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German Pages 328 Year 2010
Frhe Neuzeit Band 145 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Khlmann, Jan-Dirk Mller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Jesko Reiling
Die Genese der idealen Gesellschaft Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783)
De Gruyter
Gedruckt mit Untersttzung der UniBern Forschungsstiftung (Berne University Research Foundation).
ISBN 978-3-11-023126-7 e-ISBN 978-3-11-023127-4 ISSN 0934-5531 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co., Gçttingen
¥ Gedruckt auf surefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Von der Historiographie zur Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Bodmers patriotisches Geschichtsverständnis . . . . . . . . . 1.2 Der Character und seine Funktionen in der Geschichtsschreibung und Sittenlehre . . . . . . . . . . 1.3 Die »ersten Triebräder aller gemeinen und öffentlichen Handlungen«: der National-Character . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Der poetische Character . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Poesie als ars popularis: von der Sittenkritik zum moralischen Ergötzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Der natürliche Mensch als idealer Dichter und idealer Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Moralische Wochenschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Bodmers Ablehnung des »Theorisirens« . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der Traum von der idealen Gesellschaft als schäferliche Idylle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die ideale Gesellschaft als Republik . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Funktion der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Epen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Noah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Bodmers Interesse an den »Antediluvianos« . . . . . 3.1.2 Gewalt und Aberglauben als Laster der Vor- und Nachwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Die Freundschaft der Noah-Familie . . . . . . . . . . . 3.1.4 Vergleich der verschiedenen Ausgaben: Bearbeitungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Jacob und Joseph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Der natürliche Mensch als Herrscherideal . . . . . . . 3.2.2 Zärtlicher Vater und unschuldige Kinder: Bodmers Kinderschauspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25 36 46 63 80 88 88 94 103 117 125 125 125 146 160 180 193 193 201
VI 3.3 Die Colombona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Gute Europäer und gute Wilde . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Colombo als Gründer des Reichs der Menschheit
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4 Politische Trauerspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Poetik des politischen Trauerspiels: Kapitulation vor dem Zeitgeschmack oder kritische Offensive? . . . . . . . . . 4.2 Patriotismus und Menschlichkeit in der Monarchie . . . . 4.3 Patriotismus und Menschlichkeit in der Republik . . . . . . 4.4 Der moralisch und politisch gute Naturzustand . . . . . . .
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5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Wer sich mit den Dichtungen von Johann Jakob Bodmer (1698–1783) beschäftigt, sieht sich durch das kanonische Urteil der Literaturgeschichte in die Ecke gedrängt. 1891 charakterisierte Gustav Tobler Bodmers politische Schauspiele als »breit angelegte Geschwätze ohne künstlerisch aufgefaßte und durchgeführte Handlungen und Charaktere; kurz historisch-politisch-dramatische Wechselbälge«,1 1950 urteilte Margarete Nabholz-Oberlin mit Blick auf Bodmers Epen: »Die heutige Wissenschaft empfindet Bodmers eigene dichterischen Bemühungen als seinen größten Irrtum und betrachtet sie nur noch als historische Kuriosa«.2 Während Tobler sich nicht scheute, unverhohlen die dramatischen Werke von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) oder Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) gegen Bodmers Dramen auszuspielen,3 bemüht man sich heute, ein persönliches Werturteil zurückzuhalten. Gleichwohl schimmert dieses nach wie vor durch und zeugt nicht nur von einem darwinistisch-teleologischen Literaturgeschichtsverständnis, sondern erinnert auch an die polemischen Rezensionen, mit denen die jüngere Dichtergeneration im 18. Jahrhundert – Lessing, Friedrich Nicolai (1733–1811), Christian Felix Weiße (1726–1804) u.a. – auf Bodmers Werke reagiert hatte. Goethes Verdikt, Bodmer sei »theoretisch und praktisch zeitlebens ein Kind geblieben«,4 wurde noch im Bewusstsein der ›Sieger‹ ausgesprochen: Goethe und viele weitere Dichter der jüngeren 1
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Gustav Tobler: J. J. Bodmer als Geschichtschreiber. In: Neujahrsblatt herausgegeben von der Stadtbibliothek in Zürich auf das Jahr 1891. Zürich 1891, S. 33. Margarete Nabholz-Oberlin: Der Josephroman in der deutschen Literatur von Grimmelshausen bis Thomas Mann. Marburg a.d. Lahn 1950 (Diss.), S. 29. – Ähnlich äußerte sich Thomas Sprecher: »Man hält Bodmer nicht für berechtigt, die Bewunderungder Nachwelt für seine poetischeProduktion in Anspruch zu nehmen. Er war kein Dichter, so sehr sein Ehrgeiz danach brannte, und es ist das Glück seiner Schöpfungen, dass sie sich unter der Menge verlieren.« (Thomas Sprecher: Das geistige Zürich um 1750. In: Stätten deutscher Literatur. Studien zur literarischen Zentrenbildung 1750–1815. Hg. v. Wolfgang Stellmacher. Frankfurt, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1998 (Literatur-Sprache-Region, 1), S. 97–124, hier S. 108). Vgl. Tobler (1891), S. 33. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände. I. Abteilung, Bd. 14: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. v. Klaus-Detlef Müller. Frankfurt am Main 1986, S. 289.
2 Generation sahen die Poetik von Bodmer und dessen Zürcher Freund Johann Jakob Breitinger (1701–1776) sowie Bodmers eigene Dichtungen als veraltet und überholt an. Bis heute hat sich dieser Topos vom schlechten Dichter Bodmer gehalten,5 seine poetologischen Schriften hingegen beurteilt man deutlich positiver. Dass man damit jedoch ein paradoxes Bild vermittelt, ist bis anhin kaum aufgefallen. Rémy Charbon resümierte 2007 in aufschlussreicher Diktion: Mit Bodmers und Breitingers Schriften beginnt die Auffassung sich Bahn zu brechen, Dichtung sei nicht die Magd der Philosophie oder der Moral […], vielmehr autonom, d.h. nur den Geboten der Poesie verpflichtet. Bodmers eigene Dichtungen – mehrere Bibelepen, Nachdichtungen mittelalterlicher Epenstoffe und über fünfzig historische, biblischeund patriotische Dramen – wirken […] flach und uninspiriert, unsinnlich und überaus didaktisch.6
Während die kritischen Schriften der beiden Zürcher wegen ihres ›modernen‹ oder ›progressiven‹ Literaturverständnisses gelobt werden, erfahren die literarischen Werke Bodmers, die alle erst zehn Jahre nach den ›großen‹ Poetiken entstanden sind, im Wesentlichen nur Ablehnung. Sie können anscheinend, aufgrund Bodmers dichterischem Unvermögen, mit der Theorie nicht mithalten und sind somit als ›regressiv‹ anzusehen. Uwe Hentschel bezeichnet in diesem Sinne Bodmer als einen Dichter, der »einer vormodernen ›patriarchalischen Welt‹ angehörte wie kein zweiter«,7 rühmt aber gleichzeitig die theoretischen Schriften, da sie der Literatur »mehr Phantasie, Sinnlichkeit und Emotionalität« attestiert und Zürich »zum Zentrum einer neuen, modernen Literaturauffassung« gemacht hätten.8 Ob Bodmer mit seinen Epen und Dramen wirklich so weit hinter seinen eigenen poetologischen Forderungen zurückbleibt, steht als Frage nicht im Zentrum vorliegender Arbeit, die aber den Topos vom schlechten Dichter auch nicht als (unbewusste) Ausgangsbasis der Untersuchung nehmen will, sondern vielmehr einen ›wertfreien‹ Zugang zu Bodmers Werken anstrebt. Ihren Ausgangspunkt nimmt sie in der allgemein geteilten Auffassung, dass die um 1740 erschienenen Zürcher Poetiken den Beginn der Empfindsamkeit markieren.9 Zu dieser »Tendenz der Aufklärung« sind 5
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Vgl. hierzu auch die Einleitung des 2009 erschienenen Bandes Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hg. v. Anett Lütteken, Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen 2009 (Das achtzehnte Jahrhundert, Supplementa, 16), S. 11–14. Rémy Charbon: Das achtzehnte Jahrhundert (1700–1830). In: Schweizer Literaturgeschichte. Hg. v. Peter Rusterholz, Andreas Solbach. Stuttgart, Weimar 2007, S. 49–103, hier S. 62. Uwe Hentschel: Der Fall Bodmer(s). Zur Literaturgesellschaft Zürichs im 18. Jahrhundert. In: Wirkendes Wort 50, 1 (2000), S. 5–16, hier S. 16 (Hervorhebung J. R.). Ebd., S. 7 (Hervorhebung J. R.). Gerhard Sauder beginnt den in seine Anthologie Theorie der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang aufgenommenen zeitlichen Überblick mit den Poetiken der
3 auch Bodmers Dichtungen zu rechnen, wie im Folgenden herausgearbeitet werden soll.10 Zugrunde liegt hierbei ein Verständnis der Empfindsamkeit, das sich an dasjenige von Gerhard Sauder, Rüdiger NuttKofoth oder Friedrich Vollhardt anschließt und sich von demjenigen Lothar Pikuliks abgrenzt. Pikulik hatte die Empfindsamkeit als »Kult des Gefühls« verstanden und die Dominanz des Gefühls über die Vernunft zu ihrem Charakteristikum erklärt; dadurch zeichne sie sich als eigene Epoche aus.11 Während Pikulik unter Empfindsamkeit also nur die Zeit des Sturm und Drang versteht, die in den Augen von Sauder und NuttKofoth lediglich die »radikale Variante der zweiten Phase« verkörpert, in welcher der »Ausgleich zwischen ›Kopf‹ und ›Herz‹ nicht mehr« gelingt,12 soll hier der ›erweiterte‹, zweiphasige Empfindsamkeitsbegriff Geltung haben, wonach die erste, »gemäßigte, auf den vielberufenen Ausgleich von ›Kopf‹ und ›Herz‹ zielende« Phase etwa um 1740 beginnt.13 Das Aufkommen der empfindsamen Literatur hatte Sauder 1974 einerseits mit dem Aufstieg des Bürgertums erklärt, andererseits auch ideengeschichtliche Faktoren angeführt, die er als »Voraussetzungen« der Empfindsamkeit verstand.14 Dabei hatte er insbesondere die englische Moral-Sense-Theorie von Anthony Ashley Cooper Earl of Shaftesbury und seinen Nachfolgern als wesentlichen Faktor herausgestellt, der »als Begründung wie Rechtfertigung der empfindsamen Tendenz in England, Frankreich und Deutschland« anzusehen sei.15 In Ergänzung zu Sauders Studie hat Vollhardt darauf hingewiesen, dass die empfindsame Literatur in Deutschland wesentliche Impulse aus dem Naturrechts-Diskurs empfangen habe, was bis dahin von der Literaturwissenschaft kaum wahrgenommen worden war.16 Sauder und Pikulik boten beide eine sozial-
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beiden Zürcher; vgl. Sauder: Theorie der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang. Stuttgart 2003 (RUB, 17643), S. 485–496, hier S. 485. Gerhard Sauder:Empfindsamkeit.Bd. I: Voraussetzungenund Elemente.Stuttgart 1974, S. XI. Lothar Pikulik: Die Mündigkeit des Herzens. Über die Empfindsamkeit als Emanzipations- und Autonomiebewegung. In: Aufklärung 13 (2001), S. 9–32, hier S. 10f. – Dieselben Begründungen hat Pikulik bereits früher vorgetragen; vgl. ders.: Leistungsethik contra Gefühlskult. Über das Verhältnis von Bürgerlichkeit und Empfindsamkeit in Deutschland. Göttingen 1984, S. 280. Rüdiger Nutt-Kofoth: Weimarer Klassik und Empfindsamkeit – Aspekte einer Beziehung. Mit einigen Überlegungen zum Problem von Epochenbegriffen. In: Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung. Hg. v. Achim Aurnhammer, Dieter Martin, Robert Seidel. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit, 98), S. 255–270, hier S. 259, vgl. auch GerhardSauder: Empfindsamkeit.Tendenzen der Forschungaus der Perspektive eines Betroffenen. In: Aufklärung 13 (2001), S. 307–338, hier S. 312. Nutt-Kofoth (2004), S. 259. Vgl. Sauder (1974), S. 50–124. Ebd., S. 85. Vgl. Friedrich Vollhardt: Naturrecht und ›schöne Literatur‹ im 18. Jahrhundert. In: Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution. Hg. v. Otto Dann, Diethelm Klip-
4 historische Erklärung für die Entstehung der Empfindsamkeit an. Während Sauder das Aufblühen der empfindsamen Literatur im wachsenden Stand des Bürgertums begründet sah und sie als dessen Ausdruck verstand, hielt Pikulik die Empfindsamkeit für einen »Gegenbegriff« zum Bürgertum,17 die mit der Verabsolutierung des Gefühls gegen die bürgerlichen Normen und Werte revoltierte.18 Demgegenüber wählt Vollhardt eine systemtheoretische Perspektive und begreift die Literatur der Jahrhundertmitte von ihrer »funktionalen Bedeutung« her.19 Die empfindsame Literatur habe sich »nicht aus einem prinzipiellen Widerspruch zu den Sozialitätskonzepten der Aufklärung« entwickelt,20 wie es etwa Pikulik annimmt, sondern führe vielmehr die »von der Pflichtenlehre des modernen Naturrechts geprägte Sozialethik« fort:21 Noch immer werden die Bilder sanfter Menschenliebe,geselliger Übereinkunft und tugendhaften Gefühls, wie sie die [empfindsame; J. R.] Literatur der Aufklärung kultivierte, den politischen Verhaltens- und Klugheitslehren des 17. Jahrhunderts gegenübergestellt und aus dieser Differenz heraus erklärt. Zweifellos beginnt um 1700 ein Prozeß der Umbildung des anthropologischen Denkens, der jedoch weder unvermittelt einsetzt noch alte Problemlasten einfach abstößt.22
Das Naturrecht sei von den Autoren des 18. Jahrhunderts als »Fundamentalwissenschaft« verstanden worden, die als Prinzipienlehre des
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pel. Hamburg 1995 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 16), S. 216–232, hier S. 216. – Den Einfluss des Naturrechts auf die Vorstellungen des gesellschaftlichen (›empfindsamen‹)Handelns hatten auch bereitsDagobert de Levie: Die Menschenliebe im Zeitalter der Aufklärung. Säkularisation und Moral im 18.Jahrhundert. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 18.Jahrhunderts. Bern, Frankfurt 1975 und Bengt Algot Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert. München 1984 nachgewiesen. Karl Eibl: Abhandlungen zur Empfindsamkeit. Einleitung. In: Aufklärung 13 (2001), S. 5–8, hier S. 6. Vgl. Pikulik (2001), S. 10f., vgl. hierzu auch Friedrich Vollhardt: Aspekte der germanistischen Wissenschaftsentwicklung am Beispiel der neueren Forschung zur ›Empfindsamkeit‹. In: Aufklärungsforschung in Deutschland. Hg. v. Holger Dainat, Wilhelm Voßkamp. Heidelberg 1999 (Beihefte zum Euphorion, 32), S. 49–77, hier S. 49f. – Klaus P. Hansen synthetisiert die konträren Positionen von Sauder und Pikulik und spricht aus sozialgeschichtlicher Perspektive von einer »bürgerlich angepaßte[n]« ersten Phase und einer »antibürgerlich kritische[n]« zweiten Phase (Klaus P. Hansen: Neue Literatur zur Empfindsamkeit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geisteswissenschaften 64 (1990), S. 514–528, hier S. 518). Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischerLiteratur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001 (Communicatio, 26), S. 24. Vollhardt (2001), S. 7. FriedrichVollhardt:Freundschaftund Pflicht. NaturrechtlichesDenken und literarisches Freundschaftsideal im 18. Jahrhundert. In: Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Hg. v. Wolfram Mauser, Barbara Becker-Cantarino. Tübingen 1991, S. 293–308, hier S. 293. Vollhardt (2001), S. 3.
5 menschlichen Verhaltens den »gesamten Zivilisationsprozess von der historisch-gesellschaftlichen Ursprungssituation der Menschheit bis zu bewährten Verhaltensregeln des alltäglichen Lebens« umfasst habe und somit verschiedene »Erklärungsmodelle für das heikle Problem der Vergesellschaftung des Menschen« habe anbieten können.23 Die empfindsame Literatur des 18. Jahrhunderts sei Denkmodellen des Naturrechts verpflichtet, die in der Literatur als einem Experimentierfeld, das Bestehendes reflektiert und mögliche Alternativmodelle entwirft, auf die Probe gestellt worden seien.24 Im Rückgriff auf Sauder, der darauf hingewiesen hat, dass sich in der empfindsamen Literatur die »Dialektik von Selbst- und Mitgefühl« bemerkbar mache, plädiert auch Vollhardt dafür, diese in den naturrechtlichen Reflexionen gründende Dialektik in den Blick zu nehmen und sie als »Denkfigur, die [einem] in den Texten des 18. Jahrhunderts in vielfacher Abwandlung begegnet, auf ihre Herkunft, ihre Kontexte und ihren Bedeutungsumfang« zu befragen.25 In der Literatur manifestiere sich diese Denkfigur in den Konfliktsituationen zwischen Individuum und Gesellschaft: Die Tugendhaftigkeit der empfindsamen Charaktere konnte indes nur in Situationen geprüft werden – in den Künsten wurden diese entsprechend inszeniert –, in
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Ebd., S. 25. »Die naturrechtliche Pflichtenlehre ist in ihrem Aufbau, in der Verknüpfung von Individual- und Sozialmoral und in der Verhältnisbestimmung von Rechts- und Liebespflichten für die Schriftsteller der Jahrhundertmitte wenn nicht das Vorbild, so doch der Rahmen, in welchem sie über die ›vornehmste‹ Aufgabe der Dichtkunst, die Förderung des Sittlich-Guten, nachgedacht haben.« (ebd., S. 34, ähnlich auch in ders. (1995), S. 222f.). Dementsprechend erklärt Vollhardt die anhaltende Reflexion und Diskussionder frühaufklärerischenSozialethiken– insbesonderedie Pflichtenlehren von Samuel Pufendorf und Christian Thomasius – zum Definiens der empfindsamen Literatur: »Unter dem Begriff ›Empfindsamkeit‹ ist dann nicht mehr ein wie immer gearteter Zeitstil oder Epochentitel zu verstehen. Nicht einseitig festgelegt, faßt er jene Formen der literarischen Kommunikation und der mit ihr verbundenen Theoriebildung zusammen, die Traditionsbestandteile einer frühmodernen Sozialethik aufnehmen und in neuer Weise ausformulieren. Die positive Naturanlage des Menschen – seine Fähigkeit zum sympathetischen Fühlen – wird den rationalen Normen des sozialen Handelns beigeordnet und so zu einem Argument erhoben, dessen Lehrgehalt sich vorzüglich in literarischen Schilderungen ›prüfen‹ und bestätigen ließ.« (Vollhardt (2001), S. 24) Das Ende der so verstandenen empfindsamen Kommunikation fällt für Vollhardt, ähnlich wie es auch Sauder herausgearbeitet hatte, in die 1770er Jahre. Von diesem Zeitpunkt an werde die herkömmliche, naturrechtlich begründete Pflichtenlehre nicht mehr propagiert, sondern grundlegend problematisiert und schließlichdas »aufklärerische[ ] Humanitäts- und Bildungsideal« durch dasjenige der Klassik mit ihrem Konzept der autonomen ästhetischen Erziehung konkurrenziert (ebd., S. 10), vgl. auch ebd., S. 326–336. Diese Differenzierung hat auch Nutt-Kofoth vorgenommen; vgl. NuttKofoth (2004), S. 267. Vollhardt (2001), S. 11, vgl. Sauder (1974), S. 211.
6 denen sich ein Individuum gegenüber den universalen Ordnungsvorstellungen zu bewähren hatte.26
Auch Bodmer inszenierte in seinen Dichtungen diese Denkfigur, die er in seinen Epen in biblische Episoden einkleidete oder in seinen politischen Trauerspielen als antike historische Ereignisse vorführte. In wechselnder historischer Kostümierung werden die literarischen Figuren in konflikthafte Situationen und Konstellationen gestellt. Die einzelnen Figuren oder Figurengruppen werden stets so charakterisiert, dass sie in Opposition zueinander stehen und (deshalb) versuchen, die von ihnen verkörperten Verhaltensweisen und das daraus (implizit) hervorgehende Gesellschaftsmodell zu legitimieren und durchzusetzen. Explizit thematisieren die Figuren ihre jeweiligen Beziehungen zu anderen und positionieren sich damit im Hinblick auf das übergeordnete ›Prinzip‹ Gesellschaft oder bilden mit anderen Gleichgesinnten eine Gemeinschaft und distanzieren sich von anderen (Teil-) Gesellschaften. Diesen literarischen Anordnungen geht vorliegende Arbeit in ideengeschichtlicher Perspektive nach und analysiert die Gestaltung, Begründung und Lösung der Konfliktsituationen zwischen Individuum und Gesellschaft oder zwischen den verschiedenen (Teil-) Gesellschaften. Sie fragt nach den jeweiligen Bedingungen, Prozessen und Eigenschaften der Gesellschaftsgenese und -ordnung; das damit verbundene Ziel besteht darin, Bodmers Vorstellungen einer idealen Gesellschaft herauszuarbeiten. Der ideengeschichtliche Zugriff folgt der Methodik der politischen Ideengeschichte, die Marcus Llanque darauf verpflichtet hat, nicht mehr nach dem »Einfluss von einem früheren auf einen späteren Text« zu fragen, sondern vielmehr in der historischen Analyse zu untersuchen, »wie ein späterer Text einen früheren rezipiert«.27 Damit richtet sich das Augenmerk auf die Art und Weise der Rezeption: Die Bedeutung eines Textes steht nicht per se schon fest, sondern ergibt sich erst aus dessen historischer Kontextualisierung oder Aktualisierung. Die politische Ideengeschichte erweist sich unter dieser Perspektive als Prozess des kreativen oder produktiven Umgangs mit politischen Theorien; entsprechend plädiert Llanque ausdrücklich dafür, bei der historischen Analyse sämtliche überlieferten Textzeugnisse – und das schließt die Poesie mit ein – zu berücksichtigen.28 Bodmer selbst hatte seine Dichtungen mehrfach als philosophische Texte ausgewiesen und sie als Artikulationsraum charakterisiert, in dem er »in Anderer Mund Wahrheiten sagen« könne,
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Ebd., S. 81. Marcus Llanque: Politische Ideengeschichte. Ein Gewebe politischer Diskurse. München 2008, S. 8. Vgl. ebd., S. 3.
7 die er ansonsten nicht zu äußern wage, da sie zu »gefährlich« seien.29 Insbesondere seine politischen Dramen verstand Bodmer als ein Medium, in dem er, die Zensur unterlaufend, politische Ansichten verkünden und ›Ideenschmuggel‹ betreiben konnte. Hierin sah er die »Vorzüge« der »szenische[n] Form«.30 Damit legte er selbst nahe, seine literarischen Werke als Teil der politischen Ideengeschichte zu verstehen. Gleichwohl darf man bei der Analyse die spezifischen literarischen Gattungsanforderungen nicht vergessen und sollte seine Dichtungen als besondere Form der Rezeption politischer Ideen und Theorien auffassen. Bodmer schrieb keine politischen Abhandlungen, sondern wählte bewusst die dramatische und die epische Gattung, um seine Ideen zu artikulieren. Die Literatur diente ihm als diskursives Medium, das die Realität nicht nur primär mimetisch abbilden, sondern alternative Verhaltensweisen und gesellschaftliche Modelle als Vorbilder entwerfen sollte. In einem Brief an seinen langjährigen Freund und Küsnachter Pfarrer Johann Heinrich Meister (1700–1781) aus dem Jahre 1775 gibt Bodmer eine indirekte Begründung für die von ihm gewählte Schreibart und legt gleichzeitig seine Vorstellungen einer idealen Staatsverfassung dar: Es gibt ohne Zweifel ein Ideal von Staatsverfassung, welches das Beste ist, wiewohl es schwer auszudenken ist. Wenn man es auch aussänne, so würde es doch an den herrschenden Regenten unüberwindliche Hindernisse finden. Wie die Staaten jetzt behandelt werden, so ist an keine Verfassungzu denken, welche die natürlichsten,in der Schöpfung begründeten Rechte auf Gleichheit und Glückseligkeit zum Grunde gelegt hätte. Die beste Regierung ist, welche am wenigsten Eingriffe in dieselben vornimmt. Lachen Sie so laut Sie wollen, so sind doch Ideale, die in der Natur des Menschen, des gesellschaftlichen Menschen sind, wie wohl sie zu den gemachten und angewohnten Maximen, die in [sic] die Stelle der natürlichen getreten sind, nicht paßen.31
In Bodmers Sicht haben politische Traktate, insbesondere wenn sie Reformen der bestehenden Verhältnisse anmahnen, keine Chance, jemals in die Tat umgesetzt zu werden. Die Dichtung, so ist zu ergänzen, vermag hier jedoch mehr zu bewirken. Inwiefern und wie sie das bewerkstelligen könnte, wird in den folgenden Kapiteln näher zu bestimmen sein.
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Bodmer an Johann Heinrich Meister, 1768 (ohne genaueres Datum), zit. nach Johann Caspar Mörikofer: Die Schweizerische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1861 (Fotomechanischer Nachdruck 1977), S. 220, auch zitiert bei Gustav Tobler: Bodmers Politische Schauspiele. In: Johann Jakob Bodmer. Denkschrift zum CC. Geburtstag (19. Juli 1898). Veranlasst vom Lesezirkel Hottingen und herausgegeben von der Stiftung Schnyder von Wartensee. Zürich 1900, S. 120. Mörikofer (1861), S. 220. Bodmer an J. H. Meister, 7. März 1775, zit. nach Josephine Zehnder: Pestalozzi. Idee und Macht der menschlichen Entwickelung. Gotha 1875, S. 727. Bei Zehnder findet sich nur die Jahresangabe, Paul Giroud weist das genaue Datum nach; vgl. ders.: J. J. Bodmer als Politiker und Patriot. Basel 1921 (Diss. masch.), S. 114.
8 Wenn er auch in seiner Skizze keinen konkreten Entwurf für die Form einer idealen Gesellschaft vorlegt, so gibt Bodmer unter Berufung auf das Naturrecht gleichwohl das zentrale Kriterium einer guten Verfassung an: Sie solle die natürliche Gleichheit und Freiheit des Menschen bewahren. Hier zeigt sich bereits, dass auch für Bodmer das Naturrecht den »Rahmen« seiner Dichtungen bildete. Darüber hinaus gibt Bodmer in dieser kurzen Passage auch zu verstehen, dass er den Staat nicht als »eine von Gott oder von der Natur vorgegebene Form«, sondern als eine »künstliche Schöpfung der Menschen« auffasste.32 Dieses Bewusstsein ist die Voraussetzung dafür, die jeweils gegebene Staatsform kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls Verbesserungen vorzuschlagen. Von diesem Bemühen sind, das wird die Untersuchung zeigen, Bodmers Dichtungen getragen. Die hier gewählte gesellschaftstheoretische Lesart von Bodmers Poesie erlaubt es, eine seit Langem bestehende Forschungslücke zu schließen, da sie Bodmers literarische Werke nicht nur mit seinen poetologischen Schriften, sondern auch mit seinem patriotischen Wirken als Gründer verschiedener Zürcher Sozietäten sowie seiner Tätigkeit als Professor für vaterländische Geschichte und Politik an der höchsten Zürcher Ausbildungsstätte im 18. Jahrhundert, dem Collegium Carolinum, zu verbinden sucht. Damit soll eine umfassende Betrachtung von Bodmers Schaffen geleistet werden, deren Ausrichtung Heidemarie Kesselmann bereits vor über 30 Jahren mit folgender These angegeben hat: Das gesamte Schaffen Bodmers, seine ästhetischen Theorien, seine eigenen poetischen Versuche wie die Bemühungen um die Wiederentdeckung der Antike und vaterländischen Vergangenheit gleichermaßen, steht in dem Dienst einer gesamtgesellschaftlichen Erneuerung. Bodmer übersetzt Homer, schreibt antike politische Dramen oder historische wie ›Wilhelm Tell‹ und die ›Cherusker‹ und versucht, alttestamentarische Stoffe zu aktualisieren, regt darüberhinaus seine Schüler zu ähnlichen Arbeiten an, gerade weil es ihm darum geht, Richtlinien und didaktische Beispiele für eine solche Erneuerung zu finden.33
Indem Kesselmann die gesellschaftskritische Tendenz von Bodmers Schaffen betont, gerät sie in Opposition zu der vor allem von Sauder vertretene These der apolitischen Empfindsamkeit: »[D]ie Moral der deutschen Aufklärung und ihrer empfindsamen Tendenz erweist sich bis in ihre Spätphase hinein kaum als direkt und politisch kämpferisch oder 32
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Albrecht Koschorke,Susanne Lüdemann, Thomas Frank, Ethel Matala de Mazza: Vorwort. In: dies.: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt am Main 2007, S. 9. Heidemarie Kesselmann: Die Idyllen Salomon Geßners im Beziehungsfeld von Ästhetik und Geschichte im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte der Idylle. Kronberg/Ts. 1976 (Scriptor-Hochschulschriften Literaturwissenschaft, 18), S. 111f.
9 gar revolutionär.«34 Gegen Sauders Auffassung, die Empfindsamkeit als »Fluchtphänomen, als resignatives Verhalten einer in ihrer politischen Hoffnung enttäuschten Klasse« zu deuten,35 haben bereits Peter Uwe Hohendahl, Nikolaus Wegmann und Wolfram Mauser Einspruch erhoben. Alle drei verstehen die in der empfindsamen Literatur formulierten, auf Tugenden, Moral und Gleichheitsvorstellungen basierenden Gesellschaftsutopien als »Angriff gegen die ständisch-absolutistische Herrschaftsstruktur«,36 wobei Wegmann, ähnlich wie Mauser, der Empfindsamkeit explizit keine »militante Gesellschaftskritik«,37 sondern lediglich eine »›indirekte‹ politische Qualität« attestiert,38 da sie keine direkte Konfrontation mit der bestehenden Gesellschaftsordnung anstrebe.39 Nachdem Vollhardt die große Bedeutung des Naturrechts und der daraus abgeleiteten Pflichtenlehren für die Empfindsamkeit herausgearbeitet hat – die auch Sauder mittlerweile zugesteht –40 , erscheint eine grundsätzliche Negierung einer politischen Dimension der Empfindsamkeit obsolet. Allerdings stellt sich die Frage, ob diese Dimension auch überall gleich ausgeprägt vorhanden war, oder ob es nicht insbesondere zwischen der schweizerischen und deutschen Empfindsamkeit Unterschiede gab. Während in den deutschen Monarchien die Bürger politisch keine Partizipationsmöglichkeiten hatten, zeigt sich die Situation in der Schweiz, und gerade auch in dem konkreten Fall von Zürich, in einem anderen Licht. In der Zürcher »Aristodemocratie« (vgl. Kap. 1) konnten sich die einheimischen Stadtbürger aktiv am politischen Geschehen 34
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Sauder: ›Bürgerliche‹ Empfindsamkeit? In: Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Hg. v. Rudolf Vierhaus. Heidelberg 1981 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 7), S. 149–164, hier S. 158, vgl. auch ders. (1974), S. 54f. Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 57. Peter Uwe Hohendahl: Der europäische Roman der Empfindsamkeit. Wiesbaden 1977 (Athenaion Studientexte, 1), S. 11. Wegmann (1988), S. 58. Ebd., S. 67. – Vgl. auch Wolfram Mauser: Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750. In: Aufklärung 4, 1 (1989), S. 5–35, hier S. 29, wiederabgedruckt in ders.: Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland. Würzburg 2000, S. 17–49. Sauder hat seine Ansicht vor allem damit begründet, dass sich für eine politische Stoßrichtungder Empfindsamkeitin den Texten selbst »keinenAnhalt« finden ließe (Sauder (1981), S. 158). 1992 schrieb Sauder: »Daß aber Vertreter des Naturrechts, wie Samuel Pufendorf oder Christian Thomasius, mit Forderungen nach ›Menschenliebe‹ u. ›Mitleid‹ die empfindsame Tendenz wesentlich initiiert hätten, erscheint unwahrscheinlich.« (Sauder: Empfindsamkeit. In: Literaturlexikon. Begriffe, Realien, Methoden. Bd. 13. Hg. v. Volker Meid. Gütersloh, München 1992, S. 202–206, hier S. 204). 2002 heißt es hingegen: »Vertreter des Naturrechts wie Samuel Pufendorf (1632–1694) oder Christian Thomasius (1655–1728) haben mit Forderungen nach ›Menschenliebe‹ und ›Mitleid‹ die empfindsame Tendenz mit initiiert.« (Sauder (2003), S. 20).
10 beteiligen. Ob davon die empfindsame, sich an ein bürgerliches Publikum richtende Literatur beeinflusst wurde, ist bei der folgenden Analyse von Bodmers Dichtungen zu beachten und dementsprechend nach diesbezüglichen Anhaltspunkten zu suchen. Geleitet wird diese Suche von Mausers These, auf die schon Vollhardt hingewiesen hatte,41 dass die Literatur des 18. Jahrhunderts »im Schnittpunkt von Naturrechtslehre, Glückseligkeitsstreben und Tugenderfüllung zu lokalisieren« sei.42 Der hier verfolgte Anspruch, Bodmers literarisches Schaffen in exemplarischen Fallstudien zu erhellen, kann nur eingelöst werden, wenn dabei das lokale Zürcher Umfeld, in dem sich Bodmer bewegte, mit den internationalen Diskursen, an denen Bodmer teilnahm, in Relation gesetzt wird. Es gilt, sowohl aus einer Mikro- als auch aus einer Makroperspektive Bodmers Dichtungen in den Blick zu nehmen und die Lokalgeschichte mit den europäischen Diskussionen zu verknüpfen, um dem Bedeutungspotential der Texte näher zu kommen. Damit lässt sich gut an die bisherige Bodmer-Forschung anschließen, die sich bislang zwischen den beiden Polen ›lokal‹ und ›europäisch‹ bewegt hat, sich jedoch meistens nur einem Aspekt zuwandte. Aus heutiger Perspektive lassen sich drei große Forschungsbereiche ausmachen, die sich unter die Begriffe ›Literatur- und Sprachtheorie‹, ›Kulturgeschichte‹ und ›Dichtung‹ subsumieren lassen.43 Mit Hilfe von Wolfgang Benders Monographie über Bodmer und Breitinger aus dem Jahre 1973, die einen ungefähren Überblick über Bodmers (und Breitingers) Schaffen gibt, lässt sich der Verlauf der Forschungsgeschichte in groben Zügen wie folgt skizzieren:44 Bereits Bender hatte auf die »Verzerrungen des Bodmer- und Breitinger-Bildes« hingewiesen, die sich durch die »Überbetonung« der poetologischen Schriften ergeben hätten.45 Obwohl seit dem Beginn der Bodmer-Forschung im 19. Jahrhun41 42
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Vgl. Vollhardt (1995), S. 217. Wolfram Mauser: Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik. Auseinandersetzung mit den bisherigen Ergebnissen und Thesen zu einem Neuansatz. In: Lessing Yearbook 13 (1981), S. 253–277, hier S. 273. Diese Bezeichnungen haben heuristische Funktion; es liegt in der Natur der Sache, dass nicht jede Studie exakt nur einem Forschungsbereich zugerechnet werden kann. Wie Bodmer als Person im Zeitraum vom 18. Jahrhundert bis ins Jahr 1942 aufgefasst wurde und worin seine besonderen Verdienste gesehen wurde, hat Elisabeth Flueler in ihrer Studie nachgezeichnet. Auch wenn sie eher nach den Beurteilungen des Menschen Bodmer sucht, lassen ihre Ausführungen doch die jeweiligen Forschungsinteressen erkennen,die kongruent mit der hier vorgelegten Skizze des Forschungsverlaufs sind; Elisabeth Flueler: Die Beurteilung Johann Jakob Bodmers in der Deutschen Literaturgeschichte und Literatur. Freiburg (CH) 1942 (Diss.). Wolfgang Bender: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger. Stuttgart 1973 (Sammlung Metzler, 113), S. VII.
11 dert die Poetiken analysiert wurden, hat sich der Bereich der ›Literaturund Sprachtheorie‹ erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur dominierenden Forschungsrichtung entwickelt.46 Im Vordergrund stehen hierbei Erörterungen der literaturtheoretischen Schriften im Zusammenhang mit der Ästhetikdiskussion des 18. Jahrhunderts, die Hans Otto Horch und Georg-Michael Schulz 1988 in ihrem bis heute gültigen Forschungsbericht ausführlich besprochen haben.47 In den Bereich der ›Literatur- und Sprachtheorie‹ gehören auch Untersuchungen zur Übersetzungs- und Editionsarbeit von Bodmer und Breitinger,48 die Studien zur mit Bodmer einsetzenden (modernen) Literaturkritik49 und sprachwissenschaftliche Fragestellungen;50 er umfasst also diejenigen Bereiche, die Bender in seiner Monographie in den Kapiteln III.3–5 und III.7 erörtert hat.
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So auch Bender: »Der bibliographische Teil unseres Buches zeigt, daß der Anteil der Untersuchungen zum Thema Dichtungstheorie stets überwog.« (Bender (1973), S. 112). Hans Otto Horch, Georg-Michael Schulz: Das Wunderbare und die Poetik der Frühaufklärung: Gottsched und die Schweizer. Darmstadt 1988 (Erträge der Forschung, 262). Sie stellen zusammenfassend fest, dass »im Lauf der Forschungsgeschichte [zur Poetik von Bodmer und Breitinger; J. R.] eine Vielzahl von nur schwer zu systematisierenden Gesichtspunkten zur Geltung« kommen (ebd., S. 150). Die Studien, die sich mit unterschiedlicher Akzentsetzung der Analyse der rhetorischen, philosophischen und poetologischen Traditionen und Einflüsse widmen, beschäftigen sich mit einem bestimmten Kanon von Primärtexten: Gegenstand der Forschung zur Theorie sind in erster Linie die von Bodmer und Breitinger 1727 veröffentlichte Schrift Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs=Krafft, Breitingers Critische Dichtkunst von 1740 und Bodmers im gleichen Jahr veröffentlichte Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen. Gelegentlich beigezogen werden Bodmers Brief=Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes von 1736 und Breitingers 1741 veröffentlichte Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse. Weniger Beachtung in den Studien zur Ästhetik findet hingegen Bodmers Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter aus dem Jahre 1741, die für die Beschäftigung mit dem literarischen Werk von Bodmer aber einen zentralen Stellenwert hat und hier entsprechend erörtert wird. – Einen kurzen Forschungsüberblick gibt auch Peter-André Alt: Aufklärung. Stuttgart, Weimar 2 2001, S. 115–125. Vgl. etwa zuletzt Annegret Pfalzgraf: Eine Deutsche Ilias? Homer und das ›Nibelungenlied‹ bei Johann Jakob Bodmer. Zu den Anfängen der nationalen Nibelungenrezeption im 18. Jahrhundert.Marburg 2003, Matthias Janssen: Findet den, der es gemacht hat! Über Autor, Text und Edition bei J. J. Bodmer und J. Grimm. In: Editio. Beiheft 15 (2000), S. 5–32. Etwa Walter G. Tschacher: Orte der Literaturkritik: London – Zürich – Leipzig. Madison 1989 (Diss.). Etwa Stefan Sonderegger: Johann Jacob Bodmers Verständnis der Sprachvarietäten des Deutschen. In: Chronologische, areale und situative Varietäten des Deutschen in der Sprachhistoriographie. Festschrift für R. Grosse. Hg. v. Gotthard Lechner. Frankfurt a.M., Berlin 1995, S. 201–212.
12 Neben der ›Literatur- und Sprachtheorie‹ hat sich heute die ›Kulturgeschichte‹ als zweites Forschungsfeld etabliert, wovon auch der jüngste Tagungsband Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung Zeugnis gibt. Bei Bender fand dieser Bereich jedoch kaum Erwähnung. Er enthält sozial-, kultur- oder ideengeschichtlich ausgerichtete Studien; es können einzelne Biographien oder auch das Zürcher Sozietätenwesen besonders interessieren oder Bezüge der Zürcher Aufklärung zur schweizerischen oder europäischen Aufklärung analysiert werden. Die wenigen Studien zum Historiker Bodmer gesellen sich diesen hinzu; somit findet dieser Bereich bei Bender im Kapitel III.2 seine Entsprechung.51 Mit ›Dichtung‹ ist schließlich derjenige Forschungsbereich bezeichnet, der sich mit dem literarischen Werk von Bodmer auseinandersetzt – bei Bender Kapitel III.1 und III.6 – und etwa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nur wenig Beachtung erfährt, obwohl er zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Forschungsfeld durchaus ›anerkannt‹ war. Von den 32 Beiträgen des jüngsten Tagungsbandes beschäftigen sich nur gerade sechs mit den Dichtungen Bodmers. An diesen verdienstvollen Interpretationen fällt auf, dass sie sich – so wie es auch in früheren Studien zur ›Dichtung‹ beobachtbar ist – entweder jeweils nur den biblischen Epen zuwenden oder aber sich nur auf das dramatischen Werk konzentrieren. Dies und die Tatsache, dass sehr selten auf die jeweils andere Gattung Bezug genommen wird, bringt die von den meisten Forschern implizit geteilte Annahme zum Ausdruck, die beide Bereiche, der ›biblische‹ und der ›politische‹, hätten nichts miteinander zu tun.52 Dies soll hier hinterfragt werden. Dieser Forschungsverlauf spiegelt sich auch in der Editionsgeschichte von Bodmers Texten wider. Um 1900 herum wurden sowohl kleinere theoretische Schriften als auch literarische Texte von Bodmer neu herausgegeben;53 seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden zwar Bod51
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Etwa Hans Rudolf Merkel: Demokratie und Aristokratie in der schweizerischen Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts. Basel, Stuttgart 1957 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft,65), Ernst Wessendorf: Geschichtsschreibung für Volk und Schulen in der alten Eidgenossenschaft. Ein Beitrag zur Geschichte der schweizerischen Historiographie im 18. Jahrhundert. Basel, Stuttgart 1962 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 84). Diese Ansicht findet sich auch bei Bender, der Bodmers Epen ausdrücklich in die Tradition der Erbauungsliteratur stellte und ihnen damit politische Implikationen absprach; vgl. Bender (1973), S. 59 und S. 112. In den 1880er Jahren erschienen in der Reihe Deutsche Litteraturdenkmale des 18. Jahrhunderts zwei Bände mit Werke Bodmers: Bernhard Seuffert gab 1883 das Trauerspiel Karl von Burgund heraus (Bodmer: Karl von Burgund. Ein Trauerspiel. (Nach Aeschylus). Hg. v. Bernhard Seuffert. Heilbronn 1883 (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. Jahrhunderts in Neudrucken, 9)) und Jacob Baechtold konzentrierte sich auf Bodmers literarische Literaturkritik und ver-
13 mers Milton-Übersetzung, die Wochenschriften und die Poetiken als Faksimile-Ausgaben ediert,54 literarische Texte wurden aber, mit Ausnahme der von Albert Debrunner herausgegebenen Schweizerischen Schauspiele und des von mir edierten Julius Cäsar, Bodmers erstem politischen Drama,55 nicht publiziert. Die kurzen Ausführungen geben bereits zu erkennen, dass mit der Absicht, verschiedene Zugänge zu Bodmers Wirken und Werken zusammenzuführen, dem Verhältnis von empfindsamer Literatur und Bodmers »radikal-politischem Patriotismus«, den die Studien zur ›Kulturgeschichte‹ in jüngster Zeit erforscht haben, besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist.56 Rolf Graber hat 1993 die Zürcher Sozietäten des 18. Jahrhunderts untersucht und sich dabei auf die »politische Jugendbewegung« der 1760er Jahre konzentriert.57 Nach seiner Darstellung sind die jungen
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öffentlichte vier Gedichte von Bodmer (Bodmer: Vier kritische Gedichte. Hg. v. Jacob Baechtold, Heilbronn 1883 (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. Jahrhunderts in Neudrucken, 12)). Johannes Crüger gab 1884 die Schriften von Gottsched und den Schweizern heraus: Auszüge aus den Discoursen der Mahlern, aus Bodmers Nibelungen-Bearbeitung und aus seiner Homer-Übersetzung und die Gottsched-Satire Gottsched, ein Trauerspiel in Versen oder der parodierte Cato werden hier mit Gottscheds Sterbendem Cato und dem Testament der Gottschedin kontrastiert (Johann Christoph Gottsched und die Schweizer J. J. Bodmer und J. J. Breitinger. Hg. v. Johannes Crüger. 1884 (Deutsche National-Litteratur, 42)). Von diesen drei Ausgaben aus den Jahren 1882–84 sticht besonders Baechtolds Ausgabe von 1883 hervor, da er sich als einziger um eine annähernd kritische Edition der ausgewählten Texte bemüht; vgl. hierzu auch Kap. 3.3.1. – Vgl. zu weiteren Anthologien auch Bender (1973), S. 2–6. 1965 erscheint Johann Miltons Episches Gedicht von dem Verlohrnen Paradiese, 1966 der Brief=Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes sowie Breitingers Critische Dichtkunst, 1967 Bodmers Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, 1969 die CritischenBriefe und die Discourse der Mahlern, 1970 Bodmers Critische Betrachtungen der poetischen Gemählde, 1972 der Mahler der Sitten, 1973 die Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts sowie Bodmers Fabel aus der Zeit der Minnesinger. Auch Volker Meid versammelt vor allem poetologische Aufsätze von Bodmer und Breitinger (vgl. Bodmer, Breitinger: Schriften zur Literatur. Hg. v. Volker Meid. Stuttgart 1980 (RUB, 9953)). Auszüge der Poetik finden sich auch in Aufklärung und Empfindsamkeit. Deutsche Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. v. Adalbert Elschenbroich. München, Zürich o.J. Auszüge aus den Poetiken, aber auch literarische Textpassagen (etwa aus der Noachide) finden sich in den Epochen der deutschen Literatur. Aufklärung und Empfindsamkeit. Ein Hypertext-Informationssystem. CD-ROM. Hg. v. Rainer Baasner, Georg Reichard. Stuttgart, Berlin 1998. Bodmer: Schweizerische Schauspiele. Mit einem Nachwort herausgegeben von Albert M. Debrunner. St. Ingbert 1998 (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts, 34) und Bodmer: Julius Cäsar, ein politisches Drama (1763). Mit Materialien und einem Nachwort herausgegeben von Jesko Reiling. Hannover 2009 (Theatertexte, 19), im Folgenden mit der Sigle ›JC‹ zitiert. Bettina Volz-Tobler:Rebellion im Namen der Tugend. ›Der Erinnerer‹– eine Moralische Wochenschrift, Zürich 1765–1767. Zürich 1997, S. 47. Rolf Graber: Bürgerliche Öffentlichkeit und spätabsolutistischer Staat. Sozietätenbewegung und Konfliktkonjunktur in Zürich, 1746–1780. Zürich 1993, S. 61.
14 Zürcher Männer, die öffentlich Kritik am Fehlverhalten einzelner Zürcher Ratsmitglieder und Kirchenvertreter äußerten,58 vor allem von Bodmer angestachelt worden: »Indem er [Bodmer; J. R.] ihnen Naturrechtsphilosophie und kritisch verstandenes Geschichtsbewusstsein gleichsam einimpft, treibt er sie gegen den spätabsolutistischen Staat an«.59 Insbesondere habe Bodmer in der von ihm 1762 gegründeten Helvetischvaterländischen Gesellschaft zur Gerwi seine »aufpeitschende Wirkung« auf die jungen Zürcher entfalten können.60 Bettina Volz-Tobler hat, auf der Studie Grabers aufbauend und wie dieser vorwiegend nur mit Blick auf Bodmers Aktivitäten in den Zürcher Sozietäten, Bodmers Patriotismus als ›radikal-politischen‹ oder ›historisch-politischen‹ näher definiert. Es gehe Bodmer und seinem Kreis um die »Erarbeitung eines Nationalbewusstseins durch das Studium und das Verständnis der Geschichte«:61 »Die Erörterung von Fragen der Verfassung und der Gesetze steht dabei im Vordergrund. Empfindsamkeit hat hier sozusagen keinen Platz, dafür wird republikanisches Heldenpathos gepflegt«.62 Diese Erkenntnisse hat Simone Zurbuchen in ihrer Studie Patriotismus und Kosmopolitismus weitergeführt und Bodmers Patriotismus-Verständnis demjenigen von Isaak Iselin (1728–1782) gegenübergestellt, der einen philanthropischen oder kosmopolitischen Patriotismus vertrat.63 Anders als Bodmers Patriotismus gründe derjenige von Iselin nicht in der »Liebe zu einem Land«, sondern in der »Menschenliebe«.64 Explizit werden somit Bodmer gleich mehrfach ›empfindsame Tendenzen‹ abgesprochen. Es fragt sich daher, ob und wie sich die Erkenntnisse der ›kulturgeschichtlichen‹ Forschungen mit der hier postulierten empfindsamen Literatur Bodmers verbinden lassen. Gleichzeitig wird zu überlegen sein, ob die Erforschung einzelner Teilaspekte nicht zu »Verzerrungen« geführt hat, welche die hier gewählte umfassende Betrachtungsweise korrigieren könnte. Im ersten Kapitel dieser Arbeit werden Bodmers 1741 erschienene Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde analysiert, die sich 58 59 60
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Vgl. ebd., S. 81–124. Ebd., S. 55. Ebd. – Vgl. zur Gerwi-Gesellschaft auch Emil Erne: Die schweizerischen Sozietäten. Lexikalische Darstellung der Reformgesellschaften des 18. Jahrhunderts in der Schweiz. Zürich 1988, S. 105–110, und Kurt Büchi: Historisch-politische Gesellschaften in Zürich 1730–1830. In: 163. Neujahrsblatt der Hülfsgesellschaft in Zürich auf das Jahr 1963. Zürich 1963, S. 22–30. Volz-Tobler (1997), S. 47. Ebd. Vgl. Simone Zurbuchen: Patriotismus und Kosmopolitismus. Die Schweizer Aufklärung zwischen Tradition und Moderne. Zürich 2003, S. 17f. Ebd., S. 95.
15 in vielen Aspekten als Weiterentwicklung von Bodmers und Breitingers 1727 veröffentlichter Schrift Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft erweist. Im Anschluss an neuere Erkenntnisse aus der ›kulturgeschichtlichen‹ Forschung, die sich vor allem mit Bodmers moraldidaktischer Exempellehre auseinandersetzt, wird gezeigt, dass die Character-Lehre einen zentralen Aspekt von Bodmers Poetik ausmacht, die er durch die Verschmelzung von historiographischer Methodik und moralischer Sittenlehre gewinnt. Davon ausgehend werden in den folgenden Kapiteln exemplarisch literarische Texte von Bodmer analysiert, die zur ›Überprüfung‹ des herausgearbeiteten poetologischen Modells beitragen sollen. Die Analyse des Discourses Das Reich der Freude aus den Discoursen der Mahlern von 1722, in dem Bodmer erstmals ein literarisches Gesellschaftsmodell entwirft, erlaubt es, Bodmers frühe ideologische Prägung zum Republikanismus aufzuzeigen (Kap. 2). Die gewonnenen Einsichten erweisen sich auch in den Epen der 1750er Jahre, in Der Noah (1752 u.ö.), in Jacob und Joseph (1751) und in Die Colombona (1753), als zentrale Momente von Bodmers Gesellschaftsverständnis, die hier aber nicht wie im Discours Reich der Freude nur in Form einer lokal begrenzten Gemeinschaft vorgeführt werden, sondern auch als Menschheitsutopien (Kap. 3). Die Epen erlauben einen Einblick in Bodmers anthropologische Auffassungen und gesellschaftlichen Ideale, die sich auch in Bodmers Kinderdramen Die Botschaft des Lebens (1771) und Der Fußfall vor dem Bruder (1773) manifestieren. Abschließend richtet sich der Blick auf Bodmers politische Schauspiele, die sich in der hier verfolgten Lesart als durchaus ›logische‹ Weiterentwicklung von Bodmers früheren literarischen Werken erweisen (Kap. 4).
1.
Von der Historiographie zur Literatur
1.1
Bodmers patriotisches Geschichtsverständnis
Obwohl Bodmer, von 1725 an zunächst als Vikar, seit 1730 dann hauptamtlich, 50 Jahre lang am Zürcher Collegium Carolinum als Professor für »Politik und Vaterlands-Historie« angestellt war,1 weiß man sehr wenig über seine Lehrtätigkeit. Eigene Vorlesungsnotizen oder -mitschriften der Studenten sind nicht überliefert, historiographische Abhandlungen, wie etwa eine Anleitung zum Geschichtsstudium, hat er ebenfalls nicht hinterlassen. Lediglich in den 1730/40er Jahren gab er zusammen mit Breitinger verschiedene historische Quellendokumente heraus2 und verfasste gegen Ende seiner Amtszeit für die 1773 neu gegründeten Zürcher Realschulen zwei Lehrbücher über die Zürcher Geschichte.3 Hin1 2
3
Schulakten des Collegium Carolinum, Staatsarchiv Zürich, E I 16.1. Thesaurus Historiae Helvetiae continens lectissimos scriptores […]. Zürich 1735, Helvetische Bibliotheck, bestehend in historischen, politischen und critischen Beyträgen zu den Geschichten des Schweitzerlands. Zürich 1735–41 und Historische und Critische Beyträge zu der Historie der Eidsgenossen, bestehend in Urkunden, Zeugnissen und Untersuchungen, auch gantzen historischen Werckgen, grösten Theils aus authentischen Handschrifften genommen, und zu mehrerer Beglaubung und Erklärung der vornehmsten Geschichten, vornehmlich mit Absicht auf das grosse Werk Hrn. Jacob Lauffers zusammengetragen. Zürich 1739, vgl. hierzu Tobler (1891), S. 10–15 und S. 21f. sowie Bender (1973), S. 30ff. Bodmer: Geschichte der Stadt Zürich und ders.: Unterredung von den Geschichten der Stadt Zürich. Für die Real-Schulen.Mit hoher Approbation. Zürich. Gedruckt bey David Bürgkli. 1773. Zudem verfasste Bodmer zwei Grammatik-Lehrbücher sowie zwei Lesebücher: Anleitung zur Erlernung der deutschen Sprache. Für die Real-Schule. Mit hoher Approbation. Zürich. Gedruckt bey David Bürgkli. 1773 (weitere Auflagen 1776 und 1778), Die Biegungen und Ausbildungen der deutschen Wörter. Für die Real-Schulen. Mit hoher Approbation. Zürich. Gedruckt bey David Bürgkli. 1773 (zweite Auflage: 1776), Historische Erzählungen die Denkungsart und Sitten der Alten zu entdecken. Zürich, bey Orell, Gessner und Comp. 1769 und Sittliche und gefühlreiche Erzählungen. Für die Real-Schulen. Mit hoher Approbation. Zürich. Gedruckt bey David Bürgkli. 1773 (weitere Auflagen 1782 und 1793). – Vgl. zum Zürcher Schulwesen zuletzt Hanspeter Marti: Die Zürcher Hohe Schule im Spiegel von Lehrplänen und Unterrichtspensen (1650–1740). In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 2008, Neue Folge 128 (2008), S. 395–409, und Vf.: Der traditionelle Unterricht am Collegium Carolinum. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Ausstellung der Zentralbibliothek Zürich. Hg. v. Anett Lütteken, Barbara Mahlmann-Bauer, Jesko Reiling. Zürich 2006, S. 9–11.
17 weise auf die von Bodmer in seinem Unterricht verwendeten Lehrbücher gibt es nur vereinzelt. Neben Jakob Lauffers (1688–1734) helvetischer Geschichte, deren Drucklegung Bodmer in den 1730er Jahren selbst besorgt hatte,4 legte er auch Josias Simlers (1530–1576) Regiment der Loblichen Eydgenoßschaft, das 1576 das erste Mal veröffentlicht und von Bodmer in einer überarbeiteten Neuauflage von 1722 und 1735 benutzt wurde,5 seinen Vorlesungen zur eidgenössischen Geschichte zugrunde. Im Politik-Unterricht stützte er sich auf Franco Burgersdicius’ (1590– 1635) Idea politica, cum annotationibus Georgii Horni (1668)6 und vor allem auf Samuel Pufendorfs (1632–1694) De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo (1673),7 das Kompendium der großen Naturrechtsabhandlung De jure naturae et gentium libri octo aus dem Jahre 1672. Die Bedeutung des Naturrechts für Bodmers Unterricht betonen auch die Nachrufe, die kurz nach Bodmers Tod in Zürich erschienen waren. Sie geben nicht nur Auskunft über Bodmers Lehrtätigkeit, sondern entwerfen gleichzeitig ein deutlich anderes Bild von Bodmer, als es durch Goethes wirkungsmächtiges Diktum in Deutschland verbreitet wurde. Johann Rudolf Schinz (1745–1790) etwa charakterisierte Bodmer als Privat- und Hauslehrer, der den persönlichen und vertraulichen Umgang mit seinen Schülern pflegt und sich dadurch auszeichnet: Wer seine [Bodmers; J. R.] Lehrstunden besuchte, war ihm willkomm [sic], und wer sich aus jedem Stand und Alter mit ihm weitläuftiger in seinem Haus unterhalten wollte, dem öfnete [sic] er alsobald sein ganzes Herz. Da hielt er nicht Vorlesungen, wie die mit Geld bezahltenLehrer auf Universitäten, die für Leute aus allen Classen 4
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Lauffer: Genaue und umständliche Beschreibung helvetischer Geschichte. Aus den bewährtesten Verfassern der alten und neuen Historien und dazu dienenden Urkunden zusammen getragen. Zürich, verlegts Conrad Orell und Comp., 1736– 1739, vgl. hierzu Tobler (1891), S. 16–21. Von dem Regiment der lobl. E¨ydgenoßschaft. Zwey Bücher, in deren ersterem ein kurtzgefasste politische Historie der helvetisch- und eydgenössischen Sachen nebst einer Nachricht von der Eydgenossen unter sich selbst und mit frömden Fürsten und Staaten gemachten Bündnussen Ursprung, Beschaffenheit und HaubtArticuln, in dem anderen aber eine Beschreibung der Eydgenossen Fridens- und Kriegs-Uebungen, samt der Beschaffenheit des Regiments wie der Eydgenössischen Republic insgemein, also jeder derselben XIII und zugewandter Städten und Orthen insbesonder, auch der Regierung deren allseitigen Unterthanen enthalten/ erstlich mit sonderem Fleiss vor anderhalbem Seculo zusamengetragen von Josia Simlero; nun aber mit erforderlichen Anmerckungen erläuteret und bis auf disere Zeiten fortgesetzet von Hans Jacob Leu. Zürich, getruckt bey David Gessner 1722. Vgl. Hans Nabholz: Zürichs Höhere Schulen von der Reformation bis zur Gründung der Universität, 1525–1833. In: Die Universität Zürich 1833–1933 und ihre Vorläufer. Festschrift zur Jahrhundertfeier. Bearbeitet von Ernst Gagliardi, Hans Nabholz, Jean Strohl. Zürich 1938, S. 3–164, hier S. 76. Vgl. Marti (2008), S. 406. – In der Züricher Zentralbibliothek finden sich heute noch fünf Ausgaben von De officio aus der erste Hälfte des 18. Jahrhunderts (1721, 1724, 1728, 1731, 1739).
18 und für alle Orte sich schicken, und für niemand ganz passen. Er legte kein älteres oder neueres System zum Grund. Er sprach mit seinen Schülern wie mit Männern, vertraulich,bald über dies bald jenes Stück der Geschichte, das er sie zu Haus lesen ließ, oder über einen Gegenstand der Gesetzgebung,oder unsererRegierungsverfassung. Er lehrte die Rechte des Bürgers, zeigte wie sich die gesellschaftlichen Pflichten zu dem Naturrecht verhalten, und was jeder Stand in der Gesellschaft für ursprüngliche Rechte vergeben oder verlohren habe, oder anzusprechen hätte. […] Er lehrte niemal [sic] im Professorton, er führte nur Gespräche, und wiese darinn die Menschen, wie sie in verschiedenen Zeitaltern waren und thaten.8
Während Schinz Bodmer nur vorsichtig positiv von den restlichen Professoren am Collegium Carolinum abhob, machte Leonhard Meister (1741– 1811) die Differenzen explizit: Wie mancher von seinen [Bodmers; J. R.] Collegen sah auf ihn, der so wenig schulgerecht war, mit pedantischem Stolze, bald mitleidig, bald mit Aerger herab? Auch aufm Catheder erschien er im Alltagskleide, nicht im academischen Ornate: Er bildete Menschen und Bürger; unmöglich konnt’ er sich zwingen, Gelehrte von Handwerk, nach strenger Schulmethode zu ziehn. […] Ihnen drang er freylich kein zusamenhängendes [sic] System auf; allein sie lehrte er selbst denken. Immer war er bemüht, durch die historische[sic] Beobachtungenauf die Menschheitaufmerksam zu machen; der Mensch war allemal sein Hauptgegenstand.9
Nicht als »Kind« (so Goethe), sondern als charismatischen Nonkonformisten erlebten Bodmers Schüler ihren Lehrer, der das hierarchische Gefälle zwischen Professor und Student beiseite gesetzt und sich ihnen als gleichwertiger Gesprächspartner genähert hatte. Neben der positiven Würdigung der menschlichen Seite Bodmers, die auch in Gottfried Kellers Züricher Novelle Der Landvogt von Greifensee (1877) einen literarischen Nachhall fand, geben die Nekrologe, wie gesagt, auch Einblicke in Bodmers Interessen. Dem Unterricht liege kein theoretisches Lehrgebäude zugrunde,10 vielmehr sei es darum gegangen, die Rechte und Pflichten der Menschen und Bürger »in verschiedenen Zeitaltern« herauszuarbeiten. Die Aufklärung über frühere Verfassungszustände verfolgte zwei Ziele, die an Bodmers Ausführungen über die ideale Verfassung erinnern (vgl. Einleitung): durch den Vergleich von natürlichem und positivem Recht soll die Entwicklung des eigenen Staates studiert werden, um ein fundiertes Urteil darüber fällen zu können, wie gut oder schlecht die gegebene Verfassung sei. Zudem zielte die historische Ana8
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Johann Rudolf Schinz: Was Bodmer seinem Zürich gewesen. Für Ungelehrte von einem Ungelehrten. o.O. 1783, S. 5f., auch in: Zürcherischer Sammler Monatlicher Schweizerischer Neuigkeiten. In Zürich gesammelt. Beilage zum Heft Jänner 1783. Zürich 1783. LeonhardMeister: Ueber Bodmern. Nebst Fragmenten aus seinen Briefen. Zürich, bey Orell, Geßner, Füßli und Compagn. 1783, S. 20f. Auch Max Wehrli verweist darauf, dass Bodmer die Geschichte nicht »in philosophischer Grundsätzlichkeit« befragt habe; vgl. Max Wehrli: Johann Jakob Bodmer und die Geschichte der Literatur. Frauenfeld, Leipzig 1937 (Wege zur Dichtung, 27), S. 32.
19 lyse darauf ab, »jede[m] Stand« die ihm zustehenden positiven Rechte darzulegen. Die Bedeutung und Funktion dieser Unterweisung wird in den Nachrufen nicht weiter erläutert, Bodmer selbst führte sie 1739 explizit an: Böse Menschen […] werden allezeit alles, und das Gute selbst mißbrauchen, aber eben darum sind die Staats= und die bürgerlichen Verfassungen von den Redlichen aufgerichtet worden, jene im Zaum zu halten; damit nun diese [die Redlichen; J. R.] die gehörigen Mittel nicht verfehlen, müssen sie von den Graden ihrer Kräffte und ihrem gantzen Zustand genau unterrichtet seyn.11
So wie die Menschen den Naturzustand verlassen mussten und sich in Gesellschaften zusammenschlossen, um sich gegen Angreifer verteidigen zu können,12 so hat die aktuell bestehende Verfassung die Funktion, vor Übergriffen innerer Staatsfeinde zu schützen. Damit der Versuch, den Staat zu bewahren, nicht dessen Untergang herbeiführe, seien Kenntnisse über Rechte und Gesetze vonnöten, um auf rechtlicher, d.h. staatserhaltender Basis gegen die Feinde vorgehen zu können. Da in einem demokratischen Staat bzw. in einer »Aristodemocratie«,13 wie sie Zürich im 18. Jahrhundert verkörperte, prinzipiell jeder Bürger in die Regierung gewählt werden und somit in die Lage kommen könne, Maßnahmen gegen »Böse« ergreifen zu müssen, müsse auch jeder die diesbezüglichen Rechte kennen: Hierauf wird zwar zuletzt eingewendet, daß die Staats=Wissenschafft nur für die Regenten gehöre, welchen die Sorge für diese Sachen anvertrauet sey, nun machen diese eine sehr kleine Zahl aus, und die Historie sey nicht der Ort, wo ihnen besagte Wissenschafft müsse angewiesenwerden, weil sie für alles Volck geschrieben werde. Dieses mag in despotischenRegierungen mehr Grund haben, als in freyen Ständen, wo ein jeder von dem Volck, der um das Wohl des Vaterlandes bemühet ist, den Zutritt zu den Obrigkeitlichen Aemtern erlangen kan; und an einigen Orten selbst als Privat=Person zu gewissen Standes=Geschäfften muß gezogen werden.14 11
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Bodmer: Empfehlungs=Schrift. In: Historische und Critische Beyträge zu der Historie der Eidsgenossen, Bestehend in Urkunden, Zeugnissen und Untersuchungen, auch gantzen historischen Werckgen, grösten Theils aus authentischen Handschrifften genommen, und zu mehrerer Beglaubung und Erklärung der vornehmsten Geschichten,vornehmlichmit Absicht auf das grosse Werk Hrn. Jacob Lauffers zusammengetragen. Erster Theil. Zürich, verlegts Conrad Orell und Comp. 1739, unpag.; im Folgenden mit der Sigle ›HCB, I‹ zitiert. Vgl. hierzu Kap. 2.3. Nach einem Manuskript der Gerwi-Gesellschaft [Bodmer]: Problemata vom 10ten Marzen A. 1769. Zentralbibliothek Zürich, Ms Bodmer 37.4. II, fol. 54. – Zürich wurde im 18. Jahrhundert allgemein als Aristodemokratie verstanden; vgl. Thomas Maissen: Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. Göttingen 2006 (Historische Semantik, 4), S. 395. Bodmer (HCB, I), unpag. – In Zürich hatte bis zur Helvetik die 1336 durch Rudolf Brun eingerichtete Zunftverfassung Bestand. Neben der Zunft zur Constaffel (Zunft der Ritter und Adligen) gab es zwölf Zünfte, denen die Stadtzürcher Handwerker von Berufs wegen beitreten mussten. Kaufleute, Geistliche und
20 Bodmer verstand also den von ihm angebotenen Unterricht in eidgenössischer Geschichte und Politik als grundlegende Unterweisung eines jeden Zürcher Bürgers, die jener selbst auch als Fundamentalwissen ansehen sollte. Aus dieser Perspektive erklärt sich auch, warum er sich in den 1730er Jahren (erfolgreich) darum bemüht hatte, den Geschichts- und Politikunterricht am Collegium Carolinum als Obligatorium einzuführen: die Kenntnis von Gesetzen und Pflichten ist in einer Aristodemokratie erste Bürgerpflicht.15 Das Geschichtsstudium ist aber nicht nur Ausdruck der Fürsorge für das Vaterland, sondern setzt die Vaterlandsliebe, aus der heraus man für das Wohl der eigenen Gesellschaft tätig wird, bereits voraus. Zu Beginn der Geschichte des Regiments der Stadt Zürich bis auf die Einführung der Zünfte, die ebenfalls in den ersten Band der Historischen und Critischen Beyträge aufgenommen wurde, erläutert Bodmer, dass er die Regiments-Geschichte aus »Liebe zum Vaterland« geschrieben habe und sich die Leser wegen ihrer Vaterlandsliebe seinen vorgelegten historischen Studien zuwenden würden.16 Die Vaterlandsliebe ist für Bodmer ein natürliches Gefühl, das jeder Mensch besitzt. Nicht aus Einsicht in mögliche ökonomische, kulturelle oder politische Vorzüge der Heimat oder weil man auf eine lange Genealogie innerhalb einer bestimmten Region zurückblicken könne, liebe man sein Vaterland, sondern »aus Gewohnheit, weil wir darinn gebohren werden, darauf stehen, treten und gehen, weil es uns zugehöret, und nach unserer Einbildung ein Stück von uns ausmachet«.17 Indem Bodmer die Liebe zum eigenen Land als kreatürliche Eigenschaft des Menschen beschreibt, wendet er sich gegen die herkömmliche Auffassung der Vaterlandsliebe, wonach der eigene Staat meist als Bezugspunkt bestimmter, schätzenswerter Traditio-
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Gelehrte sowie einige gewerbliche Berufe hatten freie Zunftwahl. In den »Grossen« und »Kleinen Rat« konnten nur Zunftmitglieder gewählt werden. Die 212 Mitglieder des »Grossen Rates« hatten die Staatsgeschäfte zu besorgen und waren so etwa für Gesetzgebung, Steuern und Wahl der Beamten zuständig, der Kleine Rat (50 Mitglieder) war für die Vorbereitung und Leitung der Geschäfte verantwortlich und hatte zudem die oberste Gerichtsbarkeit inne; vgl. hierzu Werner Zimmermann: Verfassung und politische Bewegungen. In: Zürich im 18. Jahrhundert. Hg. v. Hans Wysling. Zürich 1983, S. 9–34. Vgl. hierzu (und zum Folgenden) auch Vf.: Geschichtsschreibung in patriotischer Absicht. Zu Bodmers moralisch-politischem Erziehungsprogramm. In: Zürcher Taschenbuch 2008, S. 526–541, jetzt auch Vf.: Die ›Gelehrtheit der Republikaner‹. Johann Jakob Bodmers Rezeption von Isaak Iselins Geschichtsphilosophie. In: Isaak Iselin und die Geschichtsphilosophie der europäischen Aufklärung. Hg. v. Wolfgang Rother, Lucas M. Gisi. Basel 2010 (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel. Neue Folge, 6), im Druck. Bodmer (HCB, I), S. 5. Ebd., S. 2.
21 nen, die andere Staaten nicht haben, verstanden wurde.18 Der konkrete Gegenstand der Vaterlandsliebe, das eigene Vaterland, kommt einem Menschen eher zufällig zu. Zudem werde dieses Gefühl vor allem aus »Eitelkeit des menschlichen Hertzens« immer stärker,19 und trotz dieser moralisch zweifelhaften Verankerung im Menschen habe es einen großen gesellschaftlichen »Nutzen«, da es die »Gemüther aller Einwohner eines gantzen Lands durch dieses dünne aber starcke Band« miteinander verbinde.20 Die Vaterlandsliebe ist die ›Motivationsquelle‹, für das Wohl der eigenen Gesellschaft zu sorgen, und ist der Grund, dass man gute Taten für das Allgemeinwohl lobt und in Erinnerung behält.21 Anders als Charles de Secondat Baron de Montesquieu (1689–1755), der rund zehn Jahre später die Vaterlandsliebe nur als wesentliche Voraussetzung der Republik bestimmte,22 erachtete Bodmer die Vaterlandsliebe als gesellschaftsverbindendes Gefühl in jedem Staat. Da er es gerade nicht mit einer bestimmten Staatsform verknüpfte, sah er jeden Bürger, unabhängig davon, ob dieser in einer Monarchie, Aristokratie oder Demokratie lebte, auch zugleich als Patrioten an. So wie er 1739 jedem Bürger die Liebe zum Gemeinwohl zuschrieb,23 so hatte er 1728 den Patrioten als Menschen definiert, »der ein absonderliches Vaterland hat/ und an desselben eigene Gesetze gebunden ist«.24 Als Patriot sei derje18
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»Die Liebe zum Vaterland ist […] eine Liebe zu dem Land und Boden, worauf wir leben, ohne Absicht auf die innerliche Beschaffenheit desselben.« (ebd.) – Johann Georg Zimmermann führte in seiner Abhandlung Von dem Nationalstolze (1759) die Vaterlandsliebe jedoch gerade auf diese »innerliche Beschaffenheit«, auf Geschichte, Verfassung und Sitten, zurück. Vgl.: »Dieses beweist fürwahr nichts anders, als daß die Liebe zum Vaterland nicht von dem Vater, sondern von dem Land herrühre. Nachdem wir einmahl eine Liebe an den Boden,auf welchen uns die Schickungausgeworffenhat, gelegt haben, nachdem wir uns dessen als des unsrigen bemächtiget haben, schreibet sich unser Stolz alsobald einen Antheil an allem demjenigen zu, was sich darauf jemahls begeben hat, als wann das Land und die Einwohner von allen Zeiten von einem Stücke zusammen hiengen, und eine Verrichtung, so darinn vorgenommen worden, oder ein Zufall, der es betroffen,durch eine nothwendigeFolge mit uns verknüpffetwäre. Daher eignen wir uns das Lob zu, das die alten Einwohner verdienet haben, und wir trauren um das Unglück, das ihnen geschehen ist. Dieses ist die blinde Eitelkeit des menschlichen Hertzens.« (Bodmer (HCB, I), S. 4). Ebd. »Sie bringet ferner die Leute in Bewegung,daß sie um des Vaterlandswillen manche schwere Arbeit verdauen. Sie mißt denjenigen, welche ihre Kräffte dem Vaterland zu Ehren, zum Besten und Trost aufgewendet haben, das ihnen gebührende Lob zu.« (Ebd., S. 4f.). Vgl. Kap. 3.1. Im Vorbericht zum zweiten Teil der Historischenund Critischen Beyträge von 1739 wendet sich Bodmer an seine »Mitbürgern«, die er wenig später als seine »Mitpatrioten« anspricht (Bodmer (HCB, II), S. 3). Bodmer: Anklagung Des verderbten Geschmackes, Oder Critische Anmerkungen Über Den Hamburgischen Patrioten, Und Die Hallischen Tadlerinnen. Frankfurt und Leipzig 1728, S. 29.
22 nige anzusehen, so Bodmer, der »aus Erkanntnis der Nothwendigkeit/ daß die Ordnung in der menschlichen Gesellschafft beyzubehalten seye/ sich den Satzungen seines Vaterlandes willig unterwirfft/ dessen Nutzen nach seinem Vermögen/ seiner Gelahrtheit/ und seinen andern Umständen zu befördern; Hingegen alles/ davon demselben Schaden zufliessen mögte/ abzuwenden geflissen ist«.25 Damit vertritt Bodmer ein für das 18. Jahrhundert typisches Patriotismus-Konzept, wonach der Patriot in den »bestehenden Verhältnissen« wirken und nicht eine »Kraft der Veränderung« im Sinne einer Revolution ausüben will.26 Sein Handlungsziel ist die Verbesserung des Bestehenden und nicht dessen Zerstörung. Diese Aufgabe oblag in Bodmers Augen jedem Bürger: »jedermann, selbst der niedrigste im staat [sic] hat, auf jede Art für das beste des staates [sic] zu sorgen«.27 Deutlich wird hiermit, dass Bodmer die Historiographie in dieses gemeinnützige Konzept integriert hat und durch das Studium der vaterländischen Geschichte und Politik die bestehende Ordnung des Staates erhalten und befördern wollte. Nahtlos fügte er sich mit dieser Auffassung in die seit Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommende patriotische Bewegung ein, die gerade in der Schweiz der Geschichtsschreibung dieselbe gesellschaftsrelevante Bedeutung zuschrieb.28 Diesem Programm war auch die von Bodmer 1762 gegründete Helvetisch-vaterländische Gesellschaft zur Gerwi verpflichtet, die nicht nur historische Quellenforschung betrieb, sondern auch über die bestehenden Verhältnisse in Zürich nachdachte.29 Sie studierte in der Tradition der Helvetischen Gesellschaft, die bis 1746 existiert und die Herausgabe der verschiedenen historischen Schriften besorgt hatte (vgl. oben), die »Gesetze und Sitten des Vaterlandes« und spürte vor allem den jeweils zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt geltenden Rechten, Gesetzen und Staatsbündnissen nach.30 Die Debatten über die Zürcher Stadtrepublik griffen Fragen 25 26
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Ebd., S. 28. Rudolf Vierhaus: ›Patriotismus‹ – Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung. In: ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen. Göttingen 1987, S. 96–109, hier S. 98. Bodmer an Schinz, 10. November 1765, zit. nach Zehnder (1875), S. 470. Vgl. hierzu (auch mit Blick auf Bodmer) Wessendorf (1962), S. 62–91. Vgl. zu den Mitgliedern dieser Sozietät Erne (1988), S. 105–110, zu den Zürcher Sozietäten Graber (1993) und Büchi (1963). Referat von Johann Heinrich Füssli (1745–1832) über die Arbeiten der GerwiGesellschaft (1771), zit. nach Zehnder (1875), S. 130. Zehnder schreibt das Referat irrtümlich der Schuhmacher-Gesellschaft zu. Diese Vereinigung war aber nur von Schülern Bodmers gegründet und besucht worden und hatte, da sich einige Mitglieder von dem eingeschlagenen, politisch radikal-republikanischen Kurs distanzierten, nur kurzen Bestand; vgl. hierzu Daniel Tröhler: Republikanismus und Pädagogik. Pestalozzi im historischen Kontext. Bad Heilbrunn 2006, insbes. S. 39– 123. – Für die historische Arbeit der Gerwi-Gesellschaft hatte Bodmer einen Plan
23 auf, die Bodmers Urheberschaft verraten: »3. Welches sind unsere Staatsgrundsäze, nach dem Sinn, in welchem Montesquieu dieses Wort nihmt [sic]. 4. Woran erkennt man die Neigung der Aristodemocratie zur Oligarchie. 5. Müssen die Töchteren auch dem Geist der Staatsverfassung gemäß erzogen werden.«31 Die Fragen geben das Bemühen zu erkennen, Theorien der politischen Philosophie auf aktuelle Zustände anzuwenden und durch den Vergleich zwischen theoretischem Ideal und konkreten (Züricher) Verhältnissen Verbesserungsmöglichkeiten zu entdecken.32 Das patriotische Geschichtsverständnis korreliert auch mit der allgemeinen wissenschaftlichen Haltung, die sich seit dem 17. Jahrhundert zunehmend in allen Wissenschaftsbereichen beobachten lässt. Vermehrt wurde nach dem Nutzen der Wissenschaften gefragt, was sich auch auf die Disziplinen selbst auswirkte.33 Auch Bodmer und mit ihm sein Freund Breitinger hatten sich schon früh in den Discoursen der Mahlern diesem pragmatischen Wissenschaftsverständnis verpflichtet und dem Gelehrtentum um des Wissens willen eine deutliche Absage erteilt. Beide bemühten sich wie der von ihnen als vorbildhaft angesehene Sokrates, »alle Wissenschafft inner die Circkel der Morale eingeschlossen« zu betreiben:34 Er [Sokrates; J. R.] hielte sich meistens über solche Sachen auf, die den Menschen eigentlichangehen, die geschickt sind, seinen Verstand zu beleuchten,seinen Willen zu reinigen,und ihn mit sich selbst geruhig zu machen: Er redete mit jedermannvon
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entworfen, in dem er die Geschichte der Schweiz vom 10. Jahrhundert an bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts in insgesamt zwölf »Zeitpunkte« mit je drei Abschnitten unterteilte. Zu diesen Abschnitten mussten die Gesellschaftsmitglieder Referate ausarbeiten; für den zweiten »Zeitpunkt« (1291–1351) lautete die Aufgabenstellung: »I. Rechte des Hauses Habsburg disseits des Rheins. […]. II. Von der Aufsezung [sic] der Östreichischen Landvögten und dem Aufstand der III. Länder gegen [s]ie. Ihre Verbindung. III. Von Östreichs Unternehmungen [s]ie mit Kriegsmacht zu bezwingen.« (Eintheilung der Schweizerischen Geschichten, Stadtbibliothek Zürich, Ms Bodmer 37.4. II, fol. 49,1). Ein Teil der gehaltenen Referate findet sich noch in Bodmers Nachlass (Stadtbibliothek Zürich, Ms Bodmer 37.4 und Ms G 217ff.). Problemata vom 10ten Marzen A. 1769, Stadtbibliothek Zürich, Ms Bodmer 37.4. II, fol. 54. Tobler listet weitere Diskussionsthemen auf; vgl. Tobler (1891), S. 46. Dass die Zürcher Obrigkeit diese Reflexionen als staatsgefährdend verdächtigte, liegt auf der Hand; vgl. hierzu Kap. 4. Vgl. hierzu zuletzt Merio Scattola: ›Histoira literaria‹ als ›historia pragmatica‹. Die pragmatische Bedeutung der Geschichtsschreibung im intellektuellen Unternehmen der Gelehrtengeschichte. In: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. v. Frank Grunert, Friedrich Vollhardt. Berlin 2007, S. 37–65, und Nützliche Wissenschaft und Ökonomie im Ancien Régime. Akteure, Themen, Kommunikationsformen. Hg. v. André Holenstein, Martin Stuber, Gerrendina Gerber-Visser. Heidelberg 2007 (Cardanus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte, 7). Breitinger: 12. Discours, Zweiter Teil. In: Bodmer, Breitinger: Die Discourse der Mahlern. Zürich 1721–23. (Faksimiledruck Hildesheim 1969. Vier Teile in einem Band), S. 93. Im Folgenden zitiert mit der Sigle ›DM‹ und Bandangabe.
24 den Pflichten gegen dem obersten Wesen, gegen die unsterbliche Seele, und gegen den Leib; von der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit; von der Weißheit [sic] und Thorheit, von der Tapfferkeit und Zaghafftigkeit, von dem Nutzlichen, Lustigen und Billigen, von der Unverdrossenheit; von der Filzigkeit, von dem Staat und den Qualiteten eines Staats=Mannes: Mit einem Wort, er bliebe allezeit über solchen Materien, derer Wissenschafft jedweder vernünfftige Mensch bedarff […].35
Rund 40 Jahre nach der Veröffentlichung der Discourse der Mahlern lobte Leonhard Usteri (1741–1789), ein Carolinum-Schüler Bodmers und Breitingers, seine beiden Lehrer als »nos Socrates ou Rousseaus« gegenüber Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) wärmstens und begründete sein Lob, das auch die oben zitierten Nekrologe äußerten, mit der moralischen und politischen Erziehung, durch die Bodmer und Breitinger einen Teil der Zürcher Gesellschaft geprägt hätten:36 »ce sont nos vrais pères, ce sont eux qui nous ont élevés, c’est a eux que la Patrie devra bientot ses meilleurs citoiens, ses meilleurs magistrats & ces meilleurs ministres.«37 Indem Usteri auf die gute Bürgererziehung verweist, die Bodmer und Breitinger geleistet hätten, bezeugt er, dass beide Gelehrten die von ihnen propagierte Methode der nützlichen Wissenschaft auch praktiziert haben.38 Für Bodmer und Breitinger war Sokrates eine »Autorität in Fragen einer lebenspraktischen Moral«,39 der sie sich Zeit ihres Lebens verpflichtet fühlten.
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Breitinger (DM, II), S. 91. Usteri an Rousseau, 20. Januar 1763, zit. nach Jean-Jacques Rousseau: Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau, Tome XV. Édition critique établie et annotée par R. A. Leigh. Banbury, Oxfordshire1972, S. 76–84 (Nr. 2444), hier S. 82. Ebd. Vgl. hierzu auch Kap. 2. – Dass man ausgehend von einer umfassenden Quellenauswertung ein Bild von Bodmer und der Zürcher Aufklärung entwerfen kann, das sich vom demjenigen der preußisch geprägten Literaturgeschichtsschreibung unterscheidet, hat zuletzt auch Uwe Hentschel deutlich gemacht; vgl. Uwe Hentschel: Die Zürcher Aufklärung im Spiegel der deutschen Reiseliteratur. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (2009), S. 598–619, vgl. auch ders.: Verkanntes Zürich. Das Bild einer Kulturlandschaft im 18. Jahrhundert. In: Poetica 32, 3–4 (2000), S. 351– 371, insbes. S. 360f. Wolfram Mauser: ›Prussorum Sokrates‹. Mendelssohns ›Phädon‹, oder: die Kraft der gesunden Vernunft. In: ders. (2000), S. 419–433, hier S. 421. – Die Bezeichnung ›Socrates‹ spielt auch auf die französische Übersetzung des Spectator (Le Spectateur ou Le Socrate moderne) an, durch die Bodmer erstmals mit dem Spectator, der das Vorbild der Discourse der Mahlern bildete, in Kontakt kam.
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1.2
Der Character und seine Funktionen in der Geschichtsschreibung und Sittenlehre
Das patriotische Geschichtsverständnis schließt sich an die antike Auffassung von der Geschichte als magistra vitae an, die Cicero wirkungsmächtig in De Oratore vorgetragen hatte.40 Diese moralische Vorbildoder Exempelfunktion erhält die Geschichte, wenn sie die historischen Persönlichkeiten psychologisch genau analysiert und deren Handlungsmotive aufdeckt. Diese Beschreibungen bezeichnete Bodmer als »Historische, oder Personal=Caractere[ ]«.41 Durch sie gewinne der Leser Einsicht in menschliches Verhalten und sei so in der Lage, die gewonnenen Erkenntnisse auf sein eigenes Lebensumfeld anzuwenden und die privaten und öffentlichen Handlungsweisen seiner Mitmenschen richtig einzuschätzen.42 Für Bodmer gründet hierin die große (didaktische) Leistung der Geschichtsschreibung, die er jedoch – und hiervon wird zu reden sein – ab den 1740er Jahren vor allem der Poesie zuschreibt. Als 40
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»Historia vero, testis temporum, lux veritatis,vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis, qua voce alia nisi oratoris immortalitati commendatur?« [»Was aber die Geschichte angeht, die Zeugin der Zeiten, das Licht der Wahrheit, das Leben der Erinnerung, die Lehrerin des Lebens, die Künderin der alten Zeit – durch welche andere Stimme als die des Redners wird ihr Unsterblichkeit verliehen.«] (Cicero: De Oratore. Über den Redner. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Theodor Nüßlein. Düsseldorf 2007, Buch II,9,36). Bodmer (DM, III), S. 92. – ›Character‹ wurde im 18. Jahrhundert (und früher) auch als literarische Gattung verstanden: »Ich nenne Caracteren diese subtilen und ordentliche Beschreibungen aller derjenigen Qualiteten/ durch welche sich […] eine Person underscheidet« (Bodmer (DM, I), unpag.). Um diese Differenz zur heutigen, eingeschränkteren Alltagsbedeutung anzuzeigen, wird im Folgenden die Schreibweise ›Character‹ verwendet. – Vgl. dazu auch Rudolf Hillebrand: ›Charakter‹ in der Sprache des vorigen Jahrhunderts. Auch ein Beitrag zur inneren Geschichte unserer Literatur. In: Beiträge zum deutschen Unterricht (1897), S. 289–302. »Wann die Historie ein Vorbild abgeben soll, nach welchem wir das Leben aus der Betrachtung der Aufführung anderer Leute einrichten sollen, so muß sie uns die Absichten vor Augen legen, welche die Menschen bey einem Unternehmen gehabt, sie muß uns die Grundsätze entdecken, nach welchen sie gehandelt, sie muß uns alle die verschiedenen Mittel eröffnen, womit sie jede besondere Absicht zu erreichen getrachtet haben, und uns aufs genaueste berichten, wie weit ein jegliches Mittel sie zu ihrer Absicht geführt habe. Jedermann weiß überhaupt, daß die Menschen eitele, ehrgeitzige, stoltze Absichten haben, man weiß auch insgemein gewisse Mittel, womit sie ihren Begierden ein Genügen zu thun beflissen sind: aber die wenigsten sind geschickt in einer besondern Vorfallenheit zu bestimmen, worinne sie eitel, ehrsüchtig, und hochmüthig sind; durch was für krumme und dem Ansehen nach entfehrnte Wege sie bemühet sind zu ihrem Zweck zu kommen. Diese Stücke machen eine Historie rechtschaffen nützlich und des Aufhebens würdig. Daraus lehrnet man sich nicht nur in die allgemeinen und alltäglichen Begebenheiten richten, sondern wird fähig auch in den verworrenen und unversehenen Zufällen auf grossen Aemtern und Posten mit Vorsicht und Klugheit zu handeln.« (Bodmer: Vorrede. In: Helvetische Bibliotheck, Drittes Stück. Zürich 1735, S. 6).
26 Historiker verblieb er mit dieser Geschichtsauffassung in überlieferten Bahnen und nahm an der von Reinhart Koselleck beschriebenen Entwicklung, die den Topos ›historia magistra vitae‹ seit Mitte des 18. Jahrhundert allmählich als Paradigma verabschiedete, nicht teil.43 Er blieb einem historiographischen Programm verpflichtet, das Johann Kaspar Escher (1678–1762)44 während der Schulreform von 1713ff. für die neu eingerichtete Geschichtsprofessur vorgeschlagen hatte.45 Escher verweist in seinem Memorial von 1715 auf Heinrich Bullingers 1594 posthum erschienene Studiorum ratio und empfiehlt dessen Erläuterungen im Kapitel de lectione historiae als geeignetes »Methodum« für das vaterländische Geschichtsstudium.46 Bullinger hatte sich in seiner Studienanleitung auf Ciceros Geschichtsbestimmung berufen und vor allem den moralischen Nutzen der Geschichte hervorgehoben.47 Bei der Lektüre von Geschichtswerken solle man auf die Exempla (»exemplum« oder auch »personae descriptio«) achten, die im Vergleich mit der eigenen Gegenwart zu erkennen geben, »qui boni, qui mali, qui reipublicae commoda, qui sua querant compendia«.48 Bullinger rät zudem, die wiedergegebenen Reden der historischen Persönlichkeiten genau zu studieren, empfehlenswerte Geschichtsschreiber seien Sallust (De Catilinae coniura-
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Vgl. Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1979, S. 38–66, vgl. zur Geschichte des Topos bis ins 18. Jahrhundert Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991, S. 44–66. Weitere biographische Angaben in Michael Kempe, Thomas Maissen: Die Collegia der Insulaner, Vertraulichen und Wohlgesinnten in Zürich 1679–1709. Die ersten deutschsprachigen Aufklärungsgesellschaften zwischen Naturwissenschaften, Bibelkritik, Geschichte und Politik. Zürich 2002, S. 128–134. Der Lehrstuhl für Geschichte und Politik wurde erst 1713 durch ein Legat des Grüninger Landvogts Johann Rudolf Hess (1646–1695) eingerichtet und war damit – neben der 1724 eingeführten Professur für Naturrecht – eine der jüngsten Professuren am Carolinum; vgl. Nabholz (1938), S. 71–77, vgl. zur Schulreform Friedrich Haag: Die Entstehung der Zürcher Schulordnung von 1716 und ihr Schicksal bis auf Pestalozzis Zeit. Berlin 1910 (Beiträge zur Geschichte der Erziehung und des Unterrichts in der Schweiz, 20). Johann Kaspar Escher: Memorial, zit. nach Haag (1910), S. 86. Bullinger zitierte aber nicht direkt aus Cicero, sondern aus »einem oder mehreren Schriftstellern der Renaissance« (Heinrich Bullinger: Werke. Sonderband: Studiorum ratio = Studienanleitung. 2 Bde. Teilband 2: Einleitung, Kommentar, Register. In Verbindung mit dem Zwingliverein in Zürich und dem Institut für Schweizer. Reformationsgeschichte herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Peter Stotz. Zürich 1987, S. 123). Bei Bullinger heißt es: »[…] rectissime finierunt, qui dixerunt historiam esse testem temporum, lucem veritatis, magistram vitae, nuntiam vetustatis.« (ebd., Bd. 1, S. 46) Die Charakterisierung »vita memoriae« fehlt. Ebd.
27 tione), Titus Livius (Ab urbe condita libri ), Sueton (De vita Caesarum ) und Plutarch (Vitae parallelae).49 Bodmer selbst berief sich aber nicht auf Bullinger oder gar auf die antiken Geschichtsschreiber, sondern bekannte in Mein poetisches Leben: »Einige Fragmente von St. Evremond würkten stark auf meinen Geschmack«.50 Wie groß der Einfluss des französischen Gelehrten Charles de Saint-Evremond (1614–1703) auf Bodmer war, lässt sich an den ausführlichen Zitaten in den Discoursen der Mahlern und vor allem auch in den späteren Schriften ermessen. Saint-Evremond, durchaus die humanistische Tradition fortführend, hatte sich in seinem erstmals 1684 publizierten Aufsatz Sur les Historiens franc¸ois kritisch mit der zeitgenössischen französischen Historiographie auseinander gesetzt und dafür plädiert, die moderne Geschichtsschreibung nach dem Muster der antiken auszurichten.51 Neben der aus der antiken Historiographie abgeleiteten Forderung, vermehrt Kulturgeschichte zu betreiben und so etwa Sitten und Bräuche zu beschreiben, sollten sich die Historiker auf die Charactere von historischen Personen konzentrieren, wodurch die Mittelmäßigkeit der französischen Geschichtsschreibung überwunden werden könnte. Der »merite mediocre« der zeitgenössischen Historiker sei nämlich der Tatsache geschuldet, dass sie der »dignité de la matiere« nicht gerecht würden,52 indem sie den Menschen mit seinen Affekten aus ihren historischen Erzählungen ausblenden und damit die Ursachen historischer Ereignisse nicht schildern würden: Ils [die zeitgenössischenfranzösischenHistoriker;J. R.] on cru qu’ un recit exact des evenemens suffisoit pour nous instruire, sans considerer que les affaires se font par des hommes que la passion emporte plus souvente que la politique ne les conduit. […] [L]a passion fait agit presque tout le monde, et presque toûjours.53
Saint-Evremond lehnte eine rein chronologisch verfahrende Historiographie ab und forderte deshalb die Rückbesinnung auf die antike Tradition, deren Vorzüge er mit dem vom römischen Historiographen Sallust verfassten, auch von Bullinger empfohlenen Character von Catilina ausführlich verdeutlichte. Auch für Bodmer besaß dieser Character paradigmatische Bedeutung: im 5. Discours des ersten Teils der Discourse der Mahlern zitiert er ihn in deutscher Übersetzung, in Von dem Einfluß und 49
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Vgl. zur humanistischen Geschichtsschreibung auch Rüdiger Landfester: Historia magista vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts. Genf 1972 (Travaux d’Humanisme et Renaissance, 123). Bodmer: Mein poetisches Leben. Herausgegeben von Theodor Vetter. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1892 NF 15 (1892), S. 123–131, hier S. 125. Vgl. für das Folgende Michael Jaspers: Saint-Evremond als Vorläufer der Aufklärung. Heidelberg 2002, insbes. S. 65–86. Saint-Evremond: Œuvres en prose. Bd. III: 1684–1689. Textes publiés avec Introduction, Notices et Notes par René Ternois. Paris 1966, S. 61. Ebd., S. 88.
28 Gebrauche der Einbildungs=Krafft und in den Critischen Betrachtungen der poetischen Gemählde der Dichter auf Lateinisch.54 Saint-Evremonds historiographische Reflexionen standen somit nicht nur für Bodmers berühmten 5. Discours Pate, wie Wehrli annahm,55 sondern prägten auch die Erläuterungen in den späteren Schriften. Sowohl in Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs=Krafft als auch in den Critischen Betrachtungen betont Bodmer, dass ihm Saint-Evremonds Kommentare »so viel als Regeln« über den Catilina-Character gelten würden.56 Die Gegenüberstellung dieser beiden vierzehn Jahre auseinander liegenden Schriften zeigt, dass Bodmer in den dreizehnten Abschnitt der Critischen Betrachtungen die Ausführungen zum Personal-Character aus der Einbildungs=Krafft weitgehend ohne Veränderungen übernimmt.57 Damit lässt sich eine Antwort auf die bislang nicht geklärte Frage geben, welche Kapitel der Einbildungskraft-Schrift Breitinger und welche Bodmer zuzuschreiben sind. Bodmer dürfte der Urheber der Ausführungen zum moralischen und historischen Character sein;58 auch die daran anschließenden Abschnitte zur Rede, die dem Character gemäß gestaltet werden soll, transferiert Bodmer in die Critischen Betrachtungen,59 ebenso die Ausführungen zur Dramenfigur Sophonisbe, die in den Dramen von Gian Giorgio Trissino (Sofonisba, 1524), Pierre Corneille (Sophonisbe, 1663), Nathaniel Lee (Sophonisba, or Hannibal’s Overthrow, 1676), und Daniel Caspar von Lohenstein (Sophonisbe, 1680) auftritt.60 Bodmer ist also als Autor der Abschnitte ab Seite 146 der Schrift Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs=Krafft anzusehen; Breitinger dürfte – darauf hatte bereits Hans Bodmer 1897 hingewiesen –61 den 54
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Vgl. Bodmer, Breitinger:Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs=Krafft; Zur Ausbesserung des Geschmackes: Oder Genaue Untersuchung Aller Arten Beschreibungen/ Worinne die Außerlesenste Stellen der berühmtesten Poeten dieser Zeit mit gründlicher Freyheit beurtheilt werden. Franckfurt und Leipzig 1727, S. 185; im Folgenden mit der Sigle ›EK‹ zitiert; vgl. Bodmer: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter. Mit einer Vorrede von Johann Jacob Breitinger. Zürich, verlegts Conrad Orell und Comp. 1741. (Faksimiledruck Frankfurt a.M. 1971), S. 396; im Folgenden mit der Sigle ›PG‹ zitiert. Vgl. Wehrli (1937), S. 19. Bodmer, Breitinger (EK), S. 190; Bodmer (PG), S. 400. Insbesondere der Rekurs auf Saint-Evremond, den Bodmer in Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs=Krafft nutzt, um die Eigenschaften des PersonalCharacters zu erläutern, erscheint in den Critischen Betrachtungen mit nur geringfügigen stilistischen Überarbeitungen; vgl. Bodmer, Breitinger (EK), S. 185–198 und Bodmer (PG), S. 395–410. Vgl. Bodmer, Breitinger (EK), S. 147–198. Vgl. Bodmer, Breitinger (EK), S. 199–228; Bodmer (PG), S. 458–518. Vgl. Bodmer, Breitinger (EK), S. 228–235; Bodmer (PG), S. 422–429. – All diese Textübernahmen weist Bodmer in den Critischen Betrachtungen nicht aus. Vgl. Hans Bodmer: Johann Jakob Breitinger, 1701–1776. Sein Leben und seine literarische Bedeutung. Erster Teil. Zürich 1897, S. 79–82.
29 Großteil der vorangehenden Kapitel dieser Poetik verfasst haben.62 Auch hier zeigt sich, dass Bodmer vor allem am Menschen und an dessen literarischer Darstellung, dem Character, interessiert war. Indem der Mensch als das die Geschichte vorantreibende Moment ins Zentrum von Bodmers historiographischer Arbeit rückt und die Erforschung des Menschen somit zur Grundlage der Historiographie wird, wird ein heilsgeschichtliches Konzept von Geschichte in den Hintergrund gedrängt. Während Bullinger in seiner Studiorum ratio lediglich von der Lektüre der Geschichtswerke sprach, ohne ein geschichtstheoretisches Modell zu entwerfen, und die Geschichte – das zeigte sein Verweis auf die Rhetorik – gemäß dem humanistischen Verständnis als Teil des ArtesStudium auffasste, wertet Bodmer die Geschichte (und die mit ihr verwandten Künste) auf. Die bei ihm (und auch bei Saint-Evremond) fehlende Einbindung in die Heilsgeschichte lässt sich als Ausdruck eines – im Vergleich zu Bullinger – neuen Geschichtsmodells deuten, das selbst wiederum ab den 1770er Jahren durch geschichtsphilosophische Ansätze, wie etwa von Isaak Iselin in den Philosophischen Muthmaßungen über die Geschichte der Menschheit von 1764, abgelöst wurde.63 Als ›vermittelnde Instanz‹ der Geschichte bzw. als Garant dafür, dass eine vom Heilsgeschehen abstrahierende Geschichte, wie sie Bodmer betreibt, nicht sinnlos und kontingent wird,64 wird der Mensch mit seinen Affekten bzw. der »Character der Person[ ]« zum »Schlüssel« der Geschichte, der die »Unternehmungen/ so eine Person zu machen fähig ist/ […] beglaubigen und errathen« lasse.65 Als Schlüssel der Geschichte sorgen die Character für die Kausalität der historischen Ereignisse, da sie die Erklärungen für Geschehenes und auch für Zukünftiges geben. Nicht nur für die Geschichtsschreibung, sondern auch für die Sittenlehre erörterte Bodmer den Gebrauch und die Funktion des Characters. Dabei 62
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Ohne die einzelnen übernommenen Teile genauer auszuweisen (und für sie einen Autor in Anschlag zu bringen), hat bereits Bender auf die Aufnahme verschiedener Passagen aus der Schrift über die Einbildungs=Krafft in Bodmers Critischen Betrachtungen hingewiesen; vgl. Bender (1973), S. 88. Zuletzt wiederholte Dietmar Till diesen Befund, ohne aber die Verfasserschaft zu klären; vgl. Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit, 91), S. 407. Vgl. Koselleck (1979), S. 47–66, oder Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Basel 2006 (Schwabe Philosophica, 8). Vgl. Muhlack (1991), S. 50ff. und S. 335ff. Bodmer, Breitinger (EK), S. 184. – Der Begriff ›Schlüssel‹ fällt bereits im 5. Discours des ersten Teils der Discourse der Mahlern und wird auch im 42. Blatt des Mahlers der Sitten nochmals angeführt; vgl. Bodmer: Der Mahler der Sitten. Von neuen übersehen und starck vermehret. 1. Band. Zürich, verlegts Conr. Orell u. Comp. 1746, S. 480; im Folgenden mit der Sigle ›MS‹ zitiert.
30 achtete er sorgsam darauf, den historischen vom moralischen Character, der im 18. Jahrhundert in den moralischen Wochenschriften eine große Verbreitung fand,66 zu unterscheiden. Dass sich Bodmer als einer der Ersten im deutschen Sprachraum mit der Definition des Characters beschäftigte, ist wohl im wesentlichen auf die ars historica von Saint-Evremond zurückzuführen. Sowohl im englischen Spectator, als auch in dessen französischer Übersetzung, dem Spectateur, lassen sich diese ausführlichen Reflexionen zum Character nicht finden, wohl aber ›konkrete‹ Charactere als literarische Schilderungen.67 Das Verhalten bzw. die »Handlungen« seien die »deutlichsten Merckzeichen/ durch welche der innere Zustand des Gemüthes sich zu erkennen giebt«, und würden »Sitten« genannt,68 deren Beschreibungen folglich »Character der Sitten«.69 Diese wiederum ließen sich aufteilen in »Moralische« oder »Historische«;70 während der historische Character die Eigenschaften einer bestimmen historischen Person (oder Nation, vgl. unten) vorstelle, zeige der moralische Character die verschiedenen Manifestationsformen einer bestimmten Tugend oder eines bestimmten Lasters.71 Da der moralische Character zum Bereich der Sittenlehre gehöre, solle er, wie Bodmer als einer der Herausgeber der Discourse der Mahlern prononciert verkündete, in den Discoursen Aufnahme finden, der historische Character jedoch nicht:72
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Vgl. Susanne Niefanger: Schreibstrategien in Moralischen Wochenschriften: formalistische, pragmatische und rhetorische Untersuchungen am Beispiel von Gottscheds ›Vernünfftigen Tadlerinnen‹. Tübingen 1997 (Medien in Forschung und Unterricht; Serie A, Bd. 45). Nach Ute Schneider: Der moralische Charakter, ein Mittel aufklärerischer Menschendarstellung in den frühen deutschen Wochenschriften. Stuttgart 1976 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Bd. 19), S. 19, sei Bodmers Definition 1728 in der Hamburgischen Moralischen Wochenzeitschrift Die Matrone nochmals abgedruckt worden, was die avancierte Position Bodmers in der Gattungsdiskussion unterstreicht. Bodmer, Breitinger (EK), S. 147. Bodmer, Breitinger (EK), S. 147; in ähnlichen Formulierungen in Bodmer (PG), S. 363f. Ebd. Vgl.: »Die moralischenCharakter sind nicht wie die historischennur einer gewissen Person eigen, sie erstrecken sich nicht auf alle Eigenschaften einer besondern Person, und den Zusammenhang derselben in einem gewissen Masse, und in gewissen Graden und Absätzen; diesen überläst [sic] der Moraliste den Geschichtschreibern zu bestimmen; er hält sich allein bey einer absonderlichenEigenschaftauf, bey einer Art von Tugend, Neigung, Laster; welche er in ihrem Ursprunge, und ihren Würckungen betrachtet,und in mehr als einem Lichte schildert.Sie schickensich darum auf eine Menge Menschen, welche davon angesteket [sic] sind.« (Bodmer (MS, I), S. 485). Vgl. hierzu auch Wolfgang Martens: Moralische Charaktere.In: Physiognomie und Pathologie. Zur literarischen Darstellung von Individualität. Festschrift für Karl
31 […] [D]enn wir [die Herausgeber; J. R.] haben uns im übrigen schon erkläret/ daß wir keine Caracteren machen/ die eine eintzige Person allein angehen; wir machen nur die Caracteren einer specialen Tugend/ oder eines specialen Lasters. Die historische [sic] Caracteren haben niergend [sic] Nutzen als in der Historie/ wo sie dienen die Intriquen des Friedens und des Krieges zu erklären: Der Moraliste kan dieselben ohne Schaden weglassen.73
Die Begründung für den Ausschluss des historischen Characters aus der moralischen Wochenschrift scheint zunächst nur auf die spezifischen Anforderungen der medialen Vermittlungsform zu rekurrieren. Da es im Medium der Wochenschrift darum geht, eine allgemeine menschliche Eigenschaft zu loben oder der Lächerlichkeit preiszugeben, scheint die sorgfältige Ergründung des Verhaltens einer Person nicht angebracht, da hiermit nur ein Einzelfall vorgeführt werden würde. In dem Zitat deutet sich aber noch eine weitere Dimension an, die Bodmer 1741 in den Critischen Betrachtungen explizit benennt: Da diese [die moralischen Character; J. R.] zur Regierung des Lebens im gemeinen Handel und Wandel dienen, haben jene [die historischen Character; J. R.] ihren Nutzen in dem politischenLeben, im Regiment, im Kriege, im Staate, wo sie uns die Männer, die am Steuer sitzen, bekannt machen; die Handlungen, und Sitten, so sie schildern, beziehen sich auf das Wohl oder Uebel eines Lands, einer Stadt, einer Gemeinde; und weil die Historie eben dieses zu ihrem vornehmsten Augenmercke hat, sieht man warum die persönlichen Character eigentlich derselben zukommen.74
Während aus der Geschichte Lehren für das politische Verhalten gewonnen werden sollen, beschränken sich die moralischen Wochenschriften auf den Unterricht im alltäglichen, privaten Verhalten. Wie sorgsam Bodmer und Breitinger diese Grenze zu Beginn der 1720er Jahre in ihren Discoursen einzuhalten versuchen, zeigt sich auch an einem publizierten Aufruf, in dem sie die Leser auffordern, Beiträge einzusenden, die sich mit »Schweitzerischen Sitten« befassen und »besonderbare Nachrichten von den fremdesten Gewohnheiten und Moden des Schweitzerlandes« enthalten sollen.75 Deutlich bemühen sich die beiden Herausgeber darum, die Grenze zur Politik nicht zu überschreiten, indem sie explizit nur Nachrichten über die »unterschiedenen Moden der Aufferziehung [sic];
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Pestalozzi zum 65. Geburtstag. Hg. v. Wolfram Groddeck, Ulrich Stadler. Berlin, New York 1994, S. 1–15, hier S. 2f. Bodmer (DM, II), S. 15. Vgl. dazu auch: »Wir nennen diese Beschreibungen der Paßionen die einen Menschen regieren, und der Graden, in welchen sie sich bey ihm befinden, Historische, oder Personal=Caracteren, und es ist ein tieffsinniges Nachspühren vonnöthen, solche zu machen. Wir haben schon an andern Orten erwehnet, dass Caracteren von dieser Art einem Moralisten wenig dienen, und dass sie allein in historische und politische Wercke gehören.« (Bodmer (DM, III), S. 92). Bodmer (PG), S. 392, ohne Entsprechung in (EK). Bodmer (DM, III), S. 95, auch abgedruckt in Das geistige Zürich im 18. Jahrhundert. Texte und Dokumente von Gotthard Heideggerbis HeinrichPestalozzi. Hg. v. Max Wehrli. Zürich 1943, S. 54–60.
32 die Moden die Jungfern zu caressiren, Hochzeit zu machen, die Ehfrauen zu halten; die Conversationen der Männeren mit dem Frauenzimmer; die Freyheit die darinnen regiert, die Divertissmens der Herren, der Damen, der Bauern; die Cerimonien der Politesse, und das Aussehen der Barbarie; der Geschmack für die Eloquentz, Poesie, Gelehrtheit; die Gebräuche bey Leichbegängnissen, Geburts=Tagen; die Kleider=Moden; und dergleichen« einfordern.76 Diese »Briefe« wollen sie »hernach dem Leser in der Form Moralischer Zeitungen aus der Schweitz« veröffentlichen.77 Mit diesem Wunsch verfolgen Bodmer und Breitinger ein kulturgeschichtliches Ziel, das auch Beat Ludwig von Muralt (1665–1749) in seinen Lettres sur les Anglois et les Franc¸ois (1725) verfolgt hatte.78 1727 (und erneut 1741) bezeichnet Bodmer Muralts Lettres als bestes Beispiel für einen historischen – und nicht moralischen – National-Character,79 den Bodmer in Analogie zum historischen »Personal = Character« als »eine Art de[s] persönlichen« Characters verstand (vgl. Kap. 1.3).80 Wie Muralts Briefe »von den Sitten eines gantzen Volckes auf das fleissigste berichten« und alle »besondern Eigenschaften und Kennzeichen aussetzen, welche dasselbe von allen anderen Nationen unterscheiden«,81 so sollen auch die Briefe, um die im 12. Discours gebeten wird, die Sitten, die »der Schweitz überhaupt singular sind« und die sie »vor andern Ländern besonder hat«,82 referieren: die Herausgeber wollen – in impliziter Anlehnung an Muralt – historische Briefe über die Schweiz(er) edieren. Da sie selbst schon mehrfach wegen ihrer Discourse in Konflikt mit
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Bodmer (DM, III), S. 95. Ebd., S. 91. Die Lettres wurden1698 geschriebenund waren bis zu ihrem Druck 1725 als Manuskripte im Umlauf; möglicherweise hat Bodmer die Lettres also bereits vor dem (offiziellen) Druck gekannt; vgl. zur Rezeption von Muralts Lettres János Riesz: Beat Ludwig von Muralts ›Lettres sur les Anglais et les Franc¸ais et sur les Voyages‹ und ihre Rezeption. Eine literarische ›Querelle‹ der französischen Frühaufklärung. München 1979. – Hans Trümpy, der sich in seinem Aufsatz allerdings nur auf Schweizer Autoren beschränkt, attestiert Muralt und Bodmer, dass sie den Begriff des National-Characters »in der schweizerischen Literatur so populär« gemacht hätten. Ob Bodmer dabei den Begriff von Muralt übernommen habe, lässt Trümpy offen; vgl. Hans Trümpy: Die Entdeckung des ›Volkes‹. In: Préromantisme en Suisse? Vorromantik in der Schweiz? 6. Kolloquium der Schweizerischen Geisteswissenschaftlichen Gesellschaft.Hg. v. Ernest Giddey. Fribourg1982, S. 279–293. »Die Briefe des Hrn. von Muralt von den Franzosen und den Engelländern gehören vor allen andern in diese Classe« der historischen National-Character (Bodmer (PG), S. 454). Auch 1727 lobt Bodmer Muralts Lettres; vgl. Bodmer, Breitinger (EK), S. 175. Bodmer (PG), S. 436. Ebd. Bodmer (DM, III), S. 95.
33 der Zürcher Zensur geraten waren,83 scheuen sie sich aber, die eigentlich gehegte Absicht, einen umfassenden Bericht über die Eidgenossenschaft verfassen zu wollen, bekannt zu geben. Als ›präventive Maßnahme‹ gegen Zensureingriffe sprechen sie nicht von einem historischen National-Character, sondern bezeichnen ihr Unternehmen verharmlosend als »Moralische[ ] Nouvellen«84 oder auch »Caracteren der Moden«, um zu verdeutlichen, dass sie die Politik nicht interessiere.85 In einer zweiten, ebenso ausführlichen Auflistung doppeln die Herausgeber nach und benennen berichtenswerte, alltägliche Taten: Inländische Exempel von einer grossen Standhafftigkeit, oder auch einer grossen Zaghafftigkeitin dem Elend, in der Dürfftigkeit, in den Schmertzen, in dem Tod, in dem Verlust der Freunden, der Kindern, der Ehegattin, der Buhlschafft; Exempel von einer großmüthigen Verachtung, oder auch einer niederträchtigen Hochachtung des Reichthums, der Wollust, der Ehre, des Lebens; natürliche Reden von dem Zustande, der Schwäche und der Stärcke des Menschen, von der Freude und dem Jammer des menschlichen Lebens cc.86
Deutlich wird die satirische Stoßrichtung ihres Aufrufs in dem Bekenntnis der Herausgeber, dass sie erst dann, wenn sie in einer »vortheilhafftere[n] Situation« seien,87 etwa politische Ämter bekleiden würden,88 und »überhaupt mehr Liecht und Erfahrung« über die schweizerischen Sitten gesammelt hätten, basierend auf der Sammlung der eingeschickten ›moralischen‹ Charactere ein »eigen Historisches Werck von der Politiq der Schweitzer« schreiben wollten.89 Die von der Zürcher Obrigkeit vorgegebenen Grenzen des Erlaubten sind Bodmer und Breitinger bekannt: Sittenlehre darf man öffentlich betreiben, solange man tatsächlich nur über die guten oder schlechten Sitten schreibt. Ein moralisches Wochenblatt darf aber nicht politische Handlungsweisen kommentieren; das darf – wenn überhaupt – nur die Historiographie. Bodmer wird, das zeigen die kommenden Kapitel, die Poesie als ein Medium entdecken, das gegenüber der moralischen Wochenschrift und dem historischen Bericht den Vorzug hat, auch politische Fragen behandeln zu dürfen. Gleichwohl findet sich in den Discoursen der Mahlern ein historischer National-Character. Da er aber nicht den gegenwärtigen (politischen) 83
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Vgl. Helga Brandes: Die ›Gesellschaft der Maler‹ und ihr literarischer Beitrag zur Aufklärung. Eine Untersuchung zur Publizistikdes 18. Jahrhunderts. Bremen 1974 (Studien zur Publizistik.Bremer Reihe, Deutsche Presseforschung, 21), S. 43ff., vgl. zur Zürcher Zensur insgesamt Christoph Guggenbühl: Zensur und Pressefreiheit. Kommunikationskontrolle in Zürich an der Wende zum 19. Jahrhundert. Zürich 1996, insbes. S. 35–76. Bodmer (DM, III), S. 94. Ebd., S. 90. Ebd., S. 95f. Ebd., S. 92. So die Deutung von Wehrli (1937), S. 17. Alle Zitate Bodmer (DM, III), S. 92.
34 Zustand der Schweiz beschreibt, sondern die Eigenart der früheren Eidgenossen vorstellt, und zudem als Exempel ausgewiesen wird, in welcher Art und Weise die moderne Geschichtsschreibung ihren Gegenstand darstellen sollte, durfte er in den Discoursen publiziert werden. Ausgehend von klimatologischen Bedingungen, welche die Nahrung und damit den Körperwuchs der Eidgenossen prägten, charakterisiert Bodmer das politische und militärische Verhalten des schweizerischen ›Urvolkes‹:90 […] [E]s ist geneigt einem gütigen Herrn gehorsam zuseyn/ aber es ist ein geschworner Feind der Tyrannie; es fängt nicht leicht Kriege an/ und es ist geschwind Friede zumachen; es geht nur defensive; es dienet allein zu Fuß; seine Dapfferkeit bestehet in einer Stärcke [sic] […].91
Diese knappen Ausführungen greifen als einzige explizit ins Politische aus. Einen weiteren Discours, der sich mit der Historiographie beschäftigt, haben die Herausgeber der Discourse bezeichnenderweise nicht in ihre Wochenschrift aufgenommen. In dem von Max Wehrli nachträglich als Vom Wert der Schweizergeschichte betitelten Discours paraphrasiert Bodmer den Topos der historia als magistra vitae und definiert den Zweck der (schweizerischen) Geschichtsschreibung damit, ein »Zeitenbuch« von individuellen historischen Characteren zu schreiben,92 die durch ihr tugendhaftes Verhalten als Vorbilder dienen oder durch ihr lasterhaftes Betragen als abschreckende Beispiele fungieren könnten: Disem nach ist das hauptabsehen [sic] der Historie, der nachwelt eine ruhmliche Aemulation tugendhaffterleüthe, und einen abscheüwen der ungerechtigkeiteinzuspinen [sic]. Ihre nackete beschreibung [sic] einer Heldenthat ist so wol vermögend, Ehr und Tugendbegird anzuzünden, als wie die solideste raisonemens der Morale. Eine Historie ist desto vortrefflicher je seltener und Sublimer [sic] die thaten sind, welche sie abschreibet, je mehr selbige nach dem Satz der strengen tugend ausgeführet worden.93
Zeitgleich beschreibt Breitinger in den Discoursen der Mahler in vergleichbarer Diktion die Wirkungsweise der moralischen Charactere in der Sittenlehre: Der Vorteil, den die moralischen Charactere als »Exempel« gegenüber der räsonierenden Sittenlehre besitzen, bestehe in der größeren 90
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Wehrli und nach ihm Debrunner haben Johann Jakob Scheuchzers Beschreibung der Natur-Geschichten des Schweizerlands (1706–08) als wesentliche Quelle für Bodmers Discours identifiziert; vgl. Wehrli (1937), S. 19f., und Albert M. Debrunner: Das güldene schwäbische Alter. Johann Jakob Bodmer und das Mittelalter als Vorbildzeit im 18. Jahrhundert. Würzburg 1996 (Epistemata, Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft, 170), S. 17f. Bodmer (DM, I [5. Discours]), unpag. Bodmer: Vom Wert der Schweizergeschichte. In: Wehrli (1943), S. 60–64. – Ohne Kenntnis von Wehrlis Edition hat Brandes diesen Text selbst transkribiert und in den Anhang ihrer Studie aufgenommen, vgl. Brandes (1974), S. 209f., das Zitat nach ebd., S. 209. Brandes (1974), S. 210; Wehrli (1943), S. 62.
35 Wirkungskraft auf den Leser. Sie würden nicht auf den Verstand einwirken wie das Räsonnement, sondern auf die Affekte: Bey diesem Anlaß gebe ich euch eine Maxime; Daß es von einem unendlichen grössern Nachdruck seye/ wenn man die Morale durch die Exempel erlernet/ als wenn sie in blossen Regeln vorgestellet wird: Eine raisonnirende Morale wird niemals so augenscheinlicheWirckungenthun/ wie die historische/ weilen sie nur den Verstand erleuchtet/ da im Gegensatz diese den Willen/ welcher das Principium aller unsrer Actionen ist/ angreiffet/ und die Emulation durch ruhmliche Beyspiele allein auf die Tugend fixiret.94
Was Breitinger hier als Aufgabe und Funktion der Sittenlehre benennt, bezeichnet Bodmer als Aufgabe der Historiographie. Erst in seinen späteren Werken wird sich Bodmer der Ansicht von Breitinger anschließen und die Sittenlehre, die moralische Charactere verwendet, als »Historische Sitten=Lehr« betiteln.95 Gleichzeitig wird er dann die Wirkungsmacht der historischen Charactere nicht mehr mit ›Begeisterung‹ oder ›Entsetzen‹ beschreiben, sondern eher als besonnene Reflexion charakterisieren. Zudem wird er dann dem »poetischen Character«, der in der Poesie dargestellt wird, dieselbe affektive Wirkung attestieren, wie sie die moralischen Charactere besitzen (vgl. Kap. 1.4). Hier (in den 1720er Jahren) zeigt sich jedoch noch, wie stark Bodmer in seinen poetologischen Reflexionen von der Methodik der Geschichtsschreibung geprägt ist. Die Bezeichnung »Historische Sitten=Lehr« mag etwas irreführend erscheinen, da sie eher auf die historischen Charactere zu rekurrieren scheint als auf die moralischen. Sie soll aber vor allem die andere ›Unterrichtsstrategie‹ hervorheben, die mit »Character[en] der Sitten« arbeitet und nicht wie die dogmatische Sittenlehre Tugenden und Laster durch eine Systematik von Lehrsätzen analysiert und beschreibt.96 Da die moralischen Charactere verschiedene Realisationsformen einer Eigenschaft vorführen, verfügen auch sie, wie die historischen Charactere, über (zumindest potentielle) Historizität und können deshalb in der Sittenlehre als – wenn auch nicht als wahre, so doch zumindest als wahrscheinliche – Beispiele eingesetzt werden. Die Bezeichnung zeigt die Überschneidungen der beiden Bereiche, Sittenlehre und Historiographie, an. Die Sittenlehre als Unterricht über allgemeine menschliche Verhaltensweisen kann als Unterricht über das konkrete individuelle Verhalten einer historischen Person gestaltet sein. Dass dieses Verhältnis auch umgekehrt gilt und der Unterricht über individuell-historische Verhaltensweisen auch stets als Vermittlung von universell gültigem Verhal94 95
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Breitinger (DM, I [21. Discours]), unpag. Bodmer, Breitinger (EK), S. 149, ähnlich in Bodmer (PG), S. 367. Bodmer verweist in beidenSchriften auf den 21. Discours des ersten Teils der Discourseder Mahlern, in dem Breitinger die Vorzüge der historischen Sittenlehre dargelegt hatte. Vgl. Bodmer, Breitinger (EK), S. 149f., ähnlich in Bodmer (PG), S. 366f.
36 ten zu begreifen ist, erhellt sich im Grunde schon aus der Auffassung der Geschichte als magistra vitae. Nur vor dem Hintergrund einer »statische[n] Anthropologie« lässt sich die Geschichte als ›Lehrmeisterin‹ überhaupt denken.97 Die Annahme, dass man aus der Schilderung vergangener Ereignisse Verhaltensmodi für die eigene Gegenwart gewinnen kann, basiert auf der Prämisse der unabänderlichen, konstanten Natur des Menschen, der sowohl die humanistische als auch die aufklärerische Geschichtsschreibung verpflichtet waren. Wie weit Bodmer ihr verpflichtet war, soll im Folgenden geklärt werden.
1.3
Die »ersten Triebräder aller gemeinen und öffentlichen Handlungen«: der National-Character
Die Diskussion über das Verhältnis von universeller und historischer Anthropologie berührt nicht nur die Bereiche der Sittenlehre und Historiographie, sondern schreibt sich in den umfassenderen Kontext der Querelle des Anciens et des Modernes ein. Im Folgenden sollen Bodmers Reflexionen über den historischen Personal- und National-Character in Bezug zu dieser europäischen Debatte gesetzt werden und seine, für die Jahrhundertmitte des 18. Jahrhunderts so typische Zwischenposition herausgearbeitet werden, die von einer konstanten Anthropologie ausgeht und gleichzeitig ein relativistisches Kulturverständnis vertritt. Bodmers Kommentare zur Historiographie des 18. Jahrhunderts fallen in den verschiedenen Schriften unterschiedlich aus: In den Discoursen der Mahlern, im Mahler der Sitten sowie in der Vorrede der Helvetischen Bibliotheck von 1735 bezieht sich Bodmer auf die Schweizer Geschichtsschreiber, in der Einbildungs=Krafft -Schrift nimmt er auch die »Verfasser[ ] der Deutschen Geschichten« in den Blick,98 die jedoch allesamt hinter Bodmers Ideal zurückbleiben. In den Critischen Betrachtungen kritisiert Bodmer nicht nur deutschsprachige Historiker, sondern verweist neben Saint-Evremond auch auf Voltaire, Saint-Réal, Montesquieu und Beat Ludwig von Muralt, die in ihren Werken die erwünschte historiographische Methode der Character-Schreibung in idealer Art und Weise umgesetzt hätten. Die Wertschätzung der französischen Geschichtsschreibung gründet dabei in einem weiteren, für Bodmer zentralen Aspekt der Historik: dem National-Character. Der National-Character stellt für Bodmer »eine Art der persönlichen« Charactere dar, da alle »Einwohner eines Landes, die eine Nation ausmachen, […] so viel Sachen mit einander gemein« haben und durch 97 98
Muhlack (1991), S. 321. Bodmer, Breitinger (EK), S. 198.
