toiletten“.74

66 67 68 69 70 71 72 73 74

Nationalstolz 1789, S. 15. Nationalstolz 1789, S. 196. Nationalstolz 1789, S. 228. Nationalstolz 1789, S. 207. Versuch 1779, S. 58. Zerstreute Blätter vermischten Inhalts 1799, S. 210; S. 311; S. 312. Allgemeine Deutsche Bibliothek 1766, II, 2, S. 250. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 12. Februar 1785. ZZH, FA Hirzel 240, 22. Abhandlung über das Faulfieber, ein Geschenke für heilende Landärzte samt einem Anhange einer fäuligten Epidemie im Kanton Bern von Herrn von Haller, mit Anmerkungen von Herrn Leibarzt Zimmermann in Hannover. Solothurn 1786, S. 16.

247

Ein zugespitzter Polemikstil begegnet überaus häufig, oft mit polemisch gefärbten Substantiv-Zusammensetzungen und verstärkendem attributivem Adjektiv:75 „melancholische Hirnwut“ (I, 201); „Hirngeburten einer durch Einsamkeit fliegsam gewordenen phantastischen Einbildungskraft“ (II, 110); „Stachelpeitsche Gottes“ (I, 39); „politische Kannengiesserei“ (II, 427); „feuervolle Fleischeslust“ (II, 294); „heiliges Lumpenpack“ (II, 365); „theologische Klopffechter“ (II, 427); „zusammengerafftes Anachoretengesindel“ (II, 439); „Streitprediger“; „Streitdrommete“ (II, 498); „unersättlicher Visitenhunger“ (III, 110); „Satyrenriecher“ (III, 500); „Geschmacksführer“ (III, 504); „Mönchsdummheit, Zorntheologie“ (II, 509); „ausgegurgelte Schande“ (IV, 481); „gelehrter Vernunftheld“ (III, 15); „trostreiche Erfahrungsweisheit“ (III, 174); „poetische Bilderjagd“ (III, 371); „Imaginationskranke“ (III, 191); „kalte, lendenlahme, geistlose Schöngeisterei“ (III, 496).76

75

76

Einige Belege aus dem Gesamtwerk: „Kein Bacon, kein Newton ist fähig gewesen die Arbeit von vielen Jahrhunderten allein zu übernehmen. Ein Practicus, ein Barbier, eine Vettel übernimt sie“ (Erf. I, 101). Oder: „Alte Dummköpfe betrachten nicht dass sie schon im Mutterleibe grau gewesen“ (Erf. I, 9). Noch kürzer und bündiger heisst es in der Erfahrung in der Arzneykunst: „Die heutigen Empiriker sind Bastarte der Chimisten“ (Erf. I, 58). Mit dieser Apodiktik einher geht die Tendenz verzeichnender Übertreibung, die nicht nur Ausdruck jugendlichen Überschwangs ist, sondern bis an sein Lebensende anhält. Zimmermanns eigene Schilderung seiner Bruchoperation in Berlin durch Meckel 1772 kann, bei allem Verständnis für die Beschwerlichkeit des Unternehmens, als Beispiel gelten: „Ich wollte nicht gebunden seyn; und hielt, ohne Thränen (mit Augen, die Millionen von Thränen geweinet hatten) zu vergiessen, ohne das allergeringste Geschrey, ohne Ohnmacht, und ohne Widerstand, geduldig wie ein Lamm, meine Operation aus“. Versuch 1779, Nr. XXXIII: Eislauf und kalte Bäder, S. 54. Zimmermanns Neigung zu Übertreibung bezeugt sich in der Art und Weise, wie er über seine Schmerzen klagt: „Der Schmerz u n a u s s t e h l i c h , die Empfindung im Mastdarme u n b e s c h r e i b l i c h; wenn ich ihm die Zunge berührte, dieses ü b e r a l l e B e g r i f f e s c h m e r z h a f t “. Wichmann 1796, S. 34. Reichard versichert er am Ende eines Briefs aus dem Jahre 1792: „Bis an meines Lebens Ende werde ich nicht aufhören Ihnen zu danken und Sie als einen der geistvollesten und allerwohlthätigsten Menschenfreünde und Schurkenhässer zu verehren und zu lieben“. Brief von Zimmermann an Reichard vom 22. Oktober 1792, in: Schramm 1998, S. 191. Der Brief an Reichard vom 5. November 1792 beginnt folgendermassen: „Ach in meinem Leben war meine Seele nie in grösserer Bewegung als gestern durch ihren Brief vom 29. October, mein theürester geliebtester Freünd. Ich habe diesen Brief geküsst, und zärtlichst für sie geweint, zumal blutete mir das Herz beÿ der Stelle die ihre Frau Mutter, ihre Frau Gemahlin und ihr Kind betrifft“. Brief von Zimmermann an Reichard vom 5. November 1792, in: Schramm 1792, S. 194. Vgl. auch „Hundsdreck“; „Aufklärungsgesindel“ (Luginbühl 1890, S. 74; S. 75). Zur Illustration seiner sprachlichen Ausfälle sollen zwei Briefbelege dienen: „Grosse Monarchen und grosse Minister machen doch auch zwischendurch eselhafte Streiche; und wenn der liebe Gott nicht wüsste, dass doch allergröstentheils das ganze Menschengeschlecht und zumal diejenigen unter denselben, welche die Nasen am meisten in die Höhe halten, höchst elende Wichte sind, so würde Er, statt uns seine liebe Sonne leüchten zu lassen, uns mit Hunger, Pestilenz und Krieg bis auf den letzten Mann in die Pfanne hauen“ (Luginbühl 1890, S. 78); „[…] damit Sie (sc. Philipp Albert Stapfer) es dort (sc. in Bern) ubique bekannt machen, nicht nur unter den vornehmen Laffen, sondern unter dem eigentlichen Schurkenvolk in Bern, den Aufklärern theologischen Handwerks und der sämtlichen Canaille geistlichen Standes“ (Luginbühl 1890, S. 81).

248

Einen an Streitschriften des Reformationszeitalters gemahnenden, nicht versiegenden sprachschöpferischen Furor entwickelt Zimmermann in der Auseinandersetzung mit Obereit, wofür er in zeitgenössischen Rezensionen auch getadelt wird, z.B. im „Teutschen Merkur“: „Indessen lässt sich dieser Ton in der Sprache die der Hr. Verf. fast durchaus mit seinem Gegner führt, schwerlich entschuldigen“.77 Leitmotivisch tauchen kürzere Seitenhiebe, bissige Ausfälle und längere Invektiven als „Despotenurtheile des Herrn Z.“78 gegen Obereit auf, „diesen neuen Weltreformator“ (III, 69).79 Bisweilen verwebt er sich nachäffend in die Stillage seines Kontrahenten. Dieser „grosse Apostel der Einsamkeit und Mystik, der Weltüberwinder Jacob Hermann Obereit“ (I, 15) wird mit einem Arsenal von Schmähwörtern eingedeckt: „wüthiger Weltüberwinder“ (I, VII); „geistlicher Don Quichotte“ (I, VIII); „wilder borstiger Schwärmer“ (I, VIII); „dieser heilige Windbeutel“ (II, 128); dieser „unaussprechlich zudringliche und immer bei mir auf Lanzenbrechen erpichte Kämpfer“ (III, 13); „ein sehr lustiger Kauz“ (III, 74); „Ritter von der feurigen Gestalt“ (III, 77). Zimmermanns Wortbildungen „Obereitheit“ (III, 75 und passim), „Obereitische Organisation“ (I, 387) und „alle Obereite in ihren Cellen und Löchern“ (I, 148) werden auch in anderen Kontexten verwendet. Ägyptische und orientalische Mönche und Einsiedler sind „obereitische Friedensengel“ (II, 372), deren „eingebildeter Grundkenner“ (I, 219) der „wütige Verteidiger der ägyptischen Einsamen, Deutschlands grösster geistlicher Donquichotte Herr Obereit“ (II, 371), zu sein behauptet, „mit einer Dreistigkeit ohne Beispiel“ (I, 219). Dabei seien sie „schmutzige Kerle, vor deren heiligem Duft der abergläubige Obereit seine Stirne so unermüdet an die Erde beugt und deren Unflat er seit 30 Jahren“ vergöttere (I, 387), obwohl man „Seifenschaum für die Bärte der Weltüberwinder“ (III, 31) benötigen würde. Die Französin Armelle ist die „gebenedeiteste unter allen Weibern Obereits“ (II, 166). Das Gesamturteil kennt keine Nachsicht: der „Grundkenner Sanct Obereit“ (I, 356) ist entweder „ein Idiot oder er 77

78 79

Der Teutsche Merkur vom Jahre 1784. Drittes Vierteljahr. Weimar 1784. Anzeiger des teutschen Merkur. August 1784, S. CXVI. Die Rezension in Der unterhaltende Arzt. Viertes Bändchen. Kopenhagen und Leipzig 1789, S. 35f. gibt Zimmermann gar zu bedenken: „Wir beschwören ihn deswegen, bey einer neuen Auflage eines Widersachers, der seiner so unwürdig ist, gar nicht mehr zu gedenken, und dadurch dies unentbehrliche Werk kürzer und anschafflicher zu machen, oder das so erwünscht weggelassene durch andere, mehr zweckmässige Einschaltungen zu ersetzen. Allenfalls könnte er ja auch alles was sich auf diesen Hader bezieht, in einem besonderen Bändchen drucken lassen“. Berlinische Monatsschrift, 13. Bd., Januar-Junius 1789, S. 384. An polemischer Heftigkeit kann es nur die Attacke gegen den „Patriarchen des Aberglaubens“ (Erf. I, 375), Paracelsus, in der Erfahrung in der Arzneykunst (Erf. I, 118ff.) aufnehmen. Dieser „elende Philosoph“ (Erf. I, 121) sei „sternnarr“ gewesen (Erf. I, 123), er lebte „wie ein Schwein, sah aus wie ein Fuhrmann, und fand sein grösstes Vergnügen in dem Umgang des liederlichsten und niedrigsten Pöbels […] durch die meiste Zeit seines ruhmvollen Lebens war Paracelsus besoffen“ (Erf. I, 121). Er habe von sich gesagt, dass er von Natur aus nicht subtil gesponnen sei, und Zimmermann kommentiert: „es ist auch nicht der Schweizer Art, die unter Tannzapfen aufwachsen“ (Erf. I, 121). Paracelsus feierte bloss „erlogene Triumphe über die Natur, vergötterte Denkmale der unverschämtesten Unwissenheit“ (Erf. I, 125).

249

verschweigt überall alles was ihn widerleget mit einer Unredlichkeit die ihresgleichen nicht hat“ (I, 378). 9.2.3 Metaphorik Zimmermanns Prosa, die von reicher Bildlichkeit und klingenden Wortspielen belebt wird, ist ungemein vergleichsfreudig, was wiederum auf eine Patenschaft Bodmers verweist. Zimmermann hegt eine eigenartige Vorliebe für Vergleiche aus dem Bezugsfeld von Feuer und Wasser. Die folgenden Ausführungen wenden sich zunächst der Bildlichkeit seiner Prosa im allgemeinen zu. Bei einem Leser der Schriften Zimmermanns stellt sich nie Langeweile ein. Er wird gerade bei der Lektüre des Einsamkeitswerks Zeuge, wie stur regelkonforme, spröde Hölzernheit der Sprachgestaltung vermieden wird durch die Schaffung einer Bildwelt, die „durch das Glas der Imagination gehoben“ wird.80 Treten wir in diese Sprachwelt ein! Zwei Hauptgruppen lassen sich vereinfachend unterscheiden: 1. Bildhafte Wendungen und Vergleiche, die auffallenderweise vor allem aus der animalischen Sphäre stammen; 2. Ein metaphorisch-polemischer Experimentierstil, der es stark auf überraschende, ja verblüffende Wirkungen abgesehen hat. 1. Bildhafte Wendungen und Vergleiche aus der animalischen Sphäre Den Wert der Einsamkeit einzugestehen, schließe nicht aus, dennoch Vergnügungen nachzujagen, vor allem „alte müssige Matronen […] jappen nach Visiten und Assembleen, wie auf den Strand geworfene Fische nach Wasser“ (I, 12). Melancholiker tragen die „Pest ihres Misvergnügens und ihrer Rache“ (I, 98) mit sich, „bald lachen sie satanisch, bald brummen sie wie Bären“ (I, 98). Ethisch minderwertige Städte verleiten unbillig zur Einsamkeit, so dass sich mit Zimmermanns Freund Friedrich von Stolberg sagen lässt, „jedem Witzlinge sey Freundschaft, Liebe, Wahrheit und Natur, Muth, Freyheit, Vaterland, Religion, ein leerer Schall, oder Miston, wie der Geige Klang dem Hunde“ (I, 77). Bettelorden müssen sich nicht um Nachwuchs sorgen, weil „diese Hommeln allenthalben herumstreichen, um den arbeitsamen Bienen den Honig des Landes zu rauben“ (I, 123), überhaupt bedeckten Bettelmönche oft die Erde „wie Heuschrecken“ (IV, 449). Der hl. Hieronymus wurde ein „grimmiger Verfolger“, wenn er auf der „Orthodoxie seinem Steckenpferde“ (I, 303) saß, und ein Ratsherr kann, stolz umherspazierend, wohl „wie ein Hahn auf seinem Miste“ (II, 247) aussehen. Gelehrte muss man sich verschieden denken wie „den Elephant und den Hahn, oder den Adler und die Kröte“ (II, 12).

80

Marcard 1796, S. 59.

250

In der Erzählung der Krankengeschichte des Luzerner Kaufmanns (II, 199ff.) hat dessen Frau, die „bey ihrem Beichtvater geschlafen“ (II, 200) habe, ihren gemeinsamen Sohn vergiftet: „Des Morgens frühe war er noch gesund, wie ein Fisch im Lucernersee, und des Abends mausetodt“ (II, 201). Im Bericht über Hallers religiöse Melancholie ist die Rede von der „noch immer brennenden noch immer cholerischen Ruhmbegier, die bey ihm niemals keine Melankolie um den zehntausendesten Theil eines Fliegenhauchs schwächte“ (II, 217). Ein Gesunder verstehe von einem Kranken indessen „so viel als eine Kuh von der Metaphysik“ (II, 232). „Ein Donnerwort“ war im „glühenden Munde“ des Augustinus „dieses unsichtbare Reich, dieser angebliche Staat Gottes […] Er trieb, so gut er konnte, mit diesen Worten alle Menschen, wie der Schäferhund alle Schafe, in einen Stall“ (II, 480). Der Vater Obereits las intensiv die Schriften Peter Poirets, „und der Sohn schnappte nach denen von dieser Fackel herunter fallenden Funken“ (III, 39). Zimmermann bekennt, dass der ihm von Obereit überreichte freimaurerische Zentralschlüssel „in meiner profanen Hand, auch nicht einen Hühnerstall“ öffne (III, 92). Jene Menschen haben nichts von der Einsamkeit zu hoffen, die „bey jedem Flohbisse des Schicksals“ (III, 170) aus dem seelischen Gleichgewicht geraten. Er berichtet von einem Engländer, der in Deutschland umherreiste und Damen von einer Würde begegnete „wie den Kielen eines Stachelschweins, oder wie den Federn eines erzürnten Truthahns!“ (III, 290f.). Der Graf zu Schaumburg-Bückeburg hielt die Schweiz für militärisch unüberwindlich. „Er nannte mir nicht nur alle wichtigen Posten, die man gegen jeden Feind besetzen muss, sondern auch alle Wege, wo kaum eine Katze durchkäme“ (III, 464f.). Auch wenn selbst in Zeiten der Aufklärung die „Fackel der Philosophie“ (III, 375) nicht ununterbrochen leuchten kann, ist wenigstens mit einem Leuchten „wie ein Johanniswürmlein“ (III, 375) vorlieb zu nehmen. Ergänzend seien weitere Belege aus der Erfahrung in der Arzneykunst, aus der Ruhr-Schrift sowie aus den Briefen angeführt. Besonders reizbare Menschen können „ein Mükenflügel, ein Sonnenstäubchen“ (Erf. I, 454)81 vollständig aus der Fassung bringen. Der wissbegierige Jüngling „schaut in die Tiefen der Wissenschaften wie ein junger Adler in die Sonne“ (Erf. II, 14).82 „Eine junge Schweizerische Dame,83 von welcher Johann Jacob Rousseau sagt, sie verbinde mit dem Kopfe eines Leibniz die Feder eines Voltaire, schrieb mir einst, sie hätte ohne Caffee den Verstand einer Auster“ (Erf. II, 346).84 An anderer Stelle sagt Zimmer-

81 82 83 84

Vgl. Erf. II, 506: „Gefühlvoll für die sanftesten Eindrücke zittern ihre Fibern wenn ein Stäubchen sie berührt, ein Mükenflügel umgiebet sie mit Finsternis“. Im Versuch bezeichnet er Herder als „Adler unter den deutschen Genies“. Versuch, Herder, S. 70. Gemeint ist Julie von Bondeli. „le cafe […] est parcontre le soutien de ma vie vegetative, animale et spirituelle; sans lui je suis reduite aux perceptions d’une huitre“. Julie v. Bondeli und ihr Freundeskreis. Wieland, Rousseau, Zimmermann, Lavater, Leuchsenring, Usteri, Sophie Laroche, Frau v. Sandoz u.a.

251

mann allerdings, die Schweizer tränken den Kaffee zwar häufig, aber „schwach wie eine Zwetschenbrühe“ (Erf. II, 350). Dann sieht man wohl aus „wie Meerkazen“ (Erf. II, 389). Eher nähme man einem Farbigen seine Schwärze und einem Panther seine Flecken als einem Abergläubigen seinen Aberglauben (Erf. II, 590). In der Ruhr-Schrift wird der italienische Arzt Morgagni als „ein Adler in der Arzneywissenschaft“85 bezeichnet, und im achten Kapitel klagt er mit polemischresignativem Unterton über die Vergeblichkeit, gegen die Bollwerke der Dummheit anzukämpfen: „Aber mit Engelszungen würde man Felsen nicht überreden, und nur zu den Predigten des heiligen Antonius von Padua drängten sich die dümmsten aller Thiere, die Fische“.86 Der von schmerzhaftem Harndrang heimgesuchte, opiumsüchtige Haller habe am Ende seines Lebens noch immer mit „den ihm ganz eigenen Karakter von Kraft und Würde“ geschrieben, „bei dem lebendigen Gefühle von jener vergass er diese nie, und am wenigsten gegen die Wanzen unsrer Litteratur“.87 Am Schluss eines Briefes schreibt Zimmermann über seine Standfestigkeit, zwei die zürcherischen Patrioten persiflierende Stellen nicht zu streichen, trotz Lavaters Intervention: „Ich blieb fest wie eine Mauer, und sagte: ich bekümere mich um die Patrioten in Zürich und ihren Beyfall […] so wenig als um die Fische im Zürrisee“.88 Eine andere Briefstelle spricht davon, dass ihn „die spanischen Fliegen den gantzen Tag brennen“ mögen,89 und in der Flugschrift gegen Kästner vom 28. Oktober 1779 vergleicht er das Geschrei seiner Gegner mit „Kibitzen, die durch ihren Lerm das ganze Moor vertheidigen wollen, und doch hernach ganz trübselig davon krächzen, wenn man ihnen ihre Eyer aus dem Neste holt“.90 Indem Organisches ausgiebig und bevorzugt ins Blickfeld des Spezialisten in vergleichender Physiologie gerät, der die Erkenntnisse seiner Dissertation von 1751 durch Tierexperimente gewinnt, stellt Zimmermann, mehr skizzenhaft als systematisch-methodisch, die Frage nach einer Grenzziehung zwischen Mensch und Tier. In der Erfahrung behauptet er sogar, dass der Unterschied zwischen kleinen und aufgeklärten Geistern grösser sei als der Unterschied zwischen gewissen Menschen und Tieren (Erf II, 6). Man denkt an Goethes Grenzen der Mensch-

85 86

87 88 89 90

nebst bisher ungedruckten Briefen der Bondeli an Zimmermann und Usteri. Hg. v. E. Bodemann. Hannover 1874, S. 189. Ruhr 1767, S. 350. Ruhr 1767, S. 207. S. 199 äussert er: „Wer einem Dummkopf durchgängig einleuchten will, muss selbst ein Dummkopf seyn; dieser wichtige Grundsaz erkläret mir Millionen Erscheinungen, die ich täglich sehe und erfahre, und die alle falschsichtige Köpfe unaussprechlich falsch verstehen“ (Ruhr 1767, S. 199). Zerstreute Blätter vermischten Inhalts 1799, S. 269. Vgl. S. 289: „eine wahre Pferdearbeit“; S. 320: auf jemanden „wie die Falken“ stossen. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 20. Februar 1768. ZZH, FA Hirzel 239, 214. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 1. Augusr 1784. ZZH, FA Hirzel 240, 20. Flugschrift gegen Kästner vom 28. Oktober 1779, S. 19.

252

heit. Die Stellung des Menschen als Krone der Schöpfung wird ansatzweise entthront. 2. Metaphorisch-polemischer Experimentierstil Aus dem Meer von Belegen polemischer Zuspitzung und auf überraschende Wirkung bedachten Wortgebilden seien folgende Beispiele ausgesucht: „Unerwartet wie ein Donnerschlag vom ruhigen Himmel“ (I, IX) traf Zimmermann die Nachricht vom Weggang der Frau v. Döring. „Alte müssige Matronen […] jappen nach Visiten und Assembleen wie auf den Strand geworfene Fische nach Wasser“ (I, 12). Asketen zerbrechen ihre Leidenschaften wie Glas (I, 160). Das „hitzigste Abderitenfieber“ gehe „unter einem günstigen Himmel oft so schnell“ vorüber „wie ein Theaterblitz“ (I, 79). Ein Gelehrter, der den Geist schon in seinen Schriften „ausgetröpfelt“ (II, 23) hat, wirkt wie eine „ausgepresste Citrone“ (II, 23). Es wäre eitel, Hottentotten vor dem Missbrauch der Philosophie Wolffs warnen zu wollen (II, 67). „Feuriger und stärker und mit grösserer Schnellkraft“ (II, 239) wirkt jede Leidenschaft in der Einsamkeit. Der Alliteration bedient sich Zimmermann dabei nicht selten : „Im Junius 1784 liess er (sc. Obereit) sein Licht in Leipzig leuchten“ (III, 73). Vorurteile „entmannen“ die Seele des „Weltlings“ (III, 112). Es ist lustig, „so viele leicht dahertrippelnde und tändelnde Weiber von hohem Alter; so entsetzlich viele Studenten mit grauen Haaren“ (III, 126) zu sehen. Übt man Aufrichtigkeit sich selber gegenüber, „dann zerplatzen alle […] Scheintugenden, wie Seifenblasen“ (III, 167). Für Nachdenken an einsamen Örtern gilt: „Bey jedem Fusstritt geht die Seele durchs Unermessliche“ (III, 325). Zimmermann zitiert aus dem Beileidsbrief Lavaters beim Tod seiner Frau: Wie der kleine Schmerz eines Lanzettenstichs bey einer Aderlässe, schrieb Er mir, zu der darauf folgenden Befreyung von einer grossen Krankheit sich verhält, so verhält sich alles überstandene Leiden dieser Zeit, zu der darauf folgenden Freude in der Ewigkeit (III, 201).

Ein guter Kopf wäre in einer jämmerlichen Lage, „wenn es einem Dutzend Alltagsköpfen täglich einfiele nach seinem Befinden zu fragen […] er müsste einen Besuch nach dem andern annehmen, und dann Alltäglichkeit saufen wie Wasser“ (III, 454). In der Einsamkeit gebildete seelische Unerschütterlichkeit ist lebensnotwendig in einer feindseligen Umgebung, die verlangt, dass ihrem „Unsinn allgemeiner Weihrauch dampfe aus tausend Tobackspfeifen“ (III, 496f.). „Der Seele ist es heilsamer, den ganzen Tag Holz zu spalten als in Stiefeln und Sporen zu lungern“ (IV, 70).91 91

Weitere Belege aus dem Gesamtwerk: „Ich kenne einen hochberühmten, tiefangebeteten und etwas dummen Practicus“ (Erf. I, 184). „Feine, scharfsinnige, geistvolle Menschen die ihrer Gemüthsbewegungen nicht vollkommen Meister sind, zehren ihren Körper aus wie eine Lampe ihr Öhl“ (Erf. I, 452). Nervenstarke täuschen sich im allgemeinen über die Tragfähigkeit ihrer Kräfte: „Sie fressen, saufen, und rasen dergestalt auf ihre Nerven los, dass sie oft vor dem

253

Stellvertretend für die sprachschöpferische Kraft seiner durch Bilder bestimmten Sprache stehe abschliessend und überleitend zum Komplex der Feuer-, Lichtund Wasser-Vergleiche ein Ausschnitt aus der Charakterisierung eines Kranken, den man nach heutiger medizinischer Terminologie wohl als Depressiven bezeichnen würde: Aller Schimpf den man über ihn ausgiesst, jeder Luftstreich der Witzwuth, alles Hohnlächeln und Grinsen aus dem Galgenfelde des Neides und der Schmähsucht, alle dort mit schüchterner Arglist gegen ihn ausgeübten Katzenstreiche, und die darüber entstehende allgemeine Freude in Zeitungen, Almanachen und Journalen, und bey nahem und fernem, gelehrtem Gesindel, diess alles gleitet über ihn weg wie Wasser über Wachstuch (II, 198).92

Vergleiche mit Feuer, Licht und Wasser durchziehen auffallend das ganze Werk.93 Neben verhältnismässig wenigen Beispielen, welche Feuer, Licht und Wasser als eigentliche Naturphänomene darstellen, liesse sich im Einsamkeitswerk schätzungsweise über ein halbes Tausend an übertragen verwendeten Belegen im Um-

92

93

dreissigsten Jahr allen Krankheiten ausgesezet sind, und die traurigsten Merkmale eines hohen Alters auf ihren gebogenen Naken und sinkenden Knien tragen“ (Erf. II, 602). Schleichende Krankheiten sind besonders bitter und die Hoffnungen auf Genesung vorab im Alter gering, „in welchem durch Sorgen gerunzelt und durch Seufzer entathmet der Mensch die träge Last des Körpers unwillig nachschleppt, indes dass seiner Seele mehrentheils nichts übrig bleibt als die filzige Neigung für Geld, die eitele Klage über die Unwiederbringlichkeit der Jugend, und der Schauer vor der nahen Gruft“ (Erf. II, 568). „[…] gleichwie der Mangel der äussern Luft in einer Luftpumpe eine Kaze bis zum Zerplazen gross macht“ (Erf. I, 91). „Der Schweizer bewohnt einen kaum sichtbaren Erdenfleck, wenn man ihn sehen soll, so muss er schimmern wie ein Diamand, aber dieser Diamand ist ziemlich schmutzig“. Nationalstolz 1789, S. 38. Gewisse Nationen sind auf ihre Geschichte so stolz wie „ein von Erbsen und rohen Schinken aufgedunsener Dorfjunker auf sein angestammtes Pergament“. Nationalstolz 1789, S. 57. In einem Brief gesteht er: „J’ecris cette langue (sc. le latin) comme un homme né à Peking ecriroit le Francois“. Hamel 1881, S. 28. In der Ruhr-Schrift werden seine Kontrahenten, die Wundärzte, als „armselige Bartärzte“ (Ruhr 1767, u.a. S. 201, S. 251), gar als „Afterärzte“ (Ruhr 1767, S. 198, S. 199), „Gegenfüssler in der Vernunft“ (Ruhr 1767, S. 283), „Weinevangelisten“ (Ruhr 1767, S. 303) betitelt, Scharlatane als „langöhrichte Todesengel“ (Ruhr 1767, S. 262), „Würgengel“ (Ruhr 1767, u.a. S. 167, S. 249), wobei in einem besonders gravierenden Fall Zimmermanns medizinisch-wissenschaftliche Aufgabe darin bestand, Patienten aus „den Klauen eines der fürchterlichsten mit dem Henkerschwerdte gezierten Würgengels zu entreissen“ (Ruhr 1767, S. 286). Zimmermann lehnt das angebliche Heilmittel Salpeter, zumindest gegen die gallichte Ruhr, als „Nationalunvernunft“ (Ruhr 1767, S. 269) einer „langöhrichten Versammlung“ (Ruhr 1767, S. 261) entschieden ab, „weil er nach dem Urtheil des in der Prüfung aller Ursachen und aller Wirkungen bey dem Krankenbette äusserst scharfsichtigen und äusserst behutsamen Gegenfüsslers aller Empiriker, des Herrn Doctors Hirzel, keinen wesentlichen Nuzen in Absicht auf die Krankheit selbst verschaffet“ (Ruhr 1767, S. 448). Vgl. im Brief an Johann Stapfer vom 8. April 1785: „Aber mein Buch (sc. Über die Einsamkeit) schien von ihrem Kopfe und von ihrem Herzen abzuprallen wie ein Kieselstein von einer Mauer“. Luginbühl 1890, S. 29. Vgl. die Stelle in der „Diät für die Seele“, die Licht und Feuer einander gegenüberstellt: „sie (sc. die Mässigkeit) schwingt die Einbildungskraft aus Abgründen der Dunkelheit in Gegenden des Lichts, aus der vollkommensten Sclaverey in die vollkommenste Freyheit. Sie bringt die Leidenschaften in die schönste Harmonie, und dämpfet das Feüer der Natur so wenig als sie es übertreibet“. Benzenhöfer/vom Bruch 1995, S. 92f.

254

kreis von Licht und Wasser beibringen. „Überall ist Wahrheit, Licht, Feuer und Blitz“.94 Es begegnen nicht selten verstärkende Substantivverbindungen mit „Feuer“ resp. „Licht“: „Feuer und Flamme“ (II, 155), „Feuer und Leben“ (III, 174), „Feuer und Stärke“ (III, 409), „Feuereifer“ (II, 391; II, 402; III, 36); „Feuerschlund“ (II, 433); „Feuerphilosoph“ (III, 36); „Feuerschlund“ (IV, 305); „Feuer und Würde“ (IV, 435). Auf einer nicht einmal besonders beispielprägnanten Seite im siebten Kapitel (II, 498) finden sich an eigentlich und übertragen verwendeten Lichtphänomenen: „das Licht des Jahrhunderts“, die Schüler des heiligen Dominikus waffnen sich für Missionszwecke „mit Feuer“, Ketzer werden „auf brennenden Scheiterhaufen“ getötet und zusätzlich finden theologische Kontroversen Erwähnung, die den Verstand der Menschen verfinstern. In seiner Polemik gegen Obereit kommt sowohl die Licht- wie die Wassermetaphorik weidlich zum Tragen. Da ist beispielsweise die Rede von der „eigentlichen Lichtwelt für den Lichtgeist Obereit“, vom „Licht der Vernunft“ und kontrastiv dazu von der „Nacht mit allen ihren Gespenstern“ (III, 65). Zimmermanns Überzeugung, dass Obereits „Lebensgeschichte“ (III, 36) ein verlässlicher Schlüssel zu dessen Persönlichkeit sei, drückt er durch die Formulierung „eine sichere Spur zu Quell und Keim seiner Sinnesart, Selbstheit, und Originalität“ (III, 36) aus. Zunächst seien einleitend einige Textbeispiele im Umkreis der zur Diskussion stehenden Metaphorik zitiert. Anschaulich, unter Verwendung eines martialischen Vergleichs, schildert Zimmermann im elften Kapitel des vierten Teils ein Gewitter in der Zentralschweiz: Nie vergesse ich einen kleinen Weg von einer halben Stunde, den ich von dem Nonnenkloster der Schwestern bey Allen Heiligen in der Auw, im Canton Schwyz, nach dem Kloster Einsiedlen zu machen hatte. Der ganze Horizont war im Feuer; ohne Aufhören wirbelte der Donner in einem Kreise um mich herum. Aber am meisten erstaunte ich über die fast unglaubliche Menge von Blitzen, die so schnell wie die Canonenkugeln in einer Schlacht, auf meinem ganzen Wege allenthalben einschlugen (IV, 15).

Höflingen rät Zimmermann, nicht ohne hämische Ironie, eine Wachskerze dem Erzengel Michael und eine dem Teufel anzuzünden, da sie nie wissen können, wo sie den einen oder den anderen nötig haben werden (IV, 108f.). Die heiltätige Wirkung des Pyrmonter Brunnenwassers lobt der Kurgast Zimmermann sehr (II, 232f.). Dem russischen Fürstenpaar Orlow empfiehlt er allerdings eine „Brunnendiät“ in Ems, die ihnen „gewisser physikalischer Anfechtungen wegen, sehr beschwerlich“ (II, 236) fiel. In der Erzählung der Liebesgeschichte zwischen Heloïse und Abélard berichtet Zimmermann vom bretonischen Kloster St. Gildas, das symbolisch auf einem einsamen, hohen Felsen liegt, an den das Meer mit seinen Wellen schlägt. Den Versuch Abélards, seine Geliebte aus seinem Innern zu tilgen, ist zum Scheitern verurteilt: „In dieser wilden Einsamkeit

94

NLB Ms LXII, 1933, B 35. Anonymer Brief von Zimmermann auf den 4. März 1784 datiert.

255

wollte Abélard unter frommen Übungen seine Heloïse vergessen; da wollte Er ihr Bild durch seine Thränen auslöschen“ (II, 253). Zusammenfassend ergibt sich, dass das ganze Einsamkeitswerk mit charakteristischer Häufigkeit eine Metaphorik von Feuer, Licht und Erleuchtung, „wie ein Feuerstrom vom Vesuv“,95 durchzieht, die sich von Erscheinungsformen des Dunklen kontrastiv abhebt, wie „das hellste Licht zur schwärzesten Dunkelheit“ (IV, 3). Diese ins Auge fallende Lichtmetaphorik umfasst ein Spektrum von Lichterscheinungen als Naturphänomene zu metaphorischer Erleuchtung, vom häufig negativ konnotierten körperlichen Feuer, auch höllischem Fegfeuer, bis zum positiv belegten entkörperlichten göttlichen Licht der Offenbarung und dem Licht der Vernunft. Zwischen „Feuer“ und „Licht“ muss deshalb unterschieden werden, weil „Feuer“ eher im Bereich des Körperlichen,96 gesteigerter Emotionalität und ungebändigter Affekte angesiedelt ist, wobei oft eine sexuelle Konnotation mitspielt, während „Licht“ eine positiv verstandene Metaphorik des Verstandes und geistiger Erleuchtung97 beinhaltet, die häufig eine religiöse Komponente aufweist. Die qualitativ minderwertigere Feuer-Metaphorik98 überwiegt quantitativ, was damit zusammenhängt, dass das Einsamkeitswerk sich ausgedehnter in Polemik übt als in der Darstellung des Einsamkeitsideals selbst. Weniger häufig, doch durchaus nicht selten, begegnen Wasser-Vergleiche, „eine verbale Metaphorik des Fliessens, Strömens und Überströmtwerdens“,99 die überwiegend im Zusammenhang mit Reinigung und Taufe, mithin religiöse Bedeutungsträger darstellen. Licht- und Wassermetaphorik stehen kontrastiv zueinander und sind zugleich komplementär aufeinander bezogen. Bereits in einer Katachrese am Schluss der „Vorrede“ im ersten Teil verknüpft Zimmermann die beiden Vergleichsstränge: „[…] und wenn in Deutschland mein Name erloschen sein wird wie eine Seifenblase“ (I, XX). Die wie ein roter Faden das Werk gleichsam kommentierend durchziehende Lichtmetaphorik manifestiert mit stilistischen Mitteln die im Geschichtskapitel dargestellte Denkform einer teleologischen Geschichtsauffassung, die Geschichte als Fortschrittsgeschichte der ganzen Menschheit versteht: „Aufklä95 96

97 98

99

Unterredungen 1788, S. 261. Vgl. in „Von der Diät für die Seele“: „Die meisten Leidenschaften sind, wie das Feuer, schädlich oder nützlich nach den Umständen in welchen sie wirken“ (Bouvier 1925, S. 274); „Die Mässigkeit [...] schwingt die Einbildungskraft aus Abgründen der Dunkelheit in Gegenden des Lichts, aus der vollkommensten Sclaverey in die vollkommenste Freyheit. Sie bringt die Leidenschaften in die schönste Harmonie, und dämpfet das Feüer der Natur so wenig als sie es übertreibet“ (Von der Diät für die Seele, hg. v. Udo Benzenhöfer u. Gisela vom Bruch. Hannover 1995, S. 92f.). Vgl. Erf I, 60: „Ein philosophischer Geist führt uns durch sein Licht … von guten Beobachtungen auf richtige Vernunftschlüsse […]“ (Erf II, 59). Langen, August, Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Tübungen 1954, unterscheidet nicht genauer zwischen Licht- und Feuermetaphorik. Zur Feuermetaphorik stellt er fest: „Der Bildkomplex Feuer ist wie der des Wasser einer der ältesten und selbstverständlichsten aller religiösen Sprache, im besonderen der Mystik“ (S. 333). Ebd., S. 319.

256

rung dämmert überall“ (III, 375). So gesehen, reflektieren die kontrastiv beigegebenen Schattenseiten sprachlich die Hemmnisse, die sich dem Aufklärungsprozess entgegenstellen. Die Licht- und Wassermetaphorik100 gewinnt zugleich eine religiöse Dimension, indem sie zum einen sprachlicher Reflex eines reinigenden, pietistisch geprägten Erweckungserlebnisses ist, das auf Ursprüngliches verweist, z.B. auf das eindringliche Postulat erneuter Reinigung und der damit verknüpften Rückkehr zur „Urquelle“, und damit eine initiierende Feuertaufe bezeichnet, also ein reinigendes Eintauchen mit „Geisterfüllung“. Andererseits leuchtet die Licht- und Wassermetaphorik voraus auf ein anzustrebendes Reich Gottes. „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen! Ich muss mit einer Taufe getauft werden […]“ heisst es in Lk 12, 49f. Die Interpretation von Zimmermanns Licht- und Wassermetaphorik kann letztlich vom biblischen Hintergrund, dem sie sich verdankt, nicht absehen. Es ist aber die Einsamkeitstheologie, wie sie das Werk entwirft, die ihre eigentliche Semantik bestimmt.101 Die in diesem Kapitel insgesamt beobachteten „metaphorischen Überblendungen“102 des Textes haben wesentlich die Funktion, ohne hierarchisierende Systematik und begriffliche Festlegung experimentierend zu formulieren. Zimmermanns Metaphorik dient, neben dem auch in diesem Zusammenhang wichtigen Aspekt der Affektabfuhr, maßgeblich dazu, einer begrifflichen Präzision auszuweichen.103 Sprachpolemik tritt anstelle von terminologischer Genauigkeit, und das ausgerechnet bei einem anthropologischen Arzt, der seinen Gegnern, besonders Obereit, gerne mangelnde wissenschaftliche Verfahrensweise vorwirft. Anhang: Belege zur Feuer-, Licht- und Wassermetaphorik Der Umfang der folgenden, anhangsweise aufgeführten Belegreihen rechtfertigt sich durch das geradezu epidemische Auftreten dieser metaphorischen Sprachgestaltung. Um das Material übersichtlicher auszubreiten, folgen die Beispiele getrennt nach den Gruppen Feuer (A), Licht (B) und Wasser (C).104 100

„Das Wasser zählt zu den Ursymbolen mystischen Denkens. Als Quelle der pietistischen Sprache kommen wie meist vor allem Bibel und deutsche Mystik in Betracht. In beiden ist dieser Gleichniskomplex reich vertreten“ (Ebd., S. 319). 101 Vgl. 9. Heilsgeschichte und Einsamkeit. Zimmermanns Einsamkeitstheologie, S. 235ff. 102 Pfotenhauer 1987, S. 8. 103 Bezeichnenderweise verwendet Zimmermann, im Gegensatz zu seiner Dissertation von 1751, in der Erfahrung in der Arzneykunst nicht mehr explizit die Begriffe Irritabilität und Sensibilität, die er nicht voneinander trennt, sondern bedient sich metaphorischer Ausdrücke wie Faser, Beweglichkeit oder Härte, weil er über kein „konsistentes Krankheitssystem“ (Gurtner 1998, S. 22) verfügt, das auch durch eine definierte Begrifflichkeit fassbar würde. 104 Aus der Ruhr-Schrift beispielsweise nenne ich nur folgende Belege: „Durch die Aufzeichnung auch nur weniger Warnehmungen zündet er ein Licht an, das in die Zukunft leuchtet“ (Ruhr 1767, Vorrede, S. IV). In S. VII ist vom „schnellen Lichte des gesunden Denkens“ die Rede; „Man erlaube mir, […] sodann auch die Vorurtheile zu beleuchten, die wie ein verzehrendes Feuer alle Gemüther ergriffen“ (Ruhr 1767, S. 187); „[…] hat die preiswürdige oeconomische

257

A. Feuer-Metaphorik „Funken des Lebens“ wieder anblasen (I, VI) „mit welchem Feuer ich im März 1781 die Feder zu diesem Buche ergriff“ (I, VII) „ausgelöschet war in mir alles Feuer und aller Geist“ (I, IX) „Mit ihrem ersten Feuerblick sehen Sie (sc. Frau v. Döring), was nur langes Grübeln mir entdecket“ (I, XIX) „[…] obgleich das hitzigste Abderitenfieber unter einem günstigen Himmel oft so schnell vorübergeht wie ein Theaterblitz“ (I, 79) Einsilbig und kalt bleiben und „nicht einen Funken von sich“ geben (I, 89) „wie elektrisches Feuer alle Köpfe ergreifen“ (I, 91); „wie elektrisches Feuer“ (III, 510) „Noch glühet mir mein Herz bey der Erinnerung“ (I, 109) „Vielleicht misbilligen sie im Feuer ihrer Andacht auch manche unschuldige Freude […]“ (I, 116) „den Platonischen Funken der Göttlichkeit wie Feuer aus einem Kiesel“ herausschlagen (I, 160) „das Feuer geiler Lust“ (I, 171) „[…] als Redner übertraf der neue Ertzbischof die feurigste Erwartung“ (I, 257) „Feuerkopf“ (I, 261); „feuervoller Kopf“ (I, 262) „[…] bey Freunden und Feinden war er (sc. der heilige Hieronymus) seiner brennbaren Natur wegen im Verdacht“ (I, 271) „So viel sehe ich doch, dass ein Feuerkopf Weiber immer führen kann wohin er will, wenn er dunkel auf ihren Verstand und lebhaft auf ihre Empfindung wirket“ (I, 272) „Paula, eine sehr reiche, ebenfalls sehr vornehme, und ebenfalls sehr feuerfängliche Dame […]“ (I, 274) In Hieronymus’ erstorbenem Körper sei „das Feuer unzüchtiger Begierden noch in der Zeit aufgelodert, da er sich aus Furcht vor der Hölle zur brennendheissen Wüste […] verdammte“ (I, 278)

Gesellschaft in Bern ein Licht aufgestecket, das nach und nach vielen von der Heerstrasse der Unvernunft in den schmalen Pfad der Warheit hinüberleuchten wird“ (Ruhr 1767, S. 270); „Jenes Licht wird unserer spätesten Nachkommenschaft leuchten, das uns Tissot in Absicht auf vielerley Krankheiten, […] aufgestecket hat“ (Ruhr 1767, S. 294); „der grosse lichtscheue Haufen“ (Ruhr 1767, S. 295); „Das redende Beyspiel von den gesegneten Wirkungen der aufgeklärten Sorgfalt eines Landpfarrers für die Gesundheit seiner Kirchangehörigen“ (Ruhr 1767, S. 302); „Doch ich wandle […] auf Flammen die eine betrügerische Asche bedeckt“ (Ruhr 1767, S. 482); Zur Wassermetaphorik: „In der Grafschaft Baden, in dem Freyamte, und in dem Frickthal wohnen Würgengel dieser Art, zu denen beynahe der Harn von unserer ganzen Provinz hinfliesst, und die hinwider dieselbe mit ihren Arzneyen überströmen“ (Ruhr 1767, S. 243).

258

„wie äusserst feuerfangend sie (sc. Nonnen) unter diesem heissen Himmelsstrich“ waren (I, 307) „Nie entbrannte sein (des Hieronymus) Zorn fürchterlicher, als über eine Liebesintrigue zwischen Mönch und Nonne“ (I, 315) „das Feuer der Einbildungskraft“ (I, 372) „Erkranket ist der grosse Chrysostomus von aller heiligen Wuth, mit der er, als ein feuervoller Jüngling, in den Mönchsstand trat“ (I, 384) „im Feuer der Composition“ (II, 27) „Als ich einst in das Allerheiligste der majestätischen Kirche zu Einsiedeln in der Schweitz eingieng, in einer schwarzen dunklen Kapelle die durch versteckte Lampen erleuchtete Mutter Gottes sah, und die erhabenen Innschriften in feurigen Buchstaben über mir las […] war mir eben so zu Muthe, wie mit itzt zuweilen ist, wenn ich mich durch meine Einbildungskraft in die tiefe Stille und erhabene Verborgenheit der Egyptischen Wüsten versetze“ (II, 48ff.) „wenigstens einige Funken auffassen, aus dem heiligen Dunkel“ (II, 57) „Schwärmerey von mehr als einer Art wäre vielleicht von kurzer Dauer, wenn Einsamkeit nicht ihr Oehl in dieses Feuer gösse“ (II, 75) „Die meisten Egyptische Mönchswohnungen waren ein Fegfeuer auf Erden“ (II, 94f.) „Um Dominikanische Wuth an mir alleine auszuüben, um allgemeinen Abscheu gegen mich (sc. Zimmermann) anzuzünden“ (II, 128) Bei Armelle ist „das Feuer der Liebe entzündet, sie ist nur noch Feuer und Flamme“ (II, 155) „Wenn Kränklichkeit und Melankolie alles Feuer unserer Tätigkeit auslöschen“ (II, 177) „noch immer brennende noch immer cholerische Ruhmbegier“ (II, 217) „Bey der grössten äusserlichen Stille glimmet Leidenschaft unter betrügerischer Asche“ (II, 239) „So viele Regsamkeit und so viel Feuer“ (II, 241) „Feuer und Leben“ (II, 242) „[…] erreget in ihrem Busen Vesuvisches Feuer“ (II, 244) „eine Seele voll tiefen Gefühles und stiller Leiden, und dann neben ihr eine Menge feuriger und unaufhaltsamer Räbeltaschen“ (II, 249) „In diesem Tempel der Keuschheit […] bedecket mich nur die Asche des Feuers, das uns verzehret hat“ (II, 259) „Feuer meiner Triebe“ (II, 263) „Dann werden unsere Seelen gertrieben durch ein gemeinschaftliches Feuer, und gemeinschaftlich ist unsere Wonne“ (II, 267) „Fegfeuer“ (II, 272) Der Teufel habe die Sinne des Hilarion gekitzelt „und in seinem reifwerdenden Körper die Einsiedlerflamme der Wollust entzündet“ (II, 292)

259

„feuervolle Fleischeslust“ (II, 294) „Zunder zur Unkeuschheit liegt zwar häufig genug in der Natur des Menschen, ohne dass er der klösterlichen Stille und Musse bedarf, um Feuer zu fangen“ (II, 318) „Feurige Köpfe“ (II, 345); „Feuerkopf“ (III, 392) „Empörungen, Mordlust und Mordbrennerey“ (II, 346) „Mit dem äussersten Feuereifer“ (II, 402) „Einige (des in Wut geratenen Pöbels) wollten Constantinopel in Brand stecken; andere aber den Pallast, wo sich der Kaiser mit seiner Familie aufhielt, anzünden“ (II, 405) „Solche Schwärmer, wie die orientalischen Mönche, entbrannten bey dem geringsten Funken, der in ihre Klöster fiel“ (II, 425) „mit dem höchsten und immer neu aufflammenden Eifer“ (II, 427) „[…] jeder behauptete seine Meinung mit schwärmerischem Ungetüm, und dem wildesten Feuer […] Feuerstrom“ (II, 429) „Mörder und Mordbrenner“ (II, 440) „Wir sahen nirgends, mit diesem Feuer, christliche Liebe ausführen“ (II, 457) Die Erde „rauchte überall“ vom Blut unschuldig abgeschlachteter Millionen von Menschen (II, 472) „Solche Streitpunkte setzten Afrika in Flammen […] In dem verbrannten Hirn des heiligen Augustinus […] Ein Donnerwort war in seinem glühenden Munde dieses unsichtbare Reich, dieser angebliche Staat Gottes“ (II, 479) „Es ist besser, sagte der heilige Mann (sc. Augustinus), dass man einige Donatisten verbrenne, als dass dieser ganze gotteslästerliche Haufen ewig brenne in der Hölle.“ Seitdem Augustinus dieses herrliche Mittel angab, durch Feuer den Staat Gottes zu bevölkern, glaubten alle Klöster und alle Mönche steif und ewig: „es sey besser dass man hie und da einen Ketzer brate, als dass sie alle ewig gebraten werden in der Hölle“ (II, 482) „das Feuer theologischer Zwietracht“ (II, 501) Zu Schandtaten „aufgeflammet“ werden (II, 509) Obereit als „Feuerphilosoph“ (III, 35) „ein Ritter von der feurigen Gestalt“ (III, 77) „Feuer und Leben kommt (sic) wieder“ (III, 174) „die feurigsten […] Gebete zu Gott“ (III, 233) „so entflammte sich […] sein ganzer Geist“ (III, 252) „aufloderndes Vergnügen“ (III, 375) „diese Flamme in ihren schönen jungen Herzen anzuzünden“ (III, 400) Umgang, „der uns anfeuert zu edler Kühnheit […] Feuer und Stärke“ (III, 409)

260

„so lange […] in uns die Glut noch lodert, die unsere Jugend erwärmte“ (III, 415) „wenn nur immer Leidenschaft das Feuer anzündet“ (III, 447) „Funken von […] Feuerseelen“ (III, 471) „Romantische Ideen fangen nirgends Feuer, als bey Menschen die ganz in der Stille und in der Absonderung leben“ (III, 478) „die Glut der Freude in weiblichen Herzen“ (IV, 36) „dem blendenden Schimmer der grossen Welt“ (IV, 39) „das Feuer der Andacht mehr entzündet“ (IV, 77) „Einsamkeit […] löschet das Feuer jeder bösen wilden Leidenschaft in uns aus“ (IV, 103) „Seine Augen waren voll Feuer […] das Feuer der Jugend“ (IV, 114) „eine weit höhere und feurige Liebe für die schönen Wissenschaften und die Tugend, hielten seiner Neigung für das schöne Geschlecht immer das Gegengewicht […] brennendes Temperament“(IV, 116) „im Sommer Schatten von seinen Bäumen, und im Winter, Feuer“ (IV, 137) „mit durchdringenden fressenden Flammen“ leidenschaftlicher Liebe (IV, 146) „Fackel der Zwietracht auszulöschen“ (IV, 212) „und das haben wir dem andächtigen, unzerstreuten und feurigen Gebete in der Einsamkeit zu danken“ (IV, 240) „ein glänzendes Dämchen aus unserer Lesewelt […] Das wilde Feuer der Jugend ist gedämpft, des Lebens Mittagshitze ist vorbey“ (IV, 270) „bey einem feurigen, guten Herzen“ (IV, 284) Die Nachbarschaft dieses Feuerschlundes (sc. des Vesuv) mehr schätzen als die Gesellschaft von Menschen (IV, 305) „wie lodert […] das Herz empor“ (IV, 350) Einsame Spaziergänge Petrarcas „entzündeten […] sein poetisches Feuer“ (IV, 369) „ein brennender aber unaufgeklärter Liebeseifer“ (IV, 400) „Feuer ein Werkzeug der Zerstörung in den Händen eines Mordbrenners“ (IV, 412)

„Ungestümer Ketzerhass wird […] bald ganz ohne Wirkung brennen“ (IV, 487)

B. Licht-Metaphorik „sein Bruder in Indostan […] lauert in der fürchterlichen Sonnenhitze auf die inwendige Erleuchtung“ (I, 13/14) „Wir irren lange im Dunkeln, und sehen nach immerwährender Beobachtung […] fast immer zu spät durch das sanfte Licht der Vernunft den schmalen Pfad der Wahrheit“ (I, 14)

261

„Keiner von allen unsern itzigen deutschen Exministern und Ministern, die durch ihre Aufklärung weit umher Licht und Zutrauen und Freiheitssinn verbreiten […] heiligen Schurken an Höfen die blendende Maske vom Gesichte rissen und vor die Füsse warfen; keiner von diesen Lichtverbreitern und Völkererziehern bildete sich auf Assembleen und mit Karten in der Hand“ (I, 115) „Also war eigentlich die träge und lichtscheue Mystik das Produkt aller dieser Schwärmerey, des übel verstandenen Evangeliums“ (I, 159) Mosheim , der alles „in das deutlichste Licht gesetzet hat“ (I, 163) „alle Blitze seiner (sc. des Hieronymus) Beredsamkeit“ (I, 305); „feuervolle Beredsamkeit“ (I, 327) Aus seiner Einsamkeit hervortreten und „sein Licht […] vor den Leuten“ leuchten lassen (I, 341) „der letzte Funke seines Geistes erlöschet in ungeselliger und geschäftloser Stille unter Mismuth und Melankolie“ (II, 5) „als oberster Weltenrichter hieniden, gegen die […] verabscheute Weltvernunft Blitze aus dem Lycopodiumspulver seiner Erfahrungstheologie“ (II, 8) schleudern „einige Funken auffassen aus dem heiligen Dunkel“ (II, 57) „die wärmste Menschenliebe“ verbreiten über die entferntesten Länder und über alle Mitbürger und Landsleute „wie die Sonne ihre Strahlen“ (II, 60) „Mitten unter dem Lichte der Philosophie für die Menschheit und die Welt, mitten unter der grossen Revolution im Sehen und Denken, die itzt Kaiser Joseph in seinen Staaten unter so vielen Millionen von Menschen zu bewirken sucht, steigen blos durch Schwärmerey, in mancher deutschen Provinz, wo man sonst auf Aufklärung stolz war, schwarze Wolken auf, anstatt neuer Lichtquellen“ (II, 63f.) Spittlers „nervichte und lichtvolle Kirchengeschichte“ (II, 73) „ein lichtvoller Denker“ (II, 109; II 412 u.a.) „wie jeder hartköpfige Mystiker vor jedem deutlich aufgeklärten Religionsbegriff, wie geschreckt vom Blitze, zurückfährt“ (II, 138f.) „Die Seele jedes Menschen enthalte etwas göttliches, das ist, unsere Vernunft sey aus Gott in uns geflossen, und dieses Licht allein müsse uns leiten“ (II, 139) „Armelle wollte eben einen Kapaun spicken, sey aber mit dem Kapaun in der Hand drey bis vier Fuss hoch über die Erde gehoben und ganz mit Licht umgeben worden; und ihr Antlitz habe von der göttlichen Liebe so geglühet, dass der arme Junge, der durch die Ritze kuckte, aus Rührung und Entzückung ein Mönch ward“ (II, 166) „alles Licht des aufgeklärtern Christenthums“ ausblasen (II, 196) „Dieses Wort fuhr wie ein Blitz durch die schöne Seele“ (II, 221) „das Licht des Jahrhunderts“ (II, 498) „Im Junius 1784 liess er sein Licht in Leipzig leuchten“ (III, 73) „Licht- und Lebensgeschichte“ (III, 74)

262

„Ein Inspirirter denkt durchaus von Mystik und Einsiedlerleben ganz etwas anderes, als einer der diess alles nur bey der Fackel der Vernunft und der Geschichte betrachtet“ (III, 103) „Verfinsterung des Verstandes“ (III, 121) „viele Funken zu guten Gedanken […] Durch den Odem des Himmels werden jene Funken in der Einsamkeit angefacht und belebet“ (III, 150) „einige Funken von gesundem Menschenverstande“ (III, 265)105 „Aufklärung dämmert überall […] Es ist wenigstens klug, wenn mancher, der an einem Hofe die Fackel der Philosophie doch wol bisweilen auf einen Augenblick könnte leuchten lassen, da lieber nur leuchtet wie ein Johanniswürmlein“ (III, 375) „Heller Unterricht, grosses Beyspiel, und verdienter Ruhm, bringen dann doch Früchte […]“ (III, 401) „uns immer mehr aufkläret“ (III, 410) „Fortgang der Erleuchtung“ (III, 500) „Zusammemraffen müssen wir Alles, was nur einen Funken von Ruhe in die Seele bringet. Aber wir müssen nicht verlangen, dass ein unvergängliches Feuer daraus entstehe, sondern nur dafür sorgen, dass der letzte Funke nie auslösche“ (IV, 74) „Die grössten Männer des Alterthums, sagt Pope, blendeten und leuchteten am meisten in der Einsamkeit, in der Verbannung, im Tode; oder vielmehr sie blendeten nicht; denn alsdann thaten sie am meisten Gutes, indem sie ihr Licht den Menschen mittheilten“ (IV, 276) „Dann werde der Mensch gereiniget, erleuchtet, vereinbar gemacht mit Gott“ (IV, 382) „Er (sc.Gott) neige sich zu jedem; durch Licht und Strafe […] durch unmittelbare Erleuchtung, oder auch nur durch den Glauben“ (IV, 383) „Der Schatten entweicht. Nichts hindert das ewige Licht, uns zu erleuchten, und zu erfüllen“ (IV, 385) „Auf solchen Höhen des Lichts und des Friedens, schwebten drey Männer, welche ich schon in meiner zarten Jugend innigst verehrte und liebte: Fenelon, Muralt, und mein Vater“ (IV, 388) „Mystik ist im Auge der Philosophie nur insofern verwerflich und verächtlich, als […] man unmittelbar von Gott erleuchtet, oder ein Engel seyn soll, um den Jacob Böhm zu verstehen; nur insofern man also ihre Begriffe gar nicht bis zu der Deutlichkeit aufzuklären weiss, wodurch sie auch denen einleuchten könnte, die nicht Mystiker sind […] nur insofern man ihr Licht in unverständliches Geschwätz und kauderwelschen Styl einhüllet, und dann diese elende Kertze denen um die Ohren schlägt, die man bekehren will […] nur insofern man behauptet, Vernunft oder Verstand müssen so wenig der Frömmigkeit vorleuchten, als der erhabenern, lebhaftern und zum herrschenden Affect gewordenen Gottseligkeit […] nur insofern man also in der Einsamkeit theosophisch huckt und lungert, bis die inwendige Erleuchtung kommt; nur insofern man nicht sieht oder nicht sehen will, dass ein brennender aber unaufgeklärter 105

Im „Katechismus“ (Der Erinnerer II, 11. Stück, 13. Merz 1766, Zürich 1766, S. 105) findet sich eine Stelle, die C. F. Meyer zitiert (Meyer 1881, S. 197): „wenn man mit erhitzter Brust in dem Reiche der Wissenschaften fortgeht und hoch über den Pfeilen der Verläumdung die Gluth der Sonne trinkt“ vergingen kleinstädtischer Klatsch und Streitereien. Vgl. die Stelle III, 268: „wenn man […] mit erhitzter Brust in den Wissenschaften fortgeht, und weit über die Pfeile kleinstädtischer Scheelsucht und armseliger Verleumdung weggehoben, seinen eigenen Gang fest und unverdrossen behält“.

263

Liebeseifer, weibliche Herzen zu läppischen, unnützen, und der Gottheit höchst unwürdigen Andachtsübungen verleitet“ (IV, 397ff.) „Kaiser Joseph sprach: es werde Licht und das Licht wird kommen mit der Zeit. Seine ersten Strahlen haben die alte lange Nacht verdrängt“ (IV, 483) „Josephs II. Versuche allein glänzen in den Jahrbüchern der Vernunft“ (IV, 485). „Kaiser Joseph II. hat nicht da und dort ein Fünkgen Wahrheit ängstlich glimmen lassen, sondern die ganze brennende Fackel auf einmal aufgestellt. Auf einmal durchbrach in Wien ein Streben nach Wahrheit, ein Geist der prüfenden Vernunft jene alte dicke Nacht, welche dort die Gemüther niederhielt unter der Zuchtruthe elender Kahlköpfe […] unaussprechlich mehr Licht“ (IV, 490)

C. Wassermetaphorik „Sprudelgeister“ (II, 8) „aus dem Brunnen ihrer Weisheit“ trinken (II, 40) „Urquell der Weisheit“ (II, 47) „klare Quellen“ (II, 57) „schwarze Wolken anstatt neuer Lichtquellen“ (II, 64) „Aus ihrer so sehr geliebten Einsamkeit, dieser an so vielen andern Verirrungen der menschlichen Seele so fruchtbaren Quelle, floss vielleicht alles Grillenhafte der Mystik“ (II, 147) „Entzückungen und Überströmungen“ (II, 161) „Gott […] kann Ideen in uns giessen nach seinem Gefallen“ (II, 237) „Ströme von Thränen verwischen nicht eine einzige Spur der Vorzeit […] versiegen nie im grünen Schatten und am stillen Wasser“ (II, 252) Zur Zwangsmissionierung der Sachsen durch Karl den Grossen: „deswegen einmal fünfthalbtausend Sachsen im Grimm niedersäbeln, und die übrigen wie eine Heerde Vieh in den Fluss hineintreiben und mit Wasser besprengen“ (II, 500f.) „wo so manche schöne Frau und so manches gnädiges Fräulein stolz und kopflos schwimmt auf dem Strome der Thorheit“ (III, 117) „Meere voll Gefahren“ (III, 213) „Einsamkeit […] löschet das Feuer jeder bösen wilden Leidenschaft in uns aus“ (IV, 103) „Thränen über die Bayerische Jugend vergiessen“ (IV, 470) Wer wahre Religion im Herzen hat, der sieht um sich her „die frischen Wasser, an welchen der Hirte Israels seine Heerde weidet“ (IV, 282) „Aber bist du noch auf diesem gefahrvollen Meer“ (der Weltverfallenheit) (IV, 288) „wie ein sanfter Fluss, der nicht nur durch einsame Thäler und zwischen Heerden und Hirten hinfliesset, sondern auch volkreiche Städte in seinem Laufe besuchet“(IV, 333)

264

„Nun sind wir an dem Urquell des Lebens, im Verstande Gottes, am Ursprunge des Seyns, in den Regionen der Wahrheit. Diess ist der Mittelpunkt alles Guten, der Ocean aus dem immer Seelen zu Gott aufsteigen, und in den immer Seelen von Gott ausfliessen“ (IV, 386) Lebensabgewandtheit ist notwendig, um Glück und Ruhe zu erlangen, „denn sie machen den See brausen und Wellen schlagen, der stille und eben bleiben muss, damit sich sein Wasser nicht trübe“ (IV, 498)

Nicht selten werden Licht- und Wassermetaphorik miteinander verbunden: „den Platonischen Funken der Göttlichkeit wie Feuer aus einem Kiesel herausschlagen“ und dabei die Seele zu ihrem „Urquell“ erheben (I, 160) „unsere Vernunft sey aus Gott in uns geflossen, und dieses Licht allein müsse uns leiten“ (II, 139) Aus der Lebensgeschichte Armelles, in der Version Zimmermanns: „als sie das erste Crucifix sah, herzte sie dasselbe und liebelte mit ihm, küsste es inniglich, und benetzte es mit den zärtlichsten Thränen. Nichts drückte sie schrecklicher als die armen Seelen im Fegfeuer […] Wenn sie vor Hitze brannte, oder vor Kälte schlotterte, freute sie sich dessen, aus Liebe für ihre Brüder im Fegfeuer […] Immer sah sie dieselben in grossen Feuerpfühlen brennen […] Nichts hielt sie für so köstlich wie Weihwasser, und Ablass“ (II, 167f.) „Wenn Kränklichkeit und Melankolie alles Feuer unserer Thätigkeit auslöschen […]“ (II, 177) „heisse Tränen“ (II, 409) „Alles Böse […] fliesset aber doch aus dem Geiste der alle wahre Mönche beseelet, aus dem Feuer das sie alle treibt“ (II, 519) Einsamkeit „löschet das Feuer jeder bösen wilden Leidenschaft in uns aus“ (IV, 103) Einsamkeit schade „nicht mehr und nicht weniger als Wissenschaften, Feuer, Wasser, Assembleen, Clubs“ (IV, 364) „Dann werde der Mensch gereiniget, erleuchtet, vereinbar gemacht mit Gott, und zuletzt wirklich mit Gott vereinigt […] Gott neige sich zu jedem; durch Licht und Strafe […] durch unmittelbare Erleuchtung […] durch Ausgiessung seines ganzen Geistes, oder auch nur durch Entzündung unsers Willens“ (IV, 382ff.)

9.2.4 Das Gesetz der wachsenden Glieder bei Zimmermann Im Einsamkeitswerk, wie in den übrigen Schriften, begegnet als bezeichnende stilistische Eigentümlichkeit ein Kraftstil eruptiver Schübe, der generierend formende und repetitiv einhämmernde Züge annimmt. Es handelt sich um ein allgegenwärtiges Stilmittel in Zimmermanns Sprachwelt, das seinem starken Hang zur Übertreibung entgegenkommt.106 Er kann offenbar gar nicht anders, als in kraftvoller Synonymhäufung zu formulieren. Als Beispiel diene eine Stelle aus dem achten 106

Bouvier 1925, S. 50: „Dans tout ce que dit Zimmermann, il faut faire la part de l’exagération“. Dieser Hang zur Übertreibung bezeugt sich vor allem auch in seinen Briefen. Ein Beispiel aus dem Brief an Philipp Albert Stapfer vom 6. September 1790: „Nie, nie, nie habe ich mehr geliebet, als ich Sie liebe, mein vortrefflicher Freünd“. Luginbühl 1890, S. 67.

265

Kapitel des dritten Teils. Dort ist die Rede nicht begrifflich abstrahierend „Von schönen Geistern sich vereinnahmen lassen“, sondern es heisst prozessual-bildlich: „Sich von schönen Geistern einseifen und rasiren, durchkämmen, frisiren, und mit dem feinsten Puder bestäuben zu lassen“ (III, 75).107 Diese von O. Behaghel beschriebene Stileigentümlichkeit der Wiederholungssteigerung108 kennt die Rhetorik als Gesetz der wachsenden Glieder: „ein publikumswirksames, rhythmisches Element des Sprechens, in dem vom kürzeren zum längeren, vom weniger wichtigen zum bedeutsamen Aussagegehalt übergegangen wird“.109 Zimmermann handhabt dieses „Gesetz“ auf modifizierend individuelle Weise. Insbesondere hegt er eine entschiedene Vorliebe für eine „Drei-AdjektivRegel“, eine dreifache, oft sich klimaxartig zuspitzende Reihung vorzugsweise synonymer Adjektive: „Etwas bitteres, verdrüssliches und sauertöpfisches“ (I, 300) war im Charakter des hl. Hieronymus „Jacob Böhms chymisch metaphysisch mystische Probleme“ (II, 149) „listige, gleissende, maulspitzende Weiberwelt“ (III, 234) „jedes junge, maulspitzende, und verbuhlte Dämchen“ (III, 289) „kalte, lendenlahme geistlose Schöngeisterei“ (III, 496) „von einem zu liebreichen, zu liebenden, zu zärtlichen Herzen“ (IV, 45).110

107

Weitere Belege aus dem Gesamtwerk: Zimmermann sagt nicht „Verlauf der Krankheit“, sondern „die ordentliche, fleissige und aufrichtige Beschreibung ihres Anfangs, Fortgangs und Ausgangs ist die Geschichte der Krankheit“ (Erf. I, 471), nicht „verfallen“, sondern „erhalten, abnehmen und verschwinden“ (Erf. I, 245). Der preussische König „dictirte […] seine Resolutionen, Befehle, und Briefe“. Unterredungen 1788, S. 165. In der Ruhr-Schrift von 1767 formuliert er nicht, er habe an Faulfieber Erkrankte in zwei bis sechs Tagen geheilt, sondern er sagt: „[…] denn ich habe eine Menge Faulfieber in zween, drey, vier, fünf, und sechs Tagen geheilt“. Ruhr 1767, S. 28. und für „ausführlich darlegen“ formuliert er bildlich „diesen langen Faden völlig abwinden“. Ruhr 1767, S. 510. Im Brief vom 28. November 1764 an Hirzel: „Ich habe seit einigen Wochen recht liederlich gelebt, gefressen, gesoffen, gesungen, getanzt“ (ZZH, FA Hirzel 239, 45) oder: „Lies lies lies lies Letters of My Lady Mary Worthley Montaigne, das reitzendste Buch in der Welt […]“ (Brief an Hirzel vom 18. Januar 1764. ZZH, FA Hirzel 239, 56). Auch: „Danck Danck, Danck, tausendfachen Danck, seÿ dem fürtreflichen Freündein Deutschland gesagt, der mir über Leiptzig dein Portrait geschickt hat“ (Brief an Hirzel vom 5. April 1766. ZZH, FA Hirzel 239, 123). Im Brief vom 15. Juli 1793 spricht Zimmermann E. G. Baldinger als „mein lieber, guter, alter, treuer Freund“ an. Baldinger 1796, S. 135. Aus der Flugschrift gegen Kästner (1779, S. 9): „jeder Schlag, jeder Hieb, jeder Biss, den Sie mir seitdem so gerne hätten geben mögen […]“. 108 Behaghel, Otto, Beziehungen zwischen Umfang und Reihenfolge von Satzgliedern, in: Indogerm. Forschungen 25 (1909), S. 110–142. 109 Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. G. Ueding, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 929. 110 Weitere Belege aus dem Gesamtwerk: „Der wahre, beständige und ewige Charakter der Krankheit“ (Erf. I, 471). In den Augen Friedrichs II., der sich gegen Nicolai „freundlich, gnädig, und gerecht“ (Unterredungen 1788, S. 187) zeigte, wirkte „die tiefste, schwärzeste, erschrecklichste Traurigkeit“ (Unterredungen 1788, S. 74), er war „so matt, so bedrückt, und so beklommen,

266

Überaus zahlreich sind auch dreifache Verb- oder Substantivhäufungen: „wer in freudenleerer Entfernung von der Welt seinen Verstand verwirren, benebeln und vertilgen muss“ (II, 519) Ketzer muss man „unterdrücken, martern und vernichten“ (II, 490) „mit […] alles wegreissendem oder alles niederwerfendem und zermalmendem Eifer sprach, schrieb und wirkte der hl. Hieronymus für den Mönchsstand“ (I, 261) Theodosius gibt den Befehl, alle zu verfolgen, die „an zwey Naturen in Christo“ (II, 438) glauben, „zumal alle Bischöfe, zu ermorden, auszurotten, und zu vertilgen“ (II, 438) Die in französischen Diensten stehenden Schweizeroffiziere überschwemmen die Eidgenossenschaft „mit Frankreichs Sitten, Denkart, und Krankheiten“ (IV, 16).111

dass Er mich gar nicht sprechen konnte“ (Unterredungen 1788, S. 102); „ein sehr auflösendes, eröfnendes (sic), und gelinde abführendes Mittel“ (Unterredungen 1788, S. 49); „ein sehr gemeines, allgemein bekanntes, äusserst einfaches Mittel“ (Unterredungen 1788, S. 50); „verhunzt, verfälscht, und verstümmelt“ (Unterredungen 1788, 253); „diesen letzten, innigsten, tiefsten Herzensdank“ (Unterredungen 1788, S. 270); „regellose, alte oder blinde Übung“ (Erf. I, 9). Bei der Charakterisierung seiner Geburtsstadt Brugg: „an einem einsamen, reizlosen, und die Flamme des Geistes auslöschenden Orte“ (Erf. I, Vorrede III/IV); „unbewegt, ungerührt, unerschüttert“ (Erf. I, 153); „eine schleichende, betriegerische, tükische Art“ (Ruhr 1767, S. 23); „eine so sehr scharfe, fäulichte und beissende Natur“ (Ruhr 1767, S. 49); „wie fettichte, häutichte, und fleischichte Lappen“ (Ruhr 1767, S. 55); „seine Stimme war langsam, schwach, und gebrochen“ (Ruhr 1767, S. 110); „ein gesundes, munteres, und artiges Baurenweib von achtzehen Jahren“ (Ruhr 1767, S. 171); „Am vierten Tage kam ich des Morgens frühe, und fand diesen Herrn (sc. einen Engländer) sehr munter, sehr heiter, und sehr wol“ (Ruhr 1767, S. 154); „die freundschaftlichste, sittsamste, und eindringendste Weise“ (Ruhr 1767, S. 168); „so fürtreflich, so milde, und so väterlich war also die Regierung in Bern für das Wolseyn ihrer Unterthanen besorget“ (Ruhr 1767, S. 193); „die so schwere, so kostbare, und so heilsame Arzneywissenschaft“ (Ruhr 1767, S. 275); „äusserst heftig, äusserst gefährlich, äusserst furchtbar“ (Ruhr 1767, S. 358); „mit heftigen, tiefen, ziehenden Schmerzen“ (Ruhr 1767, S. 474).Im Brief vom 3. März 1768 an Hirzel: „ein sehr liebenswürdiger, sehr scharfsinniger und sehr aufgeklärter Cavalier“. ZZH, FA Hirzel 239, 228. 111 Weitere Belege: „immer gleich blühen, wachsen und vergehen“ (Erf. I, 231); „Also scheuen, verlachen, verachten, und verdammen sich die Menschen in die Wette“ (Nationalstolz 1789, S. 70); „ein Kleinjogg ziert unbemerkt die Menschheit, bis ihn ein Hirzel sieht, kennt und verewigt“ (Erf. I, 156); Der Fleiss „untersucht, er verwirft, er behält“ (Erf. I, 4); Krankheiten „zu kennen, zu lindern und zu heilen“ (Erf. I, 64); Zimmermann vergeht fast vor „Betäubung, Wehmuth, und Schmerz“ (Unterredungen 1788, S. 140) und sucht bei Lucchesini, diesem „geistvollen, tiefgelehrten, und liebenwürdigen Italiener“ (Unterredungen 1788, S. 174) „Hülfe, Trost und Rath“ (Unterredungen 1788, S. 140), verschwunden war „alle Furcht, alle Angst, und aller Schrecken“ (Unterredungen 1788, S. 297); vgl. auch Unterredungen 1788, S. 177 über den Grafen Lucchesini: „sein edler Charakter, seine Ehrlichkeit, seine Rechtschaffenheit, seine Wahrheitsliebe, seine Klugheit, seine Treu, seine durchdringende Scharfsicht, sein unermessliches Gedächtnis, seine classische Gelehrsamkeit, und sein tiefdringender philosophischer und politischer Blick“. Friedrich II. sehnte sich „nach seinen Studien, nach seinem Weinberg, nach seinen Kirschen und Melonen“ (Unterredungen 1788, S. 197); „Verheerungen, Brandschaden und Überschwemmungen“ (Unterredungen 1788, S. 205); „da lügt jeder Tropf, jeder Wurm und jede Gans“ (Unterredungen 1788, S. 232). „[…] wenn wir die Menge der Vorurtheile durchgehen, die der Unwissenheit, der Dummheit, dem Aberglaube das Wort sprechen“ (Erf. I, 24); Das ganze Leben der Empiriker ist „eine endlose Wiederholung der

267

Zu derartigen Häufungen neigt Zimmermann vor allem, wenn er polemisch abwertet. Er wählt nicht einen einzigen treffenden Begriff, sondern belagert das Phänomen mit wiederholenden Spracheinkreisungen. Die dreifache Reihung entspricht der Norm, ist die polemische Energie grösser, wächst sie proportional: „Nur der gelehrte Neidhammel schmäht, foppelt, stichelt, hechelt und schmachtet da, einsam, lumpicht und betrübt“ (II, 44) „Unter den Pfahlbürgern und Pfahlbürgerinnen von jeder sehr kleinen Stadt herrschet eben so viel Uneinigkeit, Rangstreit, Hochmuth, Bauernstolz, Dummheit, Schiefheit, Hass, Neid, Galle, Verbitterung, Unruhe, Zwietracht, Verläumdungssucht, List, Intrigue, Rache, Machtgeitz, Plauderey und Tyranney, als unter den Herren in spitzen und runden Kaputzen“. (II, 248) „Mönchstheologie“ war die Ursache „aller Spaltungen, Lästerungen, Rasereyen, Greuel und Blutvergiessungen der christlichen Kirche“ (II, 510), Jesus Christus hingegen lehrte „inniges Erbarmen, Freundlichkeit, Demuth, Sanftheit und Gedult“ (II, 511). „Obereit […] mit seiner philosophischen, mystischen, patristischen, theologischen, physischen, mathematischen, lateinischen, griechischen, medicinischen, chymischen und alchymischen Vielwisserey“. (III, 44).112

Es begegnen auch Kombinationen als antithetisch angelegte Reihung von korrespondierenden Verb-, Adjektiv- und Substantivpaaren: „Könige und Philosophen, Helden und Weise, alle nach Licht und Aufklärung und Stärke der Gedanken und Gesinnungen strebende Köpfe“. (I, 111)

gleichen Fehler, des gleichen Geläufes, der gleichen Verstokung“ (Erf. I, 35); In leichter Luft verliert man „Muth, Hofnung und Kräfte“ (Erf. II, 177); „Hartnäkigkeit, Rauhigkeit und Grausamkeit“ (Erf. II, 325); „Erschöpfung, Bestürzung, und Ausmerglung“ (Erf. II, 394). 112 Weinkonsum errege „Zittern in den Gliedern, Schluksen, Brechen, Fieder, Raserey, Wahnwiz, Convulsionen, Schlafsucht, und Schlagflüsse“ (Erf. II, 303). Der Neidische hat „ein schwermüthiges, ungeduldiges, schnaubendes, banges, und engbrüstiges Wesen“. (Erf. II, S. 494). Die Wirkungen des Heimwehs umschreibt er wie folgt: „traurig, still, matt, einsam, nachdenkend, seufzend, wehklagend, zulezt unempfindlich und für alle Pflichten gefühllos“ (Erf. II, 484). Die Eigenschaften von Eunuchen sind „meistens schüchtern, geizig, neidisch, tükisch, argwöhnisch, niederträchtig, zu allen heimlichen Bosheiten und kleinen Teufeleyen geneigt“. (Erf. II, 408). Allzuhäufiger Samenfluss mache „vor der Zeit alt, träge, kraftlos, leblos, schläfrig, tölpisch, kränklich, krumm, faul, weibisch, schwer, müd, in allen Dingen nachlässig und zu allen ungeschikt“ (Erf. II, 391). „Auch der feinste Beobachtungsgeist kann vielfältig begrenzet, verwirrt, berüket, geschwächt und erstikt werden“, gibt er zu bedenken (Erf. I, 178). Viele Überhebliche sind „geil, zänkisch, herrschsüchtig, geitzig, hartherzig, grausam“ (Nationalstolz 1789, S. 19). Zimmermann besucht Friedrich II.: „Nun trat ich vor den König, der mich sehr gnädig, sehr höflich, und sehr milde anredete, sehr zufrieden war, und von sehr guter Laune“. Unterredungen 1788, S. 44. Vgl. „aufgeweckt, gütig, liebreich, und von heiterer Laune“. Unterredungen 1788, S. 66. In Berlin findet Zimmermann unter Menschen aller Stände „das höchste Maas von Grossmuth, Milde, Nachsicht, Sanftheit, Menschenfreundlichkeit und Menschenliebe“. Unterredungen 1788, S. 295. „Ein baumstarker, gesunder, heiterer, aufgewekter Jüngling von etwa zwanzig Jahren“. Ruhr 1767, S. 110. „Beynahe in jedem Busen regt sich ein sanfter moralischer Sinn bey der Darstellung von niedergedrückter Menschen Noth, Krankheit, Schmerzen, Armuth, Blösse, Hunger“. Versuch 1779, S. 39.

268

„Ich lebe und liebe, leide und wirke, empfange und gebe, misse und geniesse, besitze und mangle immer mehr! Aber je düsterer und frostiger, kahler und schaaler, Hof und Stadt sind, die solche Seelen einschliessen; desto muthiger und kühner bilden sie doch oft sich selbst“ (I, 114). Der Gelehrte „finde oft im Genusse der Unschuld, und der edlen Einfalt der Seinigen, mehr Wahrheit und mehr Beruhigung, mehr Nahrung für seinen Geist und sein Herz, als in aller Gelehrsamkeit und Kunst“ (IV, 41).113

Als „exempla-Serie“ dienen die Wiederholungen dem Versuch, rein quantitativ den Argumentations-Zusammenhang zu stützen: „Meine Absicht ist […] zu zeigen, […] wie sie (sc. die Einsamkeit) gesellig macht mit sich selbst“ (III, 110); es folgen fünfzehn mit „wie“ eingeleitete Nebensätze. In II, 113–121 wiederholt Zimmermann sechsmal die stereotype Formel „Einbildung hielt resp. nahm für Thatsache“ bezogen auf Antonius, Hieronymus, Hilarion, Copres, Macarius und den Abt Seranus, um die pauschalisierende Schlussfolgerung zu ziehen: „Alle Mönche und Einsiedler glaubten, diess alles geschehe vermittelst der Kraft des Glaubens und Gebets“ (II,121).114 9.2.5 Syntaktisches Zimmermanns Syntax weist eine Vielfalt auf, welche bald die Parataxe, bald hypotaktische Konstruktionen bevorzugt, wenngleich langatmige und gleichzeitig zugespitzte Satzgebilde überwiegen. Er baut seine ellenlangen, immer erneut nachstossenden Sätze, wie ein Bogen gespannt und abgeschossen wird. Um einen Einblick in die Welt von Zimmermanns Syntax zu geben, wähle ich ein typisches Beispiel, das aus dem neunten Kapitel des dritten Teils stammt: Wer den Becher der Freude bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken hat; wer nun einmal sich selbst gestehen muss, es sey für ihn in der Welt nichts mehr zu suchen, nichts mehr zu hoffen, und nichts mehr zu thun; wer im Genusse des Vergnügens von Ekel überfliesset, über seine ei113

Der Vergleich zwischen einem preussischen Offizier von altem Schrot und Korn und einem intrigantischen Höfling wird folgendermassen geführt: „Es ist doch ein himmelweiter und zermalmender Unterschied, zwischen einem alten Officier von spartanischem Muthe der eben so viele Erfahrungsweisheit in der Kriegskunst hat, als Keckheit Offenheit Redlichkeit Rechtschaffenheit und Treu in seinem ganzen Betragen: und einem schleichenden, heuchlerischen, süsslichten, ränkevollen Hofwurm, hinter dessen glatter und glänzender Aussenseite nichts stecket als Arglist und Trug, Niedrigkeit und Schande, Feigheit und Schwäche“. Unterredungen 1788, S. 233f. Wir müssen uns „nicht an einem, an zweene oder drey Verfasser halten, sondern alle lesen, alle hören, alle vergleichen“ (Erf. I, 128). 114 Vgl. das zweimalige „Blendwerk und Trug […]“ II, 350f.; dreimaliges „Jene Schneider und Eisenschmiede […]“ II, 389ff. Im Zusammenhang mit Jan Hemsterhuis’ System über den Zusammenhang der Ideen der Schwärmer mit ihren Geschlechtsorganen folgt fünfmal die Formel „Ohne dieses hemsterhuistische Mitgefühl […] der Organen“ oder leicht abgeändert: „ohne solches Mitgefühl“ II, 155ff.; siebenfaches „Kleine Städte […]“ III, 257ff. Vgl. auch Zimmermanns bevorzugte Wendung „sah nichts und hörte nichts“ als Ausdruck von identitätsstiftender Stille: I, 111 (Sanssouci); III, 6 (Dachstube in Brugg) u.a.

269

gene Gefühllosigkeit erstaunt, und die zauberische Einbildungskraft nicht mehr hat, die alles verändert, verschönert, und verfeinert, der rufet vergeblich die Töchter der Wollust zu sich (III, 115).

