Die Maxime in der französischen Literatur: Studien zum Werk La Rochefoucaulds und seiner Nachfolger 9783111354019, 9783110998610


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German Pages 223 [224] Year 1960

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Table of contents :
DIE ENTSTEHUNG DER MAXIME, IHRE EIGENART UND IHRE DEUTUNG
I. Die Maxime als literarische Form
II. Die La Rochefoucauld-Forschung und ihre Aufgabe
III. Die Máximes, ihre verschiedenen Fassungen, Vorbilder und Nachahmungen
DIE KÜNSTLERISCHE GESTALTUNG DER MAXIMEN LA ROCHEFOUCAULDS
IV. »L'espérance, toute trompeuse qu'elle est . . . »
V. »Nos vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisés«
VI. »L'esprit est toujours la dupe du coeur«
DIE MAXIME IN VERBINDUNG MIT ANDEREN LITERARISCHEN FORMEN
VII. Maximen und »Questions d'Amour«. La Rochefoucauld und die Preziösen
VIII. »Caractère«, Maxime und Anekdote. La Bruyère, Vauvenargues und Chamfort
IX. »Conte moral«, Porträt und Maxime. Crébillon d. J. als Nachfolger La Rodiefoucaulds und La Bruyères
DIE AUFLÖSUNG DER KUNSTFORM DER MAXIME
X. Die Wandlung der Maxime zum Bonmot und zur romantischen »Pensée«
ANHANG
Zur Bibliographie
Abkürzungen
Namenverzeichnis
INHALT
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Die Maxime in der französischen Literatur: Studien zum Werk La Rochefoucaulds und seiner Nachfolger
 9783111354019, 9783110998610

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HAMBURGER ROMANISTISCHE

STUDIEN

A. Allgemeine Romanistisdie Reihe (Fortsetzung der Reihe »Hamburger Studien zu Volkstum und Kultur der Romanen«) herausgegeben von Rudolf Grossmann und Hellmuth Petriconi Direktoren des Romanischen Seminars der Universität Hamburg Band 44

MARGOT

KRUSE

DIE MAXIME IN DER FRANZÖSISCHEN LITERATUR Studien zum Werk La Rochefoucaulds und seiner Nachfolger

KOMMISSIONSVERLAG: CRAM, DE GRUYTER & CO. HAMBURG 1960

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen der Universität Hamburg gedruckt mit Unterstützung der Forschungsgemeinschaft

Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany Druck von Ludwig Appel, Hamburg

Fakultät Deutschen

Herrn Professor Hellmuth Petriconi in aufrichtiger

Dankbarkeit

»Pour quoique quelque de sens,

ces amants de la forme, une forme, toujours provoquée ou exigée par pensée, a plus de prix, et même que toute pensée.« Paul Valéry

DIE E N T S T E H U N G DER M A X I M E , IHRE EIGENART UND IHRE DEUTUNG

I

Die Maxime als literarische Form Fast drei Jahrhunderte sind vergangen, seit La Rochefoucauld seine Rétlexions ou Sentences et Máximes morales geschrieben hat. Ihre Berühmtheit aber hat diese Maximensammlung bis in unsere Tage bewahrt, j a sie gehört zu den wenigen Büchern jener Zeit, die nicht nur aus einem historischen Interesse, sondern um ihrer künstlerischen Wirkung willen noch heute gelesen werden. Dennoch ist die literarische Eigenart dieses Werkes und seine Bedeutung für die moralistische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts noch nicht entsprechend gewürdigt worden. Deshalb soll diese Studie zeigen, inwiefern La Rochefoucauld der Schöpfer der literarischen Form der Maxime gewesen ist, wie er dieser Form durch die Gestaltung einer in sich geschlossenen Sentenzensammlung eine unübertroffene Wirkung verliehen hat und wie sich nicht nur alle späteren Maximensammlungen, sondern auch die Sentenzen und Reflexionen, die in Verbindung mit Porträts oder innerhalb eines »conte moral« eine neue literarische Funktion gewinnen, unmittelbar auf sein Vorbild zurückführen lassen. Als Schöpfer einer neuen literarischen Form wurde La Rochefoucauld im 17. und 18. Jahrhundert allgemein anerkannt. Selbst ein Autor wie Vauvenargues, der an den Anschauungen LaRochefoucaulds und an einzelnen seiner Maximen scharfe Kritik geübt hat, schreibt: »Cet illustre auteur mérite, d'ailleurs, de grandes louanges, pour avoir été, en quelque sorte, l'inventeur du genre d'écrire qu'il a choisi«1). Auch außerhalb Frankreichs galt La Rochefoucauld als der Begründer und Meister dieser aphoristischen Form. Das zeigt sich schon darin, daß Friedrich Schulz, der durch zahlreiche Übersetzungen hervorgetreten ist, seine Übertragung der anonymen Maximensammlung Esprit des Esprits aus dem Jahre 1793 im Untertitel Eine Nachlese zu 1) Critique de quelques Maximes du Duc de LaRocheloucauld, in Œuvres de Vauvenargues, hrsg. von D.-L. Gilbert, Paris 1857, Bd. II (Œuvres posthumes et Œuvres inédites) S. 75.

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de la Rochefoucault's bekanntem Werke nannte 2 ) und daß noch der englische Romantiker William Hazlitt seine 1823 anonym herausgegebene Sentenzensammlung Characteristics: in the Manner of Rochefoucault's Maxims überschrieben hat 3 ). Man kann sogar sagen, daß nach allgemeiner Auffassung noch heute der Begriff der literarischen Maxime an die Gestalt ihres Urhebers La Rochefoucauld gebunden ist. Als Beweis sei nur die Tatsache erwähnt, daß vor kurzem die Zeitung New Statesman ein literarisches Preisausschreiben veranstaltete »for a set of four maxims from a La Rochefoucauld de nos jours«4). Thomas Smallbones, der diese Aufgabe gestellt hatte, wußte wohl, daß eine wirkungsvolle Maxime stets eine Maxime »à la manière de« La Rochefoucauld ist. In der literarischen und wissenschaftlichen Kritik aber mehren sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Versuche, die Bedeutung La Rochefoucaulds für die Entstehung der Maximenliteratur einzuschränken. Besonders beliebt ist die These, daß die Maxime in der literarischen Konversation der Salons ihren Ursprung habe und daß diese Kunstform folglich eine Schöpfung der Gesellschaft sei. Noch in unseren Tagen wird diese Auffassung, die sich bis zu Victor Cousin zurückverfolgen läßt5), von verschiedenen Forschern aufrecht erhalten und erneuert. So schreibt Marcel Arland in einem Kapitel über La Rochefoucauld, la maxime et la société aus dem Jahre 1952: »Les 2) Vgl. Aphorismen aus der Menschen-Kunde und Lebens-Philosophie, Französisch und deutsch hrsg. von Friedrich Schulz, Königsberg 1793 (Zweite Sammlung 1795). 3) In dem Vorwort des Verfassers heißt es: »The following work was suggested by a perusal of Rochefoucault's Maxims and Moral Reflections. I was so Struck with the force and beauty of the Style and Matter, that I feit an earnest ambition to embody some occasional thoughts of my own in the same form.« (Vgl. The complété Works oi William Hazlitt, hrsg. von P. P. Howe, Centenary Edition, Bd. IX, London/Toronto 1932, S. 163—229, Zitat S. 165.) 4) Vgl. Result of No. 1,461, New Statesman, Vol. LV, No. 1410, 22. III. 1958, S. 387. 5) In seinen Nouvelles Études sur la Société et les Femmes illustres du XVIIe Siècle sucht Victor Cousin, die Entstehung der Maximenliteratur auf die Anregung der Mme de Sablé und die literarische Betätigung in ihrem Salon zurückzuführen. Auch das Werk La Rochefoucaulds soll nach Victor Cousin ganz unter dem Einfluß der Marquise und ihres Kreises entstanden sein. Er schreibt: » [ . . . ] ôtez la société de Mme de Sablé et la passion des sentences et des pensées qui y régnait, jamais La Rochefoucauld n'eût songé ni à composer ni à publier son livre« (Madame de Sablé, Paris 21859, S. 137).

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Maximes ne sont pas moins l'œuvre d'une société que celle d'un homme«, oder mit anderen Worten: »La Rochefoucauld est le chefd'œuvre d'une société« 6 ). Gerhard Hess nimmt in seiner Studie Zur Entstehung der >Maximen< La Rochefoucaulds vom Jahre 1957 den gleichen Gedanken wieder auf und verbindet ihn mit der These von dem Einfluß des Jansenismus auf die Maximenliteratur, indem er die Honnêteté als »Norm der Gesellschaft« und die vornehmlich von Port Royal ausgehende »ernste Besinnung auf das Wesen des Menschen« als die beiden Faktoren betrachtet, die »das geistige Klima« bilden, »in dem die aphoristische Literatur gedeiht und ihre >soziabelste< Form, die Maxime, entwickelt«7). Auf diese Weise läßt sich die Entstehung einer Kunstform jedoch nicht erklären. Wohl ist die Maximenliteratur — ähnlich wie die klassische Novellistik — auf die Gesellschaft bezogen und in ihrer verkürzenden, antithetischen Ausdrucksform an einen Leserkreis gerichtet, der die pointierte Formulierung zu schätzen weiß und in der Lage ist, die Paradoxa aufzulösen oder sich die »Filiation« der Gedanken, deren »Resultate« er vor Augen hat, »vermittelst eines umgekehrten Findens und Erfindens [ . . . ] zu vergegenwärtigen« 8 ). Das alles ist aber nur eine Voraussetzung, keine Erklärung für die Entstehung der Maxime. So wenig die Contes et Nouvelles La Fontaines —• in denen der traditionelle Rahmen aufgelöst wird, da die Gesellschaft, an die die Erzählungen sich richten, gleichsam die Funktion der Rahmenhandlung übernimmt9) — durch die soziologischen Bedingungen 6) In La Prose irançaise, Paris 1952, S. 392. 7) Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften, Heft 67, S. 13. — Vgl. unsere Besprechung in RJb. VIII (1957) S. 263 ff. 8) Von den Maximen und Reflexionen, die Goethe unter dem Titel Aus Makariens Archiv in den Wilhelm Meister eingefügt hat, heißt es in dem Roman: »Resultate waren es, die, wenn wir nicht ihre Veranlassung wissen, als paradox erscheinen, uns aber nötigen, vermittelst eines umgekehrten Findens und Erfindens, rückwärts zu gehen und uns die Filiation solcher Gedanken von weit her, von unten herauf, wo möglich zu vergegenwärtigen.» {Wilhelm Meisters Wanderjahre 1/10, Goethes Werke, Gedenkausgabe Bd. 8, Zürich 1949, S. 137.) 9) W a l t e r Pabst spricht in einem Kapitel über die Novellen La Fontaines von dem »literarhistorisch entscheidenden Augenblick«, »in dem die Gesellschaftsbezogenheit der Novellen aufhörte, Fiktion zu sein, wo eine Elite wirklich Novellen zum Diskussionsobjekt machte und ihnen damit selbst zum >Rahmen< wurde.« (Vgl. Novellentheorie und Novellendichtung. Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen, Abhandlungen aus dem Gebiet der Auslandskunde Bd. 58, Hamburg 1953, S. 204.) 13

des 17. Jahrhunderts erklärt werden können, so wenig lassen sich die Réflexions ou Sentences et Maximes morales aus den gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen oder aus einer literarischen Mode des »siècle de Louis XIV« deuten. Gegen die sogenannte »Mode« der Abfassung von Sentenzen, die häufig mit der Abfassung literarischer Porträts im Kreise der Mademoiselle de Montpensier verglichen worden ist, war La Rochefoucauld sehr skeptisch. In einem Brief an Mme de Sablé bemerkt er spöttisch: »Je ne sais si vous avez remarqué que l'envie de faire des sentences se gagne comme le rhume [ . . . ]«10), und in seinen Maximes posthumes heißt es: »[...] il est aussi ridicule de vouloir faire des sentences, sans en avoir la graine en soi, que de vouloir qu'un parterre produise des tulipes, quoiqu'on n'y ait point semé d'oignons«11). Für den Verfasser der Réflexions ou Sentences war die Gestaltung der Maxime eine künstlerische Aufgabe, die eine besondere schriftstellerische Begabung voraussetzt, und nicht eine Form geselliger Unterhaltung. Auch die Tatsache, daß La Rochefoucauld Gedanken, die in der Gesellschaft diskutiert worden waren, in seine Maximes aufgenommen hat, will nicht viel besagen, denn erstens sind auch für sein Werk die literarischen Quellen wichtiger als die Anregungen, die von den Salons ausgingen, und zweitens ist eine solche Form des Einflusses der Gesellschaft nicht auf die Maximenliteratur beschränkt, sondern in der Dichtung aller Zeiten wirksam gewesen. Lichtenberg hat recht, wenn er in seinen Aphorismen schreibt: »Die Dichter sind vielleicht eben nie die Weisesten unter den Menschen gewesen, allein es ist mehr als wahrscheinlich, daß sie uns das beste ihres Umgangs und ihrer Gesellschafft liefern. Da Horatz so viel vortreffliches hinterlassen hat, so dencke ich immer, wie viel vortreffliches mag nicht in den Gesellschafften gesprochen worden seyn. Denn schwerlich haben die Wahrheiten den Dichtern mehr als das Kleid zu dancken [ . . . ]«12). Die Einkleidung, durch die La Rochefoucauld die Gedanken, die er der Lektüre oder der Unterhaltung entnahm, neu erscheinen ließ, 10) Brief vom 5. 12. [1660], Œuvres de La Rochefoucauld, hrsg. von D. L. Gilbert und J. Gourdault, Les Grands Écrivains de la France, Paris 1868—83, Bd. III/l, S. 135 f. 11) Ebda. Bd. I, Max. 505, S. 223. 12) Georg Christoph Lichtenbergs Aphorismen, hrsg. von Albert Leitzmann, Drittes Heft: 1775—1779, F (Sudel-Buch) No. 1144, Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, No. 136, Berlin 1906, S. 327. 14

war die Form der Maximensammlung. Selbst wenn der Autor einzelne Sentenzen von seinen Freunden übernommen und mit nur geringen Änderungen oder Erweiterungen in seinen Maximes veröffentlicht hat — was sich in dem einen oder anderen Fall sogar nachweisen läßt13) —, so dürfen aus dieser Beobachtung doch keine weitreichenden Folgerungen gezogen werden, denn die Gesamtkonzeption des Werkes ist nur seine Leistung, und die besten Maximen der Sammlung, auf die es für die literarische Betrachtung in erster Linie ankommt, sind ganz von seiner schriftstellerischen Persönlichkeit geprägt und können in keiner Weise auf den Einfluß der Gesellschaft zurückgeführt werden. Es ist auch nicht bekannt, daß La Rochefoucauld seine Réilexions ou Sentences et Maximes morales je in einem Salon vorgetragen hätte, so wie Bussy-Rabutin seine galanten Verse am Hofe zitiert und Voiture seine preziösen Briefe in der Gesellschaft vorgelesen hat. Die Maxime war für ihn eine literarische Form, die für die Lektüre bestimmt ist und nicht für die Konversation. Wenn noch im 18. Jahrhundert so häufig in der Gesellschaft aus dem Werk La Rochefoucaulds zitiert wurde, daß Montesquieu schrieb: »Les Maximes de M. de La Rochefoucauld sont les proverbes des gens d'esprit« 14 ), so hat diese Verwendung mit der literarischen Eigenart der Maxime nichts zu tun und widerspricht überdies den Regeln der bienséance. Die Maxime gehört nicht wie das Sprichwort zu den »einfachen Formen«15), die nur im Gespräch, wenn sie an der richtigen Stelle vorgebracht werden, zur Wirkung kommen, sondern sie ist eine anspruchsvolle Kunstform, deren literarischer Reiz sich erst bei aufmerksamer Lektüre erschließt und durch 13) Das gilt z. B. für die Sentenz: »La vérité est le fondement et la raison de la perfection et de la beauté [ . . . ] « , die La Rochefoucauld 1665 als 260. Maxime in der ersten Edition seiner Réilexions ou Sentences veröffentlichte, später aber wieder gestrichen hat. (Vgl. Maximes supprimées, a.a.O. Bd. I, Max. 626, S. 262 f.). Diese Maxime stammt von Jacques Esprit, an den La Rochefoucauld am 24. X. [1660] schrieb: »Au reste, je vous confesse à ma honte que je n'entends pas ce que veut dire: La vérité est le iondement et ia raison de la beauté. Vous me ferez un extrême plaisir de me l'expliquer [. . .]« (a.a.O. Bd. III/l, S. 133 f.). 14) Mes Pensées No. 898, Œuvres complètes, hrsg. von Roger Caillois, Bibliothèque de la Pléiade, Bd. I, Paris 1949, S. 1246. 15) André Jolies hat, wie uns scheint zu Unrecht, Sprichwörter, Sentenzen, Geflügelte Worte, Apophthegmata usw. als »Vergegenwärtigungen« ein und derselben »Einfachen Form«, die er »Maxime« oder »Spruch« nennt, zusammengefaßt. (Vgl. Einlache Formen, Halle 21956, S. 128 f.). 15