37 »so viele Bande in einen moralischen Leib zusammenverbunden« seien, dass man sie als eine »grosse[ ] Person[ ]« ansehen könne.99 Jede Nation besitze »verschiedene[ ] Merckmahle«,100 die nur ihr zukommen würden und in einem National-Character zu vermerken seien. Während in literarischen Texten die National-Charactere meist nur die »bekanntesten und unbetrüglichsten Merckmahle« einer Nation zeigen würden,101 enthielten sie in der Historiographie viel »weitläufige[re] Betrachtungen«,102 indem sie die grundlegenden »Trieb=Wercke aller Handlungen«,103 die »ersten Triebräder aller gemeinen und öffentlichen Handlungen« erläutern würden.104 Der National-Character bildet somit den Hintergrund und zugleich die Basis für den Personal-Character. Die zu beschreibende historische Persönlichkeit ist zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt Mitglied einer Nation, von der sie geprägt wird; ihre Handlungsweisen resultieren aus dem National-Character. Die beiden Arten des historischen Characters stehen somit in einem hierarchischen Verhältnis, das den Personal-Character in Abhängigkeit vom National-Character zeigt. Wenn denn ein Poet die Personen und Dinge in solchen Umständen beschreiben will, welche dem Decoro und ihrer Würdigkeit gemäß sind, so ist vonnöthen, daß er sich den Character der verschiedenen Völcker, und der Zeiten, aus welchen er seine Personen nimmt, ihre Gewohnheiten und Gebräuche genau bekannt mache. Dieses ist für ihn eine Grund=Regel, die ich ihm überhaupt anbefehlen kan, welche ihm allemahl solche Umstände an die Hand geben wird, die seine Schilderungen gantz kenntlich machen werden, als ob sie nach dem Leben gemahlet wären.105
Die Differenzen zwischen den Nationen rühren nach Bodmer von drei Ursachen her, von der »ungleiche[n] Beschaffenheit der Weltgegenden«, der »Art der Regierung« und der »Art der Auferziehung«.106 Für eine einzelne Person können als »Grund und […] Quelle alles Unterschiedes« gelten:107 die »Natur«, die »Kunst« und das »Glück«.108 Diese Relationen versucht Bodmer genauer zu klären und beginnt seine Erläuterungen zum Personal-Character mit der Zurückweisung der Ansicht einer »gewisse[n] Secte«,109 die den Menschen als hauptsächlich durch
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Ebd. S. 435, vgl. zur Geschichte der Metapher des politischen Körpers Koschorke et al. (2007). Bodmer (PG), S. 435. Bodmer (PG), S. 438, in ähnlicher Formulierung Bodmer, Breitinger (EK), S. 170. Bodmer (PG), S. 437. Bodmer, Breitinger (EK), S. 174. Bodmer (PG), S. 444. Ebd., S. 79f. Ebd., S. 436f., ebenso in Bodmer, Breitinger (EK), S. 169f. Bodmer (PG), S. 385. Ebd., ebenso in Bodmer, Breitinger (EK), S. 179. Bodmer (PG), S. 385.
38 die Natur determiniert versteht.110 Christian Thomasius (1659–1728), auf den Bodmer hier anspielt, hatte in Von Der Artzeney Wider die unvernünfftige Liebe und der zuvorher nöthigen Erkäntnüß Sein Selbst. Oder: Ausübung Der SittenLehre (1696) ein pessimistisches Bild vom Menschen gezeichnet. Gemäß Thomasius ist der menschliche Wille durch die drei Affekte Wollust, Ehrgeiz und Geldgeiz angetrieben, ohne dass sich diese Leidenschaften durch die Vernunft beherrschen lassen würden.111 Alle Menschen besäßen diese drei Leidenschaften in jeweils individuell unterschiedlichen Kombinationen, die Differenzen zwischen den Characteren würden demgemäß in der Natur des Menschen liegen.112 Im Gegensatz dazu entwirft Bodmer im Rückgriff auf John Locke (1632–1704) ein anderes Menschenbild, das den Anteil der natürlichen Ungleichheit zurückdrängt und folglich von der natürlichen Gleichheit aller Menschen ausgeht: »der Unterschied, welchen die Natur unter den Menschen gemachet hat, [ist] bei weitem so groß nicht, als man gemeiniglich gläubt«.113 Eine gewisse Prägungskraft attestiert Bodmer der »natürlichen Beschaffenheit des Leibes«, die jeden Menschen zu »einer gewissen Beschäff-
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»Nach ihrer [der »Secte«; J. R.] Meinung wäre der Grund aller Persönlichen Character in der ungleichen Vermischung der drey herrschenden Begierden, des Ehr=Geitzes, der Wollust und des Geld=Geitzes zu finden, welche auf unzehliche [sic] Weisen durch einander gefügt und gemischt werden. […] Diese Meinung hat zwar einen grossen Schein; aber wenn man sie erwieget, schlechten Grund.« (Bodmer (PG), S. 386). Vgl. Christian Thomasius: Ausgewählte Werke, Bd. 11: Von Der Artzeney Wider die unvernünfftige Liebe und der zuvorher nöthigen Erkäntnüß Sein Selbst. Oder: Ausübung Der Sitten-Lehre. Nebst einem Beschluß/ Worinnen der Autor den vielfältigen Nutzen seiner Sitten=Lehre zeiget/ und von seinem Begriff der Christlichen Sitten=Lehre ein aufrichtiges Bekäntnüß thut. (2. Faksimiledruck der Ausgabe Halle 1696). Vorwort von Werner Schneiders. Personen- und Sachregister von Frauke Annegret Kurbacher. Hildesheim, Zürich, New York 1999, S. 15f. – Vgl. zur Affekten- und Lasterlehre von Thomasius Klaus-Gert Lutterbeck: Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht. Stuttgart, Bad Cannstatt 2002 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung, Abt. 2, Monographien, 16), S. 97–111, und Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim, New York 1971 (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, 3), S. 211–239, zur Popularisierung von Thomasius’ Lehre der drei Affekte in den moralischen Wochenschriften Vollhardt (2001), S. 229–249. Vgl. Bodmer (PG), S. 385f., Bodmer, Breitinger (EK), S. 179f., vgl. Thomasius (1999), S. 303–391 (= 12. Hauptstück), insbes. S. 343f. und S. 355. Bodmer (PG), S. 387, vgl. auch Bodmer, Breitinger (EK), S. 180f. Auch in den Discoursen der Mahlern hatte Bodmer die natürliche Gleichheit des Menschen behauptet: »Die Vernunfft und die Passionen sind allenthalben gleiche, das vernünfftige Raisonnement und das Gemüth solcher Menschen, die von dem Orient biß zu dem Occident von einander entfernet leben, sind von einer gleichen Art und Beschaffenheit.« (Bodmer (DM, III), S. 91).
39 tigung« prädisponiere,114 gleichwohl gebe es weitere und vor allem einflussreichere Faktoren für die Verschiedenheit der Menschen. Zum einen sei dies das »Glück«, das als Schicksal oder im allgemeinen Sinne als ›(Zeit-)Umstände‹ verstanden werden kann, die einen (in seiner Entwicklung oder bei einem Unternehmen) begünstigen oder behindern können.115 Zum anderen werde der Mensch vor allem durch die »Kunst« geprägt, wobei Bodmer unter diesen Oberbegriff die »Auferziehung«, die »eigene Erfahrung« und den »Umgang mit andern« subsumiert,116 die allesamt aber nur »biß auf ein gewisses Alter« Einfluss auf den Menschen haben würden.117 Im Anschluss an John Lockes Some Thoughts Concerning Education (1693) betont Bodmer den großen Einfluss der Erziehung auf die Ausbildung und Entwicklung der Persönlichkeit und teilt dessen in die Antike zurückreichende Auffassung, dass der Mensch wie ein »reine[s] Papier« oder eine »polierte[ ] Tafel« zur Welt komme.118 Das Kind verfüge nicht von Natur aus über die von Thomasius postulierten Eigenschaften und habe zudem »kaum etliche Begriffe von sich selbst und von seinem Wesen«.119 Diese Begriffe erwerbe sich der Mensch erst beim Heranwachsen: Durch die Unterrichtung werden uns die Begriffe der Dinge eingepflantzet, und die Grundsätze und Regeln, nach welchen wir unsere Handlungen einrichten sollen. Durch die eigene Erfahrung und Anmerckungen erweitern und reinigen wir unsere Erkänntniß, und bereichern oder verändern die Grundregeln, welche dienen, unsern Willen in Bewegung zu bringen.120
Diesen Gedanken, ebenfalls in Abgrenzung zu Thomasius, hatte auch Breitinger bereits in den Discoursen der Mahlern vorgetragen.121 Ähnlich wie Bodmer sah Breitinger bis zu einem gewissen Maß die körperliche Beschaffenheit eines Menschen und das »Temperament« als Determi114 115 116 117 118 119 120 121
Bodmer (PG), S. 387, vgl. Bodmer, Breitinger (EK), S. 181. Vgl. Bodmer (PG), S. 389, vgl. Bodmer, Breitinger (EK), S. 182. Bodmer (PG), S. 387, vgl. Bodmer, Breitinger (EK), S. 181. Bodmer (PG), S. 387. Bodmer (PG), S. 386. Ebd., vgl. Bodmer, Breitinger (EK), S. 180. Bodmer (PG), S. 388. »Was die Menschen sämtlich sind, das sind sie, durch die Erziehung worden, die sie gehabt haben. Der Willen eines Kindes, das allererst an die Welt gebohren worden, besitzet noch keine Kräffte sich außzulassen; oder damit ich mich deutlicher erkläre, ein solches Kind hat weder Eigenliebe, noch Wollust noch starke Begierde, noch Geld=Geitz, noch Furcht, noch Hoffnung, noch andere Leidenschafft […]. […] Man behaubtet [sic] gemeiniglich, daß die erzehlten Passionen sämtlich mit dem Kind gebohren werden. Aber ich bitte, man wolle nachsinnen, daß ein Kind, das allererst auf die Welt kömmt, seine Imagination und seinen Verstand gantz leer und öde hat nicht anderst, als wie unbeschriebenes Papier; Ist es nun möglich, daß einer sich selbst lieben könne, wenn er noch nicht fähig ist, seinen Verstand zugebrauchen, und von sich selbst nichts weiß?« (Breitinger (DM, IV), S. 77f.).
40 nanten an,122 die den Menschen je nach Veranlagung »zu einer gewissen beschäfftigung [sic] bequemer« machen könnten.123 Die Intensität der Passionen könne bei den Menschen verschieden sein, zu einem dominierenden Merkmal würden diese Eigenschaften jedoch erst »von den Eltern, Saügammen, und Wärterinnen eingepflantzet«.124 Die egalitäre Natur der Menschen wird, davon sind beide Zürcher überzeugt, durch die Erziehung verändert – oder anders gewendet: die Erziehung hat auf das Verhalten eines Menschen einen größeren Einfluss als die Natur.125 Wie sehr Bodmer und Breitinger dieser pädagogischen Perspektive auf den Menschen verpflichtet sind, zeigt sich auch daran, dass Bodmer in den Critischen Betrachtungen die Erziehung ebenfalls als wesentlichen und prägenden Aspekt des National-Characters begreift. Die Erziehung, die »in einem Lande insgemeine durchgehends gleich ist«,126 überträgt Bodmer in Analogie zur Prägung einer Person auf die Nation, enthält sich aber ansonsten spezifizierender Ausführungen. Ebenso knapp bleiben auch die Erläuterungen zur zweiten Ursache, der »Art der Regierung«, die je nach Einrichtung dem Volk in »bürgerlichen und gottesdienstlichen Dingen« erlaube, den »Verstand und seinen Neigungen den Zügel zu lassen, oder mehr […] an sich zu halten«.127 Zur Verdeutlichung des dritten 122 123 124
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Ebd., S. 78 Ebd., S. 79. Ebd., vgl. auch: »[…] daß diese Passionen alle von der Societet und der Auferziehung in derselben gestifftet werde« (ebd., S. 78). In seinem Discours verdeutlicht Breitinger durch verschiedene »Exempel« seine theoretischen Ausführungen und verweist vor allem auf die meist negativen Auswirkungen der Erziehung, da den Kindern nicht in angemessener Weise begegnet werde (ebd., S. 79). Durch unüberlegtes Handeln, wie etwa das »lustig machen« der Eltern mit den Kindern (ebd.), durch das Belohnen mit »leckerhaffte[n] speisen, schimmerende[n] kleider[n], göldene[n] Batzen« oder das Züchtigen mit der »ruthen« (ebd., S. 80), würden dem Kind Verhaltensweisen und Meinungen beigebracht, die »schädliche[] folge[n]« haben würden (ebd., S. 79). Breitingers Erziehungsregelnlaufen hingegendarauf hinaus, den Kindern mit »Vernunfft«zu begegnen, um zu verhindern, dass Laster Wurzeln fassen und sich ausbreiten können, wodurch sie später nicht mehr ›ausgebessert‹ werden könnten (ebd., S. 82). Eltern sollen sich nicht ihren Kindern, die noch keinen »Gebrauch der Vernunfft« haben, anpassen, sondern sie durch »vernünfftige gründe« anleiten (ebd.). Das entspricht auch den Überzeugungen Lockes (vgl. John Locke: Some Thoughts Concerning Education. In: The Educational Writings of John Locke. A Critical Edition with Introduction and Notes by James L. Axtell. Cambridge 1968, S. 114–325, hier § 1, § 34–37 und § 40–42, Ablehnung der Prügel § 48ff., Ablehnung der Belohnungen § 52ff.). – Ähnliche Gedanken trägt Breitinger auch im Neunten Discours des dritten Teils der Discourse der Mahlern vor. Bodmer (PG), S. 437. Ebd., S. 436f. – Während Bodmer in Bezug auf die Erziehung erneut auf Locke rekurriert, verweist er für den Zusammenhang von Verfassung und ›Gedankenfreiheit‹ auf Anthony Collins’ (1676–1729) A Discourse of Free-Thinking (1713). Collins, der in seinem Discourse für das Recht auf individuelle Überprüfung
41 Einflussfaktors verweist Bodmer auf das 38. Kapitel des 1. Buches von Pierre Charrons (1541–1603) 1601 erschienenem Werk De la Sagesse.128 Charron hatte dort die auf Hippokrates zurückgehende Klimatheorie, nach der die Bewohner einer bestimmten Klimazone durch das herrschende Klima körperlich und auch geistig geprägt würden, als »premiere distinction et difference des hommes« vorgestellt, die »naturelle et essentielle« sei.129 Die drei verschiedenen Klimazonen, die Charron im Anschluss an Jean Bodins Ausführungen im 5. Buch von Les six livres de la République (1577) in »popularisierter Form« als weltweit gegeben darstellt,130 erscheinen somit als natürliche Determinanten, die ein Volk prägen. Sie rufen die Unterschiede zwischen den Nationen hervor.131 Bodmers kurze Verweise lassen keinen Rückschluss darauf zu, in welchen Relationen die drei Ursachen (Erziehung, Regierung, Klima) zu-
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der Offenbarung plädiert und damit die kirchlichen Dogmen scharf zurückweist, spricht etwa gleich zu Beginn seines Werkes davon, dass man in den handwerklichen Künsten und in den Wissenschaften nur zur »Perfection« gelangen könne, wenn man die Möglichkeit des »free Trial« bzw. des »Free-Thinking« habe; wo Einschränkungen herrschten, sei dies aber nicht möglich (Anthony Collins: A Discourse of Free-Thinking.Faksimile-Neudruck der Erstausgabe London 1713 mit deutschem Paralleltext. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Günter Gawlick. Mit einem Geleitwort von Julius Ebbinghaus. Stuttgart, Bad Cannstatt 1965 (Philosophie et Communauté mondiale), S. 6f. – Beide Autoren werden schon 1727 genannt; vgl. Bodmer, Breitinger (EK), S. 170. Vgl. Bodmer (PG), S. 437, Bodmer, Breitinger (EK), S. 170. Pierre Charron: De la Sagesse. Ouvrage publié avec le concours du Centre national des lettres; texte revu par Barbara de Negroni. Paris 1986 (Corpus des oeuvres de philosophie en langue franc¸aise) (Nachdruck der Ausgabe von Paris 1604), S. 285. Waldemar Zacharasiewicz: Die Klimatheorie in der englischen Literatur und Literaturkritik von der Mitte des 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert. Wien 1977 (Wiener Beiträge zur englischen Philologie, 77), S. 96. Vgl. dazu ebd., S. 96ff. – Charron nimmt im Fortgang seines Werkes, ausgehendvon der klimatisch bedingtenVerschiedenheit,weitere Differenzierungender Menschen vor und ordnet sie verschiedenen Klassen und Ständen zu, um daraus die verschiedenen Anforderungen an bestimmte Berufsgruppen festzulegen. Diese Einteilung geschieht vor allem im Hinblick auf den französischen Staat, dessen Gesellschaftsund Ständeordnung Charron damit festschreibt; vgl. Gonthier-Louis Fink: Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive. In: Johann Gottfried Herder. 1744–1803. Hg. v. Gerhard Sauder. Hamburg 1987 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 9), S. 156–176, hier S. 158. Da sich Bodmer nur auf das 38. Kapitel bezieht, scheint er sich dieser Gliederung nicht anzuschließen und lediglich die Klimatheorie zu übernehmen. – Fink stellt heraus, dass Bodmer einer der ersten deutschsprachigen Aufklärer sei, der die Klimatheorie vertrete (Fink (1987), S. 165). Er verweist dabei auf die von Bodmer geschriebene Vorrede zu Breitingers Critischen Dichtkunst; Bodmer hat aber bereits 1727 explizit auf die Klimatheorie rekurriert. – Vgl. zur Geschichte des National-Characters Louis van Delft: Literatur und Anthropologie. Menschliche Natur und Charakterlehre. Münster 2005 (Ars Rhetorica, 16), S. 69–81.
42 einander zu denken wären;132 allerdings verdeutlicht er im Fortgang der Critischen Betrachtungen den Einfluss der verschiedenen Faktoren auf eine Nation mittels Beispielen, die ihm zur autoritativen Beglaubigung seiner nur knapp umrissenen Theorie dienen. Die angeführten Beispiele stammen alle aus Montesquieus 1734 erschienenen Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence,133 erhellen aber die Relationen der drei Faktoren nicht, sondern verdeutlichen jeweils nur die Wirkung eines Faktors. Auffällig ist, dass Bodmer die Prägung durch das Klima erneut hinter die anderen beiden Faktoren stellt:134 »Noch mehr thut die Art der Verfassung des Staats zu der Bestimmung der Sitten einer Nation«.135 Die Gewichtung der beiden ›moralischen‹ Faktoren, Erziehung und Regierungsform, und des ›physischen‹ Faktors Klima zeigt also,136 dass Bodmer die Verschiedenheit der Nationen weniger in der natürlichen, biologischen Beschaffenheit des Menschen begründet sieht als in dessen geistig-kultureller Entwicklung. Damit ergibt sich auch für den National-Character eine ähnliche Zurückstellung der physischen Determinanten, die auch beim Personal-Character anzutreffen war: Während sich Bodmer bei Letzterem vor allem gegen die von Thomasius geäußerte naturgegebenene Vorherbestimmung aussprach und, wie Breitinger, die Erziehung als wesentlichen Faktor verstand, ist auch für den National-Character der klimatologische Aspekt der Prägung weniger bedeutsam als die kulturellen Faktoren der Verfassung und der Erziehung. Betrachtet man diese Auffassung aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive, so fällt einem die Wandlungsfähigkeit des sozialen Menschen auf. Die ›moralischen‹ Faktoren sind vom Menschen selbst geschaffen und somit auch durch den Menschen wieder veränderbar. Der Mensch hat stets die Möglichkeit, sich selbst als soziales, in einer nationalen Gemeinschaft lebendes Wesen zu verändern und ist daher prinzipiell nicht in die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse eingeschlossen.137 Diese sozialanthropologische Flexibilität und 132
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Bodmer spricht davon, dass er nur eine »kurtze Erwähnung der Ursachen« für die Differenzen zwischen Nationen angeben wolle (Bodmer (PG), S. 437); eine umfassende Darstellung will (oder kann) er nicht geben. Vgl. Bodmer (PG), S. 444ff. 1741 verweist Bodmer in diesem Zusammenhang zusätzlich auf den 15. Abschnitt des 2. Buches von Jean-Baptiste Du Bos’ Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719). Ebd., S. 448. Vgl. Wehrli (1937), S. 80. Deshalb begründeteBodmer die Vaterlandsliebe auch nicht in diesen ›äußeren‹und wandelbaren Faktoren. Den Patriotismus verstand Bodmer als einen allen Menschen inhärenten Wesenszug, als anthropologische Konstante, die mit der natürlichen Vergesellschaftung des Menschen einhergeht. Die konkrete Ordnung kann sich zwar von Gesellschaft zu Gesellschaft unterscheiden, deren Förderung und Sicherung liege aber jedem Gesellschaftsmitglied unabhängig davon am Herzen.
43 Wandelbarkeit ist als Bedingung für die Verbesserungsmöglichkeiten der jeweiligen Zustände anzusehen; Bodmers historisches und literarisches Schaffen ist von dieser Einsicht wesentlich geprägt. Als wesentlichen Faktor zur Veränderung einer Gesellschaft sah Bodmer die Erziehung an. Ihr – und dabei ist auch an den Geschichtsunterricht zu denken – schrieb er eine grundlegende gesellschaftskonstituierende Funktion zu und schloss sich damit einer verbreiteten frühaufklärerischen Auffassung an, wie Fink mit Blick auf Johann Christoph Gottsched (1700–1766) und Johann Michael von Loen (1694–1776) betont: »Überhaupt lehnte die deutsche Frühaufklärung einen determinierenden Einfluß der Physis auf den Geist ab. Wichtig für die Kultur eines Landes seien nicht die physischen, sondern die moralischen Ursachen und in erster Linie die Erziehung«.138 Fink sieht diese Haltung in erster Linie in einem universalistischen Verständnis des Menschen begründet, das sich auch bei Bodmer manifestiert, wenn er die Menschen von Natur aus als gleich begreift. Gleichwohl erkannte Bodmer auch die Wandelbarkeit des Menschen und seiner Sozialisationsformen, was sich in seiner Wertschätzung Montesquieus äußert. Er lobte die Considérations, weil es Montesquieu verstanden habe, darin den »Character dieser Nation von ihrem Ursprunge bis zu ihrem Untergang durch alle Veränderungen ihres Staates und ihrer Macht fort[zu]führen«,139 wodurch ein »ungemeines Licht und Leben auf die Geschichte dieser königlichen Nation« geworfen und deren historischer (National-)Character vortrefflich geschildert werde.140 Gleichzeitig bewunderte Bodmer die Belesenheit von Montesquieu, die »ihm in den feinsten Gelegenheiten zu statten kömmt, und ihm die nöthigen und bequemsten Exempel und Erfahrungen aus den Geschichten aller Völcker und Zeiten zu seinem Gebrauche lehnet«.141 Montesquieu leiste eine historische Schilderung der römischen
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Allen Gesellschaften gemein ist die Tatsache, dass sie sich auf ein bestimmtes (geographisches) Gebiet beschränken; folglich gründet die Vaterlandsliebe bei allen Menschen auch darauf. Da der neuzeitliche Mensch stets in einem »absonderlichen Vaterland« lebe, sei für ihn somit auch die Geschichte dieses Vaterlandes von Relevanz und Interesse; entsprechend beschäftigte sich Bodmer in seinen historischen Studien vor allem mit der Geschichte von Zürich oder mit der schweizerischen Geschichte. – Eine Übersicht über Bodmers historiographische Tätigkeiten und Veröffentlichungen neben Wessendorf (1962), Merkel (1957) und Tobler (1891) geben Richard Feller, Edgar Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz. Vom Spätmittelalter zur Neuzeit. Bd. 2. Basel, Stuttgart 1979, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, S. 440–445, und Georg von Wyss: Geschichte der Historiographie in der Schweiz. Zürich 1895, S. 278–281. Gonthier-Louis Fink: Klima- und Kulturtheorien der Aufklärung. In: GeorgForster-Studien 2 (1998), S. 25–55, hier S. 32. Bodmer (PG), S. 445. Ebd. Ebd.
44 Nation und zeige gleichzeitig, dass es allgemeine oder universale menschliche Verhaltensweisen gibt, die überall und jederzeit anzutreffen seien. Diese Universalität realisiert sich, darauf hatte Montesquieu explizit hingewiesen, jedoch nur in einer bestimmten historischen Konstellation: L’histoire moderne nous fournit un exemple de ce qui arriva pour lors à Rome, et ceci est bien remarquable: car, comme les hommes ont eu dans tous le temps les mêmes passions, les occasions qui produisent les grands changements sont différentes, mais les causes sont toujours les même.142
Historische Ereignisse geben nicht nur Auskunft über das konkrete Ereignis bzw. über den einzelnen Menschen, sondern gewähren auch Einblick in die allgemeine Natur des Menschen. Sowohl die moralischen Charactere, als auch die historischen National- und Personal-Charactere oszillieren somit zwischen Universalität und Historizität und zeugen von Bodmers Zwischenposition innerhalb der Querelle.143 Das Zusammenspiel von egalitärer oder konstanter Anthropologie und historischer oder kultureller Relativität zeigt sich paradigmatisch an Bodmers Umgang mit den Reflexionen von Thomas Blackwell über die Genialität Homers. Während Blackwell in seiner 1735 erschienenen Enquiry into the Life and Writings of Homer nach den speziellen Bedingungen und somit nach einer individuellen historischen Erklärung für Homers Dichtungen suchte, erkannte Bodmer 1743 darin eine ahistorische und auf andere Zeiten übertragbare Theorie zur Erklärung der dichterischen Größe. Seine Ausführungen beginnt Bodmer mit einem vielsagenden Zusatz, in dem er Vergil als ebenso »starken und mächtigen Geist« neben Homer stellt und so bereits auf die potenzielle Wiederkehr derjenigen Umstände aufmerksam macht,144 die einen großen Dichter hervorbringen können. Wie in den Critischen Betrachtun142
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Montesquieu: Œuvres Complètes, II: Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence. Text présenté et annoté par Roger Caillois. Paris 1951 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 69–210, hier S. 71; im Folgenden zitiert mit der Sigle ›C‹. – Montesquieu vergleicht an dieser Stelle die Taten des englischen Königs Henry VII. mit denjenigen von Servius Tullius; vgl. zur Historiographie Montesquieus auch Octavian Vuia: Montesquieu und die Philosophie der Geschichte. Hg. v. Richard Reschika. Frankfurt a.M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1998, S. 33–44 und S. 73–117. So auch Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2007 (Spectrum Literaturwissenschaft, 11), S. 30. [Bodmer]: Von dem wichtigen Antheil, den das Glück beytragen muß, einen Epischen Poeten zu formiren. Nach den Grundsätzen der Inquiry into the live [sic] and the Writings of Homer. In: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften, Zur Verbesserung des Urtheils und des Witzes in den Wercken der Wolredenheit und der Poesie. Siebendes Stück. Zürich, bey Conrad Orell und Comp. 1743, S. 3–24, hier S. 3; im Folgenden wird diese Sammlung mit der Sigle ›SC‹ zitiert.
45 gen werden auch hier die wesentlichen Unterschiede zwischen den Personen nicht durch die Natur, sondern durch die »Auferziehung« und das »Glück« erklärt, wobei Bodmer (mit Blackwell) deren Abhängigkeit vom National-Character, d.h. vom Klima, von den »Sitten der Zeiten« und der »Policey und Religion« herausstellt.145 Zunächst legt Bodmer – in weitgehend wortwörtlicher Übersetzung von Blackwells Untersuchung –146 die (antiken) Bedingungen dar, die er dann – über Blackwell hinausgehend – aufs Mittelalter überträgt. Zur Zeit der Hohenstaufer hätten dieselben Voraussetzungen geherrscht – unruhige kriegerische Zeiten und eine kulturelle Entwicklungsstufe, die zwischen »ungezähmte[m] Geist« und bereits entwickelten »Künsten und Wissenschaften« die Balance gehalten habe –147 , so dass nicht nur theoretisch die »Möglichkeit« bestanden habe, »darinnen dieses Weltalter gestanden, auf eine vortreffliche Art zu poetisieren«, sondern diese Möglichkeit auch tatsächlich »Wirklichkeit« geworden sei.148 Noch Jahre später wird Bodmer in den Literarischen Denkmalen (1779) der Gleichsetzung von Antike und Mittelalter das Wort reden; dann jedoch die Literatur aus den vergangenen Zeiten gegen die moderne Dichtung ausspielen: Man kann in der Epoche des kaiserlichen Stammes von Hohenstaufen natürliche und zufällige Umstände auszeichnen, wie Blakwell [sic] in Homers Zeiten ausgezeichnet, und in denselben die Ursachen angegeben, durch welche das Genie dieses Poeten sich gebildet hat. Wer die Gedichte des von Eschilbach, des von Owe und anderer in ihrem Idiom versteht, der wird darinne, und vornehmlich in dem Gedichte von den Nibelungen wirklich Homerischen Stof, Charakter und Sitten, und mit Homers Simplicitätbearbeitetfinden. Kein Wunder, daß die Poesie unserer Genien von dieser Einfachheit so weit entfernt ist, als ihre Denkungsart und Sinnesart die Farbe und den Geschmak von den maniervollen,wollüstigen, verniedlichten Zeiten empfangen haben.149
In den 1740er Jahren identifizierte Bodmer die Entstehungsbedingungen der antiken und mittelalterlichen Dichtungen, um sich grundsätzlich klar darüber zu werden, warum diese Dichtungen auch im 18. Jahrhundert noch auf den Leser wirken konnten. Von diesen Poesien erhoffte er sich eine Erneuerung der zeitgenössischen deutschen Literatur. In den späten 1770er Jahren sah sich Bodmer in dieser Hoffnung getäuscht und gab dann polemisch den Anciens den Vorzug gegenüber den Modernes. Zu beiden Zeitpunkten gründet die Wertschätzung der alten Poesie in einem Natürlichkeitsideal, das für Bodmer transhistorische Gültigkeit hat, da 145 146 147 148
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Ebd., S. 6, vgl. auch ebd., S. 13. Vgl. auch Pfalzgraf (2003), S. 68–76. Vgl. Bodmer (SC), S. 25–29, hier S. 26. Ebd., S. 32. Das sucht Bodmer mit Textauszügen und -verweisen in der Folge zu beweisen; vgl. ebd., S. 32–54, vgl. hierzu auch Pfalzgraf (2003), S. 76–84. Bodmer: Literarische Denkmale von verschiedenen Verfassern. Zürich Orell, Geßner, Füßli u. Comp. 1779, S. 62.
46 es auf seiner Annahme einer konstanten Anthropologie beruht. Wenn der Poet die Natur, d.h. die ›natürlichen‹ Sitten seiner Gegenwart wahrheitsgetreu schildere, wirke – falls er dabei einen ebenso natürlichen Ausdruck verwende – seine Darstellung auch noch auf den Leser im 18. Jahrhundert: Die Poesie beruhet insonderheit auf den Sitten der Menschen, die dann sind, da man schreibt; die besten Poeten copieren die Natur, und liefern sie uns so, wie sie solche finden. Ein Scribent von Friedrichs des I. oder II. Zeiten habe nur mit der damahligen Sprache getreulich geschildet, was er gesehen, und empfunden, so muß sein Werk anmuthig und nachdrüklich seyn. Seine Vorstellung einfältiger und natürlicher Sitten, wird uns einnehmen, sie wird uns das Bedürffniß und die Empfindungen der Menschen zeigen, sie wird uns die Bewegungen eines unverstellten Gemüthes vorweisen, wir werden darinnen sehen, was in unsern Hertzen vorgeht, und was vor Wege wir brauchen, wenn wir unsern Neigungen nachgeben. Es ergetzet uns dergleichen zu lesen, weil wir gerne mit Leuten umgehen, denen wir ins Hertze sehen, die nichts vor uns verborgenes haben.150
Wo sich die Natur artikuliert, da wird auch die Natur angesprochen, so könnte man Bodmers universalistisches Wirkungsmodell salopp umschreiben. Entscheidend ist für Bodmer – und es sei betont, dass er hierbei von der Dichtung und nicht mehr von der Historiographie spricht –, dass man als Leser Einblicke ins Herz der handelnden Personen erhalte und sich darin selber erkenne. Was Jahre zuvor noch als besonderes Verdienst der Historiographie angesehen wurde, wird in den 1740er Jahren auch der Dichtung attestiert. – Dem Grund dieser veränderten Sichtweise soll im Folgenden nachgegangen. Der Blick richtet sich zunächst noch einmal auf die Character-Lehre, dann auf das Natürlichkeitsideal.
1.4
Der poetische Character
Bodmers Character-Lehre erfährt von ihrer erstmaligen Darlegung in Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs = Krafft bis hin zur Skizzierung in den Critischen Betrachtungen über die poetischen Gemählde einen strukturellen Wandel, der die inhaltlichen Veränderungen zum Ausdruck bringt. In der Schrift über die Einbildungs = Krafft beginnt Bodmer seine Ausführungen mit dem Kapitel zum moralischen Character, dem er die Erläuterungen zum historischen National-Character folgen lässt, um mit dem Kapitel zum historischen Personal-Character zu enden. In den Critischen Betrachtungen stehen immer noch die moralischen Charactere am Anfang der Ausführungen, ihnen schließen sich jedoch die Erläuterungen zum Personal-Character und diesen wiederum 150
Bodmer (SC, 1743, 7. Stück), S. 28f.; diese von Blackwell stammenden Passagen bezogen sich ursprünglich auf Homer; vgl. hierzu auch Gisi (2007), S. 61f.
47 der Abschnitt über den National-Character an.151 In der Schrift über die Einbildungs=Krafft hatte Bodmer die Personal-Charactere vorwiegend im Zusammenhang mit der Sittenlehre und der Historiographie erörtert, in den Critischen Betrachtungen kommt als neuer Bereich die Poesie hinzu, in welcher die »poetischen Character« verwendet werden.152 In systematischer Hinsicht bemüht sich Bodmer in den Critischen Betrachtungen, die verschiedenen Character-Arten zu analysieren und erklärt die »Grundwissenschaft der Character« zum zentralen Aspekt jeder Poetik und jedes literarischen Werkes.153 Den poetischen Character charakterisiert Bodmer in Analogie zum moralischen Character und ausgehend vom historischen Personal-Character. Vorbereitet wird seine Darlegung dieses ›neuen‹ Characters durch eine Gattungsgeschichte des moralischen Characters, mit der er eine historische Herleitung gerade auch für den poetischen Character anbietet, die bis heute von der Forschung kaum wahrgenommen wurde.154 Wie viele seiner Zeitgenossen hält auch Bodmer Theophrast mit seinen Charakteren für den Urheber der Gattung der moralischen Charactere. Theophrast könne als »Haupt=Muster« für diese Gattung gelten, da er bei den geschilderten Lastern »so feine, so absonderliche, und so verschiedene Arten zu bemercken« gebe, so dass seine »Scharfsinnigkeit nicht genug zu bewundern« sei.155 Die kurze begriffliche Definition des vorzustellenden Lasters, die Theophrast jeweils zu Beginn eines Characters anführt, zeige den »Sittenlehrer«, die daran anschließenden, knapp geschilderten Situationsbeispiele, in denen das Laster vorgeführt wird, zeige den »Kenner der Menschen«.156 Neben der genauen und feinen Nuancierung in der Wiedergabe menschlicher Eigenschaften verhelfe insbesondere diese situative Illustrierung den insgesamt 30 Theophrastschen Charakteren zu ihrer Anschaulichkeit. Die Charaktere seien »gantz 151
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Inhaltlich decken sich die Ausführungen zu den historischen Personal- und National-Characteren in beiden Schriften; neu kommt 1741 das Lob der neuesten französischen Geschichtswerke hinzu (vgl. oben). Bodmer (PG), S. 412. Ebd., S. 461. Diese Gattungsgeschichte ersetzt die vielen Beispiele, die Bodmer noch in Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs=Krafft zur Illustration angeführt hatte, vgl. Bodmer, Breitinger (EK), S. 155–166. – In seiner grundlegenden Gattungsgeschichte erwähnt John William Smeed: The Theophrastan ›Character‹. The history of a literary genre. Oxford, New York 1985, die Critischen Betrachtungen nicht, auch Bernhard Asmuth geht mit keinem Wort auf Bodmers Gattungsgeschichte ein, obschon er in seinem Lexikonartikel ein kurzes Zitat aus den Discoursen der Mahlern anführt; vgl. Bernhard Asmuth: Charakter. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1. Hg. v. Klaus Weimar, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller. Berlin 1997, 3. neubearb. Auflage. S. 297–299. Bodmer (PG), S. 370, in ähnlicher Formulierung Bodmer, Breitinger (EK), S. 152. Bodmer (PG), S. 371.
48 comisch, und man bildet sich in währendem Lesen manchmahl ein, man sey in dem Schauplatze, und sehe eine geschickte Comödie vorstellen. Theophrastus eröffnet uns einen Saal, wo verschiedene lasterhafte Personen, denen die Maske abgenommen ist, eine nach der andern, auftreten, und ihre Rollen spielen.«157 Man könne folglich diese Charactere als »Saamen zu rechtschaffenen Comödien« ansehen.158 Der Aspekt der Literarizität, den man im 18. Jahrhundert Theophrasts Charakteren zusprach,159 ist auch im weiteren Verlauf der Gattungsentwicklung von entscheidender Bedeutung für Bodmer. Jean de La Bruyère (1645–1696) hält er für den wichtigsten Impulsgeber. Anders als Theophrast schöpfe dieser in Les Caractères de Théophrast, traduite du grec, avec les Caractères ou les moeurs de ce siècle von 1688 nicht so sehr aus der »Erfahrung«, sondern vielmehr aus der »Vernunft«. Deshalb enthalte sein Werk vor allem »allerhand moralische[ ] Betrachtungen, Regeln, und Einfälle[ ] über die Sitten der Menschen«, nicht aber viele »Zeichnungen der Character«.160 La Bruyère reiche zwar nicht an den »Kenner der Menschen« heran, er wird von Bodmer aber auch nicht als reiner »Sittenlehrer« wie Rochefoucault oder Pascal wahrgenommen, die noch weniger moralische Charactere als La Bruyère in ihre Werke aufgenommen hätten.161 La Bruyère arbeite ähnlich wie Theophrast, indem er das darzustellende Laster in verschiedenen Situationen schildere, die er aber anders als Theophrast – und hiermit diesen übertreffend – mitein157 158
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Bodmer (PG), S. 370f., in ähnlicher Formulierung Bodmer, Breitinger (EK), S. 152. Ebd. – Als Beispiel führt Bodmer in den Critischen Betrachtungen nicht einen Character von Theophrast an, sondern die Figur Léandre aus der Komödie Le Distrait (1697), in der er den von Jean de La Bruyère verfassten Character des Menalcas’ erkennt. Bodmer vermutete irrtümlich Antoine de La Fosse (1653–1708) als Verfasser dieser Komödie (vgl. Bodmer (PG), S. 384); sie wurde aber von Jean Franc¸ois Regnard (1655–1709) geschrieben. Lessing sah im Juni 1767 die Komödie in deutscher Spracheund erkannteebenfalls La BruyèresMenalcas in der Hauptfigur (vgl. Smeed (1985), S. 203). Die deutsche Übersetzung erschien 1761 als Der Zerstreute: ein Lustspiel des Herrn Regnard, übersetzt von C. L. R. Frankfurt, Leipzig. – Anders als in den Charakterenvon Theophrastwird in der Komödie der moralische Character jedoch nicht in wechselnde, räumliche und zeitliche Umstände gestellt, sondern agiert nur in einem bestimmten Umfeld. Vgl. hierzu auch Smeed (1985), S. 199ff. Alle Zitate: Bodmer (PG), S. 371. La Rochefoucaults Réflexions ou Sentences et Maximes morales lehnt Bodmer aus demselben Grund ab, der ihn auch schon auf Distanz zu Thomasius gehen liess: wegen der pessimistischenAnthropologie.Den »bestenHandlungen der Menschen« werde ein »schändliche[r] Eigennutz« zugeschrieben, so dass der Mensch als im »höchsten Grade boßhaft [sic]« und die Tugenden nur als »verkleidete Laster« erscheinenwürden (Bodmer (PG), S. 372). In dem Bemühen, das »menschliche[] Herz[ ]« zu erhellen, habe Rochfoucault »zuviel mit der Phantasie gearbeitet« (ebd.). Pascals Gedanken hingegen seien mit einem solchen »Pomp« geschrieben und zeige den Menschen in einer »überspannten Hoheit«, so dass der Leser »Mühe« habe, »sich mit dem Helden abzufinden« (ebd., S. 373).
49 ander verknüpfe.162 Während Theophrast ein Laster in einzelnen, potentiell möglichen Situationen darstelle, in denen sich ein Laster auf eine bestimmte Weise manifestiere, präsentiere La Bruyère das Laster in einer kausalen und chronologischen Erzählung.163 Die Situationsverkettung geht bei La Bruyère zudem mit der Tatsache einher, dass er den Characteren Personennamen gibt. Dieselbe Verfahrensweise erkennt Bodmer auch in der 1731 erschienenen Satire Die verdorbenen Sitten von Albrecht von Haller. Hierin sieht er das besondere Verdienst beider Autoren. Indem La Bruyère und Haller eine allgemein menschliche Eigenschaft mit einem Personennamen versehen, wirke diese eindrücklicher beim Leser, da die Illusion einer historischen Person erzeugt würde. Der Personennamen verleihe dem allgemeinen menschlichen Wesenszug den Schein des Besonderen oder Individuellen und nähert damit den moralischen Character bezüglich Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit dem historischen Character an.164 So steigere sich dessen Wahrscheinlichkeit und literarische Legitimität: Sie [die moralischenCharactere; J. R.] haben ihren Grund in dem allgemeinenWahren, aus welchem das absonderliche Wahre, das sich darinnen findet, herausgeleitet ist; und dieses ist daher desto sinnlicher und nachdrücklicher, reimt sich auch auf desto mehrere Menschen. Sein [La Bruyères; J. R.] Iphis ist in der Tat eine symbolische Person, in welche die übermässige Neigung sich zu zieren verwandelt worden, also daß er nicht einen Menschen alleine, sondern eine gantze Classe Leute vorstellet, so viele nemlich mit dem Laster, das er vorbildet, behaftet sind […].165
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Vgl. ebd., S. 378. Bodmer führt das am Beispiel des zerstreuthandelndenMenalcas’ (aus dem 1. Buch von La Bruyères Caractères) vor: Menalcas steigt in eine fremde Kutsche ein im Glauben, sie sei seine eigene. Der Kutscher fährt ihn zu einem fremden Haus, das Menalcas für das seinige hält und in dem er folglich den rechtmäßigen Eigentümer als vermeintlichen Besucher empfängt. – Breitinger hatte im 16. Discours des dritten Teils der Discourse der Mahlern den Character von Menalcas als »unnatürlichste[n] und unförmlichste[n]« Character eines Zerstreuten abgelehnt (Breitinger (DM, III), S. 126). Auch wenn Breitinger, wie Bodmer, La Bruyères ›kombinatorische‹ Poetik erkennt – La Bruyère trage »alles in diesem Caractere zusammen, was hundert andern Distraits zu unterschiedenen mahlen begegnet« –, so kritisiert er sie doch, indem er La Bruyère vorwirft, die »Umstände so sehr [zu erhöhen], daß er sie biß auf eine lächerlicheExtravaganz hinaustreibet«(ebd.), wodurch der Character unwahrscheinlich und nicht glaubhaft würde. Bei Menalcas wirke unglaubwürdig, dass die »Distraction« so lange anhalte (ebd., S. 127). Bodmer verweist zwar in den Critischen Betrachtungen ebenfalls auf die Gefahr, dass das »Lehrreiche dem Lustigen« aufgeopfert werde und die Darstellung dadurch ihre Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit verlieren könne (Bodmer (PG), S. 382), den Menalcas-Character, bzw. La Bruyère sieht er davon aber nicht betroffen. Den Iphis-Character von La Bruyère nimmt Bodmer explizit gegen den Vorwurf der ›Überspanntheit‹ in Schutz (vgl. ebd., S. 378f.). Vgl. ebd., S. 380. Ebd., S. 378.
50 Die Tendenz der Geschichte des moralischen Characters besteht also in der zunehmenden Literarisierung der Gattung. Damit verbunden ist auch die Übertragung der ursprünglichen Funktion des moralischen Characters als historische Sittenlehre auf die Literatur. Hier deckt sich Bodmers Literaturverständnis weitgehend mit der zeitgenössischen Auffassung von der Nützlichkeit der Literatur, die Einsicht in den großen Nutzen der Literatur bildete sich bei ihm jedoch erst im Verlauf der Jahre heraus. Zu Beginn seiner publizistischen Laufbahn ist diese noch nicht in dem Ausmaß vorhanden wie dann 1741.166 Erst in den Critischen Betrachtungen rückte die Poesie ins Zentrum von Bodmers Interesse und drängte nicht nur die Sittenlehre und das mit ihr verbundene Medium der moralischen Wochenschrift in den Hintergrund, sondern auch die Historiographie (vgl. auch Kap. 2.4). Dabei übernahm die Poesie deren Funktionen und Aufgaben,167 was sich mit den Ausführungen zum poetischen Character in den Critischen Betrachtungen klar belegen lässt. Sie stellen den Höhepunkt von Bodmers poetologischer Reflexion und zudem das ›Fanal‹ für seine eigene Literaturproduktion dar. Über die poetischen Charactere, welche die systematische Beschreibung und Gliederung der literarischen Künste in Bodmers Poetik vervollständigen, sagte er: Wiewohl nun die persönlichen Character [historischen Personal-Character; J. R.] eigentlich in die Historie gehören, wo sie sich in ihrem gantzen Umfang ausbreiten, so können sie dennoch auch in der Poesie mit besonderm Nutzen gebraucht werden, wenn sie von dem Poeten nach seiner Weise, und seinen Absichten gemäß zugerichtet sind. Sie dienen ihm insgemeine in dem Trauerspiele und dem Epischen Gedichte zum Grunde der Hauptcharacter […].168
›Zugerichtet‹ werden müssen die meisten historischen Charactere, da sich die herausragenden exemplarischen Vorbilder, welche in der Literatur dargestellt werden sollen, in der Geschichte nur sehr selten finden.169 Wegen der geringen Anzahl an tugendhaften historischen Persönlichkeiten kann die Historiographie ihre Funktion als ›Lieferantin‹ vorbildhafter Verhaltensweisen nur in wenigen Fällen erfüllen, was sie als Verhaltenslehre, die nur real Vorgefallenes darstellen darf, wenig geeignet 166
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So auch schon Simone Zurbuchen: »Bodmer war nicht nur Literaturtheoretiker, sondern auch und sogar primär Moralist. Als solcher trat er in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts an die Öffentlichkeit, als er die Discourse der Mahlern lancierte […].« ( Zurbuchen (2003), S. 80); ähnlich auch schon Enrico Straub: Der BriefwechselCalepio-Bodmer.Ein Beitrag zur Erhellungder Beziehungenzwischen italienischer und deutscher Literatur im 18. Jahrhundert. Berlin 1965 (Diss.), S. 52f. Dass Bodmer den 21. Discours des ersten Teils der Discourse der Mahlern, in dem Breitinger die Vorteile der historischen Sittenlehre erläutert hatte (vgl. oben), nicht in den Mahler der Sitten von 1746 aufnimmt, zeugt von Bodmers veränderter, die Literatur aufwertende Auffassung. Bodmer (PG), S. 410. Vgl. ebd., S. 410f.
51 erscheinen lässt. Anders als die Historiographie kann jedoch die Literatur, die nicht nur das »würckliche[ ] Wahre[ ]«, sondern auch das »hypothetische Wahre« darstellen kann,170 diese Funktion weit besser ausüben, weil sie die zur Lehre benötigten Exempel selbst – und damit in unbeschränkter Anzahl – erschaffen kann. Um den meist mittelmäßigen historischen Character zu einem stilisierten, idealisierten oder moralisch vollkommenen poetischen Character zu machen, gebe es zwei grundlegende Verfahrensweisen: die Reduktion oder die Zusammensetzung. Einerseits könnten Eigenschaften des historischen Characters eliminiert und der Character somit auf einen Wesenszug reduziert werden, andererseits könne er aber auch mit Eigenschaften anderer Personen ergänzt werden. Dieses Verfertigungsprinzip des poetischen Characters hat Bodmer auch bei der Darlegung von La Bruyères und Hallers moralischen Characteren hervorgehoben. Auch für Breitinger ist diese poetische Erfindungsweise von zentraler Bedeutung, wie seine Ausführungen über die »abstractio imaginationis« in der Critischen Dichtkunst zu verstehen geben.171 Breitinger und Bodmer folgen hiermit den Ausführungen von Christian Wolff in der Deutschen Metaphysik : der Poet zergliedere Bekanntes und setze 170
171
Ebd., S. 66. Breitinger hatte zur Beschreibung desselben Sachverhaltes die Begriffe ›historisch Wahres‹ und ›poetisch Wahres‹ verwendet; vgl. Breitinger: Critische Dichtkunst Worinnen die Poetische Mahlerey in Absicht auf die Erfindung Im Grunde untersuchet und mit Beispielen aus den berühmtesten Alten und Neuen erläutertwird. Zürich, bey Conrad Orell und Comp. 1740 (Faksimiledruckder Ausgabe von 1740) Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1966 (Deutsche Neudrucke. Texte des 18. Jahrhunderts), S. 60f.; im Folgenden mit der Sigle ›CD, I‹ zitiert. »Diese [die ›abstractio imaginationis‹; J. R.] bestehet nach meiner Erklärung darinne, daß der Poet den Zusatz von dem Widerwertigen, der die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit eines Gegenstandes auf einen gemässigten Grad setzet, in seiner Nachahmung weglasse, und hergegen, was die Natur von verschiedenen Arten der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit in verschiedenen Gegenständen mit ungleichem Maasse vertheilet hat, aufmercksam und sorgfältig zusammensuche, und diejenigen Arten, die er zu erhöhen gedencket, in seinem vorzustellenden Bilde geschickt vereinige. Durch das Mittel dieser Abstraction der Phantasie werden die einzelen [sic] und absonderlichen Bilder, welche uns die Natur und die Historie vorlegen, allgemein und für mehrere Wesen gerecht gemachet.« (Breitinger (CD, I), S. 286f.) Bei Bodmer heißt es entsprechend: »Nicht anderst greifft der Dichter die Wahrheiten an, die er in dem mittlern Reiche findet, wo die Handlungen, die Sitten, die Tugenden, die Laster und Fehler der Menschen anheimsch [sic] sind, und sich in überaus gemengeten und durch den Zufluß vieler Neigungen, so einander die Wage halten, gemässigten Charactern offenbaren. Der Poet nimmt eine neue Mischung dieser Sachen vor, er ziehet insonderheit eine gewisse Gemüthes=Neigung heraus, und sondert sie von allen andern, welche sie durch ihre Vermischung in Schrancken gehalten hatten, also daß sie auf einem hohen Grade hervorsticht; nachmahls setzet er sie in alle möglichen Umstände, denen das menschliche Leben unterworffen ist, und zeiget bey einer jeden, wozu dieselbe einen Menschen, der davon eingenommen ist, verleiten kan, indem er ihn gedencken, beschliessen, und handeln läßt, was ihr gemäß ist.« (Bodmer (PG), S. 60f.)
52 es neu zusammen.172 Diese Auffassung der poetischen Schaffensweise, die nicht nur für die Erfindung von Characteren Gültigkeit hat, sondern auch etwa für die Beschreibung von Landschaften,173 gibt zu verstehen, dass beide einer uneingeschränkten dichterischen Phantasie nicht das Wort reden (vgl. hierzu auch Kap. 1.6). Der moralische und der poetische Character unterscheiden sich durch ihren jeweiligen Bezug zur realen Lebenswelt. Bei Theophrast, La Bruyère und auch in den moralischen Wochenschriften wurde der moralische Character zur Darstellung von Lastern verwendet, die man im alltäglichen Leben, im zwischenmenschlich-privaten Bereich der Gesellschaft antrifft. Die Komödie, in die der moralische Character ›überführt‹ wird, richtet das Augenmerk ebenfalls auf die Sphäre des ›gemeinen Handelns‹. Bodmer konzentriert sich in seiner Poetik jedoch vor allem auf die höheren und ernsthafteren Gattungen des Epos und der Tragödie, die sich – ihren tradierten Gattungskonventionen gemäß – nicht dem privaten Bereich, sondern dem Bereich der Politik widmen und sich durch die Historizität der darin aufgegriffenen Stoffe legitimieren. Entsprechend ist der poetische Character vom moralischen Character lediglich hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Referenz verschieden, deckt sich aber mit ihm darin, dass er nicht das Abbild einer individuellen (historischen) Person darstellt, sondern eine Eigenschaft vorführt, die sich bei mehreren Menschen finden lässt und somit allgemein ist. Der moralische Character zeigt allgemeine private Tugenden und Laster, der poetische Character allgemeine politische: Diese Empfindungen, welche die Tragödie aufwecken sollte, müßten ferner, zum Unterschied der Comödie, ihren Einfluß auf das Leben und die Aufführungen in 172
173
Vgl. Christian Wolff: Gesammelte Werke. I. Abteilung, Deutsche Schriften, Bd. 2.1:Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. (Nachdruck der Ausgabe Halle 1751) Mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Corr. Hildesheim, Zürich 1997, § 242; im Folgenden zitiert mit der Sigle ›DtM‹. Das verdeutlichtBodmer an John Miltons Beschreibungvom Garten Eden. Gemäß den »eingeführten und gewohnten Gesetzen der Natur und der Bewegung« könne der Poet die realen Dinge verändern (ebd., S. 59), indem er sie »um gewisse Grade vermehr[t] oder verminder[t]«(ebd., S. 58) und sie nach »andern Absichten auf eine andere und ihre eigene Weise zusammenordne[t]« (ebd., S. 59). Milton habe so »den gantzen Reichthum der Natur, der durch alle Gegenden der Erden, und durch alle Jahrszeiten, verstreut war, auf einen engen Raum« (ebd.) zusammengetragen und so das Paradies als »erhabene[n] Begriff eines Gartens von göttlicher Anordnung und Herrlichkeit« (ebd., S. 60) geschildert. – Auch Horst-Michael Schmidt attestiert dieser Methode, die er im »logisch-begrifflichen Verfahren der ars inveniendi« vorgebildet sieht, zentrale Bedeutung; vgl. Horst-Michael Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung (Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten). München 1982 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, 63), S. 131.
53 politischen Landes=Angelegenheiten haben, so wie diese ihr Auge auf das Verhalten und den Wandel im Privatleben, zwischen sonderbaren Personen, richtet. Der Haß gegen die Tyrannie, die Ehrfurcht gegen die Majestät, die Liebe der Friedfertigkeit, die Dapferkeit im Streit für das Vaterland, das Lob der Gerechtigkeit, der Künste, und dergleichen, wodurch der Staat befestiget, die bürgerliche Gesellschaft verbessert, das Völckerrecht in das Hertz eingepflantzet wird, sollte hier das Ziel und Augenmerck seyn. Wie die Comödie die Pflichten des natürlichen Gesetzes, die ihren Grund in der Menschlichkeit haben, nach ihrer Art beyzubringen sucht, also trachtete die Tragödie die Pflichten, die in der Politick und dem Recht der Völcker gegründet sind, nicht auf eine überzeugende Weise zu lehren, sondern in das Hertz einzupflantzen.174
Wenn in der Historiographie der historische Character zur Verdeutlichung und zur Unterweisung in politischen Angelegenheiten und Verhaltensweisen dient, so erfüllt der poetische Character – in Analogie zum moralischen Character der Komödie – in der Tragödie und im Epos dieselbe Funktion. Mit diesen Ausführungen hat Bodmer nicht nur die konstitutive Bedeutung des Characters für die verschiedenen Gattungen dargelegt, sondern auch die »poetischen Gemählde« systematisch fundiert, was sich auch in der Rede von der »Grundwissenschaft« widerspiegelt. Noch an einem anderen Aspekt von Bodmers Poetik lässt sich sein ›neues‹ Verständnis von Literatur erkennen. Breitinger benennt zwei große Themengebiete, die in der Literatur behandelt werden können und teilt die nachzuahmende (reale und mögliche) Welt in eine »sichtbare« und in eine »unsichtbare« auf. Zur sichtbaren Welt gehören »alle Cörper, die Elemente, die Sterne, [der] Mensch in Ansehung seiner äusserlichen Würckungen, die Thiere, die Pflanzen«, zur unsichtbaren »Gott, die Engel, die Seelen der Menschen; ihre Gedanken, Meinungen, Zuneigungen, Handlungen, Tugenden, Kräfte«.175 Bodmer hingegen gibt »drey grosse Reiche« an, aus denen die Poesie ihren Stoff beziehen kann:176 das »himmlische«, das »menschliche« und das »materialische« Reich. Diesen ordnet er je eine Wissenschaft zu, dem himmlischen die »Gottesgelahrtheit«, dem materialischen die »Meßkunst und die Physick« und dem menschlichen die »Sittenlehre«.177 Zum materialischen Reich zählt Bodmer alles, was aus Materie besteht und somit dem Menschen mittels seiner Sinnesorgane zugänglich ist, das himmlische enthält alles, was ohne Materie und Körper ist und nur mit Vernunftschlüssen erwiesen werden kann oder im Glauben gründet. Das menschliche Reich umfasst »das Thun und Lassen, das Bezeigen, die Gedancken, die Gemüthes-
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Bodmer (PG), S. 432f. – Auch hier zeigt sich, dass die naturrechtlichen Pflichten von Bodmer als Grundlage des menschlichen Verhaltens angesehen werden. Breitinger (CD, I), S. 54f. Bodmer (PG), S. 55. Ebd., S. 57.
54 Meinungen, Tugenden, Begierden und Neigungen des Menschen« und stellt für Bodmer den wichtigsten Bereich der Poesie dar.178 Den Ausgangspunkt von Bodmers Überlegungen zum poetischen Character bilden in den Critischen Betrachtungen die poetologischen Erläuterungen von Antonio Conti (1677–1749), die dieser seiner 1726 veröffentlichten Tragödie Il Cesare in Form von zwei Briefen vorangestellt hatte. Diese Tragödie ist wesentlich durch Shakespeares Julius Caesar beeinflusst, folgt aber den klassizistischen Vorgaben bezüglich der Einheiten des Ortes, der Zeit und der Handlung und präsentiert den Cäsarmord, im Gegensatz zu »Sasper«,179 als regelmäßige Tragödie. Conti reflektiert in den Briefen ausführlich die Charaktere, da er in seinem Stück – in Abgrenzung zu Shakespeare – »caratteri più naturali e leggiardi«180 auftreten lassen wolle. Mit dieser Absicht erweist er sich als Vertreter des »zivile[n] Klassizismus«, der sich vom französischen »Hofklassizismus« eines Corneilles oder Racines distanziert.181 Nach Wolfgang Proß betonte bereits das italienische, bürgerlich orientierte Theater die »›Nutzlosigkeit‹ tragischer Charaktere«, die sich an einem »weltfremden Ideal philosophischer Vollkommenheit orientieren« würden, und verabschiedete damit das traditionelle Heroismus-Modell.182 Contis Poetik weist also voraus auf Lessings Dramaturgie der gemischten Charaktere, ohne allerdings dessen Forderung nach einer realistischen Figurenzeichnung zu erheben. Seine Ansichten bilden eine Zwischenposition zwischen alter (barocker) und neuer (empfindsamer) dramatischer Anthropologie. Er teilt die (Personal-)Charactere in drei verschiedene Klassen ein und unterscheidet zunächst den »ideale[n]« Character vom »natürliche[n]« Character.183 Den idealen Character versteht er als moralischen Character, der stets »unveränderlich« und »in seiner Form allezeit einerley« sei und immer den »höchsten Grad« einer Tugend darstelle.184 Im natürlichen Character hingegen zeige sich nicht eine Tugend oder ein Laster in vollendeter Ausformung, vielmehr wechselten sich in ihm »die Tugend und das Laster […] um die Wette« ab.185 Er werde von den »Ge178 179 180 181
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Ebd. Conti: Il Cesare. Tragedia. Faenza 1726, S. 54. Ebd., S. 55. Wolfgang Proß: Die Konkurrenz von ästhetischem Wert und zivilem Ethos. Ein Beitrag zur Entstehung des Neoklassizismus. In: Der theatralische Neoklassizismus um 1800. Ein europäisches Phänomen? Hg. v. Roger Bauer, Michael de Graat, Jürgen Wertheimer. Bern, Frankfurt a. M., New York, Paris 1986 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte, Band 18), S. 64–126, hier S. 69. Ebd., S. 89. Bodmer (PG), S. 392. Ebd., S. 393. Ebd.
55 schichtschreibern« geschildert und ist also mit dem historischem Character gleichzusetzen.186 Als dritten Character führt Conti denjenigen ein, der die ›Mitte‹ zwischen den beiden anderen bildet und für das Epos und Trauerspiel verwendet werden soll. An dieser Idee des ›MischCharakters‹ zeigt sich die Übergangsposition zwischen heroischer Tragödie und realistischer Dramaturgie: Conti will den historisch verbürgten Character eines ›großen Helden‹ im bürgerlichen oder menschlichen Maßstab schildern. Allerdings argumentiert Conti in seinen Briefen nicht mit dem Ethos, sondern führt poetologisch-philosophische Gründe an, wie Bodmers Referat über Contis Ansichten zeigt. Conti vertritt einen sehr engen Mimesisbegiff, für den Italiener sei, so Bodmer, Literatur ohne konkreten Wahrheitsgehalt zu »verwerffen«.187 Nach dem rationalistischen Mimesiskonzept, dem Conti (und auch Bodmer) verhaftet ist, ruft erst der Vergleich von (realem) Urbild und (literarischem) Abbild beim Leser »Ergetzen« hervor. Da der ideale Character diesen Vergleich zwischen Ur- und Abbild nicht zulasse, da er ›nur‹ die philosophische, aber nicht die empirische Wahrheit verkörpere, schließt ihn Conti von der Verwendung in der Poesie aus. Der natürliche Character hingegen gehöre wegen seiner reinen Faktizität in den Bereich der Historiographie. Für die Poesie ›musste‹ Conti somit einen neuen Character definieren.188 Gegen Contis Konzeption wehrt sich Bodmer mit einem erweiterten Mimesisbegriff. Er deutet Contis idealen Character als Versuch, den von ihm selbst eingeführten poetischen Character zu beschreiben und geht folglich davon aus, dass der »ideale Character […] kein anderer [sei], als der symbolische oder poetische«.189 Von dieser Prämisse her argu186
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Conti verwendetselbst auch den Begriff des ›historischen‹Charactersfür den natürlichen; vgl. Conti (1726), S. 70. Bodmer (PG), S. 417. – Entsprechend erläutert Conti auch sehr genau, welche Quellen er beim Verfassen seines Dramas verwendet hat. Er betont insbesondere seine historisch getreue Gestaltung des Cäsar-Characters. Hauptsächlich stützt sich Conti auf Plutarch, Sueton und Dion Cassius (vgl. Conti (1726), S. 19). Seine ›realistische‹ Schilderung von Caesar beschreibt Conti folgendermaßen: »Io l’ho dipinto grande nelle sue idee, magnifico nelle sue azioni, liberale, vigilante, secondo in ottimi consigli,e prontissimo in esseguirli. Ma non mi sono dimenticatodella sua sagacità, e della sua ambizione.« (Ebd., S. 20). »Der Character, sagt er [Conti, J. R.], der für das epische Gedicht und das Trauerspiel gehöret, hält das Mittel zwischen dem idealen, oder philosophischen, und dem natürlichen oder historischen. Er hat etwas von dem idealen, sonst würde die Nachahmung keinen Anlaß zur Vergleichung geben, und folglich kein Ergetzen veranlassen. Er hat auch etwas von dem historischen an sich, sonst würde er keine Nachahmung des Wahren seyn.« (Bodmer (PG), S. 414). Das Zitat im italienischen Wortlaut: »Il carattere tragico tiene il mezzo tra l’ideale o sia il filosofico, e il naturale o sia l’istorico. Tiene dell’ ideale; altrimenti mancherebbe all’imitazione l’occasione del paragone, e in conseguenza l’occasione del diletto. Ritiene dell’istorico; altrimenti non imiterebbe il vero.« (Conti (1726), S. 70). Bodmer (PG), S. 415.
56 mentiert er dann gegen Conti: Die Bezeichnung ›idealer‹ Character sage als Oppositionsbegriff zum ›natürlichen‹ Character »etwas chimärisches und falsches« aus, weil er nicht »nothwendiger Weise« nur den äußersten Grad einer Tugend darstellen müsse, sondern sehr wohl auch den in einem historischen Character enthaltenen komplexen Affekthaushalt schildern und somit »ein verschiedenes Licht« geben könne.190 Damit schlägt Bodmer vor, »zwo Classen des idealen Characters [zu] machen, deren eine auf das allgemeine, die andere auf das absonderliche Wahre bauete«.191 Er hält – anders als Conti – auch Charactere, die »gantz und gar erdichtet sind«,192 für darstellungsfähig und -würdig. Ein Poet könne entweder die »Natur in ihren hervorgebrachten Wercken«, also die Wirklichkeit, nachahmen oder er schildere die Natur auf »wahrscheinliche[ ] Weise«, also so, wie sie sein könnte.193 Gerade letztere Art der Nachahmung unterscheide den Poeten vom Geschichtsschreiber, der nur das tatsächlich Vorgefallene darstellen könne. Hiermit folgt Bodmer der Unterscheidung von Aristoteles, der vom Dichter die Darstellung des Allgemeinen, vom Geschichtsschreiber die Darstellung des Besonderen gefordert hatte, und rekurriert auch gleichzeitig auf die sich auf Leibniz stützende Ansicht, dass die Poesie eine Nachahmerin der möglichen Welten sei.194 Auch wenn die poetischen Charactere der Literatur nicht in den »Geschichtbüchern, noch in der Sage der Leute« anzutreffen seien, so haben diese doch einen »zulänglichen Grund der Wahrheit«,195 weil sie verschiedene, empirisch beobachtbare Aspekte in sich vereinigen. Contis Auffassung, nur das historisch Wahre als Gegenstand der Literatur gelten zu lassen, ist für Bodmer somit eine Beschränkung, die das eigentliche Wesen der Literatur verfehlt: Die[ ] Wahrheit, worauf es [das Wahrscheinliche; J. R.] bauet, besteht in den festgesezten und unveränderlichen Gesetzen, womit die Natur, oder besser zu sagen, die göttliche Vorsehung würcket; und es ist von dem historischen Wahren, das Herr Conti zum Grund geleget haben will, nur in so weit unterschieden, daß es nicht wie dieses zur Würcklichkeit gekommen ist. Dieses historische Wahre, das er verlanget, ist nur ein bekannteres Wahres, als das Wahrscheinliche. Eine Fabel, wo es zum Grund geleget wird, ist vielleicht kunstreicher, weil es schwerer ist, sie vor Widerspruch zu bewahren. Aber daß eine solche lehrreicher sey, als eine Fabel, wo das blosse Wahrscheinliche zum Grund genommen wird, kan ich nicht sehen; das Wahre, das aus dem allgemeinen und immergleichen Laufe der Natur herausgezogen wird, kan nicht unsicher oder unbestimmt, noch zu der Erkenntniß der 190 191 192 193 194
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Ebd., S. 393. Ebd., S. 413f. Ebd., S. 412. Ebd., S. 67. Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1997 (RUB, 7828), Kp. 9 und 25; im Folgenden mit der Sigle ›P‹ zitiert. – Breitinger beruft sich in seiner Critischen Dichtkunst mehrmals auf Leibniz; vgl. Breitinger (CD, I), S. 56 u.ö. Bodmer (PG), S. 413.
57 Gemüther unnützlich seyn. Das Absonderliche ist in dem Allgemeinen, als seiner Wurtzel enthalten, es hat seine Sicherheit von demselben, und es wird durch seine Beziehung auf dasselbe am deutlichsten bestimmet; die Erkenntniß der Menschen, der Kunst zu leben, und der Regeln des Staats kan nicht geringer seyn, wenn sie aus dem allgemeinen Laufe der Welt, als wenn sie aus einem absonderlichen Exempel geschöpfet wird; das Allgemeine und das Absonderliche können einander nicht zuwider seyn, ohne daß eines von ihnen auf eine unrichtige Erfahrung fusse.196
Wie die Wahrheit steht auch die Wahrscheinlichkeit auf dem Grund der »festgesezten und unveränderlichen Gesetze« der Natur und der göttlichen Vorsehung und unterliegt damit den »logico-ontologischen Begründungsinstanzen des rationalistischen Wahrheitsbegriffs«.197 Solange diese Gesetze eingehalten werden und Gültigkeit haben, besteht zwischen dem Wahrscheinlichen und der Wahrheit nur ein gradueller Unterschied,198 der aber – und dieser Wendung kommt große Bedeutung zu – keinen Einfluss auf den Erkenntnisgehalt der Literatur hat. Der Zweck der Character-Lehre ist der Unterricht über das menschliche Verhalten. So wie es die Sittenlehre mittels Exempla oder die Historiographie mittels historischer Charactere macht, so soll in der Poesie der poetische Character wirken: Der »wahre Werth des Trauerspiels«, so Bodmer in den Critischen Briefen von 1746, bestehe »in der Vorstellung der Charakter der Menschen und der natürlichen Wirkungen der verschiedenen Leidenschaften«.199 Verbunden mit dieser Absicht ist die Distanzierung
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Ebd., S. 418f. Schmidt (1982), S. 128. – Die Kriterien sind hierbei der Satz des Widerspruchs und der Satz des zureichenden Grundes (vgl. hierzu auch Dieter Kimpel: Christian Wolff und das aufklärerische Programm der literarischen Bildung. In: Christian Wolff (1679–1754).Interpretationenzu seiner Philosophieund deren Wirkung. Mit einer Bibliographie der Wolff-Literatur. Hg. v. Werner Schneiders. Hamburg 1983 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 4), S. 203–236, hier S. 206). – Folglich kann der Poet – das wurde oben schon dargelegt – den poetischen Character auf ›induktivem‹ oder auf ›deduktivem‹ Wege gewinnen: »Der Grund dieser [poetischen, J. R.] Character ist demnach von dem historischen nicht weiter unterschieden, als daß die Wahrheiten, auf denen er beruhet, noch nicht zur Würcklichkeit gekommen sind, wozu es ihnen aber alleine an dem Willen dessen fehlet, der die Natur nach seinen gegenwärtigen Absichten regieret; der sie vielleicht auch würcklich an einem Orte und zu einer Zeit hervorgebracht hat, wovon uns aber nichts bekannt worden. In denselben ergreift der Poet ein allgemeines Wahres, und leitet aus solchem ein absonderliches heraus, das ist, er mahlet die Handlungen, die Personen und Sachen, wie sie die Natur, überhaupt betrachtet, soll und kan machen und etwann macht; da in den historischen hingegen ein absonderliches Wahres vor die Hand genommen, und aus demselben ein allgemeines Wahres herausgezogen wird.« (Bodmer (PG), S. 413). Vgl. hierzu Breitinger (CD, I), S. 128–142. Bodmer, Breitinger: CritischeBriefe. Zürich, bey Heidegger und Comp. 1746. (Faksimilenachdruck Hildesheim 1969), S. 85; im Folgenden mit der Sigle ›CB‹ zitiert.
58 von dem von Aristoteles ausgesprochenen Handlungsprimat:200 »Wahrhaftig der Vorzug, den Aristoteles der Fabel giebt, verkleinert das Trauerspiel an seiner gebührenden Würde, welches die Hochachtung, in der es zu allen Zeiten gestanden, damit verdienet, daß es uns von den Neigungen und Charaktern der Menschen unterrichtet.«201 Bodmer wendet sich gegen Aristoteles, kritisiert aber auch gleichzeitig Gottscheds Tragödienkonzeption in dessen Critischer Dichtkunst. Gottsched hatte sich auf Aristoteles berufen, als er die Tragödie auf die Vermittlung eines »moralischen Lehrsatz[es]« verpflichtet hatte.202 Da die »Fabel«, im Sinne der Handlung, die »sinnliche« Verpackung dieser Lehre darstellt, kommt ihr nach Gottsched gesteigerte Bedeutung zu. Die Effektivität dieses Wirkungskonzeptes bezweifelte Bodmer, da auf diese Weise eine Tragödie lediglich »irgend eine einzelne Lehre zur Besserung des menschlichen Lebens in einem langen Exempel« darstelle; so betreibe man viel Aufwand für einen verhältnismäßig sehr geringen moralischen Nutzen. Ein Dramatiker, der sich jedoch auf die Darstellung der Charactere konzentriere, könne eine »vollständige Schilderey des menschlichen Lebens« geben, in der »man nicht allein die natürlichen Folgen der menschlichen Handlungen, sondern die Temperamente, und die Neigungen der Menschen zu sehen bekömmt, mit den innerlichen Beweggründen zu guten Handlungen und zu Abweichungen von den allgemeinen Grundregeln der Tugend«.203 Erst hiermit entfalte die Tragödie ihren vollen Nutzen. Gewährsmann für diese Gattungsbestimmung in den Critischen Briefen ist der englische Physiker und Mathematiker Henry Pemberton (1694–1771) mit seinen 1738 erschienenen Observations on Poetry,204 welche die Poetik von Richard Glovers Leonidas (1737) verteidigten. Bodmer gibt über mehrere Seiten hinweg die Argumentation von Pemberton gegen das Aristotelische Handlungsprimat paraphrasiert wieder: Auch wenn die Handlung der Tragödie und auch des Epos einen wich200
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Vgl. Aristoteles (P), Kp. 6, vgl. hierzu Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, ›Longin‹. Eine Einführung. Düsseldorf, Zürich 2003, S. 27ff., und Alberto Martino: Geschichte der dramatischen Theorien in Deutschland im 18. Jahrhundert, I. Die Dramaturgie der Aufklärung (1730–1780). Aus dem Italienischen von Wolfgang Proß. Tübingen 1972 (Studien zur deutschen Literatur, 32), S. 305–312. Bodmer, Breitinger (CB), S. 74. Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Bd. 6, 2: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Hg. v. Joachim Birke, Brigitte Birke. Berlin, New York 1973, S. 317 (§ 11); im Folgenden als ›CD, II‹ zitiert. – Vgl. hierzu auch Heide Hollmer: Anmut und Nutzen. Die Originaltrauerspiele in Gottscheds ›Deutscher Schaubühne‹. Tübingen 1994 (Theatron, 10), insbes. S. 71–79. Bodmer, Breitinger (CB), S. 76. Henry Pemberton: Observations on Poetry. Especially the Epic. Occasioned by the late Poem upon Leonidas. London 1738. Bodmer weist explizit auf Pemberton hin; vgl. Bodmer, Breitinger (CB), S. 71.
59 tigen Aspekt derselben ausmachen, so sei sie doch nicht deren »vornehmste[r] Theil«.205 Eine »wohlabgefaßte Fabel« könne zwar aufgrund ihrer »Neuigkeit« das Publikum unterhalten, durch eine geschickte Darstellung der Figuren habe man aber ebenfalls »immer etwas frisches« vor sich und würde zudem neue Einsichten in das menschliche Verhalten gewinnen.206 Viel interessanter als die Abenteuer seien die »Gesinnungen und Neigungen«, das betont Bodmer mit Bezug auf die antike Poetik mit Nachdruck. Aristoteles habe im sechsten Kapitel seiner Poetik die Dramenfiguren mit den Farben verglichen, die ein Maler verwende. Wenn sie »ohne Ordnung auf ein Stück Tuch« aufgetragen würden, könne das Werk nicht gefallen; hieraus schließe Aristoteles, so Bodmer, dass die Handlung wichtiger sei als die Charactere. Dagegen wendet Bodmer ein, dass die Charactere mehr als nur »Farben« seien: »es sind schon wirkliche Figuren absonderlicher Stücke, mit allen ihren Stellungen, Mischungen, Licht, Schatten, und besonderer Proportion, die nichts weiter nöthig haben, als in ein Band zusammen gestellt zu werden«. Das bedeute aber nicht, wie Aristoteles und seine Anhänger glaubten, dass das »Band selbst«, also die Handlung, »mehr werth sey, als sie [die Charactere; J. R.] für sich selbst betrachtet sind«.207 Fast zeitgleich hatte auch Johann Elias Schlegel (1719–1749) Gottscheds Lehrsatz-Theorem in Frage gestellt und wie Bodmer das Theater als Vermittlungsinstanz von Kenntnissen über »Charactere und Leidenschaften« beschrieben.208 Auch Lessing interessierte sich in den 1750er Jahren in erster Linie für die Charaktere und entwarf im Briefwechsel über das Trauerspiel eine Dramaturgie, die sich für die Figurenpsychologie interessierte und die Zuschauer nicht durch einen dem Theaterstück zugrunde liegenden Lehrsatz bessern wollte. Vielmehr skizzierte Lessing ein Wirkungsmodell, wonach die Besserung des Zuschauers durch Identifikation und Empathie mit den Figuren bewirkt werden sollte.209 Schlegel 205 206 207 208
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Bodmer, Breitinger (CB), S. 76, vgl. Pemberton (1738), S. 8. Bodmer, Breitinger (CB), S. 73f, vgl. Pemberton (1738), S. 10. Bodmer, Breitinger (CB), S. 73. – Vgl. hierzu auch Kap. 1.5 und Kap. 3.2. J. E. Schlegel: Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters. In: ders.: Werke, Dritter Theil. Hg. v. Johann Heinrich Schlegel. Kopenhagen, Leipzig 1764. (Faksimiledruck 1971), S. 259–298, hier S. 272. – Schlegel äußert dieselben Einwände wie Bodmer gegen Gottscheds Auffassung: »Sie [die Anhänger Gottscheds; J. R.] suchen das größte Lehrreiche der Schauspiele, und der Fabeln überhaupt, darinnen, daß sie mit Mühe aus einem großen Werke eine einzige Sittenlehre ziehen, die dann und wann ziemlich gemein ist, und die man ganz leicht von selbst hätte wissen können; und eine solche Sittenlehregeben sie für den Hauptzweck eines ganzen Gedichtes an.« (ebd., S. 271). Vgl. den berühmten Brief Lessings: Die »Bestimmung der Tragödie« sei es, »unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen« zu erweitern, da der »mitleidigste Mensch« stets der »beste Mensch« sei, weil er »zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste« sei (Lessing an Nicolai, im November 1756, zit.
60 wie Lessing – letzterer jedoch etwas schwankend – waren dabei durchaus noch wie Bodmer einer Bewunderungsdramaturgie verpflichtet,210 von der sich Lessing erst in der Hamburgischen Dramaturgie energisch distanzieren sollte. Da nur aufgrund der »Gleichheit« von Dramenfiguren und Zuschauern letztere emotional berührt werden könnten,211 sollten die Dramenfiguren »mit uns von gleichem Schrot und Korne« und »vollkommen so denken und handeln […], als wir in [ihren] Umständen würden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, daß wir hätten denken und handeln müssen«.212 Hier werden nicht mehr bewunderungswürdige Helden für die Bühne gefordert, sondern ›gemischte Charaktere‹.213 Mit dem Erreichen dieser Position hat sich der »Übergang vom rationalistischen zum emotionalistischen Trauerspielmodell« vollzogen.214 Statt sich auf den »Ablauf der exemplarischen Handlung um einen unpersönlichen und artifiziellen Heros« zu konzentrieren, richtete man nun sein Augenmerk auf den »individuelle[n] Charakter« der Protagonisten.215 Der Zuschauer interessierte sich für Figuren, mit denen er sich identifizieren und mit denen er mitleiden konnte. Auch Bodmer lenkte den Blick auf die Protagonisten, die er aber nicht als Individuen, denen die Zuschauer ähnelten, konzipiert wissen wollte, sondern als Helden. Hier zeigt sich Bodmers Übergangsstellung innerhalb der Dramengeschichte: Mit seiner Character-Lehre hat er am Paradigmenwechsel
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nach Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 3: Werke 1754–1757. Hg. v. Conrad Wiedemann unter Mitwirkung von Wilfried Barner und Jürgen Stenzel. Frankfurt a. M. 2003, S. 671). Vgl. Schlegel (1764), S. 272, vgl. Lessings Diskussion mit Mendelssohn über die Bewunderung in Lessing (2003), S. 678–703. – Lessing und ChristlobMylius hatten 1750 als Herausgeber der Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters Corneilles drei Discourse über das Theater in deutscher Übersetzung aufgenommen. Corneille (und mit ihm die beiden Herausgeber) forderte in der ersten Abhandlung von dem Nutzen und den Theilen des dramatischen Gedichts die »Erhebung oder Vollkommenheit des Charakters« ein (Abhandlung von dem Nutzen und den Theilen des dramatischen Gedichts. Aus dem Französischen des Peter Corneille übersetzt. In: Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters.Erstes Stück. Stuttgard 1750, S. 78). Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 6: Werke 1767–1769. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt 1985, S. 559. Ebd., S. 558f. Vgl. zu Lessing ausführlicher Eun-Ae Kim: Lessings Tragödientheorie im Licht der neueren Aristotelesforschung. Würzburg 2002 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, 374), vgl. zur Geschichte des Dramas Wolfgang Lukas: Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730–1770). Göttingen 2005 und Cornelia Mönch: Abschrecken oder Mitleiden. Das deutsche bürgerliche Trauerspiel im 18. Jahrhundert. Versuch einer Typologie. Tübingen 1993. Albert Meier: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politischklassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1993 (Das Abendland, N. F., 23), S. 207. Ebd., S. 208f.
61 des Theaters im 18. Jahrhundert mitgearbeitet, ihn aber selbst nicht vollzogen. Nach seinem erweiterten Mimesisbegriff war es dem Dramatiker zwar erlaubt, die Charactere zu erfinden – was die Autoren des bürgerlichen Trauerspiels auch gerne taten –, sie aber ethisch den Zuschauern anzugleichen, dagegen wehrte er sich. In moraldidaktischer Absicht nutzte Bodmer die weite Bestimmung der ›Nachahmung‹, um das alte Bewunderungsmodell, von dem sich Conti und viele andere allmählich entfernten, beizubehalten. Der Wechsel von der Bewunderungsdramaturgie hin zu einem emotionalistischen Theater wurde im 18. Jahrhundert vielfach mit zwei Dramentheoretikern verbunden, die als Stellvertreter dieser konkurrenzierenden Modelle fungierten. Corneille galt als Repräsentant des alten Modells, für das neue Trauerspiel mit seiner Ästhetik der Rührung wurde Aristoteles als Ahnherr veranschlagt. Während sich die Frühaufklärer noch gleichzeitig auf beide Theoretiker beriefen, hielt man das ab Mitte des 18. Jahrhunderts für nicht mehr möglich. Bodmers 1743 erschienene Rezension von Gottscheds Trauerspiel Sterbender Cato führt dieses neue Verständnis paradigmatisch vor und gibt damit zu erkennen, dass er die Diskussionen seiner Zeitgenossen sehr aufmerksam verfolgte. Die Handlung des Dramas erscheint Bodmer »romantisch und abentheurlich«,216 da zu viele Handlungsstränge ohne logischen Zusammenhang blieben, was den Zuschauer nur verwirre. Auch sei die Darstellung der Charactere Gottsched gründlich misslungen. Man könne Gottscheds Tragödie weder dem Modell von Aristoteles, noch demjenigen von Corneille zuordnen. Wenn Gottsched, seinem Lehrsatz-Theorem folgend, beabsichtigt habe, »irgend eine schädliche Leidenschaft zu dämpfen«, so habe »er am Cato nicht die rechte Person erwehlet«.217 Denn »Catons Standhaftigkeit, sein gesetzter Muth, der über alles Unglück triumphirt«, zeige einen Helden, der kein »Mitleiden[ ]« und »Schrecken[ ]« beim Zuschauer wecken könne.218 Für die Erregung von Mitleid hadere Cato zu wenig mit sich und seinem Schicksal und sei zu tugend- und heldenhaft. Folglich eigne sich die »Hoheit von Catons Tugenden« vielmehr dafür, »Verwunderung und Erstaunen zu erregen«.219 Allerdings passt Cato auch nicht in das Dramenmodell von Corneille, denn Catos Handeln – und hierbei ist dessen Selbstmord gemeint – erscheint nicht als ein heroischer Akt der Auflehnung gegen äußere Zwänge, sondern als ein 216
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Bodmer: Von der innerlichen Beschaffenheit des mechanischen Original-Stücks von dem deutschen Cato. In: Critische Betrachtungen und freye Untersuchungen zum Aufnehmen und zur Verbesserung der Deutschen Schau-Bühne. Mit einer Zuschrift an die Frau Neuberin. Bern 1743. S. 59–92, hier S. 65. Ebd., S. 87. Ebd. Ebd.
62 sinnloser Akt, als ein Akt, »von dem wir hier keine Ursache sehen«.220 Dieser unmotivierte und unzureichend legitimierte Selbstmord passe mit der heroischen Gemütsverfassung Catos nicht zusammen. So könne Cato nicht als »Muster eines Mannes« gelten, der »die Liebe zum Vaterland, zur Freyheit, und die Pflichten, die er denselben schuldig ist, aller Vorstellung von Gefahr, Noth und Elend vorziehet, der ihr die Würde, die Ehre, die Ruhe, willig aufopfert«.221 Cato ist also in Bodmers Lesart weder ein leidendes Opfer, das Mitleid hervorruft, noch ein Held, der Bewunderung weckt. Damit läuft Gottscheds Wirkungskonzeption der Tragödie ins Leere. Denn gerade das Mitleiden und die Bewunderung waren für Gottsched diejenigen Affekte, die eine Tragödie gleichzeitig hervorrufen sollte. Die Absicht des Trauerspiels sei es, so Gottsched in seiner Critischen Dichtkunst, »durch die Unglücksfälle der Grossen, Traurigkeit, Schrecken, Mitleiden und Bewunderung bey den Zuschauern zu wecken«.222 Entsprechend schreibt er in der Vorrede zum Cato, dass Cato zwar kein »vollkommenes Tugendmuster« sei, aber doch »sehr tugendhaft« erscheine, weshalb ihn die Zuschauer bewundern, lieben und ehren würden.223 Durch den Selbstmord zeige Cato seinen Fehler – Aristoteles’ hamartia –, der Tod wecke dann das Mitleiden der Zuschauer. Für Bodmer passte diese Doppelung der dramatischen Modelle aber überhaupt nicht (mehr) zusammen;224 er selbst vertrat jeweils nur ein Modell. Nachdem er sich in den 1730er Jahren noch deutlich für das Mitleid-Modell ausgesprochen hatte, bekannte er sich in den Critischen Betrachtungen zum Modell von Corneille. In den folgenden Kapiteln wird zu erläutern sein, welche Argumente Bodmer für seine Bewunderungsdramaturgie ins Feld führte. Dafür müssen zunächst die Aufgaben und Funktionen der Poesie nochmals genau betrachtet werden.
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Ebd., S. 91. Ebd., S. 90. Gottsched (CD, II), S. 312. Gottsched: Sterbender Cato. Ein Trauerspiel. Im Anhang: Auszüge aus der zeitgenössischen Diskussion über Gottscheds Drama. Hg. v. Horst Steinmetz. Stuttgart 2002 (RUB, 2097), S. 17. Damit hat Bodmer die Gedanken von Alt vorweggenommen, der ebenfalls auf die »innere Widersprüchlichkeit« von Gottscheds Tragödientheorie hingewiesen hat: »Nicht zu erkennen ist jedoch, auf welche Weise die Tragödie die Wirkungskonzeption der Bewunderung (durch die Darstellung der noch in höchster Not bewahrten vorbildlichen Standfestigkeit des Helden) mit dem Gedanken der Mitleidserregung (im Falle des Unglücks eines mittleren Charakters)und der ihr zugehörendenmoralischen Belehrung (vermöge der Abschreckungsfunktion prägnanter Fehlhandlungen) zu verknüpfen vermag.« (Alt (2001), S. 196).
63
1.5
Die Poesie als ars popularis: von der Sittenkritik zum moralischen Ergötzen
Zu Beginn der 1720er Jahre hatte Bodmer den Zweck der Geschichtsschreibung neben dem moralischen Unterricht auch darin gesehen, durch die Darstellung tugendhafter Handlungen die »Aemulation« beim Leser zu wecken. 1741 beschränkt er die Historiographie nur noch auf den »Endzweck, zu unterrichten«.225 Der Historiker solle sich wie ein »Zeuge[ ]« eines Ereignisses verhalten und die »Sachen so lebhaft und sinnlich vor Augen […] legen, daß man sie gleichsam vor sich siehet«.226 Die Historiographie solle darauf achten, dass sich »nicht die Erregung eines Affectes in ihre Absicht neben einschleiche«,227 die Rhetorik (»Wohlredenheit«) dürfe jedoch zum Zweck der Überredung den »Pinsel des poetischen Mahlers«, d.h. Affekte hervorrufende Techniken benutzen.228 Während Bodmer die Historiographie als »aufmerksam und aufrichtig« charakterisiert, beschreibt er die Wohlredenheit als »ungestüm und gewaltübend, wie ein Tyrann« – die Poesie hingegen wirke »entzückend und wunderthätig, wie eine Zauberinn«.229 Anders als die Geschichtsschreibung sollen Rhetorik und Poesie auf die Emotionen wirken, werden aber hinsichtlich ihrer Wirkungsart gegensätzlich qualifiziert: Während die Wohlredenheit unter dem Verdacht steht, manipulativ, d.h. gegen die Natur des Menschen verstoßend, diesen überreden zu wollen, erscheint die Poesie bei Bodmer als ›gute‹, d.h. nicht gegen die Natur oder den Willen des Menschen verstoßende Kunst. Mit dieser Ansicht reiht sich Bodmer in den Umwandlungsprozess ein, der anfangs des 18. Jahrhunderts die Rhetorik erfasste und die »persuasio« (Überredung) als Ziel der Redekunst negativ beurteilte: »Nicht mehr das Erlernen galanter Beredsamkeit ist das vordergründige Ziel der nun publizierten Rhetoriken, vielmehr die Vermittlung einer ›gründlichen‹ Redekunst, die auf den philosophischen, besonders von der Logik bereitgestellten Prinzipien aufbaut«.230 Als ›falsche‹ Beredsamkeit wird u.a. auch von Gottsched und Breitinger diejenige Redekunst abgelehnt, die nur mit Scheingründen – Gründen, die nicht auf der Wahrheit und der Vernunft beruhen – ihre
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Bodmer (PG), S. 126. Ebd. Ebd., S. 130. Ebd., S. 129. Ebd., S. 128. Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983 (Studien zur deutschen Literatur, 75), S. 587.
64 intendierte Wirkung beim Zuhörer zu erreichen sucht.231 Aufgabe der wahren Rhetorik müsse es sein, durch logische Beweisführung die Zuhörer rational zu überzeugen, die »convictio« herbeizuführen.232 Während Breitinger in seiner Dichtkunst die Poesie nicht von der (›falschen‹) Wohlredenheit unterscheidet und ihren Stellenwert innerhalb der verschiedenen Künste somit nicht besonders profiliert,233 bemüht sich Bodmer durch die Gegenüberstellung von Dichtkunst und Rhetorik die Poesie aufzuwerten.234 Beide sind sich aber über den Vorzug der Poesie, sinnlich zu wirken, einig und leiten hieraus die wesentliche Bestimmung der Literatur als »ars popularis« ab. Da der Großteil der Menschen »zu den abgezogenen Untersuchungen des reinen Verstandes nicht aufgeleget« sei und »alleine von den Sinnen geleitet« werde,235 könnten ihm die Wahrheiten, die zur »Beförderung der menschlichen Glückseligkeit« beitragen würden, nur sinnlich vermittelt werden.236 Für den Philosophen gelte somit dasselbe wie für den auf Heilung der Patienten bedachten Arzt, die »bittern Pillen« bzw. Wahrheiten sollen »vergüldet oder verzuckert« verabreicht werden: 237 Auf diesen Grund sah man sich einen neuen Eingang in das Hertz des Menschen geöffnet, und man lernete gleich aus der Erfahrung, daß die Vorstellung abgezogener Wahrheiten unter sinnlichen Bildern und Gleichnissen, durch ähnliche Bey231
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Vgl. Klaus Petrus: Convictio oder Persuasio? Etappen einer Debatte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Rüdiger – Fabricius – Gottsched). In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113, 4 (1994), S. 481–595, hier S. 487. Vgl. auch Joachim Knape: Persuasion. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 2003, S. 874–907, insbes. S. 895f. Auch Breitinger bezeichnet die Poesie als »[k]unst=volle Zauberin«, die auf eine »sinnliche […] und eine unschuldig-ergezende Weise zu täuschen« suche, und die Historie als eine »Zeugin«, die »von der Wahrheit« unterrichte (Breitinger (CD, I), S. 33). Poesie und Wohlredenheitseien »im Hinblickauf die persuasivenAbsichten« bei ihm analog, so schon Wolfgang Bender: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert: Baumgarten, Meier und Breitinger. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99, 4 (1980), S. 481–506, hier S. 484, so auch Till (2004), S. 396 (Anm. 86). Gleichzeitig grenzt sich Bodmer damit auch gegen die barocken Poetiken ab, die z.T. ihre Funktion ebenfalls in der Persuasion sahen; vgl. Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740. Bad Homburg v.d.H., Berlin, Zürich 1970 (Ars poetica. Texte und Beiträge zur Dichtungslehre und Dichtkunst. Studien, 8), S. 25f. Breitinger (CD, I), S. 5. Ebd., S. 6. – Vgl.: »Da die Wahrheit, die von den Weltweisenmittelst tiefen Nachsinnens erkannt worden, für die groben Sinnen der meisten Menschen ungeschmackt ist, und keinen Eindruck auf sie machet, müssen sie solche nach dem Geschmacke der mehrern zubereiten, auf daß sie allgemein werde; und da ihren Lehren der Eingang in das menschliche Hertz, der durch die mühsame Ueberzeugung des Verstandes erhalten wird, meistentheils verschlossen ist, müssen sie bedacht seyn, sich der Hertzen durch einen neuen Weg mittelst einer unschuldigen List zu bemächtigen.« (Ebd.). Ebd.
65 spiele, durch die Fabel und Dichtung, mit einem empfindlichen Ergetzen auf das menschliche Gemüthe eindringet, und dasselbe mit solcher Gewalt rühret, daß es ihr nicht leicht widerstehen mag; da die dogmatische und schliessende Lehrart hingegen viel zu mühsam, beschwerlich, und für den grösten [sic] Haufen der Menschen gantz dunckel und unvernehmlich gefunden ward […]. Daher ist es sich nicht zu verwundern, daß die Rede= und die Dicht=Kunst zu allen Zeiten vor allgemeine Dollmetscherinnen der Weißheit [sic] und vor Lehrerinnen der Tugend angesehen und geehrt worden, weil sie die klugen und heilsamen Lehren des Verstandes auf eine so angenehme und der menschlichen Natur so anständige Weise dem Gemüthe der Menschen einspielen, und sich desselben bemeistern können; und darum geschieht es, daß man sie unter die Artes populares, das ist diejenigen Künste zehlet, welche ihre Absichten auf den gemeinen Haufen gerichtet haben, weil durch ihren Dienst Tugend und Wahrheit allgemein gemachet werden.238
In seiner Bestimmung der Poesie greift Breitinger auf seine Ausführungen in den Discoursen der Mahlern zurück, in denen er die affektive Wirkungsstrategie der Sittenlehre propagiert hatte (vgl. Kap. 1.2). Die Herkunft des Konzeptes der ars popularis bei Bodmer und Breitinger ist bis heute nicht abschließend geklärt.239 Neben der Exempellehre in der his238
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Ebd., S. 8f. (Hervorhebung im Original). – Auch Bodmer hält den »grossen Haufen« für nicht fähig, rational Wahrheiten zu erkennen, und nimmt deshalb die Poesie als Lehrmedium für das Volk in Anspruch: »Leute, die mit abgezogenen Wahrheiten nicht umzugehen wissen, […] können davon auf keine Weise gerührt werden […]. Für sie dienet eben darum die Schilderey, dadurch die abgezogenen und, so zu sagen, geistlichen Wahrheiten ihnen auf eine sinnliche Weise zu begreifen gegeben werden. Mit aller unsrer Liebe zur Wahrheit lieben wir gemeiniglich die theoretischen Begriffe nicht sonderlich, weil diese sich öfters ohne grosse Mühe nicht begreiffen lassen, und für den grösten [sic] Haufen der Menschen voller Dunckelheit sind. Die Leute halten mehr von sinnlichen Bildern, sie arbeiten mehr mit der Phantasie, als mit dem Verstande. Eben darum kömmt es ihnen so sauer an, die allgemeinen, geistlichen, und theoretischen Dinge, und die abgezogenen vor den Sinnen verschlossenen Wahrheiten zu verstehen; und diese Arbeit muß ihnen von der vortrefflichen poetischen Schilderey ersparet werden, indem die schweren und metaphysicalischen Grundwahrheiten so geschickt in sinnliche Farben und cörperliche Ausdrücke eingekleidet werden, daß das rohe Volck selbst sie begreiffen kan, und wenn es sie auf diese Weise versteht, ein Ergetzen daran empfängt […].« (Bodmer (PG), S. 139f.). Vgl. für weitere Erwähnungen des Begriffs ›ars popularis‹ bei Bodmer und Breitinger Straub (1965), S. 252–258 und Herrmann (1970), S. 269 (Anm. 339). Friedrich Schlegel hat dieses Konzept (wenig überzeugend) als Adaptation eines römisch-republikanischen Politik-Stils auf die Poesie beschrieben; vgl. Friedrich Schlegel: Sich ›von dem Gemüthe des Lesers Meister‹ machen. Zur Wirkungsästhetik der Poetik Bodmers und Breitingers. Frankfurt a.M., Bern, New York 1986 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, 928), S. 226 (Anm. 9). Schlegel versteht die ars popularis demnach als Methode der ›popularis ratio‹, als populare Politik, die von Politikern in der Volksversammlungausgeübt wird, um das Volk für ihre Vorstellungen einzunehmen und diese mit Hilfe des Volkes gegenüber dem Senat durchzusetzen; vgl. hierzu Christian Meier: Populares. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Supplementband X, Accaus bis Uttiedius. Neue Bearbeitung begonnen von Georg Wissowa, fortgeführt von Wilhelm Kroll und Karl Mittelhaus. Hg. v. Konrat Ziegler. Stuttgart 1965, S. 550–615.
66 torischen Sittenlehre kann Pietro di Calepio (1693–1762) als Vermittler angesehen werden, da er im Brief=Wechsel Von Der Natur des Poetischen Geschmackes die Poesie als ars popularis bezeichnet hatte (vgl. unten). In seinen Ausführungen knüpft Breitinger auch an Überlegungen an, die Bernard Lamy (1640–1715) in seiner Rhétorique ou l’art de parler (erstmals 1675) zur Funktion der Rhetorik angestellt hatte. Lamy verstand – mit indirektem Bezug auf die Rede von der verzuckerten Pille – die Redekunst als ein Mittel, dem größtenteils unvernünftigen Volk philosophische Wahrheiten vermitteln zu können.240 Diesen Topos kannte Breitinger vielleicht auch aus Bullingers Studiorum ratio.241 Möglicherweise waren Breitinger zudem die wissenschaftstheoretischen Überlegungen von Gerhart Johannes Vossius (1577–1649) bekannt, der die vier Künste Grammatik, Gymnastik, Musik und Malerei im Rückgriff auf Aristoteles’ Politik unter den Begriff ›artes populares‹ subsumiert hatte. Damit bezeichnete er diejenigen Künste, die dem Bürger besonders nützlich sein sollten.242 Zu denen Breitinger schlägt nun auch die Poesie. 240
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»Man ist dahero genöthiget, mit den Menschen derer schlimmen Meynungen man angreiffen will, als mit den Wahnsinnigen umzugehen, denen man die Hülfsmittel verheelt, die man anwendet, sie gesund zu machen. Man muß die Wahrheiten, welche zur Uiberredung [sic] nöthig sind, mit solcher Geschicklichkeit vortragen, daß sie sich ihrer Hertzen bemeistern, ehe sie dieselben vernommen haben, und als ob sie annoch Kinder wären[,] […] daß sie die Arzeneyen gerne einnehmen wollen, welche ihnen zu ihrer Gesundheitnützlich sind.« (Bernard Lamy: De l’art de parler. Kunst zu reden. Mit einem einleitenden Essay ›Perspektiven für eine Lektüre des art de parler von Bernard Lamy‹ von Rudolf Behrens. Herausgegebenvon Ernstpeter Ruhe. [Reprographischer Nachdruck der Ausgaben Paris 1676 und Altenburg 1753] München 1980 (Reihe Rhetorik. Editionen und Untersuchungen, 1), S. 282, vgl. hierzu Till (2004), S. 321–340 und S. 402. »Nihil autem est, quod hominis mentem perinde delectat ac afficiat ac fabulae, e diverso nihil, qoud nuda veritate magis exasperet. Sapientissimi ergo poetae, medicos imitati, qui amaras potiones mellitis solent temperare succis, rem arduam et homini ingratam fabulis contexerunt, ut vel sic nondum intellecti irreperent in animos auditorum.« (Bullinger (1987, 1. Bd.), S. 38). [»Nichts aber gibt es, was das Gemüt des Menschen so sehr ergötzt und ergreift wie erdichtete Geschichten, umgekehrt nichts, was unwilliger macht als die nackte Wahrheit. Die weisesten Dichter haben daher, in Nachahmung der Ärzte, welche bittere Tränke mit Honigsäften zu versetzen pflegen, einen schwierigen und dem Menschen unwillkommenen Stoff mit Geschichten überdeckt, daß sie vielleicht so, noch unverstanden, sich in die Herzen der Hörer einschleichen könnten.«] Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983 (Paradeigmata, 1), S. 255–259, und Helmut Holzhey: Popularphilosophie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7. Hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer. Basel 1989, S. 1093–1100, hier S. 1095. – Die Begriffsgeschichte von ›populär‹ vermag hier bislang keine Hilfestellung zu geben, da sie sich vor allem auf die Zeit nach dem 18. Jahrhundert konzentriert und die Zeit davor ausblendet; vgl. etwa Hans-Otto Hügel: Nicht identifizieren – Spannungen aushalten! Zur Wort- und Begriffsgeschichte von ›populär‹. In: ders.: Lob des Mainstreams. zu Begriff und Geschichte von Unterhaltung und populärer Kultur. Köln 2007, S. 95–110, ders.: Populär.
67 Die Poesie vermittelt die Erkenntnisse der Weltweisheit metaphorisch oder allegorisch umgeformt, präsentiert also die theoretischen Einsichten nicht an sich, sondern in Form einer literarischen Erzählung. Um diese zu verstehen, braucht es nicht den logisch schließenden Verstand, sondern reichen die unteren Seelenvermögen aus.243 Um die Poesie als Medium der ›Volksaufklärung‹ empfehlen zu können, mussten Bodmer und Breitinger mehrere tradierte Prämissen überdenken: Zunächst lösten sie sich entschieden von der (barocken) Vorstellung, dass sich die Poesie nur an Gelehrte richten dürfe. Mit der Ausweitung der Leserschaft ging eine zweite entscheidende Neuerung einher: die Aufwertung der unteren Seelenvermögen. Dieser Schritt fiel den beiden Zürchern aber nicht leicht, wie sich in ihren Werken beobachten lässt. Erst in den anfangs der 1740er Jahre erschienenen Poetiken konnten sie sich dazu durchringen, in den Discoursen der Mahlern wurden die Sinne noch weitgehend negativ beurteilt. In Breitingers 21. Discours des ersten Teils der Discourse der Mahlern über die geeignete Methode der Sittenlehre wurde die Bedeutung und Macht der Sinne für den Menschen zwar konstatiert (vgl. Kap. 1.2), aber unter einer sehr negativen Perspektive. So wie auch schon Wolff davon gesprochen hatte, dass der Mensch in der »Sclaverey« lebe, wenn er sich nur von seinen Sinnen und Affekten leiten ließe,244 so bewertete auch Breitinger die Dominanz der Sinne negativ, musste aber gleichwohl deren großen Einfluss auf das menschliche Verhalten anerkennen. Er bemühte sich, diese Eigenart des Menschen zum Positiven zu nutzen, indem er die Passionen dazu instrumentalisierte, den Menschen zum Guten zu führen. Dabei griff er auf Wolffs Ausführungen zur Funktion der Exempel zurück, die Christian Wolff in seiner Deutschen Ethik als Mittel dargestellt hatte, wie der Mensch »anschauende Erkenntnis« gewinnen könne.245
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In: Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Hg. v. H.O. Hügel. Stuttgart, Weimar 2003, S. 343–348 oder Hermann Herlinghaus: Populär/volkstümlich/Popularkultur. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 4: Medien – Populär. Hg. v. KarlheinzBarck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt et al. Stuttgart, Weimar, 2002, S. 832–884. Der dritte Brief in den Neuen Critischen Briefen gibt eine Kurzfassung dieses Verständnisses wieder; vgl. Bodmer, Breitinger: Neue Critische Briefe über gantz verschiedene Sachen, von verschiedenen Verfassern. Zürich, bey Conrad Orell und Comp. 1749, S. 25–32. Christian Wolff: Gesammelte Werke. I. Abteilung, Deutsche Schriften, Bd. 4: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit. (Nachdruck) Mit einer Einleitung von Hans Werner Arndt. Hildesheim, New York 1976, § 182; im Folgenden zitiert als ›DE‹. Ebd., § 166f. – Vgl. zu Wolffs Einfluss auf die Poetiken von 1727 und der 1740er Jahre Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Phi-
68 Für Wolff bestand das Ziel der Erziehung und der Inbegriff des anzustrebenden vernünftigen Lebens darin, den Willen auf das Wahre und Gute zu lenken.246 Jede Handlung des Menschen sei letztlich danach ausgerichtet, das »Gesetz der Natur« entweder zu befolgen oder nicht zu befolgen.247 Die Voraussetzung, dass der Wille einen »Bewegungs= Grund« habe,248 gut zu handeln und den »innerlichen« und »äusserlichen Zustand« des Menschen zu vervollkommnen,249 bilde die »Erkänntniß des Guten«.250 Diese Erkenntnis müsse, um nicht nur eine kurzfristige Verhaltensänderung hervorzurufen, eine »deutliche Erkenntnis« sein, die man nur durch den Verstand erlangen könne.251 Anders als bei einer undeutlichen Erkenntnis, die nur das »Schein-Gute« zu erkennen gebe,252 gewähre eine deutliche Erkenntnis Einsicht in das »wahre[ ] Gute[ ]«,253 das man so mit einer »ungezweiffelte[n] Gewißheit« erkenne.254 Dadurch erlangt man eine Überzeugung, die »beständig lebendig« sei,255 indem sich eine dauernde Determination des Willens auf das wahre Gute einstelle. Exempel, die »bey vielen einen grösseren Eindruck […] als die Vernunfft« machen,256 würden zwar nur eine undeutliche oder anschauende Erkenntnis des Guten geben, könnten aber gleichwohl auch als Bewegungsgrund dienen. Allerdings schätzte Wolff die durch die Vernunft gewonnene Einsicht höher ein, da sie eine größere Gewissheit und Wahrheit hat als die Exempel.257 Auch Breitinger vertrat diese Auffassung, stellte sie in den Discoursen der Mahlern aber nicht wie Wolff als gegeben dar, sondern versuchte sie auch dem Leser zu vermitteln, indem er die Funktionsweise der undeutlichen Erkenntnis moralisch negativ beschreibt: Das in den Exempla präsentierte Verhalten kitzle lediglich die »Eigenliebe und […] Ehrbegierde«
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losophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur, 148), S. 77. Vgl. Wolff (DE), § 180, § 374, § 377. Das Gesetz der Natur lautet: »Thue, was dich und deinen Zustand vollkommener machet und unterlaß, was dich und deinen Zustand unvollkommener machet.« (Ebd., § 19). Ebd., § 6. Ebd., § 3. Ebd., § 6. Ebd., § 373. Ebd., § 180. Ebd. Ebd., § 166. Ebd., § 169. Ebd., § 167. Auch in seiner Deutschen Metaphysik verweist Wolff darauf, dass nur die wenigsten Menschen zu einer deutlichen, nur mittels der Vernunft zu erreichenden Erkenntnis ›aufgelegt‹ sind (vgl. ders. (DtM), § 415). Vgl. Wolff (DE), § 180f. und ders. (DtM), § 316.
69 der Leser,258 die sich ebenfalls »Credit und […] Estime« erwerben möchten. Der Drang zur Nacheiferung, d.h. die »Emulation« entspringe somit aus einer »Art des Neides«,259 nicht aber aus einer deutlichen Erkenntnis. Die Propagierung der Exempellehre liest sich somit in den Discoursen der Mahler eher als ernüchtertes Zugeständnis an die wenig rational handelnden Menschen, denn als begeisterte Darlegung einer besonders guten erzieherischen Methode, wie es Daniel Tröhler zuletzt dargestellt hat.260 Wie sehr in den Discoursen der Mahlern das Bild eines rational denkenden und vernünftig handelnden Menschen propagiert wird, lässt sich auch an weiteren Discoursen ablesen. Der Mensch sei, so Breitinger,
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Breitinger (DM, I [21. Discours]), unpag. – Der Ehrbegierde bzw. dem Ehrgeiz als handlungsanleitende Eigenschaft des Menschen erteilt Bodmer in den Critischen Betrachtungen in Abgrenzung zu Thomasius explizit eine Absage (vgl. oben). Der Begriff der ›Eigenliebe‹ wurde im Französischen seit Ende des 17. Jahrhunderts einheitlich verwendet (als ›amour propre‹), um die verdorbene und somit lasterhafte, aber ursprünglich gute Selbstliebe (amour de nous-même bzw. amour de soi) zu charakterisieren. Im deutschen Sprachraum war die Begriffsverwendung zwar nicht so einheitlich wie in Frankreich, aufgrund des Kontextes ist in Breitingers Discours mit Eigenliebe aber die amour propre gemeint; vgl. hierzu auch Vollhardt (2001), S. 137–158. Breitinger (DM, I [21. Discours]), unpag. – Im ersten Discours des dritten Teils der Discourse der Mahlern unterscheidet Bodmer zwischen wahrer und scheinbarer Tugend, die ein Mensch in seinen Handlungen an den Tag legen kann. Wer nur scheinbar tugendhaft handelt, richte seine Handlungen nur äußerlich als tugendhafte ein, zeige also nur die entsprechenden »Manieren«, ohne dass er die Tugend selbst zur Motivation seines Handelns nehme (Bodmer (DM, III), S. 2). Bodmer bezeichnet dieses Verhalten als »Wolstand« und kritisiert damit die höfischen Verhaltenslehren (ebd.), die sich lediglich auf das äußere Verhalten konzentrieren und dabei nicht nach der wahren Tugendhaftigkeit des Verhaltens fragen (vgl. zur generellen Kritik der moralischen Wochenschriften an den (höfisch-politischen) Verhaltenslehren Barbara Zaehle: Knigges Umgang mit Menschen und seine Vorläufer. Ein Beitrag zur Geschichte der Gesellschaftsethik. Heidelberg 1933 (Beiträge zur Neueren Literaturgeschichte, 22), insbes. S. 142–159). Die von Breitinger aufgezeichnete psychologische Begründung der Wirkungsweise von Exempeln entspricht also einem nur scheinbar tugendhaft Handelnden, der aber doch zumindest im sozialen Umgang als solcher erscheint und somit keine lasterhaften Taten begeht. Derjenige, der tatsächlich tugendhaft handelt, unterscheidet sich äußerlich nur insofern von dem vermeintlich Tugendhaften, als dass seine Handlungen beim Betrachter »angenehm« erscheinen, weil er mit größerer Freude als der nur scheinbar Tugendhafte handelt (Bodmer (DM, III), S. 5). Die Differenz gründet also in der Motivation des Handelnden und kann erkannt werden, wenn man das ›Hertz‹ der entsprechenden Person genau durchleuchtet, was Bodmer, wie schon mehrfach gesagt, zur Aufgabe seiner Character-Lehre erklärt hatte. Vgl. Tröhler (2006), S. 51–53. Entsprechend fasst Tröhler die scheinbar affirmative Bevorzugung der Exempellehre als Abweichung von Wolff auf (vgl. ebd., S. 51). Tröhler folgt in seiner ›positiven‹ Deutung Zurbuchen (vgl. Zurbuchen (2003), S. 80f.); beide halten irrtümlich Bodmer für den Verfasser des 21. Discourses des ersten Teils der Discourse der Mahlern.
70 von Gott mit einer »vernünfftigen Seele« begabt,261 dadurch unterscheide er sich vom Tier. Folglich könne der Mensch seine wahre Natur nur durch den Gebrauch der Vernunft erfüllen. Die Befriedigung der »Begierden […] [des] Herzens« würden somit nicht das Mittel darstellen, zur »Glückseligkeit« zu gelangen, wie es der »gröste Hauffen des Menschen« meine:262 Die Gemüths=Neigungen werden mit uns an diese Welt gebohren/ und die ersten Marquen unsers Leben verrathen dieselbe: Die Vernunfft läßt sich nach Verfliessung gewisser Jahren erst blicken/ wenn die Affecten allbereit in dem Willen die Oberhand genommen haben; Diese [sic] folget man hernach unter dem Schein des guten betrogen/ so lang/ bis endlich die Vernunfft mit der Zeit/ und durch die Erfahrung sich ihrer Kräfften erholet; das Recht zuherschen/ welches sie von der Natur empfangen hat/ erkennet/ und der Tyrannie der Begierden zuwiederstehen beginnet. Es ist in Wahrheit nichts/ welches den Menschen so stoltz/ verwegen und unruhig machet/ wie die ungestümen Triebe seines betrieglichen Hertzens/ von welchen der Mensch so lange getrieben und gestossen wird/ bis er durch die Erfahrung seiner selbsten die Gewalt und die Gänge derselben eigentlich kennen gelernt hat: Dannzumahlen […] stürtzet [er] die Passionen von dem Thron/ dessen sie sich bis dahin unrechtmässiger Weise meister [sic] gemachet haben/ und erhebet auf denselben die freye Vernunfft; seine Begierden werden eingeschrancket [sic]/ und ihnen das Recht/ nach Belieben zuschwermen/ benommen.263
Erst wenn der Mensch von der Vernunft angeleitet wird, hat er sein wahres Wesen erreicht: Breitinger beschreibt – in Anlehnung an John 261 262
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Breitinger (DM, I [13. Discours]), unpag. Breitinger(DM, I [17. Discours]),unpag. – Das rationalistischeMenschenbildBreitingers wird ergänzt durch eine theologische Anthropologie, worauf bereits Herrmann hingewiesen hatte (vgl. Herrmann (1970), S. 198ff.). Denn obwohl Breitinger die Vernunft als oberstes und wichtigstes Vermögen des Menschen auffasst, warnt er auch gleichzeitig vor den Gefahren der Vernunft und grenzt sie aus dem Bereich des Glaubens aus: »Die Religion ist es welche uns lehret/ wie verderbt unsere Vernunfft/ wie der Verstand so finster/ und der Wille so unheilig seye: Sie zeiget uns zugleich/ daß wir eben darum die Vernunfft der Gehorsame des Glaubens müssen unterwerffen; sie schliesset das Raisoniren und Vernünffteln aus/ und fordert an derselben statt den Glauben/ sie will nicht/ daß wir mit GOtt/ der mit uns in der heiligen Schrifft redet/ disputiren; und den HErren unsers Lebens meistern.« (Breitinger (DM, II), S. 62f.) Wer mit der Vernunft das Wort Gottes Wort anzweifelt, handelt also vermessen; Breitinger bleibt trotz seines Rationalismus innerhalb der Grenzen der herrschenden Orthodoxie. Diese Überzeugung vertritt auch Bodmer in seiner Abhandlung über das Wunderbare: »Wir müssen deßwegen die göttlichen Werckeder Gerichtbarkeitdes menschlichenUrtheils entziehen,doch nicht so weit, daß wir sie von der ehrerbiethigen Betrachtung der Menschen, welche in gewissem Sinne auch eine Beurtheilung ist, ausschliessen […]. Die Wercke des Höchsten sind alleine unsrer Betrachtung und Bewunderung, aber nicht unsrem richterlichen Ausspruch unterworffen.« (Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen. Zürich, verlegts Conrad Orell und Comp. 1740 (Faksimiledruck) Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1966 (Deutsche Neudrucke. Texte des 18. Jahrhunderts), S. 6; im Folgenden mit der Sigle ›CA‹ zitiert). Breitinger (DM, I [17. Discours]), unpag.
71 Locke –264 hiermit die ideale Entwicklung des Menschen, die jedoch nur selten in dieser Weise abläuft. Meist – und das ist Gegenstand der Kritik in den Discoursen der Mahlern – herrschen die Leidenschaften vor. Entsprechend werden in den Discoursen die galanten Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Lebens kritisiert, wie etwa die Kleiderpracht, das Trinken oder das Rauchen, die als Manifestationen des moralisch schlechten, auf sinnliche Genüsse ausgerichteten Lebens verstanden werden.265 Korrigierend eingreifen – und damit die Wirklichkeit ihrem Ideal näher bringen – kann, wie bereits gesehen, die Erziehung. Die beiden Zürcher stützen sich hierbei vor allem auf Ansichten Lockes (vgl. Kap. 1.3). Breitinger gibt nicht nur Auszüge von Lockes Überlegungen zum richtigen Gebrauch des Verstandes in Of the Conduct of the Understanding wortwörtlich in den Discoursen wieder und warnt vor unreflektierten Sinneseindrücken und der Übernahme von Vorurteilen,266 sondern greift auch auf Lockes Tabula rasa-Theorem zurück, nutzt jedoch dieses Konzept in den Discoursen der Mahlern in erster Linie dafür, Kritik an den von seinen Zeitgenossen praktizierten Erziehungsmethoden zu äußern und ihnen fehlende Einübung in das vernünftige Denken vorzuwerfen. Während in den Discoursen mit kritischem Blick auf die durch Passionen angeleitete Gesellschaft herausgestellt wird, dass Gott dem Menschen die Vernunft gab, wird in den Poetiken betont, dass die Sinne als die »ersten Lehr=Meister« der Menschen anzusehen seien.267 Indirekt Breitingers Discours aufgreifend, spricht Bodmer 1741 davon, dass der Mensch die Sinne und die Einbildungskraft von Gott erhalten habe.268 Diese ›argumentative Verschiebung‹ von der Vernunft auf die Sinne markiert eine Aufwertung der unteren Seelenvermögen, sollte aber nicht dazu verleiten, die rationalistischen Elemente in Bodmers und Breitingers Vorstellung vom Menschen zu negieren. Locke hat durch seine »psychologische Analyse des empirischen Bewußtseins« die Einsicht der Zürcher in die grundlegende Bedeutung der »Sinne[ ]« und »Gefühle[ ]« geprägt,269 worauf Brandes und Gerhard Schäfer ohne Kenntnis von F. Andrew Browns Studien hingewiesen haben. Schäfer geht in der Betonung von Lockes Empirismus dann allerdings zu weit, wenn er das Verhältnis der
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Vgl. etwa Locke (1968), § 38f. Vgl. Brandes (1974), S. 101–111. Vgl. F. Andrew Brown: Locke’s ›Essay‹ and Bodmer and Breitinger. In: Modern Language Quarterly 10 (1949), S. 16–32, insbes. S. 18–24. Bodmer, Breitinger (EK), S. 2. In den Critischen Betrachtungen nennt Bodmer die Sinne die »ersten Lehrer der Menschen«, von denen »[a]lle Erkenntniß« komme (Bodmer (PG), S. 4). Vgl. ebd., S. 4 und S. 10. Brandes (1974), S. 95.
72 Schweizer zu Wolff mit dem Begriff der »Inkompatibilität« beschreibt.270 Die Sinne werden von Bodmer und Breitinger in den Poetiken der 1740er Jahre lediglich aufgewertet, sie ersetzen aber nicht die Vernunft und werden auch weiterhin als untere Erkenntnisvermögen, die hierarchisch unter – und nicht neben oder gar über – der Vernunft stehen, aufgefasst. Auch in produktionsästhetischer Hinsicht wird nicht der ›Befreiung‹ der dichterischen Phantasie oder Einbildungskraft das Wort geredet, wie es vielfach in literarhistorischen Arbeiten dargestellt wird (vgl. unten), vielmehr wird der furor poeticus unter die Kontrolle der ratio gestellt: Alleine, die erhitzte Phantasie, wenn sie in der Arbeit ihrer Schöpfung nicht durch die Weißheit des Verstandes geleitet wird, welcher alleine lehret, in was vor Maß, Zahl und Gewichte, die ergetzende Harmonie der Dinge bestehe, ist allzu geneigt über die Gräntzen des Glaubwürdigen und Wahrscheinlichen auszuschweifen, und sich in dem ungeheurenAbgrunde des Abentheurlichenzu verlieren,welches an das öde Reich des Unmöglichen gränzet, wo immerwährender Krieg und Widerspruch herrschet.[…] Was denn der Leitstern und der Compaß dem Steuermannist, das ist der Verstand und ein gesundes Urtheil der erhitzten Phantasie; ohne diese Leitung irren beyde auf ungewissen Wegen […].271
In den Discoursen der Mahlern verstehen Bodmer und Breitinger die Einbildungskraft vorwiegend nur als reproduktives Vermögen und folgen hierbei nicht dem ›moderneren‹ Imaginationsbegriff von Addison, auf dessen Aufsatz The Pleasures of the Imagination sie sich dann in der Schrift über die Einbildungs=Krafft berufen, sondern dem rationalistischeren Verständnis Lockes,272 das mit den Vorstellungen der Wolffschen Vermögenspsychologie übereinstimmt.273 Auch wenn die beiden Zürcher Theoretiker die ›Erhitzung‹ der Phantasie, d.h. die affektive Ergriffenheit des Autors als wesentliche Voraussetzung des (guten) Schreibens begreifen und sich damit in der Tradition des poeta vates stellen,274 darf die Phantasie beim Dichten nur rational gemäßigt und gebändigt eingesetzt werden. So wird sicher gestellt, dass keine unwahrscheinlichen Begebenheiten geschildert werden, wie es etwa im Traum geschieht.275 In Bodmers und Breitingers Poesiekonzeption verkörpert der Typus des affektiv 270
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Gerhard Schäfer: ›Wohlklingende Schrift‹ und ›rührende Bilder‹. Soziologische Studien zur Ästhetik Gottscheds und der Schweizer. Frankfurt a.M., Bern, New York 1987 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, 967), S. 99. Bodmer (PG), S. 14f. Vgl. F. Andrew Brown: Addison’s ›Imagination‹ and the ›Gesellschaft der Mahlern‹. In: Modern Language Quarterly 25 (1954), S. 56–66: Beide Zürcher würden eine »more rationalistic theory« vertreten (ebd., 66). – Vgl. hierzu auch Herrmann (1970), S. 175ff. Vgl. Dürbeck (1998), S. 77ff. Vgl. zu diesem Topos Till (2004), S. 405ff., und Carsten Zelle: ›Angenehmes Grauen‹. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 10), S. 283. Vgl. Bodmer (PG), S. 15f.
73 moderat begeisterten und dabei gleichzeitig vernünftig denkenden Poeten den idealen Dichter. Nach dem Gesagten ist es offensichtlich, dass auch auf der Rezipientenseite nicht von einer bloß sinnlichen, auf das reine Vergnügen ausgerichteten Lesehaltung ausgegangen werden darf. Wenn es für Bodmer und Breitinger darum geht, durch die Poesie eine emotionale Wirkung beim Leser auszulösen, so wird das intendierte Ergötzen stets moralisch verstanden: […] [D]aß nichts in seinem rechten und vernünftigen Gebrauche könne ergetzlich seyn, was nicht zugleichnützlichist. Demnach öffnen diejenigen,welche das Nützliche von dem Ergetzlichen sondern, zu dem schändlichsten Mißbrauche der Künste Thür und Thor, und machen solche zu Werckzeugen der garstigsten Lüste. Wenn ich dann sage, daß das Ergetzen der Hauptzweck der Poesie sey, so verstehet sich da nicht ein schädliches Ergetzen, welches seinen Ursprung von dem Laster nimmt, und den schlimmen Lüsten schmeichelt, sondern das ist ein Ergetzen, welches der Vernunft und der Würdigkeit der menschlichen Natur gemäß, und auf das Wahre und Gute gegründetist, oder wenigst ein unschuldigesErgetzen, das der Ehrbarkeit und Tugend nicht nachtheilig ist.276
Das »Ergetzen« besitzt stets eine moralische Qualität: Nur ein so verstandenes Ergötzen kann zur Besserung der Menschen und zur Beförderung der Glückseligkeit einen Teil beitragen.277 Dass dieser Aspekt in vielen Studien zur Poetik der Zürcher vielfach zu sehr in den Hintergrund gerät, zeigt sich exemplarisch in der ansonsten sehr verdienstvollen Studie von Angelika Wetterer. Sie charakterisiert die Poetik des Ergötzens als »Integration der Moralität ins Vergnügen« und kehrt damit das Verhältnis von Moral und literarischem Vergnügen um.278 Dem Argumentationsgang ihrer Studie entsprechend, erklärt sie das Vergnügen zum Ausgangspunkt von Bodmers und Breitingers Reflexion, obwohl, wie gezeigt, bei den Zürchern (und bei den meisten Aufklärern) die Moral und die Vermittlung von moralischen Normen die Hauptsache ist, in die sie die Sinnlichkeit integrieren. Zu Recht hat Wetterer betont, dass Bodmer und Breitin276 277
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Breitinger (CD, I), S. 101. Auch Bodmer vertritt diese moralistische Konzeption des Ergötzens explizit: sowohl die »Schönheiten der Natur« als auch deren poetische Nachahmungen seien »zugleich nützlich und schön« (Bodmer (PG), S. 144f.). Das Ergötzen an den Schönheiten der Natur bestehe darin, dass sie durch ihre »Anmuth dem Menschen seine sauren und Kummervollen [sic] Tage versüssen« und des Menschen »Betrachtung auf denjenigen lencken, der alle Dinge so schön gemachet hat«; literarische Landschaftsschilderungen wecken also nicht ein bloß sinnliches Vergnügen, sondern ein tugendhaftes, das den Funktionen der Erbauungsliteratur entspricht: dem Leser Trost zu spenden und bei ihm das Lob Gottes zu wecken. Nur in diesem Sinne werden die Menschen durch das Ergötzen stets »auf das Gute gelencket« (ebd., S. 145). Angelika Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern. Tübingen 1981 (Studien zur deutschen Literatur, 68), S. 170.