Der den oben beobachteten Stilprinzipien der Antithetik und der Wiederholung gehorchende Satz stellt den Endpunkt eines Verlustvorgangs dar. Einsamkeitsbedürftigkeit resultiert aus dem beschriebenen Seelenzustand. Der Textstelle voraus geht denn auch die eindringliche, resignativ gefärbte Mahnung, wenigstens „unzerstörbare Kräfte“ (III, 114) für die Seele zu sammeln angesichts der Hinfälligkeit alles Irdischen, die im Taumel der Jugendfreude leicht in Vergessenheit gerate. Gesunde und Glückliche können nämlich ohne weiteres in kürzester Zeit hingerafft werden, und alle werden erbarmungslos früher oder später von Freude und beständiger Gesundheit verlassen. Durch den dreimal mit „wer“ ansetzenden, anaphorisch verknüpfenden Subjektsatz, beim zweiten Mal verstärkt durch das dreimal wiederholte „nichts mehr“, wird in der Art einer Werther-Satzkonstruktion eine sich steigernde, antithetisch angelegte Spannung erzeugt, bevor diese endlich im Hauptsatz gelöst wird. Nachdem der „Becher der Freude“ bis zum „letzten Tropfen“ ausgetrunken ist, folgt im zweiten „wer“-Satz eine Wendung nach innen, zu „sich selbst“, und dreifach wird beteuert, dass nunmehr in der Welt nichts mehr zu suchen, zu hoffen, zu tun sei. Der Wechsel von der Aussen- zur Innenperspektive wiederholt sich („Genusse des Vergnügens“, „Ekel“ – „eigene Gefühllosigkeit“, Verschwinden der „zauberischen Einbildungskraft“). Apathie und Imaginationsverlust sind das niederdrückende Ergebnis, so dass „Genuss des Vergnügens“ schliesslich in Ekel im Übermass umschlägt. Alles Rufen, selbst nach „Wollust“, ist „vergeblich“ geworden. Mit „austrinken“ und „überfliessen“ manifestiert sich die werktypische Wassermetaphorik. Der ganze Satz lebt von diversen Klangwirkungen, z.B. Alliterierendem („Genusse“, „Gefühllosigkeit“; „verändert“, „verschönert“, „verfeinert“; „Tropfen“, „ausgetrunken“), einer Häufung von Zischlauten („sich selbst gestehen muss, es sey nichts mehr zu suchen“), und auf die Dreierreihung „verändert, verschönert und verfeinert“ antwortet „vergeblich“ als Echo.115

115

Ein weiteres Beispiel beschreibt wieder einen Mangel, der therapeutischer Zuwendung bedarf: „Wenn sich also bey solchen (d.h. sonst sehr vernünftigen, frommen und guten) Menschen Niedergeschlagenheit gar zu oft auf kindische Besorgnisse gründet, wenn sie geneigt sind über jede nichtswürdige Unbehaglichkeit, und jeden äusserst unbedeutenden Mangel in ihrer Gesundheit unbändig sich und andere zu quälen, wenn sie immer bey dem Arzte suchen was man nirgends findet als im gesunden Menschenverstande, wenn sie ihrer Phantasie nicht mit Gewalt den Zaum anlegen, wenn sie grosse Leiden und grosses Unglück mit Gedult getragen haben, und sich doch durchaus nicht gewöhnen können und wollen an die allerkleinsten Nadelstiche und die unerheblichsten Ungemächlichkeiten im menschlichen Leben, an eine kleine Blähung im Unterleibe, an das geringste Prickeln im Mastdarm, dann ist solche Niedergeschlagenheit ihre eigene Schuld“ (III, 196f.).Vgl. auch das neunmalige „wenn du (dich) […]“ in III, 194f.: „Wenn dich alles erschüttert, was einen andern kaum bewegt […], so taugst du nicht in die Gesellschaft der Menschen“.

270

Ein drittes stilcharakteristisches Beispiel veranschaulicht Zimmermanns kontrastive Verfahrensweise: Nirgends wird Gott mehr vergessen, als unter den gewöhnlichen Zerstreuungen des gesellschaftlichen Lebens. Unter so vielen abgeschmackten Beschäftigungen, in dem Gewirre von Thorheit und Tändeley, das alle Leidenschaften in Bewegung setzet, alle Begierden aufwiegelt, in dieser beständigen Trunkenheit, werden alle Verbindungen mit unserm Schöpfer aufgehoben. Wir entsagen dieser ersten und einzigen Quelle aller unserer Glückseligkeit, allen unsern vernünftigen Fähigkeiten, und denken an unsere Religionspflichten nur flüchtig, gleichgültig, ohne Eindruck und Rührung. Wer hingegen durch eine ernsthafte Einkehr in sich selbst, und stille Überlegung, sein Herz überall zu Gott erheben kann, wer seinen ganzen Wirkungskreis unter den Menschen, wie das Gewölbe des Himmels, wie die beblümte Erde, wie jeden Berg und jeden Wald, für einen Tempel Gottes hält, wer überall sein Herz zu dem Urheber und Regierer aller Dinge richtet, immer seines allsehenden Auges sich erinnert, der muss oft in einer heiligen Einsamkeit gelebet haben, und in beharrlichem, innigem, und feurigem Gebet (III, 215f.).

Der erste Satz formuliert die apodiktische Behauptung, dass grösste Gottesferne aus der blossen Teilnahme am Gesellschaftsleben resultiere. Der zweite bringt inhaltlich nichts Neues, sondern konkretisiert die Behauptung, wie auch der dritte die Bedenklichkeit derartiger Gottesvergessenheit vor Augen führt. Dieser Defizienzerscheinung werden antithetisch mit drei Subjektsätzen die erlösenden Rettungsmittel gegenübergestellt: ernsthafte Einkehr in sich selbst, Leben in „heiliger Einsamkeit“ und in „beharrlichem, innigem und feurigem Gebet“, also durchwegs Kennzeichen, die das monastische Ideal bezeichnen, von dem sich Zimmermanns Einsamkeitsideal polemisch abzugrenzen versucht

9.3 Der Teil und das Ganze. Zur schriftstellerischen Verfahrensweise 9.3.1 Werkstattberichte und Rezeptionsanweisungen Im Text der Einsamkeitsschrift selbst begegnet immer wieder Entstehungsgeschichtliches, und Zimmermann äussert sich mehrfach über seine Wirkungsabsicht. Diese Anmerkungen verbinden sich mit eigentlichen Rezeptionsanweisungen an den Leser, die auch aus Modestiebezeugungen und einer charakteristischen Vorausverteidigungsstrategie bestehen. Zimmermann lässt den Leser im Sinne einer fortschreitenden Selbstreflexion und -explikation des Geschriebenen in seine schriftstellerische Werkstatt blicken, indem er Auskunft über seine Verfahrensweise gibt und den Leser auf diese Weise die Umschwünge und Schwankungen seiner Gedanken und Gefühle mitverfolgen lässt, welche die Entstehung des Werks begleiten. So berichtet er im zweiten Teil (II, 25ff.), wie er während der Abfassungszeit des Einsamkeitswerks an einer grösseren Gesellschaft teilgenommen hat. Obwohl er zwischen zwei schönen Damen sitzt, will kein substantielles Gespräch zustande kommen, und es befällt ihn „eine erschreckliche Langeweile“ (II, 25). In 271

Gedanken geht er sein entstehendes Werk – „gegen diesen Tod meiner Seele“ (II, 26) – durch und sieht dabei den anwesenden Damen und Herren der Gesellschaft ins Gesicht, um die Wirkung „dieser, und dieser, und dieser, und dieser, und dieser, und dieser Stelle“ (II, 26) zu erwägen. Er ist einsam in Gesellschaft gemäss I, 8ff.: „einsam ist ein denkender Kopf an mancher vornehmen Tafel […]“. „Einsam“ bedeutet hier die gesellschaftlichen Konventionen zu akzeptieren, obwohl man innerlich nicht mit ihnen zur Deckung kommt. Zimmermann unterscheidet allgemein zwischen gesellschaftlich verbindlichem Comment, „durch guten Weltumgang gebildet“ (II, 27), und der Sphäre einer privaten Schriftstellerei, die sich kompensatorisch viel mehr herausnehmen darf, als dies in Gesellschaft möglich und denkbar wäre. Als Teilnehmer eines gesellschaftlichen Anlasses begehrt Zimmermann nicht gegen Konventionen auf. Man denkt an Kants 1784 erschienenen Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ mit seiner Unterscheidung einer öffentlichen und privaten Sphäre, wenn Zimmermann berichtet, dass er zuhause, im privaten Schreibzimmer, unzählige leichtfertige Stellen streicht, die mancher „Weltmann“ (II, 27) besonders geschätzt hätte. Grundsätzlich verfährt er wie folgt: Am Ende machte ich mir aber diese feste Regel, die auch bey diesem ganzen Buche getreulich befolgt ist. Sah ich, dass ich eine Sottise, im Feuer der Composition, blos aus Muthwillen gesagt hatte, so strich ich dieselbe augenblicklich weg. Sah ich, dass eine Sottise zu meiner Materie gehörte, und dass sie aus einer hinreichend guten und völlig zweckmässigen Ursache in meinem Buche stand, so liess ich sie stehen (II, 27f.).

Zimmermann kommentiert: „Es ist also wol in meinem Charakter, keck und ehrlich die Wahrheit zu sagen“ (II, 26). Er schreibt „frey und ohne Schonen“.116 Dabei verfolgt er die Absicht, dem Leser „Nichtachtung für die Welt und Liebe zur Einsamkeit“ (IV, 237) einzuflössen, denn „Jene Unabhängigkeit von der Welt zu predigen, war die Absicht und ist das Ende meiner wenigen Philosophie in diesem Werke über die Einsamkeit“ (IV, 237). Zimmermann verfolgt die Absicht, dem Leser das Gefühl zu vermitteln, er sei, vorübergehend wenigstens, frei. „Freiheit“ umschliesst also auch den Aspekt innerer Befreiung beim Schreiben, der von zentraler Bedeutung ist.117 Freiheit bedeutet dabei nicht, als Originalgenie alles aus sich selbst zu schöpfen, sondern, Eigenes und Fremdes miteinander vermischend, beliebig über andere Texte zu verfügen, in einem Wechselspiel von Zitieren, Modifizieren und Hinzufügen eigener Gedanken.118 Schriftstellerische Tätigkeit bewegt sich für Zimmermann auf dem Hinter-

116

Brief von Zimmermann an Nicolai vom 11. 12. 1765 im Zusammenhang mit Zimmermanns Mitarbeit an der ADB: „Hingegen erbiete ich mich, wahr, frey und ohne Schonen zu schreiben […]“. Bodemann 1878, S. 295. 117 Vgl. 6.3.3.: „Es ist meine Manier, in jeder Absicht, frey zu schreiben“, S. 158ff. 118 Vgl. die Vorrede zum Nationalstolz (4. Auflage, 1768): „Ich habe darum bey dieser vierten Auflage gesucht, in meinem Vortrag hie und da mehr Seele und Leben zu bringen; häufig

272

grund intensiver Lektüre: „Ich lese allerley […] und excerpire alles, nach Hallers Manier; aber kurz, und dann bringe ichs in eine bequeme Ordnung“.119 Aus dieser Auffassung müsste Meinungsvielfalt resultieren gemäss seiner eigenen Definition von Aufklärung, gegen die Zimmermann selbst immer wieder verstösst: „Aufklärung äussert sich wahrlich nicht dadurch, dass die meisten Menschen in einer Stadt über jede Sache immer Einer Meinung sind, sondern dadurch, dass jeder frey für sich denkt, was er will“ (I, 73). Insistierendes, überkompensierendes Postulieren seiner für vorurteilslos ausgegebenen Absichten verrät Ungewissheit über eine erfolgreiche Realisierung: „Möchte ich doch glücklich zwischen allen diesen Klippen entgegengesetzter Meinungen herdurchkommen, nichts aus Vorurtheil sagen, nichts, das nicht ist, nichts, das einem Beobachter misfallen könnte, der unbefangen Welt und Menschen studiert“ (I, 16f.). Die Berufung auf Objektivität zieht ihre argumentative Kraft aus Zimmermanns vielschichtig-widersprüchlichem Freiheitsbegriff. Als Beispiel für suggestiv inszenierte Unparteilichkeit, die sich auf Freiheit beruft, in der schriftstellerischen Praxis jedoch durchaus nicht eingelöst wird, sei folgende Stelle aus dem zwölften Kapitel des vierten Teils zitiert: Nach diesen, wie ich hoffe, ganz unparteyischen Reflexionen über Mystik, wünsche ich, mit eben dieser Unparteylichkeit, auch noch einiges über Möncherey zu sagen. Seit funfzehnhundert Jahren hat man gesehen was Mönche sind. Vielleicht ist es nicht unschicklich und unbescheiden, in einer Schrift über Einsamkeit, einige in die gegenwärtige Zeit passende Reflexionen über Möncherey und Mönche zu wagen. Haben meine Worte nicht die Salbung eines ascetischen Schriftstellers, darf ich auch nicht hoffen dass man mein Buch in einer Klosterbibliothek aufheben wird, so verkennet doch verhoffentlich kein aufgeklärter catholischer Geistlicher in demselben den Charakter eines unbefangenen, freyen, und ehrlichen Mannes (IV, 400f.).

Ausführlich berichtet Zimmermann von den Entstehungsbedingungen seines Werkes. Seit er sich vorgenommen hatte, eine dritte Einsamkeitsschrift zu schreiben, lag er in beständigem Kampf mit sich selbst, „tiefe Traurigkeit, und schwarze Nacht“ (I, XII) umfingen ihn, „blasse Todesgestalten“ (ibid.) winkten ihm von allen Seiten. Immer wieder wurde die Abfassung unterbrochen, oft für Monate, so dass er „nur in Krankheit oder gestohlner und erpresster Zeit schreiben konnte“ (I, XIII). Rettung versprach nichts, „als Wegwendung von den Gedanken die mich verzehrten, auf irgend einen ungewöhnlichen und grossen Gegenstand“ (I, XIIf.). Er fährt fort: Dieses Buch über die Einsamkeit sollte in meinen Trübsalen Muth bey mir anfachen, mich wegreissen von Allem was ich sah und dachte, mich in fremde Länder versetzen, Bilder aus entfernten Jahrhunderten in mir hervorrufen, vielleicht auch meine Seele hie und da befreyen von einem drückenden Gedanken (I, XIII).

weggestrichen; häufig hinzugesetzt; durchaus als ein freyer Mann geschrieben; oft andere für mich denken lassen; und auch zuweilen selbst gedacht“. 119 Versuch 1779, S. 44.

273

Das Eruptive seines Stils und das seelisch Befreiende seines Schreibens werden evident durch folgende wichtige Aussage: Soll ich so gut schreiben, als ich nach meinen kleinen Kräften schreiben kann, so muss ich glauben, ich sey nun auf vier, fünf, bis sieben Stunden frey; und dann werfe ich auf einmal alles aus, was in mir ist (III, 390).120

Seine „Beweisführungen“ erfolgen nach dem Schema: Behauptung – Beispielkette – bekräftigende Wiederholung der Behauptung. Im dritten Kapitel des ersten Teils beispielsweise stellt Zimmermann die Behauptung auf: „Alle entziehen sich gerne, wenn sie können, dem rastlosen Getümmel, und suchen Ruhe in Einsamkeit“. Die folgenden Seiten ( I, 59–67) liefern eine Belegkette – von Publius Scipio, Cicero, Horaz, Diocletian, Zenobia, der Königin von Palmyra und Freundin Longins, zu Karl V. und dem zeitgenössischen chinesischen Kaiser Kjen Long –, die mit nochmaliger Unterstreichung der Anfangsbehauptung endet: „Alle diese Beispiele und Thatsachen zeigen, dass Begierde nach Unabhängigkeit und Ruhe äusserst natürliche Gefühle sind […]“ (I, 67). Die geäußerten Wirkungsabsichten sind nicht ohne Widersprüchlichkeit. Zimmermann ist sich darüber selber im klaren, weshalb er beim Leser mehrfach um Nachsicht und Verständnis wirbt. Noch sieht er sich zu einer Rechtfertigung veranlasst, dass er gegen Normen verstößt. Er weiss um seine „widerharige“ Denkart (III, 6). Es zeugt von bemerkenswerter Selbstkritik, wenn Zimmermann einräumt: „Es kann sein, dass ich in diesem ganzen Buche über die Einsamkeit viele Dinge ganz unrecht ansehe“ (IV, 300), beispielsweise in seiner Mönchspolemik: „Ich predige Toleranz, und war vielleicht gegen Mönche grausam. Vielleicht lenke ich, was nur üble Laune in mir ist, auch zu sehr in den Strom meines Zeitalters“ (II, 514). Zimmermann beklagt seine „Kränklichkeit und Nervenunruhe“ (III, 387) und bewundert, selbstkritisch und neidvoll, die Geistes- und Tatkraft Cäsars, Hallers, Mösers, Iselins oder Lavaters. Dieser sitzt bey seinem Mittagessen, unterhält seine Gesellschaft von allem was man will, steht auf, und schreibt, indem er in seiner Stube auf und nieder geht, ein Dutzend Briefe an seine Lieben und Getreuen. Dann kommt Er wieder zu Tische, wo er der angenehmste, sanfteste, offenste, 120

Genauer gibt Zimmermann Auskunft über sein redaktionelles Vorgehen beim Abfassen schriftstellerischer Texte in einem Brief an L. A. Hoffmann, das, abgesehen vom Aspekt der Geheimhaltung und der damit verbundenen eigenhändigen Reinschrift, wohl auch für das Einsamkeitswerk gilt. Auf eine „feurige“ Abfassungsphase folgen Überarbeitung und mechanisches Abschreiben: „Wenn ich mit dem Brouillon meines Memoires fertig bin, dann werde ich es natürlicher Weise nicht auf der Stelle abschreiben, sondern auch noch einigemale durchlesen und überdenken, und vielleicht noch Manches hinzusetzen. Dann erst kommt das Abschreiben, d a s i c h s e l b s t t h u n m u s s , weil ich für Alles in der Welt dies keinem Kopisten anvertrauen möchte. Dieses Abschreiben wird mich wenigstens eben so viel Zeit kosten, wenn nicht mehr, als die erste Komposition, die doch immer schneller und feuriger vor sich geht, als das langweilige Abschreiben. Und wie mir dann zu Muthe seyn wird, wenn ich immer abgerufen werde, und mir immer Kranke in die Quere kommen, das können Sie leicht erachten“. Erläuterungen Hoffmann 1798, S. 118.

274

und liebenswürdigste Gesellschafter ist. Dann steht er wieder auf, und schreibt an seiner Predigt. Ganze Nachmittage und Abende hindurch, unterhält er sich mit vornehmen Damen, Fürstinnen sogar, und schreibt an ihrer Seite, unzähliche Briefe von wenigen Zeilen in alle Welt, und dictirt zugleich ein Buch, seine Messiade zum Exempel. Menschen hingegen, die solche Geisteskraft nicht haben, unterbricht und zerstreuet Alles; dies ist Schwäche, und diese Schwäche habe ich (III, 388f.).

Was er über den Umgang mit kranken Menschen empfiehlt, ist auch eine Rezeptionsanweisung für sein Werk: Auch seinen Freunden und Vertrauten muss er (sc. der Kranke) verbieten ihm in seinen Schwachheiten zu schmeicheln. Er muss sie um Gottes willen bitten, ihm nie alles zu glauben was er sagt; denn wenn auch alle seine Empfindungen wahr sind, so sind doch sehr viele von seinen Einbildungen falsch (III, 179).

Zimmermanns Einsamkeitsschrift lebt von einer auf Emotionen abzielenden Wirkungsästhetik, die er auf die Formel bringt: „Aus dem Herzen musste ich reden, damit meine Worte in Herzen fliessen“ (Vorrede IV, III). An einer anderen Stelle bekennt er: „Herz und Gefühl haben wenigstens in dieser ganzen Schrift über die Einsamkeit mich hingerissen, getrieben, und geleitet“ (III, 517).121 Diese Wirkungsabsicht verfolgen auch die Exempel und die eingestreuten Gegenwartsbezüge. Weil Exempel mehr rühren als Lehren und Grundsätze, weil Beispiele aus unserer Zeit durch die Neugier eher aufgefasset werden als Beispiele der längst vergessenen Vorwelt, so will ich es wagen, hier die mir aus England mitgetheilte Geschichte eines vornehmen Weltlings zu erzählen […] (III, 224f.).

Schliesslich gehört in diesen Zusammenhang der Rezeptionsanweisungen noch einmal Zimmermanns Konzept vom „freien“ Schreiben! Programmatisch verkündet er in der Einleitungswidmung zum ersten Teil, der Bezugspunkt aller schriftstellerischen Bemühungen liege im „freien“ Ich, das herzensunmittelbar auf einen geschwisterlich gesinnten Leser wirke und sich keinem Regelzwang füge, indem es seine eigene sprachlich-stilistische Gesetzlichkeit entfaltet: „Es ist meine Manier, in jeder Absicht, frey zu schreiben. Ich habe auch deswegen gegen alle Regeln der Schriftstellerey gesündigt, wenn ich glaubte, meine Worte werden wirken“ (I, XVI, XVII). Dem Vorwurf, er erscheine selbst als Person zu oft im Werk, begegnet Zimmermann mit dem Verweis auf das Schlüsselwort „Erfahrung“, die in freier Darstellung den Wahrheitsgehalt der Natur manifestiere: „Man wird wenigstens 121

Herzenswahrheit bezeugt sich auch in IV, 347: „[…] alles grade vom Herzen wegzusagen wie ich es fühle, und wie es ist“. Auf eine Leserin, Frau v. Bussche, scheint die beabsichtigte Wirkung nicht ausgebleiben zu sein. Sie rückt Zimmermanns Schrift zudem in eine religiöse Perspektive: „il est si vrai, Monsieur, un ouvrage sur l’homme comme vous dites, n’est pas digne d’etre lu, s’il ne part du coeur comme du foyer qui annime l’oeuvre. Et comment autrement deplier les plis & replis du coeur de l’homme? Aus einem guten platz (?) des Herzens gehet gutes hervohr! C’est une verite evangelique et votre livre la confirmation de cette verite“. NLB, Ms XLII, 1933, A II, S. 110.

275

aus einer nicht geringen Anzahl von Beobachtungen und Tatsachen mit ziemlicher Zuverlässigkeit sehen und schliessen können, was Einsamkeit wirket was sie gegen sich hat und wozu sie gut ist“ (I, 6).122 Die Tendenz, seine Emotionalität seinem Werk einzuverleiben, um effektiver auf den Leser wirken zu können, zeigt sich im charakteristischen Bestreben, das ganze Buch als körperliche Repräsentierung seiner selbst zu gestalten. In diesen Zusammenhang gehört die wichtige Stelle III, 423: „Mir scheint es eben so erlaubt, den Zustand seiner Seele öffentlich zu zergliedern und Beobachtungen über sich selbst andern zum Besten anzustellen, als es erlaubt ist, andern zum Besten seinen Leichnam einem öffentlichen Lehrer der Anatomie zu vermachen“. Bezeichnend für Zimmermanns schriftstellerische Verfahrensweise sind seine Vorausverteidigungsstrategie und seine Modestiebezeugungen. Obwohl er entschieden gegen jegliche Form von Schwärmerei auftritt, nicht zuletzt aus dem Grund, weil sich im Einsamkeitswerk nicht wenige derart kritisierte Passagen von Schwärmerei finden, bedient er sich regelmässig einer „Strategie der Vorausverteidigung“.123 Er begegnet potentieller Kritik, indem er Einwände selber vorbringt, um diese von vornherein abzuschwächen. Im Sinne einer captatio benevolentiae gibt er vor, sich darüber im klaren zu sein, wie „mangelhaft“ sein Einsamkeitswerk in allem noch immer sei (I, XIV). Nur „überaus Weniges“ (I, XIV) reiche an jene Schriftsteller, von denen er glaube, sie können schreiben. Deshalb habe er Lust verspürt, 1783 alles zu verbrennen (I, XIV). Er bedauert seine „wenige Philosophie“ (IV, 237). Er verwahrt sich ausdrücklich dagegen, durch seine Polemik Schaden anrichten zu wollen: „wer mich beschuldigt, dass ich irgendwo in diesem ganzen Buche, unbillig sey; gegen irgend eine Religionspartey, gegen irgend eine Sekte, gegen irgend einen Menschen, der hat mich nicht verstanden, und thut mir Unrecht“ (IV, 375). Auf Modestiebezeugungen trifft der Leser in nahezu allen Schriften Zimmermanns. Im Einsamkeitswerk bemerkt er über Leben und Wirken des hl. Hieronymus beispielsweise, seine Darlegung errichte „mit schwacher Feder“ (I, 267) ein kleines Denkmal. Nach der eingehenden Abwägung der Vorteile der Einsamkeit für den Geist schliesst er mit der Einschränkung, vieles sei vielleicht nicht lange genug überdacht und gewiss das meiste nicht gut genug gesagt (III, 514). Dann wendet er sich direkt an den „lieben Jüngling“, der noch weit mehr selber denken könne, als ausgeführt worden sei:

122

Im Nationalstolz heisst es, seine Hauptabsicht ziele darauf, „die verschiedenen Beziehungen des Stolzes nach seiner Natur anzugeben, also den Menschen zuerst nach seiner Natur zu beschreiben; die bemerkten Erscheinungen sodann zu sondern, und jedesmal nach ihren Ursachen und Wirkungen zu erklären“. Nationalstolz 1789, S. 127f. 123 Haefs, Wilhelm, Staatsmaschine und Musentempel. Von den Mühen literarisch-publizistischer Aufklärung in Kurbayern unter Max III. Joseph (1759–77), in: Zwischen Aufklärung und Restauration. Festschrift für Wolfgang Martens. Hg. v. Wolfgang Frühwald u.a. Tübingen 1989, S. 96.

276

nimm du das Gute darinn mit Liebe auf, und verwirf alles Kalte und Schlechte, alles was nicht rühret, und eindringt! O herzlich und unaussprechlich will ich mich freuen, will mich reichlich belohnet halten für alle meine Arbeit, wenn nur Du für mein Buch mir dankst, nur Du mich segnest, nur Du mir sagst: es habe dich aufgeklärt, gebessert, beruhigt! (III, 514f.).124

124

Immer erneut bekräftigt Zimmermann in seinen Schriften, wie gering seine schriftstellerischen Bemühungen einzuschätzen seien. Man gewinnt dabei den Eindruck, diese Art von Modestiebezeugung erfolge in der provozierenden Absicht, doppelt gelobt zu werden. Allerdings verordnete Zimmermann testamentarisch, seinen Nachlass nicht zu drucken. (Marcard. 1796, S. 54.) Er stellt fest, dass die Natur zu gross sei und sein Geist viel zu klein, sie zu umfangen (Erf. I, 468). Am Ende des dritten Kapitels des vierten Buches der Erfahrung ist geringschätzend von einem ganz „unmassgeblichen Capitel“ die Rede (Erf. II, 140). In der Vorrede zur Abhandlung „Von der Ruhr unter dem Volke im Jahr 1765“ erklärt er: „Der ungekünstelte Gang eines kalten Beobachters vergütet vielleicht in diesen Bogen den Mangel des umfassenden Verstandes. Ich liefere hier nicht eine Geschichte der um uns her epidemisch gewesenen Ruhr, sondern nur blos einen geringen Beytrag zu dieser Geschichte“. (Ruhr 1767, S. III.) Im siebten Kapitel räumt er ein: „Herzlich gerne werde ich mich belehren lassen, weil bey dem grössten Streite der Beweise doch immer der Warheit etwas zu gewinnen übrig bleibt, wo Aufrichtigkeit, Lehrbegierde, und Stille des Geistes herrscht“ (Ruhr 1767, S. 142). Auch seine medizinischen Kenntnisse scheint er nicht allzu hoch einzuschätzen. Trotz Hallers Wunsch, einen dritten Teil der Erfahrung in der Arzneykunst folgen zu lassen, sieht er sich wegen seiner beruflichen Beanspruchung nicht in der Lage, dem Wunsch seines Lehrers zu entsprechen. Tissot gegenüber klagt er über die Unverträglichkeit seiner Augen mit Kerzenlicht und gesteht, ein anderer Arzt „s’en aquittera infiniment mieux que moi, et avec la plus grande diligence“. (Brief von Zimmermann an Tissot vom 11. 1. 1767. BBB Mss hh XVIII 71 Nr. 42). Über Trendelenburg urteilt er, dieser sei “un homme trés Savant, dix mille fois plus Savant en medecine que moi” (Brief von Zimmermann an Tissot vom 18. 1. 1768 BBB Mss hh XVIII 71 Nr. 50). Mit einer Fortsetzung seiner Erfahrung in der Arzneykunst tut sich Zimmermann schwer. Nach dem Erscheinen des vierbändigen Einsamkeitswerks versucht er auf Drängen seiner Frau, den Faden wieder aufzunehmen: „Ma femme me dit Sans cesse que je dois recommencer à ecrire un Livre et toujours elle me repéte que je dois ecrire le troisieme volume de mon Traité de l’Experience en médecine. Ma femme a raison, mais bien loin d’avoir fait encore un Seul pas pour cela; bien loin d’en avoir fait un Seul dépuis tout le tems que je Suis à Hanover, je me dis Sans cesse, et j’en Suis persuadé intimement, que je ne scai pas un mot de médecine!“ (Brief von Zimmermanns an Tissot vom 5. September 1785. BBB Mss hh XVIII 71. Nr. 114) – eine mit Ironie, Selbstgefälligkeit und Schalk ausgesprochene Behauptung. Im Brief vom 25. März 1768 schreibt Zimmerman an Hirzel: „Ich könnte dich auch bey der Familie von Hartenberg in Schaffhausen recommandiren, wenn es nicht lächerlich wäre dass ich mich unterstehe einen unendlich bessern Arzt als ich selbst bin, den Leuten zu recommandiren“. ZZH, FA Hirzel 239, 232. Seinem Kontrahenten Kästner konzediert er: „Wo es auf Gelehrsamkeit ankommt, stehe ich in einer unabsehbaren Tiefe unter Ihnen, und unter jedem Professor in der Welt. Seit sechs und zwanzig Jahren schränke ich mich auf eine einzige Wissenschaft ein; und in dieser ist mein Wissssen sehr gering“. Kästner Flugschrift 1779, S. 7f. Zimmermann ist sich im klaren, dass die Buchform seiner Unterredungen mit dem Preussenkönig das „geringste von allen Blümchen“. (Unterredungen 1788, S. 250) auf dessen Grab seien. Am Schluss der Widmungsadresse an Gerlach Adolph von Münchhausen in der Biographie „Das Leben des Herrn von Haller“ gesteht er: „Die engen Schranken meines Geistes erlauben mir nicht über den Rang eines Geschichtsschreibers mich zu erheben“ (Leben Haller 1755, Vorrede unpag.). Er wirbt um verstehende Nachsicht, wenn er beispielsweise am Schluss eines Briefes an Herder schreibt: „Liebe Leute, wann ich König wäre, was wäre ich nicht für euch; liebet mich aber auch als einen armen unmächtigen Wurm“ (Brief von Zimmermann an Herder vom 19. Dezember 1775, in: Daniel Bonin, Johann Georg Zimmermann und Johann Gottfried Herder nach bisher ungedruckten Briefen. Worms 1910, S. 20). In der „Vorrede“ zur zweiten

277

Die Wirkungsabsicht zielt auf gesinnungsverwandte Geister, die ihm, bei aller befürchteten Flüchtigkeit seines schriftstellerischen Ruhms, doch menschliche Unsterblichkeit vermitteln durch ihr Zeugnis, indem sie „von mir und für mich sprechen, wenn ich nicht mehr bin, und wenn in Deutschland mein Name erloschen sein wird wie eine Seifenblase“ (I, XX).125 9.3.2 Einheit des Planes und Vielfalt der Ausführung In der Rezension zum ersten und zweiten Teil des Werks Über die Einsamkeit im Anzeiger des Teutschen Merkur vom August 1784 wird kritisiert, dass wir den Plan zu diesem Buche, der unter der Rubrik zum ersten Kapitel angekündigt wird, sowohl in diesem Kapitel als in den übrigen nur mit Mühe errathen konnten, warum die letztern Kapitel unter verschiedenen Aufschriften einerley Innhalt haben, warum die so vielen Digressionen zu wenig vorbereitet und mit dem Hauptfaden des Werkes verbunden scheinen, und überhaupt Ordnung und Zusammenhang, von denen man sich bey einem philosophischem Werke am allerwenigsten dispensiren kann, vielleicht zu sehr vermisst werden, als dass man

Auflage Von dem Nationalstolze vermerkt Zimmermann: „der geschwinde Verkauf der ersten Auflage dieser Abhandlung gab mir Anlas eine allzulebhafte und unüberlegte Arbeit, durch weiteres Nachdenken abgemessener und vielleicht kälter zu machen […] Ich schrieb ohne den geringsten Beyfall für meine verbesserte Arbeit zu hoffen. Sie (sc. Kritiker) sagen von meiner verworfenen Arbeit mehr gutes, schönes, und grosses, als ich jemals hätte wünschen dürfen“. (Von dem Nationalstolze. Zweyte durchaus verbesserte Auflage. Zürich 1760, Vorrede III/IV). Zimmermann, von einer begeisterten Leserin bedrängt, ihr die beiden ersten Teile des Einsamkeitswerkes zu überlassen, ziert sich und entgegnet in einem Briefentwurf: „Sans la permission positive et reiteree de Votre Exellence je n’aurois jamais osé lui presenter un Livre tel que celui que j’ay l’honneur de lui envoyer, et sans qu’elle me donne mon absolution dans toutes les formes, apres avoir lu mon Livre, je n’aurai jamais la hardiesse de revernir chez Elle“ (Briefentwurf Zimmermanns an Frau von dem Bussche vom 8. Juni 1784. NLB MS XLII, 1933 A II, 10.). Vgl. auch in der Schrift Über Friedrich den Grossen und meine Unterredungen mit Ihm kurz vor seinem Tode (Leipzig 1788, S. 5): „Dann forderte auch die Klugheit, dass ich sorgfältigst vermeide, Recensenten und Journalisten Gelegenheit zu geben, von der Sache abzuspringen, und an irgend einem Nebending zu haken“ sowie den Beginn der „Vorrede“ seiner HallerBiographie von 1755: „Ein unseliges Schicksal hat gewollt, dass ich ein Buch schreibe, der Leser kauft sich mit demselben ein gegründetes Recht mich zu richten, der Tadel ist die erste Frucht seines ausgelegten Geldes […]“. 125 Als weitere Belege mögen drei Briefstellen dienen: „Ich kenne an mir verschiedene Fehler, die Plutarch auch hat, hingegen an dem Plutarch eine unendliche Menge Vorzüge, deren Nachahmung zwar nach meinem Geschmacke, aber weit über mein Vermögen wäre“. Zimmermann an Bodmer. Brief vom 18. Februar 1758. Ischer 1893, S. 263. „Abentheuerlicher als alles, was in allen Feenmährgen abentheuerlich ist, dünkt mich der Gedanke, mich armen Krüppel, Zwergen, Lilliputer auch nur mit dem 100’000sten Theile eines Haller zu vergleichen, der sich im ganzen zu mir verhält, wie der Engel Gabriel zu einem Wurm“. Zimmermann an Iselin. Brief vom 5. Mai 1764. Ischer 1893, S. 282. Im Brief vom 7. Oktober 1767 bekommt der mit Zimmermann-Briefen überhäufte Haller zu hören: „C’est par discretion que je risque rarement d’interrompre vos occupations nombreuses par mes lettres inutiles“. Ischer 1912, S. 94.

278

sich selbst durch die vielen andern Vorzüge und Schönheiten des Werkes dafür entschädigt halten könnte.126

Über den Aufbau lateinisch verfasster Abrisse zu zwei medizinischen Abhandlungen von 1757 im „Journal Italien“ orakelt Zimmermann in einem Brief an Vinzenz Bernhard von Tscharner, wie Zimmermann 1728 geboren, verheiratet mit Salome v. Bonstetten, Übersetzer von Klopstocks „Messias“ ins Französische und von Youngs „Night thoughts“ in deutsche Hexameter und selber Verfasser einer dreibändigen „Histoire der Eidgenossen“: „Je me Suis fait plusieurs régles pour la composition de mes Extraits, que je ne vous dirés pas, pour voir, si vous les trouverés“.127 Zur Komposition des Einsamkeitswerks gesteht er in einem Brief an Johann Stapfer ein, dass er nichts in seinem Alter hätte schreiben sollen, „weil man im Feuer der Composition doch immer etwas schreibt, das man hinterher bey kälterer Überlegung bereüt“.128 Wenn diesem „buntscheckigten“ (III, 426) Werk auch nicht das Korsett eines schlüssigen Plans zugrundeliegt, so besteht immerhin eine vorgegebene klare, symmetrisch-antithetisch angelegte Gliederung mit durchgehender Zählung der insgesamt zwölf Kapitel in vier Teilen.129 Bouvier vermerkt dazu: „Ses sauts et ses écarts sont contenus dans les limites d’un plan rigoureux“.130 Der systematisch angelegte Plan hält indessen nicht, was er ankündigt, sondern wird im Prozess des Schreibens unterlaufen. Zimmermann neigt zwar zu „ordnenden Archivtechniken“131 und versieht seine Unterlagen in Umschlägen und Hüllen mit gliedernden Überschriften, auf die er sich beim Schreiben stützt. Beim Abfassen behält er die vorgegebene Einteilung bei, sie wird allerdings nicht konsequent umgesetzt. Die Sprunghaftigkeit des Verfahrens kann zum einen entstehungsgeschichtlich erklärt werden, zum anderen ist sie genuiner Ausdruck von Zimmermanns Denkhaltung. Zimmermann wirbt um Verständnis für seine Abschweifungen. Über das Willkürliche seiner Komposition weiss er selber Bescheid. In einer Stelle des dritten Teils (III, 389f.) klagt er, dass die beständigen berufsbedingten Unterbrechungen monatelange Schreibabstinenz herbeigeführt hätten, ja er glaubt sogar, das ganze Buch126

Der Teutsche Merkur vom Jahre 1784. Drittes Vierteljahr. Weimar 1784. Anzeiger des Teutschen Merkur. August 1784, S. CXV. 127 Hamel 1881, S. 31. 128 Brief Zimmermanns an Johann Stapfer vom 24. Oktober 1785. Luginbühl 1890, S. 42. 129 Vgl. dazu 5. Einleitendes. Nach einem einleitenden Kapitel folgt die Gegenüberstellung des Triebs zur Geselligkeit, resp. zur Einsamkeit. Das vierte, historisch ausgerichtete Kapitel untersucht die Thematik des Triebs zur Einsamkeit „in den ersten Zeiten der christlichen Kirche und überhaupt in warmen Ländern“. Der zweite Teil, d.h. die Kapitel fünf bis sieben, geht auf Nachteile der Einsamkeit ein, während der dritte Teil ihre Vorteile zum Gegenstand hat (Kapitel acht bis zehn). Der vierte Teil beleuchtet Vorteile der Einsamkeit für das Herz (Kapitel elf) und endet mit einer Übersicht, die erneut in „Reflexionen über Mystik und Möncherei“ abgleitet vor dem Beschluss (Kapitel zwölf). 130 Bouvier 1925, S. 122. 131 Schramm, Hans-Peter, Der Zimmermann-Nachlass in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover, in: Schramm 1998, S. 221.

279

vorhaben sistieren zu müssen. Die ungünstigen Entstehungsbedingungen macht er verantwortlich für mangelnde kompositorische Geschlossenheit: „daher kommt auch mein zerstückelter Vortrag, und vielleicht das meiste, was in diesem Buche schlecht ist“ (III, 390).132 Andererseits wird die Komposition vom dissoziierenden Wechselspiel zwischen spontaner Beliebigkeit und bändigendem Ordnungsstreben belebt. Bewegung in der Gesellschaft und einsame Ruhe sind der Reflex einer ausgewogenen Dosierung gemäss Zimmermanns Einsamkeitsverständnis. Logisch-sachlicher Abhandlungsstil und emphatisch-pathetische Deklamation wechseln je nach Gefühlslage, die viele Abstufungen kennt. In die Komposition der Einsamkeitsschrift ist das Ganzheit erstrebende Wechselspiel von Herz und Kopf, von Gefühl und Verstand eingeschrieben. Im November 1758 schreibt Zimmermann über seinen „Plan“ an Tscharner: „Le tout fera a peu pres un volume tel que le Nationalstolz. Le partie historique sera asses Singuliere par les traits dont elle est pour ainsi dire composée. Dans le Ir et le IIIe Livre j’ai parlé raison. Dans le IVe Livre je peindroi à la verite les Sentimens de mon coeur“.133 Hirzel gegenüber offenbart er, dass der erste und zweite Teil uninteressant seien: Aber im dritten und vierten Theile komme ich gantz in unsere Welt, werfe die Maske gantz weg, und mit Vergnügen wirst Du sehen, wie ich da hause! Im zehnten Capitel (Von den Vortheilen der Einsamkeit für den Geist) mahle ich Menschen und Sitten mit einer Kühnheit, über die Du erstaunen wirst. Mancher grosser Herr in der Schweitz erhält dann da auch, beyläufig Niesspulver in die Nase und spanischen Pfeffer auf die Zunge. Aber im eilften Capitel (Von den Vortheilen der Einsamkeit für das Hertz) womit der vierte Theil anfängt, und welches zwey Drittel dieses vierten Theiles ausmacht verändert sich die Scene plötzlich. Im X. Capitel sage ich die derbsten Wahrheiten, und haue alles nieder was mir vorkommt.; im XI. Capitel ist alles umgeschmolzen in Sanftheit und Liebe.134

Assoziativem Entfalten der Eingebungen des Augenblicks stehen eher theoretischbetrachtende Teile und erzählende Passagen gegenüber, ohne dass eine eigentliche Gesetzmässigkeit, außer jener von Unbeständigkeit festgestellt werden könnte. Zimmermanns notorische Neigung zu prägnanter, effekthascherischer Verdichtung wird in seiner Vorliebe für Anekdoten und in der Aphorismenhaltigkeit des Werks ablesbar. Das Einsamkeitswerk stellt in gewissem Sinn ein Anekdotenkompendium dar. Zimmermanns Anekdotenjagd135 in der Entstehungszeit der Unterredungen mit Friedrich II. gilt auch für die Werke über die Einsamkeit und über den Natio132

Z.B. im neunten Kapitel der Ruhrschrift: „Nach dieser leicht zu vergebenden Ausschweifung ergreife ich von neuem meinen Faden, und seze fest, dass […]“. Ruhr 1767, S. 275. 133 Brief Zimmermanns an Tscharner vom 26. November 1758. Hamel 1881, S. 28. 134 Brief Zimmermanns an Hirzel vom 1. August 1784. ZZH, FA Hirzel 240, 20. 135 Brief Zimmermanns an Reimarus vom 22. 4. 1788. SuUB Hamburg. Hss-Abt NRS: Br. Z 3. Zimmermann dringt in Reimarus, ihm durch die Gräfin von Bentink Anekdoten über Friedrich II. zu beschaffen, die ihm ebensoviel Freude bereiteten wie einem Bettler 100 Louis d’or. Hirzel berichtet er: „Eine Anecdote mein Buch über die Einsamkeit betreffend, bat ich neulich Herrn Rathsherr Schmid in Brugg“. Brief an Hirzel vom 1. April 1784. ZZH, FA Hirzel 240, 20.

280

nalstolz. Goethe spricht in anderem Zusammenhang von „historischen Bonmots und Chronikenmährchen à la Zimmermann und Abbt“.136 Die Vorliebe Zimmermanns für zugespitzte Formulierungen in polemischer Absicht ist insofern Ausdruck von Erkenntnisstreben, als in ihr eine aphoristische Denkweise, die über kein schlüssiges System gebietet, zum Ausdruck kommt.137 Einblick in Zimmermanns schriftstellerische Werkstatt erlauben die NachlassKonvolute von Papierschnipseln, Lesefrüchten, Exzerpten und Kollektaneen aus lateinischen und französischen und weniger häufig aus englischen Quellen.138 Zwei der Konvolute tragen die Titel: „Wie man in gesunden Tagen der Einbildung sich bemeistern kann“; „Von der Macht der Seele über den Körper“. Es finden sich praktisch keine deutschsprachigen Texte, ausser Wieland kein deutscher Dichter, wohl aber die in der Einsamkeitsschrift begegnenden Namen. Die Konvolute zeugen von einem „unmodernen“ Textverständnis, das nicht um ganzheitliche Erfassung eines Werks bemüht ist, sondern Lesefrüchte isoliert als illustrierende Belege oder Autoritätszitate aus den reich sprudelnden Quellen der geschichtlich-literarischen Überlieferung sammelt. Die nicht systematisch, sondern thematisch nach den Kapiteln gemäss Plan gefüllten Umschläge enthalten lose Zettel, die beim Drauflosschreiben als Materialquellen dienten. Seine „‚Jäger-und-Sammler‘-Arbeitsweise“139 wird auch ablesbar in seinem Plan vom Januar 1790 zu einem dritten Teil der Erfahrung in der Arzneykunst, indem er sich zu den geplanten Kapiteln unsystematische Notizen machte, die teilweise in Umschlägen angeordnet sind. Primär ist der Schreibprozess „im Feuer der Composition“ (II, 27), sekundär die

136

Rezension Goethes in den Frankfurter gelehrten Anzeigen zu J. v. Sonnenfels’ Über die Liebe des Vaterlandes, 1771 in Wien erschienen. WA I, 37, S. 271. 137 Vgl. zum Aphorismus als Erkenntnisform: Gerhard Neumann, Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976. 138 NLB Ms XLII, 1933, B 13 und Z VII 374. „Ms XLII 1933, B 13“ besteht aus zwei Konvoluten von 286, respektive 341 Blatt. Das erste Konvolut ist mit der Aufschrift versehen „De la solitude Livre I“ und entspricht der Einteilung des ersten Teils der Ausgabe von 1784/85. Das vierte Kapitel lautet noch „Von der vorzüglichen Neigung für die Einsamkeit in heissen Ländern“ (in der endgültigen Fassung: „Trieb zur Einsamkeit in den ersten Zeiten der christlichen Kirche und überhaupt in warmen Ländern“ (I, 230–286). Die mit Tinte beschriebenen, teilweise rot unterstrichenen Papierschnipsel der Grösse von ungefähr 2 cm auf 8 cm enthalten vorwiegend französisch und lateinisch abgeschriebene Textstellen, die mit unvollständigen Quellenangaben versehen sind, z.B. D’Alemb T IV p. 272, Confess. de R. II 170, Mosheim. 41, Encyclop. V. 997. Das zweite Konvolut enthält mit der Bezeichnung „De la solitude vol. V“ Umschläge aus losen Zetteln mit Notizen, Entwürfen und Zitaten. Die Seiten 3–49 bieten eine Art Bibliographie. „Z VII 374“ trägt die Bezeichnung „De regim. mentis Vol. 2“, „Von der Regierung der Einbildungskraft und der Leidenschaften in der Hypochondrie, in der Mutterkrankheit und der Melancolie“. Es handelt sich um Konvolute, in die einseitig beschriebene Papierschnitzel eingelegt sind von etwa 11 auf 5 cm mit wörtlich abgeschriebenen Textstellen aus französischen, englischen, deutschen und lateinischen Quellen. Als Schreibmaterial finden sich verschiedene Papiere, einmal verwendet Zimmermann auch die Rückseite zweier Spielkarten. 139 Vgl. U. Benzenhöfer u. G. vom Bruch, Zu Johann Georg Zimmermanns Plänen für den dritten Teil seiner Erfahrung in der Arzneykunst, in: Schramm 1998, S. 57.

281

zur freien Verfügung stehende Zettelsammlung. Das kontrastive Beziehungsgeflecht zwischen Ideenreichtum und Eingießung in einen „Plan“ belegt auch der Briefwechsel. An Tissot ergeht im Februar 1758 der Appell, ihm bei der Bildung eines Plans für die Erfahrung in der Arzneykunst behilflich zu sein: „Voici quelques idées dont il faudrait faire un plan […] Otez, ajoutez, changez-y tout ce qui vous plaira. L’ordre manque partout […]“.140 Das Ganze der Komposition der Einsamkeitsschrift gemahnt an eine vielgestaltige Landschaft, die zu mannigfachen Lese-Spaziergängen einlädt. Zimmermanns eindringliche Einladung zu einsamkeitsbestimmtem Leben wird so im Leseprozess selbst vergegenwärtigt. Sein Lieblingsspaziergang auf die Habsburg bei Brugg kann und soll demnach metaphorisch als versteckt-offenbare Rezeptionsanweisung an den Leser zu adäquatem Textumgang aufgefasst werden. Sprachstil und Therapeutik Zimmermanns Sprache und Stil sowie seine schriftstellerische Verfahrensweise ergeben das Gesamtbild einer synthetischen Originaliät, die durch eine Vielzahl teilweise sehr heterogener Darstellungsformen gekennzeichnet ist, wie oben ausgeführt worden ist. Im Vergleich zur Gleichförmigkeit anderer Aufklärungsschriftsteller ist denn die Lektüre von Zimmermanns Schriften nie von Langeweile bedroht, wenn diese ein Kriterium für schriftstellerische Qualität sein sollte. Die verwirrende Vielfalt unterschiedlicher sprachlicher Elemente ist insofern mit Therapeutik verknüpft, als sie ein vielgestaltiges Gefäss für die Darstellung einer Palette unterschiedlichster emotionaler Befindlichkeiten bietet. Die unterschiedlichsten Möglichkeiten haben alle einen gemeinsamen Fluchtpunkt: Die unübersichtliche Heterogenität von Zimmermanns Sprachwelt wird transparent auf ein therapeutisches Zentrum. Die versatile Sprache vermag Seelisches und Körperliches im Text selbst quasi physiognomisch abzubilden und leibhaftig zu vergegenwärtigen. Man sieht sich der paradoxen Situation gegenüber, dass gerade Zimmermanns Sprachstil die Voraussetzung darstellt für die bündelnde therapeutische Intention, den er in sich birgt.

140

Antoinette Emch-Dériaz, A propos „De l’expérience en médecine” de Zimmermann, in: Canadian Bulletin of Medical History 9 (1992), S. 6. Vgl. den Brief von Zimmermann an Tscharner vom 26. November 1758: „Je Suis charmé que le plan de mon Essay Sur la Solitude ait eu votre approbation”. Hamel 1881, S. 28.

282

Teil II Johann Georg Zimmermann: Versuch einer Ortsbestimmung

10 Zur Literarität von Zimmermanns Gesamtwerk vor dem epochalen Hintergrund

10.1 Zimmermann als Prototyp eines philosophischen Arzt-Schriftstellers Nicht nur bei Zimmermann, sondern bei einer Vielzahl populärmedizinischer Schriften im Zeitalter der Aufklärung, von Johann Karl Heinrich Ackermanns „Briefen“ (1794), die hypochondrischen und hysterischen Personen gewidmet sind, bis zu Johann Friedrich Zückerts Medizinischem Tischtuch (1771), durchdringen sich Literatur und Medizin wechselseitig. Der Arzt wird dabei gewissermassen „zum empirischen Seismographen menschlicher Möglichkeiten“.1 Angesichts der fiktionalen Funktion der Medizin und der szientifischen Funktion der Literatur2 ist eine Trennlinie zwischen pragmatischen und fiktionalen Texten nur schwer zu ziehen. Zimmermanns Einsamkeitswerk steht dabei auch im anthropologischen, stark von Rousseau beeinflussten Kontext autobiographischer Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts,3 zusammen z.B. mit Lavaters Geheimem Tagebuch von einem Beobachter seiner selbst (1771–1773), Johann Heinrich Jung-Stillings Lebensgeschichte (1777–1817) und Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785– 1794). Auch Gellerts postum erschienene Tagebücher und die Schriften Lichtenbergs gehören in diesen Problemzusammenhang.4 In seinen „Psychologischen Versuchen“ von 1777 formuliert der von Zimmermann gern zitierte Michael Hissmann das epochale Desiderat einer Synthese von Medizin und Literatur: „Aber der Philosoph müsste Arzt, und der Arzt Philosoph seyn; und folglich eine neue Art von Kreaturen entstehen“.5 Als repräsentative 1 2 3

4

5

Dehrmann 2002, S. 86. Vgl. Schneider 1987, S. 13. Vgl. Meier 1999, S. 26: „Das Überleben des Empfindsamen findet, wie es nach dem […] Erscheinen von Rousseaus Bekenntnissen und Goethes Werther in einer Fülle autobiographischer Werke manifest wird, hauptsächlich über die literarische Produktion statt“. Die besondere „Anthropologiehaltigkeit“ der Literatur und umgekehrt die Literarisierung wissenschaftlicher Beobachtung hat die neuere Aufklärungsforschung zu einer bevorzugten Forschungsfrage erkoren, z.B. Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987; Jutta Heinz in ihrer Dissertation an der Universität Erlangen-Nürnberg von 1995:Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 6). Berlin, New Yok 1996, S. 1–54. Vgl. auch insgesamt den DFG-Symposiumsband: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. v. Hans-Jürgen Schings. Stuttgart, Weimar 1994. Hissmann, Michael, Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt/Leipzig 1777, S. 22.

285

„neue Kreaturen“ können, neben Haller und Zimmermann, Johann Gottlob Krüger (1715–1759), Ernst Anton Nicolai (1722–1802), Johann August Unzer (1727– 1799), Ernst Platner (1744–1818), Tissot, Melchior Adam Weikard (1742–1803), Johann Friedrich Zückert (1737–1778) gelten.6 Platner räumt in der „Vorrede“ seiner ersten Anthropologie von 1772 ein, noch niemand habe geleugnet, dass ein Arzt ein Philosoph sein müsse, obwohl dieses Postulat noch allgemeiner Realisierung bedürfe.7 Philosophie werde allenfalls als anständiger Zeitvertreib eines gelehrten Arztes angesehen, „und man denket nicht an das Beyspiel eines Boerhavens, Hallers, Tissots, Zimmermanns und anderer vortrefflichen Männer, welche eben dadurch gross geworden sind, dass sie Philosophen waren“.8 Platner lobt Zimmermann: „Zimmermann setzt mit Recht das Genie des grossen Arztes mit dem Genie des Staatsmannes und Feldherrn in eine Klasse. Die Aerzte ohne Genie rechnet er zu den alten Weibern“.9 Das Zielpublikum seiner Schriften ist nicht so sehr der Fachmann als vielmehr der interessierte Laie, „denn ich möchte mehr für den Menschen schreiben, als für den Gelehrten“.10 Arzt und Schriftsteller lassen sich bei Zimmermann nicht voneinander trennen. Beide bemühen sich gemeinsam um Krankheitsprävention und Sozialhygiene. Die Zimmermann von Platner attestierte Verwirklichung der erhobenen Syntheseforderung zeitigt ein neuartiges Genre von Fachprosa und bringt einen neuen Schriftstellertypus im Zeichen der Anthropologie zur Geltung, der modische Konjunktur bekommt: den schriftstellerisch tätigen Mediziner, den „Arztliteraten“11 alias „Philosophischen Arzt“.12 Man sieht sich mit Platner berechtigt, Zimmermann, der nach eigenem Zeugnis nicht „Buchstabenmensch“13 sein will, als Prototyp eines philosophischen ArztSchriftstellers aufzufassen. Zimmermanns Schriften verknüpfen Wissenschaftlich-Medizinisches mit der Bloßlegung intimster Gefühle. Der auf die Faktizität verwiesene und angewiesene Arzt Zimmermann versucht das Postulat objektiver Erkenntnis mit allersubjektivster Herzenswahrheit zu vereinen, indem er, durch Einbildungskraft unterstützt, anthropologische Forschung und „subjektive“ Literatur symbiotisch zusammenwirken lässt. Das Arztschriftstellertum Zimmermanns steht noch jenseits der spezi6 7 8 9 10

11

12 13

Vgl. Oben die Einleitung: 2. Johann Georg Zimmermanns Bestimmung des Menschen im zeitgenössischen Kontext, S. 41ff. Platner 1772, Vorrede, S. IX. Platner 1772, Vorrede, S. VIII/IX. Platner 1772, S. 271. Ankündigung 1778, S. 4. Was Platner an anderer Stelle (S. 5) derselben Schrift über Haller vermerkt, gilt eigentlich auch für Zimmermann: „Weniger gelehrte Aussichten, aber tiefe Empfindsamkeit und reine Wahrheit aus dem Herzen, also Licht und Farbe für mich […]“. Meier 1999, S. 367. Ischers an sich zutreffende Feststellung (Ischer 1893, S. 421), „Auch in seinen nichtmedizinischen Schriften verleugnet Zimmermann den Arzt nie“, verkennt im Falle Zimmermanns die grundsätzliche Problematik einer Einteilung in medizinische und nichtmedizinische Schriften. Vgl. Goethe, Dichtung und Wahrheit III, 15. HA 10, S. 66. Im Brief an Philipp Albert Stapfer vom 17. Mai 1790. Luginbühl 1890, S. 60.

286

alisierenden Ausdifferenzierung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert. Ein auf ein romantisches Autorenverständnis vorausdeutender Anfang liegt insofern vor, als die Analyse der Befindlichkeit des eigenen Ich ins Zentrum rückt. Darin unterscheidet er sich wesentlich von Platner, der in der „Vorrede“ zur „Neuen Anthropologie für Ärzte und Weltweise“ von 1790 festhält: „Ich halte es für unschicklich, mit dem Publikum viel von sich und von seinen Angelegenheiten zu sprechen; gesetzt auch, sie wären an sich selbst, nicht allein der Theilnehmung, sondern gar der Bemerkung würdig“.14 Umgekehrt bindet er Fiktionales immer auch „wissenschaftlich“ ein in moralischer und das heißt bei Zimmermann auch in therapeutischer Absicht. Der wissenschaftsgeschichtlich im Vergleich zu Haller weniger bedeutsame Zeitgenosse Zimmermanns Johann August Unzer (1727–1799) beginnt vor Platner zu publizieren. Unzers publizistisches Rendement in Deutschland war „immens [...] Neben Albrecht von Haller und Johann Georg Zimmermann bestimmte er massgeblich die medizinische Landschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“.15 Bei Unzer wie bei Zimmermann sind die Grenzen zwischen Medizin, Philosophie und Literatur fließend.16 In Unzers ausgesprochen publikumswirksamer Zeitschrift Der Arzt, einer medizinischen Variante der Gattung der Moralischen Wochenschriften, die von 1759–1764 erscheint, werden „fast ausschliesslich Fragen der medizinischen Unterweisung von Laien wie Gesundheitsvorsorge und Diätetik“17 behandelt. Der breitgestreuten Themenvielfalt entspricht das Unübersichtliche, Widersprüchliche und Unsystematische, das bereits zeitgenössische Rezensenten tadeln,18 obwohl dem essayistisch Parabantischen eine didaktische Funktion zukommt.19 Unter die Vielzahl von Nachahmern gehört auch Der philosophische Arzt Melchior Adam Wei(c)kards, obwohl es sich bei dieser Publikation, entgegen der Einschätzung bei Schings,20 nicht um eine Zeitschrift, sondern um eine geschlossene Monographie handelt. Unabhängig davon, dass die Halleschen Psychomediziner den Begriff „Anthropologie“ nicht genau in Platners Sinn verwenden, kann man mit Zelle festhalten, dass alle unter der Flagge „Philosophischer Arzt“ Schreibenden von Halle gelernt haben: „Das anthropologische Denken tritt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus der Latenz seiner psychomedizinischen Begründer in die Präsenz eines popularphilosphischen Diskurses“.21 Für Unzer, Zimmermann und Platner sowie alle Übrigen gilt, dass die neue „mittlere“ Wissenschaft der Anthropologie eine „Integrationsdisziplin“ ist, welche „die medi14 15 16 17 18 19 20 21

Platner 1790, Vorrede (unpag.). Nowitzki 2003, S. 88. Zu Unzers medizinhistorischem Ort vgl. unten 12.1. Zimmermann im Bezugsfeld konkurrierender zeitgenössischer Medizinkonzepte, S. 361ff. Schneider 1987, S. 52. Schneider 1987, S. 2. Vgl. Zelle 2000, S. 8. Schings 1977, S. 21. Vgl. Schneider 1987, S. 53. Zelle 1999, S. 41f.

287

zinischen Fächer Anatomie und Physiologie u n d die philosophischen Fächer Logik, Ethik und Ästhetik in der Personalunion des ‚philosophischen Arztes‘ verbindet“.22 Im Halle der Frühaufklärung, wo Pietismus, Stahlianismus und Wolffianismus sich synergetisch überschneiden und „Weltweisheit“ und „Artzneygelahrheit“ auch institutionell in Professorenstellen verbunden sind, manifestiert sich eine für Zimmermann höchst charakteristische Systemaversion, die einhergeht mit einer Bevorzugung der ärtzlichen Praxis. Johann Christian Boltens Gedancken von psychologischen Curen23 erscheint geradezu als eine Präfiguration von Zimmermanns literarischer Heilkunst mit wissenschaftlichem Anspruch, indem Bolten Medizin und Philosophie mit therapeutischer Praxis und pietistischer Seelsorge „supplementierend“24 verknüpft, und dabei insbesondere „den direkten Nutzen der Ästhetik bei der Therapie von Gemütskrankheiten“25 erweist. In der Poesie war sich Zimmermann, nach schnell fehlgeschlagenen Versuchen,26 über mangelnde dichterische Begabung im klaren,27 was in keiner Weise das Ende schriftstellerischer Betätigung bedeutete, sondern dem vielseitig Interessierten28 im Gegenteil die ihm gemäße Existenzform als Schriftstellerarzt zuwies. Hippokrates soll, nach der Einschätzung Zimmermanns, nicht nur ein überragender Arzt, sondern auch ein glänzender Rhetor gewesen sein im Sinne einer Textstelle in der Erfahrung: „Gleichwie unter allen elenden Scribenten die Practici die elendesten sind, so waren hingegen die grössten Ärzte immer auch die besten Schriftsteller unter den Ärzten“ (Erf. I, 93). Offenbar hätte Zimmermann nur zu gerne mit seiner Person und seinem Œuvre die Richtigkeit seiner Behauptung bestätigt, da er doch, einem Briefurteil Ramlers gemäss, zu den wenigen Edlen gehöre, „die das Geheimnis besitzen, aus der Blüthe der Wissenschaften den angenehmsten Nektar zu ziehen“.29 Im Versuch von 1779 stellt er denn auch selbst fest: „Die Schicksale 22 23 24 25 26

27

28

29

Zelle 2000, S. 3. Halle 1751. Zelle 2000, S. 16. Vgl. allgemein zu Boltes Psychologischen Curen Zelles Ausführungen in diesem Aufsatz S. 14–23. Zelle 2000, S. 22. Vgl. oben Einleitung 1 Zu Leben und Werk, S. 2ff. Im Briefwechsel mit Haller werden auch poetische Fragen eingehender erörtert. Im Brief an Haller vom 24. Juli 1756 erklärt er beispielsweise: „Je pourrai faire des Hexametres, mais il me paroit qu’ils ne trouvent aucun credit et qu’on ne les lit pas. Les vers alexandrins non rimés choqueront de même la plupart des lecteurs parce qu’ils sont moins communs encore que les hexametres“. Ischer 1908, S. 129. Vgl. 1 Zu Leben und Werk, S. 15. Ferner: Zimmermanns Bekenntnis in der „Vorrede“ zu seinem Leben des Herrn von Haller von 1755 (unpag.): „Ich bin zur Poesie nicht geschickt, und ich werde der Welt niemahls als ein Dichter bekannt werden, aber meine eigene Seele würde ich hassen, wann sie nicht eine rechte Dichter=Seele wäre“. Tissot rühmt seinem Herzensfreund „des connaissances tres-etendues, non seulement en médecine, mais en politique, en morale, en histoire, en littérature ancienne & moderne“ nach (Tissot 1797, S. 116). Eynard 1839, S. 39 zitiert aus einem Brief Zimmermanns an Tissot vom 13. Februar 1758: „Pour moi, j’ai tant de goûts à la fois, je me donne tant de mouvement […] et je n’ai rien fait encore dont je ne rougisse!“. Brief von Ramler an Zimmermann vom 7. Mai 1763. Bodemann 1878, S. 70. Betrachtungen über die Einsamkeit 1756, S. 96.

288

eines Arztes und eines Schriftstellers haben viel Ähnlichkeit“.30 Sein Idealbild eines Schriftstellerarztes umreisst er in einem Brief an Vinzenz Bernhard Tscharner vom 1. Dezember 1762, den er fragt, ob es, neben dem „Discours sur l’anatomie“, auch eine französische Übersetzung von Antonio Cocchis (1695–1758) „Discorsi Toscani“ gebe, da Zimmermann die italienische Sprache nicht beherrscht: Un morceau qui m’a enchanté c’est le Discours du Dr Cocchi sur l’anatomie […] Voilà un Ecrivain-medecin nach meinem Herzen. Tout le monde sauroit la medecine si tout medecin ecrivoit comme Cocchi. Une philosophie saine et audessus de toutes les Sectes, une erudition maniée avec un gout infini, un tour moral qui fait dire à l’auteur toujours plus qu’il n’a dit en effet, enfin une elegance toujours soutenue, un Style parfait, voilà ce qui m’engage de preferer cet Ecrivain à tous les Ecrivains-Medecins, si j’en excepte Boerhaave, dont les discours academiques sont pour nous autres des modèles de gout.31

Fragt man beispielsweise nach der Gattungszugehörigkeit der Erfahrung in der Arzneykunst, die einen „gewaltigen Einfluss“ ausübte und das erste Werk „dieser Art“32 gewesen ist, wird keine der zur Entstehungszeit vorliegenden kanonisierten Gattungen ausreichen, eine adäquate Einteilung vorzunehmen. Am ehesten würden die Begriffe „Sachbuch“, „Fachprosa“ oder „popularphilosophischer Essay“ zutreffen. Es handelt sich um philosophische Gedanken über die Medizin mittels belehrender Unterhaltung und unterhaltender Belehrung, gemeinhin populär verfasst, mit Anekdoten gewürzt, ohne ein exakt wissenschaftlich fundiertes Werk zu sein. In einem Brief an Hirzel vom September 1760 charakterisiert Zimmermannn selbst die „Erfahrung“ auf diese Weise: „Un livre de médecine d’un genre tout à fait nouveau pour la langue allemande. Un peu de philosophie, quelque pédanterie, un peu d’esprit, un peu de pratique […]“.33 Diese neuartige Fachprosa einer gattungsentgrenzenden Essayistik verbindet verschiedene Textsorten miteinander, wie Briefausschnitte, Zitate, Lesefrüchte, Gesprächswiedergaben, Krankengeschichten, mit einem recht grosszügigen Quellenumgang. Damit sollen umfassend Herz und Kopf des Lesers angesprochen werden, eben der „ganze“ leib-seelische Mensch. Aufs Ganze gesehen verfügt Zimmermann im Vergleich zu seinen zeitgenössischen Kollegen über eine breitere Appell-Palette, um diese Wirkung zu erzielen. Die Nähe Zimmermanns zur Popularphilosophie ist dabei unübersehbar, „die den Versuch unternimmt, Fragestellungen aufzugreifen, die näher am Leben der Menschen liegen und für den Gebildeten von allgemeinem Interesse sind“.34 Zimmermann schreibt einen popularphilosophischen Stil:

30 31 32 33 34

Versuch 1779, S. 37. Hamel 1881, S. 48. Ackerknecht, Erwin H./Buess, Heinrich, Kurze Geschichte der grossen Schweizer Ärzte. Bern 1975, S. 43. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 3. September 1760. ZZH FA Hirzel 238, 18. Böhr 2003, S. 6. Vgl. auch S. 18ff.; S. 236ff.; S. 272ff.

289

Als Kriterium einer angemessenen philosophischen Schreibart werden […] sog. Allgemeinverständlichkeit (popularitas) und ein gewisser Reiz (suavitas) angeführt. Für reizend gilt eine Schrift, wenn ihr nicht Trockenheit (siccitas) und allzugrosse Gründlichkeit (subtilitas) angelastet werden kann,

wenn sie – nun inhaltlich beurteilt – „Philosophie für den Menschen“ enthält“.35 Er ist ein eklektisch verfahrender „Philosoph für die Welt“, d.h. er stellt gegen das Diktat von Schulmeinungen auf die eigene Erkenntnisfähigkeit ab,36 wie er zumindest immer wieder beteuert, und vertritt eine „handlungsleitende Philsophie in praktischer Absicht“.37 Auch Garve ist ein typischer Vertreter der Popularphilosophie, und als solcher hegt er grundsätzliche Vorbehalte gegenüber der Transzendentalphilosophie Kants. Claus Altmeyer38 liest Garves Schrift Ueber Gesellschaft und Einsamkeit in seiner 1992 erschienenen Dissertation als Antwort auf Zimmermanns Bestseller von 1784/85, der, wie etwas undifferenziert festgestellt wird, „so etwas wie die communis opinio der deutschen Aufklärung zum Thema ‚Gesellschaft‘ vs. ‚Einsamkeit‘“ formuliere.39 Im Gegensatz zu Zimmermann, der bürgerliche Geselligkeit nur in der Privatsphäre von Familie und Freundschaft kenne, nehme Garve eine grundlegende Neubewertung des gesellschaftlichen Umgangs vor, indem er die Geselligkeit von ihrer sozialen Zuordnung trenne und sie, wie auch die Moral, zu einer „universalen Kategorie“40 erweitere, so dass die traditionelle Hofkritik durch eine allgemeine Geselligkeitskritik ersetzt wird. Geselliger Umgang werde zur „Stätte gleichrangiger, von allen ständischen Rücksichten befreiter Kommunikation“.41 Was ergibt ein Vergleich von Garves Einsamkeitskonzeption mit jener Zimmermanns? Der schlesische Popularschriftsteller, für den, im Gegensatz zu Zimmermann, die menschliche Sexualität und damit zusammenhängende moralische Fragen praktisch kein Thema sind, akzentuiert den Aspekt der Geselligkeit, von Sozietäten und Gesellschaften, stärker als Zimmermann, der vom einzelnen Menschen ausgeht, um nach den Möglichkeiten und Bedingungen seiner Soziabilität zu fragen. Garve führt in seiner Schrift Über Gesellschaft und Einsamkeit einleitend aus:

35 36 37 38

39 40 41

Holzhey, Helmut, Der Philosoph für die Welt – eine Chimäre der deutschen Aufklärung? In: Esoterik und Exoterik der Philosophie. Basel 1977, S. 121. Vgl. Holzhey 1977, S. 132. Vierhaus, Rudolf, Was war Aufklärung? Göttingen 1995 (Kleine Schriften zur Aufklärung; 7), S. 6. Altmayer, Claus, Aufklärung als Popularphilosophie. Bürgerliches Individuum und Öffentlichkeit bei Christian Garve. Diss. phil. Univ. Saarbrücken 1992 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft. Hg. v. Karl Richter u.a. Bd. 36). St. Ingbert 1992. Altmayer, 1992, S. 259. Altmayer, 1992, S. 275. Altmayer, 1992, S. 312.

290

Die selbst gewählte Einsamkeit in einer volkreichen Stadt ist von der unvermeidlichen in einer Wildniss, sowohl in ihren Wirkungen auf den Menschen, als in ihren Ursachen, verschieden […] Ich werde […] die verschiednen Arten der Gesellschaft und Einsamkeit classificiren, und das Eigenthümliche jeder Art in Beschaffenheit und Einflusse aufsuchen.42

Deshalb unterscheidet er zwischen einer „zufälligen“ und einer „vorsätzlichen“ Einsamkeit, die er weiter in religiöse und gelehrte Einsamkeit unterteilt. Die „zufällige“ Einsamkeit wird untersucht an der Einsamkeit von Wilden, Nomaden und Kolonisten sowie von Stadt- oder Landbewohnern.43 Für Garve besitzt Einsamkeit einen eingeschränkten Gültigkeitsbereich, Gesellschaft wird zur „Stätte“ der Wahrheitsfindung und zum „wichtigen Medium von Aufklärung und moralischgeselliger Bildung“.44 Verfehlt wäre es, bei Garve einen eigentlichen Gegensatz in der Haltung dem Adel gegenüber festzumachen. Garves konservativ-apologetische politische Philosophie, die sich den Adel als Vorbild geradezu bürgerlich aneignet, ist von Zimmermanns scharfer Kritik, die spannungsreich zu seiner Adelspräferenz kontrastiert, gar nicht so weit entfernt, wie es vordergründig scheint. Überprüft man Zimmermanns Gesamtwerk im Hinblick auf die Einlösung des postulierten Selbständigkeitsanspruchs im Sinn des Sturm und Drang, so wird evident, dass er traditionsfester ist, als er sich gibt. In seinem Kopf wirken „fremde Modelle“ (III, 422) bei der sprachlichen Umsetzung von unmittelbar Gefühltem nach. Bouvier vermerkt zu Recht: „Il y a une part de culture livres que dans son goût de l’isolement“45 Überhaupt besteht grundsätzlich eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen lautstark bekundeter Absicht und tatsächlicher Ausführung. Eigenerlebtes wird oft durch literarisch Fremderlebtes vermittelt. Zimmermann findet nicht zu einer eigenen stileinheitlichen Sprache, die genuine Originalität adäquat umsetzen würde. In Rechnung zu stellen sind in diesem Zusammenhang auch seine latente Vorliebe für eitle Selbstinszenierung und die Tendenz, seine Denkformen und Anschauungen repetitiv-variierend aufzunehmen.46 Kompositorisch eignet allen Schriften Zimmermanns die Neigung zu „aphoristischer Schreibart“,47 die niemals zu einem „festen Lehrgebäude“48 gerät. Die neuartige Form aphoristisch geprägter popularwissenschaftlicher Fachprosa kann die Vorteile literarischer Gestaltungsmöglichkeiten nutzen, ohne den Verbindlichkeiten „exakt“ wissenschaftlicher Anforderungen voll genügen zu müssen. Johann Adam Bergk kennzeichnet in seiner „Kunst, Bücher zu lesen“ von 1799 die „Bekömmlichkeit“ von Sachinformation im Medium der Literatur: „Auf eine angenehme Weise lehren sie (sc. die Romane) uns das, was wir in den Wissenschaften 42 43 44 45 46 47 48

Garve 1797, S. 4. Garve 1797, S. 259–336. Altmayer, 1992, S. 312. Bouvier 1925, S. 220. Vgl. Bouvier 1925, S. 200. Platner 1772, Vorrede, S. XVIII. Als „aphoristische“ Zeitgenossen nach seinem Sinn nennt Platner Boerhaave, Haller und Gaubius (Vorrede, S. XXIII). Platner 1772, Vorrede, S. XIV.

291

mit saurer Mühe und Arbeit erkämpfen müssen“.49 Der popularwissenschaftliche Essay, den Zimmermann vertritt, vermag literarisch zu synthetisieren, was wesentlich noch spekulatives Postulat jenseits kategorial-philosophischer Exaktheit ist und durch empirische Forschung erst erwiesen werden müsste. 10.1.1 Literarische Krankengeschichten Zimmermanns Krankengeschichten sind literarisch ambitionierte, bei aller analysierenden Beobachterhaltung in unterhaltender und didaktischer Absicht verfasste Fallstudien, Beispielerzählungen und Krankheitsberichte, die auf eigenen oder fremden Beobachtungen beruhen und stets den Wechselwirkungen von Leib und Seele nachspüren. Seine Darstellungen von Krankheit und medizinischer Behandlung, die sich vornehmlich auf einen sozial höhergestellten Patientenkreis beziehen, wirken nicht abstossend und ekelerregend, sondern werden anschaulich und spannend erzählt, wie Bodmer 1764 nach dem Erscheinen der Erfahrung in der Arzneykunst Zimmermann ausdrücklich attestiert: Sie haben in Ihren Erfahrungen den traurigen Gegenständen Munterkeit, den trübsinnigen Heiterkeit, den widrigen selbst Annehmlichkeiten gegeben. Meinesgleichen, die über Erzählungen von Krankheiten krank werden, die über Geschichten von Hexen Erscheinungen bekommen, lesen Ihr Werk nicht nur ohne Schrecknisse, sondern mit Wollust. Es ist eine Muse, die der Äsculapischen Wissenschaft vorsteht und mit dieser haben Sie vertraulichen Umgang.50

Als illustrierende Beispiele seien die Nacherzählungen zweier Krankengeschichten, die tödlich verliefen, angeführt: jene des an einem Speiseröhrenriss gestorbenen holländischen Admirals, des Freiherrn Johannes v. Wassenaer, und jene des Markgrafen Guido v. Saint Auban, die Boerhaave mitgeteilt hatte und die von Zimmermann aus der Innenperspektive des abwägend suchenden Arztes nacherzählt werden. In beiden Fällen bringt erst die Autopsie Aufschluss über die anfangs rätselhafte Ursache der Krankheit. Aus dem Englischen übersetzt Zimmermann die beklemmende Geschichte von den Folgen verderbter Luft in einem überfüllten Gefängnis in Kalkutta im Jahre 1756 (Erf. II, 181–190). Man vernimmt an anderer Stelle von einer Scheinschwangerschaft (Erf.I, 282), von einem Universalgelehrten aus Bern, der sich durch intellektuelle Überanstrengung zugrunde richtet (Erf. II, 537–545), von einer zwanzigjährigen hysterischen Jungfer (Erf. II, 441f.) und einem fünfundzwanzigjährigen „wahnwizigen“ Mann (Erf. II, 384f.), von seelischen Auswirkungen einer (angeblichen) Gespenstererscheinung auf eine Frau (Erf. II, 462–468), von einer Traumatisierung nach einem Überfall (Erf. II, 469– 472). Zimmermanns Fallgeschichten ziehen ihren spezifischen Reiz auch aus seinem notorischen Hang zu Indiskretionen aller Art. Gleichsam unter vorgehaltener 49 50

Bergk, Johann Adam, Die Kunst, Bücher zu lesen. Nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller. Jena 1799, S. 209. Brief Bodmers an Zimmermann vom 27. 4. 1764. Bodemann 1878, S. 178.

292

Hand wird schlüpfrig Zotiges und Pikantes, ja derb Obszönes preisgegeben, das er nicht nur in der Behandlung des Mönchswesens und bei Problemen christlicher Mystik nicht meidet, weil er der Sexualität eine beträchtliche Bedeutung für die physische und psychische Gesundheit in der Biographie eines Menschen zumisst. Zimmermann hebt die zentrale Bedeutung von Kindheit und Jugend im Leben eines Menschen hervor. In der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste wünscht sich ein Rezensent des Werks Von der Einsamkeit (1773), „dass er (sc. Zimmermann) sich über die Einflüsse der Einsamkeit auf die noch unbestimmten Charaktere der Kinder mehr erklärt hätte“.51 Diesen Wunsch hat Zimmermann in der Ausgabe von 1784/85 zumindest teilweise erfüllt: es sei an die verstreuten, teilweise versteckten Bruchstücke seiner Biographie und an die Onanie-Thematik erinnert. Zudem verfolgt er eine erfahrungsseelenkundliche Fährte, die auf die Entdeckung des Unterbewussten am Ende des 19. Jahrhunderts vorausweist. Sein leidenschaftliches Erkenntnisinteresse für Normabweichendes, Abartiges und Krankes, das auch das Phänomen des Wahnsinns ins Blickfeld geraten lässt, bezeugt ein Krankheitsverständnis, das kein Phänomen ausschliesst, sondern vielmehr Körper, Geist und Seele aufeinander bezieht in gesundwirkender Absicht. Seine Fallbeschreibungen, als Verschriftlichung von Körpergeschichten, sind Bewältigungsversuche von Krankheit in und mit schriftgebundener Erzählung. Dabei durchbricht Zimmermann bisweilen seine normalerweise monomanisch geprägte Berichthaltung und gesteht dem Patienten ein Erzählrecht zu, das ihn seine Krankheit selbst erzählen lässt. Kommentiert wird sie allerdings von Zimmermann alleine. An einem Beispiel aus der Erfahrung soll überprüft werden, inwiefern Zimmermann in der literarischen Praxis tatsachengegründete Krankengeschichten bietet, denn dem Leser fällt auf, dass er auf erstaunlich wenig Selbstbeobachtetes und keinerlei eigentliche Experimente stösst. U. Boschung hat nachgewiesen, wie die literarische Fassung der Gespensterfurcht der Jungfer Morlot, einer Patientin aus seiner Berner Zeit (1752–1754), in der Erfahrung in der Arzneykunst effektvoll überhöht wird im Vergleich zur erhaltenen, lateinisch verfassten Krankengeschichte, aus der Zimmermann schöpfte.52 Im elften Kapitel des vierten Buches vor dem Krankheitsbericht stellt er folgende Erklärung an den Anfang: „Gespenster müssen zuweilen die Ursachen von Wirkungen seyn, die ganz natürlich aus einer heftigen von einer verdorbenen Einbildung herrührenden Furcht fliessen“ (Erf. II, 461). Die 51

52

Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. 16. Bd., Erstes Stück. Leipzig 1774, S. 88. Weiter heisst es an gleicher Stelle: „Wir glauben, wenn er als Arzt und Weltweiser zugleich, die schädlichen Folgen der bey Ältern nicht ungewöhnlichen Denkungsart, da sie ihre Kinder häufig der Einsamkeit überlassen, oder sie wohl gar vor der Verführung dadurch zu bewahren glauben, entwickelt hätte; so würde das bey manchen von sehr guter Wirkung gewesen seyn“. Boschung, Urs, Von „[…] dem ersten Schritte, den ich als Arzt in die Welt that […]“. Die Anfänge von Johann Georg Zimmermanns ärztlicher Praxis, Bern 1752–1754, in: Schramm 1998, S. 40ff.

293

Behandlung beginnt am 6. November 1752. Auslöser der psychosomatischen Erkrankung mit heftigen Kopfschmerzen, einer „Blatterkrankheit an dem Kopfe und ein(em) darauf Erfolgte(n) periodische(n) Wahnwiz“ (Erf. II, 462), war die mitternächtliche Begegnung mit einer schwarzen Ziege oder einem pechschwarzen Hund, wie Zimmermann vermutet: Ein siebenzigjähriges Weib aus der Hefe des Pöbels befand sich in einem abgelegenen Häusgen um Mitternacht in der Küche, da sich auf einer zu dieser Küche führenden elenden hölzernen Treppe ein Gepolter äusserte. Urplötzlich fiel dem Weibe das in ihrem Hause nothwendig herrschende Gespenst ein, sie stiess dem ohngeachtet die Thüre auf und sah einen pechschwarzen Hund, der ihr so gross schien als ein Elephant (Erf. II, 462).

Zimmermann diagnostiziert zuerst Pocken und behandelt mit Kampfer und Blasenpflaster, bevor er von der nächtlichen Begegnung erfährt. Eine sich ausbreitende Gesichtsentzündung lässt ihn aber auf einen inneren Abszess schliessen. Nach vierundfünzig Tagen ist die Patientin gänzlich geheilt, nicht zuletzt dadurch, dass die zu applizierenden Pflaster verwechselt wurden, worüber Zimmermann in seinem Bericht (Erf. II, 461ff.) kein Wort verliert. Im Fall der Jungfer Morlot spricht Gurtner von „Dreistigkeit“, gewiss von „antiaufklärerischer“ Gesinnung,53 wenn man seine Praxisaufzeichnungen in den Observationes medicae und die Darstellung in den Acta Helvetica mit der Version in der Erfahrung vergleicht.54 Sein Unwissen wird durch Hypothesen und Behauptungen cachiert, die als Wahrheit ausgegeben werden. Bereits am zweiten Tag ist von Heilung die Rede, und Zimmermann verschweigt den langwierigen Verlauf mit Bandwurmbefall.55 Grundsätzlich stellt Gurtner fest: „Das Kapitel zu den Leidenschaften wie die ganze Erfahrung ist durchsetzt und lebt von übertriebenen und z. T. sogar phantastisch anmutenden medizinischen und literarischen Anekdoten von Zimmermann und anderen Autoren“.56 Von wissenschaftsmedizinischer Warte aus gesehen, kommt Zimmermann demnach schlecht weg. Er habe sich seit seiner Dissertation von 1751 in knapp zehn Jahren von einem der Grundlagenforschung verpflichteten, ernsthaften wissenschaftlichen Forscher zu einem Schriftsteller gewandelt, der es in seiner dichterischen Freiheit mit der Wahrheit nicht mehr so ernst nehme: „Dadurch bleibt aber sein Beitrag zur Erforschung der Leidenschaften und der durch sie ausgelösten Krankheiten zunehmend im Bereich des Literarischen und Phantastischen und gelangt über das Spekulative nicht hinaus“.57 Der Hauptvorwurf wiegt schwer: Zimmermann dispensiere sich in seinen literarischen Krankheitsgeschichten prinzipiell von experimenteller Forschung. Die Berechtigung von Gurtners Urteil, das

53 54 55 56 57

Gurtner 1998, S. 205. ZZH, Z VII 375. Gurtner 1998, S. 176ff. Gurtner 1998, S. 222. Gurtner 1998, S. 222.