zu häufiges Zitieren verloren geht, denn auch »Les bonnes maximes sont sujettes à devenir triviales« 1 6 ). Diese Auffassung findet ihre Bestätigung in einem Urteil des Chevalier de Méré, der in allen Fragen der bienséance zuständig war und einen starken Einfluß auf das gesellige Leben der Kreise, in denen La Rochefoucauld verkehrte, ausgeübt hat. In seinem »Discours« De la Conversation aus dem J a h r e 1677 warnt der Chevalier vor der Verwendung von Maximen in der Unterhaltung. Er schreibt: » [ . . . ] il ne faut pourtant dire que bien peu de sentences; le peuple et les gens du commun en sont charmez; mais les honnestes gens ne les peuvent souffrir: mesme les maximes qu'on aime et qu'on admire dans les Ecrits, ne font pas de si bons effets dans les entretiens« 1 7 ). Es verhält sich, wie dieses Urteil zeigt, mit den Maximen nicht anders als mit den Gnomen und Sentenzen der griechischen und lateinischen Literatur, die auch nach den Regeln der antiken Rhetorik in der Rede und im Gespräch nur sparsam verwandt werden durften 18 ). Der Satz »le peuple et les gens du commun en sont charmez« entspricht der Bemerkung des Aristoteles: »ot yàg âyQOÏxoi ¡uáhara yvoiuozvnoi étal xai Qaôicoç âjioqpaivovrai«1"). So wie schon in der Antike seit der hellenistischen Zeit, »als ein feinerer Geist wie Menander in seinen 16) Vauvenargues, Max. 423, Œuvres, Bd. I, S. 440. Zitiert werden die Œuvres de Vauvenargues nach der Édition nouvelle précédée de L'Éloge de Vauvenargues et accompagnée de notes et commentaires par D.-L. Gilbert, Paris 1857. 17) Chevalier de Méré, Bd. II: Les Discours, hrsg. von Charles-H. Boudhors, Les Textes français de l'Association Guillaume Budé, Paris 1930, S. 120. 18) Vgl. Quintilian, De institutione oratoria, Liber VIII, V/7 und die Rhetorik Ad Herennium, Liber IV, XVII/24. Weitere Belege finden sich bei Hans Framm, Antiquorum rhetorum de gnomologia loci collecti, in Quomodo oratores attici sententiis usi sint, Straßburger Diss., Leipzig 1912. 19) Rhetorik B 21, 1395 a 6—8. — Beiläufig sei bemerkt, daß dieses Wort des Aristoteles auch für die Verwendung von Sprichworten gilt, die deshalb in literarischen Werken vor allem den »gens du commun« in den Mund gelegt werden. Sehr bezeichnend ist in diesem Zusammenhang ein Abschnitt aus dem Don Quijote, in dem Cervantes bekanntlich den Diener Sancho Panza beständig in Sprichworten reden läßt. In dem Augenblick nämlich, als Sancho Panza als Statthalter auf der Insel eingesetzt werden soll, ermahnt ihn Don Quijote: » — También, Sancho, no has de mezclar en tus pláticas la muchedumbre de refranes que sueles; que puesto que los refranes son sentencias breves, muchas veces los traes tan por los cabellos, que más parecen disparates que sentencias.« (Parte segunda, Cap. XLVIII. Vgl. Don Quijote de la Mancha, hrsg. von Francisco Rodríguez Marín, Clásicos Castellanos, Bd. VII, Madrid 1922, S. 112.) 16

Komödien nur noch Sklaven in Sentenzen reden ließ«20), die Gnomen und Sentenzen häufig verwandt worden sind, um eine komische Wirkung zu erzielen, so meint auch der Chevalier de Méré, daß die Maximen am ehesten in einer scherzhaften oder parodistischen Absicht in der Unterhaltung angeführt werden sollten. Er schreibt: »[. ..] je ne m'en voudrois gueres servir dans la Conversation, si ce n'est à badiner; car cette alleuxe grave et sérieuse, peut donner de l'air à la plaisanterie« 21 ). Literarisch ist diese Möglichkeit, der Maxime durch eine scherzhafte oder ironische Verwendung eine neue Funktion zu geben, erst im »conte moral« des 18. Jahrhunderts ausgenutzt worden. Erst bei Crébillon dem Jüngeren gewinnen die Maximen, die in ihrer Thematik und in ihrer stilistischen Gestaltung noch ganz in der Tradition der »maximes d'amour« La Rochefoucaulds stehen, eine der Auffassung des Chevalier de Méré entsprechende Verwendung, denn erst bei diesem Moralisten des Rokoko werden sie um der kontrastierenden Wirkung willen in einen galanten Dialog eingefügt oder mit einer heiteren Erzählung konfrontiert. In ihrer ursprünglichen Gestalt bei La Rochefoucauld dagegen ist die Maxime eine aphoristische Form, deren Wirksamkeit nicht von der Verwendung in einem bestimmten Zusammenhang abhängig ist, sondern die ihren literarischen Reiz ganz in sich selbst birgt. Das Besondere an dieser Kunstform läßt sich am besten verdeutlichen, wenn man sie wiederum mit den griechischen Gnomen und den lateinischen Sentenzen vergleicht, die auch eine Meinung oder eine Erkenntnis, die sich auf den Menschen, seine Sitten und sein Handeln bezieht, in allgemeingültiger Form zum Ausdruck bringen, die diesen aphoristischen Charakter aber nicht aufweisen. Sowohl für die Gnome als auch für die Sentenz — denn in der antiken Rhetorik entsprechen beide Bezeichnungen einander 22 ) — gilt die Definition Quintilians: »Est autem haec vox universalis, quae etiam citra complexum causae possit esse laudabilis« 23 ). Dennoch wird der literarische Wert dieser Formen beträchtlich gemindert, wenn man sie, wie das schon in den antiken Gnomologien und Florilegien geschehen ist, aus dem Werk heraus20) Bruno Snell, Leben und Meinungen der Sieben Weisen, München '1952, S. 96. 21) A.a.O. 22) »Antiquissimae sunt, quae proprie, quamvis omnibus idem nomen sit, sententiae vocantur, quas Graeci yvùfiaç appellant«, heißt es bei Quintilian, De institutione oratoria, Liber VIII, V/3. 23) Ebda.

2 Kruse, Maxime

17

nimmt, in dem sie, häufig am Eingang oder Abschluß einer Rede, in Stichomythien oder am Ende einer längeren Erörterung, eine besondere Funktion ausüben24). Erst durch den Kontext, von dem sie sicii durch ihre in sich geschlossene, prägnante Formulierung abheben, erhalten die antiken Sentenzen ihren besonderen Nachdruck und ihren literarischen Reiz25). — Die Maximen dagegen sind eine ganz eigenständige Kunstform, die gerade durch das Fehlen eines Vorder- oder Nachsatzes an Intensität der Aussage gewinnen. Die Isolierung bedingt eine besondere Methode der Sprachverkürzung, bei der dem Leser mehr zu verstehen gegeben wird als mit Worten unmittelbar ausgesprochen ist. Es handelt sich um eine kunstvolle Form der indirekten Aussage, die den Leser dazu anregt, von sich aus weiterzudenken und in dem, was zunächst als ein Widersinn erscheint, den verborgenen Sinn zu entdecken. Im Gegensatz zur antiken Sentenz, die, sobald sie einen paradoxen oder anfechtbaren Gedanken zum Ausdruck bringt, eines erklärenden Nachsatzes bedarf — wie schon Aristoteles ausdrücklich feststellt 29 ) —, vermag eine gute Maxime dem Leser auch eine paradoxe These allein durch die Form der Aussage zu suggerieren. Mit Recht sagt Vauvenargues: »Une máxime qui a besoin de preuves, n'est pas bien rendue«27). Diese Unterschiede zwischen den Gnomen und Sentenzen der griechischen und römischen Literatur und den Maximen der französischen Moralisten wirken sich auch auf die Eigenart und den Aufbau der Sammlungen aus. Die Gnomologien und Sentenzensammlungen der Antike, die erst nachträglich und nie von den Autoren selbst aus Versdichtungen und Prosaschriften zusammengestellt worden sind, entstanden »zunächst veranlaßt durch die Bedürfnisse des elementaren Schul24) Vgl. Ernst Ahrens, Gnomen Aeschylus), Diss. Halle 1937; Fritz Erlanger Diss., Sdiweinfurt 1896; Die Gnomik im Geschichtswerk des Die Funktion der Gnome.

in griechischer Dichtung (Homer, Hesiod, Hofinger, Eurípides und seine Sentenzen, und die Dissertation von Claus Meister, Thukydides, Winterthur 1955, bes. Teil III:

25) »Die rein ästhetische Bedeutung der Sentenz beruht also einerseits auf dem Gefallen an der äußeren Form, andererseits auf ihrem allgemeinen Charakter in seinem Kontrast zur speziellen Umgebung«, heißt es schon in der Studie Sentenz und Rellexion bei Sophokles von Eugen Wolf (Leipzig 1910, S. 166). 26) Vgl. Rhetorik B 2 1 , 1394 b 8—11: »äiioöel&a>g fiév oijv öeößeval oaai íiagádot¡óv TI Xéyovaiv f¡ äßq,Lßßt]Tov/Lievov oaai dé firjósv nagáóo^ov, émXóyov.« 27) Max. 603, CEuvres, Bd. I, S. 458. 18

elow ävev

Unterrichtes« 28 ).

Sie dienten v o r

allem didaktischen Zwecken

und

waren nach Autoren, nach Schlagwörtern oder alphabetisch geordnet. Die praktische Bedeutung, die die Sammlungen besonders in der stoischen Schule gehabt haben, trat später mehr und mehr zurück, der didaktische Charakter, der schon im W e s e n der Gnome begründet liegt, aber blieb erhalten 29 ). — Die Maximensammlungen der französischen M o ralisten dagegen, die eine gesellschaftskritische, nie aber eine lehrhafte Tendenz haben und in denen alles, was den Anschein

des

Gelehrtentums erwecken könnte, vermieden wird, gehören nicht zur didaktischen, sondern zur schönen Literatur. Ihre Bedeutung liegt v o r allem darin, daß die gleichen Themen, die in den religiösen, philosophischen oder höfischen Traktaten des 16. und 17. Jahrhunderts in erbaulicher oder lehrhafter Absicht behandelt werden, hier in eine ganz unsystematische und nur durch ästhetische Gesetze bestimmte Form gekleidet

sind.

Auch

im

Aufbau

der

Maximensammlungen

kommen allein literarische Gesichtspunkte zur Geltung. Eine strenge Anordnung der M a x i m e n nach Themen oder gar eine alphabetische Reihenfolge w i r d v o n allen Moralisten, die ihre Sammlungen selbst zusammengestellt und veröffentlicht haben, ausdrücklich

abgelehnt.

La Rochefoucauld schreibt: »Pour ce qui est de l'ordre de ces

Réflexions,

on n'aura pas de peine à juger que, comme elles sont toutes sur des matières différentes, il étoit difficile d'y en observer; et bien qu'il en ait plusieurs sur un même sujet, on n'a pas cru les d e v o i r toujours mettre d e suite, de crainte d'ennuyer le lecteur« 3 0 ). La Bruyère spricht im V o r w o r t zu seinen Caractères

v o n den »raisons qui entrent dans

l'ordre des chapitres et dans une certaine suite insensible des réflexions qui les composent 3 1 ); und in dem Avertissement Maximes

zu den Réflexions

et

v o n V a u v e n a r g u e s heißt es: »J'avertis encore les lecteurs

que toutes ces pensées ne se suivent pas, mais qu'il y en a plusieurs qui se suivent, et qui pourraient paraître obscures ou hors d'œuvre, si on les séparait« 3 2 ). W e n n trotz dieser Hinweise, in denen deutlich

28) Konstantin Horna, G nome, RE Supplementband VI, Sp. 78. — Vgl. auch Francesco di Capua, Sentenze e Proverbi nella tecnica oratoria e loro influenza sull'arte del periodare, Studi sulla Letteratura latina medievale, Napoli 1946, bes. S. 35 f. 29) Vgl. Konstantin Horna, a.a.O. Sp. 79 ff. 30) Préface de la Cinquième Édition (1678), Œuvres, Bd. I, S. 30. 31) Œuvres de La Bruyère, hrsg. von G. Servois, Les Grands Écrivains de la France, Bd. II, Paris 31922, S. 19. 32) Œuvres, Bd. I, S. 373 f. 19 2*

genug gesagt ist, daß die Autoren bewußt auf einen systematischen Aufbau zugunsten einer künstlerischen Komposition verzichtet haben, Amelot de La Houssaye in seiner berühmten Edition vom Jahre 1714 die Máximes La Rochefoucaulds nach den behandelten Motiven zusammenstellt und diese Themen alphabetisch ordnet, so zerstört er damit viel von der literarischen Wirkung des Werkes und handelt gegen die Intentionen des Autors 33 ). Die Grundsätze, die für die Edition der Gnomologien und Florilegien der griechischen und lateinischen Literatur gültig und berechtigt waren, konnten nicht auf die Maximensammlungen der französischen Moralisten übertragen werden, ohne die Eigenart dieser Werke zu zerstören. Trotz der genannten Unterschiede aber ist es möglich, daß die antiken Gnomen- und Sentenzensammlungen, die gerade im 16. und 17. Jahrhundert von den Humanisten häufig neu ediert worden sind34), einen Einfluß auf die Entstehung der Maximenliteratur ausgeübt haben. Neben Werken wie den Apophthegmata, die Erasmus ins Lateinische übersetzt und 1531 in Basel herausgegeben hat, oder den Sentenzen des Stobäus, die 1543 von Conrad Gesner in Zürich ediert wurden, entstanden damals in Anlehnung an antike Vorbilder auch neue Sentenzensammlungen 35 ), wie z.B. Las Seiscientas Apotegmas von Juan Rufo, die 1596 in Toledo gedruckt wurden 38 ), oder die Sentencias von Quevedo, die wahrscheinlich in den letzten Lebensjahren des Dichters entstanden sind37). Gracián, dessen Werk für die französische Moralistik von großer Bedeutung gewesen ist, hat sich mehrmals auf 33) Vgl. Réflexions, Sentences et Maximes morales, mises en nouvel ordre, avec des notes politiques et historiques par M. Amelot de la Houssaye, Paris 1714. — Diese Ausgabe ist in erweiteter Form nochmals erschienen unter dem Titel: Les Pensées, Maximes et Réílexions morales de François VI, Duc de la Rocheioucauld. Avec des Remarques & Notes Critiques, Morales, Politiques & Historiques sur chacune des Pensées, par Amelot de la Houssaye & l'Abbé de la Roche, Paris 1777. 34) Vgl. Konstantin Horna, a.a.O. Sp. 84 f. 35) Vgl. Dieter Kremers, Formale Quellen des Aphorismus, in Die Form der Aphorismen Graciáns, Diss. Freiburg i. Br. 1951, S. 9—19. 36) Vgl. A. G. de Amezúa, Juan Rulo y su libro de ¡as Seiscientas Apotegmas, Sociedad de Bibliógrafos Españoles, Madrid 1923. 37) Vgl. Fritz Schalk, Die Sentenzen Quevedos, RF 56 (1942) S. 300—312, zur Datierung S. 302. — Gedruckt wurde dieses Werk, das 1224 Sentenzen umfaßt, erst 1932 in der Ausgabe der Obras completas de Don Francisco de Quevedo Villegas, hrsg. von Luis Astrana Marin, Bd. I, Obras en Prosa, Madrid 21941, S. 920—1020.