74 ger die »Frage nach dem Wirkungsziel der Poesie nie als ›nur‹ ästhetisches Problem« behandelt hätten.279 Trotz dieses Hinweises gerät die grundlegende inhaltliche Zwecksetzung der Literatur auch bei Wetterer aus dem Blickfeld, wenn sie vor allem bei Breitinger das »Konzept der vergnügenden Poesie« herausarbeitet,280 dem die nützliche, moralische Funktion der Literatur nur noch als »von außen herangetragene[ ] Zusatzbestimmungen« zukomme.281 Diese Auffassung steht paradigmatisch für eine Reihe von Studien, die die Zürcher Poetiken vor allem als Vorläufer der Genie-Ästhetik dargestellt haben.282 Diese Deutungen haben den heuristischen Vorteil, dass sie die poetologischen Differenzen zwischen den Zürchern und Leipzigern deutlich(er) herausarbeiten können, vielfach überzeichnen sie dabei aber die jeweiligen Positionen und entwerfen ein einseitiges oder verzerrtes Bild.283 Grundsätzlich unterscheidet sich die von Breitinger und Bodmer in den Poetiken der 1740er Jahre vorgestellte Wirkungskonzeption nur wenig von derjenigen, die Breitinger im 21. Discours der Discourse der Mahlern entworfen hatte. In der Critischen Dichtkunst und auch in den Critischen Betrachtungen findet man die explizit vorgetragene Sitten- und Sinnlichkeitskritik der Discourse der Mahlern kaum oder gar nicht. Dies ist Ausdruck einer ›neuen‹ Poetik, welche die beiden Zürcher in den 1740er Jahren auf der Basis einer etwas veränderten Anthropologie vorlegen. Die Sinne werden nun nicht mehr wie früher nur als »Widersacher der Vernunft« angesehen,284 sondern als natürliche Eigenschaften des Menschen verstanden, die nicht grundsätzlich zu beklagen sind. Dies zeigt sich auch an der Übernahme von dem von Calepio im Brief=Wechsel vorgestellten Konzept der Poesie als »ars popularis«. Das Ziel der ars popularis als »Lehr-Art für das Volck« sei es, so Calepio, das Volk »auf eine angenehme Weise zu bessern«:285 279 280 281
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Ebd., S. 3. Ebd., S. 172. Ebd., S. 168. – Es wäre zu überlegen, ob diese Forschungssituation nicht auch die zeitgenössische Rezeption der Zürcher Poetiken widerspiegelt, indem die Poetiken bereits damals vor allem als ›Befreierinnen‹ von der Gottschedschen Regelpoetik und als deren ›Überwinderinnen‹ verstanden und somit die ›neuen‹ Ansätze übermäßig stark betont wurden. Dazu bräuchte es aber eine umfassende Aufarbeitung der Rezeptionszeugnisse der Poetiken, die bis heute nicht geleistet wurde. Hierzu lassen sich die Studien von Herrmann, Alt, Hentschel und Charbon (vgl. Einleitung) zählen; vgl. hierzu auch die Zusammenstellung bei Dürbeck (1998), S. 266 (Anm. 62). So auch schon Dürbeck (ebd.). Brandes (1974), S. 91. Bodmer: Brief=Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes. Zürich, Bey Conrad Orell, und Comp. 1736. (Faksimiledruck) Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1966 (Deutsche Neudrucke. Texte des 18. Jahrhunderts), S. 97; im Folgenden als ›BW‹ zitiert.
75 Das Amt, das der Vernunft obliget [sic], nemlich stets das beste zu wehlen, bestehet hier [in der ars popularis; J. R.] in dem, daß sie nach der Natur, die dem Menschen eigen ist, sich derjenigen sinnlichen Bilder bediene, welche bequem sind, den Willen auf das wahre zu determiniren, und ihn zu dem guten zu lencken; deßwegen könnte das Vermögen, dieses zuwege zu bringen, eine Kunst genennt werden,die sinnlichen Bilder geschickt anzubringen.286
Obwohl Calepio eine eher sensualistische Literaturauffassung vertritt,287 lässt sich sein knapp umrissenes Konzept der ars popularis auch mit der Wolffschen Philosophie verbinden. Wenn Calepio davon spricht, dass es das Ziel der Poesie sei, den Willen des Menschen auf das Wahre und das Gute zu lenken, so bringt er eine Überzeugung zum Ausdruck, die Wolff in seiner Deutschen Ethik als einen grundlegenden Wesensaspekt des Menschen verstanden hatte. Anders als Wolff schreibt Calepio in seiner Bestimmung aber den Bewegungsgrund des Willens nicht dem Verstand, sondern den sinnlichen Bildern und der Einbildungskraft zu und wertet diese damit im Vergleich zu Wolffs Lehre auf. Nach Wolff kann die Einbildungskraft, wie die Sinne, nur undeutliche Vorstellungen produzieren, die zwar bereits handlungsanleitend sein können, aber keine Einsicht in das ›wahre Gute‹ erlauben; das kann erst durch die Arbeit des Verstandes erreicht werden. Diese Überzeugung vertreten eigentlich auch Bodmer und Breitinger, wie sich aus ihren Begründungen für die Ursachen des Ergötzens erschließt,288 gleichwohl tendieren auch sie zur Auffassung Calepios. Und so definieren sie die Einbildungskraft sowohl 286 287
288
Ebd., S. 35f. Vgl. hierzu neben der grundlegenden Studie von Straub (1965) auch Carsten Zelle (1987), S. 261–272. Die Ursachen des Ergötzens liegen für Bodmer und Breitinger nicht primär in der Empfindung an sich, sondern in der rationalen Reflexion über die Empfindung. In den Critischen Betrachtungenerläutert Bodmer im Rückgriff auf das vierte Kapitel von Aristoteles’ Poetik, dass das Ergötzen dem reflektierten Vergleich des Lesers zwischen dem nachahmenden literarischen Abbild und dem nachgeahmten Urbild entspringt und die durch die realen Gegenstände ausgelösten Empfindungen mit denjenigen in Relation gesetzt werden, welche die literarische Schilderung auslösen. Je mehr dabei die Abbildungen und die durch sie ausgelösten Empfindungen mit den Urbildern übereinstimmen, desto grösser ist das Ergötzen. Darüber hinaus erfreut auch diejenige Darstellung besonders, die »mehr Umstände […] in einer Sache zu sehen giebt« und eine »Erweiterung in unsre[] Erkänntniß« bringt (Bodmer (PG), S. 133). Durch das Ergötzen wächst im Leser zudem eine weitere Freude, weil er dadurch die Fähigkeiten des Menschen, »vortreffliche[] Wercke[]« hervorzubringen, erkennt und sich darüber ›erstaunt und entzückt‹ (ebd., S. 135). Auch in der Abhandlung Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs=Krafft werden all diese Gründe als Quelle des Ergötzens von Bodmer und Breitinger angeführt (vgl. Bodmer, Breitinger (EK), S. 30ff.), ebenso im Brief=Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmacks (vgl. Bodmer (BW), S. 51ff.) und auch in Breitingers Critischer Dichtkunst (vgl. Breitinger (CD, I), S. 67ff. (ebenfalls mit Berufung auf Aristoteles); zudem wird der Vergleich zwischen Ur- und Abbild auch in den moralischen Wochenschriften angeführt (vgl. Bodmer (DM, I [20. Discours]), unpag., Bodmer (MS, I), S. 249ff.).
76 in der Schrift Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs=Krafft als auch in Bodmers Critischen Betrachtungen zunächst noch im Rahmen von Wolffs Bestimmungen, wenn es heißt, die Einbildungskraft stelle ihre »Begrieffe« in »Klarheit« dar.289 In beiden Schriften finden sich jedoch Formulierungen, die diese Definition aufbrechen. So steht in der Schrift über die Einbildungs=Krafft, dass die »Affecte[ ]« eine undeutliche Vorstellung des Guten und Bösen vermitteln, die »wolgeübte und lebhaffte Einbildungs=Krafft« jedoch »deutliche Vorstellungen« hervorbringe,290 die nach Wolff allerdings nur die Vernunft erlangen kann.291 Ähnlich lautet es bei Bodmer, dass man aus der »Empfindung« eine »vollkommene Ueberzeugung« erhalten kann,292 was Wolff nur als Resultat der Verstandesarbeit angesehen hatte. Auf der Basis von Wolffs Philosophie manifestiert sich so die Intention der Zürcher Poetiken: durch die Einbildungskraft auf den Willen der Menschen so einzuwirken, dass sich deren Handlungen längerfristig und aus moralisch guten und eingesehenen Gründen bessern und somit zur Vollkommenheit des menschlichen Zustandes beitragen. Die Aufwertung der Einbildungskraft als unteres Seelenvermögen gründet in dieser Absicht. Das – verhaltene – Überschreiten der Wolffschen Ansichten zeigt, dass die Poetik von Bodmer und Breitinger noch »rationalistischen Grundpositionen verpflichtet« ist, die »starre Vernunftreglementierung« aber bereits »gelockert« wurde.293 Nicht nur die Anschlussfähigkeit von Calepios Poetik an die Wolffsche rationalistische Psychologie, sondern auch das Fehlen der Überlegungen zum Wunderbaren dürften Bodmer 1732, also vier Jahre vor der Publikation des Brief=Wechsels, zum »Proselyten« von Calepios Lehre gemacht haben.294 Begeistert berichtete Bodmer an Gottsched, dass Calepio die Tragödie als »poema populare« verstehe, die »vor die Burgerschaft gewiedmet sey; zumahlen die Zuhörer aus allerley Leuten bestehen«.295 Gleichzeitig schloss sich Bodmer damit auch der sensualistischen Tragödien-Auffassung von Calepio an, die dessen ars popularis-Lehre begleitete, und bekannte, »von dem Exempel des Corneille und anderer ver289 290 291 292 293
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Bodmer, Breitinger (EK), S. 6, Bodmer (PG), S. 12; vgl. Wolff (DtM), § 277. Bodmer, Breitinger (EK), S. 119. Vgl. Wolff (DtM), § 277. Bodmer (PG), S. 131. Christoph Siegrist: Poetik und Ästhetik von Gottsched bis Baumgarten. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 3. Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution, 1680–1789. Hg. v. Rolf Grimminger.München 1984, 2. durchgeseheneAuflage, S. 280–304, hier S. 300. Bodmer an Gottsched, sub finem 1732, zit. nach Eugen Wolff: Gottscheds Stellung im deutschen Bildungsleben. Bd. II. Kiel, Leipzig 1897, S. 214f. Ebd.
77 führt« worden zu sein.296 Der Bewunderungsdramaturgie Corneilles kehrte er vorübergehend (bis zur Poetik von 1741) den Rücken zu und folgte stattdessen dem von Calepio im Anschluss an Aristoteles vertretenen Mitleidskonzept: Jedermannaus dem vornehmen und schlechtenPöbel ist fähig durch den Schrecken und das Mitleiden in heftige Bewegungen gesetzet zu werden; hingegen braucht es schon hohen Verstandund Großmuth dazu die erhabenenund oft mehr als menschlich scheinenden Entschlüsse und Gedanken von Sertorius, Nicomedes, Antiochus u.a. nur zu begreiffen.297
Die vorübergehende Begeisterung für ein eher emotionalistisches Drama gründet hauptsächlich in der gegenüber den Discoursen der Mahlern veränderten Anthropologie, die die Affekte deutlich positiver bewertete. Bei Bodmer lässt sich somit eine Haltung beobachten, die Meier vor allem für die Zeit nach 1750 konstatiert. Die Ablösung der Dramenmodelle sei vor allem als »Konsequenz eines anthropologischen Paradigmenwechsels« zu verstehen: »Die menschliche Triebhaftigkeit wird nicht länger als Gefahr für die Sittlichkeit gefürchtet, sondern zunehmend als deren Grundlage bzw. Quell begriffen, was den Weg freigibt zur dramaturgischen Gestaltung ›vermischter‹ Charaktere.«298 Bodmer vollzog diesen Wandel seiner poetologischen Ansichten schon früh in den 1730er Jahren, machte ihn aber unmittelbar darauf wieder rückgängig. Die 1746 publizierten Critischen Briefe geben eine Erklärung für diesen Gesinnungswandel. Im ersten Beitrag stellt Bodmer dort Calepios Dramentheorie vor, die er im zweiten Aufsatz kritisiert und dafür das Bewunderungsmodell preist. Das Mitleidsmodell versteht er dabei im Sinne Gottscheds als Dramaturgie, die einen einzelnen Lehrsatz im dramatischen Gewande vorführt. Es könne – und hiermit dürfte Bodmer denjenigen Aspekt benennen, warum er sich vorübergehend als »Proselyten« dieses Modells bezeichnet 296
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Ebd., S. 213. – Vgl. zum Einfluss von Calepio auf Bodmers Poetik neben Straub (1965) auch Laura Benzi: Ästhetische Paradigmen und Rhetorik der Einbildungskraft beim frühen Bodmer. Der Briefwechsel mit dem Grafen Pietro di Calepio. In: Aufklärung 17 (2005), S. 141–154. Bodmer an Gottsched, sub finem 1732, zit. nach Wolff (1897), S. 216f. – In der Forschung wurde bislang stets davon ausgegangen, dass sich Bodmer hiermit auch an das Katharsiskonzept von Calepio anschließe, von dem sich Bodmer dann erst in den Critischen Betrachtungen wieder distanziert habe, vgl. etwa Georg-Michael Schulz: Tugend, Gewalt und Tod: das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und des Erhabenen. Tübingen 1988 (Theatron, 1), S. 116f. – Allerdings hat bereits Straub in seiner Studie darauf aufmerksam gemacht, dass Bodmer den »Kern von Calepios Katharsisinterpretation« nicht verstanden hat; von einer Übernahme der Position Calepios durch Bodmer kann man deshalb auch nicht sprechen (vgl. Straub (1965), S. 237ff.). – Calepio verstand die beiden Affekte, Mitleiden und Schrecken, als genitivus subjectivus, während Bodmer sie als genitivus objectivus auffasste; vgl. hierzu Kim (2002), S. 55. Meier (1992), S. 207.
78 hatte – eine »nachdrückliche und in das Gemüthe tief eindringende Warnung« vor Lastern vermitteln, da es ein »besonders Versehen der Leidenschaften« vorführe, von dem die Zuschauer gereinigt werden sollten.299 Das »Versehen« werde »deutlich vorgestellt, und die bösen Folgen desselben ohne Zweydeutigkeit und genau damit verknüpft«. Dieser Vorzug der Mitleidsdramaturgie wird jedoch durch eine größere Anzahl an Mängeln zunichte gemacht. Die Lehrsatz-Dramaturgie könne nur vor einem Laster warnen, dieses Laster betreffe zudem nur einen »engen Bezirke von etlichen Privatpersonen« und durch die »Länge des Exempels«, d.h. durch die Dauer der Aufführung, werde der »gemeine Zuseher« so sehr verwirrt, dass er die intendierte Warnung nur noch mit Mühe erkennen könne.300 Ein »dauerhafteres Ergetzen« ergebe sich hingegen für die Zuschauer, wenn die Poeten die »Gesinnungen, die Sitten und Charakter der Menschen geschickt« vorführen würden; dann könne man »immer etwas frisches, das uns zu denken giebt, vor uns finden, und unsre Gemüther werden mitten im Ergetzen belehret werden«.301 Wie oben gezeigt, folgt Bodmer mit dieser Bevorzugung des Characters gegenüber der Handlung den Observations Pembertons (vgl. Kap. 1.4). Während sich dieser in seiner Schrift gegen Aristoteles und gegen dessen Anhänger René Le Bossu (Traité du po¨eme epique, EA 1675) gewehrt hatte,302 so wendet Bodmer nun Pemberton gegen Calepios Auslegung von Aristoteles. Wie Pemberton favorisiert auch Bodmer ein Bewunderungsmodell, das außerordentliche Helden präsentiert, weil durch die poetischen Charactere die Zuschauer einen »Begriff von dem[,] was tugendhaft, und heldenmüthig ist«, erhalten würden: es liefere »zu diesem Ende die Idee des vollkommensten« und tue somit »nicht anders, als was alle Moralisten, und aus genugsamen Ursachen zu thun pflegen«.303 Zudem sei auch gewiss, je höher die Charakter ohne Nachtheil der Glaubwürdigkeit getrieben werden, daß sie sich unserer Hochachtung und Verwunderung desto besser bemächtigen, und desto tiefere Empfindungen in das Gemüthe eindrücken. So daß der Samen von tugendhaften Neigungen der in dem Menschen liegt, mittelst ihres Druckes desto glücklicher und schneller aufgehet, und zu seiner Zeitigung gelangt.304
Hier zeigt sich, dass die ›Rückkehr‹ zum Bewunderungsmodell vor allem durch die Lehre vom Wunderbaren, bzw. von der Lehre vom Erhabenen ausgelöst wurde. Marylin Torbruegge hat in ihren Studien heraus-
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Bodmer, Breitinger (CB), S. 67f. Ebd., S. 68. Ebd., S. 74. Vgl. Pemberton (1738), S. 14. Bodmer, Breitinger (CB), S. 84f. Ebd., S. 85.
79 gearbeitet,305 dass Bodmer in den Critischen Betrachtungen – durch die Vermittlung von Joseph Addison – wichtige Impulse aus Pseudo-Longins Abhandlung Vom Erhabenen empfangen hat. Während ›Longin‹ in seiner Schrift das Erhabene als die wirkungsmächtigste Kategorie innerhalb der Rhetorik, als die »Vollendung und [den] Gipfel sprachlicher Gestaltung«, zu bestimmen suchte,306 wurde diese Kategorie im Verlaufe des 18. Jahrhunderts auf Naturphänomene und schließlich auch auf den Menschen übertragen.307 Erhabene Menschen sind für Bodmer Personen, die eine »göttliche Hoheit« haben und weit über dem Durchschnittsmenschen stehen.308 Im Epos und Trauerspiel als poetische Charactere bezeichnet, verfügen sie über einen »ausserordentlichen Grad der heroischen Tugend […], der uns schier fanatisch, und über die menschliche Natur hinweg zu steigen, düncket«.309 Gerade dadurch würden sie umso mehr Wirkungen bei den Zuschauern oder Lesern hervorrufen. Im Briefwechsel über das Trauerspiel vertrat Moses Mendelssohn eine ähnliche Auffassung wie Bodmer und geriet deswegen in Konflikt mit Lessing. Die Bewunderung setze ein, so Mendelssohn, wenn »wir an einem Menschen gute Eigenschaften gewahr werden, die unsre Meinung, die wir von ihm oder von der ganzen menschlichen Natur gehabt haben, übertreffen«.310 Mit der Folgerung, dass diese »anschauende[ ] Erkenntnis einer guten Eigenschaft« die »Begierde zur Nacheiferung« wecke, gibt Mendelssohn zu verstehen, dass auch er, wie Bodmer und Breitinger, der Exempel-Lehre von Wolff verpflichtet ist. Während Mendelssohn die Wirkungsweise der Exempel jedoch vom »deutlichen Vernunftschluß« unterscheidet und das Theater nur dazu fähig hält, den Zuschau305
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Marylin K. Torbruegge:Bodmer and Longinus. In: Monatshefte für den deutschen Unterricht 63, 4 (1971), S. 341–357, und dies.: Johann Heinrich Füßli und ›BodmerLonginus‹.Das Wunderbareund das Erhabene.In: Deutsche Vierteljahrsschriftfür Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 46 (1972), S. 161–185. Longin: Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Stuttgart 2002 (RUB, 8469), S. 5. Pseudo-Longin fragte nicht nur danach, wie etwas als Erhabenes und Großes dargestellt werden könne, sondern fragte auch grundsätzlich nach dem Wesen des Erhabenen. Das Erhabene zeige sich, so Pseudo-Longin, vor allem darin, dass es starke affektive Wirkungen hervorruft und die Zuhörer in Ekstase zu versetzen vermag, sie erschüttert oder erstaunen lässt. Vgl. hierzu Christian Begemann: Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts.In: DeutscheVierteljahrsschriftfür Literaturwissenschaft und Geisteswissenschaften 58 (1984), S. 74–110, Schulz (1988), S. 113–137 und Dietmar Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006 (Studien zur deutschen Literatur, 175), S. 263–290. Bodmer (PG), S. 62. Ebd., S. 434; ganz ähnlich lauten die Formulierungen in Bodmer, Breitinger (CB), S. 83. Mendelssohn an Lessing, 23. November 1756, zit. nach Lessing (2003), S. 675.
80 ern eine »intuitive Erkenntnis« zu vermitteln, es also lediglich auf die »untern Seelenkräfte« wirken könne,311 meint Bodmer, dass im Theater eine rationale (bei Mendelssohn: »symbolische«) Erkenntnis gewonnen werden könne: »da solche erdichtete Exempel von tugendhafter und schlimmer Aufführung uns zur Betrachtung vorgelegt werden, so werden wir unvermerkt von den menschlichen Handlungen und Leidenschaften recht urtheilen lernen.«312 Wenn sich auch beide darin einig sind, dass nur eine Dramaturgie der Bewunderung die adäquate Wirkungsstrategie aufweist, so unterscheiden sie sich doch in ihrem Kunstverständnis. Mendelssohn versteht die Ästhetik als von der Vernunft ›befreit‹ und attestiert ihr nur sinnliche Qualitäten – hierin stimmt er mit Nicolai überein. Wenn er damit die spezifische Leistung der Poesie definiert, wertet er sie gleichzeitig ab.313 Bodmer vertritt eine rationalistischere Auffassung, wenn er es für möglich hält, dass die Zuschauer durch die Kunst neben dem Vergnügen auch zu vernünftigen Erkenntnissen gelangen können. Damit schätzt er die Bedeutung der Poesie für die Bildung des ganzen Menschen im Vergleich zu Mendelssohn höher ein (vgl. hierzu auch Kap. 2.4).
1.6
Der natürliche Mensch als idealer Dichter und idealer Leser
Die Aufwertung der Sinnlichkeit in den Poetiken der 1740er Jahre geht mit zwei Annahmen einher, die eng zusammengehören und die für die Wirkungspoetik von grundlegender Bedeutung sind. Sie lassen sich unter den Begriff ›Natürlichkeitsideal‹ subsumieren, dessen Bedeutung für die Zürcher Peotik kaum zu überschätzen ist. Zum einen verfolgen Bodmer und Breitinger das Ideal einer möglichst natürlichen Sprache, welche als Voraussetzung für das Gelingen der literarischen Kommunikation anzusehen ist, zum anderen kann diese Sprache nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn Sprecher (Dichter) und Hörer (Leser) ihre ›Natürlichkeit‹ erhalten haben, d.h. ihre von ihrer Natur her gegebenen Dispositionen und Fähigkeiten nicht verloren haben (vgl. weiter unten). Diese Annahme unterscheidet die Zürcher Poetik deutlich von der Regelpoetik Gottscheds und ist auch als Grund für den berühmten Literaturstreit zwischen Zürich und Leipzig anzusehen. In vielen Studien wurden bis anhin unterschiedliche Motive und Ursachen des Streites dargestellt, ohne dass man sich jedoch darauf hätte einigen können, was genau die Zürcher und Leipziger, die sich zunächst 311 312 313
Mendelssohn an Lessing, erste Hälfte Dezember 1756, zit. nach ebd.: S. 688f. Bodmer, Breitinger (CB), S. 76 (Hervorhebung J. R.). Vgl. hierzu auch Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2004, 2., durchges. u. erg. Aufl., S. 135–146.
81 noch freundschaftlich zugetan waren, entzweite. Während einige Arbeiten die philosophisch-ästhetischen Positionen der beiden Lager als diametral entgegengesetzt begreifen, schreiben andere den Parteien durchaus miteinander vereinbare poetologische Ansichten zu.314 Detlef Döring hat sich zuletzt um eine »strikte Historisierung« des Streites bemüht und nicht die poetischen Schriften analysiert,315 sondern »andere, auf den ersten Blick nicht unbedingt erkennbare Differenzen« gesucht,316 die er vor allem im spezifischen regionalen Milieu und in einer unterschiedlichen Glaubensauffassung ausmacht. Damit arbeitete er einen Aspekt heraus, auf dessen Bedeutung in jüngster Zeit vermehrt hingewiesen wurde. Herbert Schöffler hatte 1925 stark pauschalisierend behauptet, dass Bodmer und Breitinger die »bisher von der Kanzel aus verkündeten Worte christlich-sittlicher Lebenshaltung […] durch moralische Wochenschrift, Patriarchade, vaterländisch-historisches Schauspiel, durch Vereinstätigkeit und auf jede ordentliche literarische und halbliterarische Weise« zu verbreiten gesucht hätten.317 Herrmann ging dieser Beobachtung differenzierter in den Poetiken der beiden Zürcher nach und arbeitete Bodmers und Breitingers christlich geprägte Ablehnung der überbordenden Phantasie heraus, die er als Ausdruck einer antipietistischen Haltung deutete.318 Neben Döring haben auch Hans-Georg Kemper und Ernst Müller übereinstimmend, aber ohne aufeinander Bezug nehmend, in der Frage nach dem Religiösen in der Dichtung einen wesentlichen Grund für den Literaturstreit zwischen Zürich und Leipzig erkannt: Es war »wesentlich ein Streit zwischen rationalistischer Aufklärungsphilosophie und den Anfängen einer religiösen Gefühlstheologie, also von Beginn an vorrangig ein Streit um das Verhältnis von Kunst und Religion.«319 Insbesondere die Frage nach den Grenzen der Vernunft habe die beiden Parteien unüberbrückbar auseinandergetrieben. Während Gottsched die Vernunft 314
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Vgl. Detlef Döring: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (2009), S. 60–104, hier S. 61. – Gisi hat zuletzt herausgearbeitet, dass man den deutschen Literaturstreit nicht als Nachhall der Querelle entre les Anciens et les Modernes verstehen könne, dafür aber die Rezeption italienischer Schriften in Zürich und Leipzig Differenzen aufweise; vgl. Gisi (2007) und ders.: ›Ein geraubtes Siegel‹? Die Bedeutung von Bodmers und Breitingers Rezeption italienischer Poetiken und Poesie für den Literaturstreit mit den ›Gottschedianern‹. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (2009), S. 105–126. Ebd. Ebd., S. 62. Herbert Schöffler: Das literarische Zürich. 1700–1750. Frauenfeld, Leipzig 1925 (Die Schweiz im deutschen Geistesleben, 40), S. 133. Herrmann (1970), S. 191ff. und S. 204ff. Ernst Müller: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus. Berlin 2004 (Literaturforschung), S. 34, ähnlich Döring (2009), S. 89ff. und Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 6/I. Empfindsamkeit. Tübingen 1997, S. 243.
82 auch in Glaubensfragen als höchste Instanz ansah, hätten Breitinger und Bodmer ihr in Bezug auf die Offenbarung klare Grenzen gesetzt. Folglich wende sich Gottsched gegen die literarische Darstellung aller »Phänomene der Religion, die den Charakter des Wunderbaren« – und damit aus Gottscheds deistischer Perspektive – des »Widervernünftigen« besitzen würden.320 Bodmer hingegen verteidigte die epische Darstellung von Engeln als Ausdruck der kreatürlichen Frömmigkeit des Menschen. Der Literaturstreit erweist sich hiermit letztlich als Kulturkritik: In den Augen der Leipziger erschienen die Schweizer als rückwärts gerichtete Traditionalisten, die sich einem aufgeklärten Welt- und Menschenbild verweigerten. Für die Zürcher hingegen beförderten Gottsched und sein Lager einerseits Entwicklungen, die nicht natürlich seien – und damit ›künstliche‹, erdachte Irrwege darstellten –, oder verhinderten andererseits die naturgemäße Entwicklung der deutschen Literatur. Warum der Streit mit einer solchen Intensität ausgefochten wurde, lässt sich mit dem Hinweis auf die verschiedenen, zugrundeliegenden anthropologischen Ideale erklären: es war im Prinzip ein Streit über Weltanschauungen, die aber selbst nicht explizit erörtert wurden, sondern lediglich künstlerisch, in der Literatur dargestellt zur Sprache kamen und als poetische Kategorien verhandelt und propagiert wurden. So verteidigen etwa die Zürcher die Verwendung der Mundart in literarischen Werken gegen den sächsischen Sprachimperialismus mit dem Argument, damit die eigene Natur besser artikulieren zu können.321 Inwiefern Bodmer und Breitinger ihre Poetik auf einem idealisierten Menschenbild gründeten, soll nun gezeigt werden. Wie bereits angesprochen, sehen beide in der rational kontrollierten, affektiven Ergriffenheit des Poeten die Voraussetzung des Schreibens. Durch die emotionale Aktivierung steigere sich die Wahrnehmungsfähigkeit des Poeten, wodurch er in die Lage versetzt werde, neue Aspekte an einem Gegenstand zu entdecken und dem Leser ›Neues‹ und ›Wunderbares‹ zu zeigen.322 Zudem sei diese ›Erhitzung‹ auch Garant dafür, dass der Dichter die Sachen so schildere, wie sie auf ihn gewirkt hätten. Er artikuliere somit seine wahren Gefühle: Wer nun auf diese Weise sich niemahls vorsetzet, mit frostigem Sinn andere zu bewegen, sondern durch eine lebhafte und entzückende Vorstellung der Sachen zuerst seine eigene Einbildung, und durch dieselbe das Gemüthe in die erfoderliche Hitze treibet, eh er andere entzünden will, der wird auch den natürlichen Ausdruck der Leidenschaftenallemahl glücklichtreffen;er wirdweder das rechteMaaß verfehlen, noch zur Unzeit in eine Raserey gerathen, wenn er das Hertz reden läßt, und es wird 320 321 322
Döring (2009), S. 90, vgl. auch Müller (2004), S. 43, Kemper (1997), S. 239f. Vgl. Döring (2009), S. 64–81. Vgl. hierzu Wetterer (1981), S. 184ff. und S. 202ff.
83 nicht der wenigste Verdacht einer künstlichen Verstellung, der des Redners Ansehen und Glaubwürdigkeit so nachtheilig ist, auf ihn fallen, weil seine Rede nicht aus dem blossen Gehirne künstlich herausgesponnen wird, sondern aus dem tiefen Grund seines Hertzens selbst hervorquillt. Hergegen da eine Würckung sich allemahl nach dem Vermögen der Sache verhält, von welcher sie hervorgebracht wird, so wird sich eine gezwungene Verstellung, die der Natur Gewalt thun will, bald verrathen, und ohne Würckung auf anderer Leute Gemüther seyn; die gefirnießte Kaltsinnigkeit eines Redners wird so wenig entzünden als ein gemahltes Feuer.323
Diese natürliche Affektsprache stellten Bodmer und Breitinger der herkömmlichen Rhetorik gegenüber, die ihren Ursprung gerade nicht in der emotionalen Ergriffenheit des Poeten hatte, sondern bloß in der imaginierten Vorstellung eines Affektes. Für beide Zürcher konnte so nur eine gekünstelte oder künstliche Darstellung der Affekte erreicht werden; auch hiermit folgten sie Überzeugungen, die die frühaufklärerischen Vertreter der ›philosophischen Oratorie‹ vertraten. Der wahre Affektausdruck wurde der tradierten Figurenlehre vorgezogen und somit ein Natürlichkeitsideal in der Beredsamkeit postuliert,324 wonach der Redner oder Poet keine dissimulatio annehmen sollte, sondern den wahrhaftig gefühlten Affekt in der Sprache des Herzens auszudrücken habe. »Die Affektrhetorik wird […] gegen die regelhafte Schul-Rhetorik ausgespielt, die Rhetorik als Kunstlehre wertlos gemacht«,325 weil der Einsatz rhetorischer Stilfiguren nicht in der Natur des auszudrückenden Sachverhaltes oder des zu beschreibenden Gegenstandes gründet und somit hinsichtlich der Affekterregung beim Leser oder Hörer wirkungslos bleibt. Die Wirkung stellt sich nur ein, wenn die zu beschreibende Welt in der ihr entsprechenden Sprache dargestellt wird. Diese Auffassung vertreten Bodmer und Breitinger bereits seit den Discoursen der Mahlern; bei Bodmer formt sie sich 1741 in die Vorstellung einer natürlichen, psychologischanthropologischen Rhetorik oder »Affekt-Grammatik« aus.326 Durch 323
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Breitinger: Fortsetzungder Critische Dichtkunst Worinnen die Poetische Mahlerey In Absicht auf den Ausdruck und die Farben abgehandelt wird, mit einer Vorrede von Johann Jacob Bodemer [sic]. Zürich, bey Conrad Orell und Comp. 1740 (Faksimiledruck der Ausgabe von 1740) Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Zweiter Band. Stuttgart 1966 (Deutsche Neudrucke. Texte des 18. Jahrhunderts), S. 364f.; im Folgenden als ›CD, II‹ zitiert. Vgl. etwa: »Man […] zwinge die Materie nicht nach Worten und Redens=Arten, die man hier und da zusammen gelesen, oder die man sonst gerne anbringen möchte: man nehme solche Worte, welche von den Sachen selbst angegebenwerden, oder die man vor geschickt befindet, diese auf eine natürliche Art auszudrucken: man affektire nicht, künstle nicht […].« (Friedrich Andreas Hallbauer: Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie Nebst einer Vorrede von Den Mängeln Der Schul=Oratorie. Jena 1725. (Faksimiledruck der Ausgabe Jena 1725) Kronberg, Ts. 1974 (Scriptor Reprints), S. 499). – Vgl. hierzu Till (2004), S. 340–360. Ebd., S. 396. Till (2004), S. 410, vgl. hierzu auch ebd., S. 396–432, und ders.: Affekt contra ars. Wege der Rhetorikgeschichte um 1700. In: Rhetorica 24, 4 (2006), S. 337–368, insbes. S. 361–363.
84 empirische Beobachtungen der Menschen sowie durch das Studium literarischer Beispiele könne man, so Bodmer, eine Sammlung anlegen, wie und was Menschen im Affekt reden. So ließe sich ein Katalog erstellen, »wo die Affecte ihrem Range nach in Classen und Capitel eingetheilet« wären und sich mit den ihnen entsprechenden Ausdrücken kombinieren ließen.327 Damit könnte man eine in den Affekten gründende »Sprache der Gemüths=Bewegungen« aufzeichnen:328 Die Wissenschaft dieser Sprache ist mit der Wissenschaft desjenigen, was man mit derselben auszudrücken hat, so genau verbunden, daß sie sich allemal beysammen befinden. Wer die Natur, den Lauf, die Zusammenstimmung und Vermischung der Affecte, die er vorstellen soll, kennet, und weiß, was vor Symptomata sie nach dem Grad ihrer Häftigkeit, und ihrem eigenen Schwung, mit sich führen, dem wird sein menschliches Hertz an Worten, Arten und Formen dieses auszudrücken keinen Abgang leiden lassen; massen in eben diesen Dingen der Grund enthalten ist, was vor Formen sich vor den Affectmässigen [sic] Ausdruck am bequemsten schicken, und in was vor einem Maasse sie gebraucht werden müssen. Auf diese Erkenntniß kömmt es hauptsächlich an […].329
Durch die Korrelation von Affekt und dem ihm adäquaten Ausdruck macht dieser psychologisch-rhetorische Katalog die herkömmliche Figurenlehre der Rhetorik überflüssig, die als »gekünstelte[ ] Zierrathen [sic]« die Poesie »häßlich verderbt« habe, da sie lediglich Ausdruck der »schülerischen Gelahrtheit« statt der »natürlichen Empfindungen« sei.330 Für die Wirkungskonzeption der Poetik von Bodmer und Breitinger ist der wahre Affektausdruck eine wichtige Voraussetzung: Der eine Leidenschafft selbst in der Brust fühlt/ der darff sich nicht lange besinnen/ was für einen Schwung er dem Ausdruck geben wolle: Die Regung wird ihm die Worte und Figuren auf die Zunge legen/ welche ihr angemessen/ und so wie eigen sind. […] Solche Redner/ die von einer Leidenschafft entzündet werden/ lassen das Hertze reden/ und man hat recht zu sagen/ daß Amor ihnen ihre Verse in die Feder geflösset/ wenn sie von der Liebe/ und Mars/ wenn sie von dem Krieg singen: Sie zwingen uns alsdann eben dieselben Affecten anzunehmen/ von denen sie gerührt werden.331
Dieser Affektevozierung ist der Leser hilflos ausgeliefert, er kann sie willentlich nicht unterdrücken oder verhindern. Nur wenn der Leser durch Erziehung oder andersgeartete Gewohnheiten die natürlichen Affekte nicht mehr besitzt, wird er von ihnen nicht affiziert, was Bodmer in der Vorrede zu seiner Critischen Abhandlung vom dem Wunderbaren in der 327 328 329 330
331
Bodmer (PG), S. 338. Ebd., S. 313. Ebd. Bodmer (PG), S. 345. Entsprechendübt Bodmer (wie andere) auch ausführlichKritik am barocken ›Schwulststil‹; vgl. hierzu Alberto Martino: Daniel Caspar von Lohenstein. Geschichte seiner Rezeption. Band 1: 1661–1800. Aus dem Italienischen von Heribert Streicher. Tübingen 1978, S. 299–338. Bodmer, Breitinger (EK), S. 117f.
85 Poesie mit Nachdruck vorträgt: Dass John Miltons (1608–1674) Paradise Lost bei den Deutschen keinen Anklang finde, gründet für Bodmer nicht in der Beschaffenheit des Epos, sondern in dem »Zustande der deutschen Leser«, die durch ihre »gemeinen Poeten« nur an ein »ungereimte[s] und wunderliche[s]« Ergötzen gewöhnt seien.332 Damit befänden sich die deutschen Leser in demjenigen Zustand, in dem vor Jahren auch die Engländer waren, ehe ihnen durch »Kunstrichter« die »Schönheiten in Miltons Gedichte« gezeigt worden seien.333 Der deutsche Geschmack sei »übel befestigt[ ]«, so dass Miltons Epos in Deutschland keine »Würckung« zeigen könne.334 Die Deutschen haben den natürlichen Geschmack verloren: Also ist auch der Metaphorische Geschmack, oder die Fertigkeit das gute und schöne, das in den Gedancken lieget, zu erkennen, jedermann gleich von der Natur mitgetheilet worden, wird aber durch ungeschickte Lehrer, welche mehr Sorge für das Gedächtniß, als den Verstand haben, verderbet. Wenig Leute haben die Gliedmassen des sinnlichen Geschmacks unverletzet, und in ihrem natürlichen Zustand behalten, wenig haben ihn auf einem hohen Grade rein und scharf; nicht weniger ist der Metaphorische Geschmack, oder das natürliche Urtheil von dem vollkommenen [sic] in den Schrifften, bey den meisten schändlich verdorben.335
Wie sich schon in der Diskussion über den Character gezeigt hat, kommt der Erziehung auch bezüglich des Geschmacks als poetologischer Wertungsinstanz eine besondere Funktion zu. Sie ist einerseits dafür verantwortlich, dass der Geschmack seine Natürlichkeit verloren hat und deshalb verdorben ist, andererseits kann dieser auch nur durch sie wieder hergestellt werden.336 Auch im poetologischen Diskurs manifestiert sich also die Auffassung, dass die Menschen von Natur aus gleich seien: »denn alles was natürlich ist, das ist auch allgemein«.337 Und entsprechend hofft Bodmer mit seiner Abhandlung über das Wunderbare die deutschen Leser für Miltons Epos begeistern zu können, wie es in England der Fall ist, denn das »Hertz […] [ist] ohne Zweifel bey den Deutschen von einer Art, 332 333 334 335 336
337
Bodmer (CA), unpag. Ebd. Ebd. Bodmer (BW), S. 3. Vgl. zum Geschmacksbegriff im 18. Jahrhundert, zu Bodmers Verständnis und zur poetologischen Diskussion zwischen Bodmer und Calepio Wilhelm Amann: ›Die stille Arbeit des Geschmacks‹. Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung. Würzburg 1999 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft, 268), insbes. S. 265–282. Ihm folgt Dominik Brückner in seinen Ausführungen zum Geschmack im 18. Jahrhundert Dominik Brückner: Geschmack. Untersuchungen zu Wortsemantik und Begriff im 18. und 19. Jahrhundert. Gleichzeitig ein Beitrag zur Lexikographie von Begriffswörtern. Berlin, New York 2003 (Studia Linguistica Germanica, 72), insbes. S. 13–57. Bodmer (BW), S. 2; vgl. für Bodmers Überzeugung einer allen Menschen gemeinsamen Natur ebd. S. 2f., S. 10f., S. 13, S. 15, S. 19, S. 43.
86 wie bey den Engelländern«.338 Die Erziehung zum guten Geschmack ist somit eine Erziehung zur Natürlichkeit. Hier offenbart sich die anthropologische Fundierung der Poetik: Bodmers und Breitingers poetologische Forderungen korrespondieren mit ihren anthropologischen Ansichten.339 Wenn Bodmer im Brief=Wechsel konstatiert, dass »die meisten Menschen mehr aus den Empfindungen« heraus handeln und ihr Willen folglich »öffters« durch den »Wahn und die falschen Einbildungen« als durch die Vernunft determiniert sei,340 so bildet dies den Ausgangspunkt für die Poetiken der 1740er Jahre. Allerdings wird diese Beobachtung in den Poetiken nicht in ihrer negativen Bewertung zur Basis der poetologischen Reflexion genommen, sondern in einer ›normativen Korrektur‹: Hatten Bodmer und Breitinger in den Discoursen der Mahlern mit Blick auf die zeitgenössische Gesellschaft die Empfindungen im Sinne von Leidenschaften, welche die menschlichen Handlungen zwanghaft determinieren, bekämpft und als Laster verurteilt, so begründen sie ihre Poetiken in den natürlichen Empfindungen, die sie als rational gemäßigte Affekte verstehen. Die Sinnlichkeit als Leidenschaft lehnen Bodmer und Breitinger nach wie vor ab, ›attackieren‹ sie aber nun nicht mehr wie in der moralischen Wochenschrift, sondern bestimmen stattdessen die Poesie so, dass sie als Medium der Propagierung ihres Affekt-Ideals bzw. ihrer moralischen wie anthropologischen Überzeugungen dienen kann.341 Statt Kritik an dem bestehenden, durch Leidenschaften geprägten Verhalten der Menschen zu üben, wollen Bod338 339
340 341
Bodmer (CA), unpag. Ähnlich auch schon Schlegel (1986), S. 63–65. Auch Wetterer verweist auf die sich in den Poetiken manifestierende Anthropologie: Die Poetiken würden auf der Überzeugung einer »abstrakten Gleichheit aller Menschen« gründen (Wetterer (1981), S. 205). Gleichzeitig konstatiert sie aber auch, dass Breitinger in seiner CritischenDichtkunst die »publikumsbezogene Relativität poetologischer Kategorien« (des Neuen, des Schönen und des Wunderbaren) betone und damit der Auffassung einer Poetik, die auf der allgemeinen Menschennatur aufbaut, eigentlich widerspreche (ebd., S. 202). Durch ihre einseitige Betrachtungsweise der Relativität sieht Wetterer Breitinger als einen Vertreter der relativistischen Anthropologie und Bodmer wie Gottsched als Vertreter des universalistischen Menschenbildes an (ebd., S. 209) und verkennt damit Breitingers Anspruch, die Relativität ›universalistisch‹ zu begreifen und nach allgemeinen Aspekten zu suchen, welche die Poesie konstituieren. Schlegel betont dagegen, dass die Poetiken von Bodmer und Breitinger sowohl auf »authentische[n] Erfahrungsdaten« als auch auf »allgemeinsten Vorstellungen vom Menschen« beruhen würden (Schlegel (1986), S. 64), sich also Relativität und Universalität die Waage halten würden. Letztlich fusst der von Wetterer herausgearbeitete ›Widerspruch‹ in der Poetik der Schweizer in diesem ambivalenten anthropologischenVerständnis,das sie aber zu Unrecht auf Breitingerund Bodmer ›aufteilt‹. Bodmer (BW), S. 64f. Schlegel hat darauf hingewiesen, dass sich die beiden Zürcher den erwünschten Leser und Dichter auch erst durch ihre Poetiken zu konstituierensuchen;vgl. Schlegel (1986), S. 91ff.
87 mer und Breitinger den Menschen und seinen Zustand bessern,342 indem sie dem Menschen in der Literatur sein wahres natürliches Wesen vorstellen.
342
Vgl. Wolff (DE), § 19.
2.
Moralische Wochenschriften
2.1
Bodmers Ablehnung des »Theorisirens«
Die Analyse von Bodmers aus der historiographischen Methodik abgeleiteter Poetik hat gezeigt, dass für Bodmer der Nutzen der verschiedenen Künste und Wissenschaften stets von größter Bedeutung war, worauf auch die Nekrologe verwiesen hatten. Im Folgenden soll Bodmer als Herausgeber und Beiträger der Discourse der Mahlern im Zentrum stehen und seine publizistische ›Strategie‹ beleuchtet werden, um so das zuvor aus den theoretischen Schriften gewonnenen Verständnis mit seinen ersten literarischen Versuchen kontrastieren zu können. Hans Bodmer charakterisierte 1895 in seiner Dissertation über die Discourse der Mahlern Breitinger als den systematischeren und philosophischeren Kopf der beiden Zürcher: Während Breitinger in seinen Discoursen der jeweils verhandelten »Sache auf den Grund zu kommen« suche, schreibe Bodmer »neu« und »überraschend«, »geistreich und launig in […] [seinen] Einfällen«,1 was Hermann Bodmer zwei Jahre später zu dem Schluss kommen ließ, dass J. J. Bodmer »die Erfindung« liefere und »Breitingers solides Wissen […] ihr den Rückhalt« gebe,2 letzterer aber durch seine »pedantische Gelehrsamkeit« und seinen »abstrakten und weitschweifigen Stil« den Leser ermüde.3 Entsprechend seiner Beurteilung der beiden Zürcher hatte Hans Bodmer die Discourse thematisch in die 1
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3
Hans Bodmer: Die Gesellschaft der Maler in Zürich und ihre Diskurse (1721– 1723). Frauenfeld 1895 (Diss.), S. 84. Hermann Bodmer: Johann Jacob Breitinger, 1701–1776. Sein Leben und seine literarische Bedeutung. Erster Teil. Zürich 1897 (Diss.), S. 19. Ebd. – Die Einschätzungen, die Hans und Hermann Bodmer in Bezug auf die moralische Wochenschrift dezidiert wertend äußerten, wurden in der Folgezeit – allerdings ohne Bezugnahme auf diese beiden Arbeiten – auch in den Poetiken der beiden Zürcher aus den 1740er Jahre (wertneutral) festgestellt.So verweist etwa Alt auf die unterschiedlicheMethode in der BehandlungpoetologischerFragen: »Konzentriert sich Breitinger zumal auf die theoretische Deduktion übergreifender poetologischerPrinzipien, so entzündetsich Bodmers Gedanken bevorzugtan konkreten Gegenständen.« (Alt (2001), S. 83). Auch im Bereich der Poetik erscheint also Breitinger als derjenige, der eine allgemeinere, philosophisch exaktere Durchdringung eines Gegenstandsbereiches anstrebt, während sich Bodmer eher aufs ›Konkrete‹ richtet.
89 Kategorien ›Moral‹ und ›Ästhetik‹ eingeteilt. Breitinger sei hauptsächlich für die moralischen Discourse, Bodmer für die ästhetischen verantwortlich. Problematisch an diesem Ordnungsversuch ist neben dem zu groben Raster, der dem Inhalt der Wochenschrift nicht gerecht wird, das Fehlen einer inhaltlichen Definition der eingeführten Kategorien. Hans Bodmer versammelt lediglich exemplarisch einige Discourse unter dem entsprechenden Oberbegriff, ohne eine vollständige synoptische Übersicht zu geben; der heuristische Nutzen seiner Bemühungen ist somit äußerst gering. Brandes modifizierte 1974 die Einteilung von Hans Bodmer und führte insgesamt sieben Kategorien ein: ›Religion‹, ›Vernunft und Passionen‹, ›Erziehung‹, ›Gesellschaft‹, ›Literatur‹, ›Sprache‹ und ›Fragen der Darbietung‹.4 Gleichzeitig räumte Brandes ein, dass das »Gemeinsame aller Aussagen und Themenkreise« in der Intention liege, die »Tugend und Glückseligkeit des Menschen [zu] befördern und die Moral [zu] verbreiten zu helfen«; dementsprechend sei eine »strikte Trennung der einzelnen Themenkreise und eine eindeutige Zuordnung der Themen zu bestimmten Komplexen […] nicht immer einfach«.5 Trotz dieser Einschränkung subsumiert Brandes die verschiedenen Discourse unter die von ihr gewählten Kategorien, womit sie – anders als Hans Bodmer – immerhin eine vollständige und eine der Wochenschrift besser entsprechende Ordnung der Discourse erreicht und so eine heuristische Grundlage anbietet, die ersten literarischen Arbeiten von Bodmer und Breitinger zu analysieren. Brandes zeigt – ohne dass sie darauf besonders verweisen würde –, dass Hans Bodmers Bild von Bodmer und Breitinger nicht länger Gültigkeit haben kann: Von den insgesamt 94 Discoursen verfassten Bodmer und Breitinger nämlich quantitativ etwa gleich viele Discourse zum Thema ›Religion‹ (Bodmer drei und Breitinger vier), ebenso zum Bereich ›Vernunft und Passionen‹ (beide je 16)6 und zur ›Sprache‹ (beide je einen); Breitinger konzipierte jedoch drei der vier Discourse zur ›Erziehung‹ und Bodmer schrieb als Einziger etwas zu den ›Fragen der Darbietung‹ (sechs Discourse), was von seiner Rolle als Hauptherausgeber der Discourse zeugt. Von den 39 Discoursen zur ›Gesellschaft‹ verfasste Bodmer 20, Breitinger nur 13,7 zur ›Literatur‹ schrieb Bodmer 15, Breitinger vier.8 Bodmer erörtert zwar häufiger als Breitinger Fragen der Ästhetik, das bedeutet aber nicht, wie Hans Bodmer zu verstehen gibt, dass er sich 4
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Vgl. Brandes (1974), S. 77ff. Brandes geht allerdings nicht auf die Einteilung von Hans Bodmer ein. Ebd. Wobei hier Discourse, die Bodmer und Breitingerzusammen verfassthaben, jeweils beiden zugerechnet werden. Auch hier wurden die doppelte Autorschaft jeweils beiden zugeschrieben. Alle Angaben nach Brandes (1974), S. 167ff.
90 nicht um die ›Moral‹ gekümmert habe. Vielmehr zeigt sich, dass sich Bodmer in den Discoursen der Mahlern auch mit religiösen und gesellschaftlichen Fragen beschäftigt. In Abgrenzung zu Breitinger erweisen sich die Themen ›Literatur‹ und ›Gesellschaft‹ als Hauptthemen von Bodmer. Die synoptische Darstellung und die vergleichenden Ausführungen von Brandes zu den Discoursen der Mahlern und deren Neuauflage von 1746 als Mahler der Sitten zeigen, dass beide Wochenschriften bezüglich der ›Gesellschaft‹ keine tiefgreifenden Veränderungen erfahren.9 Beide Zeitschriften zielen auf eine »Kritik rein äußerlicher Erscheinungen aus dem Privatleben der Menschen«,10 die sich – in der Formulierung der Mahler – unter dem Begriff der »frantzösische[n] Höflichkeit« oder – in Brandes’ Formulierung – der »ausschweifende[n] galante[n] Lebensart« zusammenfassen lassen.11 Bodmer, der alleine die Neuauflage besorgte, bleibt seinem Interesse an gesellschaftlichen Fragen treu, denn die Kritik an lasterhaften Sitten und Moden in den Auflagen von 1721–23 und 1746 bleibt weitgehend identisch.12 Auch die Kategorie der ›Erziehung‹ verändert sich hinsichtlich Quantität und Qualität nicht. In den anderen Bereichen manifestieren sich Veränderungen, die Brandes allgemein als Tendenzen zur »Säkularisierung« und zur »Sensualisierung, Emotionalisierung« beschreibt und die sie auf zwei Ebenen beobachtet.13 Einerseits betrifft es die Art und Weise, wie etwas präsentiert wird, d.h. also die formale, strukturelle und stilistische Gestaltung und Konzeption der einzelnen Discourse, andererseits verändert sich auch der konkrete Inhalt. Der Mahler der Sitten bemüht sich, die im 21. Discours des ersten Teils der Discourse der Mahlern propagierte Methode des moralischen Exempel-Unterrichts zu verfolgen und verzichtet darauf, die räsonierenden, d.h. dogmatisch-erläuternden Discourse erneut aufzunehmen. Zudem wendet der Mahler der Sitten verstärkt die »Catechetische[ ] Methode« an,14 die moralphilosophische Themen nicht in 9 10 11
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Vgl. ebd., S. 101. Ebd. Ebd., S. 101f., vgl. hierzu auch Brandes: Frühe Diskurse der Aufklärung. Über Bodmer und Breitinger. In: Literarische Zusammenarbeit. Hg. v. Bodo Plachta. Tübingen 2001, S. 17–23. Volz-Tobler gibt eine Zusammenfassung der Ergebnisse von Brandes; vgl. Volz-Tobler (1997), S. 73–80. Dieser Befund steht nicht in Widerspruch zu Kap. 1.5, in dem behauptet wurde, die Sittenkritik verliere für Bodmer und Breitinger an Bedeutung. Eine moralische Wochenschrift soll Sittenkritik äußern, in anderen literarischen Gattungen sollen und können jedoch positive Vorbilder gezeigt werden. Brandes(1974), S. 138. – Damit folgt die Neuauflage von 1746 den Überzeugungen, die Bodmer und Breitinger in den einige Jahre zuvor erschienenen Poetiken dargelegt hatten. Breitinger (DM, II), S. 89. – Breitingersieht Sokratesals Begründer dieser Methode und verkennt damit die offene Dialektik in dessen Dialogen. Anders als der Kate-
91 Form einer philosophischen Abhandlung, sondern in Dialogform darbietet.15 Die Themen sollen anschaulicher und konkreter, d.h. mit »grössere[r] Realitätsbezogenheit« dargestellt werden.16 Dieses Bemühen zeigt sich auch auf der Inhaltsseite, indem die Emotionen im Sittenmahler aufgewertet werden und nicht mehr – wie es noch überwiegend in den Discoursen der Mahlern der Fall war – negativ konnotiert sind. Mit diesen »‹empfindsamen‹ Tendenzen« geht die Tendenz zur Säkularisierung einher,17 so dass die Moral im Sittenmahler nicht mehr »dogmatischreligiös«, sondern »weltlich-rational« begründet wird und sich die »eminente Bedeutung der christliche Lehre für die Förderung der Tugend« reduziert.18 Diese Veränderungen führt Brandes insbesondere auf die Tatsache zurück, dass Bodmer die Neuauflage alleine konzipiert hatte und Breitinger, der »die meisten religiösen Stücke der ›Discourse‹ verfasst« habe,19 als theologischer Dogmatiker bei der Umarbeitung fehle.20 Wenn auch die Beobachtung der Veränderungen zutreffend ist, so irrt sich Brandes doch in der Begründung dieses Wandels: Die Bemühungen, von einer abstrakten, allgemein gehaltenen theologisch-philosophischen Reflexion Abstand zu nehmen und die verschiedenen Discourse durch die Schilderung beispielhafter Situationen oder Personen anschaulicher zu gestalten, vollzogen sich bereits während Breitingers Mitarbeit an den Discoursen der Mahlern. Die Einsicht in die größere Wirksamkeit der »historischen Morale« und der »catechetischen Methode« wird bereits in den Discoursen der Mahlern – und zudem gerade von Breitinger – formuliert. Durch diese Darbietungsweise wollten sich die Zürcher als Herausgeber vom englischen und französischen Vorbild des Spectators/ Spectateur absetzen und ein eigenes Profil gewinnen. Das Fehlen von Breitinger kann also nicht als Grund für die Veränderungen im Sittenmahler gelten. Der Mahler der Sitten führt lediglich fort, was bereits in den Discoursen der Mahler begonnen wurde.21
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chismus, der eine feststehende Überzeugung dialogisch darbietet, führen die sokratischen Dialoge vor allem die Urteilsbildung vor; vgl. hierzu auch Hans Bodmer (1895), S. 122ff. Vgl. etwa die für den Mahler der Sitten neu verfasstenTotengespräche;vgl. Brandes (1974), S. 168. Ebd., S. 90. Ebd. Ebd., S. 81. Ebd., S. 83. Die weiteren Gründe für den Wandel sind nach Brandes die weniger strenge Zürcherische Zensur, geistige und ökonomische Entwicklung in Zürich und Gesamteuropa, die ein Abrücken von der Orthodoxie bewirkten, und biographische Entwicklungen von Bodmer und Breitinger. Von den insgesamt 16 Discoursen, die nicht mehr in den Sittenmahler aufgenommen wurden,hat Breitingerlediglich fünf verfasst; Bodmer war der Autor von zehn
92 Diese Ausrichtung der Discourse hatte Bodmer sogar schon vor der ersten Publikation eingefordert und somit in der Frage nach der exemplarischen oder räsonierenden Darstellungsweise eindeutig Stellung bezogen. Am 27. Dezember 1720 schlug Bodmer Johann Heinrich Meister (1700–1781) verschiedene Themen vor, die dieser für die Discourse der Mahlern bearbeiten könnte: So du doch schreiben willt [sic], so schreib für die Nachwelt, es sey ein politischer Discurs über den Tobak oder einer von der Weisheit mit einem Erbtheil u.s.w. Ob mich zwar das Extrait, das du mir von deinem Tractat sur le Destin machest, etwas rechtschafenes auguriren läßt, so diente mir doch in meinen Kram besser, daß du moralische Characktere schriebest wie der Spectateur, la Bruyére usw. Ich habe sonst von Gott, von der Providenz u.s.f. so simple Concepte, daß ich die Polemica, so darüber geschrieben werden, nicht ohne Erbarmen lesen kann.22
Den von Meister vorgelegten philosophischen Abhandlungen steht Bodmer mit Abneigung gegenüber; ihn vermögen metaphysische Spekulationen und allgemein gehaltene Darstellungen der christlichen Anthropologie oder Gotteslehre nicht zu begeistern. Stattdessen fordert er Meister auf, moralische Charactere zu verfassen. In seinem »Glaubensbekenntnis«, das er wiederum in einem Brief an J. H. Meister ablegt, artikuliert Bodmer sein besonderes Interesse am Menschen und am gesellschaftlichen Verkehr explizit: Ich sehe mich in obligo,dir meine Glaubens- und Opinions-Bekänntnißabzuschreiben, und ich will, daß du meinen Worten hierin völlig Glauben zustellest als einem Geschöpfe, das die Wahrheit liebt und mit Vorbedacht schreibt. Ich halte mich an die Theologie,welche mir die heilige Schrift eröffnet; doch was ich darinn nicht vernehmlich sehe, davon suspendire ich mein Urtheil. Ich admittire so wol Gewissens als Noth halben die helvetische Confession und den Heidelbergschen Catechismus. Meine Morale ist die christliche, welche der Herr Jesus debitirt hat. Ein Supplement derselben nenn’ ich den Spectateur und die Schriften von seiner Güte. Ich halte, daß nicht so leicht die Theorie oder das Speculiren dem Menschen Gottes Gewogenheit bringt als das Thun nach Gottes Willen. Ich schätze einen Idioten, der in seiner Einfalt fromm ist, seliger als einen übermenschlich devoten Doktor.23
Auch wenn sich Bodmer in seinem Glaubensbekenntnis auf die Confessio Helvetica Posterior von 1566 beruft, die bis ins 18. Jahrhundert die
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nicht weiter verwendeten Discoursen, einen Discours hatten beide gemeinsam verfasst (vgl. Brandes (1974), S. 162). Bodmer an Johann Heinrich Meister, 27. Dezember 1720, zit. nach Meister (1783), S. 67f. In einem anderenBrief von Bodmer findet sich ein ähnlicher Gedankengang: »Schreibt also ein andermal lieber Moralia, Charactere, Portraits. Ich werde bald als ein neuer Elzivir aufstehn, und Euch auf meinen Adlersflügeln zur Nachwelt tragen. Uebersetzt Etwas Belustigendes, Artiges, doch Kurzes und Neues aus dem Französischen und übergebt es mir. […] Ich hätte etwas Seltsames von dieser Art vonnöthen, und euerm Ruhm wäre damit besser und mit weniger Gefahr geholfen als mit etwas Th[e]ologischem.« (Bodmer an J. H. Meister, undat. [1719/20], zit. nach ebd., S. 66f.). Bodmer an J. H. Meister, 5. Mai 1720, zit. nach ebd., S. 72.
93 »Lehrgrundlage und das Lehrzuchtmittel der schweizerischen reformierten Kirchen« darstellte,24 und sich somit allgemein anerkannten (reformierten) christlichen Glaubensüberzeugungen anschließt, lässt sich doch in Ansätzen eine kritische Distanz feststellen. Bodmer schließt sich auch »der Noth halben«, d.h. wegen der herrschenden Bekenntnisverpflichtung der Confessio und ihrem katechetischen ›Vorläufer‹ an,25 hält sich aber ansonsten an den »Vorrang[ ] des Schriftprinzips« und betont das für die Mitmenschen »tätige Christentum«,26 das er über die Dogmatik stellt; Aspekte also, die auch in der Aufklärungstheologie im Vordergrund standen. Theologische »Dogmen und metaphysische[ ] Spekulationen« interessieren Bodmer nicht,27 daraus aber zu folgern, wie es Paul Wernle tat, dass Bodmer 1720 eine »natürliche Religion« pflege,28 die als »Aufklärungschristentum«, aber nicht als »Vermittlungstheologie« oder »vernünftige Orthodoxie in irgendeinem Sinne« zu verstehen sei,29 ist verfehlt. Ein Freigeist war Bodmer nicht, vielmehr war er leidenschaftlich darum bemüht, in all seinen Aktivitäten das Wohl seiner Mitmenschen zu befördern: »Gott will nicht, daß wir auf der Welt darben oder bloß theorisiren; er will, daß wir fröhlich seyn und die Functionen gegen den Nebenmenschen erstatten.«30 Der Dienst für das Allgemeinwohl und die Gesellschaft bilden den Kern seines Bekenntnisses und entsprechend kann Bodmer auch moralische Wochenschriften, die 24
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Joachim Staedtke: Vierhundert Jahre Confessio Helvetica Posterior. Akademische Feier mit Beiträgen von Joachim Staedtke und Gottfried W. Locher sowie einleitenden Worten von Johannes Dürr, Max Wyttenbach und Olof Gigon. Bern 1967, S. 10. Vgl. Gustav Adolf Benrath, Gottfried Hornig, Wilhelm Dantine u.a.: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 3: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Ökumenizität. Göttingen 1998, 2. überarbeitete und ergänzte Auflage, S. 133– 137, vgl. zur Geschichte und Theologie der Confessio Glauben und Bekennen. Vierhundert Jahre Confessio Helvetica Posterior. Beiträge zu ihrer Geschichte und Theologie.Hg. v. Joachim Staedtke.Zürich 1966, Rudolf Pfister: Kirchengeschichte der Schweiz. Zweiter Band. Von der Reformation bis zum zweiten Villmerger Krieg. Zürich 1974, S. 298–312, Bernhard Lohse, Wilhelm Neuser, Günther Gaßmann u.a.: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 2: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Konfessionalität. Göttingen 1998, 2. überarbeitete und ergänzte Auflage, S. 225–235; vgl. zum Heidelberger Katechismus ebd., S. 288ff. Benrath, Hornig, Dantine u.a. (1998), S. 128 und S. 132. Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert. Zweiter Band. Die Aufklärungsbewegung in der Schweiz. Tübingen 1924, S. 238. Ebd., S. 241. Ebd., S. 414. – Wernle beruft sich auf die oben zitierteBriefstelle,wobei er allerdings Bodmers Bekenntnis zur Confessio und zum Katechismus nicht wiedergibt und in seinen Ausführungen wohl auch nicht mitbedacht hat. Er spricht Bodmer zu Unrecht jegliche orthodoxe Überzeugung ab: »Wenn Bodmer sich ausnahmsweise einmal versteigt und als bestes Mittel gegen die Todesfurcht den seligmachenden Glauben an den gekreuzigten Herrn Jesus einführt, so können wir sicher sein: das ist auf die dummen Zensoren berechnet«. (ebd., S. 240f.). Bodmer an J. H. Meister, 5. Mai 1720, zit. nach Meister (1783), S. 75f.
94 als öffentliche Medien das soziale Leben zu befördern suchen und somit ebenfalls »gute Werke« darstellen, als Bestandteil seines Glaubens anführen. Bodmers Discourse aus dem Bereich der ›Gesellschaft‹ behandeln nicht nur einzelne Phänomene der zeitgenössischen Gesellschaft, wie Kleidermoden, Ruhmsucht oder Schönheitsvorstellungen, sondern reflektieren auch grundsätzlich das Wesen der Gesellschaft. Angesichts der Überzeugung, explizit theoretische Abhandlungen seien eher zu vermeiden – und möglicherweise auch als Vorsichtsmaßnahme gegenüber der Zensur –, trägt Bodmer seine Überlegungen nur mittelbar oder indirekt im Medium der Literatur und mittels der Fiktion vor.31 In den Discoursen – und auch in den erst Jahrzehnte später entstehenden literarischen Werken – geht es Bodmer nicht um philosophisch-theologische Erläuterungen eines bestimmten Menschen- oder Gesellschaftsbildes, sondern um dessen anschauliche und konkrete Darstellung. Die folgende Analyse der ersten Darstellung von Bodmers Gesellschaftsideal aus den 1720er Jahren soll nicht nur die Beschaffenheit dieser Gesellschaft erörtern und damit das Fundament für die späteren Interpretationen der Epen und Dramen legen, sondern auch die bisher gewonnenen Einsichten überprüfen: Da Bodmer die Differenz zwischen theoretischer Abhandlung und Poesie mit Nachdruck betont, gilt es nach dem philosophischtheoretischen Fundament der Erzählung zu fragen und die Literatur in ihrer Rolle als Vermittlerin philosophischer Wahrheiten und Einsichten in den Blick zu nehmen.
2.2
Der Traum von der idealen Gesellschaft als schäferliche Idylle
Im ersten Discours des zweiten Teils der Discourse der Mahlern aus dem Jahre 1722, dem Reich der Freude,32 entwirft Bodmer ein Bild einer idealen Gesellschaft. Er stellt es als »Traum« eines fingierten Opitz-Lesers dar,33 der über seiner Lektüre in der freien Natur einschläft. Zuvor berichtet der Ich-Erzähler, dass die Gedichte Lob des Feldlebens, Zlatna und Vielgut von Martin Opitz (1597–1636) sein »größte[s] Ergetzen« hervorrufen würden:
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Vollhardt hat dies durchaus auch als allgemeinen Zug der Wochenschriften charakterisiert: Die Wochenschriften wollten keine »gelehrte Pedanterie, die den unstudierten Leser abschrecken könnte«, vortragen, sondern konzentrierten sich auf die »Vermittlung der Inhalte« (Vollhardt (2001), S. 250). Vgl. Brandes (1974), S. 160. Bodmer (DM, II), S. 8.
95 Ich sasse an einem schönen Tag unter diesem Baume/ und weidete eine Weile meine Augen/ die ich von der Höhe auf welcher derselbe stehet/ in die Runde des Thales und der darüber liegenden kleinen Hügeln herum schweiffen ließ; hernach nahme ich meinen Opitz der mein steter Gefehrte ist/ aus der Tasche/ und lase mit dem größten Ergetzen/ was er zum Lobe des Feld=Lebens/von Zlatna/ und von Vielguet geschrieben/ indem ich von Zeit zu Zeit unter meinen Füssen solche Objecte antraffe/ von denen mein Poete Beschreibungen machet/ und zuweilen eine so genaue Aehnlichkeit zwischen diesen und denen Gegenständen fande/ die ich vor den Augen hatte/ daß ich offt im Zweifel stuhnde/ ob mich Opitz auf sein Vielguet versetzet habe/ oder ob er sein Gedichte von dem Platze gemachet/ von welchem mir die Objecte seiner Beschreibungen so natürlich in die Augen fielen.34
Die Aufzählung der Lektüren leistet den Anschluss an die literarische Tradition der Schäfer- und Landlebendichtung, für die die Werke Opitz’ stehen,35 und aktualisiert diese auch gleichzeitig, indem der Ich-Erzähler auf die Tatsache verweist, dass sein gegenwärtiger Aufenthaltsort – das »Vorwercke« außerhalb der Stadt unter einem Eichenbaum, bei dem »ein sanfte[r] Strohm eines klare[n] Bache[s]« entspringe –36 dem literarisch beschriebenen gleiche. Die vagen geographischen Angaben des Discourses – Baum, Tal, Hügel und Bach – finden sich in der Tat in den genannten Gedichten von Opitz,37 die sich auch dank der Hinweise in den Gedichtstiteln genau lokalisieren lassen;38 Bodmers Discours bezieht sich auf die Zürcher Landschaft. Gleichzeitig ermöglicht es die zurückhaltende Beschreibung, die von beiden Autoren beschriebenen Gegenden als (fiktiven) locus amoenus zu identifizieren. Die Ähnlichkeiten zwischen fiktiver und realer Landschaft sind so groß, dass sich der Opitz-Leser bei der Betrachtung der ›Zürcher‹ Gegend in die beschriebene, literarische Welt von Opitz versetzt fühlt. Der Status der Realität wird während des Lesens schwankend und die genaue Unterscheidung zwischen literarischer Schilderung und konkreter Anschauung 34 35
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Ebd., S. 1. Vgl. zur Einordnung der Opitz’schen Gedichte in die Schäfer- und Landlebendichtung Klaus Garber: Der Locus amoenus und der Locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln, Wien 1974 (Literatur und Leben, Neue Folge, 16), S. 81ff., S. 111ff. und S. 199ff. Bodmer (DM, II), S. 1. Vgl. etwa in Opitz’ Vielguet: »jhr thäler vndt jhr hügel / […] / jhr ort der einsamkeit« (Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 4: Die Werke von Ende 1626 bis 1630, 2. Teil. Hg. v. George Schulz-Behrend.Stuttgart 1990 (Bibliothekdes Literarischen Vereins in Stuttgart, 313), S. 407 (V. 316ff.)). Oder in Zlatna: »Geliebet dir ein Berg? Hier stehen sie mit hauffen. / Ein Wasser? siehe da den schönen Ampul lauffen. / Ein schönes grünes Thal? Geh’ auf Trajani Feld.« (Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 2: Die Werke von 1621 bis 1626, 1. Teil. Hg. v. George Schulz-Behrend. Stuttgart 1978 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart, 300), S. 75 (V. 120ff.)). Vielguet: Bernstadt, Nähe von Breslau (Schlesien). Zlatna: Weissenburg in Siebenbürgen.
96 löst sich auf, was schließlich darin gipfelt, dass die Realität ganz wegfällt und durch die Fiktion ersetzt wird. Die Lektüre nimmt so sehr »das gantze Gemüthe« ein, dass sich der Leser »so weit in diesen angenehmen Gedancken« vertieft, dass er in einen »harten Schlaf« fällt und zu träumen beginnt.39 Diese Rahmenbedingungen, welche die kommende Schilderung der idealen Gesellschaft vorbereiten, sind für das Verständnis von Bodmers Literaturbegriff von zentraler Bedeutung, worauf auch Thomas Koebner aufmerksam gemacht hat. Der Landschaft komme eine besondere Funktion zu, da sie als »Bindeglied oder Zwischenreich zwischen Wirklichkeit und Traum« fungiere.40 Die in dem Discours entworfene Traumwelt versteht auch Koebner als »kontradiktorischen Gegenentwurf« zur Realität, den Lektüre-Traum aber hält er für wirkungslos, da sowohl Lektüre als auch Traum lediglich in eine »Scheinwelt« führen würden, die man anschließend wieder verlassen müsse.41 Was also von der Lektüre bleibe, ist nach Koebner nur »Schreck und Qual«, wenn man wieder in die Realität zurückkehre;42 Poesie sei für Bodmer, so die Deutung von Koebner, also lediglich ein Medium, das eine vorübergehende Flucht aus der schlechten Welt erlaube, weitergehende, d.h. gesellschaftsverändernde Wirkungen habe die Poesie nicht. Zieht man eine kurze Erzählung von Bodmer aus den Neuen Critischen Briefen von 1749 heran, so ergibt sich jedoch ein anderer Blick auf die Funktion der Poesie. Auch in dieser Skizze empfiehlt Bodmer die Lektüre in der Natur,43 da sich so ein Vergleich zwischen den gegebenen (nicht nur landschaftlichen) Umständen und den literarisch geschilderten leicht anstellen ließe. Durch die Lektüre könne sich, so Bodmer, der Blick auf die eigene Gegenwart verändern, so dass es den Lesern vorkommen könne, als lebten sie »in einem bezauberten Lande […], wo alle Dinge, die ihnen ins Gesichte kamen, romantisch aussahen, und in ihrer Phantasie tausend angenehme Bilder gebahren«.44 Der durch die Lektüre determinierte Blick auf die Realität lässt diese anders erscheinen, als sie bislang in Wirklichkeit war, und gibt somit die ihr inhärenten Möglichkeiten zu erkennen. So entstehen Bilder, die man auf seine Umgebung projiziert und die so Anlass zu Veränderungen der bestehenden Verhältnisse werden können. Diese Absicht verfolgt, so meine Lesart, auch Bodmers Discours. 39 40
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Alle Zitate Bodmer (DM, II), S. 2. Thomas Koebner:Zurück zur Natur. Ideen der Aufklärung und ihre Nachwirkung. Studien. Heidelberg 1993 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3, 121), S. 14. Ebd. Ebd. Hier empfiehlt Bodmer James Thomson’s The Seasons (EA 1730, 1744 von Barthold Heinrich Brockes ins Deutsche übersetzt). Bodmer, Breitinger (CB), S. 56f.
97 Im Traum stellen sich die zuvor gesehenen und gelesenen Landschaftsbilder wieder ein und Opitz tritt zudem selbst als Person auf, den der Träumende trotz seiner seltsamen Bekleidung – »nach der Mode der Schäffern« – sofort erkennt.45 Da Opitz nur die »wenigsten Verehrer« habe, ist Opitz seinem Leser sehr dankbar und will dessen »Hochachtung« belohnen,46 indem er ihm eine Gegend zeigt, die nur den Poeten, und unter denen, die diesen Nahmen annehmen, nur etlichen wenige bekannt ist, welchen Apollo und die Musen günstig sind; einen Ort, wo die unsträfliche Lust/ und ihre Begleiter, das Lachen, die Anmuth, der Hymen, der Schertz, ihren ewigen Aufenthalt haben.47
Die erträumte Gegend erinnert stark an die Zürcher Landschaft: Berge, die auf ihren Spitzen mit »Schnee« und »Eis« bedeckt sind,48 umkränzen das »schönste Land der Erde« und ein Fluss, mit einer Vielzahl von kleinen, baumbewachsenen Inseln, durchquert das Tal und mündet in einen See, der »einem Meer ähnlich« sieht und bei schönem Wetter »hell und […] glatt« ist, bei stürmischen aber mit »unmächtige[m] Grimm wider die Klippen und Felsen« stößt und mit »wilde[m] Gebrülle« seine »Wellen wie Berge in die Luft hinaufführt«.49 Ergänzt wird die realistische Schilderung der Zürcher Gegend durch entsprechende Hinweise auf Flora und Fauna: Auf den Flussinseln stehen Linden- und Tannenbäume, Blumen blühen auf den Hügeln, auf den Feldern spenden Weinreben, Kirsch-, Quitten-, Zwetschgen- und Apfelbäume Schatten, farbenprächtige Vögel fliegen durch die Luft und singen »tausenderley Arietten« und Hirsche, Ochsen und Schafe weiden auf den Grasflächen.50 Trotz des Lokalkolorits referiert die Schilderung gleichzeitig auf den Topos des locus amoenus, zu dessen Bestandteilen seit Theokrit der abgeschlossene Raum (Tal), Wasser (Quelle/Bach), Bäume, Grasflächen als Lager- und Weideplatz, Kühe, Schafe und Vögel gehören.51 Der Geruch von »Balsam, Weyrauch und Myrrhen« und der von den Eichbäumen fließende Honig sind ebenfalls dieser Tradition zuzurechnen,52 sowie auch die Kleidung von Opitz – als Schäfer – und die Nymphen und die jung gebliebenen, alten Männer als Bewohner dieser »glückseligen Gegend« deutlich auf
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Bodmer (DM, II), S. 2. Ebd., S. 2. Bodmer (MS, I), S. 68. Bodmer (DM, II), S. 7. Alle Zitate ebd., S. 3. Hans Bodmer bezieht Bodmers Discours auf den Greifensee und seine Umgebung (vgl. Hans Bodmer (1895), S. 113); aufgrund der Größenbeschreibung des Sees (»einem Meer ähnlich«) scheint es aber plausibler, das auf den größeren Zürichsee zu beziehen. Bodmer (DM, II), S. 4. Vgl. Garber (1974), S. 91. Bodmer (DM, II), S. 4.
98 die Tradition der Bukolik verweisen.53 Die in Bodmers Discours als Führerin und Erzählerin auftretende namenlose Nymphe erinnert an Hercinie, die in Opitz’ Gedicht Schäfferey von der Nymphe Hercinie (EA 1630) die wandernden Hauptfiguren ebenfalls durch ihr (allerdings unterirdisch liegendes) Reich führt und die ›Sehenswürdigkeiten‹ erläutert und kommentiert.54 Mit der Schäfferey von der Nymphe Hercinie rückt ein Schäfergedicht als Referenz von Bodmers Discours in den Blick, mit dem Opitz einen prägenden Beitrag für die Gattung der Schäfer- und Landschaftsdichtungen geleistet hatte. Nach Garber leistete diese Prosaekloge die traditionsstiftende Verbindung von realistischen und topischen Landschaftsschilderungen, die zwar das Grundgerüst des locus amoenus enthalten würden, gleichzeitig aber darüber hinausgingen, indem sie kein »reiner ort- und zeitloser Idealtyp« einer amönischen Landschaft seien.55 Einerseits werde in den Landschaftsschilderungen der Schäfferey der locus amoenus präsent gehalten, andererseits auch ein konkreter regionaler Raum beschrieben, wodurch Arkadien nicht länger als Land der Phantasie oder der fernen Vergangenheit erscheine, sondern als ein Land der zeitlichen und lokalen Gegenwart.56 Diese gegenwartsbezogene Landschaftsdichtung versteht Garber vor allem als Lobpreisung der jeweils beschriebenen Gegend und somit im Falle der Prosaekloge als Lob der Familie des Freiherrn Hans Ulrich Schaffgotsch (1595–1635), welche die geschilderten schlesischen Ländereien besaß.57 Silvia Serena Tschopp hat in ihrer Studie zur Nymphen-Grotte in Opitz’ Schäfferey auf einen von Garber vernachlässigten Aspekt aufmerksam gemacht und die Prosaekloge nicht nur in der Tradition der Panegyrik verortet, sondern sie auch als »Fürstenspiegel« verstanden, in dem der herrschaftliche Adel als Repräsentant einer göttlichen Ordnung dargestellt werde, in die er selbst ebenso »eingebunden ist als die ihm untergebenen Individuen«.58 Die Schäfferey sei nicht nur als Beschreibung eines historischen Zustandes zu verstehen, sondern auch als Bezeichnung eines erwünschten oder anzustrebenden Zustandes; in den Worten von Tschopp: die 53 54
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Bodmer (DM, II), S. 5. Auch Hans Bodmer hat – ohne es weiter auszuführen – die Schäfferey von der Nymphe Hercinie als wichtigen Bezugspunkt von Bodmers Discours angegeben; vgl. Bodmer (1895), S. 113. Garber (1974), S. 127. Ebd., S. 128. Vgl. ebd., S. 127; vgl. auch ders.: Martin Opitz’ ›Schäferei von den Nymphe Hercinie‹. Ursprung der Prosaekloge und des Schäferromans in Deutschland. In: Daphnis 11 (1982), S. 547–603, hier S. 549. Silvia Serena Tschopp: Die Grotte in Martin Opitz’ ›Schäfferey von der Nimfen Hercinie‹als Kreuzungspunkt bukolischerDiskurse. In: Martin Opitz (1597–1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hg. v. Thomas Borgstedt; Walter Schmitz. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit, 63), S. 236–249, hier S. 248.
99 Schäfferey demonstriere ein »Herrschaftslob und Herrschaftsprogrammatik verknüpfende[s] idealtypische[s] Konzept aristokratischer Herrschaft«.59 Wie gesehen, situiert auch Bodmer die geschilderte Landschaft ebenfalls zwischen Topos und Realismus, der Discours bildet somit nicht nur das reale Zürich ab, sondern entwirft auch ein ideales Modell, das als Gegenmodell zur Realität indirekt auch Kritik an der bestehenden Ordnung äußert. Bewohnt wird das »Paradies« von Nymphen und Schäfern,60 deren Hauptbeschäftigung »hunderterley Spiele« wie etwa Tanz, Gesang und gemeinsames Mosttrinken ausmachen.61 Auch sind die »alte[n] Männer«, die dem Betrachter als »Anacreons« erscheinen,62 noch ebenso rüstig wie die Jünglinge und haben »weder diese eingesunckene Augen/ noch diese ernsthaffte Runtzeln/ die sonst mit dem hohen Alter kommen«.63 Der Eindruck des arkadischen, keine Altersgebrechen aufweisenden Zustands der Bewohner wird verstärkt durch den Auftritt der den Besucher durch die Gegend führenden Nymphe, die gekleidet ist wie die »Lacedämonischen Töchter«.64 Sie erscheint dem Besucher zunächst wie eine unsterbliche »Göttin«, was diese aber sogleich korrigiert: sie sei eine »Sterbliche«.65 Dadurch wird die scheinbare Zeitlosigkeit der Bewohner wieder zurückgenommen und der realistische, menschliche Charakter der 59 60 61 62 63
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Ebd. Bodmer (DM, II), S., 3. Ebd., S. 4f. Ebd., S. 5. Ebd. – Dass der junge Bodmer den sinnlichen Freuden durchaus nicht abgeneigt war, sofern sie denn ein sittsames Maß bewahrten, zeigt sich auch in dem an Johann Michael von Loen geschickten Auszug aus seinem unpublizierten (und heute verschollenen) Jugenddrama Marc Anton und Kleopatren Verliebung. Cleopatra erscheine als Königin, so Bodmer, die sich »von der gemeinlichen Gewohnheit losreisst, die zu einem Gesetze macht, dass das Frauenvolk aus einer angeborenen Bescheidenheit sich erst sperren und sträuben müsse, ehe sie sich ergeben« (Bodmer: Marc Anton und Kleopatren Verliebung, zit. nach Blätter für literarische Unterhaltung I (1856), S. 32–35, hier S. 33). Cleopatra gibt dem Liebeswerben von Marc Anton augenblicklich nach, weil sie nicht so »listig«, »barbarisch« und »stolz« wie die anderen Frauen sei, die dem Verliebten ihr eigenes Verlangen verbergen würden (ebd., 34). Entsprechend leistet sie auch Marc Antons Aufforderung, von »diesem off ’nen Platz abseits [zu] entweichen, / Der Liebe und des süssen Liebesspieles / Vollauf und ohne Sparen zu genießen« unverzüglich Folge, weil die Form der offenen und ehrlichen Liebeswerbung auch der Natur des Menschen entspreche (ebd.): »Ich folge dir gutwillig, sonder Spreizen, / Und schlage die solennen Liebessitten / Nicht widersinnig aus: So heißt mich meine Liebe / Und die Natur, was immer die Gewohnheit / Und angenomm’ne Meinung sagen mag.« (ebd.). – Zu den »hunderterley Spielen« der Nymphen rechnet Bodmer auch das Verhalten eines »verliebte[n] Paar[es]«, das sich »zwischen die nahen Baume« verbirgt (Bodmer (DM, II), S. 5). Bodmer (DM, II), S. 4. Ebd., S. 6.
100 Bewohner betont. Innerhalb der erträumten (Zürcherischen) Landschaft bewohnen die Nymphen und Schäfer einen abgeschlossenen Raum, über den die Nymphe Folgendes berichtet: Diese Gegend/ welche dir so blühende und abwechselnde Scenen von Aeckern/ Auen und Hügeln vor die Imagination stellet/ […] ist der anmuthige Aufenthalt/ welchen die Glückseligkeit, eine Tochter der Tugend/ die ihre Abkunfft von dem Himmel hat/ einer kleinen Trouppe Menschen von ihren Favoriten angewiesen hat. Du hast schon gesehen/ daß sie Sorge getragen hat/ ihnen alles dasjenige Hauffen=Weise und ohne ihre Arbeit aufzustellen/ was sie die andere Menschen kaum schmecken läßt/ und was sie ihnen um Schweiß und Sorgen theuer verkauffet. Die Erde bringet uns alles von sich selbst hervor/ ohne daß wir ihr mit dem Eisen Gewalt thun. Die Speise wächst uns in die Hände/ die Bäume werffen uns ihre Aepffel in die Schooße/ und die Rebe unter der wir den Schatten suchen/ gibet uns auch den Trauben; die Jahrs=Zeiten verändern unsere Felder nicht/ der Hundes=Stern hat niemahls [sic] unsere Saat verbrennet/ und der kalte Nordwind hat niemals unsere Wälder ihres grünen Haares beraubet. Ein ewiger Frühling beherrschet sie/ und die sanfften Zephirs wehen einen kühlen Winde auf unsere Blumen/ die ungepfleget hier wie Rubinen brennen/ dort ihre Blätter mit Atlaß und Damast schmücken. Oder vielmehr; die vier Jahrs=Zeiten haben uns auf eine Stelle zusammengetragen/ was eine jedwede schönes hat […].66
Das Tal der Nymphen befindet sich also im goldenen Zeitalter. Damit wird ein weiterer Vorstellungsbereich aufgerufen, der als Motivgeber auch die Bukolik beeinflusst hatte.67 Das fehlende Altersleiden findet sich bereits bei Hesiod, den ewigen Frühling hatte Ovid im 1. Buch seiner Metamorphosen als Charakteristikum des goldenen Zeitalters angeführt; dazu gehören auch die Vorstellungen des sorgen- und arbeitsfreien Lebens und der menschenfreundlichen Natur, die ohne Kultivierungsleistungen der Menschen ausreichend Nahrung gibt.68 Allerdings gilt dieser privilegierte Status nur für die Bewohner des Tals, die – und dies stellt den moralischen Kern von Bodmers Discours dar – in das goldene Zeitalter nur eintreten durften, weil sie der Glückseligkeit und der Tugend gefolgt sind, d.h. weil sie ein tugendhaftes Leben führten. Andere, außerhalb des Tals lebende Menschen müssen sich sehr wohl mit »Schweiss und Sorgen« um ihre Lebensgrundlage bemühen. Die aetas aurea wird also nicht wie bei Hesiod und Ovid in die Abfolge verschiedener Zeitalter des menschlichen Geschlechts gestellt, sondern wird zu einem Zustand, in dem eine ausgewählte Gruppe von Menschen lebt und sich dadurch von anderen, 66 67
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Ebd., S. 6f. Vgl. dazu etwa Garber (1974), S. 214ff. und Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965 (Probleme der Dichtung. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, 7). Vgl. Hesiod: Werke und Tage. In: Hesiod: Theogonie. Werke und Tage. Griechisch und deutsch. Hg. und übersetzt v. Albert von Schirnding. Mit einer Einführung und einem Register von Ernst Günther Schmidt. München 1991 (Sammlung Tusculum), S. 90, und Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Hg. und übersetzt v. Gerhard Fink. Düsseldorf, Zürich 2004 (Sammlung Tusculum), S. 15 (1. Buch).
101 zeitgleich existierenden Gemeinschaften unterscheidet. Die Diachronizität der menschlichen Zeitalter wird in die Synchronizität verschiedener menschlicher Gesellschaften umgeformt, womit die moralische Lehre des Discourses auch den Zeitgenossen besser vermittelt werden kann. Bei entsprechend tugendhafter Lebensführung könnte auch die Zürcher Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ins goldene Zeitalter gelangen. Der ›goldene‹ Zustand dieser ausgezeichneten Gemeinschaft, die im Discours in der Auserwähltheit der Opitz-Leser eine Entsprechung findet, manifestiert sich in der freigebig ernährenden Natur und zudem im moralischen Zustand der Einwohner: Dieses [die schöne und ernährende Natur; J. R.] sind die geringsten Gaben die wir von der Glückseligkeit haben/ sie verschwendet uns noch andere/ die sie von ihrer himmlischen Mutter der Tugend empfängt/ die Freyheit/ die Ruhe/ die Gesundheit/ die Mässigkeit/ die Zufriedenheit/ die Wahrheit/ die Weißheit [sic]; Als die Redlichkeit/ die Treue und die Gerechtigkeit von der rauhen Erde nach dem Himmel eilten/ hat sie dieselben auf unsern Gräntzen aufgehalten/ und zu uns geführt. Aber sie hat daraus alle diese fressende Sorgen/ und diese ungeheuern Begierden verbannt/ welche den Rest der Erde plagen/ den Geitz/ der bey dem Brunnen Durst leidet/ den Neid/ der sein eigen Fleisch verzehret/ den Aberglauben/ der sich selbst schrecket/ die lasterhaffte Brunst/ die Verzweiffelung.69
Im Zustand der Glückseligkeit besitzt das Nymphenvolk einen umfassenden positiven Katalog an individuellen Eigenschaften, der sich ebenfalls in Hesiods und Ovids Darstellung des goldenen Weltalters findet, wobei dort die Freiheit nicht explizit genannt wird: Das freiheitliche Leben garantiert Ruhe, Gesundheit und Zufriedenheit und ist den Tugenden der Mäßigung, Wahrheit, Weisheit, Redlichkeit, Treue und Gerechtigkeit geschuldet. Anders als in den antiken Prätexten werden diese Tugenden explizit mit den zeitgleich in der restlichen Welt existierenden Lastern des Geizes, des Neides, des (tierischen) Paarungstriebes, des Aberglaubens, und der Verzweiflung (im Sinne des Zweifels an der göttlichen Providentia) kontrastiert, wobei insbesondere die letzten beiden Laster andeuten, dass Bodmer ein christlich gedeutetes goldenes Zeitalters entwirft. Ausgehend von diesem Tugendkatalog präsentiert sich der gesellschaftliche Zusammenschluss der Nymphen und Schäfer als ein Staat, der ohne rechtliche Vereinbarungen und Gesetze auskommt: Wir thun das Rechte und das Ehrliche ungezwungen/ und haben nicht vonnöthen Gesetze zu machen/ die uns durch die Drohung der Straffe dazu nöthigen. Die Einfalt ist unser Recht. Wir kennen weder Hof=Gericht noch Rath/ wir fodern keinen Termin/ wir supplicieren nicht/ wir sind ohne Procuratores sicher/ wir verbergen uns vor einander hinter keine Wälle noch Mauren/ wir schlaffen unter dem offenen Himmel der unsere Decke ist/ und die Erde spreitet uns ein Bette von Graß [sic] und Blumen; da fürchten wir nicht/ daß wir von dem gräßlichen Gethön einer Mord=Trompete aufgewecket werden/ wir kennen dieses Instrument nicht/ so wenig als die Beckelhauben/ die Schwerter/ und die eiserne Rohre/ die den Blitz 69
Bodmer (DM, II), S. 7.
102 und den Donner nachahmen. Wir lieffern uns nicht in den Schlund des Todes/ auf ein Daumen=dickes Brett/ das zwischen Leben und Tod ist/ um neue Welten zu entdecken/ die uns Gold zinsen/ wir verachten alles das was wir nicht haben/ und wir behalten was wir haben.70
Erneut grenzt die Nymphe den eigenen Staat vom Rest der Welt ab und definiert ex negativo das Wesen der eigenen Gesellschaft im Vergleich mit zeitgleich existierenden Staaten. Dieses Charakterisierungsverfahren findet sich auch bei Hesiod und Ovid, allerdings wird dort eine rückwärtsgewandte und zeitenvergleichende Perspektive eingenommen, die sich bei Bodmer (wiederum) in einen synchronen Vergleich der Eigenschaften verschiedener Gesellschaften verwandelt hat, der aber gleichwohl viele antike Motive aufweist: etwa die Ablehnung der Schifffahrten zur Entdeckung und Eroberung neuer Territorien, das Errichten von Stadtmauern und Befestigungsanlagen oder die Unkenntnis von kriegerischen Ereignissen und der dazu notwendigen technischen Errungenschaften. Ebenfalls auf Ovid ist das Fehlen der Gesetze zurückzuführen, was allerdings bei Bodmer expliziter und vor allem mit eindeutigem Bezug zum 18. Jahrhundert behandelt wird. Aufgrund der Bestimmung der einzelnen Gesellschaftsmitglieder, die wegen ihrer gemäßigten, weisen, wahrheitsliebenden und gerechten Natur von sich aus recht und ehrlich handeln, was unter den Begriff der »Einfalt« gefasst wird, ist im Reich der Nymphen die Gesetzgebung und damit auch die Rechtsprechung irrelevant. Streitigkeiten und Zwietracht, die in anderen Staaten Gesetze nötig machen, existieren zwischen den Gesellschaftsmitgliedern nicht.71 Somit erweist sich der Nymphen- und Schäferstaat weder als neuzeitliche Monarchie (»Hofgericht«) noch als Aristokratie oder Demokratie (»Rath« als Gegensatz zum Hofgericht), sondern als dritte, verfassungsund gesetzesfreie Staatsform, die als Alternative den existierenden gegenüber gestellt wird. Notwendige Bedingung für die Entstehung und Existenz dieser harmonischen, verfassungsfreien Gesellschaft ist dabei die allen Mitgliedern angeborene Einfalt, die alle nach (christlichen) Tugenden handeln lässt. Ohne Tugenden ist das Erreichen des glückseligen Gesellschaftszustandes nicht möglich. Von diesem Zustand scheint aber die Zürcher Gesellschaft des beginnenden 18. Jahrhunderts in Bodmers Augen (noch) weit entfernt zu sein, weshalb die von ihm skizzierte Gesellschaft auch als Traum dargestellt ist. Die landschaftliche Beschreibung des Nymphenstaates, der auf Zürcher Boden verortet wird, zeigt jedoch, dass Zürich immerhin die Möglichkeit 70 71
Ebd. Die Friedfertigkeit innerhalb der Gesellschaft, die jeglichen Schutz vor anderen Gesellschaftsmitgliedern überflüssig macht, wird auch nach außen hin gelebt, indem auf Entdeckerfahrten und Kolonialisierungen verzichtet wird. Die Gesellschaft pflegt ein genügsames Leben, das sich mit dem Vorhandenen begnügt.
103 für eine entsprechende Gesellschaftsentwicklung bietet. Wie die Zürcher leben könnten, das entwirft ihnen Bodmers Discours programmatisch und voller Anspielungen auf historische und literarische Prätexte: Die Zürcher müssten sich von der Wollust und den anderen Lastern abkehren und einen ›einfältigen‹ und tugendhaften Lebenswandel einschlagen.
2.3
Die ideale Gesellschaft als Republik
Das Ideal der gesetzes- und verfassungsfreien Gemeinschaft, das Bodmer in dem 1722 publizierten Discours entwirft, findet sich auch in einem unpublizierten Text aus derselben Zeit wieder, der sich als philosophischpolitisches Pendant der soeben betrachteten literarischen Erzählung erweist. Der zu Bodmers Lebzeiten nicht gedruckte Discours greift nicht auf die literarische Tradition der Schäferdichtung, sondern auf das Naturrecht zurück. Er kontrastiert das daraus entwickelte Gesellschaftsideal mit verschiedenen Staatsverfassungen und erörtert die Nähe von Monarchie und Republik zum Naturzustand. Bodmer, dessen Verfasserschaft als gesichert gelten kann,72 beginnt den Discours mit einer hypothetischen Annahme: Wan alle Menschen die gottseligkeit, die Vernunfft und die liebe zur gerechtigk.[eit] in gleichem grade besäßen, und sich der Dictatur derselben untergeben, so wäre eine unoth [sic], sich in königreiche[,] Republiquen und städte zu rangieren. Alsdan würde einjeder [sic] mit seinem gewißen sich berathschlagen, und die wohlfahrt sei72
Das Manuskript befindet sich in Bodmers Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur Ms Bodmer 37.2. Helga Brandes hat es 1974 transkribiert und in ihrer Studie veröffentlicht; vgl. Brandes (1974), S. 206–208; hiernach wird im Folgenden mit der Sigle ›GL‹ zitiert, die sich aus dem Motto »glückseliges land, das uns hat auferzogen«,das dem Text vorangestelltist, ableitet.Der Text gehört zu einem Konvolut von »Materialien zu den Discoursen« (Brandes (1974), S. 38), das insgesamt 14 Texte umfasst, die alle nicht in die Discourse der Mahlern aufgenommen worden sind. Alle Texte scheinen Reinschriften darzustellen; zusammen mit vier weiteren Texten ist der Discours GL von derselben – nicht Bodmers – Hand geschrieben. Am Ende aller Text steht ein Kürzel für den jeweiligen Autoren; hier heißt es »Bo.« (an anderen Stellen dann »Br.«), damit sind Bodmer (und Breitinger) gemeint. Wer die Kürzel anfügte, ließ sich nicht zweifelsfrei eruieren; wahrscheinlich stammen sie von einem Zeitgenossen Bodmers, möglicherweise von Johann Kaspar Hagenbuch (1700–1763), einem Gründungsmitglied der 1720 gegründeten Gesellschaft der Mahler. Das von Brandes transkribierte Manuskript lag auch Johann Heinrich Füssli (1745–1832) vor, der 1783 einen kurzen Auszug daraus veröffentlichte und ebenfalls Bodmer als Verfasser für GL auswies. Füssli gibt genau Rechenschaft, wie er in den Besitz dieser Manuskripte gekommen war: Er hatte sie von Johann Jakob Steinbrüchel (1729–1796), dem Nachfolger Breitingers als Professor für Griechisch am Zürcher Carolinum, erhalten, der sie wiederum von seinem Schwiegervater Johann Kaspar Hagenbuch vererbt bekommen hatte; vgl. [Johann Heinrich Füssli (Hg.)]: Schweitzersches Museum. Erster Band, Zweites Stück. Zürich 1783, S. 117.
104 nes Nebend-Menschen wäre ihm so wohl recomendirt als seine eigene. Die Dinste [sic], die er von ihm erwartend ist, wurde er ihm seiner seiths erstatten […].73
Während im Reich der Freude die Tugenden zur Entstehung und Etablierung der Nymphen- und Schäfer-Gesellschaft führten, werden hier diese positiven Eigenschaften als den Menschen gegeben vorausgesetzt und bilden die erste Prämisse in Bodmers Argumentation, die sich in ihrem weiteren Gang eng an den publizierten Discours von 1722 anlehnt: Eigentlich besitzen alle Menschen die Tugenden der Gottseligkeit, Vernunft und Gerechtigkeitsliebe und folglich müssten sie auch ihr Leben diesen Tugenden gemäß einrichten. Dies wird von Bodmer nicht nur als natürliche Folge angesehen, sondern auch als vernünftiger Entschluss dargestellt: durch die »Beratschlagung« (vgl. Zitat) mit dem eigenen Gewissen erkenne jeder Mensch, dass er gottgläubig und tugendhaft leben solle. Wenn dann jedes soziale Verhalten durch Tugenden determiniert sei und sich jeder von sich aus um das Wohl seiner Mitmenschen kümmere, dann brauche sich die Gemeinschaft der Individuen auch nicht in Staaten, die ganz unterschiedlich organisiert sein können, zusammenzuschließen. Staaten sind dann überflüssig, wenn die Menschen, wie die Nymphen und Schäfer, vernünftig, gottgläubig und gerecht (miteinander) leben, da die Tugenden die Verfassung und Gesetze ersetzen und ein harmonisches und glückseliges Zusammenleben der Menschen garantieren. Dieser Zustand findet sich jedoch in der Realität nicht wieder, deshalb wird darüber auch im Konjunktiv bzw. hypothetisch gesprochen, so wie es auch Pufendorf in seinen Abhandlungen De jure naturae et gentium libri octo und De officio hominis getan hatte.74 Pufendorf geht in seinen naturrechtlichen Abhandlungen von dem Gedankenexperiment aus, den Menschen losgelöst von seiner aktuellen gesellschaftlichen Gebundenheit zu betrachten und ihn in den natürlichen, zivilisations- und kulturlosen Stand zu versetzen, um so das Wesen und die Natur des Menschen an sich zu erörtern und daraus die verschiedenen Pflichten und Rechte des 73 74
Bodmer (GL), S. 206. De jure naturae erschien erstmals 1672, eine deutsche Übersetzung erschien 1711: Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Rechte/ Mit des Weitberühmten JCti. Johann Nicolai Hertii, Johann Barbeyrac und anderer Hoch-Gelehrten Männer außerlesenen Anmerckungen erläutert/ und in die Teutsche Sprach übersetzet. 2 Bände. Franckfurt 1711. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert mit der Sigle ›BNV‹, dann folgt die Angabe des Buches, des Kapitels, des Paragraphen. – De officio hominis erschien erstmals 1673, eine deutsche Übersetzung folgte 1691: Einleitung zur Sitten- und Stats-Lehre/ oder kurtze Vorstellung der schuldigen Gebuehr aller Menschen/ und insonderheit der Buergerlichen Stats-Verwandten nach Anleitung derer Natuerlichen Recht. Abgedruckt in: Samuel von Pufendorf: Gesammelte Werke, Bd. 2. De officio. Hg. v. Gerald Hartung. Berlin 1997. Hieraus wird im Folgenden mit der Sigle ›ESL‹ zitiert mit Angabe des Buches, des Kapitels, des Paragraphen.
105 Menschen zu bestimmen.75 Diese als fictio Pufendorfiana viel diskutierte Idee übernimmt Bodmer als Fiktion in seinen unpublizierten Discours. Auch in seinen weiteren Ausführungen ist er Pufendorfs Abhandlungen verpflichtet, wie nun gezeigt werden soll. Ausgangspunkt für die Erklärung der Staatsentstehung ist bei Pufendorf – wie bei Bodmer – die Natur des Menschen. Mit dem Tier habe der Mensch den Trieb zur Selbsterhaltung und Fortpflanzung gemeinsam, anders als das Tier habe er jedoch noch weitere, beim Tier nicht anzutreffende Begierden, die den Menschen ›wilder‹ als ein wildes Tier erscheinen ließen und letztlich zum Hobbesschen Krieg aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) führen könnten: Aber die Menschen werden nicht nur durch stätswährendeNahrungs-Begierdeund Geilheit/ sondern auch durch andere/ wilden Thieren unbekandte und wider einander lauffende Laster/ grausam zusammen gehetzet. Dahin gehöret vornehmlich der unersättliche Geitz/ und die greuliche Ehrsucht/ welcher die Menschen allein fähig zuseyn scheinen […].76
Im Gegensatz zu Thomas Hobbes’ negativem Menschenbild attestiert Pufendorf dem Menschen jedoch auch sich moralisch positiv auswirkende Eigenschaften, wenn er den einzelnen Menschen als von Natur aus schwach und hilfsbedürftig ansieht (imbecillitas; indigentia), der alleine nicht überlebensfähig sei, und in ihm deshalb eine natürliche Neigung zur Geselligkeit (socialitas) verankert sieht.77 Der Naturzustand ist für Pufendorf somit kein Kriegszustand, wie es Hobbes sah,78 sondern ein Zustand, in dem sich die aggressiven Begierden des Menschen mit der socialitas die Waage halten, womit sich (immerhin) ein »unsicherer Friede« einstelle.79 Nach Pufendorf bildet die socialitas die Grundlage und damit auch die Norm des gesellschaftlichen Lebens, folglich besagt auch der Grundsatz des natürlichen Gesetzes, dass »ein jeder Mensch […]/ eine friedfertige und liebreiche Geselligkeit unterhalten/ und sich gegen seines gleichen also bezeugen solle«.80 Diese gegenseitige Beförderung der persönlichen Wohlfahrt hatte auch Bodmer als Charakteristikum seiner Naturzustandsvorstellung ausgewiesen und zum wesentlichen Bestandteil seines Glaubensbekenntnisses erklärt (vgl. oben). 75
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Vgl. hierzu Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. München 1996, insbes. S. 30–82, Hans Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith. Göttingen 1973 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 5), insbes. S. 40–63. Pufendorf (BNV) , 7.1.4., ähnliche Formulierung in Pufendorf (ESL), 2.5.6. Vgl. Pufendorf (BNV), 2.2.2 Vgl. ebd., 2.2.5.–8. Ebd., 2.2.9. Ebd., 2.3.15.
106 Wegen der Übergriffe der von Leidenschaften und Begierden angeleiteten Menschen schließen sich die Angegriffenen in Gesellschaften zusammen, um damit ihr Überleben und ihre Wohlfahrt zu sichern: »die Furcht vor grösserem Unglücke« führ(t)e den Menschen »in Bürgerliche[ ] Gesellschaften«.81 Der bürgerliche Staat ist somit nicht an und für sich das erstrebenswerte Ziel der Menschen, sondern entstehe erst durch den Selbsterhaltungstrieb, den jeder Mensch besitzt, und dient als Mittel des Schutzes und der Verteidigung: Als aber die Klügeren vermerckten/ dass denen Ungelegenheiten/ womit die eintzelne und zerstreute Hauß-Gesätze geplagt wurden/ durch Auffrichtung Bürgerlicher Gesell- und Gemeinschafften abgeholffen werden könte; hat man […] beliebet/ dass die vor diesem hier und dar in Wäldern und Feldern zerstreut wohnende Menschen/ mehrerer Sicherheit und Bequemlichkeit halber/ an einem Ort zusammen ziehen solten.82
Die Verbindung der zuvor verstreut und einzeln bzw. in Familien lebenden Menschen zu einer Gemeinschaft ist der erste Vertrag, den sie miteinander eingehen und der die Menschen zunächst einmal überhaupt zu einer Gemeinschaft verpflichtet. In einem zweiten Schritt, so Pufendorf,83 werde dann innerhalb der jeweiligen Gesellschaft über die Regierungsart und die Gesetze befunden; dem stimmt auch Bodmer in seinem Discours zu: Allein nachdem Übermuth, gewalt und stärcke, das recht verbanet, die unschuld verfolget, und der degen in der hand die wahrheit gezwungen hat sich zuverstecken, haben die schwache, die arme und beträngte den vorsichtigen schluß gefaßtet [sic], ihre Kräffte und mittel zuvereinen, und dem allgemeinen Feind ihrer ruhe mit gesamter macht, das haubt zubeüten: diesem nach haben sie sich in Dörffer und flecken, eingetheilet, sie haben städte und schlößer erbauet, und mit pasteyen und schanzen umgeben, und dergestaltsich in den stand gesezet, gewalt mit gewalt abzutreiben, und ihre ruhe und natürliche freyheit mit ihrem blut zubehaubten: Unterschiedene stätte haben artickel aufgesezet, und liguen miteinander geschloßen: Sie
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Ebd., 7.1.4. Ebd., 7.1.5., vgl. auch: »Dem Ubel welches auß der verkehrten Unarth derer Menschen zu gegenseitigem Verderben entspringet/ abzuhelffen/ hat man das Mittel bey denen Menschen selbst/ durch ihre Vereinigung in Bürgerlichen Gesellschaften und durch Einführung der Obrigkeitlich befehlenden Macht/ suchen müssen.« (Ebd., 7.1.7.) Ebd., 7.2.4.–9., vgl. zu Pufendorfs Vertragslehre, die in der Forschung unterschiedliche Deutungen erfährt, die hier aber nicht von Bedeutungsind, da es um Bodmers Lesart geht, Thomas Behme: Samuel von Pufendorf. Naturrecht und Staat. Eine Analyse und Interpretation seiner Theorie, ihrer Grundlagen und Probleme. Göttingen 1995 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 112), insbes. S. 120–130, und Dieter Wyduckel: Die Vertragslehre Pufendorfs und ihre rechts- und staatstheoretischen Grundlagen. In: Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung. Werk und Einfluß eines deutschen Bürgers der Gelehrtenrepublik nach 300 Jahren (1694–1994). Hg. v. Fiammetta Palladini, Gerald Hartung. Berlin 1996, S. 147–165.
107 haben geseze und ordnungen gemacht, und sich derselben selber untergeben, ihre pretensionen etc. zu fixieren.84
Entgegen der Idylle im ersten Discours von 1722 hat also der harmonische und friedliche Naturzustand der Menschheit nicht Bestand und kann nur durch Zusammenschlüsse und Gesetze gesichert werden. Da die Menschen ihre jeweilige Gesellschaft in verschiedenen Varianten einrichten können, entstehen Monarchien, Republiken oder Stadtstaaten, die aber – und darum geht es Bodmer in der Folge seines Discourses – eine unterschiedliche Distanz bzw. Nähe zum Naturzustand und damit zur Natur des Menschen aufweisen. Insbesondere Bodmers eigene vaterländische »Republica« hat von den verschiedenen Regierungsarten die Nähe zum natürlichen Stand bewahrt:85 Die regierung welche in unserm L. Vatterlande administrirt wird, ist natürlich u. dem ursprung der Men.[schen] gemäß: weil ja alle Men. von einer gleichen materie gemachet sind, und einen Vatter haben, so ist von natur einer so gut u. frey als der andere, u. keiner kan sich angesehener machen weder sein nebend Men., als durch meriten. Diesem nach haben wir den freyen stand, in welchem uns die natur gesezet hat, beybehalten. Wir erkenen keinen höhern über uns als G.[ott] u. sein geseze. Der Obrigk. erlauben wir keine mehrere herrschafft über uns, als solche, welche erfordert wird, der ausbrechenden frechheit eines feindes der Men. Societet ein gebiß anzulegen, u. jederman seiner pflichten zuerrineren [sic].86
Die Verfassung des Vaterlandes – wobei nicht deutlich wird, ob damit nur der Zürcher Stadtstaat oder die gesamte Eidgenossenschaft gemeint ist – trägt der natürlichen Gleichheit der Menschen Rechnung und hat die natürliche Freiheit bewahrt, indem die eingerichtete Herrschaft nur darauf ausgerichtet ist, die inner- und außerstaatlichen Feinde abzuwehren und von jedem seine bürgerlichen Pflichten einzufordern. Die Funktion der vaterländischen Verfassung ist somit identisch mit dem Zweck, den Pufendorf als Begründung für die Genese der bürgerlichen Gesellschaft angeführt hatte: die Verteidigung vor den Aggressoren. Gleichzeitig gilt im Vaterland nur Gott als höchster und einziger Herrscher; eine (ungerechte) Herrschaft von Menschen über Menschen gibt es darin nicht, was Pufendorf als Charakteristikum für den Naturzustand hervorgehoben hatte.87 Ebenso hatte er die Demokratie als erste und somit älteste und dem natürlichen Stand am nächsten stehende Regierungsform definiert: Denn es gibts die Vernunfft selbsten/ daß es sich am besten geschickt habe/ eine solche Regiments=Art einzuführen/ darinnen gemeine Sachen nach gemeinem Rath abgehandelt würden/als viele in natürlicherFreyheit und Gleichheit stehende Menschen/ in eine BürgerlicheGesellschafftzu tretten/ sich anfänglichentschlossenund 84 85 86 87
Bodmer (GL), S. 206f. Ebd., S. 208. Ebd., S. 207. Vgl. Pufendorf (BNV), 2.2.3., vgl. auch Pufendorf (ESL), 2.1.8.
108 bequemet. Es ist auch nicht zu vermuthen/ daß ein freyer Hauß-Vatter/ der die Unbequemlichkeit deß eintzelnen Lebens vermercket/ und deßhalben in Bürgerliche Gesellschafft tritt/ gleich in einem Augenblick/ seines vorigen Standes/ darinnen er für sein Wohlseyn nach eigenem Gutachten gesorget/ dermassen vergessen können/ daß er sich allso fort/ mit seiner eigenen und allgemeiner Wolfarth/ eines eintzigen Menschen Gutachten und Willen schlechter Dinges unterwerffen wollen. Vielmehr hat man Anfangs für das allerbilligste gehalten/ daß/ was alle angienge/ auch von allen besorget würde/ biß endlich die Meisten sich zu was anderem/ auß allerhand nothdringenden Ursachen/ theils wegen eigener Mit=Bürger/ theils wegen Frembder/ verstehen müssen. […] Es sind aber die meisten Bürgerliche Gesellschafften/ anfänglich auß Leuten einerley Geschlechts erwachsen/ und haben also eben die Ursache gehabt möglichste Gleichheit zuerhalten gehabt.88
Pufendorf erklärt den historischen Beginn der bürgerlichen Gesellschaft im Rückgriff auf die biblische Genealogie und betont den in späteren Zeiten schwindenden verwandtschaftlichen Charakter der ersten bürgerlichen Gesellschaften. Da Bodmer vom gegenwärtigen Zustand seines Vaterlandes spricht, das in großer zeitlicher Entfernung zu den ersten Gesellschaften steht, verweist er statt auf familiäre Relationen auf die allgemeinen anthropologischen Konstanten. Er nimmt eine naturwissenschaftliche Sicht ein, wenn er allen Menschen dieselbe »Materie« attestiert, und wählt eine theologische Perspektive auf die Menschen, die alle unter der schöpferischen Allmacht des einen »Vatter[s]« stehen. Pufendorfs historisches Argument für die Demokratie formt Bodmer in ein ahistorisches um, wobei die Zielrichtung mit derjenigen von Pufendorf identisch bleibt: die Nähe der (vaterländischen) Demokratie zur natürlichen Freiheit und Gleichheit aufzuweisen. Die enge Relation zwischen vaterländischer Republik und Naturzustand stellt Bodmer auch in der Beschreibung der Bürgerpflichten her. Neben der vernunftgemäßen Beförderung der eigenen und gesellschaftlichen Wohlfahrt besteht die wichtigste Pflicht des Bürgers in der Vaterlandsverteidigung, die jeder Bürger im Kriegsfalle zu leisten habe; mithin also in demjenigen Aspekt, weshalb sich bürgerliche Gesellschaften überhaupt erst formiert hätten: Zur selben Zeit [falls das Vaterland angegriffen werden sollte, J. R.] sähe man, ich kann diß billiche lob meiner tapferen mitburgern nicht zurückbehalten, zur selben Zeit sähe man den Salpeter reiben, die Seebel wezen, die Magasin und Zeüghaüser offen stehen, mörsel und Carthaunen herausführen: Man sähe stadt und landt von soldaten wimlen, junge und alte in den harnisch kriechen: jedweder burger gäbe einen soldaten ab vor das Vatterland.89
Weitere Pflichten gegenüber dem Vaterland hat der Bürger in Bodmers Skizze nicht; dem Staat kommt somit nur bei der Verteidigung gegen außen und bei der inneren Kontrolle der Einhaltung der natürlichen – 88 89
Pufendorf (BNV), 7.5.4. Bodmer (GL), S. 208.
109 und das heißt in Bodmers Verständnis auch gleichzeitig der bürgerlichen – Pflichten eine Bedeutung zu. Nach Pufendorf gliedern sich die natürlichen Pflichten, die sich aus der socialitas des Menschen ergeben, in drei Bereiche: der vernünftige und mit einer natürlichen Religion ausgestattete Mensch des Naturzustandes, der sich nicht – anders als die entarteten Aggressoren – von seinen Trieben und Leidenschaften determinieren lässt,90 hat Pflichten gegenüber sich selbst, gegenüber anderen Menschen und gegenüber Gott. Die natürliche Religion, die nicht auf der Offenbarung, sondern auf der Vernunft basiert, schreibt dem Menschen den Glauben an die Existenz, Schöpfungsmacht und Herrschaft Gottes vor und fordert zu Gottes Verehrung und Gehorsam auf;91 gegenüber sich selber ist man zur Selbsterhaltung und zur körperlichen und geistig-sittlichen Vervollkommnung angehalten.92 Die Pflichten gegenüber anderen Menschen bestehen nach Pufendorf darin, den anderen nicht zu verletzen,93 dessen Gleichheit (mit einem selbst) anzuerkennen und ihm mit Wohltätigkeit zu begegnen.94 Gäbe es also die Notwendigkeit zur Selbstverteidigung nicht, so wäre die staatliche Verfassung des Vaterlandes im Grunde überflüssig. Im Gegensatz zum Staat der Nymphen und Schäfer aus dem Discours von 1722 müssen sich die Schweizer oder Zürcher letztlich lediglich aufgrund der (real existierenden) Bedrohung durch Aggressoren als Gesellschaft mit Verfassung und Gesetzen organisieren. Dass Bodmer in seinem Discours kein realistisches Bild der tatsächlichen Zürcher Begebenheiten zeichnet, verdeutlicht der Einspruch von Füssli zu einer Stelle des Discourses, an der Bodmer – gemäß seiner demokratischen Schilderung der vaterländischen Verfassung – ausführt, dass jeder Bürger nicht nur bei »kriegs- und friedenshandlungen«, sondern auch bei »auflagen u. steüern […] [ ]deliberieren und [ ] sprechen« könne.95 Füssli bemerkte dazu: »Hier betrog sich der junge Bodmer in Puncto des Zürcherischen Staatsrechts. Steuern aufzulegen hat der grosse Rath das ausschliessende Vorrecht. Krieg, Friedensschlüsse und Bündnisse, werden 90 91 92 93 94
95
Vgl. Pufendorf (BNV), 2.2.9. Vgl. Pufendorf (ESL), 1.4.1.–9. Vgl. ebd., 1.5.1.–24. Vgl. ebd., 1.6.1.–13. Vgl. ebd., 1.7.1.–6. und 1.8.1.–8. Die in Bodmers Discours Glückseliges Land zu Beginn angesprochenen Tugenden der Gottseligkeit, Vernunft und Gerechtigkeit, die im Grunde allen Menschen angeboren sind, finden sich somit auch in Pufendorfs Katalog der natürlichen Pflichten. Auch im Reich der Freude wird die Gerechtigkeit als einer der wesentlichen Aspekte der gesetzlosen Gesellschaft eingeführt, die dort im Weiteren aufgeführten Aspekte der ›Wahrheit‹ und ›Weisheit‹ lassen sich unter die Vernunft subsumieren; auch die Gottseligkeit verbirgt sich im Glückseligen Land hinter den Begriffen ›Aberglaube‹ und ›Verzweiflung‹. Bodmer (GL), S. 208.
110 vor dem Abschluss an die Zünft gebracht.«96 Füssli versteht Bodmers Schilderung also als Beschreibung der Zürcherischen Verhältnisse und wirft Bodmer falsche historische Faktenschilderung vor. Ob Bodmer aus Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse oder aber bewusst die Realität falsch darstellte, lässt sich aus heutiger Perspektive nicht mehr eruieren; zu fragen wäre jedoch zunächst, ob sich Bodmer in seiner Schilderung wirklich nur auf die Zürcherische Verfassung bezieht oder nicht vielmehr auf die gesamte Eidgenossenschaft? – Der Begriff »Liguen« lässt auf Letzteres schließen (vgl. Zitat S. 106): Nach Wilhelm Oechsli waren die Bezeichnungen »Liga Confoederatorum« oder auch »Liga vetus et magnus Alamaniae superioris« und das französische Pendant »Ligues« für die gesamte Eidgenossenschaft seit Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum 18. Jahrhundert üblich und wurden neben weiteren Benennungen wie »Eidgenossenschaft, Schweiz, Confoederatio, Helvetia« verwendet.97 Insbesondere im 15. und 16. Jahrhundert war »Ligues« der »offizieller französische Name für die Eidgenossenschaft«,98 der auch noch im 18. Jahrhundert verwendet wurde; z.B. als »pays des Ligues«.99 Bodmer bezieht sich in seinem Discours also eher auf die ganze Schweiz und beschreibt die Genese der eidgenössischen Orte der Eidgenossenschaft, die sich durch verschiedene (Verteidigungs-) Bündnisse zwischen den einzelnen Orten auszeichnete. Auch in dem Politischen Gespräch zwischen Franco, Arminio und Teutobacho (1697) des Zürcher Stadtschreibers und Gründungsmitgliedes des Zürcher Collegium Insulanum Johann Heinrich Rahn (1646–1708),100 das »erstmalig die Eigenheiten der souveränen, föderierten Schweizer Republiken« beschreibt,101 werden wie in Bodmers Discours die demokratischen Strukturen der Schweiz hervorgehoben: […] da fast jedes Dorff ein [sic] kleine Republic ist/ in dem es seinen DorffsVorgesetzten/ aigen Gericht/ Kriegs=Officier/ und an etlichen Orthen das hoche Malefiz/ ohne weitere Apellation habe/ in denen so genandten kleinen Orthen aber ist ein jeder Landmann/ er seye so gering als er wolle/ selbs [sic] Herr/ und hat in 96
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101
Johann Heinrich Füssli (Hg.): Schweitzersches Museum. Erster Band, Zweites Stück. Zürich 1783, S. 117. Wilhelm Oechsli: Die Benennung der Alten Eidgenossenschaft und ihrer Glieder. In: Jahrbuch für Schweizer Geschichte 42 (1917), S. 89–233, hier S. 168. Ebd., S. 145. Ebd., S. 149. Vgl. zu den Zürcher Sozietäten Zürich Kempe, Maissen (2002), zu Rahn ebd., S.111–117, und Maissen (2006), S. 373–377. Thomas Maissen: Eine ›Absolute, Independente, Souveraine und zugleich auch Neutrale Republic‹. Die Genese eines republikanischen Selbstverständnisses in der Schweiz des 17. Jahrhunderts. In: Republikanische Tugend. Ausbildung eines Schweizer Nationalbewusstseins und Erziehung eines neuen Bürgers. Contribution à une nouvelle approche des Lumières helvétiques. Actes du 16e Colloque de l’Académie suisse des sciences humaines et sociales. Hg. v. Michael Böhler, Etienne Hofmann, Peter H. Reill, Simone Zurbuchen. Genève 2000 (Travaux sur la Suisse des Lumières, 2), S. 129–150, hier S. 148.
111 allen wichtigenStands= und Lands=Sachenseine Stimm zugeben/ im übrigin weißt mann nichts bey ihnen von Contributionen/ Aufflagen/ auff die Häuser/ Gütter […].102
Rahns Gespräch ist Teil der gegen Ende des 17. Jahrhunderts und anfangs des 18. Jahrhunderts schweizweit, insbesondere aber in Zürich intensiv geführten Diskussion über das »republikanische Selbstverständnis« der Schweiz,103 welches das politisch-ideologische Fundament von Bodmers Discours darstellt und seine Ausführungen und auch die Rezeption von Pufendorf entscheidend prägte. Nach der Exemtion vom deutschen Reich 1648 stand die Eidgenossenschaft als »republikanische[r] Ausnahmefall in einer monarchischen Welt« da,104 dessen Selbstverständnis sich erst noch ausbilden musste.105 Vor allem durch diplomatische Kontakte mit den Niederlanden angeregt, die sich wie ihr Gegner Louis XIV. vor, während und nach dem französisch-niederländischen Krieges (1672–78) um schweizerische Söldner bemühten, wurde sich die Schweiz allmählich ihrer »freiheitlichen Staatsordnung« bewusst,106 was sich etwa daran zeigt, dass sie 1693 den Niederländern (defensive) militärische Unterstützung versprach, während sie noch 1663 lediglich Frankreich das Recht auf Aushebung eidgenössischer Söldner eingeräumt hatte.107 Im Zuge der diplomatischen Verhandlungen (und auch der kriegerischen Ereignisse) entwickelte sich nicht nur ein positives schweizerisches Selbstverständnis, sondern auch eine äußerst kritische Sicht auf die (benachbarten) Monarchien. Die Eidgenossenschaft vollzog eine ideologische »antimonarchische Wende«,108 was sich ebenfalls in Bodmers Discours wiederfindet (vgl. weiter unten). Rahn übersetzte und veröffentlichte 1678 das vom holländischen Republikaner Raebolt Heerman Schele (1620–1662) auf Lateinisch geschriebene Traktat Lob der Freyheit,109 in dem die aristokratisch-demokratische 102
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[Johann Heinrich Rahn]: Politisches Gespräch/ zwischen Franco, Arminio, und Teutobacho: über das wahre Interesse der Eydgnoßschafft. o.O. 1697, unpag. Maissen (2000), S. 132. Thomas Maissen: Petrus Valkeniers republikanische Sendung. Die niederländische Prägung des neuzeitlichen schweizerischen Staatsverständnisses. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 48 (1998), S. 149–176, hier S. 151. Vgl. zu diesem Prozess vom 16. bis zum 18. Jahrhundert Maissen (2006). Maissen (1998), S. 161. Vgl. ebd., S. 164f. Ebd., S. 140. Raebolt Heerman Schele: Lob der Freyheit. Auß dem Lateinischen in das Teutsche übersetzt. 1678. Lateinischer Erstdruck [Rabodus Hermannus Schelius]: Libertas Publica. Liber posthumus. Amstelodami 1666, erneut in ders.: Opuscula politica, quibus compreh. libertas publica, protrepticus de pace, et de caussis belli Anglici primi, ad principesChristianos,et de iure imperii. Lugdunum Batavorum 1772. Die erst posthum veröffentlichteLibertasPublica stellt eine gekürzte Fassung von Scheles De jure Imperii dar, in dem Schele die Hinrichtung von Karl I. im Jahre 1649 rechtfertigte. Sie nimmt Bezug auf die politische Situation in den Niederlanden
112 Regierungsform als Hort und Garant der Freiheit gepriesen und die Monarchie als tyrannisch kritisiert und abgelehnt wird. In den Niederlanden drohe der »freye[ ] Stand« vernichtet zu werden, weil »viel und zwarn hoch angesehene Leuthe« die »Oberherrschaft der Gesätzen in geringem Werth«110 halten würden und folglich auch der »[k]öniglichen Gewalt/ als einer weit besseren und bequemeren Regierungs-formb/ den Vorzug« gäben und bemüht seien, diese »gifftige Wahn=fassung« unter dem »gemeinen Pöbel« auszubreiten.111 Damit sei aber die Freiheit in höchster Gefahr: Diese [die »Wahn=fassung«; J. R.] aber greiffen den Gesetzen offentlich nach der Gurgel/ und undergraben die Grund-festungen der freyen Städten; solche über einen hauffen zu kehren/ wo man sich nicht bey zeiten ins Mittel leget: Darmit dann die Regiments=art/ und zugleich all unsere Freyheit/ und was wir nachfolglich immer gutes besitzen/ zu Boden gehen kan.112
Folglich sei es auch die Absicht des Traktates, die Bürger von diesem »Irrwege« abzubringen und sie »auff die rechte Bahn« zu leiten sowie daran zu erinnern, »dass die höchste Macht nicht bey einem/ sondern bey vielen bestehe«.113 Die negative Skizzierung des Lebens am Hof und des monarchischen Staatsapparates, der von Intrigen und Willkür dominiert wird, von eigennützigen Beamten korrumpiert ist und durch einen von den vielen und vielfältigen Aufgaben überforderten König nicht kontrolliert werden kann, gibt deutlich zu verstehen, wie verkehrt und gegen die menschliche Natur die Monarchie als Regierungsform ist und wie sehr durch sie die Entwicklung des Staates gehemmt oder gar verhindert wird.114 Die republikanische Regierungsart hingegen entspreche nicht nur der Natur des Menschen und trage der natürlich gegebenen Freiheit und Gleichheit Rechnung, sondern sei zudem von Gott gegeben: Hat deßwegen die Freyheit und die Herrschaft der Gesätzen nicht nur die Natur und Vernunfft/ sonder auch Gott den Herren selbs zum Fundament; die Königliche Regierung aber allein die Menschen/ und zwar nur die verkehrten. Die Freyheit ist eine Guthat; der Königliche Gewalt aber ein Straff Gottes […].115
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im 17. Jahrhundert und ist gegen die Statthalter-Regierung des Hauses von Oranien gerichtet (vgl. Kempe; Maissen (2002), S. 115f. und Maissen (1998), S. 146). – Rahn verweist in der Vorrede seiner Übersetzung auf den Nutzen der holländischen Schrift auch für die Schweiz: »[…] es werde der Freyheits=begierigeLeser bey gegenwärtigenLand und Leuth zerstörlichenWelt=begegnussen/ darauß einen und anderennach=richtlichenNutzen zu schöpffenwissen.«(Schele (1678), unpag.). Es geht also nicht nur um das Lob der holländischen, sondern auch um das Lob der schweizerischen Freiheit. Schele (1678), S. 1. Ebd., S. 2. Ebd., S. 2f. Ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 37ff. Ebd., S. 119.