294

er von seiner Warte aus fällt, soll gar nicht in Frage gestellt werden. Allerdings bleibt zu bedenken, abgesehen wiederum vom nicht zu unterschätzenden Aspekt der Sensationswirkung und dem Bestreben nach schriftstellerischem Erfolg, dass Gurtners Sichtweise jene der Wissenschaftsmedizin nicht nur des 19. Jahrhunderts ist. Bei Zimmermann wirken Schriftlichkeit und Medizin therapeutisch zusammen, so dass Dichtung von Wahrheit nicht entschieden getrennt wird, sondern beide synthetisch mit ihren je eigenen Therapiemöglichkeiten genutzt werden. Es liegt in der Konsequenz dieser Haltung, dass sich gewisse Gemütskrankheiten besser durch Worte als durch Medikamente lindern lassen. Zimmermanns Krankengeschichten vergegenwärtigen insgesamt als literarische Texte eine Form von Therapie, der wenig zeitgenössisch Vergleichbares an die Seite zu stellen ist. Wo findet sich sonst in der zeitgenössischen einschlägigen Literatur eine derart eindrucksvolle Charakterisierung von Worttherapeutik wie im ersten Teil der Erfahrung? Man weis wie viel in Gemüthskrankheiten auf einen Arzt ankommt, der Ruhe und Vergnügungen in allen Zeiten zum Dienste mitleidenswerther Kranken unterbricht; der es für den Hauptgegenstand seines Amtes hält ihre Leiden zu fühlen; der das Gemüth des Kranken nach allen seinen Wirkungen, und diese nach allen ihren Ursachen durchdringt; der biegsam genug ist immer nach den Umständen mit dem Kranken zu reden und zu handeln, seinem Elend sich zu unterwerfen und sein kleinmüthiges Wesen zu vertragen; der es in seiner Gewalt hat zu schweigen wenn alles reden umsonst ist, durch Sanftmuth das Gemüth zu zwingen, wenn alle Stärke kraftlos ist, und durch edle und zärtliche Gesinnungen das Herz zu rühren wenn es diesen Gesinnungen, wie die allzulange mit dem Trauerkleide des Winters umhängte Erde der jungen aufsteigenden Frühlingsblume sich öfnet; der endlich an der Brust der Musen aufgewachsen voll Gefühl für alles was schön und gross ist, im Nothfall seine Aufmunterungen durch die Macht einer einnehmenden Beredsamkeit unterstüzen, und durch alle Künste einer schönen Einbildungskraft erheitern kann. Mit diesen Vortheilen ausgerüstet hilft der Arzt dem Kranken seinen Körper überwinden, und er füllt seine Seele mit Sanftmuth, mit Hofnung und Unerschrokenheit. Alle Arzneyen sind in solchen Fällen umsonst, wenn der Arzt gleich dem Narren der über Wahrheit und Tugend spotten möchte, jene aufzusuchen zu faul, und diese auszuüben zu schwach ist (Erf I, 450f.).

Die medizinische Fallgeschichte wird, wie in Krügers Experimentalseelenlehre, aufgewertet, weil Zimmermann wie Krüger das Experiment nur scheinbar zugunsten der Wahrnehmung oder Beobachtung favorisiert und dadurch „Experimentalseelenkunde“ eigentlich zu „Beobachtungsseelenkunde“ wird, „wodurch an die Stelle des Menschenversuchs methodisch die medizinische Beschreibungsliteratur tritt“.58 Zimmermann ist auch darin der Prototyp des anthropologischen Arztschriftstellers, dass er im Medium der Fallgeschichten sich systematischer, empirisch abgestützter Wissenschaftlichkeit entzieht, obwohl er diese im übrigen unentwegt postuliert.

58

Zelle 2000, S. 12. (Nach dem Manuskript zitiert).

295

10.1.2 Vorläufer und Nachfolger Zimmermanns Quellen und die Rezeption seines Werks verdienten eine eigene, eingehendere Untersuchung, als es in diesem Zusammenhang geschehen kann. Wezel beispielsweise hat den zweiten Teil von Zimmermanns Von der Erfahrung in der Arzneykunst rezipiert, „die methodischen Überlegungen des ersten Teils scheinen für ihn weniger bedeutsam gewesen zu sein“.59 Bei Untersuchungen zu Zimmermann ist wenigstens mittelbar auch Haller stets gegenwärtig. Ohne die literarische Vorbildfunktion Hallers ist Zimmermanns Arztschriftstellertum nicht denkbar. Beide waren ursprünglich zur Theologie bestimmt. 1729 kehrt Haller nach Bern zurück, wo er entgegen seiner Hoffnung nicht Literaturprofessor wird,60 dafür 1736 den Ruf an die Universität Göttingen annimmt. Was H. E. Sigerist über Haller feststellt, gilt auch für Zimmermann: „Es klafft kein Widerspruch zwischen seinem dichterischen und wissenschaftlichen Schaffen. Das gleiche ethische Fühlen liegt beiden zugrunde“.61 Haller rät, wie gesehen, seinem Schüler entschieden ab, sich der Poesie zu widmen: „Je Vous ai prié bien souvent, de ne pas Vous livrer à la poesie“,62 wie er auch Zimmermanns Rousseau-Schwärmerei kritisiert.63 Dass Zimmermann zum Leidwesen Hallers nach seiner Dissertation nicht mehr experimentell arbeitet, berechtigt nicht, Hallers Tadel zu teilen. Toellner diagnostiziert Zimmermanns Ruhmsucht als Lebenselixier und Rauschmittel gegen schwärzeste Melancholie, „aber es war […] ein flüchtiger, ein stets gefährdeter, ein literarischer Ruhm, nicht der dauerhafte, solide Ruhm des Gelehrten, um dessentwillen er seinen Lehrer Haller stets bewundert und beneidet, geliebt und gehasst hatte“.64 Ist dieses Urteil nicht von wissenschaftlich-experimenteller Befangenheit, weil es Zimmermanns spezifische Therapeutik „kommunizierender Gefässe“ zu wenig gerecht wird?

59 60

61 62

63

64

Nowitzki 2003, S. 309. Vgl. Schreiben 1773, S. 9. Auf die Frage Friedrichs II., was Haller mache, antwortet Zimmermann: „Sire! il vient finir sa carrière littéraire par un roman […] Der König lachte und sprach: ah! cela est bien“. Sigerist 1970, S. 170. Brief Hallers an Zimmermann vom 29. Juli 1756. Bodemann 1885, S. 46. im Brief vom 10. Juli 1756 mahnt er: „Ce que je ne cesse de Vous dire sur la poesie part de ma conviction et de mon experience. Un practicien apliqué est aimé et respecté en general par ses citoyens; un poëte ne l’est que de l’etranger, avec lequel il ne vit pas et dont les hommages ne contribuent gueres à son bonheur“. Bodemann 1885, S. 46. Im Brief vom 6. August 1756 gibt Haller zu bedenken: „[…] la poesie donne en Suisse la reputation d’un medecin qui ne traite sa profession qu’en second; elle nuit au lieu de faire du bien […] Les livres ne menent à rien“. Bodemann 1885, S. 47f. Vgl. Hallers Brief vom 10. Dezember 1766 an Zimmermann: „Je ne me mele point de la Societé de Schinznach, je ne le dois pas […] Mais je deteste R o u s s e a u et ses principes destructeurs de tout gouvernement“. Bodemann 1885, S. 74. Oder im Brief vom 11. Februar 1767: „Mais les principes de R(ousseau) […] feront pour le gouvernement ce que l’atheisme fait pour la religion“. Bodemann 1885, S. 75. Toellner 1979, S. 14.

296

Hallers Gedichte haben Zimmermanns Einsamkeitsauffassung wesentlich beeinflusst. In einem Brief vom 4. September 1774 an Gemmingen klagt der opiumsüchtige und vereinsamte Haller: „Das Alter ist einsam, meine meiste Freunde sind todt, eine neue Welt steigt empor, die ich nicht kenne“.65 Schon in der im November 1736 entstandenen Trauer-Ode beim Absterben seiner geliebten Mariane, die am 30. Oktober 1736 gestorben war, erfährt er eine existentielle Einsamkeit. Hallers Ablehnung der verderbenden Stadt und seine Vorliebe für die in seiner Einschätzung unverdorbene Alpenwelt übernimmt Zimmermann: „Und hier hat die Natur die Lehre, recht zu leben, Dem Menschen in das Herz und nicht ins Hirn gegeben“.66

Die Menschen leben zeitlos, also glücklich – „Heut ist wie gestern war und morgen wird wie heut“ –, und die Alpen sind ein Gebiet harmonischer Bedürfnislosigkeit: „Wo nichts, was nöthig, fehlt und nur, was nutzet, blüht“.67

Im Lehrgedicht „Die Falschheit menschlicher Tugenden. An den Herrn Prof. Stähelin“ von 1730 fragt Haller: „Allein was hilft es doch, sich aus der Welt verbannen?“68

Seine Antwort ist unzweideutig: „Der Mensch entflieht sich nicht; umsonst erhebt er sich, des Körpers schwere Last zieht an ihm innerlich“.69

Haller übt Kritik an heuchlerischem Anachoretentum: „Wer ist der weise Mann, der dort so einsam denkt und den verscheuten Blick zur Erde furchtsam senkt? […] Er ist nicht für die Welt, die Welt ist nichts für ihn“.70

Das Urteil ist auch hier eindeutig, und zwar negativ: „Du beugst den Hals umsonst, die Ehre, die du meidest, die Ehr ist doch der Gott, für den du alles leidest“.71

65

66

67 68 69 70 71

Albrecht von Hallers Gedichte. Hg. u. eingel. v. Ludwig Hirzel (Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz und ihres Grenzgebietes, hg. v. J. Bächtold u. F. Vetter. 3. Band). Frauenfeld 1882, S. CDLXVIIIf. Hallers Gedichte 1882, V. 89/90, S. 24. Vgl. auch: „Verblendete Sterbliche! […] Elende! rühmet nur den Rauch in grossen Städten, Wo Bosheit und Verrath im Schmuck der Tugend gehn“ V. 441ff. S. 40. Hallers Gedichte 1882, V. 318 S. 34. Ebd., V. 27. S. 63. Ebd., V. 28/29. S. 63. Ebd., V. 229ff. S. 71f. Ebd., V. 247f., S. 72.

297

Im Lehrgedicht Über den Ursprung des Übels von 1734 kritisiert Haller vorweg sein eigenes Gedicht: Jetzt da mir die nahe Ewigkeit alles in einem ernsthaften Lichte zeigt, finde ich, die Mittel seien unverantwortlich verschwiegen worden, die Gott zum Wiederherstellen der Seelen angewendet hat, die Menschwerdung Christi, sein Leiden, die aus der Ewigkeit uns verkündigte Wahrheit, sein Genugtun für unsre Sünden, das uns den Zutritt zu der Begnadigung eröffnet, alles hätte gesagt werden sollen.72

Die anschließende Beschreibung, ein Rundblick vom Gurten bei Bern, von idyllischer Nähe in heroische Ferne, von der Aareebene zum Jura und den schneegekrönten Alpen, verbindet Natur und reflexionsbefördernde Stille der Einsamkeit. Diese Ausgangslage entspricht jener Naturszenerie im vierten Buch über die Einsamkeit (IV, 11–13): Ein allgemeines Wohl beseelet die Natur, Und alles trägt des höchsten Gottes Spur! […] Die Ruh der Einsamkeit, die Mutter der Erfindung, Hielt der Begriffe Reih in schliessender Verbindung, Und nach und nach verknüpft, kam mein verwirrter Sinn, Uneinig mit sich selbst, zu diesen Worten hin […].73

Die durchaus verzweifelte Frage nach dem Sinn von Sein, die sogar in den Wunsch mündet, dass Gott die Welt nicht geschaffen haben sollte,74 entspricht ganz Zimmermanns Rezept, Ruhe und Heil in sich selbst zu suchen: „Nie mit sich selbst vergnügt sucht jeder aussenher Die Ruh, die niemand ihm verschaffen kann als er“.75

Vielleicht könnte Zimmermann Haller beipflichten, wenn dieser ausruft: O selig jene Schaar, die, von der Welt verachtet, Der Dinge wahren Werth und nicht den Wahn betrachtet, Und, treu dem innren Ruf, der sie zum Heile schreckt, Sich ihre Pflicht zum Ziel von allen Thaten steckt!.76

72 73 74

75

Ebd., S. 118. Hallers Gedichte 1882, V. 63ff., S. 121. Ebd., V. 119ff. S. 123f.; „Elende Sterbliche! zur Pein erschaffene Wesen! O dass Gott aus dem Nichts zum Sein euch auserlesen! O dass der wüste Stoff einsamer Ewigkeit Noch läg im öden Schlund der alten Dunkelheit! … O dass Gott aus dem Nichts zum Sein euch auserlesen! O dass der wüste Stoff einsamer Ewigkeit Noch läg im öden Schlund der alten Dunkelheit!“ Hallers Gedichte 1882, V. 89/90 S. 122. In diesen Zusammenhang gehören die bekannten Verse, unter den Engeln habe das „sterbliche Geschlecht, Im Himmel und im Nichts, sein doppelt Bürgerrecht. Aus ungleich festem Stoff hat Gott es auserlesen, Halb zu der Ewigkeit, halb aber zum Verwesen: zweideutig Mittelding von Engeln und von Vieh, Es überlebt sich selbst, es stirbt und stirbet nie.“ V. 103ff. S. 129.

298

Auch das Unvollkommene Gedicht über die Ewigkeit von 1736, das die allegorische Naturbeschreibung zu Beginn unter das Motto „Seid mir ein Bild der Ewigkeit!“77 stellt, atmet das Verlangen nach Ruhesehnsucht angesichts des taedium vitae : Mein Eckel (sic), der sich mehrt, verstellt den Reiz des Lichts und streuet auf die Welt den Hoffnungs-losen Schatten; Ich fühle meinen Geist in jeder Zeil ermatten Und keinen Trieb, als nach der Ruh!.78

Stellvertretend für die wichtige Vorläuferfunktion der Halleschen Psychomediziner für Zimmermann sei Johann Gottlieb Krüger genannt. Das komplementäre Zusammenwirken von Literatur, Medizin und Theologie, das für Zimmermanns Heilkunstverständnis konstitutiv ist, steht im Traditionsraum der Hallenser. In Krügers 1756 erschienenem Versuch einer Experimental=Seelenlehre ist von siegesgewissem Forscherhochmut, wie ihn die Wissenschaftsmedizin des 19. Jahrhunderts kennt, die Rede nicht, aber davon, „dass wenige Menschen wissen, wie wenig man weiss, und dass man viel wissen müsse, um zu wissen, dass man nichts weiss“.79 Krügers Erkenntnisvorhaben, das Wesen der Seele zu untersuchen und die verschiedenen Erklärungsarten der Wirkung der Seele in den Leib zu beschreiben, will sich ganz an Erfahrung halten in der Absicht, Philosophie und Medizin zu verbinden: „Mein Zweck ist hierbey kein anderer gewesen, als den Philosophen, welche keine Aerzte sind, den Nutzen zu zeigen, welchen ihnen die Artzneygelahrtheit in der Seelenlehre verschaffen kann […]“.80 Krüger postuliert, was Zimmermann als philosophischer Arzt einlösen wird, indem „die Weltweisheit die Arzneygelahrtheit für ihre Schwester erkennt, die sie bisher, soll ich sagen aus Irrthum oder aus Eigensinn, für ihre Tochter gehalten hat. Alle Wissenschaften sind mit einander verwandt“.81 Krügers Schüler Unzer ist im Vergleich zu Zimmermann ein ausgeprägterer medizinischer Volksaufklärer, der diätetische Medikamente zur Förderung der Verdauung nicht zuletzt deshalb propagiert, weil er an einem verbreiteten Abführmittel finanziell beteiligt ist. In der Erklärung des Phänomens der Hypochondrie verbindet Unzer Humoralpathologie und Neurophy-

76 77

78 79 80 81

Hallers Gedichte 1882, V. 161ff., S. 139f. Hallers Gedichte 1882, V. 10, S. 150. „Ihr Wälder! wo kein Licht durch finstre Tannen strahlt; Und sich in jedem Busch die Nacht des Grabes malt; Ihr hohlen Felsen dort! wo im Gesträuch verirret; Ein trauriges Geschwärm einsamer Vögel schwirret;“ V. 1–4, S. 150. Hallers Gedichte 1882, V. 122ff. S. 154. Johann Gottlieb Krüger, Versuch einer Experimental=Seelenlehre. Halle und Helmstädt 1756. Vorrede, S. 2. Krüger 1756, Vorrede, S. 2. Krüger 1756, Einleitung, S. 22. S. 20 führt Krüger aus: „Die schwesterliche Verbindung, welche zwischen der Artzneygelahrheit und Weltweisheit ist, wird uns ein Mittel an die Hand geben, eine Experimentalseelenlehre, ohne unserer Hände mit Menschenblute zu besudeln, zu erhalten“. Auch Platner spricht in der Vorrede S. VII zu seiner Anthropologie von 1772 von der Verwandtschaft der Wissenschaften.

299

siologie. Diese eklektische Verbindung zweier Paradigmen übernimmt ebenso Zimmermann für sein therapeutisches Vorgehen. Zwar ist Zimmermann auch darin Haller-Schüler, dass er Empirie grundsätzlich über Spekulation stellt, er ist jedoch wohl trotz allem empfänglicher für Animistisches als Haller, dem ein entschieden spekulationsresistentes Verständnis von Irritabilität und Sensibilität vorliegt. Bieten die Psychomediziner aus Halle ein adaptionsfähiges Synthetisierungsvorbild für potentielle Nachfolger wie Zimmermann an, so wird er seinerseits zum Referenzautor. An Johann Friedrich Zückert (1737–1778) und Melchior Adam Weikard (1742–1803) soll die Zimmermann-Rezeption in der deutschen Spätaufklärung illustriert werden. Für Zückert ist Zimmermann der meistzitierte Autor. Im Ruhr-Kapitel seines medizinischen „Tischbuches oder Cur und Präservation der Krankheiten durch diätetische Mittel“ der Auflage von 1789 umreisst Zückert einleitend sein Gefolgschaftsverhältnis zu Zimmermann: Dieses ganze Kapitel ist gröstentheils ein Auszug aus dem vortreflichen Buche des über alles mein Lob weit erhabenen Herrn Leibmedicus Zimmermann, der von der Ruhr so viele Erfahrungen der alten Aerzte bestätiget, und so viele eigene wichtige und neue Beobachtungen mitgetheilet hat, dass ich zu meiner jetzigen Absicht keinen bessern Wegweiser finde. Ich bekenne dieses ein-für allemal; Sonst müste ich fast bey jeder Zeile den grossen Namen dieses berühmten Mannes nennen.82

Der sehr produktive und schreibselige Zückert verfügt im Vergleich zu Zimmermann über nur geringe ärztliche Praxis und über keinerlei wissenschaftliche Experimentierfahrung. Er stützt sich auf den Baumgarten-Schüler Georg Friedrich Meier und seine „Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt“ auf der Grundlage der Wolffischen Psychologie und entfaltet dabei eine beträchtliche

82

Zückerts, Johann Friederich […] medicinisches Tischbuch oder Cur und Präservation der Krankheiten durch diätetische Mittel. Neuste vermehrte Auflage. Frankenthal 1789, S. 334. In der Vorrede zu diesem Buch S. VI preist Zückert den epochalen sozialhygienischen Fortschritt. Zimmermann wird als Erster genannt: „Viele Menschen haben jezt von medicinischen Dingen richtiger, als ehemals, urtheilen gelernet, seitdem Zimmermann, Tissot, Unzer, Baldinger, ihnen ihre gemeinnützigen Schriften in die Hände gegeben haben“. In der Vorrede zur „Allgemeinen Abhandlung von den Nahrungsmitteln“ (Zweyte Auflage, mit Anmerkungen von Kurt Sprengel. Berlin 1790), S. XIf. wird Zimmermann nicht namentlich genannt, ist aber u.a. gemeint. Auch in der „physikalisch diätetischen Abhandlung von der Luft und Witterung und der davon abhangenden Gesundheit der Menschen“ ist Zimmermann zitiertes Vorbild, vgl. S. 51f. und S. 75f. („Oft belobter Herr Leibmedicus Zimmermann schreibt […] Dieser berühmte Arzt schreibt ferner […]“). In der zweiten Auflage Von den Leidenschaften (Berlin 1768) z.B. beruft sich Zückert im 38. Paragraphen über die unglückliche Liebe auf die Autorität Zimmermanns: „Ich will die Autorität eines Zimmermann nicht missbrauchen. Aber kein Arzt wird ihm widersprechen, wenn er sagt, dass der Arzt von der Liebe unter allen Leidenschaften am meisten zu hoffen hat, wenn sie befriediget wird, und am meisten zu fürchten, wenn sie den geringsten Widerspruch leidet“. S. 78. Auf der nächsten Seite wird Zimmermann bereits wieder zitiert: „Man lese Zimmermanns vortreffliches Buch von der Erfahrung in der Arzneykunst nach […]“.

300

Breitenwirkung, allerdings mit (noch) geringerer wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung als sein Vorbild, so dass er nur Spezialisten bekannt ist.83 Vom Einfluss der Leidenschaften auf Gesundheit und Krankheit und ihre diätetische Behandlung handelt seine „Medizinisch-moralische Abhandlung von den Leidenschaften“ (1764). In der Vorrede zur zweiten Auflage dieses Werks wünscht Zückert im Sinne Zimmermanns dem geneigten Leser „alle glückseeligen Vortheile der Gemüthsruhe und Mässigung seiner Affecten“.84 Der erste Satz des ersten Paragraphen seiner Abhandlung über die Leidenschaften stellt denn auch fest: „Nach dem Endzweck des grossen Urhebers der Natur ist der Mensch zur Glückseeligkeit bestimmt. Er soll und kann seinen Zustand vollkommener machen“.85 Eine der Doppelkonstitution des Menschen Rechnung tragende Nahrungsdiät, die vom Gedanken der vernünftigen Mäßigung lebt, wird gepriesen, dazu genügend Bewegung, auslebende Spannungslösung, z.B. durch Weinen, Ablenkung und Zerstreuung empfohlen, die der Erhaltung der Gesundheit dienen und damit der Beförderung menschlicher Glückseligkeit. Zimmermann zollt Zückert seinerseits in der Erfahrung in der Arzneykunst für seine „sehr schöne Abhandlung von den Leidenschaften“ Lob: „Herr Zückert, sie haben vor Gott und der Welt recht […] Einsamkeit und der Müssiggang werden nicht nur überhaupt entfernte Ursachen vieler Leidenschaften, sondern sie seyen auch vorzüglich zur Unterhaltung der eingewurzelten Affecten sehr geschikt“ (Erf II, 482), indem sie das Gemüt nachdenkend in Beschlag nehmen. Im Geiste seines Werks über die Leidenschaften sind Zückerts Schriften zur Diät der Schwangern und Sechswöchnerinnen,86 zur diätetischen Pflege von Säuglingen87 und „Von der diätetischen Erziehung der entwöhnten und erwachsenen Kinder bis in ihr mannbares Alter“88 verfasst, die im Rahmen einer Vorgeschichte der Etablierung der Gynäkologie als medizinischuniversitäre Disziplin eingehender gewürdigt zu werden verdienten, als es bisher geschehen ist und hier geschieht. Vergleicht man Zimmermann mit seinem „Verwässerer“ Zückert, so wird man die geringere schriftstellerische Brillanz des auch deutsch schreibenden89 Zückert feststellen. Beide können, im Gegensatz zu Weikard, als finanziell erfolgreiche Autoren gelten. Heck vergleicht Zückerts Stil mit jenem Zimmermanns: 83 84 85 86 87 88 89

Vgl. Heck 1962, S. 43: „Seine (sc. Zückerts) Schriften sind […] weniger wissenschaftlich als popularwissenschaftlich. Daher ist seine eigentlich wissenschaftliche Bedeutung sehr gering“. Zückert, D. Johann Friedrich, Von den Leidenschaften. Zweyte sehr vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin 1768, S. 4. Zückert, Johann Friedrich, Von den Leidenschaften. Zweyte sehr vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin 1768; S. 9. Berlin 1767. Unterricht für rechtschaffene Eltern, zur diätetischen Pflege ihrer Säuglinge. Zweyte verbesserte Auflage. Berlin 1771. Berlin 1765 mit zweiter Auflage 1771. Zückert 1768, S. 6: „Man hat bisher noch keine eigentliche medicinische Abhandlung von den Leidenschaften in teutscher Sprache geschrieben […]“. Vgl. auch Zückert 1785, Vorrede, S. XIX/XX und Zückert 1790, Vorrede, S. VII.

301

Zückert ist mehr der nüchtern-sachliche Popularisator, ihm liegt am Verbreiten der für ihn als gesichert geltenden medizinischen Wissensbestände, zum Nutzen der Öffentlichkeit, weniger am schriftstellerischen Spiel mit dem Reiz des Wortes […] Er verzichtet auch auf die häufigen Ausflüge ins Anekdotische, welche die Schriften von Zimmermann zwar verlebendigen, ihm aber leicht einen journalistischen Anstrich geben, wie Zimmermann überhaupt nicht frei ist von der Gefahr, in einen sich weltmännisch gebärdenden, flotten Feuilletonismus zu entgleiten, neben dem sich Zückert provinzlerisch ausnimmt.90

Zückert ist im eigentlichen Sinn ein sekundärer Autor, der ohne „originellen“ Anspruch auftritt, dafür gerne eine Einteilung in Paragraphen wählt, um Sachinformationen zu liefern ohne gelehrten Ballast. In der „Vorrede“ zu der Allgemeinen Abhandlung von den Nahrungsmitteln heisst es: Zu dem Ende habe ich meinen Vortrag nach der Fasslichkeit der meisten Menschen eingerichtet, Zeugnisse, Beobachtungen, und Urtheile berühmter Männer beygebracht, unumstössliche und zum Theil alltägliche Erfahrungen angeführet, und da, wo es auf Vernunftschlüsse ankam, ohne gelehrtes Gepränge doch zu überzeugen gesucht.91

Mit dieser unprätentiösen Haltung92 hängt zusammen, dass Zückert Polemik grundsätzlich meidet, keine eitle Selbstdarstellung vollführt und das Behauptete nicht durch die eigene Person beglaubigt. Er gehört demnach nicht, wie Zimmermann, zu jenen Ärzten, die sich durch Schreiben selbst heilen möchten. Im Gegensatz zu Zimmermanns ausgesprochen religiös orientierter Therapeutik kommt der heilungsbefördernden Dimension von Religion bei Zückert nur eine marginale Bedeutung zu.93 Materialistisch ausgerichtet hingegen und näher bei Hissmann94 als bei Zimmermann anzusiedeln ist der ehemalige Jesuitenschüler und spätere Illuminat Melchior Adam Weikard.95 Die Absichtserklärung des ersten Stückes seines Philosophischen Arztes von 1775 führt aus: Ich habe einige den Menschen betreffende Punkten nach philosophischen und medicinischen Gründen geprüfet, und zergliedert. Mein Hauptendzweck ist, etwas zur Geschichte der

90 91 92

93 94

95

Heck 1962, S. 57f. Zückert 1790, Vorrede, S. VIII. Zückert 1768, S. 8: „Ich habe die aus der Philosophie und Arzeneygelahrtheit entlehnten Säze kurz, doch deutlich, vorgetragen, und alle Hypothesen und tiefsinnige Speculationen vermieden, um dieses Buch allen Menschen brauchbar zu machen“. In der „Vorrede“ zur zweiten Auflage seines Medicinischen Tischbuchs von 1785, S. XX heisst es: „Ich habe alle Weitläuftigkeit vermieden, und mich der Deutlichkeit beflissen“. Am Schluss der „Vorrede“ zum Medicinischen Tischbuch (1785), S. XXIII steht der Verweis auf den „höchsten Geber alles Guten“, der den Gebrauch der empfohlenen Mittel segnen solle. Im Zimmermann-Nachlass der NLB in Hannover findet sich ein Brief (Ms XLII 1933, A II 84) vom 17.6.1784, der vermutlich von Hissmann stammt. Über die Einsamkeit wird darin gepriesen und seine Krankheitsgeschichte mitgeteilt. Vgl. S. 385ff. und die Biographie von Markwart Michler, Melchior Adam Weikart (1742– 1803) und sein Weg in den Brownianismus. Medizin zwischen Aufklärung und Romantik. Eine medizinhistorische Biographie. Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina. Leipzig 1995 (Acta historica Leopoldina 24).

302

Menschheit, zur Aufklärung des Menschenverstandes, und zur Ruhe und Zufriedenheit der Menschenherzen, beyzutragen.96

Die Verbindung von Philosophie und Medizin, die Beförderung von Aufklärung auf analytischem Wege und die therapeutische Absicht sind Programmpunkte, die Zimmermann in dieser allgemeinen Formulierung durchaus begrüßen würde. Nicht aber würde er Weikard folgen in der philosophischen Grundhaltung, die Gott als den ersten Schöpfer und Urheber aller Dinge zwar noch zulässt, im übrigen aber geistige Phänomene materialistisch erklärt.97 Auch Weikard ist auf Breitenwirkung bedacht, die ihm versagt bleibt, und bietet deshalb populärwissenschaftliche Volksmedizin à la Zückert. Von seinen Medizinischen Fragmenten und Erinnerungen sagt er in der „Vorrede“: Unterdessen geschiehet es doch vielleicht, dass diese wenigen Bogen manchem praktizirenden Arzte, und manchem forschenden Nichtarzte, eben so wichtig, als manches sehr gelehrte Werk von einigen Bänden werden können. Ich wünsche, dass mein gütiger Leser nun hier prüfen, wählen, oder verbesseren möge, so wie es ihm Fähigkeit, Grundsätze und Vorurtheile gestatten werden.98

In den Medizinischen Fragmenten und Erinnerungen finden sich Aufsätze über das „Wachsthum der Brüste“, „Von Koliken“, „Ueber Alter und Stoff der Venusseuche“, wie Weikard überhaupt in seinen Schriften eine Präferenz für Anzüglichkeiten aller Art erkennen lässt und bevorzugt Krankheitsfälle wählt, die in den Genitalbereich weisen. Darin schlägt Weikard Zimmermann nach. Stilistisch steht er höher als Zückert, und seine attraktive, farbige Prosa kann mit Zimmermann verglichen werden, der von Weikard immer wieder im Sinne von Autoritätszitaten angeführt wird.99 Weikard verwahrt sich dagegen, als „Filetstricker oder Protokollverständiger“ beurteilt zu werden, weil er ein Schriftsteller sei, der sich bemühe, Philosophie und Arzneykunst zu vereinigen.100 Er möchte philosophisch verfahren, „d. i. gründlich, unpartheyisch, rein von Schulschmutz, und vernünftig“.101 Weikards philosophische Position artikuliert sich, wie bei Zimmermann, vor allem polemisch. „Kantianismus und Veitstanz“ sind ihm „konvulsivische Krankheiten“, die, wie Jean Paul dargelegt habe, nur die jungen Leute befallen würden.102 Malebranches, Descartes’ 96 97

Der philosophische Arzt. Erstes Stück 1775, Vorrede (unpag.). Polemisch fragt Weikard z.B., nach welcher metaphysischen Strenge der sich selbst überlassene Geist bei einer Ohnmacht arbeiten würde. Der philosophische Arzt. Erstes Stück 1775, S. 84f. 98 Weikard 1791,Vorrede, S. III/IV. 99 Z.B. Der philosophische Arzt. Erstes Stück 1775, S. 90; Zweites Stück 1775, S. 112f. S. 127; Drittes Stück 1776, S. 124, S. 131, S. 187, S. 190 (mit Tissot zusammen zitiert), S. 211, S. 221; Viertes Stück 1777, S. 7f. (zitiert Zimmermanns Geniebegriff). Zweiter Band 1798, S. 296, S. 314. 100 Der philosophische Arzt. Zweites Stück 1775. Grussadresse (unpag.). 101 Der philosophische Arzt. Dritter Band 1799, Vorrede, S. IV. 102 Ebd, S.IV.

303

und Kants „metaphysische Grillen“ würden einer überspannten Einbildungskraft entspringen, werden also auf körperliche Ursachen zurückgeführt.103 Er verschont selbst seinen Referenzautor Zimmermann nicht von Polemik, dessen Schicksal er kommentiert, indem er das von Zimmermann erzählte Beispiel einer überhitzten Phantasie anführt, nämlich den Versuch Renoncinis in Dresden zu fliegen: „Zimmermanns Phantasie war von anderer schwermüthigerer Gattung; er wollte nicht fliegen, sondern verhungern“.104 Tatsächlich war Zimmermann bei seinem Tod zum Skelett abgemagert. Gewiss spielt bei diesem sarkastischen Ausfall auch Autorenneid mit.105 Nicht nur bei Goethe, auch bei Schiller sind Literatur und Heilkunde nicht getrennte Bereiche, sondern sie sind vielfach aufeinander bezogen. In seiner Monographie Die Anthropologie des jungen Schiller hat Wolfgang Riedel Zusammenhänge von medizinischer Anthropologie und Philosophie anhand der wissenschaftlichen und erzählenden Prosa Schillers der Jahre 1779 bis 1789 herausgearbeitet.106 Schiller, neben K. Ph. Moritz die „zweite grosse Schlüsselfigur für das Paradigma Anthropologie und Literatur“.107 Er propagiert in seinen KarlsschulDissertationen von 1779 und 1780 die Ideen der neuen, psychophysiologischen Anthropologie, die mit dem Namen Platner verknüpft ist. Ihre Problemstellungen finden nicht nur ihren literarischen Niederschlag im erzählerischen und dramatischen Werk Schillers der 1780er Jahre, „ihre Grundfrage nach dem Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen […] prägt noch die ästhetische Theorie der neunziger Jahre und ihre anthropologische Utopie einer Versöhnung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit“.108 Im Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780) stellt der junge Mediziner Schiller fest: „Philosophie und Arzneiwissenschaft stehen unter sich in der vollkommensten Harmonie“.109 Die Mischung von „Empirie und Spekulation, Exoterik und Esoterik“,110 auf die man bei der Rekonstruktion der wissenschaftlichen und philosophischen Diskurse stößt, in welche die Anthropologie des jungen Schiller verwebt ist, favorisiert das Geistige. Um die Erkundung einer Bestimmung des Menschen handelt es sich beim klassischen Schiller, die als Fluchtpunkt auf Ganzheit, Einheit, Totalität zielt. In Goethes Denkkosmos bilden Literatur und Medizin eine wohldurchdachte Einheit. Der körperlich gesunde, aber von Liebesleidenschaft ergriffene Sohn eines 103 104 105

Der philosophische Arzt. Zweiter Band 1798, S. 20. Ebd., S. 21. In der „Vorrede“ zum dritten Band des Philosophischen Arztes, S. V bemerkt Weikard: „Bey der ersten Ausgabe des philos. Arztes war auch nicht ein einziger Recensent in ganz Deutschland, der ihn nicht ganz verworfen hätte“. 106 Riedel 1985. 107 Riedel 1994, S. 142. 108 Riedel 1994, S. 143. 109 NA Bd. 20, Philosophische Schriften. Hg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 38. 110 Riedel 1985, Vorwort, S. VI.

304

sich nicht stufengerecht verhaltenden Vaters in der Novelle Der Mann von funfzig Jahren111 in seinem Altersroman Wilhelm Meisters Wanderjahre (1828) bekundet lautstark bei seiner nächtlichen Ankunft auf dem hell erleuchteten Schloss, Selbstmord zu begehen – ein Reflex von Goethes eigener Suizidalität. Ganz gesund wäre Flavio allerdings bald, „wenn die auf seinem Geist lastende Leidenschaft“112 gelindert würde. Die Heilfunktion des Hausarztes beschränkt sich zunächst auf Körperliches, indem er die Hand des Verzweifelten ergreift, seinen Puls fühlt und zur Ader lässt, im übrigen jedoch auf die selbstregenerierenden Heilkräfte der Natur vertraut. Flavios Heilschlaf in „heilsamster Ruhe“113 leitet seine Wiederherstellung ein. Er verlangt als Erwachter nach Schreibzeug, und es ist wesentlich die Dichtkunst, welche psychohygienisch die Genesung begünstigt. Der auktoriale Erzähler sieht sich dabei veranlasst, grundsätzlich über die Heilwirkung der Dichtkunst zu bemerken, unabhängig davon, dass auch hier in kritischer Distanznahme „eine paradoxe Verknüpfung von Inhaltsebene und Beziehungsebene“114 in Rechnung zu stellen ist: „Hier nun konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Kräfte erweisen“.115 Am Schluss der Wanderjahre, dem Fluchtpunkt der gesamten Meisterdichtung, rettet der zum Wundarzt gewordene Vater am Ende seines Bildungsganges in der Beschränkung, d.h. der Entsagung, seinen eigenen Sohn Felix und verhilft ihm zu neuem Leben. Alle Altersstufen Goethes beziehen Dichtung und Medizin im Zeichen von Humanität explizit aufeinander: „Das Humane als ein in Dichtung wie Medizin wirksamer Sinn verbindet die eine Tätigkeit, die Dichtkunst, mit der anderen, der ärztlichen Kunst“.116 Vom siebten Buch der Lehrjahre wird der soziale Sinn von Wilhelms Bildungsweg zunehmend betont, in den Wanderjahren spielen die Bünde der Binnenwanderer und der Auswanderer eine primordiale Rolle. Die Verschiebung vom Individuum zur Sozietät, wie er sich in der Meisterdichtung vollzieht, findet eine Analogie in Goethes Faustdichtung, indem zu Beginn des zweiten Teils Faust, in anmutiger Gegend „ermüdet, unruhig, schlafsuchend“,117 schließlich aus seinem Heilschlaf erwacht und nunmehr für den Menschen schlechthin steht. In der Bergschluchten-Szene artikuliert sich eine religiöse Sinn111

Vgl. dazu Henriette Herwig, Das ewig Männliche zieht uns hinab: „Wilhelm Meisters Wanderjahre“: Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie. Tübingen und Basel 1997, S. 197ff. 112 Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. HA 8, S. 206. 113 Ebd., S. 204. 114 Käser, Rudolf, Die narrative Funktion medizinischer Diskurse in Goethes Wilhelm Meister, in: R. K., Arzt, Tod und Text. Grenzen der Medizin im Spiegel deutschsprachiger Literatur. München 1998, S. 45. 115 Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. HA 8, S. 206. 116 Müller-Seidel, Walter, Dichtung und Medizin in Goethes Denken. Über Wilhelm Meister und seine Ausbildung zum Wundarzt, in: Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Geisteswissenschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Otto Pöggeler. Hg. v. Hans-Jürgen Gawoll und Christoph Jamme. München 1994, S. 125. 117 Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, HA 3, S. 146.

305

schicht im Gewand festumrissener kirchlicher Formen, der, unabhängig von einer Sinndeutung im Einzelnen, jedenfalls eine heilende Dimension zukommt, die wie eine späte Metamorphose jener Idee der reinen Menschlichkeit erscheint, die alle menschlichen Gebrechen sühnt. Das „uns“ des letzten Verses der Faustdichtung118 schließt alle Menschen ein, die endlich erlöst werden können, falls sie sich immer strebend bemühen. Angesichts von Goethes eigener physischer und psychischer Pathographie ist er als „Idealbild körperlicher und seelischer Gesundheit“ schlecht geeignet, denn er war „fast ununterbrochen von Gebresten geplagt, häufig durch schwere Krankheiten bedroht, immer wieder von Depressionen heimgesucht“,119 wovon sein Werk mittelbar, durch Verwandlung von Wirklichkeit in Literatur,120 reichlich Zeugnis ablegt. Nicht nur die Trilogie der Leidenschaft zeigt, „welch dünne Brücke über Abgründen Goethes geläuterte Altershaltung geblieben ist“.121 Goethe kennt eine Vielfalt des Heilens122 von körperlichen und seelischen Leiden. Als Grundelemente speziell seiner Psychotherapeutik nennt Frank Nager, neben der Bewältigung der Krise durch dichterische Gestaltung, sechs weitere „Arzneien“, unter anderem das therapeutische Gespräch und den Rückzug in Einsamkeit und Stille.123 Individuelles Bemühen, beseelt von entschlossener Tätigkeit, und soziale Ausrichtung rufen Erlösung herbei und ergeben erst zusammen ein Heilung und Heil verbürgendes Ganzes. Die stumme Wiederholung gegenseitiger Umarmungen am Ende von Lessings Nathan wie auch die Umarmung des bewusstlosen Felix durch seinen Vater am Schluss von Wilhelm Meisters Wanderjahre verweisen im Medium der Literatur auf einen utopischen Zusammenhang von Rettung, Versöhnung, und Heilung. Dichtkunst und Heilkunst wirken zusammen, für die einzelmenschliche Existenz wie für das ganze, zu erziehende Menschengeschlecht, um sich einem

118 119

Ebd., S. 364. V. 12111. Nager, Frank, Gesundheit, Krankheit, Heilung, Tod bei Goethe, in: Gesundheit, Krankheit, Heilung, Tod. Betrachtungen eines Arztes. Akademie 91 Zentralschweiz. Luzern 1997, S. 108. Vgl. zum gesamtem Problemkomplex: Frank Nager, Der heilkundige Dichter. Goethe und die Medizin. Düsseldorf und Zürich 1999. 120 Vgl. dazu die berühmte Stelle im siebten Buch von Dichtung und Wahrheit, die an Zimmermann denken lässt: „Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschliessen […] Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf. Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer grossen Konfession […]“. HA 9, S. 283. 121 Borchmeyer, Dieter, Goethes Annäherung an die Romantik. Das Spätwerk. Summe des Schaffens: Faust, in: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart I/2. Hg. v. Viktor Zmegac. Königstein/Ts. 1978, S. 194. 122 Vgl. Nager, Frank, Von der Vielfalt des Heilens, in: Schweizerische Ärztezeitung 80 (1999), Nr. 49, S. 2876–2880. 123 Nager nennt ferner Seelenbefreiung durch Selbstbeherrschung und Entsagung; Gehorsam gegenüber dem inneren Lebensplan; die Heilkraft „liebevoller, treuer Herzen“; die Heilwirkung der Kunst, der bildenden, vor allem der Dichtung und der Musik. Nager 1997, S. 117.

306

Humanitätsideal anzunähern, das sich maßgeblich auch naturwissenschaftlicher Betätigung verdankt. Freidrich August Carus (1770–1807) hat eine Vielzahl von Einzelfalldarstellungen in Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793) veröffentlicht. In Carus’ Geschichte der Psychologie, die Psychologie auffasst als eine „gegen metaphysische Spekulationen und Reduktionismen gerichtete, auf Erfahrung als Ausgangskategorie und daraus abzuleitende Kräfte setzende eigenständige Wissenschaft“,124 ist auch Zimmermann ein Abschnitt vorbehalten. Carus sieht ihn, „von Rousseau’s Geist genährt“, als „philosophischen Empiriker“, dessen Buch Über die Einsamkeit „voll heller Blicke“ sei bei „interessanter Darstellung“.125 Ein wenig religiöser Nachfolger Zimmermanns ist Karl Philipp Moritz, nach August Langen „weit entfernt, ein gläubiger ‚Erweckter‘ zu sein, nur noch Historiker der quietistischen Bewegung, aus der seine Kindheit erwachsen ist“.126 Dieser Distanzierung verdankt K. Ph. Moritz letzlich seine Autorschaft.127 Auf das Verhältnis Zimmermann-Moritz kann in diesem Kontext mehr hingedeutet werden, als dieses auszuführen ist. K. Ph. Moritz hat anonym Über die Einsamkeit rezensiert, das seine eigene Schwärmerkritik beeinflusst hat.128 Zimmermann und K. Ph. Moritz konvergieren in der therapeutischen Intention: „Im sprachpsychologischen Sektor zeigt sich das pädagogisch-therapeutische Anliegen primär in der Berücksichtigung der Taubstummen-Problematik, die im Magazin ebenso theoretischdiagnostisch wie auch praktisch-therapeutisch gewürdigt wird“.129 K. Ph. Moritz erklärt über die Absicht des „Magazins“ im achten Band: „Es soll die Geschichte von den Krankheiten der Seele aufbewahren, und die Leiden der Unglücklichen

124

Jeschonnek, Rolf in der Einleitung zu Friedrich August Carus, Geschichte der Psychologie. Reprint der Ausgabe Leipzig 1808. Berlin u.a. 1990, S. 27. 125 Ebd., S. 654f. 126 Langen, August, Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Tübingen 1954, S. 465. Langen bemerkt weiter: „Nicht mehr Pietist, sondern innerlich unbeteiligter, völlig objektiver Geschichtsschreiber des Sektenwesens“ (S. 465). 127 Müller, Lothar, Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis: Karl Philipp Moritz’ „Anton Reiser“. Frankfurt/M. 1987, S. 14: „Er verdankt ihr (sc. der Aufklärung aus Not und Notwehr) den produktiven Distanzgewinn gegenüber den Mächten, die seine Kindheit zur Krankengeschichte werden liessen, und damit seine Existenz als Autor“. 128 Königl. privilegirte Berlinische Staats= und gelehrte Zeitung. 99. Stück. Dienstag, den 17. August 1784, S. 773. Susanne Knoche identifizierte K. Ph. Moritz als Autor: Susanne Knoche, Der Publizist Karl Philipp Moritz. Eine intertextuelle Studie über die Vossische Zeitung und die Denkwürdigkeiten. Frankfurt/M. u.a. 1999 (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur; 52), S. 256ff.; S. 367ff. 129 von Rahden, Wolfert, Sprachpsychonauten. Einige nicht-institutionelle Aspekte der Entstehung einer „Sprachbetrachtung in psychologischer Rücksicht“ im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts am Beispiel der Diskurskonkurrenz zwischen Immanuel Kant und Karl Philipp Moritz, in: Klaus D. Dutz (Hg.), Sprachwissenschaft im 18. Jahrhundert. Fallstudien und Überblicke. Münster 1993, S. 132.

307

sollen den Arzt der Seele anspornen, der Quelle der Heilmittel nachzuspähen“.130 „Anton Reiser“ und das „Magazin für Erfahrungsseelenkunde“ stehen in anthropologischem Zusammenhang mit Zimmermanns Werk, auf dessen Von der Erfahrung in der Arzneykunst sich K. Ph. Moritz stützen konnte.131 Beide verknüpfen phylo- und ontogenetische Gesichtspunkte; die Krankengeschichte des „Anton Reiser“ kann gelesen werden als „zugleich individuellen und historisch-exemplarischen Fall.“132 Sie divergieren tendenziell darin, dass Zimmermann Selbst- und Fremdbeobachtung miteinander verbindet, während K. Ph. Moritz „Spezialist für Selbstbeobachtung“133 ist und der „Anton Reiser“ ein „Selbsterkenntnisprojekt“.134 K. Ph. Moritz liefert Krankheitsgeschichten eines konkreten Individuums, um „die einzelnen Stadien festzuhalten und in therapeutischer Absicht nach Gründen zu suchen, die den fatalen Prozess vorantreiben oder retardieren“.135 Wenn es zutrifft, dass im Werk von K. Ph. Moritz „noch einmal das Vertrauen in die grosse Konzeption, aber auch bereits die Darstellung ihrer Aporien und ihren Ruin“ gefunden werden kann, so trifft diese Aussage auch für Zimmermann zu, allerdings ohne „Darstellung des Ruins“, da der Herzensfreund Lavaters unbeirrbar an gelebter Religiosität festhält, es sei denn, man fasst den Marasmus am Ende seines Lebens als Ruin auf. Anthropologische Essayistik In der zweiten, nicht mehr anonymen Auflage Von dem Nationalstolze von 1760 berichtet Zimmermann, dass ihm im ersten Stück des vierten Bandes der „Bibliothek der schönen Wissenschaften und Künste“ Rezensenten attestiert hätten, dass er „in der deutschen Sprache auf den Wegen die Mylord Schaftesbury, Mylord Boelingbroke, und der Präsident von Montesquieu gegangen“ sei und ein Werk vorgelegt habe, das „Politik, die Sittenlehre und die schönen Wissenschaften“ vereine. Er fährt fort: Sie glauben die Deutschen haben nicht eine einzige Schrift von dieser Gattung. Sie sagen ihre Weltweisen schränken sich in dem engen Bezirk der Ideen ein, die sie zwischen den Mauern der Universität, ohne einen Blick auf die grosse Welt zu thun, erschöpfen können, und ihre Publicisten seyen weder Philosophen, noch schöne Geister.136

130

Moritz, K. Ph., Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde hg. v. K. Ph. Moritz,. Berlin 1783–1793, Bd. 8, S. 9. 131 Vgl. Bezold, Raimund, Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg 1984 (Epistemata 14), S. 133. 132 Lothar Müller 1987, S. 12. 133 Ebd., S. 12. 134 Ebd., S. 9. 135 Bezold 1984, S. 176f. 136 Von dem Nationalstolze. Zweite durchaus verbesserte Auflage. Zürich 1760. Vorrede, S. V.

308

Zimmermanns Einsamkeitswerk selbst stellt jedoch ein Gattungsbeispiel einer derart charakterisierten Schrift dar. Es handelt sich um deutschsprachige anthropologische Essayistik, die der Popularphilosophie nahesteht, ja um ein Anfangskapitel deutscher Essayistik überhaupt. Zimmermanns Schriften sind damit beteiligt an der Entstehung und Hebung der deutschen Schriftkultur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die im europäischen Vergleich zunehmend an Terrain gewinnt. Sie stehen zugleich bewusstseinsgeschichtlich im Traditionsraum der Halleschen Psychomediziner. An deren „Erprobung der Anthropologie im Essay“,137 die Voraussetzungen für eine „unorthodoxe und die Disziplinengrenzen auflösende Beschäftigung mit dem Menschen“138 schafft, knüpft Zimmermanns essayistische Prosa in produktiver Weiterentwicklung an. Mit Jutta Heinz’ Aufsatz „ ,Gedanken‘ über Gott und die Welt. Die Erprobung der Anthropologie im Essay bei Meier, Krüger und Nicolai“ lassen sich vier Charakteristika anthropologischer Essayistik angeben, die auch Zimmermanns Schriften insgesamt kennzeichnen. 1.) Zunächst ist zu bemerken, dass Zimmermann Deutsch und nicht Lateinisch schreibt. Der junge Brugger Arzt in schweizerischer Provinzialität beginnt als Autor angesichts eines Zustands der deutschen Sprache „n’etant point formée encore“.139 Er hat, ausser seiner Dissertation, nichts Wesentliches mehr in lateinischer Sprache veröffentlicht, wobei eitle Ruhmsucht für seine literarische Tätigkeit ein mächtiger Beweggrund ist. Eine Briefstelle spricht diesen Sachverhalt unverblümt aus: „Wäre ich in Brugg nicht verachtet und verfolget gewesen, so hätte ich niemals Bücher geschrieben; hätte ich niemals Bücher geschrieben, so wäre ich ganz gewiss niemals zu der grossen Charge gelanget, die ich jetzt habe“.140 Platner sieht sich in der „Vorrede“ seiner Anthropologie von 1772 veranlasst, eingehender zu begründen, warum er sich nicht des Lateinischen bediene, wie er „vielleicht sollte“. Er hält jedoch das Deutsche für angemessener, weil es eine breitere Leserschaft zu erreichen vermag.141 Aus demselben Grund ist wohl das Werk Von der Erfahrung in der Arzneykunst eines der „ersten in deutscher Sprache erschienenen medizinischen Werke überhaupt“.142 2.) „Es ist meine Manier, in jeder Absicht, frey zu schreiben“ (I, XVI),143 verkündet Zimmermann als Generalmaxime seiner Schreibprozesse, und vielgestaltig befreiende Grenzüberschreitungen kennzeichnen seine Schriften über weiteste Strecken: „Die Befreiung im Denken, die Unabhängigkeitserklärung vom 137

Heinz, Jutta,‚Gedanken‘ über Gott und die Welt. Die Erprobung der Anthropologie im Essay bei Meier, Krüger und Nicolai, in: Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Hg. v. Carsten Zelle. Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 19), S. 141–155. 138 Ebd., S. 155. 139 Hamel 1881, S. 21. 140 Rengger 1830, S. 126. 141 Platner 1772, Vorrede, S. XXVff. 142 Mit Skalpell und Federkiel 1995, S. 118f. 143 Vgl. 6.3.3.: „Es ist meine Manier, in jeder Absicht, frey zu schreiben“.

309

Methodenzwang, der Blick über die fachlichen Grenzen hinaus – all dies geht einher mit der Befreiung im Schreiben selbst“.144 Das delectare aut prodesse, das wuchernd Parabantische und Ironisch-Sarkastische, eine tendenziell „anti-metaphysische und anti-spekulative“145 Grundhaltung, das Wandern „auf assoziativwitzigem Wege“ und das Aussprechen origineller Gedanken „in sprachlich beinahe gesprächshafter Weise“,146 direkte Leseransprachen und das Bestreben, das Geschriebene als Teil des eigenen Körpers aufzufassen gemäß der wichtigen Stelle im zehnten Kapitel des dritten Teils: „Mir scheint es eben so erlaubt, den Zustand seiner Seele öffentlich zu zergliedern, und Beobachtungen über sich selbst andern zum Besten anzustellen, als es erlaubt ist, andern zum Besten seinen Leichnam einem öffentlichen Lehrer der Anatomie zu vermachen“ (III, 423): alle diese Charakteristika, die eine Öffnung zum Lesepublikum hin anzeigen, verbinden Meier, Krüger, Nicolai etc. mit Zimmermann. 3.) Hallesche Psychomediziner und Zimmermann stimmen überein in einem didaktisch-therapeutischen Impetus, das auf das alltägliche Leben zielt, auf „praktische Anleitung und Lebenshilfe“,147 auf „konkrete Lebenshilfeschriften für vielfache Krisensituationen des menschlichen Lebens“.148 Verbindlich ist die Denkform der mesotes, die Extreme meidet und einen Gesundheit verheißenden Mittelweg propagiert.149 4.) Die Beziehung von Moralistik und Anthropologie. Der bilinguale Zimmermann rezipiert mit dem Einsamkeits-Werk und den übrigen Schriften für den deutschen Sprachraum eine bisher wenig vertretene literarische Form: die französische Moralistik, die letztlich auf Montaignes Les essais (1558) zurückgeht.150 Zimmermann bindet sich in loser Form an die Tradition französischer Moralistik der Montaigne, Le Charron („De la sagesse“), La Rochefoucauld („Maximes“), La Bruyère („Les caractères ou les moeurs de ce siècle“, 1688), De la Chambre („Les caractères des passions“).151 Vorbildfunktion kommt auch Montesquieus „Pensées“ zu, die Lebenskunst mit dem Ziel leib-seelischer Harmonie zu vermitteln suchen. Bei den französischen Moralisten wie bei Zimmermann geht es um praktische Lebenskunde, im Sprachgebrauch Kants um „pragmatische Anthropologie“. Stilis144

Heinz 2001, S. 155. Im Zeichen dieser Befreiung werde „eine kontroverse Diskussion“ auch heikler Themen „überhaupt erst möglich“ (ebd., S. 147). 145 Heinz 2001, S. 148. 146 Ebd., S. 154. 147 Mauser 2000, Einleitung, S. 7. In seinem Aufsatz „Anakreon als Therapie? Zur medizinischdiätetischen Begründung der Rokokodichtung“, in: Mauser 2000, S. 312, spricht Mauser von einer Interessenverlagerung „von einer schulphilosophisch-konzeptuellen zu einer lebenspraktisch-diätetischen Orientierung“. 148 Ebd., S. 149. 149 Heinz 2001, S. 151 spricht von einem „medizinisch-diätetischen Konzept der Mässigung, des goldenen Mittelwegs“. 150 Bacons Essays erschienen 1597. 151 Vgl. Encyclopedia of the Essay. Hg. v. Tracy Chevalier. London u. Chicago 1997, French Essay: S. 294ff.

310

tisch steht Zimmermann übrigens Voltaire näher als Rousseau,152 obwohl er diese Einschätzung wohl abgestritten hätte, weil er dem citoyen de Genève auch sprachlich, bewusst und unbewusst, imitierend verpflichtet bleibt.153 Zimmermann schulte sich stilistisch neben den französischen Mustern auch an englischen Vorbildern, vor allem an Shakespeare, Pope und Young.154 Seine Korrespondenz wird, im Gegensatz zu seinem in deutscher Sprache abgefassten schriftstellerischen Werk, in weiten Teilen Französisch geführt. Auf die mangelnde Wertschätzung der Deutschen gegen ihre Dichter reagiert er mit Polemik: „Deutschland lässt seine grössten Dichter, in Adlergestalt, geruhig aus ihrem Kämmerlein zur Sonne fliegen, und von der Sonne wieder herab in ihr Kämmerlein. Hasen laufen, Puterhahnen kullern, Eulen lauschen, und Gänse schnattern, etwa indess im Thale; mehr thut die deutsche Nation nicht“ (IV, 211f.). Den Franzosen hält er in polemischer Absicht das Beispiel Beat von Muralts entgegen: Herr von Muralt, ein Edelmann aus meinem Vaterlande Bern, der Verfasser jener einst so berühmten Briefe sur les Anglois, sur les Français, et sur les Voyages; der Einzige Schweitzer von dem die Deutschen glaubten, als sie unsern grossen Haller noch nicht kannten, Er sey der Verfasser von Hallers zuerst ohne den Namen ihres wahren Verfassers herausgekommenen Schweitzerischen Gedichten; Er, der in jenen Zeiten, da man in Frankreich noch immer wähnte, ein Schweitzer und ein Vieh seyen einerley, den Franzosen zuerst die Leerheit ihrer Schöngeisterey aufdeckte, ihnen zuerst bewies, ihr hochgelobter Boileau sey nur ein sehr mittelmässiger Dichter (IV, 389).155

Diese überkompensierende Polemik gegen die Franzosen ist die launenhafte Kehrseite eines moralischen Anspruchs, das er in einem Brief an Tscharner formuliert: „Il n’y a point de morale Sans Satire“.156 Tatsächliche und imaginierte Spaziergänge spielen nicht nur bei Zimmermanns Natur- und Landschaftsdarstellungen157 eine zentrale Rolle, die auf anthropologisch 152

Bouvier 1925, S. 167 bemerkt dazu: “Le médecin de Brugg rappelle Voltaire […] comme à d’autres, avec moins d’esprit et plus de grossièreté“. 153 Vgl. den Brief an Haller vom 15. Juli 1762 über Rousseaus Emile: “N’êtes-vous pas faché que par les cabales de Voltaire portées jusqu’à Berne, un homme qui vaut mieux que mille Voltaires ait été proscrit par notre gouvernement? Le vertueux Rousseau chassé du canton de Berne comme ennemi de la Religion par M.Arouet de Voltaire – voilà un trait de notre histoire qui ne s’oubliera pas, qui ne sera pas perdu, mais qui dans les siecles suivants ne sera pas cru“. Ischer 1910, S. 183f. 154 Im Brief vom 30. Mai 1761 an Hirzel bekennt Zimmermann: „Wenn meine Schreibart jemals erträglich wird, so habe ich es keiner Grammatik, keiner Orthographie, keinen Regeln, auch keinem deutschen Schriftsteller, sondern dem fleissigen Lesen der besten Köpfe unter den Engländern und den Franzosen zu danken“. ZZH, FA Hirzel, 238, 47. 155 In den Unterredungen (1788, S. 184) sucht Zimmermann nachdenklich nach den Gründen für die ausgeprägte Frankophilie Friedrichs II.: „Warum achtete Er gar nicht auf jenes helle Sonnenlicht, das seit 1740, über ganz Deutschland, durch Gottsched und ein Dutzend Magister in Leipzig aufgieng?“. Zimmermann gibt als Begründung mangelnde Beschlagenheit des Königs in deutscher Sprache und Literatur an, die ihm Zurückhaltung empfohlen habe. 156 Hamel 1881, S. 28. 157 Vgl. 7: „Einsame Natur und Landschaft als therapeutische Erfahrungsräume“, beso. „Ubiquitäres Arkadien“.

311

Essayistisches verweist. Die Reise-Metaphorik wird kenntlich als eine Metaphorik des idealen, d.h. vom essayistischen Text her intendierten Lesens. Die Erkundung des inneren Ozeans der Psyche in seiner ganzen Ausdehnung bei Karl Philipp Moritz vergleicht Wolfert von Rahden mit einem Reisebericht des „Sprachpsychonauten“, was mutatis mutandis auch für Zimmermann gilt: „Man kann diese Vorstösse und Expeditionen ins unbekannte Selbst lesen als Reiseberichte durch die innere seelische Landschaft“.158

10.2 Medizinhistorische Aspekte und wissenschaftsgeschichtliche Bezüge „Die Natur wird in der Natur langsam gesucht am geschwindesten gefunden“. Von der Erfahrung in der Arzneykunst. I. Theil. III. Buch, III. Capitel. Zürich, bey Heidegger und Compagnie. 1763, S. 208.159

10.2.1 Zimmermann im Bezugsfeld konkurrierender zeitgenössischer Medizinkonzepte In Zimmermanns medizinischer Gedankenwelt findet sich epochentypisch eine eklektizistische Vermengung verschiedener Systeme ohne erkennbare eigene Systematik gemäß Goethes Wort: „Die Natur hat kein System; sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum, zu einer nicht erkennbaren Grenze. Naturbetrachtung ist daher endlos, man mag ins Einzelnste teilend verfahren oder im Ganzen nach Breite und Höhe die Spur verfolgen“.160 Generell sucht man vergebens nach tragfähig, klar und eindeutig definierten Begriffen. Zwei Diskurse vor anderen sind es, aus denen Zimmermann schöpft. Zum einen die Humoralpathologie in der Tradition Galens161 und zum anderen die auf der Irritabilitätslehre basierende Neurophysiologie resp. Neuropathologie.

158 159

Von Rahden 1993, S. 127. Vgl. Erf. I, 185: „Man soll die Natur nicht anders erklären als durch die Natur“. Krüger 1745, S. 6 empfiehlt: „Man sollte fein Schritt vor Schritt von einem Schlusse zu den andern fortgehen und bedencken, dass es besser sey die Wahrheit langsam als niemals zu erreichen“. 160 Goethe, Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe. Schriften zur Naturwissenschaft. Erster Teil. Bd. 39, S. 342f. 161 „In der Unterteilung der Ursachen in nächste und entfernte, und der letzteren in vorhergehende und gelegentliche übernimmt Zimmermann beispielsweise das Ursachenkonzept der galenistischen Humoralpathologie, die nebst der nächsten causa continens unter den entfernten Ursachen die inneren vorhergehenden res naturales und die […] äusseren gelegentlichen sechs res non naturales unterscheidet“. Gurtner 1998, S. 73f. Zu den traditionell sechs res non naturales nimmt Zimmermann als siebte „allzugrosse Anstrengungen des Geistes“ hinzu.

312

Die Humoralpathologie verliert in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwar an Bedeutung und wird u.a. durch die Experimentalphysiologie ersetzt, die „Nervenbahnen an die Stelle der Körpersäfte“162 setzt, aber bei Zimmermann behauptet die antike Säftetheorie ihre Existenzberechtigung, mit und neben der Neuropathologie und allenfalls gegen sie. Beide Pathologien verbindet eine Wesensverwandtschaft, weil sie beide psychosomatisch ausgerichtet sind. Beim „commercium mentis et corporis“ im Verständnis Zimmermanns, auf das unten näher einzugehen sein wird, schließen sich somatische und psychische Therapien, unabhängig von den Differenzen der beiden Hauptdiskurse, nicht aus, sondern sie ergänzen sich vielmehr in der Praxis.163 Vielleicht gewinnt man über Zimmermanns Polemik eine Annäherung an seinen medizinhistorischen Ort. Ganz offensichtlich braucht Zimmermann prinzipiell Polemik, um seine eigene Position zu artikulieren. Seine das ganze Werk durchziehende Polemikaffinität ist einerseits ständische Abgrenzungspolemik des akademisch ausgebildeten promovierten Arztes gegen „Practici“, Barbiere und Wundärzte, die sich im 18. Jahrhundert herausbilden und die Chirurgie aus einem Handwerk in eine experimentelle Wissenschaft umwandeln.164 Andererseits entspringt sie seinem Wissenschaftsverständnis, das maßgeblich von Empirie (und Sozialhygiene) getragen wird und damit notgedrungen heilkundigen Barbieren und Wundärzten ins Gehege kommt. Gemäß der Besprechung der Einsamkeitsschrift im Teutschen Merkur vom August 1784 hat Zimmermann seine Grundintention auch eingelöst, sich an beobachtungsgegründete Tatsachen, die Wahrheit verbürgen, zu halten. Der auf Erfahrung Verpflichtete habe es nicht mehr nötig, wird dort ausgeführt, sich auf Theorien abstützen zu müssen, die ein Philosoph auf seiner Studierstube entwerfe, ohne damit die Kenntnis des wirklichen Menschen zu vergrössern, wohingegen Zimmermann „aus Thatsachen“ darlege, „was er (sc. der Mensch) wirklich“165 sei. In seiner Zeit als Stadtphysikus von Brugg wurde Zimmermann bezichtigt, Giftmischer zu sein und ein Kleinkind lebendig seziert zu haben (Erf. II, 87ff.). Auch war er der Verleumdung ausgesetzt, dass eine von ihm behandelte Bruggerin nach ihrem Tod ihrer besten Freundin erschienen sei, um sie nachhaltig vor Zimmermanns todbringenden Arzneien zu warnen.166 Vielleicht sind es derartige Alltagserfahrungen eines in Göttingen ausgebildeten Arztes in der Bernischen Provinzialität, die seine drastische Polemik aus dem Geist von Beobachtung und Erfahrung nähren. Das siebte Kapitel der Schrift Von der Ruhr unter dem Volke im Jahr 1765, „Wirkungen der zusammenziehenden und stopfenden

162 163 164 165

Schneider 1987, S. 24. Vgl. unten 12.1.2. „Zentrale Begriffe von Zimmermanns Therapieverständnis“, S. 380ff. Ackerknecht 1986, S. 117. Der Teutsche Merkur vom Jahre 1784. Drittes Vierteljahr. Weimar 1784. Anzeiger des Teutschen Merkur. August 1784, S. CXIV. 166 Vgl. C. F. Meyer 1881, S. 199.

313

Arzneyen, der Gewürze, des Brandtweins, und des Weines“, beruft sich in der bilanzierenden Schlussfolgerung auf „Beobachtungen und Erfahrungen“: Aus diesem Haufen von Beobachtungen und Erfahrungen erhellet, dass die zusammenziehenden und stopfenden Arzneyen, die Gewürze, der Brandtwein, und der Wein, in unserer Ruhr höchst schädlich, und immer höchst gefährlich waren; und dass es sich doch vielleicht der Mühe verlohnte, auf der Wage der Menschlichkeit jenen politischen Grundsaz zu prüfen: Wo kein Kläger ist, da ist kein Richter?167

Zimmermann übernimmt die Rolle von Kläger und Richter. Der Inhalt der RuhrSchrift orientiert sich an den Leitbegriffen Beobachtung – Beschreibung der Krankheit (zweites Kapitel) – Erklärung der Krankheit (drittes Kapitel) – Heilmethoden, die auch Prävention und Vorurteilsbekämpfung umfassen. Das sechste Kapitel, Erfolge anderweitiger Mittel (sc. als die in den vorangehenden Kapiteln besprochenen), beginnt mit einer Grundsatzerklärung, welche die Verfahrensweise des ganzen Traktats kennzeichnet: „Man muss vieles versuchen, alles beobachten, und alles vergleichen, wenn man in der Naturkenntnis nicht ganz unerfahren seyn, und auch zuweilen aus seinen Beobachtungen Folgerungen ziehen will, die allgemein nüzlich und in der Ferne treffend seyn können“.168 Die Polemik gegen Obereit, gegen Practici, Chirurgen und Scharlatane, gegen Schwärmerei, für die er selbst nicht wenig anfällig ist, gegen Mesmerismus und Aberglauben169 wird, zumindest vordergründig bei der Sichtung des vorhandenen Quellenmaterials, kompromisslos geführt. Eine Stelle in der Erfahrung lautet gar: „Die Stimme des Pöbels ist nicht die Stimme Gottes, sondern des Teufels“ (Erf. II, 87). Grösste Abwertung bedeutet es für Zimmermann, „in die Classe der Herren Barbiersgesellen“170 zu gehören. Dem „abergläubischen Wahn“171 gegenüber, der kritischer Vernunft, die sich wesentlich auf Beobachtung und Erfahrung abstützt, nicht standhält, kennt Zimmermann keine Nachsicht. Er klagt, dass in ländlichen Schweizer Gebieten „Erkenntnis und Unwissenheit noch immer in trüben Wolken kämpfen“ und der „Glauben an Hexereyen und Hexen so gross als in Lappland, und Croatien“172 sei, ist aber keinesfalls gewillt, diesen himmelschreienden Missstand hinzunehmen. Im Zusammenhang mit dieser missionarisch geführten sozialhygienischen Aufklärung beschreibt er sein eigenes Vorgehen: „Man hebt die Fenster aus, man dekt die Dächer ab, den grünen Esel zu sehen“ (Erf. I, 38). Als 167 168 169

Ruhr 1767, S. 186. Ruhr 1767, S. 107. Erf. II, 90f. : „Die Philosophie allein heilt den Aberglauben. Wo keine Philosophie ist da spukt es, da sind Hexen, da sind Gespenster, da sind Kobolde, da herrscht allenthalben der Teufel, da ist Aberglaube“. 170 Banholzer 1997, S. 94. 171 Ruhr 1767, S. 211. 172 Ruhr 1767, S. 241. An anderer Stelle berichtet er von einer abergläubischen Behandlungsmethode, die unweigerlich in den Tod führte, indem einer an der Ruhr erkrankten Patientin zwei lebendig aufgeschnittene Hennen auf Kopf und Fusssohlen gebunden wurden. „Indess Erfolgte um den Mittag ein Irrereden, bald darauf eine kurze Schlafsucht und der Tod“ (S. 184).

314

sich das Gerücht, in Zürich sei die Pest ausgebrochen, als unwahr herausstellt, schreibt Zimmermann erleichtert an Hirzel, dass ihm der „dumme Schwabenpöbel und Gassner’s Teufelshistoria“173 im Sinn gewesen seien. Mit übergestülpter Narrenkappe erzählt ein Dummkopf in der Abhandlung Über die Dummheit, wie ein anderer Narr namens Kirchhoff vom Barbier zum Doktor der Medizin avancieren will: Was kann der Fleiss des Menschen nicht, wenn es ihm rechter Ernst ist? Mit Hülfe dessen, was er erschoren hatte, und mit Pfuschern bey denen zu verdienete, die der hämische Amor mit vergifteten Pfeilen angeschossen, brachte sich unser Herr Kirchhoff glücklich durch, ohne seinem Vater viel mehr als die Promotionskosten abzupressen.174

Die fünf Hauptstücke des „medicinischen Catechismus“ beherrscht er, nämlich „Purganz, Klystir, Aderlass, Vomitiv und Blasenpflaster“, und dem übrigen hoffte er durch die Recepte, welche in seiner Familie vom Vater auf den Sohn vererbt, und in Tonnen verwahrlich aufbehalten wurden, gar füglich abzuhelfen. Ist jetzo ein nahmhafter Prakticus in einer ansehnlichen Stadt, wo er mit den Geistlichen und den Todtengräbern in dem besten Vernehmen steht.175

Zimmermann vermittelt die gegen Cagliostro gerichtete Schrift Mein Journal Elisa von der Reckes an Nicolai und informiert Katharina II. brieflich darüber.176 Mit unverhohlener Schadenfreude über die „Beschämung der Schwärmerey und des Aberglaubens“177 nimmt er die von der Zarin eigenhändig verfassten Drey Lustspiele wider Schwärmerey und Aberglauben, Der Betrüger – gemeint ist Cagliostro –, Der Verblendete, Der sibirische Schaman, als Geschenk entgegen.178 Im VIII. „Versuch“, Von dem Zustande der Chirurgie und Musik bey der Russischen Armee, tadelt Zimmermann jene Rekrutierungsmethode für russische „Compagniechirurgi“,179 nach welcher diese willkürlich aus den Reihen der Rekruten bestimmt werden; die nicht vorhandene Befähigung wird den Gezwungenen notfalls eingeprügelt. Magnetismus, „bei dem freilich alles auf eine Lumperey herauskommen möchte“,180 stösst bei Zimmermann auf uneingeschränkte Gegnerschaft. Es gibt keinen Quellenbeleg, der für eine gegenteilige Einschätzung anzuführen wäre. Zimmermanns Polemik richtet sich gegen den tierischen Magnetismus und wird 173 174 175 176

Brief Zimmermanns an Hirzel vom 9. Januar 1778. ZZH, FA Hirzel 240, 17. Zerstreute Blätter 1799, S. 323f. Zerstreute Blätter vermischten Inhalts 1799, S. 324f. Elisa von der Recke. Mein Journal. Elisas neu aufgefundene Tagebücher aus den Jahren 1791 und 1793/95. Hg. v. J. Werner. Leipzig 1927. 177 Unterredungen 1788, S. 65. 178 Röhling 1978, S. 368ff. 179 Versuch 1779, S. 25. 180Schramm 1998, S. 64. Vgl. in diesem Zusammenhang: Anneliese Ego, „Animalischer Magnetismus“ oder „Aufklärung“. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zum Konflikt um ein Heilkonzept im 18. Jahrhundert. Würzburg 1991 (Epistemata: Reihe Literaurwissenschaft Bd. 68).

315

dafür von den Herausgebern der Berlinischen Monatsschrift ausdrücklich gelobt: „Es ist wahrlich edel und dankenswerth, dass Aerzte, wie Zimmermann, Baldinger, Marcard sich laut und stark gegen das magnetische Unwesen erklären, und es ist zu wünschen, dass mehrere berühmte Aerzte ein gleiches thun mögen, um diesen Wunderkuren, ehe sie epidemisch werden, Einhalt zu thun“.181 Zimmermann selbst formuliert folgendermassen: Mir ekelt vor dem ganzen magnetischen Wesen. Alles Unerwiesene in der ausübenden Arzneiwissenschaft muss man freilich untersuchen, wenn es auch nur einiges Ansehen hat, dass es gut sein könnte, und in Fällen vielleicht hülfe, wo sonst nicht zu helfen ist. Aber wenn dies nicht mit Ruhe der Seele und mit kaltem Blute geschehen kann, wenn Aberglauben und Schwärmerei, wenn jede verführerische oder gehässige Leidenschaft sich in die Untersuchung mischen; dann bleibe ich davon weg.182

Die Grenzen zwischen akademischem Mediziner, Physikus und „Scharlatan“ sind im 18. Jahrhundert allerdings fliessend, und auch gegen Scharlatane polemisierende akademisch gebildete Ärzte übernehmen teilweise deren Argumente und Praktiken – Zimmermann nicht ausgenommen. Trotz neuartiger diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten war im 18. Jahrhundert für den praktischen Arzt „die Verwirrung durch spekulative, teilweise unwissenschaftliche Strömungen in der Medizin noch so verbreitet, dass er in der Praxis Eklektiker und rationeller Empiriker sein musste“.183 Man muss sich auch vor Augen halten, „wie weit entfernt die Wissenschaft von ihrer technischen Umsetzung, wie gering ihre praktische Bedeutung war“,184 was in der zweiten Jahrhunderthälfte auch für die pathologische Anatomie im Hinblick auf die Klinik und ihre Krankheitskonzepte gilt.185 Zimmermanns Verhältnis zum nicht universitär ausgebildeten Landchirurgen Micheli Schüppach ist deshalb keineswegs mit der rabiaten Ablehnung Obereits zu vergleichen, eher ironisierend und nicht ohne Sympathie, weil vielleicht Schüppach keine Einsamkeitslehre verficht. Iselin gegenüber äußert Zimmermann: „Dem Michel Schüppach pisse ich zuverlässig in Sein Glas. In Rom will ich nicht gewesen seyn, ohne den Pabst gesehen zu haben“.186 Im April 1775 schreibt er an denselben Adressaten: „Ein gantz guter Kerl ist freilich Michel, und ich zweifle nicht, dass er auch manche schwer zu heilende Krankheit, unter so vielen Zauber-

181

Berlinische Monatsschrift. Hg. v. F. Gedike u. J. E. Biester. 10. Bd. Julius bis December 1787, S. 77. 182 Berlinische Monatsschrift. Hg. v. F. Gedike u. J. E. Biester. 10 Bd. Julius bis December 1787, S. 78. 183 Schneck, Peter, Geschichte der Medizin systematisch. Bremen und Lorch 1997, S. 136. Vgl. Rohlfs 1875, S. 99: „Der ganzen damaligen Medicin klebte aber noch schrecklich viel Mysticismus und Charlatanerie an, weil selbst die Gebildeten unklare Vorstellungen von ihr hatten, und die meisten Aerzte aus Bequemlichkeit den Nimbus ihres Scharlachrockes zu erhalten suchten“. 184 Toellner 1979, S. 14. 185 Vgl. Schneider 1987, S. 25. 186 Brief Zimmermanns an Iselin vom 23. Juni 1775. Staatsarchiv Basel, PA 98, 41, p. 334.

316

einflüssen der Imagination heilt. Auch lache ich über den Doctor Michel nicht, sondern über seine Enthusiasten und Patienten“.187 E. Olivier stellt zusammenfassend etwas verkürzend fest: De toute façon, cette prise de contact entre deux personnalités que l’on pourrait prendre comme types de deux médecines différentes et de principes opposés, aboutit à montrer qu’à cette date ces deux disciplines sont identiques dans leur application.188

Wie ist hingegen das Verhältnis Zimmermanns zum Animismus Stahlscher Provenienz und damit zum Vitalismus zu denken? Wie steht er zur Hallerschen Experimentalphysiologie? Einer der bedeutendsten Professoren der Universität Halle, der in engerem Kontakt zu August Hermann Francke und zu Christian Thomasius stand, war Georg Ernst Stahl (1659–1734),189 der ab 1715 Leibarzt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. und Präsident der obersten Gesundheitsbehörde Preußens, des „Collegium medicum“, wurde. Seine mittlerweile obsolete Phlogistontheorie, die von 1700 an während rund 70 Jahren, im wesentlichen bis zur Entdeckung des Sauerstoffs durch Lavoisier, das beherrschende chemische Paradigma für die Erklärung von Oxidations- und Reduktionsprozessen war, stellt dennoch oder gerade deswegen in der Etablierung der Chemie als Wissenschaft, welche die Vier-Elementen-Lehre endgültig hinter sich lässt, eine wichtige Voraussetzung dar. Bis 1715 ist der weitaus grösste Teil der Publikationen Stahls medizinischen Inhalts.190 Der Metallurgie und Fragen der Färberei, Brauerei und Salpetersiederei gilt sein besonderes Interesse. Stahl ist von der Wirksamkeit chemischer Arzneien überzeugt, aber nicht verblendet: Stahl hatte in seiner umfangreichen Praxis auch begriffen, dass der menschliche Körper nicht nur von chemischen Gesetzmässigkeiten regiert wird, sondern dass auch das Seelische, Psychische eine wesentliche Rolle in gesunden und kranken Menschen spielt.191

Stahl, der wichtige Werke in deutscher Sprache verfasst, gilt als Begründer der Theorie des Animismus, dem die strikt antimechanistische Auffassung einer Synergie von psychischen und physischen Lebensabläufen zugrundeliegt: Die „anima sive natura“ herrscht über den passiven Stoff und die Apparate des Organismus. Sie allein belebt und erhält den Körper. Die anatomische Struktur und die Mechanik der Teile

187 188

Brief Zimmermanns an Iselin vom 14. April 1775. Staatsarchiv Basel. PA 98, 41, p. 320. Olivier, E. , La visite de J. G. Zimmermann à Michel Schuppach. Schweiz. Med. Wochenschrift Nr. 14 vom 6. April 1929, S. 383. 189 Vgl. zum gesamten Problemfeld: Johann Geyer-Kordesch, Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preussen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls. Tübingen 2000 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 13). 190 Vgl. Strube 1984, S. 20. Vgl. zum ganzen Themenkomplex: Johanna Geyer-Kordesch, Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls. Tübingen 2000 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 13). 191 Strube 1984, S. 10.

317

sind Mittel im Dienste der anima, über deren Einsatz und Grad der Aktivität die Seele selbst bestimmt.192

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist der Animismus fast überall siegreich gewesen,193 proportional dazu verliert Descartes’ Biomechanismus an Bedeutung. Leibniz kritisiert Stahls Vitalismus mit dem Hauptargument, dem Haller folgt, dass etwas Unkörperliches wie die Seele nicht imstande sei, Körperliches zu steuern, abgesehen davon, dass dann auch Krankheiten der Seele zuzuschreiben wären. Stahls Lehre ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie kontrastiv zum Cartesianismus steht. Dieser animistische Anticartesianismus ist nach Zelle durch drei Parameter motiviert: 1.) durch die Kritik an der Substanzentrennung, die den Körper von der Seele abspaltete, 2.) die Ablehnung der Entgegensetzung von Philosophie und Religion und 3.) die Abwendung von der Verabsolutierung logischer Schlussverfahren gegenüber Lebenserfahrung und Weltklugheit.194 Eine anticartesianische, animistisch beeinflusste Grundhaltung in der Nachfolge Krügers und Unzers bildet den weiten Bezugsrahmen, in dem sich Zimmermann bewegt und ansatzweise von Haller unterscheidet. Krügers Lehrbegriff seiner Physiologie sei nach eigenem Befinden „so wol mit den Lehren der Mechanischen als Stahlianischen Artzneygelehrten in einer Uebereinstimmung“.195 Seine Experimentalseelenlehre beansprucht nicht, dem Wesen der Seele quantifizierend etwa durch Luftpumpen näherzukommen, sie durch Vergrößerungsgläser zu erblicken oder ihre Kräfte abzuwägen.196 Der Mensch bleibt Krone der Schöpfung, da er das „vollkommenste Meisterstück ist das die Natur hervorgebracht hat“.197 Krügers Schüler Unzer ist im Vergleich zu Zimmermann ein ausgeprägterer medizinischer Volksaufklärer, der diätetische Medikamente zur Förderung der Verdauung nicht zuletzt deshalb propagiert, weil er an einem verbreiteten Abführmittel finanziell beteiligt ist. Unzer arbeitet mit dem Begriff der Sinnlichkeit der Nerven und teilt die Temperamente nach der Tradition der Humoralpathologie ein. Für Unzer wie für Zimmermann ist die Kenntnis der Temperamente, die sich aus der Leibesbeschaffenheit und den Leidenschaften ergibt, für die Therapie wichtig. In der Hypochondrieerklärung z.B. verbindet Unzer Humoralpathologie und Neurophysiologie: 192 193

Rothschuh 1968, S. 152. „Eine starke Welle des Vitalismus hebt mit Stahl um die Jahrhundertwende an und findet sowohl in Deutschland wie in Frankreich, besonders in Montpellier, eine Pflegestätte“ (Rothschuh 1968, S. 135). 194 Zelle 1995, S. 81, im Nachwort zu Johann August Unzers „Neuer Lehre von den Gemüthsbewegungen“ (1746). 195 Krüger 1745, S. 8. 196 Krüger 1756, Einleitung, § 1. 197 Krüger 1745, S. 5.

318

Psychologische Erscheinungen wurden dadurch als Entsprechungen physiologischer Vorgänge einsichtig gemacht […] Damit hatte Unzer die alte humoralpathologisch begründete Temperamenteneinteilung selbst zwar unverändert gelassen, sie aber nach Massgabe des neuen medizinischen Paradigmas transformiert und auf den Boden einer Theorie der Nerven gestellt.198

Diese eklektische Verbindung zweier Paradigmen übernimmt auch Zimmermann für sein therapeutisches Vorgehen. Hallers Physiologie versteht sich als experimentelle Wissenschaft, welche letztlich ungewollt die Auffassung einer metaphysischen Fundierung der Seele als Lebensprinzip problematisiert, aber die Immaterialität und Unsterblichkeit der Seele nicht bezweifelt. Zimmermann selber betont im Brief vom 23. September 1767 an Nicolai: „Die Unsterblichkeit der Seele ist eine Angelegenheit für alle Menschen, auch für die, die von der Metaphysik so wenig verstehen als ich“.199 Haller geht es um eine klare Trennung von Metaphysik und verifizierbaren Fakten. Eine gewisse Nähe zum Animismus liegt gleichwohl vor, weil Hallers Physiologie ein dynamisches Denken fördert, das seinerseits Spekulationen begünstigt. Zwar ist Zimmermann auch darin Haller-Schüler, dass er Empirie entschieden und grundsätzlich über Spekulation stellt, er ist indessen wohl trotz allem empfänglicher für animistisches Gedankengut als sein übermächtiger Lehrer.200 Rudolph definiert Hallers spekulationsresistentes Verständnis von Irritabilität und Sensibilität: HALLER […] hat ‚Irritabilität‘ und ‚Sensibilität‘ auf das beschränkt, was er mit seinen Mitteln und nach dem allgemeinen Stand der Forschung nachweisen konnte: lokalisierte Bewegung auf direkten oder indirekten Reiz = Irritabilität, komplexe Bewegung eines Gliedes oder des ganzen Tieres auf Nervenreizung bei erhaltener Verbindung mit dem zentralen Nervensystem = Sensibilität. Danach musste schon die Spekulation einsetzen; aber HALLER hat sie aus seiner Arbeit eliminiert.201

Ambivalent und ungewollt in der Tendenz selbstcharakterisierend ist das Lob, das Zimmermann Platner in den Betrachtungen über die Einsamkeit bereits 1756 spendet: „Der gelehrte und kluge Platner zergliedert ein halbes Jahrhundert hindurch dreyhundert Leichnahme, er ist der Lehrer von allen Europäischen Aerzten, und ist nicht im Stande, eine einzige neue Wahrnehmung der Welt zu hinterlassen“.202 Ab 1746 intensivieren sich Hallers Experimente zum Zentralproblem der Irritabilität und erreichen 1750 ihren Höhepunkt. Seine Ergebnisse macht er in zwei epochemachenden Vorträgen in der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften publik: „De partibus corporis humani sensilibus et irritabilibus“ vom 198 199 200

Zelle 1995, S. 95f. Brief Zimmermanns an Nicolai vom 23. September 1767. Habersaat 2, 2001, S. 43. Nach Lesky 1968, S. 79 gehe es darum, Teilaufgaben exakt experimentell zu lösen „sich einzig und allein auf die beobachtbaren Phänomene stützend unter Ausschluss jeder generalisierenden Spekulation“. 201 Rudolph 1964, S. 29. 202 Einsamkeit 1756, S. 45.