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Juan Rufo und seine Apophthegmen berufen 38 ), ob aber in jener Zeit in Frankreich und insbesondere im Kreise La Rochefoucaulds eine der antiken Sentenzensammlungen bekannt gewesen ist, wissen wir nicht. Sicher ist nur, daß die Zeitgenossen La Rochefoucaulds an der Zusammengehörigkeit der französischen Maximen mit den Sentenzen der lateinischen Literatur nicht gezweifelt haben. Wie stark die Verwandtschaft zwischen beiden Formen empfunden wurde, zeigt sich besonders deutlich darin, daß Jean Corbinelli, der mit Mme de Sévigné befreundet und auch mit La Rochefoucauld gut bekannt gewesen ist, im Jahre 1694 ein Werk mit dem Titel: Les anciens Historiens latins réduits en Maximes herausgegeben hat30) und daß Amelot de la Houssaye in dem Kommentar zu seiner bereits erwähnten Edition der Réflexions, Sentences et Maximes morales als Parallelen zu dem Werk La Rochefoucaulds vor allem Sentenzen aus den Annalen des Tacitus anführt. Die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den antiken Sentenzen und den französischen Maximen sind weder Corbinelli noch Amelot de la Houssaye zum Bewußtsein gekommen. In den neueren gattungsgeschichtlichen Untersuchungen dagegen wird der aphoristische Charakter der Maxime besonders betont, während die Verwandtschaft mit den antiken Gnomen und Sentenzen meist unberücksichtigt bleibt40). In der Regel wird die von den französischen 38) El Criticón (Segunda Parte, Crisi IV), Edición crítica y comentada por M. Romera-Navarro, Bd. II, Philadelphia 1939, S. 153; Agudeza y Arte de Ingenio (Discurso XI), Madrid 1929, S. 71. Vgl. auch Arturo Farinelli, Gracián y la Literatura aúlica en Alemania, in Divagaciones hispánicas, Bd. II, Barcelona 1936, S. 123. 39) In dem Vorwort, in dem die Absicht des Autors erläutert wird, heißt es: » [ . . . ] en lisant les Historiens il s'est avisé de remarquer les Maximes qui y sont répandues, & de tourner même en Maximes certains Passages qui n'ont rien que d'historique: c'est à dire [ . . . ] qu'il a mis ces Passages à l'alambic; & que chaque Maxime Françoise est comme l'essence & l'esprit du Passage latin qui la suit« (Bd. I, Paris 1694, o. S.). 40) Eine Ausnahme bildet die Studie Maximes et Portraits (Évolution du Genre) von Léon Levrault (Paris 4 o.J.), in der von den Sprüchen der Sieben W e i s e n und den Sentenzen des Publius Syrus bis zu den Mimes, Enseignements et Proverbes von Antoine de Baïf und den Quatrains von Gui du Faur de Pibrac die verschiedensten sentenz- und spruchartigen Werke als Vorformen der Maximenliteratur angeführt werden. Da es sich hier jedoch nur um eine summarische, chronologische Darstellung handelt, in der die literarhistorischen Zusammenhänge unberücksichtigt bleiben, vermag auch diese Untersuchung zur Frage der Beziehung der Maxime zur antiken Sentenzenliteratur nur wenig beizutragen.

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Moralisten gewählte Kunstform sogar ausdrücklich als »Aphorismus« bezeichnet, obgleich weder La Rochefoucauld noch einer seiner Nachfolger auf seine »maximes«, »sentences«, »réflexions« oder »pensées« die Bezeichnung »aphorismes« angewandt hat und obgleich dieser Begriff — zumindest im Deutschen, wo man bei dem Wort »Aphorismus« zunächst an die von Lichtenberg gewählte literarische Form denkt — sich nicht ohne weiteres mit dem Begriff der französischen Maxime deckt41). Wenn Fritz Schalk die Aphorismen »als glückliche Eingebungen des Augenblicks« bezeichnet42) und von der inneren Verwandtschaft dieser Form »mit Witz, Satire, Ironie« spricht43), so treffen diese Kennzeichen wohl auf einen großen Teil der Bemerkungen zu, die Lichtenberg in seine »Sudelhefte« eintrug und die nach seinem Tode unter dem Titel Aphorismen veröffentlicht wurden, nicht aber auf das Werk La Rochefoucaulds, das nicht aus Gedankensplittern, sondern aus in sich geschlossenen Sentenzen besteht und in dem sich einige Maximen finden, »qui ont été changées plus de trente fois«44). Der glückliche Einfall oder der Witz, der in vielen Aphorismen Lichtenbergs das Entscheidende ist, spielt in der Maximenliteratur eine sehr viel geringere Rolle. Wohl sind die sprachlichen Mittel, die in der Technik des Witzes nachweisbar sind, wie z. B. »Verkürzung« und »Verdichtung« der Aussage oder das »Wortspiel«45), auch bei der Gestaltung der Maxime von Bedeutung, aber die Art der Anwendung dieser sprachlichen Mittel in einer geschliffenen Sentenz unterscheidet sich grundsätzlich von dem Ausdruck in einer spontanen witzigen Äußerung. Nicht zufällig zitiert Sigmund Freud in seiner Abhandlung Der Wifz und seine Beziehung zum Unbewußten mehrere Bemerkungen aus den Aphorismen Lichtenbergs, um an ihnen »die Technik des 41) Mit Recht schreibt Paul Requadt: »Die wenigsten der Lichtenbergschen Beobachtungen können der Form nach mit französischen Sentenzen verglichen werden [ . . . ] « (Lichtenberg, Zum Problem der deutschen Aphoristik, Hameln 1948, S. 123). 42) Das Wesen

des französischen

Aphorismus,

NS XLI (1933) S.421.

43) Ebda. S. 139. 44) So behauptet auf jeden Fall Segrais, dem wir eine Fülle von Einzelheiten über das literarische Leben jener Zeit verdanken und der gerade mit La Rochefoucauld gut bekannt gewesen ist. Vgl. Segraisiana ou Mélange d'Histoire et de Littérature. Recueilli des Entretiens de Monsieur de Segrais, La Haye 1722, S. 149. 45) Vgl. Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, Gesammelte Schritten, Bd. IX, Leipzig/Wien/Züridi 1925, bes. S. 14—96: Die Technik des Witzes.

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Witzes« zu analysieren, erwähnt aber in diesem Zusammenhang keine einzige Maxime der französischen Moralisten. Auch wenn einzelne Sentenzen La Rochefoucaulds und seiner Nachfolger wie plötzliche Einfälle oder »glückliche Eingebungen des Augenblicks« wirken, darf man sich nicht täuschen lassen, denn dieser Eindruck wird von den Autoren bewußt und, wenn man so sagen will, künstlich hervorgerufen. In den Fällen, wo die Entstehungsgeschichte dieser Sentenzen bekannt ist, läßt sich nachweisen, daß die erste Fassung des Gedankens meist sehr viel weniger spontan und einfallsreich erscheint und daß folglich auch der Eindruck, daß es sich um eine Eingebung des Augenblicks oder um eine » saillie« handele, erst das Ergebnis der literarischen Gestaltung ist46). Schon diese wenigen Hinweise auf die Unterschiede zwischen der Kunstform der französischen Moralisten und den Bemerkungen Lichtenbergs genügen, um zu zeigen, daß der Aphorismus nicht als eine einheitliche literarische Gattung betrachtet werden kann. Weder die Rückführung der aphoristischen Werke auf ihre gemeinsamen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen in dem antischolastischen und systemfeindlichen Denken der Renaissance 47 ), noch der Nachweis der Übereinstimmungen in der stilistischen Gestaltung und in der ästhetischen Wirkung zwischen einzelnen Maximen der französischen Moralisten und einzelnen deutschen Aphorismen 48 ) reichen aus, um die Sentenzen La Rochefoucaulds und seiner Nachfolger mit den Aphorismen Lichten46) Als Beispiel kann die 22. Maxime dienen: »La philosophie triomphe aisément des maux passés et des maux à venir, mais les maux présents triomphent d'elle« (a.a.O., Bd. I, S. 39). Die erste Fassung dieser Sentenz findet sich in einem Brief von La Rochefoucauld an Jacques Esprit, in dem es heißt: » [ . . . ] il y a longtemps que j'ai éprouvé que la philosophie ne fait des merveilles que contre les maux passés ou contre ceux qui ne sont pas prêts d'arriver, mais qu'elle n'a pas grande vertu contre les maux présents« (ebda. Bd. III/l, S. 134). Erst durch die Verkürzung und antithetische Zuspitzung, die hier zweifellos bewußte literarische Gestaltung ist und nicht wie die »Witzarbeit« im Unbewußten geleistet wird (vgl. Sigmund Freud, a.a.O. S. 191 f.), gewinnt dieser Gedanke den Charakter einer »saillie«. 47) Auf diese geistesgeschichtlichen Zusammenhänge ist zuerst von Fritz Schalk hingewiesen worden, der die Wurzeln des modernen Aphorismus im Werk von Francis Bacon und Erasmus sieht. (Vgl. Das Wesen des französischen Aphorismus, a.a.O. bes. S. 136—140). 48) Zu diesen Ubereinstimmungen vgl. Franz H. Mautner, Der Aphorismus als literarische Gattung, in ZfÄsth. 27 (1933) S. 132—175, und Hermann Ulrich Asemissen, Notizen über den Aphorismus, in Trivium 1 (1949) S. 144—167.

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bergs zu einer literarischen Gattung zusammenzufassen oder als Abwandlungen der gleichen Kunstform zu interpretieren. Deshalb sollen in dieser Studie die französischen Maximen wohl als eine aphoristische Form, nicht aber als Aphorismen bezeichnet werden. Da La Rochefoucauld selbst sein W e r k Réflexions ou Sentences et Maximes morales genannt hat, wird auch hier von seinen Maximen, Sentenzen und Reflexionen gesprochen. Dabei ist uns bewußt, daß aus keinem dieser drei Begriffe die Eigenart der von La Rochefoucauld geprägten literarischen Form abgeleitet werden kann. Der Begriff »réflexions« ist viel zu allgemein, um das W e s e n einer Kunstform zu kennzeichnen, der Ausdruck »sentences« deutet nur auf den Zusammenhang mit der antiken Sentenzenliteratur hin, und die Bezeichnung Maximes, die schon von den Zeitgenossen als verkürzter Titel für das W e r k La Rochefoucaulds gewählt wurde, läßt, wenn man von der üblichen Verwendung des Wortes im 17. Jahrhundert ausgeht, auf eine ganz andersartige literarische Form schließen; denn als »maxime« bezeichnete man damals einen allgemein anerkannten Grundsatz des Verhaltens oder eine Lebensregel von absoluter Gültigkeit: » [ . . . ] on n'appeloit Maximes que des veritez connues par la lumière naturelle, & reçuës universellement par tout le monde«, bemerkt Daniel Huet in einer Unterhaltung mit Mme de La Fayette 4 '), und bei La Bruyère heißt es von den Maximen: »elles sont comme des lois dans la morale« 50 ). Die Maximen La Rochefoucaulds dagegen, die sich durch eine paradoxe, zum Widerspruch herausfordernde Ausdrucksweise auszeichnen und in Form von Urteilen über das menschliche Handeln, nicht aber in Form von Vorschriften für das Verhalten abgefaßt sind, können weder als »des lois dans la morale« noch als »des veritez reçuës universellement par tout le monde« bezeichnet werden. V o n der ursprünglichen Bedeutung des Wortes »maxime«, das auf den juristischen Begriff »maxima sententia« zurückgeht 51 ), ist in der literarischen Form der Maxime kaum noch etwas erhalten, denn der Begriff »maxima sententia«, für den man schon im Mittelalter die verkürzte Form »maxima« oder »maxime« verwandte, wurde nur für allgemeine Rechtsgrundsätze gebraucht, »quae semper habita et tenta 49) Huetiana ou Pensées 1722, Kap. XCIX, S. 249.

diverses

de M. Huet, Evesque d'Avranche, Paris

50) A.a.O. Bd. II, S. 23. 51) Vgl. Du Cange, Glossarium ad Scriptores tatis, Bd. IV, Paris 1733, Sp. 615: Maxima. 24

mediae

et inttmae

Latini-

sunt pro lege«. Die Maximen galten als Axiome des Rechts, gegen die es keinen Einspruch gab, »quibus non est licitum alicui legis perito contradicere« 5 2 ). Diesen absoluten Geltungsanspruch erheben die Maximen der französischen Moralisten nicht. Zwar handelt es sich auch hier um Urteile über das menschliche Verhalten, die in verallgemeinernder Form vorgetragen werden, aber diese generelle Formulierung wird nur aus literarischen Gründen gewählt. Die Autoren selbst wissen genau, daß es keine Sentenz gibt, die für alle Situationen Gültigkeit hätte oder auf alle Menschen angewandt werden könnte. Sie erwarten vom Leser, daß er auch in der verkürzenden und verallgemeinernden Form den Gedankenzusammenhang durchschaut und die Fälle erkennt, auf die die Maxime anwendbar ist. Chamfort sagt ausdrücklich: »Le paresseux & l'homme médiocre [ . . . ] donnent à la Maxime une généralité que l'Auteur, à moins qu'il ne soit lui-même médiocre [ . . . ] , n'a pas prétendu lui donner. L'homme supérieur saisit tout-d'un-coup les ressemblances, les différences qui font que la Maxime est plus ou moins applicable à tel ou tel cas, ou ne l'est pas du tout« 53 ). So kann auch die verallgemeinernde Formulierung nicht erklären, warum das W e r k La Rochefoucaulds gerade Maximes genannt wurde. Zu einem festen literarischen Begriff ist dieses Wort erst durch den Erfolg der La Rochefoucauldschen Sammlung geworden. Wenn heute der Ausdrude »Maxime« nicht für galante V e r s e verwendet wird, wie sie Bussy-Rabutin unter dem Titel Maximes d'Amour veröffentlichte®4) oder wie sie Mme de Villedieu unter der Bezeichnung Maxime in ihre Annales galantes einfügte 55 ), so ist das allein darauf zurückzuführen, daß das W e r k La Rochefoucaulds alle preziösen Versmaximen 52) In dem 8. Kapitel des Dialog, de Fundamentis Legum Angliae von Christopherus de S. Germamano heißt es: »Quartum fundamentum legis Angliae stat in diversis prineipiis, quae à peritis Legis Angliae Maxima vocantur, quae semper habita et tenta sunt pro lege in hoc regno Angliae, quibus non est licitum alicui legis perito contradicere« (zitiert nach Du Cange, a.a.O.). 53) Maximes et Pensées, Caractères et Anecdotes, hrsg. von Pierre Grosclaude, Collection nationale des Classiques Français, Paris 1953, Bd. I, S. 81. Nach dieser zweibändigen Ausgabe wird auch im folgenden zitiert. 54) Einen Teil dieser Maximes d'Amour veröffentlichte Bussy-Rabutin schon im Jahre 1663 im 5. Band des Recueil de pièces en prose les plus agreables de ce temps, hrsg. von Charles de Sercy. Die erste vollständige Ausgabe erschien im Jahre 1668. 55) Vgl. Œuvres de Madame de Villedieu, Bd. IX, Paris 1720, S. 35, 54, 65 f., 70, 86 f., 97, 111, 132, 159, 298, 302, 329, 384, 391, 482.

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in den Schatten stellte und eine literarische Tradition begründete, die im 18. Jahrhundert von bedeutenden Autoren wie Vauvenargues, Chamfort und Rivarol fortgesetzt wurde und selbst Erzähler wie Crébillon den Jüngeren in ihren Bann zog. Im Hinblick auf diese Nachwirkungen des Werkes von La Rochefoucauld verlieren auch die Einwände, die gegen den Titel erhoben worden sind, ihre Berechtigung. Wenn Daniel Huet die Bezeichnung Maximes ablehnt, weil die literarische Form mit der üblichen Verwendung des Wortes nicht übereinstimmt 56 ), und wenn noch Schopenhauer schreibt: »An dem herrlichen Büchlein könnte man allenfalls den Titel tadeln: m e i s t e n t e i l s nämlich sind es nicht maximes noch réflexions sondern apperçus«57), so ist darauf zu erwidern, daß es das Recht eines jeden Autors ist, für eine neue literarische Form ein altes Wort in einer neuen Bedeutung zu verwenden, und daß gerade die Bezeichnung Maximes den Gegensatz zwischen dem La Rochefoucauldschen Werk und der lehrhaften moralistischen Literatur seiner Zeit hervortreten läßt. Wäre die Bezeichnung Maximes nicht wirkungsvoll gewesen, würde sie nicht in dem Titel fast aller späteren französischen Sentenzensammlungen wiederkehren. Vauvenargues hat sein Werk Réflexions et Maximes genannt, die Fragmente Chamforts sind Maximes et Pensées, Caractères et Anecdotes überschrieben 59 ), und die posthum erschienenen Bemerkungen Rivarols tragen den Titel: Maximes et Pensées, Anecdotes et Bons Mots59) oder Notes, Maximes et Pensées 90 ). Der Fehler beruht also nicht darauf, daß die von La Rochefoucauld 56) Vgl. Hueliana a.a.O. Es heißt dort in bezug auf das Werk La Rochefoucaulds: » [ . . . ] la pluspart de ces maximes me paroissent entièrement fausses, jusqu'au titre même de Maximes qu'on leur avoit donné [ . . . ] « (S. 249). 57) Parerga und Paralipomena, Bd. II, Kap. IX, § 126. Schopenhauers sämtliche Werke, hrsg. von Paul Deussen, Bd. V, München 1913, S. 273. 58) Der Titel stammt von Ginguené, dem Freunde Chamforts, der das Werk im Jahre 1795 zuerst ediert hat. Der Autor selbst hatte daran gedacht, seine Bemerkungen unter dem Titel Produits de la Civilisation perfectionnée zusammenzufassen. (Vgl. Julien Teppe, Chamfort. Sa Vie, son Œuvre, sa Pensée, Paris 1950, S. 119.) 59) In Œuvres choisies de A. Rivarol, hrsg. von M. de Lescure, 2 Bde., Paris o. J. [1880], Bd. I, S. 233—317. 60) Dieses ist der Titel der neueren Edition, die 1945 in der Sammlung Les Moralistes bei Jacques Haumont in Paris erschienen ist. (In der Übersicht über die Rivarol-Ausgaben im Anhang zu Emst Jünger, Rivarol, Frankfurt a. M. 1956, S. 183 f. wird als Erscheinungsjahr 1941 angegeben.)