113 Scharf werden die beiden Regierungsformen in Opposition zueinander gesetzt, was als Ausdruck des historischen niederländischen Kontextes zu verstehen ist (vgl. oben). Einzig die Republik erscheint als natürlicher Hort der Gerechtigkeit, in dem für alle Bürger dieselben Gesetze gelten und auch angewandt werden. Entsprechend wird im Traktat die Gerechtigkeit als »Göttliche/ dem menschlichen Geschlecht verliehene Gabe« charakterisiert,116 die zum Wesen des Menschen gehöre und »aller Dinge Gewalt-haberinn« sei.117 Weil alle Menschen dieselbe Natur haben, haben auch alle Menschen dieselben Rechte; die Gerechtigkeit wird somit neben Gott zum »Ursprung und Erhaltung aller Dingen«.118 Scheles Charakterisierung der Republik findet sich auch in Bodmers Glückseligem Land, in dem mit den Eigenschaften Gottseligkeit, Vernunft und Gerechtigkeit allerdings keine (republikanische) Regierungsform, sondern der (hypothetische) Naturzustand beschrieben wird. Zu Beginn seiner Ausführungen hatte Bodmer, über Pufendorfs Beschreibung hinausgehend, explizit die Gerechtigkeit zu einem wesentlichen Merkmal des Naturzustandes erhoben, was als Folge der (Zürcher) republikanischen Diskussionen und Überzeugungen zu verstehen ist. Bodmers Naturzustand erweist sich somit republikanisch geprägt. In seinem Discours trägt auch Bodmer die seit etwa Mitte des 17. Jahrhunderts zu einem Topos des republikanischen Diskurses avancierte Monarchiekritik – mit derselben Vehemenz und Argumentation wie Rahn in seiner Übersetzung von Scheles Traktat – vor: Ich sage noch einmahl, es ist wider die natur, daß das gouvernement einer welt Volck von einer einzigen familie dependire, in welche die authoritet auf schwert und spielseithe erblich ist, u. ohne regard der Tugend u. Capacitet vom Vatter zu Sohn gehet.119
Die Ablehnung der (Erb-)Monarchie gründet in der (ursprünglich römisch-antiken) Bestimmung der Republik als Staat, in dem »Tugend und Capacitet« oder »Meriten«, d.h. das Verdienst, das man sich durch seine Handlungen für die Allgemeinheit erworben hat, über die Machtposition innerhalb des Staates entscheidet.120 Die Herrschaft in der Monarchie basiert hingegen in der einmal eingeführten Tradition der Machtvererbung vom Vater an den Sohn, der sich jedoch nicht durch tugendhaftes, das Wohl der Gemeinschaft beförderndes Verhalten ausgezeichnet hat: »Es ist ein sohn verhanden, dem falt das erb heim. Hat er verdienste, 116 117 118 119 120
Ebd., S. 15. Ebd., S. 16. Ebd. Bodmer (GL), S. 207. Vgl. allgemein zur Aufnahme des antiken Staatsdenken in der Schweiz Franc¸ois de Capitani: Die Antike im schweizerischen Staatsdenken des 18. Jahrhunderts. In: Giddey (1982), S. 217–237.
114 erfahrenheit, Muth? Weniger als nichts. Es ist sein vätterlich erb.«121 In Scheles Traktat wird bemängelt, dass Monarchen ohne erworbene Verdienste an die Macht gekommen seien, und kritisiert, dass sich ihnen das Volk jeweils freiwillig und ohne vernünftige Gründe unterordnete. Hiermit greift Schele ein Argument aus Ciceros De re publica auf:122 Dann wir sehen/ wie gantze Völcker und Nationen/ ohn einige sonderbahre und rechtmässige Ursach/ und vielmehr auß einer aberwitzigen unvernünfftigen Wahnsinnigkeit/ sich der Bottmässigkeit einer eintzigen Person undergeben; so viel Tausend bewaffneter einem schwachen unbewehrten; so viel dapffere Männer einem Jüngling/ja bißweileneinem vermessenen/ frächen/ unerfahrnenGesellen: Solchem mit gebogenen Knien und nidergeschlagnem Haubt zuschmeicheln/ ihne alß einen Gott zuverehren/ und von ihme alle wolfarth gewärtig zuseyn; gleich alß wan ihne die Natur und Tugend/ nicht aber eine durchgehende und einmüthige Thorheit und Wahnsinnigkeit williger Sclaven/ zu solchem hohen Ansehen/ Macht und Würde beförderet hatte.123
Die moralische Verurteilung eines Volkes, das sich einem Regenten unterwirft, liest sich gleichzeitig als der republikanische Versuch, die monarchische Staatsform in ihrem Ursprung zu erklären: Weil das Volk meint, jemand sei tugendhaft und verdienstvoll, überlässt es ihm die Herrschaft. Ein ähnliches Erklärungsmuster für die Entstehung der Monarchie findet sich auch in Bodmers Discours: Wie sich aber einige derselben resolviren könen, in so weit sich von der freyheit zubegeben, daß sie sich die caprice eines einzigen man[n]es aus ihrem mittel regieren laßen, das kan ich nicht begreiffen. Vil 1000. Seelen hengen ihr Wol und ihr Weh an das gefallen eines individui. Ihre schäze, güter, leib und leben überlaßen sie seiner disposition. Ist er von einer höhern natur als die andern? Hat ihm der Himel einen fertigern geist, einen penetrantern verstand bescheeret, weder andern leüthen? Er hat sich wider gewiße aufrührische feindseelige burger, welche zusammengeschwohren hatten, ihr Vatterland zu unterjochen so heldenmüthig erwiesen, daß ihm seine mitburger aus erkentlichkeit auf den plaz erhoben haben, auf welchen die ambition die landesverräther, die er erleget hat, sich [hat] hinaufschwingen wollen. Die so liebe freyheit, vor welcher er und seine mitburger noch vor kurzem so blutige und ½ tödliche Wunden empfangen, […] wird ihm und seinen nachkindern verpfändet; die burger belieben schloß und steüern zuhaben: eine auflage nach der anderen: Jederman contribuirt, diesen einzigen Men. glückseelig zumachen: man bauet ihm die prächtigste palläste: man leget ihm eine grosse Hoffstadt zu: viel regimentertrabanten,ganze trouppesleibdiener.Er sizet auf dem thron […]. glückseelig! wem erlaubt ist, sein angesicht zuerblicken. Redet er, wincket er, nach gnädigstem belieben: alles ist in bewegung, man laufft, man renet, man empressirt sich, man spedirt, man rapportirt.124
Bodmer bemüht sich – anders als Schele –, die Entstehung der Monarchie plausibel nachzuvollziehen bzw. nachvollziehbar zu machen. In Zeiten der Gefahren habe ein Einzelner besondere Verdienste erworben, weil er 121 122 123 124
Bodmer (GL), S. 207. Vgl. Cicero: De re publica, 1, 34, 51. Schele (1678), S. 25f. Bodmer (GL), S. 207.
115 sein Vaterland tugendhaft verteidigt habe. Deshalb habe ihm das Volk die Macht in die Hände gelegt. Wieso das geschehen konnte, ist für Bodmer aber letztlich genauso unverständlich wie für Schele. Die aus heutiger Sicht etwas karikierend und übertrieben erscheinende Darstellung der Monarchie im obigen Zitat zeigt an, dass Bodmer in generalisierender Weise von der Eigenart der schweizerischen republikanischen Verfassung spricht, der er eine ebenfalls verallgemeinerte Skizze der Monarchie gegenüberstellt. Was dabei auf der einen Seite negativ geschieht, wird auf der anderen Seite positiv vollzogen: der Karikatur wird die Idealisierung entgegengestellt. Analog zu Scheles Traktat, in dem das Lob der Republik mit der Kritik an der Monarchie gemeinsam auftritt, ist auch Bodmers positive Darstellung der vaterländischen »Republica« gepaart mit der negativen Zeichnung der Monarchie, was Maissens These von der antimonarchischen Wende des republikanischen Diskurses bestätigt. Bodmer versteht, wie die Ausführungen gezeigt haben, unter »Republik« eine demokratisch-aristokratische Mischverfassung: Die Bürger besitzen ein demokratisches Mitspracherecht (im Kriegsfall, bei Bündnissen und bei Steuerfragen) und können bei entsprechenden Verdiensten um die Gemeinschaft durch Wahl ins herrschende Regiment gelangen.125 Keine Beteiligung an der Herrschaft hat das Volk jedoch in der Monarchie, weshalb sich Republik und Monarchie durchaus auch als reale Feinde in der politischen Praxis und nicht nur als konträre Staatsformen in der politischen Theorie gegenüberstehen: Ich habe oben gesagt, daß die erste gesellschafften und bündniße gemachet worden, die ruhe und sicherheit wieder herzustellen, welche von dem mächtigern und reichen war unterminieret und gebrochen worden. Diese unverlezet zuerhalten ist auch die einige bemühung unsererRepublica.Wan die Comercia offen bleiben,wan die landeskinder ihr stuck brodt zueßen habe, wan kein feind durch unsere gränzen streichet, und der bauer in sicherheit sein feld bepflugen kan etc. so verlangen wir nichts weiters. Wir haben keine so unatürliche [sic] ambition die anzahl unserer unterthanen zuvermehren, u. uns frey gebohrne leüthe zu Sclaven zumachen, u. friedliebende Städte mit Heeresmacht zuüberzeühen. Unsere größte sorgfalt ist die einigkeit und den güldenen frieden inert unseren gränzen zuernehren, wir gehen niemahls offensive, wir werden dan gereizet.126
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Maissen verweist darauf, dass sich der Begriff ›Republik‹ erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als von offizieller Seite akzeptierte und auch selbst von der Obrigkeit verwendete Bezeichnung durchsetzt (Maissen (1998), S. 173ff.). Während sich etwa die Bündner aufgrundihrer tatsächlichdirektdemokratischregiertenGemeinden rasch als Republiken bezeichneten, dauerte es gemäß Maissen in den städtischen Oligarchien (wie etwa Zürich) länger, weil dort wegen der demokratischen Konnotation des Begriffs Republik innenpolitische »Konfrontationen« befürchtet wurden (ebd., S. 174). Bodmer (GL) S. 208.
116 Die Aggressoren, welche die ›schwache‹ Menschheit ehemals dazu zwangen, den Naturzustand zu verlassen und sich in Gemeinschaften zu organisieren, werden hier als »Mächtige und Reiche« bezeichnet, die für Bodmer auch in seiner Gegenwart noch existieren: Während das Vaterland, »unsere Republica«, darum bemüht sei, den Naturzustand zu bewahren, wird es von den (neuen) Mächtigen und Reichen – den Monarchien – bedroht, welche die Schweizer zu Sklaven machen möchten. Wo die Monarchie ihrer ›unnatürlichen‹ Natur gemäß Kriege führt und die Freiheit bedroht, sorgt sich die Republik nur um ihre Freiheit und geht aus diesem Grund Bündnisse ein;127 Eroberungskriege führt sie wie die Nymphenund Schäfergesellschaft nicht. Aufgrund der negativen Charakterisierung der Monarchie als unnatürliche und sich untugendhaft aufführende wirtschaftliche Macht, die sie in Eroberungskriegen zu vergrößern anstrebt, erstaunt die Tatsache, dass es auch für die Republica von Bedeutung ist, Handel (»comercia«) betreiben zu können. Kempe/Maissen haben in ihrer Studie zu den Zürcher Sozietäten am Ende des 17. Jahrhunderts nachgewiesen, dass in diesen Gesellschaften auch über merkantilistische Fragen debattiert wurde und der Handel dabei durchaus positiv gewürdigt wurde: »Zürich verdanke seine Blüte den ›commercia‹, die auch die Gerechtigkeit beförderten, denn wo sie fehlten, herrschten Müssiggang, Schuldenwirtschaft, Betrug, Streit [und] Bestechung«.128 Und auch in dem von Rahn übersetzten Freiheitstraktat wird die holländische Kaufmannschaft gelobt, weil diese für Wohlstand und Freiheit nicht nur in den Generalstaaten selbst, sondern auch in den Ländern der Handelspartner sorgen würden.129 Das Handelsgebaren der Zürcher bzw. Niederländer wurde in den Sozietäten stets als »fried- und massvoll« taxiert, das in Opposition zum »sinnlosen Wüten der ehr- und herrschsüchtigen Monarchen« stehe.130 Neben der Monarchiekritik, dem Lob des Vaterlandes und dem Aufruf an die Bürgerschaft, Kriegsdienste zu leisten, schließt sich Bodmer also auch mit der positiven Würdigung des Handels an die zeitgenössischen, schweizerischen (und Zürcherischen) patriotischen Diskurse an.131 127
128 129 130 131
Nach Pufendorf stehen innerhalb einer Republik im Sinne eines Zusammenschlusses verschiedener Gesellschaften die jeweiligen »Cörper« miteinander im Naturzustand, wenn bzw. weil es keinen gemeinsamen »Ober-Herren« gibt. Weil somit die verschiedenen Gesellschaften einer Republik nicht in einem Herren-UntertanenVerhältnisstehen, besitzt eine solche Republik die »natürlicheFreyheit«(Pufendorf (BNV), 2.2.4.). Wenn Bodmer also die Eidgenossenschaft als Republik begreift, so befinden sich ihre einzelnen Orte gegenseitig im Verhältnis des natürlichen Standes. Kempe, Maissen (2002), S. 242f. Vgl. Schele (1678), S. 168. Kempe, Maissen (2002), S. 146. Gegen Mitte des 18. Jahrhundertswandelte sich das positiveBild der Handelsschaft bei Bodmer (und seinen Schülern); vgl. dazu Kap. 3.3.
117
2.4
Die Funktion der Literatur
Bodmers nicht publizierter Discours ist durch die zeitgenössischen politischen Diskussionen in Zürich geprägt, was sich auch in der Struktur seines Textes manifestiert. Dominierend ist die Opposition zur Monarchie, die zu einer lobenden Darstellung der eidgenössischen Republik führt. Bodmers Ausführungen changieren zwischen den Debatten der Realpolitik und Pufendorfs Naturzustandslehre, die ab 1724 auch Grundlage im Naturrechtsunterricht am Zürcher Collegium Carolinum wurde und von Bodmer in den 1740er Jahren in seinem politischen Unterricht ebenfalls benutzt wurde.132 Einerseits wird der Naturzustand republikanisch dargestellt, andererseits wird die Republik als Naturzustand geschildert. Die Bürger dieses ›hybriden Staates‹ zeichnen sich dadurch aus, dass sie den christlichen Glauben und Vernunft besitzen, Gerechtigkeitsliebe und Tugenden (wie etwa die Bereitschaft für das Vaterland zu sterben) haben und von sich aus bestrebt sind, die Wohlfahrt aller zu befördern; entsprechend führen sie auch gegen andere Staaten keinen Angriffskrieg, um diese zu unterjochen.133 Unter den ökonomischen Voraussetzungen der gesicherten Ernährung und des offenen und florierenden Handels ist es die Zielsetzung des Staates und seiner Bürger, die Ruhe, die Sicherheit, die Einigkeit, die natürliche Freiheit und den »güldenen Frieden« innerhalb der Grenzen zu erhalten und zu befördern und somit die Nähe zum Naturzustand zu wahren. Durch diese Charakteristik erweist sich das Vaterland als weitgehend identisch mit dem Staat der Schäfer und Nymphen. Die Differenz zwischen den beiden ›Staatsbeschreibungen‹ besteht darin, dass sich die Vaterlands-Skizze an aktuelle, republikanisch-patriotische Erörterungen anschließt, die Schäferidylle sich in die literarische Tradition der Schäferdichtungen einreiht. Das wirkt auf die Art und Weise der jeweilige Darstellung determinierend: das Glückselige Land präsentiert sich als politische und staatstheoretische Beschreibung, die den Leser für seine Bürgerpflichten und sein Vaterland zu begeistern sucht; die Schäferidylle erscheint durch das Zitie132
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Vgl. Nabholz (1938), S. 76, vgl. zu naturrechtlichen Diskussionen in den Zürcher Sozietäten des späten 17. Jahrhunderts Michael Kempe: Republikanismus und Naturrecht. Selbstaufklärung um 1700 im ›Collegium der Wohlgesinnten‹ in Zürich. In: Böhler, Hofmann, Reill, Zurbuchen (2000), S. 183–204. Um Bodmers Anschluss an die bestehenden Diskussion noch einmal zu verdeutlichen, sei (erneut) auf Kempe/Maissen und ihre Rekonstruktionder republikanischpatriotischen Erörterungen in den Zürcher Sozietäten verwiesen: Im Collegium der Wohlgesinnten wurde etwa auch darüber gesprochen, dass durch Tugenden, wie »Unschuld, Aufrichtigkeit, Grossmut, Frömmigkeit und ungebrochene Treue« (Kempe, Maissen (2002), S. 238), »demütig und friedlich die Früchte der Freiheit« genossen werden sollten und der »Staat durch Gerechtigkeit und Tapferkeit« gestärkt und »Gott für Schutz und Führung« gedankt werden sollte (ebd.).
118 ren vieler antiker Motive als (scheinbar) realitätsferner Traum und literarische Hommage an den Dichter Opitz, die bloß unterhalten will. Inhaltlich decken sich die beiden Beschreibungen jedoch: Auch bei den Nymphen und Schäfern ist die ökonomische Situation, die Nahrungssicherheit aller, Teil der Voraussetzungen ihres gesellschaftlichen Zustandes. Wahrheit, Weisheit, Redlichkeit, Treue, Gerechtigkeit und Mäßigung sind bei ihnen gleichzeitig die individuellen Tugenden und gesellschaftlichen Richtlinien, über die jeder von Natur aus verfügt und nach denen auch jeder lebt, wodurch Ruhe, Gesundheit, Zufriedenheit und Freiheit hergestellt und erhalten bleiben. Konsequenterweise ist der Nymphenund Schäferstaat – wie der eidgenössische im Vaterlands-Discours – auch nicht daran interessiert, Eroberungskriege zu führen. Während die Nymphen und Schäfer ihre Einfalt bewahrt haben und somit noch im verfassungslosen Naturzustand leben, mussten die Eidgenossen diesen verlassen, haben sich aber diejenigen Tugenden bewahrt, die sie (wie die Nymphen und Schäfer) bereits im Naturzustand hatten. Die Gesellschaft aus dem Discours Reich der Freude erweist sich somit als republikanische Schäferei, die sich nur deshalb noch im Naturzustand befindet, weil sie, anders als die zeitgenössische republikanische Schweiz, keiner Bedrohung durch die Monarchie ausgesetzt ist. Der vermeintlich nur literarische Traditionen aufgreifende und diese auf Zürich adaptierende Discours von 1722 artikuliert republikanische Gesellschaftsvorstellungen und erweist sich damit als politischer Discours. In Form der literarischen Fiktion wird ein Idealbild entworfen, das letztlich dieselbe Funktion wie der Vaterlands-Discours hat: die patriotische Begeisterung beim Leser zu wecken. Die Gegenüberstellung der beiden Discourse hat somit verdeutlicht, dass die vermeintlich apolitische Schäferidylle nicht bloß nur literarische Topoi aufgreift, sondern auch von politischen Theorien und Überzeugungen untermauert ist: Die republikanischen Ansichten werden nicht in Form von gelehrten Traktaten dem Leser vermittelt, sondern in Form einer »vergüldeten oder verzuckerten Pille«: der Literatur. Die sich in dem Reich der Freude ausdrückende Überzeugung, dass Tugenden als Grundlage einer Gesellschaft anzusehen seien und bei einer strikten Befolgung dieser Tugenden Gesetze irrelevant und durch diese ersetzt werden könnten, lässt die Thematisierung der Tugenden und Laster in den Discoursen der Mahlern in einem neuen Licht erscheinen. Die Diskussion moralischer Fragen ist letztlich eine politische Diskussion. Folglich ist auch das Bild, das Hans Bodmer, Brandes und VolzTobler in ihren Erörterungen zu den – in ihren Augen – apolitischen Zürcher moralischen Wochenschriften zeichnen, zu korrigieren.134 In den 134
Volz-Tobler attestiert erst der von Bodmers Schülern verfassten und zwischen 1765 und 1767 herausgegebenenWochenschriftDer Erinnerer»eindeutigpolitische
119 Discoursen der Mahlern werden Tugenden und Laster aufgrund eines republikanischen Staatsverständnisses und des entsprechenden Gesellschaftsbildes behandelt. Auch Vollhardt hat gegen Wolfgang Martens’ These,135 wonach in den moralischen Wochenschriften politische bzw. naturrechtliche Fragestellungen kaum erörtert würden,136 Einwand erhoben und dessen Aussage »nur oberflächlich gesehen« Richtigkeit attestiert.137 Wie dargelegt, haben die Discourse der Mahler einen politischen Gehalt, der sich aber vielfach nicht nur aus poetologisch-ästhetischen Gründen nicht direkt zu erkennen gibt, sondern sich auch aus Zensurgründen einer »gewissen Camouflage« bedienen muss,138 wie sich etwa im Traum vom Nymphen- und Schäferstaat zeigte. Die politische Funktion der Wochenschrift und damit auch im weitesten Sinne der Poesie drückt sich auch in der 1746 erschienenen Neuauflage der Discourse der Mahlern als Mahler der Sitten aus. Neben kleineren stilistischen Korrekturen, die hauptsächlich in der Tilgung von französischen Ausdrücken bestehen, nimmt Bodmer in der Neufassung des Discourses eine signifikante Veränderung vor, welche die Genese des Nymphenstaates anders als 1722 erläutert: Diese Gegend, welche dir so blühende und abwechselnde Scenen und Aeckern, Auen und Hügeln vor die Sinnen stellet, […] ist der anmuthige Aufenthalt, welchen d i e P o e s i e, eine Tochter der Unschuld,die ihren Ursprung von dem Himmel hat, einem kleinen Haufen Mensch von ihren Günstlingen angewiesen hat.139 Dieses [die Nahrung; J. R.] sind die geringsten Gaben, die wir v o n d e r Po e s i e haben, sie verschwendet uns noch andere, die sie von ihrer himmlischen Mutter, der Unschuld, empfängt, die Freyheit, die Ruhe, die Gesundheit, die Mässigkeit, die Zufriedenheit, die Wahrheit, die Weisheit. Als die Redlichkeit, die Treue und die Gerechtigkeit von der rauhen Erde nach dem Himmel eilten, hat sie dieselben auf unsern Gräntzen aufgehalten, und zu uns geführt.140
Die Entstehung der harmonischen Gesellschaft wird 1746 nicht mehr wie 1722 der »Glückseligkeit«, sondern der Poesie zugeschrieben. Die Poe-
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Bezüge« (Volz-Tobler (1997), S. 78), wobei sie darauf verweist, dass der Erinnerer »mittels des Tugenddiskurses einen indirektenpolitischenDiskurs« (ebd.) betreibe. Dieser indirekte politische Diskurs findet sich bereits in den Discoursen der Mahlern. Volz-Toblerberuft sich in ihrer Argumentation ausdrücklich auf Martens’ Darstellung; vgl. Volz-Tobler (1997), S. 78. Vgl. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968, S. 325 und S. 331f. Vollhardt (2001), S. 218. Ebd., vgl. hierzu auch Kap. 1.2. Bodmer (MS, I), S. 75 (Hervorhebung J. R.). – 1722 hieß es: »Diese Gegend/ welche dir so blühende und abwechselnde Szenen von Aeckern/ Auen und Hügeln vor die Imagination stellet/ […] ist der anmuthige Aufenthalt/ welchen die G l ü c k s e l i g k e i t, eine Tochter der Tugend/ die ihre Abkunfft von dem Himmel hat/ einer kleinen Trouppe Menschen von ihren Favoriten angewiesen hat.« (Bodmer (DM, II), S. 7). Bodmer (MS, I), S. 77 (Hervorhebung J. R.).
120 sie ist nun die Führerin der Menschen zum ›goldenen‹ Zustand. Während 1722 die Skizzierung der idealen Gesellschaft gemäß den Vorstellungen der christlichen Ethik erfolgte, manifestiert sich 1746 insofern die von Brandes festgestellte Säkularisierung, als nun das praktische, ›weltliche‹ Mittel zur Erlangung dieses Gesellschaftsideals betont wird. Die ursprünglich zweistellige Relation, wonach sich für den Menschen dann die Glückseligkeit (1) einstellt, wenn er tugendhaft (2) lebt, verwandelt sich nun in eine dreistellige: die Glückseligkeit (1) erreichen die Menschen durch Literatur (2), die aus der »Unschuld« (3) entsteht. Nicht jede Literatur hat also dieses glückselig machende Vermögen, sondern nur die unschuldige Literatur, wie sie etwa Opitz verfasst hat. Aus der Rede von der »Unschuld« als Mutter der Poesie, die die Tugend als Mutter der Glückseligkeit abgelöst hat, ergeben sich weitere Implikationen: 1722 ist die Tugend die Voraussetzung der Glückseligkeit, die gemäß des reformiert-christlichen Glaubens jedoch tatsächlich erst im Jenseits vollkommen erreicht werden kann. Mit Blick auf das menschliche Individuum erscheint die Tugend somit als zeitlose und lebenslang gültige »handlungsorientierende Norm«,141 die der Mensch zeitlebens zu erreichen und zu erfüllen sucht. Die Ersetzung der Tugend durch die Unschuld weckt Assoziationen, die den Fokus von der Natur des Menschen als Einzelwesen hin auf einen früheren Zustand in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft lenken, in dem diese die Unschuld oder Einfalt besaß: auf das goldene Zeitalter, auf den Naturzustand und auf das Paradies.142 Durch den Blick auf diese ›historischen‹ Gesellschaftsformen – Baudach verweist darauf, dass der Mythos der goldenen Zeit »als gesellschaftlicher Zustand« zu verstehen sei –143 rückt die christliche Ethik etwas in den Hintergrund und wird von antiken und naturrechtlichen Vorstellungen überlagert. Dadurch verwandelt sich das statisch-anthropologische Menschenbild in ein dynamischsoziologisches Modell: Die menschliche Natur erscheint in dieser Perspektive nicht durch zwei Zustände, die natura integritatis des Menschen vor dem Sündenfall und die natura corrupta ac depravata nach dem Sündenfall, gekennzeichnet, sondern besitzt nur einen Zustand, die natura integritatis im Sinne des Naturzustandes. Dieser menschliche Gesellschaftszustand kann sich durchaus verändern und verschlechtern, kann aber auch, anders als die Natur des Menschen nach dem Sündenfall,
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Frank Baudach: Planeten der Unschuld, Kinder der Natur. Die Naturstandsutopie in der deutschen und westeuropäischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1993 (Hermaea. Neue Folge, 66), S. 48. Vgl. zu den Gemeinsamkeiten des antiken Mythos und der christlichen Paradiesvorstellungen ebd., S. 46ff. Ebd., S. 53.
121 bereits im Diesseits wieder korrigiert und gebessert werden.144 Das Mittel zur Behebung des schlechten gesellschaftlichen Zustandes und das Mittel zur Errichtung des idealen Gesellschaftszustandes ist für Bodmer seit den 1740er Jahren die Poesie. Der Literatur schreibt er nun eine grundlegend politische, weil gesellschaftskonstituierende Funktion zu. In seiner Critischen Dichtkunst hatte Breitinger die Poesie als ein »Geschencke des Himmels« bezeichnet, das als »köstliches Werckzeug« diene, »Wahrheit und Tugend« einzuführen und das »Laster« zu verjagen.145 Genau diese Bestimmung manifestiert sich auch in dem Zitat aus dem Mahler der Sitten: Durch die Poesie werden die Tugenden im Staat der Nymphen eingeführt und gleichzeitig die Laster aus dem Staat ferngehalten. Dem aufklärerischen Dichtungspostulat des prodesse et delectare Folge leistend, bestimmt Breitinger wie Bodmer die Aufgabe der Poesie mit der Beförderung der Glückseligkeit des Menschen: Nun verdienet aber dasjenige den Nahmen eines wahren Ergetzens nicht, dessen Genuß den Menschen seiner Würde entsetzet, und ihn von der wahren Glückseligkeit entfernet; folglich muß das Ergetzen, welches die poetische Kunst gewähren kan, den Menschen zur Beobachtung der natürlichen, bürgerlichen und christlichen Pflichten aufmuntern, und also seine Glückseligkeit zu befördern dienen. Der Poet ist derowegen alleine darinne von dem Weltweisen, dem Sitten= und dem Staats=Lehrer unterschieden, daß er diejenigen moralischen und politischenWahrheiten, die das Gemüthe zum guten lenckenkönnen, auf eine angenehm=ergezende, allgemeine und sinnliche Weise vorstellet.146 144 145
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Das deckt sich mit Bodmers Ansichten zum National-Character; vgl. Kap. 1.3. Alle Zitate Breitinger (CD, I), S. 105. Das Zitat im Zusammenhang: »Derowegen muß ich die Poesie nicht nur als eine Kunst betrachten, die in der Nachahmung bestehet, sondern als ein Geschencke des Himmels, und ein köstliches Werckzeug, dadurch Wahrheit und Tugend eingeführet und das Laster verjaget wird. Und diesemnach muß ein Poet in der Wahl seiner Materie nicht alleine auf das Wahre und Neue sehen, und es ist nicht genug, daß seine Vorstellungen natürlich und wunderbar seyn, sondern sie müssen auch ehrbar und nützlich seyn; hiemit müssen sie die Erleuchtung des Verstandes und die Besserung des Willens zum Zwecke haben; an welchen beyden Stücken die Glückseligkeit des menschlichen Lebens einig hängt, und ohne welche kein wahrhaftesund eigentliches,vernünfigenGeschöpfenanständiges Ergetzen statt haben kan.« (Breitinger (CD, I) S. 105f.). Ebd., S. 102f. – Die Fortsetzung des Zitats lautet: »Also ist auch kein Zweifel, daß nicht die Dicht=Kunst um so viel höher zu schätzen, und vor vollkommenerzu achten sey, jemehr sie zu der Glückseligkeit der Menschen beyträgt. Wenn nun dieselbe nicht alleine durch das Ergetzen einer geschickten Nachahmung belustigt, sondern auch das Gemüthe durch das Nützliche verbessert, so hat sie ihre grösseste Vollkommenheit erreicht:Omne tulit punctum qui miscuit utile dulci. [Zitat aus Horaz: Ars poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort herausgegeben von Eckar Schäfer. Stuttgart 1998, V. 343; J. R.] Folglich muß ein Poet, der das höchste Lob erlangen will, sich einig darauf befleissen,daß er zwar hauptsächlich ergetze, aber zugleich auch dadurch Nutzen schaffe. Die Poesie ist zu allen Zeiten von vernünftigen Kennern vor eine Lehrerin der Weißheit und Tugend und vor eine Fördererin der menschlichen Glückseligkeit angesehen worden […].« (Breitinger (CD, I), S. 102f.).
122 Als Mensch, als Bürger und als Christ hat der Mensch bestimmte Pflichten (die Breitinger allerdings nicht näher erläutert), deren Befolgung den Menschen zur Glückseligkeit führt; Aufschlüsse über seine Pflichten erhält der Mensch nicht nur durch den akademischen Unterricht, sondern auch durch die Poesie. Auch wenn Bodmer und Breitinger die Ansicht teilen, dass der Poesie eine wichtige Funktion für die Gemeinschaft zukommt, so differieren sie doch in der Frage nach dem Ausmaß dieser Funktion. Während Breitinger die Funktion der Literatur mit derjenigen der anderen Künste und Wissenschaften vergleicht und diese hinsichtlich ihrer Zwecksetzung alle auf dieselbe Ebene stellt,147 hält Bodmer die Wirkung der Literatur für weitaus größer. Entschieden wehrt sich Bodmer in den Critischen Betrachtungen deshalb gegen eine Poesie, die sich selbst nur als vergnügliche Nebensächlichkeit versteht. Einerseits, so Bodmer, gebe bereits die Tatsache, dass er ein »gantzes Werck« – seine Critischen Betrachtungen – über die poetischen Gemälde verfasse, zu verstehen, wie groß seine »Hochschätzung« der Poesie sei,148 andererseits entspreche eine Poesie, die nur als »ergötzliche[r] Zeitvertreib« und nicht als »nützliches Hauptwerck« betrieben werde,149 nicht dem Wesen der wahren Literatur: In den Zeiten jener weltberühmten Griechischen und Lateinischen Dichter war der Rang eines Poeten in so grossem Ansehen, und diese Kunst ward so hoch geschätzet, daß sich nicht zu verwundern ist, daß die geschicktesten Köpfe alle ihre Bemühungen auf dieselbe gewandt, und sie als das wichtigste Hauptwerck mit allem Ernst getrieben haben, alldieweil sie als Lehrer des menschlichen Geschlechts, die ihren Unterricht von den Göttern selbst empfangen hätten, verehrt wurden. […] In unsern Tagen ist man gantz anderst gesonnen.Unsere deutschen Poeten haben von der Würde ihrer Kunst keine höhere Gedancken, als daß sie solche in ihren öffentlichen Schriften als eine brodlose Kunst ausgeben, und für ein blosses Nebenwerck halten, in so weit, daß sie behaupten dörffen, der geringste Handwercksmann, der sein Handwerck wohl versteht, leiste dem gemeinen Wesen mehr nützliche Dienste, als der beste Poet.150 147
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Alle »Künste und Wissenschaften« sollen nach Breitinger »zu der Beförderung der menschlichen Glückseligkeit […] gebraucht werden, […] gleichwie in der That die edleren Künste durch das Ergetzen den Wohlstand des Gemüthes, die mechanischen Künste aber die Vollkommenheit des äusserlichen Zustandes suchen«. (Ebd., S. 101). Bodmer (PG), S. 142. Ebd., S. 143. Bodmer (PG), S. 22f. – Bodmer scheint hier den kritischen Bericht von Benjamin Neukirch(1665–1729) über die deutsche Poesie aufzugreifen,der in der Vorredezur mehrbändigen Anthologie Auserlesener Gedichte die Rückständigkeit der deutschen Poesie darauf zurückgeführt hatte, dass sie nicht mit demselben Ernst wie ein »handwerck« betrieben werde (Benjamin Neukirch (Hg.): Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschenauserlesenerund bisher ungedruckterGedichte. Erster Theil. EA 1697. Nach einem Druck vom Jahre 1697 mit einer kritischen Einleitung und Lesarten herausgegeben von Angelo George de Capua, Ernst Alfred Philippson. Tübingen 1961 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, Neue Folge 1), S. 6). – Damit äußerte Bodmer Kritik an Albrecht von Haller, der sich im Vor-
123 Ihre Rolle als »Lehrer des menschlichen Geschlechts« müssen die zeitgenössischen Dichter zwar erst noch finden, dann aber könnten sie weit mehr leisten als die mechanischen Künste. Hiermit markiert Bodmer deutlich, dass er die Aufgaben und Funktion der Literatur weit radikaler verstand als seine Zeitgenossen: Noch Gottsched hatte 1730 in der Vorrede zu seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst den frühaufklärerischen Topos angeführt, der die Kunst zur Nebensache erklärte: »Da ich übrigens die Poesie allezeit vor eine Brodtlose [sic] Kunst gehalten, so habe ich sie auch nur als ein Neben-Werck getrieben, und nicht mehr Zeit darauf gewandt, als ich von andern ernsthafftern Verrichtungen erübern können.«151 Für Bodmer hatte die Kunst hingegen eine ganz andere Bedeutung, die an diejenige heranreicht, die etwa Friedrich Schiller (1759–1805) oder die jungen Romantiker im Tübinger Stift Jahre später artikulierten. Ähnlich wie Schiller in Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen einzig der Kunst das Vermögen zuschrieb, die Nation zu erneuern und die Menschheit zur Glückseligkeit zu führen (vgl. Kap. 4.1), so versprachen sich auch Friedrich Hölderlin und seine Freunde im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus von 1795/96 eine Neuordnung der menschlichen Gesellschaft durch die Poesie, wodurch diese – und hier scheinen sie Bodmers Formulierungen aufzugreifen – wieder eine »höhere Würde« bekomme und »am Ende wieder [werde], was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit «.152 Auch Johann Gottfried Herder (1744– 1803) verband mit der Dichtkunst ähnlich große Hoffnungen und pries (etwa in seiner Abhandlung von 1777/81 Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten) den prophetischen Dichter, der die Rolle des politischen Führers einzunehmen verstehe.153 Diese Überzeugung stellte Bodmer literarisch in seinem 1746 überarbeiteten Discours Reich der Freude dar,154 in seinem Lexikonar-
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bericht seines berühmten Alpen-Gedichts bloß als Gelegenheitsdichter apostrophiert hatte; vgl. Albrecht von Hallers Gedichte. Herausgegeben und eingeleitet von Ludwig Hirzel. Frauenfeld 1882 (Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz und ihres Grenzgebietes, 3), S. 20. Gottsched (CD, II), S. 404 [Vorrede zur Erstausgabe 1730]. Vgl. zu diesem Autorenverständnis, aus dem heraus die Autoren ihre Werke vielfach als »Versuche« deklarierten Christoph Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung. Stuttgart 1974 (Germanistische Abhandlungen, 43), S. 232. Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, hier zit. nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften.Frankfurt 1971, S. 234ff., hier S. 235 (Hervorhebung im Original). Vgl. Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum, 1774–1787. Hg. v. Jürgen Brummack, Martin Bollacher. Frankfurt 1994, S. 171, S. 185 u. S. 212. Vgl. auch: »Und weil diese Eindrücke [die man als Leser bei der Lektüre gewinnt, J. R.], wenn sie auf das Gute gelencket werden, zur Beförderung der Glückseligkeit
124 tikel Politisches Trauerspiel von 1774 wird er diese Gedanken erneut aufgreifen: Die Griechen haben ihr Theater für das Werkzeug gebraucht, das Volk in den Empfindungen von dem Werthe popularer Grundsätze und Rechte zu unterhalten. In Staaten, wo die Gemeinen so großen Antheil an der Regierung nahmen, war nichts bequemer zu diesem Ende. Da die Rechte des Staats die Rechte des Volks waren, so erfoderte die gesunde Politik, daß es dieselben sich in dem lebhaftesten Lichte vorstellete, und sein ganzes Herz damit erwärmete.155
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ungemein viel beytragen, so mag man daraus abnehmen, ob dem Staat ein weniges an der Dichtkunst gelegen sey.« (Bodmer (PG), S. 145f.). Bodmer: Politisches Trauerspiel, hier zit. nach ders. (JC), S. 71.
3.
Epen
3.1
Der Noah
3.1.1 Bodmers Interesse an den »Antediluvianos« Die alttestamentlichen Geschehnisse vor der Sintflut reizten Bodmer schon früh zur literarischen Bearbeitung. Bereits Ende der 1720er Jahre schrieb er an Johann Michael von Loen, er habe einen Dramenentwurf gemacht, der zum »Inhalt Lamech Polygamos« habe.1 Das Drama, das Noahs Vater Lamech zur Hauptfigur nehmen wollte (vgl. 1. Mose 4,19), sollte »seine grösste Schönheit« aus der »Neuigkeit der antediluvianischen Charakter« gewinnen.2 Die Dramatisierung der ersten Patriarchen rechtfertigte Bodmer also bereits 1729 vor allem mit der Kategorie der Neuheit, die in den Poetiken der 1740er Jahren einen der wesentlichen Aspekte von ›guter‹ Poesie ausmacht. Ebenfalls in diese frühere Zeit fallen mehrere Epen-Projekte Bodmers. Anders als in seinem Dramenentwurf will er in der Gattung des Epos jedoch vor allem die deutsche Geschichte behandeln. 1725 erhält Johann Ulrich König (1688–1744) von Bodmer einen »Entwurf eines Heldengedichts Arminius«, den dieser lobend rezipiert,3 noch 1744 bittet Jakob Immanuel Pyra (1715–1744) darum, dass Bodmer das Epos über den Cheruskerfürsten ganz oder zumindest teilweise veröffentliche.4 Bodmer, der nur eine »prosaisch[e]« 1
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Bodmer an J. M. von Loen, 12. Januar 1729, zit. nach Blätter (1856), S. 34. Möglicherweise ist Bodmer durch die Lektüre von Milton zu diesem Entwurf angeregt worden.Ab 1723 studierte er Miltons Paradise Lost (vgl. Wolfgang Bender:Johann Jacob Bodmer und Johann Miltons ›Verlohrnes Paradies‹. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 11 (1967), S. 225–267, hier S. 231ff.). Bodmer an von Loen, 12. Januar 1729, zit. nach Blätter (1856), S. 34. Weitere Auskünfte über den Inhalt des Dramas erfährt man aus dem Brief Bodmers nicht. Ein kleiner Briefauszug bei Hans Bodmer zeigt, dass J. J. Bodmer bereits 1725 mit diesen Plänen beschäftigt war; vgl. Hans Bodmer: Die Anfänge des zürcherischenMilton. In: Studien zur Litteraturgeschichte. Michael Bernays gewidmet von Schülern und Freunden. Hamburg, Leipzig 1893, S. 177–199, hier S. 197. J. U. König an Bodmer, 15. Mai 1725, zit. nach Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert.Studienund kommentierte Gattungsbibliographie.Berlin, New York 1993 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N. F., 103 = 227), S. 387. J. I. Pyra an Bodmer, 21. April 1744. In: Litterarische Pamphlete. Aus der Schweiz. Nebst Briefen an Bodmern. Zürich 1781, S. 71.
126 Skizze entworfen hatte, d.h. also wie in seiner Milton-Übersetzung auf eine Versifikation verzichtet hatte, will davon in den 1740er Jahren aber nichts mehr wissen.5 Damit hat er aber nicht von der Idee Abstand genommen, ein deutsches Nationalepos entstehen zu lassen, sondern sich lediglich einem neuen Stoffkreis zugewandt. Während er selbst in den 1720er Jahren sein Herrmann-Epos vor allem gegen den zweibändigen Roman Großmüthiger Feldherr Arminius (EA 1689/90) von Daniel Caspar von Lohenstein richtet und so das Epos innerhalb der deutschen Literatur profilieren will,6 sucht er gleichzeitig nach Mitstreitern. Nachdem Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) 1715 mit dem Verteutschten Bethlehemitischen Kinder-Mord ein aus dem Italienischen übersetztes Epos vorgelegt hatte,7 das die im Matthäus-Evangelium überlieferte Episode der von Herodes verordneten Ermordung der Knaben in Betlehem darstellt (Mt 2,1–18), wird er von Bodmer 1723 um die Ausarbeitung eines (wohl nationalhistorischen) Gedichts gebeten. Dieses Ansinnen, ein »vollkommenes poem a heroicu m zu verfertigen« lehnt Brockes allerdings ab,8 da die Darstellung eines kriegerischen Helden seinen »human geprägten Vorstellungen widerspricht«.9 Bodmers Bemühungen um das Epos reihen sich ein in die Anstrengungen von Autoren wie etwa Christian Heinrich Postel (1658–1705), B. H. Brockes, J. U. König, Johann Valentin Pietsch (1690–1733), Gottsched u.a., die allesamt ein mustergültiges deutsches Epos schaffen oder befördern wollten.10 Er folgt dabei, das zeigen die Zeugnisse aus Bodmers ›Jugendjahren‹, zunächst den Auffassungen von Opitz, der in seinem Buch von der Deutschen Poeterey von 1624 das Heldengedicht eng mit der nationalen Geschichte verbunden und den Ependichter vor allem auf die Bearbeitung nationalgeschichtlicher Stoffe verpflichtet hatte.11 In den 1740er Jahren entdeckte Bodmer – insbesondere inspiriert durch Miltons Paradise Lost – in den biblischen Geschichten einen neuen Stoffbereich, der die nationale Geschichte als Stofflieferantin in den Hintergrund 5 6 7
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Vgl. auch Martin (1993), S. 387f. – Bodmers Skizze hat sich nicht überliefert. Vgl. Martino (1978), S. 299–303. Giambattista Marino (1569–1625): La strage degli innocenti (1623/33); die sechste Auflage der Übersetzung erschien 1763. Brockes an Bodmer, 19. November 1723, zit. nach Bodmer (1781), S. 27 (Hervorhebung im Original). Martin (1993), S. 22. Vgl. Martin (1993), S. 6ff. und S. 27–85. Vgl. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Studienausgabe.Mit dem ›Aristarch‹ (1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen ›Teutschen Poetemata‹ (1624 und 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übersetzung der ›Trojanerinnen‹ (1625). Hg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2002 (RUB, 18214), S. 23ff.; im Folgenden abgekürzt als ›BDP‹. – Vgl. hierzu Ernst Rohmer: Das epische Projekt. Poetik und Funktion des ›carmen heroicum‹ in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. 1998 (Beihefte zum Euphorion, 30), S. 198ff.
127 drängte. 1742 veröffentlichte Bodmer in der Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften den Grundriß eines epischen Gedichtes von dem geretteten Noah, in dem er die literarische Bearbeitung des um Noah konzentrierten biblischen Geschehens propagierte.12 Aus poetologischer Sicht eigne sich, so Bodmers neu gewonnene Überzeugung, der biblische Stoff viel besser als der nationalhistorische, das lang ersehnte Epos zu schaffen, das die Rückständigkeit der deutschen Dichtung beseitigen könne. Bodmers Grundriß und seiner Hinwendung zum biblischen (statt nationalen) Stoff gründen dabei auf Einsichten, die Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) 1745 fast zeitgleich in seiner Abschlussrede in Schulpforta, die paradigmatisch die deutsche Ependiskussion um die Jahrhundertmitte widerspiegelt, äußerte. Ob Klopstock bei der Ausarbeitung seiner Rede Bodmers Grundriß schon kannte, lässt sich nicht mehr mit Gewissheit klären; dass er sich auf die Poetik von Breitinger und Bodmer abstützte, ist jedoch von ihm selbst bezeugt.13 Seine Rede über das künftige deutsche Epos ist getragen von dem Gedanken der aemulatio:14 Die deutschen Dichter sollten sich in einen Wettkampf mit den antiken Klassikern und den herausragendsten neueren Dichtern, insbesondere Milton, einlassen und danach streben, die »beklagenswerte[ ] Leerstelle« der Geschichte des deutschen Epos zu füllen:15 Ein jedes Volk von Europa wird mit dem Verfaszer [sic] eines Heldengedichts prangen und wir werden träge und gleichsam, was dieses Gefül der Ehre betrifft, schamlos, seiner auch alsdann noch entberen[sic].Unwillen ergreiftmeine Seele, wenn ich, von dem gerechtesten Zorne entbrannt, die Schlafsucht unseres Volkes hierinnen erblicke.16
Klopstock konstatierte in Übereinstimmung mit vielen Zeitgenossen – und mit Opitz mehr als hundert Jahre zuvor – den Rückstand der deutschen Heldendichtungen gegenüber anderen Nationen.17 Da das Epos die 12
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Bodmer: Grundriß eines epischenGedichtes von dem gerettetenNoah. In: Bodmer, Breitinger (SC, 1742, 4. Stück), S. 1–17. Vgl. seinen berühmten ›Bewerbungsbrief‹ bei Bodmer vom 10. August 1748 (vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Abteilung Briefe, Bd. I: Briefe 1738–1750. Hg. v. Horst Gronemeyer. Berlin, New York 1978, S. 13ff. und 200ff.). So auch schon Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland. Tübingen 1997 (Studien zur deutschen Literatur, 144), S. 115. Jacob (1997), S. 114. Klopstock: Abschiedsrede, gehalten zu Pforte am 21. September 1745, zit. nach Albert Freybe: Klopstocks Abschiedsrede über die epische Poesie, cultur- und litterargeschichtlich beleuchtet, sowie mit einer Darlegung der Theorie Uhlands über das Nibelungenlied begleitet. Halle 1868, S. 93–144 (dt. Übersetzung), hier S. 132. »Ob aber bey vns Deutschen so bald jemand kommen möchte/ der sich eines volkommenen Heroischen werckes vnterstehen werde/ stehe ich sehr im zweifel/ vnnd
128 höchste Gattung verkörpere,18 wiege diese Tatsache – und auch diese Auffassung findet sich bereits bei Opitz –19 besonders schwer. Modellgebend für die Gattung ist auch bei Klopstock die Antike: Klopstocks Hierarchie der Ependichter beginnt mit Homer und Vergil, dann folgen Milton (Paradise Lost, EA 1667), der von den neueren Dichtern am ehesten an Homer herankomme, und etwas abgestuft Torquato Tasso (Gerusalemme liberata, EA 1581) sowie Fénelon (Les aventures de Télémaque, EA 1699). Als Maßstab der Einordnung dient Klopstock eine zu Beginn der Rede gegebene, relativ vage Gattungsdefinition des Heldenepos. Das Epos erhalte seine »Grösze« und seinen »Vorzug« daher, dass es »sich eine berühmte Handlung, die, wo nicht den ganzen Erdkreisz [sic], doch wenigstens viele und die grösten seiner Einwoner [sic] angeht, zu besingen und mit schicklichen und bewundernswürdigen Erfindungen auszubilden erwält«.20 Klopstock bestimmt das Epos, wie seine Zeitgenossen, ausgehend vom Stoff: wo ein erhabener Gegenstand besungen wird (»eine so grosze und herrliche Materie«),21 müsse dies in Form eines epischen Gedichts geschehen; dabei wird die Erhabenheit des gewählten Themas damit gemessen, auf wie viele Menschen der Gegenstand bzw. die Handlung einen (wie auch immer gearteten) Einfluss hat. Homer stehe an der Spitze der Gattungsgeschichte, weil dieser die gesamte »Natur« zum Ausdruck gebracht habe. Homer sei »ganz einfach und natürlich in seiner Pracht«, deshalb berühre er die Leser bis in die späteren Zeiten.22 Während Homer die (menschliche) Natur schildere, zeige Vergil (›nur‹) das Zeitalter Augustus, gleichwohl seien beide Poeten nicht in einem absoluten Sinne vollkommen: Verblendet von der »Religion der Heiden« war ihnen die ›wahre‹ Religion unbekannt, die sie –
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bin nur der gedancken/ es sey leichter zue wünschen als zue hoffen.« (Opitz (BDP), S. 29f.). Vgl.: »[I]ch rede vom Heldengedicht, diesem höchsten Werke der Dichtkunst.« (Klopstock (1745), S. 133). »Denn ich will heute, immer von einem edlen Verlangen nach Vollkommenheit entflammt, zum Lobe der ersten unter den Dichtern reden, die mit ihres Namen Unsterblichkeit nach sich alle Folgezeiten erfüllten. Und das sind die, welche Heldengedichte gesungen haben.« (ebd., S. 103f.). Vgl. Rohmer (1998), S. 192ff. Klopstock (1745), S. 104. – Klopstock definiert das Epos in durchaus gängiger Weise; Gottscheds Definition lautet ganz ähnlich: »Die Handlung muß wichtig seyn, das ist, nicht einzelne Personen, Häuser oder Städte; sondern ganze Länder und Völker betreffen. Die Personen müssen die ansehnlichsten von der Welt, nämlich Könige und Helden und große Staatsleute seyn. […] Alles muß darinn groß, seltsam und wunderbar klingen, die Charactere, die Gedanken, die Neigungen, die Affecten und alle Ausdrückungen,das ist, die Spracheoder die Schreibart.« (Gottsched (CD, I), S. 219) Vgl. hierzu auch Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006 (Palaestra, 322), S. 122f. Klopstock (1745), S. 104. – Nach Opitz sei ein heroisches Gedicht »gemeiniglich weitleuffig« und rede von »hohem wesen« (Opitz (BDP), S. 26). Klopstock (1745), S. 109.
129 und hiermit gibt Klopstock sein christliches Weltbild zu erkennen, das ihn zum Abfassen des Messias inspirierte – eigentlich in ihren Gedichten hätten besingen sollen.23 Für Klopstock gibt gerade dieser Umstand Anlass zur Hoffnung, dass die neueren (deutschen) Dichter die antiken Vorbilder übertreffen können: den antiken Sängern fehlte der besonders erhabene Gegenstand der biblischen Offenbarung.24 Folglich wird Milton, der den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies – Ereignisse, die alle Menschen angehen – besingt, beinahe auf dieselbe Stufe mit Homer gestellt.25 Diese Überzeugung teilte auch Bodmer in seinem Grundriß : Da die Wahl des Gegenstandes den ›Wert‹ des Epos bestimmt, macht die Wahl eines biblischen Themas das Epos auch überlieferungswürdiger als die Wahl eines profanen, nationalhistorischen Gegenstandes. Nur mit dieser Stoffwahl könne ein »allervollkommenste[s] HauptWercke der Poesie« geschrieben werden.26 1746 argumentierte Bodmer in den Critischen Briefen im Rückgriff auf Pemberton (vgl. Kap. 1.4/5) aus dieser Perspektive gegen die vaterländische Geschichtsepik (und -dramatik): Nachdem denn der Nutzen dieser Gedichtesart so allgemein ist, so will ich zwar dem Poeten nicht wehren, daß er nicht bey Gelegenheit sich in der Wahl seiner Materie nach einem gegenwärtigen Umstand seines Vaterlandes richte […]; doch halte ich es für unnöthig, daß er allemal, ehe er eine Materie erwählet, eine solche absonderliche Staatsangelegenheit im Auge haben müsse. Eine jegliche Geschichte, welche bequem ist etliche Charakter zu liefern, so der Ausführung werth sind, ist schon genugsam, einen […] Poeten zum Schreiben zu vermögen.27
Ausgehend von einer konstanten, universellen Anthropologie, erscheinen sämtliche Stoffe für die dichterische Behandlung geeignet. Nicht nur Erzählungen aus der eigenen nationalen Geschichte vermögen den Leser affektiv zu ergreifen, sondern auch Gedichte über jegliche Materien, sofern sie denn vom Poeten zur Darstellung der menschlichen Natur genutzt werden. Diese Überzeugung vertrat Bodmer auch schon in den 1730er Jahren. In seinem 1734 erstmals veröffentlichten Gedicht Character der Teutschen Gedichte schlug Bodmer jedoch noch einen anderen Stoff für das
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Ebd., S. 111. Vgl. Bernd Auerochs: Die Unsterblichkeit der Dichtung. Ein Problem der ›heiligen Poesie‹ des 18. Jahrhunderts. In: Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kulturwissenhscaft, Philosophie und Theologie. Hg. v. Gehrhard R. Kaiser, Stefan Matuschek. Heidelberg 2001 (Jenaer germanistische Forschungen, N. F., 9), S. 69–88, insbes. S. 77f., vgl. auch Jacob (1997), S. 116f. »Mit dem Homer streiteter [Milton, J. R.] um den Vorzug der Vortrefflichkeit,nicht ohne wetteifernden Mut und edlen Stolz [ …].« (Klopstock (1745), S. 120). Breitinger (CD, I), S. 91. Bodmer, Breitinger (CB), S. 78, vgl. Pemberton (1738), S. 18 und S. 42f.
130 »Meister-Stück der Poesie« vor:28 die Entdeckung Amerikas (vgl. hierzu Kap. 3.3). In Übereinstimmung mit Gottsched, aus dessen Critischer Dichtkunst Bodmer wohl die Formulierung »Meister-Stück der Poesie« übernommen hatte,29 sah Bodmer das Epos als die höchste literarische Gattung an und entwarf in wenigen Versen eine Gattungsdefinition, die zwar schon das Erhabene als Kategorie anführte, von einer Bibelepik allerdings noch nicht sprach. Im Epos solle beachtet werden, wie die »Ding’ in Dingen stecken«, wie also Ereignisse und Handlungen motiviert seien, es soll von vergangenen und zukünftigen Taten gesungen werden, wobei man sich nicht an die Chronologie zu halten brauche und auch ergänzen dürfe, was die Zeit verborgen habe.30 Bodmers Postulat, die Ursachen eines Ereignisses sorgfältig zu schildern, deckt sich mit Gottscheds Ansichten,31 ebenso die Forderung, eine strikt chronologische Erzählung zu vermeiden.32 In einer Anrede an den angehenden Ependichter wiederholt Bodmer die Forderung von Aristoteles, insbesondere im Epos das Wunderbare zu zeigen:33
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Baechtold gab 1883 das Gedicht mit einem Kommentar zur Wirkungsgeschichte und einem Verzeichnis der vier Drucke heraus und schuf damit die bislang einzige Neuausgabe eines Bodmer-Textes, die annähernd historisch-kritischen Ansprüchen genügt. Volker Meid gibt den Erstdruck weitgehend ohne das Variantenverzeichnis, dafür aber mit einigen Erläuterungen wieder: Bodmer, Breitinger (1980), S. 48–82; im Folgenden zitiert nach dieser Ausgabe; das Zitat ebd., S. 79. Vgl. Gottsched (CD, II), S. 279. – Beide folgen hier den Ansichten von Opitz oder auch von Nicolas Boileau (L’art poétique), die – anders als Aristoteles – das Epos als höchste Gattung ansahen. Das sagt schon Aristoteles in seiner Poetik (Kp. 23f.) sowie Opitz in der Deutschen Poeterey (S. 29). »Alles, was nöthig ist, dieselbe [die Handlung; J. R.] recht zu begreifen, ihre Möglichkeit und ihre Wirkung aus ihren Ursachen einzusehen,das muß mit in die Fabel kommen […].« (Gottsched (CD, II), S. 297). »Es darf aber der Poet in seinen Erzählungen nicht immer der Zeitordnung folgen; sondern auch zuweilen mitten in einer Begebenheit etwas nachholen, was lange zuvor geschehen ist […].« (Ebd., S. 303). Vgl. Aristoteles (P), Kp. 24. – Damit erklärt sich auch eine Merkwürdigkeit des Gedichtes. Die Kategorie des ›Wunderbaren‹ leitet Bodmer nicht wie die anderen Aspekte aus der deutschen Literatur ab, sondern führt es unvermittelt erst im Abschnitt über das Epos ein. In seiner Aufzählung der Anforderungen an einen Dichter hält er sich ansonsten an die Poetik von 1727: In der emotionalen Ergriffenheit und im reflexiven und bis ins Innerste der Dinge vordringenden Geist des Dichters sieht er wesentliche Bedingungen für ein gutes Werk. Zudem müsse der gute Dichter die Kunstregeln beherrschen, wobei neben der Verslehre insbesondere Fragen der elocutio im Zentrum stehen und das Wissen um den angemessenen Stil und die richtige, ›nicht-schwülstige‹ Verwendung von Metaphern und Gleichnissen bedeutsam ist. In diesem Zusammenhang kritisiert Bodmer die Übersetzung von Fénelons Télémaque durch Benjamin Neukirch,deren erster Teil 1727 erschien (Neukirch: Die Begebenheiten Des Prinzen von Ithaca, Oder: Der seinen Vater Ulysses, suchende Telemach. Aus dem Französischen des Herrn von Fenelon, In Deutsche Verse gebracht. T.1. Onolzbach 1727). Bodmer stört sich an Neukirchs
131 Was jemahls die Natur vom Wunderbarn und Grossen In Engeln, Geistern, Mensch, und Cörpern eingeschlossen, Was in den Neigungen und Thaten hohes steckt, Liegt offenbar vor dir, entwickelt, unbedeckt.34
Mit dem Begriff »Engel« scheint Bodmer zwar auf Miltons Epos anzuspielen, gleichwohl ist die inhaltliche Darlegung nicht so eng gefasst, als dass hiermit nur die ›heilige Poesie‹ zugelassen sei. Noch 1740, in der Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren, gibt Bodmer eine Gattungsdefinition, die nicht das ›Himmlische‹ als wichtiges Gattungskriterium herausstellt, sondern vielmehr die Neuheit der Erzählung betont: Das Epische [sic] Gedicht ist ein erzehlendes, historisches Gedicht, in welchem die Begebenheiten, Character und Personen, wenn sie gleich niemahls würcklich gewesen sind, dennoch auf eine gewisse Weise von dem Poeten zur Würcklichkeit gebracht sind. Sie haben zwar das Siegel der Wahrheit nicht, es fehlet ihnen an Zeugen, die dabey gegenwärtig gewesen wären, und uns davon versicherten; Aber sie haben an dessen statt den Preiß [sic] der Wahrscheinlichkeit, weil sie in den würcklichen eingeführten Gesetzen, und dem gegenwärtigen Lauf der Natur und deren Begebenheiten, die fidem narrantis haben, gegründet sind. Episch heißt demnach so viel als poetisch=wahr, und poetisch=historisch.35
Ganz in der Gattungstradition stehend, verstand auch Gottsched das Wunderbare als Wesensmerkmal des Epos, deutete aber die im Epos dargestellten Gottheiten als Allegorien: Weil in dem Heldengedichte alles wunderbar klingen soll, so müssen nicht nur gewöhnliche Personen; sondern auch ungewöhnliche darinnen aufgeführt werden. Dieses sind nun die Gottheiten und Geister, die der Poet in allegorischerWeise dichten, und ihnen eben sowohl, als den Menschen, gewisse Charactere geben muß.36
Bodmer wehrte sich erst in seiner Abhandlung von dem Wunderbaren gegen eine solche allegorische Lesart der Gottheiten. Die Engel und Teufel in Miltons Epos seien nicht als »Eigenschaften, die andern Wesen zukommen«, zu verstehen, sondern seiner Gattungsdefinition entsprechend als »historische Personen, die in ihrem eignen Nahmen da sind, die sich selber und niemand andern vorstellen«.37 Diese Argumentation trägt dabei dem erst um 1740 entwickelten Konzept der ars popularis Rechnung, das von der Weltsicht der Leserschaft ausgeht. Breitinger hatte herausgestellt, dass die Schönheit und der Wahrscheinlichkeitsgehalt eines Werkes jeweils nur durch die Leser bestimmt würden, und hatte
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unangemessenem Stil, der die Erhabenheit von Telemach nicht zum Ausdruck bringe; vgl. Bodmer, Breitinger (1980), S. 70ff. Bodmer, Breitinger (1980), S. 79. Bodmer (CA), S. 41. Gottsched (CD, II), S. 306. Bodmer (CA), S. 42; vgl. auch: »[D]ie Engel sind würckliche Wesen, welche in der Natur sind […].« (Ebd., S. 15).
132 damit die historische Relativität von Geschmacksurteilen belegt.38 Die zeitgenössische Leserschaft hielt Bodmer für fromm und gläubig, die dementsprechend auch die Engel als ›wahre‹ Erscheinungen ansehen würde (vgl. Kap. 1.6). Für die Leser von Miltons Paradise Lost seien »Engel vor etwas mehr als Geschöpfe einer müssigen Einbildungs-Kraft«, für sie besäßen die himmlischen Wesen »Würcklichkeit« und »hohen Rang«, wovon sie »unbetrügliche Nachrichten empfangen« hätten.39 Eine allegorische Deutung der christlichen Himmelswesen sei deshalb ausgeschlossen. Dass Bodmer 1734 noch mit Gottsched übereinstimmte, der sich erst ab 1740 – hierbei auch auf Nicolas Boileaus L’art poétique zurückgreifend – gegen eine vorwiegend biblische Epik aussprach,40 zeigt sich auch an der Überlieferungsgeschichte von Bodmers poetologischem Gedicht. 1734 erschien es zunächst als Einzeldruck, ohne Angabe von Verfasser, Ort und Jahr, 1738 nahm es Gottsched als 20. Stück in seine Beyträge zur critischen Historie der deutschen Sprache auf und lobte es zunächst wegen der Beförderung der »gesunden Critik und des guten Geschmacks«.41 Nach 1740, d.h. nach der Lektüre von Breitingers Critischer Dichtkunst und Bodmers Critischer Abhandlung von dem Wunderbaren nahm er das Lob freilich wieder zurück und verfasste eine als komisches Heldengedicht mit dem Titel Der deutsche Dichterkrieg vehement vorgetragene Kritik an Bodmers Character-Gedicht.42 In der Folge modifizierte Bod38 39 40 41
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Vgl. Breitinger (CD, I), S. 132–142. Bodmer (CA), S. 22. – Vgl. hierzu auch Gisi (2007), S. 48–54 und S. 67–79. Vgl. hierzu Auerochs (2006), S. 133–150. Gottsched, zit. nach Bodmer (1883), S. IX. – Das Gedicht wurde zu Bodmers Lebzeiten dann noch zwei weitere Male abgedruckt: 1747 in der von Johann Georg Schulthess herausgegebenen Sammlung Critische Lobgedichte und Elegien und nochmals 1754 als 2. Auflage der Ausgabe von 1747 mit dem Titel Gedichte in gereimten Versen. Der anonym publizierte Deutsche Dichterkrieg erschien ab Juni 1741 in Fortsetzungen in den Belustigungen des Verstandes und des Witzes, wurde jedoch nie abgeschlossen. In ihm stellt Gottsched literarisch dar, mit welchen niederen und streitsüchtigen Motiven Bodmer sein Character-Gedicht verfasst hatte. 1751 bedauert Gottsched in der neuen Auflage seiner Critischen Dichtkunst, dass der Dichterkrieg nicht zu einem Ende geführt wurde, und lobt diesen Text, da er zeige, »dass es unsern Landsleuten an Witz und Geschicklichkeit nicht fehle, […] witzige und scherzhafte Dinge auszuführen, wenn sie sich darauf legen wollen« (Gottsched (CD, II), S. 447). Der Deutsche Dichterkrieg sei »nicht etwa [eine] schwache Nachahmung[] der Ausländer, oder knechtische Uebersetzung[], sondern [ein] wirkliche[s] Original[]« eines in Prosa geschriebenen scherzhaften Heldengedichtes (ebd.). – Vgl. für eine kurze Inhaltsangabe des Deutschen Dichterkriegs Bodmer (1883), S. Xff. Baechtold hielt jedoch noch Johann Joachim Schwabe, den Herausgeber der Belustigungen des Verstandes und des Witzes, für den Verfasserdes Dichterkrieges (vgl. ebd., S. X). Uwe R. Klinger: Gottsched und Die Belustigungen des Verstandes und des Witzes. In: Lessing Yearbook 3 (1971), S. 214–225, hier S. 220f., hat hingegen Gottsched als Autor identifiziert.
133 mer einige Verse, in denen er Gottsched zunächst noch gelobt hatte, und äußerte sich in der Variante von 1747 verächtlich über Gottscheds literarische Leistungen.43 Bodmer veränderte aber nicht nur einige Verse in seinem Gedicht, sondern veröffentlichte 1742 in der Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften, die sich selbst freimütig in der Einleitung zum ersten Stück von 1741 als Kampfblatt gegen die Leipziger Poetik zu erkennen gab, als direkte Reaktion auf Gottscheds Dichterkrieg auch selbst die kurze Erzählung Das Complot der herrschenden Poeten u. Kunstrichter, die das Leipziger Lager satirisch aufs Korn nahm.44 In enger Nachbarschaft, nämlich bereits in der nächsten Nummer der Sammlung, erschien dann Bodmers Grundriß zum Noah-Epos, wodurch die polemische Stoßrichtung dieses Plans zu einem biblischen Epos erkennbar wird. Neben der Wertschätzung von Miltons Epik dürften somit auch die vehementen Angriffe von Gottsched auf die Zürcher Bodmers Interesse an
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1738 wird Gottsched zu einer Gruppe von zeitgenössischen Dichtern gezählt, die sich durch Lob- und Heldengedichte ausgezeichnet haben. Johann von Besser (1654–1729) »preist und singt« den Helden im Krieg und »schreibt wie einer soll, der Welt=Geschichten schreibet« (Bodmer, Breitinger (1980), S. 67f.), Johann Ulrich König besinge hingegen in »spielend[er]« Nachahmung den König in Friedenszeiten (ebd., S. 68): »Der Vers ist männlich zwar, jedoch geziert und zart, / Ist sittsam doch behertzt, voll, doch nicht schwer und hart« (ebd., S. 69). Einziges Manko von König sei, dass er zu sehr der Prosa verhaftet sei und eigentlich kaum »ächte[ ] Dichtung« mache (ebd.). Karl Gustav Heräus (1671–1730) zeichne sich durch »seines Geists Vermögen« aus; Johann Valentin Pietsch hingegen möchte zu sehr seines »Witzes Kunst« zeigen, was seiner Dichtung abträglich sei (ebd.). Trotz seiner schlechten Fénelon-Übersetzung gehört auch Benjamin Neukirch in diese Gruppe, da er sich von Lohensteins Schwulst-Stil distanziert habe. Von Gottsched heißt es 1738: »Mit ihnen [den fünf Dichtern; J. R.] im Begleit seh ich auch Gottsched gehen, / Der mir nicht kleiner deucht, und nicht darf schamroth sehen, / Wenn er bey ihnen sitzt, wiewohl er sie verehrt; / […].« In den späteren Fassungen hingegen lauten die Verse: »Mit ihnen [den fünf Dichtern; J. R.] seh ich auch den stolzen Gottsched gehen, / Der doch weit kleiner ist, und schamroth scheint zu stehen, / Da er bey denen ist, die er doch nur entehrt.« (Ebd., S. 316). Vgl. Bodmer, Breitinger (SC, 1742, 3. Stück), S. 161–219. – Das Lehrgedicht Character der Teutschen Gedichte ist das früheste Zeugnis, in dem sich die von Bodmer und Breitinger später so eindringlich vertretene Auffassung des Wunderbaren manifestiert, was aber von den Zeitgenossen zunächst nicht wahrgenommen wurde (vgl. Gottscheds positive Rezeption). Baechtold verstand das Gedicht als »kleine gereimte Litteraturgeschichte des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts« (Bodmer (1883), S. III) und wirkte damit für die literaturwissenschaftliche Interpretation dieses Gedichts traditionsstiftend (vgl. etwa Wehrli (1937), S. 119f., Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Paderborn 2 2003, S. 142f. und Pfalzgraf (2003), S. 63). Neben der historischen Rückschau auf die deutsche Literatur wird den zeitgenössischenDichtern aber auch die richtige Schreibart der Komödie, der Tragödie, der Liebesdichtungen und des epischen Gedichtes vermittelt, womit sich das Gedicht in die Tradition der barocken und frühaufklärerischen Anweisungspoetiken einreiht.
134 der ›heiligen Poesie‹ verstärkt und ihn zum Verfechter einer biblischen Epik gemacht haben.45 Der Grundriß beginnt mit einer Beobachtung, die auf den ersten Blick Gottscheds Poetik zu folgen scheint: »Die trefflichsten Kunstrichter stimmen mit einander überein, daß die Schönheiten der vornehmsten poetischen Werke, und insbesondere der Griechischen und Römischen in der Zeichnung, dem Grundrisse, und der Zusammenordnung des gantzen Werkes bestehen.«46 Die Darbietung der Handlung und die Handlung selbst machen wesentliche Aspekte eines gelungenen literarischen Werkes aus. Noch wichtiger sei aber – und das richtet sich gegen Gottsched – die »Erfindungskraft«, die den »wahre[n] Grundstein der Poesie« bilden würde.47 Durch diese Kraft vermöge der Poet »mannigfaltige Ausdähnungen« zu einer schon bekannten Handlung ersinnen, die dem Leser ein »empfindliches Vergnügen« bereiten könnten, da sie dessen »Neugier ungemein reitzen« würden.48 Dieses Hinzudichten neuer Episoden zu einem Stoff, der dem Leser bereits bekannt sei, hatte Bodmer bereits in seiner Abhandlung über das Wunderbare ausführlich gerechtfertigt und dabei betont, dass man dabei »kein Stück und keinen Umstand in den Zusammenhang der Ausführung hineinbringen« dürfe, die sich mit dem »Zeugniß der H. Scribenten« stoßen würden.49 Damit sei also nicht »verwehret, daß wir nicht in den abgebrochenen und kurtzbegriffenen Erzehlungen der H. Scribenten das leere und mangelnde mit solchen Umständen in den Begegnissen ersetzen und ausfüllen, welche mit dem geoffenbahreten ein Gewebe in einem ordentlichen Zusammenhang ausmachen«. Die so begrenzte dichterische Freiheit sei »vernünftig« und erweist sich letztlich als religiös motiviert: Der »unschuldige« und »lehrreiche Vorwitz« habe ein Verlangen, »von himmlischen Dingen mehr zu wissen«, und möchte das Gemüt »schon in dieser Zeit zu dem künftigen himmlischen Leben« erheben und es »näher mit den seligen Geistern bekannt« machen, die man erst »nach diesem vergänglichen Leben« im Jenseits treffen werde.50 Deutlich macht diese Argumentation, dass Bodmer die Dichtung in den Dienst der Theologie stellt:51 Die Behand45
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1759 scheint Bodmer gar einen Wettbewerb für das beste biblische Epos ausgeschrieben zu haben: »Ich setzte für einige junge Leute einen Preis auf, welcher die Geschichte der Ruth am geschicktesten in Hexametern schreiben würde.« (Bodmer’s Tagebuch (1752 bis 1782). Hg. v. Jacob Baechtold. In: Turicensia. Beiträge zur Zürcher Geschichte (1891), S. 190–216, hier S. 196). Über den Ausgang berichtet Bodmer jedoch nichts; zudem ließ sich bis anhin eine gedruckte Ankündigung dieses Wettbewerbs nicht finden. Bodmer, Breitinger (SC, 1742, 4. Stück), S. 1. Ebd., S. 1. Ebd., S. 2f. Bodmer (CA), S. 50. Ebd. Hiermit folgt er Opitz; vgl. Opitz (BDP), S. 14.
135 lung der biblischen Stoffe darf nur in Übereinstimmung mit Offenbarung geschehen.52 Dieser Poetik folgt auch Bodmers Grundriß, der sich vor allem darauf beschränkt, die Leerstellen der Handlung auszufüllen und mögliche literarische Prätexte dafür zu benennen. 1746 veröffentlichte Bodmer in den Critischen Briefen einige Anmerckungen zu dem Grundrisse eines epischen Gedichtes von dem geretteten Noah, die sich im Text explizit als Ergänzungen zu dem vier Jahre früher publizierten Grundriß zu erkennen geben. Hier verweist Bodmer auf das »Wunderbare«, das sich in »unbegränzten Aussichten, stürmerischen Seen, und entsetzlichen hohen Bergen; oder in den menschlichen Handlungen, als in hohen Proben von Großmuth, oder ungemeinen Gesinnungen« finden ließe:53 Dies alles könne man in der »Materie von des Noah Errettung finden«.54 1746 ist es vor allem das Erhabene, das in den Zürcher Poetiken von grundlegender Bedeutung ist und die nachdrückliche Rechtfertigung dafür liefert, die Sintflut literarisch zu behandeln. Seine Ausführungen zum Noah-Epos erweisen sich damit als Plan zu einem deutschen Epos, das die Überlegenheit der Zürcher Poetik gegenüber derjenigen Gottscheds nachdrücklich demonstrieren sollte.55 Dass dies nur mit einem Stoff zu erreichen sei, der mehr als nur nationale Relevanz besitzt, betonte Bodmer, wiederum deutlich an die Leipziger Adressaten gerichtet, mit Nachdruck: Wenn man eine »berühmte[ ] Handlung seiner eigenen Nation« literarisch bearbeiten würde, könne man möglicherwiese den »Beyfall seiner Landsleute, wegen der gemeinen Neigung, die man zu seinem Vaterland hat, desto leichter gewinnen«.56 Wähle man einen Stoff aus der eigenen nationalen Geschichte, so schmeichle man nur der eigenen Eitelkeit, obgleich sowohl der Dichter als auch die Leser nicht mit Bestimmtheit wissen könnten, ob die eigenen Vorfahren auch tatsächlich an diesem Ereignis beteiligt gewesen seien. Wer allerdings mit einem solch »schmeichelnden Beweggrund seine Eigenliebe […] kitzeln« müsse und sich nur mit solchen Einbildungen für ein Heldengedicht begeistern kann, der finde im »geretteten Noah« eigentlich den geeigneteren Gegenstand, da die eigene »Abstammung von demselben […] nicht dem geringsten Zweifel unterworfen« sei: So hätten alle Menschen ein »gleich begründetes Recht […], auf dieses Patriarchen Gerechtigkeit, und Gottergebenheit sich etwas grosses einzubilden«.57 An Relevanz übertrifft die 52
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Vgl. hierzu auch Auerochs (2006), S. 126–133 und (auch mit Blick auf Bodmer) S. 142–154; ders. (2001), S. 78. Vgl. Bodmer, Breitinger (CB), S. 109. Ebd., S. 110. So jetzt auch Barbara Mahlmann-Bauer: Bodmers Noachide, ein unbiblisches Epos? In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (2009), S. 231–294, hier S. 235. Bodmer, Breitinger (CB), S. 117f. Ebd., S. 118.
136 Geschichte des Patriarchen Noah jegliches nationalstaatliche Ereignis bei weitem und eignet sich deshalb besonders für ein Heldenepos.58 An die Ausarbeitung dieses Epos machte sich Bodmer aber erst, nachdem Klopstock 1748 die ersten Gesänge seines Messias veröffentlicht hatte.59 »Ich gerieht von der Neuigkeit und der Anmuth seines [Klopstocks; J. R.] Hexameters, und noch mehr seiner Poesie in Ecstase, und so ward ich begeistert die Noachide auszuarbeiten«,60 so Bodmer in seinen Persönlichen Anekdoten. Es sind somit zwei Autoren, die als Vorbilder für Bodmers Epenproduktion anzusehen sind, worauf auch schon Bodmers Zeitgenossen hingewiesen haben. Das »Beyspiel eines Miltons und Klopstocks« sei, so Leonhard Meister 1783, »die Veranlassung« gewesen, die Bodmer »vorzüglich auf biblische Gegenstände hinführte«.61 Während Bodmer mit seinem Epos die Erzählung von Milton (inhaltlich) weiterführt, geht er, bei gleichzeitiger Wertschätzung, auf Distanz zu Klopstock und konfrontiert dessen Epos mit seinem eigenen epischen Modell. In Miltons Paradise Lost wird Adam kurz vor der Vertreibung aus dem Paradies vom Erzengel Michael auf einen hohen Berg geführt, wo ihm die kommenden Zeiten und Ereignisse gezeigt werden, die mit dem Brudermord Kains beginnen und mit der Erlösungstat Jesu Christi enden.62 Noah wird in dieser adamitischen Zukunftsvision als »zweyte[ ] Wurtzel« der Menschheit dargestellt, der als einziger mit seiner Frau, seinen drei Söhnen und deren Frauen die Sintflut überlebt. Adam erfreut sich an diesem »so vollkommen[en] und so gerecht[en]« Mann Noah und ist deshalb über den Untergang der ersten Welt auch weniger traurig:63 58
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Dass Gottsched 1752 Christoph Otto Freiherr von Schönaich zum Dichter krönte, weil dieser in seinem 1751 erstmals veröffentlichten Heldenepos Hermann oder das befreyte Deutschland eine Figur der deutschen Geschichte aufgegriffen hatte, erklärt sich vor diesem Hintergrund von selbst. Bodmer parodierte 1756 dieses Epos mit seinem epischen Gedicht Arminius-Schönaich. Vgl. zu Klopstocks literarischem Umfeld in Schulpforta Ralf Georg Czapla: Schulpforta und die Bibelepik des 18. Jahrhunderts. Klopstocks Lehrer Johann Joachim Gottlob am Ende als Dichter und Theologe. In: Daphnis 34 (2005), S. 287–326. Bodmer’s Persönliche Anekdoten. Hg. v. Theodor Vetter. In: ZürcherTaschenbuch auf das Jahr 1892 NF 15 (1892), S. 91–123, hier S. 111. Meister (1783), S. 34. Vgl. Bodmer: Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Zürich, bey Conrad Orell und Comp. 1742. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1965. (Faksimiledruck der Bodmerschen Übersetzungvon 1742), S. 513ff. (Buch XI); im Folgenden mit der Sigle ›VP‹ zitiert. Ebd., S. 540. – In der Fußnote zu dieser Passage merkt Bodmer an, dass die Erzählung über Noah »sehr viel Neues und Hertzrührendes« enthalte, wenn man sich an die Stelle Adams versetze. Bodmer verweist somit in der Kommentierung auf die relevanten Aspekte der Zürcher Poetik, die er auch in seinen Aufsätzen zur Noachide betont. – 1765 nimmt Bodmer die Charakterisierung von Noah als »zweyte[r] Wurzel der Menschheit« wortwörtlich in die Noachide auf; vgl. Bodmer: Die Noachide in zwölf Gesängen. Berlin 1765, S. 3; im Folgenden abgekürzt zitiert als (N 1765).
137 Also wird alles aus der Art schlagen, alles wird sich verschlimmern, Gerechtigkeit und Mässigkeit, Wahrheit, und Treue, werden ins Vergessen fallen, ein einziger Mann ausgenommen, der in einem dunckeln Weltalter allein ein Kind des Lichtes ist, der dem Exempel aller Leute entgegen gut ist, der allen Reitzungen, allen Gewohnheiten, und einer gantzen Welt, die er sich zu Feinden macht, entgegen handelt, und nichts nach ihrem Hohne, ihrem Gespötte, ihrer Gewalt fraget. Derselbe wird sie ernstlich vermahnen, daß sie von ihren bösen Wegen abstehen, und wird ihnen den Weg der Ehrlichkeit und Tugend vor Augen stellen, als den sichersten, der voller Ruhe und Friedens ist […]. Aber Verspottung wird seine Belohnung seyn; Gott allein wird ihn in Acht haben, als den einzigen gerechten Menschen, der lebet.64
Noahs Charakterisierung als »Exempel«, das sich von anderen unterscheidet, zeigt an, dass Bodmer in der Nachfolge Miltons Noah in einem moralischen Sinne versteht: Noah ist der einzige Mensch, welcher tugendhaft und friedfertig ist. Besonders diese Eigenschaften dürften Bodmer zur literarischen Bearbeitung gereizt haben: aus moraldidaktischer Perspektive erscheint Noah als Vertreter der Ideale des Nymphenstaates (vgl. Kap. 2.2). Und in der Tat betonte Bodmer bereits in seinen beiden Epenskizzen den »Heroismus« von Noah, der diesen auszeichne und ihn zur Hauptfigur eines Heldengedichts prädestiniere.65 Noah sei jedoch »kein solcher Held […], wie Achilles, oder Ulysses, oder Aeneas gewesen«,66 ein Heros sei er aber gleichwohl: »Die standhafte Geduld, Gerechtigkeit und Gelassenheit sind nach unserm Bedünken heroischer und von einer rühmlichern Stärke.«67 Nicht jeder Held müsse sich »mit der Hand als ein[ ] solche[r] erzeigen«, Noahs Heldentum besteht nicht in kriegerischem Mut oder kämpferischem Geschick, sondern in seiner demütigen und frommen Haltung. Die von Gottsched noch erhobene Forderung, den Helden des Epos auch mit entsprechendem äußerlichem Pomp und Pathos zu inszenieren, findet sich bei Bodmer nicht mehr. Ähnlich wie auch Brockes das überlieferte (kriegerische) Heldenideal anzweifelte und für nicht mehr zeitgemäß hielt, so entwarf auch Bodmer im impliziten Rückgriff auf die von ihm entwickelte CharacterLehre eine bürgerlich-humane Heldenpoetik, in der militärische Tugenden keinen Platz mehr hatten.68 Nicht mehr so sehr die Taten, sondern die innere Haltung wird in diesem Modell betont – und gerade diese Erforschung der Handlungsgründe hatte Bodmer zum zentralen Aspekt der Character-Darstellung erklärt. Noah arbeite »zwar nicht mit der Hand, 64 65 66 67 68
Bodmer (VP), S. 536f. Bodmer, Breitinger (CB), S. 112. Ebd. Bodmer, Breitinger (SC, 1742, 4. Stück), S. 14. Auch Bodmer beteiligte sich somit an der Entwertung des alten Heldenparadigmas, vgl. hierzu Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schiller dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008 (Jenaer germanistische Forschungen, Neue Folge, 26), insbes. S. 79–127.
138 und hat kein Heer an der Seite, aber die Arbeiten mit dem Gemüthe sind nicht leichter«.69 In einer Welt voller Laster müsse Noah nicht nur diesen widerstehen, sondern auch noch seiner Familie Trost spenden und habe zudem sogar noch Mitleid mit der ersten Welt, um deren Erhalt er Gott bitte.70 Diese Aufgaben bestehe Noah nur durch die »Mittel der standhaften Geduld und des Vertrauens auf Gott, welche einem Menschen und Gedichte den Nahmen H erois c h mit Recht zuwegebringen.«71 Bewunderung könne Noah deshalb beim Leser hervorrufen, weil er der »einzige Gerechte in einer Welt voller Ungerechten« sei.72 Noahs Erhabenheit rechtfertigt die Darstellung im Epos. Diese Charakterisierung von Noah konnte Bodmer nicht nur in der Bibel (vgl. Gen 6,1–9), sondern auch bei Milton vorfinden. In Miltons Darstellung steht Noah in deutlichem Kontrast zur verdorbenen Welt; dieses Strukturprinzip war auch schon bei der Beschreibung des Nymphenstaates für Bodmer wichtig gewesen: Diese, die du zulezt in Triumph und Wollust gesehen hast, sind eben diejenige, die du zuerst gesehen, jene Helden, jene tapfere Männer und Sieger,die auf ihre Stärcke trutzeten, aber an wahrer Tugend entblößt waren. Nachdem sie viel Menschenblut vergossen, viel Völcker verwüstet,und unter sich gebracht, und dadurch einen grossen Nahmen in der Welt, hohe Titel, und reiche Beute, erworben, werden sie ihre Weise ändern, und sich der Wollust, der Gemächlichkeit, dem Müssiggang, dem Pomp und der Pracht ergeben; bis daß Ueppigkeit und Hoffahrt die Freundschaft mitten im Frieden mit feindseligen Thaten unterbrechen, und in Feindschaft verwandeln. Auch die Ueberwundenen, und die, so im Kriege zu Sclaven gemachet worden, werden mit ihrer Freyheit, zugleich alle Tugend und Furcht Gottes verliehren, bey welchem ihre heuchlerische Tugend und Frömmigkeit in währendem Kriege keinen Beystand wider ihre Anspränger gefunden hatte; daher werden sie in ihrem Eifer erkalten, und nur sorgen, wie sie das, was ihre Herren ihnen noch gelassen haben, in guter Ruhe, weltlich und liederlich geniessen mögen; denn die Erde wird mehr als genug hervorbringen, die Mässigkeit zu prüffen.73
Noahs Umwelt giert zunächst nach kriegerischen Eroberungen und dem damit verbundenen Reichtum; sobald sich dieser eingestellt hat, wird aus den brutalen Kriegern ein Volk von Müßiggängern, die sich dem luxuriösen und lasterhaften Leben hingeben. Daraus resultiert aber kein harmonisches Zusammenleben, sondern vielmehr neue Streitigkeiten. Sowohl in den positiven Aspekten als auch in den negativen gleicht die Welt Noahs dem Reich der Nymphen: Kriegerische Eroberungen, die Begierde nach demjenigen, was man nicht besitzt, den Geiz und den Neid hatte Bodmer schon 1722 – bevor er Miltons Werk kennenlernte – als weit verbreitete Handlungsmotive kritisiert und verurteilt. Wie in Kap. 2 69 70 71 72 73
Bodmer, Breitinger (CB), S. 14. Bodmer, Breitinger (SC, 1742, 4. Stück), S. 14f. Ebd., S. 15 (Hervorhebung im Original). Bodmer, Breitinger (CB), S. 111. Bodmer (VP), S. 536.
139 gezeigt, verbirgt sich hinter diesem moralischen Verfallsmodell, das Milton veranschaulicht, ein politisches Konzept, mit dem sich Bodmer einig wusste. Der Zürcher fand bei Milton also nicht nur in poetologischer und religiöser, sondern auch in politischer Hinsicht Gemeinsamkeiten, worauf in der Forschung bislang nur wenig aufmerksam gemacht wurde. Bender plädierte 1967 entschieden dafür, Bodmers Milton-Begeisterung auf »ästhetische[ ] Gesichtspunkte[ ]« zurückzuführen und hielt fest,74 dass es Bodmer »nicht um Milton als solchen« ginge, sondern um die »Erörterung wichtiger ästhetischer Probleme, für die dann freilich Milton das Exempel« bilde.75 Damit wandte sich Bender insbesondere gegen die Auffassung von Schöffler, der Bodmers Wertschätzung von Milton vor allem »im Religiösen« gegründet sah,76 wobei er – wie Bender die religiösen Aspekte – zu sehr die »ästhetischen Aspekte« ausblendete.77 John Hermann Tisch griff 1975 die sich scheinbar konträr gegenüberstehenden Einschätzungen auf und sah die Milton-Begeisterung von Bodmer »rooted in religious as well as in aesthetic foundations« und verdeutlichte,78 dass Bodmer in seiner Verteidigungsschrift für Miltons Epos neben poetologischen Gründen vor allem theologische Argumente anführte, um die Qualität des Werkes zu erläutern.79 Obwohl Tisch somit zu Recht auf die Gefahr einer zu einseitigen Betrachtungsweise aufmerksam macht, bleibt bei ihm doch auch die politische Dimension unberücksichtigt. Anselm Maler und zuletzt Daniel Tröhler haben darauf hingewiesen, dass Miltons Epos ein »Zeugnis englischer republikanischer Gesinnung« sei,80 die derjenigen von Zürich gleiche.81 Armand Himy, auf den sich Tröhler in seinen Ausführungen bezieht, analysiert in seinem Aufsatz vor dem Hintergrund von Miltons politischen Schriften die sich im Paradise Lost manifestierenden politischen Ansichten: Milton warne im Epos vor einer tyrannischen Machtausübung und halte im Gegenzug die aristokratische Regierungsform, wie sie auch in Zürich existierte, für die beste.82 Miltons 74 75 76 77
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Bender (1967), S. 250. Ebd., S. 249. Ebd., vgl. Schöffler (1925), S. 67f. Bender (1967), S. 250. – Dieselbe Kritik trug Bender auch schon in seinem Nachwort der Faksimile-Ausgabe der Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie vor (vgl. Bodmer (CA), S. 6*f.). John Hermann Tisch: ›Poetic Theology‹: Paradise Lost between Aesthetics and Religion in 18th Century Switzerland. In: Revue de littérature comparée 49 (1975), S. 270–283, hier S. 271. Vgl. ebd., S. 280ff. Anselm Maler: Versepos. In: Grimminger (1984), S. 365–422, hier S. 386. Vgl. auch Tröhler (2006), S. 59f. Vgl. Armand Himy: Paradise Lost as a republican ›tractatus theologico-politicus‹. In: Milton and Republicanism. Hg. v. David Armitage, Armand Himy, Quentin Skinner. Cambridge 1995, S. 118–134, hier S. 133f. Vgl. für Miltons politische Ansichten, die sich im Paradise Lost niederschlugen,auch David Loewenstein:The
140 Einfluss auf Bodmer gründet somit auf den drei verschiedenen Ebenen Poetik, Religion und Politik, die sich nicht voneinander trennen bzw. gegeneinander ausspielen lassen.83 Bodmer selbst verweist indirekt in der Critischen Geschichte zu seiner dritten Übersetzung von Miltons Paradise Lost aus dem Jahr 1754 auf seine Übereinstimmung mit der politischen Grundhaltung von Milton hin, wenn er ihn als einen »Anwald [sic] von allen Arten der Freyheit« beschreibt, bei dem »die Liebe zur Freyheit […] die beliebteste Neigung seiner Seele« war.84 Milton sei »ganz und gar ein Republikaner, und dacht von dem gemeinen Wesen, wie ein Grieche oder Römer«.85 Bei aller Begeisterung Bodmers für Klopstocks Messias und der daraus entspringenden Übernahme metrischer und stilistischer Aspekte und Motive in die eigene Epenproduktion scheint das Epos von Klopstock aber doch nicht genau Bodmers Ideal zu entsprechen: 1772 attestierte Bodmer der »ätherische[n] Meßiade«, dass sich durch die Lektüre die »Seelen von weichem Gefühle […] mit Wollust über die Sphäre alles Irdischen wegreissen« ließen und sich die »starken Geister […] nicht ohne Mühe in ihrer Fassung« halten könnten. Während er damit vor allem die affektive Wirkung des Epos hervorhob,86 sprach er im unmittelbaren Anschluss daran anders von seiner Noachide: Die Noachide bleibt auf der Erde. Die Menschen und die Nationen darinnen haben die Laster und die Neigungen der Menschen und Nationen die wir kennen; und es sind unsre Sünden,womit sie die Sündfluth verschuldethaben. Noah und sein Haus allein hat die anerschaffene Güte des menschlichen Herzens behalten.87
Indem Bodmer seine Noachide auf der Erde und die Messiade im Äther verortet, deutet er eine Differenz an, die sich – auch wenn aus einer zeitli-
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Radical Religious Politics of Paradise Lost. In: A Companion to Milton. Hg. v. Thomas N. Corns. Oxford 2001, S. 348–362. Vgl. für Nachweise der vielen, häufig gar wortwörtlichen Übernahmen von Versen aus dem Paradise Lost in den Noah Carl Henry Ibershoff: Bodmer and Milton. In: Journal of English and Germanic Philology 17 (1918), S. 589–601, ders.: Bodmer and Milton Once More. In: PMLA 43, 4 (1928), S. 1055–1061, Theodor Vetter: J. J. Bodmer und die englische Literatur. In: Bodmer (1900), S. 313–386, hier S. 362ff. Bodmer: CritischeGeschichte des VerlohrnenParadieses.In: Bodmer: Johann Miltons verlohrnes Paradies. Ein Episches Gedicht in zwölf Gesängen. Neu überarbeitet, und durchgehends mit Anmerkungen von dem Uebersezer und verschiednen andern Verfassern. Erster Band, und vor diesem die critische Geschichte des Gedichtes. Zürich, verlegts Conrad Orell und Compagnie 1754, S. 3–40, hier S. 4. Ebd. Bodmer: Die sechs Zeitpunkte der Geschichte deutscher Poesie. In: Schweitzersches Museum. Hg. v. Johann Heinrich Füssli. Dritter Jahrgang, Erstes Quartal. Zürich 1786, S. 233–243, hier S. 241. – Bodmers Aufsatz stammt aus dem Jahre 1772. Ebd.
141 chen Distanz von 20 Jahren artikuliert – mit als Grund lesen lässt, warum Bodmer seine Noachide verfasste: Klopstocks Epos hat sich zu sehr vom »Irdischen« entfernt und räumt dem sozialen menschlichen Zusammenleben zu wenig Platz ein.88 Während Bodmer in seinem Epos die Vielfalt der menschlichen Sünden präsentiert und sich somit vor allem auf das ›konkrete‹ zwischenmenschliche Verhalten einer oder mehrerer Gemeinschaften unter- und gegeneinander konzentriert, stehen diese Aspekte bei Klopstock nicht im Vordergrund. Diese Sichtweise findet sich auch bei Johann Georg Sulzer (1720–1779), der 1750 Bodmers und Klopstocks Epos einander gegenüberstellte: »Wir sind immer Menschen, und eine wohlgemachte menschliche Fabel [wie die der Noachide; J. R.] geht uns näher an, als eine göttliche [wie die im Messias; J. R.]«.89 In der Vorrede zur Noachide von 1781 griff Bodmer diesen Gegensatz nochmals auf: Die Noachide ist nicht olympisch, nicht ätherisch, sie ist irdisch und hat kaum die Kühnheit, sich aus dem körperlichen, sinnlichen Weltall in die Gegenden zu schwingen, wo über den Orion und Sirius hinaus die reinen leiblosen Intelligenzen schweben […]. Ob sie gleich Patricharchen [sic] sind, Lieblinge Gottes, von Gott ausserordentlich begünstiget, und sie verdienen diese Ausnahme durch ihr göttliches Leben, so ist ihre Gemüths= und Denkungsart doch den irdischennatürlichen Menschen nicht unerreichbar; die mehrern sind an Kopf und Herz Character, welche wir in den Jahrbüchern aller Jahrhunderte und aller Nationen nach der grossen Flut erblicken.90
Bodmer weist also seiner Noachide denjenigen Stoffbereich zu, den er in seinen Critischen Betrachtungen als das »menschliche Reich« bezeichnet hatte (vgl. Kap. 1.4). Somit steht auch die »Sittenlehre« im Vordergrund, die »Gottesgelahrtheit« als zuständige Fachdisziplin des »himmlischen Reiches« stellt Bodmer eher in den Hintergrund. Diese Einschätzung findet sich auch in Sulzers Gedanken von dem vorzüglichen Werth der Epischen Gedichte des Herrn Bodmers, in welcher Der Noah exemplarisch für die anderen Epen Bodmers vorgestellt und gelobt wird. Sulzer geht es in seiner Schrift nicht um poetologische Fragen oder eine rhetorischstilistische Analyse, sondern um den Inhalt. Die »Anlage, der Inhalt und 88
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Ibershoff hält aufgrund dieser Differenz den Einfluss Miltons auf Bodmers Epos für größer als denjenigen von Klopstock (vgl. ders.: Bodmer as a literary borrower. In: Philological Quarterly 1, 2 (1922), S. 110–116, hier S. 113). Vgl. zum stilistischen Einfluss von Klopstock auf Bodmer Margarete Usselmann: Bodmer als Nachahmer Klopstocks.München 1929 (Diss.), Ibershoff:Bodmer’s Indebtness to Klopstock. In: PMLA 41, 1 (1926), S. 151–160, und ders.: Bodmer and Klopstock Once More. In: Journal of English and Germanic Philology 26 (1927), S. 112–123. Sulzer an Bodmer, 10. März 1750, zit. nach Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner. Aus Gleims litterarischem Nachlasse. Hg. v. Wilhelm Körte. Zürich 1804, S. 127. Bodmer: Vorrede. In: Die Noachide in Zwölf Gesängen. Aufs neue ganz umgearbeitet und verbessert vom Verfasser. Basel 1781, unpag.; im Folgenden abgekürzt zitiert als (N 1781).
142 die Absicht der Bodmerischen Gedichte« würden sogar die »unsterblichen Gesänge des Homers und Virgils« übertreffen,91 indem sie durch »einnehmende Exempel und Lehren« das, was »in menschlichen Sitten und Tugenden das beste und schätzbarste ist«, darlegen würden.92 Während Homer und Vergil mit ihren Epen die »bürgerlichen Sitten« und die »politischen Tugenden« befördert und gebessert hätten,93 zeige Bodmer darüber hinaus auch die »innere Rechtschaffenheit und Vollkommenheit der Natur«.94 Die positiven Figuren der Epen demonstrieren durch ihren Gottesglauben und ihre »Rechtschaffenheit des Herzens« die »exemplarische Ausübung der Pflichten der Religion und Menschlichkeit«95 und erwiesen sich als »erhabene Muster aller Tugenden, [als] Exempel der Menschen«.96 Bodmers Epen sind also deshalb besonders wertvoll, weil sie dem Leser Exempla des moralisch richtigen Verhaltens vermitteln und zudem ein Idealbild des Menschen entwerfen. Sie sind poetische Sittenlehren. Auch Bodmer begründete sein Interesse am biblischen Stoff in erster Linie mit der Moral und den Sitten der (vorsintflutlichen) Menschen, verweist aber auch auf das besondere historische Ereignis, welches die Sintflut darstellt. Allein durch diese Singularität wecke sie beim Leser großes Interesse: Nun ist seit dem Fall des ersten Menschen schwerlich ein Begegniß zu finden, welches bequemer gewesen wäre, auf die Personen zu würken, als die Sündflut, welche das ganze menschliche Geschlecht bis auf acht Personen, in den Untergang gestürzet hat. In der Errettung dieser wenigen, und den Ursachen, welche dieselbe gewürket haben, besteht die Fabel oder die Haupthandlung des Gedichtes.97
Die Errettung der Noah-Familie ist eng mit dem Untergang der restlichen Menschheit verbunden, was in der literarischen Darstellung unbedingt zu berücksichtigen sei: »Theils muß uns ein Abscheu vor der verruchten ersten Welt, und theils eine grosse Hochschätzung gegen dem [sic] gerechten Mann beygebracht werden, welchen Gott zum Stammvater der andern Welt ausersehen hat«.98 Es gehe somit in der Noachide darum, einerseits den Leser »auf die Antediluvianos böse [zu] machen«,99 andererseits solle die Noah-Familie so dargestellt werden, dass der Leser »an
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Sulzer: Gedanken von dem vorzüglichen Werth der Epischen Gedichte des Herrn Bodmers. Berlin 1754, S. 13. Ebd., S. 5. Ebd., S. 13f. Ebd., S. 15. Ebd., S. 20. Ebd., S. 6. Bodmer, Breitinger (CB), S. 115. Bodmer, Breitinger (SC), S. 11. Ebd., S. 10.
143 ihren Begegnissen Antheil nimmt«.100 Diese Kontrastierung von Gut und Böse, der Gegensatz zwischen dem frommen und tugendhaften Verhalten der Noah-Familie und den verdorbenen und lasterhaften Sitten der anderen Menschen findet sich nicht nur in Miltons Paradise Lost wieder, sondern manifestierte sich als literarische Denkfigur von Bodmer bereits im Discours vom Nymphenstaat. Den in der frühen Erzählung herausgearbeiteten politischen Gehalt erkennt Leonhard Meister auch in der Noachide, wenn er wie Bodmer diese als ein Werk versteht, in dem der Mensch und seine tugendhaften oder lasterhaften Verhaltensweisen diskutiert werden. Gerade hierin erblickt er ihren speziellen Nutzen: Als poetischeColumb plünderte der Dichter [Bodmer; J. R.] die Nachwelt und Vorwelt, und trug ihre Laster in das Zeitalter des Patriarchen hinüber. Dadurch ward das Gedicht moralisch, politisch; Bodmers Muse ward, was bey den Alten die epische Muse immer gewesen, Lehrerin des Volkes, der Regirung [sic], der Religion.101
Für Meister ist Bodmers Literatur eine belehrende Poesie, die sich an die verschiedenen Stände des neuzeitlichen Staates richtet und diese im richtigen Verhalten unterweist.102 Diese Belehrung wird erst dadurch ermöglicht – und das fiel nicht nur Meister auf –, dass Bodmer in seinem Epos neuzeitliche Begebenheiten in die Zeit vor der Sintflut versetzte: Die erste Welt wird damit zum Spiegel oder Abbild der zweiten Welt. Die zeitgenössischen Geister schieden sich allerdings gerade an dieser Tatsache, dass Bodmer klar erkennbare Ereignisse der Moderne in das Zeitalter der Patriarchen verpflanzte. Christoph Martin Wieland (1733–1813) fasste in seiner Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah die Diskussion folgendermaßen zusammen: Der Haupt=Einwurf den man dem Noah gemacht, betrift die Gleichförmigkeit, welche die Character und Geschichten einiger Antediluvianischer Völker mit den Charactern und Geschichten viel jüngerer Nationen haben. Dieses findet man unwahrscheinlich oder doch nicht geschickt genug. Man wird verdrißlich, sagen einige, wenn man schon vor der Sündflut einen Mahommed, eine Parisische Blut=Hochzeit, ein Sybaris findet; Wir hoffen neue Völker, neue Sitten zu sehen, und man zeigt uns Spanier, Franzosen, Americaner, u.s.w.103
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Ebd., S. 9. Meister (1783), S. 36. Auch Sulzer hatte darauf hingewiesen, dass neben den allgemeinen Lehren »jeder Stand und jedes Alter« Lehren finde, die ihn besonders angehen würden (Sulzer (1754), S. 26f.). Wieland: Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah. In: Wielands Gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke, 3. Band. Hg. v. Fritz Homeyer. Berlin 1910, S. 307. – Wieland bezieht sich hiermit auf Albrecht von Hallers Rezension,die 1750 in der GöttingischenZeitung von gelehrten Sachen erschienen war. Haller hatte jedoch lediglich die neuzeitlichen Ereignisse aufgelistet, ohne sich negativ über das Epos zu äußern. Die Rezension ist wiederabgedruckt in Karl S. Guthke: Literarisches Leben im achtzehnten Jahrhundert in Deutschland und in der Schweiz. Bern, München 1975, S. 339f., hier S. 340.
144 Während die Kritiker die zeitliche Versetzung neuzeitlicher Ereignisse in die Zeit vor der Sintflut als unwahrscheinlich ablehnten,104 verteidigte Wieland Bodmers Adaptation mit einem klimatheoretischen Argument: Völker, die unter ähnlichen klimatologischen Verhältnissen leben, würden auch in ihrem Verhalten eine weitgehende Übereinstimmung aufweisen. Damit griff Wieland zwar ein gängiges Argument der entstehenden Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts auf, argumentierte hiermit aber nicht wie Bodmer, der die Klimatheorie zwar in seinen Critischen Betrachtungen auch vertreten, ihre Relevanz aber eher zurückgebunden hatte (vgl. Kap. 1.3). Bodmer hatte bereits 1746 in seinen Anmerckungen zu dem Grundrisse eines epischen Gedichtes von dem geretteten Noah die möglichen Einwände gegen seine neuzeitliche Färbung der partiarchalischen Welt vorweggenommen und dabei nicht mit der Klimatheorie, sondern mit der allgemeinen, sowohl vor wie nach der Sintflut konstanten Natur des Menschen argumentiert: die »Erzväter [hätten] sich in ihren Angelegenheiten solcher Beweggründe bedient«, die »ihnen die Natur der Sachen und die Umstände an die Hand gegeben« hätten, »es könnte darum nicht anders seyn, als daß diese mit denen, die ihre Nachkommen braucheten, öfters einerley seyn müßten«.105 Entsprechend gründen etwa die Reflexion von Cham, dem mittleren Sohn von Noah, über die für die Flut benötigten Wassermassen auch nicht in der »Wolfischen [sic] Philosophie«,106 vielmehr besitze Cham von Natur aus eine »so gute Gabe«, um diese »philosophischen Zweifel zu erregen« und »brauchete dazu eben keinen Wolf [sic]«;107 Bodmer versteht Chams kritische Rationalität also im positiven Sinne als Konstante der menschlichen Natur. Aber auch die allgemeinen negativen Züge des Menschen zeigt Bodmer in seinem Epos, wie es im Noah heißt: Nein; Jahrhunderte machen die Menschenkinder nur älter; Ihres letzten Jahrhunderts Sünd’ ist die Sünde des ersten, Und kein Alter gesteht der Vernunft die Rechte der Herrschaft.108
Es sind somit immer dieselben Laster, die der Mensch ausübt, und die sich in der Geschichte stets wiederholen. Bodmer spricht folglich auch davon, dass die Schilderungen der Umwelt von Noah historische Portraits darstellen würden, die »aus der Erfahrung oder der Historie
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Vgl. hierzu Martin (1993), S. 165–184. Bodmer, Breitinger (CB), S. 117. Ebd., S. 116. – Chams Reflexionen finden sich im VI. Gesang des Noah (Ausgabe von 1752, S. 198). Bodmer, Breitinger (CB), S. 117. Bodmer: Der Noah in zwölf Gesängen. Zürich, bey David Geßner, 1752, hier: IV. Gesang, Verse 574–576. – Im Folgenden mit Angabe des Gesangs und Verses direkt im Text zitiert, ansonsten mit der Sigle ›N 1752‹.
145 bekannt« seien.109 Gleichzeitig betont er allerdings auch, dass er nicht direkt – wie dies einige kritische Rezensenten meinten – die tatsächlichen Taten der späteren Welt schildere, sondern vielmehr lediglich »Thaten und Laster aufgeführt hätte, die mit den lasterhaften Thaten der spätern Welt in einer Ähnlichkeit stühnden«.110 Bodmer beruft sich hiermit auf seine Lehre vom poetischen Character, der zwar Elemente eines historischen Characters enthalten kann, darüber hinaus aber auch weitere Eigenschaften in sich vereinige, wodurch sich der Character von einem ursprünglich historischen in einen poetischen verwandle (vgl. Kap. 1.4). Für seine Kritiker ging Bodmer damit freilich viel zu wenig weit; diese hätten sich viel eher Schilderungen aus der Vorzeit gewünscht, welche die Andersartigkeit der Patriarchen verdeutlicht hätten.111 Sulzer, der ansonsten sehr enthusiastisch auf Bodmers Epen reagierte, hat diesen Sachverhalt anschaulich geschildert: Aber ich wünschte, daß Sie mehr den neuern ähnliche Nationen, als accurat eben sie selbst in die Sündfluth gebracht hätten. Es dünkt mich, daß man bei Lesung des zweiten Buches dieses denken sollte: ›Da sehen wir, daß die Laster und Thorheiten der heutigen Welt, jener alten den Untergang gebracht u.s.f.,‹ anstatt daß wir, wenigstens ich und noch Mancher, so denken: ›Die Völker, die der Verfasser vor der Sündfluth setzt, haben ja erst hernach gelebt; nur sein satyrischer Kopf setzt sie dorthin.‹ Ich weiß nicht, ob ich meine Meynung deutlich genug ausdrücke; wenigstens gestehe ich Ihnen, daß ich noch jetzt einige von Ihren antidiluvianischen Nationen nur deßwegen für unwahrscheinlich und dem Buchstaben nach erdichtet halte, weil ich mir immer sage: dieß sind ja Franzosen u.s.w. Es kommt mir vor, daß ich, anstatt eines Portraits, das Original selber sehe, und ich will jetzt nicht das Original, sondern das Portrait sehen.112
Ein Rezensent in der Zürcher Monatsschrift Crito lobte hingegen Bodmers ahistorische Sittenschilderungen mit denselben Argumenten, die bereits Bodmer selbst vorgetragen hatte. Die Beschreibungen der verschiedenen Nationen würden keinen »Fehler«, sondern vielmehr eine »lehrreiche Schönheit« darstellen:113 Es ist gewiß, und laßt sich sowohl aus psychologischen, als historischen Gründen erweisen, (wenn man die Geschichte der ersten Jahrhunderten nach der Sündflut mit dem Characterder Antediluvianernvergleichet)daß die gleichenBegierden,die gleichen Sünden und Laster in der ersten Welt geherrschet, die man in der heutigen bemerket; sie werden die gleichen Würkungen und Folgen verursachet haben, wo noch heut zu Tage […]. […] Man siehet jederzeit die gleichen Trauer= und Schau109
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Bodmer an Sulzer, Dezember 1749, unpublizierter Brief, Zentralbibliothek Zürich, Ms Bodmer 12a. Ebd. (Hervorhebungen J. R.). Mahlmann-Bauer hat gezeigt, dass Johann Gottfried Herder Bodmers Epos attestierte, zumindestin Ansätzen morgenländischeSitten zu schildern;vgl. MahlmannBauer (2009), S. 248f. Sulzer an Bodmer, 27. April 1750, zit. nach Briefe (1804), S. 138f. Anonym: 1. Stück. In: Bodmer, Breitinger (Hg.): Crito. Eine Monatsschrift, Bd. 1. Zürich 1751, S. 3–16, hier S. 14.
146 spiele in der Welt aufgeführet, nur die Personen werden abgeändert, und die äusseren Zierarten; doch diese sehr unmerkbar.114
Bereits 1742 hatte Bodmer darauf hingewiesen, dass die »Erfindungskraft […] das Stillschweigen von den Bewegursachen« der Sintflut ersetzen müsse,115 da die biblische Überlieferung »mehr Umstände von den Würkungen, als von den Ursachen des göttlichen Unwillens, durch welche die erste Welt vertilget ward«,116 berichte. In seinem Epos suchte Bodmer nach den Gründen, die ihm »schwer genug [schienen] die Vertilgung des Menschengeschlechts zu verdienen«.117 Er fand sie im allgemeinen, zeitlosen sünd- und lasterhaften Verhalten der Menschen.
3.1.2 Gewalt und Aberglauben als Laster der Vor- und Nachwelt Bodmers Darstellung der Laster der vorsintflutlichen Welt stützt sich zwar auf Miltons Schilderungen im Paradise Lost, unterscheidet sich davon aber in einem grundlegenden Punkt: Während Milton das Verhalten der Nachfahren Adams in chronologischer Abfolge erzählt und somit eine diachrone Perspektive vermittelt, nimmt Bodmer eine synchrone Blickrichtung ein. Milton beginnt seine Erzählung mit dem Brudermord Kains, beschreibt dessen Nachkommen, die »Künste« erfinden, die nur »zur Bequemlichkeit des menschlichen Lebens dienen« und Gott vergessen lassen,118 und schildert das Geschlecht der »Riesen«,119 das zunächst kriegerische Gewalttaten begeht, um dann in »Ueppigkeit und Schwelgerey« zu leben.120 Aber auch dieses luxuriöse und wollüstige Leben ist von »Schlägen und Zwiespalt unter Nachbarn und Bürgern« geprägt.121 Milton entwirft hier ein moralisches Dekadenzmodell, das sich auch bei Bodmer findet. Bodmers Noah findet sich nicht nur von Wollüstlingen umgeben, sondern auch von Völkern, die Eroberungskriege führen, Sklaverei betreiben, religiöse Konflikte mit Gewalt austragen oder ein naturnahes, aber moralisch verwerfliches Leben führen.122 Diese verschiedenen lasterhaften Lebensarten existieren zur selben Zeit, zeigen also keine historische 114 115 116 117
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Ebd., S. 14f. Bodmer, Breitinger (SC), S. 10. Ebd. Bodmer an Sulzer, Dezember 1749, unpublizierter Brief. Zentralbibliothek Zürich, Ms Bodmer 12a. Bodmer (VP), S. 527. Ebd., S. 529. Ebd., S. 532. Ebd. Vgl. für eine inhaltliche Zusammenfassung der Handlung Hanna Hohl: Die Darstellung der Sintflut und die Gestaltung des Elementaren. Tübingen 1967 (Diss.), S. 129–131.
147 Entwicklung der Menschheit an wie bei Milton, sondern bilden den synchronen Zustand der Menschheit ab. Damit bedient sich Bodmer desselben erzähltechnischen ›Tricks‹, den er auch schon bei der Kontrastierung des Nymphenstaates mit dessen Umwelt angewandt hatte. Indem er keine dynamische Gesellschaftsentwicklung skizziert, sondern einen bestehenden Gesellschaftszustand beschreibt und sich nicht primär nur auf ein Laster beschränkt wie Milton, erhält die Noachide ihre große moralische und politische Bedeutungsebene, von der Meister und andere sprachen. Die Gegenwart wird nicht nur über einen Aspekt, durch die höfische Dekadenz, an die historische Vorwelt angeschlossen, sondern wird durch eine Vielzahl von Phänomenen mit ihr verbunden. Auf diese Weise sichert sich Bodmer nicht nur hinsichtlich der Begründung des Ausbruchs der Sintflut hinlänglich ab, sondern gibt auch gleichzeitig zu verstehen, welche Fehlentwicklungen er in der Neuzeit erkennt. Als gesellschaftstheoretische Begründung der Sintflut zeigt Bodmers Darstellung der verschiedenen vorsintflutlichen Gesellschaften, welche modernen gesellschaftlichen Entwicklungen er als besonders lasterhaft und menschheitsgefährdend erachtet. Die Skizzierung der antediluvianischen Welt erfolgt aufgrund der Analyse der Gegenwart. Bodmer beschreibt in seinem Epos verschiedene entartete Gesellschaften im Antediluvium, die auch in den Zukunftsträumen von Noahs Kindern wieder auftauchen. Hiermit macht Bodmer deutlich, dass die antediluvianische Welt die Entwicklungen der späteren Welt präfiguriert, d.h. die gezeigten (frühzeitlichen) Ereignisse zu anderen Zeiten und an anderen Orten erneut auftreten werden. Damit kommt Bodmer einem poetologischen Prinzip nach, das auf der Annahme einer konstanten Anthropologie gründet und das er schon in Montesquieus Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence geschätzt und gelobt hatte (vgl. Kap. 1.3): Montesquieu hatte zu einem bestimmten Ereignis aus der römischen Geschichte vergleichbare, zeitlich später eingetretene Vorfälle aus der Geschichte anderer Völker angeführt. Dieser ›exemplarischen Erzählweise‹ ist auch Bodmer verpflichtet, sie wurde aber von vielen Zeitgenossen als unwahrscheinlich abgelehnt. Sie manifestiert sich auch in der Struktur des Epos, wenn Bodmer im zweiten Gesang und zu Beginn des dritten die verschiedenen Gesellschaften beschreibt und die Zukunftsvisionen in den elften der insgesamt zwölf Gesänge des Epos legt. So umrahmt die Geschichte der menschlichen Gesellschaften die Handlungen der Noah-Familie; die Erzählstruktur verdeutlicht somit, dass die Familie als Verkörperung der menschlichen Ideale im Mittelpunkt des Gedichts steht. Wie schon in seinen theoretischen Überlegungen zum Grundriß eines Noah-Epos dargelegt, bemüht sich Bodmer im zweiten Gesang der Noa-
148 chide darum, die Leser »auf die Antediluvianos böse [zu] machen«, womit er der biblischen Charakterisierung folgt (vgl. Gen 6,5). Noahs Bericht über die Reise mit dem Erzengel Raphael »von Reich zu Reich« (II, V. 164) zeigt die Verderbtheit der Welt. Während 50 Tagen durchwanderte Noah mit dem Engel die Reiche und berichtet nach der Rückkehr zu seiner Familie von den lasterhaften Gesellschaften. Seine Erzählungen erachtet Wieland in der Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah »ihrer vortrefflichen sittlichen Schildereyen wegen« als die »wichtigsten und schönsten Stücke[ ] dieses Gedichts« und verweist damit auf die große Bedeutung, die diesen Gesellschaftsbeschreibungen zukommt.123 Sie beginnen mit einem historischen Rückblick auf die Vergangenheit des Reiches Chus, das vom Tyrannen Magog beherrscht wird,124 ehemals aber eine »glückliche[ ] Republick« bildete:125 Vormals war in den Gränzen von Chus die Tugend nicht fremde, Als die Väter der Stämm’, ein jeder in seinem Geschlechte, Ehre, Vernunft und Freyheit, das älteste Recht der Geschöpfe Welche denken, ihr Erb und angebohrnes Gefälle, Wie den Augapfel bewachten, und seine dummen Verletzer Väterlich lehrten und straften, in einen Haufen versammelt, Wenn, zu stark für das göttliche Recht, Gewalt einherrauschte. Damals pfropften die Väter das Recht, die Tugend und Sitten In den Busem der Söhne, sie wuchsen darinn zum Instinkte. Man empfand, daß sein Wolseyn im Wolseyn anderer blühte; Daß man sein eigenes Haus durch Rettung andrer beschützte; Daß die Tugend, nicht schwer zu tragen, die Stirn nicht durchfaltet. (II, V. 204–215)
Wie bereits am unpublizierten Discours Glückseliges Land aus den 1720er Jahren gezeigt, bilden auch in Chus die Vernunft und die Freiheit grundlegende Eigenschaften der Republik, zu denen sich die Tugenden der Gerechtigkeit sowie der Ehre, die man sich durch Dienste für das Allgemeinwohl erworben hat, hinzugesellen. Die Einhaltung und Ausübung dieser positiven Eigenschaften werden von den Stammesvätern genau überwacht und an ihre Söhne weitergegeben, so dass auch diese die Ansichten und Einstellungen der Ältesten weitertragen können. Dieses harmonische Zusammenleben von Alt und Jung wurde von Bodmer auch schon als Charakteristikum des Nymphenstaates hervorgehoben. Das eigene, individuelle Wohlsein eines jeden Stammesmitglieds ist eng verbunden, ja sogar identisch mit dem Wohlsein der anderen Gesellschaftsmitglieder; die gegenseitige Hilfe bei Angriffen von Außen bildet eine 123 124
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Wieland (1910), S. 342. In der Bibel erscheint dieser Name erst nach der Sintflut; vgl. etwa Gen 10,2; Ez 38f und insbes. Offb 20,8. In der Offenbarung wird Magog wie bei Bodmer als satanischer Kriegsherr dargestellt. Deutlich zeigt sich hier Bodmers ›exemplarische Erzählanlage‹. Wieland (1910), S. 343.
149 weitere zentrale Eigenschaft der Republik, die Bodmer ebenfalls schon früher genannt hatte. Die verschiedenen Stämme, die zusammen die Republik bildeten, lebten in friedlicher Koexistenz und hatten sich nur als Republik zusammengeschlossen, um sich gemeinsam besser und effektiver gegen die Bedrohungen schützen zu können, was Pufendorf als einzigen Grund für die Bildung von bürgerlichen Gesellschaften angeführt hatte (vgl. Kap. 2.3). Der Verbund der Familienclans war demokratisch strukturiert, was anhand der Gerichtsbarkeit verdeutlicht wird. Nicht eine einzelne Person sprach Recht, was Pufendorf als dem Naturzustand adäquate Form der Rechtssprechung angesehen hatte,126 sondern als »Haufen versammelt« (II, V. 219) hielten die Stämme Gericht und kamen damit einer möglichen Parteilichkeit eines Einzelrichters zuvor. Pufendorf hatte in seiner Abhandlung den historisch postulierten Naturzustand in der Zeit der Patriarchen verortet, als sich die Nachkommen von Adam und Eva auf verschiedene Gebiete verteilt hatten. Diesen Zustand hatte er als »temperirte[n] Natur=Stand« definiert, weil die Menschen hier bereits in Gemeinschaften zusammenlebten und nicht (mehr) vereinzelt als unabhängige Individuen:127 Also muss man sich einbilden/ daß vor uhralten Zeiten/ wenn sich die Brüder voneinander gesondert/ und ein jeder seine eigene Familie angefangen/dieselben Familen [sic]/ deren keine von der andern dependiret/ im Natürlichen Stande und Freyheit gestanden. Ebenfals befinden sich die Cörper derer Republiquen noch heut zu Tage gegeneinanderin einem solchen Stande/ indem keine der andern zu gehorchen hat/ alle zusammen von einem gemeinsamen Ober=Herrn nichts wissen. Worauß denn klärlich erhellet/ daß nicht die allerersten Menschen/ sondern vielmehr ihre Nachkommen in dem Natürlichen Stande zu leben den Anfang gemacht haben.128
Die verschiedenen Familienverbände bildeten eine Republik, die dann aber beschloss, ihre Regierungsform zu ändern und sich in eine Monarchie zu verwandeln. Damit wurde der Anfang vom Ende der Nation – und der Vorwelt – eingeleitet. Mit der Einrichtung der Monarchie gingen nämlich auch die republikanischen Tugenden verloren: O wer hätte geglaubt, daß sie [die Tugend; J. R.] da untergehn könnte! Ach das geschah! die Tugend bekam ein widerlich Aussehn, Weil man zur Ruh sie nöthig hatte. Dem Hasse der Tugend Folgte der Freyheit Verachtung, der Säugerinn edler Gemüther. Unter dem Schatten des Throns verhoften sie süsser zu leben, Ohne, daß sie des Bands der Tugend benöthiget wären; Liebe zum Staat, zu Sitten, Gefühl vom Wohlseyn der andern, Oder Verleugnung sein selbst, Aufopfern der liebsten Begierden Würden nicht schlechtweg nöthig mehr seyn, und das Reich doch bestehen, Weil die Furcht da den Platz der nöthigen Tugend verträte; […]. (II, V. 216–225) 126 127 128
Vgl. Pufendorf (ESL), 2.1.10. Pufendorf (BNV), 2.2.4. Ebd.