319

22. April und vom 6. Mai 1752.203 In seiner Dissertation argumentiert Zimmermann im Geiste Hallers, der allerdings Zimmermanns Deutung der Versuchsergebnisse nicht uneingeschränkt folgt, weil sie ihm zu weit gehen. Immerhin hält Zimmermann der Auffassung Stahls, dass die Seele mit Hilfe der natürlichen Spannkraft der Fasern das Blut und alle Säfte bewege, beispielsweise die Beobachtung entgegen, dass die peristaltischen Bewegungen der herausgeschnittenen Därme eines Tieres sogar verstärkt werden, obwohl sie vom Befehl der Seele gelöst sind.204 Die Sinnesverarbeitung führt Haller auf physiologische Grundlagen zurück: „Sinnesreize lassen in den Nerven ‚Spuren‘ zurück und bieten damit die materielle Bedingung für die Leistungen von Gedächtnis und Einbildungskraft“.205 Hallers fünfter Band beispielsweise seiner „Anfangsgründe des menschlichen Körpers“ von 1772206 belegt seine enzyklopädische Gelehrsamkeit, vor allem in den Anmerkungen,207 die auch Auskunft über seine Rezeption der Halleschen Psychomediziner geben. Fraglos hat auch Zimmermann als Hallers Schüler und Hausgenosse in Göttingen von den Schriften der Hallenser Kenntnis genommen. Im Grunde genommen vereint die Irritabilitätslehre mechanistische wie dynamistische Grundsätze. Als Vorläufer, ohne experimentelle Abstützung, aber mit stark spekulativen Elementen, sind Francis Glisson (1597–1677) und Giorgio Baglivi (1668–1707) zu nennen. Hallers und damit auch Zimmermanns Ausrichtung und wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung bestehen maßgeblich darin, dem systematischen Experiment in der Physiologie eine zentrale Stellung einzuräumen und scharf zwischen Tatsachen und Spekulationen zu trennen. Damit wird das von Aristoteles über Galen bis ins 17. Jahrhundert „absolut dominierende Erklärungsprinzip“ der Entelechie-Lehre mit ihrer Dominanz des teleologischen Denkens über das kausale in Frage gestellt208 und eine Verbindung von Morphologie und Physiologie hergestellt, die Haller als eine belebte Anatomie (Anatomia animata) begreift. Die Tendenz zur Suche nach allgemeingültigen Prinzipien mit rationalgedanklicher Durchdringung dominiert anstelle einer „Erweiterung der Erfah-

203

Die beiden Vorträge wurden zuerst veröffentlicht in: Commentarii Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis ad annum 1752. T. II, Gottingae 1753, pp. 114–158, und 1763 u.a. mit dem Titel „De partibus corporis humani sentientibus et irritabilibus“ sermo alter quo experimentorum corollaria continentur. Sectio I: De partibus sentientibus lecta est in Societatis Regiae conventu d. 22. April 1752. Sectio II: De partibus irritabilibus praelecta est 6. Maii eiusdem anni, in: Opera anatomica minora. T. I. Lausannae 1763, pp. 405–440. 204 Dissertatio de irritabilitate 1751, S. 69. 205 Dürbeck 1998, S. 148. 206 Das lateinische Original erschien in acht Bänden, Bern und Lausanne, 1757–1766 als „Elementa Physiologiae Corporis Humani“ und wurde ins Deutsche übersetzt von Johann Samuel Hallen, Berlin und Leipzig 1759–1776, ebenfalls in acht Bänden. 207 Dürbeck 1998, S. 148 bemerkt dazu: „Damit besteht auch eine Verbindung Hallers zur Halleschen Medizin und Philosophie“. 208 Rothschuh 1968, S. 133.

320

rungsbasis“.209 Erna Lesky fasst die neuere medizinhistorische Forschung über das Verhältnis Hallers zum vitalistischen Animismus dahingehend zusammen, dass die Herkunft Hallers aus der mechanistischem Denken verpflichteten Boerhaave-Schule, seine betont newtonianische Stellung und seine Polemik gegen den animistischen Vitalismus Stahls verkannt würden, wollte man Hallers Verpflichtung gegenüber einer mechanistischen Naturinterpretation zu gering bewerten.210

Dieses Zitat charakterisiert auch Zimmermanns Haltung weitgehend, wenngleich er, wie erwähnt, nicht denselben Anforderungen von Hallers strenger Sachlichkeit und Wissenschaftlichkeit genügt. Auch die Idee der „Lebenskraft“ gewinnt in der deutschen Physiologie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in dem Maße an Bedeutung, als Descartes’ Biomechanismus, Newtons Mechanik und Boerhaaves Medizinverständnis verblassen. Haller erscheint bei aller mechanistisch geprägten Denkweise cum grano salis insofern vitalistisch, als er eine Grundkraft als Lebensprinzip zur Erklärungsgrundlage annimmt. Es artikuliert sich in diesem Problemhorizont, in unterschiedlicher Manier und Deutlichkeit, auch der Begriff der Bildung, der vorerst Bildungsvorgängen im Organismus vorbehalten bleibt, aber bald erweiternd ontologisch (oder metaphysisch) auf den Menschen und die Menschheit übertragen wird. Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ von 1784 können in dieser Sichtweise als Dokument einer Haller-Rezeption gelesen werden. Herder löst sich ganz vom Mechanismus cartesianischer Provenienz und postuliert eine Originalität und Eigenständigkeit des Lebendigen. Die Weimarer Klassik knüpft hier an. Der in Weimar geborene und auch weltanschaulich dort anzusiedelnde hippokratische Eklektiker und spätere Oberarzt der Berliner Charité Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) ist ein mit Zimmermann in manchem verwandter Geist, obwohl dieser sich nicht um die Institution der Poliklinik bemühte wie der Freund Wielands, Herders, Goethes und Schillers. Auch kommt bei Hufeland der religiösen Dimension pietistischer Prägung nicht die wichtige Bedeutung zu wie bei Zimmermann. Beide dringen aber auf „Selbstprüfen, Selbstdenken, Selbsthandeln“, und „alles, was nur einer Sekte, einem Geistesdespotismus oder einem infallibeln Kurreglement ähnlich sieht“,211 ist ihnen verhasst, „die Selbstthätigkeit der Naturkraft jedes organischen Körpers zu seiner Erhaltung und Hülfe“ hingegen 209 210

Ebd., S. 134. Lesky 1968, S. 83. Vgl. Rudolph 1964, S. 27 („Ich glaube nicht, dass irgendeine Äusserung HALLERS in seiner Göttinger Abhandlung dazu zwingt, seine Begriffe der Irritabilität und Sensibilität im Sinne des Vitalismus zu interpretieren. Trotz Widerlegung einzelner Ansichten seines Lehrers BOERHAAVE offenbart sich auch hier durchweg dessen mechanistische, von HALLER bereitwillig angenommene Denkweise.“) und Richard Toellner, Anima und Irritabilitas. Hallers Abwehr von Animismus und Materialismus, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin 51 (1967), S. 130–144. 211 Zitiert bei Petersen 1877, S. 255.

321

heilig.212 Hufeland war mehr Schriftsteller als innovativer Forscher und weniger aktiver Kliniker, im übrigen selbst kein begnadeter Praktiker. Erkenntnisse der Lokalpathologie und der physikalischen Organuntersuchung nach 1800 hat er nicht mehr rezipiert. Den tierischen Magnetismus beurteilte er milder als Zimmermann.213 Folgendes Zitat hätte gewiss auch Zimmermann unterschrieben, weil sein gesamtes Therapieverständnis darum kreist, Heilkünstler zu sein: „Man kann alles wissen, was zur Medicin gehört, und dennoch ein schlechter Arzt sein – eine Erfahrung, die sich nur zu oft bestätigt. Durch das Erstere wird man nur ein medicinischer Gelehrter, durch das Letztere erst ein H e i l k ü n s t l e r “.214 Hufelands Schrift Enchiridion medicum oder Anleitung zur medicinischen Praxis von 1836 steht dem Vitalismus entschieden näher als Zimmermanns Werke. In seiner Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (1797) ist die Lebenskraft nicht bloße Begleiterscheinung des Organismus, sondern wirkt unmittelbar in die organische Materie hinein; sie ist nicht mehr operational-beschreibender Begriff als Hilfsmittel, sondern selbst wirkende Kraft. Obwohl Zimmermann apodiktisch erklärt: „Bacon war ein Lehrer der Wahrheit und Descartes ein Lehrer des Irthums“ (Erf. I, 53), wirkt cartesianisch-mechanistisches Gedankengut weiter. Ein Beispiel mag genügen: „Der einzige Weg alles zu entdeken was in einem Gegenstande liegt, ist freilich ihn stuksweise (sic) zu untersuchen und seine Theile so lange zu zergliedern, bis der ganze Gegenstand so einfach wird, dass man ihn weiter nicht zergliedern kann“ (Erf. I, 141). Nach Gurtner entspricht Zimmermanns empirisch-klinische Nosologie exakt Foucaults Auffassung einer statischen Medizin im 18. Jahrhundert. Diese weist der Krankheit einen vollständig offenen Raum zu, sans partage ni figure privilégiée ou fixe, réduit au seul plan des manifestations visibles; espace homogène où aucune intervention n’est autorisée que celle d’un regard qui, en se posant, s’efface, et d’une assistance dont la valeur est dans le seul effet d’une compensation transitoire: espace sans morphologie propre que celle des ressemblances perçues d’individu à individu, et de soins apportés par une médecine privée à un malade privé.215

Erst die „Naissance de la clinique“ wird eine „spatialisation institutionnelle de la maladie“216 zeitigen. Das Krankheitsverständnis der klassifizierenden Medizin wird dadurch gekennzeichnet, dass das Symptom souveräner Indikator einer wesensmäßigen Krankheitsart ist, wobei zur Erkenntnis einer Krankheit vom Individuum abstrahiert werden muss. Über die Symptome wird die angetroffene Krankheit in Klassen, Gattungen und Arten eines idealen Typs klassifiziert. Entsprechend bleiben Zimmermanns Behandlungen der Leidenschaften in der Praxis ohne vertiefte 212

Hufeland spricht im Falle ihrer Missachtung von der „einzigen unverzeihlichen Sünde in der praktischen Medicin“. Petersen 1877, S. 255. 213 Petersen 1877, S. 257. 214 Zitiert bei Petersen 1877, S. 248. 215 Foucault 1963, S. 18. 216 Foucault 1963, S. 19.

322

biographische Auslotung. Er verlangt zwar eine individuelle Erfassung des Kranken durch physiognomische Beobachtung, „beschränkt sich aber bei den Leidenschaften auf die Feststellung der sechs klassischen Formen“.217 Lässt sich Zimmermann indessen so zweifelsfrei und eindeutig als Prototyp der Kategorie der „médecins classificateurs“ rubrizieren? Man wird Foucaults Klassifizierung im Fall Zimmermanns zustimmen, wenn er ausführt: „Au XVIIIe siècle, il n’y a de clinique que pédagogique, et encore sous une forme restreinte puisqu’on n’admet pas que le médecin lui-même puisse à chaque instant lire, par cette méthode, la vérité que la nature a déposée dans le mal“.218 Problematisch ist die Anwendung von Foucaults Bestimmung der Funktion des Blicks auf Zimmermann gleichwohl: „Ce n’est donc pas le regard luimême qui a pouvoir d’analyse et de synthèse; mais la vérité d’un savoir discursif qui vient s’ajouter de l’extérieur et comme une récompense au regard vigilant de l’écolier“.219 In der Erfahrung weist Zimmermann dem medizinischen Blick eine weiterführende, in den Kern der Krankheit weisende Dimension zu. Eine Stelle stellt fest: „Wenige Menschen sehen. Die Augen des gemeinen Mannes sind offen, aber sein Geist ist blind“ (Erf. I, 150), und eine andere, man müsse „mit dem Auge der Seele“ allmählich sehen lernen wie mit den Augen des Körpers (Erf. I, 149), um therapeutisch erfolgreich zu sein. Zwischen Ontogenetischem und Phylogenetischem wird in Zimmermanns Krankengeschichten ein Zusammenhang hergestellt. „Der Urheber der Natur hat den Lauf der meisten Krankheiten durch ewige und unveränderliche Geseze festgestellt“ (Erf. I, 269), behauptet Zimmermann zwar, unterscheidet aber zwischen unbeeinflussbaren und heilbaren Krankheiten. Neben einem klassifizierenden, überzeitliche Gültigkeit beanspruchenden Krankheitsverständnis finden sich Ansätze zu einer Überwindung der „Naturgeschichte“ von Krankheiten durch eine Temporalisierung der Fallbeschreibungen.220 Neben der invarianten „Naturgeschichte der Krankheiten“221 werden individuell verschiedenartige Krankheitsverläufe thematisiert und durch ärztliche Kunst als beeinflussbar aufgefasst. Naturgesetzlich ablaufende Krankheit, die menschlich-medizinischer Gestaltung entzogen ist, wird verknüpft mit einem Verständnis ärztlicher Tätigkeit, das versucht, auf den Krankheitsverlauf nach Möglichkeit heilsam einzuwirken, ja es ist eigentliche Aufgabe des Arztes in Zimmermanns Auffassung, zwischen heilbaren und unheilbaren Krankheiten unterscheiden zu lernen. 217 218 219 220 221

Nämlich Freude, Zorn, Schrecken, Furcht, Scham, Trauer. Gurtner 1998, S. 240. Foucault 1963, S. 60. Foucault 1963, S. 60. Vgl. 8. 5. Parallelismus von Onto- und Phylogenese, S. 231ff. Der Ausdruck findet sich in der Abhandlung über die Ruhr 1767, S. 237. Dort heisst es wörtlich: „Nun deucht mir, einem mit der Naturgeschichte der Krankheiten und (Hervorhebung M. Z.) den Wegen der Erfahrung bekannten Arzte solle es niemals schwer fallen, zu unterscheiden, was die Kunst, und was die Natur thut“. Im achten Kapitel der Ruhr-Schrift führt er dazu aus, dass der wahre, d.h. aufgeklärte Arzt imstande sein müsse, „Natur“ und „Kunst“ in ihren spezifischen Wirkkräften zu unterscheiden und sich dienstbar zu machen.

323

Zimmermann erscheint seinerseits medizinhistorisch nicht derart eindeutig klassifizierbar, wie Foucault meint, sondern er bezeichnet eher den Übergang zwischen zwei Phasen psychiatrischen Denkens, in der die neue Nervenauffassung und die alte Humoraltheorie in einer gewissen Unentschiedenheit und in einem labilen Gleichgewicht namentlich in der therapeutischen Praxis beieinanderstanden.222

Psychische Krankheit wird nicht als individuelle Störung beiseite geschoben. Eine gleichsam dynamische Krankheitsanalyse richtet ihr Augenmerk auf den jeweils individuellen Krankheitsverlauf, der fallweise therapeutisch beeinflussbar erscheint. Individuelles Krankheitsbild und gesellschaftlicher Kontext werden aufeinander bezogen im Horizont einer umfassenderen Gesellschaftskritik, um den Einfluss der Umwelt auf den individuellen Krankheitsverlauf zu eruieren. Die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts hingegen grenzt pathologische Fälle konsequent vom Gesellschaftsganzen aus, während Zimmermann integrativ den Einzelnen mit seinen psychischen Anfälligkeiten therapeutisch in einen größeren gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang stellt, den er kritisch untersucht und dadurch dem Individuum seine Einsamkeitsauffassung anempfiehlt. In Henry F. Ellenbergers Schema will Zimmermann nicht recht passen. Ellenberger unterscheidet in seinem monumentalen Werk „Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung“223 im Rahmen wissenschaftlicher Psychotherapie zwischen einer primitiven Heilkunst, bei der die Psychoanalyse wieder anknüpfen wird, und einer naturwissenschaftlichen Therapie. Während der sogenannte primitive Heiler eine entscheidend starke Wirkung kraft seiner Persönlichkeit ausübt und vorwiegend psychosomatisch heilt, nachdem er oft selber eine schwere psychische Krankheit durchgemacht hat, die ihn fortan zur Heilung befähigt, trennt der naturwissenschaftliche Therapeut scharf zwischen physikalischer und psychischer Therapie aufgrund einer rein rationalen Ausbildung, die auf seine psychische Disposition keine Rücksicht nimmt.224 Ginge es darum, Zimmermann typologisch einzuordnen, so verkörpert er, vom 19. Jahrhundert aus gesehen, eher den „gelehrten Arzt“ als den „professionellen Experten“.225

222 223

Zelle 1995, S. 92. Vgl. Henry F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Zürich 1985, S. 86ff. 224 Ellenberger 1985, S. 87. 225 Huerkamp 1985, S. 22ff. Schmallenbach bestimmt Hallers und Zimmermanns medizinhistorischen Ort wie folgt: „Zimmermann kann man ebenso wie Haller in kein zu dieser Zeit bestehendes Wissenschaftssystem einordnen, es sei denn, man betrachtet das Festhalten beider an einem Nervensaft („liquidum nerveum“) als ein Indiz für die Zuordnung zum Dynamismus. Beide Männer unterstützten kein System der bestehenden Richtungen, noch versuchten sie ein neues zu schaffen. Sie beschrieben das, was sie sahen und liessen sich nicht auf Spekulationen ein, die des exakten und unwiderlegbaren Beweises entbehrten. So kamen sie der Versachli-

324

Haller und Zimmermann vertreten demnach ein nicht ausschliesslich mechanistisches, sondern auch ein vitalistisches, auf Beobachtung beruhendes Wissenschaftsverständnis ohne Systemcharakter. Haller forscht bekanntermaßen unvergleichlich innovativer als Zimmermann, dem keine neuen Erkenntnisse gelingen, bahnbrechende schon gar nicht. So ergibt sich bezüglich Zimmermanns medizinhistorischem Ort wie bei der Untersuchung des sprachlichen Befunds gewissermaßen eine synthetische Originalität. Zu beobachten ist der von Widersprüchen durchsetzte Versuch, die epochal sich anhäufenden wissenschaftlichen Fortschritte aufzufangen und einer Auffassung vom Zusammenhang des Leibs mit der Seele einzuverleiben, die in diätetischer und therapeutischer Absicht auf Einheit, die immer auch Gesundheit verbürgt, abzielt, gerade weil „Ganzheit“ durch empirisch gewonnene Erkenntnisse in Frage gestellt wird. Dem um „Einheit“ bemühten Menschenkenner Zimmermann zollt G. Forster hohes Lob, „der den Geist und den Körper, oder dass ich’s besser ausdrücke, der den ganzen Menschen so zu prüfen im Stande ist!“226 Zimmermann lässt es nach A. Emch-Dériaz an Erneurungen im Rahmen der Tradition nicht fehlen.227 Dass Zimmermann keiner Schule zugerechnet werden kann, zeigt seinen Ort im Spannungsfeld verschiedener epochaler Tendenzen an. Er strebt eine Synthese von Hippokrates und Francis Bacon an: Hippokrates betrachtete er als Vorbild ärztlicher Empirie aufgrund seiner genauen Krankenbeobachtungen. Francis Bacon lobt er als Propagator der auch von ihm, Zimmermann, bevorzugten – vor allem auf Induktion und Analogie beruhenden – Erkenntnismethode in den Wissenschaften.228

Hallers mechanistischer Physiologie ist er vollumfänglich nicht zuzurechnen. Eindeutig ist die Gegnerschaft beider zu materialistischen Systemen. Er richtet sich gegen die alles verwirrende Art von „zweifelsüchtigen Philosophen“ wie gegen die ruhige Gewissheit „mechanischer Ärzte“.229 Mit Weikard teilt Zimmermann Wahr-

chung des Problems ein bedeutendes Stück näher und legten alleine dadurch einen entscheidenden Grundstein für die spätere Nerven- und Muskelphysiologie“, S. 67. 226 G. Forster an Zimmermann, Brief vom 4. Mai 1788, Bodemann 1878, S. 365. Dieses auf Ganzheit zielende Bestreben klingt auch an in der testamentarischen Verfügung vom 25. Februar 1824 von Zimmermanns Witwe, Luise Margarethe von Zimmermann, geb. von Berger, über den Nachlass ihres verstorbenen Mannes: „Ich will also dass dieser Koffer nach meinem Tode dem Königlichen Cabinets Ministerio in Hannover, mit der ehrerbietigen Bitte über geben werde, den Inhalt als ein dankbares Vermächtniss von mir, und zum Andenken an einen Mann, der seinem Zeitalter nützlich zu seyn mit Geist und Herz strebte“. Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Dep. 103 XXXV Nr. 182, 2. 227 Vgl. Emch-Dériaz 1992. 228 Udo Benzenhöfer, Zum Leben und zum Werk von Johann Georg Zimmermann (1728–1795) unter besonderer Berücksichtigung des Manuskripts Von der Diät für die Seele, in: J. G. Zimmermann, Von der Diät für die Seele. Hg. v. U. Benzenhöfer u. G. vom Bruch. Hannover 1995, S. 20. 229 Ruhr 1767, S. 314.

325

heitsliebe230 und Beobachtungstreue sowie die Feindseligkeit gegen „lächerlichen Aberglauben, kindische Geheimniskrämerey, Erscheinungen, Lügen, Volksbetrug“ und andere „Sophistereyen“ wie „Goldmacherey, Mesmerianismus, Geisterseherey“.231 Er würde wohl der Behauptung zustimmen, „dass Materie beym Denken unentbehrlich sey“,232 nicht aber der materialistischen Folgerung, die Weikard an anderer Stelle zieht: Es folgt hieraus, dass derjenige, welcher die Triebfedern der Maschine auf das pünktlichste kennt, und sie mit gehöriger Geschicklichkeit zu richten und zu leiten weiss, auch das Sittliche des Menschen, oder die Schwäche und Stärke seiner Neigungen in seiner Vollmacht haben wird.233

Wichmann charakterisiert Zimmermanns Methode im Vergleich zu seinem behutsam beobachtenden Vorgänger Werlhof. Zimmermann, dem eine unüberwindliche Abneigung gegen exanthematische Krankheiten wie die Krätze eigen gewesen sei, habe sich sogleich der kräftigsten Mittel bedient, um grössere Übel im Keim zu ersticken, was im übrigen seiner psychischen Disposition entsprungen sei.234 Wichmann sieht 1796 die Bedeutung der Erfahrung in der Arzneykunst nicht in neuen, weiterführenden Erkenntnissen, sondern in geschickt ansprechender Darbietung von Bekanntem, das eine Lektüre ermögliche zur „Erholung, indem es keine neue Wahrheiten, keine von ihm gemachte Entdeckung, oder neue Methode lieferte, sondern unübertrefflich schön und neu gesagte Dinge enthielt“.235 Marcard hält Zimmermanns innovative Bedeutung dagegen: Wenn aber die Grundsätze der neuern Chymie richtig wären, die uns schon eine neue Humoralpathologie wieder giebt, ehe noch die alte ganz besiegt ist; wenn würklich der Sauerstoff eine so grosse Rolle im thierischen Körper spielte; wenn in gewissen Krankheiten ein Bedürfniss vorhanden wäre, viel desselben in den Körper zu bringen, und vermittelst der Schwefelsäure die grösste Menge auf die angenehmste Weise hinein gebracht werden könnte: so wäre ja

230

„Ich liebe die Wahrheit“ (Philosophischer Arzt IV/1777, S. XI). Weikard versteht sich demzufolge als „Philosoph oder Untersucher der Wahrheit“ (ibid.). Vgl. 11.3. Vorläufer und Nachfolger, S. 348ff. 231 Der hilosophische Arzt II/1798, S. 40f. 232 Der philosophische Arzt IV/1777, Vorrede, in der sich Weikard vom Vorwurf des Materialismus zu distanzieren versucht. 233 Der philosophische Arzt I/1798, S. XII. Zu Weikards medizinhistorischem Ort vgl. die Biographie von Markwart Michler, Melchior Adam Weikart (1742–1803) und sein Weg in den Brownianismus. Medizin zwischen Aufklärung und Romantik. Eine medizinhistorische Biographie. Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina. Leipzig 1995 (Acta historica Leopoldina 24). Michler sieht in Weikard einen Vorromantiker und ersten Wegbereiter John Browns (1735–1788) und seiner Erregungslehre in Deutschland: „Weikard darf […] als der erste gelten, der sich auf dem Festland mit Browns System befasste und auch in der praktischen Diagnostik und Therapie nach seinen Lehren handelte“ (S. 70). Weikard lasse die „vis vitalis“ von Hufeland und Reil ebenso gelten wie Stahls Spekulationen über die Seele, wobei er die praktischen Gesichtspunkte stets berücksichtige. 234 Wichmann 1796, S. 18. 235 Wichmann 1796, S. 7.

326

Zimmermanns Genie seinem Zeitalter u m dreyssig Jahre vorges c h r i t t e n . Denn erst jetzt sähen wir theoretisch ein, warum er practisch recht verfuhr.236

Zusammenfassend kann gesagt werden: Zimmermanns gesamtes schriftstellerisches Werk lebt von der produktiven Spannung zwischen dogmatischen Vorgaben der tradierten Diätetik und neuen, empirisch gewonnenen Erkenntnissen vom Menschen, die er, soweit er sie rezipiert, zu berücksichtigen sucht. Marcard gegenüber äussert Zimmermann einmal: „Mir misfiel alles, was nach der Schule roch“:237 Seine Aversion gegen System und Dogma, gegen „alles Schulgerechte, alles Handwerksmässige, also auch alle Gelehrsamkeit“ lässt ihn von sich selber sagen, er sei kein „systemfester Philosoph“ (III, 517),238 die Natur hingegen werde „in der Natur langsam gesucht am geschwindesten gefunden. Man sieht sie in ihrem wahren Lichte so bald man sie durch kein System sieht“ (Erf. I, 208). Zimmermanns Orientierung am Buch der Natur als Lehrmeisterin und seine Ausrichtung auf eine ganzheitliche Schau des Menschen ist nicht etwa allein kennzeichnend für Zimmermann, sondern epochencharakteristisch. Medizin ist die Königsdiziplin in diesem Ganzheitsbestreben, das seine eigene Spezialisierung zugleich fördert, und dem Arzt kommt eine Schlüsselbedeutung zu: „nicht jedem Sittenlehrer fällt eben ein, dass manche Lücke in seinen Kenntnissen und Vermahnungen, niemand so gut ausfüllen kann, wie der Arzt“.239 Die noch nicht wie im 19. Jahrhundert spezialisierte Medizin des späteren 18. Jahrhunderts richtet dabei, pauschalisierend betrachtet, ihr Augenmerk eben nicht auf einzelne Organe, sondern auf den ganzen Menschen. Im Zimmermann-Jubiläumsjahr 1928 stellt der Psychiater A. Kielholz in der Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift im Zusammenhang der Erfahrung in der Arzneykunst fest: „Prognostik, Diagnostik, Hygiene, Psychopathologie und -therapie, Konstitutionslehre, alles hat Platz darin und lässt dem modernen ärztlichen Leser so recht zum Bewusstsein kommen, wie sehr wir heute (sc. 1928) im Spezialistentum versunken sind“.240 Epochencharakteristisch ist Zimmermanns auf die Lebenspraxis ausgerichtete Heilkunst, weil sie sich nicht nur dem einzelnen Kranken mit seinen Säftestörungen und Reizzuständen widmet, sondern den Erkenntnishorizont ausweitet auf soziale Faktoren, die pathogenetisch bedeutsam sind, auf Sozialmedizin und Sozialhygiene, verbunden mit prophylaktischen Fragen.241 Zückert ist in der Nachfolge 236 237

Marcard 1796, S. 38. Brief Zimmermanns an Marcard vom 16. 3. 1790. Universitätsbibliothek Leipzig, Sammlung Kestner, II A IV, 2089. 238 In einem Brief an Reimarus äussert er den Wunsch, ihn in Hamburg zu treffen, „nicht wegzuphilosophiren (denn das kann ich und verstehe ich, leider, eben so wenig als meine Frau) sondern zu verschnacken. Wills Gott geschieht diess noch einmal in meinem Leben!“. Brief vom 22. 4. 1788 an Reimarus. SuUB Hamburg, Hss-Abt, Nachlass Reimarus: Br.: Z 2. 239 Deutsches Museum 1778 I, S. 460. 240 Schweizerische MedizinischeWochenschrift Nr. 49 (1928), S. 1214. 241 Ackerknecht 1986, S. 123: „Auf allen Gebieten der Medizin trat nun (sc. im 18. Jahrhundert) der Vorbeugungsgedanke in den Vordergrund“. Diesen meint wohl auch Goethe, wenn er von Zimmermanns „leidenschaftlicher Verbesserungswut“ spricht (HA 10, S. 68). Vgl. Bouvier zur Ruhr-Schrift: „Il y domine cette idée de l’hygiène publique, de la santé morale et physique du peuple“. Schweiz. Med. Wochenschrift Nr. 49, 1928, S. 1199.

327

Zimmermanns ganz auf dieser sozialhygienischen Linie, wenn er epidemische Krankheiten nicht als „unhintertreibliche Uebel, als göttliche Strafen“242 auffasst. Die wissenschaftliche Heilkunst verstosse Aberglauben und Vorurteile in „diesen medicinisch-erleuchteten Zeiten“,243 und „auf den Stützen der geläuterten Vernunft und richtiger Erfahrungen“244 verfahre sie nach den Vorbildern Tissot und Zimmermann.245 Zimmermann kann als einer der letzten Vertreter einer empirischen Medizin246 aufgefasst werden, bevor diese im 19. Jahrhundert endgültig durch das naturwissenschaftliche, konzeptuell-empirische Paradigma verdrängt wird. Er ist zu sehr Sensualist, als dass sich ihm Kants erkenntnistheoretischer Idealismus erschliessen könnte, weil er einer Erkenntnisanalyse nicht folgen kann, die äussere Wirklichkeit nur als Vorstellung gelten lässt und die Verlässlichkeit sinnlicher Wahrnehmungen total problematisiert.247 Bezeichnenderweise tragen beide Teile der Erfahrung in der Arzneykunst das gleiche Bacon-Zitat als Motto „Non ex vulgi opinione, sed ex sano judicio“.248 Es wird schwer halten, Zimmermann als Anhänger des Okkasionalismus oder der prästabilierten Harmonie zu reklamieren. Das Zusammenspiel von Leib und Seele begreift er nicht als einseitigen unmittelbar physischen Einfluss des Körpers auf die Seele, sondern weiss um ein kompliziertes Zusammenwirken, wie nachfolgend zu zeigen ist. Zentrale Begriffe von Zimmermanns Therapieverständnis Der todkranke Preußenkönig Friedrich II., der in seinem ganzen Leben wenig Disziplin in der Befolgung ärztlicher Anordnungen an den Tag legte, fragte Zimmermann im Sommer 1786:

242 243 244 245

Zückert 1773, S. 4. Ebd., S. 6. Ebd., S. 5. Ebd., S. 7. Genannt werden auch Sydenham, Huxham und Pringle. In der Vorrede zum „medicinischen Tischbuch“ (1785), S. XVIII, bedauert Zückert, „dass es viele Aerzte giebt, die sich um die Diätetik zu wenig bekümmern, und sich nicht bemühen, die Eigenschaften der Speisen und Getränke zu erforschen, und ihre Bestandtheile und Würkungen recht kennen zu lernen“. 246 „Zimmermanns ‚Erfahrung‘ lässt sich also trotz dem von Sproedt geltend gemachten ‚lokalen‘ Einfluss Gaubs und Wolffs auch in einem umfassenderen Sinn in die empirisch-klinische Tradition einordnen“. Gurtner 1998, S.19. 247 So ist es nicht zufällig, dass der hundertprozentige Kantianer Ludwig Heinrich Jakob (1759– 1827) in seinem „Grundriss der Erfahrungs=Seelenlehre“, die erstmals 1791 in Halle erscheint, Zimmermann nicht zitiert, dafür, abgesehen von Kant, Krügers Experimental-Seelenlehre und Platners „Neuer Anthropologie“, u.a. Condillac, Helvétius, Wezel, Cabanis, Herder. 248 Im Brief vom 17. Oktober 1757 schreibt Zimmermann an Iselin: „Ich schreibe von der Erfahrung in der Atzneiwissenschaft und ich alter Verächter der Logik schreibe so, dass ich auf der einen Seite den Bakon und Locke, auf der andern den Hippokrates und Sydenham vor mir liegen habe“. Ischer 1893, S. 276.

328

König Ich König Ich

Nach welchem System behandeln sie ihre Kranken? Nach keinem. Aber es giebt doch Ärzte, deren Methoden sie andern vorziehen? Vorzüglich liebe ich Tissots Methoden, der mein vertrauter Freund ist.249

Nach dem überblicksartigen Versuch, Zimmermanns medizinhistorischen Ort zu umkreisen, sollen in diesem Kapitel zentrale Begriffe seines Therapieverständnisses konkretisierend untersucht werden. Für den behandelnden Arzt sind „Erfahrung“ und „Genie“ wichtig, wobei auch der Begriff des „Temperaments“ zu berücksichtigen ist. Sie sehen sich auf der Seite des Patienten dem „commercium mentis et corporis“ gegenüber. Erst das Zusammenwirken von Erfahrung, Genie, Temperament und commercium mentis et corporis konstituiert Zimmermanns Heilkunstverständnis, das grundsätzlich keiner Systematik folgt. Es ist übrigens Zimmermanns Werk Von der Erfahrung in der Arzneykunst gewesen, insbesondere das vierte Buch, „Von dem Genie und den ersten Schritten desselben zu der Erfahrung“, das „dem Geniegedanken, insbesondere in seiner ausgedehnteren Bedeutung, in Deutschland zu seiner enormen Popularität verholfen hat“.250 Dass sich Zimmermann auf Tissot beruft, ist wohl ebenso eine Hommage an seinen Lausanner Herzensfreund als tatsächlich medizinische Gefolgschaft. Zimmermann denkt vermutlich vor allem an Tissots dreiteiligen „Traité des nerfs et de leurs maladies“ (1778–1780), wobei der darin beleuchteten Wechselwirkung von LeibSeelischem sein bevorzugtes Interesse gegolten haben wird. Erfahrung Wie ein roter Faden durchzieht der mit dezidiertem Wahrheitsanspruch verknüpfte Begriff der „Erfahrung“ Zimmermanns ganzes schriftstellerisches Werk. Der Scharfsinn des Weltweisen und die Naturkenntnis eines Arztes251 würden auf „Erfahrung“ dringen, welche die beste Lehrmeisterin sei.252 Ein „Catechismus der Erfahrung“253 sei erforderlich, weil „es klüger und besser ist, die Wirkungen der Natur auf das genaueste zu beobachten, als nach willkürlichen Säzen ihre Ursachen zu erklären“.254 In einer Anmerkung (von 1786) zu Hallers Abhandlung über das Faulfieber wird apodiktisch dekretiert: „Beobachtung und Erfahrung sind die Seele und das Wesen der Arzneykunst; alles andere demonstriren, raisoniren, und expliciren ist blosse Alfanzerey für Toiletten“.255 Rengger kann 1830 feststellen: 249 250 251

Unterredungen 1788, S. 283f. Nowitzki 2003, S. 377. Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. 16. Bd. Erstes Stück. Leipzig 1774, S. 69/70. 252 Ruhr 1767, S. 527. 253 Ruhr 1767, S. 472. 254 Ruhr 1767, S. 33. 255 Abhandlung über das Faulfieber 1786, S. 16, Anmerkung p).

329

Sein (sic. Zimmermanns) richtiger Sinn hat ihn früh gelehrt, dass die Heilkunde, da die Grundkraft des Lebens uns ewig wird verborgen bleiben, sich nie zur Wissenschaft erheben könne, sondern auch in ihrer vollkommensten Gestalt, ein rationeller Empirismus, d.h. blosses Resultat der Erfahrung über die Wirkungen der Heilmittel bleiben müsse.256

Neben „Glückseligkeit“ und „Beobachtung“257 ist Erfahrung zweifellos ein Zentralbegriff des „empiriehungrigen“258 18. Jahrhunderts. Was heisst „Erfahrung“ bei Zimmermann? Zimmermanns unsystematischer, dafür praxisorientierter, gleichsam auf gegenständlichem Denken beruhender Erfahrungsbegriff ist die Resultante der Parameter Gelehrsamkeit, Beobachtungsgeist und Genie, die jeweils auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweisen, so dass sie Diagnose und Prognose umfassen. Das zukunftsgerichtete Genie ist wegen seiner Fähigkeit, Ursachen ermittlen und Prognosen stellen zu können, auch mit der Vergangenheit verbunden. Zimmermann unterscheidet in der Erfahrung in der Arzneykunst zwischen „wahrer“ und „falscher“ Erfahrung, die viel ausführlicher und antithetisch behandelt wird als die wahre Erfahrung, die oberflächlich auf philosophisch-empirische Weise berührt wird (Erf I, 1–5). Ein schlechter Arzt ist, wer durch seine Handlungen zeigt, dass er keine Gelehrsamkeit, keinen Beobachtungsgeist und kein Genie besitzt (vgl. Erf. II, 114). Die wahre Erfahrung gehorcht einem recht starren Schema: „Aus der richtigen Erkenntnis dessen, was ist (Befund), folgt die richtige Erkenntnis der Ursachen (Diagnose), aus der richtigen Erkenntnis der Ursachen folgt die richtige Erkenntnis dessen, was zu tun ist (Therapie) und was sein wird (Prognose)“.259 256 257

Rengger 1830, S. XXIII. Vgl. Platner 1772, Vorrede, S. XXIV: „[…] Beobachtung und Erfahrung eines jeden Menschen“. Demgemäss spricht er am Ende des zweiten Kapitels der Ruhr-Schrift von seinen „nicht mit einem unstätigen und über die Gegenstände der Kunst leichtsinnig wegflatternden Auge gemachten Beobachtungen“ (Ruhr 1767, S. 19). Zimmermann bezeichnet sich als ein „Märtyrer der Warheit“ (Ruhr 1767, S. 137), weil er seine postulierte Verfahrensweise „mit der reinesten und aufrichtigsten Warheitsliebe“ (Ruhr 1767, S. VIII, Vorrede) praktiziere. In einer Stelle des letzten Kapitels ruft er die Wahrheit direkt an, indem er gelobt: „O scheue, miskennte, und vermaledeyte Warheit, dir zur Ehre werde ich darum abermal in diesem Capitel zeigen, wie genau man die Krankheit beobachten, zerlegen und erforschen muss“ (Ruhr 1767, S. 320). Er hält deshalb in der Regel seine Patienten zu einer unvoreingenommenen Beobachtung ihrer selbst an, die keine Hemmungen kennt. Der unter psychosomatischen Beschwerden leidenden Fürstin Louise von Anhalt-Dessau beispielsweise verschreibt er einen Fragespiegel, der zu peinlich genauer Beobachtung und Beschreibung ihrer Körperfunktionen führen soll, insbesondere des Urogenitalsytems, trotz ihrer von Zimmermann gerügten Schamhaftigkeit, ja Prüderie (Wilfried Heinicke, Zimmermann als Arzt der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau. Die medizinhistorische Bedeutung der Korrespondenz, in: Schramm 1998, S. 64). 258 Vgl. Helmut Pfotenhauer, Einführung zu IV. Literarische Anthropologie, in: Der ganze Mensch 1994, S. 556. 259 Toellner 1979, S. 19. Toellner kommentiert weiter: „Dies ist das äusserst verknappte Grundschema des Zimmermannschen Begriffes von der Erfahrung in der Arzneykunst. Sie ruht sozusagen auf drei Säulen: Die richtige Erkenntnis dessen, was ist, setzt Erinnerung, Gedächtnis, das Wissen dessen, was möglich ist, voraus (also umfassendes Fachwissen in Zimmermanns Terminologie: Gelehrsamkeit). Die richtige Erkenntnis dessen, was ist, setzt ferner die richtige Erfassung dessen, was hier und jetzt vorliegt, voraus (die vorurteilsfreie Beobachtung in Zim-

330

Toellner hat zu bedenken gegeben, dass dieses Erkenntnismodell sensualistischempirischer Erfahrung „den cartesianischen Dualismus von materieller Gegenstandswelt (Natur) und immaterieller Bewusstseinswelt (Seele)“260 voraussetzt. Im Gegensatz zu Haller, aber in Übereinstimmung zu den meisten Zeitgenossen, diskutiere Zimmermann seine erkenntnistheoretischen Voraussetzungen gar nicht, nämlich die Voraussetzung einer naturgesetzlich sich gleichbleibenden Natur, die deterministisch dem Kausalnexus gehorcht, sowie die Annahme einer festen Korrelation von „immateriellen, sinnlichen Ideen als Bilder der materiellen Aussenwelt“.261 Auch O. Temkins Aufsatz Zimmermann’s Philosophie des Arztes von 1928, welcher der Erfahrung in der Arzneykunst gewidmet ist,262 führt aus, dass Zimmermann keine metaphysisch vertiefte Theorie der Erfahrung oder gar eine originelle selbständige Philosophie der Medizin aufstelle, sondern englisches und französisches Gedankengut übernehme, auf dem seine Prinzipien medizinischer Erfahrung basieren.263 So sei Erfahrung für Zimmermann weniger ein Besitz an Wissen als eine Fertigkeit des „erfahrenen“ Arztes, richtig zu handeln, und das Werk über die Erfahrung in der Arzneykunst eigentlich eine Philosophie des Arztes. Die Grundposition eines radikalen Sensualismus, Erkenntnis durch Analogie- und Induktionsschlüsse zu gewinnen, ist bei Zimmermann nicht zu verkennen. Es fragt sich aber, ob eine derart radikale Fixierung seiner Therapeutik insgesamt gerecht wird, die in der Praxis oft vitalistisch operiert. Die Bezeichnung „Maschine“ verwendet er nicht, wie z.B. Krüger in seinem „Grundriss eines neuen Lehrgebäudes der Artzneygelahrheit“, dessen mechanistischer Zug von ihm nicht in derselben Ausprägung rezipiert wird.264 Dennoch steht Zimmermanns Erfahrungsbegriff wiederum produktiv rezipierend im Traditionsraum Halles und seiner vernünftigen Ärzte. Haller bittet er im mermanns Terminologie: Beobachtungsgeist). Da alles, was ist, Wirkung einer Ursache ist, die Kenntnis der Ursache aber Voraussetzung für das richtige Handeln ist, setzt das richtige Handeln den Schluss von der Wirkung auf die Ursache voraus. Dieser letzte entscheidende Schritt aber ist das Geschäft des ‚iudicium‘ oder ‚ingenium‘ (in Zimmermanns Terminologie: G e n i e )“. 260 Toellner 1979, S. 19. 261 Toellner 1979, S. 19. 262 Owsei Temkin, Zimmermann’s Philosophie des Arztes, in: Schweizerische Medizinische Wochenschrift, 1928, Nr. 49, S. 1215ff. 263 An anderer Stelle formuliert Temkin diesen Sachverhalt wie folgt: „es (geht) nicht um eine Untersuchung der Begriffe, die den grossen weiten wissenschaftlich fundierten Bau der Medizin erfüllen, er will kein tiefsinniges, schwerfälliges, logisches System der Medizin aufstellen, sondern er will die Grundsätze aufdecken, die der Arzt befolgen muss und die menschlichen Voraussetzungen betrachten, die dazu gegeben sein müssen“. Temkin 1928, S. 1216. 264 Vgl. z.B. Krüger 1745, S. 65: „Ich behaupte also, dass der menschliche Körper die allerkünstlichste Maschine sey, darinnen immer eins um des andern willen gemacht ist […] Ich bin ferner gewiss versichert, dass sich die Gesetze der Bewegung, die Regeln der Mechanick, Hydraulick, Hydrostatick, Aerometrie und Optick bey unsern (sic) Leibe vollkommen anbringen lassen […]“.

331

Brief vom 12. April 1755 um medizinische Literatur. Auf der siebzehn Titel umfassenden Liste finden sich neben „Stahlii diss. qua temperamenta physiologicephysiognomice-pathologice-mechanice enucleantur“ nicht weniger als drei Werke von Ernst Anton Nicolai (1722–1802).265 In Krügers „Experimental=Seelenlehre“ rangiert Erfahrung neben der Vernunft ganz oben: „Nichts ist gewisser, als dass Vernunft und Erfahrung die beyden Grundsäulen aller menschlichen Erkänntnis sind“.266 Um das Verhältnis von Vernunft und Empirie dreht sich auch Zimmermanns ganze medizinische Welt, und er teilt mit Krüger den „Werth der Sinne“, der ihm Erfahrung als „Mutter der Vernunft“ gelten lässt. Von Krüger unterscheidet sich Zimmermann darin, dass er die Bezeichnung „Sittenlehrer“ nicht von sich weisen würde wie Krüger,267 „Sittenlehrer“ u n d „Geschichtschreiber“ sein will. Das Urteil der neueren medizinhistorischen Forschung über Zimmermanns Erfahrungsbegriff fällt im eigentlichen Wortsinn recht kritisch aus: Insgesamt täuscht also der Titel der ‚Erfahrung‘ darüber hinweg, dass Zimmermann sich darin nur kurz über eigentliche empirische Methodik äussert, den grössten Teil des Buches aber traditionellen humoralpathologischen Anschauungen und Verfahren widmet, die damals auch in der Volksmedizin Anwendung fanden, und wie sie im Titel der ‚Diät‘ in Anlehnung an die klassische Diätetik Galens wenigstens angedeutet sind.268

Ackerknecht spricht von „einer etwas billigen Dichotomie“ im Buch über die Erfahrung, das nichts über Experimente und erstaunlich wenig wirklich Beobachtetes enthalte, auch mit neuesten zeitgenössischen Errungenschaften, wie Perkussion oder wirksamer Skorbutbehandlung, nicht vertraut sei. Dafür lasse sich Zimmermann zu „psychogenetischen Exzessen“ hinreissen, wenn er Epidemien als psychisch bedingt erklärt und somit eine „psychogenetische Maskierung von Unkenntnis der Krankheitsursachen“269 an den Tag lege. So ist nicht Zimmermanns Erfahrungsbegriff von bemerkenswert weiterführendem Interesse, sondern eher der zukunftsträchtige Begriff „Genie“, der wahre Erfahrung mitkonstituiert.

265

Unter den Nummern 14, 15 und 17 sind aufgeführt: Vermischung der Musik und der Arzneykunst. Halle 1744; Von den Gemütsbewegungen. Halle 1746; „Von der Kunst, die Krankheiten aus dem Gesicht zu erkennen“. Ischer 1907, S. 153f. 266 Krüger 1756, Einleitung, S. 2. S. 5 stellt Krüger fest: „Man hat den Werth der Erfahrung in der Naturlehre kennen lernen, und man wird ihn jederzeit zu schätzen wissen“. 267 Krüger 1756, Vorrede, S. 11: „Denn wenn einmahl der Rangstreit der Wissenschaften entschieden werden sollte; so würde es sich vielleicht finden dass der Theil der Seelenlehre, darinn man die Seele durch die Erfahrung kennen lernet, welchen ich beschrieben habe, zu der natürlichen Historie gehörte“. 268 Gurtner 1998, S. 260 269 Ackerknecht 1978, S. 226.

332

Genie Es kann in diesem Zusammenhang nicht darum gehen, den Geniebegriff des Aufklärungszeitalters von Shaftesbury, Young, Hamann, Herder und Goethe270 bis zu Kants „Kritik der Urteilskraft“ (1790) umfassend darzulegen.271 Jedenfalls spielt das Genie „nicht erst mit dem Sturm und Drang, sondern schon in der Hochaufklärung eine wichtige Rolle“.272 Im Folgenden sollen lediglich Aspekte von Zimmermanns Genieauffassung umrissen werden. Über die religiöse Dimension des Begriffs bei ihm wird im nachfolgenden Kapitel Ein frommer Aufklärer einzugehen sein. Zimmermanns Geniebegriff stellt eine wichtige Stimme im Kontext jener Epochendebatte dar, die eine zukunftsträchtige Eigendynamik auslöst, die allerdings beträchtlich weit von ihm wegführen wird. Im 28. Versuch, Radotage übers Geniewesen, giesst er über die Geniemode bissigen Hohn und Spott aus, wenn es z.B. heisst: „Bey der anitzt in Deutschland allenthalben grassierenden Genieseuche, ist doch Divination von dem, was Jünglinge einst seyn werden, seltener als man glaubt“.273 Zimmermann polemisiert im Namen der menschlichen Vernunft gegen Kraftgenies und ihre „Kraftpredigten“:274 „Indes da unsere jungen Genies sich für 270

Vgl. das 19. Buch von Dichtung und Wahrheit, HA 10, S. 160: „Man verlangte Genie vom Arzt, vom Feldherrn, vom Staatsmann und bald von allen Menschen, die sich theoretisch und praktisch hervorzutun dachten. Zimmermann vorzüglich hatte diese Forderungen zur Sprache gebracht […] das Wort Genie ward eine algemeine Losung, und weil man es so oft aussprechen hörte, so dachte man auch, dass, was es bedeuten sollte, sei gewöhnlich vorhanden“. 271 Vgl. zum Geniebegriff des Aufklärungszeitalters nach wie vor die 1933 erschienene materialreiche Berliner Dissertation von Bronislawa Rosenthal, Der Geniebegriff des Aufklärungszeitalters (Lessing und die Popularphilosophen). Berlin 1933 (Germanische Studien, H. 138). Nachdruck: Nendeln 1967. Rosenthal behandelt nach einem geschichtlichen Überblick die Wolffianer (Adelung, Sulzer, Resewitz), verfolgt englische Einflüsse und untersucht die Weiterentwicklung des Begriffs bei Mendelssohn, Nicolai, Garve und Lichtenberg. Vor dem abschliessenden Kapitel über Lessing wird Zimmermann, neben Abbt und Möser, etwas stiefmütterlich und nicht unproblematisch, weil zu wenig medizinhistorisch orientiert, unter der Flagge „Soziale Elemente des Geniebegriffs“ aufgeführt (S. 123–131). Ferner: Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, 1750–1945. 2 Bde. Darmstadt 1985. 272 Rosenthal 1933, S. 116. 273 Versuch 1779, S. 48. An anderer Stelle heisst es gar (Toellner 1979, S. 21): „Genie, dieses pompreiche, von mir vormals so oft gebrauchte Wort, lasse ich hier ganz weg. Mir ekelt vor diesem Wort, weil es seit einigen Jahren das Losungswort einer wilden Rotte junger Leute in Deutschland ist, und weil jeder Knabe, sobald er ein Kanibale von Geschmack, Denkungsart und Sitte ist, sich itzt ein Genie nennet“. Vgl. zur Inflation des Geniebegriffs die Briefstelle: „Du weisst dass man sich alle Mühe in Zürich gegeben Conrad Rahn für ein medicinisches Genie auszukrähen, bald darauf auch für einen Schriftsteller von Tissots Range: beyde Projecte haben fehlgeschlagen. Nun kräht man ihn in Zürich (diesen Kurländer) als ein moralisches Genie aus !!!!!!“. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 27.Januar 1768. ZZH, FA Hirzel 239, 211. Zimmermann fragt Hirzel ironisch an, warum ihm die Verrichtungen der Zürcher „Moralischen Gesellschaft“ ein Geheimnis seien, obwohl sein Bruder, Salomon Hirzel, und andere Freunde Mitglieder sind: „Gieb einem Bettler anstatt einen Schilling einen Gulden, sag es sodann einem Mitglied dieser Gesellschaft, so wirst du ebenfalls in ihre Zahl aufgenommen; und dann bist du ein moralisches Genie“. 274 Versuch 1779, S. 31 „XVI. Kraft“.

333

nichts so sehr foltern, für nichts mehr Grimmen machen, nach keinem Vorzuge so sehr streben, als nach Kraft, und den allgemeinsten Heroismus predigen aus Herzen von Butter“.275 Den „Kraftmännern“ und „Elasticitätsnarren, die alles können, was sie wollen!“,276 schreibt der Vater einer Tochter, dessen Geliebter sich den Werthertod gab, entrüstet ins Stammbuch: Welche unter euch, sind die Verherrlicher und Verbesserer der Menschheit, die Reformatoren Deutschlands und der Welt, durch ihre Mannskraft die Überflügler aller Nationen und Zeitalter? Und welche von euch, Verführer der Jugend, ihre Hinleiter ins Verderben? Hat keiner, so unschuldig auch seine Absicht gewesen seyn mag, Blutschuld auf seinem Gewissen? Hat niemand mit euren Schriften in der Hand, sich eine Pistole ins Hirn abgedruckt, sich ins Wasser gestürzt, Arsenik verschlungen? Habt ihr die Familien, in Verzweiflung, gesehen; gesehen die schönen blutenden Herzen? Habt ihr die Leichen gezählt? –.277

Als Nachfahren Montaignes rühmt ihn ironisch Lichtenberg im unterdrückten „Vorbericht zur zweyten Auflage“ des aus Zimmermanns Feder stammenden, aber von ihm 1779 anonym und ohne Verlagsangabe herausgegebenen „Versuchs in anmuthigen und lehrreichen Erzählungen, launigten Einfällen und philosophischen Remarquen über allerley Gegenstände“. Zimmermann sei einer der „ersten Genies unsrer Zeit“ und Deutschlands künftiger Montaigne.278 Am Ende der Schrift Ankündigung und Bitte Hallers Leben betreffend (1778) setzt Zimmermann noch hinzu, dass er „wie jeder andere seiner Sinne mächtige Mensch, jede Art von Schwärmerey für eine Krankheit der Seele halte, und der politischen Schwärmerey eben so gram“ sei als der theologischen. Er fährt fort: Meine Landsleute dürfen also nicht besorgen, dass ich auf irgend eine Weise, weder in die grenzenlose Impertinenz unserer jüngsten Litteratur, noch auf jene excentrische Bahn verfallen werde, wo man alles in der Welt anders haben will, als es ist, und auf die Weisheit vieler Jahrhunderte gegründete Verfassungen weniger schätzet, als jede aus leerer Genielust herabgeholte Grille.279

Zimmermanns rationalistisches Genie-Verständnis, sein unverbrüchlicher Glauben „an die ewig sich gleichbleibende Grösse des Geistes, die von keinem äusseren

275

Warnung an Eltern, Erzieher und Kinderfreunde wegen der Selbstbefleckung, zumal bei ganz jungen Mädchen. Deutsches Museum I 1778, S. 452. Sieht man allerdings mit Gerhard Sauder (Empfindsamkeit. Bd. I. Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974) das Verhältnis von Aufklärung und Empfindsamkeit als Aufklärungsversuche der Vernunft gegenüber den Empfindungen, wäre Zimmermann sehr „empfindsam“. 276 Versuch 1779, S. 33 „XVI. Kraft“. 277 Ebd. 278 Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Ms. Licht. IV, 37 Bl. 26. Lichtenberg bündelte die im Hannoverischen Magazin vom 10.–24. Mai 1779, 38.–42. Stück, erschienenen eilfertig indiskreten „Versuche“, die nichts desto weniger aufschlussreich für Zimmermanns Denkart sind, um ihm zu schaden. Vgl. Ulrich Joost, Eine „Physiognomik des Stils“ gegen „Don Zebra Bombast“. Lichtenbergs Polemiken gegen Johann Georg Zimmermann, in: Schramm 1998, S. 133ff. 279 Ankündigung 1778, S. 8.

334

Druck und Hemmnis beeinträchtigt werden kann“,280 unterscheidet sich vom Originalgenie, das aus sich selbst eine Welt zu schaffen vermag: „Ein wenig Angst vor der Imagination und deren wilden Auswüchsen blickt bei Zimmermann überall hervor“.281 Vielleicht ist wegen derartigem „Missbrauch in Wort und Tat“282 im dritten, postum erschienenen Teil der Erfahrung von Genie nicht mehr die Rede, vielleicht ist Zimmermann skeptischer und pessimistischer bezüglich der Möglichkeiten des Vernunftschlusses zur Erkennung der Ursachen geworden. Er gebraucht den „vagen und problematischen“283 Begriff nicht nur in der Erfahrung (1763/64), wo die Gleichung gilt, dass der gute Arzt der geniale Arzt ist,284 sondern bereits in seiner Haller-Biographie von 1755. Natürlich kann Haller als ein Mann von Genie gelten, und Zimmermann definiert Genie dort als symbiotische Verknüpfung von Einbildungskraft, Gedächtnis, Beobachtungsfähigkeit und Urteilsvermögen: Wann mit der Einbildungskraft und dem Gedächtnisse, die Aufmerksamkeit und das Vermögen zu urtheilen, die vielleicht beyde nur von dem Willen abhangen, verbunden ist, so entstehet eine gewisse Fertigkeit der Seele, die man Genie heisst, und diese zeiget sich hauptsächlich in den Vorwürfen, welche sich ein jeder Mensch zu seiner Beschäftigung wählet.285

In den Betrachtungen über die Einsamkeit (1756) vergleicht er die beiden gegensätzlichen Definitionen Hallers und Wielands und stimmt Haller zu, der Genie folgendermaßen bestimmt: „Der Mann, dem man Genie zuschreibt, muss durch die Natur zu einer gewissen Wissenschaft vorzüglich tüchtig gemacht seyn, und er muss seine Mühe und Fleiss eben auf diesen Vorwurf gewandt haben, den ihm die Natur zugedacht hat“.286 In der Widmungsadresse an Abraham Freudenreich zum Gedicht Die Zerstörung von Lisabon sind Genies von der Vorsehung ausgewählte Menschen, „für die die Wahrheit allein geschaffen scheinet. Ihre Sinne sind schärfer, ihr Verstand aufgeklärter, ihr Herz ist edler, und ihre Blicke dringen in das innerste der Dinge, wohin ein gemeineres Auge nimmer sehen wird“.287 Diese Bestimmung weist auf das erste Kapitel des vierten Buchs der Erfahrung in der Arzneykunst, „Von dem Genie und den ersten Schritten desselben zu der Erfahrung“ (Erf. II, 1–30), wo Zimmermann Genialität in diesem Sinn einer therapiebegünstigenden Kombinationsfähigkeit des genialen Arztes definiert: 280 281 282 283 284 285

Rosenthal 1933, S. 131. Rosenthal 1933, S. 129. Goethe, Dichtung und Wahrheit, 19. Buch. HA 10, S. 161. Ackerknecht 1978, S. 226. Vgl. Toellner 1979, S. 20. Leben Haller 1755, S. 371f. Vgl. Bouvier 1925, S. 136. Im Brief vom 5. Juli 1756 an Haller steht der Satz: „La Logique ai-je dit est pour les sots, on peut s’en passer avec très peu de genie“. Ischer 1908, S. 121. Im Brief vom 10. September 1759 an Haller klagt Zimmermann über Probleme bei der Abfassung der „Erfahrung“: „[…] la lampe de genie s’eteint, l’esprit se rétrecit“. Ischer 1909, S. 255. 286 Einsamkeit 1756, S. 43f. Zimmermann zitiert Haller nach den Göttingischen Gelehrten Zeitungen, 1748, S. 724. 287 Die Zerstörung von Lisabon 1756, in: Vergessene Texte des 18. Jahrhunderts 5, S. 5.

335

Also ist der ein Mann von Genie, der gross und frey und mit begeisterter Vernunft allethalben gegenwärtig, in einer gegebenen Zeit mehr als andere empfindt und begreift, seine Begriffe am geschwindesten und richtigsten verbindt, und durch diese Verbindungen eine beträchtliche Anzal entfernter, grosser und lichtvoller Wahrheiten findt (Erf. II, 5).

Die anderen Definitionen dieses Kapitel lauten sinngemäss.288 Rosenthal meint, Zimmermanns Geniebegriff erhalte erst mit der Schrift über den Nationalstolz eine die rationalistische Grundhaltung erweiternde Dimension, und es sei gerade der gepriesene aufgeklärte Absolutismus des Preußenkönigs Friedrichs II. in der zweiten Auflage von 1760, der einen günstigen Nährboden für die Entwicklung genialer Persönlichkeiten abgebe.289 In Zimmermanns Plädoyer für die Einsamkeit, mit ihren spezifischen Vorzügen für geniale Menschen, mischt sich jedoch das vorausweisende, modern anmutende Unbehagen über die „Kluft zwischen dem grauen Alltag und dem darunter leidenden Genie – zum erstenmal auch hier das Motiv der Verkennung des grossen Geistes durch die Mitwelt“.290 Man sieht sich im übrigen an Lavaters Geniebegriff erinnert, der hier nicht adäquat referiert werden kann. Nach Lavater hat jener Genie, der unter dem Diktat eines Genius’, eines unsichtbaren Wesens höherer Art, steht, und er ist ein Genie, wenn er selbst ein Wesen höherer Art wäre. Dass Lavater Genie hat und ist, bezeugt Zimmermann in einem Brief an Hirzel, in dem er beteuert, dass die Physiognomik Lavaters „doch immer das Werk eines grossen Genies ist und bleibt, man mag auch übrigens dagegen sagen was man will“.291 Gemeinsam ist Zimmermanns und Lavaters Auffassung die Konzeption von Genie als einer souveränen Kombinationsfähigkeit und die religiöse Dimension des Begriffs, die bei Lavater ausgeprägter ist. Weikards Definition hingegen in seiner Abhandlung Vom philosophischen Genie292 beruft sich zwar ausdrücklich auf Zimmermann.293 Weikard vergleicht das Genie mit einem Auge, das auf einen Blick alle entferntesten Punkte eines weiten Horizonts zu durchdringen vermag.294 Genie wird mehr defensiv bestimmt als originalschöpferisch aufgefasst, wenn Weikard dem philosophischen 288

„Ich verstehe durch Genie einen hohen Grad der Vollkommenheit aller Erkenntnisvermögen, oder einen hohen Grad von Verstand mit einem hohen Grade von Wiz (sic)“ (Erf. II, 2); „Das Genie der Arzneykunst ist also […] die Kunst eine grosse Menge zerstreuter Begebenheiten plözlich zu übersehen und zu verbinden, von diesen Verbindungen auf lichtvolle Schlüsse, von dem bekannten auf das unbekannte zu kommen […] Das Genie des Arztes ist also das Product unendlicher Verbindungen“ (Erf. II, 17/18). 289 Rosenthal 1933, S. 124f. 290 Rosenthal 1933, S. 130. 291 Brief Zimmermanns an Hirzel vom 22. Januar 1776. ZZH, FA Hirzel 240, 15. 292 Der philosophische Arzt IV/1777, S. 3ff. 293 Der philosophische Arzt IV/1777, S. 8. 294 Der philosophische Arzt IV/1777, S. 5. Einleitend definiert Weikard das Genie (S. 3): „Wir verstehen insgemein durch Genie eine glückliche Organisation des Körpers, oder eine erhabenere Disposition des Geistes, wodurch wir fähig sind, in einer Kunst oder in einem Geschäfte vor anderen Menschen, etwas grosses und wichtiges geschwind und glücklich zu unternehmen und auszuführen, oder diese Kunst in einem neueren oder erhabeneren Gesichtspunkte, als andere Menschen, zu betrachten“.

336

Genie die Aufgabe der Vorurteilsbekämpfung und der philosophischen, d.h. wahrheitsgemässen Entrümpelung und Reinigung überträgt, die in jeder Wissenschaft „Ordnung, Kürze, Licht und Wahrheit“ verbreite und den „Schwarm subtiler Theorien“ mustere, als wären sie nie gewesen, und auf diese Weise ganze Bibliotheken in Duodezbändchen brächte.295 Demnach will Weikard auch nicht recht einleuchten, dass die geniale Befähigung etwas Wunderbares, ja göttliche Eingebung sei. Genie nach Zimmermanns Auffassung kann letztlich nicht erlernt werden, sondern ist ein Geschenk des Himmels. Rationale Fertigkeiten sind aber als Basisfähigkeiten, die sich pyramidal auf das Genieideal zuspitzen, unabdingbar, wie analytisches und synthetisches Vermögen sowie das Vermögen, Analogie- und Induktionsschlüsse zu ziehen. Als einer Krönung ärztlichen Bemühens bleibt es dem genialen Arzt vorbehalten, eine Krankheit sachgerecht zu therapieren. Genie bleibt demnach nicht auf die Medizin allein beschränkt, sondern wird auch von Feldherren und Politikern verlangt, was anzeigt, dass auch hier Fragen ärztlicher Macht mitspielen. Der „aufgeklärte wissende, scharfsinnige und scharfsichtige, erfahrene Mann von Genie“,296 der Arzt als Genie, ist allerdings Utopie und nicht Realität. Gerade an Zimmermanns Geniebegriff lässt sich ablesen, dass Literatur bei ihm die Funktion wahrnimmt zu postulieren, was noch nicht Realität ist, aber Realität werden soll. Im Medium des geschriebenen Wortes kann jene Synthese von medicina theoretica und medicina practica vollzogen werden, um die sich wissenschaftliche Forschung im Spannungsfeld konkurrierender Konzepte bemüht. Eine Definition des Genies in der Erfahrung lautet: „Also ist die Einbildungskraft in ihrer grösten Stärke und der Verstand in seiner ganzen Grösse das Genie“ (Erf. II, 4). Im dritten Buch der Erfahrung in der Arzneykunst über den Beobachtungsgeist wird der Begriff der Einbildungskraft nicht definiert, auch im vierten, dem Genie gewidmeten Buch bleibt der Begriff unscharf. Bei Zimmermann wird die Einbildungskraft zum potentiellen Ursprung aller Krankheiten, sie hängt dabei „in einem sehr hohen Grade von dem Körper ab“.297 Je nach dem Grad der Empfindlichkeit und Beweglichkeit von Gehirn und Nerven bewirkt die Einbildungskraft die Erzeugung der inneren Bilder des Erinnerungsvermögens, indem sie „der Seele, die abwesenden Vorwürfe (Vorstellungen), nach allen ihren verschiedenen Eigenschaften, auszeichnet, und in grösserer und kleinerer Anzahl, nach verschiedenen Staffeln von Dauer und Lebhaftigkeit vorstellet“.298 Die Einbildungskraft wird therapeutisch wichtig, weil über sie die Leidenschaften behandelt werden können, und zwar vorzugsweise nicht durch Medikamente, sondern durch Sprache. Am Beispiel der Leidenschaft „Furcht“ exemplifiziert Zimmermann sein therapeutisches Vorgehen:

295 296 297 298

Der philosophische Arzt IV/1777, S. 13. Toellner 1979, S. 20. Benzenhöfer / vom Bruch 1995, S. 41. Leben Haller 1755, S. 370/71.

337

Man muss daher seine (sc. des Kranken) Einbildungskraft auf die entgegengesetzte Seite führen, man muss ihn jeden vorteilhaften Umstand bemerken machen, man muss ihm die nuzlichen Folgen derselben zeigen, man muss ihm lebhaft, stark, und oft davon reden. Der Erfolg hiervon ist, dass die Einbildungskraft des Kranken von der Furcht zur Hofnung oft so geschwind galoppirt, als von der Hofnung zur Furcht.299

Die Einbildungskraft ist eine Komponente des Temperaments,300 das seinerseits krankheitsveranlassend sein kann. Im Nachlass findet sich ein Manuskript von 178 Blatt, das „Von den Temperamenten“301 handelt, nachdem seine Promotionsrede bereits „De temperamentis“ betitelt ist.302 In seiner Haller-Biographie von 1755 beansprucht Zimmermann: Ich habe vor etlichen Jahren, wider die mehrentheils angenommenen Meynungen aller Zeiten, bewiesen, dass eine, mit einer mehrern und mindern Empfindlichkeit, verbundene grössere oder kleinere Reizbarkeit der Theile unsers Körpers den wahren Unterscheid (sic) der Menschen, und das ächte Wesen des Temperaments ausmache.303

Das Temperament, das in der Erfahrung ausführlich behandelt wird, bildet die begriffliche Brücke zwischen Körper und Geist, weil es durch Körperliches und Seelisches zusammen konstituiert wird. Zimmermann weicht von der Humoralpathologie und ihrer Bestimmung der Temperamente nicht wesentlich ab, warnt jedoch von einer systematischen Erfassung. Er betrachtet denn auch die verschiedenartigen Temperamente vorab im Hinblick auf ihre therapeutische Ergiebigkeit, d.h. der aus ihnen sich bildenden Leidenschaften. Die zugleich physische wie „moralische“ Diät besteht darin, Körper und Seele zu kurieren, was naturgemäß ein Zusammenwirken von Arzt, Philosoph und Theologe empfehlen lässt. Eine andere Stelle belegt eindrucksvoll diese symbiotische, beinahe psychoanalytisch anmutende Methode, ohne analytisch zu sein: Der Arzt wirkt als Arzt nur blos durch den Körper, in die Seele, er kann aber auch als Philosoph viel gutes durch die Seele in dem Körper hervorbringen […] man muss die körperliche Ursach seines Übels (sc. eines Melancholiekranken) durch körperliche Mittel heben; liegt die Ursach des Verdrusses, der Bekümmernis, der Traurigkeit, der Angst in der Seele, so sind die körperlichen Mittel unzulänglich, denn diese Übel gehen unverrückt auf ihren Wegen fort, bis ihre Ursach aus der Seele weggenommen ist; wenn aber die Ursach in Körper und Seele zugleich liegt, so muss man zugleich für beyde sorgen. In dem ersten Falle wird also in die Seele

299 300

Benzenhöfer / vom Bruch 1995, S. 135/136. Vgl. zum gesamten Problemfeld von Temperament und Leidenschaften bei Zimmermann: Gurtner, Matthias Lorenz, Die Temperamente und die Leidenschaften als Krankheitsursachen: Johann Georg Zimmermanns (1728–1795) Von der Erfahrung in der Arzneykunst im Vergleich mit drei seiner Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der Somatopsychosomatik im 18. Jahrhundert. Diss. med. Universität Bern 1998. 301 Niedersächsische Landesbibliothek Hannover, Ms XLII, 1933, B 6a. Ein Fragment von vier Blättern (B 6c) trägt den Titel: „De viribus naturae insitis, ad ingenios et eruditissimos: Italiae medicos et philosophos dissertatio“. 302 Im Brief an Haller vom 12. April 1755 teilt Zimmermann mit, dass er in Mussestunden sich mit einer Abhandlung über Temperamente befasse. Ischer 1907, S. 153. 303 Leben Haller 1755, S. 368.

338

durch den Leib gewirket, in dem zweiten unmittelbar in die Seele und durch dieselbe, in dem dritten durch beyde.304

Mit dem letzten Zitat stellt sich grundsätzlich die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Seele bei Zimmermann. Commercium mentis et corporis „Sind sie verbunden?“,305 fragt Jacob Friedrich Abel zu Beginn des zweiten Kapitels seiner Einleitung in die Seelenlehre, das die Verbindung des Körpers mit der Seele untersucht. Es ist für Abel ausgemacht, dass auf gewisse Veränderungen der Seele stets gewisse Bewegungen des Körpers folgen und umgekehrt, die Natur dieser Gegenstände jedoch gänzlich unbekannt ist und nie erwiesen wird, weshalb er sich an die Erforschung der Erscheinungen hält, um dem „metaphysischen Labyrinth“306 zu entrinnen. Auch für Platner gilt, dass der Mensch weder Körper noch Seele allein ist, „er ist die Harmonie von beyden, und der Arzt darf sich, wie mir dünkt, eben so wenig auf jene einschränken, als der Moralist auf diese“.307 Wie beim Erfahrungsbegriff handelt es sich beim „commercium mentis et corporis“ um ein (zu allen Zeiten) vielgestaltig erörtertes Problem, an dem sich der Aufklärungsdiskurs unentwegt abarbeitet. Noch Jean Paul stellt fest: „Die Vereinigung unseres Körpers mit unsrer Sele bleibt das ewige Rätsel iedes Philosophen“.308 Bei Zimmermann ist angesichts seiner notorischen Begriffsunschärfe keine widerspruchsfreie Klärung möglich. In der postumen Schrift Von der Diät für die Seele gibt sich Zimmermann pragmatisch: Unbekümmert um die Romane die der Wiz der Philosophen zur Aufklärung dieses Zusammenflusses von Körper und Seele erfunden bleibt die demüthigere Philosophie der Ärzte schlechterdings bey den Erfahrungen stehen die sie von der Macht des Körpers über die Seele, und der Macht der Seele über den Körper hat.309

Er vertritt eine recht starre, nicht ausgestaltete Denkform einer spiegelbildlichen Korrespondenz von Körper und Seele: „Tausendemal ist eine gegebene Veränderung in dem Körper die Ursache einer gegebenen Veränderung in der Seele, aber 304 305 306 307 308 309

Benzenhöfer / vom Bruch 1995, S. 78f. Abel 1786, S. 17. Abel 1786, S. 18. Platner 1772, Vorrede, S. IV. Jean Paul ed. Berend II, 1, S. 283. Benzenhöfer / vom Bruch 1995, S. 39f. Es ist die Haltung Platners (Platner 1772, Vorrede, S. XII): „Ob nun dieses (sc. Wechselverhältnis von Körper und Seele) durch eine vorherbestimmte Harmonie oder durch einen reellen Einflus geschieht, und was dieser reelle Einflus wäre, das kann mir in so weit gleichgültig seyn, in wiefern es die Frage ist, ob ich noch sonst etwas für die Glückseligkeit des Menschen interessantes von den Verhältnissen der Seele und des Körpers erfahren kann“.

339

eben diese Veränderung in der Seele ist oft die Ursache der nemlichen Veränderung in dem Körper“ (Erf. II, 137). Körper und Seele bilden eine Einheit, gleichsam einen symbiotisch-chemischen Einheitsstoff: In einem Newton, der das unendliche misst, und in dem Bürger einer kleinen Stadt der wie ein Frosch in seinem Sumpfe seine Stadt für das unendliche hält, sind Leib und Geist dergestalt in einander verschlungen, dass man mit Recht auf gut chymisch gesprochen hat, es scheine sie haben einander aufgelöst.310

Eine Stelle der Einsamkeitsschrift beleuchtet die gegenseitige Einflussnahme: „Die Organen müssen nicht erwürgt seyn, wenn die Seele wirken soll, die doch allein durch Organen wirket. Aber wenn die Organen nicht mehr die Seele niederbeugen, dann erst ist sie in der Einsamkeit wie in der Welt wirksam und unternehmend“ (III, 450). Man gewinnt bisweilen den Eindruck, Zimmermann favorisiere die Einflussnahme des Körpers,311 wodurch natürlich die Wirkung der Seele nicht marginalisiert wird: „Die Seele hat nicht nur überhaupt einen sehr grossen Einfluss in den Körper, sondern auch unabhängig von dem Körper in sich selbst solche Vermögen die man zum allgemeinen Vortheil des Körpers und zu ihrer eigenen Beruhigung anwenden kann“.312 Im letzten Kapitel der Ruhr-Schrift führt Zimmermann aus, wie bei einer RuhrErkrankung die Seele dem Körper schaden kann. Vorgängig bemerkt er: „Die Seele hat in der Ruhr, so wie in allen Krankheiten, auch eine Diät vonnöthen“.313 Anschaulich berichtet er im ganzen Werk von den Wirkungen der Gemütszustände, von Furcht und Trauer, von Ungeduld und Zornmütigkeit auf den Krankheitsverlauf.314 Zimmermann begeistert sich in einem Brief an Lavater vom September 1764, unmittelbar nach seinem ersten Besuch in Brugg, für die entkörperlichende Wirkung von Mendelssohns Geist auf seinen kümmerlichen Leib: Das von ihrer werthen Hand gezeichnete Portrait des Juden Moses hat beÿ mir die wunderbarsten Empfindungen erweket. Voll Bewunderung und Erstaunung über die Grösse des Geistes der diesen elenden Körper bewohnet empfand ich beÿ dem ersten Anblik dieser Zeichnung eine Mischung von Idolatrie und Traurigkeit, die doch bald in die reine Verehrung Gottes ausbrach,

310

Benzenhöfer / vom Bruch 1995, S. 39. Vgl. Zückert 1768: „Seele und Körper stehen durch das System der Nerven in einer unzertrennlichen Verbindung. Beyde können wechselsweise die Ursache und Würkung der in ihnen vorgehenden Veränderungen seyn“. Ferner: Krüger 1756, S. 7:“Die Seele ist so genau mit dem Leibe verbunden, dass wir aufhören Menschen zu seyn, sobald sie davon getrennet wird“. 311 Vgl. „[…] so bald man weiss, dass der Körper einen weit grössern Einfluss in die Seele hat, als aber die Seele in den Leib“. Leben Haller 1755, S. 248. Vgl. Weikard, Der philosophische Arzt II/1775, S. 4: „Ich glaubte bey dem ersten Entwurfe meines Planes wahrgenommen zu haben, dass ich mich mehr um die Beschaffenheit und Kräfte des Körpers, als um jene der Seele zu bekümmern hätte“. 312 Benzenhöfer / vom Bruch 1995, S. 77. 313 Ruhr 1767, S. 426. 314 Vgl. u.a. Ruhr 1767, S. 30f., S. 78, S. 430ff.

340

der dieses Wunder gemacht hat. Oder glauben Sie nicht mit mir, dass Mendelssohn Geist in dem Leibe eines Alkibiades uns weniger bezauberte?.315

Umgekehrt vermag der Körper der Seele Schaden zuzufügen: „Warum ist man auf seinen Verstand stolz, da auch bey dem grösten Geiste ein dicker Klumpe Koth im Unterleibe, oder nur ein von Winden aufgetriebener Darm, der Seele göttliches Licht auslöscht?“.316 Zimmermann berichtet von einem Universalgenie in Bern, das sich intellektuell überarbeitete. Die Autopsie ergibt, dass sich im Gehirn Wasser angesammelt hat: „Folglich hatte ein Pfund Wasser aus einem so grossen Genie ein Thier gemacht“ (Erf. II, 545). „Magen und Unterleib, und die, Gott weiss wie, mit beyden so mächtig zusammenhängende Imagination […]“317 liest man einmal, und an anderer Stelle erfährt man: Das Hirn ist bekanntlich der (sic) Werkzeug durch den die Seele denken muss, und es ist zugleich unendlich zart. Man darf also nicht fragen, ob die zarten Fasern des Hirns von einer allzustarken Anstrengung nicht so sehr ermatten sollen, als die groben Muskeln des Bürgers oder Bauers durch die Arbeit beym Ambos, oder auf dem Felde (Erf. II, 501).

Diese Betonung der Körperlichkeit findet sich schon bei Krüger, der tadelt, „wenn man glaubt, eine Veränderung in dem menschlichen Leibe, bloss durch Nennung des Worts Seele begreiflich zu machen: sondern man muss vielmehr den Grund, warum die Bewegungen vielmehr so als anders erfolgen, allemahl aus der Naturlehre und Mathematick herleiten“.318 Der Körper hat auch bei Zimmermann zwingende Macht auf die Seele, aber nicht uneingeschränkt. Die Seele ist anti-mechanistisch, immateriell und unsterblich, zwar vom Körper abhängig, aber wesensverschieden.319 Körperliche Gebrechen können, wie in Hallers Jugend und im Falle Julie Bondelis, im Geist von Leibniz’ Theodizee die Ausbildung der Seelenkräfte befördern.320 In der Erfahrung in der Arzneykunst erscheint die Formel „des Leibes und der Seele“ leitmotivisch, z.B. im Hinweis auf die „aus der allzugrossen Hize fliessende 315 316 317 318

Brief Zimmermanns an Lavater vom 8. September 1764. ZBZ, FA Lav. Ms. 12. Nationalstolz 1789, S. 226. Unterredungen 1788, S. 153. Krüger 1745, S. 66. Vgl. Krüger 1756, S. 18: „[…] dass nicht nur aus den Veränderungen der Seele, Veränderungen des Leibes, sondern auch aus Veränderungen des Leibes, Veränderungen der Seele erkannt werden können“. 319 Vgl. den Brief Zimmermanns an Hirzel mit der Anrede: „Liebe Seele“. ZZH, FA Hirzel 239, 235. 320 Leben Haller 1755, S. 6: „Gleichwie in dem Grundriss der erschaffenen Welt das Uebel ein nothwendiges Stück des grossen Zusammenhangs ist, in dem nichts als Schönheit und Harmonie und Ordnung herrschet, so dienen auch die Gebrechen des Körpers zu den Absichten des Schöpfers in der Gestaltung der Seelen, die hellere Strahlen des Göttlichen Lichtes zu seyn scheinen“. Vgl. Erf. II, 500: „Die immerwährende Wirksamkeit des Geistes, und die damit verbundene Ruhe des Körpers, macht den Körper unendlich schwach; die immerwährende Wirksamkeit des Leibes, und der damit verbundene Stillstand des Geistes, macht den Geist unendlich schwach. Darum ermüdet die geringste Meditation den Pöbel, darum ermüdet die geringste Übertreibung seiner Leibeskräfte den Gelehrten“.

341

Entkräftung des Leibes und der Seele […]“ (Erf. II, 152),321 und sie findet sich ebenso in der Ruhr-Schrift.322 Die Anfänge seiner ärztlichen Praxis in Bern (1752– 1754) bezeugen Zimmermanns ausgeprägtes Interesse an Psychosomatik.323 Viele Fallgeschichten in der Erfahrung stammen aus seiner Berner Zeit: […] anhand von zahlreichen Belegen, literarischen Anekdoten und selbsterlebten Beispielen (wird) gezeigt, wie Freude, Zorn, Schrecken, Furcht, Scham, Indignation, Trauer, unglückliche Liebe, Neid usw. sich auf die physiologischen Vorgänge bei Gesunden und besonders bei Kranken auswirken: ein wahres Panoptikum der Psychosomatik.324

Die psychosomatische Bandbreite reicht von sog. hysterischen Symptomen wie Koliken, Kopfweh, Krämpfen und Herzklopfen bis zu Gespensterfurcht und Scheinschwangerschaft. In der Widmungsadresse an Frau von Döring im ersten Teil des Einsamkeitswerks entwirft Zimmermann die idealtypische Beobachtungshaltung des in seinem Sinne wissenschaftlich, d.h. „wahr“ verfahrenden Arztes. Dieser müsse gewohnt sein, „alles zu Hülfe zu nehmen was jede Falte seiner (sc. des zu beobachtenden Menschen) Natur entwickelt, nichts vorbeyzugehen von dem was die Seele mit dem Körper gemein hat, und was dieser in die Seele wirket“ (I, XV). Körperliche Krankheitssymptome können allerdings durchaus auf körperliche Ursachen zurückgeführt werden. In der Erfahrung in der Arzneykunst berichtet Zimmermann von einer jungen und attraktiven, mit einem viel älteren Mann verheirateten Frau, die an starken Bauchschmerzen litt. Die Behandlung musste sich auf den Ehemann konzentrieren, da dieser seine im siebten Monat schwangere Frau jede Nacht zum Geschlechtsverkehr nötigte (Erf. II, 398f.). Wer, wie die Anachoreten der ersten Christenheit, dem Körper nicht gehörigen Tribut entrichtet, bewirkt eine „Dörrsucht der Werkzeuge der Seele“ (Erf. II, 367). Zimmermann hat zwar den quasi unermesslichen Ozean des Zusammenwirkens von Leib und Seele im Blick, doch eine weiterführende Erschließung dessen, was unter „Werkzeugen der Seele“ zu fassen ist, bleibt aus. Idealerweise wirken Körper und Geist funktionstüchtig und unproblematisch zusammen. Das höchste Gut auf dieser Erde ist ein gesunder Geist in einem gesunden Leibe, aber in der Besorgung von beyden kann man zu weit gehen, weil die übertriebene Pflegung des Leibes den Geist stumpf macht, und die übertriebene Pflegung des Geistes den Leib schwächt (Erf. II, 504). 321

Andere Formulierungen sind u.a. „des Körpers und des Geistes“ (Erf. II, 357); „den Körper und die Seele“ (Erf. II, 387); „Leib und Seele“ (Erf. II, 480); „der Geist, und mit dem Geiste der Leib“ (Erf. II, 534); „des Leibes und des Geistes“ (Erf. II, 597), auch Erf. II, 170; Erf. II, 289; Erf. II, 291 und passim. 322 Ruhr 1767, S. 153: „ein heftiger, den ganzen Leib und die ganze Seele erschütternder Frost“; S. 154: „ein heftiger, durch Leib und Seele bebender Frost“ u.a. 323 Vgl. dazu Urs Boschung, Von „[…] dem ersten Schritte, den ich als Arzt in die Welt that […]“. Die Anfänge von Johann Georg Zimmermanns ärztlicher Praxis, Bern 1752–1754, in: Schramm 1998, S. 31–48. 324 Boschung, Urs, Die Anfänge von Johann Georg Zimmermanns ärztlicher Praxis, Bern 1752– 1754, Schramm 1998, S. 41.