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geschaffene literarische Form »maxime« genannt wurde, sondern darauf, daß die Kritik von der üblichen Bedeutung dieses Wortes ausgegangen ist und gefordert hat, daß auch die Kunstform der Maxime dieser Bedeutung entsprechen müsse. Was eine literarische Maxime ist, lehrt aber keine wortgeschichtliche Untersuchung, sondern nur eine literarhistorische Interpretation.

27

II

Die La Rochefoucauld-Forschung und ihre Aufgabe »Pour bien savoir les choses, il en faut savoir le détail, et comme il est presque infini, nos connoissances sont toujours superficielles et imparfaites« 1 ). Dieses Wort, mit dem La Rochefoucauld alles menschliche Wissen als oberflächlich und unvollkommen gekennzeichnet hat, gilt insbesondere für die Kenntnis und Beurteilung seiner Réflexions ou Sentences et Maximes morales, denn bei diesem Kunstwerk liegt die Einzigartigkeit und der besondere literarische Wert ganz im Detail, in dem neuartigen Aspekt, den ein Gedanke in einer bestimmten Formulierung und nur durch eben diese Form der Aussage offenbart. Worauf es ankommt, ist die Bedeutungsnuance oder der Klang eines Wortes, die überraschende Sprachverkürzung oder der ausgewogene Rhythmus eines Satzes, die Überzeugungskraft eines Bildes oder der Effekt eines unerwarteten Vergleiches, kurz die Verwandlung, die ein Gedanke, mag er an sich auch altbekannt, banal oder äußerst anfechtbar sein, durch eine bis in das Detail gehende literarische Neuformung erfährt. Da ein Wort je nach dem Satzgefüge und Sinnzusammenhang, in dem es erscheint, verschiedene Bedeutungsnuancen zu enthalten und Assoziationen zu wecken vermag, und da jeder Gedanke, wenn er in einen größeren Zusammenhang hineingestellt wird — sei es in eine traktatartige längere Reflexion, sei es in eine Maximensammlung — durch die vorangehenden und nachfolgenden Sätze in seiner Wirkung wiederum modifiziert werden kann, ist bei einer genauen literarischen Interpretation »le détail« in der Tat »presque infini«. Sieht man von dieser Fülle der Einzelheiten ab, sucht man ohne eine detaillierte Interpretation von einzelnen Maximen das Kunstwerk als Ganzes zu deuten, so bleiben unsere Kenntnisse »toujours superficielles et imparfaites«. Diese Feststellung wird jeder bestätigen, der sich näher mit den 1) Max. 106 (Œuvres I, S. 76). Zitiert wird, soweit keine andere Ausgabe angegeben ist, nach der von D. L. Gilbert und J. Gourdault besorgten Edition der Œuvres de La Rochefoucauld, Bd. I, Paris 1868. Zur Frage der verschiedenen Handschriften und Drucke der Maximes vgl. Kap. III.

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verschiedenen Urteilen beschäftigt hat, die über das Werk La Rochefoucaulds in den jetzt nahezu drei Jahrhunderten seit seiner Entstehung gefällt worden sind. Das meiste von dem, was bisher über die Maximes geschrieben worden ist, muß als allzu summarisch und einseitig bezeichnet werden. Uns ist keine Arbeit bekannt, in der auch nur eine einzige Maxime in vorbildlicher Weise unter verschiedenen Aspekten literarisch interpretiert würde. Man hat vielmehr immer wieder versucht, die Réflexions ou Sentences et Maximes morales aus einem von außen an das Werk herangetragenen Prinzip zu deuten. Dieses Prinzip ist in den meisten Fällen die Biographie oder die Weltanschauung La Rochefoucaulds. Die Kritiker gehen entweder von dem Grundsatz aus, daß die menschliche Haltung sowie die persönlichen Erlebnisse und Enttäuschungen des Autors den Schlüssel zum Verständnis seines Werkes enthalten, oder sie beschäftigen sich ausschließlich mit den philosophischen, psychologischen und moralischen Anschauungen, die in allen Maximen La Rochefoucaulds mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck gebracht werden, in der Annahme, auf diese Weise das Welt- und Menschenbild des Autors und damit auch seine Originalität erklären zu können. Die Tendenz, das Werk aus den Grundzügen der menschlichen Persönlichkeit La Rochefoucaulds zu deuten, zeigt sich nicht nur in den Urteilen der Zeitgenosssen, von denen viele den Herzog persönlich kannten 2 ), und bei Kritikern zur Zeit der Romantik, für die alle Dichtung ein unmittelbarer Ausdruck des Erlebens war 3 ), sondern noch in der neuesten La Rochefoucauld-Biographie aus dem Jahre 1951 be2) In den Jugements des Contemporains, die in den neueren La Rochefoucauld-Ausgaben meist als Appendice zu den Maximes abgedruckt werden, heißt es z. B., man glaube, daß La Rochefoucauld selbst das Urbild seiner Maximen sei, »que l'auteur n'en a pu prendre l'original qu'en lui-même«, oder »qu'il juge tout le monde par lui-même« (La Rochefoucauld, Œuvres I, S. 392 u. 372). Auch das viel zitierte Urteil: » [ . . . ] quelle corruption il faut avoir dans 1' esprit et dans le cœur, pour être capable d'imaginer tout cela!« (ebda. S. 375), das Mme de La Fayette nach der ersten Lektüre der Maximes fällte, verrät die gleiche Betrachtungsweise. 3) Zu diesen Kritikern ist noch Victor Cousin zu zählen, der in seinen Études sur les Femmes illustres et la Société du XVIIe Siècle, insbesondere in dem Band über Madame de Sablé mehrfach zu La Rochefoucauld und seinem Werk Stellung genommen hat. Es heißt dort in bezug auf die erste Edition der Maximes: »Ce sont, pour la plupart, de petites médailles de l'or le plus fin et du relief le plus vif. On sent que l'artiste y a travaillé avec amour. Je le crois bien: il gravait son portrait« (Madame de Sablé, Paris *1859, S. 147).

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trachtet der Verfasser Morris Bishop die Maximen als persönliche Bekenntnisse, die nur in einer verallgemeinernden Form vorgetragen werden. »Most of his generalizations are, I think, confessions«, heißt es dort. »The maxims are a cry of despair, a cry for help«4). Daß dieses Urteil, von dem man zunächst annehmen würde, daß es aus der romantischen Epoche stammt, noch in unseren Tagen im Ernst vorgebracht werden kann, ist erstaunlich. Wenn es schon nicht angeht, die Pensées Pascals als »journal intime« oder als »Bruchstücke einer großen Konfession« zu deuten5), wieviel weniger die Maximes La Rochefoucaulds, die thematisch aus dem moralistischen Schrifttum und der literarischen Konversation in den berühmten Salons des 17. Jahrhunderts erwachsen sind und in ihrer durch den esprit geprägten Form nur auf dem Hintergrunde der Gesellschaftskultur des »siècle de Louis XIV« richtig verstanden werden können. Die biographische Betrachtungsweise, die dazu führt, daß die Maximes in einen unmittelbaren motivischen Zusammenhang mit den Mémoires gebracht, ja als Schlußfolgerungen aus dem persönlichen Erleben La Rochefoucaulds interpretiert werden, findet sich zunächst in einer älteren, aus der positivistischen Schule hervorgegangenen Arbeit von L. Ehrhard über die Sources historiques des Maximes de in der mit bewußtem Verzicht auf eine literarische La Rochefoucauld, Kritik nur die historischen Fakten, die das Material für die Sentenzen geliefert haben sollen, zusammengestellt werden9). Die gleiche Methode wird wieder aufgenommen in einer neueren Studie von N. Ivanoff, in der es heißt: »Pour la plupart des Maximes nous avons des clefs. C'est à l'ingratitude d'Anne d'Autriche, à la légèreté de Mme de Longueville, à la perfidie de Mazarin, à la conduite intéressée de tous les frondeurs que La Rochefoucauld pense, en nous communiquant telle 4) The Liie and Adventures oi La Rochefoucauld, New York 1951, S. 257. Das Zitat ist bezeichnend für die ganze Biographie, in der auf Grund unzureichenden Quellenmaterials, mit dem der Verfasser allzu frei schaltet, das Leben La Rochefoucaulds rekonstruiert wird. Die Maximen wertet der Autor als biographische Quellen und fügt sie in den Text ein, ohne sie als Zitate zu kennzeichnen. 5) Vgl. unsere Studie über Das Pascal-Bild in der französischen Literatur, Hamburger Romanistische Studien, Reihe A, Bd. 41, Hamburg 1955, bes. S. 53. 6) Es handelt sich um eine Heidelberger Dissertation, die 1891 in Straßburg gedruckt wurde. Der Verfasser hätte sich auf die La RochefoucauldStudie von Alexandre Vinet stützen können, in der es bereits heißt: »Ses Mémoires [ . . . ] expliquent pour une bonne part ses Maximes« (Moralistes des seizième et dix-septième siècles, Paris 1859, S. 187.)

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ou telle pensée misanthropique qui nous choque« 7 ). W . G. M o o r e w i e derholt in seinem erst v o r w e n i g e n Jahren erschienenen Aufsatz The World

oi the >Maximes< noch einmal die gleiche These. Die Basis der

M a x i m e n bildet »the actual experience of the author«, den Schlüssel zum Verständnis des W e r k e s sein Erleben der Fronde 8 ).

Die Frage,

weshalb Autoren einer anderen Zeit unter anderen politisch-sozialen Bedingungen,

wie

die

Quellenforschung

lehrt,

ganz

ähnliche

Ge-

danken und Anschauungen vortrugen, w i r d leider nicht beantwortet. Der literarische A s p e k t des W e r k e s , die künstlerische Eigenart und der besondere Reiz der M a x i m e n bleiben ganz unbeachtet. sich hier w i e bei der Betrachtung jedes W e r k e s v o n

Es zeigt

literarischem

Rang, daß die Biographie des Autors zum Verständnis der Dichtung nur w e n i g beizutragen vermag. Z w a r ist es möglich, daß La Rochefoucauld, w e n n er im politischen Leben mehr Erfolg gehabt hätte, gar nicht dazu gekommen wäre, sich literarisch zu betätigen und mehr als fünfzehn Jahre an der endgültigen Form seiner M a x i m e n zu feilen; auch w i r d niemand bestreiten, daß sein U m g a n g mit M m e de Sablé, v o n der die A n r e g u n g zur Abfassung v o n M a x i m e n ausgegangen sein soll, und sein V e r k e h r

in ihrem Salon, in dem » m o n d a n i t é «

» p r é c i o s i t é « mit einem jansenistisch gefärbten Skeptizismus über der W e l t und dem Menschen eine so eigenartige

und

gegen-

Verbindung

eingingen, für seine schriftstellerische Entwicklung v o n großer Bedeutung g e w e s e n ist, aber die Réflexions ou Sentences

et Maximes

mo-

rales, w i e sie uns heute v o r l i e g e n , lassen sich nicht aus diesen biographischen Gegebenheiten ableiten. Hinzu kommt, daß auch für das Studium der Entstehungsgeschichte der M a x i m e n biographische Untersuchungen allein nicht ausreichen. In den A r b e i t e n über das Leben La Rochefoucaulds finden wir keine präzisen Angaben, wann der H e r z o g

7) Les Maximes de La Rochefoucauld, in La Marquise de Sablé et son Salon, Thèse Paris 1927, S. 157—176, Zitat S. 159. 8) Vgl. FSt. V I I (1953) S. 335—345. — Die These, daß die Maximen La Rochefoucaulds nur im Hinblick auf die Niederlage der Fronde richtig verstanden werden könnten, ist schon 1936 von Fernand Baldensperger aufgestellt worden. In seinem Aufsatz L'arrière-plan espagnol des >Maximes< de La Rochefoucauld, in dem der Verfasser das Quellenstudium mit einer soziologischen Betrachtungsart verbindet, heißt es: » [ . . . ] il importe de rassembler et d'approfondir désormais tous les indices qui font des Maximes l'expression française d'un désenchantement d'aristocrates à demi résignés (après une des dernières tentatives de la noblesse armée) à transposer dans l'abstrait, et non plus dans l'action, une »morale de seigneurs< que l'Espagne continuait à articuler fièrement [ . . . ] « (RLC XVI, S. 45—62, Zitat S. 47). 31

begonnen hat, Maximen zu schreiben, wie es zu der Ausbildung der neuen aphoristischen Form seiner Reflexionen gekommen ist, in welcher Form er sich durch Mme de Sablé hat anregen lassen und inwieweit die Diskussion literarischer Themen in ihrem Salon für die Ausgestaltung und Überarbeitung seiner Maximen von Bedeutung gewesen ist9). Schon zur Klärung dieser Hauptfragen der Entstehungsgeschichte müssen neben der Biographie literarische Quellenforschung und kulturgeschichtliche Studien herangezogen werden, wie es in dem Aufsatz La Genèse des >Maximes< de La Rochefoucauld von H. A. Grubbs bereits geschehen ist10). Weiter als die biographische Betrachtungsweise, aber dennoch nicht bis zu den im engeren Sinne literarischen und künstlerischen Fragen führt die geistesgeschichtlich orientierte La Rochefoucauld-Forschung, die vom rein Gedanklichen ausgeht und versucht, aus den Maximen eine Anthropologie oder gar ein System von philosophischen, psychologischen und moralischen Anschauungen abzuleiten. Auch hier wird unter Vernachlässigung des Details das Werk jeweils aus einem Prinzip gedeutet, mag dieses Prinzip nun wie bei R. Grandsaignes d'Hauterive Le Pessimisme de La Rochefoucauld heißen oder wie bei W. Sivasriyananda L'Êpicurisme de La Rochefoucauld genannt werden. In beiden Fällen gehen die Verfasser methodisch auf die gleiche Weise vor. Die Maximes werden als ein philosophisches, nicht als ein literarisches Werk betrachtet. Nachdem definiert worden ist, was unter »Pessimismus« bzw. »Epikurismus« verstanden werden soll, wird in einem Abschnitt über das Werk La Rochefoucaulds nachgewiesen, daß die Grundgedanken des Herzogs dieser Begriffsbestimmung entspre9) Man vergleiche die umfangreiche Notice biographique von J Gourdault in der Gesamtausgabe der Œuvres de La Rochefoucauld, Les Grands Écrivains de la France, Paris 1883, und die Studie Le vrai visage de La Rochefoucauld von Émile Magne, Paris 1923. In der jüngst erschienenen Chronologie de La Rochefoucauld, in der Jean Marchand alle »faits précis«, die aus den biographischen Studien bekannt sind, zusammengestellt hat, finden sich keinerlei Angaben über die Entstehung der Maximes oder über die Beziehungen La Rochefoucaulds zu Mme de Sablé und ihrem Kreis (vgl. Œuvres complètes de La Rochefoucauld, Édition établie par L. Martin-Chauffier, revue et augmentée par Jean Marchand, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1957, S. XXVII—XL). 10) Diese Abhandlung erschien in der RHL Bd. X X X I X (1932) S. 481—499 und Bd. XL (1933) S. 17—37. Der Autor konnte hier bereits auf den Ergebnissen seiner Studie über die Quellenfrage aufbauen, die er 1929 unter dem Titel The Originality of La Rochefoucauld's Maxims in der gleichen Zeitschrift veröffentlicht hatte (vgl. Bd. XXXVI, S. 18—59).

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chen. Schließlich wird bei beiden Autoren wieder die Biographie zur Erklärung oder Ergänzung herangezogen. So überschreibt Sivasriyananda den zweiten Teil seiner Arbeit: »La vie éminemment épicurienne de La Rochefoucauld« 11 ), und bei Grandsaignes d'Hauterive heißt es in bezug auf den Pessimismus, der in den Maximes zum Ausdruck kommt: »Aussi est-ce dans l'homme qu'il faut en chercher les racines, et par la vie qu'il faut en expliquer le développement« 12 ). Daß auch diese Methode der Literaturbetrachtung La Rochefoucauld nicht gerecht zu werden vermag, läßt sich leicht beweisen. Wohl ist ein gewisser Pessimismus in den Maximes unverkennbar; auch wird eine seiner Quellen in dem melancholischen Grundzug im Wesen La Rochefoucaulds zu suchen sein, der durch die Enttäuschungen seines Lebens verstärkt wurde und ihn empfänglich machte für die weit- und menschenfeindlichen Tendenzen, die — meist auf Grund religiöser Impulse — um die Mitte des 17. Jahrhunderts in Frankreich immer stärker hervortraten; über den Schriftsteller La Rochefoucauld und die besondere Eigenart seiner Maximen aber ist damit noch nichts gesagt. Literarisch interessant wird die Untersuchung erst, wenn es um das Detail geht, um die Frage, welchen Ausdruck der sogenannte Pessimismus in einzelnen Maximen gefunden hat, und wie es La Rochefoucauld gelungen ist, seine Grundhaltung zur Welt und zum Menschen — mag sie sich nun in Form einer Skepsis, einer Melancholie oder einer Resignation äußern — dem Leser zu suggerieren. Diese Fragen aber werden bei Grandsaignes d'Hauterive nicht einmal gestellt. Entsprechendes gilt für die Studie über den Epicurisme de La Rochefoucauld. Hier gelingt es dem Verfasser auf Grund mündlicher Äußerungen des Herzogs, die der Chevalier de Méré aufgezeichnet hat13), sowie anhand einer philosophischen Interpretation der Begriffe l'humeur, le hasard, l'amour-propre, wie sie in den Maximes verwandt werden, einen epikuräischen Grundzug im Denken La Rochefoucaulds deutlich zu machen. Darüber hinaus ist seine Untersuchung in geistesgeschichtlichem Zusammenhang aufschlußreich, läßt sich doch nachweisen, daß 11) Vgl. L'Êpicurisme de La Rochefoucauld, Thèse Paris 1939, S. 153—196. 12) Le Pessimisme de La Rocheioucauld, Paris 1914, S. 28. 13) Vgl. Lettre du Chevalier de Méré à Madame la Duchesse de ***, in Œuvres de La Rocheioucauld, Bd. I, S. 395—399. — Diesen Brief zitiert auch J. Roger-Charbonnel in seinem Aufsatz: Les tendances philosophiques et religieuses de La Rocheioucauld (APhCh. 146 [1903] S. 493—505). In dieser Studie wird die Philosophie des Autors der Maximes bereits als »une sorte d'épicurisme« bezeichnet (S. 498).