150 Begründet wird der Wechsel der Regierungsform mit der Bequemlichkeit des Menschen, stets tugendhaft handeln zu müssen. So denkt Laomer, ein alter Patriarch, der Noah und dem Erzengel die politischen Veränderungen von Chus erzählt, dass er eine »redliche That« (II, V. 229) einfacher vollbringen könne, wenn sie ihm befohlen würde. Das tugendhafte Leben an sich hatte an Relevanz und Wert verloren; man handelte nicht mehr aus tugendhaften Gründen, sondern nur noch für den »Wohlstand«, das äußere Ansehen. Gelegentlich lasterhaft zu handeln gefährde das Reich nicht, dachten die Familienclans: »Laster, die man im Dunkel begienge, verderbten da wenig« (II, V. 226). Nachdem Magog, ein kriegserfahrener Gigant (vgl. II, V. 232ff.) zum König gewählt wurde, sorgte er zunächst für Sicherheit und Ordnung, indem er »Räuber« (II, V. 245) bestrafte. Rasch erwies er sich aber als lasterhafter Monarch.129 Er erzog die »Söhne des Landes« nicht mehr zu einem tugendhaften Leben, sondern zur »blutigen Lust« (II, V. 235) und stellte Kriegskunst und -verdienste als höchste Errungenschaften dar, die mit der »Hirngeburt« (II, V. 243) einer Ehre entlöhnt wurden: mit dem »Rang« und dem »Titel« (II, V. 243), die an die Stelle der Tugend traten. Aus Neid, Missgunst und Geldgier begann Magog gegen »schwächer[e] Reich’« (II, V. 247) Krieg zu führen und gebärdete sich damit als Aggressor, der das harmonische Leben im Naturzustand zerstörte. Nach dem Krieg gegen Außen begann Magog einen blutigen Bürgerkrieg, um seine eigene Machtposition zu festigen. Durch Magogs gewalttätige Herrschaftsausübung wurde die Ehre, die man durch Rang und Titel besaß, allmählich durch die »Furcht« (II, V. 225) ersetzt.130 Die Furcht wurde geschürt durch die Errichtung eines folternden Staatsapparates, den Tydor als »Großvezir« (II, V. 269) und »erste[r] der Sclaven des Königs« (II, V. 269) anführte. Tydor entwickelte Folterinstrumente (vgl. II, V. 272ff.) und setzte auch ein neues »niedriges Hofrecht« (II, V. 277) ein, dem alle Folge leisten mussten: Nicht mehr als freier Mensch, sondern nur noch unterwürfig durfte man sich dem Monarchen nähern, der sich selbst auf einen »Stul hoch über die Hirten der
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Wieland weist darauf hin, dass Magog »Eigenschafteneines Romulus, Tullus Hostilius, Alexanders, Pyrrhus, Ottomann, Carl XII. von Schweden« in sich vereine (Wieland (1910), S. 344). Damit bestätigt er Bodmers Poetik des poetischen Characters. Es wird nicht ein konkreter historischer Herrscher gezeigt, sondern die allgemeine Vorstellung eines Monarchen. »[…] Allmählich ward auch die Ehre, Jene Geburt des Hirns, vom sclavischen Schrecken verdrungen. Aller Muth ward niedergeschlagen, die Ehrsucht zertreten: Nur dem König war noch erlaubt, zu wollen, den andern Gab man das Loos des Viehs, Gehorsam und Blindheitund Strafe.« (II, V. 260–264)
151 Völker« (II, V. 280) setzte und sich zur anbetungswürdigen Gottheit stilisierte.131 Betäubt vom »Rausch des Schwindelgeistes« (II, V. 284) ließ sich Magog von 50’000 Männern einen Tempel bauen, in dem sein »Bild in Riesengestalt« (II, V. 300) aufgestellt wurde, das von Priestern gepflegt und vom gesamten Volk verehrt werden musste, so »daß künftighin niemand / Einen andern verehrt’ als ihn« (II, V. 303f.).132 Der historische Bericht greift die wesentlichen Aspekte auf, die Montesquieu in seinem 1748 erschienenen De l’Esprit des Lois zur Bestimmung der verschiedenen Regierungsformen angeführt hatte. In der ursprünglichen Republik herrschten Recht, Tugenden und Sitten, die sich alle in der »Liebe zum Staat« vereinten, die Montesquieu als politische Tugend und damit als handlungsanleitendes Prinzip der Republik definiert hatte.133 Die Liebe zur Republik – »amour de la république« oder »amour de la patrie« –134 bewirke als Gefühl (»sentiment«), dass gute Sitten in der Gesellschaft entstehen würden, die wiederum selbst auch die Vaterlandsliebe bestärkten. Diese affektive Zuneigung zu einer Republik ist die Ursache dafür, dass sich die Gesellschaftsmitglieder in den Dienst für das Allgemeinwohl stellen und deswegen auch ihre eigenen individuellen Begierden zurückstellen, was Bodmer als »Verleugnung sein[er] selbst« (im positiven Sinne) bezeichnet hatte:135 »Moins nous pouvons satisfaire nos passions particulières, plus nous nous livrons aux générales«.136 In einer Monarchie sei hingegen die Vaterlandsliebe nicht nötig, um den Staat zu erhalten, da in ihr ein anderes Prinzip als in der Republik vorherrsche: ´ L’Etat subsiste indépendamment de l’amour pour la patrie, du désir de la vraie gloire, du renoncement à soi-même, du sacrifice de ses plus cher intérêts, et de toutes ces vertus héro¨ıques que nous trouvons dans les anciens, et dont nous avons seulement entendu parler.137
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»Jedermann sollte glauben, daß Gott dem König gegeben, Seinen zufälligen Wink zur Schnur des Rechtes zu setzen, Und das Gesetz zu brechen, das selbst den Ewigen bindet. Wer es ihm widersprach, bekam das Todesgeschenke, […].« (II, V. 255–258) Hiermit spielt Bodmer auf Dan 3 an. Vgl. Montesquieu: Œuvres Complètes, II: De l’Esprit des Lois. Texte présenté et annoté par Roger Caillois. Paris 1951 (Bibliothèque de la Pléiade), Livre III, ch. 2. und Livre V, ch.2. Im Folgenden abgekürzt zitiert als (EL). Montesquieu (EL), Livre V, ch. 2. Vgl. oben und auch II, V. 225. Montesquieu (EL), Livre III, ch. 5.
152 Die Vaterlandsliebe, das Streben nach wahrem Ruhm und das Absehen von eigenen Interessen sind nach Montesquieu in einer Monarchie bedeutungslos und werden durch das Prinzip der ›falschen Ehre‹ (»honneur faux«),138 von dem auch Bodmer spricht,139 ersetzt. Relevant ist in der von Magog regierten Monarchie nicht mehr die Tugend, sondern die Ehre (»honneur«) im Sinne von ›Prestige‹ einer Person, das sich in Auszeichnungen und Rangstufen widerspiegelt.140 Folglich wird es – auch in einer gut regierten – Monarchie nach Montesquieu schwierig, einen Mann mit politischer Tugend zu finden,141 was Bodmer anhand der gesellschaftlichen Außenseiterposition von Laomer und dessen Söhnen verdeutlicht.142 Laomer und seine beiden Söhne sind die letzten Republikaner. Die Monarchie im Sinne Montesquieus hat im Reich Chus nur vorübergehend Bestand und wandelt sich rasch zur Tyrannei.143 Ein despotischer Staat ist nach Montesquieu dadurch gekennzeichnet, dass nur einer die Macht innehat und deren Ausübung einem anderen, seinem »vizir«144 oder bei Bodmer: »Großvezir«, überträgt. Die Untertanen sind nur »Sclaven« (II, V. 269) und leisten dem Willen des Herrschers äußersten Gehorsam, weil sie gemäß des vorherrschenden Prinzips des despotischen Staates handeln: der »crainte« bzw. der »Furcht« (II, V. 225).145 Über Montesquieu hinausgehend, schildert Bodmer den Despoten Magog auch in religiöser Hinsicht als entartet,146 indem dieser sich selbst »die Ehr und die Rechte der Gottheit« (II, V. 283) zuschreibt: Magog verfügt, dass die Untertanen augenblicklich »im Staube / Ueberwallend die Gottheit Magogs« (II, V. 333f.) bekennen müssen, wenn 137 138 139 140 141 142
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Ebd. Montesquieu (EL), Livre III, ch. 7. Vgl. oben und auch II, V. 243 und V. 260f. Vgl. Montesquieu (EL), Livre III, ch. 6 und 7. Vgl. Bodmer (N 1752), II, V. 243. Vgl. Montesquieu (EL), Livre III, ch. 7. Laomer muss wegen seiner politischen, d.h. republikanischen Gesinnung vor Magog flüchten; vgl. Bodmer (N 1752), II, V. 187ff. Laomers Söhne sind die einzigen, die sich nicht der tyrannischen Herrschaft Magogs beugen. Bevor sie aber deswegen von Magog hingerichtet werden können, werden sie von Noah und dem Erzengel gerettet und töten mit deren Hilfe den Tyrannen; vgl. Bodmer (N 1752), II, V. 336–369. Während Montesquieu in der Veränderung einer Regierungsform grundsätzlich nichts Nachteiliges erkennt und so den Wandel einer Republik in eine Monarchie durchaus begrüßt, verschließt sich Bodmer dieser Ansicht: Bodmers Darstellung zeigt, dass die Monarchie nur eine kurze vorübergehende Phase darstellt, die sich teleologisch auf die Despotie zubewegt. Den Wandel einer Republik zum Despotismus lehnte auch Montesquieu ab (vgl. Montesquieu (EL), Livre VIII, ch. 8). Montesquieu (EL), Livre II, ch. 5. Montesquieu (EL), Livre III, ch. 9. Montesquieu hatte in seiner Abhandlung die Gesetze der Religion über den Willen des Despoten gestellt, so dass diese sowohl für den Despoten als auch für die Untertanen gelten (vgl. Montesquieu (EL), Livre III, ch.10).
153 das »Cymbal, die Paucke, der Silberschall der Posaune / Schallen« (II, V. 327f.) ertönt; wer sich dieser Anbetung verweigert, wird getötet. Diese Form der anmaßenden Selbstinszenierung Magogs als Gottheit, welche an die Verehrungsformen für den König Nebukadnezar erinnern,147 findet in der Beschreibung des Herrschers Putniel in Havila eine Parallele. Auch Putniel, von Haller und Wieland als Präfiguration des Propheten Mohammed verstanden,148 vermischt Politik und Religion in seiner Herrschaftsausübung. Auch wenn er sich selbst nicht direkt als Gottheit verehren lässt, so tritt er doch als »Abgesandte[r] des Einzigen Gottes« (III, V. 43) auf, dessen »Propheten und Zeugen, und Mund und Prediger« (III, V. 44) er sei. Von seinem Gott hat Putniel den Auftrag erhalten, mit dem »Schwerdt« (III, V. 48) ein »neues Gesetz zu lehren« (III, V. 47), wonach man das Paradies nur erreiche, wenn man im Kampf für die »einzige[ ] Gottheit« (III, V. 50) sterbe. Putniel tritt wie Magog als Kriegsherr auf, dessen Befehle »gefürchtet« (III, V. 76) werden; als »Landbezwinger und Prediger« (III, V. 75) in einer Person besitzt Putniel mit seinem religiösem Auftrag dieselbe Hybris wie Magog: Wo Magog sich vom »Rausch des Schwindelgeistes betäubt« (II, V. 284) für eine Gottheit hält, da erscheinen auch die Anhänger von Putniel als »Schwindeltrunkne[ ]« (III, V. 68) und Putniel selbst als »Betrieger[ ]« (III, V. 42), der mit falschen religiösen Heilsversprechungen seine politische Macht ausbaut und festigt.149 Als »Landbezwinger« wird auch Magog ausführlich geschildert, der sich das Volk von Nod zu Untertanen macht. Die Noditen stellen ein Abbild der Ureinwohner von Süd- und Mittelamerika dar und leben weitgehend ohne zivilisatorische Errungenschaften. Anders als die Chusiten wohnen sie nicht in Häusern oder gar Städten, sondern in der freien Natur und nächtigen in Hängematten, sie betreiben keinen Ackerbau und ernähren sich nur von der Jagd. Ihrer primitiven Lebensweise entsprechend, besitzen sie keine institutionalisierte Einrichtungen wie etwa Gerichte, die das soziale Zusammenleben regulieren würden, sondern behelfen sich bei Streitigkeiten mit dem Recht der Gewohnheit.150 Obgleich der »Ewige nicht aus ihren Gedanken getilget« (II, V. 382) sei, beten sie ihn nicht an und scheinen stattdessen eine Art von Aberglau147 148 149
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Vgl. Dan 3; darauf hatte auch Haller 1750 hingewiesen; vgl. Guthke (1975), S. 340. Vgl. Guthke (1975), S. 340, und Wieland (1910), S. 355. Montesquieu hatte die Möglichkeit erwähnt, dass in den despotischen Staaten der Herrscher einen Sohn zum Vatermord anstiften kann und dieser dem Befehl auch tatsächlich nachkommt (vgl. Montesquieu (EL), Livre III, ch.10). Dementsprechend befiehlt auch Putniel, dass Selim den eigenen Vater töten solle (vgl. III, V. 85– 148). Diese Passage lehnt sich an VoltairesDrama Le fanatisme ou Mahomet le prophète (1741) an; vgl. dazu Ibershoff: Bodmer’s Indebtness to Voltaire. In: Modern Philology 23 (1925–1926), S. 83–87. Vgl. II, V. 370–381.
154 ben zu haben, der aber nicht näher erläutert wird.151 Trotz ihres Götzen verehrenden Glaubens erscheinen sie aufgrund ihrer Friedfertigkeit als weniger verdorben als die Chusiten, die von ihnen durch einen »Golfo« (II, V. 387), also durch ein Meer getrennt sind. Einer von Magogs Leuten erfindet das Schiff und ermöglicht so, dass Magog die »neue Welt« (II, V. 409) erobern kann. Magog tritt dabei wie die Eroberer von Amerika im 15. und 16. Jahrhundert (vgl. hierzu Kap. 3.3) zunächst als vermeintlicher Heilsbringer auf, indem er den Noditen seine »Güte« (II, V. 413) und seinen »Segen« (II, V. 414) anbietet. Er will sie aber kolonialisieren und ihnen fremde »Gesetze […] und Sitten« (II, V. 415) sowie seine Staatsreligion aufzwingen. Als Entschädigung für diese vermeintliche ›Guttat‹ verlangt er die Kinder der Noditen als Sklaven für seinen Hof. Die Noditen sind zwar aufgrund ihrer Einfältigkeit bereit,152 neue Sitten und auch einen neuen Glauben anzunehmen, wollen Magog dafür aber nur die »Früchte von unserm Erdreich und Walde« (II, V. 425) abgeben. Die Weigerung, die eigenen Kinder als Sklaven an Magogs Hof zu schicken, begründen die Noditen mit der Gefährdung ihres Volkes: Ohne die Kinder sei ihr Volk dem Untergang geweiht. Damit bezeugen die Noditen zwar eine natürliche und ursprüngliche Denkungsart, die der Gemeinschaft und Soziabilität verpflichtet ist, gleichzeitig zeigt aber ihre Bereitschaft, fremde Sitten und Gebräuche anzunehmen, dass ihre Identität als Volk oder Gemeinschaft nicht ausgeprägt ist und sie keine Traditionen besitzen. Ihr Verhalten bezeugt, dass sie ihr Leben im natürlichen Stand nicht zu schätzen wissen. Die Noditen als Volk erweisen sich als ›verkehrte Spiegelung‹ des Reiches Chus: In Nod herrscht zwar ein soziales Denken, das die Gemeinschaft als überlebensnotwendige Bedingung begreift, kulturelle Errungenschaften wie Sitten, Tugenden oder Religion, die der Gemeinschaft Identität und Stabilität verleihen könnten, fehlen aber weitgehend bzw. werden von den Noditen nur als akzidentell begriffen. In Chus war in früheren Zeiten die Sorge um die Gemeinschaft sehr ausgeprägt, wodurch ein allgemein verbindlicher und verbindender Normen- und Verhaltenskodex entstand. Weil sich die Chusiten aber dazu entschlossen, diese auf natürliche Weise entstandene Gemeinschaft zu verlassen, brachten sie nicht nur sich selber, sondern letztlich sogar auch fremde Reiche in Gefahr. Während bereits der Wunsch nach einer Verfassungsänderung anzeigt, dass sich die Sitten in Chus von ihrer guten Ursprünglichkeit entfernen haben, beschleunigt der vollzogene Wechsel den moralischen Niedergang. Die Gemeinschaft als Bezugspunkt des Handelns verliert in der Monarchie und Tyrannei an Bedeutung und wird nur noch 151 152
Sie »zittern vor garstigen Götzen« (II, V. 384). Vgl. II, V. 422.
155 als Mittel angesehen, persönliche Bedürfnisse – im Falle Magogs die Machtsicherung, für die Mehrzahl der Untertanen das Ausleben der Wollust – zu befriedigen. Diese Herabsetzung und Instrumentalisierung der Untertanen geht einher mit dem Aufbau staatlicher Organe und Institutionen, etwa der von Tydor geleiteten Foltereinrichtungen, der Einsetzung der Magog-Priestern oder des Tempelbaus, welche die Untertanen disziplinieren sollen. Anders als in Nod werden in Chus neue zivilisatorisch-kulturelle Bräuche und Einrichtungen geschaffen, die aber als ›falsch‹ und verdorben charakterisiert und gebrandmarkt werden, da sie der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit keine Rechnung tragen.153 Chus besitzt eine verdorbene Kultur, Nod besitzt keine oder eine nur sehr gering ausgeprägte Kultur: beide Formen der Kulturhaftigkeit sind wegen ihrer Amoralität dem Untergang geweiht. Eine gute Politik und die wahre Religion sucht man auch in dem Reich Masis vergebens, das Noah und der Erzengel nach ihrem Gang durch Chus und Nod besuchen. Wie schon in Nod, so hat auch in Masis kurz vor dem Eintreffen der beiden Reisenden ein Massaker stattgefunden. In Masis haben sich nicht zwei fremde Völker bekriegt, sondern es gab einen religiösen Bürgerkrieg, den die »Secte der Blauen« (II, V. 481) gegen diejenige der Grünen gewonnen hat. Die Masiten sind ein lebhaftes Volk, das an Verstandesgaben nur den »Witz« besitzt (II, V. 474), einen »verkehrten Geschmacke« (II, V. 475) hat und dementsprechend »göttliche[ ] Reden« (II, V. 474) für »unsinniges Zeug« hält (II, V. 475).154 Sie bewegen sich in der »Art des Affen« (II, V. 477) und haben die »Kraft und Seele des Glaubens« (II, V. 479) mit »festlichem Pomp« (II, V. 479) vertauscht; sie leben also nach der höfischen Komplimentierkunst. Obwohl sich die beiden »Secten« hinsichtlich der Art und Weise des Gottesdienstes unterscheiden – die Blauen verehren »[h]ieroglyphische Bilder« (II, V. 486), die sie für Gott selbst halten, die Grünen lehnen die Bilder oder Statuenverehrung ab und halten ihren Gottesdienst im Freien ab – gründen ihre Streitigkeiten, die sie in »Synodalversammlungen« zu schlichten suchten (II, V. 491), in erster Linie in der »Streitbegierde« (II, V. 495). Regiert wird das Volk vom König Asdod, der jedoch »keine Tugend« und keinen »Funke[n] der Weisheit« mehr hat und sich nur noch als abergläubischer Reliquiensammler betätigt (II, V. 513).155 Seine Frau, die »Sultanin« 153
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Auch in den Reichen Elam, Aram und Assur, die von Dagon beherrscht werden, werden mit Sklaven riesige Tempel-, Gärten- und Stadtanlagen gebaut, welche die Größe und Großartigkeit der jeweiligen Reiche symbolisieren sollen; vgl. III, V. 192–240. Wieland sieht hier eine Karikatur der zeitgenössischen französischen Literaten, die an Miltons Paradise Lost und an Klopstocks Messias keinen Gefallen finden; namentlich erwähnt wird Voltaire; vgl. Wieland (1910), S. 348f. Vgl. II, V. 515ff.
156 Anais (II, V. 522), kümmert sich als Einzige noch um das Reich, ist jedoch stärker mit der Sorge um ihren »Putz« beschäftigt als mit den Regierungsgeschäften (II, V. 511). Als Anhängerin der blauen Sekte gibt sie schließlich den Befehl, die Anhänger der grünen Sekte zu ermorden. Bodmer spielt hier auf die Ereignisse der Bartholomäusnacht am 24. August 1572 in Paris an, worauf auch Wieland hinweist, der in Asdod Karl IX. (1550– 1574) verkörpert sieht und in Anais Catharina von Medici (1519–1589); entsprechend stelle die blaue Sekte die Katholiken und die grüne die Hugenotten dar.156 Allerdings gerät Wielands Ausdeutung der Figuren in Widerspruch zu den historischen Fakten: Karl IX. war ein Sohn der Catharina von Medici, die mit Heinrich II. (1519–1559) verheiratet war, der von 1547 bis 1559 regierte; sein Nachfolger wurde Karl IX., der von 1560 bis 1574 König von Frankreich war.157 Bodmer schildert hier, das ist Wieland entgegenzuhalten, nicht die historischen Ereignisse der Bartholomäusnacht, sondern zeigt lediglich ähnliche Ereignisse auf; entsprechend weisen auch die von ihm geschilderten Figuren nur Ähnlichkeiten, aber keine vollständige Übereinstimmung mit realhistorischen Personen auf. Wegen seiner frevlerischen und gottlosen Taten wird das Königspaar Asdod-Anais von Noah verurteilt: […] Abels Gott schuf uns, Daß wir ihn, und alle die liebten, die Gottes, wie wir, sind; Die er so wol als uns, und nach einem Rechte gemacht hat. Dies ist das Recht der Vernunft, die mir die Lippen berührt hat, Und euch die Liebe, die erste der frommen Tugenden predigt. Aber was habet ihr für ein Recht? Gewaltthat und Unsinn, Satans Tugenden, die der Grimm der Priester euch lehret. (II, V. 563–569)
Verführt von den lasterhaften Priestern haben sich die Herrscher zur Gewalt hinreißen lassen und die aus der Gleichheit der Menschen entspringende Nächstenliebe nicht befolgt. Wie Putniel führen auch Asdod und Anais aus religiösen Gründen Krieg; ihre Aggression richtet sich aber nicht gegen fremde Völker, sondern gegen einen Teil der eigenen Untertanen. Tyrannische Herrscher wie Magog, Putniel und AsdodAnais zeichnen sich für Bodmer also nicht nur dadurch aus, dass sie ihr Volk in politischer Hinsicht unterdrücken, sondern es auch religiösen Zwängen aussetzen. Während Putniel durch List und Betrug dem Volk eine neue Religion ›aufschwatzt‹, üben Magog und Asdod-Anais physische Gewalt aus. Unabhängig von den jeweils vertretenen religiösen 156 157
Vgl. Wieland (1910), S. 349. Die Rede von der blauen und grünen Sekte erinnert zudem an Montesquieus Schilderungen von den Bürgerunruhen in Konstantinopel, die sich unter der Herrschaft von Kaiser Justinian I. (482–565) abspielten. Hier standen sich die »bleus« und die »verts« gegenüber (Montesquieu (C), S. 187f.).
157 Dogmen – in allen Reichen ist der wahre Glaube an Gott nicht vorhanden – erweist sich somit der Grundsatz ›Cuius regio, eius religio‹ bereits in der antediluvianischen Staatenwelt als verbreitet und wird in drastischen, gewalttätigen Bildern vorgeführt. Despotien sind in Bodmers Verständnis dadurch gekennzeichnet, dass die politische Macht zu religiösen Zwecken bzw. die religiöse Macht auch zu politischen Zwecken missbraucht wird und in religiöser Hinsicht keine Toleranz herrscht. Diese Vermischung von weltlicher und kirchlicher Macht wird in den Zukunftsvisionen, die Japhet, der jüngste Sohn Noahs, eines Nachts in der Arche hat,158 verurteilt. Die Taten der »Römischen Päbste« werden als gottlos und der menschlichen Natur zuwiderlaufend beschrieben:159 Eine Reihe von Simon Petrus Nachfolgern, ich sehe Unter dem Balsamstrauch ein Hundert einander umarmen, Wird die Waffen des Glaubens zur Schärfe des Eisens gesellen, Bis sie die Gränze verwirrt, die Vernunft, Naturrecht und Wahrheit Zwischen der Kirch und dem Staat, dem Priester und Fürsten gesetzt hat. Dieses Geschlecht wird Predger und König zusammen vermischen, Und das Scepter dem Prediger geben, zur Geissel des Königs. Söhne der Unschuld und Tugend, durch ihr Eingeben verkehret, Werden in frommer Meinung selbst ihrem würdigen Haupte Allen Gehorsam weigern, und Länder aus Andacht verheeren. (XI, V. 370–379)
Nimmt man Bodmers Papst-Genealogie lediglich als Schätzung, so ließe sich mit Papst Gregor VII. (1020–1085; Papst von 1073–1085) ein Nachfolger des ersten Papstes Simon Petrus anführen, welcher bestrebt war, der Kirche auch die höchste weltliche Macht zu verschaffen.160 Die Päpste erscheinen in dieser Vision als späte Nachahmer Putniels, da auch sie mit ihren Gefolgsleuten als Eroberer auftreten, fremde Länder verwüsten und damit die Gebote der Vernunft, des Naturrechts und der Wahrheit missachten. Anstatt durch Nächstenliebe »des Glaubens Sanftmuth zu lehren« (XI, V. 331), sperren sie zudem Kirchenkritiker ins Gefängnis und bringen sie so zum Schweigen.161 Die Vermischung von weltlicher und kirchlicher Macht stellt Bodmer als ein entartetes Verhalten dar, das der ursprünglichen und natürlichen Gleichheit und Friedfertigkeit der Menschen keine Beachtung schenkt (vgl. hierzu auch Kap. 3.3). Dementsprechend scharf ist auch die – schon in Zusammenhang mit Magogs Taten geäußerte – Verurteilung der Kolonialisierung und Versklavung von Menschen, wie sie »Cortez und Pizarro« (XI, V. 337) betreiben werden bzw. betrieben haben.162 Beide werden das 158 159 160 161 162
Vgl. XI, V. 220ff. Wieland (1910), S. 495. Vgl. hierzu ausführlicher Kap. 3.3. Vgl. II, V. 380–385. Hernán Cortés (1485–1547) und FranciscoPizarro González (1476/78–1541)waren beide spanische Konquistadoren. Cortés eroberte Mexiko, Pizarro Peru.
158 »Schwerdt in Schuldlosen tränken, / Die in den Wäldern nackt und ungesittet umirren« (XI, V. 338f.). Damit erscheinen die historischen Ereignisse des 16. Jahrhunderts explizit als Projektion von Magogs Eroberung von Nod. Die Zukunftsvision von Thamar, einer der drei Töchter von Sipha, zeigt die Versklavung der afrikanischen Bevölkerung. Mit Schiffen landen »[w]eisse Männer mit schwarzem Bart« (XI, V. 476) und nehmen mit Waffengewalt oder durch Verführung mit Alkohol Gefangene, die sie mit den Schiffen in ferne Länder transportieren, um sie »am offnen Markte« (XI, V. 529) als Arbeiter für Mühlen oder Bergwerke zu verkaufen. Über ihren Blick in die Zukunft ist Thamar bestürzt, da die »Freigebohrne[n]« in Ketten gelegt werden und ihre natürliche Freiheit verlieren (XI, V. 529). Wie Magog missachten die Sklavenhändler ebenfalls die Vernunft und das Naturrecht: »die schwarzen Geschöpfe sind mit den übrigen Thieren / Nur zum Dienste der Weissen, der wahren Menschen, erschaffen« (XI, V. 522f.).163 Nachdem Japhet und Thamar ihre Träume erzählt haben, werden diese von den Kindern von Noah erörtert. Dabei stellt sich ihnen das Problem, mit dem sich auch Bodmers Zeitgenossen schwer taten. Wie könne es sein, dass sich die Laster der Vor-Welt auch nach der Sintflut wiederholen werden, fragt Cham: Ist es nicht mehr als seltsam, daß in dem hohen Weltalter Wenn sich unser Geblüt durch tausend Väter ergossen, Neue Chusiten in neuerfundene Gegenden schiffen, Neue Noditen, die nackt dort in den Wäldern umschweifen, Auszuspüren; ihr Blut dem Schwerdt zu trinken zu geben? […] Bisdahin hatt ich geglaubt, das wären Sitten der Menschen, Die vor den Fluten gelebt, sie wären mit ihnen verlohren. Werden in dieser entlegenen Welt die Laster der ersten Nicht längst abgenutzt seyn, nicht ein weises Alter regieren? (XI, V. 421–431)
163
Debrunners Behauptung, dass in Bodmers 1756 veröffentlichter Erzählung Inkel und Yarico »zum erstenmal« [sic] der Sklavenhandel in der deutschsprachigenLiteratur erwähnt werde, ist somit haltlos (vgl. Albert M. Debrunner: Hexameter gegen den Sklavenhandel.Johann Bodmers [sic] ›Inkel und Yarico‹. In: Etudes GermanoAfricaines 12–13 (1994), S. 37–43, hier S. 40). Neben Bodmers Erwähnung in Der Noah hatte bereits Gellert 1746 die von Richard Steele 1711 im The Spectator erstmals veröffentlichte Erzählung literarisch bearbeitet und damit die Sklaverei thematisiert; vgl. dazu Florian Gelzer: Inkle und Yarico in Deutschland: Postkoloniale Theorie und Gattungsgeschichte im Kontext. In: The German Quarterly 77, 2 (2004), S. 125–144, hier auch die genauen bibliographischen Nachweise zu Gellert und Steele. Vgl. zur seit Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommenden Kritik am Kolonialismus und Sklavenhandel Thomas Lange: Idyllische und exotische Sehnsucht. Formen bürgerlicher Nostalgie in der deutschen Literatur des 18. Jahrhundert. Kronberg/Ts. 1976 (Scriptor-Hochschulschriften Literaturwissenschaft, 23), S. 87–114.
159 Die Erklärung für diese fortwährende Repetition der Laster, die Sem gibt, gleicht derjenigen von Bodmer. Auch Sem argumentiert mit der gleichbleibenden menschlichen Natur, die zwar mit Verstand ausgestattet ist, diesem aber nicht immer die Herrschaft über das menschliche Verhalten gebe: Aber Cham weigert die Laster der Flutertrunknen der Nachwelt; Auch ich würde de[n] […] Worten den Beyfall versagen, Wenn unbezwingbar der reine Verstand und königlich herrschte; Ach er ist überwindlich, und ist er einmal besiegt, In was für Tiefe kann Unsinn die Schwindelgeister nicht stürzen? Wird dann auch eine Sünde der hingerichteten Welt seyn, Welche die folgende Welt nicht gleichfalls sündigen werde? Und sind Sünden, die jene Gestraften übrig gelassen, Welche die künftige Welt zum erstenmal sündigen könnte? Ach ich muß es befürchten, wiewol mein Herz widerstrebet, Daß das spätste Weltalter auch seine Magoge zeuget; Eines andern Nods Töchter und Söhn’ am Markte verkaufet; […] Asdode wieder die Helfte von ihrem treuesten Volke, Weil es die Gottheit nicht geußt, Hyänen zum Aasse vorwerfen; Neue Putniel, schwindelgetränkt, den Himmel besteigen, Oder dem Sohn befehlen, das Schwerdt im Vater zu wälzen. Haben die Menschen gefehlt, die neu aus Gottes Hand kamen, O wie werden vielmehr die später kommenden fehlen, Die von der Erde Geburt durch tausend Alter entfernt sind! (XI, V. 440–459)
Bodmers moralische Botschaft ist eindeutig: Die Sünden werden sich so lange wiederholen, wie sich die Menschen von ihren Begierden und Leidenschaften leiten lassen und somit den Verstand hintenan stellen. Erst ein vernünftiges Leben, das die Menschen aufgrund ihrer Natur eigentlich leben könnten, würde dem lasterhaften Treiben Einhalt gebieten. Die Frage nach der Wiederkehr von ähnlichen Ereignissen verdeutlicht auch Bodmers poetologische Konzeption: Indem explizit darüber gesprochen wird, dass verschiedene Charaktere, wie etwa Magog, Putniel oder Asdod, zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder auftreten, wird gerade nicht deren Besonderheit und Singularität hervorgehoben, sondern darauf verwiesen, dass sie als allgemeine poetische Charactere zu verstehen sind. Sie stellen somit nicht einen konkreten historischen Character dar, sondern verkörpern in diesem Fall den Typus des tyrannischen Herrschers. Und so wie sich die poetischen Charactere wiederholen, so treten auch deren lasterhafte (oder auch tugendhafte) Verhaltensweisen und die dadurch verursachten Ereignisse immer wieder von Neuem auf. Gerade diese Wiederkehr des Bekannten erlaubt es dem Leser, aus der Erzählung einen moralischen Nutzen zu ziehen, indem er dieselben bzw. die seiner Zeit ähnlichen Verhaltensmuster in einem anderen historischen Kontext widergespiegelt findet. Durch die relative Handlungsarmut der Erzählung und die ausführlich gestalteten Dialoge zwischen den Protago-
160 nisten werden die jeweiligen Ereignisse oder Verhaltensweisen vor dem Leser und für den Leser reflektiert und argumentativ befürwortet oder abgelehnt und dieser somit moralisch und sittlich unterrichtet. Durch die Zukunftsvisionen von Thamar und Japhet wird außerdem dem Leser (vielleicht allzu) deutlich gemacht, dass die Darstellung der antediluvianischen Welt auch gleichzeitig eine Schilderung der postdiluvianischen Welt ist.
3.1.3 Die Freundschaft der Noah-Familie Das Reich Lud, in das Noah und der Erzengel Raphael nach dem Besuch von Masis kommen, hat keine kriegerischen Sitten, sondern zeichnet sich im negativen Sinne dadurch aus, dass sich sein Volk nur vergnügen will. Man erfreut sich am »lockenden Reitz der Tänze« (II, V. 586), die Musik wiegt die Luditen in »Liebesverzückungen« (II, V. 586) und Wein und Speisen sorgen für eine Seligkeit, welche die »männliche Seele« verweichlicht (II, V. 588). Das Leben in Lud erweist sich als äußerst hedonistisch: »Gebet denn Abschied der Sorg, erhöhet die Seele zur Freude, / Folget dem Hang zur Wollust, der in dem innersten drücket« (II, V. 635f.).164 Dieser »Leichtsinn« in der Lebensführung wird vom Erzengel entschieden abgelehnt (II, V. 599), da er erkennt, dass die von den Luditen praktizierte »kurzlebende Lust« den »hellen Gedanken« (II, V. 645) an Gott und an das ewige Leben verdrängt hat. Dabei sei doch, so der Engel, die Befriedigung der sinnlichen Lust ein viel geringeres Vergnügen als dasjenige, das die Tugend bieten könne. Während der Mensch bereits in der Hälfte seines Lebens alle »verschiedenen Reitz[e] der Wollust« genossen habe (II, V. 648), biete die Tugend mit jedem Tag »ein eigens Neues« an Vergnügen (II, V. 657) und sei mit jedem Tag »in neuem Licht zu würdigerm Ansehn gereift« (II, V. 658): Güte mit Wolstand gewürzt, und Einfalt mit Ernste geschmücket; Wachstum an Stärke des Geists, und Liebe von feinerm Geschmacke; Stündlich wird ihre Durchsicht erweitert, je länger sie [die Tugendhaften; J. R.] gehen, Und führet in einem geraden Pfade die Tugend Ueber dem niedern Zirkel der irdischen Freude zur ewgen. (II, V. 659–663)
Nicht die Erfüllung der sinnlichen Begierden solle des Menschen Ziel sein, vielmehr soll dieser danach streben, sich weiterzuentwickeln, um die ewige Freude genießen zu können. Das Ziel des diesseitigen Lebens ist die Vorbereitung auf das ewige himmlische Leben: 164
Wieland verweist auf das Volk der Lydier und der Sybaritenals historischeVorlagen und sieht in der Beschreibung auch eine Kritik an der anakreontischen Dichtung; vgl. Wieland (1910), S. 351.
161 Machet nicht aus diesem Leben das Ziel von eurer Erschaffung; Machet es nicht durch übeln Gebrauch zum Wohnplatz der Schmerzen, Machet es lieber zur Wohnung des Trosts; Bezähmet die Triebe; Mässigt die Lust, daß ihr sie nicht im Umarmen erdrücket; Oder in Schmerz verwandelt; umfasset die Freuden, die dauern, Wenn die Zeit nicht mehr ist, der Zufall, der Schmerz nicht mehr drohen. Solch ein Leben ist werth, daß man seinen Geburtstag begehe; Von dem Leben entdeckt man das nächste Leben von ferne; Denn es ist selbst ein Vorschmack der ewigdauernden Freuden, Die im hohen Olymp die Engel schon selig besitzen […]. (II, V. 694–703)165
Da die Luditen kaum zur Reflexion fähig sind, muss Raphael ihnen die wahre und richtige Gestaltung des irdischen Lebens erläutern. Dabei trägt er ähnliche Gedanken vor wie Johann Joachim Spalding in seiner 1748 erstmals erschienenen Betrachtung über die Bestimmung des Menschen.166 Die Überzeugungen, die man in Lud hegt, decken sich mit dem Ausgangspunkt in Spaldings Schrift, die sich zum Ziel gesetzt hat, den »sicherste[n], anständigste[n] und vortheilhafteste[n]« Weg zu bestimmen, den man in seinem Leben beschreiten soll.167 Das ›suchende Ich‹ bei 165
166
167
Vgl. auch: »Nein im schattichten Busch, im Schoosse der Lust und der Liebe, Unter Jasmin liegt nicht der Endzweck des Lebens; der Mensch ist Nicht gemacht, die Freuden, die ihm in Truppen begegnen, Anzuhalten, sich allen zu geben, und keine zu meiden; Und das Auge nicht von der eitelsten Lust zu verwenden. Wer ungewahrsam den Trank der irdischen Fröhlichkeit trinket, Dem entzieht sich das ächte Gefühl, die Stelle der Freude Nimmt auf seinem Fußtritt die Krankheit mit scheußlichem Antlitz […].« (II, V. 664–671) Ob Bodmer Spaldings Schrift bereits während der Ausarbeitung seines Epos kannte, lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit klären. Dass Bodmer aber Spaldings Werk sehr geschätzt hat und er somit darin seine eigenen Ansichten vorfand, erhellt sich aus der Tatsache, dass er in der ersten Hälfte der 1750er Jahre in Privatkollegien nicht nur Montesquieus Esprit des Lois, sondern auch die Bestimmung des Menschen mit Studenten gelesen hat: »Seitdem ich Wieland nicht mehr bei mir habe [Wieland zog am 25. Juni 1754 aus Bodmers Haus aus; J. R.], so habe mir [sic] eine Freude gemacht, daß ich meinen Studenten beinahe alle Tage ein paar Stunden privatim lese. Ich habe so Spaldings Abhandlung von der Bestimmung des Menschen absolviert und bin mit dem Esprit des lois bis in die Mitte des 2ten tome gekommen.« (Bodmer an Zellweger, 1754, zit. nach Zehnder (1875), S. 690). – Vgl. zur Einordung Spaldings in der theologischen Aufklärung Walter Sparn: Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland. In: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Hg. v. Rudolf Vierhaus. Göttingen 1985, S. 18–57, insbes. S. 33–46. Hans Adler zeichnet die Entwicklung der sozialen und philosophischen Anthropologie ausgehend von Spaldings Schrift nach Hans Adler: Die Bestimmung des Menschen. Spaldings Schrift als Ausgangspunkt einer offenen Anthropologie. In: Das achtzehnte Jahrhundert 18, 2 (1994), S. 125–137. Johann Joachim Spalding: Betrachtung über Bestimmung des Menschen.In: Ders.: Kritische Ausgabe. Erste Abteilung: Schriften. Band 1: Die Bestimmung des Menschen (1 1748 – 11 1794). Hg. v. Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowsko, Dennis
162 Spalding stellt sich zu Beginn die Frage, ob nicht schon das »Vergnügen der Sinne« die wesentliche Bestimmung des Menschen ausmache, weil der »Trieb zum Vergnügen […] so tief in meiner Seele« liege und somit die natürlichste Art des Lebens zu sein scheint.168 Diese Ansicht haben auch die Luditen, die den »Geist zur Wollust« erhoben haben und folglich das »kurze Geschenk« (II, V. 623) der Wollust im diesseitigen Leben annehmen und den Geist nicht durch den »Ernst der Tugend« (II, V. 624) verfinstern wollen. Das ›reflektierende Ich‹ Spaldings erkennt durch die Beobachtung seiner Mitmenschen aber, dass die Befriedigung der Begierden keine Ruhe und Zufriedenheit mit sich bringt, wie es die Luditen meinen: Ich habe ihre Lust gesehen; ich habe ihre Begierden gleichsam in ihrer Geburt befriediget gesehen; ich habe gesehen, mit welcher Schnelligkeit sie von einer Ergetzung zur andern geeilet, mit welcher Wachsamkeit sie auf allen Seiten das Vergnügen gehaschet, das bey ihnen vorbey streichen wollen, mit welcher triumphirenden Gewalt sie den schwermüthigen und grüblenden Theil ihrer Sele [sic] in den Schranken gehalten. Das war ein Meer von Wollust, darin sie schwammen. Aber dieser Zustand ist nicht mehr, und die Veränderung ist traurig. Jener seufzet in der Dürftigkeit, die ihm, nebst dem kostbaren und ausgekünstelten Vergnügen, auch zugleich das wolfeilere und natürlichereentziehet;und dieser schmachtet in Krankheiten und Schmerzen, die ihn nichts angenehmes empfinden lassen. Eines sowol als das andere ist eine eigentliche Folge ihres Eifers, womit sie diese grosse Grundregel, sich nichts zu versagen, zur Ausübung gebracht haben.169
Die empirisch begründete Feststellung, dass die Wollust auch ihre negativen Seiten hat, äußert in Gegenwart der Luditen der Seraph Raphael. Auch er verweist darauf, dass die Befriedigung der Wollust zugleich mit dem Verzicht auf ein anderes und letztlich größeres Vergnügen einhergeht und betont, dass die Wollust von Krankheit und Schmerzen begleitet sei. Um diesen Folgen vorzubeugen bzw. vielmehr um auf dem richtigen Weg zu wandeln, empfiehlt Raphael die Mäßigung und Zähmung der Lust und formuliert damit eine Einsicht, die auch das ›reflektierende Ich‹ macht: »Ich muß das Vergnügen der Sinne so genießen, daß ich für seine schlimmen Früchte sicher bleibe«.170 Indem das ›Ich‹ mit »Vernunft« die Freuden mäßigt, hat es zwar in quantitativer Hinsicht »weniger Lust: aber sie ist [dafür] empfindlicher und dauerhafter«.171 Was für die Luditen bereits ein großer Schritt aus ihrem sündhaften Leben heraus wäre, stellt aber noch nicht das vollkommene Ideal des Lebenswan-
168 169 170 171
Prause. Unter Mitarbeit von Verena Look, Olga Söntgerath. Tübingen 2006, hier S. 1; im Folgenden abgekürzt als (BM). Spalding (BM), S. 2. Ebd., S. 3f. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. In der Ausgabe von 1768 formuliert Spalding treffender: »Ich genieße vielleicht dann weniger lebhafte und hinreißende Lust: aber sie ist dafür so viel reiner und dauerhafter.« (Ebd., S. 55).
163 dels dar. Noah und seine Familie legen weitere positive Eigenschaften an den Tag, die über die Mäßigung der sinnlichen Begierden hinausgehen und durch die sich erst das Gesamtbild eines guten Lebens ergibt. Dieses Ideal entspricht weitgehend dem von Spalding vorgezeichneten Weg. Die Schilderungen der Beziehungen von Noahs Söhnen zu den Töchtern von Sipha greifen das in Lud problematisierte Geschlechterverhältnis auf, zeigen aber nicht den lasterhaften, sondern den guten und wahren Umgang von Mann und Frau. Wie die Luditen verspüren auch die Kinder von Noah und Sipha einen Drang zum anderen Geschlecht, lassen diesen aber nicht zu einer Leidenschaft werden. Als Japhet mit den Töchtern von Sipha zusammentrifft und damit zum ersten Mal gleichaltrige Mädchen erblickt, sieht er sich am Ziel einer lang gehegten Sehnsucht: Dorten fühlt’ ich ein Herz, das unter dem Reichthum der Erde Etwas nicht fand, das darunter zu finden ihm innerlich ahnte; Das es in Au und Feld mit emsigen Forschen aufsuchte, Immer begehrt’ und immer vermißte, mit zitternder Unruh. Was es war, wußt ich nicht, nur schien ein Raum in dem Herzen Müssig und leer zu stehn, und angefüllt seyn zu wollen. In den Träumen der Mitternacht sah bebend mein Auge Oft ein zärtliches Bild, das mein Verlangen zu stillen Schien gekommen zu seyn, das mit den Augen mir lachte; Wenn ich den Arm nach ihm streckte, so wars geflohn; wenn ich seufzte, Kam es zurück und lacht’; jedoch mich wieder zu teüschen. (I, V. 203–213)
Trotz Traumbildern lässt sich Japhet nicht von seinem natürlichen Verlangen, ein Mädchen kennenzulernen, fortreißen und zieht nicht in die Welt hinaus, sondern bleibt in den eingeschlossenen Grenzen im »untersten Abschnitt des paradiesischen Berges« (I, V. 40).172 Siphas Töchter haben, bereits vor ihrer Bekanntschaft mit Noahs Söhnen, dasselbe Verlangen wie Japhet und wollen deshalb Jünglinge aufsuchen, die sie in den umliegenden Reichen vermuten.173 Das wird ihnen allerdings von ihrer Mutter verboten, nicht aber, weil das Verlangen nach Jünglingen an sich etwas (moralisch) Schlechtes sei, sondern weil die Jünglinge moralisch verdorben seien: 172
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In dem etwa zeitgleich mit der Noachide erscheinenden Epos Die Syntflut verlässt jedoch Noahs Tochter Sunith aus ähnlichen Gründen die elterliche Wohnstätte. Weil sie den natürlichen »Hang […] nach dem Jyngling« in sich verspürt (Bodmer: Die Syntflut. Ein Gedicht. In Fynf Gesængen. Zyrich, bei Heidegger und Comp. 1753, I, V. 185f.), geht sie in die wollüstige Stadt Sedom, wo sie schließlich von Räubern ermordet wird. Anders als in der Noachide geht es Bodmer in der Syntflut in erster Linie um die moralische Unterweisung von Töchtern. »Wie, wenn ein Band von der Hand der Natur zusammengeknüpfet Uns zu den Mädchen und Jünglingen zöge, der Ebnen Bewohnern; Und zu den Jünglingen stärker, wofern die Ahnung nicht irret, Daß das Mädchen allein die Helfte, der Jüngling die Helft’ ist, Dass die beyden zusammengesetzt vollendet und ganz sind.« (IV, V. 376–380).
164 Euer Verlangen mag an sich selbst nichts strafbares haben; Jene, die ihr verlangt, sind von euerm Fleisch, und in ihnen Hauchet der Odem der ersten Menschen, der auch in euch hauchet; Ihr verlangt nach euern Verwandten, für die ihr gemacht seyd; Aber euch heißt ein wildes Verderben gewahrsam sie meiden. Diese Jüngling’ und Mädchen von Adams Blute gebohren Sind zwar Kinder gottseliger Ahnen, Seths, Enos und Kenans, Aber sie haben den Weg von Gott zu Satan gewendet, Hasser des Rechts, der Tugend Verächter, und Feinde der Unschuld Nach der Erde gekehrt, als Anverwandte des Viehes; Am entferntsten von ihnen ist man der Tugend am nächsten. (IV, V. 383–393)
Die Liebe zwischen Mädchen und Jünglingen bzw. die gegenseitige Sehnsucht zueinander gilt als eine natürliche Eigenschaft des Menschen und wird nicht verurteilt; Montesquieu hatte dieses natürliche Verlangen als drittes Naturgesetz angesehen.174 Dieses Verlangen äußert sich sowohl bei den Söhnen, als auch bei den Töchtern nicht als ›tierische‹ Wollust, sondern als »liebliche Wollust« (I, V. 387), wobei diese Differenz von Noahs Söhnen explizit thematisiert wird. Gewarnt durch das Beispiel von Lud, wo die Schönheit der Mädchen den »höhern Verstand des Mannes« (III, V. 571) besiegt habe, nimmt sich Cham auf dem Weg zu seinem ersten Treffen mit Siphas Töchtern vor, sich nicht von dem »Glanz der Schönheit« (III, V. 577) blenden und durch die »Wafen [sic] des Schmucks« verführen zu lassen (III, V. 579). Die Ablehnung der schlechten, leidenschaftlichen und vernunftlosen Liebe, die sich nur am äußeren Schein entzündet, geht einher mit dem Lob der wahren Liebe und Schönheit: Gutes ist stets bey dem Wahren, in ihnen herrschet die Schönheit, Und sie in ihr, wo die beyden nicht sind, ist Schönheit nur Schminke Von den hellesten Farben, die im Umarmen verschwindet. Aber das Merkmal des schönen Gemüths bey unseren Schönen Blickt durch die Blüthe der Farb’, und durch den Wolklang der Glieder. […] Nicht der Unschuld beraubt; und ungelehrt in den Ränken, Die mit verderblicher Kunst die Töchter der Erde verüben. (III, V. 776–785)
Siphas Töchter unterscheiden sich in moralischer Hinsicht wesentlich von anderen Frauen, die mit den Männern unmoralische galante Spielchen treiben. Da die drei Schwestern die im Sinne der Kalokagathie verstandene wahre Schönheit besitzen, fühlen sich Noahs tugendhafte Söhne zu ihnen hingezogen. Objekt und Subjekt der Liebe stehen somit in einem Kongruenzverhältnis; der Liebende fühlt sich nur zu dem hingezogen, 174
Vgl. Montesquieu (EL), Livre I, ch.2. – Die Rede der Töchter von der natürlichen Veranlagung, sich nach der anderen »Helfte« zu sehnen, wird von Sem bestätigt: »Lange haben wir schon den Hauch der Liebe gefühlet, Lange das dunkle Verlangen zu unsern Helften gefühlet, Ohne daß wir die kannten, die uns zu Helften gemacht sind; Die gemacht sind mit uns den Lebensodem zu theilen […].« (III, V. 654–657).
165 was seinem eigenen Wesen entspricht.175 Die durch die wahre Schönheit hervorgerufene Liebe stellt für den Menschen somit auch kein Verderben dar, sondern ist als Geschenk Gottes anzusehen: […] Freunde, kein Zweifel, ich seh, ich fühle, die Liebe, Dieser gefürchtete Feind, ist uns in den Busem gesessen; Aber fasset ein Herz, die Lieb’ in edeln Gemüthern Ist ein göttlich Geschenk. Als Gott die himmlische Seele Uns zur Herrscherinn schuf, da gab er, uns selger [sic] zu machen, Ihr ein Gefolg von sanften, von wolgearteten Trieben, Freundschaft, zärtliches Mitleid, empfindliche, dankbare Sorgen; Unter denselben die Liebe, des Schöpfers schönstes Geschenke, Neigung in ihrer besten Gestalt die Schönheit zu haben, Schönheit mit Güte gepaart, nichts schönes ist ohne die Güte. (III, V. 639–647)
Neben der Freundschaft und dem Mitleid ist die Liebe einer der »wolgearteten Triebe«, welche die Menschen von Gott erhalten haben. Sie ist, anders als in Lud, eine tugendhafte Liebe, die den Liebenden nicht in rasende Leidenschaften versetzt, sondern ihn, wie von Raphael gefordert, gemäßigt durch die Vernunft handeln lässt. Entsprechend wird das Zusammenleben der kurz nach ihrem ersten Treffen in gegenseitigem Einvernehmen verheirateten Töchter und Söhne nicht als wollüstige Orgie geschildert, sondern als ein sittsames Beisammensein: Tage von Gold gewebt, mit edler Liebe durchwürzet, Flossen über den Neuvermählten voll Glanzes vorüber, Im Begleit hochzeitlicher Scherz’, am Arme der Freundschaft. Doch sie vermengten die Liebesspiele mit ernsten Gesprächen; Denn die Schönheit war nicht die einzige Gabe des Himmels, Welche die Frauen empfangen, das Herz des Manns zu gewinnen […]. Hier war Schönheit ein Pfand der bessern Gaben des Geistes, Welche das Alter nicht schwächt, und nicht mit Unmuth beschweret. Mit den höhern Gesprächen besiegten sie allen den Eckel, Den die Liebe durch ihr einförmiges Tändeln herbeyruft, Und erfüllten das Leere, das von gestilleter Lust kömmt. (V, V. 1–12)176
Die Liebe, die Noahs und Siphas Nachkommen miteinander pflegen, zeigt ein harmonisches Verhältnis von (durchaus körperlich verstandenen) Liebesspielen und intellektuellen Gesprächen. Anders als in Lud, wo die Jünglinge und Mädchen gar bereits vor der Heirat sexuellen Kontakt pflegen und sich ihr Umgang auch nur auf den Akt beschränkt, kennen die drei Paare nicht nur das sinnliche, sondern auch das geistige Vergnügen. Und es ist – und das erinnert wiederum an Spaldings Bestimmung des Menschen – die Vernunft, die verhindert, dass sich der Lebenswandel 175
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»Jegliche Schönheit thut nicht den gleichen Abfall auf alle. Gott prägt jedem Gemüth stets seinen heimlichen Hang ein, Daß es sich unter dem Heer der Schönen die Schönheit erwähle, Die in der nächsten Befreundung mit seinen Tugenden stehet.« (III, V. 692–695). Vgl. auch IV, V. 619ff.
166 der Paare nur um die Befriedigung der sinnlichen Wollust dreht, woraus »Eckel« und »Leere« entstehen würden.177 Die Begegnung und Zusammenkunft von Noahs und Siphas Kindern, die sich vorher nicht kannten und auch keine direkte Bekanntschaft mit der restlichen Welt hatten, dient also dazu, die wahre Liebe und die richtige Art des Liebens darzustellen, wie es der wahren Natur des Menschen entspricht. Mit seiner Charakterisierung des ehelichen oder freundschaftlichen Umgangs schließt sich Bodmer an zeitgenössische Vorstellungen an, wie sie etwa von Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) in seinen Moralischen Vorlesungen vertreten wurden.178 In seiner 25. Vorlesung beschreibt Gellert die Ehe als ›Mittel‹, ohne das der »Trieb der Liebe«, den Gellert wie Bodmer als von Gott gegeben ansieht, »zügellos ausschweifen und gar bald zur verderblichsten Leidenschaft werden« würde.179 Gellert versteht die Ehe nicht als erzwingbare Form des Zusammenlebens,180 sondern vielmehr als Ausdruck der glücklichen Vereinigung der »Liebe des Geschlechts mit der Zuneigung der Person«.181 Die Zuneigung oder Freundschaft zu einer Person gründet dabei – und auch diesen Aspekt betont Bodmer – auf »wahre[n] Verdienste[n]« der Person,182 womit er die Tugendhaftigkeit einer Person bezeichnet. Die freundschaftliche Liebe ist ein »Bündniß der Weisheit und Tugend«, das auf der »Güte des Verstandes, des Herzens, und auf angenehme[n] Sitten« beruht und durch einen »überlegten und verpflichtenden Beystand, der sich auf die Grundsätze der Treue und Aufrichtigkeit gründet«, befestigt wird.183 Die so verstandene Freundschaft gilt sowohl für die Beziehung zwischen Mann und Frau als auch für die Freundschaft zwischen gleichgeschlechtlichen Men-
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Spalding hatte davon gesprochen,dass sich durch die Mäßigung des sinnlichenVergnügens eine »Befreyung von Eckel« einstelle (Spalding (BM), S. 5). Vgl. zur großen Wirksamkeit bzw. Beliebtheit von Gellerts Moralischen Vorlesungen Günter Saße: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung. Tübingen 1988 (Studien zur deutschen Literatur, 95), S. 99–114, und Sibylle Späth: Vom beschwerlichen Weg zur Glückseligkeit des Menschengeschlechts. Gellerts Moralische Vorlesungen und die Widerstände der Realität gegen die empfindsame Gesellschaftsutopie. In: ›Ein Lehrer der ganzen Nation‹. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. Hg. v. Bernd Witte. München 1990, S. 151–171, insbes. S. 151–156. Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, Band VI: Moralische Vorlesungen.Hg. v. Sibylle Späth. Berlin, New York 1992, S. 263; im Folgenden als ›MV‹ zitiert. »[D]esto strafbarer sind diejenigen, die uns wider unsre Neigung, durch gutgemeynte aber tyrannische Bewegungsgründe, zur Ehe zwingen, oder von ihr zurück halten.« (ebd., S. 265). Ebd., S. 264. Ebd., S. 265. Ebd., S. 258.
167 schen, was auch ein anonymer Beiträger in der von Johann Friedrich von Cronegk herausgegebenen moralischen Wochenschrift Der Freund prägnant zum Ausdruck bringt: »Die Zärtlichkeit gegen einen Freund und gegen eine Geliebte sind in Ansehung ihrer Sittlichkeit einander gleich. Es ist ein Werk unsrer freyen Wahl, Gegenstände für unsere Liebe und für unsere Freundschaft nach unserm Geschmack auszusuchen«.184 Gellerts Beschreibung des idealen Freundes trifft somit auch auf den idealen Ehepartner zu:185 Niemand hat größere Empfehlung zur Freundschaft, als derjenige, der mit einem guten und empfindlichenHerzen einen feinen und richtigenVerstand verbindet,der mit der Würde der Tugend die Anmuth des Wohlstandes, und mit den Schätzen der Wissenschaft die Schätze der Religion vereiniget.186
Und in der Tat erweist sich in Gellerts Schilderung das Eheleben ähnlich vernünftig und tugendhaft wie der Umgang mit Freunden, allerdings kommt der Ehe der Vorteil zu, eine lebenslange Freundschaft zu bilden.187 Wie die wahre Freundschaft, so setzt auch die Ehe bei den jeweiligen Partnern Moral und Tugenden voraus, die zugleich auch im gemeinsamen Umgang weiter befördert und verbessert werden sollen:188
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Anonymus: Gedanken von der Zärtlichkeit. In: Der Freund. Bd. 2, 45. Stück. Anspach 1755, S. 700–713, hier zit. nach Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Band III. Quellen und Dokumente. Stuttgart 1980, S. 65–70, hier: S. 66. Vgl. auch: »Alles, was ich von der Zärtlichkeitin der Freundschaftgesagt habe, gilt auch von der Zärtlichkeit in der Liebe. Auch sie gründet sich auf Hochachtung; und ein Weiser liebt sowol in seiner Geliebten, als in seinem Freund, das gute Herz und die Schönheiten der Seele; er erhöhet dadurch seine Neigung, und macht sie zur Zärtlichkeit.« (ebd., S. 68). Vgl. zu den Freundschaftsvorstellungen der moralischen Wochenschriften Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München 1984, S. 40ff. Vgl. zu zeitgenössischen Ansichten, die Ehe und Freundschaft gleichsetzen, auch Michael Gamper: Das Opfer vermeiden: Verhandlungen über Freundschaft, Liebe und Ehe in Texten von Gellert, Lessing und Goethe. In: Ars et Amicitia. Beiträge zum Thema Freundschaft in Geschichte, Kunst und Literatur. Festschrift für Martin Bircher zum 60. Geburtstag am 3. Juni 1998. Hg. v. Ferdinandvan Ingen, Christian Juranek. Amsterdam 1998 (Chloe. Beihefte zum Daphnis, 28), S. 551–583, hier S. 556–565, und Bengt Algot Sørensen: Freundschaft und Patriarchat im 18. Jahrhundert. In: Mauser, Becker-Cantarino (1991), S. 279–292. Gellert (MV), S. 260. Vgl. ebd., S. 265. – Gellert betont zudem, dass sich die Liebe zwischen Mann und Frau auf jeweils nur eine Person beziehen kann (vgl. ebd., S. 258). Vgl. exemplarisch das Lob von Gellert auf die Freundschaft: »Die Liebe eines vernünftigen Freundes ist der untrüglichste Lobspruch für unser Herz, und seine Hochachtung gleichsam das Siegel unsrer Rechtschaffenheit. Er stärkt durch sein Vertrauen meine Aufrichtigkeit, verschönert meine Absichten durch die seinigen, tritt uneigennützig in meine Umstände, unterstützt mich in meinen Unternehmungen durch Rath und Beyfall, ruft mich gütig von Irrthume und Fehltritten zurück, ermahnet mich durch sein edles Beyspiel, erbittet mir Gutes von Gott, ist der nächste bey mir in den Unfällen, wie er der Empfindlichstebey meinem Glücke war
168 Die Tugend war schon außer der Ehe der Beruf ihres Gewissens, dem sie treu folgten. Zu diesem Berufe ermuntern sie sich, durch die Bande der Liebe vereiniget, noch mehr. Und wie wäre es möglich, daß sie nicht beide zur Erhöhung ihrer tugendhaften Gesinnungen, die das Glück der Seele und ihr liebenswürdigstes Verdienst sind, gemeinschaftlich arbeiten sollten, da sie einander lieben, und durch die Ehe neue Gegenstände zur Uebung der Tugend für sich aufgestellt sehen?189
Während die Kinder des Patriarchen zeigen, wie sich gleichgesinnte Menschen in Freundschaft und Liebe begegnen, verdeutlicht die Figur des Noah, wie der Umgang mit fremden bzw. anders gearteten Menschen gestaltet werden sollte, wie sich der gute Mensch gegenüber schlechten Menschen zu verhalten hat. Nachdem die Sintflut die ganze Erde überspült hat und es somit außerhalb der Arche keine Menschen mehr auf der Erde gibt, werden Noah und seine Familie vom Mitleid mit den Ertrunkenen ergriffen und Noahs sonst so »gelassene Tugend ward itzo weinen gesehen« (IX, V. 524). Seiner Familie erklärt er, dass auch sie das Weinen nicht zu unterdrücken brauche: […] O schäme dich nicht der Kinder des Mitleids [der Tränen; J. R.], Laß sie mit milder Flut ergiessen, ihr Quell ist vom Schöpfer. Er hat die Menschen in ihrer Geburt mit Banden der Liebe, Mit gleichstimmenden Saiten der Freundschaft zusammen verbunden, Unter einander die Menschen, und alle Geschöpfe mit ihnen. Wolltest du streben das Band, das Menschen mit Menschen verknüpfet, Von dir und deinem Stamm, dem menschlichen Stamme zu werfen, Daß du und jeder von deinen sich selbst nur liebenden Söhnen Um ein Elend, das nicht ihr eigenes wäre, nie weinten? Nein, die Schmerzen, die wir dann fühlen, wann andere Menschen Unsers gleichen Noth leiden, sind nicht so schwer auf den Schultern, Daß du lieber das Band der natürlichen Liebe zerrissest. O der verrieth’ ein feiges zum Leiden schwaches Gemüthe, Wer sich entzöge die menschliche Mitleidsbürde zu tragen! Freundschaft für jeden Menschen bezeichnet die Söhne der Großmuth, Und ihr schönstes Gefühl ist der Mensch für den Menschen geschaffen; Denn der Schöpfer hat zu den Thränen des Leidens mit andern Etwas süsses gestellt, das sie mit Anmuth durchwürzet. (IX, V. 528–545)
Das Mitleid, das man fühlt und das sich in Tränen manifestiert, wenn man das Unglück anderer Menschen sieht, gründet für Bodmer in einer grundlegenden menschlichen Eigenschaft: der Freundschaft für jeden Menschen.190 Dieses Gefühl der Freundschaft hat der Mensch von Gott
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[…]. […] Ein tugendhafter und also wahrer Freund ist das kostbarste Geschenk des Himmels, für das wir nie dankbar genug seyn können.« (Ebd., S. 259). Ebd., S. 266f. Bereits 1736 hatte Bodmer das Mitleid als eine der wesentlichen Eigenschaften des Menschen bezeichnet. Noahs Erläuterungen, dass das Mitleiden ein Ausdruck der Zugehörigkeit zur Menschheit ist, finden sich so bereits im Brief=Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes: »Die Ursachen dessen, daß er [der Theaterbesucher; J. R.] seine Thränen zu den ihrigen [der Protagonisten; J. R.] füget, ist ohne Zweifel keine andere, als daß er ein Mensch ist, der Theil an etwas nimmt,
169 erhalten und begründet als »Band der natürlichen Liebe« den gemeinschaftlichen Zusammenhalt aller Menschen. Damit artikuliert Bodmer eine um die Mitte des 18. Jahrhunderts weit verbreitete Ansicht, die unter dem Begriff der »Menschenliebe« insbesondere in moralischen Wochenschriften propagiert wurde.191 Auch wenn verschiedene Aspekte diskutiert wurden (etwa Fragen der Beschaffenheit der wahren Freundschaft oder der Rechtfertigung für das Spenden von Almosen),192 stets galt die Menschenliebe als Basis des sozialen Handelns. Paradigmatisch zeigt sich das an Gellerts 1743 in den Belustigungen des Verstandes und des Witzes veröffentlichtem Gedicht Die Menschenliebe, in dem Gellert das aus der Menschenliebe entspringende wohltätige Handeln dem Leser anpreist. Dem tugendhaften Verhalten stellt Gellert in seinem Gedicht das lasterhafte egoistische Handeln gegenüber; resümierend heißt es am Ende des Gedichts: O wollte doch der Mensch des andern Schutzgott seyn: So wär das meiste Weh noch unbekannte Pein! Belebte jedes Herz der Geist der Menschenliebe: So wären Neid und Haß noch ungezeugte Triebe. Als Glieder schuff uns Gott, als Bürger einer Welt, In der des einen Hand die Hand des andern hält. Wir trennen dieses Band, und bleiben fühllos stehen, Und bauen unser Glück auf andrer Untergehen.193
Gellert spricht wie Bodmer vom »Band« der Liebe, ohne das man kein Mitgefühl mit anderen haben kann und das, wie Gellert an der Figur des Menschenfreunds verdeutlicht, Voraussetzung zu guten Taten ist.194 Der Menschenfreund teilt seine einfachen Mahlzeiten mit Hungrigen, unterrichtet mittellose Kinder oder lässt Häuser für Waisen und Wit-
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das menschlich ist, von dem er sich selbst niemalen gesichert weiß, und der Mitleiden mit dem Schicksal des Menschen hat. Empfände er kein Mitleiden darüber, so müßte man ihn billig aus der Zahl der Menschen ausschliessen und unter die unmenschlichen oder entmenschten zehlen.« (Bodmer (BW), S. 22). Vgl.: »Die deutsche Aufklärungsphilosophie erhebt die Menschenliebe […] zu einem ihrer zentralen Begriffe; er dient sowohl zur Beschreibungder Wesensbestimmung des Menschen wie auch zur Formulierung seiner ethischen Pflicht.« (Anton Hügli, Daniel Kipfer: Philanthropie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7. Hg. v. Joachim Ritter. Basel 1989, S. 543–552, hier S. 548). Vgl. hierzu Regina John: Vernünftige Menschenliebe. Wohltat und Almosen in Drama und Roman der deutschen Aufklärung. Frankfurt am Main, Bern, New York 1992 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, 1289), insbes. S. 81–90. Gellert: Die Menschenliebe.In: Belustigungendes Verstandesund des Witzes. Leipzig Wintermonat 1743, S. 426–433, hier S. 432. So auch in der 21. Vorlesung: »Wie er [der Menschenfreund; J. R.] das Glück des Menschen aufrichtig begehrt, so rührt ihn auch das Elend desselben und erfüllt ihn mit der hülfreichen Empfindung des Mitleidens, das ihn bereitwillig macht, zu retten, wenn er kann, und das Elend der Andern durch Liebe und Tröstungen zu versüßen […].« (Gellert (MV), S. 223).
170 wen bauen. Er handelt nicht aus eigennützigen Gründen und hofft nicht, durch seine Taten ein größeres Ansehen in der Gesellschaft zu erwerben, sondern tut, was »die Natur befiehlt, was die Vernunft gebeut«.195 Wie Bodmer versteht auch Gellert die Menschenliebe als natürliche Eigenschaft des Menschen, deren notwendige Ausübung, in Absehung von der Offenbarung, für Gellert nur durch die »Vernunft« eingesehen werden kann.196 Mit der Verwendung des Begriffs »Menschenliebe« schließt sich Gellert an Gottscheds Ausführungen in den Ersten Gründen der gesamten Weltweisheit an, wo Gottsched, im Anschluss an Wolff, aber auch gleichzeitig über diesen hinausgehend, die ›Verbundenheit‹ des Menschen, den anderen zu lieben, als Menschenliebe definiert hatte. Der Mensch, so Wolff in den Vernünfftigen Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, strebe danach, den eigenen Zustand zu vervollkommnen und dabei auch die Glückseligkeit des anderen zu befördern, was beides und beiden Vergnügen bereite. Diese Bereitschaft, »aus eines andern Glückseeligkeit Vergnügen zu schöpfen«,197 nennt Wolff die Liebe; Gottsched definiert entsprechend: Da wir […] verbunden sind, anderer Menschen Vollkommenheit eben sowohl zu befördern, als die unsrige: so sind wir auch verpflichtet, aus ihrer Glückseligkeit so viel Vergnügen zu schöpfen, als aus unserer eigenen; das ist, sie so, wie uns selbst, zu lieben. Wir haben hier keinen Grund gefunden, die allergeringste Ausnahme unter den Menschen zu machen: daher trifft uns auch 195 196
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Gellert (1743), S. 427. Dieser Sachverhalt deutet für de Levie darauf hin, dass sich in Gellerts Gedicht ein ›modernes‹ Verständnis der Menschenliebe artikuliere: Betrachte man Gellerts Begriffsverwendung, so falle auf, dass Gellert in seinen Geistlichen Oden und Liedern »kein einziges Mal« den Begriff ›Menschenliebe‹ verwende, dafür aber mehrmals den Begriff ›Liebe des Nächsten‹ (de Levie (1975), S. 81), wofür de Levie zwei unterschiedliche Traditionslinien der Begründung verantwortlich macht. Während die ›Nächstenliebe‹ der christlichen Tradition entspringe, verweise der Begriff ›Menschenliebe‹auf naturrechtliche,rationalistischeVorstellungenzurück,die Gellert in seinen Moralischen Vorlesungen in ein »harmonische[s] Nebeneinander« zusammenführe, indem er die christliche Sittenlehre bzw. die Offenbarung über die naturrechtliche Pflichtenlehre stelle; vgl. zum Ganzen ebd., S. 76–90, hier S. 87. Wenn auch de Levie hier zu Recht auf verschiedene Argumentationsstränge hinweist, wie die Menschenliebe begründet wurde, so lassen sich doch daraus nicht zwei klar voneinander abgrenzbare Bedeutungsfelder ableiten (auf der einen Seite die im christlichenGlauben gründendeNächstenliebe,auf der anderenSeite die aus dem Naturrecht abgeleitete Menschenliebe). Die zeitgenössische›unklare‹Begriffsverwendung konstatiert de Levie zwar selbst in seiner Analyse von Gellerts Moralischen Vorlesungen, wenn er davon spricht, dass es Gellert »hier mit der Verwendung des mot propre nicht so genau« nehme und »›Menschenliebe‹ an Stellen einsetzt,wo man den biblischenTerminus erwarten sollte« (ebd., S. 88), dies aber als Charakteristikum der damaligen Zeit anzusehen, tut er jedoch nicht. Hügli/Kipfer haben hingegen hervorgehoben, dass sich ›Menschenliebe‹ kaum von ›Nächstenliebe‹ unterscheiden lasse; vgl. Hügli, Kipfer (1989), S. 549. Wolff (DE), § 775.
171 diese Pflicht, im Absehen auf alle und jede Menschen.Und diese Liebe wird also mit Rechte die allgemeine Menschenliebe genennet; vermöge welcher ein Tugendhafter aller Welt Gutes gönnet, und wirklich,so oft er Gelegenheit dazu findet, aller Menschen Bestes befördert.198
Gellert wie Gottsched beziehen die Menschenliebe auf die gesamte Welt, auf alle »Bürger einer Welt«, so wie es auch Bodmer tut. Anders als Gellert oder Gottsched spricht Bodmer jedoch nicht explizit von der »Menschenliebe«, sondern von der »natürlichen Liebe« und insbesondere von der »Freundschaft«. Damit grenzt Bodmer aber nicht den Kreis der zu Liebenden ein, sondern scheint vielmehr das intensivere Freundschaftsgefühl, das ansonsten nur zwischen einer kleinen Gruppe Auserwählter gepflegt wird, auf die ganze Menschheit zu projizieren. Er wertet damit die Menschenliebe auf, die von seinen Zeitgenossen vielfach weniger ›angesehen‹ war als die Freundschaft, die wegen ihrer wechselseitigen tugendbefördernden Wirkung mehr geschätzt wurde.199 Friedrich von Hagedorn (1708–1754) etwa lobt die Freundschaft, weil sie den einzelnen weit mehr befördere als die naturrechtliche socialitas: Im Stande der Natur, als, zu der Menschen Ruhm, Noch keine Herrschaft war, kein Rang, kein Eigenthum, Da wollte die Vernunft, und selbst die Triebe wollten, Daß wir gesellig seyn, daß wir gefallen sollten; Dann war, zu gleichem Glück, im menschlichen Geschlecht Der Zweck gemeinschaftlich, und allgemein das Recht. Dann schmückten jeden Tag die Freyheit und der Friede. Wer wird, wo diese sind, des längsten Lebens müde? Als aber Stolz und Neid den frechen Schwung erhub, Gewalt das Recht bestürmt’, und List es untergrub, Als Krieg und Raub und Wut der Schwächern Brust zerfleischte, Und vieler Sicherheit auch vieler Bund erheischte; Ward die Geselligkeit, die erste Zuversicht Der neu=erschaffnen Welt, ihr immer mehr zur Pflicht. Jedoch, wie übertrifft die freundschaftliche Liebe Dieß allgemeine Band, und die Erhaltungstriebe!200
Die Geselligkeit, die Pufendorf als eine »allgemeine Neigung aller und jeder Menschen gegeneinander« definiert hatte, mit der sich die Menschen in »Wohlgewogenheit[,] Friede und Liebe« miteinander verbinden würden,201 konnte, so Hagedorns historische Analyse, den Menschen 198
199 200
201
Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Praktischer Theil. (Faksimiledruck der Ausgabe Leipzig 1762, Bd. 2.) Hildesheim, Zürich, New York 1983 (Wolff: Gesammelte Werke, Abteilung 3, Materialien und Dokumente, Band 20.2), S. 118 (Hervorhebungenim Original). – Auch Spalding sieht die »allgemeine Liebe« als wesentliche Eigenschaft des Menschen an (Spalding (BM), S. 12). Vgl. hierzu auch Meyer-Krentler (1984), S. 42–47. Friedrichvon Hagedorn: Die Freundschaft. In: ders.: Sämmtliche Poetische Werke. Erster Theil. Hamburg 1764, S. 40–56, hier S. 49f. Pufendorf (BNV), 2.3.15.
172 im Naturzustand nicht vor Lastern und Krieg bewahren und hat somit ihre natürliche gesellschaftsstabilisierende Funktion eingebüßt. Hingegen ist die Freundschaft der »Anfang eines Lichts, dem nichts an Wirkung gleicht«:202 Sie [die Freundschaft; J. R.] ist der Weisheit Kind, der reifen Kenntniß Frucht, Ein Werk der besten Wahl, und kann nur die verbinden, Die in der Seelen Reiz die größte Schönheit finden. Der Vorzug des Gemüths, nur die Vollkommenheit Macht uns der Liebe werth, nicht bloß die Aehnlichkeit. […] Die Ehre der Natur, der innern Sinnen Glück, Die wahre Freundschaft ist der Tugend Meisterstück. Die Neigung, wenn man soll, Ruhm, Güter, Ruh und Leben, Ohn Eigennutz und Zwang, für andre hinzugeben, Die echte Zärtlichkeit, die immer Lust und Schmerz Mit andern willig theilt, kommt in kein schlechtes Herz […].203
Die Freundschaft lässt den Menschen tugendhaft handeln,204 allerdings ist sie für Hagedorn auch nur innerhalb einer kleinen Gruppe von Menschen möglich.205 Bodmer sieht hingegen die ganze Menschheit durch Freundschaft verbunden. Der Menschenfreund Noah bringt seine natürliche Liebe zum Menschengeschlecht nicht nur mit Tränen des Mitleids zum Ausdruck,206 sondern auch mit Taten. Trotz der Verdorbenheit der Menschen bietet sich Noah mit seiner gesamten Familie als stellvertretendes Opfer für die gesamte
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Hagedorn (1764), S. 50. Ebd., S. 50f. Vgl. auch: »Diese Zärtlichkeit [der Freundschaft; J. R.] ist so weit von der Schwachheit entfernt, daß sie vielmehr die Quelle der erhabensten Handlungen, der Großmuth und des wahren Heldenmuthes wird. Ein zärtlicher Vatter, ein zärtlicher Sohn, ein zärtlicher Liebhaber und ein zärtlicher Freund werden durch ihre gerechten Neigungen wahre Helden, wenn die Umstände ein Opfer von ihnen erfordern, welches für eine gemeine Standhaftigkeit, für einen gemeinen Muth zu groß ist. Den Wert des Lebens zu erkennen, und doch sein Leben zu wagen, wenn die Rechte der Zärtlichkeit diese Gefahr von uns erfordern, zeugt von einem viel erhabenern Muth, als wenn ein Krieger bald aus Ruhmsucht, und bald aus Furcht der Verachtung seine Brust dem feindlichen Schwerd entgegen stellt.« (Anonymus (1755), S. 68). Diese ›Parteilichkeit‹ hatte Pufendorf mit seinem Geselligkeitsbegriff gerade zu vermeiden gesucht. Auch Gellert warnt vor einer Freundschaft, welche die Gebote der Menschenliebe nicht beachtet und nur auf den (eigennützigen) Vorteil der Freunde achtet (vgl. Gellert (MV), S. 255). Bereits als Gott Noah seinen Entschluss offenbart, die Welt mit der Flut zu vernichten, fällt Noah – besiegt vom »Mitleid mit seinem Brudergeschlecht, dem Menschen« (IV, V. 78) – in Ohnmacht. Und auch Sipha verweist auf Noahs »Thränen von Mitleid« (VII, V. 556).
173 Menschheit an,207 um dadurch »dem menschlichen Stamm das Leben [zu] erkaufen« (IV, V. 113); in Chus bittet er den Erzengel Raphael, die Söhne Laomers vor dem Tode zu bewahren,208 und auf den Befehl Gottes hin geht Noah nach seiner Reise mit dem Erzengel noch einmal zu den Sündern, um sie zur Busse aufzufordern, wodurch sie Gottes Vergebung erfahren könnten.209 Damit bezeugt Noah einerseits seine gehorsame Ehrfurcht vor Gott, andererseits handelt er aber auch aus Verbundenheit mit seinem »Brudergeschlechte« (V, V. 298) heraus, als er »mit Schmerz« (V, V. 298) erkennt, dass sich die Menschen von Gott abgewandt haben und ein Bündnis mit den »Söhnen der Hölle« (V, V. 285) eingegangen sind und so »Natur und Vernunft« (V, V. 290) verlassen haben. Während Noah im Umgang mit der Welt seine Menschenliebe unter Beweis stellen kann, ist diese Möglichkeit den restlichen Familienmitgliedern verwehrt. Ihre Reaktion auf die angekündigte Sintflut bzw. auf deren tatsächlichen Eintritt ist mit derjenigen von Noah identisch. Als Noah Sipha von der bevorstehenden Flut erzählt, fällt dieser beinahe in Ohnmacht, was auf ähnliche Mitleidsempfindungen, wie Noah sie hatte, schließen lässt;210 ebenso erschüttert sind die Söhne und Töchter.211 Diese Übereinstimmung im Wesen und Verhalten der verschiedenen Familienmitglieder wird von diesen selbst explizit hervorgehoben. Bei seinem ersten Zusammentreffen mit Japhet attestiert Sipha dem Sohn von Noah dieselbe Tugend, die er auch bei Noah schon habe entdecken können: »In dir glänzet, o Nefe, des Vaters Seele von neuem, / Noch so jung und so reif, nach Noahs Tugend gebildet« (I, V. 419f.). Zudem gleicht Japhet auch Siphas verstorbenen Söhnen: Alle Jünglinge besaßen bzw. besitzen »Großmuth, Gerechtigkeit, Treu und herzerquickende Freundschaft, / Welche den menschlichen Geist zum göttlichen Ursprunge nähern« (I, V. 429f.).212 Als Sipha Japhet von dem Tod seiner 50 Söhne berichtet, fühlt Japhet »Bissen des zärtlichsten Mitleids« (II, V. 10) in seiner Brust und zeigt damit, dass er das Leid des Vaters auch als das seinige empfindet. Obwohl Sipha von den Mördern seiner Söhne verfolgt wurde und sich nur knapp vor ihnen auf den Berg Sion retten konnte, besitzt auch er noch die Liebe zu den Menschen: Ein »Band im Geblüt« (IV, V. 546) verbinde ihn mit den anderen Menschen, sein »Herz« nehme immer noch Anteil an »ihrem Wolseyn und Elend« (IV, V. 547). Somit zeichnen sich sämtliche Männer der Familie durch identische Cha207
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Noahs Mitleid hatte Bodmer schon in seinem Grundriß von 1742 hervorgehoben (vgl. Bodmer, Breitinger (SC), S. 6 und S. 12). Vgl. II, V. 351ff. Vgl. IV, V. 149ff. Vgl. IV, V. 605ff. Vgl. VI, V. 612ff. und V. 678ff. Diese Tugenden besitzen auch die Bewohner des Nymphenstaates (vgl. Kap. 2.3).
174 rakterzüge aus, deren herausragendstes Merkmal dabei die Fähigkeit zur Freundschaft ist. Auch die Frauen der Familie sind sich an Tugenden gleich: Noahs Frau Milca betont, dass die drei Töchter von Sipha in jeglicher Hinsicht der Mutter Meheetabeel gleichen würden.213 Gemeinsam ist der Familie auch das Bemühen, das eigene Wissen zu vergrößern und neue Erkenntnisse zu gewinnen, was Spalding zu einem wesentlichen Aspekt des Menschen erklärt hatte: Ich bringe alles zusammen, ich brauche alles, meinen Geist vollkommener zu machen. Ich suche mein Gedächtniß zu bereichern, meine Begriffe aufzuklären, meinen Witz zu schärfen, meine Einsicht zu erweitern und zu befestigen. Ich ermüde nicht, diese meine Fähigkeiten immer von einer Stuffe auf die andere zu bringen.214
Cham erweist sich als Metaphysiker und Astronom,215 Japhet interessieren vor allem naturkundliche Fragen216 und Sipha ist ein geschickter Erfinder und Mechaniker.217 Sipha gab zudem seiner (damals noch lebenden) Frau Mehetabeel physikotheologischen Unterricht über die Entstehung und Entwicklung der Erde und deren Flora und Fauna,218 den diese an ihre Töchter weitergab und die sie zudem im Hauswirtschaftswesen unterrichtete.219 Auch Milca, Noahs Frau, übernimmt Erziehungsaufgaben und will ihre Enkelkinder im rechten Glauben unterweisen.220 Über die konkreten Unterrichtssituationen hinaus ist auch der Umgang innerhalb der Familie von einem kritisch-reflektierendem Geist geprägt, der sich in vielen ernsthaften Gesprächen manifestiert, die ein breites Themenspektrum umfassen: So wird etwa die Frage nach der wahren und richtigen Liebe und Schönheit beantwortet oder angesichts des nahenden, die Sintflut auslösenden Kometen der Zusammenhang von Gottes Willen und den von ihm eingerichteten Schöpfungsgesetzen erörtert.221 Gemeinsam werden die Taten der Vorfahren besprochen222 und zukünftige Ereignisse diskutiert.223 Diese verschiedenen gelehrten Dialoge ver-
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Vgl. IV, V. 477ff. Spalding (BM), S. 6f. Vgl. III, V. 550ff.; VI, V. 830ff. und VII, V. 261ff. Vgl. VI, V. 500ff. und VIII, V. 395ff. Für die Arche entwickelt Sipha eine Lüftungsanlage (vgl. VII, V. 492ff.), früher hatte er bereits Linsen geschliffen und damit Mikroskope und Fernrohrehergestellt (vgl. IV, V. 235ff.). Vgl. IV, V. 214ff. Vgl. IV, V. 340ff. Vgl. XII, V. 349ff. Vgl. VI, V. 830ff. und VII, V. 169ff. Vgl. VI, V. 170ff. Vgl. XI, V. 46ff.
175 deutlichen die Lehrhaftigkeit der Literatur als ars popularis: sie sollen den Leser unterrichten.224 Neben der intellektuellen Wissens- und Erkenntniserweiterung, der Mäßigung der sinnlichen Freuden und der aus der Menschenliebe entspringenden Wohltätigkeit besitzt die Noah-Familie auch den Glauben an Gott und an die Glückseligkeit im Jenseits. Damit weist sie gesamthaft diejenigen Eigenschaften auf, die Spalding als dem Menschen wesentlich verstanden hatte. So erklärt Noah seinen Kindern: […] [D]ie Tugend ist nicht vor Krankheit und Jammer gesichert; Auch sie winselt im Stock, sinkt unter den fallenden Mauern, Oder ertrinkt in der Flut; die Erde vergißt nicht das Beben, Nicht aus den Tiefen des Meers die Wasser aufs Erdreich zu führen; Wenn ein Gerechter es fleht. Fand seine Tugend auf Erden Nicht die Belohnung, sie wird in bessern Welten sie finden. Doch, die Güter der Welt sind keine Belohnung der Tugend; Was nichts irdisches giebt, noch irdisches wieder zerstöret, Sonnenschein in der Seel und Freud in der Stille des Herzens Ist der Frömmigkeit Lohn. So läßt die Vernunft uns nicht irren, Wenn wir sie um die Wege des Himmels mit Ehrfurcht befragen. (IX, V. 567–577)
Noah, der hier Verse aus dem vierten Brief von Alexander Popes Essay on Man (1733/34) ›zitiert‹,225 legt mit diesen tröstlichen Aussichten eine Auffassung an den Tag, zu der auch das ›Ich‹ in Spaldings wirkungsmächtigem Text über die Bestimmung des Menschen gelangt.226 Ein ähnliches Idealbild wie Spalding und Bodmer entwirft auch Gellert in seinen Moralischen Vorlesungen (insbesondere in der 5. Vorlesung): Die Sinnlichkeit soll man nur in Maßen genießen und dafür die »Uebung und Verbesserung der Kräfte des Geistes und Verstandes« anstreben.227 Ein »höhe224
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Sulzer hat in seinen Gedanken von dem vorzüglichenWerth der Epischen Gedichte des Herrn Bodmers darauf hingewiesen, dass der Leser auf angenehme Art und Weise seinen Wissenstand erweitern könne (vgl. Sulzer (1754), S. 28ff.). – Für die Verarbeitung der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse vgl. Ibershoff: Whiston as a source of Bodmers Noah. In: Studies in Philology 22 (1925), S. 522–528, Martin (1993), S. 169–173, und Mahlmann-Bauer (2009), S. 281–294. Die Aufarbeitung der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Diskussion über die Sintflut leistet Michael Kempe: Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die Sintfluttheorie. Tübingen 2003 (Frühneuzeit-Forschungen, 10). »But fools the Good alone unhappy call, / For ills or accidents that chance to all.« (Alexander Pope: Vom Menschen: englisch-deutsch = Essay on man. Übers. von Eberhard Breidert. Mit einer Einl. hg. v. Wolfgang Breidert. Hamburg 1993 (Philosophische Bibliothek, 454), S. 80f., V. 97f.) Und: »Shall burning Aetna, if a sage requires, / Forget to thunder, and recall her fires? / On air or sea new motions be imprest, / […] / When the loose mountain trembles from on high, / Shall gravitation cease, if you go by?« (ebd., S. 82, V. 123ff.) Ebenso: »What nothing earthly gives, or can destroy, / The soul’s calm sunshine, and the heart-felt joy, / Is Virtue’s prize […]« (ebd., S. 86, V. 167ff.). Vgl. Spalding (BM), S. 15–25. Gellert (MV), S. 59.
176 res Vergnügen« entstehe aus der Ausübung der »Menschenliebe«,228 dem Handeln für das Wohl der anderen; die »erhabensten Freuden« entspringen der Erkenntnis und Verehrung Gottes und der »festen Versicherung von der Unsterblichkeit und Glückseligkeit unsers Geistes«.229 Bodmers Wertschätzung der Freundschaft zeigt sich auch in Japhets Zukunftsvisionen. In seinem Traum sieht Japhet einen Mann, der sich durch Menschenliebe auszeichnet und auf ihr einen idealen Staat begründet: Einer, du siehst voll Tiefsinns ihn unter den Tulpen einhergehn, Wird ein Volk, über welches ihn keine Herrschaft erhöhet, Nur durch Weisheit beherrschen, er wird den Geist ihm entfesseln, Aber den Kapzaum den ungezähmten Begierden anlegen, Ohne Strafen, nur durch den Zwang der menschlichen Freundschaft, Die er von himmlischer Glut in ihren Herzen entzündet, Daß insgeheim sie handeln, wie die im Lichte des Tags gehn. Aller Reichthum wird da des Staats seyn, die Handelschaft werden Nicht die Bürger, sie wird der Staat für sie treiben. Das Silber Wird verbannt seyn, die Quell’ unnöthiger, eitler Begierden Schätze zu sammeln, die uns die Natur mit Klugheit verborgen. Fremden verwehrt dies Volk den Weg zu seinen Gestaden; Daß sie in ihrem Begleit nicht ihre Laster mitbringen; Hier wird die Kunst gelobt, der Tand der Kunst wird verlachet. Uebersieh nicht den Trupp, der in dem Schwarm aufgewunden, An der Blühte der Aloe hängt, der wird erst die Wunden, Die dem menschlichen Stamm die Zwinger von Mexico schlugen, Wieder zu heilen bedacht seyn; er wird die schüchternen Völker In dem Gebüsch aufsuchen, er wird die Wirthschaft, die Pflugschaar, Und den Glauben an Gott sie lehren. Wie groß wird sein Ruhm seyn, Wenn er die würdige That nicht beginnt aus Liebe zu herrschen! Doch der verdient zu herrschen, der sein Volk seliger machet. Aber wie klein, in verschiedene Zeiten und Länder zerstreuet, Wird die Schaar seyn, die herrscht, glückselige Völker zu machen! (XI, V. 346–369)
In seinem Kommentar zu dieser Staatsschilderung vermischt Wieland verschiedene historische und literarische Bezüge miteinander, die Bodmer als Vorlage gedient haben sollen. Einerseits erkennt Wieland hier William Penn (1644–1718), der 1681 den amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania gründete und im 18. Jahrhundert wegen der dort eingeführten, freiheitlichen Verfassung von vielen geschätzt wurde,230 andererseits sieht er in diesen Versen auch eine Paraphrase aus dem 6. Kapitel des 4. Buches von Montesquieus Esprit des Lois, in dem Penn in eine Reihe mit Lykurgs Gesetzgebung, Denis Veiras’ Histoires des Sévaram228 229 230
Ebd., S. 59f. Ebd., S. 62. – Auf die Nähe Gellerts zu Spalding verweist auch Späth (1990), S. 156f. Vgl. zu Penns dem Parlamentarismus verpflichteten Verfassungsentwürfen etwa Jochen Zenz-Kaplan:Das Naturrechtund die Idee des ewigen Friedensim 18. Jahrhundert. Bochum 1995 (Dortmunder historische Studien, 9), S. 123–131.
177 bes (1677/79) oder Platons Politeia gestellt wird. Und obwohl Bodmer von einem in »Mexico« wohltätig wirkenden »Trupp« spricht, verweist Wieland auf die Jesuiten in Paraguay als historisches Vorbild von Bodmers Charakterisierung, was aber eher den Ausführungen Montesquieus geschuldet ist, der ebenfalls von Jesuiten in Paraguay sprach.231 Aufgrund der mehrfachen Zuschreibungen sieht sich Wieland schließlich genötigt, darauf hinzuweisen, dass angesichts der Schilderung dieser »vortrefliche[n] [sic] Staaten« Bodmer nicht reale Verfassungen beschreibe, wie sie sind oder waren, sondern vielmehr darlege, wie sie »seyn sollten«.232 Damit macht Wieland deutlich, dass sich in dieser kurzen Skizze Bodmers Vorstellungen von einem Idealstaat manifestieren, die dieser allerdings nicht nur der »Anlage« nach von Montesquieu übernimmt,233 wie Wieland meint, sondern beinahe in wortwörtlicher Übersetzung ins Epos einfließen lässt.234 Montesquieu fasst in seinen Ausführungen verschiedene Aspekte griechischer Staatseinrichtungen zusammen, die er in einer kleinen Republik für angemessen hält, und legt somit eine aus der Historie gewonnene Schilderung vom Wesen der Republik dar. Über Montesquieu hinausgehend, zählt Bodmer nicht nur die einzelnen Elemente der republikanischen Staatseinrichtung(en) auf, sondern benennt auch gleichzeitig die Bedingung für deren Genese: die menschliche Freundschaft. Gellert äußert in seinem Gedicht Die Menschenliebe einen ähnlichen Gedanken, wenn er sich die Rückkehr des goldenen Zeitalters erhofft: So lieblos macht der Mensch den Menschen unglücksvoll, Statt, daß er ihn als Freund mit Sanftmuth tragen soll. Komm wieder, glücklich Jahr, du goldne Zeit der Alten, Da Wahrheit, Treu und Recht und Menschenliebe galten!235
Allerdings erinnert Gellert nur an das frühere harmonische Zusammenleben der Menschen und beschreibt die durch die Menschenliebe geprägte Gesellschaft nicht weiter. Dass die Menschenliebe bei Gellert nicht dieselbe politische Bedeutung hat wie bei Bodmer, zeigt sich auch 231 232 233 234
235
Vgl. Montesquieu (EL), Livre IV, ch.6. Wieland (1910), S. 495. Ebd. »Ceux qui voudront faire des institutions pareilles, établiront la communauté de biens de la République de Platon, ce respect qu’il demandoit pour les dieux, cette séparation d’avec les étrangers pour la conservations des mœurs, et la cité faisant le commerce, et non pas les citoyens; ils donneront nos arts sans notre luxe, et nos besoins sans nos désirs. Ils proscriront l’argent, dont l’effet est de grossir la fortune des hommes au delà des bornes que la nature y avoit mises; d’apprendre à conserver inutilement ce qu’on avoit amassé de même; de multiplier à l’infini les désirs, et de suppléer à la nature, qui nous avait donné des moyens très-bornés d’irriter nos passions, et de nous corrompre les uns les autres.« (Montesquieu (EL), Livre IV, ch.6). Gellert (1743), S. 433.
178 an einer anderen Passage des Gedichts, in der Gellert die Herrschaftsausübung des Menschenfreundes beschreibt. Dessen Regierung würde sich durch Weisheit, Sanftmut, Wohltätigkeit, Großmut und Liebe auszeichnen und der Menschenfreund würde sich bemühen,236 dem »Schöpfer« durch »wahre Hoheit« zu gleichen.237 Während Gellert somit vor allem die Verbesserung des Herrschers und seiner Machtausübung in der Menschenliebe begründet sieht, betont Bodmer, dass durch sie auch das Volk besser wird: Durch die Weisheit des ›tiefsinnigen‹ Mannes wird das Volk von den lasterhaften Begierden weggeführt und hin zur ursprünglichen und natürlichen Liebe zu anderen Menschen zurückgeleitet. Die freiwillige (»ohne Strafen«) Rückwendung zur eigenen Natur lässt das Volk in der Folge auch »insgeheim« tugendhaft handeln, d.h. es ist also wahrhaftig tugendhaft und übt die Tugenden nicht nur aus Gründen des Ansehens oder Ruhms aus. Dieses intrinsisch motivierte tugendhafte Verhalten hatte Bodmer auch als einen der wesentlichen Aspekte der frühen Republik Chus beschrieben, in der sich die »Freundschaft für jeden Menschen« in der allgemeinen Wohltätigkeit ebenfalls manifestierte. Die Freundschaft bildet die Grundlage und das Fundament eines jeden republikanisch verfassten Staates, der zudem im Idealfall als Staat ohne jegliches Privateigentum eingerichtet ist. Noah und seine Familie erweisen sich aus dieser Perspektive als idealisierte und gleichzeitig auch als natürliche, wahre Republikaner.238 Während die poetischen Charactere Magog, Putniel und Asdod allgemeine lasterhafte Verhaltensweisen verkörpern, so verdeutlichen die poetischen Charactere der Noah-Familie das tugendhafte Wesen des Menschen in idealisierter Form. Das von der Familie praktizierte Freundschaftsideal, ihre Frömmigkeit, die gemäßigten Gefühle und ihr Streben nach Wissenserweiterung fügen sich dabei zu einem Menschenbild zusammen, das demjenigen von Gellert und Spalding gleicht. Während Spalding jedoch seine Bestimmung des Menschen als Bericht eines räsonierenden ›Ichs‹ angelegt hat und somit dem Leser aus der IchPerspektive die fortschreitende Entwicklung eines Individuums vorführt, 236 237 238
Vgl. ebd., S. 431. Ebd. Bodmer versteht also, das hatte sich auch in Kap. 2 gezeigt, den Menschen im Grunde als Republikaner. Wenn Spalding somit die sozialen Eigenschaften des Menschen beschreibt, entwirft er in Bodmers Augen das Bild eines Republikaners: »Gerechtigkeitgegen alle Menschen, Aufrichtigkeitin meinem ganzen Verhalten, Dankbarkeit gegen Vaterland und Wolthäter, Großmuth gegen Feinde selbst, und eine dem weitläufigsten Verstande allgemeine Liebe. Diese natürlichen und unmittelbaren Ausflüsse einer innerlichen Richtigkeit, darin die Gesundheit und die Zierde meines Geistes bestehet, dieß soll mein angenehmstes und beständigstes Geschäffte seyn.« (Spalding (BM), S. 12).
179 schildert Bodmer keinen dynamischen Entwicklungsgang, sondern stellt die literarischen Figuren in dem (statischen) Zustand dar, auf den sich das ›Ich‹ bei Spalding teleologisch hinbewegt. Den vom ›Ich‹ reflektierten und begangenen Weg, wie man über die verschiedenen Entwicklungsstufen, Sinnlichkeit, Vergnügen des Geistes, Tugend, Religion, Einsicht in die Unsterblichkeit, zur Glückseligkeit gelangen kann, beschreibt Spalding als individualgeschichtlichen Prozess, den jeder Mensch vollführt bzw. vollführen sollte. Er entwirft eine »Mustervita«,239 die nicht in einen geschichtsphilosophischen Horizont eingebettet ist, sondern das universale, ahistorische Wesen des Menschen zum Ausdruck bringt.240 Wie Spalding zeichnet auch Bodmer das Bild der allgemeinen Natur des Menschen: In Noah und seiner Familie soll sich der Leser des 18. Jahrhunderts wiederfinden. In seinem Epos kontrastiert Bodmer das tugendhafte Verhalten mit dem lasterhaften und führt dem Leser mit der Errettung der Noah-Familie vor der Sintflut nachdrücklich ein bewunderungs- und nachahmungswürdiges Vorbild vor. Auch wenn der Leser vielleicht erst am Anfang seines persönlichen Entwicklungsprozesses stehen mag, den von den Figuren verkörperten Zustand kann und soll auch er erreichen. Diese Absicht wird in allen Ausgaben der Noachide gleich in den ersten Versen verkündet, indem die historische Bedeutung der Hauptfigur erläutert wird. Noah habe die Sintflut überlebt, heißt es 1752, weil er von Gott zum »Haupt der neuen Menschengeschlechte« auserwählt worden sei und somit »Nationen erzeugte, / Die durch ein heiliges Leben der Schöpfung würdiger wären« (I, V. 6f.). 1765 und in den weiteren Auflagen von 1772 und 1781 lautet die Passage, die sich mit dem Begriff »Wurzel« direkt an Milton anschließt: Daß er die zweyte Wurzel der Menschen würde, der Vater Neuer Geschlechte, die durch ein göttlicher Leben die Erde Schmücketen. […]241
239
240
241
Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Individualgeschichte. Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen. In: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 8, 2 (2001), S. 163–200, hier S. 197. Thomas Abbt kritisierte an Spaldings Bestimmung des Menschen, dass in ihr nur eine individuelle, aber keine gattungsgeschichtliche Bestimmung des Menschen vorgetragen werde; vgl. zu seiner diesbezüglichen Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn Stefan Lorenz: Skeptizismus und natürliche Religion. Thomas Abbt und Moses Mendelssohn in ihrer Debatte über Johann Joachim Spaldings ›Bestimmung des Menschen‹. In: Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Hg. v. Michael Albrecht, Eva J. Engel, Norbert Hinske. Tübingen 1994 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 19), S. 113–133. Norbert Hinske analysiert den Umschlag von Spaldings anthropologischem Entwurf in das geschichtsphilosophisches Modell bei Kant Norbert Hinske: Das stillschweigende Gespräch. Prinzipien der Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Mendelssohn und Kant. In: ebd., S. 135–156. Bodmer (N 1765), S. 3.
180 In allen Versionen verwendet Bodmer den Komparativ, um die Nachkommen des Vaters Noah näher zu bestimmen. Alle neuen Geschlechter – und das umfaßt auch die Leser im 18. Jahrhundert – sollten sich – und unter diesem normativen Vorzeichen steht das gesamte Epos – insofern von den antediluvianischen deutlich unterscheiden, als sie ein frommeres und tugendhafteres Leben führen als diejenigen der ersten Welt. Im Verlauf des Epos wird aber deutlich gemacht, dass dies nicht der Fall ist: nach wie vor sind die menschlichen Gesellschaften von Lastern geprägt. Somit ist man von der Vollendung der göttlichen Vorherbestimmung noch weit entfernt. Darauf macht Bodmer mit Nachdruck aufmerksam und will gerade vor dem Hintergrund, wie das Urteil von Gott über diesen Lebenswandel ausgefallen ist, seine Leser zur Besserung des eigenen Verhaltens anhalten. Allegorisch nutzt Bodmer die Sintflut, um zu zeigen, wie unnatürlich und damit verwerflich die geschilderten Laster sind, während Noah und seine Familie die wahre Natur des Menschen verkörpern, die eigentlich auch die Menschen des 18. Jahrhunderts besitzen.
3.1.4 Vergleich der verschiedenen Ausgaben: Bearbeitungstendenzen Bodmer hat keinen anderen Text so häufig bearbeitet wie die Noachide. Neben den beiden in Kap. 3.1.1 vorgestellten Skizzen der 1740er Jahre hat Bodmer vier verschiedene Ausgaben herausgegeben, die jedes Mal einen überarbeiteten Text präsentierten.242 Dieses jahrzehntelange Feilen und Verbessern zeigt, mit welchem Ehrgeiz Bodmer das Projekt verfolgte, ein mustergültiges deutsches Epos zu schaffen. Während er relativ rasch eine erste Fassung vervollständigt hatte, dauerte es dreizehn Jahre, bis er 1765 die zweite Fassung vorlegte. In dieser Zeitspanne ver242
1750 veröffentlichte Bodmer zunächst die beiden ersten Gesänge des Noah, ihnen folgte der Separatdruck des dritten und vierten Gesangs. Nach der ersten Fassung von 1752 erschien 1765 die zweite unter dem Titel »Die Noachide in Zwölf Gesängen«. Die dritte Ausgabe von 1772 nannte erstmals Bodmer als Verfasser (»Die Noachide in Zwölf Gesängen von Bodmern. Neuste, von dem Verfasser verbesserte Auflage«), was auch für die letzte Ausgabe von 1781 beibehalten wurde (»Die Noachide in Zwölf Gesängen von Bodmern. Aufs neue ganz umgearbeitet und verbessert vom Verfasser«); die genauen bibliographischen Angaben bei Theodor Vetter: Bibliographie. In: Bodmer (1900), S. 391–403, hier S. 393, und Bender (1973), S. 64f. – Während Bodmer 1750 die ersten beiden Gesänge des Noah, der Traditionfolgend,als ein »Helden=Gedicht«charakterisierte,fehlt in allen weiteren Ausgaben diese Gattungsbezeichnung. Der seit 1765 verwendete Titel »Noachide« ist eine Parallelkonstruktion zu (den damals verwendeten Bezeichnungen) »Messiade«, »Iliade« oder »Aeneide«. Bodmer sucht also bereits durch die Titelgebung die literarischen Bezüge zu verdeutlichen bzw. auf den poetischen ›agon‹ hinzuweisen. – Eine detaillierte Erforschung der Druckgeschichte steht bis heute noch aus, eine wünschenswerte historisch-kritische Edition des Gedichts ebenso.
181 öffentlichte Bodmer zudem eine Vielzahl weiterer, meist kleinerer biblischer Epen und versuchte sich auch als Dramenautor. Neben den ersten Gesängen des Noah erschienen 1751 z. Bsp. die Erstfassung des Epos Jacob und Joseph (vgl. Kap. 3.2) und die beiden ersten Gesänge der SyndFlut, die 1753 um drei Gesänge erweitert unter dem Titel Die Syndflut. Ein Gedicht. In fynf Gesängen erneut veröffentlicht wurden.243 Wie die anderen Bibelepen Bodmers unterscheiden sie sich vom Noah vor allem durch den deutlich geringeren Umfang. In kurzen Skizzen entwerfen sie empfindsame Liebes- und Ehebeziehungen und lassen die ins Phantastische ausgreifende Kosmologie sowie die historische Gesellschaftslehre der Noachide vermissen. Als Familiengemälde beschränken sie sich ganz auf den häuslichen Bereich und zeigen letztlich sehr traditionell, dass man den biblischen Stoff auch in kleinen Episoden als Sittenlehre literarisch nutzen und darbieten kann. Mit Blick auf die Syntflut hat Barbara Mahlmann-Bauer pointiert davon gesprochen, dass diese, von der Noachide deutlich differierenden Bearbeitungen als »leichte Kost« zu verstehen sei, die den Lesern, deren »Nerven« und »Kräfte« eine Lektüre von Klopstocks Messias oder Bodmers Noah noch nicht aushalten könnten, zunächst vorgesetzt werden müsse, um sie so an das Chef d’Œuvre zu gewöhnen.244 Dass Bodmer seiner Syntflut, die sich im Kern als Tugendlehre für Töchter erweist,245 aber nicht nur diese Vorbereitungsfunktion zuschrieb, sondern sie als eigenständiges Werk verstand, zeigt die Tatsache, dass er das Epos 1767 in seiner Anthologie Calliope ein zweites Mal abdruckte.246 Auch seine übrigen Bibelepen veröffentlichte er meist zweimal. Während Bodmer seine biblischen Epen für den Zweitdruck nur geringfügig überarbeitete, widmete er der Noachide mehrfach umfassende Aufmerksamkeit. Mit jeder neuen Ausgabe hoffte Bodmer, seinen Kritikern, die sich sogar im Lager seiner Anhänger fanden, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sulzer verfasste zwar eine Verteidigungsschrift für Bodmers Epen, bemängelte aber in Privatbriefen an Bodmer die Sittenschilderungen, die ihm für das Antediluvium nicht adäquat erschienen 243 244 245
246
Vgl. die bibliographischen Angaben bei Vetter (1900) oder Bender (1973). Mahlmann-Bauer (2009), S. 252. Vgl. hierzu Reiling: Geschichtsschreibung in patriotischer Absicht. Zu Bodmers moralisch-politischem Erziehungsprogramm. In: ZTB (2008), S. 526–541, hier S. 540f., und Jan Loop: Der Noah. Bodmers Bibelepos im wissenschafts- und wirkungsgeschichtlichem Kontext. In: ebd., S. 462–477, hier S. 463. In den Vorreden zur Syntflut wird dem Leser nahegelegt, es unter dem Aspekt der Neuheit zu betrachten. Das Neue ist darin zu sehen, dass das biblische Geschehen nicht nur wie im Noah als »erhabene[s] Naturgemälde«, sondern auch als »Familienrührstück«literarischdargestelltwerden kann (Mahlmann-Bauer(2009), S. 251). Im Vergleich zum biblischen Prätext ist vor allem die Hauptfigur, Noahs Tochter Sunith, ›neu‹.
182 (vgl. Kap. 3.1.1). Wieland erwies sich mit seiner Abhandlung von den Schönheiten des […] Noah während seiner Zürcher Zeit als glühender Verehrer Bodmers, distanzierte sich jedoch 1759 deutlich von seinem früheren Mentor.247 Dem jungen Friedrich Nicolai war, freilich ohne Kenntnis der Briefe Sulzers oder Wielands, die ›Problematik‹ von Bodmers Epen ebenfalls aufgefallen. In aller Schärfe inszenierte er 1755 in seinen Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland die ambivalente Rezeptionshaltung, die wir aus heutiger Perspektive bei Sulzer und Wieland ausmachen können. In insgesamt fünf fingierten Briefen unterhalten sich zwei Leser über ihre Lektüreeindrücke. Während der eine Bodmers Werke mit ähnlichen moralischen Argumenten, wie sie Sulzer vorgetragen hatte, verteidigt, erweist sich der andere als scharfer Kritiker der Epen. Im Siebenden Brief fragt Letzterer nach dem literarhistorischen Stellenwert von Bodmers Epen und versucht so, die Diskussion prinzipiell zu einer Entscheidung zu führen: Lassen Sie uns einmahl unpartheiisch urtheilen; es komt nicht auf einzelne Stükke, sondern auf das Ganze an, es ist nicht die Frage, ob gewisse Stellen einzeln und für sich schön sein, und ob gewisse Charaktere gewisse Züge, gewisse Wendungen auf unsern Beifall Anspruch machen können, es ist nicht die Frage: ob der deutsche Hexameter in gewissen Fällen etwas vorzügliches habe, und ob er zuweilen unsern Dichtern gelungen sey: es ist nicht die Frage, ob Gedichte, die die Religion und Tugend anpreisen, lobenswürdig sind, […] sondern es ist die Frage, ob diese Gedichte denn so durchaus schön, von Fehlern frei, rührend, natürlich, der Kunst des Dichters gemäß, und dem Herzen der Leser angenehm sein, ob diese Dichtart so vortreflich sei, daß sie das Muster der deutschen Dichtkunst zu werden verdiene, ob es wahr sei, daß man die deutsche Sprache, bloß durch den Hexameter, in ihrer völligen Stärke gebrauchen könne, ob alle Hexameters unserer Dichter, stark, flüssend, rein, ja ob sie nur richtig sind, ob die Beschuldigung daß diese Gedichte, von kindischen Tändeleien, langweiligen und unpoetischen Beschreibungen, von altäglichen Gedanken, von Dingen die gar nicht zur Sache gehören, […] verstellet werden, falsch sey? […] und ob endlich diese Dichter Ursach haben ihrem Vaterlande zu ihren Gedichten Glükk zu wünschen, und davon ohne Scheu die Epoche des guten Geschmakks in Deutschland anzufangen?248 247
248
Vgl. seinen berühmten Brief an Johann Georg Zimmermann vom Juni 1759: »Ist der Noah ein elendes Episches Gedicht? Nein! Ist der Noah mit der Ilias, Eneis, […], dem Paradies […] in Eine Classe zu stellen? Nein. […] Sind viele schönen Stellen im Noah. Ja! Sind viele, welche weit schöner seyn könnten? Ja. Sind Bodmers Figuren zu steiff und unbelebt, ist sein Coloris zu schekicht, Seine Versification rauh […]? Ja. Mangelt es ihm an Wahrscheinlichkeit, an Natur, an Affekt? an Edler Einfalt? einfältiger Schönheit? schöner Erhabenheit? Ja. Hat jemand eine […] gerechte Critik vom Noah gemacht? Nein.« (Wieland an J. G. Zimmermann, 2./4. Juni 1759, zit. nach Wielands Briefwechsel, Bd. 1. Briefe der Bildungsjahre (1. Juni 1750–2. Juni 1760). Hg. v. Hans Werner Seiffert. Berlin 1963, S. 461). Vgl. hierzu auch Martin (1993), S. 183ff. – Auch Herder urteilte ambivalent über Bodmers Dichtungen. Während er einzelne Sittenschilderungen lobte, missfiel ihm vor allem die »enzyklopädische Gelehrsamkeit« (vgl. Mahlmann-Bauer (2009), insbes. S. 243–249, hier S. 249). Friedrich Nicolai: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland, zit. nach ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische
183 Sehr genau hat Nicolai Bodmers Bestreben erkannt, ein deutsches Musterepos vorzulegen, und wiederholt seine Fragen noch einmal explizit in Bezug auf den Noah : »[I]st er ein Meisterstükk des menschlichen Wizzes, das Muster der Dichtkunst, das in die Stelle der Reglen gestellt werden kann, das die H o m e r e, die Virgile, die M i l t o n e verdunkeln wird?«249 Die Antwort ist vernichtend: »Dieses ist es, was ich auf das feierlichste verneine«.250 Bodmers Lobredner würden übersehen, dass die Güte eines literarischen Werkes nicht nur von der darin vertretenen Moral abhänge. Für Nicolai sind ein »Mittelmäßiger Moralist« und ein »grosser Dichter« zweierlei.251 Wenn Sulzer, Wieland252 und mit diesen auch der Lobredner in Nicolais Briefen hervorheben, dass Bodmer die Religion und Tugend befördere,253 lässt der Kritiker diesen Sachverhalt nicht als einziges Kriterium gelten. Neben der mangelhaften Versifikation missfällt ihm vor allem die »affectirt-einfältige, und niedrigschwülstige Schreibart«,254 die Wendungen und Gleichnisse gebrauche, die »unerträglich« seien.255 Inhaltliche Einwände werden vor allem gegen das »süsse[ ] Gewäsche von platonischer Liebe« erhoben, womit wohl die Schilderungen der Liebesbeziehungen von Noahs Söhnen gemeint sind.256 Solche Passagen könne nur eine »betagte Matrone« ersinnen.257 Bereits vor Nicolais Rezension hatte Bodmer 1754 eine kleine Broschüre mit dem Titel Vermehrungen und Veränderungen in dem epischen Werke: Der Noah veröffentlicht, die Nicolai aber nicht kannte.258 In ihr listet er auf über 50 Seiten Verbesserungen und Zusätze zu seinem 1752 veröffentlichten Noah auf, die zu erkennen geben, dass Bodmer bereits vor den Rezensionen wusste, dass einige Passagen seines Gedichts miss-
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Ausgabe mit Kommentar. Band 3: Literaturkritische Schriften, I. Bearbeitet von P. M. Mitchell. Bern u.a. 1991, S. 53–160, hier S. 97. Ebd., S. 97f. Ebd., S. 97. Ebd., S. 138. Martin und Georg Ellinger haben die Attacken von Nicolai gegen Wielands Abhandlung herausgearbeitet; vgl. Martin (1993), S. 180–184, und Friedrich Nicolais Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1755). Hg. v. Georg Ellinger. Berlin 1894 (Berliner Neudrucke, 3. Serie, 2. Band), inbes. S. XXI. Ebd., S. 93f. und S. 135f. Ebd., S. 90.. Ebd., S. 97. Hier wie auch an den anderen Stellen verzichtet Nicolai darauf, seine Aussagen anhand kurzer Textauszüge zu verdeutlichen Ebd., S. 95f. Sie erschien ohne Angabe von Ort und Jahr (im Folgenden wird sie mit der Sigle ›VV‹ zitiert).In der ersten Kapitelüberschriftwird das Epos erstmals die ›Noachide‹ genannt; vgl. ebd., S. 3. Die Annahme, dass diese Broschüre 1754 veröffentlicht wurde, legt ein ebenfalls dort aufgenommenes Druckfehlerverzeichnis zu dem 1753 erschienenen Epos Joseph und Zulika nahe; Vetter datiert sie irrtümlich auf das Jahr 1752; vgl. Vetter (1900), S. 393.
184 lungen waren. Seine aufgeführten Veränderungen greifen vielfach den kurz darauf von anderen erwünschten Überarbeitungen voraus. Für viele Verse bemühte sich Bodmer, metrisch bessere Varianten zu finden und fehlerhafte Betonungen auszumerzen. Einerseits war er dabei bestrebt, metrisch mehr Abwechslung zu erreichen und lockerte etwa zwei aufeinanderfolgende Spondeen durch die Einfügung eines Daktylus auf,259 andererseits richtete er die Verse vermehrt nach der natürlichen Wortfolge aus.260 Insgesamt lassen sich die Überarbeitungen als Bestreben deuten, gemäß den poetologischen Reflexionen in den Critischen Betrachtungen eine ›natürliche‹ Sprache zu verwenden, die zugleich verständlich und poetisch sein sollte (vgl. Kap. 1.6). Nicolai bezeichnete die in einem solchen Stil verfassten Passagen als »einfältig« oder »niedrig«. Gleichzeitig verwies Nicolai jedoch auch auf die missglückten Redewendungen, die diesem Ideal nicht folgten, wenn er die paradoxe Formulierung »niedrig-schwülstig« bzw. »affectirt-einfältig« als Bezeichnung für die gesamte Redeweise Bodmers verwendete. Diese Fehler versuchte Bodmer bereits 1754 auszumerzen. Die stilistischen und inhaltlichen Veränderungen, die er in den Vermehrungen anführt, zeigen, dass er sich um eine möglichst klare und gleichzeitig gehobene Sprache bemühte und deshalb schwer verständliche Wendungen ersetzte. So hieß es 1752 beispielsweise zunächst noch – und das dürfte eine Formulierung sein, auf die sich Nicolais Charakterisierung der »affectirten« oder »schwülstigen« Redensart bezogen haben könnte: »Ohne dies würde die Nacht den Himmel umziehn und verlassen« (Der Noah, 1752, II, V. 23), in den Vermehrungen ersetzte Bodmer: »Ohne dies würde die Nacht anbrechen und wieder vergehen«.261 Ebenfalls der inhaltlichen Präzisierung dienen Versersetzungen oder -ergänzungen, deren Umfang von einer bis zu mehreren 259
260
261
Vgl. etwa »Magoge schien die graue Versammlung […]« (Bodmer (VV), S. 10) statt »Magog schien die graue Versammlung […]« (N 1752, II, V. 253, S. 47) oder »Am Kaimanas erbaut’ er […]« (Bodmer (VV), S. 11) statt »Am Kaiman erbaut’ er […]« (N 1752, II, V. 265, S. 47). – Weitere Beispiele bei Usselmann (1929, S. 23f.) und Mahlmann-Bauer (2009), S. 240–245. Vgl. etwa »Ihnen kochet das Blut in den Adern […]«(Bodmer (VV), S. 9) statt: »In den Adern kochet das Blut […]« (N 1752, II, V. 113, S. 41), dieser Vers entfällt in den späteren Ausgaben. Oder »Wenn der muntere Geist in sanfter Bewegung sich wieget« (Bodmer (VV), S. 9) statt: »Wenn der Geist in sanfter Bewegungsich wieget, stets munter« (N 1752, II, V. 122, S. 41), die korrigierte Variante bleibt auch noch in der Ausgabe von 1781 unverändert stehen (vgl. ebd., S. 37). Bodmer (VV), S. 8. Hier heißt es etwa auch: »Einer der Sieben[,] die um den Thron der Allmacht herum stehn.« (ebd., S. 9); 1752 hieß es: »Einer der ersten Ordnung, der sieben, die um den Thron stehn« (N 1752, II, V. 156). Bodmer ersetzt z.T. auch bloß einzelne Begriffe in den Versen: So wird etwa der aus dem militärischen Bereich stammende Begriff »Trupp«, mit dem Siphas Söhne bezeichnet werden (N 1752, II, V. 5), durch die (friedliche) »Schaar« ersetzt (Bodmer (VV), S. 8); die »wolgeschaffnenSeelen« (N 1752, II, V. 62) werden (auch aus metrischenGründen) durch die »erhabenen Seelen« ersetzt (Bodmer (VV), S. 8).
185 Zeilen reichen kann. Das schiefe Bild von »Gerüchte[n], die durch das Land »kreuzten« und dann in den Himmel »wachsen«, wird 1754 bereinigt und die Aussage dadurch prägnanter: Schwere Gerüchte gehn mit den Sünden der Menschen beladen, Kreutzen von Land zu Land, und wachsen hinan zu den Wolken, […]. (N 1752, II, V. 159f.) Boten von schwarzen Thaten, von Werken der Sünd und des Frefels [sic], Kreutzen von Land zu Land und steigen über die Wolken, […]. (Bodmer (VV), S. 9)
In der überarbeiteten Fassung wird durch die Substantiv-Reihung (»Thaten«, »Werken«) das riesige Ausmaß der Verkommenheit deutlicher markiert und so der Eindruck von der verdorbenen Welt kurz vor der Sintflut gesteigert.262 Die naturhafte Metaphorik nimmt Bodmer mit der Ersetzung von »wachsen« durch »steigen« zurück, wodurch er die Assoziation vermeidet, dass die Freveleien ›natürliche‹ Erscheinungen seien, die sich deshalb auch überallhin ausbreiten würden. In den Vermehrungen passt das »steigen« mit dem »kreuzen« metaphorisch zusammen, wobei das ›Über-steigen‹ der Wolken zugleich das aggressive Moment des Frevels anklingen lässt, das in der ersten Version noch nicht vorhanden war. Durch die Verben der Bewegung werden die Sünden anthropomorphisiert und erhalten dadurch einen lebensbedrohenden Charakter. Durch die Korrekturen entsteht ein ›plastischeres‹ Bild, das eine stärkere affektive Wirkung auf den Leser entfalten kann. Vergleicht man die verschiedenen Noah-Ausgaben, so lässt sich beobachten, dass Bodmer die größten Eingriffe für die Ausgabe von 1765 vornahm. Entgegen der Ankündigung von 1781, eine »ganz umgearbeitet[e] und verbessert[e]« Ausgabe vorzulegen, waren die Überarbeitungen für die letzte Ausgabe nicht so umfassend, wie es den Anschein haben könnte. Neben den bereits 1779 angekündigten Veränderungen in den Literarischen Denkmalen überarbeitete Bodmer vor allem den ersten Gesang.263 Im Vergleich zu den Fassungen von 1765 und 1772 nahm er hier zwar viele metrische und stilistische Korrekturen vor, an die tiefgehenden Bearbeitungen für die Ausgabe von 1765 reichen sie jedoch nicht heran.
262
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Von 1765 an lauten die beiden Verse, die berichten, was der Engel vor der gemeinsamen Reise ›gerüchteweise‹ von den Ländern gehört hatte, die er später mit Noah durchwandert, wie folgt: »Boten von schwarzen Thaten, so sprach er [der Engel; J. R.], von Werken des Frevels, Kreuzen von Land zu Land und steigen vom Erdreich gen Himmel; […].« (Bodmer (N 1765), S. 42, vgl. ders. (N 1772), S. 33, und (N 1781), S. 39). Vgl. LiterarischeDenkmale von verschiedenenVerfassern.Zürich 1779, S. 93ff. und S. 152f.
186 Die Vermehrungen von 1754 bestehen meist in der Ergänzung oder Ersetzung einzelner Verse oder Versteile. Lediglich für den achten Gesang schrieb Bodmer zwei neue längere Passagen, welche die Sterbeszene mit dem vorbildlichen Sipha ausmalen.264 Hierdurch sollte das Mitleid des Lesers geweckt und diesem zugleich die richtige ars moriendi vorgeführt werden, die sich deutlich von den späteren Schilderungen (im neunten und zehnten Gesang) unterscheidet, in denen die Verzweiflung der Sünder angesichts der Sintflut beschrieben wird. In den späteren Ausgaben wird diese Szene beibehalten, allerdings werden die Verse z.T. leicht modifiziert.265 Ersatzlose Streichungen von Versen macht Bodmer in seinen Vermehrungen praktisch nicht; die nimmt er jedoch für die 1765er Ausgabe vor. Dahinter steckt das Bemühen, die Erzählung zu straffen, indem Nebensächliches oder Unwichtiges deutlich gekürzt oder ganz gestrichen wird.266 Gleichzeitig ist Bodmer darum besorgt, den Leser auf möglichst knappe und verständliche Art und Weise in die verschiedenen Episoden einzuführen, d.h. ihm die Orte sowie die jeweils handelnden Personen klar zu benennen. Die Handlungsabfolge, die verschiedenen Redner sowie die von diesen möglicherweise erwähnten Personen sollen dem Leser jederzeit deutlich vor Augen stehen.267 Inhaltlich gesehen folgt Bodmer in allen Ausgaben den 1742 skizzierten Handlungsverläufen. Während er jedoch damals die Handlung auf lediglich sieben Gesänge verteilte, umfasste Der Noah schließlich (in allen Ausgaben) zwölf Gesänge. Während der Tod von Sipha, der in der Skizze von 1742 noch »Nemuel« heißt, mit dem anschließenden Einzug der Tiere in die Arche zunächst noch die Mitte des Epos darstellen sollte, wurde der Beginn der Überschwemmung in den späteren Ausgaben in den achten Gesang verlegt und somit der Vorgeschichte 264 265 266 267
Vgl. Bodmer (VV), S. 32f. Vgl. Bodmer (N 1765), S. 209f., (N 1772), S. 169f., (N 1781), S. 205f. So auch Mahlmann-Bauer (2009), S. 242. Z. Bsp.: Während 1752 der Bericht von Laomer über den Tyrannen Magog zunächst nur vage Andeutungen über dessen Verfehlungen macht, wird 1765 dessen gewaltsame Herrschaft gleich von Anfang an benannt und vor allem als Grund angegeben, weshalb Laomer so einsam außerhalb der Stadt wohnt. Er spricht zu Noah und dem Engel: »Eure Gestalt […] ist nicht wie der Knechte, Die mit dem Grimme des Löwen im Aug’ um den König herum steh’n, Immer bereit die Winke des Todes im Aug’ des Tyrannen Wahrzunehmen: ihr kommet auch nicht den Winkel zu spähen, Der mein Leben verbirgt, […] […] Lange hat Magog die Zonen der Erde mir enge gemachet, […].« (N 1765, S. 43). – 1752 fehlten die einleitenden Verse und der Bericht begann: »Sandt euch Magog, den Raum zu spähn, der mein Leben verborgen? Lange genug hat er die Erde mir enge gemachet; […].« (N 1752, II, V. 187f.).