342

In einem ärztlichen Gutachten kommt derart psychosomatisches Denken deutlich zum Ausdruck gemäß einer Stelle in der Erfahrung: „Jeder aufmerksame Arzt weis, dass auch zuweilen die Gemüthskrankheiten durch physische Mittel unheilbar sind, wenn die Seele zum besten des Kranken nicht mitwirkt“ (Erf. I, 449). Im Brief vom 31. Oktober 1772 an Johann Bernoulli (1744–1807) heißt es: „si tout ce qui agit moralement sur cette maladie325 si compliquée pouvait successivement etre changé un peu en mieux, je crois qu’il en resulteroit des effets infiniment plus Salutaires que ne peuvent l’etre ceux des remèdes que je propose ici“.326 Marcard rühmt Zimmermanns Verfahren bei der Behandlung von „Nervenkrankheiten“, also Leiden, für die heute primär die Psychiatrie zuständig ist, als meisterhaft, man möge ihn dabei „als Seelen=Arzt“ betrachten, oder „als Arzt des Leibes“.327 Zimmermann verarbeitet dabei subjektive Krankheitserfahrungen, und für Psychopathologisches hat er ein passioniertes Augenmerk. Er beabsichtigte, die von ihm eingehend beobachteten Phänomene Hypochondrie und hysterische Nervosität zum Gegenstand einer eigenen Schrift zu machen, wie Tissot berichtet: „Il pensa quelques moments à un traité des vapeurs et de l’hypocondrie, maladies sur lesquelles il avoit de très-belles observations; mais il abandonna bientot ce projet“.328 Dem behandelnden Arzt obliegt, „durch die Sinne und den Verstand“ (Erf. I, 2) Erkenntnis zu vollziehen: „Alles was uns die Sinne versichern, alles was aus einer richtigen Induction fliesst, alles was wir unmittelbar in unsern Ideen sehen, ist wahr“ (Erf. I, 176). Auf die „Werkstatt der Seele“ (Erf. II, 501) ist nur durch den Leib einzuwirken und umgekehrt. Der „Leibesbeschaffenheit“ und der „Gemüthsbeschaffenheit“329 des Menschen trägt er im übrigen in seinen Schriften Rechnung, indem er versucht, auf beide zu wirken. Am Ende des achten Kapitels der Ruhr-Abhandlung schreibt er beispielsweise: „Mein Verfahren im siebenden Capitel wirkt auf die Sinne, und die Einbildungskraft; in diesem achten Capitel, verhoffentlich auf den Verstand“.330 Zimmermanns medizinhistorische Bedeutung liegt demnach vor allem in seiner psychosomatischen Behandlungsweise. Trotz aller voraustastenden Annäherungsversuche ist er nicht in die Reihe der Vorentdecker des Unbewussten einzuweisen. Er betont als Anthropologe die Wichtigkeit seelischer Einwirkungen auf das kör325

Über diese psychische Erkrankung sagt Zimmermann: elle „offre sans doute presque tous les phenomenes possibles d’une Sensibilite excessive des nerfs, et des vices dans les fluides qui en dependent“. 326 Zimmermann gibt detailliert drei Heilmittel an. Brief von Zimmermann an Johann Bernoulli vom 31. 10. 1772. Universitätsbibliothek Basel, Handschriften-Abteilung, L I a 730 fo 99/100. 327 Marcard 1796, S. 31. 328 Tissot 1797, S. 43. In der Haller-Biographie von 1755, S. 367 charakterisiert Zimmermann die „berühmte Hypochondrie“ wie folgt: „diese unerschöpfliche Quelle von Grillen und schönen Gedanken, dieser unwiderstehbare Reitz zu einer plötzlich uns hinreissenden Freude und der langen tiefdenkenden forschenden Traurigkeit, diese wankende Regentin unsers ewig veränderlichen Sinnes, unserer Thaten, unserer Reden“. 329 Ruhr 1767, S. 30f. 330 Ruhr 1767, S. 237.

343

perliche Wohlbefinden und schenkt so dem Zusammenwirken von Körper und Seele in seiner ärztlichen Praxis bevorzugte Beachtung. Diese Forderung nach richtigem, d.h. natur- und schöpfungsgerechtem Vorgehen, postuliert er in der Erfahrung in der Arzneykunst unentwegt, indem er zwischen einem „gemeinen Geist“ und einem „aufgeklärten Geist“ unterscheidet, der mit distanziertem, aber damit durchdringendem Blick seine Umgebung beobachtet. Als „guter“ Beobachter, dem „keine Regung in den Herzen der Menschen entgeht“ (Erf. I, 160), der „tief in die menschliche Natur“331 sieht, geht er nicht wie „mehrentheils der Weltmann“ vor, der immer sehe, aber niemals denke, und er übernimmt nicht die umgekehrte Haltung des Philosophen, der immer denke, dafür niemals sehe, sondern „nach der gehörigen Vorbereitung die Kenntnis der Welt in der Welt sucht“ (Erf. I, 160), indem er an den Handlungen der Menschen teilhat, um deren Handlungsweise zu durchschauen.332 Fluchtpunkt aller Erkenntnisbestrebungen ist dabei der Versuch einer Einsicht in „die gemeinsamen und unveränderlichen Geseze des Zusammenhanges zwischen dem Körper und der Seele“ (Erf. II, 563). Tatsächlich bleibt es bei einem pragmatischen Vorgehen je nach Krankheitsfall. Im Kapitel Nachtheilige Einwirkung der Einsamkeit auf die Einbildungskraft des Werks Über die Einsamkeit erklärt Zimmermann: „Sinnliche und geistige Liebe sind doch Zweige eines Stammes. Sinnliche Liebe wird oft geistig und geistige Liebe wird oft sinnlich“ (II, 169). Er beruft sich mit seinem leib-seelischen Vorgehen auf die „alle Bewölkungen der Widerwärtigkeit und alle Leiden der Zeit“ überwindende „Lehre Jesu und seiner Apostel“, die, trotz der „Herrschaft der Gedankenlosigkeit und Verderbnis“, die Macht der Seele über den Körper erwiesen habe (Erf. II, 633). In Fällen von Hypochondrie, Mutterkrankheit oder Melancholie wirkt der Körper „durchaus so wie die Seele fühlt“ (Erf. II, 437). Lohff hat festgestellt, dass Zimmermanns Schrift Über die Einsamkeit und deren Auswirkungen auf das seelische und körperliche Befinden dem von Philipp Pinel beschriebenen Einfluss der Seele auf das allgemeine Befinden und die Entstehung bzw. Vermeidung von Geisteskrankheiten entspreche.333 Sowohl Seele wie auch Körper können die Ursache für die Entstehung von Krankheiten sein. Je nachdem hat die Therapie zu erfolgen, indem sie diätetisch entweder über den Körper auf die Seele einwirkt oder über die Einbildungskraft

331 332

Unterredungen 1788, S. 229. Vgl. die Feststellung von S. Zurbuchen (Zurbuchen 1996, S. 63): „Das Dilemma des Gelehrten ist, sich um seiner Anerkennung willen den Vorurteilen seiner Nation beugen zu müssen, sich aber gleichzeitig um der Wahrheit willen vom Schein der Welt befreien zu müssen“. Weltkenntnis entspringt der Erkenntnisleidenschaft des beobachtenden Gelehrten, der auf Weltumgang freiwillig angewiesen ist, um die dadurch gewonnene Erkenntnis therapeutisch dienstbar machen zu können. 333 Lohff 1997, S. 185.

344

und die Leidenschaften auf die Seele.334 Beide sind gleichermaßen im Heilprozess zu berücksichtigen: „Die Anzeige zur Wegnehmung der Ursachen der Krankheiten ist durch die Diät für den Leib noch nicht erfüllt. Wir müssen auch die Wege ausspüren auf welchen man die Ursachen der Krankheiten von der Seele wegnehmen, oder selbst durch die Seele heben kann“.335 Während Robert Whytt (1714–1766), der Erforscher der Nervenkräfte und ihrer Gesetzmässigkeiten, bei der Therapie spezieller Krankheitsbilder auf übliche Medikamente wie Abführmittel zurückgreift, ohne psychische Heilmethoden zu beschreiben,336 lässt sich bei Zimmermann eine beinahe übermäßige Berücksichtigung der Psychogenese feststellen. Charakteristisch für ihn ist in der methodischen Ausrichtung seiner medizinischen Tätigkeit überhaupt ein unentschiedenes Schwanken zwischen überindividuellen, invarianten Krankheitsverläufen und der empirisch unbestreitbaren Tatsache, dass jeder Mensch einen Spezialfall darstellt.337 Das Erleben der Einsamkeit spendet Trost, auch „wenn alles verlohren ist, was uns Philosophen und Theologen von Geistesstärke und Geistesgrösse lehren“ (III, 179). Aus seiner im Juli 1770 verfassten Histoire de ma santé, die seinen Gesundheitszustand in den Jahren vor und nach dem Wegzug aus der Schweiz minutiös protokolliert, wird ersichtlich, wie Zimmermann selbst als Paradebeispiel einer Persönlichkeit gelten kann, die auf psychische Bedrängnis unmittelbar somatisch reagiert.338 Herder hat über das Wesen der Seele festgestellt: […] der Körper ist nur lebendwürkendes Symbol, Formel, Phänomenon der Seele. Ohne alle Mystik und im schärfsten Philosophischen Verstande ist der innere Mensch dem äussern durch und durch einwohnend: dieser nur die Hülle von jenem, und die H a l l e r , M e a d ,

334

Vgl. „Obschon die Leidenschaften oft aus dem Körper fliessen, obschon der Körper in unendlich vielen Fällen eine zwingende Macht auf die Seele hat, so ist sie doch nicht in allen Fällen seine Sclavin“ (Erf. I, 448). 335 Benzenhöfer / vom Bruch 1995, S. 39. 336 Vgl. Schneider 1987, S. 31. Vgl. den Brief an Haller vom 17. November 1765: „Je serai bien charmé de lire un jour le tr.(aité) de M. Whytt sur les maladies nerveuses. Vous aurés eu la bonté d’avertir M.Tissot de la publication de cet ouvrage“. Ischer 1911, S. 59. 337 Zimmermann behält beide Pole im Blick: „Le malade est une synthèse spatiale géométriquement impossible, mais pour cela même unique, centrale et irremplaçable: un ordre devenu épaisseur dans un ensemble de modulations qualificatives. Et le même Zimmermann qui ne reconnaissait dans le malade que le négatif de la maladie, est ‚tenté parfois […] de n’admettre que des histoires particulières. Quoique la nature soit simple dans le tout, elle est cependant variée dans les parties; par conséquent, il faut tâcher de la connaître dans le tout et dans les parties‘. La médecine des espèces s’engage dans une attention renouvelée à l’individuel une attention toujours plus impatiente et moins capable de supporter les formes générales de perception, les lectures hâtives d’essence“. Michel Foucault, Naissance de la clinique. Une archéologie du regard médical. Paris 1963, S. 13. 338 In L’histoire de ma santé (1770), NLB Ms XLII 1933 B 8b, abgedruckt in: Mit Skalpell und Federkiel 1995, S. 263–275. Vgl. den Exkurs in 6. 2. Zu Zimmermanns Krankengeschichte, S. 129ff.

345

Z i m m e r m a n n sind mehr, als alle Grübler a priori, seine Vertrauten: denn a priori wissen wir von der Seele Nichts.339

Ob man einer materialistischen Auffassung Glauben schenkt, einem psychophysischen Dualismus oder einem biopsychosozialen Modell: Der Mensch weiss zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht wirklich entscheidend mehr als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.340 Was bei Zimmermann und heutiger Wissenschaftsmedizin letztlich bleibt, ist eine praxisorientierte Heilkunst, die sich über die Erfahrung den tieferen Zusammenhängen zu nähern versucht. 10.2.2 Kommunizierende Therapieformen. Das Zusammenwirken von Literatur und Medizin Zimmermann unterscheidet sich deutlich von jenen kommenden Zeiten, „da die Naturwissenschaften einem überheblichen Selbstrausch zu verfallen drohten“, weil er sich den „vorherrschenden Glauben an die Allmacht menschlicher Wissenschaft“ nie zu eigen macht.341 Kein Machbarkeitswahn voller Vernunftstolz und Zivilisationsarroganz begegnet bei ihm, welche die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts über weite Strecken dominiert. Ansätze zu einer eigentlichen Ärztekritik fehlen nicht. Er polemisiert gegen Wundärzte und Richter, die dem akademischen Arzt vorwerfen könnten, die Krankheitsursache nicht erkannt zu haben, wo doch gilt: „weise Ärzte bekennen aufrichtig dass dies alles über ihre Kunst ist und bedauern es mit Schmerzen“ (Erf. I, 339). Zimmermann beruft sich auf Boerhaave, der sich über die Machtlosigkeit bei der Behandlung sichtbarer und unsichtbarer Geschwulste äusserte: Fürwahr so oft ich […] den hellen Haufen der Praler dergleichen Dinge von sich rühmen höre, so oft möchte ich dass sie scirrhose Geschwulsten, verschlossene und offene Krebse, Honiggeschwulsten, Breygeschwulsten und Spekgeschwulsten, auch nur in auswendigen Theilen durch sichere Mittel heilten, und Beispiele ihrer wirksamen Kunst gäben (Erf. I, 339).

Dass Zimmermann auch die gesellschaftliche Bedeutung seines Arztberufes gerne wahrnahm und damit auf die Rolle des Arztes als gewandter Gesprächspartner von Fürsten, Königen und Kaisern im 19. Jahrhundert vorausweist,342 bedeutet durchaus nicht, dass er sich als Gebieter über Leben und Tod versteht. In der RuhrSchrift erklärt er an einer Stelle: „Ich hingegen muss hier in vielem so wie ander339 340

Herder Werke, ed. Suphan, Berlin 1892, Bd. VIII, S. 250. Richard Mead lebte von 1673–1754. Vgl. Seifert, Josef, Das Leib-Seele-Problem und die gegenwärtige philosophische Diskussion. Eine systematisch-kritische Analyse. Zweite Auflage. Darmstadt 1989. 341 Bonjour, Edgar, Kocher, Theodor, in: Die Schweiz und Europa. Ausgewählte Reden und Aufsätze zu seinem 60. Geburtstag am 21. August 1958. Hg. v. Freunden und Schülern. Basel 1958, S. 299. 342 Vgl. in diesem Zusammenhang die Versuche der Zarin Katharina II., Zimmermann nach Russland zu bewegen, die er ablehnt. An Tissot schreibt er im Brief vom 5. September 1785 (BBB Mss hh XVIII 71. Nr. 114): „elle m’a fait inviter de venir la voir cet été, à ses frais, pour quelque tems, quoi qu’elle se porte parfaitement bien“. Vgl. auch Huerkamp 1985.

346

wärts in allem meine Unwissenheit gestehen“,343 und er ist sich auch der eingeschränkten Heilkraft der Arzneien bewusst.344 Bereits in der Dissertation von 1751 stellt er bekenntnishaft fest: omnia (uti LEIBNIZ ait) principia motus ultima sunt physica & mechanice explicari non possunt. Id tantum de irritabilitate generatim asseri posse mihi videtur, talem esse proprietatem corporum, inprimis animalium, quae in se contineat motus sui causam […] Meretur ergo Irritabilitas inter primarias proprietates corporum recipi, ut quae animalibus omnibus est communis, eorumque forte vitam sola absolvit; eius autem causas facile ignoramus.345

Im dritten Kapitel der Ruhr-Abhandlung warnt er ausdrücklich vor menschlicher Hybris angesichts der Rätselhaftigkeit von Ursachen für den Ausbruch der Ruhr: Aber die Ursach, warum bey gleicher Witterung die Ruhr an so vielen andern Orten nicht ausgebrochen sey, ist mir unbekannt. Vielen wird es zwar leicht scheinen, eine metaphysische Ursach dieser aus physischen Gründen unerklärbaren Wirkungen zu finden; sie werden aus der Strafe auf die Sünde, aus dem vorzüglichen Überfall der Krankheit auf die vorzügliche moralische Verderbnis des Ortes schliessen, wohin sie gefallen ist; sie werden mit dem Sirach sagen: Wer wider seinen Schöpfer sündiget, wird in die Hände des Arztes verfallen. Aber alle Erklärungen dieser Art sind dreist, unbesonnen, und falsch. Wer bist du, o Mensch, um es wagen zu dürfen, dich auf den Richterstul des Allerhöchsten zu sezen?.346

Zimmermann hält in seinem ärztlichen Wirken unbeirrt an seinem spezifischen Christenglauben fest.347 Zimmermann beschreibt das Phänomen der Irritabilität exakt, gibt aber keine Begründung von Ursachen dieser Grundeigenschaft aller Lebewesen. Er gesteht freimütig die Grenzen wissenschaftlicher Forschung, wie er sie versteht, ein: „Non pudet ea respondere qua saepius responderunt maximi viri: reum causas eruere nobis non licet, sufficit phoenomena explorasse, uti in motubus corporum coelestium adtractionis & gravitatis phoenomena quaerit Physicus, non causas“.348 Zwei Beispiele aus dem Einsamkeitswerk mögen dieses Wissen um Grenzen medizinischer Tätigkeit illustrieren. Kranke ermahnt Zimmermann, auf ihre seelischen Behauptungskräfte zu vertrauen, die über den kranken Körper obsiegen

343 344

Ruhr 1767, S. 35. Ruhr 1767, S. 525: „Wer weis nicht, dass die Heilkräfte der Arzneyen niemals absolut und untrüglich, sondern relativ und durch die Natur des Übels und des kranken Körpers bedingt sind; dass sich daher kaum jemals ein Mittel findet, das alles für alle vermöge, obschon einige doch sehr ausgebreitete Kräfte besizen“. Vgl. S. 379: „[…] und darum ist es ebenfalls unmöglich, für die verschiedenen Gattungen und Perioden der Ruhr eine allgemeine Heilungsmethode zu bestimmen“. 345 Dissertatio de irritabilitate 1751, S. 70. 346 Ruhr 1767, S. 37. 347 Vgl. die Briefstelle vom 20. Mai 1770, unmittelbar vor dem Tod seiner Frau, die ein Stoßgebet enthält: „Le chirurgien et le medecin Sont avec ma femme. Dieu de misericorde Soutenés la, Soutenés moi“. Brief von Zimmermann an Tissot vom 20. Mai 1770. BBB, Mss hh XVIII 71, Nr. 87. 348 Dissertatio de irritabilitate 1751, S. 70. „Er versuchte erst gar nicht die Ursache der Irritabilität zu ergründen“. Schmallenbach 1967, S. 63.

347

werden. Es gelte, Ärzte, die schlechte Beobachter sind, abzulehnen, wenn sie der Physis zu großes Gewicht beimessen, wenn sie ihm durch das ewige Laufen nach seinem Befinden, durch das tiefkluge Pulsfühlen und Kopfnicken und jede Gesichtsverziehung der Facultät, durch das Sehen von dem was nicht ist, durch Nichtsehen wo so vieles zu sehen wäre, durch das Nichtgefühl von allem was Geist und Seele betrift, oder selbst durch die weinerliche und erkünstelte Mitempfindung seiner Leiden, immer mehr aufmerksam auf das machen, was er vergessen muss (III, 178f.).

Derart verfehlte ärztliche Berufsauffassung scheint Zimmermann nach dem Zeugnis seines Adepten Marcard tatsächlich nicht geleitet zu haben: Wer ihn bey schweren Kranken gesehn hat, mit welcher grossen Aufmerksamkeit und Seelenkraft er beobachtete, untersuchte und eindrang, ehe er handelte, und mit welcher besonnenen Festigkeit er nachher verfuhr – doch immer vorsichtig und auf seiner Hut, ob etwas Verändertes erschien – wer seinen, das Wesentliche zusammenfassenden Blick beobachtet hat, der musste ihn bewundern.349

Gegen die „Allgewalt des Todes“ (III, 213) ist ohnehin kein Kraut gewachsen, nur Demut und dankbare Gottergebenheit, in stiller Einkehr mit sich selbst in Einsamkeit, gewährt Hilfe, wie eine Stelle aus dem dritten Teil veranschaulicht: Wenn ich vor dem Bette eines Sterbenden gesehen habe, wie das arme Leben sich sträubet gegen seine Vernichtung, und welche Folter doch jeder dem Tode abgewonnener Augenblick ist; wie die kalten Hände zitternd sich ausstreckten zum letzten zärtlichsten Dank; wenn alle Kräfte meiner Seele schwanden, als ich das Wimmern hörte, und die abgebrochenen Worte unter Herzstössen; als die in Mitleid versunkenen Blicke aller Umstehenden meine Gebeine zermalmten, und ich sprachlos abseite gieng, um meine Thränen auszuströmen über das Los der Menschheit, und meine Ohnmacht, da ich so feurig, so zärtlich, so innig wünschte, dass ich doch helfen könnte! Ach wenn ich mit diesen Trauerbildern im Herzen, in meiner Kammer mich niederwerfe vor Gott, wie schwindet da alle Zuversicht auf das Leben, alles Vertrauen auf eitele Kunst, jede Hofnung womit Menschen sich trösten! Nie stehe ich auch darum des Morgens aus meinem Bette auf, ohne zu denken, es ist doch ein Wunder Gottes dass ich lebe. Nie zähle ich meine Jahre, ohne mit dem feurigsten Danke auszurufen, wie unerwartet weit hat mich Gott gebracht; wie unbegreiflich hat er mich geführet durch Meere voll Gefahren. Und was bleibt mir itzt übrig, als zu verstummen, und anzubeten, wenn ich noch jeden Augenblick meine Schwäche fühle, und dann doch den Kraftvollen vor mir hingeraffet sehe, der vor wenig Tagen keine Gefahren kennen wollte, und sich vielleicht auf einen unabsehbaren Zeitraum hinaus gesichert hielt gegen die Allgewalt des Todes (III, 211ff.).

Zimmermann beansprucht nicht, dass seine situative Therapeutik Behandlungserfolge garantieren werde. Für ihn gilt, was Horst Thomé in seiner Studie über Roman und Naturwissenschaft bemerkt: „Dem Bekenntnis zur naturwissenschaftlichen Methode entspricht die Distanzierung von der vorschnellen Systematisierung naturwissenschaftlicher Ergebnisse“.350 Eindrucksvoll legt er von seiner Überzeugung in einem späten Brief Zeugnis ab, in dem er versucht, den leidgeprüften 349 350

Marcard 1796, S. 25f. Horst Thomé, Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik. (Regensburger Beiträge zur Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 15; Diss. München 1974). Frankfurt/M. 1977, S. 177.

348

Tissot zu trösten. Letztlich bleibt dem Arzt und der leidenden Kreatur nur Gottergebenheit : Il (sc. Gott) peut nous remplir d’aprés sa volonté de terreur, d’affliction, et de felicité. Sans l’aide d’un mot, sans l’assistance d’aucune cause exterieure, il peut créer dans notre ame une suite d’idées tout à fait opposées. Il peut nous plonger dans la plus profonde tristesse et faire succéder à cette tristesse le plus doux repos. Je ne dis pas cela aussi bien, ni près de là, qu’Addison351 l’a dit, mais ce sont des verités d’experience, des verités d’une certitude parfaite. Vous ne pouvés donc pas dire, mon cherissime ami, que votre affliction ne mourra qu’avec vous. Cela arrivera si Dieu le veut, mais cela n’arrivera point si Dieu ne le veut pas. En détournant votre imagination sur d’autres objets, Dieu peut vous guérir, et j’éspere en Lui qu’il vous guérira, sans que vous sachiés comment, et sans que je puisse vous en indiquer les moyens.352

Materie und Sinnlichkeit allein bergen nicht der Weisheit letzter Schluss, in der sich menschliche Glückseligkeit erfüllen könnte. Sie verweisen auf ein Transzendentes, das er dem Kranken in Aussicht stellt. Trotz Schmerz und Leiden solle er nicht verzagt und mutlos werden, sondern auf die helfende Macht der geistigen Kräfte setzen: Wenn darum der kränkliche Mensch, in langwierigen Übeln, nur mit Gewalt seine Aufmerksamkeit der Betrachtung seines Körpers entreisset, wenn er gleichsam seine Seele entkörpert, so findet er gewiss unerwartete Linderung, und er verrichtet Dinge, die ihm unmöglich schienen (III, 178).

In der Ruhr-Schrift geht es auch um die Frage, inwiefern Krankheiten gottgewollt seien. Eine eindeutige Stellungnahme wird aber vermieden, so dass die Frage letztlich offenbleibt. Im VIII. Kapitel, das den bezeichnenden Titel trägt Vorurtheile, die sich den Anstalten der Landesobrigkeit, den Bemühungen der Ärzte, und der lauten Stimme der Vernunft widersezten, wird als „Fehlschluss“ bezeichnet, „die Krankheiten seyen von Gott gesandt, darum sey menschliche Hülfe unnütz, darum solle man sich vielmehr an geistliche Mittel wenden, und von der Hülfe des Arztes nicht erwarten, was man allein durch das Gebet erhält“.353 An anderer Stelle derselben Schrift verwahrt sich Zimmermann gegen kopflose „Frömmelei“. So tadelt er den „grossen“ Winslov, der sich vor einem Marienaltar niederwarf, „wenn er im Spithale zu Paris zwo Unzen Manna verschrieb, aus Furcht, sie möchte sonst eine allzustarke Purgation erweken, oder gar das zarte Gewebe der Darmfasern zerreissen“.354 Dem Arzt soll gemäß den Möglichkeiten, die ihm zu Gebote stehen, die Seuche, die er für „ein gallichtes oder fäulendes Fieber“ hält, vehement bekämpfen.355 In den Betrachtungen über die Einsamkeit (1756) wird naturwissenschaftliche Forschung als Gottesdienst aufgefasst, der die 351 352 353 354 355

Vgl. II, 237f. Brief Zimmermanns an Tissot vom 5. September 1785. BBB Mss hh XVIII 71. Nr. 115. Ruhr 1767, S. 214ff. Ruhr 1767, S. 132f. Ruhr 1767, S. 326.

349

„sichtbaren Beweise eines regierenden Wesens“356 liefere gemäss der Bitte um Gebetserhörung an anderer Stelle derselben Schrift: „Einnehmende Empfindung der Kraft meines untrüglichen Glaubens, herrsche immerfort in meinem Herzen! Erfülle meine Seele, wie die Seele der Natur die unermesslichen Weiten des Weltgebäudes erfüllet“.357 Als ob Zimmermann Zweifel an der Unsterblichkeit der Seele durch Bibelstellen verscheuchen wolle, stellt er in biblischer Diktion fest: unter der Herrschaft des Staubes und der Verwesung, wird meine Seele stehen, wie eine unerschütterte Mauer im Sturme […] meine Seele wird in einer unzerstörbaren Jugend leben, sie wird mit unverwandten Kräften harren, bis das Licht der göttlichen Barmherzigkeit in der finstern Abschieds=Stunde, unter dem harmonischen Triumfliede, Tod wo ist dein Stachel, Hölle wo ist dein Sieg, ihren Übergang in eine andere Welt erleuchten wird.358

Zimmermanns Art, wissenschaftlicher Arzt zu sein, bezeugt sich vor allem darin, das Heilbringende mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu fördern, letztlich im Grundbestreben, Wissenschaftlichkeit und Moral zu verbinden im Dienst des leidenden Menschen, ja der ganzen Menschheit. Die Therapierung psychischer Krankheiten soll ganzheitlich, d.h. leib-seelisch, erfolgen, variabel je nach Situation, sie „lässt sich deshalb sowohl physiologisch als auch psychologisch angehen“.359 Der Einbildungskraft kommt im Heilungsprozess zentrale therapeutische Bedeutung zu. Wolfram Mauser hat, auch unter Berücksichtigung „soziokultureller und psychosozialer Implikationen“,360 nachgewiesen, wie „Dichtung und Diätetik (Vorsorge)“ nah aneinander“361 rücken in der literarischen Kultur im frühmodernen Deutschland in einer „Besinnung auf die diätetischen und therapeutischen Voraussetzungen von Gesundheit und Leistungsfähigkeit“.362 Ein Verständnis von Rokoko-Dichtung als therapeutischer Dichtung und als ein „Werk der Einbildungskraft“363 bewirkt einiges an Verlust ihrer vermeintlichen Unverbindlichkeit und gewinnt vieles an Einsicht in den „Zusammenhang zwischen medizinisch-diätetischen Bestrebungen vieler Ärzte und der Dichtung der Zeit“.364 Auch Martin Bircher sieht Gessners „Idyllen“ und Zimmermanns Einsamkeitskonzeption als „Einbildungen“ von „grösstem therapeutischem Nutzen“.365 Rokoko-Dichtung eignet in dieser Sichtweise insofern ein utopisches Moment, als sie nicht nur „heilkräftig 356 357 358 359 360 361 362 363

Einsamkeit 1756, S. 29. Einsamkeit 1756, S. 93. Einsamkeit 1756, S. 89ff. Dürbeck 1998, S. 155. Mauser 2000, Einleitung, S. 8. Ebd., S. 13. Ebd., S. 8f. Mauser, Wolfram, Anakreon als Therapie? Zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung, in: Mauser 2000, S. 304. 364 Ebd., S. 326. 365 Bircher, Martin, Idyllen der Gesundheit, in: Gesundheit und Krankheit im 18. Jahrhundert. Hg. v. Urs Boschung und Helmut Holthey. Amsterdam, Atlanta 1995, S. 67.

350

und gemeinschaftsfördernd“ ist, sondern „jene innere Übereinstimmung zwischen den Menschen“ herstellen soll, „die Staat und Gesellschaft nicht zu verwirklichen imstande waren“.366 Die Frage, „wie medizinisch-diätetisch brauchbare Vorstellungen erzeugt werden können“,367 ist ein zentrales Problem von Zimmermanns EinsamkeitsTherapeutik. Die Auffassung von Einbildungskraft, die Zimmermann vorliegt, unterscheidet nicht genau „zwischen Realität und Phantasieeindrücken“,368 wie oben gezeigt wurde.369 Wie Haller fasst auch Zimmermann die Einbildungskraft weder ausschließlich physiologisch noch rein psychisch auf. Er bemüht sich „nicht nur um ein medizinisches Verständnis der Empfindungen und Ideen“, er ist auch überzeugt von der „Notwendigkeit, philosophische und psychologische Ansätze“370 anzuwenden. Zentral für Zimmermanns Auffassung von Einbildungskraft ist, dass sie als Therapeutikum auch ohne konkrete Wirklichkeitsveranlassung zu wirken vermag, also auf fiktivem Weg, durch blosse Textevokation. Zimmermann weist auch darin Richtung Hallesche Psychomediziner und trifft sich mit Krüger, für den Einbildungskraft zu einer Schöpferin wird, „indem sie Bilder von Sachen hervorbringt, die in der Welt keinen würcklichen Gegenstand haben“.371 Schon Rohlfs stellte 1875 fest, dass bei Zimmermann Arzt, Diplomat und Feldherr derselben Kategorie angehören würden.372 In der Ruhr-Schrift ist das Landvolk Objekt der Strategie, nicht Subjekt des Aufklärungsprozesses, „bei dem Machtwissen im Vordergrund der Auseinandersetzung um Krankheit steht“.373 Die Seuche wird zur Chance ärztlichen Machtgewinns qua Literatur. Die geforderte Kooperation mit den einflussreichen, aber wenig beschlagenen Landgeistlichen verlagert das Streben des Mediziners vollends in den politischen Raum. Mit dem „Gesetzesoptimismus des Mediziners“374 fordert Zimmermann, per Dekret oder Gesetz, Vorurteile unnachgiebig und geradezu gewaltmäßig zu beseitigen. Die Unterredungen sind in dieser Sichtweise nicht bloss eitle Selbstdarstellung Zimmermanns, sondern sie gewinnen als „Konstruktion des ärztlichen Selbst“ eine wissensmächtige Dimension, verbreitet durch Schrift, weil der Leib- und Hofarzt sich aus dem Abhängigkeitsverhältnis zum König emanzipieren soll und will: „Auf dem Felde der Wissenschaft war zu ernten, was bisher allein Vorrecht der Geburt, 366

Ebd., S. 326. Mauser führt S. 303 aus: „Deshalb ist es allemal sicherer, sich in der Phantasie auf Sinnlichkeit einzulassen als in der Wirklichkeit. Dann allerdings sind Freude, Fröhlichkeit und Lust etwas, was den Menschen stärkt, seine Gesundheit fördert und ihm in vieler Hinsicht hilfreich ist“. 367 Ebd., S. 321. 368 Ebd., S. 322. 369 Vgl. 7.3 „Ubiquitäres Arkadien“. 370 Dürbeck 1998, S. 155. 371 Krüger, Johann Gottlieb, Versuch einer Experimental=Seelenlehre. Halle und Helmstedt 1756, S. 176. 372 Rohlfs 1875, S. 106. 373 Dinges 1996, S. 142. 374 Dinges 1996, S. 143.

351

Besitz der Mächtigen gewesen war: Ansehen, Einfluss, Autorität“.375 Unüberhörbar kündigt sich eine veränderte Auffassung der gesellschaftlichen Stellung des Arztes an, die auf das 19. Jahrhundert vorausdeutet. Abschließend ist dem abqualifizierenden Vorwurf zu begegnen, Zimmermann habe nach der Publikation seiner Dissertation nicht mehr relevant wissenschaftlich gearbeitet, sondern sich praktisch ausschließlich schriftstellerischer Tätigkeit gewidmet: „Zimmermann amüsiert sich zwar als Mediziner über die ‚Romane der Philosophen‘, aber auch er ist im wesentlichen Populärphilosoph und schreibt […] eigentlich Literatur und nicht Wissenschaft“.376 Die wissenschaftliche Aufnahmebereitschaft des anfänglich innovativen, mit grossem Impetus beginnenden Arztes, der vehement aufklärerische Postulate vertritt, versiege. Neues registriere er nur am Rande, so dass seine wissenschaftlich-medizinischen Ansichten sich kaum entwickelten. Für die Zeit in Hannover sei er bereits als Literat bekannter gewesen denn als Arzt.377 Schon Tissot stellt fest: „Depuis lors (sc. ab 1768), M. Zimmerman n’a donné aucun ouvrage de médecine considérable“.378 Ein Stagnieren seines wissenschaftlichen Forschens und ein Manko an selbständigen Gedanken diagnostiziert Lichtenberg ungeschminkt in einem Brief an Boie im Jahre 1778: „Man verzeiht hier Zimmermann in sofern, als in Brugg hiesige Grobheit noch immer Artigkeit ist, und hält ihn für einen leeren Hochmüthigen, der schon seit geraumer Zeit alle ernsthaffte Wissenschaft an den Nagel gehenckt hat“.379 Es bleibt zunächst festzuhalten, dass der junge Zimmermann, für den die Medizin „de touts les arts la plus difficile, le moins dependant de la routine, le plus soumis au génie“380 ist, immerhin „exakt“ wissenschaftlich-medizinisch geforscht hat, Leichen seziert und Tierversuche angestellt hat. Noch 1786 erscheint in Solothurn381 als späte Frucht der Ruhrschrift eine „Abhandlung über das Faulfieber, ein Geschenke für heilende Landärzte samt einem Anhange einer fäuligten Epidemie im Kanton Bern von Hrn. von Haller, mit Anmerkungen von Hrn. Leibarzt Zimmermann in Hanover“. Marcard meint, „Zimmermanns Berühmtheit gründe sowohl auf seinen literarischen Schriften als auch auf seinen Verdiensten in der Medizin“.382 Rohlfs macht geltend, dass sich Zimmermann lebenslang „sehr direct“ 375 376

Toellner 1979, S. 14. Ackerknecht 1978, S. 226. Zahlreich sind die Klagen Zimmermanns über seine ärztliche Tätigkeit, die ihn am Schreiben hindere: „J’ai beaucoup d’affaires sur les bras, et bien souvent mes malades ne me promettent ni de lire ni d’ecrire pendant bien du tems“ (Hamel 1881, S. 27). 377 Toellner 1979; S. 17. 378 Tissot 1797, S. 52. Vgl. Bouvier 1925, S. 74: „Il est à remarquer qu’à partir de son séjour à Hannovre, Zimmermann n’a rien publié d’important dans le domaine médical“. 379 Brief Lichtenbergs an H. Chr. Boie vom 23. April 1778. Bonin 1910, S. 13. Ferner bemerkt Lichtenberg im gleichen Brief, Zimmermann habe sich gegen jene, „die ihm nicht opferten“, als ein „Bengel“ verhalten „und sein bisgen Credit guten Freunden und etwas Schweitzer Prose zu dancken“. 380 Hamel 1881, S. 45. 381 „gedruckt und verlegt bey Jos. Gassmann“. 382 Vgl. Marcard 1796, S. 21; S. 18.

352

am Aufbau der eigentlichen Heilkunst beteiligt habe.383 An dieser nach positivistischer Wertung erfolgenden Geringschätzung Zimmermanns bleibt prinzipiell etwas Unangemessenes haften, weil sie das Wesen seiner integrierenden Einsamkeitstherapeutik zu wenig gewichtet. Noch einmal sei festgehalten: Der Arzt Zimmermann ist grundsätzlich vom Schriftsteller Zimmermann nicht zu trennen. Sein dreiteiliges „Mémoire“ an Kaiser Leopold II., „Über den Wahnwitz unsers Zeitalters“, stellt die „Krankheiten unseres Zeitalters“ fest, es folgt eine „Erwägung der Heilungsmanier“ und eine abschliessende „Bestimmung der nothwendigsten und kräftigsten Hülfsmittel“. Zimmermann spricht selbst, nicht metaphorisch, von einem „medizinischen Gutachten“, was anzeigt, dass er auch soziale und gesellschaftliche Vorgänge zum Zuständigkeitsbereich des Arztes zählt. Soziales wird in medizinischen Kategorien erfasst. Es ist indessen wesentlich auch die religiöse Dimension seiner Heilkunst, der eine zentrale Bedeutung zukommt, wie das folgende Kapitel ergänzend einsichtig zu machen versucht.

10.3 Ein frommer Aufklärer 10.3.1 Zu Zimmermanns theologiegeschichtlichem Ort Eine kohärente Theorie des Religiösen, die mit einer zeitgenössischen religiösen Strömung kongruent wäre, würde man bei Zimmermann vergebens suchen.384 Er will weder Schwärmer noch überzeugter Freigeist385 sein, weder ist er intransingenter Anhänger der Orthodoxie,386 noch lässt er sich „in Idealwelten hinaufschrauben und in metaphysische Luftschlösser“.387 Seine letztlich nicht konfessionell abgedeckte Religiosität kann von einer lebensweltlichen Moral nicht klar getrennt werden. Man könne „mit dem feinsten und grösten Verstande gleichwol fromm seyn, die Religion ehren und ihre unwürdigen Verfechter verlachen“.388 Dennoch spielt Konfessionalität eine nicht nebensächliche Rolle. Pezzls 1780 erschienene Briefe aus dem Novizziat, die „den ideologischen wie formalen Kontrapunkt durch den forcierten Antiklerikalismus und die sprachstilistische Anknüpfung an den Prosai-

383 384

Rohlfs 1875, S. 120. Vgl. 9 Heilsgeschichte und Einsamkeit: Zimmermanns Einsmakeitstheologie, S. 235ff.– Ferner: Ischer 1893, S. 403: „[…] seine, bei aller religiösen Gesinnung, doch völlig unklare Religiosität“. 385 Vgl. Erf. II, 525: „indess da einige Philosophen mich […] für einen Schwärmer hielten, und einige Scheinheilige und Narren wegen meinem Hasse aller Schwärmerey für einen Freygeist“. 386 In III, 473 zitiert Zimmermann nicht ohne Ironie Hallers kritische Einstellung der Helvetischen Gesellschaft gegenüber, der die ganze Gesellschaft samt ihrem Gründungsmitglied Zimmermann für „Feinde unserer alleinseligmachenden Landesorthodoxie“ hielt. 387 Versuch 1779, S. 58. 388 Brief Zimmermanns an Nicolai vom 23. September 1767. Habersaat 2, 2001, S. 43.

353

sten Wieland“389 zu Westenrieders Leben des guten Jünglings Engelhof (1779) bildeten, zitiert er ausgiebig.390 Hirzel berichtet er, dass Sulzers jüngste Tochter, zu Zimmermanns „recht inniger Betrübnis“, einen Mann geheiratet habe, der „Carossen lacquirt, und über dieses catholischer Religion ist“.391 C. F. Bahrdt, der mit dem Herrn von Zimmermann ungehindert Deutsch sprechen möchte, meint über Zimmermanns religiöse Ansichten in den Unterredungen mit dem todkranken Friedrich II., dem Zimmermann Löwenzahn-Extrakt verordnete: „Ritter! wenn ich diesen Galimathias von frommen Winseleien und affektirter Religiosität ganz analysiren und mit dem Löwenzahne der Philosophie auflösen wollte, Sie müssten einen tödtlichen Durchlauf bekommen“.392 Seine Religionsphilosophie kann allerdings ohne ihren pietistischen Hintergrund nicht adäquat verstanden werden. Man verkennt ihn, wenn man sein frommes Aufklärertum nicht gebührend berücksichtigt und ihn auf die Position des Philosophischen Arztes, der er ist, zu anthropologiefixiert reduziert. Die Überzeugung von der Existenz eines persönlichen Gottes beruht bei Zimmermann nicht bloss auf einem inneren Gefühl. Ohne den „Beweis“ im einzelnen, aus Zeitmangel, wie er sagt, antreten zu wollen, gibt er Vernunft sowie materielle und geistige Gründe an, die ihn zu dieser unumstösslichen Einsicht gelangen liessen: „Die Vernunft sagt es mir, das ein Gott seye und ich glaube mich fehig, dasselbe zulänglich aus physischen und metaphysischen Gründen zu beweisen“.393 Haller gesteht er, dass im ersten Winter in Hannover die Bibel und Devotionsbücher seine einzige Hilfe in der Not gewesen seien.394 Es werden in diesem Zusammenhang zunächst weitere ausgesuchte Belege seiner Religiosität angeführt, die weiterführend zu einer näheren Bestimmung seines theologiegeschichtlichen Orts führen sollen. Im Kondolenzbrief für Hirzel vom Oktober 1790, der seine Frau verlor, steht am Schluss: „Deine Geliebte ist jetzt bey meiner Geliebten. Sie beten beyde für uns.

389

Haefs, Wilhelm, Staatsmaschine und Musentempel. Von den Mühen literarisch-publizistischer Aufklärung in Kurbyern unter Max III. Joseph (1759–1777), in: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700–1848). Festschrift für Wolfgang Martens zum 65.°Geburtstag. Hg. v. Wolfgang Frühwald u. Alberto Martino. Tübingen 1989, S. 118. 390 Vgl. 9.3. Verfälschtes Christentum, S. 247ff. 391 Brief Zimmermanns an Hirzel vom 29. März 1780. ZZH, FA Hirzel 240, 19. 392 Bahrdt, C. F.. Mit dem Herrn (von) Zimmermann deutsch gesprochen. Mit einem Nachwort hg. v. Ch. Weiss. St. Ingbert 1994 (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts 19), S. 43. An anderer Stelle ruft C. F. Bahrdt aus: „Ritter! ich kann wahrlich noch nicht von Ihrem Christenthume wegkommen. Es ist ein gar zu schnackisches Ding“ (S. 42). Bei Bahrdt ist die Rede davon, „wie rührend und ganz im Ton des seligen Franke“ er rede, sowie von „der christlichen Priesterreligion“ (S. 34), die er vertrete, von einem Denkmal seiner „griessgrämlichen Rechtgläubigkeit“ (S. 37), von frömmelnder Orthodoxie (vgl. S. 39) und vom armseligen Ritter mit dem „Lutherischen Katechismus“ (S. 41). 393 Tagebuch 1753, S. 129. 394 Brief Zimmermanns an Haller vom 4. Juni 1769. Ischer 1912, S. 137.

354

Gott lebt; wir sind nicht verlassen“.395 Überhaupt bricht sich in seinen Briefen häufig eine unmittelbare Anrufung Gottes Bahn, z.B. im Brief vom 29. März 1780 an Hirzel, wo bezeichnenderweise neben dem erbetenen Segenswunsch zugleich von „Aufklärung“ die Rede ist: Gott gebe Dir langes Leben, und Gesundheit, so ist Dein Haus gesegnet, und gewiss auch Deine Vaterstadt. Gott erhalte Deine würdige Gemahlin […] Gott lasse alle Deine Kinder zur Freude für Dich aufblühen. Möge Frieden und Eintracht immer unter Euch, in Zürich, herrschender werden, und möge aus der gantzen grossen Masse der Aufklärung in Zürich für Euch alle nichts entstehen als Gutes.396

Im Brief des Göttinger Medizinstudenten vom 8. Dezember 1748 an Iselin ist die Rede von: „l’excellence de notre ame incapable de perir“,397 während Krüger in der Vorrede zu seinem „Versuch einer Experimental=Seelenlehre“ von 1756 gesteht: „Ich habe nichts von dem Zustande der Seele nach dem Tode gedacht: denn die Wahrheit zu sagen, ich weiss als ein Weltweiser nichts davon“.398 Mit Spazier und seinem nicht polemisch gedachten „Anti-Phädon“,399 der die Unzuverlässigkeit aller „Beweise“ für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele aus der Natur einsichtig zu machen bestrebt ist, kann Zimmermann nicht identifiziert werden, und Spaziers sophistischer Argumentation könnte er nicht folgen, obwohl ihm die Zueignung der Briefe, „Allen edelgesinnten Wahrheitsforschern“, eigentlich entspräche. Wenn der „siebente Saz“ am Schluss der Abhandlung davon spricht, es gebe mehr „heimliche Anhänger des Materialismus, als man glauben sollte“,400 so gehört Zimmermann gewiss nicht zu ihnen. Das Postulat Spaziers, es sei „rathsam sich den edelsten, würdigsten, vollständigsten Begriff von Gott zu machen; weil man dadurch selbst in seinen eigenen Augen mehr Werth erhält, und sich in dem richtigsten Verhältnis gegen ihn denkt; weil man dadurch moralischer

395

Brief Zimmermanns an Hirzel vom 4. Oktober 1790. ZZH, FA Hirzel 240, 36. In einem um wissenschaftliche Exaktheit bemühten Bericht über einen Traum in der Nacht auf den 6. November 1765 fragt Zimmermann seine verewigte Frau: „Glaubst du, liebste Freundin, dass ich auch dahin kommen werde, wo du jetzt bist? Du kennst dich, Freund–! Erzähle mir alle deine Fehler. Neigung zum Unglauben, Zorn, Unthätigkeit im Guten, Gedankenlosigkeit, Sinnlichkeit. Nun so bessere dich, und dann wirst du gewiss mich wieder sehen“ (Der Erinnerer, 12. Stück, 20. Merz 1766, S. 110). In nuce enthält dieser Ausschnitt religiöse Grundüberzeugungen Zimmermanns: Glaube an die Unsterblichkeit, unerbittliche Selbstprüfung, ein Perfektionsstreben, das auch seiner medizinischen Tätigkeit eignet. 396 Brief Zimmermanns an Hirzel vom 29. März 1780. ZZH, FA Hirzel 240, 19. 397 Brief Zimmermanns an Iselin vom 8. Dezember 1748. Staatsarchiv Basel, PA 98, 41, p. 2. Vgl. auch Bürklis Blumenlese 1783, S. 199–201: „Auf den Tod der Frau E. Tscharner“. 398 Krüger 1756, Vorrede, S. 6. Krüger fährt fort: „Was kann auch ein Weltweiser davon sagen, ohne seine Gedancken aus den Lehren der Religion zu schöpffen. Erfahrungen von dieser Art wären das schätzbarste in der Seelenlehre. Aber wer kann sie anstellen, und wer wird vermögend seyn, sie andern mitzutheilen?“. 399 Spazier, Karl, Anti=Phädon, oder Prüfung einiger Hauptbeweise für die Einfachheit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele. In Briefen. Leipzig 1785. 400 Spazier, Anti=Phädon 1785, S. 284.

355

wird“,401 impliziert eine Eigenermächtigung des Menschen, die mit Zimmermanns kreatürlicher Demut, die sein Werk imprägniert, nicht verträglich ist. Als er bei Haller um Verständnis für Diderot wirbt und dadurch in den Verdacht gerät, atheistisch gesinnt zu sein, verteidigt er sich entrüstet: „On est donc athée quand on croit que les defenseurs de la religion peuvent quelquefois se tromper“.402 In der Darlegung der Kontroverse zwischen Haller und LaMettrie wegen der Widmung des „Homme machine“ ist Zimmermanns Empörung in seiner Haller-Biographie gegen den französischen Materialisten beträchtlich: Doch ich ziehe einen Vorhang über die unseligen Früchte seines ungebundenen Witzes, und lasse den armen Gottesläugner in dem bedauerlichen Grabe ruhen, dessen frühe Bewohnung ihm vermuthlich eine Reyhe von Scenen aufdecken wird, die bey mir, allen Eifer gegen seine irrigen Lehren, gegen sein hassenswürdiges und aller Ehrbarkeit zuwider gewesenes Betragen heben.403

In seiner Haller-Biographie wundert sich Zimmermann im vierten Hauptkapitel, das u.a. Hallers Zeit in Göttingen und seine Kontroverse mit La Mettrie behandelt, „dass ein so hoher Geist, in so vielen Stunden seines Lebens, sich in eine so materielle Beschäftigung, wie die Zergliederungs=Kunst ihm scheinen musste, sich einschränken konnte“. Er fährt fort: Ich dachte oft, wann ich unter dem Schutte von so vielen Leichnahmen, auf dem anatomischen Theater neben dem Herren Haller stunde; wie würde doch einem Pope, einem Virgil, eine solche Arbeit angestanden haben? Und wann ich vor mir her sah, so fand ich den Sänger der Doris einen zerfetzten Körper nachdenkend betrachten, und mit einer triumphirenden Freude einen neuen Bau, den Sitz einer noch nicht beschriebenen Krankheit aus dem Aase hervor suchen.404

Haller gewinnt die existentiellen Zweifeln abgerungene Überzeugung, die ihn ein Leben lang nicht verlassen wird, dass nämlich der „Finger GOTTES“ auch in „einer Machine“ zu entdecken sei, „wo alles nach der möglichsten Vollkommenheit, zu einem bestimmten Endzweck“ eingerichtet sei. Zimmermann zieht die Schlussfolgerung: „In allem was Leben hat, entdecket der Zergliederer das Lob des Schöpfers, die einem jeden Gliede aufgedrückten Merkmahle einer obersten Weisheit“.405

401 402 403 404 405

Spazier, Anti=Phädon 1785; S. 286. Brief Zimmermanns an Haller vom 4. Oktober 1756. Ischer 1908, S. 141. Leben Haller 1755, S. 228f. Leben Haller 1755, S. 168. Leben Haller 1755, S. 170f. Vgl. Stephen Hales (1677–1761), der in der Einleitung seiner „Haemostatics“ von 1733 ausführt: „Die Spuren seiner Hand (sc. des göttlichen Baumeisters) sind so klar gezeichnet auf jedes Ding, dass es mit gutem Grund geschieht, dass der Psalmist diejenigen töricht nennt, die sich so weit entfernen, in ihrem Herzen zu sagen, dass es keinen Gott gibt; man erkennt seine starke Hand so eindeutig in allen Teilen des Weltalls, dass man sagen kann, ohne Furcht, die Nächstenliebe zu verletzen, dass diejenigen, die behaupten, das nicht zu sehen, sich absichtlich blenden und gegen ihre Überzeugung sprechen“, zit. bei Rothschuh 1968, S. 131. Vgl. auch B. H. Brockes, Irdisches Vergnügen in Gott bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Sechster Teil. Reprint der Ausgabe 1739. Bern 1970, S. 298: „Gedanken bey der Section eines Körpers“.

356

Theologen sollten nach Zimmermann „Herzenskündiger“ (II, 206) sein, und ein Herzenskündiger nach seinem Ideal ist Spalding. Enthusiastisch spricht Zimmermann von J. J. Spalding (1714–1804), „dem herrlichen und frommen Religionslehrer“ (III, 219),406 im Gegensatz zu Lavater, der Zimmermann im Brief vom 21. August 1769 schreibt: „Herr Spalding ist immer noch sehr weit von meinen Ideen entfernt […] aber die Gründe, die er mir anführt, sind in der That blutschlecht und seines sonstigen Scharfsinnes sehr unwürdig“.407 Zimmermanns Religionsverständnis steht in direktem Zusammenhang mit Spaldings Betrachtung über die Bestimmung des Menschen und erscheint wie eine subjektiv modifizierende Adaption dieser 1748 erstmals veröffentlichten Schrift, die unter dem Titel Die Bestimmung des Menschen in der zweiten Jahrhunderthälfte weiteste Verbreitung fand und von Gottlieb Konrad Pfeffel 1752 ins Französische übersetzt wurde. In den Grundpositionen stimmen Spalding und Zimmermann überein. Gemeinsam ist ihnen die Gegnerschaft zu mystischem „Weltüberwindertum“. Zumal Zimmermanns Einsamkeitswerk manifestiert religiöses Gedankengut, das sich an Spalding anlehnt. Die in Spaldings „Einleitung“ als Ausgangslage erörterte Grundsatzentscheidung, den Weg der durch Religion abgestützten Sittlichkeit oder den Weg der Wollust und des Lasters zu wählen, findet sich auch bei Zimmermann (II, 237; III, 246), dessen Einsamkeitsschrift eine psychische Selbstbetrachtung realisiert, welche die Sinnlichkeit berücksichtigt. Zimmermanns Begriff „Trieb“ – „Trieb zur Geselligkeit“, „Trieb zur Einsamkeit“ – ist in eklektischer Manier ein SpaldingPlagiat.408 Die Hauptunterschiede zwischen Spaldings und Zimmermanns Religionsverständnis liegen u.a. darin, dass der Mediziner Zimmermann die Präsenz Gottes in dessen Schöpfung zwar zunächst untersucht, aber schliesslich keinesfalls in Frage stellt. Spalding geht von einer Einheit des denkenden Ich aus, das sich asymptotisch zu vervollkommnen und zu vergeistigen sucht. Bei Zimmermann liegen die Verhältnisse komplexer und abgründiger. Er beleuchtet gerade eine durch Empiriedruck problematisierte Einheit des „Individuums“. Schließlich sein Verhältnis zum Konzept „Vernunftreligion“! Bei Zimmermann lässt sich eine unmittelbare Herzensfrömmigkeit pietistischer Prägung ohne rationales Kalkül feststellen, die, bei allen Annäherungen an zeitgenössische Naturwissenschaft, inniges Beten kennt, also eine Dominanz des Religiösen aufweist. Vernunftgebrauch und christliche Tugendausübung werden miteinander verbunden409 In einer Krankheitsgeschichte 406

An anderer Stelle heisst es: „einer der grössten und weisesten Menschenlehrer […] mein unaussprechlich geliebter und verehrter Spalding“ (IV, 367). Brief von Lavater an Zimmermann vom 21. August 1769, in: Luginbühl I 1997, S. 203. Spalding, J. J. , Die Bestimmung des Menschen. Von neuem verbesserte und vermehrte Auflage mit einigen Zugaben. Leipzig 1768, S. 16ff. 409 In Zimmermanns Brief an Nicolai vom 23. September 1767 äußert Zimmermann seine Überzeugung, dass kritische Verstandestätigkeit und Religiosität durchaus vereinbar seien. Vgl. Sigrid Habersaat, Zimmermann und die Berliner Aufklärung: Friedrich Nicolai, in: Schramm 1998, S. 181. 407 408

357

beispielsweise stellt Zimmermann bei einer von starkem Fieber mit unerträglichen Glieder- und Kopfschmerzen heimgesuchten Frau fest, dass sie eine „äusserst sanfte, gedultige, mit dem aufgeklärtesten und richtigsten Verstande begabte, und alle Christliche Tugenden in der Verborgenheit ausübende Person“ (Erf. II, 456) war. In der Diät für die Seele gilt Spalding als einer „der würdigsten, grösten und besten Menschen unserer Zeiten“.410 Dort empfiehlt Zimmermann Geistlichen bei der Heilung von Schwärmern wie Spalding zu verfahren: „Geistliche müssen also zuerst sich an den kranken Schwärmer wagen, und zwar nach der Anleitung des vortreflichen Herrn Spalding in seinem Werke über den Werth der Gefühle in dem Christenthum“.411 Es handelt sich um eine Religionsauffassung, die „zu der einigen und wahren Religion der Vernunft und des Herzens, zu der Religion Jesu und seiner Apostel“412 führt. Zimmermann fährt fort: „Vermittelst der Lesung solcher Bücher und der Ausübung ihrer Maximen lebt oft am ersten der ruhige Frieden der Tugend, und endlich auch wider (sic) die Freüde in dem Herzen auf“.413 Der pietismuskritische Akkomodationstheologe Semler gilt für Zimmermann, wie Zollikofer, als ein gern zitierter Gesinnungsverwandter. Semler vertritt eine Theologie, die bei historisch-kritischer Ausrichtung zwar die orthodoxe Verbalinspirationslehre problematisiert, aber an der Realinspiration und am Offenbarungsglauben festhält. Zimmermann schreitet auf dem Weg zu einer christlichen Privatreligion im Sinne Semlers.414 Zimmermann teilt seine Unterscheidung von Theologie als Fachwissenschaft und einer „christlichen practischen privat Religion“,415 einer individuell geprägten Art nicht dogmatisch gebundenen Glaubens. Ökumenisches Problembewusstsein ist beiden nicht fremd,416 indem beide grundsätzlich das Ziel verfolgen, dass die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes, aus dem glänzenden Angesichte Christi, (die an allen ernstlichen Worten und Redensarten nicht hängen kann) unter den Christen immer mehr ge-

410 411 412 413 414

Benzenhöfer / vom Bruch 1995, S. 148. Benzenhöfer / vom Bruch 1995, S. 152. Benzenhöfer / vom Bruch 1995, S.°156. Benzenhöfer / vom Bruch 1995, S. 156. Vgl. Hornig, Gottfried, Die Freiheit der christlichen Privatreligion. Semlers Begründung des religiösen Individualismus in der protestantischen Aufklärungstheologie, in: Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 21 (1979), S. 198–211. Was Friedrich Vollhardt zu diesem Problemfeld feststellt, gilt auch für Zimmermann: „die Tendenz zur Privatisierung des religiösen Entscheidens, auch in der Lehre von der Gottebenbildlichkeit und Sündhaftigkeit des Menschen“. Friedrich Vollhardt, Christliche und profane Anthropologie im 18. Jahrhundert: Beschreibung einer Problemkonstellation im Ausgang von Siegmund Jacob Baumgarten, in: Vernünftige Ärzte 2001, Hg. v. Carsten Zelle, S. 90. 415 Semler 1787, S. 4. 416 Vgl. Semler 1788, S. 80ff.: Vorzüge der römischen Kirche bey der Historie. S. 98ff. untersucht Semler ausführlich „Falsche Voraussetzung bey allen Parteyen“.

358

sucht und geschäzt werde, als alle Formeln, die doch nur zu eben diesem Zweck dienen sollen.417

Während der stilistisch im Vergleich zu Zimmermann weniger elegante Semler eine Einheit aller Christen anstrebt, gilt Zimmermanns exklusive Einsamkeitsreligion letztlich nur für Gesinnungsfreunde im Geiste seiner Einsamkeitstheologie. Beide eint auch eine prinzipielle Ablehnung der Orthodoxie, aber auch des Deismus oder der theologischen Auffassungen Bahrdts. Semler denkt „Ueber den wahren Begriff der Kirchenhistorie“ in seinem von Zimmermann gelesenen Aufsatz Vorbereitung über die Kirchenhistorie der vier ersten Jahrhunderte418 nach, indem er wissenschaftlich-argumentativ mit „grosser theologischer Gelehrsamkeit“419 zu erweisen versucht, was Zimmermann in essayistisch-polemischer Schreibweise darstellt. Zimmermann möchte „die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufklären“,420 die „bisherige schlechte unfruchtbare Kirchenhistorie in ein helles Licht» setzen“421 – in seinem Sinn, der allerdings mit der Grundrichtung Semlers übereinstimmt, die bemängelt, dass die ältere Kirchenhistorie, „wie es fast unläugbar ist, zunächst zum Vortheil, zur Ehre und zum Vorrecht der grossen Kirche, der Klerisey meine ich, zusammengetragen und nach damaligem Geschmack eingekleidet worden; nicht aber vornemlich auf die moralische christliche Religion, und ihre wirkliche Geschichte zu sehen pflegte“.422 Semler sucht das um Übereinkunft bemühte erörternde Gespräch, dem Zimmermanns ungezügelte Polemik wesensfremd ist.423 Gänzlich stimmt Zimmermann mit Semler, der 1788 eine „Vertheidigung des Königlichen Edikts vom 9ten Juli 1788“ veröffentlichte, in der Befürwortung des Wöllnerschen Religionsedikts überein, wenngleich Semlers Haltung weniger kompromisslos ist. Im Zusammenhang mit Zimmermanns Vorschlag einer medizinischen Ergänzung theologischer Ausbildung im Stand Bern steht eine Konfessionserklärung, die verdient, zitiert zu werden, weil sie Zimmermanns frommes Aufklärertum näher charakterisiert. Er sehe nicht ein, heisst es im neunten Kapitel, „Gedanken über die Kunst, diese Vorurtheile unter unserm Landvolke zu schwächen“, warum solche

417

Semler 1787, S. XVII (Am Schluss der „Zuschrift an den Herrn Prediger Zollikofer in Leipzig“). 418 Johann Salomo Semler, Neue Versuche die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären. Leipzig 1788; S. 1–118. 419 Semler 1787, S. XI. („Zuschrift an den Herrn Prediger Zollikofer in Leipzig“). 420 Der Titel einer Aufsatzsammlung Semlers lautet: „Neue Versuche die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären. Leipzig 1788“. 421 Semler 1788, S. 118. 422 Semler 1788, Vorrede S. I. Auf S. 105 kritisiert Semler den vorsätzlich aufgestellten historischen Religionsbegriff aller institutionalisierten Kirchen, mit dem Ziel, „alle Christen ein für allemal dem Ansehen der Lehrer zu unterwerfen, und alle moralische Religion geradehin zu hindern“. 423 Vgl. Unterhaltungen mit Herrn Lavater, über die freie practische Religion; auch über die Revision der bisherigen Theologie. Leipzig 1788.

359

dem Geiste des Christentums gemässen Anleitungen nicht in die sonntäglichen Predigten aufgenommen zu werden verdienten, zumal da sie doch alle ohne Ausnahme eine blos metaphysische, finstere, die Einbildung erschütternde, über die Sphäre des menschlichen Lebens und der häuslichen Tugenden wegfliegende Glaubenslehre verwerfen; zumal da sie doch alle ohne Ausnahme mit einer von dieser Seite nie genug zu preisenden Beurtheilungskraft einen heitern, dem Verstand ehrwürdigen, das Herz rührenden, für die menschlichen Bedürfnisse höchst angemessenen, das ist, den eigentlichen, wahren, Christlichen Glauben predigen.424

Mit welcher Epochentendenz ist dieser „wahre christliche Glaube“ zu vergleichen? Eine in der Brugger Zeit entstandene Textstelle aus dem zwölften Kapitel des vierten Buches Von der Erfahrung in der Arzneykunst, der eine polemische Behandlung von Erscheinungsformen christlicher Mystik vorangeht, ist vielleicht geeignet, darauf eine Antwort zu geben: Einen ähnlichen Wahnsinn sieht man stufenweise bey allen Menschen entstehen, die ihrer überspannten Einbildungskraft allein überlassen ihre Bestimmung und ihren Schöpfer miskennen, und unerläuchteten Ohrenbläsern mehr glauben als der Quelle alles Lichts, dem Heiland, und der Schrift. Nichts soll uns billig so sehr am Herzen liegen als Gott gefällig zu leben, aber mannigfaltig, widersprechend, und verworren sind die Wege, welche man so oft zu diesem Endzweke wählet, und zu wählen lehrt. Es scheint zwar der Vernunft gemäss, seine Hofnung nicht so sehr auf ein blosses Religionsgepräng, auf eine gesuchte scheinheilige Sprache und Gebärdung, auf eine gezwungene abergläubische Ängstlichkeit, oder auf die feine Täuscherey einer moralischen Entzükung zu lehnen, als auf die durchgängig herrschende Richtigkeit des Herzens und des Lebens, auf den reinen und ruhigen Frieden der Tugend, auf ein Christenthum das sich durch ein beständiges gewissenhaftes Betragen zeigt. Allein erst denn fängt die Einbildungskraft an recht zu wirken, wo die Vernunft stille steht; diese liebt die Einfalt, das feste, das lehrende, das begreifliche; jene liebt die Ziererey, das verblümte, das unbegreifliche. Unser Glaube ist der Leitstern in dem Lande des unbegreiflichen, aber auch den Glauben soll die unerbittliche Vernunft, die Vernunft der würdigsten Menschen und der reinen Geister leiten; denn nur ein blöder Schwärmer glaubt, man müsse diese höchste von Gott empfangene Gabe verabschieden, um ein wahrer Christ zu seyn (Erf. II, 530/531).

„Bestimmung des Menschen“ könnte man als Titel dieser Textstelle voranstellen. Bezeichnenderweise wird zuerst die „Bestimmung“ genannt und dann erst der „Schöpfer“. Ausgangspunkt ist der Mensch, dem als Lebensaufgabe obliegt, den richtigen Weg im Leben zu suchen und zu finden. Eine erfolgreiche Wegsuche, „wahres“ Leben, ist ohne Religion nicht denkbar. „Heiland“ und „Schrift“ sind, in säkularisierender Licht- und Wassermetaphorik, „Quelle alles Lichts“. Auch in Bereichen des „Unbegreiflichen“, das der Fassungskraft des Menschen verschlossen ist, bleibt der Glaube „Leitstern“, der von der unerbittlichen Vernunft flankiert wird. Wie kann der Endzweck des Lebens, der richtige Weg zu gottgefälligem Leben gefunden werden? Der Mensch tut gut daran, gegen beeinträchtigende Hindernisse gewappnet zu sein, als da wären: überspannte Einbildungskraft, unerleuchtete Ohrenbläser, worunter wohl eine Bandbreite vom Schwärmer zum Mate-

424

Ruhr 1767, S. 308f.

360

rialisten zu verstehen ist, „blosses Religionsgepräng“, heuchlerische Sprache und Gebärdung, „gezwungene abergläubische Ängstlichkeit“, die „feine Täuscherey einer moralischen Entzükung“. Einer „überspannten Gottseligkeit“ (Erf. II, 523) erteilt er eine klare Absage, denn „eine übertriebene, die Natur überschreitende, und von Gott nicht gefoderte Frömmigkeit zehret den Menschen durch die Anstrengung der Einbildungskraft auf“ (Erf. II, 521). Diesen Erscheinungen der Äußerlichkeit und Unwahrhaftigkeit steht die „durchgängig herrschende Richtigkeit des Herzens und des Lebens“ gegenüber, der reine und ruhige Frieden der Tugend, ein „beständiges gewissenhaftes Betragen“, also innere Werte, die dem Menschen Seelenruhe gewähren in Anlehnung an Psalm 116,7: „Kehre wieder, meine Seele, zu deiner Ruhestatt“. In unmäßiger, die Vernunft, „diese höchste von Gott empfangene Gabe“, erstickender Einbildungskraft lauern besondere Gefahren, darum wird die Vernunft nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr als notwendiges Korrektiv bei der Wegbewältigung eingeplant. Wie steht es um Zimmermanns Verhältnis zur Freimaurerei? Darf man ihm Glauben schenken, wenn er erklärt, in keiner Weise mit dieser vielschichtigen Epochenerscheinung verbunden zu sein, die ein Spektrum von den Rosenkreuzern bis zu den Illuminaten umfasst? Die verfügbaren Quellen lassen tatsächlich keinen anderen Schluss zu. Mit den Illuminaten hat sich Zimmermann immer wieder auseinandergesetzt: „Sie waren für ihn die Wurzel allen Übels, sie machte er zum Kernpunkt seiner Verschwörungstheorie“.425 Obereit schenkte Zimmermann den Zentralschlüssel. Dieser kommentiert, der Schlüssel tauge in seiner profanen Hand wenig und werde „auch nicht einen Hünerstall, und noch viel weniger die erste heilige Vorkammer verschlossener Weisheit eröfnen“ (III, 92).426 Mittels seines werktypisch kontrastiven Verfahrens charakterisiert er im Freimaurer-Exkurs (II, 56ff.) positiv eingeschätzte Enthusiasten und verwerfliche Schwärmer. Die Schlussfolgerung lautet scheinbar anerkennend: „Ein ächter Freymaurer ist ein ehrwürdiger Enthusiast“ (II, 56). Die Freimaurer bezeugten eine weise Toleranzhaltung, „wie der weise Christ alle Christen für Brüder“ (II, 58) halte. Zimmermann betreibt insofern ein Vexierspiel, als er in einem Brief an Reimarus vom April 1788 eben diese positive Einschätzung ironisch verstanden haben will. In diesem Brief gesteht er, „[…] dass alle Freymaurer in Hannover und beynahe in ganz Deutschland, meiner Ironie und meiner Scherze Tom II Pag 51 seq der grossen Edition der Einsamkeit für baare Wahrheit genommen haben“.427 Eine Rezension von 1785 hat denn auch Zimmermanns ironische Ausrichtung seines Freimaurer-Exkurses (II, 55–61) nicht erkannt, worin er (positiv gewertete) Enthusiasten und (negativ beurteilte) Schwärmer zur Unterscheidung von „wahren“ und

425 426

Habersaat 1, 2002, S. 170. In III, 85 erklärt er: „Aber da ich selbst nicht die Ehre habe weder ein Freymäurer, noch ein Centralbruder zu seyn“. 427 SuUB Hamburg Hss-Abt. NRS: Br. Z 3.

361

„falschen“ Freimaurern einander gegenüberstellt.428 Eine Vermutung Friedrichs II. im Jahre 1788, Zimmermann sei Freimaurer, weist er entschieden von sich: „Aber, leider, bin ich weder Schüler noch Meister geheimer Weisheit; ein Freymaurer bin ich also nicht, und von den Mysterien dieser Gesellschaft weiss ich nichts“.429 Im Brief an Reimarus vom 13. Mai 1788 stellt er fest: „Sie sehen wie diese Herren (sc. Freimaurer) ganz anders von ihrem Orden denken als Friedrich davon gedacht hat“.430 Zimmermann polemisiert auch gegen eine Freimaurer-Mitgliedschaft, weil sie eine Konzession an eine epochale Modeerscheinung wäre: Als Empfindsamkeit unter uns Mode gewesen ist, würzten alle unsere jungen Herren mit eiskalten Herzen, alle ihre Reden mit dem haut gout der Empfindsamkeit. Als Freymaurerey und dreyfache Dreyeinigkeit unter uns Mode gewesen ist, wurden sie alle Freimaurer: und izt, da Aufklärerey (das ist, verbessert seynsollende Freymaurerey, oder das Illuminatenwesen) endlich auch in Niedersachsen zu grassiren anfängt, sind alle unsere Knaben – Aufklärer!.431

Reichard gegenüber erklärt er: „Ich bin nie Mitglied von irgend einer geheimen Gesellschaft gewesen, und bin also in keine Mÿsterien eingeweiht“.432 Dem selben Adressaten berichtet er, dass der Göttinger Christoph Girtanner433 Illuminat gewesen sei, aber bei Gott und allem, was ihm heilig sei, geschworen habe, seit zwei Jahren keiner geheimen Gesellschaft mehr anzugehören: „Diess ganz unter uns. Es scheint, Girtanner habe sich also bekehrt. Aber wie konnte er vor zweÿ Jahren noch Illuminat seÿn, da man überall versichern will, es gebe im protestantischen Deütschland durchaus keine Illuminaten mehr??“.434 Allerdings attestiert er den Freimaurern, dass ihre Moral besser sei als „alte schulgerechte Kanzelmoral“ (IV, 397) und dass sie in der zeitgenössischen „gnostischen und theosophischen Gährung“435 in Deutschland, im Gegensatz zu den Aufklärern, religiöse Gesinnung am meisten offenhielten, so dass er „nie ohne die tiefste Ehrerbietung“436 von ihrer Gesellschaft spräche. Was hier ironisch eingefärbt ist, verliert gegen Ende seines Lebens jegliche Ironie, und seine Aversion gegen das Freimaurertum wird zum

428

Journal von und für Deutschland. Zweyter Jahrgang. Sechstes Stück. Hg. v. Siegmund Freyherr von Bibra. Fulda 1785, S. 558/559. Unterredungen 1788, S. 85. SuUB Hamburg Hss-Abt NRS: Br. Z 4. Unterredungen 1788, S. 242. Brief von Zimmermann an Rechard vom 11. November 1792. Zitiert bei Christoph Weiss, Deutschlands Hohn und Schmach. Der Beginn des Briefwechsels zwischen Johann Georg Zimmermann und Heinrich August Ottokar Reichard, in: Schramm 1998, S. 198. Im Postscriptum heisst es: „Ich verändere zuweilen beÿ meinen Briefen das Pettschaft, denken Sie also deswegen nicht, dass der Brief geöfnet seÿ. Aber haben die Illuminaten nicht gute Freünde auf dem Posthause zu Gotha? Auf dem hiesigen Posthause und in Göttingen ist für uns beÿde keine Gefahr“. 433 Es handelt sich nicht um den St. Galler Daniel Girtanner (1757–1844), den Freund Bräkers. 434 Christoph Weiss, Deutschlands Hohn und Schmach. Der Beginn des Briefwechsels zwischen Johann Georg Zimmermann und Heinrich August Ottokar Reichard, in: Schramm 1998, S. 206. 435 Unterredungen 1788, S. 85. 436 Unterredungen 1788, S. 86. 429 430 431 432

362

erbittert geführten Kampf des „Royaliste, Antirépublicain, Antijacobin et Antiilluminé“ gegen die Freimaurerei.437 Zimmermanns Verhältnis zum Jesuitenorden ist ambivalent. Für „Jesuitenriecherey“ hält er u.a. den „Schnickschnack: die Fürstinn von Dessau, eine gebohrne Princessinn von Brandenburg, die mit ganzem Herzen und allen Kräften ihrer erhabenen Seele die reformirte Religion bekennet, habe in Zürich unter Lavaters Leitung, die catholische Religion angenommen!“.438 Daran schliesst sich eine Polemik gegen den Jesuitenorden an, gegen „die lieben Herren Jesuiten (diese Janitscharen des heiligen Stuhles, wie sie Pabst Benedict der vierzehnte nannte)“, die „Gott so oft gefallen wollten, wenn sie aus vollem Halse schrien, dass man keines Ketzers schone“.439 Er warnt vor der schlangenklugen Gefährlichkeit der Jesuiten, schätzt aber ihre intellektuellen Vorzüge. Dass der Mond Trabant sei und sein Licht von der Sonne empfange, hat „Belgrado, ein verehrungswerther Italiänischer Jesuit […] sehr scharfsinnig bemerket“ (Erf. II, 107), und die Bezeichnung Chinas als Reich der Mitte stamme von einem Jesuitenmissionar in China, ein „Einfall […] der Klugheit eines Jesuiten würdig“.440 Am Ende seines Lebens ist ihm der Jesuitenorden lieber als die diffamierte Aufklärung: „Der ganze Jesuiter-Orden von seinem ersten Ursprung bis zu seinem Ende bestand aus Heiligen in Vergleichung mit der modernen Aufklärer-Bande“.441 Mit höhnischem Unterton vermerkt er, dass einige Philosophen ihn ob seiner exzessiven Lektüre von Viten mystischer Heiliger für einen Schwärmer hielten, „einige Scheinheilige und Narren wegen meinem Hasse aller Schwärmerey für einen Freygeist“ (Erf. II, 525).442 Diese Feindseligkeit gegen „Narren“, „Unholde“, „Quacksalber“, „Scharlatane“ teilt Zimmermann mit Johann Christoph Adelung, der im Falle des Theosophen Jakob Böhme erklärt: „Er besass, wie alle Leute dieser Art, eine lebhafte Einbildungskraft, und diese nahm in dem Grade zu, in welchem sein Nerven=System geschwächt wurde“.443 Adelung ist nicht nur der folgenreiche Verfasser eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches 437

Vgl. Christoph Weiss Royaliste, Antirépublicain, Antijacobin et Antiilluminé. Johann Georg Zimmermann und die „politische Mordbrennerey in Europa“, in: Von „Obscuranten“ und Eudämonisten 1997, S. 367–401. 438 Unterredungen 1788, S. 89. 439 Nationalstolz 1789, S. 112f. 440 Nationalstolz 1789, S. 84. An anderer Stelle heisst es: „Ein Reformirter, der seinen Glaubensgenossen in Frankreich predigt, wird gehenkt; ein Jesuit, der sich in Schweden blic??ken lässt, wird castrirt“. Nationalstolz 1789, S. 71. 441 Zitiert bei Ch. Weiss, Johann Georg Zimmermanns unveröffentlichte Verteidigungs- und Anklageschrift „An die Berlinische Aufklärungspropaganda und an alle ihre Affiliirten“, in: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Band 2: Frühmoderne. Hg. v. E. Donnert. Weimar u.a. 1997, S. 416. 442 Zum Verhältnis von aufgeklärter Frömmigkeit und Schwärmerei vgl. die Stelle in den Unterredungen 1788, S. 224: „denn Münchhausen war ein Mann von aufgeklärter Frömmigkeit, also kein Schwärmer“. 443 Adelung, Johann Christoph, Geschichte der menschlichen Narrheit Leipzig 1785–1789. Zweiter Theil, Leipzig 1786, S. 227.

363

der hochdeutschen Mundart, sondern auch einer siebenteiligen „Geschichte der menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen=und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden“, deren erster Band 1785 veröffentlicht wurde.444 Es finden sich darin neben „Jacob Böhm, ein Theosoph“445 weitere Reiznamen für Zimmermann wie „Johannes Baptista von Helmont, ein theosophischer Arzt“,446 „Madame Guyon, eine Quietistinn“447 oder „Theophrastus Paracelsus, ein Kabbalist und Charlatan“.448 Versucht man nunmehr, Zimmermanns religiöse Haltung kirchengeschichtlich zu situieren, manifestiert diese das Bestreben, „Christ und Philosoph“ (II, 184) in einem zu sein, d.h. aufklärerische Ansprüche mit christlichen Grundwahrheiten in Einklang zu bringen. Mit einer neologischen Grundausrichtung hat man es offensichtlich zu tun, wobei zu bedenken bleibt, dass sich Orthodoxie, Aufklärung und Pietismus „weder zeitlich noch sachlich noch persönlich auseinanderdividieren lassen, sondern mannigfach ineinander verwoben sind“.449 Karl Aner unterscheidet in seiner Theologie der Lessingszeit drei Etappen aufklärerischer Theologie in Deutschland: Wolffianismus, Neologie und Rationalismus, die er nach den jeweiligen Beziehungen zwischen Vernunft und Offenbarung voneinander trennt.450 Der Wolffianismus, den Zimmermann entschieden ablehnt, kennt einen „friedlichen Dualismus“ beider,451 während die vollentwickelte Neologie alles ausscheidet, was „ihr kontrarational“ scheint. Der Offenbarungsbegriff bleibt bestehen, anders als im Rationalismus, der diesen praktisch preisgibt. Die Neologie füllt den „spezifisch-christlichen Offenbarungsbestand“ mit religiösen Vernunftwahrheiten.452 Man wird Zimmermann nicht vollumfänglich für die Neologie beanspruchen, sondern seine Gesinnungsnähe zu neologischem Gedankengut feststellen. Kaum

444

In der Vorrede zum ersten Teil erklärt Adelung: „Ich liefere dem Publicum hier eine Sammlung von Lebensbeschreibungen solcher Menschen, welche ihr ganzes Leben ein Geschäft daraus machten wider Philosophie und gesunde Vernunft zu handlen“. Adelung, Erster Theil, 1785, Vorrede (unpag.). 445 Zweyter Theil 1786, S. 220–255. 446 Vierter Theil 1787, S. 257–294. 447 Fünfter Theil 1787, S. 122–245. 448 Siebenter Theil 1789, S. 189–365. 449 Vogelsanger, Peter, Zürich und sein Fraumünster. Eine elfhundertjährige Geschichte. 853– 1956. Zürich 1994, S. 362. In der Nachfolge Maduschkas charakterisiert R. v. Niederhäusern bilanzierend und verkürzend, es würden „die Richtlinien einer aufgeklärten Vernunftreligion erkennbar“. „Die heiligen Halunken“. Einsamkeit und Eremitentum bei Zimmermann, Johann Georg (1728–1795), in: R. Velhagen (Hg.). Eremiten und Ermitagen in der Kunst vom 15. bis zum 20. Jhd. Ausstellungskatalog Basel 1993, S. 40. 450 Aner, Karl, Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929, S. 3ff. (Reprint Hildesheim 1964). 451 Aner 1929, S. 4. 452 Aner 1929, S. 4.

364

würde er seinem Namensvetter Johann Jakob Zimmermann und seiner Lebensmaxime, „Nisi est utile, quod discimus et docemus, stulta est gloria“, zustimmen.453 Lässt sich bei Zimmermann durch den Einfluss epochaler religiöser Tendenzen eine Entwicklung seiner religiösen Auffassungen erkennen? Man könnte eine in Widersprüchen konsistente Entwicklung eines durch Eltern und Kirche unterwiesenen Reformierten mit pietistischen Einflüssen feststellen, der sich im Rahmen seiner naturwissenschaftlich-medizinischen Studien, die ihm die empirische Dimension des Menschen eröffnen, zum kritischen Rationalisten mit Sympathien für den Deismus wandelte und sich durch eine symptomatisch heftige Abgrenzungspolemik von seinem Kinderglauben befreit.454 Im Alter übernähme der Befürworter des Wöllnerschen Religionsedikts eine stramm orthodoxe Haltung, wie sie etwa in seinem Ausfall gegen die Berliner Aufklärung beredt zum Ausdruck kommt.455 Eher trifft indessen zu, dass eine eigentliche Entwicklung nicht vorliegt,456 sondern Akzentverschiebungen in einer pietistisch beeinflussten Grundhaltung, die das ganze Leben durchzieht und zu keinem Zeitpunkt fundamentale Zweifel an religiösen Grundwahrheiten aufkommen lässt. Zutreffend stellt Ischer fest: „Zimmermann ist immer eine religiöse Natur gewesen und ist es gegen das Ende seines Lebens noch mehr geworden“.457 Die Existenz eines persönlichen Gottes, Unsterblichkeit der Seele, Offenbarung, als Begriff und Inhalt, Gericht und Jenseits stehen ausser Frage, nicht aber eingehender geklärt ist sein Verhältnis zum Pietismus. 10.3.2 Zimmermanns Verhältnis zum Pietismus Die Nähe Zimmermanns zum Pietismus, seine interkonfessionelle Toleranz und seine auf den aufgeklärten Absolutismus ausgerichtete eschatologische Naherwartung sind in der Analyse des Einsamkeitswerks einsichtig gemacht worden.458 Umfassender, aber ohne Anspruch auf erschöpfende Behandlung wird nunmehr Pietistisches im Gesamtwerk beleuchtet unter Beizug zweier zeitgenössischer Autoren, Martin Crugots und Ulrich Bräkers. Insbesondere stellt sich die Frage, 453

Zitiert bei Finsler, Georg, Zürich in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Zürich 1884, S. 114. 454 Zimmermanns Bittseufzer Sulzer gegenüber, welcher die über Zweifel und Anfechtung hinaus bestehende Beständigkeit seiner Religiosität artikuliert, scheint diese These zu stützen: „Ach lehren Sie mich doch an der Religion den Geschmack wiederfinden, den ich in meinen glücklichen Jahren so lebhaft gefühlt!“. 455 Unterredungen 1788, S. 237ff. 456 An Hirzel schreibt Zimmermann am 1. August 1784 zum bald vollendeten Werk über die Einsamkeit: „Freylich hast Du auch recht, mein lieber Hans Caspar, indem Du sagst: ich sey ein muthwilliger Jüngling mit grauen Haaren! Das ist sehr wahr. Ich bin noch immer der nemliche Mensch der ich in Brugg war, ein paar kleine Unterschiede ausgenommen, die dann freylich anitzt meinen Worten mehr Nachdruck geben, und meiner Dinte mehr Schärfe“ (ZZH, FA Hirzel 240, 20). 457 Ischer 1893, S. 360. 458 Vgl. 9. Heilsgeschichte und Einsamkeit: Zimmermanns Einsamkeitstheologie, S. 235ff.