33 3 Kruse, Maxime

die epikuräisdien Anschauungen, die neben stoischen Gedanken bereits seit Montaigne in der moralistischen Literatur Frankreichs stets gegenwärtig waren, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen zunehmenden Einfluß ausübten14). Für die literarische Interpretation der Réflexions ou Sentences et Maximes morales aber sind all diese Erwägungen nur von sekundärer Bedeutung. Wohl trifft Sivasriyananda begriffliche Unterscheidungen zwischen dem Denken La Rochefoucaulds und den Anschauungen anderer Schriftsteller seiner Zeit, worin aber die literarische Gestaltung des »épicurisme« in den Maximes abweicht von der Darstellung verwandter Auffassungen im Werk anderer Moralisten, z. B. in den Sdiriften Saint-Évremonds 15 ), darüber erfährt der Leser nichts. Diese künstlerischen Fragen aber müssen für den Literarhistoriker im Vordergrund stehen, denn wären nicht die Maximes erhalten, sondern nur eine Abhandlung, in der La Rochefoucauld seine philosophischen und moralischen Anschauungen so genau wie möglich aufgezeichnet hätte, so würden sich nur wenige dafür interessieren. Die Originalität La Rochefoucaulds liegt nicht in einer von der Form der Aussage ablösbaren Philosophie oder Weltanschauung, sondern in dem Vermögen, einem Gedanken die bis ins letzte geschliffene und unauswechselbare Gestalt zu geben, die die besten seiner Maximen auszeichnet. Das Gesagte mag selbstverständlich erscheinen, besonders wenn man bedenkt, daß La Rochefoucauld nie den Anspruch erhoben hat, eine neue Lehre vom Menschen zu verkünden, sondern seine ganze Aufmerksamkeit der immer erneuten stilistischen Gestaltung und Umgestaltung einiger weniger, meist althergebrachter moralistischer Themen zuwandte. Dennoch muß die These von der rein literarischen Originalität La Rochefoucaulds mit Nachdruck wiederholt werden, da sogar in der neuesten Forschung die entgegengesetzte Meinung mit 14) Es sei hier nur daran erinnert, daß im Jahre 1647 Gassendi sein viel gelesenes Werk De vita et moribus Epicuri veröffentlichte (Neudrucke: Lyon 1649, Amsterdam 1659, Lyon 1675), und daß 1685 Saint-Évremond eine Abhandlung Sur la Morale d'Êpicure geschrieben hat. 15) Ein solcher Vergleich könnte durchaus lohnend sein, da die Werke beider Autoren viele gemeinsame Züge aufweisen, wie schon daraus hervorgeht, daß in die Ausgabe der Nouvelles œuvres meslées de Monsieur de Saint-Evremont aus dem Jahre 1700 siebzehn authentische Maximen von La Rochefoucauld aufgenommen werden konnten nebst sechzehn weiteren Sentenzen, die durch starke Analogien zu den Reflexionen des Herzogs auffallen. (Vgl. Jean Marchand, Des >Maximes< insoupçonnées de La Rochefoucauld, BdB, N.S. 15 (1936) S. 377—388 und S. 460—469.)

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Unbedingtheit vorgetragen wird. So schrieb Jean O. Rousset im Jahre 1942 einen Artikel La Rochefoucauld contre le Classicisme, in dem gezeigt werden soll, daß der Autor der Maximes in einem scharfen Gegensatz zu den Anschauungen seiner Zeit gestanden habe und im Grunde »un critique destructeur« oder »un nihiliste moral« gewesen sei16}. Noch einen Schritt weiter geht W. G. Moore, der im Jahre 1953 einen Aufsatz unter dem Titel La Rochefoucauld: une nouvelle anthropologie veröffentlichte, in dem von einer neuen Rangordnung der Werte gesprochen wird, die der Autor der Maximes entdeckt habe, und von einer »Umwertung aller Werte«, die sich in seinem Werk vollziehe17). Der große Moralist des 17. Jahrhunderts wird hier zu einem ganz modernen Autor, der in Bereiche vordringt, die erst die Psychoanalyse uns erschlossen hat; er wird nicht nur zu einem Vorläufer Nietzsches, sondern der Verfasser meint: »[...] on pourrait voir en lui un des ancêtres de l'irrationalisme de nos jours« 18 ). Gegen diese Deutung, die im einzelnen nur durch eine genaue Interpretation der Réflexions ou Sentences widerlegt werden kann, läßt sich zunächst der Kommentar anführen, den der Autor selbst im Vorwort zur ersten Edition seiner Maximen gegeben hat. Es heißt dort: »[...] ce qu'elles contiennent n'est autre chose que l'abrégé d'une morale conforme aux pensées de plusieurs Pères de l'Église« 1 '). Obgleich diese Äußerung sicherlich nicht ohne Rücksicht auf die Zensur und die Kritik der Zeitgenossen, die das Werk bereits im Manuskript gelesen hatten, geschrieben worden ist, kann sie doch zeigen, daß La Rochefoucauld sich selbst nicht als einen »Umwerter aller Werte« empfunden hat. Hinzu kommt, daß sich durch Quellenforschung nachweisen läßt, daß es für eine größere Anzahl von Sentenzen La Rochefoucaulds literarische Vorbilder gibt und daß, auch wenn es nicht möglich ist, eine direkte Vorlage für seine Reflexionen anzuführen, die gleichen Themen und Wertungen in den meisten Fällen bereits im antiken Schrifttum, in der Renaissanceliteratur oder in den zahlreichen moralischen Traktaten und Erbauungsbüchern des 17. Jahrhunderts zu finden sind. Wenn W. G. Moore schreibt: »C'est dans ses admirables inventions, plutôt que dans le travail de style, que La Rochefoucauld me paraît grand 16) Vgl. ASNS 180 (1942) S. 107—112. 17) Vgl. RSH, N.S. 72 (1953) S. 299—310. Auf Seite 304 heißt es: »Ses constatations l'amènent à discerner une nouvelle échelle de valeurs, une sorte de >Umwertung aller WerteMaximesMaximes< de La Rochefoucauld. Premier texte imprimé à La Haye en 1664, Paris 1883. Die Zitate aus dem Vordrude von 1664 sind dieser philologisch einwandfreien Ausgabe entnommen. 4) Vgl. Alphonse Willems, La première édition des >Maximes< de La Rochefoucauld, imprimée par les Elzevier en 1664. Notice bibliographique, Bruxelles 1879. 5) Vgl. W. G. Moore, Le premier état des >Maximes(, RHL LII (1952) S. 417—424, und ders., La Rochefoucauld: une nouvelle anthropologie, a.a.O. 6) La première Rédaction des > Maxi mes < de La Rochefoucauld d'après un Manuscrit inédit (Société des Écrivains Amis des Livres). 7) Maximes et Réflexions morales de La Rochefoucauld, Paris (Édition Mazarine). Das Manuscrit de Liancourt wird stets nach dieser Reproduktion zitiert, da in dem einzigen vollständigen Neudruck aus dem Jahre 1957 die Orthographie modernisiert ist (s. u. Anm. 11).

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Begutachtung an Mme de Sablé oder an Jacques Esprit geschickt hat, in den Briefen La Rochefoucaulds erhalten. Im ganzen unterscheidet Jean Marchand, der Spezialist in allen Text- und Editionsfragen, nicht weniger als vierzehn Handschriften 8 ). Dazu kommen die sechs zu Lebzeiten des Autors im Drude erschienenen Fassungen des Werkes und die posthume Edition von Claude Barbin aus dem Jahre 1693, in der achtundzwanzig posthume Maximen zum ersten Male publiziert wurden"). An welchen Text soll man sich unter diesen Umständen halten? Eine moderne historisch-kritische Ausgabe, in der die verschiedenen Fassungen, Lesarten und Varianten des Werkes vollständig wiedergegeben würden, gibt es nicht. Man zitiert in wissenschaftlichen Arbeiten gewöhnlich nach der Gesamtausgabe der Werke La Rochefoucaulds in der Sammlung »Les Grands Écrivains de la France«. Die Maximes finden sich im ersten Band, der 1868 von D. L. Gilbert herausgegeben, 1883 durch einen Nachtrag und bibliographischen Anhang von Ad. Régnier ergänzt und 1923 noch einmal neu aufgelegt wurde. Diese Ausgabe folgt im Text dem Drude von 1678 und bringt im Anschluß daran die Maximes posthumes und die Maximes supprimées. Ein Teil der Textvarianten wird in den Fußnoten angeführt. Die frühen Fassungen, die Gilbert unbekannt waren, berücksichtigt Régnier in seinem Appendice. Dennoch ist diese Ausgabe als wissenschaftliche Edition unzureichend oder, wie Antoine Adam sich ausdrückt, »une entreprise manquée« 10 ). Das liegt nicht nur daran, daß das »manuscrit original« erst nach dem Tode Gilberts aufgefunden wurde und nicht gleichzusetzen ist mit der heute verlorenen Handschrift, die der Herausgeber in den Fußnoten als »manuscrit« bezeichnet, sondern vor allem daran, daß weder die von Gilbert verzeichneten Varianten noch die umfangreichen Nachträge von Régnier einen ausreichenden Einblick in den Text der Handschriften und der frühen Drucke gewähren. Die Entstehung und die Wandlung der Maximes läßt sich in keiner 8) Vgl. Jean Marchand, Les Manuscrits des >Maximes< de La Rochefoucauld. Histoire, Classement et Description, BdB, N.S. 14 (1935) S. 149—156; S. 248—255; S. 317—323; S. 377—389; S. 462—469; S. 521—526. 9) Vgl. Jean Marchand, Bibliographie générale raisonnée de La Rochefoucauld, Paris 1948, S. 179—181. Barbin gab insgesamt 50 Maximen als posthum aus, von denen aber nahezu die Hälfte nur geringfügige Variationen zu früher bereits veröffentlichten Sentenzen La Rochefoucaulds darstellen. 10) Histoire de la Littérature Française au XVIIe Siècle, Bd. IV, Paris 1954, S. 81.

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der bisherigen Ausgaben genau nachverfolgen 11 ). Selbst wenn der Leser alle Textvarianten einer Maxime vor Augen hat, können doch die vergleichenden Tabellen, die allein über den Aufbau der verschiedenen Sammlungen unterrichten, keinen Eindruck, davon vermitteln, welche Funktion und welche Wirkung die zu interpretierende Maxime gerade an dieser oder jener Stelle in einer früheren Fassung ausgeübt hat. Diese Frage aber kann für die Deutung durchaus von Wichtigkeit sein, denn auch die einzelne Maxime wird in manchen Fällen durch die vorangehenden oder folgenden Reflexionen in ihrem Sinn abgewandelt: »Les mots diversement rangés font un divers sens, et les sens diversement rangés font différents effets«12). Die Kunst des Autors zeigt sich nicht nur in der Gestaltung jeder einzelnen Sentenz, sondern auch in der Komposition der Sammlung. Das hat schon Friedrich Nietzsche, der die »Kunst der Sentenzen-Schleiferei« bei La Rochefoucauld so sehr bewunderte, deutlich ausgesprochen. In seinen nachgelassenen Fragmenten heißt es: »Eine Sentenz ist im Nachtheil, wenn sie für sich steht; [...] Man muß verstehen, unbedeutendere Gedanken um bedeutende herumzustellen, sie damit einzufassen [...] Folgen Sentenzen hintereinander, so nimmt man unwillkürlich die eine als Folie der andern« 13 ). Erst im Redimen der Sammlung, in der ein Gedanke durch den anderen ergänzt oder verschiedene Reflexionen miteinander konfrontiert werden, kommen auch die Maximen La Rochefoucaulds voll zur Geltung. Zwar wäre es verfehlt, wollte man bei jeder seiner Sentenzen im einzelnen begründen, weshalb sie gerade an dieser oder jener Stelle des Werkes steht. In vielen Fällen aber läßt sich nachweisen, wie die Gedanken aufeinander bezogen sind, und zuweilen ergibt sich sogar aus der Zusammenschau mehrerer Sen11) Erst Ende des Jahres 1957, als die vorliegende Studie schon zum großen Teil abgeschlossen war, erschien die von Jean Marchand überarbeitete und erweiterte Neuauflage der Werke La Rodiefoucaulds in der Bibliothèque de la Pléiade. In dieser Neuauflage sind die »Édition hollandaise de 1664«, die »Version du Manuscrit Liancourt« und die »Édition définitive de 1678« vollständig enthalten. Da jedoch die erste von La Rochefoucauld selbst herausgegebene Fassung der Maximes nur in den Anmerkungen berücksichtigt wird und der Leser von den Editionen von 1666, 1671 und 1675 gar keinen Eindruck gewinnt, bedarf auch diese Neuauflage noch einer Ergänzung. 12) Pascal, Pensées, Fr. 23 (Œuvres XII, S. 34). Die Pensées werden nach der Edition von Léon Brunschvicg in der Sammlung »Les Grands Écrivains de la France« zitiert. Sie erschienen als Bd. XII—XIV der Œuvres de Biaise Pascal, Paris 1904. 13) Nietzsche's Werke, 2. Abt. Bd. XI, Leipzig (Kröner) 1919, S. 115.