187 mehr Raum eingeräumt. Hält man sich vor Augen, dass der elfte Gesang mit den prophetischen Träumen von Noahs Kindern die Wiederkehr der bereits im zweiten und dritten Gesang vorgeführten Laster bietet, so zeigt sich, dass es Bodmer bei der Ausarbeitung seines Epos besonders um die Darstellung der untergehenden Welt und der außergewöhnlichen Familie und ihrer Lebensweise ankam. Diese inhaltliche Gewichtung behält Bodmer in allen Ausgaben bei. Für die Ausgabe von 1765 nimmt er insbesondere in den ersten Gesängen eine neue Episodeneinteilung vor und schafft so neue Handlungseinheiten, die besser mit der Kapiteleinteilung korrespondieren. Während der zweite Gesang 1752 mit der Reaktion von Japhet auf Siphas Erzählung beginnt, die im ersten Gesang wiedergegeben wird, zieht Bodmer 1765 diesen Gesprächsabschluss, der rund 85 Verse ausmacht, in den ersten Gesang.268 Der zweite Gesang setzte 1765 (und in den späteren Ausgaben) direkt mit der Rückkehr von Noah ein, wodurch die Schilderung der verschiedenen Reiche hier dann auch die Taten von Mohammed (»Putniel«) umfassen kann; diese wurden 1752 erst im dritten Gesang geschildert.269 Mit Beginn – und nicht mehr erst in der Mitte – des dritten Gesangs ist die Erzählung von Noah geographisch in Eden angekommen und beschränkt sich in der Folge auf die Schilderung von Eden und die unmittelbar umliegenden Reiche. Die inhaltliche Gliederung der restlichen Gesänge bleibt weitgehend unverändert.270 Auch wenn Bodmer – bei einer vorsichtigen Schätzung – ca. 80 % aller Verse von 1752 metrisch und stilistisch überarbeitet hat, so ergeben sich doch keine gravierenden, bedeutungsrelevanten inhaltlichen Veränderungen.271 Der Vergleich der verschiedenen Ausgaben gibt – entgegen der landläufigen Auffassungen – zu erkennen, dass der Dichter Bodmer innerhalb der dreißig Jahre, in denen er an der Noachide feilte, durchaus poetische Vorstellungen hatte und an einer Verbesserung seines Werkes arbeitete. Zum Abschluss soll paradigmatisch Bodmers Arbeit an einer kurzen Passage aus dem ersten Gesang nachgezeichnet werden, um seinen Vorstellungen eines nachahmungswürdigen deutschen Epos näher zu kommen. Dieser Passage kommt innerhalb des Epos eine wichtige Funktion zu, da sie unmittelbar auf die Musenanrufung und der darin gegebenen, kurzen Inhaltsschilderung folgt. Sie eröffnet dem Leser den ›Schauplatz‹ der Handlung. Bis zur Ausgabe von 1772 wird der Leser nach der Einleitung zunächst davon unterrichtet, dass Noah seit fünfzig Tagen mit einem 268 269 270 271
Vgl. (N 1752), II, V. 1–83 und (N 1765), S. 35–38. Vgl. (N 1752), III, V. 1–165 und (N 1765), S. 61–66. Eine kurze Inhaltsangabe findet sich bei Usselmann (1929), S. 82–88. Das gilt auch für die in den vorangehenden Kapiteln erörterten Passagen der Noachide. Die Analyse von Mahlmann-Bauer (2009) kommt im Hinblick auf die heilsgeschichtlich relevanten Passagen zu demselben Befund; vgl. ebd., S. 242f.
188 Engel durch die verschiedenen Gegenden streift. Über die sehnsüchtig wartende Milca, Noahs Ehefrau, wendet sich der Blick Noahs Söhnen zu, die »[v]on dem schleichenden Beyspiel der niedern Welt […] gesondert« (N 1752, I, V. 42), in trauter, familiärer Gemeinschaft leben. Von ihnen wird dann der jüngste, Japhet, in den Blick genommen, der während eines Streifzugs auf die weit entfernt in der Ebene liegende Stadt Thamista schaut, wo die Giganten wohnen. Dieser Ausblick wird von Bodmer in den verschiedenen Ausgaben unterschiedlich dargeboten und entfällt in der letzten Ausgabe schließlich ganz. Vergleicht man Bodmers verschiedene Versionen dieser Passage, ist dies als konsequenter, poetologisch begründbarer Bearbeitungsschritt zu verstehen. Japhets Schau hat innerhalb des ersten Gesangs die Funktion, den Gegensatz zwischen dem Leben der Noachiden und demjenigen der Bewohner in der Ebene zu betonen. Während auf dem Berg Eden die Familie im Einklang mit Gott und der Natur wohnt, symbolisieren die Monumentalbauten die gigantomanische, anmaßende und ergo widernatürliche Lebensweise der Stadtbewohner. Die kurze Passage wiederholt damit im Grunde einen Sachverhalt, auf den der Leser in den wenigen Versen des Epos bereits mehrfach hingewiesen worden ist. Diese Repetition wird von Bodmer bis 1772 beibehalten, erst 1781 gestaltet er den Eingang des ersten Gesangs anders. Anstatt mehrfach den Gegensatz zwischen den guten Noachiden und der verdorbenen Menschheit darzustellen, nimmt Bodmer 1781 nach der Musenanrufung direkt Sipha, Noahs Schwager, in den Blick. So steigt er in medias res ein und zeigt einen betrübten Familienvater im Zwiegespräch mit Gott. Siphas Sorgen um die Zukunft seiner drei Töchter, für die er in den lasterhaften Ebenen keine Ehemänner zu finden glaubt, soll beim Leser Mitleid auslösen. Entsprechend verweilt der Erzähler im Fortgang zunächst bei den Töchtern und beschreibt deren Gartenarbeit, die durch die Ankunft von Japhet überraschend unterbrochen wird. Spannungssteigernd verschiebt Bodmer 1781 so den Auftritt von Noahs Familie etwas nach hinten. Bereits die drei Fassungen der 1750er Jahre lassen das Suchen nach der geeigneten, idealen Schilderung erkennen: 1750, S. 3: Eines Tags hatte sich Japhet der nördlichen Seite genähert, Wo der ebene Felsen von seinem abhangenden Rande Ungehindert die Durchsicht in die Provinzen entdeckte, Die an dem Fusse die Läng und die Breite hinausgestreckt lagen. Seine Gewohnheit war die Geschichte der Menschen darunten Von der gesicherten Höhe mit heitern Blicken zu spähen. In der weitsten Entfernung war die durchlauchte Thamista Mit eingefaßten Beeten von breiten Strömen durchschnitten, Und mit hangenden Gärten, die in der Luft emporschwebten; Zwischen der Stadt und dem Berge weit ausgebreitete Ebnen; […]
189 1752, S. 5f., V. 57–73: Japhet war einsmals nach der nordlichen Seite gegangen,272 Wo der ebene Fels von seinem hangenden Rande Ungehindert die Durchsicht in Reich’ und Zonen entdeckte, Die die Schneide des Augs ermüden und stumpf zurück schicken.273 Er war gewohnt von der Höh der Menschen Werke zu spähen;274 Jtzo sah er mit zärtlichern Sorgen im Auge hinunter, Weil die niedern Ebnen ihm sein Vater behielten.275 Oftmals276 schmeichelt’ er sich, wenn drunten ein einsamer Mann gieng, Daß sein Vater da gieng’ und ins Gebirg wiederkäme; Streckte nach ihm den verlangenden Arm und grüßt’ ihn von ferne. An des Horizonts Schluß stand tief im Dunkel Thamista Mit hochhangenden Gärten, die näher zur Sonne sich hoben; Von dem vereinigten Strom des Phrats und Hidekels durchschnitten.277 Japhet sah von ihr nur die pyramidenen278 Gipfel, Ihre Palläst’ entflohen ihm hinter die Neige der Erde. Zwischen der Stadt und dem Berg verbreiten Felder und Auen Ihren wölbenden Rücken mit sanften Hügeln erhaben.
Während Bodmer die ersten drei Verse 1752 nur leicht verändert und sie metrisch ›runder‹ macht, indem er die Betonungen mit dem natürlichen Wortakzent in Übereinstimmung zu bringen sucht, dichtet er die restlichen Verse um. Dabei bleibt die Abfolge der Erzählsequenzen gleich, die einzelnen Gedanken- oder Landschaftsschilderungen werden jedoch anschaulicher formuliert. Das zeigt sich etwa bei der Stadtbeschreibung, die zunächst an Babylon und die hängenden Gärten der Semiramis erinnern soll. 1752 betont Bodmer, dass Thamista in weiter Entfernung liegt und von Flüssen durchquert wird. Während er 1750 mit der Formulierung »Und mit hangenden Gärten« den Leser noch ›hängen‹ ließ, da die Konjunktion »und« eine semantisch unterdeterminierte Verbindung herstellt, wird 1752 diese Vagheit ausgebügelt. Allerdings befriedigten schon Bodmer diese Überarbeitungen nicht, weshalb er in den Vermehrungen zunächst die Reihenfolge der Verse umstellte und diese 1765 dann sogar ganz strich (vgl. unten). Dies tat er nicht nur aufgrund der mangelhaften Ordnung der verschiedenen Attribute, sondern 272
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1754 korrigiert Bodmer »einsmals« aus metrischen Gründen zu »einesmals« (Bodmer (VV), S. 4). 1754 heißt dieser Vers: »Weiten, von welchen die Schneide des Auges ermüdet zurück kömmt.« (Bodmer (VV), S. 4). 1754 richtet sich der Vers eher nach der gesprochenen Sprache; aus metrischen Gründen wird ein »e« bei »Höh« eingefügt. Das Satzende richtet sich hier zudem nach der semantischenEinheit:»Er war gewohnt von der Höhe die Werke der Menschen zu spähen.« (Bodmer (VV), S. 4). 1754: »Weil in den niedern Ebnen sein theurer Vater verweilte.« 1754 aus metrischen Gründen: »Oeftermals«. 1754 dreht Bodmer die Reihenfolge dieser beiden Verse um; zuerst werden die Flüsse erwähnt, dann die Gärten. Das folgt der Perspektive des Blicks, der sich ›zoomend‹ immer weiter verengt. 1754: »pyramidigten«.
190 auch um beim Leser keine Bewunderung für die prächtigen Bauten aufkommen zu lassen. 1750 zeigt sich dieser Aspekt noch expressis verbis, wenn von der »durchlauchte[n]« Stadt die Rede ist, auf die Japhet mit »heitern Blicken« herabschaut. Die Stadt, in der die verdorbenen Menschen bzw. Giganten hausen, darf nicht einen erhabenen Eindruck hinterlassen, deshalb verzichtet Bodmer von 1765 an auf eine Beschreibung. Stattdessen wertet er – und das zeigt sich bereits 1752 – die Natur auf, die sich anthropomorphisiert und vor allem »erhaben« in den Vordergrund schiebt. 1752 beschreibt Bodmer im Anschluss an die oben zitierten Verse, wie diese Natur von den Einwohnern der Ebene zerstört wird.279 Diesen Aspekt betont er auch 1765 noch.280 Der Umgang mit der Natur dient dazu, das lasterhafte Verhalten der Stadtbewohner zu illustrieren. Neu nahm Bodmer 1752 auch fünf Verse auf, welche die Beziehung von Japhet und seinem Vater bildlich vor Augen führen. Japhets Irrtümer, fremde Männer aus der Ferne für seinen Vater zu halten, verdeutlichen mit Nachdruck seine Sehnsucht und die Sorge um seinen Vater. Um nicht weitere Perspektiven einzuführen und den Fokus bei Japhet zu belassen, veränderte Bodmer 1754 zwei Verse, die Japhets Handlungsohnmacht bzw. seine Passivität zu sehr betont hatten (und gleichzeitig ein merkwürdiges Bild entwarfen): 1752 »schicken« die verschiedenen Reiche Japhets Blick zurück und »behalten« gleichzeitig Noah (vgl. V. 60 und 63). 1765 und 1772 werden diese Verse dann gar nicht mehr bzw. nur modifiziert aufgenommen: 1765, S. 5f. und 1772, S. 5f.: Japhet war nach der nordlichen Gränze des Himmels gegangen, Wo der hangende Fels durch eine Spalte die Aussicht Weithin eröfnet; da läuft der Blick durch die Ebnen in Eden Tagreisen hin, bis er in der fernen Tiefe dahinfleußt.281 An dem Hange des Himmels, wo er zur Erde herabsinkt, Steigt Thamista empor; die Dohm’ und Palläste bedecken Edens Gefilde, die vormals bekränzt mit blumigten Fluren Glänzten; doch Japhet entdeckte282 von ihr in der weiten Entfernung Nichts, als die Spitzen der Tempel und pyramidischer Gräber, 279
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»Ehmals sah er die Felder mit weissem Glanze beworfen Von dem Vliesse der Wollenheerden; er hört’ auf den Hügeln, […] Festlichen Schall und Stimmen der Harf ’ einander begegnen, […]. Aber er sah itzt über die Flur sich Schaaren ergiessen, Seltsam durch einander sich kreutzen, mit fliessenden Fahnen, Wagen von Erz mit Pferden bespannt, langschleppende Züge, Schwer beladne Kameel’ und Elephanten mit Thürmen.« (N 1752, I, V. 74–82). Vgl. N 1765, S. 6. 1772 heißt es: »Tagereisen, bis er zerfleußt in der fernen Tiefe.« 1772: »entdeckt«.
191 Die in das neblichte Grau des Himmels aufschimmern; die Größe Und der Stolz der Gebäude verschwand in Schatten verhüllet.
Während in der 1752er Ausgabe in dieser Passage abwechselnd die Figurenperspektive und diejenige des allwissenden Erzählers eingenommen werden, konzentriert sich Bodmer von 1765 an vorwiegend auf diejenigen des Erzählers. So ist die Beschreibung zunächst neutraler, gleichzeitig wirkt sie durch die gehäufte Verwendung der Deiktika (»Wo«, »da«, »wo«) unmittelbarer, was durch die verschiedenen Verben der Bewegung (hinlaufen, dahinfließen, herabsinken, emporsteigen) zusätzlich verstärkt wird. Diese aktive(re) Schilderung der eigentlich statischen Gegebenheiten zeigt sich darüber hinaus auch im Enjambement, das mehrfach eingesetzt wird (etwa »bedecken / Edens« und »Fluren / Glänzten«). Der Blick von Japhet interessiert 1765 (und später) weniger, deshalb entfallen die Verse über Japhets Gewohnheit und seine Sehnsucht nach seinem Vater; auch die Stadt wird nicht mehr mit ihren ›Details‹ geschildert bzw. soll nicht mehr mit konkreten historischen Vorbildern in Verbindung gebracht werden können. Nur die gewaltigen Ausmaße der Stadt sind von Bedeutung, da diese eine dunkle, nicht genau identifizierbare Bedrohung für Eden heraufbeschwören. 1781 verschob Bodmer die gesamte Passage unter weitgehender Wahrung der Verse von 1765 in den zweiten Gesang.283 Die von Bodmer mehrmals überarbeiteten Verse gefielen auch der Kritik nicht. Christoph Otto Freiherr von Schönaich (1725–1807), der kurz zuvor wegen seines Herrmann-Epos von Gottsched zum vorbildlichen Dichter erkoren worden war (vgl. Kap. 3.1.1) und sich deshalb als Verteidiger der Leipziger Poetik gebärdete, spießte in seiner polemisch gegen Zürich gerichteten Ganzen Ästhetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch gleich mehrere Verse dieser Passage auf. Mit Bezug auf den Vers 67 (der 1752er Ausgabe) hatte er zunächst die Wendung ›im Dunkeln liegen‹ erläutert – das würde, so Schönaich, so viel bedeuten wie »in der Entfernung« liegen – und dazu die rhetorische Frage gestellt: »Ob nun das einerley heißt, Dunkel und Entfernung, das weis Gott und unser
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»Nordwerts der Ecke, wo Noahs Hütte gebaut ist, eröfnet Weithin der hangende Fels durch eine Spalte die Aussicht; Hier läuft rastlos der Blick durch Edens Ebnen und Hügel Tagereisen, bis er zerfleußt in der fernesten Tiefe. An dem Hange des Himmels, wo er zur Erde herabsinkt, Steigt Thamista empor; die Dohm’ und Palläste bedecken Edens Gefilde, die vormals bekränzt mit blumigten Fluren Glänzten, doch hier entdeckt sich von ihr in der tiefen Entfernung Einzig der Tempel Spitzen und pyramidischer Gräbern; Die in das neblichte Grau des Himmels aufschimmern; die Größe Und der Stolz der Gebäude verschwand in Schatten verhüllet.« (N 1781, S. 35).
192 Herr Rath [Bodmer; J. R.].«284 Er bemängelte hiermit die unklare Redeweise Bodmers, die dieser selbst im Grunde auch schon zu verbessern strebte, wie die Überarbeitungen von 1754 zeigen. Zudem zog Schönaich eine weitere Wendung dieses Verses ins Lächerliche, wobei er allerdings Bodmers Vers falsch zitiert: »›An des Horizonts Schluß lag im Dunkel Thamista.‹ Der Horizont nämlich hatte allda ein Ende: und folglich war jenseits die Welt mit Brettern verschlagen.«285 Bodmer nimmt – ob im Wissen um Schönaichs Kritik, kann aus heutiger Perspektive nicht mehr entschieden werden – die von Schönaich kritisierte Wendung in der Ausgabe von 1765 nicht mehr auf. Eine dritte Formulierung, die »Schneide des Auge«, missfiel Schönaich so sehr, dass er sie nur kopfschüttelnd und in der Überzeugung, dass ihre Unverständlichkeit jedem einleuchte, wiederholen konnte:»Da lernen wir, daß ein Aug eine Schneide hat; und daß sie nicht nur stumpf wird; sondern auch ermüdet«.286 Aber auch Bodmer war mit diesem Vers nicht zufrieden, 1754 veränderte er ihn, 1765 strich er ihn. – All diese Veränderungen liegen auf der Linie von Nicolais Kritik, der Bodmer einen schwülstigen Stil vorgeworfen hatte. Davon wollte auch Bodmer wegkommen. 1781 wählt Bodmer, wie bereits gesagt, einen anderen Eingang für sein Epos und führt Japhet erst später ein, beginnt dafür aber die Erzählung mit den Sorgen des Familienoberhaupts Sipha. Den Gegensatz der isolierten Familie zu den Bewohnern der Ebenen kann Bodmer auch in Siphas Zwiegespräch ausmalen, zudem kann er eindrücklich den Segen Gottes illustrieren, unter dem Noah und seine Verwandten stehen. Er schildert den erhabenen, mit Gott sprechenden Character Sipha, der gleichzeitig durch seine Sorge um seine Töchter sehr menschlich erscheint und so den Leser leicht einnehmen kann. Die Passagen über Japhet und seinen Blick auf Thamista verbessert Bodmer bis 1772: er merzt fehlerhafte Betonungen und schiefe Formulierungen aus und bemüht sich um eine knappe und anschauliche Schilderung, die den Leser affektiv fesseln soll. Gleichwohl erkennt er 1781, dass diese Passage inhaltlich dem Leser letztlich kaum Neues bietet und diesen zudem auf eine falsche Fährte locken könnte: In der Noachide geht es eben nicht wie in der Syntflut in erster Linie um die Darstellung von Noahs Kindern, sondern es soll die gesamte Familie gezeigt werden. Da diese vom Vater oder Ehemann 284
285 286
Die ganze Aesthetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch; als ein sicherer Kunstgriff, in 24 Stunden ein geistvoller Dichter und Redner zu werden, und sich über alle schale und hirnlose Reimer zu schwingen. Alles aus den Accenten der heil. Männer und Barden des itzigen überreichlich begeisterten Jahrhunderts zusammen getragen,und den größten Wort-Schöpfernunter denselbenaus dunkler Ferne geheiliget von einigen demüthigen Verehrern der sehraffischen Dichtkunst. o.O. 1754, S. 343. Ebd. Ebd., S. 464.
193 angeführt wird, gebührt diesem der erste Auftritt im Epos, den er 1781 auch erhält. Der Vergleich der verschiedenen Ausgaben zeigt also, dass es Bodmer gesamthaft gesehen darum ging, seine Erzählung in einer zugleich gehobenen wie einfachen und verständlichen Sprache darzubieten. Diese Bearbeitungstendenz lässt sich bereits 1754 erkennen und wird auch in späteren Jahren beibehalten.287 Die Einwände der Kritiker dürften Bodmer also nicht so unvorbereitet getroffen haben, wie man gemeinhin zu glauben geneigt ist; Bodmer erkannte – wie seine Kritiker – die Schwächen der ersten Ausgabe sehr wohl. Dass er sich in den verschiedenen Varianten um ein vorbildliches deutsches Epos bemühte, fiel den Zeitgenossen ebenfalls auf. Sie sahen allerdings auch, dass er mit der Umsetzung dieser ehrgeizigen Aufgabe letztlich scheiterte: Sein [Bodmers; J. R.] größtes und bestes Heldengedicht aber ist die Noachide, in zwölf Gesängen, der er auch immer mehr Vollendung zu geben gesucht hat. Hr. Wieland schrieb im J. 1753 eine eigne weitläufigekritische Abhandlungüber die Schönheiten dieses Gedichts; und Sulzer hat aus ihr in seiner Allgemeinen Theorie häufige Beispiele entlehnt. Beides aber trug doch nicht merklich dazu bei, den Beifall oder die Vorliebe des deutschenPublikums auf ein Werk zu lenken, dem es doch wirklich zu sehr an großen hervorstechenden Schönheiten, an Anmuth der Einkleidung, an Wohllaut des Verses, und vornehmlich an lebhaftem Interesse mangelt.288
3.2
Jacob und Joseph
3.2.1 Der natürliche Mensch als Herrscherideal So wie Bodmer die Noachide mehrmals veröffentlichte, so verfuhr er auch bei seinem 1751 erstmals veröffentlichten Epos Jacob und Joseph : Zunächst gab er drei Gesänge heraus, 1754 ließ er eine leicht überarbeitete Fassung in vier Gesängen folgen.289 Diese Fassung wurde 1767 unter dem Titel Jacob wieder im ersten Band der Anthologie Calliope abgedruckt.290 Von der Forschung wurde das Epos bislang kaum beachtet. 287
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290
Auch Mahlmann-Bauer hat in ihrem Variantenvergleich herausgearbeitet, dass Bodmer bei seinen Überarbeitungen vor allem klarere Formulierungen angestrebt hat; vgl. Mahlmann-Bauer (2009), S. 242f. Johann Joachim Eschenburg: Beispielsammlung zur Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. 5. Band. Berlin, Stettling 1790, S. 340. Eschenburg schließt an seine knappe Charakterisierung einen Auszug aus dem achten Gesang der Noachide an. Bodmer: Jacob und Joseph. Ein Gedicht in drei Gesængen. Zyrich. Bei Conr. Orell und Compagnie 1751; ders.: Jacob und Joseph. Ein Gedicht in vier Gesængen. Zyrich. Bei Conr. Orel und Compagnie. 1754. Bodmer: Calliope. Erster Band. Zürich, bey Orell, Geßner und Compagnie. 1767, S. 113–209. Im Folgenden wird dieser Band mit der Sigle ›C, I‹ zitiert, das Gedicht mit der Sigle ›J‹ direkt im Text.
194 Sowohl Nabholz-Oeberlin als auch Herbert Singer konzentrieren sich in ihren motivgeschichtlichen Studien zur Joseph-Figur insbesondere auf die 1753 erschienene Epopöe Joseph und Zulika in Zween Gesængen.291 Ebenfalls kaum in den Blick genommen wurden bislang Bodmers erste Dramen, die den Joseph-Stoff behandeln. Hier sollen sie im Anschluss an das Epos analysiert werden (Kap. 3.2.2). Das Epos Jacob und Joseph gründet auf der biblischen Erzählung des ersten Buchs Moses 37–47 und setzt mit den Vorbereitungen für die zweite Reise der Söhne Jacobs an den ägyptischen Hof ein, wo Joseph als Oberhofmeister und Stellvertreter des Pharaos lebt. Wegen der seit zwei Jahren herrschenden Hungersnot waren die Brüder zuvor von Kanaan aus an den Hof gelangt, um dort Getreide für ihre Familien zu erwerben. Joseph, der Jahre zuvor von seinen Brüdern an ismaelische Händler verkauft worden war, erkannte seine Brüder sofort, diese ihn aber nicht, und ließ sie als vermeintlich feindliche Spione oder »Räuber« verhaften (J, S. 128). Um ihre Unschuld und den Wahrheitsgehalt ihrer Erzählungen zu beweisen, mussten sie Simeon als Pfand zurücklassen und erhielten von Joseph den Auftrag, mit dem jüngsten Bruder Benjamin zurückzukehren. Mit diesem Befehl will Joseph die Gesinnung seiner ehemals verwerflich handelnden Brüder auf die Probe stellen. Jacob will aber seinen jüngsten Sohn Benjamin nicht gehen lassen, da er befürchtet, nach Joseph erneut einen von ihm sehr geliebten Sohn zu verlieren. Benjamin stellt für Jacob den »süssesten trost« [sic] (J, S. 116) für den seit 20 Jahren vermissten Joseph dar, von dem Jacob aufgrund der erfundenen Erzählung der Brüder glaubt, er sei von einem Panther getötet worden. Die Brüder bemühen sich, ihren Vater zu überreden, dass dieser sie gemeinsam mit Benjamin nach Ägypten ziehen lasse, und tragen dabei verschiedene Argumente vor: Levi meint, Gott wolle Jacob und dessen Glauben mit dem Gang von Benjamin nach Ägypten prüfen, Aser stellt das Schicksal des gesamten Familienverbandes über das Einzelschicksal von Benjamin und verweist auf die zu erwartende »noth« (J, S. 126) aller, wenn Benjamin nicht mitreise, und Juda hebt den außergewöhnlich tugendhaften Charakter
291
Vgl. Nabholz-Oeberlin (1950), S. 31, und Herbert Singer: Joseph in Ägypten. Zur Erzähkunst des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Euphorion 48, 3 (1954), S. 249–279, hier S. 273. Singer zeigt in seiner Analyse, dass Bodmer im Vergleich zur biblische Vorlage die Frau Potiphars, Zulika, moralisch aufwertet und sie somit nicht als »große Hure« auftreten lässt (ebd., S. 273), sondern sie ähnlich wie Joseph gestaltet. Vorgeführt wird an den beiden Figuren das Thema der empfindsamen (platonischen) Freundschaft zwischen Mann und Frau, so wie es ähnlich auch in der Noachide gestaltet ist. Allerdings entfacht ein Dämon bei Zulika überbordende Liebesgefühle für Joseph. Die werden verurteilt und dem wahren Freundschaftsideal (vgl. Kap. 3.1.3) gegenübergestellt.
195 des ägyptischen Oberhofmeisters hervor.292 Er bezeichnet die Gefangennahme von Simeon zwar als »hartes verfahren« [sic] (J, S. 129), trotz dieser Strenge empfindet Juda »verehrung mit liebe gemengt« (ebd.) für den Hofmeister, da dieser selbst über sich gesagt hatte: »Jemanden unrecht zu thun, auch fremdlingen, fürcht ich mich sünde« (J, S. 128). Neben der Tugend der Gerechtigkeit lobt Juda auch die äußere Erscheinung des noch unerkannten Bruders, die dessen innere Qualitäten adäquat widerspiegelt.293 Wie schon bei den Kindern von Noah und Sipha, so stimmen auch bei Joseph äußere und innere Schönheit überein, was die Vollkommenheit von Joseph zum Ausdruck bringt. Joseph zeichnet sich vor allen anderen Männern in Ägypten durch seine Weisheit aus und kann nicht nur Träume deuten, sondern auch notwendige Maßnahmen gegen die Hungersnot ersinnen. Aufgrund seiner vorausschauenden Klugheit wird Joseph nicht nur vom Volk gelobt und geliebt, auch der herrschende Pharao verschafft Joseph deswegen die höchste Stellung an seinem Hofe.294 Als Oberhofmeister erlässt Joseph Anweisungen, kümmert sich auch um deren Umsetzung und kann – wie im Falle der Brüder – auch Recht sprechen. Er vereinigt somit in einer Person die legislative, exekutive und judikative Gewalt, die er als Stellvertreter des Monarchen ausübt: »Zwischen dem König und ihm sind nur der thron und das scepter« (J, S. 128).295 Die Integrität des Monarchen tastet Joseph nicht an und erhebt sich nicht 292
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Obwohl Josephs tugendhaftes Verhalten eigentlich eine Rückkehr von Benjamin bereits im Vorfeld zu garantieren scheint, bietet sich Juda zusätzlich als Pfand für Benjamin an; Ruben verpfändet sogar seine beiden jüngsten Söhne für Benjamins Rückkehr. Nach einem Gebet zu Gott ist Jacob schließlichbereit,Benjamin mit den anderen Brüdern nach Ägypten reisen zu lassen. Judas und Rubens Bereitschaft, ihr eigenes Leben und dasjenige ihrer Söhne für Benjamin zu opfern, erscheint aufgrund der Gerechtigkeitsliebe des Oberhofmeisters als eher risikoarmes Unterfangen. Da die Brüder wissen, dass sie keine Spione oder Räuber sind, befürchten sie deswegen auch keine Verurteilung; allerdings plagt sie ihre vor Jahren an Joseph begangene Untat mit »verschwiegenen bissen« [sic] (J, S. 115). Nicht der konkrete am ägyptischen Hof erhobene Vorwurf ist es also, der den Wert des angebotenen Pfandes bestimmt, sondern das ehemalige Verbrechen, mit dem sich die Brüder mit Schuld beladen haben, lässt ihr Angebot moralisch bedeutsam werden; ihr Anerbieten zeugt allerdings bereits vor der eigentlichen Probe am Hof von ihrem Gesinnungswandel. »Solche züge sind ihm auf die augen und lippen gepräget, Boten der göttlichen seele, die in dieselben hervorsteigt, Und so umfaßte die anmuth den wolgebildeten körper. […] Ganz Mizraim bekennt auch mit lobpreisenden reden, Daß die gestalt dem bewohnenden geist nichts trügliches anzieht, Denn ihm danket Aegypten den vorrath an mitteln des lebens, […].« (J, S. 129). Vgl. ebd., S. 129f. Joseph wird auch als »Vezier« (J, S. 145) des Pharaos bezeichnet; damit kommt Joseph im Staat dieselbe Funktion zu, die im Noah-Epos auch Tydor in Chus ausübte. Joseph stellt jedoch das positive Gegenbild von Tydor dar.
196 gegen oder über ihn. Die gegenseitige Anerkennung der jeweiligen politischen Funktion sieht von Glaubensdifferenzen ab und gründet somit insbesondere in der Wertschätzung von Herrschertugenden wie Weisheit und Gerechtigkeit. Trotz ihres unterschiedlichen Glaubens üben Joseph bzw. Zophenat-Panah und der Pharao gemeinsam die Herrschergewalt aus.296 Judas Schilderung des guten Staatsmannes umfasst aber nicht nur politische Tugenden, sondern auch allgemein menschliche: Das ist der mann, der so hart uns hielt, vor dem wir erzittern, Den Mizraim den Retter, den Nährer, die wollust der welt, nennt; Der den menschen die sitten der engel zur erden herabbringt. Sollte die grossmuth, die güte, des menschenfreundlichen mannes Uns nur verschlossen, sein herz nur für uns mit erzte bedekt seyn? […] Nein, der unsittlichen absicht ist Zophenat=Panah nicht fähig. Auch bemerkt’ ich es klar, als wegen des harten befehles Simeon aus uns heraus in ketten und bande zu nehmen, Unser blut in die winkel entfloh, und die knie entsanken, Daß ein gerührtes mitleid in seine stirne hervorstieg, […]. (J, S. 131)
Die Gerechtigkeit und Klugheit des Regenten wird von Großmut, Güte, Menschenliebe und Mitleid begleitet, womit er als Abbild von Noah erscheint und auch diejenigen Züge an den Tag legt, die in der Noachide Japhet in seiner Zukunftsvision von einem idealen Staatsgründer und -herrscher gesehen hatte. Ergänzt wird das Bild des Herrschers mit demjenigen des Privat- bzw. Ehemannes, das Asenat schildert.297 Ihre 296
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Die religiösen Unterschiede werden zwar kaum thematisiert, dennoch lässt sich indirekterschließen,dass das Volk und mit ihm auch der Pharao den altägyptischen Götterglauben besitzt (vgl. J, S. 149). Der Pharao erweist sich in religiöser Hinsicht als sehr tolerant, indem er Juden wichtige Positionen am Hof übergibt: Die Vorfahren von Potiphar, dem Leibwächter des Pharaos und Vater von Josephs Frau Asenat, kamen, wie auch diejenigen von Josephs Hofverwalter Menes, mit Abraham aus Kanaan nach Ägypten (vgl. J, S. 146 und S. 148). Im Vergleich zu Gott erscheinen dem Pharao sogar die »götter der völker nur werke von erz« (J, S. 208), womit er die Superiorität des jüdischen Gottes anerkennt. Dass der Pharao Joseph »mit keiner geringern zärtlichkeit liebte, / Als ein vater den leiblichen sohn liebt« (J, S. 174), verdeutlicht gleichzeitig, wie irrelevant der Glauben ist, wenn man dasselbe tugendhafte Verhalten an den Tag legt. – Jacob bezeichnet den Pharao im Gegenzug auch als »gutthätig und milde« (J, S. 207). Die wechselseitige Anerkennung und Wertschätzung gründet also nicht auf dem Glauben, sondern auf den Verdiensten bzw. Taten. »O wie bin ich glükselig in meines Josephs umarmung! Sein verstand hat schäze von weisheit, sein herze von tugend; Er ist nicht unbekannt mit dem laufe der himmlischen kugeln, Mit dem wechselnden mond, dem zirkelnden umgang der sterne, Noch mit den goldenen zonen des himmels; ihm wurde gegeben, Zeit und raum, die ungebrochene kette des schiksals, Und den antrieb des willens, die geistlichen dinge, zu wegen.
197 Charakterisierung weist augenfällige Parallelen zu den Beschreibungen der Noah-Familie auf; Bodmer wiederholt sich hier beinahe wortwörtlich.298 Wie Cham interessiert sich Joseph für astronomische und metaphysische Fragen und wie Japhet und Sipha erforscht er die Natur und gibt seine gewonnenen Erkenntnisse, wie Sipha, an seine Ehefrau weiter. Der gelehrte Unterricht erfreut Asenat, nicht nur, weil er ihre Erkenntnisse erweitert und dabei nutzloses Wissen außer Acht lässt,299 sondern auch, weil er so anschaulich gestaltet ist.300 Joseph erweist sich in all den Schilderungen somit quasi als ein weiterer Vertreter der Noah-Familie, dem die ernsthafte Reflexion, die Weisheit, der Großmut, der Sinn für Gerechtigkeit, die Menschenliebe und der Glaube an Gott von Natur aus gegeben sind. Die Beschreibungen des Privatmanns Joseph ergänzen dabei die Ausführungen über den Politiker Joseph und entwerfen einen Character, in dem zwischen privatem und öffentlichem Verhalten kein Unterschied gemacht wird. Diese Übereinstimmung benennt Joseph selbst, als er sich seinen Brüdern zu erkennen gibt: […] Verkennet ihr Joseph? Warum zaudert ihr, euch in die arme des bruders zu legen? Hat der purpur, der byssus, des königlichen gewandes, Womit Pharao mich von seinen kleidern geschmüket, Und die goldene kette, die er um den hals mit geleget, Und der ring den er selbst mir an den finger gestekt hat, Etwa die mine der stirne mit Königesstolz mir umhüllet, Daß ihr darunter nicht mehr den schäfersohn Jacobs erkennet? (J, S. 163)
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Oftmals führt ihn die mutter natur in thäler und berge, Daß er die heilende kraft in den adern der kräuter erforsche, Oder was von der gespaltenen rind’ in balsamischen thränen Beim anbrechenden morgen hervorfleußt. Der Schöpfer entziefert Vor ihm der welt harmonisches buch; er liest in demselben Gottes handschrift, die hellen buchstaben der schaffenden finger. Aber er spottet des wissens, was weisheit und tugend nicht födert; Tugendhaft ist sein ganzes gemüth und beherrschet sein wissen. Alle die wunder verborgener weisheit enthüllt er vor mir dann; Giebt durch sinnliche bildung den geistlichen dingen ein leben, Daß es mich dünkt, ich sehe sie mehr als daß ich sie denke; […].« (J, S. 205). Im Noah heisst es: »In den Werken des Schöpfers ist für die hungrigste Neugier Speise genung [sic], im Bau der Sphären, dem ändernden Monden, In dem Umlauf der Sterne, den goldnen Zonen des Himmels; Oder das feine Gewicht der Zeit und des Raums zu wegen, Ewiger Dinge; die ungebrochne Kette des Schicksals, Und den Antrieb des Willens, der leise wirket, zu messen; […].« (N 1752, III, V. 550–555). Vgl. Kap. 1.1. Jacobs Schilderung des jungen Josephs betont dieselben Eigenschaften (vgl. J, S. 121).
198 Trotz seines Ranges und den damit verbundenen Auszeichnungen sieht sich Joseph selbst nicht in einer politischen Rolle, die ihn von seinem früheren Privatleben als Schäfer unterscheidet. Der gesellschaftliche Aufstieg hat den tugendhaften Unschuldigen nicht verändert oder gar verdorben, sein Wesen als Regent entspricht seinem Wesen als Menschen. Oder anders gesagt: der wahre natürliche Mensch ist zugleich auch das Ideal eines guten Herrschers. Anders als die Söhne Noahs wird Joseph aber nicht nur im harmonischen Umgang mit der eigenen Familie gezeigt, sondern muss seine Tugendhaftigkeit unter Beweis stellen, bevor er die Stellung als Regierender antreten kann, was – wie in einer aristokratischen Republik – die Auszeichnung für seine erworbenen Verdienste darstellt. Josephs Prüfungen zeigen, dass er zunächst gerade wegen seiner guten Eigenschaften in Bedrängnis gerät und sich daraus auch nur dank seines Charakters wieder befreien kann. Obwohl von Potiphars Frau Zuleika in absichtlicher Verdrehung der Tatsachen des »lasters« (J, S. 130), d.h. der versuchten Verführung bezichtigt, schweigt er aus »schamhafter ehrfurcht« (ebd.), um sie nicht bloßzustellen. Trotz der anschließenden ungerechtfertigten Inhaftierung bleibt Joseph mit Vertrauen auf Gott seinem Großmut und seiner Menschenliebe treu und deutet die Träume des königlichen Mundschenks und des Bäckers und schließlich auch diejenigen des Pharaos.301 Auch Josephs Brüder haben Joseph wegen seiner Tugenden Schlechtes angetan und ihn an vorbeiziehende Händler verkauft, weil sie befürchteten, aufgrund der besonderen Liebe ihres Vaters zu Joseph benachteiligt zu werden und sich zudem unter die Herrschaft Josephs stellen zu müssen.302 Nur an ihrem eigenen Vorteil, dem guten Erbteil, interessiert, begegneten sie Joseph mit »neid« und »hasse der menschen« (J, S. 180).303 Josephs eigentliche Probe der Brüder bei ihrer zweiten Rückkehr an den Hof mit Benjamin lässt eine ähnliche Situation entstehen, wie sie Joseph selbst erlebt hatte: die von Joseph erfundene Anklage wegen Diebstahl soll der Familie erneut einen Lieblingssohn entreißen. Anstatt abermals nur auf die Eigeninteressen zu schauen und Benjamin als Gefangenen am ägyptischen Hof zurückzulassen, bieten sich die Brüder nun jedoch für Benjamin als Sklaven an und bezeugen damit ihren Gesin301 302
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Vgl. den Bericht von Joseph über seine Erlebnisse (J, S. 197). »Joseph hatt’ uns mit seiner erhabnern tugend beleidigt; Mit dem verstand, der den göttlichern geist offenbarte; Mit dem wandel vor Gott, der unsern wandel beschämte; Mit der liebe, die ihm der vater vorzüglich bezeigte.« (J, S. 137). Als Juda seiner Frau Thamar den Verkauf von Joseph gesteht, ist diese entsetzt: damit hätten sich die Brüder »entmenscht[]« (J, S. 136) und die »unschuld,die lieb’, die tugend, die ehre, / Und mit ihnen die segnungen Gottes« verlassen (J, S. 140).
199 nungswandel hin zu wahrer Tugend.304 Zugleich geben sie so ihrer Reue Ausdruck, die sie für ihr Verbrechen an Joseph empfinden. Folglich kann Joseph seinen Brüdern auch vergeben.305 Durch ihre Reue anerkennen sie die göttliche Ordnung und Vorhersehung, die Joseph als Herrscher bestimmt hatte, und gliedern sich wieder in die Familie der Rechtschaffenen ein.306 Erst nachdem die Brüder ihre lasterhaften Züge abgelegt und damit zur wahren menschlichen Natur zurückgefunden haben, sind sie bereit, Joseph als Herrscher anzuerkennen: Gutes zu reden und gutes zu thun gab Gott dem Regenten; Eine tugend, die in dem kranze der göttlichen leuchtet! Von da schimmert sie in die brust der herrscher der erde, Durch die tugend erheben sie sich zu dem obersten geber, Wenn sie die nationen mit mild’ und segen umfangen. Uns will gebühren dem beyspiel nach unsern schranken zu folgen, Daß wir uns selbst milde der milde würdiger machen. (J, S. 152)
Vor dem Hintergrund der natürlichen Gleichheit können die Brüder akzeptieren, dass sich Joseph im Vergleich zu ihnen auszeichnet bzw. ausgezeichnet hat und schreiben ihm deshalb auch die Rolle des Herrschers zu. Josephs Herrschaft gründet dabei nicht auf Macht und Gewalt, sondern auf Liebe, Güte und Milde, die auch schon in Der Noah als grundlegende Eigenschaften des Herrschers angeführt wurden. Die so begründete Herrschaft spornt dabei die Untertanen an, dem Beispiel des Königs zu folgen und sich ebenfalls tugendhaft zu verhalten. Bodmer zeichnet also in seinem Epos Jacob und Joseph dasselbe Idealbild eines Herrschers und Menschen, das er auch schon in Der Noah skizziert hatte, stellt es aber, anders als in der Noachide, in einen sozio-politischen Rahmen. Während die Noah-Familie weitestgehend in Opposition zu Staaten gezeigt wurde, thematisiert das Jacob und Joseph -Epos den Schritt aus der Familie in den Staat hinein und zeigt neben dem Herrscherideal auch die idealen Untertanen, die sich von Sündern zu musterhaften Bürgern entwickeln. Der Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft geschieht dabei im gegenseitigen Einverständnis und stellt keinen gewaltsamen Akt dar. Zuvor lebten die Brüder in Kanaan in einem republikanischen Naturzustand, darauf deutet jedenfalls die Beschreibung der Ratsversammlung der Brüder mit ihrem Vater Jacob: An gebehrde gleich einer versammlung der würdigsten räthe Die zusammengekommen, das wohl der stadt zu berathen. (J, S. 123).
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Vgl. J, S. 150 und 161f. Um den Brüdern die für ihre Tat empfundene »qual« (J, S. 165) zu nehmen, deutet Joseph die Brüdertat als Vorsehung Gottes, die Joseph nach Ägypten geführt habe, um die Brüder und »welten von menschen« vor dem Hungertod zu bewahren (vgl. J, S. 164f.). Vgl. J, S. 166.
200 Der Vergleich des Familienrates mit einem Stadtrat, der eigentlich gar nicht recht in das schäferliche Milieu der Jacob-Familie passt, lässt sich auch als eine versteckte Anspielung auf die Zürcherischen Verhältnisse lesen. Das Lob des Herrschers Joseph gründet, wie gezeigt, zum einen in dessen menschlicher Vorbildlichkeit, zum andern aber auch in der erfolgreichen Bewältigung der Krisensituation, in der sich Ägypten und die umliegenden Völker befinden. Dank der weisen Voraussicht von Joseph treten die tödlichen Folgen der Hungersnot nicht ein, da er während der fruchtbaren Jahre große Getreidevorräte anlegen ließ, die in der Notzeit das Überleben sichern. Ebenso häufig wie vom Mangel an Getreide die Rede ist, wird dabei der Begriff »Theurung« angeführt,307 die aus der ausbleibenden Ernte und dem sich daraus ergebenden Mangel an Getreide resultiert. Der Getreidemangel und die ihm folgende Teuerung waren Phänomene, die dem damaligen Leser in Zürich – und auch in ganz Europa – bekannt waren, wie Peter Rásonyi in seiner Studie über die Agrarreformen im Kanton Zürich des 18. Jahrhunderts schreibt: »Das Bewusstsein einer notorisch gefährdeten Grundversorgung großer Teile der Bevölkerung gehörte auch noch im 18. Jahrhundert zum selbstverständlichen Erfahrungsraum und überall verfügbaren Alltagswissen der Zeitgenossen«.308 Und so dürfte es den Zürcher Lesern ein Leichtes gewesen sein, das biblische Geschehen auch auf den eigenen Erfahrungshorizont zu beziehen, war doch unmittelbar vor Erscheinen von Jacob und Joseph in den Jahren 1749/50 eine »namhafte Teuerung« in Zürich eingetreten, welche die Getreidepreise um rund 30 Prozent ansteigen ließ.309 Anders als der kluge und vorausschauende Joseph betrieb die Zürcher Obrigkeit jedoch im 18. Jahrhundert keine »langfristige[ ] […] Kornmarktpolitik«,310 sondern reagierte nur mit einer »Krisenpolitik« auf die Versorgungskrisen.311 Bodmers Epos ließe sich somit auch als (allerdings 307 308
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Vgl. etwa J, S. 125, S. 130, S. 146, S. 148, S. 166, S. 175, S. 182, S. 186, S. 207. Peter Rásonyi: Promotoren und Prozesse institutionellen Wandels: Agrarreformen im Kanton Zürich des 18. Jahrhunderts. Berlin 2000 (Schriften zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte, 60), S. 162. Ebd.; vgl. auch Walter Bodmer: Ursachen der Veränderung des Verkehrsvolumen auf der Landstrasse Walenstadt-Zürich von 1600–1800. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 27 (1977), S. 1–60, hier S. 38, und Peter Giger-Eschke: Kornmarktpolitik Zürichs im 18. Jahrhundert. Lizentiatsarbeit Universität Zürich 1985, S. 72. Ebd., S. 67. Ebd. – Kritik an der Zürcher Getreidepolitik wurde auch angesichts der großen Hungersnot von 1770/71 vorgetragen: »Verfehlte Vorratspolitik und unzureichende Marktsteuerung sind die Hauptvorwürfe« (Rolf Graber: Aufklärungsbewegung und Sozialprotest in Zürich. Zum städtischen Konfliktzyklus 1760–1780. In: Aufklärung-Vormärz-Revolution. Hg. v. Helmut Reinalter. Frankfurt, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1990–92, Sonderdruck 1994 (Jahrbuch der ›Internationalen Forschungsstelle Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa von 1770– 1850‹ an der Universität Innsbruck, Bde. 10–12), S. 77–94, hier S. 80).
201 sehr allgemein gehaltene) Kritik an der damaligen Zürcher Regierung verstehen, der die Weisheit und Tugendhaftigkeit von Joseph fehlt.312
3.2.2 Zärtlicher Vater und unschuldige Kinder: Bodmers Kinderschauspiele In Dichtung und Wahrheit schildert Goethe die Faszination, welche die verschiedenen Geschichten aus dem ersten Buch Moses auf ihn machen, und hebt dabei vor allem Joseph hervor, »an der sich besonders die Jugend mit Hoffnungen und Einbildungen gar artig schmeicheln kann«.313 Dieser stelle eine Vorbild- und Identifikationsfigur für die Jugend dar, denn trotz »Unglück«, »Sklaverei« und »gefährlichsten Versuchungen« erlange er schließlich »hohe[ ] Ehren nach Verdienst« und steige gesellschaftlich auf. Statt wie seine Vorfahren als Schäfer zu leben, erwerbe er als großer Staatsmann für den König »Völker mit allen ihren Besitzungen«.314 Allerdings sei diese »natürliche Erzählung« in der Bibel sehr kurz geschildert, so dass man sich berufen fühle, »sie ins Einzelne auszumahlen«,315 was der Knabe Johann Wolfgang – allerdings ohne an ein Ende zu gelangen – auch in Angriff nahm. Mit seinem autobiographischen Rückblick legt Goethe Zeugnis einer Lektüreerfahrung ab, die wohl auch Bodmer kannte, als er zu Beginn der 1770er Jahre den Joseph-Stoff wieder aufnahm und daraus zwei Theaterstücke für Kinder machte. Mit den Kinderstücken Die Botschaft des Lebens aus dem Jahre 1771, das sich an Zehn- bis Zwölfjährige richtet, und dem zwei Jahre später veröffentlichten Der Fußfall vor dem Bruder, das für Jünglinge von über zwölf Jahren geschrieben ist, führte Bodmer die dramatische Gestaltung des Joseph-Stoffes fort, die er bereits 1754 mit dem an Erwachsene
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Allerdings stellt Bodmer der mangelhaften Politik der Zürcher Obrigkeit nur Ideale entgegen, konkrete Maßnahmen gegen die unsichere Versorgungslage ergreift etwa die Ökonomische Kommission der Naturforschenden Gesellschaft, indem sie Landwirtschaftsreformeneinleitetund dabei unter anderem die sogenannte»Korndarre« entwickelt, die das Getreide trocknet und somit länger lagerfähig macht, vgl. dazu Rásonyi (2000) oder Rolf Graber: Spätabsolutistisches Krisenmanagement. Die Naturforschende Gesellschaft in Zürich im Spannungsfeld von arbeitender Geselligkeit und staatlicher Funktionalisierung. In: Geselligkeit, Sozietäten und Vereine/Sociabilité et faits associatifs. Hg. v. Hans Ulrich Jost, Albert Tanner. Zürich 1991 (SchweizerischeGesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte,9), S. 81–94; ders.: Reformdiskurs und soziale Realität. Die »Naturforschende Gesellschaft« in Zürich als Medium der Volksaufklärung. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (1997), S. 129–150. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abteilung: Sämtliche Werke, Bd. 14. Hg. v. Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a.M. 1986, S. 155. Ebd., S. 155f. Ebd., S. 156.
202 gerichteten »tragischen Stück« Der erkannte Joseph begonnen hatte.316 Da Bodmers Kinderstücke in enger Relation mit dieser ersten dramatischen Bearbeitung stehen, soll zunächst das Verhältnis von Epos und dem tragischen Erwachsenenstück, Bodmers erstem gedruckten Drama, betrachtet werden. Nach Bodmers Ausführungen im Vorwort von 1754 sind Der erkannte Joseph und Der keusche Joseph lediglich als Versuche anzusehen, den im Epos verarbeiteten Stoff auch in dramatischer Form darzulegen. Im Rückgriff auf die Poetik von Aristoteles diskutiert Bodmer im Vorwort die Unterschiede zwischen der dramatischen und der epischen Gestaltung eines Stoffes und trägt eine von Aristoteles abweichende Gattungshierarchie vor: Während die Tragödie bei Aristoteles aufgrund der Kürze und Einfachheit der Handlung den Vorzug vor dem Epos erhält,317 sah Bodmer das Drama als »frucht der Epopee« und ging, wie Gottsched in der Tradition des französischen Klassizismus stehend, von einem umgekehrten Gattungsverhältnis aus. Im Vergleich mit dem Epos erweist sich die Tragödie als ›defizitär‹.318 Anders als Aristoteles schätzte Bodmer wegen der Mannigfaltigkeit der Handlungen und der damit verbundenen Möglichkeit der erschöpfenden Darstellung der Charactere das Epos höher ein als das Drama; sein Einspruch gegen Aristoteles gründet also im Wesentlichen in seiner Character-Lehre. Im Drama sei die Gestaltung der Charactere, die Bodmer gemäß seinen Ausführungen zum poetischen Character als Verkörperung einer »absonderliche[n] gemythesart«, also einer bestimmten Tugend, oder als Kombination mehrerer »neigungen« definiert, eingeschränkt. Folglich müssten auch die für die Charactere relevanten »beschreibungen der gestalt, der mine, der gebehrden, der kœrperlichen handlungen« im Drama entfallen.319 Was für die Charactere 316
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Bodmer: Der erkannte Joseph und der keusche Joseph. Zwei tragische Styke in fynf Aufzygen. Von dem Verfasser des Jacob und Josephs, und des Joseph und Zulika. Samt verschiedenen Briefen yber die einfyhrung des Chemos, und dem character Josephs, in dem gedichte Joseph und Zulika. Zyrich, bei Conrad Orell und Comp. 1754; im Folgenden als ›eJ‹ zitiert. Der keusche Joseph dramatisiert Bodmers Epos Joseph und Zulika. Vgl. Aristoteles (P), Kp. 26. »Die dramatische dichtart ist eine frucht der Epopee, und begreifet einen ansehnlichen theil derselben; sie soll diese fyr ihre æltere und wyrdigere erkennen, und sich hyten den rang vor ihr zu begehren. Es ist ihr nicht gegeben ihre absichten gleich derselben zu erweitern, eine solche længe und solche mannigfaltigkeit in die fabel hinein zu bringen, noch so viele theile der character, ja die ganze gemythesgestalt etlicher personen zu entfalten. Sie hat keine so tiefe erkenntniss [sic] der menschlichen natur nœtig als zu einer genauen einsicht gehœret, wie eine absonderliche gemythesart unter den verschiedensten umstænden sich verhalten werde, was fyr unterschiedene neigungen sich in einer gewissen person vereinigen lassen, und in welchem psychologischen verhæltnissen diese neben einander stehen.« (Bodmer: Vorbericht. In: Bodmer (eJ), unpag.). Ebd., unpag.
203 gilt, das gilt auch für die Handlung: auch diese sei »einschrænkungen« unterworfen,320 die sich aus der Gattungsforderung nach der Einheit des Ortes und der Zeit ergeben würden. Während er hiermit seinen bereits 1746 in den Critischen Briefen geäußerten Ansichten folgte,321 erwähnt Bodmer in seinem Vorwort gar nicht den grundsätzlichen Aspekt, durch den er sich von den poetologischen Auffassungen Aristoteles’ (und auch Gottscheds) unterscheidet. Anders als Aristoteles geht es Bodmer in seiner Poetik um den Character, während Aristoteles und in der Folge auch Gottsched der dramatischen Handlung den Vorzug gaben (vgl. Kap. 1.4). Obwohl Bodmer anerkennt, dass es die »grosse absicht der dramatischen poesie« sei, das Stück auch auf einer Bühne aufzuführen, lehnt er eine Aufführung seiner Stücke ab, weil er »die personen[,] die er eingefyhrt hat, fyr allzu ehrfurchtswyrdig zu dergleichen vorstellungen« hält.322 Die Erhabenheit der Charactere verunmöglicht für Bodmer eine Inszenierung durch Schauspieler, weil diese den für eine gelungene Aufführung erforderlichen Ausdruck nicht erreichen könnten. Damit gesteht Bodmer indirekt ein, dass seine Charactere weit über das für Menschen erreichbare Maß hinausgehen, hält aber gleichwohl an seiner Bewunderungsdramaturgie fest. Da er diese jedoch für nicht inszenierbar hält, erklärt er seine »tragischen Stücke[ ]« zu Lesedramen. Als solche versteht er später auch seine politischen Trauerspiele.323 Bodmers Erläuterungen entsprechend, fallen im Drama die beschreibenden Passagen des Epos weg, zudem werden die Dialoge teilweise wegen des Postulats der Einheit des Ortes und der Zeit etwas gestrafft. Weitere Veränderungen lassen sich nicht ausmachen, was auch Bodmer in seinem Vorwort betont: »Er hat alle erfindungen und alle ausbildungen die in jenen [epischen; J. R.] gedichten stehen, behalten, so oft sie zu den tragischen vorstellungen passeten«.324 Bodmer hat die Dialoge in 320 321 322
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Ebd. Vgl. Bodmer, Breitinger (CB) S. 78ff. »Welche hoffnung kann man haben dass die schauspieler die mine des gottseligen erreichen kœnnten, welches aus dem gemythe des Patriarchen bis in die augen hervor steigen muss? Wie tief wyrden diese hinunter gesezet, wenn man in ihrem angesichte die zyge des Agamemnons, des Ulysses, oder des Oedipus entdeken wyrde, welche der Acteur noch kyrzlich vorgestellet hætte? Welche gelegenheit fyr den parterre, die Erzvæter durch eine abgeschmakte vermischung derselben mit den Acteurs læcherlich zu machen, wenn gleich diese nur in einem ausschweifenden kopfe plaz findet?« (Bodmer (eJ), unpag.). Vgl. Kap. 4.1. – Obwohl Aristoteles darauf hinweist, dass eine gelungene Tragödie auch bei bloßer Lektüre erfreue (vgl. Aristoteles (P), Kp. 26), rekurriert Bodmer in diesem Zusammenhang nicht auf Aristoteles, was Bodmers Distanz zur Aristotelischen Poetik verdeutlicht. Bodmer (eJ), unpag. – Eine Analyse von Bodmers Drama mit den von Aristoteles herausgestellten Kategorien (etwa mittlerer Held, Katharsis, Peripetie und Anagnorisis) muss somit ins Leere laufen, obwohl bereits der Titel Der erkannte Joseph auf die Anagnorisis anzuspielen scheint. – Indem Bodmer die Gattungs-
204 Der erkannte Joseph zu gut zwei Dritteln wortwörtlich oder paraphrasiert aus dem Epos übernommen und das Geschehen in seinem aus fünf Aufzügen bestehenden Drama vor allem auf den zweiten Gesang des Epos beschränkt. Schauplatz ist der ägyptische Hof, die Handlung setzt kurz vor der Rückkehr der Brüder mit Benjamin an den Hof ein und endet mit der Versöhnung der Brüder und dem Auftritt von Jacob, der ohne Benachrichtigung seiner Söhne von sich aus nach Ägypten eilte.325 Der erste Aufzug besteht aus zwei Dialogen;326 im ersten Dialog zwischen dem als ›Pfand‹ am Hof zurückbehaltenen Simeon und Joseph (unter dem Namen Zophenat-Panah) wird einerseits die Vorgeschichte dargelegt und andererseits Jacobs Wehmut über den (vermeintlichen) Verlust von Joseph und seine Liebe zu Benjamin geschildert.327 Nachdem Zophenat-Panah durch das Gespräch mit Simeon Gewissheit gewonnen hat, dass Simeon einer seiner Brüder ist, berichtet er im zweiten Dialog seiner Frau Asenat von der frevelhaften Tat der Brüder.328 Der zweite Aufzug beginnt mit einem Gespräch der zurückgekehrten Brüder und Zophenat-Panahs Diener Menes,329 Simeons Bericht über seinen angenehmen Aufenthalt im Palast von Zophenat-Panah, der einer »schule der weisheit« gleiche,330 und endet mit Judas Erzählung, wie Jacob der Mitreise von Benjamin zustimmte.331 Anschließend erkundigt sich ZophenatPanah bei den Brüdern nach dem Vater Jacob und wird von diesen als »menschenfreundliche[r] mann« gelobt;332 Asenats Begrüßung der Brüder beschliesst den Akt. Im dritten Aufzug rätseln die Brüder über die Identität von Zophenat-Panah, in dem sie Joseph zu erkennen glauben, und erhalten Getreide geschenkt, das sie sogleich nach Kanaan bringen wollen.333 Mit seiner Frau Asenat deutet Zophenat-Panah in der Folge einen Traum über die Zukunft der Israeliten, die zunächst fried-
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bezeichnung »tragische Stücke« – und nicht Tragödie – wählt, betont er ebenfalls seine Distanz zu Aristoteles (und dem zeitgenössischen Drama), verweist damit aber auch gleichzeitig auf den ernsthaften Anspruch seiner Dramen. Im Epos, das der biblischen Überlieferung folgt, reisen die Brüder, nachdem sich Joseph ihnen zu erkennen gab, zunächst wieder nach Kanaan zurück, um dann mit Jacob zurückzukehren. Im Vorbericht weist Bodmer explizit darauf hin, dass er diese Reise entfallen lassen musste. Die Aufzüge werden nicht in einzelne Auftritte unterteilt. Vgl. Bodmer (eJ), S. 1–6, und Bodmer: Jacob und Joseph (1751), I. Gesang, V. 334. Im Folgenden mit der Sigle ›JJ‹ und Angabe des Gesangs und Verses zitiert. Vgl. Bodmer (eJ), S. 6–10. Dieser Dialog wird im Epos zwischen Juda und seiner Frau Thamar geführt (vgl. JJ, I, V. 468–605). Vgl. Bodmer (eJ), S. 11f., und JJ, II, V. 105–124. Bodmer (eJ), S. 12, und JJ, II, V. 131. Simeons Bericht (Bodmer (eJ), S. 14f.) entspricht etwa JJ, II, V. 131–175. Bodmer (eJ), S. 12–14, entspricht etwa JJ, I, V. 179–464. Bodmer (eJ), S. 17, und JJ, I, V. 403. – Vgl. etwa JJ, II, V. 183–221 und I, V. 340–404. Vgl. Bodmer (eJ), S. 20–24, und JJ, II, V. 251–274.
205 lich in Ägypten leben, dann aber nach Kanaan aus der Unterdrückung fliehen.334 Die Brüder werden im vierten Aufzug ›geprüft‹,335 bevor sich Joseph im fünften Aufzug zu erkennen gibt336 und auch seinen Vater Jacob wieder in die Arme schließen kann.337 Während das tragische Stück von 1754 sprachlich und inhaltlich sehr nahe an der epischen Bearbeitung bleibt – und sogar den Hexameter als Versmaß beibehält –,338 ergibt sich gleichwohl eine leichte Akzentverschiebung: Bedingt durch das Bestreben, die Handlung an einem Ort spielen zu lassen, verliert die Figur des Jacob im Vergleich zum Epos etwas an Gewicht, was sich auch in der Titelgebung widerspiegelt. Die Reden Jacobs werden z.T. durch Dialoge zwischen den Brüdern ersetzt. Diese Tendenz führt das als »Trauerspiel« bezeichnete Kinderstück Der Fußfall vor dem Bruder von 1773 weiter. Wie es sich bereits im Titel ablesen lässt, rückt die Reue der sündigen Brüder noch stärker in den Vordergrund: In dem […] Drama, der Fußfall vor dem Bruder,ist die schändlicheThat der Brüder weit aus dem Gesicht gerückt: sie werden in der schmerzlichsten und aufrichtigsten Bereuung derselben vorgestellt, in dem Unglück und Jammer, so die Uebelthat verdienet. Die Betrachtung wird mit dem äussersten Fleisse von denselben ab= und auf die rührenden zärtlichen Folgen geleitet, welche durch die besondere Veranstaltung der Vorsehung daraus entstehen.339
Das Kinder-Trauerspiel, das sich in drei Aufzüge mit jeweils mehreren Auftritten unterteilt und für die Aufführung gedacht war, grenzt die Handlung im Vergleich zum erkannten Joseph weiter ein und beginnt mit der Rückkehr aller Brüder (inkl. Benjamin) an den ägyptischen Hof.340 Thematisch ergibt sich im Vergleich der beiden Stücke folgende Aufteilung: Der erste Auftritt des Kinderstücks umfasst den zweiten Auftritt
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Vgl. Bodmer (eJ), S. 24–28, und JJ, III, V. 345–390 und V. 702–721. Vgl. Bodmer (eJ), S. 29–37, und JJ, II, V. 289–474. Vgl. JJ, II, V. 481–637. Vgl. JJ, III, V. 53–95 und V. 522–563. Der Verzicht auf den Alexandriner verdeutlicht erneut, dass sich Bodmer nicht an die überlieferte Gattungskonvention hält. Darauf hat auch Jacob Baechtold mit deutlicher Ablehnung verwiesen: »Noch während Bodmer seine Patriarchaden skandierte, begieng [sic] er […] die unglaubliche Geschmacklosigkeit, zwei derselben, den ›Jacob‹ und ›Joseph und Zulika‹ zu Tragödien […] umzuschustern […]. Schauspiele in Hexameter sind just nichts Alltägliches. Er hielt auf eine Zeit diesen Vers ernstlich für die angemessenste dramatische Form.« (Jacob Baechtold: Geschichte der Deutschen Literatur in der Schweiz. Frauenfeld 1892, S. 639). Bodmer: Der Fußfall vor dem Bruder. Ein Trauerspiel. In drey Aufzügen. Zürich, gedruckt bey David Bürgkli 1773, S. 97; im Folgenden als ›FB‹ zitiert. Somit ist der erste Aufzug aus Der erkannte Joseph weggefallen.
206 von Der erkannte Joseph,341 der zweite Aufzug enthält eine kurze Passage aus dem dritten sowie den gesamten vierten Aufzug des Erwachsenenstücks und der dritte Aufzug entspricht dem fünften Aufzug des »tragischen Stückes«. Allerdings hat Bodmer einige Nebenhandlungen weggestrichen und sogar ganz auf den Auftritt von Jacob verzichtet.342 Entsprechend dem zwei Jahre zuvor entstandenen Kinderspiel Die Botschaft des Lebens und den Ansätzen im erkannten Joseph tritt Benjamin stärker in den Vordergrund.343 Damit wird neben Joseph eine weitere Person mit vollkommen tugendhaftem Verhalten gezeigt, welche die Wahrscheinlichkeit des erhabenen Joseph stärkt und gleichzeitig auch als weitere Identifikationsfigur für die jungen Zuschauer dienen soll.344 Bodmer hat in dem in Prosa verfassten Kinderstück die langen Reden des Erwachsenendramas sehr gekürzt und den häufigen Gebrauch von Inversionen, Metaphern, Vergleichen, Epitheta oder Anspielungen auf biblische Vorväter zu vermeiden gesucht.345 Die Sprache des Kinder341
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Vgl. für die folgenden Ausführungen die synoptische Gegenüberstellung der sich entsprechenden Passagen aus dem Kinder- und Erwachsenendrama: Der Fußfall (1773) Der erkannte Joseph (1754) I/1, S. 3ff. 2. Auftritt: S. 11f. I/2, S. 5–12 S. 12–16 I/3, S. 12–18 S. 16 I/4, S. 18–21 S. 17 I/5, S. 22f. S. 17f. I/6, S. 24–28 S. 18ff. II/1, S. 28–31 3. Auftritt: S. 20ff. II/2, S. 31–34 4. Auftritt: S. 29 II/3, S. 34f. S. 29 II/4, S. 36–42 S. 30f. II/5, S. 43–52 S. 32–35 II/6, S. 53–57 S. 35ff. III/1, S. 58–69 3. Auftritt: S. 24f. & 1. Auftritt: S. 6f. III/2, S. 70–86 5. Auftritt: S. 38–42 III/3, S. 86–91 S. 42ff. Im Fußfall fehlen etwa die Abstammungsgeschichte von Josephs Kammerdiener Menes oder der von Joseph gedeutete Traum über die Zukunft der Israeliten in Ägypten. Vgl. etwa I. Aufzug, 3. Auftritt. Als Benjamin vom Verkauf Josephs erfährt, zeigt er sich entsetzt über das Handeln seiner Brüder: »Was für ein Bekenntniß fließt von euern Lippen, meine Brüder! […] Unerhörte, ungläubliche That, die mein Herz sich weigert zu glauben, ob ich sie gleich aus euerm eigensten Munde vernahm!« (Bodmer (FB), S. 41f.). So heisst es beispielsweise zu Beginn des Fußfalls (I/1): »Fasset ein Herz, ihr Söhne Jacobs, ihr seyd zu Freunden gekommen; der Regent, den Pharaoh sein rechtes Auge nennt, hat von seiner Hoheit zu euch herab gesehen […].« (Bodmer (FB), S. 9). Im erkannten Joseph lautet die entsprechende Passage: »Fasset ein herz, o ISAAKS enkel und ABRAMS urenkel, Ihr seid unter das dach von euerm freunde gegangen, Keinem geringen als ZOPHENAT-PANAH, dem Retter der menschen, PHARAONS rechtem Arme, dem mund, durch den er befehl giebt;
207 stückes ist somit einfacher und für die jungen Zuschauer verständlicher;346 gleichwohl finden sich aber im Fußfall vor dem Bruder auch wortwörtliche Übernahmen (allerdings nur einzelner Verse bzw. Versteile) aus dem Erwachsenenstück.347 Durch die Handlungsvereinfachung und die einfachere Sprache gewinnen die übrig gebliebenen Redeteile, in denen die Handlungen der Figuren genau erläutert und somit für die Zuschauer explizit nachvollziehbar gemacht werden, an Relevanz. So erklärt beispielsweise Joseph – der im Stück des besseren Verständnisses wegen entweder als »Regent« oder aber als »Joseph« angesprochen wird, nicht aber als »Zophenat-Panah« – seiner Frau Asenat ausführlich, warum er seine Brüder des (vermeintlichen) Becher-Diebstahls bezichtigt hat.348 Der Intention der Character-Lehre entsprechend, legt Bodmer den jungen Zuschauern sehr genau die Handlungsgründe von Joseph dar und vermittelt ihnen dadurch anschauliche Einsichten ins menschliche Verhalten. Bodmer ging es mit seinem Kinderstück aber nicht nur darum, menschliches Verhalten vorzuführen, sondern er strebte auch eine politische Unterweisung an:
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Zwischen dem Kœnig und ihm sind nur der thron und das scepter; Redt er, so kyssen sich selbst die hand die Grossen Mizraims; Niemand hebet ohn’ ihn die hand noch den fuss in die hœhe. Der hat von seiner hœh zu euch hinunter gesehen, […].« (Bodmer (eJ), S. 11). Im Nachwort weist Bodmer darauf hin, dass erwachsene »Mentorn« beide Kinderstücke mit den Kindern einüben sollten (Bodmer (FB), S. 97). Dabei habe der Leiter nicht nur die »Umstände« und die »Gemüthsverfassung« der verschiedenen Figuren zu erläutern, sondern solle auch »die Bilder, die Sprache, die Begriffe« den Kindern verständlich machen (ebd., S. 98). Für diesen Unterricht fügt Bodmer sogar eine Liste mit schwierigen Begriffen und deren Erläuterungen an (vgl. ebd., S. 101ff.). Im Fußfall (I/5): »Grosser Regent, dir hat der Himmel gegeben Gutes zu reden und Gutes zu thun. In dem Kranze der göttlichen Gaben schimmert diese vor andern, und Gott schmücket damit die Herrscher des Volkes, das er segnen will.« (Bodmer (FB), S. 22f.). – »Gutes zu reden und gutes zu thun gab Gott dem Regenten; / Eine tugend, die in dem krantze der gœttlichen leuchtet! / Von da schimmert sie in die brust der herrscher der erde, / […].« (Bodmer (eJ), S. 18, identische Formulierung auch in Bodmer, JJ, II, V. 224ff.). »Ich habe diese Männer prüfen wollen, wie ihr Herz gegen diesem jüngsten von ihren Brüdern [Benjamin; J. R.] stehe. Unter ihnen sind einige von wildem giftfähigem Herzen, die an dem ältern Bruder, den dieser Jüngling hatte, ein grosses Uebel begangen haben. Von Neid und Galle geplaget bemächtigten sie sich seiner eines Tages, sie warfen ihn in eine wasserleere Cisterne, daß er darinne verhungerte; doch in einem Anstosse von Mitleiden verkauften sie ihn Arabern, und sagten seinem Vater, reissende Thiere hätten ihn umgebracht. […] Ich wollte erfahren, ob ihr Haß sich nicht auf diesen erstreckt habe, und ob nicht das Gewissen wegen der schändlichen Verkaufung des andern bey ihnen erwachet sey. Ich habe sie in ihren Herzen zerknirscht gesehen, sie haben die Probe ausgehalten.« (Bodmer (FB), S. 60ff.).
208 Ich wollte dieses Stück Knaben von mehr Jahren und mehr Reife zu spielen geben, weil es zusammengesetzterist, und in die Verhältnissenicht eines Hauses allein, sondern eines Staates einschlägt, wovon selbst Jünglinge nur wankende unbestimmte Begriffe haben.349
Das Stück spielt nicht nur im Rahmen der Familie wie in Die Botschaft des Lebens, sondern präsentiert auch das tugendhafte Verhalten des Regenten Joseph und gibt somit nicht nur hinsichtlich des menschlichen Fehlverhaltens der Brüder eine Lehre, sondern auch hinsichtlich des Umgangs des Regenten mit einer lasterhaften Tat. Der Fußfall vor dem Bruder beschränkt sich darauf, nur den guten Regenten vorzuführen, die »Theuerung« oder die verschiedenen Religionen werden nicht erwähnt, was aus Rücksicht auf die jugendlichen und politisch noch nicht gebildeten Zuschauer geschieht. Wie auch schon im Epos und im Erwachsenendrama wird Joseph als gottgläubiger, weiser und seine Untertanen liebender Mensch geschildert. Der Palast des Regenten ist eine »Schule der Weisheit«,350 in der Gefangene wie »Hausgenossen« oder »Bekannte« behandelt werden.351 Seine Weisheit stellt der Regent unter Beweis, indem er »[t]äglich […] Länder und Nationen« vor dem Hungertod rettet,352 er redet und tut Gutes,353 sein Gesicht strahlt »Hoheit« aus und seine »Seele voll Liebe« macht ihm die Untertanen »unterwürfig«.354 Der Regent kann auch »hart« sein,355 weil er aber ein »göttlicher Mann« ist,356 muss man ihn »verehren und lieben«.357 Ganz im Gegensatz dazu werden die Brüder zu dem Zeitpunkt geschildert, als sie vor Jahren Joseph an Händler verkauften: Mit »wildem giftfähigem Herzen«, von »Neid und Galle geplaget«358 und durch die Liebe von Jacob zu Joseph und durch die »Aufrichtigkeit« von Joseph »beleidiget«,359 begingen sie ihre »elende«, »schwarze, fluchwürdige That[ ]«,360 wodurch sie »Todesschuld« auf sich luden361 und mit Joseph auch ihre »Unschuld, die Sanftmuth, die Gottseligkeit« verkauften.362 Seitdem werden sie von »Bisse[n] im Gewissen« geplagt und bereuen ihre Tat,363 deren Schlechtigkeit sie nun ein349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363
Ebd., S. 100f. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd., S. 11. Vgl. oben. Bodmer (FB), S. 19. Ebd., S. 18. Ebd., S. 29. Ebd., S. 19. Ebd., S. 61. Ebd., S. 68f. Ebd., S. 70. Ebd., S. 74. Ebd. Ebd., S. 39.
209 sehen: »Unmenschen waren wir, nicht Brüder!«,364 sagt Levi und Ruben erkennt, dass sie damals »mit Joseph die besten Segnungen des Himmels« verloren hätten.365 Durch die Prüfung erkennt der Regent Joseph, dass die Brüder ein sich selbst »anklagende[s] Gewissen« haben, »den strafenden Richter im Busen«366 fühlen und die »Worte, die das Leben erhalten, die Gott inwendig zu euch geredet hat«,367 vernommen haben, womit sie den »Neid« besiegt hätten.368 Weil die Brüder die Tugend wieder in ihre »Gemüther« aufgenommen haben und sich wieder als Menschen erweisen,369 kann sich Joseph ihnen auch auf der menschlichen Ebene nähern und seine politische Funktion als »Richter« ablegen.370 Wie im Epos und im erkannten Joseph betont Joseph auch in dem Kinderstück, dass er trotz seiner besonderen gesellschaftlichen Stellung seine ursprüngliche Natur behalten habe: »Warum stehet ihr nicht auf, warum verzögert ihr, euch in die Arme euers Bruders zu werfen? Hat der purpurne Rock die Stirne mit Königes=Stolz umzogen, daß ihr den Schäfersohn Jacobs nicht erkennet?«371 Wie in den anderen Bearbeitungen sind auch in dem Stück aus dem Jahr 1773 die Brüder von Josephs Menschenliebe eingenommen und können deswegen seine Herrschaft akzeptieren.372 Die Brüder zeigen somit den vorbildlichen Umgang mit einer früher selbst begangenen lasterhaften Tat, was im Kinderstück stärker hervortritt als in den Erwachsenenstücken.373 Während das an über zwölfjährige Jünglinge gerichtete Stück Der Fußfall vor dem Bruder auch im politischen Rahmen spielt, bleibt das 1771 publizierte und an Kinder von zehn bis zwölf Jahren gerichtete Kinderschauspiel Die Botschaft des Lebens innerhalb des familiären Bereiches.374 Es vermittelt allerdings keine explizit (begrifflich) fassbare moralische 364 365 366 367 368 369 370 371 372
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Ebd., S. 40. Ebd., S. 71. Ebd., S. 76. Ebd., S. 77. Ebd., S. 76. Ebd. Ebd., S. 69. Ebd., S. 80f. »Joseph, wie siegst du über deine Brüder! Da du das Recht hattest, sie für ihre Missethat zu Sklaven zu machen, so machest du sie auf die menschliche Art durch Güte und Verzeihen dir eigen!« (Bodmer (FB), S. 84). Die Gattungsbezeichnung ›Trauerspiel‹ ist ähnlich wie die Bezeichnung ›tragisches Stück‹ für den erkanntenJoseph zu verstehen.Sie bezeichnetein ernsthaftesDrama (im Gegensatz zur Komödie). Ähnlich wie bereits beim Erwachsenenstück festgestellt, ist das auch hier (wie auch bei den politischenTrauerspielen)nicht im Aristotelischen Sinne zu verstehen. Bodmer: Die Botschaft des Lebens. In einem Aufzuge. Zürich, gedruckt bey David Bürgkli, 1771; im Folgenden als ›BL‹ zitiert.
210 Lehre, sondern bringt Bodmers Vorstellungen der idealen Vater-SohnBeziehung zum Ausdruck, die sich auch in den anderen oben besprochenen Bearbeitungen des Jacob-Joseph-Stoffes wiederfinden lässt, hier aber in ›reinster‹ Form manifest wird. Im Zentrum der Handlung des in Prosa gehaltenen und in sechs Auftritte unterteilten Einakters steht Josephs Vater Jacob, der auf die zweite Rückkehr seiner Söhne vom ägyptischen Hof wartet. Der Schauplatz ist nicht wie in den anderen Joseph-Dramen von Bodmer der ägyptische Hof, sondern Jacobs Lager im Eichenwald Mamre. Da die Warterei von Jacob im Zentrum des Stückes steht, ist das Stück äußerst handlungsarm und lenkt so die Aufmerksamkeit der jungen Zuschauer auf die Dialoge der Figuren. Das Kinderstück, dem eine weitergehende Gattungsbezeichnung fehlt, endet mit der Rückkehr von Jacobs Söhnen, welche die Botschaft mitbringen, dass Joseph als Regent in Ägypten am Leben sei, wohin sich Jacob sogleich auf den Weg machen möchte.375 Die Gespräche des wehmütig, beinahe schon verzweifelt wartenden Jacob mit seiner Schwiegertochter Thamar und deren Sohn Perez, also dem Enkel von Jacob, der als ›neue‹ dramatische Figur eingeführt wird, drehen sich um ihre Beziehungen zueinander und zu den abwesenden Brüdern und thematisieren dabei insbesondere Jacobs Verhältnis zu seinem totgeglaubten Lieblingssohn Joseph und zu seinem zweiten Lieblingssohn Benjamin. Der (vermeintliche) Tod seines Sohnes Joseph und die Ungewissheit über Benjamins Schicksal stellen Jacobs »innerste Wunde« dar,376 die sich in fortwährenden Klagen über den Verlust seiner tugendhaften Söhne artikuliert. Jacob erweist sich damit als liebender Vater, der mit »Wehmut« am Schicksal seiner Söhne Anteil nimmt.377 In den Dialogen werden von den verschiedenen Gesprächsteilnehmern die Charaktere von Jacobs Söhnen Joseph und Benjamin und dem Enkelsohn Perez mit Jacobs Wesensart gleichgesetzt. So erinnert etwa Jacob daran, dass seine »Seele in dem Leben des Jünglings Joseph athmet[ ]«,378 und Thamar ergänzt, dass Benjamin »das lebende Ebenbild seines Bruders Joseph« sei.379 Benjamin, so Jacob weiter, wachse
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Im Nachwort zum Fußfall vor dem Bruder von 1773 fasst Bodmer den Inhalt des früheren Kinderstückes folgendermaßen zusammen: Das Stück zeige, wie »Jacob vor sein Gezelt hervorgieng, wie er seit einigen Tagen gewohnt war, nach der Gegend auszusehen, von welcher seine Söhne zurückkommen sollen; der Stof [sic] und der ganze Innhalt [sic] des Stückes sind seine Gemüthsbeschaffenheit bey diesem Aussehen, seine Reden, sein Thun, das Räuchopfer, die Ankunft derselben, und die Botschaft, die sie ihm von Josephs Leben bringen.« (Bodmer (FB), S. 99f.). Bodmer (BL), S. 12. Ebd., S. 12. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12.
211 »zu Josephs Tugenden empor« und verspreche, »Joseph zu werden«.380 Perez wiederum berichtet, dass Benjamin ihn gebeten habe, während seiner Abwesenheit seinen Platz bei Jacob einzunehmen381 und auch Jacob reiht Perez auf der ›Beliebtheitsskala‹ direkt hinter Joseph und Benjamin ein.382 Joseph, Benjamin und Perez werden also als Nachfahren von Jacob dargestellt, die weitgehend mit diesem identisch sind oder – anders ausgedrückt – von denen Jacob die Präfiguration darstellt, sowie dann Jacobs Kinder und Enkelkinder selbst auch wiederum Präfigurationen des Nächstjüngeren sind. Es ist nicht nur Jacob, der Joseph, Benjamin und Perez als sein Abbild begreift, auch Thamar und Perez erkennen bei den vier männlichen Figuren denselben Character und bekräftigen so Jacobs Sichtweise. Die Identifikation geschieht aus zwei sich ergänzenden Blickrichtungen. Jacob berichtet von seinem eigenen Innenleben, während Joseph und Benjamin – da sie abwesend sind – aus der Außenperspektive geschildert werden. Wenn es über Joseph heißt, dass ein »göttlicher Geist« in ihm lebt,383 er ernst und tiefsinnig denkt,384 all seine Handlungen »mit Anstande geschmückt« sind385 und er eine »holde Gestalt«, »Unschuld« und »Gedanken, die immer bey Gott waren«, besitzt,386 so gilt das auch für Jacob, Benjamin und Perez. Die vier männlichen Figuren haben nicht nur dieselbe tugendhafte Einfalt, sondern empfinden darüber hinaus auch wechselseitig dasselbe füreinander und bilden auch dadurch eine Einheit. So bittet Perez seinen Großvater Jacob, in Zukunft an den Gedenkzeremonien für Jacobs verstorbene Frau Rahel und für die verschollenen Söhne teilnehmen zu dürfen. Und auch Joseph nimmt an Jacobs Leben und Leiden Anteil. Als sich Joseph seinen Brüdern zu erkennen gibt, spricht er: »Ich bin Joseph, lebet mein Vater noch?«387 Die enge Kopplung des Sohnes an seinen Vater, von Joseph an Jacob, wird ergänzt und durch Jacob, nachdem er die Botschaft, dass Joseph lebt, vernommen hat, final bestätigt: »Mein Geist war todt, und ist wieder lebendig geworden«.388 Vater und Sohn stehen also in einem engen wechselseitigen Verhältnis und verknüpfen die eigene Identität oder Existenz stets mit derjenigen des ande380 381 382 383 384 385 386 387
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Ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 30. Ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 14. Ebd., S. 30f. Ebd., S. 31. Ebd., S. 49. – Diese aus der Bibel zitierte Textstelle (vgl. 1. Mose 45,3) ist im Druck graphisch durch größere Buchstaben hervorgehoben; sie findet sich (ohne Hervorhebung) auch in allen übrigen Josephs-Texten: Bodmer (JJ), II, V. 483, Bodmer (J), S. 162, Bodmer (eJ), S. 38, Bodmer (FB), S. 79. Bodmer (BL), S. 52.
212 ren. Somit wird dem Kinder-Publikum aus zwei komplementären Perspektiven ein harmonisches Vater-Sohn-Verhältnis vorgeführt, das auf gegenseitiger Liebe, Respekt, frömmigem Verhalten und Tugendhaftigkeit gründet.389 In den Anmerkungen zur Botschaft des Lebens erläutert Bodmer, dass er mit seinem Kinderdrama die »Empfindsamkeit des kindlichen Herzens beschäftigen und in Bewegung setzen«390 wollte und in das »junge empfindsame Herz den besten Samen der Menschlichkeit, der sanften und zärtlichen Leidenschaften« einzupflanzen beabsichtigte.391 Wie Der Fußfall vor dem Bruder sowie die etwa zeitgleich entstandenen Schul- und Lesebücher, Historische Erzählungen die Denkungsarten und Sitten der Alten zu entdecken von 1769 und Sittliche und gefühlreiche Erzählungen aus dem Jahre 1773, ist auch Die Botschaft des Lebens zur intentionalen Kinder- und Jugendliteratur zu zählen,392 die seit den 1760er Jahren, ´ in der Folge von Rousseaus Emile, einen großen Aufschwung erlebte.393 Der aufkommende Philanthropismus veränderte insbesondere das traditionelle Schuldrama, indem er es mehr und mehr in den »Rahmen bürgerlicher Häuslichkeit« drängte.394 Da die sinnliche Erfahrbarkeit von 389
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Damit folgt Bodmer den allgemeinen Entwicklungen bzw. Ansichten der VaterKind-Beziehung im 18. Jahrhundert. Das ideale Verhältnis zwischen Vater und Kindern wurde etwa seit den 1750er Jahren zunehmend als liebevoller Umgang beschrieben und aufgefasst; vgl. Sørensen (1984), S. 37–44. Bodmer (FB), S. 94. Ebd., S. 95. Vgl. zu den Lesebüchern Otto Brunken: J. J. Bodmer: Sittliche und gefühlreiche Erzählungen. In: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1750–1800. Hg. v. Theodor Brüggemann, Hans-Heino Ewers Stuttgart 1982, S. 119–124, ders., Barbara Stollberg: Bodmer: Historische Erzählungen. In: ebd., S. 958–961, und Wessendorf (1962), S. 129–144. Brüggemann und Ewers definieren die »intentionale Kinder- und Jugendliteratur« als Literatur, die sich explizit an Kinder richtet und diesen zur Lektüre oder Betrachtung dienen soll: »Das entscheidende Definitionsmoment ist […] die Intention des Autors, Bearbeiters oder Herausgebers, ein Werk an Kinder und Jugendliche zu adressieren«. (Ewers: Einleitung. In: Brüggemann, Ewers (1982), S. 4). Vgl. Hans-Heino Ewers: Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung. Eine Textsammlung. Stuttgart 1980 (RUB, 9992), S. 7, zur ›selektiven‹ Rezeption von Rousseaus Erziehungsroman Wilhelm Voßkamp: ›Un Livre Paradoxal‹. J.-J. Rousseaus ´ ›Emile‹ in der deutschen Diskussion um 1800. In: Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Hg. v. Herbert Jaumann. Berlin, New York 1995, S. 101–114, und Jürgen Oelkers: L’éducation négative. Pädagogische Reaktionen auf Rousseau in Deutschland und in der Schweiz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Böhler, Hofmann, Reill, Zurbuchen (2000), S. 341–376. Vgl. zu Rousseaus Einfluss auf die Ausbildung des philanthropischen Bewusstseins vom spezifischenCharakterder Kindheit Ewers: Einleitung. In: Brüggemann, Ewers (1982), S. 27–35. Otto Brunken, Carola Cardi: Vom ›Speculum Vitae‹ zur ›Moralischen Anstalt für Kinder‹. Zur Beziehung zwischen traditionellem Schuldrama und aufklärerischem Kinderschauspiel. In: Aufklärung und Kinderbuch. Studien zur Kinder-
213 Moral zunehmend in den Vordergrund rückte, wurden die Stücke vermehrt zur privaten Aufführung bestimmt, wodurch die öffentlich inszenierte Demonstration des erworbenen Schülerwissens und der erlernten (rhetorischen) Fähigkeiten an Bedeutung verlor.395 Auch Bodmer wollte sein Kinderdrama privat aufgeführt sehen; im Nachwort schlägt er einerseits einen Aufführungsort »auf dem Land unter Eichen« vor und benennt andererseits den »Hausvater« als Darsteller des Patriarchen Jacob.396 Indem Bodmer aber in der Botschaft des Lebens den Hausvater zum Hauptprotagonisten macht, geht er auf Distanz zu den philanthropischen Autoren, die in erster Linie die Rollen von Kindern spielen ließen, wodurch das Bühnengeschehen für die jungen Zuschauer und Akteure unmittelbar nachvollziehbar werden sollte. Entsprechend bemühten sich die Philanthropen, die Stücke auf die Wirklichkeit der Kinder zu beziehen, d.h. die Handlung in den realen häuslich-privaten Erfahrungshorizont der Kinder zu verlegen.397 Das sah Bodmer allerdings selbst für sein Drama als nicht gegeben an: »Es fällt ihnen [den Kindern; J. R.] schwer, sich in die Wehmuth des Patriarchen, in die Verstellung Josephs, in die Reue seiner Brüder zu versetzen«.398 Die affektive Wirkungsstrategie verknüpften philanthropische Autoren, wie etwa Christian Felix Weiße, nach dem Vorbild von Alexandre Guillaume Mouslier de Moissys Les Jeux de la petite Thalie, ou petits drames, dialogués sur des proverbes (1769) meist mit einer direkten moralischen Lehre, indem sie Sprichwörter dramatisierten.399 Wie schon in der Auseinandersetzung mit Gottsched, steht Bodmer diesem dramaturgisch-didaktischen Modell eher skeptisch gegenüber und will mit der Botschaft des Lebens bei den Kindern vor allem eine »moralische, tugendhafte und nützliche Empfindung« wecken, wie er es in den Critischen Betrachtungen genannt hatte:400 eine Empfindung der Menschlichkeit. Damit betont er mit Rücksicht auf das zehn- bis zwölfjährige Publikum nur einen Aspekt seiner Poetik: den empfindsamen. Den rationa-
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399
400
und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Dagmar Grenz. Pinneberg 1986, S. 119–152, hier S. 136, vgl. auch Wolfgang Promies: Kinderliteratur im späten 18. Jahrhundert. In: Grimminger (1984), S. 765–831, hier S. 803ff. Vgl. Brunken, Cardi (1986), S. 137f. Bodmer (FB), S. 111. Ausgehend von diesem Wirklichkeitsprinzip kritisierten die Philanthropen das traditionelle Schuldrama, weil es inhaltlich dem Erfahrungshorizont der Kinder nicht entspreche (vgl. Brunken, Cardi (1986), S. 138f.). Diese Kritik bezog sich auch auf das meist biblische Personal des Schuldramas (vgl. ebd., 140ff.). Bodmer: Von den Drey Dramen, Wilhelm Tell; Geßler, Heinrich von Melchthal. In: Bodmer (1998), S. 10. Vgl. Promies (1984), S. 803f., und Brunken, Cardi (1986), S. 139ff. – Diese Dramaturgie ist mit Gottscheds Forderung vergleichbar, einen moralischen Satz als Grundlage eines Dramas zu nehmen. Bodmer (PG), S. 432.
214 len scheint er eher zu übergehen, da Vernunft und Erfahrung der Kinder noch nicht ausreichen, auch eine rationale Lehre aus dem Stück zu gewinnen. Hiermit deckt sich Bodmers ›Kinderpoetik‹ mit seiner ›Erwachsenenpoetik‹: Auch der Pöbel verfügt nur über geringe intellektuelle Fähigkeiten und soll deshalb zunächst affektiv vom Drama berührt werden, um dann – im Idealfall – angeregt zu werden, über das Geschehen zu reflektieren. Die nur durch die Vernunft zu erlangende Einsicht ist Bodmer in den Kinderstücken ebenso wichtig wie die affektive Ergriffenheit. Beide Stücke sollen von Mentoren, die den Kindern die verschiedenen Handlungsweisen rational erläutern, mit den Kindern eingeübt werden. Die Dramen sind den verschiedenen Altersstufen und intellektuellen Fähigkeiten gemäß konzipiert: Für das ältere Kinderpublikum wird der Handlungsrahmen vergrößert und auch auf den »Staat« ausgedehnt, wodurch die geistigen Fähigkeiten vermehrt gefordert werden. Auch wenn sich der Erfahrungshorizont der Kinder nicht genau mit dem dargestellten Geschehen deckt, so verbindet die Zuschauer und die poetischen Charactere doch ihre gemeinsame menschliche Natur; dieser Aspekt war für Bodmers Poetik seit Ende der 1730er Jahren zentral (vgl. Kap. 1.3/6): [In dem Drama Die Botschaft des Lebens] hat der Verfasser jedes Bild, jede Anspielung sorgfältig vermieden, welche die Kinder in der glücklichen Unwissenheit, was Laster ist, störeten, Unwissenheit, die ihrer Erhaltung in der Unschuld so vorträglich ist. Er hat sich beflissen, ihnen das ränkevolle Leben, die Destructiven [sic] Plane der Herrschsucht der erwachsenen[sic] in vielfältigen Verhältnissendes Staates lebenden Leute, wovon Kinder keine Begriffe haben, zu verbergen; er hat sie mit der Bosheit verschonet, welche zu dem Leiden, das von der Natur der Dinge in das menschliche Leben kömmt, noch tausend Arten von gemachtem und erdachtem Jammer hinzufüget. Sollte er sie vor der Zeit aus der Gemüthsruhe und der frölichen [sic] Sicherheit gesetzet haben, aus welcher die voreilige Kenntniß von Elend, das auf sie wartet, sie reissen würde, womit die Jahre, und der Lauf des Lebens sie immer frühe genug bekannt machen werden?401
Von Natur aus sind Kinder bis zu zwölf Jahren in einem natürlichen, unschuldigen Zustand, in dem sie die Un-Menschlichkeit noch nicht kennen.402 Damit schließt sich Bodmer an Rousseaus im zweiten Buch des ´ Emile geäußerte Überzeugung an, wonach ein Kind bis zum zwölften Lebensjahr vor »Lastern« und »Irrtümern« bewahrt werden müsse.403 Anders als Rousseau, der aus dem unschuldigen Stand des Kindes eine 401 402
403
Bodmer (FB), S. 93f. Diese Überzeugung hatten Bodmer und Breitinger im Rückgriff auf Locke bereits in den Discoursen der Mahlern vertreten (vgl. Kap. 1.3). Davon ausgehend hatten sie dabei auf die Gefahr der schlechten Erziehung aufmerksam gemacht, die das Kind verderben könne. Jean-Jacques Rousseau: Émile oder Über die Erziehung. Vollständige Ausgabe. In neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmidts. Paderborn, München, Wien, Zürich 2001, unveränderter Nachdruck der 13. Auflage, S. 72.
215 negative Erziehung ableitet und deshalb jeglichen Eingriff oder Unterricht »in der Tugend und in der Wahrheit« bis zum zwölften Lebensjahr ablehnt,404 will Bodmer die weitgehend noch unverdorbene Natur des Kindes befördern. Da er in den Kindern sein normatives anthropologisches Ideal erkennt, will er mit seinen Dramen die Kinder in ihrer Natur bestärken, bevor sie mit der lasterhaften Welt in Berührung kommen: Die Kinder sind von der Geburtsstätte an in der politischen Societät. Woher kommen die ersten Bewegungen zum Bösen? Kommen sie von der innersten Anlage? ist das nicht Nothwendigkeit? Woher hat der erste Mensch die Neigung zum Bösen gehabt? Er scheint doch so viel davon gehabt zu haben, als einer seiner Nachkommen? […] Ich denke nur, daß man sie [die Kinder; J. R.] durch eine vernünftige Erziehung, vornehmlich durch eine allgemeine und sittliche, vor tausend Uebeln bewahren könnte.405
Auch wenn Bodmer die christliche Überzeugung von der durch den Sündenfall bedingten Verderbtheit der menschlichen Natur teilt, so ist er doch der Meinung, dass ein tugendhaftes Leben aller Menschen möglich ist. Voraussetzung dafür ist eine entsprechende Erziehung, welche die Literatur leistet. Während Bodmers Poetiken der 1740er Jahre von der idealistischen Annahme ausgingen, das Wesen der Leser entspreche demjenigen der poetischen Charactere, ist Bodmer im Verlaufe der 1760er Jahre von dieser Überzeugung abgerückt. Die erwachsenen Leser sind größtenteils aus dem natürlichen Zustand des Kindes ›herausgefallen‹ und verdorben (vgl. hierzu ausführlicher Kap. 4.1). Die Kinder besitzen jedoch in Bodmers Augen noch die in den Stücken vorgeführte Unschuld, die er ihnen zu erhalten sucht.
3.3
Die Colombona
3.3.1 Gute Europäer und gute Wilde Die Idee, aus der Entdeckerfahrt von Kolumbus ein Epos zu formen, äußerte Bodmer, ähnlich wie schon bei der Noachide, lange bevor er sich an seine eigene Bearbeitung machte, die er 1753 unter dem Titel Die Colombona publizierte.406 Im Character der Teutschen Gedichte von 1734 skizzierte Bodmer den Inhalt des geplanten Kolumbus-Epos, das damit beginnen müsse, wie Kolumbus »lange Zeit« nach Geldern für 404 405
406
Ebd. Brief Bodmer an J. H. Meister, 1771 (ohne genaueres Datum), zit. nach Zehnder (1875), S. 722. Bodmer: Die Colombona.Ein Gedicht in Fynf Gesængen.Zyrich, bei ConradOrell und Comp. 1753; im Folgenden mit der Sigle ›DC‹ zitiert. Wiederabdruck mit nur geringfügigen Änderungen in Bodmer (C, I), S. 406–508.
216 seine Überfahrt sucht.407 Vor allem müsse in der Folge das Epos »manch wunderbar Gesicht [sic] von See-Volck«, das Kolumbus während seiner Schiffsreise antrifft, erzählen. Die Erwähnung von Triton, Proteus, Glaucus, den Nereiden und den Syrenen,408 die alle aus der griechischen Mythologie stammen und Meeresgötter darstellen, die in der Odyssee oder in der Sage der Argonauten vorkommen, lässt erkennen, an welche literarischen Vorbilder Bodmer sein Kolumbus-Epos anschließen wollte. Zudem sollte es auch mit christlichen »Geister[n]« bevölkert sein, die das irdische Geschehen im Stil von Miltons Paradise Lost genau beobachten und lenken sollten.409 Über die Verwendung der antiken Götter und christlichen Himmelswesen hinaus gibt Bodmer allerdings nur vage Hinweise, wie das Kolumbus-Epos inhaltlich gefüllt sein sollte: Die Landung in »Panama« scheint Bodmer eher als feindliche Begegnung zwischen Einwohnern und Kolumbus gestalten zu wollen,410 die beinahe in einem Kampf zwischen den in einer Monarchie lebenden Einheimischen und den Seefahrern endet.411 Rund 20 Jahre später sind von dieser inhaltlichen Skizze zwar die antiken Motive und das Auftreten der Engel in der Colombona wiederzufinden, das Zusammentreffen zwischen Eingeborenen und Seefahrern wird jedoch ganz anders, nämlich friedlich und harmonisch geschildert.412 Diese Veränderung deutet bereits an, dass das Verhältnis von alter und neuer Welt ein zentrales Thema in der Colombona ist, das auch bereits während der Überfahrt in den meisten Gesprächen der Protagonisten erörtert wird. Die direkte Begegnung zwischen den Europäern und den Wilden wird dann ausführlich in den letzten drei Gesängen des Epos dargestellt. Durch die dabei eingenommene kulturvergleichende Perspektive erweist sich Die Colombona letztlich als eine Erzählung, in der die Fragen nach der wahren menschlichen Natur erörtert und mit einer die ganze Menschheit umfassenden Idylle beantwortet werden, wobei auffällige Parallelen zu den zuvor besprochenen Epen zu Tage treten. Anspielungen auf antike Motive und Stoffe finden sich etwa in der Namensgebung der beiden Schiffe wieder, mit denen Colombo in die 407 408 409 410 411
412
Bodmer, Breitinger (1980), S. 79. Vgl. ebd., S. 80. Vgl. ebd., S. 81. Ebd., S. 80. Vgl. ebd., S. 80f. Bodmer folgt der kurzen Schilderung aus dem zweiten Buch von Joannes Antonides van der Goes: De Ystroom. Begreepen in vier boeken. 1671; die holländischen Verse sind abgedruckt in Bodmer, Breitinger (1980), S. 45f. Kurze Inhaltswiedergabe des Epos in William Taylor: Historic Survey of German Poetry: Interspersed with Various Translations, Vol. 1. London 1830, S. 187–189. Eine noch knappereSkizze findet sich bei Bruna Ceresa: Dietrichs von dem Werder deutsche Übersetzung von Tassos ›Gerusalemme Liberata‹. Zürich 1973 (Diss.), S. 56ff.
217 neue Welt fährt. Während Colombos Schiff »geraubte Europa« heisst und somit die Unschuld symbolisiert, nennt sich das zweite Schiff »Drachen« und rekurriert damit auf die Rettung von Medea vor dem Argonautenanführer Jason durch einen Drachen.413 Beide Schiffe sind somit positiv konnotiert. Auf die Argonautensage wird auch durch Colombos Benennung als ›größerer Typhis‹ angespielt;414 zudem werden die Schiffe gelegentlich als »Argo« bezeichnet.415 Neben der Erwähnung von Neptun tauchen ebenfalls die Nereiden auf, die das Schiff neugierig umschwimmen.416 Durch diese wiederholten Verweise auf die Antike lässt sich die Reise von Colombo als eine neuzeitliche Variante der antiken Argonautenfahrt verstehen, die allerdings nicht wie in der Antike aus persönlichen Motiven angetreten wird,417 sondern aufgrund des göttlichen Willens, was im ersten Gesang wiederholt betont wird. So berichtet Dom Jago, der mitreisende Geistliche, dass Colombo von Gott den Auftrag erhalten habe, die neue Welt zu suchen und deshalb auch seine Gefährten zur Teilnahme überreden konnte.418 Das Ziel der Reise besteht demzufolge nicht im Erwerb von Reichtümern, sondern in der von Gott gewollten Verbreitung des Glaubens und der Verkündigung der göttlichen Heilsbotschaft, die den Bewohnern der neuen Welt bis dahin unbekannt ist.419 Anders als in der antiken Erzählung müssen die Seefahrer nur ein ›Abenteuer‹ in 413
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Vgl. Bodmer (DC), S. 15. – Bodmer übersetzte die Sage der Argonauten (Bodmer: Die Argonauten des Apollonius. Zürich 1779) sowie den Mythos der geraubten Europa nach Moschus und nach Nonnus (in Bodmer: Calliope, 2. Bd. Zürich 1967, S. 20–27 und S. 28–32). Vgl. Bodmer (DC), S. 83, Typhis war Steuermann der Argos. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 13 und S. 41. Jason als Anführer der Argonauten nimmt die Reise in Angriff, um sich durch den Raub des goldenen Vlieses den ihm zustehenden Königstitel zu erwerben. »O sie [die Hoffnung, neues Land zu entdecken; J. R.] ist nicht von einem betrunknen schwindel entstanden, Sondern der wahrheit stimm in dem weisen munde COLOMBOS Hat sie mit leben behaucht uns tief in den busem gegeben; Und ihm hat das geheimniss der lange verborgenen Erde Gottes allweiser Geist entdecket; […].« (Ebd., S. 9, Hervorhebung im Original (so auch jeweils in den folgenden Zitaten); ähnliche Formulierungen auch ebd., S. 6, 10, 11, 14, 17). »[…] [I]ndem die sinnen im haupt die wache verrichten Denk ich mit offnem verstand den geheimen willen der Gottheit, Die der helfte der Erde so lang die helfte verschlossen, Und sie so spæte, doch sind jahrhunderte vor ihm wie tage, Ihr erœfnet, und diesem vergessenen stamme von Adam Zu der saat der Weisheit die in sein gemythe gelegt ist, Und der tugend vertraut ist, den keim darinn zu entwickeln, Noch den mæchtigern ruf vergœnnt der im busen des Menschen Von den worten des lebens erschallt, die Gott durch den Mittler Laut zu ihm redet, und durch die gnade die reden bekræftigt. « (Bodmer (DC), S. 10, vgl. Bodmer (C, I), S. 413.
218 Form eines durch den Dämon Chiska verursachten Sturms bestehen.420 Da aber Colombo von Gott geführt wird, verliert er nur den Steuermann des zweiten Schiffes. Kurz vor dem Unwetter wird der Engel Zephon eingeführt, der, dem Befehl Gottes Folge leistend, von seiner »olympischen Wolke« aus die Reise überwacht und die Gefahren, die den Reisenden von »Satans [R]otte« drohen, fern halten soll.421 Zephon wie auch der ihn besuchende Ithuriel sind Engel,422 die der Leser bereits aus Miltons Paradise Lost kennt,423 was auch bei ihrer ersten Erwähnung in Die Colombona angedeutet wird.424 Auch Zephon weiß von der göttlichen Lenkung der Reise, wie er Ithuriel berichtet, und benennt zudem ein anderes Motiv: […] izt soll das geheimniss der grossen versœhnung Diese Welt auch empfahn, ob vielleicht die Menschen darinn es Mit aufmerksamem ohr gefasst in weichere herzen Legen, damit es da mit edlern frychten aufwachse.425
Die Reise gründet in der Hoffnung, dass die Menschen der Neuen Welt die Heilsbotschaft besser als die Menschen der Alten Welt aufnehmen. Abgesehen von Colombo haben die meisten Europäer diese Botschaft zwar vernommen, scheinen aber nicht mehr nach den göttlichen Geboten zu leben. Nach dem Sturm tritt Zephon in Kontakt mit Colombo, indem er diesem einen »wahrsagenden [T]raum« eingibt,426 der vor den üblen Absichten des Dämons Xagua warnt. Entsprechend erkennt Colombo am nächsten Tag, dass sich Xagua in die Gestalt seines im Sturm ertrunkenen Steuermanns Sacredo verwandelt hat und die Schiffsmannschaft zur sofortigen Rückkehr nach Europa bewegen will. Angesteckt von den verführerischen Künsten Xaguas fordern die Seeleute die Umkehr, werden aber von Colombo, der an ihre »edle[n] gemyther« und an ihren »grossmuth des geistes« appelliert,427 wieder umgestimmt. Dabei leistet Zephon unbemerkt Hilfe, indem er – wie es Ithuriel im Paradise Lost tut, als er mit seinem Speer Satan zwingt, sich aus der Eva verführenden Kröte in die wahre Gestalt zu verwandeln – ebenfalls mit einem Speer Xagua dazu bringt, sich aus der angenommenen Gestalt des Sacredo in die ursprüngliche zurückzuwandeln.428 Durch diese Tat stellt sich die 420 421 422 423 424 425 426 427 428
Vgl. Bodmer (DC), S. 19ff. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 16. Vgl. Bodmer (VP), S. 186ff. Vgl. Bodmer (DC), S. 16. Ebd., S. 17, vgl. Bodmer (C, I), S. 423. Bodmer (DC), S. 26. Ebd., S. 34. Die himmlische Macht von Ithuriels Speer, die jeden, der von dem Speer berührt wird, dazu zwingt, seine wahre Gestalt bzw. seine wahre Natur zu zeigen, hat Bod-
219 »eintracht und selige hoffnung« der Seeleute wieder ein und sie verehren Colombo (wieder) als »einen vertrauten des Himmels«.429 Xagua, der »orchusversengte[ ] engel«,430 flieht daraufhin nach Mexiko zu seinem Gefährten Chiska, der dort die Einwohner zu einem kannibalischen Götzendienst verführt hat.431 Angesichts der »[G]efahr«,432 die den teuflischen, über Südamerika herrschenden Göttern durch Colombo droht, hat sich Chiska bereits mit weiteren Dämonen über das Vorgehen beraten, jedoch beschlossen, keine weitere »gewalt zu gebrauchen«,433 um Colombo abzuwehren. Stattdessen wollen sie »[i]n der stille die zukunft der tag’ erwarten« und auf günstige Gelegenheiten hoffen,434 wie sie ihre Herrschaft sichern können. Ihre Hoffnung scheint nur allzu wohl begründet, wie Chiska in seiner Beschreibung der Alten Welt verdeutlicht. Der Glaube, der in Europa herrsche, sei keine ›Angelegenheit des Herzens‹, sondern vielmehr ein bloßes Lippenbekenntnis, wovon ihnen also keine Gefahr drohen könne.435 Seine historische Erklärung für diesen Zustand bezieht sich vor allem auf eine Institution: es ist die katholische Kirche, die anstatt den Glauben zu befördern, diesen verdorben hat. Insbesondere Papst Gregor VII. hat als »oberster priester« durch seinen Dictatus Papae von 1075, in dem er der Kirche die oberste politisch-weltliche Gewalt und damit dem Papst die Herrschaft über die Kaiser zuschrieb, die Kirche und den Glauben verraten. Er habe »[a]uf den altar den thron gesetzt« und nur durch »stahl und gift, verrath und verschwœren« die Kirche erhalten.436 Rom, geschlagen durch dieses »eisern scepter«, flu-
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436
mer auch im 19. Stück des Mahlers der Sitten dargestellt; dieses 19. Stück ist eine Übersetzung aus Richard Steeles The Tatler (No. 237, From Thursday, October 12, to Saturday, October 14, 1710). In dieser Geschichte schildert der fiktive Erzähler, wie er – angeregt durch die Lektüre von Miltons Paradise Lost – in einem Traum mit dem Speer die Menschen berührt und dabei erkennt, dass kein Mensch in seinem Innersten so ist, wie es das scheinbar tugendhafte Äußere vermuten lässt. Der Erzähler gesteht am Ende, dass er selbst nicht ein »abgelebter alter Mann« sei, sondern ein »artiger,wohlgemachter,brauner Mensch« (Bodmer (MS), S. 214). – Möglicherweise ist die von Bodmer in der Colombona geäußerte Hoffnung auf einen besseren, d.h. gläubigeren Lebenswandel der Eingeborenen auch von dieser Erzählung inspiriert, die den »very handsome, jolly, black man«, wie es im englischen Original heißt, als bessere Natur des weißen Mannes ausgibt (Richard Steele: The Tatler. In Four Volumes. Vol. 4. Edited with Introduction and Notes by George A. Aitken. New York, London 1899, S. 215). Bodmer (DC), S. 36. Ebd. Vgl. Bodmer (DC), S. 38. Ebd. Ebd., S. 39. Ebd. »Haben wir, XAGUA, viel von diesem glauben zu fyrchten, Der auf den lippen nur ruht und der in den busem nicht eindringt?« (Ebd., S. 40). Bodmer (DC), S. 40. – Die Wendung »den Thron auf den Altar setzen« hat Bodmer aus Voltaires La Henriade (1728), vgl. Barbara Mahlmann-Bauer: Johann Jakob
220 che dem »heiligen tyrannen« und wünsche sich gar stattdessen die heidnischen Tyrannen wie etwa Tiberius oder Nero zurück.437 Diese Kirche baue nicht auf »wahrheit und sanftmuth«, vielmehr habe ihr »verrath und meineid EUROPA in flammen gesetzet«.438 Der Dämon Chiska beschreibt hiermit einen Sachverhalt, der auch schon in der Noachide als verdorbener Zustand dargestellt worden war: die Vermischung von weltlicher und geistlicher Macht (vgl. Kap. 3.1.2). In Japhets visionärem Zukunftstraum standen die Taten von Papst Gregor VII. am Beginn verachtenswürdiger Entwicklungen, die sich in der Colombona nicht nur auf der politischen Ebene als verheerend erweisen, sondern auch auf der menschlichen. Eine tyrannische, nur auf den eigenen Machterhalt schielende Kirche sorgt sich nicht um das Seelenheil ihrer Anhänger, die somit dem »Lastersamen«, der durch den Sündenfall vererbten Verdorbenheit, wehrlos ausgeliefert sind: zu einem tugendhaften Lebenswandel werden sie nicht angeleitet.439 Dass diese Beschreibungen des religiösen und politischen Zustandes von Europa nicht nur bloß die Phantasien eines missratenen Dämons darstellen, sondern als wahrhaftiger Bericht gelten sollen, zeigt sich daran, dass Ithuriel ein ähnliches Bild entwirft. Er macht allerdings nicht die katholische Kirche für den desaströsen Stand der Menschheit verantwortlich, sondern führt ihn auf das individuelle Verhalten jedes Einzelnen zurück: […] ich komme von schuldloser neugier Angespornet herab die wege der Menschen zu sehen. Die von dem Herrn so hoch begabet, so hæsslich gefallen, […]. […] O schwindeltrunkne! Sie sehen die hylfshand Freundlich zu ihnen gestreckt und streben nicht sie zu ergreifen. Laut redt heilsame wort in ihnen die stimme der Weisheit,
437 438 439
Bodmers Rousseau-Lektüre.In: Les écrivainssuisses alémaniqueset la culturefrancophone au XVIIIe siècle. Actes du colloque de Berne 24–26 novembre2004. Hg. v. Michèle Crogiez Labarthe, Sandrine Battistini, Karl Kürtös. Genf 2008, S. 209– 272, hier S. 263. – In seinem Drama Der vierte Heinrich Kaiser gestaltet Bodmer im Rückgriff auf Rousseaus Gedanken über die »religion civile« im Contrat social mit ähnlich kritischen Tönen gegen das Papsttum den Konflikt zwischen Heinrich IV. und der Kirche; vgl. ebd., S. 259–266. Bodmer (DC), S. 40. Ebd., vgl. für die gesamte Passage Bodmer (C, I), S. 452. Vgl.: »Welcher anschein dass die bei fremden die gottesfurcht pflanzen, Die in ihrem geburtsland dem laster tempel erœffnen! Allzu laut verlæugnet ihr leben die worte der Tugend. Billig danken wir Satan den grossen fehltritt des Menschen, Den er den ersten Erschaffnen in ihren busem geredt hat, Denn dadurch ward darinn der lastersamen gegryndet, Und der keimt verstolen selbst in dem unschuldigsten herzen; Unser geschæft ist ihn wolgepfleget zur reife zu bringen, Und die arbeit hat uns der Mensch nie myhsam gemachet.« (Ebd., S. 40f.).
221 Aber sie fliehn von ihrer vermahnung zur thorheit. Vernunft hat Wenig gewalt yber sie; und kaum mehr macht hat der glaube Und die worte des lebens, die unter der menschlichen bildung Gott geredt und den bund des friedens zu ihnen gebracht hat. Ach! ich hab in der abendlændischen grossen insel, Welcher das meer den schall vom blute des bundes verschlossen, Werke von ungeheurer gestalt verehret gesehen; Aber ich sah dieselben auch in den lændern verehret, Wo mit mæchtiger stimme das wort des lebens ertœnt hat!440
Ithuriel stellt der Menschheit ein schlechtes Zeugnis aus: Trotz Vernunft, trotz (wahren) Glaubens und trotz der Erlösungstat Christi verkennen die Menschen Gott und ihre Natur und ergreifen die ihnen gegebene Möglichkeit, den »Himmel auf Erden« zu errichten, nicht.441 Während in der Neuen Welt die Menschen die »[B]otschaft vom Mittler«, wie es im Anschluss an die zitierte Passage heißt, noch nicht kennen und sich deshalb von der »sclavenfessel« und vom »unsinn« noch nicht befreien konnten und immer noch einem Glauben anhängen, der »Menschenblut opfert und Satanen ræuchert«, so herrscht dieser Aberglaube auch in der Alten Welt, obwohl dort die göttliche Offenbarung eigentlich schon längst bekannt ist.442 Differenzen zwischen Alter und Neuer Welt gibt es aus dieser Perspektive nicht. Die Gleichheit wird auch von Colombo in dessen Begrüßungsrede an die Eingeborenen betont; hier allerdings im positiven Sinne. Auch wenn die Wilden dem Aberglauben anhängen würden, so habe der »vergessene Stamm von Adam« den »Keim« zur Weisheit und Tugend von Natur aus in sich und erweise sich damit als »Freund[ ] Gottes und seiner Tugend«.443 Die Eingeborenen seien erst »[w]enige schritte« von der »rohen Natur« entfernt und würden somit noch in der »kindheit der sitten« stecken, dementsprechend besäßen sie aber auch noch die »[M]ilde«, das »angestammete[ ] erbe der menschheit«.444 Dem noch natürlich lebenden, »verlohrnen brudergeschlechte«, den »geschœpfen von unserer bildung«, begegnet man folglich in friedlicher Absicht. Man möchte die aus dem niedrigeren Entwicklungsstand resultierenden Defizite ausgleichen und den Mangel, der hinsichtlich der Ausbildung der Vernunft und des Glaubens besteht, beheben.445 Es geht also nicht darum, den Eingeborenen etwas zu geben, was deren Natur nicht entsprechen würde, vielmehr sollen die vorhandenen Anlagen befördert und ausgebildet werden. Die Eingeborenen seien »menschlich und gütig«, was Bleda von Loen, 440 441 442 443 444 445
Bodmer (DC), S. 16f., vgl. Bodmer (C, I), S. 422. Bodmer (DC), S. 18. Ebd. Ebd., S. 11. Ebd., S. 49f., vgl. Bodmer (C, I), S. 465. Ebd.
222 ein Gefährte Colombos, nach seinem direkten Kontakt mit den Wilden, in dem sie ihre »unschuld und freundschaft« gezeigt haben,446 bestätigt. Angesichts seiner Erfahrungen fragt er sich, ob man die Eingeborenen im herkömmlichen, pejorativen Sinne überhaupt als »Wilde« bezeichnen könne: SEHEN wir zu ob ihnen der nahmen gebyhre, sie sind nur Wild in absicht auf unsre gebræuch’ und unsere sitten, Wie die frychte so heissen, die ohne die pflege der menschen Nach dem trieb der natur und ungezwungen gewachsen; Und so sind alle pflanzen in dieser glycklichen Insel; Aber wiewol allein der hand der natur yberlassen Sind sie doch ungepfleget von hohem gewyrzten geschmacke. Also ist bei den wilden der geist noch nicht bearbeitet, Noch ist er nah bei der einfalt der rohen natur, die gesetze Sind hier die nackten triebe, die in der menschlichkeit ligen. Zwar von der saat der laster befleckt, die innerliche schleichet, Doch mit den zygen des gœttlichen bilds geschmyckt; in der seele Stralet ein licht, das der, bei dem es von ewigkeit wohnet, In das gemyth gegossen, es vor verbrechen zu schytzen.447
Die Erörterung über die Wildheit wandelt sich von einer kulturvergleichenden Reflexion zu einer relativistischen Schau auf den Entwicklungsstand des ›wilden‹ Menschen. Während Bleda zunächst Michel de Montaignes (1533–1592) These der Relativität der Wildheit in den Mund gelegt wird,448 basiert der Schluss der Ausführungen auf einer universellen Anthropologie, die in historischer Perspektive aufgerollt wird. Angelegt ist in jedem Menschen Gutes wie Schlechtes; was sich davon zum dominierenden Wesenszug ausbildet, ist zu Beginn noch nicht festgelegt. Im Vergleich zu den Europäern – und auch aus deren Perspektive geschildert – mögen die Eingeborenen in kultureller Hinsicht zwar rückständig sein, dafür haben sie aber ihre ursprüngliche Natur bewahrt. Vernunft 446
447 448
Ebd., S. 72. – Die Eingeborenen retten Bleda, als dieser von einer giftiges Gas ausströmenden Pflanze betäubt zu Boden sinkt und an den Dämpfen zu sterben droht; vgl. ebd., S. 61f. Bodmer (DC), S. 72f., vgl. Bodmer (C, I), S. 494f. »Ich befinde […] bey dieser Nation, so viel man mir erzählet hat, nichts wildes oder barbarisches: ausgenommen, weil ieder dasienige Barbarey nennt, was bey ihm nicht gebräuchlich ist. Denn, wir haben auch in Wahrheit keine andere Richtschnur der Wahrheit und Vernunft, als das Beyspiel und die Vorstellung der Meynungen und Gebräuche, die in unserm Lande üblich sind. Da ist allezeit die vollkommenste Religion, die vollkommenste Policey, die vollkommenste und unverbesserlichste Einrichtung in allen Stücken. Sie sind wilde, eben so wie wir die Früchte, welche die Natur für sich und nach ihrem ordentlichen Laufe hervor gebracht hat, wilde nennen: da wir doch vielmehr dieienigen, welche wir durch unsere Kunstgriffe verderbet, und von der gemeinem Ordnung abgebracht haben, wilde nennen sollten.« (Michel de Montaigne: Essais [Versuche] nebst des Verfassers Leben nach der Ausgabe von Pierre Coste ins Deutsche übersetzt von Johann Daniel Tietz, 3 Bde. Zürich 1992 [zuerst Leipzig 1753–54], 1. Bd., S. 369 (= 30. Kapitel: Des Cannibales).
223 und Glaube sind auch bei den Wilden angelegt, aber noch nicht entwickelt; die ursprüngliche Menschlichkeit besitzen sie aber noch und zeichnen sich dadurch gegenüber den Europäern aus. Anders als beim Großteil der Europäer ist das ›wilde‹ Wesen, trotz bestehender Laster, noch nicht so weit verdorben, als dass die ausgebildeten Laster nicht entfernt werden könnten, worum sich Colombo und seine Crew in der Folge bemühen. Als sie sehen, dass die Einheimischen Menschenfleisch essen, sind sie entsetzt und sprechen sich dagegen aus. Die Wilden sind erstaunt, dass sie mit ihrem Ritual Unrecht begehen, verweisen erklärend auf die bei ihnen gepflegte Tradition der Anthropophagie, legen aber diesen Brauch sofort ab.449 Die Kannibalismus-Episode illustriert auf markante Art und Weise, dass die Wilden Angehörige einer außereuropäischen Kultur sind, gleichzeitig zeigt sie aber ebenso auffällig, dass die Wilden rasch bereit sind, lasterhaftes Verhalten abzulegen und das Gute anzunehmen. Bei richtiger Unterweisung sind sie sehr lernfähig. Der natürlichen Lebensweise entsprechend, besitzt die Gesellschaft der Eingeborenen eine nur rudimentäre gesellschaftliche Verfassung, die keine Standesunterschiede, sondern nur altersbedingte Differenzen kennt.450 Die Gleichheit achten die verschiedenen Gemeinschaften auch im Verkehr miteinander, sie stehen zueinander im natürlichen Stand. Die Versammlung der Ältesten erinnert an die frühere republikanische Verfassung von Chus (vgl. Kap. 3.1.2), die in dem Familienrat von Jacob einen Widerhall fand (vgl. Kap. 3.2.1). Das Fehlen von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen wird in der Colombona, wie bereits in den anderen Epen, nicht bedauert, sondern aus einer moralischen Perspektive als Vorzug dargestellt. So heisst es über den Wortschatz der Wilden, dass ihm verschiedene Begriffe fehlen würden,
449
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Vgl. Bodmer (DC), S. 78f. – Montaigne begründet den Kannibalismus der Wilden damit, dass die Wilden dadurch »strengste Rache« (Montaigne (1992), S. 377) an ihren Feinden verüben; Bodmer begründet – seinen freundlichen Schilderungen der Wilden gemäß – das Essen des Menschenfleisches als Freundschaftsdienst. So erhielten die Feinde das »ehrlichste grabmal«, weil man sich dadurch mit ihnen vereinige. (Bodmer (DC), S. 79) Während Montaigne den Kannibalismus, der von seinen Zeitgenossen als Ausdruck der Barbarei verstanden wurde, im Vergleich zu den Untaten der Europäer als weniger barbarisch erachtet, ›fehlt‹ bei Bodmer wiederum diese kulturkritische Perspektive. Er zeigt die Menschenfresserei als naiven Irrglauben, ohne ihn explizit in Bezug zu europäischen Taten zu setzen. »Alle von einem alter sind bryder, die jyngern sind sœhne, / Und die alten sind væter, die menschen helften von andern« (Bodmer (DC), S. 74). – Auch das ist ein Zitat von Montaigne: »Ueberhaupt nennen sie dieienigen unter ihnen, welche von gleichem Alter mit ihnen sind, Brüder; die welche iünger sind, Kinder; und die Greise sind aller andern Väter.« (Montaigne (1992), S. 379).