365

welcher pietistischen Richtung Zimmermann am ehesten zugeordnet werden könnte. „Merk auf den Schall, der stets uns zur Bekehrung ruft! Betrachte doch dich selbst und wag es dich zu kennen“,459 gibt Zimmmermann am Ende des Gedichts über das Erdbeben in Lissabon dem Leser, zu steter Umkehrbereitschaft mahnend, mit auf den Lebensweg. Das ganze Gedicht weist „strukturell pietistische Züge“ auf und steht seinem inneren Aufbau nach „dem Muster des pietistischen Erweckungserlebnisses verblüffend nahe: der Abfolge von äusserer Erschütterung, psychologisierender Gewissenserforschung, demütiger Selbstzerknirschung, Busskampf und Gnadendurchbruch“.460 Ab 1765, drei Jahre vor der Übersiedlung nach Hannover, durchlebt Zimmermann, unter dem Einfluss Lavaters und im Bewusstsein einer möglicherweise tödlichen Erkrankung, eine Phase religiöser Erregung, die ihm sogar die Schriften des Neologen Spalding zu rationalistisch erscheinen lassen. Haller gegenüber bekennt er: „Je me suis oublié totalement depuis quelque temps sur ma grande destination. Je n’ai eu en tête que les sciences dont le detestable abus m’a rendu insensible sur les points principaux de la Religion, sur la vie avenir etc.“.461 Er beabsichtigt, nach dem Abschluss der Haller-Biographie eine – nicht zustande gekommene – Abhandlung mit dem Titel „Confessions d’un savant après la mort“ zu verfassen, in welcher er erweisen möchte, dass die hommes de lettres von Ruhmsucht angetrieben werden, die jegliches religiöses Empfinden zerstöre. Wer sich nur auf spezialisiertes Wissen verlasse, könne dem Tod nur mit Schrecken entgegensehen, ausser er habe sich in einsamer Zurückgezogenheit unentwegt auf die furchtbare Reise ins Jenseits vorbereitet.462 Es ist auch im Grunde eine pietistische Haltung, die er selbst dem atheistischen Preussenkönig mehr unbewusst unterlegt, wenn er schreibt: „Friedrich der Grosse fühlte, dass er Mensch war, gestand die Schwäche und Abhängigkeit unserer Natur […] Tief und eingreifend fühlte Er was er war, und was wir Alle sind, oft mit Demuth, mit Trübsinn, und mit wahrer Melankolie“.463 Über die Entstehung seiner Unterredungen mit dem Preussenkönig berichtet Zimmermann, wie er lange mit dem Beginn der Abfassung zögerte; aber „den dreyzehnten October 1787, fuhr mir der Wunsch

459 460

Die Zerstörung von Lissabon (sic), V. 308/309, in: Rector 1997, S. 38. Rector, Martin, Johann Georg Zimmermanns Gedicht Die Zerstörung von Lissabon (1756), in: Schramm 1998, S. 92. S. 91 bemerkt Rector, dass es keine Zeugnisse gebe, die pietistische Einflüsse beim jungen Zimmermann belegen, und er möchte solche Einflüsse auch nicht behaupten. Es gibt das Brugger Tagebuch vom September 1753, „Nosce te ipsum“, das stark pietistisch geprägt ist. Vgl. 13.2 Zimmermanns Verhältnis zum Pietismus 461 Brief Zimmermanns an Haller vom 25. November 1754. Ischer 1906, S. 208. Wenig erhellend ist Ischers Kommentar, wenn er diese pietistischen Bekenntnisse herunterspielt und gar bemerkt, sie seien „voll römisch-katholischer Feindschaft gegen das Wissen“ (S. 237). 462 Ischer 1906, S. 208. Im Brief vom 30. Dezember 1754 äussert Zimmermann: „Vous m’avés persuadé Monsieur qu’on peut avoir d’autres motifs dans le travail que l’ambition“. Ischer 1906, S. 216. 463 Unterredungen 1788, S. 156.

366

dieses Buch zu schreiben, wie ein Blitz in den Kopf“.464 Beim Anblick des Hügels von Sanssouci „warf sich mein Herz mit dem höchsten Feuer und mit der höchsten Inbrunst nieder vor Gott. Wie ich, in diesen Augenblicken betete, ward vielleicht nie auf diesem Hügel gebetet“.465 In der für ihn charakteristischen Vorverteidigungsstrategie bemerkt er: „Schwärmerey sey diess, wie alle religiösen Gesinnungen, die nicht gebadet sind in kaltem Deismus; wer darf das sagen? Er trete hervor, damit man Ihn kenne; und dann antworte ihm wer will“.466 Das gesamte im Zeitraum vom 5. bis zum 23. September 1753 geführte Brugger Tagebuch mit dem Titel Nosce te ipsum ist in seinem Bestreben, in schonungsloser Selbstprüfung Rechenschaft über seine Zeiteinteilung abzulegen, pietistisch geprägt: Meine Klage geht hauptsächlich dahin, das ich gar zu viel Zeit verliere. Hätte ich meine Stunden eingetheilt, wäre einem jeden von meinen Geschäften seine Zeit bestimt, würde ich mich alle Abend zur Rechenschaft fodern, ob denn dieses alles genau beobachtet worden, so würde ich gewiss mit Vergnügen das Vergangene betrachten und der Zukunft mit Sehnsucht erwarten.467

Charakteristischerweise gehen Religiöses und Medizinisches eine Erkenntnissymbiose in therapeutischer Absicht ein, so dass Mark-Georg Dehrmann völlig zu recht feststellt: „In Nosce te ipsum geht pietistisch geprägte, zerknirschte Selbsterforschung mit medizinischen Selbstbeobachtungen einher“.468 Unverkennbar pietistisch ist in den drei Jahre später erschienenen Betrachtungen über die Einsamkeit die Einheit von Lebensekel und Wiedergeburt im Zeichen des Glaubens: „Ach wie trostreich ist, in diesen bittern Stunden, die Kraft des Glaubens, und der Unterwerfung […] sie schenket uns, an dem Rande der Zeitlichkeit, ein neues Leben“.469 Das Brugger Tagebuch zeigt an, wie Zimmermann echte, nicht vorgetäuschte konfessionelle Frömmigkeit beinahe verstohlen erkennen lässt, als ob er ein schlechtes Gewissen über seine autonomen Ansätze empfände. Durch religiöse Erbauung fühlt er Leib und Seele zu einer Einheit zusammenschmelzen. Am eidgenössischen Bettag vom 13. September 1753 erhebt er seine Seele zum Himmel mit Lesung einiger Gedichte, die freylich zu dem gegenwärtigen Zweck nicht dienten. Ich hörte darauf mit innigst gerührtem Herzen eine Predigt eines meiner liebsten Freunden. Meine Aufmerksamkeit ware ununterbrochen, meine Seele wurde bald bey jedem Spruche erwekt. Die Rührung des Geistes drange sogar in meinen Leib. Bey dem Gebete, womit er die Anrede an die Gemeinde schlos, schlug mir mein Herz auf eine mir ganz ungewohnte Weise. O Herr, der du den Saamen des Guten in mich gelegt, erweke doch denselben durch deinen göttlichen Einfluss, rühre mein Herz, weil es nicht fühllos ist. Hebe aber meinen Geist zum 464 465 466 467 468 469

Unterredungen 1788, S. 7. Unterredungen 1788, S. 16. Unterredungen 1788, S. 160. Tagebuch 1753, S. 127. Dehrmann, Mark-Georg, Produktive Einsamkeit. Hannover 2002, S. 72. Einsamkeit 1756, S. 83.

367

Guten. Zerreisse die Ketten, die mich an die Erde binden. Das Leben ist mir eine Bürde, wann es nicht dir geheiligt ist. Wann die Freude in mir erstirbt, Herr, wer wird meine Sorgen besänftigen. Bey dir allein, ewiger Gott, ewige Quelle des Guten, herscht Freude und unsterbliche Zufriedenheit.470

Neben Pietistischem steht bisweilen ätzende Pietismuskritik, wenn Zimmermann beispielsweise Lavaters (angeblichen) „Pietismos“471 kritisiert. Pietistischen Autoren erteilt er in einem Brief vom Mai 1755 an Haller eine klare Absage: Je ne scaurois lire ces Franke, ces Spener, ces Rambach, ces Arndt – – – – bien loin après cela de vouloir les imiter. Je vous parlai Monsieur d’un ouvrage d’imagination, d’un roman, d’un Grandison, d’un Telemaque. C’est d’un pareil ouvrage que je vous ai prié de me donner l’idée et je prends la liberté de repeter ma demande .472

Am Schluss der Schrift Von der Diät für die Seele polemisiert Zimmermann gegen „pietistische Lehrer»“, diese „höchst gefährlichen Ohrenbläser“, diese „pechschwarzen Tröster“,473 die körperliche Ursachen mit geistigen verwechseln: „Ein Kopf den entweder Feenmährgen, und läppische Romane, oder abergläubische Erzählungen, oder mystische und pietistische Bücher verwirrt haben, ist und bleibt unter allen diesen Gestalten ein Narrenkopf, bis man ihn heilt“.474 Es gilt, dass man dem durch Leidenschaften Erkrankten „alle seine pietistische Bücher sanfte aus den Händen locke“.475 Bei Gemütskranken hängt das meiste von ihren Gewissensräthen ab. Pietistische Geistliche haben wie die sogenannten strengen Orthodoxen, vermittelst der von ihnen so hochgepriesenen Gefangennehmung ihrer Vernunft, insgeheim schon so viel von dem urtheilenden Vermögen zum voraus verloren, dass sie jede Blähung die ihre Beichtlinge drükt, jede Krämpfung ihres Unterleibes und ihrer Brust, jede die Seele freilich beängstigende aber auch durch ein Clistier zu hebende Veränderung in dem Körper eine Gnadenführung nennen.

Im XXVII. Versuch, „Radotage über Herrnhuter, Pietisten, und den Quacksalber Gassner“, eröffnet Zimmermann: „Herrnhuter und Pietisten – Aug und Herz strebt bey euch (ich gesteh es mit Beschämung) mehr als bey unser einem zum Himmel“.476 Den Herrnhutern, „stromkündigere Steuermänner“ als die Pietisten, wird ausserordentliches Geschick im Umgang mit Menschen attestiert, weil sie diese „zu der beneidenswerthesten innern Ruhe“ zu leiten vermögen. Die Pietisten werden von Kritik nicht verschont, sie „übertreiben die Menschheit, anstatt sie zu

470 471

Tagebuch 1753, S. 136f. Vgl. August Ohage, Zimmermanns Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten, in: Schramm 1998, S. 120. 472 Brief von Zimmermann an Haller vom 7. Mai 1755. Ischer 1893, S. 235f. 473 Benzenhöfer / vomBruch 1995, S. 150. 474 Benzenhöfer / vom Bruch 1995, S. 148. 475 Benzenhöfer / vom Bruch 1995, S. 156. 476 Versuch 1779, S. 47.

368

lenken, und darum scheitern sie so oft“. Sie „sind Ärzte, wie der Quacksalber Gassner, der erst seine Patienten todtkrank macht, um sie zu heilen“.477 Wie ist Zimmermanns ambivalentes Verhältnis zum Pietismus zu verstehen? Richard Brinkmann hat gezeigt, dass zum Verständnis von Goethes Werther Gottfried Arnolds Individualitätskonzept von zentraler Bedeutung ist, denn an diesem wird die Aporie des emanzipierten Werthers ersichtlich, die im Zeitalter der Aufklärung virulent zu werden beginnt.478 Indem Werther sich verwirklicht, muss er sich zugleich verneinen. Nicht nur im Brugger Tagebuch lässt sich Pietistisches mit Händen greifen, ohne dass direkte Bezüge zu Arnolds Werk, das Zimmermann kannte, hergestellt werden müssten. Zimmermanns Ablehnung der Orthodoxie, ja jeglicher Dogmatik, seine Kritik an den „sichtbaren“ Konfessionskirchen als Depravation vom Urchristentum, das weltflüchtig Kontemplative in seinem leidenschaftlich vorgebrachten Postulat für eine unmittelbare Zwiesprache mit Gott und für einen entschiedenen Vorrang der Lebenspraxis vor der Lehre sowie seine Ökumenekonzeption im Zeichen einer „Geistkirche“, die aus den verschiedenen Konfessionskirchen hervorgehen soll, die Beschwörung einer Minorität von Einsamkeitserfüllten, die ihre Begeisterung mit Leiden bezahlen müssten: alle diese für Zimmermanns Religionsverständnis konstitutiven pietistischen Charakteristika gehen im übrigen ihrerseits einher mit einer überaus intoleranten Haltung allen jenen religiösen Erscheinungsformen gegenüber, welche diesen Forderungen widersprechen. Das Dilemma Werthers entspricht in zugespitzter Form diesem Problemfeld, das auf spezifische Weise bei Zimmermann keimartig angelegt ist. Indem Zimmermann seinen pietistischen Hintergrund mit seiner anthropologischen Grundhaltung zu vereinen sucht, also zwei ebenso miteinander verbundene wie getrennte Ansprüche durchzutragen hat, um sich als autonome Individualität zu konstituieren, deutet sich jene Aporie des modernen Individualitätsbegriffs an, die sich in Goethes Werther mit Virulenz manifestiert.479 Im Folgenden sollen zwei Autoren herangezogen werden, die in einem weiteren Sinn pietistisch geprägt sind: Martin Crugot und Ulrich Bräker. Es handelt sich um zwei Zeitgenossen Zimmermanns, die er nicht eigentlich zur Kenntnis genommen hat. Dennoch sind sie geeignet, vergleichsweise Zimmermanns Verhältnis zum Pietismus näher zu bestimmen. Der aus einer Hugenottenfamilie stammende Martin Crugot,480 dessen Vorfahren sich in der Pfalz niedergelassen hatten, wurde am 5. Januar 1725 in Bremen 477 478

Versuch 1779, S. 48. Brinkmann, Richard, Zur Genese und Aporie des modernen Individualitätsbegriffs. Goethes Werther und Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie, in: Brinkmann, Richard, Wirklichkeiten. Essays zur Literatur. Tübingen 1982, S. 91–126. 479 Vgl. Schings 1977, S. 138, der darlegt, wie die Erfahrungsseelenkunde säkularisierte Nachfolgerin wie kritische Widersacherin des Pietismus sei, wobei sich beide Aspekte keineswegs ausschlössen, „nur sollte man auch den kritischen kennen“. 480 Vgl. Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. Ausgearbeitet von Meusel, Johann Georg. Zweyter Band. Leipzig 1803, S. 243–244. ADB. Vierter Band

369

geboren. Früh verlor das Einzelkind seine Eltern, verdankte jedoch einer Adoption eine gymnasiale Ausbildung, die ihm ermöglichte, in Bremen und Herford Theologie zu studieren. 1747 wurde er Hofprediger beim Fürsten von Schönaich-Carolath. Nach elfmonatiger Ehe starb seine Frau im Kindbett. Verschiedene verlockende Angebote, darunter eine Berufung an die Universität Halle, schlug er aus und blieb bis zu seinem Tod am 5. September 1790 im schlesischen Carolath ein überaus geehrter Kanzelredner. Königin Elisabeth, die Gemahlin des Preussenkönigs Friedrichs II., übersetzte das weitverbreitete und vielgelesene Buch Der Christ in der Einsamkeit 1776 ins Französische. Bemerkenswerterweise verfasste der nachmalige Intimfeind Zimmermanns, K. F. Bahrdt, 1763 von orthodoxer Warte aus eine Gegenschrift unter dem Titel Der wahre Christ in der Einsamkeit, die von Lavater, der Crugot, zumindest zeitweilig, sehr schätzte, zunächst leidenschaftlich bekämpft wurde. Die der Apostelzahl entsprechenden Betrachtungen („Stücke“) des Werks, denen jeweils ein Bibelwort vorangestellt ist, lauten: I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII.

Der Schöpfer Morgengedanken Der Ewige Abendgedanken Der Allmächtige Die aufgehende Sonne Der Allwissende Die untergehende Sonne Der Höchstgütige Der Morgen Die Vorsehung Der Abend

Das gesamte Erbauungsbuch, das stark vom Kontrast zwischen Licht und Dunkel, Erleuchtung und Finsternis lebt, umkreist demnach das Schöpfungsganze, indem zyklisch Gott, Morgen und Abend wiederkehren. Gott wird in sechs Wiederholungen gelobt als der Schöpfer, der Ewige, der Allmächtige, der Allwissende, der Höchstgütige, die Vorsehung im Zeichen von dreimaligem Wechsel zwischen aufgehender und untergehender Sonne. Gott ist schlechterdings unermesslich: „Alles, was ich von dir denken kann, ist, dass du nicht zu denken bist“.481 Diese zyklische Struktur verweist inhaltlich auf die gefeierte Schöpfungsharmonie, die auch das Tribunal der Vernunft und der auf Sinneswahrnehmung beruhenden Erfahrung nicht zu fürchten hat, sondern vielmehr ganz bewusst einbezieht. Das

Nachdruck der 1. Auflage von 1876, Berlin 1968, S. 626–627. Lavater verteidigt Crugot im 5. und 6. Stück von 1764 der Lindauer Ausführlichen und Kritischen Nachrichten gegen Carl Friedrich Barth. Vgl. Volz-Tobler 2000, S. 6. 481 Crugot, Martin, Der Christ in der Einsamkeit. Das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte. Neue verbesserte Auflage. Breslau 1760, S. 112.

370

erste Stück Der Schöpfer, ein Gottesbeweis, sucht, wie die ganze Schrift, Vernunft und Glauben zu versöhnen: So wenig ein Mensch, der gesunde Augen hat, sich enthalten kann, das Sonnenlicht zu empfinden; eben so wenig kann ein Mensch, der eine gesunde Vernunft hat, sich enthalten, die Stärke der Beweise zu empfinden, welche alle Dinge, die um uns sind, von dem Daseyn eines Schöpfers uns vor Augen legen.482

Der Christ in der Einsamkeit will einsichtig machen, dass die staunenswerte Ordnung der Schöpfung keinesfalls blindem Zufall entsprungen sein könne.483 Die Seele fühle „an der Art, wie sie ist, dass ein Schöpfer ist“.484 Crugot versucht, den Leser in seine Argumentation, der eine rhapsodische Klimax innewohnt, als Partner einzubeziehen: Wie leer, wie wüste würde mir die Welt seyn, wenn kein Gott wäre, der sie erfüllete? In öder Einsamkeit würde ich, gleich einem schüchternen Gespenste, in den endlosen Räumen der Schöpfung verzweifelnd herumirren, wenn ich nicht in dir, meinem Schöpfer, den Mittelpunct fände, in welchem sich meine zerstreute (sic) Gedanken vereinigen, und nach mühsamen (sic) Suchen Ruhe finden könnten.485

Dem Tod sieht Crugot mit Gelassenheit entgegen, denn er weiß, dass sein Erlöser lebt: „Was ist der Tod […]? Das Ende meines hiesigen, und der Anfang eines künftigen besseren Lebens“.486 Auch das Erdbeben von Lissabon am Allerheiligentag 1755487 erweist die Allmacht Gottes.488 Anthropologisches findet sich im siebten Stück Der Allwissende, das Crugots Christ in der Einsamkeit als umfassend christlich eingefärbte literatur-anthropologische Schrift ausweist. Das commercium mentis et corporis sieht Crugot in einer Ganzheit stiftenden Korrespondenz von Geist und Körper: „Zwey Wesen von ganz verschiedner Art, ein Geist und ein Körper, sind in mir vereint, so genau vereint, dass ihre beyderseitigen, obgleich in sich verschiedenen Wirkungen, doch alle zu einem und demselbigen Endzwecke eilen“.489 Crugot führt weiter aus: Die Speisen, welche ich zu meiner Nahrung geniesse, werden durch eine Art von Zauberkraft stuffenweise in mein Wesen verwandelt. Sie ersetzen den Abgang, welchen alle flüssige so wohl, als feste Theile meines Körpers, durch ihren beständigen Gebrauch unaufhörlich leiden. 482 483 484 485 486 487

Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 1f. Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 3. Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 6. Vgl S. 18: «Nein! mein Schöpfer ist, und er ist ewig». Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 10. Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 25. „Sie ist nicht mehr, die Königinn der Städte: Lissabon ist dahin […] Eine Schreckliche Viertelstunde vernichtet die Arbeit vieler Jahrhunderte“. Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 41ff. 488 Vgl. „Ich sehe mit ruhiger Zuversicht stolz auf mein Verhängniss, auf die niedrigen Auftritte der Unordnung und Verwirrung herab, welche in dieser Welt herrschen“, Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 127, oder: „Keine Gefahr kann so schrecklich, kein Übel so gross, keine Aussicht so verwirrt seyn, dass sie nicht in den Händen der Vorsehung zu meinem Besten dienen müsste“ (S. 130). 489 Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 58.

371

Ja! aus ihren durch den oftmaligen Umlauf gereinigten Säften wird in dem Gehirne, dem Sitze des Denkens, der subtile Geist abgesondert, dessen flüssiges Feuer, durch unsichtbare Canäle geleitet, bis zur Seele dringt, und die Kluft ausfüllet, welche dieselbe von der gröbern Materie des Körpers absondert. Hier ist die Werkstatt der Gedanken, das verborgenste Geheimniss der Natur. Hier gelangen von den entferntesten Theilen des Körpers alle Eindrücke an, welche die äussern Dinge in alle äussere Werkzeuge meiner Sinnen machen. Hier werden sie geläutert. Sie nehmen ein geistig Wesen an, werden zu Gedanken, und verlieren sich in das Innerste meiner Seele, welcher sie zur Nahrung dienen.490

Keine noch so raffinierte Zergliederungskunst491 vermöchte die Geheimnisse der Schöpfung zu enthüllen. Erfahrung wird nicht geringgeschätzt – sie ist immerhin „der sicherste Lehrer endlicher Wesen“492 –, der Mensch muss sich aber ihrer Grenzen bewusst sein. Dem Schlaf kommt für Crugot eine besondere Bedeutung zu, denn er unterbricht die Verknüpfung von Seele und Körperwelt beinahe vollständig und kann so als einübende Todesvorbereitung nützlich werden. Im Schlaf ist die Seele allein, ohne gesellschaftliche Einwirkungen und deshalb gerade in der Finsternis der Nacht eher bereit, die erleuchtende Stimme Gottes zu vernehmen, die in „seliger Einsamkeit“493 die Seele zu himmlischen Gesinnungen bildet. In andachtsvoller Einsamkeit eröffnen sich dem Menschen „Aussichten ohne Ende“,494 auch in die Ewigkeit, die allerdings nicht näher ausgeführt werden. Der Mensch erfüllt seine Bestimmung, wenn er auf Gottes Stimme hört. Crugots Schrift ist eine Anleitung, das Gehör für Gottes Stimme in der Stille zu schärfen, wenn auch ohne konkrete diätetische Anweisungen. Eigentliches Ziel ist nicht wissenschaftliche, stolz verblendete Gelehrsamkeit, denn der Mensch sei sich selber unbekannt und bleibe sich ein Geheimnis, sondern andächtige, demütige, an mystische Gotteserkenntnis gemahnende Erfahrung der göttlichen Allmacht in der Stille der Einsamkeit: In der frühen Stunde des Tages und zu der stillen Zeit der Mitternacht will ich mit lehrbegierigem Herzen zu den Füssen der himmlischen Weisheit sitzen, und ihren Unterricht hören. Hier will ich mit Davids feurigen Schwingen mich zum Gipfel der reinsten Andacht erheben, und schon zum voraus Theil an den Empfindungen der seligen Geister nehmen. Hier will ich den sanften Lehren des vollkommensten und heiligsten Lehrers in der Stille nachdenken, und in seinem Umgange mein Herz nach seinen Gesinnungen bilden.495

490 491

Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 59. „Am Anfang seiner Untersuchungen (sc. des Anatomen) findet er das Ende seiner Kunst“ heisst es über die Unerschliessbarkeit des Geheimnisses „Schöpfung“: Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 58. 492 Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 91. 493 Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 77. 494 Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 121. 495 Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 65.

372

Einsamkeit und Ruhe sind bei Zimmermann wie bei Crugot496 praktisch identische Begriffe. Crugots Bestimmung von „Einsamkeit“ gemahnt stark an Zimmermann: Das mannichfaltige Schauspiel des Tages wechselt mit dem einförmigen Auftritte des ruhigen Abends ab. Ich bin allein. Nichts hindert mich, frey zu denken, für mich zu denken, und ungestört allen Vorstellungen nachzuhängen, welchen sich zu überlassen meine Seele für gut findet. Wie reizend angenehm ist doch die sanfte Stille der Einsamkeit?.497

Zimmermann definiert im ersten Kapitel des ersten Teils: „Einsamkeit ist eine Lage der Seele, in der sie sich ihren eigenen Vorstellungen überlässt. Im Genusse wirklicher Absonderung und grosser Stille, oder auch nur durch Wegwendung der Gedanken von dem, was uns umgiebt, sind wir einsam“ (I, 3). Wohl gilt es, so führt Crugot weiter aus, seinen Pflichten der Gesellschaft gegenüber gewissenhaft nachzukommen, die Glückseligkeit seiner Mitmenschen zu befördern, doch erst im abgeschirmten Erleben der Einsamkeit wird der Mensch „wesentlich“ und „eigentlich“, kommt er mit sich zur Deckung, wird „ganz“ und erlangt seine Bestimmung: Wahre Freuden kann allein die Einsamkeit gewähren. Sie ist die Schule der Tugend. Sie streuet den Samen der Weisheit aus, welcher in dem gesellschaftlichen Leben zu Tugend reifet, und dessen Aernte Zufriedenheit ist. In der Einsamkeit lehret und lernet die Seele sich selbst. Ohne diesen Unterricht ist aller andere vergeblich. Alle Menschen, ohne Unterschied, nimmt hier die Tugend zu Lehrlingen an. Und nur die, an deren Besserung sie gänzlich verzweifelt, werden von ihr aus dem glückseligen Gebiethe der Einsamkeit verwiesen, und auf ewig in das Getümmel der Gesellschaft verbannet.498

Crugots Kritik an der Gesellschaft ist radikaler und ablehnender als jene Zimmermanns, dessen Einsamkeitsbegriff auf Gesellschaft angewiesen bleibt und sich antithetisch zu ihr artikuliert. Für Crugot ist die Seele in der Gesellschaft grundsätzlich nicht bei sich zu Hause, indem sie leidet, ohne ihre göttliche Bestimmung zu erfahren. Bei aller Übereinstimmung zwischen Zimmermann und Crugot wiegt eine Differenz zwischen beiden nicht gering. Zimmermanns freie, sich selbst problematisierende Entfaltungssuche geht geradezu trotzig ihre autonomen Wege – allerdings im Horizont unproblematisierter christlicher Heilsgewissheit. Crugots Selbsterforschung, die unerschütterlich um ihre Gottesebenbildlichkeit weiß, sucht Seligkeit im eigenen Ich als deren reichster Quelle, die unweigerlich zu Gotteserfahrung führt. Staunend und anbetend steht der nachfolgende Christ in der Einsamkeit demütig vor dem Mysterium der Schöpfung. Lessings Ungewissheit überdeckende Frage im hundertsten und letzten Paragraphen seiner Erziehung des Menschengeschlechts, „Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?“,499 findet bei Crugots 496

„Wie göttlich erhaben ist die Ruhe, in welche der Begriff einer alles zum Besten ihrer Geschöpfe regierenden Vorsehung mein Gemüth setzet?“. Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 123. 497 Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 132. 498 Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 133. 499 Lessing, G. E. , Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: Lessing, Gotthold Ephraim. Werke hg. v. Göpfert, Herbert G. . München 1979, Bd. 8, S. 510.

373

Ergebenheit in den Glauben an den Allmächtigen in einem rhapsodischen Aufschwung eine Antwort, die, allen Zweifeln entrückt, voller Ewigkeitsgewissheit ist: Die Ewigkeit, die selige Ewigkeit ist mein! Gott selbst ist mein! […] Unaussprechliche Empfindungen bemeistern sich meiner ganzen Seele! Mein ganzes Herz wallet von entzückenden Regungen der erhabensten und reinsten Freude! Wo finde ich Worte, mein Glück zu beschreiben, und dem unruhigen Triebe der Dankbarkeit genug zu thun, welcher meine ganze Seele erfüllet? Gott! mein Vater! zu welchem ich mit Wallungen einer kindlichen Liebe flehe! welchen meine ganze Seele anbethet! Wie soll ich deine Liebe gegen mich erwiedern?.500

Bräker, der im Oktober 1774 Verse über die Einsamkeit schreibt,501 ist mit „Kleinjogg“, dem Musterbauern, der zweite schweizerische philosophische Bauer mit „Genie“, der im 18. Jahrhundert Bedeutung erlangte, obwohl sich seine Berühmtheit nicht mit jener des von Caspar Hirzel entdeckten Ulrich Guyer aus dem Zürichbiet messen kann. Während der arme Mann aus dem Toggenburg durch die Publikation seiner Lebensgeschichte keinen eigentlichen finanziellen Gewinn verbuchen konnte, ist Zimmermann ökonomisch erfolgreicher. Der protestantische Kleinbauer aus dem zur Grundherrschaft des Fürstabts von St. Gallen gehörenden Toggenburg, dem am Pfingstmontag 1785 vom katholischen Theologen und Jesuiten502 Johann Michael Sailer „das Hertz treflich gerührt“503 wird, las im Sommer 1775 u.a. in der Erfahrung in der Arzneykunst,504 bezeichnenderweise neben und mit der Lektüre von Schriften Tissots.505 Bräker stellt auch Überlegungen zum Verhältnis von Leib und Seele an. Im Vergleich zum unermesslichen Schöpfungsgebäude komme er sich als unbedeutender Punkt vor: Ich merke beÿ aller meiner Kleinheit – das ich aus zwei theilen bestehe – aus Körper und Geist – weiss aus erfahrung das der körper – ohne den geist tod ist – zerfalt und verfault – aber das weiss ich nicht auss erfahrung – ob der Geist auch ussert seinem geheüsse, dem Körper bestehen kan.506

500 501

Der Christ in der Einsamkeit 1760, S. 94. Chronik Bräker, Ulrich. Auf der Grundlage der Tagebücher 1770–1798. Zusammengestellt und herausgegeben von Holliger, Christian, Holliger-Wiesmann, Claudia, Graber, Heinz, Pestalozzi, Karl. Bern, Stuttgart 1985, S. 112. 502 Seit 1773: Exjesuit. 503 Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 276. 504 Vgl. Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 123, Tagebucheintragung „Nach 14. 8. 1775“. 505 Die Tagebücher samt ausführlichen Lesenotizen der Jahre 1775–1778 sind verlorengegangen, erhalten ist lediglich, was Bräkers erster Verleger Johann Heinrich Füssli zu seiner Ausgabe der Tagebücher 1779–1782 mitteilt. Hans-Jürgen Schrader urteilt über Bräkers Lektüren: „Die Liste dieser Lektüre weniger Monate, in der sich Bräker durch seine Exzerpte und Stellungnahmen einige Ordnung zu stiften suchte, wirkt nun tatsächlich wahllos, ja chaotisch genug in ihrer Zusammensetzung aus Altem und Neuem, Erbaulichem und Theologischem, Medizinischem, Biologischem und Haushaltkundlichem, Geographischem von nah und fern, Profanund Kirschengeschichtlichem. Dadurch weicht sie unverkennbar von einem genuin pietistischen, ausschliesslich religiösen Lesekanon ab“. Schrader 1989, S. 308. 506 Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 462.

374

Seinen Körper empfindet er als Gefängnis seiner Imaginationskraft. Im Tagebuch bittet er deshalb die alles ordnenden Mächte, „dieses subtile unruhige Jch“ einzuschränken.507 Abgesehen von Bräkers militärischer Eskapade als preussischer Zwangsrekrutierter und Fahnenflüchtiger im Siebenjährigen Krieg sowie kleineren Reisen bleibt sein Leben auf sein armseliges Dasein als Bauer und Garnhändler im Toggenburg begrenzt. Der Knabe lebt eremitenhaft als Geisshirt im Dreyschlatt. Bräkers Tagebuch steht in pietistischer Tradition. Es gemahnt an Selbstgespräche eines grüblerischen Einsamen, der, in Ermangelung adäquater Gesprächspartner, seine eigenen Imaginationswege („Diese Welt ist mir zu eng. Da schaff’ ich mir dann eine neue in meinem Kopf“)508 geht – sich selbst und seinen Kindern zunutze und in der vagen Hoffnung, dass ihn vielleicht die Nachwelt hören und lesen werde,509 was denn auch geschah. Bräker fasst sein Leben als „fortdaurendes Selbstgespräch“ auf, weil ihm Freunde fehlen und er von seiner Familie kein Verständnis erfährt.510 Zehn Jahre vor seinem Tod zieht er Bilanz über sein Leben: „hingeworfen – in diesen einsamen Erdenwinkel – wildaufgewachsen – ohne Cultur – mit ein bisgen aufgeschnapter Philosophie – wir war – mit der ich gar beÿ keiner menschenclasse zurecht kome – So seÿs dan – gut – ich bins zufrieden“.511 Mit seelisch verwandten Gesprächspartnern, wie einem von Einsiedeln kommenden schwäbischen Pilger,512 würde er gerne länger zusammensein. Zimmermann wünscht er sich im Tagebuch als Arzt, da er auch seelische Leiden zu kurieren vermöge. Bräker teilt mit Zimmermann die Aversion gegen Absolutheitsansprüche von Konfessionen und das Glaubenbekenntnis einer nicht konfessionsgebundenen Religion. Am 26. Januar 1770 notiert er im Tagebuch: „Wan ich daheim bin, in der Einsamkeit beÿ meinen Kinderen, und meinem Beruf abwarte. so bin ich gewonlich der Seelen-nach auch vil Ehender daheim, beÿ meinem Erlöser, und Heÿland“.513 Von einsamer Ergebenheit in Gott berichtet er immer wieder, z.B. am 10. September 1772, dem Fast-, Buss- und Bettag, genießt es Bräker, allein zuhause zu sein: „da kan ich in der Stille mit meinem Gott Reden, und etwas von der Rede meines Hertzen aufschriben meinen Kinderen zur Erbaung und zum unterricht“.514

507 508

Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 182. Füssli, Johann Heinrich, Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Zürich 1792, S. LXII. 509 „Jch halte im Schreiben weder Regeln maass noch Ziel Hoffe meine Nachkomen oder Leser werden mirs zugute halten“. Chronik Bräker, Ulrich, S. 204. 510 Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 296 (6. März 1787). 511 Tagebuch unter dem 4. Mai 1788. Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 326. 512 Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 181. 513 Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 29. Vgl. Weinachten (25. Dezember) 1771: „Beÿ meinen Kinderen in der stillen Einsamkeit“, S. 70. 514 Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 81. Unter dem 12. Februar 1779 steht im Tagebuch, dass er nur in einsamen Stunden die gegenwart Gottes erfährt und sich „ganz“ fühle, d.h. ruhig und wohl (Chronik S. 158).

375

Zwölf Tage nach Ausbruch der Französischen Revolution, am Sonntag, dem 26. Juli 1789, gibt sich Bräker, nach Rückkehr von einer am 21. Juli angetretenen Reise nach Zürich,515 der Ruhe hin „jn einem sontäglichen selbstgespräch“: so bin ich dan wieder hier – in meinem alten nest – burg– kastell – oder wie ichs mir gern heisse – hier, auf meinem alten posten – mein eigner herre – o ho – eben da haperts – i, nu, muss ich schon gantze schachteln bittere pilen in mich schluken geniesss ich dagegen auch tausent freüden – freüden, von denen meine nachbarn nichts – wüssen – wilkomen mir – ruhiger stiler sabath – ich kam noch zur rechten zeit – einsam mein castell zubewachen – ruhig meine alten treüme zutreümen – wie wehmütig – und doch anmuthig tönt die gloke zu Wattweil – rufft meinen brüdern u. schwöstern zur andächtigen stile – die lehren unsers seelen hirten anzuhören – .516

Der Glockenton stimmt ihn zu inniger Dankbarkeit für das gütige obere Walten Gottes – „wie dütlich hab ich die allesleitende vatterhand gespürt“517 – und zugleich für die Möglichkeit stiller Einsamkeit, die ihm Selbstgenuss schenkt. Bräker besucht zwar nicht den Gottesdienst in Wattwil,518 mit dem er sich seelisch verbunden weiß, aber er hält dafür religiöse, stille Einkehr in sich selbst. Am Bettag 1787 besucht Bräker zweimal die Predigt, „um niemanden zu ärgern“.519 Obwohl er Beten in seiner „Gewönlichen Einsamkeit“520 vorzieht, weil Gott ihm intensiver in seiner häuslichen Einsamkeit nahe ist, ergreift ihn ebenso das gemeinschaftliche Gebet der Gottesdienstgemeinde nicht weniger. Während Crugots Christ in der Einsamkeit Autonomieansprüche ganz in der Geborgenheit einer Erbauungsschrift artikuliert, lässt sich an Bräker eine weiterführende Stufe verstärkter Autonomiebestrebung verfolgen. Bräker diversifiziert seine Lektüren, indem die Erbauungsliteratur ersetzt wird durch nicht eben pietistische, dafür „weltliche“ Literatur, und zunehmend geht er von seinem e i g e n e n Erfahrungshorizont aus und prüft seine Beobachtungen, Erlebnisse und Reflexionen vor der Instanz seines eigenen Ich, ohne je seinen Gottesglauben nachhaltig anzuzweifeln. Mit Zimmermann teilt Bräker eine ausgesprochene Naturliebe und eine hellwache Beobachtungsgabe sowie die epochentypische manie d’écrire. Seine vielgerühmte (im Sinne Schillers) naive Haltung erscheint heute sentimentalischer als damals und nicht ohne literarische Vermittlung. Bräker ist gewiss zeit seines Lebens ein einsamer Mensch gewesen, der sich in der räumlichen und seelischen Einsamkeit und Stille wohl fühlt, ja sie zum Leben benötigt.521 Am Karfrei515 516

Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 349ff. Bräker, Ulrich, Sämtliche Schriften. Hg. v. Bürgi, Andreas et. al. Dritter Band. Tagebücher 1789–1798. Bearbeitet von Bürgi, Andreas et. al. München u. Bern 1998, S. 220. 517 Bräker, Sämtliche Schriften 1998, Dritter Band Tagebücher 1789–1798, S. 220. 518 Am Palmsonntag 1787, dem 1. April, geht Bräkers Familie in die Kirche, und er trägt sein Tagebuch nach. 519 Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 308. 520 Tagebuch unter dem 13. Januar 1788. Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 315. 521 Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 41. S. 204, 3. Januar 1782: „Hüte bin ich vast mutterallein – mir ist um und um wohl“. Am 13. August 1785 unternimmt Bräker „Mutterseelallein“ einen Alpenspaziergang in die Gegend um die Kreuzegg. Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 279.

376

tag 1787 notiert er: „ein stiler, Einsamer, Heiliger Freÿtag“.522 In der „stilen einsamkeit“523 trägt er oft sein Tagebuch nach. Bei einem Besuch des Markts in Lichtensteig sehnt er sich nach Einsamkeit und notiert in grundsätzlicher Erwägung in sein Tagebuch: „Kein wunder wann sich schon ein B. Klaus zum einsidler macht. O dis wäre mir nebst einer Bibliothek u. schreibzüg die rechte Lebensart“.524 Diese sich selbst überlassene schöpferische Einsamkeit erinnert an die Entstehungsbedingungen von Zimmermanns Betrachtungen über die Einsamkeit von 1756, als der Brugger Stadtphysicus allein, bei Abwesenheit seiner Familie, sein Traktat verfasst: Ich schrieb dieses kleine Buch, in einem schönen Sommermonat, in meinem väterlichen Hause auf einer Dachstube, wo ich nichts sah und nichts hörte, als ein paar einsame verirrte Vögelein. Meine Familie, mit der ich in häuslicher Glückseligkeit lebte, war eben für eine ziemlich lange Zeit verreiset (III, 6).

Doch nicht immer gewährt Einsamkeit Bräker die ersehnte „Ganzheit“! Trotz der begünstigenden Einsamkeit kann er sich oft nicht richtig sammeln, z.B. am Palmsonntag 1787, obwohl seine Familie den Gottesdienst besucht und er somit über gute Rahmenbedingungen verfügt: „die Gedanken komen wenn sie wollen, nicht wenn ich wil“.525 Dieser Kommentar seiner seelischen Ungestimmtheit ist eine Lesefrucht aus Zimmermanns Werk Über die Einsamkeit. Im neunten Kapitel des dritten Teils heißt es nämlich: „Meine Gedanken kommen wenn sie wollen, und nicht wenn ich will, sagte Rousseau; darum nahm er sie auch an, wenn sie kamen“ (III, 149). Die einsame Zwiesprache mit Gott und sich selbst ohne Glaubensgemeinschaft geht fließend über in grüblerisch träumendes Sinnen, das nicht mehr ausschließlich heteronom bestimmt ist, sondern individuellen Gesetzen folgt. Einsame Lektüre ermöglicht imaginative Evasionsräume, in die hinein er seine Existenz verlängern kann, ganz im Sinne Zimmermanns, der in der Begegnung mit Geistern vergangener Jahrhunderte, vor allem der Antike, eine einsam-gesellige Daseinserweiterung erlangt. Die Depravations-Denkform, eine verschworene Gemeinschaft von „StillenEinsamen im Lande“, eine gelockerte institutionell kirchliche Bindung, auch das Postulat religiöser Toleranz sind Kennzeichen, die auf den Pietismus wie auf Zimmermann gleichermassen zutreffen. Aus der pietistischen Trias von gottgewollter Anfechtung, Trostverheißungen und Gnadendurchbruch ist Zimmermanns Ausgangspunkt die empirisch feststellbare physische und psychische Krankheit, die durch die Lektüre des Einsamkeitswerks selbst und die darin verkündeten Re522 523 524

Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 299. 29. April 1787. Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 301. Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 155. S. 159, unter dem 21. Februar 1779: „Jch konte Schreiben dennken Lesen; hab gute Einsamkeit gehabt“. Unter dem 11. August 1780: „Mein weib macht besuch – Kinder sind auch fort – alle unruhe fort – mir ists als ob ich im Paradiess seÿ“, S. 186. 525 Chronik Bräker, Ulrich 1985, S. 298.

377

zepte therapiert werden soll, um schließlich Gesundung an Leib und Seele zu erwirken. Bei Zimmermann liegt aufs Ganze gesehen insofern ein säkularisierter Pietismus vor, als das Interpretationsschema der providentia dei und der imitatio christi seinem Einsamkeitsverständnis angepasst wird. Genaue Zuweisungen erweisen sich als problematisch. Die im Pietismus wesensmäßig angelegten heterodoxen Möglichkeiten sind nicht nur bei Arnold angelegt, sondern lassen sich auch bei Zimmermann nachweisen, unabhängig davon, dass das Argumentationsziel im Zeichen seiner Einsamkeitstheologie empirischer und therapeutischer ausgerichtet ist. 10.3.3 Zimmermann und Lavater Ein weites Feld stellt das Verhältnis Zimmermanns zu Lavater dar, das durch ein eigentümliches Wechselspiel von leidenschaftlicher Förderung, herzensfreundschaftlichem Verstehen und rigider Abwehr gekennzeichnet ist. Für Lavater, der Zimmermann attestiert, er sei der ihn an „Weltkenntnis unendlich übertreffende Freund“,526 ist der dreizehn Jahre Ältere „Mitdenker“, „Förderer“, „Mentor“, „Mäzen“,527 „Promotor“.528 Ihr Ruhm ist vergleichsweise verblasst, der durch Goethes Zeugnis, vor allem für und gegen Lavater, nicht unwesentlich am Leben erhalten wurde und wird. Bettina Volz-Tobler fasst in ihrer Einleitung zum „Erinnerer“ das Verhältnis wie folgt zusammen: Zimmermann hat einerseits Lavater in seiner Auffassung bestärkt, ein fähiger Schriftsteller und überhaupt ein bedeutender Mensch zu sein. Er hat den von Ideen sprudelnden Lavater aber auch vor der Verzettelung bewahrt, als er ihn z.B. davon abhielt, eine neue Wochenschrift zu lancieren und auf der Vollendung der „Schweizerlieder“ und der „Historischen Lobrede auf Breitinger“ insistierte.529

Die lebenslange Herzensfreundschaft soll unter drei Aspekten betrachtet werden. Erstens: die kontinuierlich wechselseitige Verbundenheit anhand von Urteilen vorab aus dem unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Zimmermann und Hirzel. Zweitens: Zimmermann und das „Originalwerke“ der Physiognomik, „ein Werk, über das sich unendlich leicht lachen, und unendlich schwer mit geprüfter Einsicht sprechen lässt“.530 Drittens: ein Vergleich ihrer Religionsauffassungen.

526 527 528

Lavater 1772, S. 4. Luginbühl II 1997, S. 353; I, S. XLVIII, II, S. 669; I, XLV; I, XXVI. von Arburg, Hans-Georg, Kunst-Wissenschaft um 1800. Studien zu Georg Christoph Lichtenbergs Hogarth-Kommentaren. Göttingen 1998 (Lichtenberg-Studien Bd. 11), S. 102. 529 Volz-Tobler 2000, S. 21. 530 Frankfurter Gelehrte Anzeigen Nr. 53 vom 4. Juli 1775, S. 444. Weiter heisst es, dass „jeder billiger Leser oft die möglichst klare Bestimmung und Festhaltung der Empfindungen bewundern, niemals die in dem ganzen herrschende Geisteskraft verkennen, aber auch Meteore der Imagination bei Lavatern für nothwendige Uebel halten, und es entschuldigen, wenn hie und da eine zu hoch fliegende Rakete verpuft“.

378

Im Briefwechsel zwischen Zimmermann und Hans Caspar Hirzel ist Lavater immer irgendwie präsent, und der Bruder Salomon Hirzels dient dem Brugger Stadtphysikus als Aussprechinstanz, mittels der er über sein Verhältnis zu Lavater grössere Klarheit zu gewinnen sucht. Drei illustrierende Briefstellen mögen genügen. Im Brief an Hirzel vom 17. Juli 1762 fällt er ein Urteil über Lavater, welches bei aller Wertschätzung auf spätere Konflikte vorausdeutet, nämlich der – in der Sichtweise Zimmermanns – empirisch unzulänglich abgestützte wundergläubige Biblizismus Lavaters: „Au reste ce Mr. Lavater me paroit manquer plutôt du coté de l’esprit que du coeur; il semble d’ailleurs un bon homme, et à plusieurs regards quant au moral un homme de merite“.531 Zimmermann berichtet Hirzel immer wieder von Lavaters Bedeutung für Zürich und von seiner internationalen Ausstrahlung: „Der Doctor Schinz scheint dem guten Lavater den Kopf so sehr aufgeschwollen zu haben. Auch dieser ist rasend wider mich“,532 oder im Brief an Hirzel vom 5. Februar 1768: Freilich ist Lavater derjenige, der aus guten Absichten, aber ohne die geringste Klugheit, den Rahnischen Streithandel durch seine schwärmerische Verbessrungsucht und hin und her rapportiren, bey mir giftig gemacht. Er verliert den Kopf, sobald von Rahn die Rede ist: seine disörtige Parteylichkeit kann ich nicht erklären?.533

Bereits im ersten Brief Lavaters an Bonnet vom 18. Oktober 1768 wird Zimmermann, den Bonnet „l’estimable Mr. Zimmermann“534 nennt, im Zusammenhang mit den ihm gewidmeten Aussichten in die Ewigkeit erwähnt.535 In einem Brief vom September 1769, nach Zimmermanns Wegzug aus dem heimatlichen Brugg, wirbt Lavater um Verständnis bei Zimmermann: o du bist gar zu sorgfältig für meinen Ruhm, der mir, Gott weiss es, bange macht – ich fürchte, ich muss entgegenarbeiten!!! Ich fühle die Gründlichkeit deiner Erinnerungen in Ansehung meiner Briefe recht sehr. Alles neüe, was ich indessen wüsste, habe ich dir immer gemeldet. Sonst weissest du wohl, wovon das Herz voll ist, überfliesst der Mund: du wirst mir also verzeihen – verzeihen, wenn ich wieder fehlen sollte!.536

Lavater hatte im Brief vom 21. August Zimmermann versichert: „denn wie ich dich liebe, so kann dich niemand lieben; der Arme nicht, den du umsonst heilest, und der Fürst nicht, der dir von seinen Schätzen mittheilt“.537

531

ZZH, FA Hirzel 238, Nr. 130. Goethe und Schiller formulieren diese Einschätzung Lavaters in den Xenien folgendermassen: „Alles mischt die Natur so einzig und innig, doch hat sie Edel- und Schalksinn hier, ach! nur zu innig vermischt“. GA, Bd. 2, S. 445. 532 Brief Zimmermanns an Hirzel vom 17.September 1766. ZZH, FA Hirzel 239, Nr. 145. 533 ZZH, FA Hirzel, 239, 212. 534 Brief von Bonnet an Lavater vom 22. Mai 1770. Luginbühl I, S. 91. 535 Luginbühl I, S. 5. 536 Brief Lavaters an Zimmermann vom 6. September 1769, in: Luginbühl I 1997, S. 205. 537 Brief Lavaters an Zimmermann vom 21. August 1769, in: Luginbühl I 1997, S. 201.

379

In den innerzürcherischen Querelen bleibt Zimmermann solidarisch mit Lavater. Im Brief an Hirzel vom 15. August 1775 aus Lausanne reiht sich Zimmermann entschieden in die Schar der Lavater-Getreuen ein und zeiht Hirzel der Krankheit „Argwohn“: Du glaubst Lavater sey schuld, dass ich zwy deiner Briefe nicht beantwortet, und zwey deiner Schriften nicht beutheilt habe. Schäme dich dieses hämischen Argwohns gegen einen Mann, der immer freundschaftlich von dir bey mir gesprochen hat, der seit dem letzten Frühling mit Entzückung mir in jedem Briefe erzählte wie lobesmässig du in Zürich für ihn fechtest, wie du sein Schild gegen alle die Kerle seyest, die nun in Harnisch gegen ihn sind, und deren grosse Thaten man erwartet. Du hättest also gar nicht nöthig gehabt auf Lavater in Deinem Briefe an mich loszubreschen und Schandthaten ihm anzudichten die er nie begangen hat. Doch es scheint du wollest in Zürich auch nach der Mode seyn. Ich bedaure es.538

Folgende Briefstelle illustriert deutlich Zimmermanns ambivalentes Verhältnis zu Lavater, sie zeigt aber zugleich an, dass nicht nur Lavater Zimmermann gegenüber „geduldig und grossmütig genug war(en), seine steten Klagen, seine Heftigkeit, seine Larmoyance, seine offenen und versteckten Aggressionen zu ertragen“,539 sondern auch umgekehrt: Es ärgert mich aber auch dass Du mir immer Lavaters Schwärmereyen vorsingest, und vorpredigest, als wenn ich von alle dem nichts wüsste […] Kann ich es dir denn nie starck genug an die Ohren donnern, um gehört zu werden, dass kein Mensch in der Welt feuriger und kräftiger und häufiger und unabweislicher, und grausamer Lavater über seine Schwärmereyen angegriffen hat als ich. Er will durchaus nicht nachgeben. Was soll ich also thun, lieber Doctor? Ihn lassen wie er ist, und ihn in jeder andern Absicht hertzlich lieben und verehren.540

Die charismatische Wirkung, die Lavater nicht nur auf Zimmermann ausübt, verflüchtigt sich, als dieser in den Norden Deutschlands zieht, bleibt aber lebendig, obwohl kein unmittelbarer Kontakt zwischen beiden mehr besteht und der Briefwechsel sich minimalisiert.541 1780 berichtet Zimmermann an Hirzel, dass Lavater ihn in einem nicht an ihn adressierten Brief nach Hannover einen „Harlekin“ genannt habe,542 und ein anderesmal heißt es gar: „An Lavater – schreibe ich seit dem Sommer 1778 nicht mehr. Er schreibt oft nach Hannover, aber nicht an mich, und 538 539

Brief Zimmermanns an Hirzel aus Lausanne vom 15. August 1775. ZZH, FA Hirzel 240, 10. Toellner 1979, S. 15. Toellner führt weiter aus: „Auguste Tissot in Genf (!) gehörte zu ihnen und der Ratsherr Schmid in Brugg. Andere waren dazu ausserstande. Abkühlung bis Feindschaft unter seinen ehemaligen Freunden ist die Folge. Breitinger, Bodmer, Gessner in Zürich entfremden sich ihm, Vinzent Tscharner und die geistvolle Julie Bondeli in Bern werden nach enthusiastischer Freundschaft kühl wie Hallers Verhältnis zu ihm. Wieland und Herder sind tief verstimmt; mit den Berliner Aufklärern, namentlich Mendelssohn und Nicolai, ist er überworfen, auch Sulzer kann nicht mehr vermitteln. Mit Kästner und Lichtenberg in Göttingen und dem Freiherrn von Knigge lebt er in offener literarischer Fehde“. Das Verhältnis zu Mendelssohn bedürfte der Überprüfung. 540 Brief Zimmermanns an Hirzel vom 22. Januar 1776. ZZH, FA Hirzel 240, 15. 541 Vgl. den Nachtrag im ersten Brief Zimmermanns aus Hannover an Hirzel vom 15. August 1768: „Ich habe so wenig Zeit zum Schreiben, dass ich dich bitten muss meinem Freunde Lavater diesen Brief mit dem eingeschlossenen gütigst zu übersenden“. ZZH, FA Hirzel 239, 239. 542 Brief Zimmermanns an Hirzel vom 29. März 1780. ZZH FA Hirzel 240, 19.

380

pflegt dann gewöhnlich über mich zu schimpfen. Auf dieses alles antworte ich nichts“.543 An seiner unerschütterlichen Freundschaft mit Lavater ändert das nichts: „Ob ich mich gleich im letzten Capitel meines Buches (sc. Über die Einsamkeit) über Lavater und seine geistlichen Liebensaventüren ein wenig lustig mache, so bin ich und bleibe ich ihm doch hertzlich und ewig gut“.544 Am 5. Juni 1793 wird ein letztes Wiedersehen in Hannover Ereignis, als Lavater sich auf der Reise nach Kopenhagen befindet. An den Ratsherrn Schmid in Brugg berichtet Zimmermann: Den 5. Junius des Nachmittags um drey Uhr kam höchst unerwartet Herr Lavater mit seiner Tochter in mein Haus. Er wollte schon um 5 Uhr wieder von hier nach Coppenhagen abreisen; auf mein dringendes Bitten blieb er bis abends um neun Uhr, und reiste dann von meinem Hause ab […] Das Vergnügen, das ich hatte, ihn zu sehen, war schrecklich kurz! Ich fand ihn, dem Gesicht nach, sehr gealtert, aber sein Geist ist sich immer gleich.545

Zimmermann hatte sich selber mit Plänen zur Ausarbeitung einer Physiognomik getragen, erkannte aber bald seine mangelnde Begabung: „Mir deucht, ich habe zuweilen ein schnelles, oft frappant wahres physiognomisches Gefühl bei Gesunden und Kranken. Aber Theorie habe ich nicht mehr als ein Dorfbarbier oder ein Ochs“.546 Er erkannte jedoch Lavaters eminente physiognomische Begabung: „[…] den gleichen Mann (sc. Lavater) suche ich zu einer ganz neuen, auf Millionen Beobachtungen gegründeten Physiognomik zu ermuntern, worin er ein ganzer Meister ist“.547 Zimmermann unterstützt Lavater dadurch, dass er seine weitreichenden gesellschaftlichen Verbindungen einsetzt, um ab 1772 Subskribenten für das entstehendeWerk zu werben.548 Lavater beschwört er: Wir wollen mit Deiner Physiognomik gegen alle Teufel aufkommen, wenn Du nur keine Thorheiten machst, nicht fanatisierst, nicht wahnwitzelst, Deine Physiognomik für vernünftige Leute schreibst, und nicht für Deine betenden Brüder und Schwestern […] Ich begreife, dass es Dir vielleicht auch gleichgültig ist, für Jesum Christum den Zweiten […] gehalten zu werden. 543 544 545 546 547

Brief Zimmermanns an Hirzel vom 29. März 1780. ZZH, FA Hirzel 240, 19. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 12. Februar 1785. ZZH, FA Hirzel 240, 22. Kunz 1970, S. 37. Zit. bei Kunz 1970, S. 31. Brief Zimmermanns an Sulzer vom 1. November 1766. Bodemann 1778, S. 203. „Zimmermann hatte die grössten Verdienste um den literarischen Aufstieg Lavaters“ schreibt Pestalozzi, Rudolf in Lavaters Fremdenbücher. Bearbeitet v. Pestalozzi, Rudolf, Neujahrsblatt auf das Jahr 1959, 122. Stück, S. 42. 548 Zimmermann verwendet sich nicht nur für die Verbreitung der „Physiognomischen Fragmente“. Im Postskriptum eines Briefes vom Dezember 1767 an Hirzel steht: „Dürfte ich dich bitten 12 Exemplare von deines Herrn Bruders Neujahrsstück, Bruder Claus genannt, im Buchladen für mich kaufen zu lassen […] Ich werde den Neveu des Fürsten von Einsidlen bitten diese Exemplare in […] Uri, Schwyz, und Unterwalden auszutheilen. Ebendieses habe ich auf gleiche Art mit Lavaters Schweizerleidern gethan“. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 26. Dezember 1767. ZZH, FA Hirzel 239, 206. Lavaters Schweizerlieder vermögen Zimmermann zu trösten: „Einen Abend fand man mich an der Tafel des Grafen (sc. Stollberg) melancolisch; ich will Sie curiren, sagte seine Tochter, die Fürstin von Anhalt (ein Engel von Schönheit des Leibes, des Geistes und des Hertzens) und sang mit himmlischer Harmonie Lavaters Lied für Schweitzerbauern“. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 6. November 1773. ZZH, FA Hirzel 240, 9.

381

Gib alles dieses unkluge Zeug von oben und von unten von Dir, wo Du willst und wie Du willst, nur nicht in der Physiognomik.549

An Hirzel schreibt er fast verzweifelt: Was verderbe ich dann, liebe Seele, mit meiner Hilfe für Lavater? Ich habe bey derselben weiter nichts zum Zwecke gehabt als seine Verleger anzufeuren den Druck seiner Physiognomik mit dem nöthigen Muthe zu übernehmen. Ich habe für dreyzehntausend Thaler Subscription auf dieselbe verschaffet.550

Er befördert Klockenbrings Aufsatz Schreiben eines Viehhändlers über die Physiognomik zum Druck.551 Am Ende von Band IV der Physiognomischen Fragmente stattet Lavater seinen Dank insbesondere auch an Zimmermann ab: Allen, die mir auf irgend eine Weise zur Beförderung und Vervollkommnung meines Werkes beholfen gewesen […] sage ich hiermit meinen aufrichtigsten Dank – vor allem aber dir Zimmermann, Anfänger und Urheber dieser Fragmente – Euch Gessner, Sturz, Wagler, Merk, Nüscheler, Lenz, Kaufmann, Füessli, Klockenbring, Sulzer – auch Ihnen besonders Chodowiecki, Pfenninger und Lips – und so manchen andern, deren Namen ich nicht nennen darf.552

Noch enthusiastischer tönt es in einem Brief Lavaters, nachdem er von Zimmermann das Subskribentenverzeichnis erhalten hat: Zimmermann, Zimmermann! wer ist Dir gleich? Lass mich nicht Worte sagen, lass mich Gott für Dich danken, Du Einziger, Du Edler, Du Mann! ja das bist Du, und ich weiss es innigst, dass Du nie schwach scheinst, als wenn Du mich am brünstigsten liebst! Was, Bester kann ich Dir geben, als eine Freudenzähre! Aber Du – entsetzlicher Freund – ich darf die Liste nicht lesen, die Namen blenden mich zurück. Herr Jesus, ich kann nicht mehr schlafen, wenn ich daran denkne, wer mich lesen wird. O Du, wer ist Dir gleich? Wenn ich je Deiner Freundschaft vergesse, so verachte mich, so glaube ewig an keinen Menschen.553

So lässt sich Zimmermanns Bedeutung für die „Physiognomischen Fragmente“ folgendermaßen zusammenfassen: In allen Belangen der Vorbereitung, Vorankündigung, Entstehung, der beginnenden und fortschreitenden Arbeit an den Manuskripten, der Drucklegung, der Ausstattung mit Porträts auf Tafeln und Vignetten, der Mitarbeit an physiognomisch interpretierenden Texten, der Beschaffung von einschlägiger Literatur zum Thema, des Zuspruchs zum wie der Kritik am Autor, ja an den Autoren, der Vermittlung von Vorausinformationen an ein ausgewähltes Publikum in seinem Umkreis, schliesslich der Beendigung des Werks im Abschluss mit Band IV – in all diesen Belangen ist Zimmermann eine Schlüsselfigur, weit über das hinaus, was die Goetheforschung bisher zu Tage gefördert hat.554

549 550 551 552 553 554

Maier, Heinrich 1902, S. 445. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 22. Januar 1776. ZZH, FA Hirzel 240, 15. ADB 92, S. 214. Physiognomische Fragmente IV, S. 486. Zit. bei Ischer 1893, S. 299. Ohage, August, Zimmermanns Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten, in: Schramm 1998, S. 119. Vgl. S. 121/122 die informative Übersicht zur Entstehungsgeschichte der Physiognomischen Fragmente.

382

In England werde Lavaters Physiognomik freundlicher aufgenommen als in Deutschland, wo „presque tous les gens de lettres en Allemagne se declarent contre cet ouvrage“,555 oder in der Schweiz, wo „Unflat“ nach ihm geworfen worden sei (III, 403). Im XXXV. Versuch, Urtheile über Lavater, berichtet Zimmermann von einer Tafelrunde, an der ihn ein Theologe während zwei Stunden ganz in Beschlag nimmt über ein einziges Gesprächsthema: Lavater. Die übrigen Gäste tun sich gütlich, bis jemand vom andern Ende der Tafel schreit: „Ist das der Lavater – der Windbeutel, der die Aussichten in die Ewigkeit geschrieben hat? Nein, schrie der gnädige Herr Landdrost, der noch gar nicht seine volle Portion Rheinwein im Leibe hatte: es ist der Kerl, der das dumme Zeug schreibt von die Gesichter“.556 Die Haltung Zimmermanns wird nicht eindeutig fassbar. Die Ambivalenz im Verhältnis zu Lavater und zur Physiognomik kommt auch darin zum Ausdruck, dass Zimmermann andere darüber urteilen lässt, um nicht selber eindeutig Stellung beziehen zu müssen. In einem fiktiven Gespräch im Versuch (1779) erörtern Wieland und Lavaters Erzfeind Johann Jakob Hottinger,557 der Zimmermanns Brief über seine erste Audienz bei Friedrich II. in seinem rationalistischen Briefroman Briefe von Selkof an Welmar von 1777 parodiert,558 die Physiognomik. Wieland, der von Zimmermann einer „Schwärmerkur“ unterzogen wird, äußert sich als Befürworter und stellt Lavater in eine Reihe mit Bacon, Locke, Bonnet und Buffon. Er rechnet ihn zu den großen Schriftstellern, deshalb werde er die geschichtliche Selektion überleben: „Aber wäre Cicero nur Consul gewesen, und Lavater nur Thaumaturg, so bliebe von beyden wenig übrig in den Archiven der Zeit, die das Gemeine verschlinget, und nur für die Ewigkeit aufbewahret was der Ewigkeit werth ist“ (III, 403). Eben weil die Physiognomik wissenschaftlichen Ansprüchen genüge, grenzt er sie von der Chiromantie ab und weist sie der Naturgeschichte zu: Aber, ob Gott will, ist doch keiner von euch so arm am Geist, Lavatern nicht wenigstens den Vorzug ausserordentlicher Fähigkeiten und seinem Physiognomischen Werk den Werth einer Menge neuer Bemerkungen, und weit gränzender Blicke in das was noch unbekanntes Land auf der Karte menschlicher Erkenntnis ist, einzugestehen? Oder wisst ihr noch nicht, dass Lavaters Werk nicht das Hirngespinst eines Träumers, sondern das mühvolle Unternehmen eines Naturforscher ist?.559

555

Im Brief an Haller vom 24. April 1775. „De tout coté on se prépare à le refuter“, heisst es weiter. Ischer 1912, S. 155. Versuch 1779, S. 60f. Gegen Hottinger richtet sich Zimmermann in den Frankfurter gelehrten Anzeigen im Juli 1775, indem er Jerusalems Eloge zitiert und schliesst: „und nun wollen wir geruhig Hottinger und Kompagnie in Zürich, und die Koaxanten per universam Germaniam koaxen hören“. Frankfurter gelehrte Anzeigen, Nr. LIV, den 7. Juli 1775, S. 452. 558 Hottinger, Johann Jakob, Briefe von Selkof an Welmar. Herausgegeben von Welmar. Zürich 1777, S. 35–49. Vgl. dazu: Urs Viktor Kamber, Johann Jakob Hottinger: Briefe von Selkof an Welmar. Herausgegeben von Welmar. Zürich 1777. Zu einer rationalistischen Version des Briefromans im 18. Jahrhundert, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 47 (1973), Heft 3, S. 381–399. 559 Versuch 1779, S. 50f. 556 557

383

Hottinger hingegen meint, Zimmermanns eifrig betriebene Subskriptionsbemühungen ironisierend,560 Lavater habe mit der Physiognomik Epoche machen wollen, was ihm aber nicht gelungen sei: Vielmehr hat er etwa hie und da, eine brauchbare Wahrheit erwischt, wie die Kaminphilosophen, welche den Stein der Weisen gesucht haben ohne ihn zu finden, manches in der Chymie […] Ach was sind die meisten Kupferstiche in Lavaters Physiognomik, obgleich alle verfertigt von Geniebuben? Dies Gekribbel und Gekrabbel hätte er durch ein Wunderwerk in Meisterstücke verwandeln sollen; denn Lavater thut doch Wunder, wie man weiss. Dienstfertige Jungens und physiognomische Mackler brachten zwar, die Rothschaufel in der einen Hand, und die schmetternde Trompete in der andern, aus allen Winkeln Deutschlands, gegen zwanzig tausend Thaler Subscriptionsgelder für dieses unnütze Werk zusammen; und zeigten jedem der nicht unterschreiben wollte, die Zunge bis an den Schlund.561

Zimmermann prophezeit Lavater im dritten Teil des Einsamkeitswerks nicht verblassenden Nachruhm, ungeachtet seiner Unzulänglichkeiten: O Lavater, tausend und noch tausend Gecken und Schurken wird man vergessen; dich, und nicht sie, lieben und ehren, deine kleinen Schwächen übersehn, weil du wirklich ohne die nicht so gross geworden wärest, und nur auf das hinbliken was du vor andern voraus hast. Dann werden deine physiognomischen Fragmente, wie der Verfasser der Charaktere deutscher Dichter und Prosaisten dir prophezeyt, durch den Reichthum deiner Sprache, durch die Kühnheit mit der du Worte schaffest und umbildest, durch die nervichte Kürze deines Ausdrucks, und die treffende Charakteristik menschlicher Sitten und Schwachheiten, als eines der wenigen deutschen Originalwerke noch stehen bey jeder Nachwelt, unserm Jahrhundert zur Zierde (III, 402).

Aber bereits 1755 hat er den Aussagewert der Physiognomik eingeschränkt: Die Characteristik der Passionen sogar, die uns auf eine unverwerfliche Art dieselben durch eine besondere Kunst, die man die Physiognomie heisst, auf dem Gesichte entdecket, verlieret sich mit dem Alter nach und nach, da hingegen die Jugend die wahren Kennzeichen davon an die Hand giebet. Der Mensch ist also in seiner ersten Anlage unveränderlich, er ist mit einer Farbe gezeichnet, die auf keine Art betrieglich ist. Der Knabe ist ein Werk der Natur. Der Mann wird durch die Kunst gebildet.562

Physiognomik ist demnach eine Kunst, die den „ganzen Menschen“ – von der Frau ist nicht die Rede – eben nur unzuverlässig und ungenügend erfasst. Von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ist nicht explizit die Rede. Im Teutschen Merkur äußert sich Zimmermann 1777 abfällig über Lavaters Physiognomik und prophezeit ihr, sie werde in Vergessenheit geraten.563 Physiognomik als Schule der Menschenkenntnis gehört nach Zimmermann zur medizinischen Berufseignung. Ärzte müssen die Geschichte, das Wesen und den 560

So schreibt Zimmermann nicht ohne Stolz an Haller im Brief vom 12. Juni 1775: „Mes souscriptions pour cet ouvrage vont actuellement à onze mille Ecus. Pour faire somme ronde j’en chercherai du moins pour mille Ecus en Suisse“. Ischer 1912, S. 164. 561 Versuch 1779, S. 51f. 562 Leben Haller 1755. S. 5f. 563 Der Teutsche Merkur 1777, S, 106ff.

384

Gang der Seele ihrer Kranken bis in die innerste Tiefe kennen; der Zugang nach Innen erfolgt durch äussere Beobachtung. Einer Stelle des Einsamkeitswerks gemäss sollte im übrigen jeder Mensch auf den Beistand seiner Mitmenschen zählen dürfen, so dass er sich nicht vor „jedem Gesichtszuge und jeder Geberde die den Zustand seiner Seele verrathen“ (II, 39) verbergend ängstigen muss. Auch auf dem gesellschaftlichen Parkett spielt „Weltkenntnis“ als Menschenkenntnis eine Rolle, die Zimmermann bisweilen ironisch umspielt. Anlässlich eines öffentlichen Konzertbesuchs in Potsdam begegnet Zimmermann einem gewissen Monsieur Noel: „Sein äusserst imposantes Gesicht frappirte mich ganz ausserordentlich, und doch konnte ich mir gar nichts Grosses dabey denken“.564 Beim preußischen Staatsminister Münchhausen fällt „sein ganz Italienisches und beynahe Jesuitisches Gesicht“565 auf, und wegen eines ungebetenen Krankenbesuches vermerkt er seufzend: „ach verstünde doch dieser Mensch genug von Phisiognomik, oder Pathognomonik (sic), oder wie ihr das Ding heissen wollt“566 Zimmermann lässt die von ihm entscheidend geförderte Physiognomik nur insofern gelten, als sie realitätsorientiert bleibt und nicht fanatisiert verkommt. Lavater hingegen versteht seine Physiognomik mit ihren spezifischen Implikationen gleichermaßen als eine fächerübergreifende Wissenschaft, die Sensualismus und Intuition verschmilzt – wie Zimmermanns Einsamkeitskonzeption: die Physiognomik kann eine Wissenschaft werden so gut als alle unmathematischen Wissenschaften. So gut als die Physik – denn sie ist Physik! So gut als die Arzneikunst, denn sie ist ein Teil der Arzneikunst! So gut als die Theologie, denn sie ist Theologie! So gut als die schönen Wissenschaften, denn sie gehört zu den schönen Wissenschaften. So wie diese alle kann sie bis auf einen gewissen Grad unter bestimmte Regeln gebracht werden, hat sie ihre bestimmbaren Charaktere – die sich lehren und lernen, mitteilen, empfangen und fortpflanzen lassen. So wie diese alle muss sie sehr vieles dem Genie, dem Gefühl überlassen, hat sie für vieles noch keine bestimmten oder bestimmbaren Zeichen und Regeln.567

Die Tragfähigkeit der Freundschaft zwischen Zimmermann und Lavater erweist sich nicht zuletzt darin, dass sie bestehen bleibt, auch wenn diese Selbsteinschätzung Lavaters von Zimmermann zunehmend nicht mehr geteilt wird. Ein analoges Dokument zu Lavaters Utopie, die ab 1768 veröffentlicht wird,568 entwirft Zimmermann in einem Brief an den „Herrn Erinnerer“ in der Moralischen Wochenschrift Der Erinnerer, an der Zimmermann trotz eindringlicher Einladun-

564 565 566 567 568

Unterredungen 1788, S. 114/115. Unterredungen 1788, S. 224. Versuch 1779, S. 36. Physiognomische Fragmente I, 1775, S. 52. Der Erinnerer II. Eine Wochenschrift auf das Jahr MDCCLXVI, 12. Stück, 20. Merz 1766, Zürich 1766, S. 105–112. Lavaters dreibändige, in 25 Briefen an Zimmermann gerichteten Aussichten in die Ewigkeit erschienen 1768, 1769 und 1773 in Zürich. 1778 folgt ein vierter Band, der Nachträge, Berichtigungen und Urteile von Zeitgenossen enthält. Vgl. Bettina VolzTobler, Rebellion im Namen der Tugend. Der Erinnerer – Eine Moralische Wochenschrift, Zürich 1765–1767. Zürich 1997.

385

gen zur Zusammenarbeit seitens von Lavater nur eingeschränkt mitarbeitet.569 Es handelt sich um eine Traumerzählung und keine Traumdeutung vom zukünftigen Leben vor dem Jüngsten Gericht.570 Die Frage nach dem Zustand der Seele nach dem Tode wird dabei als „die grösste Angelegenheit der Menschen“571 bezeichnet. In diesem speziellen Traum erscheint Zimmermann seine Frau, die vom Leben in der Unsterblichkeit berichtet, genauer von den „Vorhöfen der Ewigkeit“, obwohl sie zum Zeitpunkt des Traumes diesseitig gesund lebt. Bevor Zimmermann den Inhalt des Traums preisgibt, bedient er sich einer beteuernden Authentizitätssteigerung, u.a. durch die Bekundung seiner Aversion gegen Aberglauben – „diese laidige Krankheit“572 –, durch die Hervorhebung der Besonderheit des Traumes, der sich so sehr von üblichen Träumen unterscheide, die von einer nächtlichen, „äusserst verworrenen Einbildungskraft“573 herrühren. Zimmermann erzählt nur einen Teil des Traums, da er beim Versuch, ihn ganz aufzuschreiben, erwacht. Vor spöttischen Skeptikern nimmt er seinen Traum in Schutz, ihn polemisch abschirmend speziell gegen Leser aus der Stadt Zürich, „ihren Cantorwitzlingen, ihren in Kramladen aufgewachsenen halbengländischen Freygeister mit schweitzerischem Hirn“.574 Im ersten Zimmer eines Hauses findet sich Zimmermanns Frau bei gesteigerter Feierlichkeit unverändert im Äußern vor, aber mit erhöhten Seelenkräften und erweitertem Erkenntnisvermögen. Sie befindet sich in einem Seelenzustand unendlichen Glücksempfindens, der indessen noch nicht Vollkommenheit bedeutet, denn sie bemerkt: „lichtvolle Wolken verdecken noch zur Zeit unsern Augen diesen seligen Ort“,575 dem nachzustreben sie ihrem Mann eindringlich rät. Auf Zimmermanns Erkundigung, inwiefern sich ihr Erkenntnisvermögen verbessert habe, antwortet seine Frau: „ich weiss alles, was bey denen vorgeht, die ich in den Vorhöfen der Ewigkeit sehe, ohne dass sie mir es sagen, denn wir reden nie, wir sind ganz Betrachtung, und doch verstehen wir alle einander“.576 In Übereinstimmung mit Lavaters Utopie herrscht eine auf gesteigertem Sehvermögen beruhende „volllkommenste Kommunikationsfähigkeit“,577 die sich wortlos jenseits diskursiver Sprache vollzieht. Der Vergleich zwischen Zimmermanns Traumerzählung von 1766 mit Lavaters Aussichten in die Ewigkeit (1768–1773) zeigt, dass Lavater viel detailgenauer verfährt. Er scheint auszuführen, was Zimmermann skizzenhaft

569

Vgl. dazu die Einleitung zur Edition des Erinnerers von der Herausgeberin Volz-Tobler, Bettina, im Manuskript S. 5ff. 570 Erinnerer II, S. 110: „Gott hat noch nicht gerichtet“. Vgl. beso.: IV, 293ff. (Tod und Verklärung seiner Tochter). 571 Erinnerer II, S. 112. 572 Erinnerer II, S. 105. 573 Erinnerer II, S. 106. 574 Erinnerer II, S. 112. 575 Erinnerer II, S. 112. 576 ErinnererII, S. 112. 577 Pestalozzi, Karl, Lavaters Utopie, in: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Emrich, Wilhelm. Hg. v. H. Arntzen et al. Berlin 1975, S. 292.

386

umreißt. Zimmermann und Lavater stimmen darin überein, dass der Verdienstgedanke eine zentrale Rolle spielt, beide verheißen in ferner Zukunft allgemeine Glückseligkeit und sehen die künftige Welt als Steigerung des gegenwärtigen Zustandes an. Zimmermann kann als Anreger von Lavaters „Aussichten“ gelten, unabhängig davon, dass das Thema der Unsterblichkeit in der deutschen Aufklärung Konjunktur hatte und, im Falle Lavaters, von Bonnets Contemplation de la Nature (1764) imprägniert ist und konkret durch die Bitte einer Frau von T. veranlasst wurde.578 Die Dialogposse Engel Gabriel und ich sträubt sich gegen überzogene Schlussfolgerungen. Dennoch verdient sie angemessene Beachtung. Der Erzengel Gabriel unterzieht in der Hinterstube des Posthauses zu Hameln ein „Ich“ alias Zimmermann einem Glaubensverhör. In jener Stadt, die einst einen Rattenfänger um seinen Lohn prellte und für diesen Verrat bitter büßen musste, tritt der überirdische Bote, das Fenster zerbrechend, zu dem von der Reise Ermüdeten, der in Melancholiestellung dasitzt: Engel Gabriel: Ich: Engel Gabriel. Ich: Engel Gabriel: Ich: Engel Gabriel: Ich: Engel Gabriel: Ich: Engel Gabriel: Ich:

Glaubst du an den lieben Gott? (zitternd – wie ein Laub im Sturmwind) Ja!! Glaubst du an das ewige Leben, und an eine Vergeltung des Guten und Bösen? Ja! Glaubst du an den Pabst? Nein. Glaubst du an eine allein seligmachende Kirche? Nein. Glaubst du an die Physiognomik? Nein. Glaubst du an die Pathognomik? Ja.579

Das Gespräch dreht sich im folgenden um die Schützenhilfe Zimmermanns für seinen Freund Lavater in den Auseinandersetzungen mit Lichtenberg und Johann Jacob Hottinger, der als Mitautor an der Publikation der Brelocken an’s Allerley der Gross- und Kleinmänner (1777) mitgewirkt hatte. Bei einem Spaziergang am Zürcher Platzspitz fragt Zimmermann Lavater, ob er Hottinger in die Limmat werfen und ihn sogleich wieder herausziehen solle. Doch physische Gewaltanwendung verbietet ihm der Engel.580 Bevor der Bote Gabriel wieder entschwindet, hat Zimmermann das letzte Wort vor seiner Weiterreise nach Pyrmont:

578

Dass Zimmermann in Lavaters Gemeinnützigem Auszug von 1781 nicht mehr Adressat der Briefe ist, könnte auch als Reflex einer gewissen Abkühlung des Freundschaftsverhältnisses angesehen werden. 579 Versuch 1779, S. 63f. 580 Vgl. im Brief vom 22. Januar 1776 an Hirzel schlägt Zimmermann vor, Hottinger „auf den Leib“ zu gehen, wie er überhaupt einige von Lavaters Feinden „gerne öffentlich wegen ihrer Hasserey gegen Lavater bey den Ohren genommen“, wenn nicht Lavater selbst ihm „Briefe

387

Bitte aber anbey auch zu bemerken, dass es mit der Enthusiasterey ist, wie mit der Liebe. Beyde haben unstreitig ihren ersten Ursprung in des Menschen thierischer Natur. Beyde wurzeln in Fleisch, Blut, Saft, und Kraft. Aber beyde – verbreiten ihre Äste, hoch über der körperlichen Welt, in der Sphäre höherer Wesen; und bringen daselbst unvergängliche Früchte zur Reife. –.581

Zimmermann beantwortet die eindringlichen Fragen des Engels unzweideutig: Glaube an einen persönlichen Gott, an Gericht und Unsterblichkeit der Seele,582 Ablehnung dogmatischer Glaubenssysteme. Ambivalent bleibt sein Verhältnis zu Lavater. Obwohl in seiner Anhängerschaft sogar zu Gewalttätigkeit bereit, scheint er die Physiognomik abzulehnen, nicht aber Lichtenbergs Pathognomik! Lavaters Feindesliebe bezeugt sich darin, dass seine (gewiss ablehnende) Antwort auf Zimmermanns Offerte zur Gewaltanwendung ausbleibt, weil der Engel entrüstet dazwischenfährt. „Liebe“ ist also kein rein geistiger Begriff, denn er bleibt zunächst im Körperlichen verankert. Die materielle Wirklichkeit lässt sich ihr Recht auch bei Zimmermann nicht nehmen, ohne das letzte Wort zu haben. Der Fenster zerbrechende, vom irdischen Geschehen unzulänglich informierte Engel signalisiert ironisch Zimmermanns Bekenntnis zur Sinnlichkeit des Menschen und lässt an jenen von ihm karikierten Dummkopf in Erasmus’ Lob der Torheit denken, den er in seiner Abhandlung Über Dummheit imitiert. Ein gewisser Herr Dunst, ein begeisterter Mystiker, entäußert sich dort gänzlich der Vernunft, so dass ihm alles Unbekehrte, Weltliche und Fleischliche verdächtig ist. Auf einer Missionsreise nach Indien wird sein schwaches Gehirn jedoch entzündet. Er stirbt, ohne sein Ziel erreicht zu haben.583 Zimmermann und Lavater vertreten beide eine auf das Individuum bezogene, undogmatische Frömmigkeit, die weder mit Pietismus noch gar Orthodoxie, am ehesten, im Falle Zimmermanns, mit gemässigter Neologie identifiziert werden könnte, und dadurch ein beachtliches ökumenisches Potential aufweist. Folgender Schluss eines Lavaterbriefs vom Mai 1799 könnte auch von Zimmermann stammen: „Übrigens Lieber, bin ich gewiss dass wir einer ungedenkbar grossen Revolution in Religion s e h r nahe sind. – Gott wird alles Gute in allen Religionsarten über Briefe in den allerstärksten Ausdrücken“ geschrieben hätte, dass er es lassen solle. ZZH, FA Hirzel 240, 15. 581 Versuch 1779, S. 66. 582 Eine Eintragung aus dem Brugger-Tagebuch von 1753, „Gottes Stimme ruft: Jenseit des Grabes solt du leben!“ Tagebuch aus dem Jahre 1753. Hg v. C. Hummel, in: Brugger Neujahrsblätter 85 (1975), S. 130. bringt sich in Erinnerung, die unverrückbar gilt für sein ganzes Leben. Die zitierte Stelle gemahnt an Joh 14, 2 („In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“), denn er ruft dem toten Preußenkönig zu: „deine sterbliche Hülle dort in Potsdam, ist nicht das Einzige, das von Dir bleibt! – In den Wohnungen der Unsterblichen, bist Du izt bey deinem Marcus Aurelius“. Unterredungen 1788, S. 250. Vgl. Zimmermann an Sulzer (21. 2. 1773): „Gottlob, dass Sie die wichtigste aller Materien abgehandelt, die Unsterblichkeit der Seele bewiesen haben“ (Bodemann 1878, S. 218); „Denn warum sollten sie (sc. die Chinesen) im Ernste an die Tugend glauben, da so viele unter ihnen die Unsterblichkeit der Seele läugnen?“ Nationalstolz 1789, S. 95. 583 Zerstreute Blätter 1799, S. 330–333.