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t e n z e n ein n e u e r Sinn 14 ). So verschieden der A u f b a u in den fünf v o n La Rochefoucauld z u s a m m e n g e s t e l l t e n A u s g a b e n d e r Maximes ist u n d so zufällig er auf den ersten Blick erscheinen mag, bei g e n a u e r e r Betrachtung w e r d e n doch g e w i s s e literarische Absichten e r k e n n b a r , die die Komposition aller dieser S a m m l u n g e n b e s t i m m e n . So w e r d e n z. B. in d e r A u s g a b e v o n 1665 die M a x i m e n durch eine l ä n g e r e Reflexion ü b e r den amour-propre, die gleich zu Beginn das H a u p t t h e m a des W e r k e s angibt, u n d durch e i n e e n t s p r e c h e n d e Betrachtung ü b e r den mépris de la mort, die am Ende der S a m m l u n g steht, w i e durch einen R a h m e n zusammengeschlossen. Auf diesen Rahmen, den SainteB e u v e so sehr bewunderte 1 5 ), h a t der A u t o r s p ä t e r verzichtet. Die Reflexion ü b e r den amour-propre w u r d e gestrichen, der Eindruck der Geschlossenheit des W e r k e s aber blieb erhalten, ja e s ist La Rochef o u c a u l d gelungen, n u r durch die geschickte W i e d e r a u f n a h m e u n d A b w a n d l u n g b e s t i m m t e r Themen, Bilder u n d Stilformen, d e r Sammlung e i n e einheitliche W i r k u n g zu v e r l e i h e n . Auch er h ä t t e mit Pascal s a g e n k ö n n e n : »J'écrirai ici m e s p e n s é e s s a n s ordre, et n o n p a s p e u t ê t r e d a n s u n e c o n f u s i o n s a n s dessein [ . . . ]« w ). A u s d e m G e s a g t e n g e h t h e r v o r , daß e i n e historisch-kritische Ausg a b e die fünf v o n La Rochefoucauld selbst h e r a u s g e g e b e n e n F a s s u n g e n der Maximes in i h r e r Ganzheit e n t h a l t e n m ü ß t e , d a m i t der Leser den richtigen Eindruck v o n dem A u f b a u der v e r s c h i e d e n e n S a m m l u n g e n g e w i n n t . W i r b e s c h r ä n k e n u n s bei der Betrachtung der Komposition des W e r k e s auf d i e b e i d e n wichtigsten Drucke, nämlich d i e e r s t e Edition v o n 1665 u n d d i e A u s g a b e letzter H a n d v o n 1678. Da es nicht sicher ist, ob die A n o r d n u n g d e r Reflexionen in d e r »édition hollandaise« a u s d e m J a h r e 1664 v o n La Rochefoucauld selbst stammt, soll dieser Druck n u r f ü r d e n Textvergleich h e r a n g e z o g e n w e r d e n . Unter 14) So sind z. B. die Maximen 101 und 102 oder die Maximen 42 und 44 einander zugeordnet, und bei den Sentenzen 98 und 103 ergibt sich die literarische Pointe erst, wenn man beide Gedanken zusammenfaßt und daraus die Folgerung zieht. (Vgl. Kapitel VI dieser Studie.) 15) In seinem La Rochefoucauld-Porträt aus dem Jahre 1840, das später in die Portraits des Femmes aufgenommen wurde, schreibt Sainte-Beuve: »Ce petit volume original, dans sa primitive ordonnance qui s'est plus tard rompue, offrant ses trois cent quinze pensées si brèves, encadrées entre les considérations générales sur l'amour-propre au début et les réflexions sur le mépris de la mort à la fin, me figure encore mieux que les éditions suivantes un tout harmonieux, où chaque détail espacé arrête le regard.« (Œuvres, hrsg. von Maxime Leroy, Bibliothèque de la Pléiade, Bd. II, Paris 1951, S. 1254.) 16) Pensées, Fr. 373 (Œuvres XIII, S. 284). 43

den Handschriften berücksichtigen wir in der Regel nur das »manuscrit original«, da bei den Kopien nie mit Sicherheit festzustellen ist, ob die Änderungen von dem Autor selbst vorgenommen worden sind oder eine Zutat des Schreibers darstellen. Für den Vergleich der genannten Texte, der einen guten Ansatzpunkt für die literarische Interpretation der Máximes bietet, kann als Vorarbeit die wenig beachtete Dissertation von Ernst Brix: Die Entwicklungsphasen der Maximen La Rocheioucaulds dienen17). In dieser Studie, die alle Umarbeitungen vom Manuscrit de Liancourt bis zur letzten authentischen Ausgabe von 1678 berücksichtigt, werden die jeweiligen Textveränderungen unter inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten sorgfältig zusammengestellt. Darüber hinaus versucht der Verfasser, die stilistischen Umarbeitungen zu motivieren und auf bestimmte, gleichbleibende Gestaltungsprinzipien zurückzuführen. Dieser Versuch, angewandt auf ein Werk wie die Máximes, konnte jedoch nicht ganz gelingen. Wohl betont Ernst Brix mit Recht, daß in den Änderungen La Rochefoucaulds immer wieder die Tendenz zur Kürze, Prägnanz und Eleganz des Ausdrucks wahrnehmbar sei, aber dieses Stilprinzip ist so allgemein und für einen Autor von Maximen und Reflexionen im Grunde so selbstverständlich, daß damit über die besonderen Absichten und Ausdrucksformen La Rochefoucaulds noch kaum etwas gesagt ist. Handelt es sich um persönlichere Intentionen, so sind die Ausnahmen zu der Regel meist ebenso zahlreich wie die Beispiele. Diese Uneinheitlichkeit der Tendenzen ist vor allem darauf zurückzuführen, daß La Rochefoucauld viele der Korrekturen nicht auf Grund künstlerischer Erwägungen, sondern im Hinbiidt auf die Kritik der Zeitgenossen durchgeführt hat. In manchen Fällen wird die Schärfe des Ausdrucks gemildert, aber damit auch die literarische Wirksamkeit der Sentenz geschwächt. Einige der kürzesten und prägnantesten Maximen — als Beispiel sei nur das berühmte Wort: »L'esprit est toujours la dupe du cceur« genannt — finden sich in ihrer endgültigen Form schon im Erstdruck von 1664 und im Manuscrit de Liancourt. Es wäre folglich falsch, wollte man sagen, La Rochefoucauld habe erst in den letzten Fassungen den nur ihm eigenen Maximenstil gefunden. Außerdem ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß die Réflexions diverses — jene neunzehn posthum veröffentlichten Betrachtungen La Rochefoucaulds über allgemein moralistische Themen wie De ¡a Société, De i'Air et des Manieres oder De la Conver17) Der Druck dieser Erlanger Dissertation erschien daselbst 1913. 44

aation —, die erst Gilbert vollständig zum Abdruck gebracht hat18), nicht vor den authentischen Sammlungen der Maximes geschrieben sind, wie man ursprünglich angenommen hat und wie es im Hinblick auf die Ähnlichkeit mit den längeren Reflexionen aus dem Erstdruck von 1664 naheliegend ist, sondern daß sie mindestens zum Teil aus den letzten Lebensjahren des Autors stammen, wie aus einigen historischen Anspielungen, die darin enthalten sind, klar hervorgeht"). Es ist also nicht so, daß La Rochefoucauld ausgehend von der Essay- und Traktatliteratur des späten 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit der Abfassung längerer Reflexionen begonnen und später nur noch kurze Maximen geschrieben hätte, sondern beide Formen der Aussage finden sich sowohl am Anfang als auch am Ende seines moralistischen Schaffens. So müssen, gerade weil die Entwicklung nicht gradlinig verlaufen ist, neben dem Vergleich der verschiedenen Editionen stets auch andere Wege zum literarischen Verständnis des Werkes gesucht werden. Weiter als der Rückgriff auf die frühen Fassungen führt in einzelnen Fällen der Vergleich mit einer Übersetzung. Man muß dabei von der Tatsache ausgehen, daß die besten Maximen La Rochefoucaulds streng genommen unübersetzbar sind, denn »fast nie kann man irgend eine charakteristische, prägnante, bedeutsame Periode aus einer Sprache in die andere so übertragen, daß sie genau und vollkommen die selbe Wirkung thäte«10). In der Übersetzung läßt sich die künstlerische Eigenart und der literarische Reiz einer Sentenz nicht adäquat wiedergeben, aber gerade deshalb kann die Gegenüberstellung mit dem schwächeren Abbild leichter faßbar machen, worauf die Wirkung im einzelnen beruht. — Welche Übersetzung aber soll zum Vergleich herangezogen werden? Das Werk, das schon zu seiner Zeit starken Widerhall gefunden hat, ist noch im 17. Jahrhundert ins Englische und ins Deutsche übertragen worden"). Diese Übersetzungen haben den Vorteil, daß ihnen etwas von dem historischen Kolorit der Zeit, in der das Werk La Rochefoucaulds entstanden ist, anhaftet. Andererseits 18) Œuvres I, S. 269—348. 19) Vgl. Gilberts Notice, ebda. S. 271—278, bes. S. 274 Anm. 4. 20) Arthur Schopenhauer, über Sprache und Worte, in Parerga und Paralipomena, Bd. II, Kap. XXV, § 299, Sämtliche Werke, hrsg. von Paul Deussen, Bd. V, München 1913, S. 627. 21) Vgl. Granges de Surgères, Essai d'une bibliographie raisonnée des Traductions en langues étrangères des >Réflexions ou Sentences et Maximes moralest du Duc de La Rochefoucauld, BdB, Paris 1882, S. 341—368.

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aber entspricht z. B. die deutsche Sprache des späten 17. Jahrhunderts, die noch ganz von barocken Zügen beherrscht ist, in keiner Weise dem klassischen Stil des französischen Moralisten, bei dem nur noch wenige Reste preziöser Ausdrucksformen zu finden sind. Wenn Talander (d. i. August Bohse) seiner 1699 in Leipzig erschienenen Übersetzung den Titel gab: Gemüths-Spiegel, durch die köstlichsten moralischen Betrachtungen, Lehrsprüche und Maximen die ErkäntniE seiner selbst und anderer Leute zeigend, so paßt schon die sprachliche Form dieses Titels schlecht zu der kurzen und prägnanten Ausdrucksweise La Rochefoucaulds. Deshalb sollen hier, wo es allein auf die Interpretation des französischen Textes ankommt, aus der großen Anzahl der deutschen Übertragungen 22 ) nur wenige neuere Editionen berücksichtigt werden, die wie die Ausgaben von Fritz Schalk23) und Kurt Jung 24 ) genaue Übersetzungen und nicht freie Nachdichtungen sein wollen. Hinzuzufügen ist, daß freie Bearbeitungen der Maximes auch in Frankreich schon kurz nach dem Erscheinen des Werkes entstanden sind. Besonders kurios ist der Einfall von Boucher, die Sentenzen La Rochefoucaulds in Verse zu bringen 25 ). Im Gegensatz zu der Bemerkung Schopenhauers: »Selbst triviale Einfälle erhalten durch Rhythmus und Reim einen Anstrich von Bedeutsamkeit« 26 ), ließe sich anhand der Versmaximen Bouchers nachweisen, daß auch bedeutsame Reflexionen durch Rhythmus und Reim zu Banalitäten werden können. Wenn es zu zeigen gilt, daß die Gedanken La Rochefoucaulds sich nicht von der Form der Aussage loslösen lassen, sondern in anderer Gestalt ihre Eigenart verlieren, so braucht man nur aus der Versübertragung Bouchers zu zitieren 17 ). 22) Vgl. Hans Fromm, Bibliographie deutscher Übersetzungen aus dem Französischen (1700—1948), Bd. IV, Baden-Baden 1951, S. 80 f., No. 14295— 14321. 23) La Rochefoucauld, Reflexionen und moralische Sentenzen, in Die französischen Moralisten, Sammlung Dieteridi Bd. 22, Leipzig 1938, S. 1—75. 24) La Rochefoucauld, Maximen. Grund-Sätze des Lebens, Rex-Kleinbüdierei Nr. 9, Luzern 1946. 25) Vgl. >Réflexions ou Sentences et Maximes morales< De M.L.D.D.L.R. Mises en vers par Mr. Boucher, Paris 1684. (Der Band enthält Max. 1—412 und Max. 504 der Edition von 1678 in Versform.) 26) Die Welt als Wille und Vorstellung, Buch III, Kap. 37; Schopenhauers sämtliche Werke, Bd. II, München 1911, S. 488. 27) Als Beispiel möge die Umformung der 113. Maxime dienen. Aus der prägnanten Formulierung: »II y a de bons mariages, mais il n'y en a point de délicieux« (Œuvres I, S. 78) macht Boucher die Verse:

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Ein anderer Ansatzpunkt für die Interpretation der Réflexions ou Sentences et Maximes morales ist der Vergleich mit Texten, die die gleichen Themen behandeln und dem Autor möglicherweise als Vorbild gedient haben. Dabei besteht nicht die Absicht (wie es in den Quellenstudien zu den Maximes meistens der Fall ist), La Rochefoucauld des Plagiats zu überführen 28 ), oder im Gegenteil seine Originalität durch den Nachweis zu sichern, daß sich nur für einen geringen Teil seiner Sentenzen direkte Vorbilder finden lassen 28 ). Vielmehr soll durch die vergleichende Interpretation gezeigt werden, welche Motive und welche Kunstmittel La Rochefoucauld von seinen Vorgängern übernommen hat, und worin die besonderen, nur seinem Werk eigenen Züge in der Behandlung eines in der Literatur häufig wiederkehrenden Themas bestehen. Dieser Zielsetzung entsprechend werden nicht nur die sicheren Quellen herangezogen, sondern auch andere Texte, in denen die gleichen Motive so gestaltet sind, daß durch die Gegenüberstellung das Verständnis der Maximen La Rochefoucaulds erleichtert wird. Beiläufig sei bemerkt, daß es in vielen Fällen kaum möglich ist zu entscheiden, ob es sich bei den sogenannten Quellen um direkte Vorbilder handelt oder nicht, denn über die literarische Bildung La Rochefoucaulds wissen wir nur wenig. Wohl ist man sich im allgemeinen darüber einig, daß der Herzog sehr viel gelesen hat, heißt es doch schon in seinem Selbstporträt: »J'aime la lecture en général; celle où il se trouve quelque chose qui peut façonner l'esprit et fortifier l'âme est celle que j'aime le plus«30); aber dieser Hinweis ist zu allgemein, als daß man von der Art und dem Umfang seiner Lektüre eine klare Vorstellung gewinnen könnte. Auch in den Briefen La Rochefoucaulds und in den Berichten der Zeitgenossen wird über die literarischen Neigungen des Herzogs kaum gesprochen. Aus den Segrai»II se voit de bons Mariages, Dont on tire des avantages: Mais quand on dioisiroit celuy qui vaut le mieux, L'on n'en trouveroit point qui fut délicieux.« (A.a.O. S. 27.) 28) Diese Tendenz ist in der Arbeit von E. Dreyfus-Brisac, La Clef des Maximes de La Rochefoucauld, Paris 1904, klar erkennbar. Nicht zufällig betrachtet Georges Maurevert das La Rochefoucauld-Kapitel seines Livre des Plagiats ('Paris o. J., S. 49—56) als eine Fortsetzung der Studien von DreyfusBrisac. 29) Vgl. H. A. Grubbs, The Originality of La Rochefoucaulds Maxims, RHL XXXVI (1929) S. 18—59. 30) Œuvres I, S. 8.

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siana, in denen man zahlreiche Einzelheiten über das literarische Leben jener Zeit findet, geht nur hervor, daß La Rochefoucauld nicht über eine humanistische Bildung verfügte 31 ). Die antiken Autoren waren ihm folglich nur zugänglich, soweit ihre Werke in französischen Übersetzungen vorlagen. Was die Literatur seiner Zeit anbelangt, wird in den Longueruana berichtet, daß La Rochefoucauld stets eine Vorliebe für die Lektüre von Romanen, insbesondere für die Astrée von Honoré d'Urfé, gehabt habe 32 ). Im übrigen ist man jedoch beim Studium der literarischen Vorbilder La Rochefoucaulds ganz auf den Nachweis wörtlicher Entlehnungen oder deutlicher Anspielungen angewiesen. Welche Werke aber kommen als Quellen für die Réflexions ou Sentences et Maximes morales in Betracht? Eine vergleichbare Sentenzensammlung gibt es in der französischen Literatur vor 1664/65 nicht. Wohl sind die Pensées Pascals, unter denen sich einzelne durchaus vergleichbare Maximen finden, einige Jahre früher geschrieben worden 33 ); aber diese Fragmente zu einer Apologie des Christentums wurden erst posthum 1669/70 von den Messieurs de Port-Royal veröffentlicht. Von einer Begegnung der beiden Autoren, die möglicherweise im Salon der Mme de Sablé, bei der nicht nur La Rochefoucauld, sondern auch Pascal verkehrte, stattgefunden haben könnte, ist nichts bekannt. Nach dem heutigen Stand der Forschung sind die Pensées und die Maximes ganz unabhängig voneinander entstanden. Die Verbindung wird, literarhistorisch gesehen, durch ein drittes Werk hergestellt, das selbst nicht aphoristischen Charakter trägt, aber eine Fülle von Sentenzen enthält 34 ) und sowohl Pascal als auch La Rochfou31) Vgl. Segraisiana ou Mélange d'Histoire et de Littérature. Recueilli des Entretiens de Monsieur de Segrais [ . . . ] , La Haye 1722, S. 15, w o es heißt: »Monsieur de La Rodiefoucault n'avoit pas étudié [ . . . ] « . 32) Vgl. Longueruana, ou Recueil de Pensées, de Discours et de Conversations, De feu M. Louis du Four de Longuerue, Berlin 1754,1. Partie, S. 105. 33) In der neuesten Forschung werden für die Entstehung des größten Teiles der Pensées die Jahre 1656—59 angesetzt. (Vgl. Louis Lafuma, Histoire des >Pensées< de Pascal [1656—1952], Paris 1954, S. 11—28: La Rédaction des >PenséesOráculo manuaH and the >Maximes< oí Mme de Sablé, HR IV (1936) S. 68—72. 55) Im Vorwort zu der französischen Ubersetzung des Cortegiano aus dem Jahre 1690 schreibt der Abbé Duhamel: »feu Monsieur le Duc de la Rochefoucauld, dont le génie élevé et la capacité étendue s'est attiré l'hommage des plus beaux esprits de son temps, rendait ce témoignage à ce livre, qu'il ne s'en trouvait point sur ces sortes de sujets qui fût comparable à celui-ci; aussi ce grand homme n'en parlait-il jamais que comme d'un chef-d'œuvre accompli« (zitiert nach: H. A. Grubbs, The Originality ol La Rochefoucauld's Maxims, a.a.O. S. 47). 53