224 [w]eil sie [die Eingeborenen; J. R.] die sachen entbæhrten, verrath und lygen und falschheit, Heuchelei, neid, verlæumdung, verzeihn, und reichthum und armuth, Herrschaft, und pracht und stolz, verkommnissen, buchstaben, zifern.451
Aus eurozentristischer Perspektive werden hier die Vorzüge der neu entdeckten Kultur ex negativo gepriesen. Da die Kulturgeschichte, so wie sie in der Colombona vorgetragen wird, zeigt, dass mit der Entwicklung der zivilisatorischen Einrichtungen auch die Ausbreitung der Laster zunimmt, erscheint ein möglichst naturnahes, vorzivilisatorisches Leben aufgrund seiner moralischen Unverdorbenheit als wünschenswert.452 Bodmer scheint sich hiermit der Sitten- und Zivilisationskritik Montaignes und Rousseaus anzuschließen, insbesondere auch, weil in der oben zitierten Passage auf den fehlenden sittlichen Nutzen der Schrift bzw. Gelehrsamkeit angespielt wird. Bodmer, das wird im Weiteren noch deutlicher werden (vgl. auch Kap. 3.3.2), ist in seiner Charakterisierung der Eingeborenen vor allem den historischen Schilderungen von Bartolomé de Las Casas (1484–1566), auf den Bodmer in der Vorrede zum Epos verweist, verpflichtet. Nach Las Casas kennen die Eingeborenen keinen Betrug, keine List und Bosheit, leben ohne Privatbesitz und haben so auch keine Gier nach (fremden) Gütern, sie haben eine »geschwinde[ ] Vernunfft« und sind lernwillig, so dass sie »alle gute Lehr fassen«.453 Wenn man die Wilden unterrichten würde, so könnten diese rasch den christlichen Glauben annehmen, auch weitere Tugenden könne man ihnen leicht vermitteln. Bodmer betont besonders diesen Aspekt, weicht allerdings in der Schilderung der gesellschaftlichen Verfassung der 451
452
453
Bodmer (DC), S. 74. – Diese Beschreibung fand Bodmer bei Montaigne: »Ein Volk, unter welchem weder Dienstbarkeit, noch Reichthum, noch Armuth, keine Verträge, keine Erbfolgen, keine Theilungen, und keine andere Beschäftigungen als zum Zeitvertreibe, bekannt sind. Ein Volk, welches von keiner andern, als einer allgemeinen, Verwandtschaft, von keinen Kleidern, keinem Ackerbau, keinem Metalle, keinem Weine und Getreyde, weiß. Ein Volk, bey welchem so gar die Worte, welche Lügen, Verrätherey, Verstellung, Geitz, Neid, Verläumdung, Verzeyhung bedeuten, unbekannt sind.« (Montaigne (1992), S. 371f.) – Anders als bei Montaigne betreiben die Wilden in Bodmers Epos allerdings Landwirschaft (vgl. Bodmer (DC), S. 49). Den Eingeborenen fehlen die Laster, die in der Noachide zum Untergang der antediluvianischen Reiche führen. Las Casas: Umbständige warhafftige Beschreibung Der Indianischen Ländern/ so vor diesem von den Spaniern eingenommen und verwüst worden/ Durchgehends mit schönen Kupfferstücken und lebhafften Figuren außgezieret. Erst in Lateinischer Sprach außgeben Durch Bartholomæum de las Casas, Bischoffen in Hispanien/ Jetzt aber in das Teutsche übersetzt und an vielen Orten verbessert in dieser neu und letzten Edition. Anno MDCLXV, S. 2, vgl. für eine kurze Übersicht von Las Casas’ Beschreibung der Eingeborenen auch Urs Bitterli: Der Eingeborene im Weltbild der Aufklärungszeit. In: Archiv für Kulturgeschichte 53 (1971), S. 246– 263, insbes. S. 249f.
225 Eingeborenenstämme von Las Casas ab: Las Casas spricht den wilden Völkern hauptsächlich eine monarchische Gesellschaftsordnung zu; Bodmer bleibt jedoch seinen republikanisch geprägten Vorstellungen vom Naturzustand treu. Den Naturzustand der Wilden beschreibt Bodmer in der Colombona nicht als Ideal, sondern durchaus ambivalent. Zwar werden Assoziationen an ein paradiesisches Zusammenleben geweckt, als Paradies wird dieser Zustand jedoch nicht ausgewiesen. Bereits beim ersten Zusammentreffen der beiden Kulturen heißt es, dass die Wilden mit »gefiedertem schurz um die hyften« den Europäern gegenübertreten.454 Dies wird mit der Bekleidung von Adam und Eva verglichen, mit der diese bei der Vertreibung aus dem Paradies ihre Scham bedeckten.455 Die Wilden schildert Bodmer nicht als »Wesen vor jeder Sünde«, wie Susanne Detering behauptet,456 sondern als Wesen, die sündhaft sind, aber ihre Nähe zum ursprünglichen Naturzustand bewahrt haben. Damit sind sie in ontogenetischer Hinsicht mit dem Entwicklungsstand des Kindes vergleichbar, wobei diese allerdings noch unschuldiger erscheinen als die Wilden. Das Bild, das Bodmer von den Wilden entwirft, ist somit an das in den verschiedenen Künsten des 18. Jahrhunderts propagierte Ideal des ›edlen Wilden‹ anschließbar,457 gleichwohl stellt es aber keine Verklärung dar. Diese Ambivalenz der Wilden, die einerseits den »Keim« zur Tugend, andererseits aber auch den »Lastersamen« in sich tragen, findet sich auch in der Natur der Europäer. Während jedoch bei den Wilden sowohl Tugenden als auch Laster erst in Ansätzen ausgebildet sind, haben sich die europäischen Laster, die vor allem der katholischen Kirche angelastet werden, bereits weit(er) entwickelt. Sie sind viel verwerflicher, da sie sich viel stärker und umfassender in und bei den zivilisierten Menschen ausgebreitet haben als bei den Wilden. Die Tugendhaftigkeit von Colombo und seinen Seeleuten ist jedoch ebenfalls auf einer weit höheren Stufe als bei den Wilden. Bodmer versucht somit nicht, wie etwa Montaigne oder Rousseau, die moralisch gute Kulturlosigkeit der Wilden gegen die europäische, amoralische Zivilisation auszuspielen, sondern richtet sein Augenmerk auf das Wesen des Menschen an sich:
454 455 456
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Bodmer (DC), S. 49. Vgl. ebd. Susanne Detering: Kolumbus, Cortés, Montezuma. Die Entdeckung und Eroberung Lateinamerikas als literarische Sujets in der Aufklärung und im 20. Jahrhundert. Weimar 1996, S. 181. Vgl. dazu Bitterli(1971), S. 255ff.; ders.: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹.Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichteder europäisch-überseeischenBegegnung. München 3 2004, S. 367–410.
226 Irr ich nicht sehr so hat die Mus’ in dem goldenen alter Keine seligern leute gedichtet; LYCURGUS und PLATO Haben nicht bei der nackten natur die einfalt gesuchet. O sie glaubten nicht dass ein umgang unter den menschen Bei so geringer dæmmrung der kynstlichen hylfe seyn kœnnte.458
Bledas Vergleich zwischen Alter und Neuer Welt stützt sich erneut auf Montaignes Ausführungen.459 Während jedoch Montaigne die Lebensund Gesellschaftsform der Wilden über die Staatsentwürfe der ›zivilisierten‹ Menschen stellt, findet sich bei Bodmer ein paritätisches Verhältnis von Natur und Kultur. Die Wertschätzung der natürlichen Lebensform, des natürlichen Standes des Menschen bedeutet nicht per se die Ablehnung der Kultur bzw. Zivilisation. Entscheidend ist, in welchem moralischen Zustand sich der Mensch befindet. In den oben besprochenen Patriarchaden avancierten die nahe am Naturzustand lebenden Joseph und Noah zu nachahmungswürdigen Vorbildern des Lesers, weil sie sich durch einen tugendhaften Character auszeichneten, in der Colombona wird nicht ein Wilder zum Vorbild, sondern der zivilisierte und tugendhafte Colombo.460 Entsprechend wird auch Colombo wie Joseph als Herrscher oder wie Noah als Begründer eines neuen Zeitalters gefeiert und gleichzeitig im Verbund mit Gleichgesinnten präsentiert: […] COLOMBO [ist] mit LYCURGS gemythe begeistert, Aber des bessern LYCURGS; er suchte die ruhe des staates Nicht in der kunst zu tœdten, und hielt den denkenden menschen Nicht fyr den feind den ihm die Schœpfung zugesellt hætte. Seine denkart, war mit der [sic] Edeln, die um ihn her standen, In dem lieblichsten gleichlaut zusammenstimmend, der gleichlaut Hatte sie mit ihm verknypft, sein grosses schicksal zu pryfen; 458 459
460
Bodmer (DC), S. 73, vgl. Bodmer (C, I), S. 495. »Diese Nationen scheinen mir also in so fern Barbarn zu seyn, weil sie nicht viel von der Art des menschlichen Witzes angenommen haben, sondern der ursprünglichen Einfalt noch sehr nahe sind. Sie folgen noch den natürlichen Gesetzen, und sind durch die unsrigen noch nicht sehr verderbet worden. Ja, sie thun dieses so vollkommen, daß ich mich mannichmal ärgere, daß sie nicht eher, zur Zeit dererienigen [sic] Menschen, welche besser als wir davon hätten urtheilen können, bekannt geworden sind. Ich ärgere mich, daß Plato und Lykurg nichts von ihnen gewußt haben. Denn es dünkt mich, daß dasienige, was wir bey diesen Völkern durch die Erfahrung finden, nicht allein alle Gemählde mit welchen die Poesie das goldene Weltalter ausgeschmücket hat, und alle ihre Erfindungen einen gewissen Stand der Menschen zu dichten, übertrift; sondern so gar die Begriffe und Wünsche der Weltweisen. Sie haben sich keine so reine und vollkommene Einfalt vorstellen können, als wir sie in der That finden. Sie haben nicht glauben können, daß sich unsere Gesellschaft mit so weniger Kunst, und fast ohne menschliches Zuthun erhalten könnte.« (Montaigne (1992), S. 371). Wie die Protagonisten des Noah- und Joseph-Epos so zeichnet sich auch Colombo neben seiner engen Verbundenheit mit Gott durch »grossmuth« und »hohe[ ] heroische[] Tugend« aus (Bodmer (DC), S. 34), besitzt »weisheit« (ebd., S. 38), »mild’ und sanftmuth« (ebd., S. 52) und hat »sittsame[n] ernst« (ebd., S. 59). Er verkörpert dasselbe menschliche Ideal wie Noah oder Joseph.
227 Jeglicher war ein bessrer LYCURG, ein kleiner COLOMBO; Mehr als prediger nur der sitten, ihr herz war gesittet. In den thaten und in den worten war einerlei adel; Keine falschheit im wandel zerstœrte die wahrheit der reden.461
Die Gleichsetzung von Colombo und seinen Gefährten mit dem »besseren Lycurg« rekurriert auf Japhets Traum in Der Noah und verkündet dieselben Überzeugungen: ein Staat darf nicht auf Lastern und Gewalt gründen, sondern soll auf Tugenden und Sitten aufbauen. Entsprechend werden Colombo und seine Mannschaft auch nur insofern als Lykurge bezeichnet, weil sie, wie der historische Spartakönig, die Intention haben, die ›Ruhe im Staat‹ herzustellen. Sie wollen jedoch keine militärisch ausgebildeten und disziplinierten Bürger aus den Eingeborenen machen, sondern mit ihnen friedlich und tugendhaft zusammenleben. Bodmer schließt sich damit nur zum Teil dem Lob des antiken Sparta durch Rousseau an, das dieser aus einer kulturkritischen Perspektive wegen der spartanischen Ablehnung von Luxus, Lastern und Wissenschaften ausgesprochen hatte.462 Bodmer macht vielmehr deutlich – und das hat er bereits im Noah geäußert –, dass er die Verbannung der Künste und Wissenschaften aus dem Staat sowie die militärische Ausrichtung eines Staates nicht goutiert.463 Gelehrsamkeit und Künste – oder allgemeiner: zivilisatorisch461 462
463
Ebd., S. 72, vgl. Bodmer (C, I), S. 494. »Oublierois-je que ce fut dans le sein même de la Gréce qu’on vit s’élever cette Cité aussi célebre par son heureuse ignorance que par la sagesse de ses Lox, cette Républiquede demi-Dieux plutôt que d’hommes? O Sparte! opprobreéternel d’une vaine doctrine! Tandis que les vices conduits par les beaux Arts s’introduisoient ensemble dans Athénes, tandis qu’un Tyran y rassembloit avec tant de soin les ouvrages du Prince des Po¨etes, tu chassois de tes murs les Arts et les Artistes, les Sciences et les Savans.« (Rousseau: Discours qui a remporté le prix à l’Academie de Dijon. En l’année 1750. Sur cette Question proposée par la même Académie: Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les mœurs. In: ´ Rousseau: Œuvres complètes, III. Du Contrat Social. Ecrits politiques. Paris 1964 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 12). Bodmers Rede vom »besseren Lycurg« scheint die Kritik von Thomas Abbt an Lykurg, die dieser 1765 in einer Rezension äußert, implizit vorwegzunehmen. Abbt kritisiert vor allem die fehlende »Menschenliebe« der spartanischenVerfassung,die sich einerseits in Zwängen und Gewalt gegen die eigenen Mitglieder äußert (Sklavenhaltung,Tötung von schwachenKindern, Verbot der Liebe zwischen Mann und Frau zugunsten der Vaterlandsliebe), andererseits aber auch in feindseligem Verhalten gegenüber anderen Staaten. Abbts Rezension von Jacob Wegelins SpartaLob endet entsprechend in dem Fazit: »Eine schöne Liebe zur Tugend, die mit der Ausrottung der gleichen Menschenliebe anfängt[,] um eine ausschliessende Liebe zur Stadt[,] darinn wir leben, einzupflanzen.« (Thomas Abbt: [Jacob Wegelin]: Politische und moralische Betrachtungen über die Spartanische Gesetzgebung des Lycurgus. Lindau 1763. [Rezension]. In: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, 22. Theil. 1765, S. 93–146 (320., 321. und 322. Brief), insbes. S. 116–136, das Zitat S. 125. – Vgl. hierzu und zur weitgehend negativen Rezeption des lykurgischen Gesetzswerkes im 18. Jahrhundert Barbara Bauer: Der Gegensatz zwischen Sparta und Athen in der deutschen Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts.
228 kulturelle Errungenschaften – können sehr wohl die Gesellschaft befördern, was sich auch in der Beziehung zwischen Colombo und den Eingeborenen deutlich zeigt. Colombo und seine Leute treten den Wilden gegenüber als Erzieher und Lehrer auf und verschaffen ihnen damit ein »unendliches feld [an] werken der edelsten freundschaft«.464 Diese Werke bestehen darin, dass Colombo den Wilden »Religion und Tugend und kynste« lehrt,465 was diese begierig und dankend aufnehmen.466 Entsprechend hoch verehren die Eingeborenen die Männer, die ihnen das Denken beibringen, was sich sogar bei dem Eingeborenenmädchen Lamisa zeigt. Lamisa, die bereits beim ersten Zusammentreffen mit Colombos Leuten ein Hemd geschenkt bekommt, damit sie ihre Blöße bedecken kann,467 verliebt sich in Bleda – und er sich in sie – und lernt von ihm seine Sprache.468 Durch den Umgang mit ihrem Lehrer und zukünftigen Ehemann erkennt sie ihre vormals nur wenig entwickelten intellektuellen Fähigkeiten und nimmt ohne Weiteres den christlichen Glauben an. Sie wird schließlich als Christin auf den Namen Maria getauft.469 Ihre anschließende Hochzeit mit Bleda steht so als Symbol für die »blutsverwandschaft« der Alten und Neuen Welt und verdeutlicht sinnbildhaft,470 dass beide Welten dieselbe rationale, moralische und religiöse Natur besitzen und somit zusammen eine Gemeinschaft bilden können bzw. sollen.
3.3.2 Colombo als Gründer des Reichs der Menschheit Das Zusammentreffen zwischen Alter und Neuer Welt wird im Epos in zwei Varianten geschildert: Einerseits wird das tatsächliche historische Geschehen berichtet und somit eine auf Gewalt und Machtmissbrauch beruhende Begegnung skizziert, andererseits wird aber auch eine ideale Zusammenkunft erzählt, die – in der Formulierung aus dem Noah -
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In: Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800. Hg. v. Barbara Bauer, Wolfgang G. Müller. Wiesbaden 1998 (Wolfenbütteler Forschungen, 79), S. 41–94, insbes. S. 62–86. Bodmer (DC), S. 34. Ebd., S. 16; vgl. auch ebd., S. 38, 70, 71, 82, vgl. oben die Schilderung von Las Casas. Hatuni, das Haupt der Ältestenversammlung, dankt den Ankömmlingen dafür, dass diese »Wissenschaften« und »Sitten« unterrichten. So könnten die Eingeborenen endlich aus ihrer »verwirrung« herausfinden und »weisheit« erlangen (Bodmer (DC), S. 59f.; vgl. Bodmer (C, I), S. 478f.). – Das verdeutlicht, dass die Lehre von Colombo mit der Natur und den Bedürfnissen der Eingeborenen übereinstimmt. Hier zeigt sich somit die schon mehrfach festgestellte große Bedeutung der Erziehung. Vgl. Bodmer (DC), S. 51. Vgl. ebd., S. 64f., vgl. Bodmer (C, I), S. 485. Bodmer (DC), S. 75. Ebd., S. 84.
229 Epos – auf den »Banden« der Freundschaft beruht. Der Teufel Xagua erzählt die realhistorischen Konsequenzen von Kolumbus’ Entdeckung, die sich im Verlauf der Erzählung aber gerade nicht einstellen werden. In Kurzform schildert er die Geschichte der südamerikanischen Kolonialisierung und Eroberung nach der Landung von Kolumbus auf den Bahamas 1492:471 Die Konquistadoren lassen die Einheimischen Silber- und Goldminen anlegen und für Zuckerrohrplantagen werden – auch noch im 18. Jahrhundert – Sklaven aus Afrika nach Südamerika geschifft.472 Xagua, der sich an den Anführer eines Inselstammes richtet und diesen dazu bewegen will, die Ankömmlinge umzubringen, zeichnet mit seinem blutrünstigen Bericht über Colombo und dessen Männer ein vollkommen anderes Bild, als es ansonsten im Epos vermittelt wird. Darauf weist auch Detering hin und leitet daraus die Frage ab, warum »Bodmer nicht den Engeln die Prophezeiung [über den von Xagua berichteten weiteren 471
472
»In dem busem der fremden, die menschlichgestaltet einhergehn, Ligt [sic] ein gemyth verdeckt, das im blut zu baden frolocket [sic]; Das sein leben dem gold geweiht hat; den Gott zu besitzen Wyhlt es gebyrge durch, und begræbt sich unter der Erde. […] Dieses wytende volk mit seiner peitsche von eisen Wird euch das fleisch zermœrseln, dass aus dem zerhacketen kœrper Strœmend das blut entquillt und eure kehlen benetzet, Und das antlitz mit seinem roth brandmahlet, das erst noch Von dem gefyhl des tods der darinnen herrschete, blass war, Einen von euerm volk oder einen affen zu tœden Ist ein weidwerk, das sie zum spiele sich gœnnen; geschœpfe Die nicht mit haar das kinn bekleidet haben, und rothbraun Von den fyssen zum haupt, sind von der Schœpfung gezeichnet; Dass sie den bærtigen dienen, unwyrdig ihres erbarmens […]. Alles wird unter dem grimm der wytenden Christen erligen, Was nicht das schwerdt gefressen, das wird die Erde verzehren Unter welche der durst nach gold die nackten verurtheilt, Dass sies [sic] in klyften suchen, die pest und tod von sich hauchen. […] O der schande, der vierte theil der bewohneten Erde Wird von dem ersten den nahmen empfahn, den schnœde gewinnsucht Yber die see herfyhret und an das festere land wirft! Wenn sie endlich das land zu einer wyste gemachet, Werden sie andern theilen der Welt die einwohner nehmen, Durch sie die felder zu baun, die sie selbst von menschen entblœsten. Denn es kæme der zucker fyr ihre tafeln zu theuer Liesse man nicht das rohr, das ihn zeugt, von sclaven bereiten.« (Bodmer (DC), S. 54f., vgl. Bodmer (C, I), S. 471f.). Das erwähnte Bodmer ebenfalls im Noah. Montesquieu hatte die Eroberung ganz ähnlich geschildert (vgl. Montesquieu (EL), Livre XV, ch.5); Bodmer greift Montesquieus Schilderungauch in Inkel und Yariko auf; vgl. Bodmer: Inkel und Yarico. Lindau 1756, S. 3, wiederabgedruckt in Bodmer (C, II), S. 373–379, vgl. auch Debrunner (1994), S. 40f.
230 Verlauf der Kolonialisierung; J. R.] in den Mund legt, verkörpern doch eigentlich sie Licht und Wahrheit«?473 – Von der Prämisse ausgehend, dass Teufel stets das Gegenteil von der Wahrheit sagen bzw. die Wahrheit nur verzerrt darstellen, glaubt Detering hier einen »logischen Fehler Bodmers« entdeckt zu haben.474 Bodmer verhält sich aber durchaus logisch: Der Dämon schildert (für den Leser) identifizierbare realhistorische Ereignisse, die sich aber auf der Erzählebene als (teuflisch) verkehrte Sicht auf das Geschehen erweisen. Mit seiner verdrehten Darstellung von Colombos Absichten will Xagua die Einheimischen manipulieren, was aber misslingt. Der Leser ist somit vor das Paradoxon gestellt, dass ihm wahre historische Zustände geschildert werden, die sich auf der fiktionalen Ebene als falsch erweisen. Damit akzentuiert Bodmer die Differenz zwischen realer Historie und poetisch-fiktiver Gestaltung und stellt der Historie in bewusster Absicht und mit deutlicher Kennzeichnung einen alternativen, idealen Verlauf gegenüber. Ganz anders schildert Colombo das künftige Zusammenleben von Alter und Neuer Welt: als menschenfreundliche Utopie. Sein Bericht erscheint in der Erzählung als logische Entwicklung, die sich aus dem Character von Colombo erwarten oder erahnen lässt. Colombos Bericht karikiert für den Leser, der die ganz anders verlaufene, historische Entwicklung kennt, die reale Geschichte. Sein Bericht lässt die Darstellungen von Xagua zur »Schwarzen Legende« (leyenda negra) werden, mit der sich das reale Spanien seit Beginn des 16. Jahrhunderts konfrontiert sah. Der Begriff »leyenda negra« wurde von königstreuen Anhängern verwendet, um die schockierenden Berichte über die Greueltaten der spanischen Eroberer ins Reich der Lüge oder Fiktion zu verweisen. Geistliche wie Las Casas oder Girolamo Benzoni hatten die Entdeckung und Eroberung der Alten Welt auf ähnliche Weise beschrieben, wie es in Bodmers Epos Xagua tut, und den blutrünstigen Spaniern das Bild der einfälti473 474
Detering (1996), S. 186. Ebd., S. 187. – Deterings Auffassung, wonach die himmlischen Wesen die »MetaEbene« (ebd., S. 185) der Erzählung bilden und somit die »historischen [sic] Ereignisse« (ebd.) kommentieren, ist bereits in der Anlage fragwürdig, da Detering hierbei Realität und Fiktion vermischt und nicht rein narratologisch argumentiert. Die Vermischung dieser Ebenen führt sie dann zu der Behauptung, der Teufel Xagua berichte die in der Erzählung eintretenden Folgen von Colombos Entdeckung. Ohne Bezug auf Detering verfolgt Wynfried Kriegsleder eine ähnliche Lesart, die er sogar auf das ganze Epos überträgt. Der (vermeintliche) Widerspruch, Europa einerseitsals segensreichfür die neue Welt, andererseitsals Verderbenbringend darzustellen, bleibe »[u]nauflösbar« (Wynfried Kriegsleder: Heilsgeschichte und Aufklärung. Johann Jakob Bodmers ›Colombona‹. In: Columbus zwischen zwei Welten. Historische und literarische Wertungen aus fünf Jahrhunderten. Hg. v. Titus Heydenreich. 2 Bde. Frankfurt 1992 (Lateinamerika-Studien, 30), S. 295–306, hier S. 303). – Im Epos bringt Europa der Neuen Welt jedoch überhaupt kein Unheil, sondern nur Segen.
231 gen, unschuldigen und guten Wilden gegenübergestellt.475 Die Berichte von Las Casas oder Benzoni prägten für lange Zeit das europäische Spanienbild, auch Christian Wernicke (1661–1725) ist in seinen Epigrammen, die Bodmer 1747 und 1763 als Poetische Versuche in Ueberschriften wie auch in Helden- und Schäfergedichten neu herausgab, diesen Darstellungen verpflichtet.476 Geschickt spielt Bodmer in seinem Epos mit den verschiedenen Realitäts- und Fiktionsebenen, um die Differenz zwischen Möglichkeit und Realität grell zu beleuchten. Colombos Vorstellungen von den zukünftigen Beziehungen zwischen Alter und Neuer Welt basieren auf Montesquieus Beschreibungen der Folgen der spanischen Eroberungen, in denen Montesquieu aus ökonomischer Sicht kritisch mit der spanischen Regierung ins Gericht geht.477 Nach Montesquieu sei es ein Fehler der spanischen Krone gewesen, dass sie die neu entdeckten Länder annektiert und sie nicht nur als 475
476
477
Vgl. hierzu Peer Schmidt: Spanische Universalmonarchie oder ›teutsche Libertet‹. Das spanische Imperium in der Propaganda des Dreißigjährigen Krieges. Stuttgart 2001 (Studien zur modernen Geschichte, 54), S. 273–294. Vgl. Andreas Klaffke: ›Es sey die alte Welt gefunden in der Neuen‹. Amerika in der deutschen Lyrik der frühen Neuzeit. Marburg 2000, S. 70–80. »Denn die klugheit wird fern von ISABELLA [Isabella I. (1451–1504) regierte mit ihrem Mann »Dom Fernand«, d.h. Ferdinand V. (1452–1516), über Spanien; J. R.] seyn lassen, Dass sie zu ihrer kron in diesen westlichen Inseln Neue kronen bezwinge, der Erdball erweitert sein land nicht Dass sie geraumer sitz’, ihr CASTILIEN setzt sie nicht enge. Wyrden die neuen Inseln mit ihrem zepter verknypfet, O wie wyrde der Zwillingsbruder sein wachsthum verhindern; Kyrzlich wyrden die Inseln IBERIENS stærke verschlingen. Seine regel soll seyn, den weg in die westlichen meere Keinem mit kaufmannsgute beladenen schiffe zu sperren; Durch den zulauf der handelsleute wird erst das verhæltniss Unter den waaren entdeckt und ihr preis bestimmt. Die handlung Soll des Kœnigs nicht seyn, sie sei des fleissigen kaufmanns. Aber der muss die schiffe mit brauchbarem reichthum beladen, Gold und silber mag ligen, wohin die natur es versteckt hat, Was sind die mehr als angenommene zeichen des reichthums, Selbst kein reichthum? Je mehr die bilder des reichthums sich hæufen, Um so viel mehr verringert ihr werth sich. Betrogener Kœnig, Dems einkæme nach gold in den minen der Inseln zu graben, Nicht viel klyger als jener der von den Gœttern verlangte, Dass gold wyrde, was er mit seinen fingern beryhrte; Aber nach kurzem weiser sie bat sein elend zu enden! Elend ist aller reichthum der von der arbeit des volkes Und der anzahl nicht kœmmt, noch von dem fruchtbaren feldbau. Kœnige sind schon reich, wenn ihre staaten nicht arm sind; Arm ist ein Kœnig mit reichen zœllen und armen Provinzen Aber das mag die erhabene seele DOM FERNANDS erwegen, Und der mænnliche geist der castilischen ISABELLA.« (Bodmer (DC), S. 69f., vgl. Bodmer (C, I), S. 490f.).
232 »objets de commerce«,478 als neue Handelsgebiete und gleichberechtigte und gleichwertige Handelspartner angesehen habe. Spanien machte keine Trennung zwischen politischer und wirtschaftlicher Macht, d.h. achtete nicht das von Montesquieu favorisierte Handelsprivileg der Kaufmannschaft, sondern ließ auch den König als Kaufmann agieren. Spanien sei damit nicht den Einsichten von »des peuples plus raffinés« gefolgt,479 die sich im Verkehr mit neu entdeckten Gebieten lediglich auf den kaufmännischen Aspekt der Beziehung konzentriert hätten.480 Indem Spanien das eigene Reich und die eigene (politische) Macht zu erweitern gesucht habe, habe es den eigenen Untergang eingeleitet, was durch die damit einhergehende – nach Montesquieu für den europäischen Umgang mit den Kolonien charakteristische – Monopolisierung des Handels noch beschleunigt wurde.481 Da nur das Mutterland mit den Kolonien geschäftlich verkehrte, gab es keinen Handelswettbewerb, der den wahren Wert der Ware ausgehandelt und bestimmt hätte. Somit wurden eigentlich überhöhte Preise für gewisse Waren bezahlt.482 Zudem erwies sich der Import von Gold und Silber nach Spanien als trojanisches Pferd: Weil Spanien keinen »brauchbare[n] reichthum« einführte, sondern mit dem Gold eine »richesse du fiction ou de signe« nach Spanien brachte,483 wuchs zwar die Geldmenge in Spanien und Europa an, gleichzeitig wurde dadurch die Inflation angestoßen, welche die Warenpreise steigen ließ. Und da Spanien zudem in die Gewinnung des Erzes investieren musste und damit neben der Inflation noch weiteres Kapital verlor, beförderte es durch den Kolonialhandel nicht den eigenen Reichtum, sondern setzte eine Spirale in Gang, die letztlich, so Montesquieu, zur »célèbre banqueroute« des spanischen Staates geführt habe.484 Darüber hinaus kritisierte Montesquieu auch, dass der König durch (Einfuhr-)Zölle vom Handel zu profitieren suchte, ohne die spanische Bevölkerung daran teilhaben zu lassen. Der Reichtum des Königs habe nicht auf der Arbeit des eigenen Volkes beruht, was normalerweise Ausdruck einer guten Wirtschaftslage sei. Im Kontrast zu diesem merkantilistischen Wirtschaftsverständnis, wonach der Staat dirigierend und protektionistisch in den Handel eingreift, um nationale Gold- und Silbergewinne zu Ungunsten anderer 478 479 480
481 482 483 484
Montesquieu (EL), Livre XXI, ch.21. Ebd., Livre XXI, ch.21. Vgl. ebd., Livre XX, ch.19ff. Nach Montesquieudarf der Herrscher nicht als Kaufmann auftreten, da es sonst keine Instanz mehr gäbe, die dessen ökonomisches Gebaren in Schranken weisen könnte; vgl. ebd., Livre XX, ch.19. Vgl. ebd., Livre XXI, ch.21. Vgl. ebd., Livre XX, ch.9. Ebd., Livre XXI, ch.22. Ebd., Livre XXI, ch.22. – Philipp II. musste 1557 den Bankrott der spanischen Monarchie bekannt geben.
233 Staaten zu erzielen,485 vertritt (und praktiziert) Colombo das humane Gegenmodell des für alle Völker offenen Tauschhandels, dessen Grundprinzipien sich in Montesquieus Auffassung vom ›doux commerce‹ wiederfinden. Grundsätzlich habe der Handel, so Montesquieu, eine friedensstiftende und die Sitten befördernde Wirkung, da die Völker, die miteinander handeln, ein wechselseitiges Interesse am jeweiligen Handelspartner hätten, da der eine verkaufen und der andere kaufen wolle.486 Diese wechselseitige Abhängigkeit bzw. der internationale Handel fördere zudem die Kenntnisse über fremde Völker, so dass Vorurteile, die man gegeneinander hege, abgebaut werden würden.487 Zudem verbinde der Handel mit Gütern alle Völker miteinander, womit sich die Welt als ´ »un seul Etat, dont toutes les sociétés sont les membres«,488 erweist. Diese Gedanken aufnehmend führt Colombo weiter aus, dass durch die offenen, nicht monopolistischen Handelsbeziehungen die landwirtschaftlichen Güter der Neuen Welt gegen das gesammelte Wissen, die Sitten und den Glauben der Alten Welt eingetauscht würden.489 Durch den 485
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Vgl. zur Diskussion des ›unscharfen‹ Begriffs des Merkantilismus im 18. Jahrhundert Céline Spector: Montesquieu et l’émergence de l’économie politique. Paris 2006 (Les Dix-Huitièmes Siècles, 96), S. 166ff. Mit dieser friedlichen Auffassung des doux commerce unterscheidet sich Montesquieu von merkantilistischen Überzeugungen, die den Handel – aufgrund des zugrundeliegenden Systems des Nullsummenspiels (der eine gewinnt, was der andere verliert) – als kriegerische Konfrontation ansahen (vgl. Spector (2006), S. 178ff.). Vgl. Montesquieu (EL), Livre XX, ch.1f. Ebd., Livre XX, ch.23. »Freund’ ich sehe die Inseln bedeckt mit kostbaren gytern, Die nicht IBERIEN nur, wiewol es vieles begehret, Sondern die weiten kreis’ EUROPENS befriedigen kœnnen. Dieses wird unser Enkel in einem glanz der gestalt sehn, Einer grœsse von der kein træumer jemals geweissagt. […] Aber sie geben EUROPA noch mehr als mittel der wollust, Sie verbessern auch sein erkenntniss der Erd und der dinge; Die entdeckung der neuen Welt entfaltet die alte, Und der gelehrte wird hier sich schætze sammeln, an werthe Theurer in weisen augen als alle minen von Ophir. Leicht geschieht es, dass uns die neuen Inseln zum lohne Ihrer entdeckung die wahre figur der Erden entdecken. O was myssten wir uns nicht fyr einen fyhllosen denken, Einen zu denken, der sich entschliessen kœnnte, die Inseln Mit den ketten der knechtschaft zu fesseln; doch wenn das geschæhe, O so seh ich von unerschrockenen mænnern sie wimmeln Die mit IBERIENS dapferstem blut ihr eignes erkauften. Aber es mœchte nicht schwer seyn die unbewaffneten leute Durch die verræthrische glut der feuerrœhre zu zwingen; O wie wyrde dadurch EUROPENS ehre geschændet! Kann die ATLANTISCHE Welt von EUROPA weniger fodern Als die bessern sitten, die weisheit, den glauben EUROPENS?« (Bodmer (DC),
234 gegenseitigen Umgang erweitere sich zudem der Wissenshorizont der Europäer.490 Das von Colombo skizzierte Handelsziel mit der Neuen Welt ist ideeller Natur,491 das nicht auf eine Ausbeutung der Eingeborenen ausgerichtet ist, sondern auf ihre intellektuelle, moralische und religiöse Weiterentwicklung, die sich auch die Eingeborenen wünschen.492 Eine solche Beziehung zwischen Europa und den neu entdeckten Ländern lässt denn auch die Versklavung der Einheimischen beinahe undenkbar werden; sollte sie aber dennoch eintreten, so würde ein Teil von Europa gemeinsam mit den Wilden dagegen ankämpfen. Durch den freundschaftlichen Handel aller alten Nationen mit der Neuen Welt wird die gesamte Welt zu einem ›Staat‹ und Colombo zum Begründer eines die gesamte Menschheit umfassenden Reiches:493 Denn nachdem der grosse COLOMBO die wege gebahnt hat, Wird EUROPA die wohnung der westerzeugeten menschen Freundlich besuchen und oft mit seinen schiffen da lænden [sic]. Nord und West wird ein land, ein reich seyn, und leicht zu durchfahren; […] […] der West soll Frychte von næhern Sonnen und geistigern Erden gekochet
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S. 70, vgl. Bodmer (C, I), S. 491f.). – Ganz am Ende des Epos heißt es noch einmal, dass die Europäer »sitten und wissenschaft lehren« würden (Bodmer (DC), S. 82, vgl. Bodmer (C, I) S. 506f.). Wie im Großen präsentiert sich auch der Tauschhandel im Kleinen. Schon kurz nach Colombos Landung beginnendie Seefahrer Häuser und eine Kirche zu errichten und nehmen mit den Einheimischen den Handel auf: »Zwischen den leuten von beiden Welten war an dem gestade Ein vertraulicher markt mit geben und nehmen der waren; Æhnlicher einem tausch von erwiederten zeichen der freundschaft Zwischen dem gast und wirth, als einem handelsgewerbe.« (Bodmer (DC), S. 53). Die im kleinen Maßstab praktizierte Handelsbeziehung ist keine ökonomische Begegnung, sondern – dem von Montesquieu entworfenen Ideal entsprechend – eine freundschaftliche Zusammenkunft, bei der es nicht um Gewinnmaximierung geht. Ohne Bodmers Rekurs auf Montesquieu zu erkennen, bezeichnet Michael Reiter die Handelsbeziehung als »Geschäftsparadies des friedlichen Handels« und verweist mit der Bezeichnung »Utopie« auf den idealistischen Gehalt (Michael Reiter: Zur Rezeptionsgeschichte des Kolumbus-Stoffs. In: Reisen des Barock: Selbst- und Fremderfahrungen und ihre Darstellung. Beiträge zum Kolloquium der Arbeitsgruppe Kulturgeschichte des Barockzeitalters an der Herzog-AugustBibliothek Wolfenbüttel vom 10. bis 12. Juli 1989. Hg. v. Regina Pleithner. Bonn 1991 (Abhandlungen zur Sprache und Literatur, 45), S. 48–63, hier S. 54). – Spector weist darauf hin, dass Montesquieus Entwurf einer friedlichen Handel treibenden Weltgemeinschaft für Montesquieu»l’horizonsouhaitablede la modernité« sei (Spector (2006), S. 189). Montesquieu hatte allerdings die Beförderung der Sitten (nur) als Folge des Handels mit Waren charakterisiert, während Bodmer den Handel selbst schon als Austausch von primär ›geistigen‹ Gütern, d.h. Ideen und Wissen versteht. Bodmer bezeichnete Colombo entsprechend als »Menschenfreund« (Bodmer (1786), S. 242).
235 Fyr das nordliche Clima einerndten, die sœhne des Nordens Sollen dafyr ihm kynst’ und sitten und wissenschaft bringen.494
Der humane Handel zielt nicht auf den Erwerb von wirtschaftlichem Reichtum, sondern ist ein gegenseitiger Austausch von notwendigen und das allgemeine weltweite Wohl befördernden ›Gütern‹: von Wissen, Künsten und Sitten. Diese Form des Handels distanziert sich nicht nur vom Erwerb und Verkauf von Luxusgütern, sondern enthält auch eine Absage an den Wertschriftenhandel, wie er zu Beginn der 1750er Jahre in Zürich entstand. Weil die Stadt Zürich über viel Kapital verfügte, begann sie ihre Gelder als Staatsanleihen zu ›exportieren‹ und handelte damit mit jenen Gütern, die Bodmer, Montesquieu folgend, verurteilt hatte. Wie schon im Epos Jacob und Joseph übt Bodmer also auch in der Colombona implizite Kritik an den Zürcher Verhältnissen.495 Während Bodmer Montesquieus Esprit des Lois dazu verwendet, eine menschenfreundliche Handelsgemeinschaft zu skizzieren, hat er den Anstoß zu dieser weltumgreifenden Utopie möglicherweise von James Kirkpatrick (ca. 1696–1770) empfangen.496 Kirkpatrick schildert in dem 1750 veröffentlichten Epos The Sea-Piece seine auf Seereisen gesammelten Erfahrungen und Eindrücke und kommt im fünften Gesang auch auf Kolumbus zu sprechen.497 Er lobt den großen und wagemutigen Seefahrer Kolumbus, kritisiert aber die Nachwelt, da diese dessen Verdienste nicht angemessen anerkannt habe. Denn schließlich trage der neu entdeckte Erdteil nicht den Namen von Kolumbus, sondern habe, so Bodmer in der Nachfolge von Kirkpatrick, den »nahmen / Eines verwegnen ræubers« ›aufgedrückt‹ bekommen:498 »what Error! an Usurper’s Name, /
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Bodmer (DC), S. 45. Vgl. auch Daniel Tröhler: Republikanische Bürgererziehung im alten Zürich am Beispiel Johann Heinrich Füsslis. In: Die Leidenschaft der Aufklärung. Studien über Zusammenhänge von bürgerlicher Gesellschaft und Bildung. Hg. v. Jürgen Oelkers, Daniel Tröhler. Weinheim, Basel 1999, S. 155–173, insbes. S. 159–165. – Vgl. zur Kritik am Luxus und am Reichtum auch Kap. 4.4. Beide Autoren benennt Bodmer im Vorwort als »Mitarbeiter an der COLOMBONA« (Bodmer: Vorbericht. In: Bodmer (DC), unpag.); den »character des COLOMBO« habe er aber selber erfunden (ebd.). Wie gezeigt, hat Bodmer das in der Tat: Colombo entspricht weitgehend Bodmers Patriarchen. Mit Las Casas (vgl. oben) und Tommaso Stigliani nennt Bodmer zwei weitere Autoren, die sich mit dem Kolumbus-Stoff beschäftigt haben, beide könnten aber »keine[n] anspruch« auf Bodmers Colombo machen; vgl. zu Stiglianis ›abenteuerlichen‹ Ritter- und Liebesepos Il Mondo nouvo (EA 1617 mit 20 Gesängen, 2. Auflage 1628 mit 34 Gesängen) Martin Ochs: Der Mythos von Christoph Kolumbus in der italienischen Literatur.Freiburg im Breisgau 1999 (Rombach Wissenschaften, Reihe Cultura, 5), S. 233–236. James Kirkpatrick, M. D.: The Sea-Piece. A narrative, philosophical and descriptive Poem. In Five Cantons. London MDCCL. Bodmer (DC), S. 5; gemeint ist Amerigo Vespucci (1451–1512).
236 Stampt on thy Continent, defrauds thy Fame« von Kolumbus.499 Vielleicht komme aber eines Tages ein »faithful Bard«,500 der das Lob von Kolumbus singe, das dieser verdient habe, da der Seefahrer doch den »MESSIAH to the vastest Shore« gebracht habe.501 Diesem Wunsch ist Bodmer mit seinem Epos nachgekommen. Es zeigt, welch friedlicher Ort die Welt sein könnte, wenn sich die Menschen auf vernünftige und wahrhaft christliche Art und Weise begegnen würden.
499 500 501
Kirkpatrick (1750), S. 109. Ebd., S. 110. Ebd., S. 111 (Hervorhebung im Original).
4.
Politische Trauerspiele
4.1
Die Poetik des politischen Trauerspiels: Kapitulation vor dem Zeitgeschmack oder kritische Offensive?
Bodmers politische Dramen, die vor allem in drei Bänden 1768/69 erschienen, provozierten nicht nur zeitgenössische Leser, sondern rufen noch heute Unverständnis hervor. Maissen sprach zuletzt vom »Tugendterror«,1 der in und mit den Dramen verbreitet würde, und schloss sich damit implizit den Auffassungen von Kurt Wölfel an. Wölfel hatte 1987 Bodmers Dramen »politische[n] ›Primitivismus‹« attestiert und das darin vertretene Staatsideal mit einem »Totalitarismus der Sitte« verglichen, da die Bürger in den Dramen »terroristisch zur ›Tugend‹ und ›Freiheit‹« gezwungen würden.2 In Bodmers »vom Willen der Sitte eingebundene[n] Staatsbürger« sah Wölfel ein anthropologisches Modell, das ein »Datum von menschheitsgeschichtlichem Rang rückgängig« mache,3 da es den »autonome[n] moralische[n] Wille[n]« der historischen Individuen des 18. Jahrhunderts negiere und stattdessen einen »eingeschworene[n] AntiIndividualismus« propagiere.4 Er artikuliert damit ein ähnlich teleologisches Literaturverständnis und subjektives Werturteil, von dem bereits in der Einleitung dieser Arbeit die Rede war. Angesichts der Kritik an Bodmers ›veralteter‹ Anthropologie überrascht es nicht, dass Wölfel den 1
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Thomas Maissen: ›Mit katonischem Fanatisme den Despotisme daniedergehauen‹. Bodmers Brutus-Trauerspiele und die republikanische Tradition. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (2009), S. 350–364, hier S. 363. Kurt Wölfel: Politisches Bewußtsein und Politisches Schauspiel. Zum Thema ›Aufklärung als Politisierung‹. In: Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung. Hg. v. Hans Erich Bödeker, Ulrich Herrmann. Hamburg 1987 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 8), S. 72–89, hier S. 78. Ebd. Ders.: Prophetische Erinnerung. Der klassische Republikanismus in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts als utopische Gesinnung. In: Utopieforschung. InterdisziplinäreStudien zur neuzeitlichenUtopie, Bd. 3. Hg. v. Wilhelm Voßkamp. Stuttgart 1982, S. 191–216, hier S. 197: »Die moralischen Leistungen, die den Individuen von dieser rigorosen Gesinnung abverlangt werden, bestehen im Grunde aus lauter Negationen individueller Interessen: Uneigennützigkeit, Selbstlosigkeit, Einfachheit, Bedürfnislosigkeit, Verzicht- und Opferbereitschaft sind ihre Namen. […] [Z]um Gipfel seiner Tugend gelangt der Patriot in der heroischen Preisgabe seiner partikularen Existenz zugunsten der des Ganzen […].«
238 Stürmer und Dränger Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) als Dramenautor favorisiert.5 Während Maissen und Wölfel vor allem ideologische Gründe gegen Bodmers Dramen ins Feld führen, urteilte Friedrich Sengle mit Blick auf die Ästhetik: […] [W]ir können es uns nicht gestatten, sie [Bodmers Dramen; J. R.] im Einzelnen zu betrachten. Ihr dramaturgischer und dichterischer Wert ist allzu gering. Bodmers Dramen sind nicht allein durch die Schwäche des Poeten Bodmer, sondern […] gewissermassen grundsätzlich undramatisch, undichterisch, insofern der Akzent mit bewusster Einseitigkeit auf dem historisch-politischen Inhalt liegt.6
Arnd Beise hingegen begründet gerade mit dem politischen Gehalt die Relevanz und den Reiz der Dramen: »Bodmer ist womöglich der einzige Dramatiker der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, für den politische Angelegenheiten nicht der Rahmen zur Darstellung anderer (etwa psychologischer oder moralischer) Probleme war, sondern die interessierende Sache selbst«.7 Diesen Sachverhalt erkannten auch Bodmers Zeitgenossen. Die Art und Weise, wie in den Dramen politische Fragen verhandelt wurden, missfiel ihnen jedoch weitgehend. Die poetologischrhetorischen Einwände der Kritiker waren ähnlich vernichtend wie die jüngeren Urteile von Sengle, Wölfel oder Maissen. Christian Adolph Klotz (1738–1771) charakterisierte Bodmers Dramen: [Die] Schauspiele gleichen den Redeübungen in den Schulen, wo einige Knaben über eine Materie pro und contra Chrien hersagen, unterdessen daß dem Zuhörer, welcher aus Pflicht darbeysitzen muß, die Zeit lang wird.Die Liebe zur Freiheit,der Haß der Tyrannen, die Empfehlung der alten Enthaltsamkeit und Einfalt sind die Lieblingsmaterien, von denen sie ihren Knaben (denn gute Schauspieler möchten sich wohl hüten, den Kopf mit dem Auswendig lernen der langen Chrien zu zerbrechen, und dann zur Belohnung sich ausklatschen zu lassen,) zu peroriren befehlen.
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Vgl. Wölfel (1987), S. 80. Friedrich Sengle: Das deutsche Geschichtsdrama. Geschichte eines literarischen Mythos. Stuttgart 1952, S. 19f. Mit derselben Begründung versagte sich auch Heitner die Beschäftigung mit Bodmers Dramen: »The numerous so-called ›tragedies‹ of Johann Jakob Bodmer (1698–1783) […] have purposely been excluded because they are either clumsy parodies of other dramas or else mere hapless dialogues totally unrelated to the demands of the real theater.« (Robert R. Heitner: German Tragedy in the Age of Enlightenment. A Study in the Development of Original Tragedies, 1724–1768. Berkeley, Los Angeles 1963, S. XII). Arnd Beise: ›Für die Demokratiehatte er die vorzüglichsteHochachtung‹.Plädoyer für den politischen Stückeschreiber J. J. Bodmer. In: Griffel 7 (1998), S. 82–88, hier S. 88. – Ohne auf Bodmer zu verweisen, aber mit ähnlichen Argumenten wie Beise empfiehlt auch Meike Steiger die Erforschung der politischen Tragödie der Aufklärung. Die Fixierung der Literaturwissenschaft auf das bürgerliche Trauerspiel habe das bislang verhindert; vgl. Meike Steiger: Könige der Aufklärung. Transformationen politischer Macht im deutschen Drama des 18. Jahrhunderts. In: Aufklärung 17 (2005), S. 173–185.
239 Diese Deklamationen sind unausstehlich lang, ohne Leben, ohne Geschmack, oft auch ohne Verstand.8
Die Rezensenten überlegten sich, wie Bodmers Dramen im zeitgenössischen Literaturbetrieb einzuordnen seien. Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (1737–1823) sprach etwa gleich zu Beginn seiner Rezension davon, dass es »vergebens« wäre, »diese Schauspiele nach den bekannten Regeln des Drama zu beurtheilen«, stattdessen würden sie eine (allerdings im negativen Sinne verstandene) »vorragende intellectualische Classe« darstellen, »weil sie mit Staatsbetrachtungen aus dem Montesquieu und Rousseau durchwürzt« seien.9 Ähnliches sagte 1769 auch Klotz, als er in Anlehnung an die Vorrede des zweiten Bandes der Politischen Schauspiele abschätzig konstatierte, dass Bodmer mit seinen Dramen, eine »neue Gattung erfunden« habe,10 die »weder Trauerspiel, noch Lustspiel, noch Tragikomödie, noch Historie« sei, sondern »alles zugleich und doch auch nichts«.11 Johann Joachim Eschenburg (1743–1820) bezeichnete in seiner Rezension Bodmer im ironischen Sinne als »Originalgenie«, das sich nicht an diejenigen dramatischen »Regeln« halte, die einem Drama »viele Handlungen, glücklich angelegte Situationen« und die »Sprache der Leidenschaften« vorschreiben würden,12 und rechnete damit die politischen Dramen zu einer neuen »Gattung[ ] in der dramatischen Dichtkunst«:13 nämlich, so ist zu ergänzen, zu derjenigen der missratenen. Auch Johann Gotthelf Lindner (1729–1776) war ratlos und rechnete Bodmers politische Dramen zu den Schuldramen, allerdings ohne eine Einordnung ausführlicher zu erörtern.14 8
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Christoph Adolph Klotz: Politische Schauspiele. Marcus Brutus, Tarquinius Superbus, Italus, Timoleon, Pelopidas. Zürich. 1768. [Rezension]. In: Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, Zweyter Band, 6. Stück. 1768, S. 209–223, hier S. 209f. Heinrich Wilhelm von Gerstenberg:Politische Schauspiele.Marcus Brutus. Tarquinius Superbus. Italus. Timoleon. Pelopidas. [Rezension]. Zit. nach H. W. v. Gerstenbergs Rezensionen in der Hamburgischen Neuen Zeitung, 1767–1771. Hg. v. O. Fischer. Berlin 1904 (Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, Nr. 128, 3. Folge, No. 8), S. 115–123, hier S. 115. Klotz: Politische Schauspiele, zweytes Bändchen, aus den Zeiten der Cäsare. [Rezension]. In: Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, 3. Band, 11. Stück. 1769, S. 395–409, hier S. 396. Ebd., S. 397. Eschenburg: Politische Schauspiele. Marcus Brutus. Tarquinius Superbus. Italus. Timoleon. Pelopidas. Zürich, bey Orell, Geßner und Comp. 1768. [Rezension]. In: Allgemeine deutsche Bibliothek, 10. Bd., 1. Stück. 1769, S. 231–232, hier S. 232. – Mit dieser deutlichen Sympathiebezeugung für die Dramaturgie des Sturms und Drangs artikuliertEschenburgdiejenigeAuffassung, die auch Wölfel mit deutlicher Ideologiekritik vertrat. Ebd., S. 231. »Ob ein Schuldrama möglich ist? – Wenn es ist, so wär es vielleicht mehr moralischhistorisch als pathetischscenisch. Geschlechterliebe und das Aeußerliche der
240 All diese verschiedenen Stimmen legen den Eindruck nahe, Bodmers Dramen seien völlig unzeitgemäß und in einem weltfremden Raum entstanden. Das sind sie aber mitnichten, wie die Entstehungsgeschichte von Bodmers Poetik des politischen Trauerspiels und auch des ersten politischen Dramas Julius Cäsar zeigen. Wie schon bei der Analyse von Bodmers Poetik (vgl. insbes. Kap. 1.4) und Epen (Kap. 3.1) festgestellt, entzündeten sich auch Bodmers Ideen für das politische Drama an zeitgenössischen Entwicklungen. Nicolais 1756 erstmalig ausgeschriebener Dramenwettbewerb war ein wichtiges Moment, das Bodmer zu seiner politischen Dramaturgie angeregt hat.15 Diese Ausschreibung war von Nicolai nicht nur als verlegerische Werbemaßnahme für seine erstmals erscheinende Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste gedacht, sondern auch in einen kulturpatriotischen Kontext gestellt worden, der Bodmer besonders gereizt haben dürfte. Explizit hatte Nicolai auf den sittenverbessernden Charakter der Poesie hingewiesen und gleichzeitig das deutsche Theaterschaffen kritisiert. Mit seinem Wettbewerb wollte Nicolai ein deutsches Originaldrama hervorrufen, das nicht nur innerhalb des deutschsprachigen Raums, sondern auch für die anderen Nationen zum Muster werden und die Rückständigkeit der deutschen Dramatik wettmachen könnte. Was Bodmer etwa zeitgleich bereits in der Gattung des Epos unternahm, im Wettstreit mit anderen ein Nationalepos zu schaffen (vgl. Kap. 3.1.1), das schwebte Nicolai auch im Bereich der Dramatik vor: ein Drama zu schaffen, das nationale Bedeutung erlangen könnte. Von dieser Idee war Bodmer so begeistert, dass er 1756 mit Wieland gar kurzfristig erwogen, selber einen Wettbewerb auszuschreiben.16 Nach-
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Decoration würde fehlen, doch könnte es andre Liebe haben. Versuche sind […] Pfeffels dramat. Kinderspiele, Moißy Spiele der kleinen Thalia. Klopstocks Bardiet oder Schlacht Hermanns ist ein mit Lyrischem gemischtes Drama. Bodmer liefert politische Schauspiele.« (Johann Gotthelf Lindner: Kurzer Inbegriff der Ästhetik, Redekunst und Dichtkunst. Zweiter Teil. Königsberg, Leipzig 1772 (Reprint Frakfurt 1971, Bd. 2), S. 350). – Sengle äußert (ohne Rückgriff auf Lindner) denselben Gedanken: »Insofern Bodmer seine Dramen als Professor der Schweizer Geschichte und Politik schreibt, kann man ihn einen späten Vertreter des Schuldramas nennen.« (Sengle (1952), S. 18). Vgl. zum Folgenden das Nachwort in Bodmer (JC), in dem Bodmers Weg zum politischen Trauerspiel ausführlicher dargestellt wird. Das lässt sich nur noch indirekt durch einen Brief Wielands erschließen: »Indessen übersende ich Ihnen den Project wegen eines Preises für das beste Trauerspiel. […] Ob nicht die Aufgabe selbst für die Deutschen zu schwehr, und hingegen ein moralischer Erweiß geführt werden könnte, daß sie noch nicht fähig sind ein gutes Trauerspiel zu liefern, überlaße ich Dero eigner Erwägung. Endlich sind die Richter, Sie und Hrn. Canonic.(Breitinger)ausgenommen, von einer solchen Art, daß sie theils bey den Deutschen keine Autorität haben, theils das RichterAmmt über eine Tragödie selbst nicht übernehmenwürden;denn es kan jemand große Verdienstehaben und doch nicht der competierliche Richter in dergl. Sachen seyn. Aber genug von
241 dem Nicolai, nach einer Verlängerung der Einsendefrist, gegen Ende des Jahres 1757 lediglich drei Dramen erhalten hatte, schrieb er den Wettbewerb im Frühjahr 1758 nochmals aus. An dieser zweiten Ausschreibung wollte sich Bodmer inkognito beteiligen. Als im April 1760 die eingereichten Dramen in der Bibliothek vorgestellt wurden, wollte Bodmer von seinem langjährigen Freund und Berliner Informanten Sulzer wissen, ob nicht »unter den Trauerspielen, die Nicolai für den Preis eingeschickt worden, eines gewesen, Friederich von Tokenburg betitelt«,17 dieses habe er nämlich »unter nordischem Namen« mit diesbezüglicher Bitte an Jakob Friedrich Feddersen (1736–1788) geschickt. Feddersen ist diesem Wunsch wohl nicht nachgekommen, Bodmer veröffentlichte sein Drama 1761 als eines der Drey neuen Trauerspielen.18 Bodmers erstes politisches Drama, der 1763 publizierte Julius Cäsar, ist als Weiterentwicklung dieser Dramensammlung anzusehen, wie bereits Bodmers Zeitgenossen betonten. Christian Felix Weiße erkannte trotz fehlender Verfasserangabe auf dem Titelblatt die Herkunft des Stückes und stellte den »deutschen Julius Cäsar« zu den Drey neuen Trauerspielen: Sie würden alle zu einer »Familie« gehören, die aus »einem Tollhause« entsprungen sei.19 Die derbe polemische Verurteilung von Bodmers Dramenschaffen erklärt sich im Rückblick (auch) als Generationenkonflikt: Seit etwa Mitte der 1750er Jahre artikulierte sich eine junge Kritikergeneration, die zunächst in Nicolai ihren mächtigsten Anführer hatte und sich selbstbewusst von den alten Parteien und Ansichten lossagte. Explizit hatte sich Nicolai im Vorwort der Bibliothek von den Zürchern und Leipzigern distanziert und sich prononciert außerhalb der beiden Lager des Literaturstreites verortet. Zusammen mit den negativen Urteilen über das Noah-Epos (vgl. Kap. 3.1.4) hatte er sich damit in Bodmers Augen zum neuen Gegner der Zürcher stilisiert. Seine neue Ästhetik stellte Nicolai in seiner Abhandlung vom Trauerspiele, in welcher die Bewertungskriterien des Dramenwettbewerbs dargelegt wurden, als Alternative zum Bisherigen vor. In Anlehnung an die Réflexions critiques sur la poésie et la peinture (1719) von Jean-Baptiste Du Bos sah Nico-
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meinen unreiffen Gedanken, so wie sie mir bey Durchlesung des Projects beygefallen. Wir können die Sache mündlich genauer verhandeln.« (Wieland an Bodmer, [September 1756], zit. nach Wieland (1963), S. 280f. (Hervorhebungen und Klammer im Original)). Bodmer an Sulzer, 9. August 1760, zit. nach Baechtold (1892), S. 640. Bodmer: Drey neue Trauerspiele. Nämlich: Johanna Gray. Friedrich von Tokenburg. Oedipus. Zürich 1761. [Christian Felix Weiße]: Julius Cäsar, ein Trauerspiel; herausgegeben von dem Verfasser der Anmerkungen zum Gebrauche der Kunstrichter. Leipzig, bey Weidemanns Erben und Reich. 1763. 78 Seiten. [Rezension]. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 10. Band, 1. Stück. 1763, S. 133–146, hier S. 133.
242 lai den einzigen Zweck der Tragödie in der »Erregung der Leidenschaften« und ging mit dieser Missachtung der moraldidaktischen Funktion des Theaters weit über die von Bodmer oder auch von Gottsched geäußerten Ansichten hinaus.20 Wahrscheinlich gründete das geplante Zürcher Konkurrenzausschreiben vor allem in dieser unterschiedlichen Poetik; 1757 hatte sich Bodmer entsprechend geäußert: »Wir könnten den Preis[,] der für das Trauerspiel ausgesetzt ist, leicht verdienen, aber wir verwerfen diese Richter. Es sind alles Nicolaiten […].«21 Seine Parodien auf verschiedene Werke Lessings zeugen ebenfalls davon, dass Bodmer mit der Poetik und der Moral der jungen Generation nicht einig war.22 Seine abschätzige Rede von den »Nicolaiten« gibt auch zu verstehen, dass er sich nicht nur mit einer einzelnen Person konfrontiert sah, sondern mit einer, von Bodmer allerdings nicht näher bestimmten Gruppe, die sich ideell und/oder räumlich um Nicolai scharte.23 Friedrich Just Riedel (1742–1785) nannte diese Gruppe, die sich gleichzeitig gegenüber der Zürcher und der Leipziger Streitpartei aufstellte, in seinen Briefen über das Publikum summarisch die »Berliner« und charakterisierte sie durch ihre Zeitschriften.24 Mit Nicolai, Lessing, Mendelssohn und Weiße lässt sich somit der ›harte Kern‹ von Bodmers Gegner ausmachen, zu dem sich je nach Gelegenheit weitere Parteigänger hinzugesellen konnten.25 20
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Nicolai: Abhandlung vom Trauerspiele. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften, Bd. 1, 1. Stück, 1757, zit. nach ders. (1991), S. 169–194, hier S. 173. Bodmer an Sulzer, 12. Juni 1757, zit. nach Bodmer (JC), S. 82. Vgl. hierzu zuletzt Dirk Niefanger: Nicht nur Dokumente der Lessing-Rezeption: Bodmers literaturkritische Metadramen ›Polytimet‹ und ›Odoardo Galotti‹. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer(2009), S. 410–428, und Katja Fries: Bodmers Lessingparodien als Literaturkritik. In: ebd., S. 429–456. Nicolais führende Rolle im Kreis der jungen Literaten analysierte zuletzt MarkGeorg Dehrmann: Kritik, Polemik und Ästhetik beim frühen Friedrich Nicolai. In: Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hg. v. Rainer Falk, Alexander Koˇsenina. Hannover 2008, S. 29–43. Friedrich Just Riedel: Briefe über das Publikum (1768). Hg. v. Eckart Feldmeier. Wien 1973 (Wiener Neudrucke,4), S. 88. – Als Organe der Berliner Partei führt Riedel die Briefe über den itzigenZustand der schönenWissenschaften(1755, Nicolai), die Bibliothek der schönen Wissenschaften (seit 1757 herausgegeben von Nicolai und Mendelssohn, später von Chr. F. Weiße) und schließlich die Briefe, die neueste Literatur betreffend (zwischen 1759–1765 von Lessing, Mendelssohn und Nicolai herausgegeben) an. Wie oben angedeutet,dürfte für Bodmer wohl Sulzer der wichtigsteInformantüber die »Berliner« gewesen sein, da sich dieser regelmäßig mit Nicolai (und Anderen) im 1748 gegründeten Berliner Montagsklub traf (vgl. Kenneth Keeton: The ›Berliner Montagsklub‹. A Center of German Enlightenment. In: Germanic Review 36, 2 (1961), S. 148–153, insbes. S. 149). Den Streit mit den Berlinern beleuchtet Jakob Minor: Christian Felix Weiße und seine Beziehungen zur deutschen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Innsbruck 1880, S. 263–280. Er folgt der Darstellung in Christian Felix Weißens Selbstbiographie.Herausgegebenvon dessen Sohne Christian Ernst Weiße und dessen SchwiegersohneSamuel Gottlob Frisch. Mit Zusätzen von dem Leztern. Leipzig1806, S. 107–113, greift aber auch auf GerstenbergsSchil-
243 Bodmers Auseinandersetzung mit den Berlinern erachtete auch Gerstenberg in seinem Dritten Brief über Merkwürdigkeiten der Literatur aus dem Jahre 1766 als wichtigen Impuls für Bodmers politische Dramen. In satirischer Absicht fingierte Gerstenberg dort einen Brief, mit dem der namentlich nicht genannte Bodmer einen Herausgeber für seinen Julius Cäsar sucht. In dem Schreiben wird auch die Rezeption der früheren Dramen Bodmers angesprochen und somit der (literar-)historische Kontext ausgebreitet, in dem Bodmers erstes politisches Drama erschienen war. Aufgrund seiner früheren dramatischen Werke, vor allem der Drey neuen Trauerspielen, seien, so der fiktive Briefschreiber, die »Kunstrichter in Berlin und Leipzig« von einem »Taumel« ergriffen worden und hätten danach getrachtet, ihn als »gezwungene[n] und schlechte[n] Poeten« zu diskreditieren und »lächerlich zu machen«.26 Man werfe ihm vor, als Dichter nicht mit der »Stimme der dramatischen Tugend« zu sprechen, vielmehr würden seine Dramen lediglich »gewisse Züge der veralteten Tugend, die Euripides und Sophokles, Xenophon, Thucidides und Plutarchus in körperlicher Gestalt abgebildet« hätten, in den »dramatische[n] Personen« erneut vorstellen.27 Die Rezensionen seiner Stücke hätten ihn, so der fiktive Bodmer, »Schachmatt« gesetzt; den »kurzen Triumf« der »obotritischen Geyer«, d.h. der Berliner Rezensenten könne er aber mit »leidende[r] Geduld« ertragen.28 Denn durch den Julius Cäsar sollten nun diese »finstern Tage hellern Platz machen«: Dieses Drama wolle er »unter die deutschen Zuseher«, »auf den Kampfplatz« werfen und so veranlassen, dass die »deutschen Kunstrichter dieses Zankapfels halber mit sich selbst zwiespältig werden«. Diejenigen, die ihn früher verspottet hätten, sollten ihn nach der Lektüre dieses Dramas zu einem »Genie« erklären.29
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derung zurück (vgl. unten). Erich Meissner: Bodmer als Parodist. Naumburg 1904 (Diss.), S. 69–70 und S. 79–80, folgt der Darstellung Minors und bietet keine neuen Einsichten. Gerstenberg: Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur. Erste und zweite Sammlung. (1766). Hg. v. A. von Weilen, Heilbronn 1888 (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, 29), S. 24. Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25f. Diese Bestimmung erhebt Gerstenberg ironisch zur Gattungsdefinition des politischen Dramas: Die öffentliche Funktion bestehe darin, als Zankapfel zu dienen und die Kritiker in zwei Lager zu spalten. – Minor folgt auch Gerstenbergs Schilderung über weite Strecken, ohne allerdings seine Quellen anzugeben: »Er [Bodmer; J. R.] verfasste einen ›Julius Cäsar‹, ein politisches Trauerspiel, welches er wie einen Erisapfel unter die deutschen Kritiker werfen wollte. Die Kritik sollte ihre eigene Blamage unterzeichnen. Zu dem Zwecke wandte er sich an einen gewissen Gellius, der sich durch seine Anmerkungen für Kunstrichter bereits als berufener und verrufener Kritikomastyx herausgestellt hatte. Dieser […] sollte das Werk in Leipzig selbst in den Druck geben, und mit dem Verfasser [Bodmer; J. R.] das Vergüngen haben, die deutschen Kunstrichter dieses Zankapfels halber
244 Deutlich gibt Gerstenbergs Schilderung zu verstehen, dass Bodmers Dramen in Auseinandersetzung mit aktuellen Entwicklungen des literarischen Marktes entstanden waren. Auch die kurze Poetik des politischen Trauerspiels, die Bodmer in zwei Artikeln 1769 und 1774 veröffentlichte, reagierte auf kurz zuvor erschienene Rezensionen seiner politischen Dramen. 1769 nahm Bodmer eine negative Rezension seiner Dramen im Nouveau Journal Helvétique, welche wie die deutschen Kritiken die dramaturgische und sprachliche Gestaltung der Dramen für missraten hielt,30 zum Ausgangspunkt, seine Ansichten dem Publikum zu erläutern.31 Seine Stellungnahme erschien unter dem Titel Réflexions sur l’annonce des nouvelles pièces de théatre de M. BODMER in der Dezemberausgabe des Nouveau Journal Helvétique und enthält bereits die wesentlichen Aspekte des 1774 in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste abgedruckten Artikels.32 Auch Sulzer verweist in der von ihm verfassten Einleitung zum Lexikonartikel Politisches Trauerspiel auf die schlechte Resonanz, die Bodmers Dramen erfahren hätten.33 Bodmers Ausführungen entzündeten sich an der erfahrenen Kritik, als »Kapitulation« vor dem Publikum sind sie, anders als Meier meint, nicht zu verstehen.34 Vielmehr nutzte Bodmer seine poetologischen Reflexionen, um seinerseits Kritik am zeitgenössischen Dramenschaffen und am
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mit sich selbst zwiespältig werden zu sehen, wie sie, die armen Betrogenen, eben den als ein Genie erheben wollten, den sie […] [früher] als einen gezwungenen Poeten verspottet hätten.« (Minor (1880), S. 270). – Aufgrund einer solch parteiischen Literaturgeschichtsschreibung erstaunt es nicht, dass Bodmer als Autor lange Zeit nicht beachtet wurde. Der Rezensent hält den »ton de ces Drames […] peu naturel«, die Dialoge seien »sans intérêt, sans nœud & sans intrigue« und lehnt deshalb die Dramen ab (Anonym: Neue theatralische Werke. Nouvelles piéces de theatre de Mr. Bodmer, Professeur à Zuric, Ie Partie. Lindau 1768. In: Nouveau Journal Helvétique, ou Annales littéraires et politiques de l’Europe et principalement de la Suisse. Dediées au Roi. Neuchâtel September 1769, S. 295–296, hier S. 295. Der Hinweis findet sich bei Rodolphe Zellweger: ›O Haller! ô Gessner! ô Bodmer!‹ Le ›Journal helvétique‹ et la littérature suisse-allemande. In: Musée neuchâtelois 16, 3 (1979), S. 123–138, hier S. 130. Bodmers Ausführungen geht eine kurze Einleitung der Herausgeber voraus, die Bodmer als Verfasser des folgenden Artikel nennt: »[…] [N]ous nous faisons un devoir de publier les raison que M. BODMER allégue lui-même en faveur de son Ouvrage. Voici la piéce qu’il nous a fait parvenir; elle annonce des vûes dignes d’un vrai Patriote.« (Nouveau Journal Helvétique, Decembre 1769, hier zit. nach Bodmer (JC), S. 64). Vgl. Bodmer (JC), S. 70. – Anthony Scenna erbrachte mit einem Auszug aus einem Brief von Sulzer an Bodmer (vom 1. Juni 1771) den Nachweis, dass Bodmer der Autor dieses Lexikonartikels ist; vgl. Anthony Scenna: The Treatment of Ancient Legend and History in Bodmer. New York 1937, S. 77. – Bodmers Urheberschaft ist aber auch durch einen Brief Bodmers bezeugt: »Sehen Sie, mein Liebster, ob Sie aus dem Blatt über das politische Schauspiel etwas machen können.« (Bodmer an Sulzer, 23. März 1771, zit. nach Zehnder (1875), S. 433). Meier (1993), S. 9.
245 vorherrschenden Geschmack des Publikums zu üben. Selbstbewusst und durchaus auch polemisch setzte Bodmer andere normative Maßstäbe als seine Zeitgenossen.35 Bodmer beginnt seine Erläuterungen mit einem Hinweis auf die Neuheit seiner Dramen, die er gleichzeitig auch historisch legitimiert. Mit seinen Lesedramen habe er ein »nouveau genre de drame« entwickelt,36 das nicht nach dem »goût« und den »caprices du parterre« eingerichtet sei, weshalb man auch auf die »petits artifices nécessaires pour piquer des spectateurs uniquement sensibles à des événements frivoles, voluptueux & grotesques« verzichten könne.37 Seine Dramen verlangten Leser, die einen »goût le plus naturel & des mœurs les plus simples« besitzen und dementsprechend auch einer im Stück dargelegten tiefgehenden Analyse eines Sachverhaltes aufmerksam folgen könnten.38 Inhaltlich stehen Bodmers Dramen in deutlicher Opposition zum zeitgenössischen Theater: Seine Dramen ›inszenierten‹ die »Vaterlandsliebe«, wohingegen die Stücke der anderen Autoren vor allem die »Weiberliebe« inszenieren würden,39 er thematisiere »des intérêts de la Nation, de sa prospérité, de ses droits, de son repos & de sa sûreté«,40 die anderen Dichter fänden ihren »Enthusiasmus in der Liebe«41 und in »persönlichen Angelegenheiten«.42 Diese inhaltliche Bestimmung gibt zu verstehen, dass in Bodmers Augen die meisten zeitgenössischen Dramatiker die Gattungskonventionen der Tragödie nicht mehr beachteten. 1741 hatte Bodmer in den Critischen Betrachtungen die Tragödie auf die Darstellung des öffentlichen Lebens verpflichtet, der Komödie hingegen »das Verhalten und den Wandel im Privatleben, zwischen sonderbaren Personen« als Stoff zugeschrieben (vgl. Kap. 1.4).43 In den 1750er Jahren hatte sich der Stoffbereich der 35
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Die aggressive Streitkultur im 18. Jahrhundert versteht Steffen Martus als Verfahren einer Literaturkritik, die sich nicht mit der Bewertung eines konkreten Werkes zufrieden gibt, sondern vor allem um die öffentliche Wahrnehmung eines Werkes bemüht ist; vgl. ders.: Werkpolitik.Zur LiteraturgeschichtekritischerKommunikation vom 17. bis ins 20 Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin, New York 2007 (Historia Hermeneutica, Series Studia, 3), insbes. S. 145–168 (mit Blick auf Bodmer). Bodmer: Réflexions sur l’annonce des nouvellespiéces de théatre de M. BODMER [sic], hier zit. nach Bodmer (JC), S. 66. Ebd., vgl. auch Bodmer: Politisches Trauerspiel, zit. nach Bodmer (JC), S. 74. Bodmer (JC), S. 66, vgl. auch ebd., S. 77 (Art. Politisches Trauerspiel). Ebd., S. 77 (Politisches Trauerspiel). Ebd., S. 66 (Réflexions). Ebd., S. 76 (Politisches Trauerspiel). Ebd., S. 71 (Politisches Trauerspiel). Bodmer (PG), S. 433. – Es sei hier nochmals ein Teil von Bodmers Definition der Tragödie von 1741 zitiert, der er in den 1760/70er Jahren treu bleibt: »Der Haß gegen die Tyrannie, die Ehrfurcht gegen die Majestät, die Liebe der Friedfertigkeit, die Dapferkeit im Streit für das Vaterland, das Lob der Gerechtigkeit, der Künste,
246 Tragödie im Zuge der ›Emotionalisierung‹ des Theaters gerade zum Privaten hin geöffnet, was sich im bürgerlichen Trauerspiel, für das Nicolai in seiner Abhandlung den Begriff »rührende[s] Trauerspiel[ ]« vorschlug,44 deutlich manifestiert. Dieser Entwicklung stellte sich Bodmer entgegen. Damit war er nicht alleine; auch Sulzer legte seine Auffassung der Tragödie in kritischer Diskussion mit dem rührenden bzw. bürgerlichen Trauerspiel dar: Diejenigen irren sehr, welche in dem Trauerspiel den Zuschauer durch übertriebene Empfindlichkeit, durch Heulen und Klagen, zu rühren suchen, da die Großmuth und Gelassenheit bey dem Unglük edler ist, als die große Empfindlichkeit. Durch Heulen und Klagen wird nur der Pöbel gerührt […].45
Die Hauptpersonen des Trauerspiels sollten nicht aus dem »Privatstand« genommen werden, sondern von »hohem, öffentlichen Charakter« sein.46 Folglich sollten auch nicht die »Unglücksfälle der Verliebten« inszeniert werden,47 sondern die »Liebe zur Freyheit, die Begierde nach edlem Ruhme, de[r] Eifer für das allgemeine Beste, Abscheu und Widersetzung gegen Gewalttätigkeit; Verachtung des Privatinteresse, selbst des Lebens, wenn es auf den Dienst des Staates ankommt, und andre große heroische Gesinnungen«.48 Allerdings räumte Sulzer wie Bodmer ein, dass nicht solche Tragödien, sondern »Trauerspiele von zärtlicherm Inhalt fast durchgehends, besonders in Deutschland, den allgemeinesten Beyfall« erhalten würden.49 Beide Schweizer beurteilten also das zeitgenössische Theaterschaffen als Fehlentwicklung, da es nicht mehr mit den ursprünglichen Gattungsanforderungen übereinstimmte. Beide riefen dementsprechend die dramatische Tradition in Erinnerung, die sie beide fortgesetzt wissen wollten. Bodmer wie Sulzer legitimieren ihre Tragödienauffassung im Rückgriff auf das antike griechische Theater; beiden geht es um eine Fortführung und Aktualisierung des Theaters der griechischen Polis. Damit greifen sie eine Denkfigur auf, die 1773 auch Louis-Sébastien Mercier (1740–1814) in seinem Essai sur l’Art Dramatique vertrat: Quelle sera donc la tragédie véritable? Ce sera celle qui sera entendue & saisie par tous les ordres de citoyens, qui aura un rapport intime avec les affaires politiques, qui tenant lieu de la tribune aux harangues éclairera le peuple sur ses vrais intérêts,
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und dergleichen, wodurch der Staat befestiget, die bürgerliche Gesellschaft verbessert, das Völckerrecht in das Hertz eingepflantzet wird, sollte hier das Ziel und Augenmerck seyn.« (Bodmer (PG), S. 432f.). Nicolai (1991), S. 179. Sulzer: Tragödie, Trauerspiel. In: Allgemeine Theorie der schönen Künste […]. 2. Teil. Leipzig 1775, S. 789–805, hier S. 793. Ders.: Tragisch. In: ebd., S. 787–789, hier S. 788. Ebd., S. 793 (Tragödie, Trauerspiel). Ebd., S. 788 (Tragisch). Ebd.
247 les lui offrira sous des traits frappans, exaltera dans son cœur un patriotismeéclairé, qui lui fait chérir la patrie dont il sentira tous les avantages. Voilà la vraie tragédie, qui n’a gueres été connue que chez les Grecs, & qui ne fera entendre ses fiers accens que dans un pays où ceux de la liberté ne seront pas étouffés.50
Auch Schiller berief sich 1784/85 in seinen Reflexionen über die Frage Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? auf das griechische Theater, um die befördernde Wirkung der Bühne auf den sozialen und politischen Zustand einer Nation zu verdeutlichen.51 Dabei folgte er vor allem Merciers Abhandlung, wie die Kommentatoren der Nationalausgabe betonten.52 Schiller kannte jedoch auch die Ausführungen von Sulzer über die Tragödie,53 Bodmers Ansichten über das politische Drama dürften ihm somit auch bekannt gewesen sein. Anders als Sulzer und Bodmer äußerte sich Schiller in seiner Abhandlung nicht zum konkreten Inhalt einer Tragödie; für Bodmer und Sulzer war jedoch klar, dass die damals beliebte theatralische Darstellung eines privaten (Liebes-) Schicksals einer Einzelperson keinen gesellschaftlichen Nutzen haben könne. Aufgrund seiner ›andersartigen‹ Dramaturgie betonte Bodmer explizit – und das war als Verweis an seine Kritiker gedacht –, dass man seine Dramen nicht nach den gängigen Regeln beurteilen dürfe: »Qu’y a-t-il donc le plus mal imaginé, que de juger de ces drames politiques, selon les régles faites pour plaire au parterre?«54 Auch wenn seine Dramen nicht mit den verbreiteten Ansichten über das zeitgenössische Theater übereinstimmen würden, so sei es »une sorte de despotisme dans la République des lettres, si l’on vouloit interdire à un Auteur la liberté de se servir de la forme dramatique, sans destiner son ouvrage au Théatre«,55 denn auch als Lesedramen hätten seine Stücke einen grossen gesellschaftlichen Nutzen: EN [sic] considérant cependant combien la seule forme extérieure des représentations dramatiques, a d’ascendant sur l’esprit & sur le cœur humain; combien le 50
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L.-S. Mercier: Du Théâtre ou nouvel essai sur l’Art Dramatique. Amsterdam 1773 (Faksimile-Nachdruck Hildesheim, New York 1973), S. 39f. – Merciers Abhandlung wurde 1776 ins Deutsche übersetzt: Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen [von Heinrich Leopold Wagner]. Leipzig 1776. Vgl. Schiller: Schillers Werke. Nationalausgabe, 20. Bd. Philosophische Schriften, 1. Teil. Unter Mitwirkungvon Helmut Koopmann hg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 99. Im Kommentarband werden die »engen Beziehungen zwischen einzelnen Gedankengängen Schillers und Merciers« dargelegt; vgl. Schiller: Schillers Werke. Nationalausgabe, 20. Bd. Philosophische Schriften, 2. Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. v. Benno von Wiese. Weimar 1963, S. 142. Schiller beruft sich an einer Stelle explizit auf Sulzers Lexikon; vgl. Schiller (1962), S. 90. Bodmer (JC), S. 67, ebenso im Artikel Politisches Trauerspiel (vgl. ebd., S. 73f.). Ebd., S. 66.
248 Théâtre captive nos sens & change notre fac¸on de penser; je crois que l’on pourroit se servir de ce genre, pour sauver de l’oubli l’ancien patriotisme, & l’amour du bien public. Je crois qu’il ne seroit pas impossible d’obtenir ce but du moins en partie par la seule lecture de quelques scênes, qui exprimeroient des caractéres instructifs; quand même elles ne seroient pas présentées aux yeus & à l’imagination par la vivacité du jeu des acteurs. C’est dans cette persuasion que j’ai écrit quelques piéces en ce genre pour occuper dans la retraite du cabinet des lectuers intelligens & judiceux […].56
Wegen der Intention, beim Leser Patriotismus und Liebe zum Allgemeinwohl hervorzurufen, traf Bodmer einen bewussten Entscheid für eine literarische Gattung, die sich im Gattungsgefüge des 18. Jahrhunderts zunehmend profilierte und von Bodmer als wirkungsmächtiges Medium zur Belehrung und Beeinflussung des Publikums eingeschätzt wurde. Auch wenn er mit seinen Dramen auf die Bühneninszenierung verzichtete und damit einen der wesentlichen Aspekte des von ihm benutzten Mediums wieder aufhob, so anerkannte er doch den gesellschaftlichen Einfluss des Theaters. Damit belegt er eine für das 18. Jahrhundert typische Auffassung, die Koeben als Ausgangsbasis aller am Streit um den Nutzen der Schaubühne beteiligten Wortführer ansieht: »Beide Parteien [die Gegner und die Befürworter des Theaters, J. R.] erkennen das Theater mehr oder weniger ausdrücklich als ›Macht‹, als politische Größe neben oder gegen Sitten und Regierung an«.57 Bodmer geht aber nicht wie Rousseau in seiner Lettre à M. d’Alembert (1758) auf radikal ablehnende Distanz zum Theater, sondern ist bestrebt, seine Art des Dramas als vorherrschenden Dramentypus zu etablieren und somit das bestehende Theater gewissermaßen ›von Innen her auszuhöhlen‹ und überflüssig zu machen: Auf die Schaubühne zu treten ist über meinen Wunsch. Ich hoffe es sei so viel Ernst und gesunde Politik in meinen Schauspielen, daß man die Logen und das Parterre leer stehen ließe. Ich nehme mir allein vor, politische und moralische Wahrheiten zu schreiben, und dann sie wirken zu lassen, was sie können.58
An die Stelle der bisherigen Dramen sollen Bodmers politische Dramen treten; entsprechend ausführlich spricht Bodmer auch in beiden Artikeln von den Differenzen zwischen seinem politischen und dem aktuell vorherrschenden Drama. Dabei geht es ihm nicht nur um Fragen der Poetik: Wenn Dramen im Sinne Bodmers nur noch gelesen würden, dann hätte sich das moderne rührselige Theater, in dem private Leidenschaften das vorherrschende Thema sind, überlebt. Die neue Dramaturgie würde dann eine politische Erneuerung anzeigen und also bedeuten, dass der 56 57
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Ebd., S. 65f. – Diese Begründung fehlt im Lexikonartikel Politisches Trauerspiel. Thomas Koebner: Zum Streit für und wider die Schaubühne im 18. Jahrhundert. In: ders. (1993), S. 166–200, hier S. 166. Bodmer an J. H. Meister,1768 (ohne genaueresDatum), zit. nach Mörikofer (1861), S. 220, auch zitiert bei Tobler (1900), S. 120.
249 Staat auf republikanischen Grundsätzen basiere. Während nämlich in einer Republik bzw. in den griechischen Republiken das Theater vom Volk dazu auserkoren worden sei, es »in den Empfindungen von dem Werthe popularer Grundsätze und Rechte« zu unterrichten und zu unterhalten,59 so habe der Monarch das Theater nur zur Darstellung »persönliche[r] Leidenschaften« verpflichtet:60 Auf dem Theater der Staaten, in welchen die Wolfahrt und das ganze Schiksal der Nation Einem oder Wenigen überlassen ist, wo die Mittel das Volk glüklich zu machen Staatsgeheimnisse sind, die in dem Cabinette verschlossen bleiben, schien es nicht allein überflüßig, sondern gefährlich, und dem unbedungenen Gehorsam zuwider, daß den Gemeinen Neigung zu Regierungsgeschäfften eingepflanzt, oder ihnen hohe Gedanken von popularen Vorzügen eingepräget würden. Darum haben die Genien, die für solche Schaubühnen schrieben, die Nationalabsichten und Gesichtspunkte verlassen, und sich mit persönlichen Angelegenheiten abgegeben.61
Die Geschichte des modernen Theaters sieht Bodmer als absolutistisch manipulierten Prozess der politischen Entmündigung des Bürgers:62 Das Theater in der Monarchie lenke das Interesse der Untertanen von Staatsangelegenheiten weg auf die private Sphäre.63 Einen Gedanken Rousseaus aus der Lettre à M. d’Alembert aufgreifend, verweist Bodmer hierbei auf die »französischen Stüke«, die das »Gemüth« zersteuen und den »Privatmann, nicht nur aus den nationalen, sondern selbst aus den bürgerlichen und wirthschaftlichen Empfindungen und Geschäfften« herausnehmen würden: »Und dieses ist schon genug, die Republiken davon abzuschreken, wiewol eben deswegen der Monarch sie empfehlen mag.«64 Diesen Prozess der absolutistischen Machtsicherung lokalisiert Bodmer
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Bodmer (JC), S. 71. Bodmer (JC), S. 72. Bodmer (JC), S. 71. – Wie Bodmer war auch Mercier davon überzeugt, dass ein politisches Theater in der Monarchie nicht statthaben könne: »Gouvernés par des monarques, n’ayant aucune participation aux affaires publiques, devant immoler nos projets patriotiques, & même nos pensées, que nous sommes loin de la tragédie nationale! […] Le po¨ete politique nous est […] étranger […].« (Mercier (1773), S. 27f.). – Bodmer bezeichnete Merciers Abhandlung als »Apologie« seiner Ansichten über das Drama (Bodmer an Schinz, 13. Mai 1774, zit. nach Wehrli (1937), S. 54). – Ob Mercier Bodmers Ausführungen und Dramen kannte, ließ sich bis anhin nicht eruieren. Die Verzahnung von politischer und poetologischer Kritik findet sich im Nouveau Journal Helvétique erst ansatzweise ausgeprägt. – Auch Fritz Winterling verweist auf die »scharfe Zeit- und Kulturkritik« von Bodmers Lexikonartikel (Fritz Winterling: Das Bild der Geschichte in Drama und Dramentheorie Gottscheds und Bodmers. Frankfurt 1955 (Diss.), S. 168). So auch schon Schulz: Die Dramen in absolutistischen Staaten besäßen »zum Vorteil des Monarchen eine ideologische Funktion, indem sie von politischen Problemen ablenken« würden (Schulz (1988), S. 139). Bodmer (JC), S. 72.
250 explizit nur in Frankreich, er erkannte ihn jedoch auch in den deutschen Staaten: Jetzt hatte ich Ihnen noch sagen wollen, que les intérêts de la nature et de la liberté ne suffisent pas pour toucher le théâtre de Paris. […] In Deutschland sind die Begriffe von allgemeinen Rechten der Menschen noch unbekannter, als in Frankreich, wo man wenigstens aus den Uebersetzungen mehr mit den alten Griechen und Römern bekannt ist.65
Mit seinen Dramen will der Republikaner Bodmer diesen staatsbedrohenden Zerfall, der neben dem sozialen Zusammenhalt auch die Volkswirtschaft schwächt, rückgängig machen, worauf schon Wölfel hinwies: »Die erklärte raison d’être seiner Schauspiele ist die Rückverwandlung des Bürgers, den der monarchische Absolutismus zum Untertan degradiert und zum bloßen Privatmann entpolitisiert hat, in den patriotischen citoyen«.66 Dass diese Absicht Gefahr läuft, sich als direkte politische Agitation zu manifestieren, erkannte Bodmer. Im Bewusstsein, dass seine Dramen (sozial-)politischen Sprengstoff enthielten, schränkte Bodmer deshalb den Leserkreis seiner Dramen nur auf eine kleine Elite ein, die mit den in den Stücken erörterten Fragen auch ›umgehen‹ konnte und die Reflexion über politische Verhältnisse vor die konkrete Tat stellte. So sagte er schon 1759 über sein unpubliziertes Drama Die Schweizer über dir Zürich, dass es »ganz nicht für das Publikum geschrieben« sei, sondern »allein für etliche wenige, weitersehende, tieferdenkende und vertraute, wohlgesinnte Freunde«.67 Geschuldet ist die Eingrenzung des Leserkreises der thematischen Brisanz der Stücke: »Aber sie [die politischen Dramen; J. R.] sind auch gefährlich. Durch das Anschauen dieser römischen und griechischen Seelen möchten in die Seele des Volkes Funken fallen, die Feuer darinn auffachen könnten, das itzt schläft.«68 65
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Bodmer an J. H. Meister, 30. Dezember 1766, zit. nach Giroud (1921), S. 93, vgl. auch: »Die Deutschen haben noch die ersten Anlagen nicht, zu begreifen, dass sie eine bessere Moral und politischere Maximen haben könnten […].« (Bodmer an J. H. Meister, 5. Januar 1768, zit. nach ebd.). Wölfel (1987), S. 75. Bodmer an Laurenz Zellweger, 28. Januar 1759, zit. nach Giroud (1921), S. 87, vgl. zu diesem und den anderen unpublizierten Dramen Bodmers jetzt Arnd Beise: ›Republikanischer und historischer als unsere Kadaver von Republiken vertragen können‹. Bodmers ungedruckte vaterländische Dramen. In: Lütteken, MahlmannBauer (2009), S. 327–349, und ders.: ›Gute Bürger und Patrioten dem Staat zu pflanzen‹. Johann Jakob Bodmers ungedruckte Zürich-Dramen. In: Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Hg. v. Ulrich Johannes Schneider. Berlin, New York 2008, S. 301–308. Bodmer, zit. nach Scenna (1937), S. 81, vgl. auch: »[…] [D]ann besann ich mich, daß sich in dieser dramatischen Art Staatsveränderungen bearbeiten, und politische Wahrheiten, die den Regierungen verhaßt sind, ungestraft sagen lassen, und schrieb die politischen Dramen, ohne daß ich die geringste Praetension auf ihre theatralische Aufführung machete.« (Bodmer (1892), S. 114).
251 Bodmer sah sich mit einem Dilemma konfrontiert: Einerseits wollte er mit seinen Dramen gesellschaftlich etwas verändern, andererseits sollte diese Veränderung aber auch nicht als gewaltsame Revolution vonstatten gehen.69 Seine Dramen sollten als Lehrstücke die Gesinnung allmählich und auf friedlichem Weg beeinflussen.70 Wie gross seine Abneigung gegen Gewalt bzw. revolutionäre gesellschaftliche Umbrüche war, zeigt sich etwa auch an Bodmers Kommentar zur Hinrichtung von Samuel Henzi, die 1749 europaweit für Aufsehen sorgte.71 Bei aller Hochachtung, die Bodmer für Henzi hatte, lehnte er dessen ›revolutionäres‹ Verhalten entschieden ab. Er halte Henzi für den »redlichsten Mann«, der eigentlich nur »[R]emeduren in der Regimentsbesetzung machen« wollte, aber keine »Conjuration«: »Hätte ich etwas von seinen bösen Reformgedanken gemerket, so hätte ich ihn mit allen Kraften davon abzurathen getrachtet. Ich habe tausend Motive gegen den Reformgeist; nicht nur wenn man kein Recht hat zu klagen, in welchen Fall ich ihn setze; sondern auch sogar, wenn er das göttliche Recht hätte.«72 Da Bodmer befürchtete, dass seine Dramen das Volk zu ähnlichen Handlungen verleiten könnten, wollte er ihm seine Stücke nicht zu lesen geben. Er strebte mit seinen politischen Dramen eine »Aufklärung von oben« an: Zunächst sollten die Amtsinhaber die notwendigen politischen und institutionellen Reformen einleiten, um das Volk politisch zu erziehen. Erst wenn das Volk dadurch genügend Mündigkeit erlangt hätte, auch am politischen Leben zu partizipieren, sollte es Bodmers Dramen lesen dürfen. 69
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Dies im Gegensatz zu Meier, der in Bodmers Dramen den Aufruf zur Revolution erkennt, wie er in seiner Analyse von Bodmers Timoleon von Korinth darlegt: »Die Modifikationen am Stoff laufen hier übereinstimmend darauf hinaus, eine Analogie zwischen der Situation der Patrioten im Stück und derjenigen der Patrioten in der zeitgenössischen Wirklichkeit herzustellen. Die poetische Darstellung eines historisch beglaubigten Tyrannenmordes bietet sich aufgrund dieser Parallele zwischen Text und Wirklichkeit als Gelegenheit an, auch für die politische Gegenwart die Chance einer revolutionären Veränderung im Sinne des antiken Tugendideals aufzuzeigen (oder sich zumindest im Bewußtsein von der Notwendigkeit einer sittlichen und politischen Erneuerung an der eigenen Tugendhaftigkeit zu erbauen).« (Meier (1993), S. 269). Diese Einschätzung hat Meier zuletzt wieder revidiert. Die Dramen strebten keine politische Revolution an, sondern es gehe »zuallererst um die theoretische Verhandlung politischer Konzepte« (Albert Meier: ›Keine Fesseln von einem König!‹ Johann Jakob Bodmers Poetik des politischen Schauspiels. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (2009), S. 314–326, hier S. 324). Diese Art der Erziehung führte Bodmer in seinen Epen mehrfach literarisch vor (vgl. Kap. 3). Vgl. Urs Hafner: Auf der Suche nach Bürgertugend. Die Verfasstheit der Republik Bern in der Sicht der Opposition von 1749. In: Böhler, Hofmann, Reill, Zurbuchen (2000), S. 283–299, und Gotthold Ephraim Lessing: Samuel Henzi. Trauerspiel (Fragment). Nebst Briefen von Samuel Henzi an Johann Jacob Bodmer. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Weber, Rudolf Probst. Bern, Zürich 2000. Bodmer an Laurenz Zellweger, 21. Juli 1749, zit. nach Zehnder (1875), S. 341.
252 Der elitäre Leserkreis, die »Gesinnungs-Elite«,73 die sich mit den in den Stücken vertretenen Idealen identifizieren und die aufgeworfenen Fragen bedenken soll, wird von Bodmer explizit definiert. Es seien »populare, patriotische Personen, in deren Gemüthern die Privattriebe durch die öffentlichen niedergedrukt« seien,74 die als Einzige seine Dramen adäquat beurteilen könnten: In den Stüken, die für das Theater gewidmet sind, in welchen der Poet seine Personen mit dem Parterre und Logen empfinden und denken läßt, bekömmt der Zuseher eben daher das Recht, über das Werk zu urtheilen. Das politische Schauspiel ist allein dem Urtheil derer unterworfen, die sich aus dem Staat und seinen Verhältnissen mit den Rechten der Nation, und den Mitteln, die allgemeine Glükseligkeit zu befördern, eine Angelegenheit des Herzens und des Verstandes machen. Andern ist es eine fremde Provinz, in welche sie kein Recht haben, einzufallen.75
Gefragt ist nicht das Urteil des Kunstrichters, sondern dasjenige des Patrioten. Bodmer geht es nicht in erster Linie um eine ästhetische Beurteilung seiner Werke, sondern um die inhaltliche Auseinandersetzung. Wer sich also, wie Bodmers Kritiker, über die deklamatorische Redeweise der Figuren beklagt, gibt damit eigentlich zu verstehen, dass er nicht zur patriotischen Elite gehört.76 Erst in seinem Lexikonartikel gibt Bodmer mit seinen Ausführungen zur absolutistischen Kulturpropaganda eine historisch-politische Erklärung für den falschen Geschmack der meisten deutschsprachigen Leser und fügt damit, vor dem Hintergrund seiner Character-Lehre, dem poetischen Geschmack eine politische Dimension hinzu. Verdorben durch eine schlechte, d.h. absolutistisch-propagandistische Erziehung kann der Großteil der Leser keinen Gefallen an der Reflexion über gesellschaftliche Zustände finden. Allerdings – und hier zeigen sich die positive Kehrseite und Bodmers beinahe unerschütterliche Hoffnung – kann man die Leser auch bessern, wie Bodmer an Hess schreibt: Würden Sulzer, Klopstock für das Gute nur ein Drittel so viel arbeiten, als der phantastereireiche Wieland für den sybaritischen Geschmack, so würden die Lessinge, Klotze, Michaelis, Weißen sich der Empfindung der deutschen Nation nicht bemeistert haben. Sie [Hess; J. R.] werden doch wohl denken, daß meine Schauspiele nicht für die Sybariten in den Logen, und die Sclaven in dem Parterre geschrieben sind.77
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Wölfel (1987), S. 77. Bodmer (JC), S. 74. Ebd. Diesen Vorwurf erheben Bodmer und seine Anhänger auch gegenüber den Kritikern des Julius Cäsar; vgl. Bodmer (JC), S. 108–112. Bodmer an Hess, ohne Datum, zit. nach Mörikofer (1862), S. 220. – In seinem Lexikonartikel bezeichnet Bodmer das Parterre, d.h. das Volk lediglich als »Epicurer« (Bodmer (JC), S. 75) und vermeidet damit eine eindeutige, politische pejorative Bezeichnung wie in dem Brief an Hess.
253 Mit Klotz und Johann Benjamin Michaelis (1746–1772), aber vor allem mit Lessing und Weiße nennt Bodmer hier die literarischen Gegner – die »Nicolaiten« oder »Berliner«–, die diejenige Dramenpraxis verkörpern, gegen die Bodmer seine politischen Trauerspiele stellt. Bereits Schulz hatte darauf hingewiesen, dass Bodmer seine Dramatik »zu einem nicht unerheblichen Teil aus dem Gegensatz zum bürgerlichen Trauerspiel« entwickelt habe,78 Meier hat zuletzt die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Bodmer und dem ›Theater der Empfindsamkeit‹ in der Lessingschen Ausprägung herausgearbeitet und dabei auf »ideologische und/oder dramaturgische Widersprüche« hingewiesen.79 Indem Bodmer sich dagegen wehre, Rührung mit seinen Stücken hervorzurufen, verfolge er eine »rationalistische Rezeptionsstrategie«, die er aber gleichzeitig wieder ›dekonstruiere‹, wenn er beim Publikum Enthusiasmus für politische Fragen wecken möchte. Meier weist zwar darauf hin, dass Bodmer die »contradictio in adiecto«,80 die sich in der Rede von den begeisterten und gleichzeitig stoischen Seelen artikuliert, präzisiere und die Begeisterung als rational kontrolliert verstanden wissen wolle,81 ihm gerät aber Bodmers elitäre Publikumsvorstellung aus dem Blick. Es ist nämlich gerade die konkrete Definition des Publikums, welche die ›Widersprüche‹ innerhalb Bodmers Poetik auflöst und die politische Poetik als kongruent mit der Poetik der 1740er Jahre ausweist. Während Bodmer in den Critischen Betrachtungen das gemeine Publikum mit dem Drama affektiv und nach Möglichkeit auch rational erreichen wollte, sprach er um 1770 ein Publikum an, dass sowohl affektiv als auch rational ›erreichbar‹ sein sollte. Der anvisierte elitäre Leserkreis hat in Bodmers Augen sowohl die Verstandesfähigkeiten, das Gelesene zu reflektieren, als auch die emotionale Fähigkeit, sich von dem Geschehen bewegen zu lassen. Allerdings wird der elitäre, gelehrte Leser – wie die dargestellten Dramenhelden – nicht von den Emotionen übermannt, sondern hält emotional ›Maß‹. In dem französischen Artikel scheut sich Bodmer nicht, die Möglichkeit der
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Schulz (1988), S. 137; Schulz belässt es bei dem Hinweis. Meier (2009), S. 314. – Obwohl Bodmer mit Lessing in den »wirkungspoetologische[n] Prämissen« einig sei (ebd., S. 319), ziehe er unterschiedliche Konsequenzen: Wie Lessing hält auch Bodmer den Stoizismus nicht für bühnentauglich, fordere deswegen aber nicht, wie Lessing, die Aufführung von gemischten Charakteren, sondern propagiere stattdessen das Lesedrama. Während Lessing aus der Einsicht heraus, dass der ›Staat‹ als Thema des Dramas das Publikum nicht begeistern könne, den ›Menschen‹ auf die Bühne stelle, kritisiere Bodmer das apolitische Publikum; vgl. ebd., S. 319f. Ebd., S. 321. In diesem Zusammenhang zitiert Bodmer in seinem Artikel eine kurze Passage aus dem 99. Kapitel von Petronius’ Satyricon und wehrt sich damit gegen den Vorwurf des Fanatismus, der gegen die Zürcher Patrioten erhoben wurde; vgl. Bodmer (JC), S. 76, und Volz-Tobler (1997), S. 142–153.
254 pathetischen Darstellung für sein Drama zu beanspruchen.82 Gleichwohl steht die rationale Wirkungsstrategie im Vordergrund, was bereits Meister zu dem Urteil führte, dass Bodmers politische Dramen »im Grunde vielmehr politische Gespräche als eigentliche Schauspiele [seien]; mehr für den Leser als für den Zuschauer; mehr für den Geist und Verstand als für die Sinnen und die Imagination; hie und da gleichwol einzelne Szenen pathetisch«.83 Meier hat zuletzt dafür den treffenden Begriff »DebattenDramaturgie« geprägt,84 wobei er sich mit Bodmer einig weiß, der selbst die Wichtigkeit der reflektierenden Dialoge betont hatte.85 In den 1760er Jahren veränderte sich Bodmers Sicht auf das Publikum. Hatte er es ursprünglich als Einheit verstanden, so ›diversifizierte‹ es sich für ihn nun in eine unbelehrbare, lasterhafte, von den Leidenschaften dominierte Gruppe einerseits und in eine tugendhafte, belehrbare und reflektierende Gruppe andererseits, deren Verhaltensweisen nicht mehr miteinander in Einklang gebracht werden konnten. Bodmer glaubte, dass dem eingeschränkten Zielpublikum die vorgeführten Helden als Abbilder des natürlichen Menschen erscheinen würden, während diese dem Großteil der Leser als »Stoiker und Fanatiker« oder gar als »Chimären« vorkommen mussten.86 Seine politischen Dramen führen das Konzept der ars popularis fort, wenn auch nicht mehr auf einer egalitären Basis, sondern auf einer elitären. In den Poetiken von 1740 ging Bodmer stillschweigend von einer weitgehend homogenen Leserschaft aus, die sich lediglich hinsichtlich ihrer intellektuellen Fähigkeiten unterscheide, ansonsten aber dieselben Ideale besitze.87 Diese ideologische 82
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»LE TON [sic] politique qui domine dans ces drames n’exclut cependant pas le ton pathétique. L’Etat ou la nation peut affecter le héros de la piéce de l’émotion la plus vive. Il peut se trouver dans la situation la plus touchante; mais les grands intérêts des ces piéces qui regardent ordinairement la conservation ou la ruine de l’état, le maintien des loix & des mœurs, demandent de grandes ames qui s’arment contre le revers de la fortune d’un courage héro¨ıque, & qui dans les extrémités les plus désespérées ne se laissent abattre que pour quelques momens.« (Bodmer (JC), S. 67) – Ähnlich formuliert es Bodmer auch in der Vorrede der Politischen Schauspiele, in der er betont, dass er »alle Mittel zu rühren, und alle Rührungen« in seinen Dramen vermeiden würde, sofern nicht »das Herz […] zum Besten der Tugend und Ehre bewegt« werde (Bodmer: Vorrede. In: Politische Schauspiele. Marcus Brutus. Tarquinius Superbus. Italus. Timoleon. Pelopidas. Zürich 1768, unpag. Im Folgenden zitiert als ›PS, I‹). Meister (1783), S. 23f. Meier (2009), S. 319. Vgl. Bodmer (JC), S. 77. Bodmer (JC), S. 75. Vgl. zur ideologischen Prägung der Zürcher Poetik auch Thomas Sommadossi: ›Mögliches‹, ›Neues‹ und ›Wunderbares‹ in Johann Jakob Breitingers Critischer Dichtkunst (1740). In: Scientia Poetica 12 (2008), S. 44–68, insbes. S. 65. – Er folgt Einsichten von Reinhart Meyer: Restaurative Innovation. Theologische Tradition und poetische Freiheit in der Poetik Bodmers und Breitingers. In: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Hg. v. Christa Bürger, Peter Bürger, Jochen Schulte-
255 Übereinstimmung wurde Ende der 1760er Jahre zum wichtigsten Faktor der Poetik: Lediglich aufgrund dieser ideologischen Identität von Dramenpersonal und Leser lässt sich die politische Dramaturgie von Bodmer als ›Dramaturgie der Nähe‹ verstehen, die Bodmer schon in den 1740er Jahren vertrat. Bodmer verfolgte keine Dramaturgie der Distanz,88 war aber auch nicht wie im emotionalistischen Drama darum bemüht, den ›Menschen‹ im Sinne eines mittleren Helden aufzuführen, mit dem sich die Zuschauer identifizieren könnten (vgl. Kap. 1.4). Ihm ging es vielmehr um die Darstellung vorbildlicher (politischer) Verhaltensmuster, die dem Zuschauer als normative Zielpunkte für die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten dienen sollten. Von Beginn seiner Dramenproduktion an reflektierte Bodmer über die Leserschaft und suchte das Verhältnis zwischen seiner Literatur und seinen Lesern zu klären. In der Vorrede zu den Drey neuen Trauerspielen schrieb er: Ich habe die gute Meinung von meinen Zeitverwandten, daß das Geschlecht derjenigen nicht gänzlich untergegangen sey, welche an der Rechtschaffenheit, der Frömmigkeit, und Unschuld der Protagonisten im Trauerspiele Geschmack finden. Es sind noch Edle übrig, welchen […] ein Mensch, der unter dem Unglück kämpft, und nicht erliegt, ein angenehmes Schauspiel ist; die davon, als von etwas, das die menschliche Natur, und so auch sie, sehr nahe angehet, auf eine sanfte Art gerührt und eingenommen werden. Gleichwie sie die Tugend, die in körperlicher Gestalt erschiene, für den schönsten Gegenstand halten, der jedes wohlgebildete Gemüth in Entzückung setzen würde, also sind sie ganz Auge, einige Züge von derselben in einer dramatischen Person im Fleische zu erblicken. Für den Tumult der Leidenschaften, für das brausende Betragen, wodurch ein Gemüth, das nicht gern in sich selbst hineingeht, auf eine ihm erwünschte Art betrogen und zerrissen wird, nehmen sie die ruhige Stille, die Erhebung des Gemüthes, den nachdenkenden Tiefsinn, Sachen welche der Anblick der Menschlichkeit, der Hoheit und der Ehre der menschlichen Natur, ihnen gewähret.89
Bereits 1761 wusste Bodmer, dass seine Trauerspiele – und das zeigt sich auch an der Bezeichnung ›neue‹ Trauerspiele – nicht dem zeitgenössischen Publikumsgeschmack entsprachen, hoffte aber, dass seine Dramen ihre Leser finden würden. Seine Leser sollten nicht nur Gefallen an den rechtschaffenen, frommen und unschuldigen Protagonisten des Dramas haben, sondern sich auch mit den erhabenen poetischen Characteren identifizieren. Nur so würden sie von den Figuren emotional »gerührt«: »Seelen von vortrefflicher Tugend nachzudenken und
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Sasse. Frankfurt 1980 (Edition Suhrkamp,1040. Neue Folge, 40. Hefte für kritische Literaturwissenschaft, 2), S. 39–82. So Meier (2009), S. 321. Bodmer: Vorrede eines Freundes. In: ders. (1761), S. 3ff. – Da die Vorrede Bodmers poetologische Ansichten paradigmatisch wiedergibt, ist Bodmer wohl als Autor dieser Vorrede eines Freundes anzusehen.
256 nachzuempfinden kömmt nur gleichgearteten zu«.90 Auf der anderen Seite gebe es jedoch diejenige Leserschaft, die mit den sittlich-frommen Charactern wenig gemein habe und sich stattdessen am »Tumult der Leidenschaften« erfreue:91 Lasset uns der Wahrheit Zeugniß geben; wenn Cato, und andere ausserordentliche Charakter den Beyfall vermissen, so ist die wahre Ursache diese: Man denket und empfindet in den Logen und dem Parterre nicht mit ihnen. Es ist eine Anmerkung, die weniger Ehre dem Publico als dem Poeten machet, daß ein Stoicker in dem Trauerspiel eine unerträgliche Person seyn, und in der Comödie ein beständiges Gelächter verursachen würde. Und man hat nicht sehr übertrieben gesagt, daß die Vernunft auf der Schaubühne nichts tauge, den Beyfall zu erhalten. Ein Mensch ohne Leidenschaften, oder der sie beherrschet, wird diejenigen nicht sehr einnehmen, die Leidenschaftenhaben, die davon bemeistert werden, und ihren Neigungen geschmeichelt wissen wollen. Denn wer siehet sich gerne in einer Gestalt, die ihn sich selbst verachtungswürdig vorstellt?92
Die Dichotomie der Leserschaft artikulierte Bodmer also schon lange vor seinem Politischen Trauerspiel -Artikel, führte sie allerdings nicht auf eine politische Ursache zurück, sondern begründete sie auf der Ebene der Moral. Während er jedoch 1761 zunächst – wenn auch mit kritischem Unterton – nur konstatierte, dass es eine zweigeteilte Leserschaft gebe, radikalisierte sich in den folgenden Jahren diese Einsicht. So heißt es gleich zu Beginn der Vorrede der Politischen Trauerspielen von 1768, dass der Dichter sich nicht vorgenommen habe, »mit gesuchtem, kostbarem, kleinem Witze zu gefallen, noch das Gemüth in einen Taumel zu stürzen«. Wer solche Unterhaltung für »Leute von kleinem Geiste« suche, dem seien die vorliegenden Schauspiele nicht zu empfehlen.93 Diesen Teil der Leserschaft grenzte Bodmer 1768, wie auch im späteren Lexikonartikel, also explizit aus dem Kreis seiner Leser aus. Das unterhaltungssüchtige Publikum der bürgerlich-empfindsamen Trauerspiele wollte Bodmer mit seinen Werken dann nicht (mehr) erreichen: Wenn es wahr ist, daß Vernunft auf der Schaubühne nicht sehr bequem ist die Herzen zu gewinnen, und dieses verursachet den Fall seiner Stücke, so hat er sich nichts vorzuwerfen. […] Er ist zufrieden, wenn nur wenige Leute von dem Ernst, den jene Trübsinn nennen, in der Stille eines Blumengartens, oder in einem schattichten Walde etwas mehr als bloß reitzendes in seinen Vorstellungen finden.94
Aus der moralischen Perspektive heraus erklärt sich auch, weshalb Bodmer in dem Moment, da er Mitte der 1760er Jahre als politischer Dramenautor in die Öffentlichkeit tritt, neben der Frage nach der gewünsch90
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Ebd., S. 8. – Die Protagonisten der Dramen demonstrieren tugendhaftes Verhalten und erweisen sich als ebenso »ausserordentliche«, d.h. erhabene Charatere wie Noah, Joseph oder Colombo. Diese Ansicht verkündete Bodmer später auch in seinem Lexikonartikel. Bodmer (1761), S. 6f. Bodmer (PS, I), unpag. Ebd.
257 ten Leserschaft für seine Dramen, auch die Relation zwischen den Figuren seiner biblischen Epen und derjenigen seiner politischen Dramen erörtert. Im Vorbericht zu seinem 1764 erschienenen Trauerspiel Marcus Tullius Cicero sucht Bodmer vor dem Hintergrund des ›modernen‹, emotionalistischen Dramas das scheinbar Unzeitgemäße seiner Protagonisten zu erhellen: Eine von den vornehmsten Ursachen, warum man die grossen Männer, so die Bibel uns aufbehalten hat, aus der Epopöe und der Tragödie hat entfernen wollen, ist diese: Sie sind zu sanft, zu gelassen, zu Gottergeben, zu heilig, als daß die unordentlichen Regungen, an welchen der stürmerische Geist einen Gefallen hat, in ihren Reden und Handlungen vielen Plaz bekommen könnte. Socrates, Aristides, Brutus, Cato, Cicero, die in ihrem Kopf und in ihrem Herzen aufgeräumt, den Geist zum Ueberlegen gewöhnt, und einen starken Begriff von der wahren Grösse erlangt hatten, stehen in der Gefahr so wol als die biblischen Helden verworfen zu werden, wenn der societätische, hofgefällige Poet sie nicht aus ihrem Character herausnimmt, und sie zu den brausenden, mehr flammenspeyenden als feurigen Fierabras hinabsezet.95
Die biblischen und politischen Figuren haben keine »unordentlichen Regungen« und verkörpern auch keine Charactere, die von ihren Leidenschaften dominiert würden, sondern stellen besonnene und reflektierende Character dar. Damit unterscheiden sie sich fundamental von den meisten Lesern oder Zuschauern; zwischen beiden ›Gruppen‹ scheint es keine anthropologischen, moralischen oder sozialen Gemeinsamkeiten (mehr) zu geben. Bodmers Figuren werden nicht aus poetologischen Gründen abgelehnt, sondern aus lebensweltlichen; das Publikum kann sich mit der im Drama geschilderten Moral und Sittlichkeit nicht identifizieren. Hiermit wendet Bodmer eine Haltung auf seine eigenen Dichtungen an, die Steffen Martus als Charakteristikum von Bodmers Literaturkritik herausgearbeitet hat. 1740 habe Bodmer eine »Neuorientierung der Kritik« herbeigeführt,96 als er in seiner Erklärung über Miltons Misserfolg in Deutschland der Leserschaft die Schuld zuschob. Milton habe nicht ein schlechtes Werk geschrieben, sondern die Leser in Deutschland hätten das ästhetische Feingefühl für eine solch hohe Dichtung noch nicht entwickelt (vgl. Kap. 1.6). Durch diesen Perspektivwechsel erkläre Bodmer den Autor (in diesem Fall) für unfehlbar, ihm könne man folglich nur mit einer »adorative[n] Haltung« begegnen.97 Diese Haltung forderte Bodmer – sehr selbstbewusst – von den deutschen Lesern auch für sich ein. Die Tatsache, dass Bodmer seine biblischen Epen und seine politischen Dramen miteinander in Beziehung setzte, zeigt zudem, dass diese 95
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Bodmer: Vorbericht.In: ders.:Marcus Tullius Cicero.Ein Trauerspiel. Zürich 1764, S. 2f. Martus (2007), S. 159. Ebd., S. 166.
258 für ihn eine große Affinität aufwiesen. In beiden Gattungen präsentierte Bodmer erhabene Charactere, die als Verhaltensvorbilder dienen sollten. Während die Epen die Leser als Menschen und Bürger anzusprechen suchten, waren die Dramen, die sich vor allem auf die Politik konzentrierten und alle anderen Aspekte des menschlichen Lebens weitgehend ausblendeten, an den politisch mündigen Bürger gerichtet. Durch diese thematische Einschränkung und Fokussierung erhalten die Dramen ihre politische Brisanz. In den Dramen werden Bodmers politische Überzeugungen und Ideale nicht mehr wie in den Epen im Kontext des Naturzustandes erörtert, sondern in direktem Bezug zum bürgerlichen Stand des Menschen. Dadurch erhöhte sich die Aussagekraft der literarisch inszenierten, politischen Debatten für die damaligen Leser.
4.2
Patriotismus und Menschlichkeit in der Monarchie
Bis heute haben sich drei Studien ausführlicher mit Bodmers Dramenschaffen beschäftigt und sich um eine systematische Klassifikation der Dramen bemüht. Während Bender die gesamte Dramenproduktion von Bodmer hinsichtlich der Stoffwahl gliederte,98 ordneten Scenna und Winterling die Dramen thematisch. Winterling klassifiziert Bodmers Dramen in die Kategorie der »Individualtragödie, in der sich ein tugendhafter Einzelner bewährt gegen Willkür und Unterdrückung«,99 in diejenige der »religions-politische Tragödie, [dem] Kampfstück gegen mißbrauchte weltliche Macht der Kirche und für eine vernunftgeleitete Religion« und in die Klasse der »Tragödie, in der eine Gruppe, ja das Volk handelt«.100 Scenna schreibt seinen Klassifikationsbemühungen explizit 98
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Die erste Gruppe von Dramen behandelt nach Bender Stoffe der griechischrömischen Geschichte, die zweite Stoffe der »deutschen, teils der englischen und der italienischen Geschichte und literarischen Überlieferung« und die dritte nehme ihren Gegenstand aus der schweizerischen Geschichte (Bender (1973), S. 56). Die vierte Dramengruppe stellen die ›biblischen Dramen‹ dar, die fünfte die ›religiösen Dramen‹. Mit dieser Differenzierung, die Bender nicht weiter erläutert, scheint er zwischen Stoffen der biblischen Überlieferung, etwa der dramatisierten JosephsGeschichte, und kirchengeschichtlichen Ereignissen, wie etwa das Wirken Arnolds von Brescia in Zürich, unterscheiden zu wollen. – Lediglich einen kurzen inhaltlichen Überblick über Bodmers antike Dramen gibt Volker Riedel: Johann Jacob Bodmers Stellung in der Geschichte der deutschen Antikerezeption. In: Gymnasium 113 (2006), S. 47–63, insbes. S. 54–58. Winterling (1955), S. 166. Ebd. – Zur Individualtragödie rechnet Winterling etwa die Stücke Friedrich von Toggenburg, Marcus Brutus, Thrasea Pätus, Octavius Cäsar und Nero. Damit unterläuft er aber seine eigenen Vorgaben, da gerade in den beiden letzten Dramen keine tugendhafte Einzelperson auftritt; auch in den Stücken Marcus Brutus und Thrasea Pätus mögen zwar die titelgebenden Figuren im Vordergrund stehen, sie sind aber stets in eine Gruppe von gleichgesinnten Republikanern eingebettet.
259 den Wert eines »attempt« zu und räumt ein, dass sich die Dramen durchaus »in other groups« und »from other standpoints« zusammenfassen ließen.101 Er teilt die politischen Dramen in drei Hauptklassen ein, die durch Kriterien gebildet werden, die nur bedingt miteinander vergleichbar sind. Während die erste Klasse »Dramas of Legend and Prophecy« durch die Stoffwahl definiert wird,102 trennt Scenna die anderen beiden Klassen, die beide auf historischer Überlieferung beruhen, in Bezug auf das Thema und spricht von »Dramas of Ethical Import«103 und »Political Dramas«,104 wobei die letzteren sogar noch weiter in die drei Untergruppen ›Märtyrertod‹,105 ›patriotische Stücke‹ mit Sieg der »democratic ideals over despotism«,106 und ›Angriffe auf die tyrannische Herrschaft‹ aufgeteilt werden.107 Da Scenna in seiner Studie zum Schluss kommt, dass Bodmer in der dramatischen Bearbeitung der antiken Stoffe »no distinction in the treatment of legend as distinguished from history« mache,108 wird die von ihm vorgeschlagene Trennung zwischen Mythos und Historie allerdings hinfällig.109 Die Klassifikationen von Scenna und Winterling besitzen somit nur beschränkten heuristischen Wert und verstellen zudem den Blick auf Bodmers bewusste Konzeption der Dramensammlungen. Alle drei Bände der politischen Schauspiele sind von Bodmer in didaktisch-thematischer Hinsicht zusammengestellt und kreisen jeweils um ein Hauptthema, das in unterschiedlicher Akzentsetzung in allen Dramen eines Bandes behandelt wird. Dies soll im Folgenden gezeigt werden, wobei die Analyse einzelner Dramen im Vordergrund steht.110
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Zur zweiten Gruppe rechnet Winterling etwa Johanna Gray, Arnold von Brescia in Zürich, Arnold von Brescia in Rom und Der vierte Heinrich Kaiser, zur dritten etwa Julius Cäsar oder Tarquinius Superbus. Scenna (1937), S. 6. Diese Dramen greifen mythologische Stoffe auf oder zeigen die Erfüllung von Prophezeiungen (vgl. Scenna, (1937), S. 5). In diese Klasse gehören Ulysses, Electra, Oedipus, Die Rettung in den Mauern von Holz und Die Tegeaten. Im Vordergrund stehe hierbei die »morality of ancient Rome« (ebd.). Beispiele hierfür sind etwa Octavius Cäsar, Cato der Ältere, oder Aufstand der römischen Frauen, Nero und Aristomenes von Messenien. Vgl. ebd. Der Tod des Helden, der eine »great soul« besitze, im Kampf für Demokratie und Freiheitbilde den Höhepunkt der Handlung (ebd., S. 6). Beispiele sind Marcus Tullius Cicero, Thrasea Pätus, Cajus Gracchus, Brutus und Kassius Tod. Ebd., hierzu rechnet Scenna Marcus Brutus, Timoleon, Pelopidas, Karl von Burgund. In diese Kategorien gehören die Dramen Julius Cäsar, Tarquinus Superbus, Nero. Ebd., S. 147. Abgesehen davon, ist auch die (bei Scenna nicht reflektierte) Trennung zwischen Moral und Politik problematisch, da Bodmer beide Bereiche eng aufeinander bezieht. Die folgende Kapiteleinteilung richtet sich somit nach dem übergeordneten Argumentationsgang meiner Arbeit. Die drei Dramen-Bände werden also nicht in chronologischer Reihenfolge und mit gleicher Ausführlichkeit besprochen.
260 In dem Band Politische Schauspiele. Drittes Bändgen. Von griechischem Innhalt aus dem Jahre 1769 geht es in allen drei Stücken, Die Tegeaten, Die Rettung in den Mauern von Holz und Aristomenes von Messenien, um eine Nation im Kriegszustand. Anhand historischer Ereignisse aus der griechischen Antike werden unterschiedliche Verhaltensweisen angesichts des drohenden Untergangs der eigenen Nation geschildert. Bereits die Vorrede lenkt die Aufmerksamkeit auf den Begriff »Nation«, der »in unsren Jahrhunderten« nicht mehr vorhanden sei,111 da die »Historie nicht die Geschichte der Nation, sondern des Königs, des Ministers, oder des Feldherrn« darstelle.112 Die von Bodmer schon früher kritisierte zeitgenössische Geschichtsschreibung, die sich nur auf die Darstellung von außergewöhnlichen Personen konzentriert und dabei Ausführungen zum National-Character vermissen lässt (vgl. Kap. 1.3), wird in der Vorrede als allgemeiner Ausdruck der Zeit gedeutet: »Der Charakter der Nation ist zu Grund gegangen; man macht sich nicht mehr eine Ehre daraus, daß man von der Nation sey; man hat den Stolz verlohren, der Wetteifer, Eintracht und Stärke in den Staat bringt«.113 Das fehlende staatsbürgerliche Interesse würde, so Bodmer, die Rezeption seiner Dramen im »Parterre« sehr erschweren;114 zudem würden in ihnen nicht Ereignisse aus der Geschichte der Nation des (deutschsprachigen) Publikums behandelt, sondern griechische Stoffe. Obschon das die Aufnahme zusätzlich behindere, biete die Reflexion über »fremde Gebräuche«, über »eine andere Regierung« und über die »Verschiedenheit der Staatsanordnungen« auch Vorteile. Wenn man dabei eine »menschlichere« Verfassung entdecke als die eigene, könne man die bestehende Ordnung und die geltenden Gesetze auch entsprechend verändern.115 Die Dramatisierung antiker Ereignisse soll also dem Leser Kenntnisse über »die Menschen« und ihre Gesellschaftsformen vermitteln,116 um so Fragen an die eigene Gegenwart und Gesellschaft stellen zu können. Während sich in dem Stück Die Tegeaten zwei feindliche Nationen begegnen und zu Beginn des Stückes noch kein Sieger des Konfliktes feststeht, ist in Die Rettung in den Mauern von Holz und in Aristomenes von Messenien diese Entscheidung schon gefallen. In Die Rettung in den Mauern von Holz ist das Volk von Athen mit Schiffen vor den angreifenden Persern geflüchtet und nur eine kleine Gruppe von Patrioten zurück111
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F. S. H.: Vorrede zu den politischen Schauspielen von griechischem Innhalt. In: Bodmer: Politische Schauspiele. Drittes Bändgen. Von griechischem Innhalt. Lindau, Chur 1769, S. 3, im Folgenden abgekürzt als ›PS, III‹. Ebd., S. 4. Ebd. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Ebd.