388

in einen Tigel werfen, durchglühen und reinigen, und dann aus Allem ein schön gegossnes Ebenbild Seiner selbst darstellen“.584 Im Brief vom 7. Dezember 1767 an Haller traut Zimmermann Lavater zu, „un second Reformateur de son eglise“ zu werden,585 eine Einschätzung, die Lavater teilt.586 Für Lavater wie für Zimmermann sind Konfessionen letztlich „blosse Namen“.587 Zimmermann hat wohl Lavaters Christologie und deren Implikationen nie wirklich geteilt, obwohl seine religiöse Anlage ihn für dessen Christusverständnis im Grunde genommen nicht unempfänglich machte. Zimmermanns Einsamkeitstheologie besitzt einen ausgrenzenden, in gewissem Sinn elitären Zug wie Lavaters Physiognomik auch, die allerdings einen wesentlich grösseren „esoterischen“ Anteil aufweist: „What mattered to him most, though, was its esoteric sense, which cannot be severed from his theological motives. Physiognomy was meant only for a few, he explained, only for the specially initiated”.588 Zugleich ist Zimmermann aber philosophischer Arzt auf eine „naturgeschichtliche“, d.h. Natur und – ansatzweise – dynamisierte Geschichte umfassende Weise, die Lavater so nicht mitträgt, obwohl auch er auf seine Weise Seelenarzt ist. Vielleicht reagiert Zimmermann in Lob und Tadel derart heftig auf den Freund, weil dieser ihn seine ihm selbst weitgehend unbewusste innere Widersprüchlichkeit erfahren lässt, die religiöse Bindung in der Christusnachfolge und ein auf Empirie bedachtes Wissenschaftsverständnis vereinen muss. An Lavaters Wunderglauben und seinem leidenschaftlichen Interesse für Magnetismus und anderes, in Zimmermanns Urteil „Unwissenschaftliches“ scheiden sich die beiden Geister, obwohl Zimmermann in einem Brief äußert: „Ich selbst habe gewiss manchen Fehler, der ungleich schädlicher ist als Lavaters Wunderglauben“.589 Beide sind von einer gemeinsamen Gesinnung beseelt: „Wohl ist die Gesamtstimmung 584 585

Brief Lavaters an Chouard vom 5. Mai 1799. Luginbühl I, S. 263. Ischer 1912, S. 104. Der Kontext der zitierten Briefstelle, die Lavater vor Haller gegen Rousseau in Schutz nehmen will, lautet: „M. Lavater, l’auteur des Schweizerlieder, le plus sincere chretien dans la theorie et un des hommes du monde les plus actifs et les plus ardents dans la pratique de toutes les vertues chretiennes, homme très rare à cet egard, digne d’être un second Reformateur de son eglise, et qui deteste les miserables raisons que Rousseau a mis en avant contre la verité de notre Religion“ . 586 Im Brief Lavaters an Zimmermann vom 24. Juli 1766, FA Lav Ms 589b, Nr.21: „J’ai un présentiment d’une Reformation étonannte. Wenn ich es erlebe, einer Gemeinde vorzustehen, so wirst du sehen, was Gott durch mich thun wird. Ich würde niederträchtig seyn, wann ich fürchtete, dass du das für Stolz hieltest“. 587 Ulrich Im Hof, Pietismus und ökumenischer Patriotismus. Zu Lavaters Schweizerliedern, in: Hoffnung der Kirche und Erneuerung der Welt. Beiträge zu den ökumenischen, sozialen und politischen Wirkungen des Pietismus. Festschrift für Andreas Lindt. Hg. v. Alfred Schindler u.a. Göttingen 1985, S. 105. 588 Siegrist, Christoph, Letters of the Divine Alphabet – Lavater’s Concept of Physiognomy, in: The Faces of physiognomy: interdisciplinary approaches to Johann Caspar Lavater. Edited by Ellis Shookman. (Studies in German literature, linguistics and culture). Columbia 1993, S. 28. 589 Brief Zimmermanns an Hirzel vom 22. Januar 1776. ZZH, FA Hirzel 240, 15. Ironisch schreibt Zimmermann an Hirzel: „Gott sey gedankt, dass Lavater, wie Du sagst, sich zum Wunder (aber doch ohne Wunder?) erholt hat“. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 12. Februar 1785. ZZH, FA Hirzel 240, 22.

389

auf reine Menschlichkeit, auf christliche Humanität gerichtet“,590 die deistisches Denken ablehnt. Aber bei Zimmermann findet sich keine entschiedene Ablehnung der natürlichen Religion, keine Gleichsetzung von Offenbarungsgläubigkeit und Religiosität, wohl aber die Verwerfung des thierischen Magnetismus’. Beide verbindet die Annahme eines sensualistischen Relativismus: „Sinnliche Empfindung, innere Wahrnehmung im Selbstbewusstsein, moralisches Gefühl, religiöse Erfahrung“.591 Bei beiden manifestiert sich „der geniale Sensualismus der gefühlsmässigen Erfahrung, dem sinnliche Wahrnehmung und inneres Erleben zusammenfliessen“,592 und es ist müßig, darüber zu entscheiden, ob bei Lavater tatsächlich das innere Erleben, bei Zimmermann die sinnliche Wahrnehmung stärker ausgeprägt sei.593 Während für Lavater die Gottesebenbildlichkeit des Menschen nicht in Frage steht, wird diese von Zimmermann zwar nicht etwa verneint. Er begünstigt aber nolens volens die Problematisierung der Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch sein unbeugsames Insistieren auf Beobachtung und Erfahrung, das an Intensität mit Lavaters Sendungsbewusstsein zumindest vergleichbar bleibt.594 10.3.4 Komplementarität von Medizin und Religion Eine für Zimmermanns Stil typische Stelle der Einsamkeitsschrift lässt eine der zahlreichen gefolgschaftsauffordernden Ermahnungen an den Leser ergehen angesichts weltlicher Gottvergessenheit. Im Zusammenhang einer Bestimmung des Gottesbegriffs und der Illustration der ubiquitären Fähigkeit der Einbildungskraft in „heiliger Einsamkeit“ wird auch die Verbindung von Herz und Kopf, Gefühl und Verstand thematisiert: Nirgends wird Gott mehr vergessen, als unter den gewöhnlichen Zerstreuungen des gesellschaftlichen Lebens. Unter so vielen abgeschmackten Beschäftigungen, in dem Gewirre von Thorheit und Tändeley, das alle Leidenschaften in Bewegung setzet, alle Begierden aufwiegelt, in dieser beständigen Trunkenheit, werden alle Verbindungen mit unserm Schöpfer aufgehoben. Wir entsagen dieser ersten und einzigen Quelle aller unserer Glückseligkeit, allen unsern vernünftigen Fähigkeiten, und denken an unsere Religionspflichten nur flüchtig, gleichgültig, ohne Eindruck und Rührung. Wer hingegen durch eine ernsthafte Einkehr in sich selbst, und 590

Maier, Heinrich, Lavater als Philosoph und Physiognomiker, in: Johann Kaspar Lavater (1741– 1801). Denkschrift zur hundersten Wiederkehr seines Todestages. Hg. v. d. Stiftung von Schnyder von Wartensee. Zürich 1902, S. 458., 591 Maier, Heinrich 1902, S. 478. 592 Maier, Heinrich 1902, S. 484. 593 Vgl. von Klettenberg, Susanna Katharina über Lavaters Predigten: „Wenn ein gefühliges Herz Lavaters Predigten liest, so schmelzt es. Ich wette, Lavater hat selbst nicht so viel dabey empfunden, es kann auch nicht seyn, er hätte sonst nicht reden können. Wenn unsere Seele ganz Empfindung ist, so höret der Ausdruck auf; sie mag nicht denken; es bemühet, es störet den unaussprechlich sanften Genuss“. Zehn Briefe von von Klettenberg, Susanna Katharina an J. K. Lavater. Hg. v. Funck, Heinrich, in: Goethe-Jahrbuch 16 (1895), S. 84. 594 Zimmermanns Präferenz für Vergleiche aus der animalischen Sphäre kann in diesem Zusammenhang gesehen werden. Vgl. 10.2.4. Metaphorik, S. 295ff.

390

stille Überlegung, sein Herz überall zu Gott erheben kann, wer seinen ganzen Wirkungskreis unter den Menschen, wie das Gewölbe des Himmels, wie die beblümte Erde, wie jeden Berg und jeden Wald, für einen Tempel Gottes hält, wer überall sein Herz zu dem Urheber und Regierer aller Dinge richtet, immer seines allsehenden Auges sich erinnert, der muss oft in einer heiligen Einsamkeit gelebet haben, und in beharrlichem, innigem, und feurigem Gebet (III, 214ff.).

Auf die Behauptung des ersten Satzes wird anschließend im zweiten, ohne inhaltlich Neues zu bringen, die Eingangsbehauptung konkretisiert, und im dritten werden die bedenklichen Folgen derartigen Fehlverhaltens aufgezeigt. Antithetisch dazu empfiehlt sich als Klimax durch dreimal ansetzendes „wer“ die „richtige“ Verhaltensweise: Aufsuchen der Einsamkeit und gottergebenes Gebet. Gott ist durch sein allsehendes Auge erste und einzige Quelle menschlicher Glückseligkeit sowie „Urheber und Regierer aller Dinge“. Diese (wiederum) stark pietistisch geprägte Stelle stützt sich nicht auf Emotionales allein. Weltverlorenheit zieht den Verlust von „allen unsern vernünftigen Fähigkeiten“ nach sich, an die „Religionspflichten“ hinwieder denkt man nurmehr mit Gleichgültigkeit ohne gefühlsmäßiges Engagement. Herzerhebung verdankt sich, neben innerer Einkehr, entscheidend stiller Überlegung. Gedankenarbeit ist die Bedingung der Möglichkeit für den emotionalen Aufschwung, auf den die Textstelle hinausläuft. „Alle Vergnügungen des Verstandes und des Herzens sind Wirkungen einer und eben derselben geistigen Kraft“ heißt es an anderer Stelle (III, 516f.). Religion gerät zur tadelnswerten Schwärmerei, wenn sie nicht der Leitung der Vernunft unterliegt. Dieses komplementäre Zusammenwirken von Herz und Kopf, von Pietistischem und Aufklärerischem, die „eigenthümliche Mischung nämlich einer kaum beherrschbaren Vehemenz und eines kalten, schneidenden Verstandes“595 leitet Zimmermann, der gekennzeichnet ist durch „Grösse seines Herzens so sehr als durch die Vorzüge seines Verstandes“ (Erf. II, 601). So sieht ihn auch der Herzensfreund Sulzer, der ihm im Juni 1772 schreibt: „Sie sind von den lebhaften Seelen, die nur allzu lebhaft empfinden, aber zum Glück ist bey Ihnen dieses Gefühl zugleich mit einer starken Vernunft und mit tiefen Einsichten begleitet“.596 Er nimmt das Herz gegen einen Monopolanspruch des Verstandes in Schutz597 und erklärt : Bürgerlichen Muth immer mehr in deutschen Herzen zu entzünden, ach dies ist eine Begierde die man gewiss einem Schriftsteller verzeihet der in deutscher Sprache über Einsamkeit schreibt, und die mir also auch erlaubt, hier alles grade vom Herzen wegzusagen wie ich es fühle, und wie es ist (IV, 347).

Die uneingeschränkt geltend gemachte Herzenswahrheit verschmilzt mit der Wirklichkeit („wie es ist“). Herz und Kopf zusammen ergeben erst ein Ganzes, was auch für seine „lebenspraktische“ Philosophie gilt, wie eine Stelle im zehnten 595 596 597

Meyer, C. F. 1881, S. 193. Brief von Zimmermann an Sulzer vom 23. Juni 1772. Bodemann 1878, S. 215. Versuch 1779, S. 5.

391

Kapitel vermerkt: „Philosophie aus dem Munde einer klugen und mit der Menschheit bekannten Mutter, fliesset durch das Herz in den Kopf“ (III, 252). Im Entscheidungsfall würde Zimmermann wohl dem Herzen den Vorrang geben, so dass seine Schriften gewissermassen die Erfüllung jener in den Betrachtungen über die Einsamkeit zu Beginn seines Schriftstellerlebens vorgebrachten Gebetsbitten darstellten: „Lehr mich eher das Herz als den Verstand, eher die Frömmigkeit als die Gelehrtheit, eher eine demüthige Stille als eine prahlende Grösse schätzen“.598 Die Schrift Von der Diät für die Seele kann gelesen werden als eine Einladung zur Zusammenarbeit von Medizin und im Sinn Zimmermanns richtig verstandener Theologie: Es gilt, die Synergien zu nutzen, um das Leben zu meistern und einen diesem Leben gemäßen Tod zu finden im Geist einer Briefstelle über den Tod Ewald von Kleists: „Er ist seines Lebens würdig gestorben“.599 Ein eigentliches Programm einer medizinisch-theologischen Therapie mit Konkretisierungen entwirft er am Schluss dieser Schrift. Dort heisst es u.a.: Der Geistliche ist also bemühet den Schwermüthigen vernünftigere Begriffe von ihrem Zustand beyzubringen, indess da der Arzt für die Wegnehmung der körperlichen Ursache dieser Grillen sorgt, oder auch nur blos die körperliche Wirkung einer Schwermuth zu hemmen sucht, deren Ursach ganz in der Seele liegt.600

Die Arbeitsaufteilung erfolgt derart, dass der Geistliche sich um die Seele kümmert, während der Arzt die körperlichen Belange versorgt, damit naturgemäß auch auf die Seele einwirkt. Als behandelnder Arzt veranlasste Zimmermann im katholischen Solothurn, dass einem Todkranken das Sakrament der Krankensalbung gespendet werde – zugleich ein Beispiel für Zimmermanns ökumenische Einstellung: „Meinem Kranken liess ich am Montag die letzte Öhlung geben, woran der catholische Doctor nicht dachte, und welches man mir in gantz Solothurn sehr gut aufnahm“.601 1756 erscheint in Zürich Zimmermanns Übersetzung aus dem Englischen Die Vortheile eines guten Gewissens, das mit dem Religion und Medizin verbindenden Satz beginnt: „Ein gutes Gewissen ist in der Seele, was die Gesundheit in dem Körper ist“.602 Dass der Mensch eine „Seele“ besitze, das stellt Zimmermann gar nicht in Frage, obwohl die Seele als „Bewegungsprinzip“ grundsätzlich problematisiert wurde „durch den experimentellen Befund, nach dem eine aus dem lebenden Organismus herausgetrennte Muskelfaser weiterhin kontraktil bleibt“.603 Der erfahrene Arzt muss Intuition besitzen und die Gabe, ein therapeutisches Gespräch mit dem Kranken zu führen, das ihm Trost spendet. Bei religiös Fanatischen ist es 598 599 600 601 602

Einsamkeit1756, S. 96. Zimmermann an Hirzel. Brief vom 7. Februar 1760. ZZH FA Hirzel 238 Nr.12. Benzenhöfer / vom Bruch 1995, S. 154. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 3. Brachmonat 1767, ZZH, FAHirzel 239, 188. Die Vortheile eines guten Gewisens. Aus dem Englischen übersezet von J. G. Z. M.D. Zürich 1756, S. 3. 603 Kosenina 1989, S. 39.

392

bisweilen angezeigt, einen rhetorischen Kunstgriff anzuwenden, indem der Arzt dem Kranken die „Göttlichkeit ihrer Thorheiten“ zugesteht, um ihn körperlich behandeln zu können: „In Absicht auf dasjenige was hierbey von dem Arzte abhängt ist der allerbeste von mir durch die Erfahrung bewährte Kunstgrif, dass der Arzt dem Schwärmer sage, auf eüre Schwermuth vermag ich nichts, ihre Ursachen sind etwas göttliches, mein Geschäfte ist blos für eüren Körper zu sorgen.604

In der Ruhr-Schrift (1767) macht Zimmermann den konkreten Vorschlag, künftige Pfarrherren, vorab Landprediger, von Staates wegen auch in „der besonderen Physik des menschlichen Körpers“605 unterweisen zu lassen, indem ihnen „die Anfangsgründe der Physiologie, der Pathologie, und der Diätetik“606 beigebracht würden. Zimmermann, der erklärt, „ein gehorsamer Sohn der Kirche“607 zu sein, hält seinen Vorschlag für „Christenpflicht“,608 die „aus der Lehre und dem Beyspiel unsers Erlösers und seiner Apostel“609 hervorgehe. Den Pfarrherren, „einer der verehrungswürdigsten von allen Classen der bürgerlichen Gesellschaft“,610 erweist er Reverenz, falls sie vernünftig und wahrhaft christlich, als „aufgeklärte Diener des heiligen Evangeliums“611 predigten, im Sinne seines Traktats, und so die behandelnden Ärzte unterstützten. Im achten Kapitel bilden Philosophen, Pfarrherren, Bauern, Ärzte – und Henker eine unselige Heil-Kette: „Doch das wichtigste und nach ihrem Wahne unübersteigliche Bollwerk verschiedener unserer Philosophen, nicht weniger Landpfarrer, und fast aller unserer Bauern, Dorfärzte, Pferdärzte, und Henker, sind die Krankheiten, die man mit schädlichen Mitteln zu heilen scheint“.612 In der Haller-Biographie bekennt Zimmermann denn auch: „Ich kan billig als einen Theil der practischen Religion die Bemühungen für 604

Benzenhöfer / vom Bruch 1995. S. 153. Zimmermann führt weiter aus: „Schwermüthige antworteten mir in solchen Fällen sehr oft, das habt ihr nicht nöthig, denn wir {sind} gesund. Auf dieses erwiderte ich, freilich liegen eüre Bangigkeiten ganz in der Seele, freilich sind sie Gnadenwirkungen, aber diese gewaltsamen Gnadenwirkungen reiben nach und nach eüren Körper auf, und so werdet ihr ganz unfähig mit dem gehörigen Eifer, mit der nöthigen Einbrunst an eüre Widergeburt zu denken. Ihr habt ja einen schlechten Magen, ihr seyt gebläht ihr seyt verstopft, ihr habt heftige Krämpfungen, Kopfschmerzen, Zückungen, ihr habt eüre monatliche Reinigung nicht, sorget ihr für eüre Seele und lasst mich für diese körperlichen Hindernisse eüres Ernstes in der Bekehrung sorgen. Mit solchen Reden bewog ich oft solche Kranke Arzneyen an zu nehmen, die sonst alle Gesundheitsregeln und alle Arzneyen verwarfen“ (ibid). 605 Ruhr 1767, S. 290. 606 Ruhr 1767, S. 290. Weiter heisst es: „Unsere künftige Landprediger erwürben auf diese Art ohne den geringsten Nachtheil ihrer anderweitigen Geschäfte, die zur Erhaltung der Gesundheit nöthige Kenntnisse“. 607 Ruhr 1767, S. 301. 608 Ruhr 1767, S. 301. 609 Ruhr 1767, S. 298. 610 Ruhr 1767, S. 211. 611 Ruhr 1767, S. 298. 612 Ruhr 1767, S. 219.

393

die Ausbreitung des Glaubens und der Gottseligkeit bey einem Arzte annehmen, der eigentlich hierzu keinen Beruf hat“.613 Zu weit in der „Christianisierung“ Zimmermanns geht Eynard, wenn er bemerkt: „Zimmermann était un des ces hommes à qui Dieu seul peut faire du bien, et à qui peut-être il ne manque pour rentrer dans le calme que de rencontrer sur leur route le christianisme de Jésus-Christ“.614 Zückert beruft sich mit seinen sozialhygienischen Forderungen, neben Tissot, auf Zimmermann und sein Postulat einer Verbindung von Theologie und Medizin,615 das Landprediger und andere Honoratioren instand setzten würde, auf die Bauern einzuwirken. Er gibt allerdings zu bedenken, was Zimmermann zu wenig bedenkt: „Man müsste erst den Willen des gemeinen Mannes bessern; man müsste erst Moralität in ihn bringen, ehe man sich von seinen freyen Handlungen in Gesundheitssachen etwas Gutes versprechen kann“.616 Eine bezeichennde Stelle für die Verbindung von Heilkunst und Religion in der Erfahrung lautet: „Durch ihn (sc. den philosophischen Geist) allein erbliken wir nach und nach einige Ringe der grossen unermesslichen Kette von Wirkungen und Ursachen, die von dem Staubbewohner an den Thron der Gottheit reicht“ (Erf II, 60). Die komplementäre Zusammenarbeit von Pfarrer und Arzt lässt auch Zimmermanns Geniebegriff in einem andersgearteten, d.h. religiöseren Licht erscheinen. Geniebegriff und Gottes-begriff werden nämlich aufeinander bezogen. Indem sich der Theologe dem Mediziner und der Mediziner dem Theologen nähert, müssten sie die Grenzen des Menschseins sprengen und sich mit ihren symbiotischen Heilbestrebungen letztlich zu einem „Genie“ mit göttlicher Allmacht hinaufläutern. Genie ist in diesem Sinn gleichsam ein menschlicher Gott, ob Arzt oder Theologe, wie eine andere Stelle umschreibend eröffnet: Wirkung und Ursache sind zwar in sich selbst nicht verschieden, weil durch die Aufhebung eines Theiles der Wirkung auch ein Theil der Ursache gehoben wird. Aber sie sind es für uns, weil wir gezwungen sind nacheinander zu denken, was Gott für den alle Wirkungen mit ihren Ursachen und alle Reihen der Wesen ein einzeles Ding sind auf einmal sieht, der ganz anschauend alles sieht was ist und seyn kann, alle Wahrheiten als einen einzigen Begrif, alle Oerter als einen einzigen Punct, alle Zeiten als einen Augenblik (Erf. II, 120f.).

Die Religion kann gegebenenfalls sogar stärker als jedes medizinische Heilmittel wirken, was naturgesetzlich für das Christentum wie für die Stoa gilt: „Die geoffenbarte Religion lehrt uns, dass die Seele heiter und still seyn kann, indem der

613

Leben Haller 1755, S. 392. An anderer Stelle (S. 374) heisst es: „In unsern durch das Licht der Weltweisheit verklärten Zeiten, geschieht es oft, dass die Wissenschaft des Arztes, z. Ex. in der Lehre von der Seele, da anfängt, wo die Metaphysik aufhört. Was könnte für uns gefährlicher seyn! O Wahrheit, wo fliehen wir hin?“. 614 Eynard 1839, S. 163. 615 „Die an sich lobenswerthen Anstalten eines hohen Bernischen Gesundheitsraths beschreibt uns der berühmte Zimmermann, im 9. Kapitel seines unvergleichlichen Buches von der Ruhr unter dem Volke“. Zückert 1773, S. 70. 616 Zückert 1773, S. 71.

394

Körper mit Qual und Schmerzen ringt. Auch die ganze Stoische Philosophie ruhte auf diesem Grundsaze, der allerdings in der Natur seyn muss“ (Erf I, 448).617 Auf diese Weise liegt bei Zimmermann eine epochal bemerkenswerte Synthese jenseits vom Spezialistentum618 des 19. Jahrhunderts vor zwischen Religion, Theologie und Medizin, aus der sich das Postulat einer leib-seelischen Behandlung ergibt, in der Seelenarzt und Körperarzt, Pfarrherr und akademischer Arzt zusammenwirken zum Wohl des vorab psychisch Hilfebedürftigen: „Der Arzt ist immer zu wenig Theolog und Philosoph, der Theolog ist immer zu wenig Arzt, um alles, was zur Hülfe und zum Trost solcher Kranken (sc. religiöser Melancholiker) dient, ganz durchzuführen und durchzuschauen“ (II, 207). Was Zimmermann an religiöser Melancholie exemplifiziert, wobei ihm sein Lehrer Haller vorschwebt,619 gilt grundsätzlich für das gesamte Feld physischer und psychischer Erkrankungen. Arzt und Theologe können und müssen voneinander lernen: […] wer sehnt sich nicht, nach einer guten Anleitung zur Cur einer Krankheit, die häufig vorkommt (sc. der religiösen Melancholie), die der leibliche Arzt mehrentheils dem geistlichen überlässt, und die dieser so oft misversteht und übel behandelt. Viele Geistliche wissen sehr oft gar nicht, was Aerzte in solchen Fällen vermögen; aber sehr viele Aerzte werden dann auch nicht begreifen können und wollen, dass Theologen zuweilen durch ein einziges wohl angebrachtes Wort wirklich beynahe Wunder in solchen Krankheiten thun (II, 207).620

Wenngleich nicht ohne Vorbehalte621 empfiehlt Zimmermann das Buch des englischen Pietisten Benjamin Fawcett von 1780, „Observations on the nature, causes and cure of Melancholy, especially of that which is commonly called Religious

617

Weiter heißt es: „Jeder aufmerksame Arzt weiss, dass auch zuweilen die Gemüthskrankheiten durch physische Mittel unheilbar sind, wenn die Seele zum besten des Kranken nicht mitwirkt […] Wie mehr die Seele eines Kranken die Bemühungen des Arztes begünstigt, desto grösser ist die Hoffnung des Arztes. Wie mehr Einfluss die Reden des Arztes auf die Seele des Kranken gewinnen, desto richtiger kann man schliessen, dass es Krankheiten giebt, die sich durch Worte lindern lassen“ (Erf I, 449f.). Vgl. auch die Stelle Erf. I, 170: „Also ist es der Natur und der Kunst gemäss, dass ein Arzt, wenn er für moralische Beobachtungen zu dumm ist, es ganz gewiss auch für medicinische ist“. 618 Vgl. Rohlfs 1875, S. 106: „Wir sind fest überzeugt, dass der Specialismus nicht so hätte um sich greifen und bei allen Culturvölkern so tiefe Wurzeln schlagen können, wenn Zimmermanns Buch über die Erfahrung bei den Aerzten nicht gänzlich in Vergessenheit gerathen wäre“. 619 Bodemann 1885, S. XII, der den Plan von Zimmermanns beabsichtigter, aber nicht ausgeführter Umarbeitung seiner Haller-Biographie abdruckt. Das 14. Kapitel sollte darlegen, wie Haller am Ende seines Lebens immer stärker in religiöse Melancholie versinkt. 620 Eine andere Stelle der Erfahrung stellt fest, dass „durch die Macht einer einnehmenden Beredsamkeit“ (Erf. II, 451) der Arzt wie der Geistliche über die derart aufgemunterte und aufgeheiterte Seele auf den Körper einwirken vermag. 621 Zimmermann bemängelt, dass sich Fawcett zu wenig auf Erfahrung abstütze und sich mehr an das Herz als an den Verstand wende, „und wenigstens nach meiner Empfindung, etwas zu viel frömmelt und gewiss zu wenig philosophirt“ (II, 209).

395

Melancholy“, und wünscht sich eine deutsche Übersetzung.622 Als deutsches Beispiel, das wie bei Fawcett in der Einschätzung Zimmermanns „etwas zu viel frömmelt und gewiss zu wenig philosophirt“ (II, 209), kann in diesem Kontext der in der Einleitung bereits zitierte Christian Friedrich Richter angeführt werden, der die „Vorstellung der seelischen Verursachung körperlicher Symptome mit Anleitungen zu pietistischer Lebensführung, z.B. in Hinsicht auf Busse, Bekehrung und Wiedergeburt“ verband.623 Die komplementäre Verbindung von Medizin und Religion steht bewusstseinsgeschichtlich wiederum im Bezugsfeld der Halleschen Psychomediziner,624 die ohne „eine entscheidende Wirkung“625 Stahls nicht denkbar sind, und ihrer „Öffnung der Wissenschaften“.626 Zimmermanns spezifisches anthropologisches Konzept gemahnt an die drei von Johanna Geyer-Kordesch namhaft gemachten Hauptcharakteristika der Reform der pietistischen und radikalen Erweckungsbewegung und bezeugt einen bewusstseinsgeschichtlichen Ort, dem, Zimmermanns Einsamkeitswerk zugehört, wenn auch in unterschiedlicher Akzentuierung: 1) eine Abkehr vom traditionellen humanistischen Buchwissen zugunsten induktiver, empirischer Erfahrung; 2) die Ablösung von der Autorität einer Universität, die Wissen nur als Gegenstand gelehrten Unterrichtsbegriff, zugunsten einer [...] Popularisierung praktischen Wissens, worin besonders das medizinische Wissen hervorgehoben wurde; 3) eine Abkehr von der Sprache der Rhetorik zugunsten laienbezogenen und verständlichen Unterrichts.627

Das „intergrierende Programm der Anthropologie“ schließlich, der Versuch, „Glaubensinhalte und Naturdeutung“,628 „neuverstandenen Glauben und moderne Wissenschaft“629 zu vereinen, kommt Zimmermanns synthetisierender Bewusstseinshaltung entgegen, denn sie „erlaubt die wechselseitige Ergänzung und Stellvertretung der Perspektiven in den Fragen nach der Natur des Menschen, nach seiner Physis, seiner Psyche, seiner Fähigkeit zu entscheiden und zu handeln in der

622

Eine deutsche Übersetzung hat 1785 J. F. Lehze geliefert: Fawcett, Benjamin, Über Melancholie, ihre Beschaffenheit, Ursachen und Heilung, vornämlich über die so genannte religiöse Melancholie. Übersetzt v. J. F. Lehze. Leipzig 1785. 623 Zelle 1995, S. 82. 624 Geyer-Kordesch, Johanna, Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preussen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls. Tübingen 2000 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 13) vermerkt zu diesem komplementären Konzept der Halleschen Psychomediziner, was auch für Zimmermann gilt: „Die therapeutische Aufgabe des Arztes erschöpft sich nicht darin, Medikamente zu verabreichen“ ( S. 258). 625 Geyer-Kordesch 2000, S. 260. 626 Vgl. Reiber 1999, S. 23ff.: „Schauplatz Halle: Die Öffnung der Wissenschaften im Zeichen einer Aufklärung über die ganze Natur des Menschen“. 627 Geyer-Kordesch 2000, S. 256. 628 Ebd. 629 Geyer-Kordesch 2000, S. 2.

396

Spannung von Antriebskräften der Leidenschaft und der Sittlichkeit“.630 Dieses komplementäre Zusammenwirken markiert zugleich den Übergang der Monopolstellung von Theologie und Religion im Umgang mit der Seele zu anthropologischen Fragestellungen, „von der religiös gemeinten Gewissenserforschung pietistischer Selbstzeugnisse zur säkularisierten Psychologie“,631 indem „sie (sc. die Seele) analog zum Körper als Natur zum Gegenstand empirischer Psychologie wurde“.632 Wolfert von Rahden formuliert diesen Sachverhalt in Bezug auf K. Ph. Moritz – und auf Zimmermann, wie zu ergänzen ist – folgendermaßen: „Es ist also einerseits eine Detheologisierung des Gegenstandsbereiches Psyche, andrerseits eine theoretische und forschungspraktische Umstrukturierung von einer philosophischen zu einer erfahrungswissenschaftlichen Fragestellung“.633

630

Schönert, Jörg, Neue Ordnungen im Verhältnis von „schöner Literatur“ und Wissenschaft. Erster Teil 1770–1830, in: Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann (Hg.), Die Literatur und die Wissenschaften (1770–1930). Walter Müller-Seidel zum 75. Geburtstag. Stuttgart 1997, S.44. 631 Langen 1954, S. 465. 632 Müller, Lothar 1987, S. 11. 633 Von Rahden 1993, S. 130.

397

Schluss

Abb. 3:

Handschriftenprobe. L.A.S., 3 SS., Brugg, den 24. Januar 1761. Privatbesitz.

„Wahr ist’s, wir sind oft ein wunderliches Gemische von Tugend und Leidenschaft, von Erhabenheit und Schwäche; und warum sollten wir das verheelen?“ (III, 412).

Im Kondolenzbrief vom 4. Oktober 1790 an Johann Caspar Hirzel, der seine Frau verloren hatte, rät Zimmermann aus Hannover seinem Arztkollegen und Herzensfreund in Zürich:

399

Wirf Dich in die Arme Deiner liebenden Familie, wirf Dich in die Arme Deiner geprüftesten Freunde in Zürich. Sey nie allein.1 Weine mit Deinen Geliebten so lange Du weinen kannst. Überlasse Dich den Stürmen der Leidenschaft, aber rufe diese Stürme nicht herbey. Bestrebe Dich durch Artzneyen die körperlichen Wirkungen Deiner Seelenangst zu vermeiden. Endlich kommt doch Ruhe.

Ruhe, mein Geliebter, kommt nicht schnell, aber allmählich, und kommt oft, wenn man dieselbe am wenigsten erwartet. Du kennst die höchste Quelle aller Ruhe, du hast sie nie verkannt.2

Dieser späte Brief vereint in nuce Zimmermanns Einsamkeitstherapeutik: Nicht krankmachendes „insularisches Leben“3 der Individualität, sondern Soziabilität durch individuell dosierte Einsamkeit als der Ausprägung von Zimmermanns spezifischer Rousseau-Rezeption;4 die gleichzeitige Heilung von Leib und Seele mit dem nicht herbeizwingbaren therapeutischen Fluchtpunkt harmonischer Ruhe; die Berücksichtigung verschiedenartiger Therapeutika, auch empfindsam vergossener Tränen, mit religiöser Ergebung in die letztlich beruhigende göttliche „Quelle“ allen Heils; die literarische Rezeptur dieser therapeutischen Wegweisung in Form eines Kondolenzbriefes, in dem Schrift, Medizin und Religion symbiotisch zusammenwirken. Die Einsamkeitsthematik verknüpft Individuelles wie epochale Tendenzen. Sie ermöglicht Zimmermann zunächst, literarisch ergiebig und zeitgenössisch ausgesprochen erfolgreich, im Horizont der Anthropologie seine Betrachtungen auf die Tiefen individueller leib-seelischer Konstitutionen als je eigene Sonderfälle zu fokussieren. Am Beispiel seiner eigenen Individualität führt er im Einsamkeitswerk den in der biographischen Realität allerdings scheiternden Versuch selbsterlösender Eigentherapie durch Literatur vor gemäss dem Leitspruch: „Arzt, hilf dir selber!“.5 Andererseits erkundet er anhand historischer Beispiele intersubjektiv gültige Gesetzmäßigkeiten, die für das Gattungswesen Mensch insgesamt zutreffen. Zimmermanns Einsamkeitsschrift richtet sich nach den beiden traditionsmächtigen Leitsternen nosce te ipsum und sibi imperare im Bestreben, eine physisch und psychisch gesunde Lebensführung zu vermitteln, welche die schon in den Betrachtungen über die Einsamkeit von 1756 gestellte Frage zu beantworten sucht: „Wo wird die Philosophie, als eine Kunst zu leben, gelehrt?“6 Empirisches Wissen 1

2 3 4

5 6

Vgl. Hissmann 1778, S. 8: „Er (sc. der Philosoph) sucht Vergnügen, und lehrt die Kunst des Frohseyns, wenn Stürme den Bach des Lebens trüben. Gute Menschen kennen, gute Menschen lieben, guten Menschen wohlthun […] Ich find’ ihn daher beständig unter Menschen“. Brief Zimmermanns an Hirzel vom 4. Oktober 1790. ZZH, FA Hirzel 240, 36. Brief Zimmermanns an Philipp Albert Stapfer vom 19. März 1790. Luginbühl 1890, S. 52. Zimmermann unterscheidet sich dadurch etwa von Weikard, der den Einsamen finstere, schwermütige Grundsätze ausbrüten lässt, „die für die Welt, wie sie wirklich ist, unbrauchbar sind, und aus Misanthropie, Milzsucht und verdriesslichem Eigensinne gebohren werden“ (Weikard 1777, S. 17). Goethe, Dichtung und Wahrheit, 15. Buch. HA 10, S. 47. Einsamkeit 1756, S. 73.

400

vom Menschen allein genügt nicht, es bedarf der Ergänzung durch moralischsittliches Bemühen. Das eklektisch verfahrende Einsamkeitswerk von 1784/85 beabsichtigt, auf unsystematische Weise dem Menschen nützlich zu sein, seine Bestimmung zu erreichen: „das Zusichselberkommen des Menschen nach all seinen sittlichen Eigenschaften und historisch-individuellen Möglichkeiten, Menschenkunde zum Zweck der Menschenbildung“.7 Einsamkeit wirkt in der Art eines Katalysators, um individuellen Seelenfrieden und menschliche Glückseligkeit zu erlangen: „Die Kenntnis des Menschen, die Kunst zu leben, die erste der Künste, die vornehmste Quelle unserer Glückseligkeit“ (Erf. I, 11). Das ist der Preis, der bei Befolgung des variationenreich wiederkehrenden Appells, „Kenne den Menschen muss man freilich dem Menschen ohne Aufhören zurufen!“ (Erf. II, 515), winkt. Im vierten Teil des Einsamkeitswerks gibt Zimmermann hingegen zu bedenken: „Menschenkennerey ist schwer, und Kenntnis seiner selbst ist selten“ (IV, 71). Er weiss um die Schwierigkeit „der Kunst mit sich selbst fertig zu werden“ (IV, 299). Zimmermann beteuert, er wolle mit seinem Einsamkeitskonzept darlegen, „welche wahre und edle und erhabene Vergnügungen Einsamkeit hervorbringet, durch ruhige und gefühlvolle Anschauung der Natur, und durch Empfindsamkeit für alles Schöne und Gute“ (III, 518). Die Frage nach der Einsamkeit birgt in sich eine eminent religiöse Dimension. Der Stadtphysikus von Brugg und spätere Leibmedicus des Königs von England, der nach dem Wunsch der Mutter Theologie hätte studieren sollen, steht in der Tradition pietistisch orientierter Ärzte, Zimmermann ist „leiblicher Arzt“ und „geistlicher Arzt“8 in einem, ebenso Therapeut des Leibes wie der Seele. Die Einsamkeitsethik, eine Art säkularisierte pietistische Introspektion und Selbstvergewisserung, sowie ex negativo die harsche Kritik am Phänomen des abendländischen Mönchtums artikulieren eine Einsamkeitstheologie, die gegen die gesamte Tradition ihren Anspruch auf wahre und zeitgerechte christliche Nachfolge erhebt. Natur, Erhabenheit und Religion bilden eine therapeutisch wirkende Trias: „Der Anblick der ganzen Natur, ruffet zur Religion, und die erhabenste Wirkung der Religion ist Ruhe“ (IV, 282). Menschliche Glückseligkeit in Gott und religiöse Gottseligkeit im Menschen gehen ineinander über. Einsamkeitsbildung, wie Zimmermann sie versteht, umfasst zugleich ein „weises“ und „schönes“ (III, 447), der Zeit ihr göttliches Recht zugestehendes Tatethos: „Wir können immer mehr als wir glauben, wenn wir nur nicht aufhören uns zu üben, wenn nur immer Leidenschaft das Feuer anzündet, Imagination es erhält, und das Leben uns abgeschmackt scheint, sobald nicht alles in uns gährt“ (III, 447). Der erstrebte „ganze Mensch“, die Kongruenz mit sich selbst, kann erst dann entstehen, wenn in einem Wechsel-

7

8

Wehrli, Max, Das geistige Zürich im 18. Jahrhundert. Texte und Dokumente von Gotthard Heidegger bis Heinrich Pestalozzi. 1. Auflage Zürich 1943. Neudruck: Basel 1989, Einführung, S. 12 (Birkhäuser Klassiker. Neue Folge. Hg. v. Charbon, Rémy). Ruhr 1767, S. 254/255.

401

spiel zwischen den Archiven der Überlieferung und eigenen Empfindungen und Beobachtungen einzelmenschliche Existenz und gesellschaftliche Realität, Leib und Seele, Herz und Kopf, Wort und Tat harmonisch zusammenkommen. Bildung zur Einsamkeit bedeutet Erziehung zur Totalität des Individuums: „die Freiheit des Gemüts in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte“,9 mit Schiller zu sprechen. Zimmermanns Humanitätsideal im Zeichen seiner Einsamkeitsauffassung strebt Vervollkommnung des Menschen an, weil dieser dafür eine unwiderstehliche Sehnsucht empfinde, „die Liebe zur Wahrheit und zum einzigen guten, ist die beseelende Leidenschaft, durch die allein der Mensch zu dieser Vervollkommnung gelanget“ (Erf I, 144). Nicht nur zur „angemessenen Erkenntnis der Welt“ soll sein anthropologisches Humanitätsideal führen, „sondern auch zur moralischen Veredelung des Individuums“.10 Zimmermann verwendet für dieses Ideal in beweglicher Begrifflichkeit bisweilen die Bezeichnungen „Schöne Seele“ oder „erhabene Seele“.11 Er ist getragen von einer vergleichsweise hohen Einschätzung der Bestimmung des Menschen und seiner Möglichkeiten. Es bekundet sich die Nähe zu einer Bewusstseinshaltung einer „optimistischen Aufklärung“ mit „ihrem Glauben an die Versöhnung der widerstrebenden menschlichen Vermögen und an die Perfektibilität individueller, gesellschaftlicher und historischer Bildungsprozesse“.12 Vom „Gefühl von der Schönheit und Würdigkeit der menschlichen Natur, auf welches doch zulezt alle sittliche Tugend hinausläuft“,13 ist leitmotivisch die Rede. Wenn der Mensch nur wollte, was er sein könnte und sollte, indem er eben Zimmermanns diätetische und therapeutische Einsamkeitsrezepte befolgte! Der Leser begegnet denn auch häufig apodiktisch formulierten Behauptungen: „Ich werde der falschen Erfahrung die wahre Erfahrung, dem Unsinn die Vernunft entgegen sezen“ (Erf. I, 45). Die mit felsenfester Überzeugung vorgetragene

9 10 11

12 13

Schiller, Friedrich, Vorrede zur Braut von Messina. Säkular-Ausgabe Bd. 16, S. 119. Dehrmann 2002, S. 87. Z.B. Unterredungen 1788, S. 52: „der Herzog von York ist eine schöne Seele“; S. 89 über die Fürstin von Dessau: „mit ganzem Herzen und allen Kräften ihrer erhabenen Seele“; S. 182 Friedrichs II. „Gelassenheit, als Er das Schicksal seiner Geschichte des Siebenjährigen Krieges hörte, ist erhaben“. S. 228: „schönen Seele“; S. 249: „erhabene Seele“. In den Betrachtungen über die Einsamkeit von 1756 betet er: „pflanze immer mehr in meinem Herzen das göttliche Pathos an, das den wahren Adel der Seele, eine Erhabenheit, die der Engel würdig ist, ausmacht“ (Einsamkeit 1756, S. 96). Das Wechselverhältnis von Einsamkeit und Erhabenheit drückt sich auch im folgenden Zitat aus: „Einsamkeit heftet die Seele an jene grossen Bilder (sc. „jene grossen Beyspiele der Tugend, die so gut und so glücklich sind, und so ganz mit unserer Natur übereinstimmen“ III, 446), und so vergisst sie alles was auf Erden an ihr zupft. Sie steiget immer aufwerts, und sieht mit Ekel zurück auf das, was sie in der Welt fesselte um sie zu erniedrigen, und sie hemmte um sie ihrer Stärke zu berauben. Auf dieser Höhe entwickeln sich ihre Bedürfnisse und ihre Kräfte.“ (III, 446/447). Im Brief vom 22. Februar 1793 bezeichnet Zimmermann den jungen Philipp Albert Stapfer als „schöne Seele“. Luginbühl 1890, S. 82. Erhart, Walter, Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Eine Fallstudie, in: IASL 25 (2000), 1. Heft, S. 167. Nationalstolz 1789, S. 128.

402

Grundsatztreue seinen eigenen Prinzipien gegenüber vermag eine lauernde Ungewissheit nicht zu verdecken: Aber die innigste Liebe der Befehle GOTTES und meiner Obrigkeit, die Redlichkeit die Einfalt und die Unschuld meines Herzens, machen mich auch in der trüben Zeit und bey dem Unbestand des Glückes, kräftig genug die Wahrheit wie einen Felsen zu umfassen, wenn von dem Sturme der Leidenschaften getrieben, die Wogen des Irthums und der Vorurtheile an diesem Felsen emporschäumen.14

In Zimmermanns Schriften werden die wenig systematischen Konturen einer Neubestimmung der Natur des Menschen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sichtbar, die auf den ganzen Menschen ausgerichtet ist, bevor sich dieses Bestreben in einzelne Wissenschaftsdisziplinen aufsplittert. Medizinisch-Anthropologisches, säkularisiert Pietistisches und Literarisches bilden wie kommunizierende Gefäße eine Therapiesymbiose, welche den Bedürfnissen der zeitgenössischen Bewusstseinslage offensichtlich entgegenkommt.15 Eine verstärkt auch Soziales einbeziehende, aufklärerisch anthropologische Variante16 zur Weimarer Klassik und ihrer Idee reiner Menschlichkeit, die alle menschlichen Gebrechen sühnt, liegt vor. „In der intakten Welt klassischer Ästhetik sind die Gebrechlichen nicht zu gebrauchen“,17 bei Zimmermann hingegen findet gerade das Pathische und seine Therapierung ein bevorzugtes Interesse. So eindringlich Zimmermann auf empirische Verankerung pocht, sein spezifisches Humanitätsideal ist anthropologisch in dem Sinne, dass Metaphysisches von konstitutiver Bedeutung ist und bleibt, ja sogar den eigentlichen Fluchtpunkt seines Einsamkeitskonzepts ausmacht. Das commercium mentis et corporis bezeugt sich darin, dass das Textkorpus der Einsamkeitsschrift den zur seelischen Befindlichkeit Zimmermanns gehörenden Leib manifestiert, der dem Leser zur Verfügung gestellt wird, indem er den Schriftkörper spiegelbildlich lesend vergeistigt. „Le monde est plein de contradictions“!18 Zimmermanns individuelle Disparatheit ist die Disparatheit seines Zeitalters. Für Zimmermanns Werk wie für Lessings Emilia Galotti trifft zu: „Den auf Ordnung erpichten Gelehrten, der nur klassifizieren möchte, bringen solche Texte zur Verzweiflung. Der echte Historiker ist

14 15

16

17 18

Ruhr 1767, Vorrede, S. X. Vgl. Ackerknecht 1978, S. 228: „Zimmermann ist eine Inkarnation eines seit eh und je existierenden historischen Typus, der durchaus eine wichtige Rolle spielt, aber da er so ausschließlich zu seiner Zeit gehört, dazu tendiert, nach relativ kurzer Zeit total vergessen zu werden“. Bei Zückert beispielsweise lautet dieses Ideal für „unsere zeitliche und ewige Wohlfahrt“ (Zückert 1768, Vorrede, S. 1.): „Allein das heisset Tugend, wenn man seine Lieblings= Neigungen und die angebohrnen Leidenschaften, durch eine lange Uebung, durch Verleugnung seiner selbst, durch Gottseeligkeit und strenge Achtsamkeit auf seine Handlungen, zu bezwingen lernet, und dadurch zu derjenigen Gemüthsruhe gelanget, um deren Besiz Fürsten ihre Kronen vertauschen mögten“ (Zückert 1768, S. 167). Müller-Seidel, Walter, Kafkas „Brief an den Vater“. Ein literarischer Text der Moderne, in: Orbis Litterarum 42(1987), S. 368. Brief Zimmermanns an Haller vom 12. November 1755. Ischer 1907, S. 193.

403

entzückt, wann immer ihm Janusköpfe begegnen“.19 Man denkt auch an das XXVI. Gedicht Homo sum im Buch Einsamkeit in C. F. Meyers Erstling „Huttens letzte Tage“: „Ich bin kein ausgeklügelt Buch. Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch“.20 Der stets gefährdete Meyer, der nach eigenem Zeugnis manches durchgemacht hatte und an Vereinsamung litt, erkannte in seinem Miteidgenossen Zimmermann einen Wahlverwandten, den er in der Schrift Kleinstadt und Dorf um die Mitte des vorigen Jahrhunderts21 porträtierte. Er hebt darin „das reizbare, ja gefährliche Naturell des früh berühmten Mannes“ in „seinem von allen Windstössen der Zeit durchbrausten Kopfe“22 hervor. In statu nascendi kann an Zimmermanns Individualität und seinem Werk ein Anfangskapitel moderner Individualitätsgeschichte exemplarisch studiert werden, welches das Virulentwerden antinomischer Denkformen und Bewusstseinshaltungen offenbar werden lässt. Die konstitutive Widersprüchlichkeit, die unter der Spannung einer seelenmetaphysischen Herzensfrömmigkeit und analysierender Empirieemphase steht, ist Symptom eines Versuchs, das „Land der Ideen“ mit dem „Land der Wirklichkeit“23 zu harmonisieren, eigenmächtige Subjektivitätsinthronisierung und verbindliche religiöse Haltung angesichts eines zunehmenden Empiriedrucks der sich ausdifferenzierenden Wissenschaften zu vereinbaren. Die in der Epoche sich abzeichnende Spezialisierung, Historisierung und Empirisierung verleihen Zimmermanns Schriften eine ambivalente Signatur, sie lassen indessen noch kein Schaudern vor „Autonomiesehnsüchten und Vergewisserungsnöten“ aufkommen, auch nicht ein „Zerfliessen aller metaphysischen Weltorientierung in rettungsloser Subjektivität“, die hinabweisen in die „sinistren Bereiche der ungezügelten Einbildungskraft“.24 Noch wirken bei Zimmermann, kooperierend wie entgegensetzend, drei wichtige Impulse zusammen, die zwischen 1770–1830 im Verhältnis von Wissenschaft und Literatur bezeichnet werden können: die Verdrängung der Wissenschaftssprache Latein, die Einheit des kulturellen Wissens und die Anthropologie als neue Wissenschaft vom 19 20

21

22 23

24

Staiger, Emil, Stilwandel. Studien zur Vorgeschichte der Goethezeit. Zürich und Freiburg i. Br. 1963. Einleitung: Das Problem des Stilwandels, S. 19. C. F. Meyer. Huttens letzte Tage. Sämtliche Werke. 8. Bd. Bern 1970, S. 11. Die Einsamkeit Huttens auf der Ufenau wird von diesem insofern negativ empfunden, als der auf die Sprengung jeglicher Begrenzungen bedachte Tatmensch sich auf seine letzten Tage an eine Insel gebunden sieht. C. F. Meyer, Kleinstadt und Dorf um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Nach einem Manuscripte von Edmund Dorer mitgetheilt von C. Ferdinand Meyer, in: C. F. Meyer. Sämtliche Werke. 15. Bd. Bern 1985. S. 190–222. C. F. Meyer, Kleinstadt und Dorf 1881, S. 191; S. 214. Iselin, Isaak, Philosophische und Patriotische Träume eines Menschenfreundes. Dritte und vermehrte Auflage. Zürich 1762, S. 9. Das Zitat lautet im Kontext: „In dem Lande der Ideen fand ich nichts als Ordnung, Richtigkeit, Tugend, Gerechtigkeit und Erhabenheit. In dem Lande der Wirklichkeit hingegen nichts als Unordnung, Verwirrung, Falschheit, Scheintugend und betrügerische Grösse“. Zimmermann, Harro, Das Projekt Mündigkeit. Kleines Plädoyer für mehr Aufklärung unter Aufklärern, in: Das achtzehnte Jahrhundert 21/2 (1998), S. 193f.

404

Menschen.25 Seine Dissertation ist die einzige auf Lateinisch verfasste Schrift; seinen schriftstellerischen Ruhm verdankt der Erfolgsautor maßgeblich dem Umstand, dass er Deutsch schreibt für eine Leserschaft, die durch einen gemeinsamen Bildungshintergrund verbunden ist. Der wissenschaftliche Diskurs ist noch nicht wie zunehmend im 19. Jahrhundert an den speziellen Kommunikationsraum der Fachliteratur gebunden, weil Gelehrte und Ungelehrte zusammen ein „gebildetes Publikum“ bilden. Und für das integrierende Programm der Grundlagenwissenschaft Anthropologie „erlaubt die wechselseitige Ergänzung und Stellvertretung der Perspektiven in den Fragen nach der Natur des Menschen, nach seiner Physis, seiner Psyche, seiner Fähigkeit zu entscheiden und zu handeln in der Spannung von Antriebskräften der Leidenschaft und der Sittlichkeit“.26 Bei ihm bilden das Gute, Wahre und Schöne, seine der Einsamkeitsthematik abgewonnene Religionsmoral, sein „vitalistisches“ Wissenschaftsverständnis und seine popularwissenschaftlichen Schriften eine Ganzheit, die gleichermassen durch Spannungsweite und Widerspruchsdichte gekennzeichnet ist. Wissenschaft und Moral gehören für Zimmermann zusammen: „Immer wird doch der junge Arzt auch nach seiner moralischen Vervollkommnung trachten, wenn ich ihm zeigen kann, dass man nicht nur einen guten Kopf sondern auch ein gutes Herz haben muss, um ein guter Arzt zu werden“.27 Wer Zimmermann klassifizieren wollte, wird ihn verfehlen.28 Die Widersprüche sind nicht auflösbar, sie sind nicht in ein stimmiges Konzept oder gar eine schlüssige Theorie zu überführen. Seine Zeitgenossenschaft besteht darin, sich als ein Phänomen sui generis epochaler Bestimmung zu entziehen, obwohl er in einem spannungsreichen Wechselspiel von Geben und Nehmen an allen Zeitströmungen partizipiert, doch zu identifizieren mit nur einer von ihnen ist er nicht. Angesichts seiner seismographischen Auffassungsbereitschaft können deshalb Zimmermann und sein Werk nicht auf einen Begriff gebracht werden. Ihr größter gemeinsamer Nenner ist spannungsvolle Widersprüchlichkeit. Die epochale Widersprüchlichkeit reproduziert er unbewusst, sie ist ihm höchstens in Ansätzen auch bewusst. Zimmermanns Ort an der Schnittstelle verschiedener Epochendiskurse ist auch maßgeblich der Begründungsfluchtpunkt für die strohfeuerartige Rezeption seines Werkes und für seinen verlorengegangenen Nachruhm. Mehrere Einzelgründe sind zu benennen. Sein Insistieren auf das epochale Schlüsselwort „Erfahrung“, ohne dabei Kants neue Maßstäbe setzende Transzendentalphilosophie mitzuvollziehen,

25

26 27 28

Vgl. Jörg Schönert, Neue Ordnungen im Verhältnis von „schöner Literatur“ und Wissenschaft. Teil I: 1770–1830, in: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Walter Müller-Seidel zum 75. Geburtstag. Hg. v. Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann. Stuttgart 1997, S. 39–47. Ebd. S. 44. NLB MS XLII 1933, B, 7 (151r). Gerade am Beispiel Zimmermanns wird die missliche „Fragilität“ von Periodisierungsmarkierungen „besonders augenfällig“ (Zelle 1996, S. 165).

405

und seine unverkennbare Nähe zur bislang eher gering geschätzten Popularphilosophie hat sich auf Zimmermanns ausgewirkt wie auch sein epigonales Nachschreiben französischer und englischer Vorbilder, allen voran Rousseau, ohne deren schriftstellerisches Niveau zu erreichen. Goethes karikierende Darstellung in Dichtung und Wahrheit sowie Zimmermanns Emigration an einen ausländischen Fürstenhof sind ebenfalls in Rechnung zu stellen. Mit dem Übergang der Arzneykunst zur wissenschaftlichen Medizin positivistischer Observanz des 19. Jahrhunderts wird darüber hinaus sein Wissenschaftsverständnis antiquiert, obwohl dieses Leib und Seele umfassende Verfahren in jüngster Zeit mit der Forderung nach einer nicht ausschließlich verwissenschaftlichten Medizin29 wieder neu überdacht wird. Und schließlich: viel hing von der unmittelbaren Strahlkraft seiner Persönlichkeit ab, die mit seinem Tod erlosch. Für die Nachwelt blieb durch seine anti-revolutionäre Haltung an ihm vor allem das pejorative Etikett des „Reaktionärs“ haften, das bis heute, offen oder versteckt, in der Forschung nachwirkt. Der popularphilosophische Modeschriftsteller, der er auch war, schrieb überwiegend für ein gebildetes, teils aristokratisches Lesepublikum des Ancien Régime, dessen Untergang Zimmermann mit untergehen ließ. Zimmermanns transitorische Wirksamkeit lässt ihn ein Opfer der geschichtlichen Selektion werden. Er nimmt, mit einem prägnanten Sensorium für zeitgemäß Aktuelles ausgestattet, die Thematik der Einsamkeit auf und verleiht ihr eine Dimension verinnerlichender Subjektivierung. Indem er so den Kairos von einst traf, war er zeitgenössisch erfolgreich. Aus dem damals zeitgerechten „sowohl […] als auch“ ist in der Folgezeit ein „weder […] noch“ geworden. Im Hinblick auf Zimmermanns drei Hauptwerke spricht Tissot zwar davon, dass sie „des sujets absolument neufs“ seien.30 Aufklärerische Gelehrsamkeit bezeugt die Behandlung der Einsamkeitsthematik,31 weil er sowohl enzyklopädisch nahezu alle Wissensdiskurse ausbreitet durch ein verschlungenes Zusammenspiel von Traditionsfestigkeit und Originalitätsanspruch, wie z.B. jener Brief an Haller über 29

30

31

Vgl. Nager, Frank, Gesundheit, Krankheit, Heilung, Tod. Betrachtungen eines Arztes. Akademie 91 Zentralschweiz. Luzern 1997, besonders S. 81ff.: Der Heilkundige von morgen – eine Utopie?. Im 19. Jahrhundert wählte die Medizin „die Naturwissenschaften und die Technik als richtunggebende Maßstäbe“ (Nager 1999, S. 272) bei gleichzeitiger „Reduzierung“ des Menschen. Zimmermann hat im 18. Jahrhundert auf seine Weise Nagers Postulat für das 21. Jahrhundert realisiert: „ist es die vordringliche Aufgabe der Medizin, eine Synthese zwischen naturwissenschaftlich-technischer und geisteswissenschaftlich-humanistischer Kultur anzustreben“ (Nager 1999, S. 272f.). Tissot 1797, S. 116/117. Tissot charakterisiert seine Briefe unter dem Aspekt der Originalität: „ce qui caractérise le vrai génie, une multitude d’idées neuves & justes dont on est frappé, & que l’on retient“ S. 63. B. Merciers hierfür bezeichnende Kürzung in seiner französischen Übersetzung (1788) von Zimmermanns Über die Einsamkeit um vier Fünftel, weil der gesamte Text dem französischen Leser nicht zuzumuten sei, folgt K. H. Heydenreich in seiner Rückübersetzung „für die reifere Jugend beyderley Geschlechts“ von 1797. Vgl. Hans-Ulrich Seifert, J. B. Merciers Übersetzung von Über die Einsamkeit und K. H. Heydenreichs Rückübersetzung. Zur ZimmermannRezeption in Frankreich, in: Schramm 1998, besonders S. 216f.

406

den Plan eines beabsichtigten, jedoch nicht ausgeführten Buches über menschliche Temperamente illlustriert. Zimmermann möchte einerseits seine Vorgänger keinesfalls kopieren, aber andererseits glaubt er, zugleich „une infinité de livres“ zu benötigen, „parcequ’il est necessaire que je sois bien au fait de tout que l’on a dit sur cette matiere avant moi“.32 Tatsächlich ist Zimmermann insofern originell, als er ein Œuvre über die Thematik der Einsamkeit schaffen will, das Wissenschaftlichkeit in seinem Verständnis mit originaler Schöpfung als Ausdruck seiner produktiven „manie d’écrire“33 verbindet. Wenn der Rezensent im Teutschen Merkur 1784 feststellt, dass die beiden ersten Teile „längst gefundene und heutzutag ziemlich allgemein bekannte Wahrheiten“34 enthielten, so ist hinzuzufügen, dass zwar die Thematik nicht „neu“ ist, wohl aber die Art und Weise, wie Zimmermann sie behandelt. Diese Einschätzung teilt eine andere zeitgenössische, aktuell anmutende Besprechung, die zugleich Zimmermanns „frommes Aufklärertum“ und den Erfolg des Werks Über die Einsamkeit beleuchtet: Freylich scheint es, als wenn der Verfasser im Grunde uns nichts neues sagte. Dass wir öfters in unser Kämmerlein gehen und im Gebet Trost und Stärkung finden sollen, lehrt schon die Schrift. Aber wie viele lesen noch wohl die Schrift und erinnern sich des Wortes Gottes? Wie viele andere wohl, als die bitteres Leiden und Trübsal dazu nöthigen? Was Zimmermann schreibt, lockt den Weltling, den Höfling, den Zweifler, den Bibelverächter, so wie den Einsamen, den Bibelfreund, den Altgläubigen; verspricht Unterhaltung und fesselt die Aufmerksamkeit, schleicht sich ins Herz, ohne doch den Verstand unbefriedigt und unerleuchtet zu lassen; wird zu gleicher Zeit Labsal des Geistes und Speise der Seele.35

Die historische Distanz erweist Zimmermanns synthetische Originalität, die Traditionelles neuartig verbindet, ohne original Neues zu schaffen. Ein bahnbrechender Neuerer ist Zimmermann im Ringen mit sich und seiner Zeit nicht, auch kein radikaler Gesellschaftsreformer oder philanthropischer Volkserzieher, eher der synthetisch-originelle Sachwalter einer sich umgestaltenden Wissenstradition, der er als Individualität in jenem Grundbestreben verpflichtet ist und bleibt, „Ganzheit zu erkunden in einer zunehmend entzauberten Welt“.36

32 33 34 35 36

Brief Zimmermanns an Haller vom 12. April 1755. Ischer 1907, S. 153. Brief Zimmermanns an Haller vom 30. April 1755. Burgerbibliothek Bern, N Albrecht von Haller Korr. Johann Georg Zimmermann. Vgl. auch Ischer 1893, S. 235. Der Teutsche Merkur vom Jahre 1784. Drittes Vierteljahr. Weimar 1784. Anzeiger des Teutschen Merkur, August 1784, S. CXVI. Der unterhaltende Arzt. Von Tode, D. Johann Clemens . Viertes Bändchen. Kopenhagen und Leipzig 1789, S. 34. Vgl. Heidbrink, Ludger (Hg.), Entzauberte Welt. Der melancholische Geist der Moderne. München, Wien 1997.

407

Bibliographie

Vorbemerkung Die Bibliographie verzeichnet die im Abhandlungsteil durch Autorname und Publikationsjahr abgekürzt zitierte Primär- und Sekundärliteratur vollständig. Hans-Peter Schramm (Hannover) ließ eine Zimmermann-Bibliographie bis zum Jahre 1995 durch eine unpublizierte Diplomarbeit der Fachhochschule Hannover erstellen, die rund tausend Titel in einer Datenbank unter LARS erfasst: Anke Strohmeier, Johann-Georg-Zimmermann-Bibliographie. Datenbank der Primärund Sekundärliteratur. Hannover: Fachhochschule, Diplomarbeit 1995. Vgl. Schramm 1998, S. 229. Daneben existiert eine Diplomarbeit von Petra Hohls, Zimmermann-Informationen mit Datenverarbeitung ( ZIMD). Anwendungsorientierte Verknüpfung verschiedener LARS-Datenbanken zu Leben und Werk Johann Georg Zimmermanns ( 1728–1795). Hannover: Fachhochschule, Diplomarbeit 1997, die erlaubt, Daten unter gemeinsamen Fragestellungen abzufragen. Vgl. Schramm 1998, S. 229. Die folgende Bibliographie bietet eine selektive, aktualisierte Auswahl mit dem besten Dank an Herrn Prof. Dr. Hans-Peter Schramm, der mir einen Ausdruck der Zimmermann-Bibliographie zur Verfügung stellte, die möglicherweise als Separatum zugänglich gemacht werden wird.

A

Primäre Quellen

1

Ungedruckte Quellen von Zimmermann

Bayerische Staatsbibliothek München. Handschriften- und Inkunabelabteilung. Autogr. Johann Georg Zimmermann. Bibliothèque Cantonale et Universitaire Lausanne / Dorigny. Département des manuscrits. Tissot: Notes sur Zimmermann. IS 3784/I/107/3. Burger Bibliothek Bern (BBB). Briefwechsel zwischen Zimmermann und Tissot. Mss. h. h. VVIII. 71. N Albrecht von Haller Korr. Johann Georg Zimmermann. Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Sammlung Viehweg. V 1692 – V 1696. Niedersächsische Landesbibliothek Hannover (NLB). Zimmermann-Nachlass. Ms XLII 1933, A (Briefwechsel), B (Werke Zimmermanns). Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Dep. 103 XXXV Nr. 182, 2. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Ms. Licht. IV, 37 Bl. 26. Stadtarchiv Hannover, Autographensammlung. Zimmermanniana vgl. „Seelenarzt und armer Tropf. Königlicher Leibarzt Johann Georg Zimmermann 1728–1795. Beschreibung der Zimmermanniana im Stadtarchiv Hannover. Projekt der Fachhochschule Hannover 1994/1995

409

unter Leitung v. Hans-Peter Schramm, Fachbereich Informations- und Kommunikationswesen. Mit einer Einleitung v. Klaus Mlynek. Hannover 1995“, S. 20–40. Staatsarchiv Aarau (STAAG). Briefwechsel zwischen Zimmermann und Jean André Deluc. NL. A – 193 Fasc. 11. Brief von Luise von Wüllen an Jean André Deluc vom 7. 10. 1795. StAAG NL. A–193 Fasc 13. Staatsarchiv Basel-Stadt. Briefe Zimmermanns an Isaak Iselin sowie von Johann Jakob Zimmermann (Sohn) und von Katharina Zimmermann (Tochter) an Iselin u. A. PA 98, 41. Staatsarchiv Osnabrück. Sta Osn / Rep. II, Msc. 12a. Rep. 58d, Nr. 17/LCCIII. Zwei Briefe Zimmermanns an Justus Möser. Staatsbibliothek zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz. Haus II Potsdamer Strasse, Handschriftenabteilung. Briefwechsel zwischen Zimmermann und Nicolai: Nachlass Nicolai, Bd. 84. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (SuUB) Briefe Zimmermanns an Reimarus: Hss-Abt. Nachlass Reimarus. Zimmermann, Z 2–4. Universitätsbibliothek Basel. Fremdenbuch der Universität Basel 1664–1822. AN II 30, 242 r. Brief von Zimmermann an Johann Bernoulli vom 31. 10. 1772. Universitätsbibliothek Basel, Handschriften-Abteilung, L I a 730 fo 99/100. Universitätsbibliothek Leipzig. Sammlung Kestner, II A IV, 2089. Zentralbibliothek Zürich (ZZH). Briefe Zimmermanns an Johann Caspar Hirzel, 1757–1791, 476 Briefe: FA Hirzel 238–240. Musa Germanorum Reipublicae civili bello dissidenti ominosa. Ode (3 S.): FA Hirzel 238.22. Himnus (2 S.). Betr. Hirzels Wahl zum Stadtarzt: FA Hirzel 238.151. Von der Erfahrung in der Arzneykunst (3 S.). Disposition: FA Hirzel 238.51. Briefe Zimmermanns an Lavater (285 Briefe): LavMs. 533.4–219; 534.1–51; 535.1–39. L. A. S., 3 SS., Brugg, 24. Januar 1761, Privatbesitz. Brief Zimmermanns vom 20. Dezember 1791 (unveröffentlicht). Aus: Autographen. Auktion 95 vom 6. Mai 1999, Hartung & Hartung (München).

2

Gedruckte Quellen

2.1 Die Schriften Johann Georg Zimmermanns Dissertatio physiologica de Irritabilitate quam Divinis Auspiciis consensu gratiosae facultatis medicae pro obtinendis Doctoris medici honoribus publice defendet auctor Joannes Georgius Zimmerman, Helveto-Brugensis D. Julii MDCCLI. Goettingae).1 (Ins Italienische übersetzt: Sull’impresibilità e irritabilità di alcune parti de gli animali. Dissertazioni de signori Haller, Zimmermann e Castell. Trasportate in lingua italiana da G. Vincenzo Petrini. Rom 1755, S. 71–132. Auch Neapel 1756, teilweise auch Bologna, „Lettre à M. *** (Herrenschwand), célèbre Médecin à Paris, concernant M. le Professeur de Haller.“ In: Journal Helvétique. Novembre 1752, Tome II, S. 478.2 Tagebuch aus dem Jahre 1753. Hg. v. Carz Hummel in: Brugger Neujahrsblätter 85 (1975), S. 125–140. Nachgelassene Gedichte. Hg. v. Carz Hummel in: Brugger Neujahrsblätter 83 (1973), S. 61–106. Das Leben des Herrn von Haller von D. Johann Georg Zimmermann, Stadt-Physicus in Brugg. Zürich 1755. Historia vitii deglutitionis, quique annorum, sanati. Acta helv. physico-botanico-medica. Basel 1755, Band II, S. 94–101. Die Ruinen von Lissabon, besungen von D. Johann Georg Zimmermann. Schaffhausen 1755 (Raubdrucke im gleichen Jahr in Zürich und Potsdam). Die Zerstörung von Lisabon ein Gedicht von D. Johan Georg Zimermann Stadtphysicus in Brugg. Zürich 1756.

1 2

Zimmermanns Göttinger Dissertation ist die einzige wichtige Schrift, die er auf Lateinisch veröffentlichte. Es handelt sich um die erste und einzige auf Französisch publizierte Schrift Zimmermanns.

410

D. Johann Georg Zimmermann: Gedanken bey dem Erdbeben das den 9. Christm. 1755 in der Schweiz verspühret worden. Zürich im Jenner 1756. Die drei Erdbeben-Gedichte liegen in einem Neudruck vor: Rector 1997. Johann Georg Zimmermann. Die Zerstörung von Lisabon (sic). Die Ruinen von Lissabon. Gedanken bey dem Erdbeben. 1755–1756. (Vergessene Texte des 18. Jahrhunderts. Heft 5. Mit einer Nachbemerkung neu hg. v. Martin Rector und Matthias Wehrhahn. Hannover 1997). Betrachtungen über die Einsamkeit, von D. Johan Georg Zimmermann. Stadtphysicus in Brugg. Zürich 1756. Die Vortheile eines guten Gewissens. Aus dem Englischen übersezet von Johann Georg Zimmermann M. D. Zürich 1756.3 Von dem Nationalstolze. Zürich 1758 (anonym). Weitere Ausgaben: – Dr. Johann Georg Zimmermann, der Sicilianischen Akademie des guten Geschmackes in Palermo und der Schweizerischen Gesellschaft der Wissenschaften Mitglied, Von dem Nationalstolze, Zweite durchaus verbesserte Auflage. Zürich 1760. – Vom Nationalstolze {„Dritte Auflage“}.Wien 1766.4 – J. G. Zimmermann. Vom Nationalstolze. Vierte, um die Hälfte vermehrte, und durchaus verbesserte Auflage. Zürich 1768 – Vom Nationalstolze. Fünfte Auflage. Zürich 1779. – An Essay on National Pride. translated from the german of Mr. Zimmermann. London 1771. – Vom Nationalstolz. Hg. u. eingeleitet v. Konrad Beste. Faksimiledruck der Ersttauflage von 1758. Branschweig 1937 (Die Seltenheiten der Weltliteratur). – Journal helvétique ou recueil de pièces fugitives de la litérature choisie. Neuchâtel. – Oktober 1760, S. 169–174: Lettre de M. le Marquis de Mirabeau à M. **** (Gessner) concernant la Mort d’Abel. – April 1761, S. 410–411: Lettre de Mme du Boccage à M. Gessner.5 Dr. Johann Georg Zimmermann, Mitglied der Königl. Preussischen und Oberbayerischen Akademien der Wissenschaften in Berlin und München, der Akademien in Palermo und Pesaro, der naturforschenden Gesellschaft in Bern, und Stadtphysikus in Brugg Von der Erfahrung in der Arzneykunst. I. Theil. Zürich, bey Heidegger und Compagnie. 1763. II. Theil. Zürich, bey Heidegger und Compagnie. 1764. Neue Auflagen in Zürich 1777, 1786, 1787, 1794. Von der Diät für die Seele. {Geplanter dritter Teil}. Aus dem Nachlass hg. v. Udo Benzenhöfer u. Gisela vom Bruch. Hannover 1995.6 Beschreibung einer Wassersucht und darauf erfolgten Schlafsucht, mit Epileptischen Convulsionen und Blindheit, und der Art wie diese Uebel geheilet worden, in: Abhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 1764. Zweyter Band, S. 187–218. Beschreibung zwoer Pockenkrankheiten, die theils ein kalter Brand, theils nach einer vorhergegangenen auszehrenden Brustkrankheit andere gefährliche Zufälle begleiteten, und der Art wie diese Krankheiten geheilet worden, in: Abhandlungen der naturforschenden Gesellschaft in Zürich 1764. Zweyter Band, S. 385–414. Allgemeine Deutsche Bibliothek. Rezensionen Zimmermanns:.7 Des zweyten Bandes zweytes Stück. Berlin und Stettin 1766. S. 249–253: Kurze Nachrichten von der Arzneygelahrheit. Zimmermann bespricht folgende medizinische Neuerscheinungen:

3 4 5 6

7

Englische Vorlage: Admonitions from the dead. London 1754. Vgl. Bouvier 1925, S. 28. Raubdruck der zweiten Auflage, welcher nach der Vorrede zur vierten Auflage von Zimmermann als dritte bezeichnet wird. Ischer 1893, S. 267f. Zimmermann teilte die zwei Briefe der Redaktion mit. Diese Ausgabe bringt zum ersten Mal den vollständigen Text nach der Handschrift NLB MS XLII 1933, B 11, insgesamt 108 Blatt, nachdem Bouvier als Anhang zu seiner Dissertation 1925 nur etwa zwei Drittel wiedergibt, wobei der Umfang der Auslassungen unklar bleibt („Appendice, Un chapitre inédit de l’expérience en médecine“, S. 241–286). Vgl. Ischer 1893, S. 290. Bouvier 1925, S. 290.

411

David Mackbride, Chirurgi, durch Erfahrungen erläutert e: 1) Von der Gährung der zur Nahrung dienenden Mischungen. 2) Von der Natur und den Eigenschaften der figirten Luft. 3) Von den gegeneinander gehaltenen Kräften und Art zu würken, der verschiedenen Gattungen der Fäulung widerstehender Sachen. 4) Von den Scharbock, nebst einen Vorschlag neue Wege zu versuchen, denselben auf der See entweder zu verhüten oder zu heilen. 5) Von der auflösenden Kraft des Kalks. Aus dem Englischen übersetzt von Conrad Rahn, M.D. Mitglied der Physicalischen Gesellschaft in Zürich. Zürich 1766. Eröfnetes Bruderherz […] Ans Licht gestellt durch den Naturforscher Buess. Zürich 1765. Anleitung zu richtiger Erkänntniss und vernünftigen Heilung der Ruhr, zum besten der Land=Aerzten, herausgegeben von Conrad Rahn, M.D. Zürich 1765. Herrn Anton Störks, Abhandlung von dem sichern Gebrauch und der Nutzbarkeit der Lichtblume. Aus dem Lateinischen übersetzt, und mit einer Vorrede begleitet von Salomon Schinz, M.D. Zürich 1764. Dissertation sur l’inutilité de l’ampuhriftenabteilunger, Chirurgien General des Armées du Roi de Prusse, Traduite et augmentée de quelques Remarques par M.Tissot, D.M. Paris 1764. L’Onanisme, Dissertation sur les Maladies produites par la Masturbation par M.Tissot, M.D. de la Societé Royale de Londres. Troisième edition: considérablement augmentée. Lausanne 1764. S. 272: Morgenländischen Erzählungen. Aus dem Französischen übersetzt, von J.R.F. Zürichschaftlicher Fachprosas Stück. Berlin und Stettin 1766. S. 266/267: Johann Conrad Fäsis […] vollständige Staats- und Erdbeschreibung der ganzen Helvetischen Eifgenossenschaft, derselben gemeinen Herrschaften und zugewanden Orten. Erster Band. Zürich 1765 Des dritten Bandes zweytes Stück. Berlin und Stettin 1766. S. 284: Plan und Avertissement das auf Subscription herauzugebende Leben und vollständige Nachricht von den Werken des Hrn. Ritter Hedlingers betreffend, samt einer Probetafel, deutsch und französisch. Zürich 1764. S. 297–299: Meistertag. Zürich 1765. Le Socrate rustique, ou Description de la conduite économique & morale d’un Paysan Philosophe, traduit de l’allemand de M.Hirzel […] par un officier au Service de France. Seconde edition, corigée & augmentée. Zurich 1764. Entwurf eines moralischen Catechismus für kleine Städte vom 22. Februar 1766, in: Der Erinnerer II, 11. Stück, 13. Merz 1766. Zürich 1766, S. 97–105.8 Traum vom zukünftigen Leben, in: der Erinnerer II, 12. Stück, 20. Merz 1766. Zürich 1766. S. 105–112.9 Von der Ruhr unter dem Volke im Jahre 1765, und denen mit derselben eingedrungenen Vorurtheilen, nebst einigen allgemeinen Aussichten in die Heilung dieser Vorurtheile. Zürich 1767. Neue Auflage: Zürich 1787. Rezension zu Charles Bonnets Betrachtung über die Natur, in: Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten, 22. Jahrgang (1767), XXV. Woche. Samuel André Tissot: Histoire de l’épidemie qui a regné à Lausanne en 1766. Von der Epidemie in Lausanne im Jahr 1766. Aus dem Französischen übersetzt und mit einer Vorrede begleitet von J. G. Zimmermann. Zürich 1767. „L’histoire de ma santé“ (1770). NLB Ms XLII 1933 B 8b. Von der Windepidemie in der Stadt Hannover, und der sogenannten neuen Krankheit, in: Hannoverisches Magazin 1772, S. 65–90. Von den Nervenkrankheiten und einer Hülfe gegen dieselben in einem sauren Elixire. Hannoverisches Magazin 1772, S. 1521–1524. LAVATER, Johann Caspar, Von der Physiognomik, in: Hannoverisches Magazin, 10. Jg., 10.–12. Stück, 3., 10. und 14. Februar 1772, S. 146–153; S. 162–175; S. 178–191.10

8

9

Die Landesbibliothek in Bern bewahrt eine Faksimile des Textes auf, welcher in der Zürcher Zeitung Nr. 35 vom 27. Augustmonat 1784 erschien. Nachdrucke: Mit Skalpell und Federkiel 1995, S. 182–187. Brugger Neujahrsblätter 94 (1984). Nachdruck: Mit Skalpell und Federkiel 1995, S. 190–194.

412

Von der Einsamkeit, in: Hannoverisches Magazin, worin kleine Abhandlungen, einzelne Gedanken, Nachrichten, Vorschläge und Erfahrungen, so die Verbesserung des Nahrungs-Standes, die Land- und Stadt-Wirthschaft, Handlung, Manufacturen und Künste, die Physik, die Sittenlehre und angenehmen Wissenschaften betreffen, gesamelt und aufbewahret sind. Eilfter Jahrgang, vom Jahre 1773. Hannover 1774. Erstes Stück, Freytag, den 1. Januar 1773, S. 1–16; 2. Stück, Montag, den 4. Januar 1773, S. 17–32; 3. Stück, Freytag, den 8. Januar 1773, S. 33– 48; 4. Stück, Montag, den 11. Januar 1773, S. 49–60. Schreiben des Herrn Leib-Medicus Z**(Zimmermann) in H. (Hannover) an einen seiner Freunde: die Unterredung mit Sr. Majestät dem König in Preussen während seines Aufenthalts in Berlin betreffend. 27. Oktober 1771. Giessener Wochenblatt, 9.–12. Januar 1773.11 Des Herrn von Haller Beschreibung einer im Canton Bern, in der Schweiz, im Jahre 1762 beobachteten Epidemie von gallichten und fäulenden Fiebern; von ihm in französischer Sprache, der Academie der Wissenschaften in Paris mitgetheilt, in: Hannoverisches Magazin 1773, S. 306–320.12 Schreiben an den Herausgeber dieser gelehrten Anzeigen über Lavaters physiognomische Fragmente und zwei dieselben betreffenden Broschüren, in: Frankfurter Gelehrte Anzeigen Nr. LIII, de (1981)as über Lavaters physiognomische Fragmente, aus dem Briefe eines Braunschweigischen Gelehrten vom 21. Juni 1775, in: Frankfurter Gelehrte Anzeigen Nr. LIV, den 7. Juli 1775, S. 451–452. Schreiben eines Viehhändlers über die Physiognomik. An ein Wohlgebohrnes Intelligenzcontoir in Hannover. Leipzig 1775.13 Ankündigung und Bitte Hallers Leben betreffend. Hannover 10. Februar 1778.14 Nachruf zu der im Göttingischen Allmanach des Jahres 1778 an das Publikum gehaltenen Rede über Physiognomik, in: Deutscher Merkur 1777, November, S. 106–119. Ueber den Herrn von Haller und seinen Tod, in: Deutsches Museum 1778 I, S. 191. Über einige Einwürfe gegen die Physiognomik und vorzüglich gegen die von Herrn Lavater behauptete Harmonie zwischen Schönheit und Tugend, in: Deutsches Museum 1778 I, S. 193– 198. Johann Caspar Lavater’s Anmerkungen zu einer Abhandlung über Physiognomik im Göttingischen Taschenkalender auf’s Jahr 1778, in: Deutsches Museum I, S. 289–317. Gedruckter Brief „An Herrn Johann Gottlieb Hempel, Königlich=Dänischen Regimentschirurgus zu Fuss“ vom 15. November 1778. Hannoverisches Magazin 1779: Über das Schnacken, S. 453; Über einen hannöverischen Leichenstein. Kleine Aufsätze über verschiedene Gegenstände, in: Hannoverisches Magazin 1779, S. 585–656. Als selbständige Schrift erschienen unter dem Titel: Versuch in anmuthigen und lehrreichen Erzählungen, launigten Einfällen und philosophischen Remarquen über allerley Gegenstände. Zweite, mit einem Fragment und dem Sendschreiben des Herrn Hofrath Kästner’s an den Verfasser vermehrte Auflage. Göttingen 1779 An Herrn Hofrath und Professor Kästner in Göttingen. Hannover. Flugschrift vom 28. October 1779. Schweitzerische Blumenlese. Hg. v. J. Bürkli. Drei Teile. Zürich und Winterthur 1780–1783. 10

11

12

13 14

Erschien auch als selbständige Schrift 1772 in Leipzig mit einer Vorrede von Zimmermann. Zweytes Stück, welches einen in allen Absichten sehr unvollkommnen Entwurf zu einem Werke von dieser Art enthält. Abschrift des Berichts der Audienz, die am 26. Oktober 1771 während fünf Viertelstunden in Sanssouci stattfand, im Staatsarchiv Basel-Stadt PA 98, 41, S. 281–287, datiert Berlin 27. Oktober 1771. Zuerst im Giessener Wochenblatt vom 9.–12. Januar 1773, dann als selbständiger Druck in Gießen, Königsberg, Altona, Hamburg, Berlin und Amsterdam erschienen. Neuabdruck: Abhandlung über das Faulfieber, ein Geschenke für heilende Landärzte. Samt einem Anhange einer fäuligten Epidemie im Kanton Bern von Hrn. von Haller, mit Anmerkungen von Hrn. Leibarzt Zimmermann in Hanover (sic). Solothurn 1786, S. 3–19: Von Klockenbring mit einer Vorrede von Zimmermann. Es handelt sich um eine separat gedruckte Schrift.