vor allem für die Traktatliteratur in Spanien und Frankreich von großer Bedeutung gewesen. Die Entstehung des »honnête homme«Ideals läßt sich ohne das Vorbild des Cortegiano nicht denken. Die Maximen La Rochefoucaulds, die diesem Themenkreis angehören, gehen alle entweder direkt auf die italienische Quelle zurück oder auf Werke, die ihrerseits unter dem Einfluß Castigliones stehen. So stellt sich die Frage, ob das in Dialogform geschriebene Libro del Cortegiano über diese motivischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhänge hinaus auch in der Darstellung Gemeinsamkeiten mit den Maximes La Rochefoucaulds aufweist. In der 1955 erschienenen Studie über Castiglione von Erich Loos wird mit Recht betont, daß der italienische Autor sich »durch seine ausgesprochene und stets gegenwärtige Absicht, Lehrender zu sein«, von den französischen Moralisten grundsätzlich unterscheidet"). Wenn aber der Verfasser dennoch meint, daß es ohne weiteres möglich wäre, »aus dem Libro del Cortegiano eine Fülle von Maximen auszuwählen, die in einer Sammlung vereint neben den Werken der Moralisten bestehen könnten«"), so ist dagegen einzuwenden, daß das Buch Castigliones gar keine Maximen enthält und daß die einzelnen Sätze, die man aus dem Zusammenhang herauslösen und neben motivisch verwandte Reflexionen La Rochefoucaulds stellen könnte, die rhythmische Ausgewogenheit und die pointierte aphoristische Formulierung der Sentenzen des französischen Moralisten vermissen lassen. Erst Gracián, in dessen Oráculo Manual die didaktische Absicht noch genauso deutlich zutage tritt wie im Libro del Cortegiano, hat seine Lebensregeln in so konzentrierter und sentenziös zugespitzter Form vorgebracht, daß auch stilistisch ein Vergleich mit den Maximen La Rochefoucaulds sinnvoll erscheint. Die Einheit der moralistischen Literatur der Romania, die in der neueren Forschung immer wieder hervorgehoben wird 58 ), erklärt sich schon daraus, daß dieses ganze Schrifttum motivisch auf die gleichen antiken Quellen zurückgeht. Die Themen, um die das Denken der französischen Moralisten kreist, finden sich zum großen Teil schon in 56) Baldassare Castigliones >Libro del Cortegiancx, Studien zur Tugendauffassung des Cinquecento, Analecta Romanica, Heft 2, Frankfurt a. M. 1955, S. 208. 57) Ebda. 58) Vgl. Fritz Schalk, Moralisti italiani del Rinascimento, Kaiser WilhelmInstitut für Kunst und Kulturwissenschaft, Veröffentlichungen der Abteilung für Kulturwissenschaft, Reihe I, Heft 23, Wien 1940, S. 5 f., und Hugo Friedrich, Montaigne, Bern 1949, S. 222 f. 54

der griechischen und römischen Literatur. Besonders die Vertreter der jüngeren Stoa — Seneca, Marc Aurel und Epiktet — haben sowohl in Italien und Spanien als auch in Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert eine starke Wirkung ausgeübt. Für La Rochefoucauld ist die Auseinandersetzung mit dem Werk Senecas, das schon Montaigne und Gracián als literarische Quelle gedient hatte, am wichtigsten gewesen. In den frühen Ausgaben seiner Máximes findet sich als Titelbild eine Büste Senecas, der ein Knabe, als »l'amour de la vérité« gekennzeichnet, die Maske vom Gesicht gerissen hat. Auf dem Sockel der Büste steht geschrieben: »Quid vetat«? Was mit diesem Bilde gemeint ist, wird am deutlichsten, wenn man die berühmte Reflexion über die »fausseté du mépris de la mort«, die den Abschluß der Máximes bildet, mit den Gedanken über die Todesfurcht vergleicht, die Seneca in seinen Epistulae morales entwickelt hat. Diese Briefe an Lucilius, die La Rochefoucauld wahrscheinlich durch die Übersetzung von Malherbe kennenlernte, postulieren einen Tugendbegriff, der dem Autor der Máximes als unwahr erscheinen mußte, und fordern eine stoische Haltung gegenüber Leben und Tod, die er nur als falschen Schein oder schöne Maske empfinden konnte 5 '). Schon vor der Veröffentlichung der Máximes wurde La Rochefoucauld von einem anonymen Zeitgenossen, der das Werk im Manuskript gelesen hatte, als »un antiSénéque, qui abat l'orgueil du faux sage« bezeichnet 60 ). Da aber jede Antithese im letzten an die These gebunden bleibt, muß auch La Rochefoucaulds Rückführung der Tugenden auf verborgene Laster auf dem Hintergründe der stoischen Tugendlehre gesehen werden. Ein Vergleich zwischen den Epistulae morales und den Réflexionsou Sentences et Máximes morales zeigt, daß La Rochefoucauld einzelne Motive direkt von Seneca übernommen und seinen Stil an dem »Sentenzenund Pointenstil« des antiken Autors geschult hat. Die Sätze, mit denen Seneca im 59. Brief den Stil des Lucilius umschrieben hat, »pressa sunt omnia et rei aptata, Ioqueris quantum uis et plus significas quam loqueris«®1), lassen sich sowohl auf seine eigenen Sentenzen anwenden als auch auf die Maximen La Rochefoucaulds. Bei beiden Autoren 59) Man vergleiche in diesem Zusammenhang auch die Max. 589: »Les philosophes, et Sénèque sur tous, n'ont point ôté les crimes par leurs préceptes: ils n'ont fait que les employer au bâtiment de l'orgueil.« (Œuvres I, S. 253). 60) Lettre adressée à Madame la Duchesse de Schömberg, in Œuvres de La Rochefoucauld, Bd. I, S. 382. 61) Ad Lucilium 59/5.

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besteht die Gestaltungskunst vor allem darin, die Gedanken in eine immer engere Form zu fassen und mehr anzudeuten, als mit Worten ausgesprochen wird. Wenn Eduard Norden in bezug auf den Stil Senecas sagt: »An Umfang winzig haben diese Sentenzen regelmäßig einen weiten Inhalt, der durch diesen Kontrast um so mehr zum Bewußtsein kommt«62), so gilt das in gleicher Weise für die Réflexions ou Sentences La Rochefoucaulds. Auch für die stilistische Interpretation dieses Werkes bleibt die Kenntnis der Epistulae morales eine notwendige Voraussetzung. Damit sind die wichtigsten Quellen für die französische Maximenliteratur genannt. Zwar könnte man noch an das Werk von Francis Bacon denken, dessen Bedeutung für die Entstehung des französischen Aphorismus Fritz Schalk so hoch einschätzt, aber auch bei den vielgelesenen Essays aus den Jahren 1597—1625, die bereits den konzisen, antithetischen Sentenzenstil aufweisen, ist es bisher nicht gelungen, einen direkten Einfluß auf das Werk La Rochefoucaulds nachzuweisen. Obgleich schon im Jahre 1619 zwei französische Übersetzungen dieser Essays von Francis Bacon erschienen sind6®), und die neue Übersetzung von 1626 in den nächsten beiden Jahrzehnten neun Male gedruckt worden ist64), findet sich nirgends ein Hinweis darauf, daß der Autor der Maximes dieses Buch gekannt hat. Sucht man nach weiteren Ansatzpunkten für die Deutung des La Rochefoucauldschen Werkes, so liegt es nahe, an den Vergleich mit den zahlreichen Nachahmungen zu denken. Die literarisch unbedeutenderen unter diesen Sammlungen, wie z. B. die anonym erschienenen Maximes, Sentences et Réflexions morales et politiques aus dem Jahre 1687, die lange dem Chevalier de Méré zugeschrieben wurden, zeigen, daß man wohl Bilder und Motive übernehmen oder die äußeren Formen und Stileigenheiten nachbilden kann, daß damit aber das eigentlich Dichterische gar nicht erfaßt worden ist. Eigenständige Werke dagegen, die nur noch im weitesten Sinne des Wortes als Nachahmungen zu bezeichnen sind, insofern nämlich als keine der Sentenzensammlungen des 17. oder 18. Jahrhunderts ohne das Vorbild La Roche62) Die antike Kunstprosa, Bd. I, Leipzig/Berlin î 1909, S. 310. 63) Les Essais moraux, tr. p. le sieur Arthur Gorges, Londres 1619; l e s Essais politiques et moraux, tr. J. Baudoin, 1619; 1621, 1622. 64) Les Œuvres morales et politiques, tr. J. Baudoin, 1626; 1633; 1636; 1637 (4 éd.) und 1639 (2 éd.). — Vgl. den von Robert Barroux verfaßten Artikel über Francis Bacon in dem Dictionnaire des Lettres Françaises, hrsg. unter Leitung von Cardinal Georges Grente, Le dix-septième Siècle, Paris 1954, S. 118.

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foucaulds denkbar wäre, Werke wie die Maximen von Vauvenargues oder Chamfort machen deutlich, wie vielfältige Möglichkeiten trotz der Beschränkung in der Wahl der Themen und der stilistischen Mittel diese Kunstform bietet, und wie es gelingen kann, auch das Gegenteil von dem, was La Rochefoucauld so überzeugend zum Ausdruck bringt, so vorzutragen, daß eine andere Seite der Wahrheit sichtbar wird. Sowohl der Vergleich mit Vorbildern, Nachahmungen und Übersetzungen als auch die Gegenüberstellung mit früheren Fassungen des Werkes sind aber nur Methoden, Wege und Umwege, die von verschiedenen Seiten an das Kunstwerk selbst heranführen sollen. Vergleiche sind bei der Interpretation von Dichtung stets nur Vorstufen, um das Unvergleichliche, auf das es zuletzt ankommt, sichtbar zu machen. Wenn die gleichen Motive schon in den literarischen Quellen zu finden sind und dieselben äußeren Formen auch in den schwachen Nachahmungen wiederkehren, so muß man daraus schließen, daß die Erfindung dieser Motive oder die Kenntnis dieser Formen nicht das Entscheidende ist. »Es ist nicht die Gabe der Erfindung, (sagt Thomas Mann) — die der Beseelung ist es, welche den Dichter macht«"). Die Gabe der Erfindung, die »fécondité de l'imagination«, hat schon der Kardinal de Retz La Rochefoucauld abgesprochen M ), daß aber der Autor der Maximes ein Dichter gewesen ist, der es verstand, ein altes oder banales Thema zu beseelen, d. h. durch »subjektive Vertiefung« zu neuem Leben zu erwecken, das werden auch seine Feinde nicht bestreiten können. Wie es dem Autor gelungen ist, die stark generalisierenden Themen der Moralistik so umzugestalten, daß sich wie bei jeder vollkommenen Dichtung das Allgemein-Menschliche und das Individuell-Persönliche die Waage halten, das soll durch die Interpretation einzelner Maximen in den nächsten Kapiteln gezeigt werden.

65) Bilse und ich, in Altes und Neues, Stockholmer Gesamtausgabe der Werke von Thomas Mann, Frankfurt a. M. 1953, S. 23. 66) Vgl. das Porträt des Herzogs von La Rochefoucauld, das der Kardinal de Retz in seine Mémoires eingefügt hat (Œuvres du Cardinal de Retz, hrsg. v. A. Feillet, Les Grands Écrivains de la France, Bd. II, Paris 1872, S. 180ff.).

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DIE KUNSTLERISCHE GESTALTUNG DER M A X I M E N LA ROCHEFOUCAULDS

IV

»L'espérance, toute trompeuse qu'elle e s t . . . » In den Réflexions ou Sentences et Maximes morales hat La Rochefoucauld selbst einen Hinweis auf das Gestaltungsprinzip seines moralistischen Werkes gegeben. Es heißt dort: »[...] c'est le caractère des grands esprits de faire entendre en peu de paroles beaucoup de choses [...]«'). Es ist die Eigenart bedeutender Menschen, insbesondere der großen Schriftsteller, mit wenigen Worten viel auszusagen, d. h. über den auch in anderen Worten faßbaren Inhalt des Gesagten hinaus etwas zu verstehen zu geben, was begrifflich allein nicht ausgesprochen werden kann, sondern an die einmalige literarische Form gebunden bleibt. In diesem »Etwas«, das über die rational eindeutig analysierbare Aussage hinausgeht, liegt das Persönliche und Unverwechselbare, in der Gabe des »faire entendre« besteht das künstlerische Vermögen des Autors. Gerade die literarische Sentenz oder Maxime, die als »der letzte Ring einer langen Gedankenkette« bezeichnet werden kann2), fordert in ihrer aphoristischen Kürze und Konzision vom Leser den Nachvollzug des ganzen Gedankenganges, ein »Zwischen-den-Zeilen-Lesen« und eine besondere Hellhörigkeit für die verborgenen irrationalen Elemente, die in diese so stark vom »esprit« bestimmte Kunstform eindringen. Die Reflexionen La Rochefoucaulds sind ihrem Wesen nach auf die Gesellschaft bezogen und auf die literarische Pointe ausgerichtet, dennoch entfalten sie ihre volle Wirksamkeit nur in den Fällen, wo es dem Autor gelingt, nicht nur die rationalen Kräfte, sondern auch das Gefühl des Lesers anzusprechen, die Empfindung der leisen Melancholie, die sein ganzes Werk durchzieht, in ihm anklingen zu lassen und auch etwas von der Resignation, die dahintersteht, auf den Leser zu übertragen. Wenn La Rochefoucauld in seinem Selbstporträt schreibt: »J'ai donc de l'esprit, [... ] mais 1) Max. 142 (Œuvres I, S. 89). 2) Marie von Ebner-Esdienbach setzte als Motto über ihre Aphorismen das Wort: »Ein Aphorismus ist der letzte Ring einer langen Gedankenkette«. 61

un esprit que la mélancolie gâte« 3 ), so scheint er damit die Grundstimmung seines Wesens zu verurteilen, weil sie die Entfaltung des »esprit«, auf die das gesellige Leben der Salons ausgerichtet ist, hemmen könnte. Das literarische Werk des Herzogs aber gewinnt seinen besonderen Reiz gerade aus der Spannung zwischen der geistvollen Desillusion des Menschen, die der Autor anscheinend ohne innere Anteilnahme vollzieht, und der Melancholie oder Resignation, die als Unterton mitklingt und nur in einzelnen Sentenzen deutlich spürbar wird. Als Beispiel für das Gesagte möge die viel zitierte Reflexion über die trügerische Hoffnung dienen. In der Ausgabe letzter Hand von 1678 ist es die Maxime 168: L'espérance, toute trompeuse qu'elle est, sert au moins à nous mener à la fin de la vie par un chemin agréable4).

Dieser kunstvollen Sentenz liegen zwei Gedanken zugrunde, die, sobald man sie von der literarischen Gestaltung löst, durch die sie über sich selbst hinausweisen, in keiner Weise originell sind. Sie ließen sich etwa folgendermaßen umschreiben: Obgleich die Hoffnung gewöhnlich trügerisch ist, hofft der Mensch dennoch bis zum Tode. Diese Hoffnung erleichtert ihm den Lebensweg und führt ihn auf angenehme Weise bis ans Ende. Der erste dieser beiden Gedanken wird z. B. von dem Oratorianer J.-F. Senault in seinem bereits genannten Werk De l'Usage des Passions aus dem Jahre 1641 in aller Breite ausgeführt. Es heißt dort in dem Traktat De ¡'Esperance et du Desepoir über die Hoffnung: Quoy qu'elle soit trompeuse elle veut paroistre fidelle & dans sa legereté mesme, elle donne des preuues de sa constance: car elle accompagne ses esclaues iusqu'à la mort, elle suit les Forçats dans les galeres, elle entre dans les prisons auec les Captifs, elle monte sur l'échafaut auec les criminels, & de quelque mauuais succez qu'elle ait payé nos désirs, il n'y a point d'homme qui se puisse résoudre à la quiter5).

Den zweiten Gedanken faßt Antonio Pérez in die Worte: La Esperança es viatico de la vida humana6). 3) Œuvres

I, S. 7.

4) Œuvres I, S. 98 f. 5) A.a.O. S. 296 f. 6) Dieses Wort zitiert Amelot de la Houssaye in seinem Kommentar zu den Réflexions, Sentences et Maximes morales, Paris 1714, S. 108.