261 geblieben, um – letztlich vergeblich – Gegenwehr zu leisten.117 Mit dem alten Aristokraten Euphorion stellen sich auch einige junge Bürger den Feinden entgegen und gehen mit der Gewissheit in den Tod, dass ihre Polis auch nach dem Sieg der Perser Bestand hat: Nicht die Häuser, noch die Mauern, noch die Thore, sind Athen; die Staatsmitglieder sind Athen, und wenn diese gerettet sind, so ist der Staat, Athen ist gerettet. Wenn doch die Häuser Athen sind, und sie werden geschleifet, wie leicht sind sie wieder aufgebaut; es sey auf diesem oder anderm Boden.118
Bodmer greift hiermit ein Argument aus dem sechsten Kapitel des ersten Buches von Rousseaus Contrat social auf, der gerade dieses Staatsverständnis bei seinen Zeitgenossen vermisst und ihnen ein falsches Verständnis von ›Staat‹ und ›Bürger‹ (citoyen) vorgeworfen hatte. Obwohl man sich als »citoyen« bezeichne und glaube, in einer Polis zu leben, sei man von dem ursprünglichen, antiken Ideal weit entfernt. Die neuzeitlichen Bürger besäßen in einer Monarchie, anders als in der Antike, keine politischen Rechte, der moderne ›Stadtstaat‹ stelle bloß eine Ansammlung von Häusern dar.119 Bodmer ›inszeniert‹ also die von Rousseau herausgestellte antike Politisierung des Bürgers, die in der Neuzeit fehlt. Die Flucht der gesamten Polis vor den übermächtigen Gegnern wird nicht einfach leichtfertig angetreten, sondern im Drama ausführlich erörtert. Das Verlassen der »väterliche[n] Erde« wird dabei ausdrücklich als göttlicher und somit guter Ratschlag dargestellt,120 dem die Athener angesichts der chancenlosen Verteidigung Folge leisten, um ihren Staat zu erhalten. Die Flucht vor der feindlichen Übermacht aus Sparta haben auch die Bewohner der Stadt Ira angetreten in dem Stück Aristomenes von Messenien. Anders als in Die Rettung in den Mauern aus Holz geht es hier jedoch nicht primär um die Demonstration der Bereitschaft, den Staat zu verteidigen und zu erhalten, sondern um den Beistand einer Nation im Kriegsfalle. Aus der Stadt Ira ist man unter der Führung von Aristomenes nach Arkadien geflohen und berät nun über das weitere Vorgehen. Während ein Teil der Bürger darüber diskutiert, wo man die Polis neu aufrichten könnte, plant Aristomenes mit Hilfe der Arkadier einen Angriff auf Sparta, um im Tausch gegen das eroberte Sparta das eigene »Vater117
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Das Stück greift historische Ereignisse kurz vor der Seeschlacht bei Salamis (480 v. Chr.) auf. Bodmer benutzte als Quelle für sein Drama vor allem Herodots Historien, vgl. Scenna (1937), S. 38–41. Bodmer (PS, III), S. 156. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag. In: ders.: Politische Schriften, Band 1. Abhandlungüber die PolitischeÖkonomie. Vom Gesellschaftsvertrag.Politische Fragmente. Übersetzungund Einführungvon Ludwig Schmidts. Paderborn1977 (UTB, 667), Kp. I.6. Bodmer (PS, III), S. 133.
262 land« wieder zurückzuerhalten.121 Allerdings wird diese Absicht durch das intrigante Politisieren des arkadischen Königs Aristokratus verunmöglicht, der den Plan von Aristomenes an die Spartaner verrät. Durch die Aufnahme der Flüchtlinge hatte sich Aristokratus zunächst als »Mensch[ ] und Gastfreund[ ]« erwiesen,122 der wie alle Arkadier ein »freundschaftliche[s] Gefühl« bezeugt hatte. Er besitze keine politische »Klugheit«,123 welche die »Menschlichkeit« verleugnen würde, hebt Aristomenes lobend hervor.124 Diese natürliche Menschlichkeit stelle als »Gastfreunds-Milde« die »gesundeste Staatskunst« dar.125 Wie schon in den Epen wird hier das natürliche, von jeglicher Staatsraison absehende Verhalten des Menschen als vorbildlich dargestellt.126 Obwohl Aristokratus selber versichert, dass er das »älteste[ ] Recht[ ] der Gastfreundschaft« ausübe,127 erweist er sich in der Folge als Verräter an diesem Recht. Die Motive des Verrats von Aristokratus werden nicht näher begründet; seine »Falschheit« und »Verrätherey« jedoch aufs Schärfste von seinen eigenen Leuten verurteilt, die ihn in der Folge steinigen.128 Sie sehen in ihm ein abschreckendes Exempel eines Verräters: »Mögen die Götter jedem Schänder der Bundespflichten und der Geseze dieselbe Strafe zutheilen«.129 Die Messenier sind somit gezwungen, neues Land zu suchen, wo sie ihre Polis wieder aufbauen können.130 Während in den beiden soeben skizzierten Stücken das Schicksal eines besiegten Staates und seiner Bürger im Zentrum des Interesses steht, problematisiert Die Tegeaten das Schicksal einer Familie in Zeiten des Krieges und thematisiert das Verhältnis der »Pflicht« für das Vaterland in den Krieg zu ziehen und der persönlichen »Neigung«, das nicht zu tun.131 Die Dramatik des Geschehens resultiert aus der Tatsache, dass die tegeatische Familie von Ktesimachus, die im Zentrum der Handlung steht, verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen zu 121 122 123 124 125 126
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Bodmer: Aristomenes von Meßenien. In: Bodmer (PS, III), S. 123. Ebd., S. 218. Ebd., S. 219f. Ebd., S. 220. Ebd., S. 221. So ist denn auch explizit die Rede davon, dass Arkadien zunächst ein »Vorbild der nachbarlichen Treue« sei (ebd., S. 221). Ebd., S. 229. Ebd., S. 248. Ebd., S. 253. Vgl. auch Scenna (1937), S. 69–73. – Scenna hält fälschlicherweise Damithales, der den Verrat an Aristokratus aufdeckt, für einen Messenier (vgl. ebd., S. 69); er ist aber ein Arkadier.Bodmer verdeutlichtso, dass der Verrat einem (nicht näher erläuterten) eigennützigen Interesse von Aristokratus entspringt und nicht der Gesinnung der Arkadier entspricht. Bodmer: Die Tegeaten. In: Bodmer (PS, III), S. 79.
263 den feindlichen Pheneaten pflegt. Exemplarisch trägt sie den Konflikt zwischen persönlich-privaten und staatlich-politischen Pflichten aus. Ob und wie man sich im Kriegsfall für sein Vaterland aufopfern sollte, hatte 1761 Thomas Abbt (1738–1766) in seiner durch Johann Georg Zimmermanns Vom Nationalstolz (1758) angeregten Schrift Vom Tode für das Vaterland erörtert. In ihr hatte Abbt aufgezeigt, dass auch in einer Monarchie Vaterlandsliebe bei den Untertanen existiere und diese deshalb gerne bereit seien oder bereit sein sollten, für ihr Vaterland zu sterben. Über mögliche Kriegsgründe hatte er sich jedoch ausgeschwiegen und stattdessen die allgemeine Wehrpflicht und -begeisterung darauf zurückgeführt, dass in der »wohl eingerichteten« Monarchie Gesetze »zu unserm Besten« herrschen würden.132 Nur aufgrund einer Verfassung, die auf die Beförderung des Allgemeinwohls ausgerichtet sei, entstehe bei den Untertanen die aufopferungsbereite Vaterlandsliebe. Diese Argumentation zielt darauf ab, die Differenzen zwischen einer Republik und einer Monarchie einzuebnen und die von Montesquieu für Republiken veranschlagte politische Tugend der Vaterlandsliebe auf die Monarchie zu übertragen:133 Ich kann mich allezeit eines Vaterlandes erfreuen. Der einzige Unterschied ist dieser: in der einen Staatsverfassung hängen die gefährlichsten Veränderungen derselben nicht von dem Willen eines einzigen ab: aber sie können manchmal von der Schwachheit mehrerer herrühren. Wenn hingegen dieser Wille des einzigen durch gute, durch große, Einsichten gelenkt wird: was für ein Glück für mich! […] Es gibt also auch in der Monarchie ein Vaterland.134
Möglichen Einwänden gegen die Existenz der Vaterlandsliebe in Monarchien sucht Abbt dadurch zuvorzukommen, dass er einen ›aufgeklärten Monarchen‹ als Herrscher postuliert. Dieser rufe seine Untertanen nur aus unausweichlichen staatspolitischen Gründen zu den Waffen, willkürliche Kriegsgründe, die nur der Laune des Tyrannen entspringen und einen Opfertod fragwürdig erscheinen lassen, schließt Abbt mit dieser Annahme aus. Bodmer knüpft mit Die Tegeaten zwar an die von Abbt diskutierten Fragen an, folgt ihm aber nicht in den Voraussetzung. In Bodmers Drama gründet der Krieg in persönlichen Leiden132
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Abbt: Vom Tode für das Vaterland, zit. nach Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum siebenjährigen Krieg. Hg. v. Johannes Kunisch. Frankfurt a.M. 1996 (Bibliothek der Geschichte und Politik, 9), S. 589–650, hier S. 601. Vgl. hierzu auch Hans Erich Bödeker: Thomas Abbt. Patriot, Bürger und bürgerliches Bewußtsein. In: Vierhaus (1981), S. 221–254. Zum ›vaterländischen‹ Diskurs in der Literatur des 18. Jahrhundert Hans-Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. Hamburg 2000 und Conrad Wiedemann: Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus. Über die Schwierigkeiten der deutschen Klassiker, einen Nationalhelden zu finden. In: Aufklärung 4, 2 (1989), S. 75– 101. Abbt (1996), S. 601.
264 schaften der Monarchen, wie gleich zu Beginn des Stückes verdeutlicht wird. Im Gespräch zwischen dem Pheneaten Demotikus und dem Tegeaten Kritolaus wird die Kriegsursache gleichzeitig von beiden verurteilt. Timopolis, der König der Pheneaten, hat eine »Beyschläfferinn« des tegeatischen Königs Eupolis entführt,135 die dieser mit Waffengewalt wieder zurückholen möchte, weshalb sich nun »zwo blutsverwandte Nationen, von denselben Stammältern ursprünglich erzeuget«,136 »Gastfreunde gegen Gastfreunde, Gutthäter gegen Gutthäter, Verschwägerte gegen Verschwägerte« im Felde gegenüberstehen.137 Entsprechend beklagen beide Untertanen, dass sie in dem »elende[n] Zustand« seien,138 mit ihren Herrschern »unbesonnene Handlungen« begehen sowie deren »Groll« und »Eifersucht«,139 deren »Leidenschaften« und »Stolze« mit militärischer Gewalt Ausdruck verleihen zu müssen.140 Der Streit um die Konkubine als eigentlicher Kriegsgrund ist jedoch seit Kriegsbeginn in den Hintergrund gerückt – was die Bedeutungslosigkeit dieses Kriegsanlasses unterstreicht – und hat der Herrschsucht Platz gemacht. Beide Könige wollen mittlerweile »den andern und die Nation desselben unterwürfig machen«.141 Obwohl beide Untertanen die Kriegsmotive verurteilen, ziehen sie für ihren König in den Kampf: »Was sie [die Könige; J. R.] befehlen ist zu verrichten unsere Pflicht«.142 Beide anerkennen somit den vorausgesetzten Vertrag, den sie mit ihren Mitbürgern und mit dem Herrscher eingegangen sind und der sie zu der bestehenden Staatsverfassung und den entsprechenden Gesetzen verpflichtet. Auch wenn sie dadurch äußeren Zwängen ausgesetzt sind, achten sie ihn als gesellschaftskonstituierend: »Wie oft im gemeinen Leben muß man anderer, und der Umstände, wegen thun, wozu man keine Neigung im Herzen hat?«143 Mit dieser dramatischen Grundstruktur scheint Bodmer den Ratschlag Rousseaus umzusetzen, der im sechsten Kapitel des zweiten Buches des Contrat social gefordert hatte, in der Wesensbestimmung der Monarchie nicht von einem guten Herrscher auszugehen, wie es Abbt tat, sondern sich die Eigenschaften der Monarchie unter der Herrschaft eines schlechten Königs vor Augen zu führen. Die Monarchie erweist sich in Bodmers Stück dementsprechend als Staatsform, in der aufgrund der willkürlichen, nicht auf das Allgemeinwohl ausgerichteten Herrschaft 135 136 137 138 139 140 141 142 143
Bodmer (PS, III), S. 14. Ebd., S. 11. Ebd., S. 11f. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13.
265 die natürliche Freiheit des Menschen, seinen natürlichen Neigungen der Freundschaft nachzugeben, sehr eingeschränkt ist, die aber gleichwohl angesichts des Aggressors von Außen verteidigt werden muss, weil die eigene Gesellschaft ansonsten noch ›unfreier‹ wird.144 Unter dieser Voraussetzung steht der Rest des Stückes, in dem das Verhältnis von gesellschaftlichen Pflichten und persönlichen Neigungen weiter verhandelt wird. Anstatt dass alle waffenfähigen Untertanen der beiden Völker gegeneinander kämpfen, werden durch einen Orakelspruch aus jedem Volk drei Brüder ausgewählt, die stellvertretend den Kampf zwischen den Nationen austragen sollen. Die Wahl fällt auf Seiten der Tegeaten auf die Söhne von Ktesimachus, der mit der gebürtigen Phegeatin Gorgophone verheiratet ist. Auf der Gegenseite werden die drei Söhne von Demostratus, dem Bruder Gorgophones, als Kämpfer auserkoren. Ktesimachus’ Sohn Kritolaus ist mit der Schwester, Ladiska, dieser drei Brüder verlobt, während der Phegeate Demotikus mit Ktesimachus’ Tochter und somit der Schwester von Kritolaus, Demodice, verlobt ist. Wegen der verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Bande ist insbesondere der im Vergleich zu Kritolaus etwas ›menschlichere‹ Demotikus in den bisherigen Kämpfen den tegeatischen Brüdern im Schlachtfeld ausgewichen.145 Die tegeatischen Frauen attestieren Demotikus mehr als Kritolaus nicht nur ein »tapferer[ ] Krieger«, sondern auch gleichzeitig ein »liebenswürdiger[ ] Jüngling« zu sein,146 dessen »Herz […] ganz der Freundschaft geweihet« ist.147 Demodice hält aus diesem Grund den Kampf zwischen den Brüdern schon im Voraus für entschieden: Es wird meinen Brüdern Vergnügen machen, dem grausamen Befehl der Tegeaten zu folgen. In ihren Herzen schlägt nichts sanftmüthiges mehr, wenn das Vaterland spricht; Unempfindlichkeit für alle andere [sic] Verhältniße ist ihnen Tugend. Tegea hat sie gedungen, gleich kennen sie keinen Freund, keinen Bruder, keine Schwester mehr. Kritolaus wird den Bruder der Lagiska, seiner Verlobten, und den Verlobten der Demodice, seiner Schwester, mit kaltem Sinne todschlagen. Aber die Pheneaten haben nicht wohl gewählt. In Demotikus Adern fließt sanfteres, milchernes Blut, solche rauhe Tugend ist ihm nicht bekannt, ihn zieht die Natur, die Menschlichkeit mit eisernen Händen zurük, wenn er den Arm aufhebt, den Freund seines Hauses, den Bruder seiner Geliebten, den Verlobten seiner Schwester zu schlagen. Ihn wird sein freundschaftliches Herz umbringen […].148
In der Tat geht Kritolaus als Sieger und einziger Überlebender aus dem Kampf hervor, wobei sein Sieg nicht der freundschaftlichen Verbundenheit Demotikus’ geschuldet ist, sondern vielmehr seiner eigenen kriege144
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Alle Protagonisten des Stücks sind sich darin einig, dass mit dem Ende des Krieges die Freiheit des unterlegenen Volkes beeinträchtigen wird, vgl. etwa ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 19. Ebd., S. 30. Ebd. Ebd., S. 49f.
266 rischen List. Bodmer folgt in der Charakterisierung der beiden Kämpfer der Darstellung von Corneille, der in seinem Drama Horace, das wie Bodmers Stück auf das 16. Kapitel von Plutarchs Parallela Graeca et Romana zurückgeht,149 die Kontrahenten ebenfalls als kampfbereit, den einen, Curiace (bei Bodmer: Demotikus), aber als stärker unter der Situation leidend geschildert hatte.150 Anders als bei Corneille berichtet bei Bodmer auch Kritolaus, dass seine Brüder und er sich vor dem Kampf zunächst nicht zwischen Pflichtbefolgung und natürlichen Neigungen entscheiden konnten, und benennt damit das zentrale Thema von Bodmers Drama: Apollo und die beyden Heere haben uns eine harte Pflicht aufgeladen, daß ein Freund mit dem andern streiten solle, und dem auf Leib und Leben gehen, bey welchem er sooft an der festlichen Tafel der Freude und der Liebe saß, die Söhne zweyer der besten verschwägertenMänner, und o ihr Mächte des Himmels, der Bruder meiner geliebten Lagiska! Anfänglich konnten wir Pflicht und Neigung nicht zusammen vergleichen; aber die tyrrhenische Trompete, der laute Zuruf der Völker, das Geklirre der Schwerdter und die ersten Streiche verjagtenbald alle weichmüthigen Gedanken. Wir hatten keine Sinnen mehr als für Schläge, Wunden anzubringen, oder Wunden auszuweichen.151
Kritolaus ordnet seine natürlichen Neigungen den Pflichten unter und legt damit dieselbe patriotische Pflichterfüllung an den Tag wie sein 149 150
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Auf diese Quelle weist Bodmer selbst in einem Brief hin, vgl. Scenna (1937), S. 41f. Während Bodmer die griechische Variante des Familienkampfes beschreibt, griff Corneille die römische auf. Bodmer besaß auch die 1662 erschienene deutsche Übersetzung von Corneilles Drama. In den Text fügte Bodmer am Rand Markierungen an, wohl um relevante Stellen auszuzeichnen, wie etwa das Bedauern von Curiatz (Curiace): »Die trübseelig und grausame Ehre bewegt mich/ doch errücket [sic] sie mich nicht. Ich liebe das/ was man mir giebt [den Kampf; J. R.]/ und beklage das/ was mir dadurch genommen wird [der mögliche Tod des Bruders seiner Verlobten; J. R.]«. (Des Herrn P. Corneille Horatz oder Gerechtfertiger Schwester=Mord. Trauerspiel.Aus seinem Frantzösischenins Teutschegesetzt. In VerlegungJohannis Cundisii, Buchhändlers in Görlitz. Leipzig/ Gedruckt bey Christian Michael 1662, S. 21). Ebenso markierte Bodmer folgende Passage, die den Charakter von Curiace (Demotikus) prägnant beschreibt: »Ich setze die Wolfahrt meiner Geburts=Stadt nicht hindan und liebe so wol meine Ehre/ als ich die Camille [bei Bodmer: Demodice; J. R.] anbete; Ja/ so lang als der Kriege gewährethat/ bin ich so wol ein getreuer Albaner/ als ein getreuer Liebhaber gewesen. Alba und meine Liebe haben sich in mir vertragen müssen.« (ebd., 13). Während Curiatz somit das rechte Maß zwischen Vaterlandsdienst und Menschlichkeit aufweist, kennt Horatz (Horace; bei Bodmer: Kritolaus) nur die Pflicht: »Wer auff was anders dencket/ in dem er dem Vaterlande dienen will/ dem kann gewiß sein Thun kein rechter Ernst seyn. Dieses hochheilige Recht reisset allen andern Bund entzwey. Rom hat meinen Arm erwehlet; ich erwege nichts mehr.« (ebd., S. 22). – Eine vergleichbare Passage findet sich auch bei Abbt: »Alsdann stürmt der Gedanke in mir empor, daß es edel sei, fechtend fürs Vaterland zu sterben. Nun ordnet sich die neue Schönheit, die ich mir schaffe: sie entzückt mich; ich eile zu ihrem Besitz; reiße mich los von dem, was mich in einer weichlichen Ruhe zurückhalten könnte; höre nicht den Ruf der Verwandten, sondern des Vaterlandes […].« (Abbt (1996), S. 647). Bodmer (PS, III), S. 79f.
267 Vater, der in der Aufopferung für den Staat die größte »Ehre« des Untertans erkennt.152 Sowohl der Vater wie auch der Sohn handeln also gemäß der Lehre Montesquieus, der die Ehre als ein in der Monarchie vorherrschendes und handlungsanleitendes Prinzip charakterisiert hatte.153 Durchdrungen vom Prinzip der Ehre, ist der mögliche Tod der Söhne für ihn, im Gegensatz zu seiner Frau Gorgophone, kein Grund zur Trauer.154 Damit vertritt er die Überzeugung, die auch Abbt in seiner Schrift Vom Verdienste geäußert hatte, als er den Tod fürs Vaterland als das höchste Verdienst im Krieg dargestellt hatte.155 Bodmer zeigt jedoch auch die negative – unmenschliche – Seite der Aufopferungsbereitschaft für den Staat: Ktesimachus reagiert äußerst schroff, als er zunächst meint, sein Sohn habe sich durch Flucht der kriegerischen Auseinandersetzung entzogen und damit das eigene Schicksal über dasjenige von Tegea gestellt. In Kritolaus’ vermeintlicher Flucht vom Schlachtfeld, die nicht nur Tegea den Untergang bringe, sondern auch »Schimpf« über sein eigenes Haus,156 glaubt Ktesimachus einen Verrat an den patriotischen Idealen zu erkennen, weshalb er seinen »feige[n]« Sohn selbst mit dem Tod bestrafen möchte.157 Denselben übertriebenen Patriotismus legt auch Kritolaus an den Tag, als er siegreich vom Schlachtfeld nach Hause zurückkehrt.158 Demodice, voller Trauer um ihren getöteten Verlobten, verflucht nicht nur ihren sich im Siegesruhm badenden Bruder, sondern auch den ganzen Staat, in
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Ebd., S. 77. In Anlehnung an Montesquieu hatte auch Abbt die Ehre als »Bewegungsgrund« der Monarchie verstanden, den er allerdings mit der Vaterlandsliebe ergänzen wollte (Abbt (1996), S. 634). – So hatte sich Ktesimachus über die Nachricht, dass seine Söhne vom Orakel als Kämpfer bestimmt wurden, gefreut und dadurch sich und seine Familie in höchstem Masse geehrt gefühlt: »Kann man die Ehre zu theuer kaufen, daß man das Vaterland erhalten, und ihm eine Nation dienstbar gemacht hat?« (Bodmer (PS, III), S. 45). »Was für ein Verlust? Des Lebens, welches ein Fieber, oder ein fallender Baum, oder die Flut eines reissenden Stromes nehmen kann, und dieses denn ohne einiges Verdienst? Wenn unsere Söhne fallen, so sterben sie mit dem ewigen Danke des Vaterlandes, und empfangen die Segnungen und Lobgesänge aller Nachkommen.« (Ebd.). Vgl. Abbt: Vom Verdienste. In: ders.: VermischteWerke. Erster Theil. Berlin Stettin 1772, 3. Auflage. (Faksimile-Ausgabe Hildesheim, New York 1978), unpag. Bodmer (PS, III), S. 55. Ebd., S. 54. – »Wäret ihr Tegeatinnen,so würdet ihr nicht den Tod der beyden [gefallenen Brüder; J. R.]; sondern das Leben des dritten [Kritolaus; J. R.] beweinen; ihr würdet Tegea beweinen, die izt unter Pheneone hinabgesunken ist. Aber ihr sollet auch das Leben Kritolaus nicht lange beweinen; ich will ihn von dem schändlichen Lichte des Tages durch die Hand des Vaters befreyen. Er soll, wiewohl zu späthe bereuen,daß der Patriot lebet, so lange er soll, nicht so lange er kann.« (Ebd., S. 57). Von seinem Vater Ktesimachus, dem ein Soldat die List von Kritolaus erklärt, wird Kritolaus bei seiner Rückkehr als Held begrüßt.
268 dessen Auftrag Kritolaus gehandelt hatte.159 Daraufhin tötet Kritolaus im Affekt seine Schwester, in der er eine Vaterlandsfeindin sieht: Soll ich schuldig seyn, weil ich Tegea zu sehr geliebt habe, weil die Liebe zu ihr alle andern Triebe besiegt hat? Ein Verbrechen war, daß sie [Demodice; J. R.] unsere Feinde abgöttisch geliebet, und dem Staat den Tod gewünscht hat; und dieses hab ich gestraft.160
Während jedoch Demodices Verhalten von ihren Eltern entschuldigt wird, weil sie ein »zärtliches Mädchen« ist,161 das den »Schmerzen den Lauf« lässt,162 wird der Schwestermord, im Gegensatz zu Corneilles Drama, bei Bodmer verurteilt. Obwohl sich Ktesimachus selbst in ähnlicher Absicht an Kritolaus vergehen wollte, wie es dieser an Demodice getan hat, kritisiert er, dass sich Kritolaus mit seinem Schwestermord unerlaubterweise zum »Richter« in einer Sache erhoben, in der »der Staat, das Volk und der Regent« hätten entscheiden sollen. Indem sich Kritolaus diese Rolle angemaßt habe, habe er die »Zerstörung des Staates« bewirkt und die Gültigkeit der bestehenden Gesetze aufgehoben und somit den bestehenden Gesellschaftsvertrag in Frage gestellt.163 Als Kritolaus sein Vergehen erkennt und bereut, will Ktesimachus den Richterspruch der zuständigen Instanzen über Kritolaus’ Tat nicht abwarten und beschließt, vor dem »Volk und dem König fußfällig« zu werden und um Gnade für seinen Sohn zu betteln.164 Damit hebt er die zuvor von ihm beschworene Prinzipien- und Gesetzestreue selbst auf.165 Seine Frau Gorgophone hatte ihm zuvor schon seine Anmaßung vorgehalten, als er sich selbst zum »Richter« erhoben hatte, um die vermeintliche Flucht seines Sohnes vom Schlachtfeld zu bestrafen: Ist das nicht Hochmuth? Und es soll Größe der Seele seyn? Ist es denn Größe, die menschliche Natur verläugnen? Das Leben dem natürlichen Loos des Menschen 159
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»Ungezähmte Begierde, Herrschsucht, Siegessucht, trennte die Tegeaten und die Pheneaten, und machte sie aus Gastfreunden, aus Verschwägerten zu Feinden und Mördern. Ihrer Wuth hast du gedienet, für ihren Haß gestritten […].« (Bodmer (PS, III), S. 86f.). Ebd., S. 96f. – Im Anschluss an seine Tat gesteht Kritolaus, dass er, ähnlich wie schon vor dem Kampf gegen die Pheneaten,seine »Triebe des Blutes« unterdrücken musste, um Demodice zu töten: »Die Natur redete stark in meiner Brust, aber Tugend noch stärker.« (Ebd., S. 94). Auch hier stellt Kritolaus seine (vermeintlichen) Vaterlandspflichten über die Neigungen. Ebd., S. 97. Ebd., S. 97f. Ebd. Ebd., S. 109. Dass Ktesimachus kein ›echter‹ Patriot ist, zeigt sich auch an seiner vermeintlich stoizistischen Grundhaltung.Nur solange er sich im Vorteil weiß bzw. im Besitz der Ehre glaubt, kann er seine Gemütsruhe an den Tag legen (vgl. etwa seine Reaktion auf die Wahl des Orakels). Als er sich aber durch die vermeintliche Flucht von Kritolaus um die Ehre betrogen sieht, fehlt ihm diese Ruhe; vgl. zum stoischen Ideal der dramatischen Figuren auch Meier (2009) und ders. (1993), S. 14–30.
269 gemäß zubringen, ist schwerer und großmüthiger. Die Seele ist nicht […] Grösser [sic], die höher fliegt, sondern die Ziel und Maas hält.166
Den übertriebenen und willkürlichen, weil nicht in wahren Prinzipien gründenden Patriotismus von Ktesimachus und Kritolaus durchschauend, stellt Gorgophone hier dem monarchischen Patriotismus ein alternatives Verhaltensmodell gegenüber, das in der menschlichen Natur gründet und diese zum handlungsanleitenden Prinzip erhebt.167 Damit folgen Gorgophone und auch Demodice den von Bodmer in den Epen demonstrierten natürlichen menschlichen Verhaltensweisen, welche die gegenseitige Freundschaft propagieren. Vor dem Schwestermord konstatiert die Mutter gegenüber Kritolaus und Ktesimachus: […] die Tegeaten mögen euch loben, daß die sanftern Triebe der Freundschaft und der Liebe auf das Herz des Kriegers nichts vermocht haben. Aber unsere Demodice sizt in ihrem Zimmer, in die Schmerzen verloren, die ihr der Tod ihres Demotikus in der Seele verursachet.168
Dem ›männlichen‹ Patriotismus wird ein ›weibliches‹ Freundschaftsideal gegenüber gestellt, das aber nicht nur geschlechtsspezifisch Gültigkeit haben soll, sondern gesamtgesellschaftlich. Während Kritolaus und sein Vater die Unterordnung der freundschaftlichen Neigungen unter die Staatspflichten als ehrenvolle Tat verstehen, erkennt Demodice darin ein Verbrechen an der Menschheit.169 Für die männlichen Protagonisten kommt nur eine kriegerische Konfliktlösung in Frage, Demodice entwirft ein anderes, nicht in der Ehre gründendes patriotisches Konzept und propagiert die Befolgung der natürlichen Neigungen als friedliche und humane Lösung. Die »Liebe zu seinen Verwandten und Wohlthätern« bildet dabei die »Grundfeste der Vaterlandsliebe« und macht die Familien zu einem »kleine[n] Vaterland«,170 das »die Herzen an 166 167
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Bodmer (PS, III), S. 57f. Vgl. auch die Rede von Gorgophone an ihren Mann Ktesimachus: »Freue dich in deiner Herrscherbegierde für den Staat, und wenn ich unrecht thue, daß ich den Staat meiner Vaterstadt, und Demodice unrecht thut, daß sie einen Pheneaten klaget, der mit ihr verlobt war, so gönne mir, daß ich die Söhne meines Bruders, und die Söhne, die ich gebohren habe, klage, und gönne Demodicen, daß sie um den Bräutigam und die Brüder weine.« (Ebd., S. 68f.). Ebd. S. 80. Vgl. auch: »Demodice: […] Haben die beyden Völker die Grausamkeit gehabt, Anverwandte, Gastfreunde, Brüder an einander zu hezen, wie wenn sie Eber oder wilde Stiere wären! die menschlichsten Bande zu zerreißen; ihnen zur Schuldigkeit zu machen, daß sie das Blut derer vergießen, die sie nicht hassen, die sie lieben, und sie zu retten ihr Blut mit Zufriedenheit versprüzen würden. Ktesimachus: Es ist die Stimme des Vaterlandes, unsere Söhne können nicht fehlen, da sie ihr folgen. Ihr Arm, ihr Schwerdt ist des Staates, der Staat schlägt durch sie.« (Ebd., S. 48f.). – Den Begriff der »Bande« hatte Bodmer auch an zentraler Stelle in der Noachide verwendet. Ebd., S. 86f.
270 das große« Vaterland binde.171 Wie bereits in den Epen, aber auch in Übereinstimmung mit Überzeugungen Rousseaus,172 wird in dieser Perspektive die Familie zum Modell und Ursprung des Staates. Durch die Unterdrückung der persönlichen Neigungen zum liebevollen Umgang miteinander wird dem Staat folglich der Boden entzogen bzw. stellt sich die (die Bürger beschützende) Funktion des Staates selbst in Frage, was Kritolaus nach dem Schwestermord eingesteht: Im patriotischen Taumel bin ich blutgierig geworden. Da Apollo mich aufgerufen, den Kampf gegen Gastfreunde und Blutsverwandte aufzunemen [sic], und das Vaterland seine Stimme wiederholte, und mich berechtigte sie zu erschlagen, so glaubte ich, daß es auch nicht ungerecht wäre die Schwester zu schlagen, die ihrem Vaterland Verwüstung zuschwur.173
Am Ende des Stücks erkennt Kritolaus die Gefahr, die eine blinde Opferbereitschaft mit sich bringt. Auch wenn er nicht dieselbe Menschenliebe wie Demodice an den Tag legt, so ist ihm gleichwohl bewusst, dass er die natürlichen menschlichen Bande vergessen hatte: O Lagiska, Lagiska! wird sie mir verzeihen, daß ich ihre Brüder erschlagen, und wenn sie mir verzeiht, wird sie einen Schwestermörder in ihre Arme nehmen? Ich bin diesen Tag mit keinen Gedanken bey Lagsiken gewesen; von Siegessucht aufgeschwollendacht ich und war ich eitel Sieg. Wie tief bin ich gefallen! Von dem Gipfel der Ehre! Ich verachte mich, ich haße mich, ich verabscheue mich.174
Während Corneille in seinem Drama den »Absolutheitsanspruch des Staates« triumphieren lässt und der Schwestermörder Horace vom König freigesprochen wird,175 kritisiert Bodmer in seinem Stück die Unterordnung der Menschlichkeit unter die Staatsraison: der Dienst für den Staat ist für Bodmer immer auch Dienst für den Menschen, die staatlichen Pflichten müssen stets den Ansprüchen der Moral Genüge tun. Das ist in einer (verkommenen) Monarchie aber nicht gewährleistet.176
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Ebd., S. 87. Vgl. Rousseau (1977), Kp. I.2. Bodmer (PS, III), S. 104f. Ebd., S. 100. Jürgen Grimm: Französische Klassik. Lehrbuch Romanistik. Stuttgart, Weimar 2005, S. 235. Somit wird noch einmal deutlich, dass Bodmer in seinem Epos Jacob und Joseph eine ideale Monarchie schildert. – In der 1751 erstmals publizierten Tragödie Die Horazier von Georg Behrmann wird ebenfalls die heroische Pflichterfüllung hinterfragt, allerdings ohne dabei auf die Bedingungen der verschiedenen Staatsformen Bezug zu nehmen; vgl. Wolfgang Lukas: Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730 bis 1770). Göttingen 2005, S. 51–54.
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4.3
Patriotismus und Menschlichkeit in der Republik
Der 1769 erschienene zweite Band der Politischen Schauspiele zeigt in den Stücken jeweils nur eine der sich feindlich gegenüberstehenden Parteien.177 Die konträren politischen Überzeugungen werden hier nicht argumentativ gegeneinander ›inszeniert‹, vielmehr wird jeweils nur der Tyrann oder nur seine unterdrückten und deshalb leidenden Gegner in den Vordergrund gestellt, wobei ausführlich auch deren privates Verhalten geschildert wird. Das Stück Thrasea Pätus zeigt die um Thrasea Pätus versammelten Republikaner, die wegen unterlassener Ehrbezeugungen gegenüber Kaiser Nero zum Tode verurteilt werden. Obwohl sie den moralischen und politischen Verfall von Rom beklagen, leisten sie, anders als die Patrioten im ersten Dramen-Band, keinen aktiven Widerstand gegen den Tyrannen, was Thrasea Pätus selbstkritisch im Rückblick kurz vor seinem Tod konstatiert:178 Es sind Tugenden, deren sie mich angeklagt haben. Aber wie will ich es entschuldigen, daß ich den Verurtheilungen, den Hinrichtungen, den Verwüstungen, geduldig, unempfindlich,zugesehen habe? Ich habe eine gesezte Mine dazu gemacht, und ihnen nur nicht zugejauchzet. Ich habe keinen Versuch gethan, Rom, die Erde, die Menschlichkeit zu retten. Ich habe lieber den Tod ohne Widerstand erwartet, als durch Widerstand entfernet.179
Im Stück Nero steht, komplementär zu Thrasea Pätus, der Tyrann im Zentrum. Nero wird, der Darstellung Suetons folgend,180 als egozentrischer und jegliche politische Klugheit entbehrender Herrscher gezeigt, der deswegen entmachtet wird und sich in den Selbstmord flüchtet. Ähnlich inhuman erweist sich auch Octavius Cäsar in dem gleichnamigen Stück. Anders als Nero besitzt Octavius Cäsar ein, wenn auch ›falsches‹ und deshalb kritisiertes politisches Bewusstsein. Durch das wollüstige Verhalten seiner Tochter Julia, die durch den fortwährenden Wechsel ihrer Liebhaber zum Gespött der Römer geworden ist, sieht Octavius
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Bodmer: Politische Schauspiele. Zweytes Bändgen. Aus den Zeiten der Cäsare.Lindau und Chur, bey der typographischen Gesellschaft 1769. Im Folgenden als ›PS, II‹ zitiert. Damit akzentuiert Bodmer die Darstellung in der verwendeten Vorlage (Tacitus: Annalen 16), vgl. hierzu Scenna (1937), S. 88–93. Bodmer (PS, II), S. 234. – Angesichts dieser Klage von Thrasea erscheint die Einschätzung von Scenna, dass Bodmer in diesem Drama den »ideal patriot« (Scenna (1937), S. 93) darstelle, nicht haltbar. Thrasea besitzt zwar republikanischpatriotische Überzeugungen und legt auch angesichts seines Todesurteils eine stoische Gemütsruhe an den Tag, wie Scenna zu Recht hervorhebt (vgl. ebd., S. 92), lässt aber gerade den aktiven Kampf für die Republik, durch den sich der Patriot auszeichnet, vermissen. Vgl. ebd., S. 130–135.
272 die »Majestät [s]eines Scepters«,181 d.h. seine Ehre besudelt und dadurch auch seinen Nachruhm bei späteren Generationen gefährdet.182 Er will deshalb nicht nur Gesetze erlassen, welche die üble Nachrede als Hochverrat qualifizieren,183 sondern auch seine Tochter von ihrem lasterhaften Treiben abbringen und lässt deshalb deren Liebhaber umbringen. Positive Eigenschaften fehlen ihm als Vater – das Gegenmodell hat Bodmer anhand des biblischen Jacob dargelegt – und als Ehemann: Er hat ein Verhältnis mit der Frau seines besten Freundes. Außerdem erkennt er auch nicht, dass seine Frau Livia hinter ihm herspioniert und politische Intrigen gegen ihren Mann plant. Gezeigt wird somit der moralisch verdorbene Privatmann und nicht der Politiker Octavius, worauf auch in der Vorrede in einer programmatischen Wendung hingewiesen wird: Octavius werde »in seinem Kabinete« gezeigt,184 wo »er die Maske des Prinzen abgelegt hat, und genöthigt ist, in sich selbst zu gehen, und sich dann zu zeigen, der er ist«.185 In Anlehnung an seine historiographischen Überlegungen, in denen er die Entdeckung der individuellen Handlungsmotive zu einer wesentlichen Aufgabe der Geschichtsschreibung erhoben hatte, führt Bodmer hier den ›privaten‹ Herrscher vor. Nach seiner Auffassung lässt sich die öffentliche Handlungsweise nicht von der privaten trennen; das private Betragen ist stets Ausdruck des zu erwartenden politischen Verhaltens. Wer sich privat als »Unmensch« erweist,186 der ist politisch und in der Öffentlichkeit der »Mörder der Republik und alles dessen, was Rom Heiliges, Großes, Gutes, und Schönes hatte«.187 Die Dramen des ersten Bandes stellen das politische Verhalten der Patrioten in den Vordergrund.188 In dem Drama Marcus Brutus werden nicht nur die Motive der Patrioten für den Widerstand erläutert, sondern auch weitere Formen des möglichen Verhaltens gegenüber dem Tyrannen dargelegt. Während sich die jungen Patrioten um Marcus Brutus für den aktiven Kampf gegen Julius Cäsar entscheiden, wird mit Cicero auch eine 181 182 183 184 185
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Bodmer (PS, II), S. 15. Vgl. ebd., S. 56f. Vgl. ebd., S. 58. Bodmer (PS, II), S. 3. Bodmer (PS, II), S. 3f. – In der Vorrede zitiert Bodmer in diesem Zusammenhang auch aus Suetons De Vita Caesarum (Kaiserviten), die neben Plutarch und Tacitus die historischenSchilderungenfür Bodmers Drama darstellten;vgl. Scenna (1937), S. 52–57. Ebd., S. 37. Ebd., S. 39. – In der Vorrede heißt es entsprechend: »der Vater war [auch] der Tyrann« (ebd., S. 5). Scenna rechnet drei (Marcus Brutus, Timoleon von Korinth und Pelopidas) der insgesamt fünf in diesem Band enthaltenen Dramen zu seiner Unterkategorie ›Patrioten‹ (vgl. oben) und erkennt das Verhalten der Patrioten als zentrales Thema der Stücke.
273 Figur eingeführt, die zwar republikanisch und somit gegen Cäsar gesinnt ist, sich aber lieber durch die Flucht auf seine Ländereien der Politik entziehen möchte. Eine andere Gruppe passt sich den gegebenen politischen Verhältnissen an und lehnt den Kampf gegen den Tyrannen explizit ab, weil sie einerseits einen daraus entstehenden Bürgerkrieg befürchtet, andererseits aber auch für die Belange des Volkes kein Interesse hat und stattdessen nur auf die eigenen persönlichen Vorteile bedacht ist.189 In Tarquinius Superbus sind die Untertanen des tyrannischen Herrschers nicht in einzelne Gruppierungen zerfallen, sondern lehnen sich als ganzes Volk gegen die lasterhaften Taten auf. Nach der Vergewaltigung und Ermordung der Lucretia durch den Herrschersohn Sextus vertreibt das Volk die Herrscherfamilie.190 Einig mit dem Volk wissen sich die patriotischen Kämpfer auch in dem Stück Pelopidas, in dem sie allerdings nur mit einer List den fremden, aus Sparta stammenden Herrscher töten und beseitigen können.191 Da in allen Stücken das Verhalten der Patrioten ähnlich begründet wird und Bodmer die poetischen Charactere als identisch begreift,192 soll im Folgenden durch die Analyse des Dramas Timoleon von Korinth die Eigenschaften und Handlungsmotive der Patrioten bestimmt werden. Meier hat seine Interpretation von Bodmers Timoleon aus einer stoffgeschichtlichen Perspektive vorgenommen und Bodmers Dramatisierung der historischen Vorlage mit denjenigen von Georg Behrmann und Vittorio Alfieri verglichen.193 Dabei hat er festgestellt, dass sich Bodmer vor allem auf die »politische[ ] Thematik« konzentriere und die Tyrannei als bereits etablierte Staatsform beschreibe, um dadurch »nachdrücklicher auf die gleichgearteten Machtverhältnisse in der aktuellen Realität der stabilen Staaten verweisen« zu können.194 Während Meier somit die von Bodmer intendierte »ideologische Homologie zwischen dem antiken Korinth und den deutschen Staaten des 18. Jahrhunderts« hervorhebt, spricht er gleichzeitig davon, dass Bodmer die »Betonung der individuellen Problematik«, die in den Dramen der anderen Autoren ausführlich 189
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Wichtigste Quellen waren für Bodmer Plutarchs Kaiserbiographien und auch Shakespeares Dramatisierung; vgl. Scenna (1937), S. 104–112. Bodmer stützte sich auf die Überlieferung bei Livius (Ab urbe condita), vgl. ebd., S. 126–130. Bodmer benutzte für dieses Stück vor allem Plutarchs Parallelbiographien, vgl. ebd., S. 115–118. Vgl. etwa die Rede von Portia an ihren Mann Marcus Brutus: »Könnte ich von einem Unternehmen zurükzittern [sic], welches meinen Brutus zu seinen Voreltern, zu Pelopidas, […], Timoleon, und allen den grossen Namen hinaufhebt, die sich der menschlichen Rechte gegen ihre Räuber angenommen haben!« (Bodmer (PS, I), S. 6f). Vgl. Meier (1993), S. 129–147. – Behrmanns Drama Timoleon. Der Bürgerfreund wurde 1735 uraufgeführt, Alfieris Timoleone erschien 1783. Meier (1993), S. 270.
274 dargelegt wird, vermeide.195 Vergleicht man Bodmers Dramatisierung mit den anderen Stücken des ersten Bandes der Politischen Schauspiele, so zeigt sich jedoch, dass er anhand der Figur Timoleon gerade den persönlichen Konflikt, in den ein Patriot durch seinen Kampf für die Republik geraten kann, thematisiert. Timoleon wird als Patriot vorgeführt, der wegen seiner Menschlichkeit vor dem Mord an seinem Bruder Timophanes, der als Tyrann in Korinth herrscht, zurückschreckt: Er [Timoleon; J. R.] fluchet dem Bruder, der den Staat niedergestürzet hat, und auf seine Ruine getreten ist. Wie gern würd er seine gutthätige Hand bieten, ihn wiederaufzurichten;aber durch einen Brudermord– davor schauert seinem milden, brüderlichen Herzen. Seitdem Korinth eine Sklavinn [sic] ist, so ist sein feuriger Geist zu Asche zerfallen, er ist nur noch der Schatten des vormals aufgewecktesten Kopfes […].196
Timoleon steht somit vor einem ähnlichen Konflikt, vor dem auch Kritolaus in dem Drama Die Tegeaten steht. Wo aber Kritolaus diesen gleich zweimal überwindet und sowohl seinen Schwager als auch seine Schwester ermordet und somit die Pflicht über die Menschlichkeit siegen lässt, da zögert Timoleon (fast zu) lange. Auch nachdem die Göttin Ceres als Dea ex machina erscheint und Timoleon explizit den Auftrag gibt, den Tyrannen zu töten,197 und neben der Rechtfertigung für die Tat auch deren Erfolg garantiert, kann sich dieser kaum dazu entschließen. Timoleons Mitstreiter Satyrus und Aeschylus müssen ihn in der Folge zunächst ebenfalls von der Legitimität des Tyrannenmordes überzeugen, ehe Timoleon zur Tat schreitet.198 Im Gegensatz zu den Patrioten in Die Tegeaten erörtern hier Republikaner und nicht treue Monarchisten das Verhältnis von Vaterlandspflicht und Menschlichkeit: Während Kritolaus zu wenig Menschlichkeit besitzt, besitzt Timoleon beinahe zu viel davon und scheint sich eher für die Menschlichkeit als für das Vaterland entscheiden zu wollen. Durch das Zureden seiner Freunde, die nicht nur auf den göttlichen Auftrag und Beistand verweisen, sondern auch eindringlich die Aufopferung für das – hier nun eigentlich gute, wenn auch zur Zeit verkommene – Vaterland einfordern, erkennt Timoleon schließlich seinen Fehler. Als er Timophanes nach langem Zögern erwürgt – hierin weicht Bodmer von den historischen Quellen ab, die Timoleon
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Ebd. – So auch Astrid Arndt: Timoleon von Korinth, ein politisches Trauerspiel. In: Dramenlexikondes 18. Jahrhunderts.Hg. v. Heide Hollmer, Albert Meier. München 2001, S. 32–33, hier S. 32. Bodmer (PS, I), S. 231, vgl. auch: »Soll ich meinen Bruder umbringen, wie würde ich meine Unschuld mit der unmenschlichen That beflecken«. (ebd., S. 258). »Dir [bringe ich] unangenehme Befehle, die aber in den Tafeln des Schicksals beschlossen sind. Du musst den Unterdrücker von Korinth zu meinem Eidam schicken.« (Ebd.). Vgl. ebd., S. 261–263.
275 keine direkte Beteiligung am Tyrannenmord zuschreiben –,199 bedauert er seine Tat, weil er gegen seine natürliche Neigung handeln muss: »Ich fluche dem Mann, der mir meine natürlichsten Empfindungen nimmt«.200 In derselben Situation verflucht Aeschylus den Tyrann, der »uns unsere Rechte und Gesetze genommen hat«.201 Aeschylus, der den idealen republikanischen Patrioten verkörpert,202 wird nicht durch zu viel Menschlichkeit vom Kampf fürs Vaterland abgehalten,203 sondern treibt den Tyrannensturz voran, da er bei seiner Rückkehr in seine Heimatstadt diese »gefallen« vorgefunden hatte.204 Während Korinth vormals »nach Gesetzen [lebte], von welchen du von deiner natürlichen Freyheit dir nichts als das Nöthigste hattest nehmen lassen«, so ist es nun dem »Eigensinn eines einzigen Mannes« unterworfen.205 Damit ist bereits mit den ersten Sätzen des Dramas die politische Situation von Korinth klar definiert: Korinth hat sich von einer Republik in eine Tyrannei verwandelt. Einerseits artikuliert Bodmer damit seine politischen Ideale, wonach die aus dem Naturzustand abgeleiteten Rechte des Menschen weitgehend zu bewahren seien, andererseits wird durch die Rede, dass der Eigensinn eines Einzelnen an die Stelle der Gesetze getreten sei, in Anlehnung an Rousseau auch deutlich, dass in Korinth ein gesetzloser Zustand herrscht, in dem der ehemals bestehende Gesellschaftsvertrag durch die Herrschaftsaneignung aufgelöst wurde:206 Ein gewaltthätiger Mann hat ihr [Korinth; J. R.] den Fuß auf den Nacken gesetzet, Rechte, Gesetze, Rath, Versammlung der Bürger sind dahin; es sind schallende Nahmen, er ist das alles. Von seiner schwindlichten Herrschsucht hingerissen verrichtet er das Werk des Todes an allen, die ihm durch Adel der Seele, durch Liebe für Rechte und Vaterland verdächtig sind.207
Der Tyrann hat nicht nur sämtliche republikanischen Staatseinrichtungen zerstört, sondern bekämpft auch systematisch jeden Patrioten, der 199
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Vgl. Scenna (1937), S. 113. – Durch diese Abweichungmacht Bodmer deutlich,dass Timoleon ›trotz‹ aller Menschlichkeit ein guter, handlungsfähiger Patriot ist. Bodmer stützte sich auf die Darstellungen von Cornelius Nepos (Liber de excellentibus ducibus exterarum gentium) und Plutarch (Parallelbiographien). Bodmer (PS, I), S. 268. Ebd. So auch schon Meier (1993), S. 273. Die Trennung, die Aeschylus in dem oben zitierten Gespräch vornimmt, zwischen Bruder und Tyrann zeugt von Aesychlus›richtiger‹Menschenliebe:Dem Menschen an sich, dem Bruder, ist er nicht abgeneigt, Hass hat er aber für die ›bürgerliche‹ Rolle dieses Menschen als Tyrann. Diese patriotische Differenzierung findet sich etwa auch bereits im Titel von Bodmers Schweizerischen Schauspiel Der Haß der Tyranney und nicht der Person, Oder: Sarne durch List eingenommen. Bodmer (PS, I), S. 225. Ebd. Montesquieu hatte den Verfall der Demokratie bzw. der Monarchie ähnlich beschrieben (vgl. Montesquieu (EL), Livre VIII, ch.2 und 6). Bodmer (PS, I), S. 233f.
276 sich um das Allgemeinwohl sorgt. Damit wird der Despotismus und das im Eigennutz gründende Verhalten des Tyrannen grell beleuchtet und gleichzeitig den Patrioten auch die politische und moralische Legitimation erteilt, Widerstand zu leisten. Während Timoleon und Satyrus den gegenwärtigen Zustand von Korinth zwar beklagen, aber nicht zur Tat schreiten und damit eine ähnliche Verhaltensweise wie Thrasea Pätus an den Tag legen, fordert Aeschylus die beiden zum aktiven Kampf für das Vaterland auf. Als Motivation wird hierbei nicht wie in der Monarchie die »Ehre« angeführt, sondern die Bewahrung der Freiheit: Nein doch; wir wollen nicht alle Hoffnung mit feigem Gemüth aufgeben, wir wollen spähen, ob nicht in verachteten, verborgenen Bürgern Heldenseelen athmen, deren heimlich loderndes Feuer von Hindernissen selbst in Brand geräth; Männer, denen Leben und Tod gleichgültige Sachen sind, wenn die Sache der Freyheit und des Vaterlandes eine gefährliche That von ihnen fodert. Timoleon sollte dem Begriffe eine Genüge [sic] thun, den ich mir von seiner Seele gemachet habe. Ich hielte ihn in seiner zarten Jugend für eine Gabe der Götter, die ihn Korinth geschenkt hätten, daß er sie vor jedem Anfall der Tyrannie, der Weichlichkeit, und des herrschsüchtigen Stolzes beschützete.208
Neben den familiären Verbindungen zu Timophanes halten Timoleon zunächst auch die unsicheren Erfolgsaussichten des Kampfes von der Tat ab. Er weist darauf hin, dass der korinthische National-Character bereits vor der Machtergreifung von Timophanes verdorben war. Die Wiederherstellung der Republik würde somit im Grunde nicht mehr den Sitten des Volkes entsprechen. Damit stößt er in einen grundlegenden Problemkomplex, der auch Bodmers Poetik des politischen Trauerspiels immanent ist: Die Patrioten stehen vor der Aufgabe, nicht nur den Tyrannen beseitigen, sondern auch im Volk ›Überzeugungsarbeit‹ für die eigenen Ansichten leisten zu müssen. Diesen Aspekt hatte Bodmer in seiner Poetik durch die Beschränkung der Leserschaft auf die Gesinnungsgenossen ausgeklammert. Anders als in den übrigen politischen Dramen scheint durch die Tatsache, dass im Volk, das den zentralen Bezugspunkt der Patrioten bildet, keine republikanische Gesinnung mehr herrscht, die Tat der Patrioten grundsätzlich in Frage gestellt. Ohne diese Frage im Stück erschöpfend zu beantworten, bricht Bodmer durch eine Frage Aeschylus’, die Zweifel an der historischen Richtigkeit von Timoleons Darstellung weckt, diese Erörterung ab.209 Durch den Auftritt von Ceres und deren Beglaubigung des Erfolges werden die Zweifel dann endgültig beseitigt.210 208 209
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Ebd, S. 230. »Waren sie [die Sitten; J. R.] so verderbt, als du sagst, Timoleon, oder war das ein verschwärztesGemählde, einen Bruder zu beschönigen? Ist nicht in deinem Herzen eine geheime Saite, die zu seiner Herrschaft gestimmt ist?« (Bodmer (PS, I), S. 237). Meier erkennt in Timoleons Schlussrede, in der dieser ankündigt, gegebenenfalls das Korinthische Volk »zu Freyheit, und menschlichen Rechten und Sitten zwin-
277 Die Geschichte des Sittenzerfalls des Volkes und damit der Polis von Korinth lehnt sich an die von Montesquieu herausgearbeiteten Prozesse an. Montesquieu hatte im Esprit des Lois den Luxus als Hauptgrund angeführt, der die Republik gefährde. Durch den sich ungleichmäßig ausbreitenden Reichtum würden sich die Bürger vom Gemeinwohl abwenden und sich verstärkt auf ihre Eigeninteressen konzentrieren: A mesure que le luxe s’établit dans une république, l’esprit se tourne vers l’intérêt particulier. A des gens à qui il ne faut rien que le nécessaire, il ne reste à désirer que la gloire de la patrie et la sienne propre. Mais une âme corrumpue par le luxe a bien d’autres désirs.211
Entsprechend sind in Bodmers Drama aus den ehemaligen Republikanern »artige[ ] Wollüstlinge« geworden, die sich nicht mehr für den Staat interessieren.212 Zudem ging durch den Reichtum neben den Tugenden auch die ursprüngliche Gleichheit der Bürger verloren: »Ich halte beynahe für unmöglich, daß Freyheit und Gesetze da seyn können, wo solche ungeheure Ungleichheit von Reichthum und Armuth eingeführt ist«.213 Aber nicht nur das Volk, sondern auch die ursprünglich regierenden Aristokraten kümmerten sich mit der Zeit nicht mehr um das Allgemeinwohl und den Staat, sondern waren nur noch auf ihre eigene Machtsicherung bedacht.214 Damit war die Republik Korinth schon verfallen, bevor
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gen« zu wollen (Bodmer (PS, I), S. 269), eine »logische[] Unstimmigkeit« (Meier (1993), S. 275). Ceres habe den glücklichen Ausgang und die Wiederherstellung der Sitten bereits prophezeit, womit Timoleons Absicht, das Volk zur Freiheit zu zwingen, obsolet wäre. Da Meier Bodmers Drama als konkrete antiabsolutistische Handlungsanweisung für Patrioten des 18. Jahrhunderts liest (vgl. oben), denen eine Göttin keinen konkreten Beistand leisten könne, biete Bodmer mit dem »Konzept einer Diktatur der Tugend« eine ›realistischere‹ Alternative an (ebd.), wie man die Wiederherstellung der Republik erfolgreich abschließen könne. Aus der Perspektive meiner Lesart ist Timoleons Rede als Ausdruck seiner Menschlichkeit zu deuten: Durch den ›Zwang zur Tugend‹ versucht Timoleon sicherzustellen, dass sein Brudermord nicht vergebens war. Montesquieu (EL), Livre VII, ch.2. Vgl.: »Wenn man einmal den seligen Geschmack an den Rechten des Staates, den Sitten, und der wahren Ehre verlohren hat, wenn man an ihrer statt die Neigung zur Pracht, zu Banketen, zur Weichlichkeit hat Wurzeln schlagen lassen, so erwarte man nichts mehr von diesen geschwürvollen Seelen, da ist keine Kraft mehr, oder was für Kraft noch da ist, die wird gebraucht, daß sie sich in dem Besitz ihrer schändlichsten Ergötzlichkeiten beschützen.« (Bodmer (PS, I), S. 232). Ebd., S. 235. »Im Anfang machten sie sich Ehre draus, die Gesetze und Sitten zu beschützen, als sie es noch mit einigem Beyfall thun konnten, und vielmehr ihr Ansehn geschwächt hätten, wenn sie anderst gehandelt. Aber sie gaben nach, als die Tugend nur noch furchtsame, zerstreute, erschrockene Anhänger hatte, sie wurden kaltsinniger, und als die Seuche itzt in das Geblüte getreten war, gaben sie es verlohren.« (Ebd., S. 228). Da sich der Souverain nicht mehr um die Sitten und Gesetze kümmerte, war die Republik zerstört und die Machtergreifung eines Tyrannen somit nur noch eine Frage der Zeit: »Verhehle dir selbst nicht, Aeschylus, daß wir Tyrannen hatten, ehe dieser Unselige der Tyrannie einen Nahmen gegeben hatte; als noch ein
278 Timophanes zur Macht kam, der die zur Machtergreifung nötigen Soldaten mit einem größeren Soldversprechen leicht auf seine Seite ziehen konnte:215 Korinth, Korinth! Ich sehe, daß du kein Staat mehr warest, ehe Timophanes dir Fesseln angelegt hatte; der Staat war schon dahin, als die sittliche Springfeder abgenutzt war. Der Untergang ist da, so bald die Gesetze darnieder liegen.216
Mit der Schilderung des durch den Luxus verursachten Sittenzerfalls dramatisiert Bodmer ein aktuelles politisches Thema der eidgenössischen und zürcherischen Patrioten. Um die Jahrhundertmitte erlebte Zürich einen ökonomischen Aufschwung, dessen Auswirkungen im Winter 1754/55 Gegenstand politischer Debatten wurden. Angesichts des sich ausbreitenden Reichtums und zunehmenden Wohlstands beriet der Grosse Rat in Zürich über den Erlass sogenannter »Aufwandgesetze« gegen den Luxus, wobei sich Bodmer allerdings skeptisch über deren Wirksamkeit äußerte. Er hielt die Korruption durch den Reichtum schon für zu weit fortgeschritten: Man findet der Luxus sei eine Consequence der Industrie, der Abondance, des commerce; diese Sachen möchten Schaden leiden, wenn man die Früchte davon untersagte. Aber man findet auch, daß der Luxus eine starke brêche in den Esprit d’egalité et de moderation machet, welche einem popularen oder halb popularen Staat so wichtige principia sind. Une ame corrompue par le luxe a bien d’autres desirs que l’amour de la patrie.217 – Es ist da am wenigsten ein rechter Ernst. Die vanité ist bei den Vornehmen so groß als bei den Gemeinen. Sie glauben nicht, wie absurd die Pracht in Kleidern, Meublen, Speise, Trank gestiegen ist. Qui reprimera ceux qui devroient eux mêmes reprimer? Wenn die Sitten verdorbensind, so werden sie nicht per saltum corrigiert. Was für sentiments soll ein vater seinen Kindern einpflanzen, der selbst keine hat? welche auferziehung soll er ihnen geben, da er selbst sie nöthig hat?218
Der Zustand des Zürcher Staates lässt sich somit mit demjenigen von Korinth vergleichen, bevor Timophanes die Macht ergriff: Auch in Zürich herrschen Sitten, die durch den Luxus verdorben sind. Damit schreibt sich dem Drama eine lokalpolitische Bedeutung ein, die sich als Warnung für die Zürcher Republik erweist. Wenn die Gesetze und Sitten
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Senat und Versammlungender Gemeinde waren, verfehltendie Bestgesinntenihren Zweck, weil bey ihren Miträthen keine Handhabe übrig war, wo man sie angreifen konnte. Was that es den Grossen, daß das Volk ungesittet war? Sie konnten es desto leichter nach ihrem Willen führen, und sie hatten desto mehr Recht es zu verachten. Die Schwäche des Staates machte sie stark, warum sollten sie ihr gesteuert haben? Es war ihnen weniger daran gelegen, daß der Staat, als daß ihre Macht befestiget bliebe.« (Ebd., S. 236). – Das Verhalten der Aristokraten wird gemäß der Darstellung Montesquieus geschildert, vgl. Montesquieu (EL), Livre VIII, ch.5. Vgl. Bodmer (PS, I), S. 228f. Ebd., S. 228. Bodmer zitiert hier Montesquieu, vgl. obiges Montesquieu-Zitat. Bodmer an Laurenz Zellweger, 6. Februar 1755. In: Zehnder (1875), S. 691, vgl. auch Tröhler (2006), S. 47f.
279 von den Zürchern, aber auch in anderen Republiken, nicht be- und geachtet werden und damit der Staat nicht über die Eigeninteressen gestellt wird, drohen den Zürchern diejenigen gesellschaftlichen Veränderungen, welche die Korinther erfahren mussten. Das Drama übt somit Kritik an den herrschenden Zuständen, welche die Republik in ihren Grundfesten erschüttern könnten. Wie sehr sich Bodmer mit der Luxus-Frage beschäftigte, erhellt sich auch aus der Tatsache, dass er sich angesichts der Debatte über die Luxus-Gesetze überlegte, ob man nicht ein »Reglement« einführen könne, das den Ratsmitgliedern, also den regierenden Zürcher Aristokraten, den luxuriösen Aufwand verbieten und sie zur Mäßigung und zur einfachen und bescheidenen Lebensführung anhalten sollte. Dadurch könnten sie zu Vorbildern für die übrigen Bürger werden.219 Diese konkrete realpolitische Maßnahme versuchte Bodmer nicht im Rat durchzusetzen, weil er sich seiner isolierten Stellung im Zürcher Grossen Rat bewusst war. Seine realpolitische Isolierung gründete, das erscheint angesichts der Epen und Dramen kaum überraschend, in erster Linie in Bodmers moralischer Prinzipienhaftigkeit, die sich nicht mit der zeitgenössischen Politik vereinen ließ.220 Statt sich direkt mit den Zürcher Politikern anzulegen, wandte sich Bodmer daher der jüngeren Generation zu, die er insbesondere in der Gerwi-Gesellschaft, aber auch mit seiner Literatur, zu patriotisch gesinnten Politikern ausbilden wollte.221 Die »Kernthese vom moralischen Fundament des Politischen«,222 die sich in Bezug auf die Realpolitik zu erkennen gibt, scheint auch im Gespräch der Patrioten über das Ideal eines guten Herrschers durch: Ein guter Herrscher, dessen Herrschaft die Patrioten anerkennen könnten, müsse über ein »reines Herz« verfügen, weil er damit »gut und gerecht« sein könne.223 Er besitze nur den »Glanz eines Prinzen« und habe seine Gewalt der »Gerechtigkeit und dem gemeinen Besten« untergeordnet, 219 220
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Vgl. Giroud (1921), S. 46f. Vgl. hierzu zuletzt Graber: ›Aber sie sagten, dass sie keine Lumières haben wollten‹. Bodmers Position im Zürcher Aufklärungsdiskurs am Beispiel des ›Genfer Geschäfts‹ und des ›Waser-Handels‹. In: Lütteken, Mahlmann-Bauer (2009), S. 365–385. – Giroud ist in seiner Studie zu ähnlichen Resultaten gekommen: Bodmers Vorbehalte gegenüber den Ratsmitgliedern bestehen vor allem in der »Grundsatzlosigkeit der Zürcher Regierung« (Giroud (1921), S. 22), also in der nicht auf (moralischen) Prinzipien aufbauendenTagespolitik;diplomatischeWinkelzüge lehnt Bodmer ab, da sie nicht von tieferen Einsichten getragen und nur Ausdruck von »Passionen und Einbildungen«seien (ebd.). Bereits drei Jahre nachdem er 1737 Mitglied des Grossen Rates wurde, wünschte sich Bodmer ein »Systema von Politik und Rechten […], das gründlich und nett wäre, und dass man hernach darauf als fundamentalia schwören müsste und die Grundsätze daraus als heilig und festgesetzt anzunehmen verbunden wäre« (Bodmer an Laurenz Zellweger, 19. Oktober 1740, zit. nach ebd., S. 28). Vgl. hierzu auch Reiling (2008), S. 526–541. Meier (1993), S. 273. Bodmer (PS, I), S. 248.
280 wodurch er »nichts ungerechtes gedenken noch unternehmen läßt«;224 der gute Herrscher entspricht auch hier dem von Joseph oder Colombo verkörperten Ideal. Timophanes stellt das exakte Gegenteil dar: Er hat sich schon in seiner Jugend als ein »leerer Kopf, ohne Genie, ohne Talente«,225 als ein »Wirbelwind« erwiesen,226 der als Erwachsener ebenfalls lasterhaft handelt, indem er seinen wollüstigen Trieben nachgibt und an seinem Hochzeitstag gleich zwei Frauen heiratet und damit gegen die herrschenden (Ehe-) Sitten verstößt. Entsprechend hat Timophanes auch nicht die Beförderung des Allgemeinwohls im Sinne, sondern ist nur auf seine Eigeninteressen und seine persönliche Machtsicherung fixiert: »Kannst du nimmer begreifen, daß die Menschen von Natur ungleich sind, daß wenige Auserwählte der Götter zur Herrschaft, die andern zur Knechtschaft gebohren sind?«227 Mit der Verkehrung der von Bodmer vertretenen republikanischen Überzeugung der Gleichheit und Freiheit aller Menschen legt Timophanes Zeugnis seiner verkommenen Politik ab.228 Aufgrund seiner herausragenden gesellschaftlichen Stellung leugnet er darüber hinaus auch sein Menschsein und erinnert damit an den Tyrannen Magog aus der Noachide: Es ist wahr, der Bruder verliert sich in dem Prinzen. Die Herrschaft zu haben ist der Gipfel, auf welchen die Götter den Menschen erheben können; der Zepter nähert mich zu den Vorrechten der Olympier. Der Herrscher bindet wie sie mit Gesetzen, und ist selbst an keine gebunden […]. Der Staat ist eine Einschränkung Aller zum Besten eines Einzigen.Je mehr Mitglieder darinnen sind, desto mehr muß jedes von seinen Rechten fahren lassen, damit der Prinz allein sie geniesse.229
Timophanes begründet sein Staatsverständnis mit der Ungleichheit zwischen ihm und seinen Untertanen und gibt damit zu erkennen, dass der korinthische Staat zerfallen ist. Wenn »der Fürst den Staat nicht mehr nach den Gesetzen verwaltet und sich die souveräne Macht anmaßt«,230 bricht er den Gesellschaftsvertrag:231 Für das Volk ist er nichts anderes mehr als sein Herr und Tyrann. Damit ist von dem Augenblick, wo sich die Regierung die Souveränität anmaßt, der Gesellschaftsvertrag gebrochen, und alle Bürger, die in ihre naturgegebene Freiheit zurückversetzt sind, gehorchen aus Zwang und nicht aus Pflicht.232
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Ebd. Ebd., S. 226. Ebd. Ebd., S. 266; vgl. Rousseau (1977), Kp. I.2. Vgl. ebd., Kp. I.1. Bodmer (PS, I), S. 245. Rousseau (1977), Kp. III.10. Vgl. hierzu Wolfgang Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt 1994, insbes. S. 154–179. Rousseau (1977), Kp. III.10.
281 Damit wird die tyrannische Herrschaft eindeutig als unzumutbare gesellschaftliche Fehlentwicklung charakterisiert.233 Der Kampf gegen sie, das bezeugt Bodmers Drama, ist die Pflicht aller Bürger.
4.4
Der moralisch und politisch gute Naturzustand
Während Bodmer im Timoleon von Korinth und in den anderen Stücken des ersten Bandes der Politischen Schauspiele den patriotischen Kampf gegen eine bereits etablierte tyrannische Herrschaft ›inszeniert‹, zeigt er in dem ebenfalls in diesen Band aufgenommenen Drama Italus den Kampf germanischer Patrioten gegen eine gerade erst entstehende ›Tyrannei‹ und für die Bewahrung ihres Naturzustandes. Das Drama kreist um die vordergründige Frage, ob die als Jäger und Viehzüchter verstreut in den Wäldern lebenden Cherusker in die Stadt »Lippeburg« ziehen sollen. Im Drama wird dabei vorausgesetzt, dass mit der Sesshaftigkeit auch ein zivilisatorischer und kultureller Wandel einhergeht, der die ursprünglichen Sitten der Cherusker durch die fremde römische Kultur verdrängen würde. Während der Cherusker Italus, der in Rom erzogen wurde, die vermeintlichen Vorzüge der römischen Errungenschaften bei den Cheruskern etablieren möchte, wehrt sich Sigoveses, Sohn von Arminius’ jüngstem Bruder Westmar, dagegen. In dem zunächst nur argumentativ ausgefochtenen Streit, der sich später in eine gewalttätige Auseinandersetzung wandelt, welche die Partei von Sigoveses gewinnt, werden Überzeugungen Rousseaus artikuliert: Das jugendliche Alter ist die unschuldigste Zeit der Menschen, und der Nationen; jeder Schritt, den ihr weiter thut, führt die Nation zum Verderben, ungewiß, ob er dem Glück eines Einzelnen forthelfe. Wenn ihr beschliesset in einer Stadt zu leben, so beschliesset ihr Ungleichheit unter den Menschen eines Stammes; ihr beschliesset Eigenthum solcher Sachen, die Aller sind. Ungleichheit und Eigenthum führen das Unrecht an der Hand; das Unrecht wird Gesetze, Gesetze werden Richter nöthig machen. Eigenthum, Ungleichheit, erschreckliche Nahmen, wie schrecklich die Sachen! Die gewissesten Uebel des städtlichen Lebens! Jtzt seyd ihr so gesund, so gut, so frey, so glücklich, als es eure Natur erlaubt; ihr seyd nur von den Dingen abhängig; dann werdet ihr es von den Personen seyn. Ihr werdet die Hülfe anderer haben, – und sie einer gegen den andern anwenden. Man wird sich ein Recht auf das anmassen, was man nicht gemacht, sondern nur daran gearbeitet hat. […] Unbekannte Bedürfnisse, Reichthum und Armuth, werden entstehn; Besitz und Bedürfniß werden zur Beschwerde werden; der Reiche und der Arme, beyde werden nicht froh, nicht sicher leben. Neid, Hartherzigkeit, Geitz, Ehrsucht, die Laster Italiens und Galliens werden in das Land kommen. Gesetze werden seyn, aber die zu beschützen, die im Besitze sind. Der Arme, der Schwache, muß seine Kräfte 233
Nach Rousseaus Definition erweist sich Timophanes als Despot: Während ein Tyrann lediglich unrechtmäßig die königliche Herrschaft erwirbt und nach der Machtübernahme aber nach den Gesetzten regiert, so setzt sich der Despot »über die Gesetze selbst hinweg« (Rousseau (1977), III.10).
282 anwenden, den Mächtigen, den Reichen noch mächtiger, noch reicher zu machen. Bauet denn eine Stadt Cherusken, aber seyd gewarnet, daß ihr euch Ketten verfertiget, und eure Nachkommen zur Arbeit, Dienstbarkeit, und Unterdrückung verdammet.234
Die von Sigoveses vorgetragene Rede gegen die Verbürgerlichung der Cherusker stellt eine Kurzfassung von Rousseaus Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes dar, weshalb Leonore Speerli den Italus als »eine Dramatisierung des zweiten Discours« bezeichnet hat.235 In der Tat hatte Bodmer dies auch mit seinem Drama beabsichtigt, wie er an Sulzer schrieb.236 Rousseau bezeichnet in seinem Zweiten Discours den Zustand der verstreut und in lockeren gesellschaftlichen Verbindungen lebenden Menschen als die glücklichste Epoche der Menschheit, in der die Menschen nicht mehr als tierähnliche Einzelwesen leben, aber auch noch nicht durch Gesetze reglementiert und von unnatürlichen Begierden angetrieben werden würden.237 Als die Menschheit diesen Zustand verlassen habe, differenzierte sich die Gesellschaft in funktionaler und sozialer Hinsicht weiter aus, womit sich die Ungleichheit unter den Menschen ausbreitete. Damit wurde, gemäß Rousseau, der Unterdrückung und Ausbeutung der Armen und dem lasterhaften Leben der Reichen die Tore geöffnet. Vor dieser Entwicklung warnt der Cherusker Sigoveses. Auch wenn Bodmer in der Schilderung der cheruskischen Lebensweise sich zum Teil wortwörtlich an Rousseaus Discours anlehnt, so versteht Bodmer den Naturzustand doch nicht in dessen Sinne als einen von jeglicher bürgerlichen Verfassung differenten Zustand. Die Gesellschaftsform der Cherusker lässt sich eher mit derjenigen der Republik Chus oder derjenigen der Eingeborenen im Colombona-Epos vergleichen. Im natürlichen Zustand lebt der Mensch in kleineren Familienverbänden, die jeweils autonom für ihren Selbsterhalt besorgt sind, aber gleichzeitig auch in lockerer Verbindung zu anderen stehen, mit denen sie regelmäßig 234 235
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Bodmer (PS, I), S. 174ff. Leonore Speerli: Rousseau und Zürich. Vom Erscheinen des ersten Discours bis zum Ausbruch der Revolution in Frankreich. Brugg 1941, S. 81; ebenso, allerdings ohne Bezug auf Speerli Pfalzgraf (2003), S. 258. Vgl.: »[I]n diesem Drama wird alles gesagt, was Rousseau gegen die societätische Ungleichheit eingewendet hat.« (Bodmer an Johann Georg Sulzer, 25. März 1765, zit. nach Rousseau: Correspondance complète de Jean Jacques Rousseau, Tome ´ XXIV. Edition critique établie et annotée par R. A. Leigh. Banbury, Oxfordshire 1975, S. 305 (Nr. 4196)). Vgl. Rousseau: Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes, hier zit. nach Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit = Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier. Paderborn, München, Wien, Zürich 5 2001 (UTB, 725), S. 193.
283 zusammenkommen. Gesetzliche Regelungen des Zusammenlebens gibt es sowohl bei den einzelnen Familienclans als auch für ihren gemeinsamen Verbund nicht, da gute Sitten herrschen, die Gesetze überflüssig machen.238 Auch die Cherusker verkörpern also Bodmers demokratischrepublikanisches Gesellschaftsideal, was besonders in der Rede von den guten Sitten deutlich wird. Hierbei rekurrieren Bodmers Schilderungen, von Rousseau abweichend, auf Tacitus’ Germania: Tacitus hatte in seinem historischen Bericht die rauen, aber unverdorbenen Sitten der Germanen den verdorbenen Sitten der Römer gegenübergestellt und gelobt. Die ehrlichen Verhaltensweisen der Germanen und ihr Desinteresse an Geldgeschäften, das für das Fehlen der ansonsten daraus entspringenden lasterhaften Begleiterscheinungen verantwortlich sei, würden die fehlenden Gesetze bei Weitem aufwiegen.239 Das wissen auch die Anhänger von Sigoveses: Die beste Verfassung der Stadt wird euch die Dienste nicht thun, die ihr ohne Gesetze von den Sitten eurer Väter habet. Lernet die Tugend schätzen, die ihr itzt der Einfalt danket, und fürchtet sie zu verlieren. Rufet dem Elend nicht zu euch, wenn wenige sich reich machen, daß tausend arm werden, und Mangel an dem haben, was jene zu viel besitzen.240
Differenzen zu Rousseau zeigen sich auch in der Frage nach dem Ursprung der bürgerlichen Gesellschaft. Rousseau erklärt diesen mit dem dezidiert kultur- und zeitkritischen Argument, wonach die Reichen die Armen zur Gesellschaftsgründung verführt hätten, weil sie so besser ihren Reichtum bewahren und vermehren konnten.241 Diese These findet sich bei Bodmer nicht, vielmehr begründet er die Entstehung der Gesellschaft auf eine dem traditionellen Naturrecht verpflichtete Art und Weise und ›entschärft‹ damit Rousseaus Verurteilung des Aktes der Gesellschaftsgründung. Die Befürworter von Lippeburg betonen, dass die Stadt »Sicherheit gegen jeden Feind« biete,242 zudem erhoffen sie sich 238
239 240 241
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»Ihr habet Spaten, Aexte und Beile, die Erde auszugraben, Holz zu hauen, Hütten aus Sträuchern zu wölben, die ihr mit feinem Tone bekleidet. Die Weiber sitzen daheim auf die Kinder Acht zu haben, indem die Männer ausgehn, den Unterhalt zu suchen. Jeder hat an seiner Hand genung [sic] sein Kleid mit Dornen zusammenzuhäften, den Baum zum Kahn zu graben, oder die musicalische Pfeife auszuhölen. Ihre versammelt euch schnell, den Wolf, den Bär, oder den Römer zu jagen. Wer wehrt es euch auf dem sonnigten Hügel, oder in dem Schatten der Eiche zusammenzukommen, zu singen, die Kesseltrommel zu rühren, oder Tänze zu leiten? Könnet ihr nicht da den Zuruf des Ruhmes geniessen, welchen die Stärke, die Munterkeit, die Schönheit verdienen? Ihr habet Sitten, welche euch die Gesetze unnöthig machen […].« (Bodmer (PS, I), S. 171), vgl. Rousseau (2001), S. 181–195. Vgl. Tacitus: Germania, 19,1ff; 22,3; 26,1. Bodmer (PS, I), S. 176. Vgl. Rousseau (2001), S. 215–219, vgl. Wolfgang Kersting: Jean-Jacques Rousseaus ›Gesellschaftsvertrag‹. Darmstadt 2002, S. 19–31. Bodmer (PS, I), S. 169.
284 durch den Zusammenschluss eine Weiterentwicklung von Wissenschaften und Künsten (vgl. dazu weiter unten). Reichtum ist für Bodmer nicht der (verschleierte) Grund der Gesellschaftsgründung, sondern stellt erst eine Folgeerscheinung der Vergesellschaftung des Menschen dar. Damit unterscheidet sich Bodmers Rezeption des Zweiten Discourses von einer weiteren Zürcher Lesart, die in der von Bodmer gegründeten Gerwi-Gesellschaft vorgetragen wurde. Francis Cheneval beschreibt das undatierte und ohne Verfassernamen versehene Referatsmanuskript als »a remake of the Second Discourse in the context of Zurich’s politics« und hält es für eines der ersten positiven deutschsprachigen Rezeptionszeugnisse.243 Das Manuskript, das sich wie Rousseaus Discours in zwei Teile gliedert, folgt auch inhaltlich Rousseaus Argumentation, die sogar noch prononcierter verkündet wird. In expliziter Abgrenzung zu Pufendorf und Montesquieu erläutert der unbekannte Verfasser die Ursachen der Gesellschaftsgründung. Da der Mensch ursprünglich durch das gegenseitig empfundene Mitleid im friedlichen Naturzustand lebe, kenne er das »Übel«, das ihm von anderen bereitet werden könne, gar nicht und folglich könne man auch nicht die Gesellschaftsgründung mit der Angst vor dem Übel erklären. Nicht die »Furcht« vor dem »gemeinschaftlichen Feind« habe den Menschen in den bürgerlichen Stand geführt,244 sondern er sei mit »Gewalt und Zwang« dazu gezwungen worden.245 Über Rousseau hinausgehend sieht der unbekannte Verfasser den gesellschaftlichen Zusammenschluss der Menschen nicht als betrügerischen, sondern als gewaltsamen Akt der Reichen an und verurteilt aus dieser Perspektive aufs Schärfste das Privateigentum.246 Auch Bodmer steht dem Privatbesitz sehr kritisch gegenüber, die These, wonach darin der Ursprung der bürgerlichen Gesellschaft zu sehen ist, lehnt er aber ab.247 Bodmer 243
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Francis Cheneval: The Reception of Rousseau’s Political Thought by Zurich’s ›Patriots‹. In: Böhler, Hofmann, Reill, Zurbuchen (2000), S. 425–445, hier S. 445. – Bei Speerlifindet sich ebenfalls eine kurze Zusammenfassungdes Referates; vgl. Speerli (1941), S. 133f. Zit. nach Cheneval (2000), S. 443. Ebd., S. 444. Vgl.: »Allein was ist das Eigentum überhaupt, und wer kann davon die Diplome von der Natur aufweisen? Antwortet ihr Grossen! Ihr Könige der Erden! Worauf gründen sich eure Forderungen, dass sie gültiger als die Forderungender Taglöhner sein sollten?« (zit. nach ebd., S. 443). Damit bestätigt sich die von Cheneval im Anschluss an Speerli herausgearbeitete Erkenntnis, dass Rousseau gerade auch bei seinen Anhängern in Zürich unterschiedlich verstanden worden war (vgl. ebd., S. 445). – In einem unpubliziert gebliebenen Dramenfragment zu dem bereits 1759 geschriebenen, aber erst 1775 veröffentlichten Drama Arnold von Brescia in Zürich äußert sich Bodmer, mit Anspielung auf Rousseau, ebenso kritisch wie dieser und der anonyme Redner in der Gerwi-Gesellschaft über das Besitztum: »[Der Graf] Werner fragt: ›ist es nothwendig, daß unter den Mitgliedern eines Staates einige viel besitzen, andere wenig oder nichts? Haben die Menschen nicht unter sich vertheilt, was die Natur
285 hält an der naturrechtlichen Überzeugung von der Sinn- und Zweckhaftigkeit der menschlichen Gesellschaft fest, die Rousseau mit seinen Überlegungen grundsätzlich in Frage gestellt hatte.248 Bodmers Kritik gilt somit lediglich der zu erwartenden Entwicklung der (Stadt-)Republik »Lippeburg«,249 nicht aber dem vergesellschafteten Zustand des Menschen an sich. Die Differenz zwischen Bodmer und Rousseau ist im Grunde sogar noch größer, da sich Bodmer in seiner Darstellung des Naturzustandes der Cherusker nur auf einen Aspekt von Rousseaus Naturzustandsbeschreibungen konzentriert. Den reinen Naturzustand hatte Rousseau nicht als gesellschaftlichen Zustand verstanden, sondern als einen Zustand, in dem jeder Mensch eine »einfache, gleichförmige und solitäre Lebensweise« habe.250 Die Vernunft sei in diesem Zustand nicht entwickelt, stattdessen besitze der Menschen einen Trieb zur Selbsterhaltung bzw. der Selbstliebe (amour de soi-même) und verfüge über ein Gefühl des Mitleids, das sich auch bei Tieren finden ließe.251 Im Naturzustand, so hatte Rousseau betont, trete das Mitleid »an die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend«.252 Die Zusammenkünfte mit anderen seien als die ersten Schritte zur Ungleichheit und zum Laster anzusehen; davon ist in Bodmers Drama nicht die Rede. Auf die Umschlagsseite seines Exemplars der deutschen RousseauÜbersetzung hatte sich Bodmer, auf Rousseaus ›tierischen Naturzustand‹
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hat allen gemein lassen wollen?‹ Arnold antwortet: ›Ihr habet da eine kitzliche Sache berührt. Es ist ganz offenbar, es sind die ewigen Gesetze des Universi, daß dem Menschen nichts für sich gehört, als was sein gegenwärtiger Zustand bedingt, was ihm jeden Tag zum Unterhalt oder zum Ergözen genug ist. Das Feld ist nicht dessen, der es pflügt, ihm gehört selbst von den Werken seines Fleißes nichts, als was er braucht, das übrige und seine Person selbst sind des ganzen menschlichen Geschlechtes‹. Graf Werner ist entsetzt: ›Mein Gott! dann sind alle politischen Anordungen, die diese göttlichen Decreten entgegen sind, Verbrechen. Ist nicht das harte, unempfindliche Eigenthum die Hebamme der Laster, die von der Verzweiflung und einem wütenden Mangel gebohren werden? Warum hebet die Religion, das theure Christenthum, diese verderblichen Einführung nicht auf ? diese Ungleichheit, die den Menschen so weit von dem Menschen unterscheidet?‹ Weil die Religion verderbt ist, antwortet Arnold.« (Bodmer: Manuskript Arnold von Brescia in Zürich, zit. nach Beise (1998), S. 85f.) Eine vergleichbare, aber von der Kirchenkritik absehende Passage findet sich auch in Bodmers Persönlichen Anekdoten; vgl. Bodmer (1892), S. 21. Rousseau hatte sich im Vorwort zu seinem Discours explizit von der Tradition des Naturrechts abgegrenzt; vgl. Rousseau (2001), S. 49–59. Allerdings wird in dem Drama nicht eindeutig gemacht, welche konkrete Staatsform in Lippeburg existieren soll. Während einige Ausführungen darauf hindeuten, dass eine Republik entsteht (vgl. Bodmer (PS, I), S. 175f.), gibt es auch andere Aussagen, die eine Monarchie nahelegen (vgl. ebd., S. 201). Rousseau (2001), S. 89. Vgl. ebd., S. 141–151. Ebd., S. 151.
286 Bezug nehmend, ein kurzes Exzerpt aus Joseph Priestley’s (1733–1804) Essay on the First Principles of Government (1768) eingetragen, in dem die Vernunft (»reason«) als natürliche, von Gott gegebene Fähigkeit des Menschen gepriesen wird.253 Durch sie hätten die Menschen eigentlich die Möglichkeit, ein ›vernünftiges‹, d.h. ein glückseliges Leben zu führen, wenn sie nicht von einigen anderen Menschen durch Unterdrückung oder Verführung davon abgehalten würden. Auch für Priestley weist die Vergesellschaftung des Menschen problematische Aspekte auf, die der freien Entfaltung der gegebenen Dispositionen des Menschen im Wege stehen. Sein politisches Ideal besteht demzufolge in einer Regierungsform, die dem Menschen möglichst wenige Beschränkungen auferlegt und vor allem die zivile Freiheit hochachtet. Das sieht er wie Bodmer vor allem in Gesellschaften mit demokratischen Strukturen gegeben.254 Bodmer folgt also eher Priestleys moderater Gesellschaftskritik, denn der radikalen Zeit- und Kulturkritik von Rousseau. Er präsentiert einen »zahmen Rousseau als moralisierenden Kulturkritiker«;255 oder anders gesagt: Bodmer inszeniert in dem Drama Italus nicht Rousseau, wie er in seinem Brief an Sulzer behauptete, sondern seine eigene Lesart von Rousseau. Vor dem Hintergrund der Rousseau-Rezeption erhellt sich auch ein weiterer Aspekt des Dramas. Es geht dabei um die Frage nach dem Verhältnis von Tugenden und Gelehrsamkeit, über das die Cherusker streiten. Während Sigoveses den bestehenden ›gesellschaftlichen‹ Zustand aufgrund der guten Sitten bewahren will, führen die Befürworter des Städtebaus neben der besseren Schutzmöglichkeit vor äußeren Feinden insbesondere die Weiterentwicklung der geistigen Fähigkeiten und
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Der Eintrag lautet: »Have we so little sense of the proper excellence of our natures, as to catch at a poor advantage adapted to the lower nature of brutes. Rather let us hold on in the course in which the divine being himself has put us, by giving reason its full play and throwingoff the fetters which shortsightedand ill-judging men have hung upon it. Though in this course we are liable to more extravagancies than brutes, governed by blind but unerring instinct, or than men whom mistaken system of policy have made as uniform in their sentimens and conduct as brutes, we shall be in the way to attain a degree of perfection and happiness of which they can have no idea.« (Eintrag in Rousseau: Abhandlung von dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen, und worauf sie sich gründet. Ins Deutsche übersetzt mit einem Schreiben an den Herrn Magister Lessing und einem Briefe Voltairens an den Verfasser vermehret. Berlin, bey Christian Friedrich Voß, 1756. Signatur der ZB Zürich 25.809.) – Das Zitat findet sich in der modernen Ausgabe Joseph Priestley: Political Writings. Hg. v. Peter N. Miller. Cambridge 1993 (Cambridge texts in the history of political thought), S. 45f. Peter N. Miller arbeitet heraus, dass sich die politischen Ansichten von Priestley auch im Streit um die Dissenters schärften; Priestley trat mit Nachdruck für religiöse Toleranz ein; vgl. ebd., Introduction. Mahlmann-Bauer (2008), S. 266.
287 technischen Errungenschaften an, die für den gesellschaftlichen Zusammenschluss in einer Stadt spreche: Die Bande der Geselligkeit müssen fester geschlossen, und mehr verbreitet werden. Dann werden Empfindungen und Begriffe zunehmen, Geist und Herz werden immer beschäftigt seyn, und an ihrer Wirksamkeit sich selbst ergetzen. In einem beschlossenen Orte, wo ein Heer von Menschen wohnet, arbeitet jeder nicht mit seiner Hand, oder mit seinem Witz allein, jeder genießt nicht nur seine Arbeit und seinen Geist, er hat die Hülfe aller andern. Daher entstehn grosse und geschickte Werke, und in sehr kurzer Zeit; die Künste, die Einsichten, bekommen mehr Vollkommenheit, verbreiten sich schneller, und gehen nicht leicht verlohren.256
Die Vermehrung und Verbesserung von Künsten, Wissenschaften und Technik würde, wie die Befürworter betonen, die Cherusker aus ihrem »jugendliche[n] Alter« herausführen, wodurch sie ihren Geist und ihre Fähigkeiten, die nur knapp über denjenigen der Tiere stehen würden, zu dem »männlichen Alter des Lebens« und den »Geschäften des Weisen« erheben könnten.257 In Aussicht gestellt wird von der Partei des Italus’ also eine neue Kulturstufe, welche die Cherusker erreichen könnten. Diese sei aber nicht nur an sich erstrebenswert, sondern bringe den Cheruskern auch mehr Sitten und Tugenden: »Die Tugenden der Cherusken sind Trägheit und Unwissenheit; […] zur Tugend gehört [aber] Wissenschaft und Vorsatz«.258 Die Beurteilung der gegenwärtigen Situation der Cherusker fällt somit unterschiedlich aus; während die eine Seite den Naturzustand in moralischer Hinsicht als positiv erachtet, hält die andere diesen für verbesserungswürdig. Während Bodmer, wie gesehen, die Partei um Sigoveses als Anhänger von Rousseau inszeniert, erweisen sich deren Gegner als Anhänger von Isaak Iselin, der – in expliziter Abgrenzung zu Rousseau – erst mit der Beförderung und Ausbreitung der Vernunft auch eine Verbesserung der Sitten einhergehen sah. Bereits in den Philosophischen und Patriotischen Träumen eines Menschenfreundes hatte sich Iselin gegen Rousseaus Verurteilung der Gelehrsamkeit in dessen Erstem Discours ausgesprochen und dabei auf die dem Menschen natürliche, »feurige Liebe zur Wahrheit« verwiesen.259 Auch 256 257
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Bodmer (PS, I), S. 173f. Ebd., S. 173, vgl. auch: »Gute Cherusken, es ist Armuth, Mangel, Unwissenheit, was euch einen glücklichern Zustand verbirgt, ihr habet den Witz nicht eine grössere Glückseligkeit zu denken. Witz hat das Pferd gezähmt, das Erz gehämmert, das Feld gebauet. Witz hat die Leiter an den Baum gestellt, auf seinen Gipfel zu steigen, das Beil gestählt, den dicksten Ast abzuschneiden, den Hasen Garne, und Stricke den Vögeln gelegt. Aber das ist er kleinste Nutzen, den wir von dieser göttlichen Gabe haben. Vortrefflichere, angenehmere Werke sind unser, wenn wir Witz haben.« (ebd., S. 172). Ebd., S. 202. Isaak Iselin: Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes. Zweyte und vermehrte Auflage. Zürich, bey Conrad Orell, und Comp. 1758, S. 205. – Vgl. zum Folgenden jetzt auch ausführlicher Vf. (2010), im Druck.
288 wenn es Gelehrte gebe, welche die Wissenschaft zu »Werkzeugen des Uebels und des Verderbnisses« missbraucht hätten,260 was Iselin ebenso wie Rousseau verurteilt, so habe die Gelehrsamkeit, wenn sie mit »Rechtschaffenheit und Tugend« einhergehe,261 einen grossen gesellschaftlichen Nutzen. Insbesondere für den Bürger einer Republik – hierin ist sich Iselin mit Bodmer einig –262 sei das politische Wissen grundlegend: Wer nicht weiß was die Natur von dem Menschen fodert, wer die Rechte nicht kennet, womit sie ihn versehen, wer die Quellen der Abweichungen davon nicht einsehen gelernet; wem die Natur der bürgerlichen Gesellschaft, die Ursachen ihrer Glükseligkeit[sic] und ihrer Verderbniß,die Quellen der Unordnungenund die Mittel dawider verborgen sind; wie soll der im Stande seyn die Pflichten zu erfüllen, die das Vaterland mit Rechte von ihm fodert, wenn er an der Regierung desselben Antheil nehmen will? Dieses ist also die erste, die wesentliche Wissenschaft eines guten Bürgers. Es ist die Gelehrtheit der Republikaner.263
Während Bodmer und Iselin in Bezug auf die Anforderungen an den zeitgenössischen Bürger übereinstimmen und die Kenntnisse über Gesetze, Rechte und Pflichten als wesentlich für jeden Bürger ansehen, unterscheiden sie sich hinsichtlich der Beurteilung des Naturzustandes. In seinem 1764 erstmals publizierten Werk Über die Geschichte der Menschheit hatte Iselin Rousseaus Lob des Naturzustandes scharf zurückgewiesen und Rousseaus Verfallsgeschichte eine Fortschrittsgeschichte der Menschheit gegenübergestellt, in der er die Höher- und Weiterentwicklung der Menschheit nachzeichnete.264 Diesen Verlauf versteht Iselin in Analogie zur Ontogenese, wonach der Mensch in seiner Kindheit durch die Sinnlichkeit determiniert sei und erst im Mannesalter seine Vernunft ausbilde und damit die höchste Entwicklungsstufe und »eine dauerhaftere und erhabnere Glückseligkeit« erreiche.265 Die Menschheit entwickle sich von der »äussersten Einfalt zu einem immer höhern Grade von Licht und von Wohlstande«,266 vom »Stand der Natur« hin zum »Stande der Sitten« bzw. vom »natürlichen Menschen« zum »policierten Menschen«.267 Diesen Prozess versteht Iselin – anders als Bodmer und Rousseau – als eine geistige und gleichzeitig auch eine moralische Ver260 261 262
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Iselin (1758), S. 202. Ebd. Vgl. Kap. 1.1. – Iselin widmete die zweite Auflage der Philosophischen und patriotischen Träume Bodmer. Iselin (1758), S. 212f. Vgl. hierzu Béla Kapossy: Iselin contra Rousseau. Sociable Patriotism and the History of Mankind. Basel 2006 (Schwabe Philosophica, 9), Sommer (2006) und Ulrich Im Hof: Isaak Iselin. Sein Leben und die Entwicklungs seines Denkens bis zur Abfassung der ›Geschichteder Menschheit‹ von 1764. Zweiter Teil. Iselins Stellung in der Geistesgeschichte des XVIII. Jahrhunderts. Basel 1947, S. 332–343. Iselin: Ueber die Geschichte der Menschheit. 2 Bände. Basel 1786, 5. vermehrte Ausgabe. (Nachdruck, 2 Bände in einem Band. Hildesheim 1976), I, S. XXXIII. Ebd., S. XXXV. Ebd., S. 118.
289 besserung des Menschen, dessen Abschluss Iselin aber erst in künftigen Zeiten für möglich hält, da sich in der Gegenwart erst Anzeichen einer allgemeinen und umfassenden Verbesserung ankündigen würden.268 Den Ursprung der Menschheit vergleicht Iselin mit dem Entwicklungsstand eines dreijährigen Kindes,269 das ohne »Keime« von Verstand, Weisheit und Tugend nur der »Empfindung des gegenwärtigen Zustandes« ausgeliefert sei.270 Ohne Sprache und nur mit einem »dunklen Trieb« zur Geselligkeit ausgestattet,271 würden die Menschen des Naturzustands »wie die Biber« oder »wie die Bienen, schaaren= oder schwarmweise mit einander« leben.272 Diesen Rousseauischen Naturzustand, den Iselin anders als Rousseau bereits für einen geselligen hält, lehnt er als »wahre[n] Stand des Menschen« ab und bezeichnet ihn als »tierischen Stand«.273 Aber auch der weiteren Entwicklung der (kindlichen) Menschheit steht Iselin eher ablehnend gegenüber. Zwar würden sich in der Folge die Fähigkeiten des Menschen etwas ausbilden, mehr als einen ›kindischen Verstand‹ und etwas ausgeprägtere Sozialformen (insbesondere das Entstehen von Familien) kann Iselin den Menschen im Naturzustand aber im positiven Sinne nicht zuschreiben.274 Neben der Sinnlichkeit steuert insbesondere die Einbildungskraft den natürlichen Menschen, der somit vom »Gesetz des Triebes« determiniert sei;275 rationale Fähigkeiten seien lediglich in Ansätzen entwickelt.276 Erst in den (kommenden) »männlichen Jahren« werde, so Iselin, die Vernunft die Sinne und Einbildungen beherrschen und sich damit die »wahre[ ] Menschlichkeit« einstellen;277 dann würde das »goldene[ ] Weltalter« anbrechen:278 »Innerlicher Friede und Sicherheit, ein zimlicher [sic] Grad der Policey, eine unbeschreibliche Menge von Annehmlichkeiten, Früchte der Emsigkeit und des Witzes, machen mehr als ein Volk blühend.«279 Diese Auffassung, dass Vernunft und Tugend bzw. Sitten miteinander in genauer Korrelation stehen und sich folglich die Tugenden auch 268 269 270 271 272 273 274 275 276
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Vgl. ebd., II, S. 376–388. Vgl. ebd., I, S. 124. Ebd., S. 120f. Ebd., S. 122. Ebd., S. 124. Ebd., S. 125, vgl. hierzu auch Sommer (2006), S. 258–262. Vgl. Iselin (1786, I), S. 163–183. Ebd., S. 183. Die Sitten des Menschen im Naturzustand beschriebt Iselin als »sehr heftig und sehr unbedachtsam«: »[U]nd da diese Heftigkeit die feindseligen Neigungen, wie die wohltätigen, erhöhete, so finden wir auch bey rohen, wie bei den jungen Menschen, die ausserordentlichsten Beyspiele von Freundschaft und von Hasse, von Wohlwollen und von Grausamkeit.« (Ebd., S. 180.). Iselin (1786, II), S. 378. Ebd., S. 382. Ebd., S. 378.
290 erst durch eine Weiterentwicklung der intellektuellen Fähigkeiten einstellen, vertritt in Bodmers Drama die Italus-Partei. Sie will die in ihren Augen ›tierischen‹ Cherusker durch Erkenntniserweiterung moralisch befördern, obwohl die das im Grunde gar nicht nötig haben. Anders als Iselin schreibt Bodmer den Cheruskern im ›Naturzustand‹ nämlich ausdrücklich gute Sitten zu und attestiert ihnen ausgereifte Fähigkeiten zur vernünftigen Reflexion über ihr gesellschaftliches Zusammenleben. Bodmers genügsamer und tugendhafter Naturmensch will seinen Zustand bewahren, weil dieser moralisch und auch politisch gut ist. Wären diese Voraussetzungen auch im ›bürgerlichen‹ Stand erfüllt, dann wäre Sigoveses bereit, den Naturzustand zu verlassen: Zeigt mir den Staat, wo der Regent nicht der Herr ist, wo die Menschlichkeit ihre Rechte behalten hat, wo die Gesetze nicht Herrschaft sind; zeigt ihn mir, und ich will meine Hand in die eure einschlagen, die neue Stadt der Cherusker zu bauen.280
Wie es die Protagonisten in den Epen taten, so führt auch Sigoveses die Menschlichkeit als grundlegende Eigenschaft einer guten Gesellschaft an, wodurch sich erneut verdeutlicht, welch konstitutive Rolle dieser Begriff für Bodmers Gesellschaftsverständnis spielt. Der Widerstand der Cherusker gegen den Städtebau erweist sich somit nicht als Kampf gegen die Gesellschaft an sich, über die sie eigentlich ja auch bereits verfügen, sondern als Kampf, der mit den Kämpfen der römischen und griechischen Patrioten vergleichbar ist.281 So wie diese sich gegen eine tyrannische, lasterhafte und somit nicht von Menschlichkeit geprägte Gesellschaftsordnung auflehnen, so bemühen sich die Cherusker präventiv diese Entwicklung bereits im Ansatz zu verhindern. Ein Plädoyer für die Rückkehr zum Naturzustand hält Bodmer nur deshalb, weil dieser den besseren Zustand darstellt und in ihm die natürliche Freiheit und Gleichheit des Menschen gewahrt ist. Wären die auch im bürgerlichen Stand vorhanden – und das wurde etwa eingangs des Dramas Timoleon von Korinth von einer gut eingerichteten Republik behauptet –, so würden die Cherusker in ihn übertreten. Hiermit lässt sich auch die Differenz zwischen Bodmer und Iselin angeben: Während Iselin die Sitten in Relation zur Vernunft betrachtet, versteht Bodmer die Sitten als Ausdruck und Determinante der politi280
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Bodmer (PS, I), S. 201. – Eine Parallele hierzu findet sich auch in der Colombona, die zudem verdeutlicht, dass Bodmer Rousseaus grundsätzliche Ablehnung der Gesellschaft nicht teilt: Während das Frontispiz von Rousseaus Zweitem Discours dessen 13. Anmerkung bildlich darstellt, in der geschildert wird, wie sich der bei den zivilisierten Menschen lebende Wilde von der Zivilisation verabschiedet und wieder zu seinen Stammesbrüder zurückkehrt, entschließt sich in Bodmers Colombona die wilde und sogar schon bekehrte Maria (und mit ihr weitere Eingeborene), in die von Colombo verkörperte vorbildliche Zivilisation überzutreten. Das ist auch der Grund, weshalb dieses Drama in den ersten Band der Politischen Schauspiele aufgenommen wurde.
291 schen gesellschaftlichen Verfassung. Die Bewahrung von Freiheit und Gleichheit ist einerseits Garant dafür, dass die Sitten nicht verderben, sowie auch gleichzeitig die guten Sitten davor schützen, Freiheit und Gleichheit zu verlieren. Dieses wechselseitige Verhältnis von politischer Verfassung und Moral ist Bodmers grundlegende politische und anthropologische Überzeugung, die er auch in den Epen und bereits zu Beginn der 1720er Jahre im Discours über den Nymphenstaat vertrat.
5.
Fazit
Beginnend mit den Discoursen der Mahlern bis hin zu seinen politischen Schauspielen spürte Bodmer in immer wieder neu angelegten Versuchen dem »gesellschaftlichen Menschen« nach und arbeitete dessen positive und negative Verhaltensweisen und Eigenschaften heraus. Im ›natürlichen‹ Menschen sah Bodmer seine Ideale verkörpert. Dieser zeichnet sich durch Einfalt aus und besitzt einen umfassenden Katalog an Tugenden und guten Sitten, wobei Bodmer in Übereinstimmung mit vielen Autoren der Jahrhundertmitte insbesondere die (empfindsamen) Eigenschaften Menschlichkeit, Freundschaft oder Zärtlichkeit als grundlegende gesellschaftliche Tugenden begriff, da sie das friedvolle, harmonische und am Allgemeinwohl orientierte Zusammenleben garantieren würden. Radikaler als seine Zeitgenossen verstand der Zürcher diese Tugenden auch in einem politischen Sinne.1 Für Bodmer bildete die Moral das Fundament der Politik: Die politischen Wahrheiten sind zugleich moralische und haben ihren Grund in den principes der Moral. Die letzteren werden mit den ersteren verletzt, und sie verletzen, bringt nicht nur Privatpersonen, sondern Staaten ins Verderben.2
Anders als Montesquieu, der in einer Republik nur politische Tugenden als grundlegend ansah, erachtete Bodmer auch die christlichen und moralischen Tugenden als politisch relevant. Er verkörpert damit die von Zurbuchen festgestellte Eigenart des schweizerischen Republikanismus des 18. Jahrhunderts, wonach »politische Tugend nicht ohne private Tugend möglich sei«.3 1
2 3
Das zeigt sich etwa daran, dass er sie in seinen Werkender lasterhaftenund tyrannischen Herrschaftsausübung gegenüberstellt und aus ihnen ein Gesellschaftsmodell hervorgehen lässt, das sogar ohne gesetzliche Reglementierungen auskommt. Bodmer an J. H. Meister, 7. März 1775, zit. nach Giroud (1921), S. 112. Simone Zurbuchen: Politische Tugend zwischen Vernunft und Fanatismus. Zur moralphilosophischen Begründung des Republikanismus im 18. Jahrhundert. In: Aufklärung-Vormärz-Revolution. Hg. v. Helmut Reinalter. Frankfurt, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2001 (Jahrbuch der ›InternationalenForschungsstelle Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa von 1770–1850‹ an der Universität Innsbruck, 21), S. 11–25, hier S. 19 (Hervorhebung im Original). – Das galt nicht für Deutschland,wie Wegmanns Charakterisierungder in empfindsamen Texten geäußerten Hofkritik zu verstehen gibt: »In unerschütterlicher Selbstgewißheit setzt man die überlegene Tugend- und Gleichheitsmoral einer natür-
293 Das gilt auch für Bodmers Patriotismus-Auffassung. Deutlich zeigt sich etwa in seinem Rohen Entwurf Einer Helvetischen Tisch=Gesellschaft von 1765, wie sehr auch sein Patriotismus in der Menschlichkeit gründet. In ihm entwirft Bodmer den Plan zu einer eidgenössischen Versammlungsstätte, in der Jünglinge aus allen Schweizer Kantonen für einige Monate zusammenkommen und sich gegenseitig kennenlernen sollen. Durch die so gestifteten Freundschaften könne, wenn die Jünglinge in späteren Jahren politische Ämter übernehmen würden, der politische Zusammenhalt der Kantone gestärkt werden. Der Jüngling liebe »seine Mitgeschöpfe, und ist ganz aufgelegt Leutseligkeit, Humanität, und jede gesellschaftliche, populare Gesinnung in seinem Herzen aufzufassen und wurzeln zu lassen. Und o was für vortreffliche, gemeinnützige Tugenden, Großmuth, Gefälligkeit, Gutthätigkeit, Gastfreyheit – können auf diese Grundlage gebauet werden«.4 Bodmer erhoffte sich also von der privaten Tugend der Freundschaft politische Verbesserungen und wollte den Jünglingen in seinem (allerdings nicht zustande gekommenen) »Helvetische[n] Gemeind=Haus« keinen umfassenden staatspolitischen Unterricht geben,5 sondern begnügte sich damit, den Jünglingen »Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Menschenliebe, Patriotisme, der nicht Feindschaft gegen fremde Staaten, noch Domquichotisme [sic] ist«, zu vermitteln und sie »zu Gehorsam, Treue und Hochachtung der Magistrate« anzuhalten.6 Er vertrat somit keinen fanatischen, nationalistischen Patriotismus, der anderen Nationen feindlich begegnete, sondern einen menschenfreundlichen.7 Da auch für Bodmers Patriotismus der Freundschaft bzw. der zwischenmenschlichen Liebe grundlegende Bedeutung zukommt, kann man ihn nicht mehr länger in Opposition zu Iselins Patriotismus setzen, so wie es die auf die Diskussionen innerhalb der Zürcher Sozietäten fokussierten Studien von Tröhler, Zurbuchen und Volz-Tobler getan
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lichen Menschlichkeit gegen einen eindeutig negativ konnotierten ›Hof‹ als dem Ort sittlichen Verderbens (und nicht als Verkörperung einer politisch ungerechten Institution).« (Wegmann (1988), S. 63). Bodmer: Roher Entwurf Einer Helvetischen Tisch=Gesellschaft. In: Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach. o.O. 1765, S. 61–74, hier S. 68f. Ebd., S. 64. – Zurbuchen versteht den Entwurf hingegen als politische Schulanstalt; vgl. Zurbuchen (2003), S. 78f. Bodmer (1765), S. 68. – Wenn Bodmer in seinem Entwurf und auch im Drama Italus die Wissensvermittlung nicht in den Vordergrund stellt, so steht das nicht im Widerspruch zu seiner Überzeugung, dass Staatskunde- und Geschichtsunterricht für den zeitgenössischen Bürger von großer Wichtigkeit sind. Die TischGesellschaft soll den umfassenden Unterricht nicht ersetzen, die Cherusker benötigen keinen Unterricht, weil sie keine Verfassung besitzen, über die sie belehrt werden müssten. Getragen wurde dieses Verständnisvon der Überzeugung, dass der Mensch in einer bestimmten Gesellschaft lebe, für die er sich deshalb besonders interessiere und aufopferungsvoll einsetze.
294 haben. Die in dieser Arbeit gewählte umfassende Perspektive auf Bodmers Schaffen hat gezeigt, dass Bodmers Patriotismus – wie bei Iselin – in der Menschenliebe gründete. Anders als für Iselin, der einen kosmopolitischen Patriotismus vertrat, war für Bodmer diese allgemeine Liebe mit der Liebe zu einem besonderen Vaterland durchaus zu vereinen. Die Helden der Epen und Dramen sollten dem Leser einen umfassenden Einblick in das ideale Wesen und Verhalten des guten Menschen gewähren. Stets entwirft Bodmer in den guten poetischen Characteren einen ähnlichen Typus Mensch, der mit Vernunft begabt und mit Gefühlen gesegnet ist, die sich harmonisch die Waage halten, und dessen tugendhaftes und frommes Verhalten stets altruistisch ausgerichtet ist und mit einem Bemühen um Erkenntnis und Wahrheit einhergeht. Diesem Ideal des ›natürlichen‹ Menschen entsprechen alle literarischen Figuren Bodmers: Die Patrioten, die Bodmer in seinen Dramen vorführt, werden ebenso wie die Epenhelden von einem Gefühl der Menschlichkeit bzw. Menschenliebe getragen, das in naturrechtlichen Vorstellungen vom sozialen Menschen wurzelt. Die verschiedenen Charactere bilden in ihrer Summe Bodmers anthropologisches Ideal des ›natürlichen‹ Menschen, das er in verschiedenen historischen Milieus entdeckt und literarisch gestaltet. Der CharacterLehre entsprechend sind die poetischen Charactere durch ihr jeweiliges Umfeld geprägt und korrespondieren mit den als Hintergrund dienenden National-Characteren. Die Vielzahl und die gleichzeitige Homogenität der poetischen Charactere illustrieren Bodmers Geschichtsverständnis, indem sie die konstante, universelle Anthropologie, die in eine relativistische Kulturgeschichte eingebettet ist, zu erkennen geben. Die Kulturgeschichte enthält die verschiedenen Bedingungen, welche die Entwicklung des Menschen prägen. Sie ist dafür verantwortlich, ob und wie sich im Menschen der »Lastersamen« oder der »Keim« zur Tugend, wie es in der Colombona und an anderen Stellen programmatisch hieß,8 entfaltet. Alle Menschen verfügen bei ihrer Geburt über dieselben Voraussetzungen, ihre Verhaltensweisen und Fähigkeiten entwickeln sich erst im Laufe ihres Lebens. Die Erziehung kann diesen Prozess befördern oder hemmen; Bodmers Dichtungen wollen hierzu ihren Beitrag leisten und den Leser bei der Ausbildung seiner natürlichen Dispositionen unterstützen. Dies geschieht in Bodmers Augen auf harmonische Art und Weise; die Rede vom »Tugendterror« (vgl. Kap. 4.1) verfehlt folglich Bodmers Konzept, da hierbei nicht berücksichtigt wird, von welchem Menschenbild Bodmer ausgeht. In seinem eigenen Verständnis übt er keinen Zwang zur Tugend aus – das wäre für ihn ein Akt der Tyrannei –, vielmehr befördert er die natürlichen Anlagen des Menschen. 8
Vgl. auch S. 78, S. 212 oder S. 220ff.
295 Revolutionen lehnt Bodmer deshalb entschieden ab, weil sie in seinen Augen künstliche Eingriffe in den natürlichen Lauf der Geschichte darstellen. Sein gesellschaftliches Ideal bildet eine demokratisch-republikanisch eingerichtete Gemeinschaft, die auf den naturrechtlichen Idealen der Freiheit und Gleichheit basiert. Dieses Ideal glaubte Bodmer in verschiedenen Epochen der Menschheit erkennen zu können; um es zu propagieren, entwarf er davon jedoch nur ein unscharfes Bild und legte in seinen Dichtungen keinen konkreten, (künstlich) erdachten politischen Staatsentwurf vor. So, dachte er, könne er seine Leser am ehesten für diese Lebensform begeistern. Zeitgenössischen wie heutigen Lesern mögen Bodmers Patrioten im Vergleich zu Figuren der bürgerlichen Trauerspiele als Übermenschen erscheinen, für Bodmer verkörpern sie jedoch den vollkommenen und natürlichen Menschen im bürgerlichen Stand.9 Die erhabenen Charactere führen vorbildliche Verhaltensweisen vor, die gerade durch ihre Außerordentlichkeit in jedem Leser den »Keim« der Sitte und Tugend besonders effektiv zur Blüte bringen sollten. Die Korrelation von Moral und politischem Zustand einer Gesellschaft mag ein naives oder »primitives« politisches Programm sein, für Bodmer gründete es in der Natur des von ihm stets als gesellschaftlich begriffenen Menschen. In seinem Verständnis war es ein universales Programm, das jedem Menschen Rechnung trägt, da es auf dem sittlichen Verhalten des Individuums basiert. Jeder Mensch und Bürger, egal in welchem Stand und Staat er lebt, kann einen Beitrag zur Beförderung der allgemeinen Glückseligkeit leisten. Und wenn jeder auch wirklich moralisch gut handeln würde, dann wäre für Bodmer die ideale Gesellschaft erreicht. Durch seine Dichtungen hoffte er diesen Prozess beschleunigen und die zeitgenössische Gesellschaft vor falschen Entwicklungen bewahren zu können. In deutlich größerem Ausmaß als seine Zeitgenossen glaubte er, dass die Poesie die Gesellschaft verändern und prägen könnte. Diese Vorstellung basiert auf einem republikanischen Staatsverständnis, wonach jeder Bürger auch ins »Regiment« aufsteigen und somit die Geschicke des Staates lenken kann. Gerade deshalb ist die Moral des Bürgers von konstitutiver Bedeutung für das politische Leben: Die Einhaltung moralischer Prinzipien wird von Bodmer mit der Bewahrung von Gleichheit und Freiheit gleichgesetzt. Bodmers Dichtungen sind somit als Regentenspiegel und diese Politisierung der Dichtungen als besonderes Charakteristikum der zürcherischen empfindsamen Literatur zu verstehen. 9
Bodmers politische Dramen können nicht (im herkömmlichen Sinne) als empfindsame Stücke angesehen werden, da sie aus heutiger Perspektive zwar als lebhaft gestaltete, aber dennoch vorwiegend rationale Lehrdialoge über politische Fragen erscheinen. Für Bodmer galten sie aber, wie gezeigt, als moderat empfindsame Stücke.
296 In all seinen aufklärerischen Bestrebungen ging Bodmer davon aus, Bestehendes lediglich verbessern zu müssen und das im Menschen bereits angelegte Ideal ans Licht holen zu können. Als creatio ex nihilo ist dieser Prozess auf keinen Fall zu denken. Wenn sich Bodmer mit Lesern konfrontiert sah, die seinen Idealen nicht entsprachen, schloß er diese von seinen Werken aus.10 Ein ›neues‹ Publikum, das andere anthropologische, soziale oder politische Ansichten hat(te) als er selbst, konnte (und kann) Bodmer nicht gewinnen. Hier zeigt sich die Crux von Bodmers Poetik und Poesie; offen tritt hier zutage, dass sein Verständnis von ›Natürlichkeit‹ zeitbedingt und damit letztlich ebenso ›künstlich‹ war wie die von ihm gegeißelten Ansichten anderer. Das sollte aber heute nicht (mehr) dazu verleiten, aus ästhetischen, ideologischen oder anderen Gründen Bodmers historische Position abzuwerten und ihn als Verlierer der Geschichte abzutun. Bodmer kann sicherlich keinen weltliterarischen Rang beanspruchen, ein Platz in der deutschen und schweizerischen Literatur- und Geistesgeschichte kommt ihm gleichwohl zu.
10
Auch in seinem Drama Timoleon von Korinth bricht Bodmer die Erörterung darüber ab, wie die Patrioten anders gesinnte Bürger überzeugen können (vgl. Kap. 4.3).
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304 unter denselben aus dunkler Ferne geheiliget von einigen demüthigen Verehrern der sehraffischen Dichtkunst. o.O. 1754. Spalding, Johann Joachim: Kritische Ausgabe, Erste Abteilung: Schriften. Band 1: Die Bestimmung des Menschen (1 1748–111794). Hg. v. Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowsko, Dennis Prause. Unter Mitarbeit von Verena Look, Olga Söntgerath. Tübingen 2006. Steele, Richard: The Tatler. In Four Volumes. Edited with Introduction and Notes by George A. Aitken. New York, London 1899. Sulzer, Johann Georg: Gedanken von dem vorzüglichen Werth der Epischen Gedichte des Herrn Bodmers. Berlin 1754. – Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Leipzig 1773–75. Thomasius, Christian:Ausgewählte Werke, Bd. 11: Von Der Artzeney Wider die unvernünfftige Liebe und der zuvorher nöthigen Erkäntnüß Sein Selbst. Oder: Ausübung Der Sitten-Lehre. Nebst einem Beschluß/ Worinnen der Autor den vielfältigen Nutzen seiner Sitten=Lehre zeiget/ und von seinem Begriff der Christlichen Sitten=Lehre ein aufrichtiges Bekäntnüß thut. Halle 1696. (2. Faksimiledruck der Ausgabe Halle 1696). Vorwort von Werner Schneiders. Personen- und Sachregister von Frauke Annegret Kurbacher. Hildesheim, Zürich, New York 1999. [Weiße, Christian Felix]: Julius Cäsar, ein Trauerspiel; herausgegeben von dem Verfasser der Anmerkungen zum Gebrauche der Kunstrichter. Leipzig, bey Weidemanns Erben und Reich. 1763. 78 Seiten. [Rezension]. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 10. Band, 1. Stück. 1763, S. 133–146. Wieland, Christoph Martin: Wielands Gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke, 3. Band. Hg. v. Fritz Homeyer. Berlin 1910. – Wielands Briefwechsel, Bd. 1. Briefe der Bildungsjahre (1. Juni 1750–2. Juni 1760). Hg. v. Hans Werner Seiffert. Berlin 1963. Wolff, Christian:Gesammelte Werke. I. Abteilung, Deutsche Schriften,Bd. 4: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderungihrer Glückseeligkeit. (Faksimilenachdruck). Mit einer Einleitung von Hans Werner Arndt. Hildesheim, New York 1976. – Gesammelte Werke. I. Abteilung, Deutsche Schriften, Bde. 2/1 u. 2: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. (Nachdruck der Ausgabe Halle 1751). Mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Corr. Hildesheim, Zürich 1997.
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Namensregister
Abbt, Thomas 179, 227, 263f., 266f. Alfieri, Vittorio 273 Aristoteles 56, 58f., 61f., 66, 75, 77f., 130, 202ff.
Goethe, Johann Wolfgang 1, 17f., 201 Gottsched, Johann Christoph 43, 58f., 61f., 63, 76f., 80ff., 86, 123, 126, 128, 130–137, 170f., 191, 202f., 213, 242
Behrmann, Georg 270, 273 Besser, Johann von 133 Blackwell, Thomas 44ff. Bodin, Jean 41 Boileau, Nicolas 130, 132 Breitinger, Johann Jakob 2, 10ff., 15f., 23f., 28, 32–42, 47–53, 56f., 63–76, 79–84, 86–91, 121f., 127, 131f., 214, 240 Brockes, Barthold Heinrich 96, 126, 137 Bullinger, Heinrich 26f., 29, 66 Burgersdicius, Franco 17
Hagedorn, Friedrich von 171f. Hagenbuch, Johann Kaspar 103 Hallbauer, Friedrich Andreas 83 Haller, Albrecht von 49, 51, 122f., 143, 153 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 123 Henzi, Samuel 251 Her¨aus, Karl Gustav 133 Herder, Johann Gottfried 123, 182 Hesiod 100, 102 Hobbes, Thomas 105 Holderlin, ¨ Friedrich 123 Homer 13, 44, 128f., 142 Horaz 121
Calepio, Pietro di 66, 74–78 Charron, Pierre 41 Cicero 25f., 114 Collins, Anthony 40f. Conti, Antonio 54ff., 61 Corneille, Pierre 28, 54, 60ff., 76f., 266, 268, 270 Cronegk, Johann Friedrich von 167 Du Bos, Jean-Baptiste 42, 241 Escher, Johann Kaspar 26 Eschenburg, Johann Joachim 193, 239 Feddersen, Jakob Friedrich 241 F´enelon 128, 130, 133 Fussli, ¨ Johann Heinrich 22, 103, 109f., 235 Gellert, Christian Furchtegott ¨ 158, 166f., 169–172, 175–178 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 239, 242ff.
Iselin, Isaak 14, 29, 287–290, 294 Keller, Gottfried 18 Kirkpatrick, James 235f. Klopstock, Friedrich Gottlieb 127ff., 136, 140f., 252 Klotz, Christian Adolph 238f., 252f. Konig, ¨ Johann Ulrich 125f., 133 La Bruy`ere, Jean de 48f., 52, 92 Lamy, Bernard 66 Las Casas, Bartolom´e de 224f., 230f. Lauffer, Jakob 17 Lee, Nathaniel 28 Lessing, Gotthold Ephraim 1, 48, 54, 59f., 79, 242, 251ff. Lindner, Johann Gotthelf 239f. Livius, Titus 27, 273 Locke, John 38ff., 71f., 214 Loen, Johann Michael von 43, 99, 125 Lohenstein, Daniel Caspar von 28, 84, 126, 133
322 Longin 79 Lykurg 176, 226f. Marino, Giambattista 126 Meister, Johann Heinrich 7, 92 Meister, Leonhard 18, 136, 143, 147, 254 Mendelssohn, Moses 60, 79f., 179, 242 Mercier, Louis-S´ebastien 246f., 249 Michaelis, Johann Benjamin 252f. Milton, John 13, 52, 85, 125–129, 131ff., 136–141, 143, 146f., 155, 179, 216, 218f., 257 Moissy, Alexandre Guillaume Mouslier de 213 Montaigne, Michel de 222–226 Montesquieu, Charles de Secondat Baron de 21, 23, 36, 42ff., 147, 151ff., 156, 161, 164, 176f., 229, 231–235, 239, 263, 267, 275, 277f., 284, 292 Muralt, Beat Ludwig von 32, 36 Mylius, Christlob 60 Neukirch, Benjamin 122, 130, 133 Nicolai, Friedrich 1, 80, 182ff., 192, 240ff., 246, 253 Opitz, Martin 94f., 97f., 101, 118, 120, 126ff., 130, 134 Ovid 100ff. Pemberton, Henry 58f., 78, 129 Penn, William 176 Petron 253 Pietsch, Johann Valentin 126, 133 Platon 177, 183, 194 Plutarch 27, 55, 243, 266, 272f., 275 Pope, Alexander 175 Postel, Christian Heinrich 126 Priestley, Joseph 286 Pufendorf, Samuel 5, 9, 17, 104–113, 116f., 149, 171f., 284 Pyra, Jakob Immanuel 125, 127 Rahn, Johann Heinrich 110–113, 116 Riedel, Just Friedrich 242 Rousseau, Jean-Jacques 24, 212, 214, 220, 224f., 227, 239, 248f., 261, 264, 270, 275, 280–290
Sallust 26f. Saint-Evremond, Charles de 27–30, 36 Schele, Raebolt Herrman 111–116 Scheuchzer, Johann Jakob 34, 175 Schiller, Friedrich 123, 247 Schinz, Johann Rudolf 17f. Schlegel, Johann Elias 59f. Schonaich, ¨ Christoph Otto Freiherr von 136, 191f. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Earl of 3 Simler, Josias 17 Spalding, Johann Joachim 161ff., 165f., 171, 174ff., 178f. Steinbruchel, ¨ Johann Jakob 103 Stigliani, Tommaso 235 Sueton 27, 55, 271f. Sulzer, Johann Georg 141ff., 145f., 175, 181ff., 193, 241f., 244, 246f., 252, 282, 286 Tacitus 271f., 283 Tasso, Torquato 128 Theophrast 47ff., 52 Thomasius, Christian 5, 9, 38f., 42, 48, 69 Thomson, James 96 Trissino, Gian Giorgio 28 Usteri, Leonhard 24 Veiras, Denis 176 Vergil 44, 128, 142 Voltaire 36, 153, 155, 219 Vossius, Gerhart Johannes 66 Weiße, Christian Felix 1, 213, 241f., 252f. Wernicke, Christian 231 Wieland, Christoph Martin 143f., 148, 150, 153, 155ff., 160f., 176f., 182f., 193, 240f., 252 Wolff, Christian 51f., 67ff., 72, 75f., 79, 87, 170 Zellweger, Laurenz 161, 250f., 278f. Zimmermann, Johann Georg 21, 182, 263