413

1780: Ode auf den Krieg. Im Frühling 1758, S. 51–54 1781: Die Geschminkten, S. 146–152, Alecto in der Antichambre eines Grafen und sein Kammerdiener, S. 318 1783: Magister Rübe und sein College (1782), S. 25, Als zwey Mädchen auf einen Maskenball giengen (1782), S. 43, Auf den Tod der Frau E.Tscharner von Kersaz, geboh. von Tavel 1756. bey der Wiege des Kindes, dessen Geburt der Mutter das Leben gekostet hat, S. 199–201, An einen Philosophen, der es nicht übel nahm, wenn man ihn den zweyten Newton nannte, S. 225, Der Eidschärfer, S. 256, Die zween Schachspieler, S. 262, Der hurtige Schachspieler, S. 293. Über den Katholizismus der Fürstin von Dessau, in: Berlinische Monatsschrift 11 (Januar bis Juni 1788), S. 65–82. Über die Einsamkeit. Von Johann Georg Zimmermann Königlich Grossbritannischen Hofrath und Leibarzt in Hannover. Leipzig, bey Weidmanns Erben und Reich. Erster und zweiter Theil 1784; dritter und vierter Theil 1785. Weitere Ausgaben: Über die Einsamkeit. Vier Bde. Troppau 1785/86. Über die Einsamkeit. Vier Bde. Karlsruhe 1787.(Christian Gottlieb Schmieder) Saggio sopra la Solitudine del Sgr. J. G. Zimmermann. Trad. dal Tedesco. Vicenza 1788. De Eenzaamheid, door J. G. Zimmermann, naarhet Hoogduitsch. Amsterdam 1. Teil 1789, 2. Teil 1791, 3. Teil 1791. Über die Einsamkeit. 1.–3. Teil. Karlsruhe 1790.(Christian Gottlieb Schmieder) Von der Einsamkeit. Von J. G. Ritter von Zimmermann. Aachen (bei F. W. Forstmann) 1817 (EtuiBibliothek der deutschen Classiker Nr. XXXII). Über die Einsamkeit im Auszug, 2 Bändchen. Neue Miniatur-Bibliothek 22/23. Hildburghausen 1840. Über die Einsamkeit. 5 Tle. Familien-Bibliothek deutscher Klassiker 53–57. Hildburghausen 1842/43. Meyer’s Groschen-Bibliothek der Deutschen Classiker für alle Stände. Hildburghausen o. J. Eine Anthologie in 300 Bändchen. Eilftes und zwölftes Bändchen. Über die Einsamkeit. Von Joh. Georg v. Zimmermann. Berlin (Verlag von Elwin Staude) 1878. Über die Einsamkeit. Auszug. Mit einer kurzen Biographie Zimmermanns. Berlin 1879. Über die Einsamkeit. Berlin 1903. Über die Einsamkeit. Auszüge aus der vierbändigen Ausgabe Leipzig 1784/85. Hg. v. G. Blumer. Zürich 1982. Übersetzungen: La solitude considérée relativement à l’esprit et au coeur. Ouvrage trad. de l’allemand par J. B. Mercier. Paris 1788. Solitude. Translation of the French of J. B. Mercier. London 1792. Solitude considered with Respect to its Influence upon the Mind and the Heart. London: C. Dilly 1794. Solitude. 2 vol. London 1805. Weitere Übersetzungen: Amsterdam u. Utrecht 1789–1792. Paris 1790, 1825, 1840. London 1791, 1793, 1794, 1797, 1798, 1799, 1800 u. ö. Philadelphia 1793. New York 1796. Dublin 1800. Madrid 1872. Abhandlung über das Faulfieber, ein Geschenke für heilende Landärzte samt einem Anhange einer fäuligten Epidemie im Kanton Bern von Herrn von Haller, mit Anmerkungen von Herrn Leibarzt Zimmermann in Hannover. Solothurn gedruckt und verlegt bey Jos. Gassmann 1786. Berlinische Monatsschrift Zehnter Band. Julius bis December 1787. 1787, Juli, S. 77–79: Erklärung gegen eine Unwahrheit. Eilfter Band. Januar bis Julius 1788. 1788, Januar, S. 65–68: Über den Katholizismus der Fürstin von Dessau. Dreizehnter Band. Januar bis Junius 1789. 1789, Februar, S. 379–382: Eine gegen Gedike und Biester gerichtete Erklärung im Rahmen des Beitrags: „Ein Starkianer, Herr Stark, und Herr Zimmermann; oder drei Definitionen: was heisst apodiktisch, was heisst sich rechtfertigen, und

414

was heisst infam?“ S. 381–382. Mit einer anschliessenden Entgegnung von Gedike und Biester S. 382–395. Ueber Friedrich den Großen und meine Unterredungen mit Ihm kurz vor seinem Tode. Von dem Ritter von Zimmermann, königlich Grossbritannischem Leibarzt und Hofrath. Leipzig 1788. Vertheidigung Friedrichs des Großen gegen den Grafen von Mirabeau. Nebst einigen Anmerkungen über andere Gegenstände von dem Ritter von Zimmermann. Hannover 1788. Fragmente über Friedrich den Großen zur Geschichte seines Lebens, seiner Regierung und seines Charakters. Von dem Ritter von Zimmermann, Königlichen Leibarzt und Hofrath in Hannover, der Academien der Wissenschaften in Petersburg und Berlin, der Gesellschaften der Aerzte in Paris, London, Edinburgh und Kopenhagen und der Societät der Wissenschaften in Göttingen Mitglied. Drei Bände. Leipzig 1790. Memoire an Seine Kaiserlichkönigliche Majestät Leopold den Zweiten über den Wahnwitz unsers Zeitalters und die Mordbrenner, welche Deutschland und ganz Europa aufklären wollen 1791/92.15 Nachricht von einer in Hannover im Monat März und April dieses Jahres errichteten allgemeinen Militär-Association gegen die Aufklärer und Volksaufwiegler in Deutschland, und vorzüglich gegen die Aufwiegler und Verführer des Soldatenstandes, von dem Hofrath und Ritter von Zimmermann, in: Wiener Zeitschrift 1792, II, S. 265–268. Adolphe Freiherr von Knigge dargestellt a. und Demokrat, von dem Hofrath und Ritter von Zimmermann in Hannover, in: Wiener Zeitschrift 1792, II, S. 317–329. Politisches Glaubensbekenntnis des Kaiserlich Abissinischen Exministers, jetzigen Churbraunschweigischen Oberhauptmann und Notarii caesarii publici in der Reichsstadt Bremen, Adolph’s, Freiherrn Knigge. Frankfurt / Leipzig 1792, im Auszug mitgetheilt, in: Wiener Zeitschrift 1792, III, Heft 7, S. 55–65. An die Berlinische Aufklärungspropaganda und an alle ihre Affiliirten (Mai 1792).16 Vorrede datiert vom 25. Juli 1794 zu Beschreibung des Gesund=Brunnens in Selters. Von Johann Friedrich Westrumb. Marburg 1813. S. V–VIII. Zerstreute Blätter vermischten Inhalts, von dem verstorbenen Hofrath und Leibarzt Ritter von Zimmermann in Hannover. Hg. v. einem Freunde des berühmten Mannes (Georg Friedrich Palm). Leipzig 1799: „Von der Einsamkeit. Geschrieben im Anfange des Jahres 1773“, S. 1– 99. Kleine Aufsätze über verschiedne Gegenstände, S. 100–204. Über Schwatzhaftigkeit, S. 205–223. Über das Händeküssen, S. 224–236. Encyclopädische Fragen, die Pedanterey, Pedanten und Pedantinnen betreffend, S. 237–241. Warnung an Eltern, Erzieher und Kinderfreunde, wegen der Selbstbefleckung, zumal bey ganz jungen Mädchen, S. 242–262.17 Gegen eine deutschfranzösische und insbesondere niedersächsische Mode, S. 263–266. Über den Herrn von Haller und seinen Tod, S. 267–270. Anfrage über Dummheit, S. 271–172. Beantwortung der vorstehenden Anfrage, S. 273ff.18

15

16

17 18

Christoph Weiss hat im „Kleinen Archiv des achtzehnten Jahrhunderts; 24“ die Memoire nach der Handschrift im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien mit einem Nachwort neu herausgegeben (St. Ingbert 1995). Vgl. auch Edith Rosenstrauch-Königsberg, Die Denunziation der Aufklärung durch Johann Georg Zimmermann. Zimmermanns Mémoire an Kaiser Leopold II. (1791/92), in: Sie, und nicht Wir: die Französische Revolution und ihre Wirkung auf Norddeutschland und das Reich. Politik und Recht, Literatur und Musik. Hg. v. Arno Herzig. Bd. 1: Norddeutschland. Hamburg 1989, S. 227–244. Zu Lebzeiten Zimmermanns ungedruckt. Vgl. Christoph Weiss, Johann Georg Zimmermanns unveröffentlichte Verteidigungs- und Anklageschrift „An die Berlinische Aufklärungspropaganda und an alle ihre Affiliirten“, in: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Band 2: Frühmoderne. Hg. v. Erich Donnert. Wemar, Köln, Wien 1997, S. 414– 416. Erstdruck: Deutsches Museum 1778 I, S. 452–460. Im Hannoverischen Magazin erschienen 1772: Anfrage über die Merkmale der Dummheit, S. 479ff. und Beantwortung S. 575ff., Gegen eine deustch-französische und insbesondere niedersächsische Mode, S. 1391ff.

415

Mit Skalpell und Federkiel – ein Lesebuch. Hg. v. Andreas Langenbacher. Schweizer Texte. Neue Folge Bd. 5. Hg. Martin Stern, Hellmut Thomke, Peter Utz. Bern 1995.

2.2 Gedruckte Briefe an J. G. Zimmermann Aus dem Briefwechsel des Leibmedicus J. G. Zimmermann aus Hannover, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung München. Nr. 128, Nr. 15, 5. Juni 1891. Ausgewählte Briefe von C. M. Wieland an verschiedene Freunde in den Jahren 1751 bis 1810 geschrieben, und nach der Zeitfolge geordnet. Bd 1–4. Zürich 1815–1816. Aus klassischer Zeit. Briefe des Hofarztes Zimmermann an die Fürstin Louise, in: Anhaltische Geschichtsblätter, 1. Heft, 1925, S. 127–130. Banholzer, Max, Die Solothurner Briefe von Johann Georg Zimmermann von Brugg 1765–1768, in: Jahrbuch für Solothurnische Geschichte. Hg. vom historischen Verein des Kantons Solothurn 70 ( 1997), S. 61–103. Bodemann, Eduard / Julie von Bondeli und ihr Freundeskreis. Wieland, Rousseau, Zimmermann, Lavater, Leuchsenring, Usteri, Sophie Laroche, Frau v. Sandoz u.a. Nebst bisher ungedruckten Briefen der Bondeli an Zimmermann und Usteri. Hannover 1874. – / Johann Georg Zimmermann. Sein Leben und bisher ungedruckte Briefe an denselben von Bodmer, Breitinger, Gessner, Sulzer, Moses Mendelssohn, Nicolai, der Karschin, Herder und G. Forster. Hannover 1878. – Von und über Albrecht von Haller. Ungedruckte Briefe und Gedichte Hallers sowie ungedruckte Briefe und Notizen über denselben. Hannover 1885. – Der Briefwechsel zwischen Kaiserin Katharina II. und Joh. Georg Zimmermann. Hannover u. Leipzig 1906. Bonin, Daniel (Hg.), Johann Georg Zimmermann und Johann Gottfried Herder nach ungedruckten Briefen. Worms 1910. ACHT BISHER UNGEDRUCKTE BRIEFE VON CHR. G. HEYNE AN J. G. ZIMMERMANN, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen 1878, S. 224–238. Funck, Heinrich, Ein neuer Fund über die Persönlichkeit der Frau von Stein, in: Illustrierte Deutsche Monatshefte, Mai 1900, S. 182–187. – / Johann Georg Zimmermann über L. H. Ch.Hölty, in: Studien zur vergleichenden Litteraturgeschichte. Hg. v. Max Koch. 1. Bd., Heft III. Berlin 1901. Hamel, Richard, Briefe von J. G. Zimmermann, Wieland, A. v. Haller an V. B. von Tscharner. Rostock 1881. Habersaat, Sigrid, Verteidigung der Aufklärung. Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten. Teil 2: Editionsband. Friedrich Nicolai (1733–1811) in Korrespondenz mit Johann Georg Zimmermann (1728–1795), S. 13–172, und Christian Friedrich von Blanckenburg (1744–1796). Edition und Kommentar. Würzburg 2001 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; 316). Ischer, Rudolf (Hg.), Johann Georg Zimmermanns Briefe an Haller (1751–1775), in: Neues Berner Taschenbuch. Bern 1904–1912. 1904 (1751–1752), S. 1–57; 1905 (1753–1754), S. 123–173; 1906 (1754–1755), S. 187–240; 1907 (1755), S. 145–209; 1908 (1756–1757), S. 101–164; 1909 (1757–1760), S. 212–277; 1910 (1760–1763), S. 127–197; 1911 (1764–1775), S. 91–170. Luginbühl, Rudolf (Hg.), Briefe von J. G. Zimmermann, E. von Fellenberg, S. Schnell, K. Schnell und G. L. Meyer von Knonau an Philipp Albert Stapfer. Bern 1890. Luginbühl-Weber, Gisela, Lavater, Johann Kaspar – Bonnet, Charles – Bennelle, Jacob. Briefe 1768–1790. Ein Forschungsbeitrag zur Aufklärung in der Schweiz. Halbbd. 1: Briefe; Halbbd 2: Kommentar. Bern 1997. Marcard, Heinrich Matthias, Zimmermanns Verhältnis mit der Kaiserin Katharina II. Bremen 1803. 1773: Etwas über das Händeküssen, S. 65ff. Encyclopädische Fragen die Pedanterei, Pedanten und Pedantinnen betreffend, S. 241ff.

416

Reber, Burkhard (Hg.), Lettres inédites des célèbres médecins Tissot et Zimmermann. Paris 1912. Rengger, Albrecht, Briefe an einige seiner Freunde in der Schweiz. Aarau 1830. Ein Brief Zimmermanns. Mitgeteilt von H. Schollenberger, in: Euphorion. Ergänzungsheft 13. Leipzig 1921, S. 19–21. Suphan, Bernhard (Hg.), Briefe von Goethe und Frau von Stein an Johann Georg Zimmermann. In: Wartburgstimmen, 1. Maiheft. Eisenach u. Leipzig 1904, S. 171–183.

2.3 Streitschriften Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn, oder die deutsche Union gegen Zimmermann. Ein Schauspiel in vier Aufzügen, von Freyherrn von Knigge (August von Kotzebue). O.O. 1790.19 Mit dem Herrn (von) Zimmermann deutsch gesprochen […] von D. Carl Friedrich Bahrdt. Berlin 1790.20 Nicolai, Ernst Anton, Von dem Schmerze. Bemühungen in dem theoretischen und practischen Theile der Arzneywissenschaft zur Beförderung und Aufnahme derselben. 1. Stück. Halle 1749. Nicolai, Friedrich, Freimüthige Anmerkungen über des Herrn Ritters von Zimmermann Fragmente über Friedrich den Großen von einigen brandenburgischen Patrioten. Berlin 1791. Trapp W. {= SPOHR, Georg Ludwig Heinrich}, Doctor Luther an den Ritter v. Zimmermann. O. O. (Braunschweig) 1788.

2.4 Sonstige zeitgenössische Primärliteratur Abel, Jacob Friedrich, Einleitung in die Seelenlehre. Stuttgart 1786. Adelung, Johann Christoph, Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen=und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophsicher Unholden. Sieben Theile. Leipzig 1785– 1789. Allgemeine deutsche Bibliothek, 1766, III, 1, S. 266f. (C. F. Bahrdt), Das Religions-Edikt. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Von Nicolai dem Jüngern. Thenakel 1789. Bahrdt, Carl Friedrich, Mit dem Herrn (von) Zimmermann … deutsch gesprochen. Mit einem Nachwort hg. v. Christoph Weiss. St.Ingbert 1994 (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts 19). Baldinger, Ernst Gottfried, Biographien jetzlebender Aerzte und Naturforscher in und ausser Deutschland. Ersten Bandes erstes Stück. Jena 1768. – Johann Georg Zimmermann, wie er gesund und krank war, in: Neues Magazin für Aerzte. Leipzig 1796, 18. Bd., 2. Stück, S. 121–139.21 Bergk, Johann Adam, Die Kunst, Bücher zu lesen. Nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller. Jena 1799. Bolten, Johann Christian, Gedancken von psychologischen Curen. Halle 1751. Bräker, Ulrich, Sämtliche Schriften. Hg. v. Andreas Bürgi et. al. Dritter Band. Tagebücher 1789– 1798. Bearbeitet von Andreas Bürgi et. al. München u. Bern 1998. Brockes, Barthold Hinrich, Irdisches Vergnügen in Gott bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Sechster Teil. Reprint der Ausgabe 1739. Bern 1970.

19 20 21

Neuausgabe: Deutsche Litteratur=Pasquille. Hg. v. Dr. Franz Blei. Erstes Stück: Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn. Leipzig 1907. Mit einem Nachwort hg. v. Christoph Weiss (= Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts 19). St. Ingbert 1994. Enthält auch ein Verzeichnis aller Schriften, die gegen Zimmermann erschienen sowie Ausführungen über seine Krankheit.

417

Brucker, Johann Heinrich, Der Greuel Der Zauberey und Abergläubischer Künsten, angewiesen in einer Christlichen Warnungs-Predigt. Basel 1727. Bruckerus, Historia Critica Philosophiae. A Mundi Incunabilis ad nostram usque aetatem deducta. Lipsiae 1742–1767. Bürkli, J. (Hg.), Schweitzerische Blumenlese. Drei Teile. Zürich und Winterthur 1780–1783. Brockes, Barthold Hinrich, Irdisches Vergnügen in Gott bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Reprint der Ausgabe 1739. Bern 1970. Carus, Friedrich August, Geschichte der Psychologie. Reprint der Ausgabe Leipzig 1808. Eingeleitet v. Rolf Jeschonnek. Berlin u.a. 1990. Chronik Ulrich Bräker. Auf der Grundlage der Tagebücher 1770–1798. Zusammengestellt und hg. v. Christian Holliger, Claudia Holliger-Wiesmann, Heinz Graber, Karl Pestalozzi. Bern, Stuttgart 1985. Cowley, Abraham, Works. 3 Bde. London 1721. Crugot, Martin, Der Christ in der Einsamkeit. Das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte. Neue verbesserte Auflage. Breslau 1760. Das geistige Zürich im achtzehnten Jahrhundert. Texte und Dokumente von Gotthard Heidegger bis Heinrich Pestalozzi. Hg. v. Max Wehrli. Zürich 1943. Neudruck: Birhäuser Klassiker. Neue Folge. Hg. v. Rémy Charbon. Basel 1989. Denina, Abbé C. G. M., La Prusse littéraire sous Fréderic II, Tome 3, Berlin 1791. Der Teutsche Merkur vom Jahre 1784. Drittes Vierteljahr. Weimar 1784. Anzeiger des Teutschen Merkur. August. Drittes Vierteljahr. Weimar 1785. Anzeiger des Teutschen Merkur. October 1785. Ephemeriden der Menschheit. Redigiert v. W. G. Becker. Leipzig, bey Göschen, Juli-Dezember 1786. Ersch, Johann Samuel, Allgemeines Repertorium der Literatur für die Jahre 1785–1795. Erster Band, enthaltend des systematischen Verzeichnisses in- und ausländischer Schriften Erste Hälfte. Jena 1793. Eunomia. Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts. Von einer Gesellschaft von Gelehrten. Hg. v. Fessler und Fischer. Zweiter Band. Julius bis December. Berlin 1803. Zweiter Band. Julius bis December. Berlin 1804. Fawcett, Benjamin, Observations on the nature, causes and cure of Melancholy, especially of that which is commonly called Religious Melancholy. Deutsche Übersetzung: Über Melancholie, ihre Beschaffenheit, Ursachen und Heilung, vornämlich über die so genannte religiöse Melankolie. Übersetzt v. F. Lehze. Leipzig 1785. Franck-Laroche, G. M. und Riesbeck, J. K., Briefe über das Mönchswesen von einem catholischen Pfarrer an einen Freund. Salzburg und Leipzig 1784. Garve, Christian, Über den Charakter Zollikofers an Herrn Creyssteuer-Einnehmer Weisse in Leipzig. Leipzig 1788. – Über Gesellschaft und Einsamkeit. Breslau 1797. – Über Gesellschaft und Einsamkeit, in: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben. Erster Theil Breslau 1792. Theile 3 und 4. Breslau 1797/1800. Gavin, Antoine, „Le Passe-Par-Tout de l’Eglise Romaine ou Histoire des tromperies des prêtres et des moines“. Tomes 1–3. Londres 1727. Gessner, Salomon, Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Th. Voss. Stuttgart 1973. Goethe, Johann Wolfgang von, Hamburger Ausgabe. Bd. 10: Autobiographische Schriften. Dichtung und Wahrheit. Zu Zimmermann: Dritter Teil, 15. Buch, S. 63–68. Vierter Teil, 19. Buch, S. 160f. – Rezension in den Frankfurter gelehrten Anzeigen zu J. von Sonnenfels’ Über die Liebe des Vaterlandes (1771), in: WA I, 37, S. 269–273. – Sämtliche Werke. Jubiläims-Ausgabe. Schriften zur Naturwissenschaft. Erster Teil. Bd. 39. Stuttgart und Berlin o. J. Haller, Albrecht von, Rezension über J. G. Zimmermann Betrachtungen über die Einsamkeit, in: Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen unter der Aufsicht der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften. Der erste Band auf das Jahr 1757.13. Stück, 29. Januar 1757, S. 120

418

– Artikel Nostalgie, in: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences et des métiers par une société de gens de lettres. Mis en ordre & publié par M. Diderot, & quant à la Partie Mathematique, par M. D’Alembert. Lausanne et Berne 1753. Tome XXIII, S. 122. – De partibus corporis humani sentientibus et irritabilibus» sermo alter quo experimentorum corollaria continentur. Sectio I: De partibus sentientibus lecta est in Societatis Regiae conventu d. 22. April 1752. Sectio II: De partibus irritabilibus praelecta est 6. Maii eiusdem anni, in: Opera anatomica minora. T. I. Lausannae 1763, pp. 405–440. Albrecht von Hallers Gedichte. Hg. u. eingeleitet v. Ludwig Hirzel. (Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz und ihres Grenzgebietes, hg. v. J. Bächtold u. F. Vetter. 3. Bd.). Frauenfeld 1882. Hegner, Ulrich, Beiträge zur nähern Kenntniss und wahren Darstellung Johann Kaspar Lavater’s. Aus Briefen seiner Freunde an ihn, und nach persönlichem Umgang. Hg. v. Ulrich Hegner. Leipzig 1836. Hemsterhuis, François, Traité de désir. Amsterdam 1764–1767. Herders Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Zwanzigster Bd. Berlin 1880. Herder, Johann Gottfried, Werke. Bd. 1. Frühe Schriften 1764–1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985. – Werke. Hg. v. Wolfgang Pross. Bd. II: Herder und die Anthropologie der Aufklärung. München, Wien 1987. Herz, Marcus, Briefe an Ärzte. Zweyte Sammlung. Fünfter Brief: An den Herrn Leibarzt Zimmermann in Hannover. Berlin 1784, S. 215–298. – Versuch über den Schwindel. Zweyte umgeänderte und vermehrte Auflage. Berlin 1791. Hirschfeld, Christian Cay, Theorie der Gartenkunst. Leipzig 1779–85. Bd.°I (1779); Bd. II: Landschaftsteile und zugeordnete Empfindungskategorien (1780). Hirzel, Hans Caspar, Die Wirthschaft eines philosophischen Bauers. 9., vermehrte Auflage. Zürich 1774. Hissmann, Michael, Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt / Leipzig 1777. – Briefe über Gegenstände der Philosophie, an Leserinnen und Leser. Gotha 1778. Historische Litteratur für das Jahr 1784. 9. Stück, September, S. 202. Rezension Über die Einsamkeit. Hoffmann, Aloys, Erläuterungen über einige Stellen der Lebensbeschreibung J. G. Zimmermanns, von Herrn Tissot. Vom Prof. Hoffmann zu Wienerisch-Neustadt, in: Eudämonia oder Deutsches Volksglück. Ein Journal für Freunde von Wahrheit und Recht. Bd. 6 ( 1798 ), S. 97– 127. Hufeland, Christoph Wilhelm, Kunst, das menschliche Leben zu verlängern. Berlin 1797. – Enchiridion medicum oder Anleitung zur medicinischen Praxis. Berlin 1836. Iselin, Isaak, Philosophische und Patriotische Träume eines Menschenfreundes. Dritte und vermehrte Auflage. Zürich 1762. – Versuch über die Geschichte der Menschheit. Frankfurt/M. 1764 u.ö. Jakob, Ludwig Heinrich, Grundriss der Erfahrungs=Seelenlehre. Halle 1791. Journal Helvetique ou recueil de pièces fugitives de literature choisie. Dédié au Roi. Neuchâtel 1760/1761. Kant, Immanuel, Werke in zehn Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983. – Kritik der Urteilskraft. Zweites Buch. Analytik des Erhabenen, in: Bd. 8: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, S. 328–355. – Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Bd. 9: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Erster Teil, S.°33–5o. – Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Bd. 10: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Zweiter Teil., S. 395–690. Keyser, Georg Adam, Ein Büchlein zu Beförderung einfältiger Lebensweisheit unter verständigen, ehrlichen Bürgern und Landleuten von einem oberdeütschen Landmann. Nebst einem Conterfey in Fine. Erfurt 1790. – Meines Vaters Hauschronika. Ein launigter Beytrag zur Lebensweisheit, Menschen- und Weltkunde. Mit Belegen, Anecdoten und Charakterzügen. Herausgegeben von Martin Sachs. Erfurt 1790.

419

– Gespräche über Gallicismen und Germanismen nebst einer Vorrede, welche gelesen werden muss. Im Jahr 1 nach der neüesten Gallischen Zeitrechnung. Erfurt 1790. Krüger, Johann Gottlieb, Grundriss eines neuen Lehrgebäudes der Artzneygelahrheit. Halle 1745. – Versuch einer Experimental=Seelenlehre. Halle und Helmstedt 1756. Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe. HKLA Bd. 1: Jugendschriften Lavaters. Hg. (und mit einer Einführung versehen) v. Bettina Volz-Tobler (2000). – Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniss und Menschenliebe. Leipzig u. Winterthur 1775–1778. Zu Zimmermann: Bd. III, 1777, S. 36–39; S. 336–340. Bd. IV, 1778, S. 16–17. – Schweizerlieder mit Melodieen. 4. Auflage, Zürich 1794. Lessing, Gotthold Ephraim, Berlinische Privilegierte Zeitung vom 17. Mai 1755, 59. Stück, in: Lessing, Werke III, Frühe kritische Schriften. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1972. Werke VIII, Theologiekritische Schriften III, Philosophische Schriften. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1979. Lichtenberg, G. C. Schriften und Briefe. Erster Band: Sudelbücher I. 1. Auflage München 1968 (3. Auflage 1994). 3. Band. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1972. Marcard, Heinrich Matthias, Beytrag zur Biographie des seel. Hofraths und Ritters von Zimmermann vom Leibmedicus Marcard in Oldenburg veranlasst durch die vom Herrn Leibmedicus Wichmann in Hannover herausgegebene Krankheitsgeschichte. Hamburg 1796. Mekel, Johann Friedrich, Tractatus de morbo hernioso congenito singulari & complicato feliciter curato. Berlin 1772. Medicus, Friedrich Caspar, Brief an den Herrn Johann Georg Zimmermann über einige Erfahrungen aus der Arznei=Wissenschaft. Mannheim 1766. Meister, Leonhard, Helvetiens berühmte Männer in Bildnissen von Heinrich Pfenninger, Mahler nebst kurzen biographischen Nachrichten von Leonhard Meister. Zwei Bände. Zürich 1799. J. G. Zimmermann: Bd. 1, S. 313–316. Mendelssohn, Moses, Gesammelte Schriften. Jubiläums-Ausgabe. Bd. 13. Hg. v. Alexander Altmann. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977. Moritz, Karl Philipp, Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. 10 Bde. zu jeweils drei Stücken. Berlin 1783–1793. – Reisen eines Deutschen in Italien. Erster Teil. Frascati, den 10. März (1787), in: K. Ph. Moritz, Werke. Hg. v. H. Günther. Zweiter Band. Frankfurt/M. 1981, S. 208. – Beiträge zur Philosophie des Lebens. 3. Auflage, Berlin 1791. Mosheim, Johann Lorenz von, Versuch einer unpartheiischen und gründlichen Ketzergeschichte. Helmstaedt 1748. Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 38/1 (1798), Rezension zu Über die Einsamkeit, S. 268. Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. 16. Bd. Erstes Stück. Leipzig 1774. Nicolai, Ernst Anton, Vermischung der Musik und der Arzneykunst. Halle 1744. – Von den Gemütsbewegungen. Halle 1746. – Von der Kunst, die Krankheiten aus dem Gesicht zu erkennen. Halle 1748. Nicolai, Friedrich, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. 12 Bde. Berlin und Stettin 1783ff. – Freymüthige Anmerkungen über des Herrn Ritters von Zimmermann Fragmente über Friedrich den Grossen von einigen brandenburgischen Patrioten, 2 Abteilungen, Berlin, Stettin 1791/92. Obereit, Jakob Hermann, Vertheidigung der Mystik und des Einsiedlerlebens gegen Herrn Leibarzt Zimmermann in Hanover (sic). Frankfurt/M. 1775. REZENSION in: ADB, 32. Bd., 1. Stück, Berlin und Stettin 1777, S. 337–342. – Die Einsamkeit der Weltüberwinder: nach inneren Gründen erwogen von einem lakonischen Philanthropen, mit Anmerkungen des Herausgebers. Leipzig 1781. REZENSION in: ADB, 25. Bd., 2. Stück. Berlin und Stettin 1782, S. 464–466. Petrarchae, Francisci, De vita Solitaria. Bernae 1605. (Pezzl, Johann), Briefe aus dem Novizziat. 3 Bändchen. o. O. (Zürich) 1780–1782. (–) Faustin oder das philosophische Jahrhundert. o. O. (Zürich) 1783. Neudruck mit Erläuterungen, Dokumenten und einem Nachwort von Wolfgang Griep. Hildesheim 1982.

420

– Reise durch den Baierschen Kreis. Faksimileausgabe der zweiten erweiterten Auflage von 1784. Mit Vorwort, Anmerkungen und Register von Josef Pfennigmann. München 1973. Platner, Ernst, Briefe eines Arztes an seinen Freund über den menschlichen Körper. Leipzig 1770. – Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Erster Theil. Leipzig 1772. ND, hg. v. Alexander Košenina. Hildesheim 1998. – Neue Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Ästhetik. Erster Band. Leipzig 1790. Pyra, I. J., Über das Erhabene (um 1737). Hg. v. Carsten Zelle. Frankfurt/M. 1991. Recke, Elisa von der, Mein Journal. Elisas neu aufgefundene Tagebücher aus den Jahren 1791 und 1793/95. Hg. v. J. Werner. Leipzig 1927. Richter, Christian Friedrich, Die höchst=nöthige Erkenntnis des Menschen, sonderlich nach dem Leibe und natürlichem Leben, oder ein deutlicher Unterricht, von der Gesundheit und deren Erhaltung. Halle 1715; 9. Aufl. Leipzig 1729; 17. Aufl. Halle 1764 u.ö. Rothe, Imanuel Vertraugott, Handbuch für die medizinische Litteratur nach allen ihren Theilen oder Anleitung zur Kenntnis der besten auserlesenen medicinischen Bücher. Leipzig 1799. Rousseau, Jean Jacques, Œuvres complètes I. Bibliothèque de la Pléiade. Les confessions, autres textes autobiographiques. Edition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond. Paris 1959. F. Schillers sämtliche Werke. Säkularausgabe. Hist. Schriften, Erster Teil, Stuttgart o. J. Schiller, Friedrich, National Ausgabe. Bd. 20, Philosophische Schriften. Hg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962. Semler, Johann Salomo, Unterhaltungen mit Herrn Lavater, über die freie practische Religion; auch über die Revision der bisherigen Theologie. Leipzig 1787. – Neue Versuche die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären. Leipzig 1788. Spalding, Johann Joachim, Die Bestimmung des Menschen. Von neuem verbesserte und vermehrte Auflage mit einigen Zugaben. Leipzig 1768 (= 10. Auflage). Spazier, Carl, Anti-Phädon, oder Prüfung einiger Hauptbeweise für die Einfachheit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele. In Briefen. Leipzig 1785. Srengel, Kurt, Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde. Fünfter Theil. Halle 1803. Stahl, Georg Ernst, Neu-verbesserte Lehre von den Temperamenten, welche bey dieser neuen Auflage mit dem zweyten Theil, der von der Veränderung der Temperamenten handelt, vermehret worden. (Aus dem Lateinsichen übersetzt von Gottfried Heinrich Ulau). Zwei Theile. Leipzig 1723. Stapfer, Philipp Albert. Briefwechsel 1789–1791 und Reisetagebuch. Mit Einführung und Kommentar aus dem handschriftlichen Nachlass hg. v. Adolf Rohr. Aarau 1971. Tissot, Samuel, De la santé des gens de lettres. Lausanne 1768. Réimpression. Présenté par François Azouvi. Genève-Paris 1981. Tissot, Samuel André D., Vie de Zimmermann. Lausanne 1797. Tode, Johann Clemens, Der unterhaltende Arzt. Viertes Bändchen. Kopenhagen und Leipzig 1789. Unzer, Johann August, Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen, mit einer Vorrede vom Gelde begleitet von Herrn Johann Gottlob Krügern. Halle 1746. Mit Textkommentar, Zeittafel und einem Nachwort hg. v. Carsten Zelle. Halle 1995 (Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte: Texte und Dokumente 2). – Philosophische Betrachtungen des menschlichen Körpers überhaupt. Halle 1750. – Der Arzt. 12 Teile. Hamburg 1759–1764. Weikard, Melchior Adam, Der philosophische Arzt. Erstes bis viertes Stück. Berlin und Leipzig 1775–1777. Neuauflage: Erster bis dritter Band. Frankfurt/M. 1798–1799. – Medizinische Fragmenten und Erinnerungen. Frankfurt/M. 1791. – Vermischte medizinische Schriften. Zwei Bde. Frankfurt/M. 1793. Wichmann, Johann Ernst, Johann Georg Zimmermann’s Krankheits-Geschichte. Ein biographisches Fragment für Ärzte bestmmt. Hannover 1796. Wolf, Peter Philipp, Allgemeine Geschichte der Jesuiten von dem Ursprunge ihres Ordens bis auf gegenwärtige Zeiten. Zürich 1789–1792. Zedler, Johann Heinrich, Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Künste und Wissenschaften. 64 Bde. Und 4 Supplementbde. Leipzig und Halle 1731–54. ND Graz 1962.

421

Zehn Briefe von Susanna Katharina von Klettenberg an J. K. Lavater. Hg. v. Heinrich Funck, in: Goethe-Jahrbuch 16 (1895), S. 83ff. Zückert, Johann Friedrich, Von der diätetischen Erziehung der entwöhnten und erwachsenen Kinder bis in ihr mannbares Alter Berlin 1765 mit zweiter Auflage 1771. – Medicinische und moralische Abhandlung von den Leidenschaften. Zweite Auflage. Berlin 1768. – Physikalisch diätetische Abhandlung von der Luft und Witterung und der davon abhangenden Gesundheit der Menschen. Berlin 1770. – Unterricht für rechtschaffene Eltern, zur diätetischen Pflege ihrer Säuglinge. Zweyte verbesserte Auflage. Berlin 1771. – Von den wahren Mitteln, die Entvölkerung eines Landes in epidemischen Zeiten zu verhüten. Berlin 1773. – Medicinisches Tischbuch oder Cur und Präservation der Krankheiten durch diätetische Mittel. Zweite vermehrte Auflage. Frankenthal 1785. – Allgemeine Abhandlung von den Nahrungsmitteln. Zweyte Auflage, mit Anmerkungen von Kurt Sprengel. Berlin 1790.

B

Forschungsliteratur

1

Sekundärliteratur bis 1945

Aner, Karl, Die Theologie der Lessingzeit. Hildesheim 1964 (Nachdruck der Ausgabe Halle 1929). Baechtold, Jakob. Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz. Frauenfeld 1892, S. 669– 674. Behaghel, Otto, Beziehungen zwischen Umfang und Reihenfolge von Satzgliedern, in: Indogerm. Forschungen 25 (1909), S. 110–142. Bernard, Claude, Introduction à l’étude de la médecine expérimentale. Paris 1865. Bodemann, Eduard, Johann Georg Zimmermann. Sein Leben und bisher ungedruckte Briefe an denselben. Hannover 1878. Bouvier, Auguste, Jean Georges Zimmermann. Un représentant suisse du cosmopolitisme littéraire au 18e siècle (Thèse Genève). Genève 1925. – Grosse Schweizer. Hundertzehn Bildnisse zur eidgenössischen Geschichte und Kultur. Zürich 1938, S. 311–318. Brugger Neujahrsblätter für Jung und Alt. Hg. im Auftrag der Kulturgesellschaft des Bezirks Brugg. 38 (1928), S. 5–24. L. Fröhlich, Aus den Jugenderinnerungen von Pfarrer Jakob Emanuel Feer von Brugg (1754–1833). 39 (1929), S. 4–12 der bearbeitete Vortrag von Dr. A. Kielholz vom 28. 10. 1928, gehalten anlässlich der Versammlung Schweizerischer Ärzte. Ermatinger, Emil, Dichtung und Geistesleben der deutschen Schweiz. München 1933. Ernst, Fritz, Vom Heimweh. Zürich 1949. Eynard, Charles, Essai sur la vie de Tissot. Lausanne 1839. Finsler, Georg, Zürich in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Zürich 1884. Fueter, Eduard, Geschichte der exakten Wissenschaften in der Schweizerischen Aufklärung (1680–1780). (Veröffentlichungen der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften XII). Aarau, Leipzig 1941. Funck, Heinrich, Joh. Georg Zimmermann über L.H.Ch.Hölty, in: Studien zur vergleichenden Litteraturgeschichte. Hg. v. Max Koch. 1. Bd., Heft III. Berlin 1901. – Zimmermann als Charakterologe. Sein Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten, in: Euphorion 27 ( 1926), S. 521–534. Huch, Ricarda, Johann Georg Zimmermann, Friedrichs des Grossen letzte Tage. Erinnerungen von J. G. Zimmermann. Mit Zimmermanns tragischer Biographie. Basel 1920. Ischer, Rudolf, Johann Georg Zimmermann’s Leben und Werke. Litterarhistorische Studie. Diss. Bern 1893. – Nachträge zu Johann Georg Zimmermann, in: Euphorion 4(1897), S. 550–557.

422

– J. J. Rousseau und J. G. Zimmermann, in: Neues Berner Taschenbuch 1899, S. 249–266. – Johann Georg Zimmermann, in: Allgemeine Deutsche Biographie 45. Bd. 1900, S. 273–277. – Neue Mitteilungen über Zimmermann, in: Euphorion 8 (1901), S. 625–639. Kayserling Meyer, Moses Mendelssohn und Joh. G. Zimmermann, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums. Leipzig 1882. 46. Jg. Nr. 36–38. S. 580–582, S. 613–614, S. 629–630. Keyser, Georg Adam, Ein Büchlein zu Beförderung einfältiger Lebensweisheit unter verständigen, ehrlichen Bürgern und Landleuten von einem oberdeütschen Landmann. Nebst einem Conterfey in Fine. Erfurt 1790. – Meines Vaters Hauschronika. Ein launigter Beytrag zur Lebensweisheit, Menschen- und Weltkunde. Mit Belegen, Anecdoten und Charakterzügen. Herausgegeben von Martin Sachs. Erfurt 1790. – Gespräche über Gallicismen und Germanismen nebst einer Vorrede, welche gelesen werden muss. Im Jahr 1 nach der neüesten Gallischen Zeitrechnung. Erfurt 1790. Langen, August, Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus. Darmstadt 1965 (Unveränderter reprographischer Nachdruck der Ausgabe Jena 1934). Larousse, Pierre, Grand Dictionnaire universel du XIXème siècle. Artikel «Zimmermann» Bd. 15, S. 1485 (Paris 1876) und Artikel Solitude Bd. 14, S. 848f. (Paris 1875). Maduschka, Leo, Das Problem der Einsamkeit im 18. Jahrhundert, im besonderen bei J. G. Zimmermann. Diss. München 1932. Maier, Heinrich, Lavater als Philosoph und Physiognomiker, in: Johann Kaspar Lavater (1741– 1801). Denkschrift zur hundersten Wiederkehr seines Todestages. Hg. v. d. Stiftung von Schnyder von Wartensee. Zürich 1902, S. 353–484. Melzer, Friso, J. G. Zimmermanns „Einsamkeit“ in ihrer Stellung im Geistesleben des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Phil. Diss. Breslau 1930. Meyer, Conrad Ferdinand, Kleinstadt und Dorf um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Nach einem Manuscripte von Edmund Dorer mitgetheilt von C. Ferdinand Meyer. Zürich 1881. Auch in: C. F. Meyer, Sämtliche Werke. 15. Bd.: Clara. Entwürfe. Kleine Schriften. Hg. v. Rätus Luck. Bern 1985, S. 190–222. Meyer Kayserling, Moses Mendelssohn und Johann Georg Zimmermann, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums. Leipzig 1882. 42. Jg. Nr. 36–38, S. 613–614, S. 629–630. Milch, Werner, Die Einsamkeit. Zimmermann und Obereit im Kampf um die Überwindung der Aufklärung (Die Schweiz im deutschen Geistesleben, 83–85). Frauenfeld u. Leipzig 1937. Minor, Jacob, Einleitung zu Fabeldichter, Satiriker und Popularphilosophen des 18. Jahrhunderts ( Lichtwer, Pfeffel, Kästner, Göckingk, Mendelssohn und Zimmermann), in: Kürschner Deutsche National-Litteratur Bd. 73, S. 331–501. Mörikofer, Johann Caspar, Zimmermann, ein Repräsentant der Sturm- und Drangzeit, in: Die schweizerische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1861, S. 299–310. Nadler, Josef, Literaturgeschichte der deutschen Schweiz. Leipzig u. Zürich 1932. Nietzsche, Friedrich, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzini Montinari. III / 1. Berlin u. New York 1972. Panofsky, Erwin, Hercules am Scheideweg und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst. Leipzig u.a. 1930 (Studien der Bibliothek Warburg Bd. 18). Petersen, Julius, Hauptmomente in der geschichtlichen Entwicklung der medicinischen Therapie. Kopenhagen 1877 (Reprint Hildesheim 1966).22 – Hauptmomente in der älteren Geschichte der medicinischen Klinik. Kopenhagen 1890. Rehm, Walter, Der Dichter und die neue Einsamkeit. Zeitschrift für Deutschkunde 45 ( 1931), S. 545–565. Rohlfs, Heinrich, Der Ritter v. Zimmermann, in: Die medicinischen Classiker Deutschlands. Erste Abtheilung. Stuttgart 1875, S. 82–134. Mit Bibliographie S. 82–/83 und S. 132–134. Rosenthal, Bronislawa, Der Geniebegriff des Aufklärungszeitalters (Lessing und die Popularphilosophen). Berlin 1933 (Germanische Studien, Heft 138). Nachdruck: Nendeln 1967.

22

Zu Zimmermanns Erfahrungsbegriff: S. 133–137.

423

Rothert, Wilhelm, Die beiden Antipoden Knigge und Zimmermann, in: Allgemeine hannoversche Biographie. Dritter Band: Hannover unter dem Kurhut 1646–1815. Hannover 1916, S. 329– 347. Schweizerische Medizinische Wochenschrift 58 ( 1928), Nr. 49 vom 8. Dezember 1928. S. 1197– 1222. (Zimmermann – Sondernummer anlässlich seines 200. Geburtstags. Enthält folgende Beiträge: – Bouvier, A., Jean-Georges Zimmermann. A l’occasion du deuxième centenaire de sa naissance, S. 1197–1200. – Sigerist, H. E., Johann Georg Zimmermann, S. 1200–1202. – Karcher, J., Johann Georg Zimmermann m.D. Stadtphysikus von Brugg, S. 1202–1212. – Kielholz, A., Johann Georg Zimmermann und die Psychiatrie, S. 1212–1215.23 – Temkin, O., Zimmermann’s Philosophie des Arztes, S. 1215–1218. – Gottfried Keller und J. G. Zimmermann, S. 1221–1222. – Jullie Bondeli an ihren Freund Johann Georg Zimmermann in Brugg, S. 1222. Stricker, W., Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker. Hg. v. A. Hirsch. Fünfter Band. Berlin und Wien 1934, S. 1042–1043. Unger, Rudolf, Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. 2 Bde. Jena 1911. Wehrli, Max, Das geistige Zürich im 18. Jahrhundert. Texte und Dokumente von Gotthard Heidegger bis Heinrich Pestalozzi. Zürich 1943 (Reprint Basel 1989). Weinhold, Karl, Johann Christian Boie. Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Halle 1868. Wernle, Paul, Der Schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert. 3 Bde. Tübingen 1923– 1925.

2

Sekundärliteratur nach 1945

Ackerknecht, Erwin H. / BUESS Heinrich, Kurze Geschichte der grossen Schweizer Ärzte. Bern 1975. Kapitel Aufklärung: S. 34–45. – Johann Georg Zimmermann (1728–1795). Zu seinem 250. Geburtstag, in: Gesnerus 35 (1978), S. 224–229. Albrecht, Wolfgang, Deutsche Spätaufklärung. Ein interdisziplinärer Forschungsbericht bis 1985. Halle a.d. Saale 1987. Alewyn, Richard, Maler Müllers heidnische Landschaft, in: R. A., Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt/M. 1974, S. 251–254. Altmayer, Claus, Aufklärung als Popularphilosophie. Bürgerliches Individuum und Öffentlichkeit bei Christian Garve (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft. Hg. v. Karl Richter u.a. Bd. 36). St. Ingbert 1992. Anthropologie und Literatur um 1800. Hg. v. Jürgen Barkhoff und Eda Sagarra (Publications of the Institute of Germanic Studies, Vol. 54; 6. germ. Kolloquium am Trinity College 1991 in Dublin). München 1992. Arnold H. L. und Detering H. (Hg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 1996. Bachmann, Dieter, Der kürzere Atem. Salzburg und Wien 1998. Begemann, Christian, Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung. Zu Literatur und Bewusstseinsgeschichte im 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1987. Behle, Carsten, „Ihr lebt alle in Arcadien wenn ihr wollt“. Johann Georg Zimmermanns Einsamkeit und das „arkadische Modell“ in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, in: C. B.: „Heil dem Bürger des kleinen Städtchens“. Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit; Bd. 71. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext. In Verbindung mit der Forschungsstelle

23

Vgl. auch Arthur Kielholz, Johann Georg Zimmermann zum zweihundertsten Geburtstag. Ein pathographischer Versuch, in: Imago 25 (1929), S. 241–262.

424

Literatur der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück hg. v. Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt), S. 191–275. Benzenhöfer, Udo, Psychiatrie und Anthropologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Schriften zur Wissenschaftsgeschichte Bd. 11, S. 179–202: Bibliographia anthropologica 1501–1848). Hürtgenwald 1993. – Zum Leben und zum Werk von Johann Georg Zimmermann (1728–1795) unter besonderer Berücksichtigung des Manuskripts Von der Diät für die Seele, in: Johann Georg Zimmermann, Von der Diät für die Seele. Hg. v. U. Benzenhöfer und G. vom Bruch. Hannover 1995, S. 1–35. Beschreibung der Zimmermanniana im Stadtarchiv Hannover. Projekt der Fachhochschule Hannover. Fachbereich Informations- und Kommunikationswesen 1994/95. Leitung HansPeter Schramm. Hannover 1995. Beutel, Albrecht, Halb Affe und halb Engel. Der „ganze Mensch“ als konstitutive Utopie der Anthropologie Georg Christoph Lichtenbergs, in: Der „ganze Mensch“. Perspektiven lebensgeschichtlicher Individualität. Festschrift für Dietrich Rössler. Hg. v. V. Drehsen u.a. Berlin 1997, S. 19–36. Bezold, Raimund, Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg 1984 (Epistemata; Bd. 14). Bircher, Martin, Johann Georg Zimmermann (1728–1795), in: Deutsche Schriftsteller im Porträt. Das Zeitalter der Aufklärung. Hg. v. Jürgen Stenzel. München 1980, S. 190f. – Idyllen der Gesundheit, in: Gesundheit und Krankheit im 18. Jahrhundert. Hg. v. Urs Boschung und Helmut Holzhey. Amsterdam, Atlanta 1995 (Clio Medica 31), S. 57–68. Blanke, Horst Walter u. Rüsen (Hg.), Jörn, Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens. Paderborn u.a. 1984 (Historisch-politische Diskurse 1). – Historiographiegeschichte als Historik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991. Bödeker, Hans Erich, Artikel Anthropologie. In: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. Hg. v. Werner Schneiders. München 1995, S. 38/39. Böhme, Hartmut und Gernot. Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/M. 1992. Böhr, Christoph, Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart, Bad Cannstatt 2003 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung. Hg. v. Norbert Hinske, Lothar Kreimendahl und Clemens Schwaiger. Abt. II: Monographien, Bd. 17). Bonjour, Edgar, Theodor Kocher, in: Die Schweiz und Europa. Ausgewählte Reden und Aufsätze zu seinem 60. Geburtstag am 21. August 1958. Hg. v. Freunden und Schülern. Basel 1958, S. 291–302. Bonstettiana. Historisch-kritische Ausgabe der Briefkorrespondenzen Karl Viktor von Bonstettens und seines Kreises 1753–1832. Mit Einl. und Komm. hg. v. Doris und Peter Walser-Wilhelm. Bern 1998. Teilbd. VII/1. Borchmeyer, Dieter, Goethes Annäherung an die Romantik. Das Spätwerk. Summe des Schaffens: Faust, in: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart I/2. Hg. v. V. Zmegac. Königstein/Ts. 1978, S. 178–215. Boschung, Urs und Holzhey, Helmut (Hg.), Gesundheit und Krankheit im 18. Jahrhundert (Clio Medica 31). Amsterdam, Atlanta 1995. Brandstetter, Gabriele, Poetik der Kontingenz. Zu Goethes Wahlverwandtschaften, in: JbSG 39 (1995), S. 130–145. Brinkmann, Richard, Zur Genese und Aporie des modernen Individualitätsbegriffs. Goethes Werther und Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie, in: R. B., Wirklichkeiten. Essay zur Literatur. Tübingen 1982, S. 91–126. Bürger, Thomas, Aufklärung in Zürich: die Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner, Füssli & Comp. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie der Verlagswerke 1761– 1789. Frankfurt/M. 1997. Chevalier, Tracy (Hg.), Encyclopedia of the Essay. London u. Chicago 1997. Debrunner, Albert M., Das güldene schwäbische Alter. Johann Jakob Bodmer und das Mittelalter als Vorbildzeit im 18. Jahrhundert. Würzburg 1996 (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft Bd. 170).

425

Dehrmann, Mark-Georg, Produktive Einsamkeit. Studien zu Gottfried Arnold, Shaftesbury, Johann Georg Zimmermann, Jacob Hermann Obereit und Christoph Martin Wieland. Hannover 2002. Delon, Michel, Débauche, Libertinage, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. Hg. v. Rolf Reichardt u. Hans-Jürgen Lüsebrick. München 1992, Heft 13, S. 7–45. Der ganze Mensch: Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Hg. v. Jürgen Schings (Germanistische Symposien. Berichtsbände, XV). Stuttgart, Weimar 1994. Dinges, Martin, Medicinische Policey zwischen Heilkundigen und „Patienten“, in: Karl Härter (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft. Frankfurt/M. 2000, S. 263–295. – Medizinische Aufklärung bei Johann Georg Zimmermann. Zum Verhältnis von Macht und Wissen bei einem Arzt der Aufklärung, in: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Martin Fontius und Helmut Holzhey. (Aufklärung und Europa: Beiträge zum 18. Jahrhundert). Berlin 1996, S. 137–150. Dittrich, Wolfgang, Erzähler und Leser in C. M. Wielands Versepik. Diss. Freie Universität Berlin 1971. Berlin 1974. Dürbeck, Gabriele, Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998. Ego, Anneliese, Animalischer Magnetismus oder Aufklärung. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zum Konflikt um ein Heilkonzept im 18. Jahrhundert (Epistemata Literaturwissenschaft, Bd. 68). Würzburg 1991. Eibl, Karl, Abgrund mit Geländer. Bemerkungen zur Soziologie der Melancholie und des „angenehmen Grauens“ im 18. Jahrhundert, in: Aufklärung 8/1 (1993), S. 3–14. Ellenberger, Henry F., Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Zürich 1985. Emch-Deriaz, Atoinette, A propos de l’expérience en médecine de Zimmermann, in: Canadian Bulletin of Medical History 9 ( 1992), S. 3–15. – Orgueil national et santé privé, in: Gesundheit und Krankheit im 18. Jahrhundert. Hg. v. H. Holzhey und U. Boschung. Amsterdam-Atlanta 1995, S. 157–169. Erhart, Walter, Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Eine Fallstudie, in: IASL 25 (2000), 1. Heft, S. 159–168. Ermatinger, Emil, Gottfried Kellers Leben. Mit Benutzung von Jakob Baechtolds Biographie. Zürich 1950. Fink, Gonthier-Louis, L’ermite dans la littérature allemande, in: Etudes Germaniques 18 (1963), S. 167–199. Fischer-Homberger, Esther, Die Verwahrlosungstendenz der Hypochondriebegriffe im 18. Jahrhundert, in: Hypochondrie, Melancholie bis Neurose. Krankheiten und Zustandsbilder. Bern, Suttgart, Wien 1970, S. 52–57. Foucault, Michel, Naissance de la clinique. Paris 1963. Ire édition „Quadrige“ Paris 1988. Froesch, Anette, Das Luisium bei Dessau. Gestalt und Funktion eines fürstlichen Landsitzes im Zeitalter der Empfindsamkeit. München, Berlin 2002 (Forschungen zum Gartenreich DessauWörlitz 1). Frühwald, Wolfgang, Die Entdeckung des Leibes. Über den Zusammenhang von Literatur und Diätetik in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Mitteilungen aus dem Brenner Archiv 10 (1991), S. 13–23. Fues, Wolfram Malte, Wanderjahre im Hypertext, in: Klassik und Anti-Klassik. Goethe und seine Epoche. Hg. v. Ortrud Gutjahr u. Harro Segeberg. Würzburg 2001, S. 137–156. Gamper, Michael, Die Natur ist republikanisch. Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert. (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft Bd. 247). Würzburg 1998. Geyer-Kordesch, Johanna, Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preussen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls. Tübingen 2000 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 13). Grimm, Gunter E., Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983. Gruenter, Rainer, Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte, in: GRM NF III (1953), S. 110–120.

426

Gurtner, Matthias Lorenz, Die Temperamente und die Leidenschaften als Krankheitsursachen: Johann Georg Zimmermanns (1728–1795) Von der Erfahrung in der Arzneykunst im Vergleich mit drei seiner Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der Somatopsychosomatik im 18. Jahrhundert. Diss. med. Universität Bern 1998. Haase, Carl, Knigge contra Zimmermann. Die Beleidigungsklage des Oberhauptmanns Adolph Franz Friedrich Freiherr Knigge ( 1752–1796) gegen den Hofmedicus Johann Georg Ritter v. Zimmermann ( 1728–1795), in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 57 ( 1985), S. 137–160. Habersaat, Sigrid, Verteidigung der Aufklärung. Freidrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten der Aufklärung. Teil 1. Würzburg 2001 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft ; 316). Haefs, Wilhelm, Staatsmaschine und Musentempel. Von den Mühen literarisch-publizistischer Aufklärung in Kurbayern unter Max III. Joseph (1759–1777), in: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700–1848). Festschrift für Wolfgang Martens. Hg. v. Wolfgang Frühwald u.a. Tübingen 1989, S. 85–129. – Aufklärung in Altbayern. Leben, Werk und Wirkung Lorenz Westenrieders. Neuried 1998. Häntzschel, Günter, Literatur Lexikon, hg. v. Walther Killy, Band 12, 1992, S. 498–500. Hartwig, Rolf, Die hypochondrisch-depressive Grundstimmung im Leben und in den Werken des Arztes und Popularphilosophen Johann Georg Zimmermann. Düsseldorf 1948. Hausen, Karin u. Nowothny, Helga (Hg.), Wie männlich ist die Wissenschaft? Frankfurt/M. 1990. – Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstössigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte: Herausforderungen und Perspektiven. Hg. v. Hans Medick u. AnneCharlott Trepp. Göttingen 1998 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenchaft Bd. 5). Heck, Jürgen Peter, Die Leidenschaften als ärztliches Problem im Aufklärungszeitalter. Diss. med. München 1962. Heidbrink, Ludger (Hg.), Entzauberte Zeit. Der melancholische Geist der Moderne. München, Wien 1997. Heinicke, Wilfried, Die Leiden der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau ( 1750–1811). Einer medizinihistorisch-biografischen Betrachtung zweiter Teil, in: Heimatliches Jahrbuch für Dessau und Umgebung 39 ( 1995 ), S. 28–37. – Die Schweizer Ärzte der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau. Ein Beitrag zu den Beziehungen Anhalt-Dessaus zur Schweiz im 18. Jahrhundert, in: Dessauer Kalender 45 (2002), S. 16–27. Heinz, Jutta, Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 6; Diss. Univ. Erlangen, Nürnberg 1995). Berlin, New York 1996. – Erzählen statt Klassifizieren. Wezels Theorie der Empfindungen in seinem Versuch über die Kenntnis des Menschen im Kontext zeitgenössischer Affektenlehren, in: Johann Karl Wezel (1747–1819). Hg. v. A. Kosenina u. Ch. Weiss. St. Ingbert 1997 (Literatur im historischen Kontext; Bd. 2), S. 237ff. – ‚Gedanken‘ über Gott und die Welt. Die Erprobung der Anthropologie im Essay bei Meier, Krüger und Nicolai, in: Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der deutschsprachigen Frühaufklärung. Hg. v. Carsten Zelle. Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 19), S. 141–155. Heise, Jens, Johann Gottfried Herder zur Einführung. Hamburg 1998. Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770–1830. Hg. v. Hellmut Thomke, Martin Bircher und Wolfgang Pross. Amsterdam, Atlanta 1994. Henning, Hans, Wezels Beitrag zur Aufklärungsphilosophie. Der Versuch über die Kenntnis des Menschen 1784/85, in: Neues aus der Wezel-Forschung 2 (1984), S. 18–30. Herwig, Henriette, Das ewig Männliche zieht uns hinab: Wilhelm Meisters Wanderjahre: Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie. Tübingen und Basel 1997. Holzhey, Helmut, Der Philosoph für die Welt – eine Chimäre der deutschen Aufklärung? In: Esoterik und Exoterik der Philosophie. Basel 1977, S. 117–138. – Art. Popularphilosophie, in: Hist. Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. Darmstadt 1989, Sp. 1093–1100.

427

Honegger, Claudia, Die Ordnung der Geschlechter: die Wissenschaften vom Menschen und das Weib; 1750–1850. Frankfurt a.M. / New York 1991. Zweite Auflage 1992. Huerkamp, Claudia, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert: vom gelehrten Stand zum professionellen Experten: das Beispiel Preußens. Göttingen 1985. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 68). Im Hof, Ulrich, Aufklärung in der Schweiz, Bern 1970. – Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. München 1982. – / DE CAPITANI, François. Die Helvetische Gesellschaft. Spätaufklärung und Vorrevolution in der Schweiz. Band 1: Die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit in der Schweiz. Band 2: Die Gesellschaft im Wandel. Frauenfeld und Stuttgart 1983. – Pietismus und ökumenischer Patriotismus. Zu Lavaters „Schweizerliedern“, in: Hoffnung der Kirche und Erneuerung der Welt. Festschrift für Andreas Lindt. Göttingen 1985, S. 94–110. – Das Europa der Aufklärung. München 1993. – Friedrich II. und die Schweiz, in: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Hg. M. Fontius u. H. Holzhey. Berlin 1996, S. 15–32. Jacob-Friesen, Holger, Profile der Aufklärung. Friedrich Nicolai – Isaak Iselin. Briefwechsel (1767–1782). Edition, Analyse, Kommentar. Schweizer Texte. Neue Folge – Bd. 10. Bern u.a. 1997. Jäger, Hans-Wolf, Mönchskritik und Klostersatire in der deutschen Spätaufklärung, in: Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland. Hg. v. H. Klueting u.a. Hamburg 1993, S. 192–207. – Landschaft in Lehrdichtung und Prosa des 18. Jahrhunderts. Drei kleine Kapitel, in: Landschaft und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. H. Wunderlich. Heidelberg 1995, S. 51– 66. Jamme, Christoph, Entwilderung der Natur. Zu den Begründungsformen einer Kulturgeschichte der Natur bei Schiller, Hölderlin und Novalis, in: Evolution des Geistes. Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte. Hg. v. Friedrich Strack. Stuttgart 1994, S. 578–597. Jenal, Georg, Italia ascetica atque monastica. Das Asketen- und Mönchtum in Italien von den Anfängen bis zur Zeit der Langobaarden ( ca. 150/250–604). (Monographien zur Geschichte des Mittelalters. Hg. v. Friedrich Prinz; Bd. 39). 2 Bde. Stuttgart 1995. Jorgensen, Sven Aage, Das Genie. Witz, Einbildungskraft und Originalität, in: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begründet v. Helmut de Boor u. Richard Newald. Bd. 6 Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik: 1740–1789. V. Sven Aage Jorgensen et al. München 1990, S. 112–117. Kaegi, Werner, Jacob Burckhardt. Eine Biographie. Bd. II: Das Erlebnis der geschichtlichen Welt. Basel 1950. Kaeser, Rudolf, Arzt, Tod und Text: Grenzen der Medizin im Spiegel deutschsprachiger Literatur. München 1998 (Habil. Schrift Univ. Zürich 1996/97). Käuser, Andreas, Die anthropologische Theorie des Körperausdrucks im 18. Jahrhundert. Zum wissenschaftlichen Status der Physiognomik, in: Leib-Zeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hg. v. Rudolph Behrens u. Roland Galle. Würzburg 1993, S. 41–60. – Anthropologie und Physiognomik im 18. Jahrhundert. Besprechung einiger Neuerscheinungen, in: Das 18. Jahrhundert 20/1 (1996), S. 73–80. Kafka, Franz, Kritische Ausgabe. Tagebücher. Hg. v. H. G. Koch u. A., Frankfurt/M. 1990 (KKAT). Karger-Decker, Bernt, An der Pforte des Lebens. Wegbereiter der Heilkunde im Porträt. Zweiter Band: René Hyacinthe Laënnec bis Johann Georg Zimmermann. Berlin 1991. Kamber, Urs Viktor, Johann Jakob Hottinger: Briefe von Selkof an Welmar. Herausgegeben von Welmar. Zürich 1777. Zu einer rationalistischen Version des Briefromans im 18. Jahrhundert, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 47 (1973), Heft 3, S. 381–399. Kehn, Wolfgang, Die Gartenkunst der deutschen Spätaufklärung als Problem der Geistes- und Literaturgeschichte, in: IASL 10 (1985), S. 195–224.

428

Kimmich, Dorothee et. al. (Hg. u. komm.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart 1996. Koch, Hans-Albrecht, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Eine praxisorientierte Einführung für Anfänger. (Wiss.Buchgesell.) Darmstadt 1997. Koschorke, Albrecht, Körperströme und Schriftverkehr: Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999 (Habil.-Schrift Freie Univ. Berlin). Koselleck, Reinhart, Historia magistra vitae, in: Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag. Stuttgart u.a. 1967, S. 196–219. Košenina, Alexander, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der „philosophische Arzt“ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul. Würzburg 1989 (Epistemata Literaturwissenschaft, Bd. 35). Kunz, Reinhard, Johann Caspar Lavaters Physiognomielehre im Urteil von Haller, Zimmermann und anderen zeitgenössischen Ärzten. Diss. med. Zürich 1970 (Zürcher medizinhistorische Abhandlungen N. R. 71). Kurth-Voigt, Liselotte E., Zimmermanns Über die Einsamkeit (1784/85): Zur Rezeption des Werkes, in: Modern Language Notes, Vol. 116/ Nr. 3, April 2001, S. 579–595. Lange, Victor, Zur Gestalt des Schwärmers im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts, in: Festschrift für Richard Alewyn. Hg. v. H. Singer u. B. v. Wiese. Köln, Graz 1967, S. 151–164. Langen, August, Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts. ZfdPh 70 (1949), S. 249–318. Auch: A. L., Gesammelte Studien zur neueren deutschen Sprache und Literatur. Zum 70. Geburtstag des Verfassers ausgewählt u. hg. v. Karl Richter u.a. Berlin 1978, S. 21–86. – Klopstocks sprachgeschichtliche Bedeutung, in: Wirkendes Wort 1952/53; S. 330–346. Auch: A. L., Gesammelte Studien zur neueren deutschen Sprache und Literatur. Zum 70. Geburtstag des Verfassers ausgewählt u. hg. v. Karl Richter u.a. Berlin 1978, S. 87–108. – Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Tübingen 1954. Langenbacher, Andreas, Langeweile und Imagination. Untersuchungen zur literarischen Wertung von Langeweile. Diss. phil. Bern 1982 (Masch.). – Die erlesenen Tränen Johann Georg Zimmermanns. Versuch über den getrübten Blick in aufgeklärter Zeit, in: Schweizerische Monatshefte 69. Jahr, Heft 10, Oktober 1989, S. 807–819. Leib-Zeichen: Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hg. v. Rudolph Behrens u. Roland Galle. Würzburg 1993. Lepenies, Wolf, Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt/M. 1998 ( 1. Auflage 1969). – Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1976. Lesky, Erna, Medizin im Zeitalter der Aufklärung, in: Lessing und die Zeit der Aufklärung. Vorträge der Tagung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg 10./11. Oktober 1967. Göttingen 1968, S. 77–99. Lindt, Andreas, Pietismus und Oekumene, in: A. L., Pietismus und moderne Welt. Hg. v. Kurt Aland. Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. Bd. 12. Witten 1974, S. 138–160. – Zum Verhältnis der Konfessionen in der Schweiz im 18. Jahrhundert, in: Zwischen Polemik und Irenik. Untersuchungen zum Verhältnis der Konfessionen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Hg. v. G. Schwaiger. Göttingen 1977, S. 58–67. Loetscher, Hugo, Johann Georg Zimmermann oder das Leiden an der Schweiz, in: H. L., Lesen statt klettern. Aufsätze zur literarischen Schweiz. Zürich 2003, S. 73–93. Lohff, Brigitte, Die Rezeption der Werke Johann Georg Zimmermanns in Montpellier, in: Gesnerus 54 (1997), S. 174–187. Lohmeier, Anke M., Zur Bestimmung der deutschen Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Schäferdichtung. Hg. v. Wilhelm Vosskamp. Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur Band 4. Hamburg 1977, S. 123–140. Luginbühl-Weber, Gisela, Lavater, Johann Kaspar – Bonnet, Charles – Bennelle, Jacob. Briefe 1768–1790. Ein Forschungsbeitrag zur Aufklärung in der Schweiz. Halbbd 2: Kommentar. Bern 1997. Martens, Wolfgang, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968.

429

– Schüler der Natur. Albrecht von Hallers Alpengedicht als Utopie sündloser Existenz, in: W. M., Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tübingen 1989, S. 276– 286. Mattenklott, Gert, Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. Stuttgart 1968. Mauser, Wolfram, Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik. Auseinandersetzung mit den bisherigen Ergebnissen und Thesen zu einem Neuansatz, in: Lessing-Yearbook 13 (1981), S. 253–277. – Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deustchland. Würzburg 2000. Meier, Pirmin, Die Einsamkeit des Staatsgefangenen Micheli du Crest. Eine Geschichte von Freiheit, Physik und Demokratie. Zürich, München 1999. Meyer, Stephan, Vorbote des Untergangs. Die Angst der Schweizer Aristokraten vor Joseph II. Zürich 1999. Michelsen, Peter, Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Würzburg 1990. Michler, Markwart, Melchior Adam Weikart (1742–1803) und sein Weg in den Brownianismus: Medizin zwischen Aufklärung und Romantik. Eine medizinhistorische Biographie. Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina Halle (Saale). Leipzig 1995 (Acta historica Leopoldina 24). Möller, Horst, Aufklärung in Preussen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai. Berlin 1974. – Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1986. Muschg, Adolf, Literatur als Therapie? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare. Frankfurt/M. 1981. Müller, Lothar, Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. Frankfurt/M. 1987. Müller-Seidel, Walter, Deutsche Klassik und Französische Revolution. Zur Entstehung einer Denkform, in: Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sieben Studien von R. Brinkmann u.a. Göttingen 1974, S. 39–62. – Dichtung und Medizin in Goethes Denken. Über Wilhelm Meister und seine Ausbildung zum Wundarzt, in: Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Geisteswissenschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Otto Pöggeler. Hg. v. Hans-Jürgen Gawoll und Christoph Jamme. München 1994, S. 107–137. Nabholz, H., Die Helvetische Gesellschaft 1761–1848. Zürich 1961 (Schriften der neuen Helvetischen Gesellschaft im Atlantis Verlag Bd. 8). Nager, Frank, Gesundheit, Krankheit, Heilung, Tod bei Goethe, in: Gesundheit, Krankheit, Heilung, Tod. Betrachtungen eines Arztes. Akademie 91 Zentralschweiz. Luzern 1997. – Von der Vielfalt des Heilens, in: Schweizerische Ärztezeitung 80 (1999), Nr. 49, S. 2876– 2880. – Der heilkundige Dichter. Goethe und die Medizin. Neuausgabe Düsseldorf, Zürich 1999. Neumann, Gerhard, Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976. Niederhäusern, René von, Die „heiligen“ Halunken. Einsamkeit und Eremitentum bei J. G. Zimmermann ( 1728–1795 ), in: Eremiten und Eremitagen in der Kunst vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Ausstellungskatalog Basel 1993, hg. v. Rudolf Velhagen, S. 38–46. Niefanger, Dirk, Melancholie und ästhetischer Genuss. Landschaft in den Reisen eines Deutschen in Italien von Karl Philipp Moritz, in: Aufklärung 8/1 ( 1994), S. 15–31. Nowitzki, Hans-Peter, Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 25). Ohage, August, Von Lessings Wust zu einer Wissenschaftsgeschichte der Physiognomik im 18. Jahrhundert, in: Lessing Yearbook XXI ( 1989), S. 55–87. Olivier, E., La visite de J. G. Zimmermann à Michel Schuppach. Schweizerische Medizinische Wochenschrift Nr. 14 vom 6. April 1929, S. 381–384. Pandel, Hans-Jürgen, Historik und Didaktik. Das Problem des Distribution historiographisch erzeugten Wissens in der deutschen Geschichtswissenschaft von der Spätaufklärung zum Frühhistorismus (1765–1830). Stuttgart-Bad Cannstatt 1990.

430

Pestalozzi, Karl, Lavaters Utopie, in: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich. Hg. v. H. Arntzen. Berlin 1975, S. 283–301. – Physiognomische Methodik, in: Germanistik aus interkultureller Perspektive. En hommage à Gonthier-Louis Fink. Hg. v. A. Finck u. G. Gréciano. Strasbourg 1988, S. 137–153. Pfotenhauer, Helmut, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987. Pross, Wolfgang, Jean Pauls geschichtliche Stellung. Tübingen 1975. – Herder und die Anthropologie der Aufklärung, in: Johann Gottfried Herder. Werke. Bd. II, München, Wien 1987, S. 1128–1216 ( Nachwort). Pütz, Peter, Die deutsche Aufklärung. Erträge der Forschung. Bd. 81. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 1991. Raabe, Paul (Hg.), „[...] in mein Vaterland zurückgekehrt“. Adolph Freiherr Knigge in Hannover 1787–1790. Göttingen 2002 (Knigge-Archiv; Bd.3). Rahden, Wolfert von, Sprachpsychonauten. Einige nicht-institutionelle Aspekte der Entstehung einer „Sprachbetrachtung in psychologischer Rücksicht“ im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts am Beispiel der Diskurskonkurrenz zwischen Immanuel Kant und Karl Philipp Moritz, in: Klaus D. Dutz (Hrsg.), Sprachwissenschaft im 18. Jahrhundert. Fallstudien und Überblicke. Münster 1993, S. 111–141. Raymond, Petra, Von der Landschaft im Kopf zur Landschaft aus Sprache. Die Romantisierung der Alpen in den Reiseschilderungen und die Literarisierung des Gebirges in der Erzählprosa der Goethezeit (Studien zur deutschen Literatur Bd. 123). Tübingen 1993. Reiber, Matthias, Anatomie eines Bestsellers. Johann August Unzers Wochenschrift Der Arzt (1759–1764). Göttingen 1999 (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa; Bd. 8). Rentsch, Th., Leib-Seele-Verhältnis, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. V, Sp. 185– 206. Richter, Karl, Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung. München 1972. Rieck, Werner, „Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn […]“. Zimmermann und Kotzebue im Kampf gegen die Aufklärung, in: Weimarer Beiträge XII (1966), S. 909–935. Riedel, Wolfgang, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“ (Epistemata Literaturwissenschaft, Bd. 17). Würzburg 1985. – Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: IASL, 6. Sonderheft 1994, S. 93–158. Rilke, Rainer Maria, Briefe. hg. v. Rilke-Archiv in Weimar in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Karl Altheim. Erster Band. Frankfurt/M. 1987 (Erste Auflage: Frankfurt/M. 1950). Ritter, Alexander (Hg.), Landschaft und Raum in der Erzählkunst. (Wege der Forschung. Band CCCCXVIII). Darmstadt 1975. Röhling, Horst, Katharina II. und J. G. Zimmermann. Bemerkungen zu ihrem Briefwechsel, in: Zeitschrift für slavische Philologie XL. Heft 2. Heidelberg 1978, S. 358–392. Rohr, Adolf, Philipp Albert Stapfer. Eine Biographie. Im alten Bern vom Ancien régime zur Revolution (1766–1798). Bern 1998. Rosenstrauch-Königsberg, Edith, Die Denunziation der Aufklärung durch Johann Georg Zimmermann. Zimmermanns Mémoire an Kaiser Leopold II. (1791/92), in: Sie, und nicht Wir: die Französische Revolution und ihre Wirkung auf Norddeutschland und das Reich: Politik und Recht, Literatur und Musik. Hg. v. Arno Herzig. Hamburg 1989. Bd. 1, S. 227–244. Rothschuh, Karl Eduard, Physiologie. Der Wandel ihrer Konzepte, Probleme und Methoden vom 16. bis 19. Jahrhundert. Freiburg u. München 1968 (Orbis Academicus. Problemgeschichten der Wissenschaft in Dokumenten und Darstellungen. Bd. II/15). Rudolph, Gerhard, Hallers Lehre von der Irritabilität und Sensibilität, in: Karl Eduard Rothschuh (Hg.), Von Boerhaave bis Berger. Die Entwicklung der kontinentalen Physiologie im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1964, S. 14–34. Rutschky, Katharina (Hg.), Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Frankfurt/M. 1997. Sauder, Gerhard, Empfindsamkeit. Bd. I. Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974.

431

Schings, Hans-Jürgen, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977. – Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung. Kurt Ruh zum 65. Geburtstag, In: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. Hg. v. B. Fabian u.a. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert Bd. 2/3). München 1980, S. 247–275. Schmallenbach, Hans-Joachim, Johann Georg Zimmermann und die Irritabilitätslehre. Diss. med. Westfälische Wilhelms-Universität Münster 1967. Schmidt-Biggemann, Wilhelm, Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung. Frankfurt/M. 1988. Schmidt, Jochen, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, 1750–1945. 2 Bde. Darmstadt 1985. Schneck, Peter, Medizin im 18. Jahrhundert, in: Geschichte der Medizin systematisch. Bremen u. Lorch / Württemberg 1997, S. 122–144. Schnegg, Brigitte Cette faiblesse originelle de nos nerfs. Intellektualität und weibliche Konstitution – Julie Bondelis Krankheitsberichte, in: Gesundheit und Krankheit im 18. Jahrhundert. Hg. v. H. Holzhey und U. Boschung. Amsterdam-New York 1995, S. 5–17. Schneider, Karl Ludwig, Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1960. Schneider, Gerhard, Der Libertin. Zur Geistes- und Sozialgeschichte des Bürgertums im 16. und 17. Jahrhundert. Stuttgart 1970. Schneider, Stefan, Hypochondrie bei Johann August Unzer (1727–1799). Eine Untersuchung zum Verständnis von Gesundheit und Krankheit in Medizin und Literatur der deutschen Spätaufklärung. Diss. med. Heidelberg 1987. Schön, Erich, Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987. Schönert, Jörg, Neue Ordnungen im Verhältnis von „schöner Literatur“ und Wissenschaft, in: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Walter Müller-Seidel zum 75. Geburtstag. Hg. v. Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann. Stuttgart 1997, S. 39–47. Schrader, Hans-Jürgen, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Heinrich Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen und ihr geschichtlicher Kontext (Palaestra Bd. 283). Göttingen 1989. Schramm, Hans-Peter (Hg.), Ein Stich gegen Zimmermann. Ausstellung in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover. Hannover 1993. – (Hg.), Johann Georg Zimmermann – königlich grossbritannischer Leibarzt (1728–1795). Vorträge, gehalten anlässlich eines Arbeitsgesprächs vom 4. bis 7. Oktober 1995 in der Herzog-August-Bibliothek. (Wolfenbütteler Forschungen Bd. 82). Wiesbaden 1998. Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Martin Fontius u. Helmut Holzhey. Berlin 1996. Seelenarzt und armer Tropf. Königlicher Leibarzt Johann Georg Zimmermann 1728–1795. Beschreibung der Zimmermanniana im Stadtarchiv Hannover mit einer Einleitung v. Klaus Mlynek. Projekt der Fachhochschule Hannover 1994/1995. Fachbereich Informations- und Kommunikationswesen. Leitung: Hans-Peter Schramm. Hannover 1995. Seifert, Hans-Ulrich, Ein vergessener Schweizer Aufklärer: Georg Ludwig Schmid, in: Lenzburger Neujahrsblätter 1988, S. 110–127. Seifert, Josef, Das Leib-Seele-Problem und die gegenwärtige philosophische Diskussion. Eine systematisch-kritische Analyse. Zweite Auflage. Darmstadt 1989. Sengle, Friedrich, Wieland. Stuttgart 1949. – Wunschbild Land und Schreckbild Stadt. Zu einem zentralen Thema der neueren deutschen Literatur, in: Studium generale 16 ( 1963), Heft 10, S. 619–631. Siegrist, Christoph, Antitheodizee und Zeitkritik. Zur Situierung von Pezzls Roman Faustin, in: H. Zeman (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (1750–1830). Bd. 2. Graz 1979, S. 829–851. – Letters of the Divine Alphabet – Lavaters’s Concept of Physiognomy, in: The Faces of Physiognomy: Interdisciplinary approaches to Johann Caspar Lavater. Edited by Ellis Shookman. Camden House Columbia 1993, S. 25–39.

432

Sigerist, Henry E., Albrecht von Haller, in: Grosse Ärzte. Eine Geschichte der Heilkunde in Lebensbildern. 6. verbesserte Auflage. München 1970, S. 170–183. Snell, Bruno, Die Entdeckung des Geistes. Hamburg 1955. Sommer, Andeas Urs, Geschichte als Trost. Isaak Iselins Geschichtsphilosophie. Basel 2002. Sproedt, Klaus, Analyse von Zimmermanns Erfahrung in der Arzneykunst. Diss. med. Münster 1970. Stadler, Peter, Die historische Forschung in der Schweiz im 18. Jahrhundert, in: Hist. Forschung im 18. Jhd. Hg. v. K. Hammer u.a. Bonn 1976, S. 296–313. Stadler, Ulrich. Der einsame Ort. Studien zur Weltabkehr im heroischen Roman. Bern 1971. – Johann Heinrich Jung (Stilling): Das Heimweh, in: Die theuren Dinge. Studien zu Bunyan, Jung-Stilling und Novalis. Bern 1980, S. 33–115. Staiger, Emil, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller. (1. Aufl. Zürich 1953). München 1976. – Stilwandel. Studien zur Vorgeschichte der Goethezeit. Zürich und Freiburg i. Br. 1963. Stollberg-Rilinger, Barbara, Ein Jahrhundert der Weiblichkeit? Familienstrukturen, Geschlechterrollen, Erziehung, in: Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart 2000, S. 145–164. Strube, Irene, Georg Ernst Stahl. Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner Bd. 76. Leipzig 1984. Stüssi-Lauterburg, Barbara, Von Thalheim nach Brugg. Briefe von Georg Ludwig Schmid d’Auenstein an Johann Georg Zimmermann, in: Brugger Neujahrsblätter 1989, S. 141–155. – Johann Georg Zimmermann ( 8. Dezember 1728–7. Oktober 1795). Die Einsamkeit des konservativen Intellektuellen. Separatum aus Familienforschung Schweiz, Jahrbuch 1996, S. 27–50. Thomé, Horst, Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik. (Diss. Ludwig-Maximilians-Universität München 1974). Frankfurt/M. u.a. 1977. Toellner, Richard, Anima und Irritabilitas. Hallers Abwehr von Animismus und Materialismus, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin 51 (1967), S. 130–144. – Johann Georg Zimmermann (1728–1795). Der Arzt als Genie oder über die Gewissheit der Vorhersage in der Heilkunst, in: Berichte zur Wissenschaftgeschichte 2 (1979), S. 13–24. Trümpy, Hans, Schweizerdeutsche Sprache und Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Basel 1955 (Schriften der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde; Bd. 36). Viëtor, Karl, Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur (1937), in: K. V., Geist und Form. Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte. Bern 1952, S. 234–266. Vierhaus, Rudolf, Historisches Interesse im 18. Jahrhundert, in: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert. Hg. v. H. E. Bödeker u.a. Göttingen 1986, S. 264–275. – Was war Aufklärung? Göttingen 1995 (Kleine Schriften zur Aufklärung; 7). Vogelsanger, Peter, Zürich und sein Fraumünster. Eine elfhundertjährige Geschichte (855–1956). Zürich 1994. Volz-Tobler, Bettina, Rebellion im Namen der Tugend. Der Erinnerer – eine Moralische Wochenschrift, Zürich 1765–1767. Zürich 1997. – Einleitung zu: Der Erinnerer. Eine Moralische Wochenschrift. Zürich 1765–67. Manuskript Zürich 2000, in: Johann Caspar Lavater, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe.Bd. 1: Jugendschriften 1762–1769. Hg. v. Bettina Volz-Tobler. Von Arburg, Hans-Georg, Kunst-Wissenschaft um 1800. Studien zu Georg Christoph Lichtenbergs Hogarth-Kommentaren. Göttingen 1998 (Lichtenberg-Studien, Bd. 11). Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert. Hg. v. Ch. Weiss in Zusammenarbeit mit W. Albrecht (Literatur im historischen Kontext, Bd. 1). St. Ingbert 1997. Wagner-Egelhaaf, Martina, Unheilbare Phantasie und heillose Vernunft. Johann Georg Zimmermann Über die Einsamkeit (1784/85), in: Einsamkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation VI. Hg. v. Aleida und Jan Assmann. München 2000, S. 265–279. Weiß, Christoph, Johann Georg Zimmermanns unveröffentlichte Verteidigungs- und Anklageschrift An die Berlinische Aufklärungspropaganda und an alle ihre Affiliirten, in: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 2: Frühmoderne. Hg. v. Erich Donnert. Weimar, Köln, Wien 1997, S. 407–419.

433

– Royaliste, Antirépublicain, Antijacobin et Antiilluminé. Johann Georg Zimmermann und die „politische Mordbrennerey in Europa“, in: Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert. Hg. v. Ch. Weiss in Zusammenarbeit mit W. Albrecht (Literatur im historischen Kontext Bd. 1), St. Ingbert 1997, S. 367–401. Wezel, Johann Karl (1747–1819). Hg. v. A. Kosenina, und Ch. Weiss. St. Ingbert 1997 (Literatur im historischen Kontext. Bd. 2). White, Hayden, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1991. Wild, Kurt, Alt-Richterswil. Ein kulturgeschichtlicher Bilderbogen. Richterswil 1992. – Richterswil – wie es einst war. Landschaft–Häuser–Menschen. Richterswil 1996. Willstätter, Richard, Aus meinem Leben. Von Arbeit, Muße und Freunden. Hg. und mit einem Nachwort versehen v. Arthur Stoll. München 1949. Wölfel, Kurt, Kosmopolitische Einsamkeit.Über den Spaziergang als poetische Handlung, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 15 ( 1980), S. 28–54. Wyder, Margrit, Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen. Köln, Weimar, Wien 1998. Zelle, Carsten, Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987. – Lemma Das Erhabene (17., 18. Jahrhundert), in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. G.Ueding. Bd. 2. Tübinden 1994, Spalten 1364–1378. – Zwischen Weltweisheit und Arzneiwissenschaft. Zur Vordatierung der anthropologischen Wende in die Frühaufklärung nach Halle (eine Skizze), in: Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption. Festschrift zum 70.Geburtstag von Ulrich Ricken. Hg. v. Reinhard Bach. Tübingen 1999, S. 35–44. – Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Bd. 19). Zenker, Markus, „Es ist meine Manier, in jeder Absicht, frey zu schreiben“. Untersuchungen zu J. G. Zimmermann Über die Einsamkeit (1784/85), in: Johann Georg Zimmermann – königlichgrossbritannischer Leibarzt (1728–1795). Hg. v. Hans-Peter Schramm. Wiesbaden 1998 (Wolfenbütteler Forschungen; Bd. 82), S. 139–153. – Individualität und Soziabilität. Zu Johann Georg Zimmermanns Werk über die Einsamkeit im zeitgenössischen deutsch-schweizerischen Kontext, in: Das achtzehnte Jahrhundert 26 (2002), Heft 2, Deutsch-schweizerischer Kulturtransfer. Hg. v. York-Gothart Mix, Markus Zenker und Simone Zurbuchen, S. 163–171. Zimmermann, Harro, Das Projekt Mündigkeit. Kleines Plädoyer für mehr Aufklärung unter Aufklärern, in: Das achtzehnte Jahrhundert 21/2 (1998), S. 189–201. – Erleuchtete Vernunft. Jung-Stillings Roman Das Heimweh und die Französische Revolution, in: ZIMMERMANN, Harro, Aufklärung und Erfahrungswandel. Studien zur deutschen Literaturgeschichte des späten 18. Jahrhunderts. Göttingen 1999 (Zugl. Habil-Schr. Univ. Oldenburg), S. 113–146. Zurbuchen, Simone, Artikel Schweiz in: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. Hg. v. Werner Schneiders. München 1995, S. 375–379. – Berliner „Exil“ und Schweizer „Heimat“. Johann Georg Zimmermanns Reflexionen über die Rolle des Schweizer Gelehrten, in: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Martin Fontius u. Helmut Holzhey. Berlin 1996, S. 57–68.

434