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Die Maxime La Rochefoucaulds ist zunächst nur eine geschickte Verbindung dieser beiden Gedanken. Die Erfahrung, daß die Hoffnung trügerisch ist, die bereits der Beobachtung, daß der Mensch dennoch bis zum Tode an ihr festhält, einen besonderen Nachdruck verliehen hatte, gibt nun auch der Einsicht, daß die Hoffnung Stärkung und Wegzehrung des Lebens sei, eine neue Bedeutung. Diese Gedankenverbindung allein aber hätte die Maxime nicht so berühmt gemacht, daß noch der Makler Gösch sie in den Buddenbrooks zitiert und darin Trost und Genugtuung findet7). Jeder künstlerisch empfindende Leser wird bemerken, daß hier indirekt weit mehr gesagt wird als bei Senault und Antonio Pérez. Dieses »Mehr« geht hervor aus der sprachlichen Gestaltung, es liegt in der grammatikalischen, syntaktischen und rhythmischen Fügung des Satzes. Grammatikalisch überrascht zunächst der Indikativ im eingeschobenen Konzessivsatz: »L'espérance, toute trompeuse qu'elle e s t , . . . « Dem Wesen der Hoffnung entsprechend, die erfahrungsgemäß trügerisch sein kann, aber nicht zu sein braucht, würde man einen Konjunktiv erwarten, wie ihn Senault zum Ausdruck des gleichen Gedankens verwandt hat: »Quoy qu'elle soit trompeuse ...« Nach dem heutigen Sprachgebrauch könnte sogar die übrige Satzkonstruktion unverändert beibehalten werden: »L'espérance, toute trompeuse qu'elle soit, sert au moins ...« In der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts aber galt die Regel, daß nach einem mit »tout« eingeleiteten Konzessivsatz der Indikativ stehen müsse, wie in den Remarques nouvelles sur la Langue Françoise von dem Père Bouhours nachzulesen ist8). La Rochefoucauld hat sich auch in anderen Fällen streng an diese Regel gehalten. Die Maxime 501 z. B. lautet: »L'amour, tout agréable qu'il est, plaît encore plus par les manières dont il se montre que par luimême«'). Damit ist aber nur die grammatikalische, nicht die stilistische Frage geklärt. Der Konzessivsatz sollte eingeschoben werden, um dem vorangestellten Subjekt »l'espérance« die rechte Betonung zu 7) Das Zitat, auf dessen Bedeutung innerhalb des Thomas Mannschen Romans uns Herr Professor Petriconi hingewiesen hat, steht im vierten Kapitel des neunten Teiles. Nicht zufällig ist es gerade der Makler Sigismund Gösch, der ohne Aussicht auf Erfüllung Gerda Buddenbrook liebt und diese Liebe gleichwohl wert hält, dem in diesem Zusammenhang die Worte La Rochefoucaulds einfallen. 8) Vgl. das Kap. Tout sage qu'il est, quelque sage qu'il soit in der einbändigen Ausgabe, die 1693 in Amsterdam erschien, S. 288 ff. 9) CEuvres I, S. 210.

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geben. Der Autor hätte ihn aber statt mit »tout« auch mit »quelque« einleiten und den Konjunktiv setzen können, wie er es in anderen Fällen getan hat, man denke nur an die Maxime 426: »La grâce de la nouveauté et la longue habitude, quelques opposées qu'elles soient, nous empêchent également de sentir les défauts de nos amis« 10 ). Mit der sachlich korrekteren Formulierung: »L'espérance, quelque trompeuse qu'elle s o i t . . . « aber wäre es La Rochefoucauld nicht möglich gewesen, dem Leser das Gefühl der Resignation zu suggerieren, das aus der Erkenntnis entspringt, daß jede Erfüllung der Hoffnung nur eine Illusion ist und daß dennoch oder gerade deshalb die Hoffnung als solche bejaht werden muß. Daß es dem Autor zuletzt auf den künstlerischen Ausdruck dieser Einsicht ankam, läßt sich durch einen Vergleich mit der ersten Fassung verdeutlichen. Im Manuscrit de Liancourt lautet die Maxime: L'esperance toute uaine et toute trompeuse qu'elle est d'ordinaire, sert au moins a nous mener a la fin de la uie par vn beau chemin11).

Diese vorsichtigere und sachlich richtigere Formulierung ist literarisch zweifellos weniger wirkungsvoll. In der endgültigen Fassung, die sich zuerst in der Ausgabe von 1665 findet 12 ), wird durch die Kürzung der Gedanke verschärft und der melancholische Unterton deutlicher zum Ausdrude gebracht. Die Änderung des Adjektivs »beau« in »agréable« trägt dazu bei, eine schwermütige Stimmung beim Leser anklingen zu lassen, denn solange der Mensch noch etwas vom Leben erwartet, wird er nach einem »schönen Wege« suchen, ist er aber müde und enttäuscht, so verlangt er nur noch nach einem »chemin agréable«, d. h. nach einem angenehmen und bequemen Weg 13 ). Durch die Umstellung am Schluß hat auch die rhythmische Gestaltung der Sentenz gewonnen. Das viersilbige »agréable«, das jetzt am Ende steht, entspricht rhythmisch und klanglich dem »l'espérance« am Anfang und schließt die Maxime harmonisch ab. Inwieweit der literarische Wert der Sentenz von der rhythmischen Gliederung und dem Klang der einzelnen Worte abhängt, zeigt der 10) Œuvres I, S. 190 f. 11) Manuscrit de Liancourt, S. 74. 12) Max. 175, Neudruck 1869, S. 77. 13) Sowohl in der frühen deutschen Ubersetzung von Talander (Leipzig 1699, S. 122) als auch in der modernen Übertragung von Fritz Schalk (a.a.O. S. 22) wird das Wort »agréable« mit »anmutig« wiedergegeben und damit der Sinn der ganzen Maxime verändert.

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Vergleich mit einer Übersetzung, in der die durch die musikalischen Elemente der Sprache hervorgebrachte Wirkung nie adäquat wiedergegeben werden kann. Schon in dem Wort espérance klingt im Unterschied zu dem synonym gebrauchten espoir etwas mit von dem Gefühl einer Sehnsucht ohne festes Ziel, während das deutsche Wort »Hoffnung« keine entsprechenden Assoziationen weckt. Wenn Kurt Jung übersetzt: »Die Hoffnung, so trügerisch sie auch sei, dient wenigstens dazu, uns auf einem angenehmen W e g ans Grab zu führen«14), so ist von der künstlerischen Eigenart der Maxime La Rochefoucaulds kaum noch etwas zu spüren. Besonders störend ist der Ausdruck »ans Grab« für »à la fin de la vie«. Das Motiv des Todes, das bei Senault deutlich ausgesprochen wurde und das Antonio Pérez durch das Wort »viätico« (Wegzehrung) andeutete, wird bei La Rochefoucauld nur noch indirekt zum Ausdrude gebracht. Gerade in dieser Verhaltenheit des Ausdrucks, die ein durchgehender Stilzug der Maximes ist, liegt die Möglichkeit des »faire entendre beaucoup de choses«. Für diese indirekte Form der Aussage bietet die genannte Maxime noch ein weiteres Beispiel. Während Senault von der Hoffnung sagt: »eile accompagne ses esclaues iusqu'à la mort«, formuliert La Rochefoucauld: »L'espérance sert au moins à nous mener à la fin de la vie«, sie dient dazu, uns ans Ende des Lebens zu führen. Mit dem Wort »mener«, das zu dem vorausgehenden »sert au moins« in wirkungsvollem Gegensatz steht, deutet der Autor an, was Senault mit dem Bild der Sklaven überdeutlich ausspricht, daß nämlich der Mensch der Hoffnung gegenüber keine Freiheit besitzt. Dieser Gedanke wird erst ganz verständlich, wenn man bedenkt, daß für La Rochefoucauld wie für das ganze siebzehnte Jahrhundert die espérance zu den »passions« zählt15). Die Affekte aber sind stärker als der menschliche Wille. »La durée de nos passions ne dépend pas plus de nous que la durée de notre vie«, heißt es in den Maximes16). Die Leidenschaften beherrschen den Menschen und führen ihn bis zum Tode. Diese Einsicht, die 14) A.a.O. S. 30. 15) Vgl. Descartes, Les Passions de l'Ame (1649), Troisiesme Partie, Article C L X V : De l'Esperance & de la Crainte, Œuvres de Descartes hrsg. von Charles Adam & Paul Tannery, Bd. XI, Paris 1909, S. 456. Cureau de la Chambre, Les Characteres des Passions, Amsterdam 1658, Bd. I, Kap. V I : Les Characteres de l'Esperance, S. 201—236. Nach Cureau de la Chambre ist die Hoffnung »un mouvement de l'appétit, par lequel l'ame en attendant le bien qu'elle desire, s'affermit & se roidit en elle-mesme pour resister aux difficultez qui s'y rencontrent« (S. 213). 16) Max. 5 (Œuvres I, S. 32).

5 Kruse, Maxime

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in den Réflexions ou Sentences immer wieder ausgesprochen wird, steht also auch hinter der interpretierten Maxime. Außer durch den Kunstgriff der indirekten Methode unterscheidet sich die Reflexion La Rochefoucaulds auch dadurch von der Darstellung Senaults, daß der Autor in der ersten Person des Plurals spricht, also nicht nur über den Menschen im allgemeinen urteilt, sondern sich selbst mit einbezieht. Diese Form der Aussage, durch die die Maximen den Charakter der persönlichen Erfahrung gewinnén, ist für La Rochefoucauld sehr bezeichnend; gerade bei den menschlichen Fehlern und Schwächen spricht er vorzugsweise von » w i r « und »uns«, von »notre amour-propre« oder »le mal que nous faisons«17). Diese Darstellungsart, die sich in der moralistischen Literatur jener Zeit sonst selten findet, trägt zu der besonderen Wirkung des Werkes wesentlich bei, denn durch diese Form der Aussage fühlt sich auch der Leser persönlich getroffen, das Gesagte gilt auch für ihn und sein Verhalten. Damit hat La Rochefoucauld das letzte Ziel der literarischen Gestaltung erreicht. Jedes Wort der interpretierten Maxime hat seine besondere Bedeutung, keines könnte gestrichen oder durch ein anderes ersetzt werden, ohne daß die künstlerische Eigenart des Ganzen zerstört würde. Besser ließ sich der Gedanke in keinem Falle ausdrücken18), und so hat der Autor das gleiche Motiv auch nicht noch einmal behandelt. Es findet sich nur in den Maximes posthumes eine Sentenz über die Zusammengehörigkeit von Hoffnung und Furcht, die zumindest in bezug auf die literarische Quelle mit der interpretierten Maxime in Zusammenhang steht. Der Text aus dem Manuscrit de Liancouit lautet: L'esperance et la crainte sont inséparables et il ny a point de crainte sans esperance ny d'esperance sans crainte18).

Diese Sentenz gibt den gleichen Gedanken wieder, der schon in L'Usage des Passions ausführlich dargelegt wird. Senault schreibt: 17) Vgl. Max. 13 (Œuvres I, S. 35) und Max. 29 (Œuvres I, S. 42). 18) Das zeigen alle späteren Versuche, dem Gedanken eine neue Form zu verleihen. Hier sei nur ein Beispiel angeführt aus den 1687 anonym erschienenen Maximes, Sentences et Réilexions morales et politiques, die dem Chevalier de Méré zugeschrieben wurden. Die Maxime 415 dieser Sammlung lautet: »Tout le monde se fie à l'espérance, & tout le monde en est trompé; je ne m'étonne pas si elle meurt avec nous, nous ne sçaurions vivre sans elle« (S. 183). 19) A.a.O. S. 85.

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L'Esperance [ . . . ] flatte les hommes par sa douceur, elle les estonne par sa crainte qui l'accompagne: [ . . . ] Car quoy que ces deux Passions semblent auoir de la contrariété [ . . . ] elles naissent l'vne de l'autre, & nonobstant leur mauuaise intelligence elles [ . . . ] marchent de compagnie, comme les criminels auec leurs gardes, qui sont attachez d'vne mesme chaisne [ . . . ]20). Die motivische Übereinstimmung ist hier noch deutlicher als bei der Maxime über die trügerische Hoffnung und läßt, zumal es sich um eine zweite Parallele handelt, darauf schließen, daß La Rochefoucauld den Traktat Senaults als Quelle benutzt hat. Sicher aber ist dieser Nachweis nicht, denn Senault gibt in den zitierten Zeilen einen Gedankengang wieder, den schon Seneca im fünften Brief an Lucilius entwickelt hat"). Die entscheidenden Sätze lauten in der französischen Übersetzung: Soyez exempt de souhait, et vous le serez de crainte. Ne doutez point que deux choses si contraires ne puissent bien subsister entre elles. [ . . . ] quoiqu'elles ne semblent pas être d'accord, elles le sont néanmoins et s'attachent l'une à l'autre; car comme le prisonnier et le soldat qui lui sert de garde, sont liés à une même chaîne, ainsi ces deux choses, quoique différentes, marchent ensemble, et la peur suit l'espérance22). Da Senault selbst auf diese Stelle hingewiesen hat und auch La Rochefoucauld die Briefe Senecas gut bekannt waren, ist es durchaus möglich, daß beide Autoren nur auf das gleiche antike Vorbild zurückgehen. So läßt sich in dieser Quellenfrage — die noch dadurch erschwert wird, daß ein ähnlicher Gedanke sich schon in der Rhetorik des Aristoteles findet23) und daß auch Autoren wie Descartes und Hobbes das gleiche Thema wieder aufgenommen haben 24 ) — keine 20) A.a.O. S. 297 f. 21) Es heißt dort: » [ . . . ] >desines< inquit >timere, si sperare desieris.< dices: >quomodo ista tarn diversa pariter eunt?< ita est, mi Luciii: cum videantur dissidere, coniuncta sunt, quemadmodum eadem catena et custodiam et militem copulat, sie ista, quae tam dissimilia sunt, pariter incedunt: spem metus sequitur« (Ad Lucilium 5/7). Obgleich Senault das lateinische Original benutzt hat, zitieren wir im Text die französische Ubersetzung von Malherbe, um die Übereinstimmungen deutlicher hervortreten zu lassen. 22) Œuvres de Malherbe, hrsg. von L. Laianne, Les Grands Écrivains de la France, Bd. II, Paris 1862, S. 277. 23) Vgl. Aristoteles, Rhetorik B 5, 1383a 5—8: »àXXàôelnvàèxnùôa-ôjielvat oonrioiaç, .isoi oû äymvi&oiv. orjfxeiov ôé" ô yàg q)6ßog ßovXevxLxovg noiet, y.aixoi oiôelç ßovkevexai negl zcäv ävsXnlanav.« 24) Vgl. Descartes, Les Passions de l'Ame, Art. CLXVI, De la Sécurité & du Desespoir, wo es in bezug auf die Hoffnung und die Furcht heißt: »Et

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Entscheidung treffen. Für die Interpretation der Maxime La Rochefoucaulds wäre damit auch nur wenig gewonnen. Für die literarische Deutung kommt es vielmehr darauf an zu erklären, warum der Autor diese Sentenz nicht in seine Sammlung aufgenommen hat. Der Grund für die Streichung ist aber nicht darin zu suchen, daß La Rochefoucauld sich von einem bestimmten Vorbild abhängig fühlte oder daß das gleiche Motiv schon so häufig behandelt worden war, sondern vielmehr darin, daß die Fassung, die der Autor diesem Gedanken gegeben hatte, seinen künstlerischen Ansprüchen nicht mehr genügte. Die literarischen Möglichkeiten der Maxime sind hier nicht voll ausgenutzt worden. Im ersten Teil der Reflexion, der sich auch in einem Brief an Mme de Sablé findet23), wird der zum Widerspruch herausfordernde Gedanke von der Zusammengehörigkeit von Hoffnung und Furcht als These ausgesprochen: »L'espérance et la crainte sont inséparables«. Der zweite Teil bringt nicht —• wie in anderen Maximen La Rochefoucaulds — einen überraschenden Vergleich, durch den dieser paradoxe Tatbestand dem Leser plötzlich einleuchtend würde, oder eine andere Schlußpointe, sondern der Autor wiederholt und erläutert den gleichen Gedanken mit anderen Worten: »il n'y a point de crainte sans espérance, ni d'espérance sans crainte«. Dieser Aufbau der Sentenz entspricht nicht der gewählten Kunstform. Die Maxime verlangt eine bewußte Steigerung: der eigentliche Gedanke darf erst am Schluß offenbar werden oder muß vom Ende her eine neue Bedeutung erhalten, wie es in der Reflexion über die trügerische Hoffnung der Fall ist. jamais l'une de ces Passions n'accompagne le Désir, qu'elle ne laisse quelque place à l'autre: Car lors que l'Esperance est si forte, qu'elle chasse entièrement la Crainte, elle change de nature & se nomme Sécurité ou Assurance. [ . . . ] Tout de mesme, lors que la Crainte est si extreme, qu'elle oste tout lieu à l'Esperance, elle se convertit en Desespoir [ . . . ] « (a.a.O. S. 457). Vgl. Thomas Hobbes, De Corpore IV/25, wo u. a. gesagt wird: »Rursus, appetitus et fuga dum celeriter sibi mutuo succedunt, nomen habet tota ex iis facta sériés modo ab una, modo ab altera. Nam ab appetitu spes, a fuga metus dicitur, eadem nutans modum ad alteram, modo ad alteram partem, deliberatio. Nam sine spe metus non dicendus est, sed odium-, nec sine metu spes sed cupido. Omnes denique animi quae dicuntur passiones, appetitu et fuga constant« (Opera philosophica quae latine scripsit omnia, hrsg. von W . Molesworth, Bd. I, London 1839, S. 333 f.). — Vgl. außerdem die Schrift De Homine XII/3, Spes et metus, ebda. Bd. II, S. 104 f. — W i r verdanken den Hinweis auf die Parallelen im W e r k von Aristoteles und Hobbes Herrn Professor Günter Ralfs. 25) Vgl. Brief vom 10. XII. [1663], Œuvres

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III/l, S. 159.

Vergleicht man die interpretierten Maximen mit den Darstellungen des Motivs der Hoffnung bei anderen Moralisten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, so überrascht, daß auch bei Autoren mit ausgesprochen christlichen Anschauungen die Hoffnung nie uneingeschränkt bejaht wird, obgleich es sich nach der paulinischen Tradition um eine Tugend handelt, die als Teil der Trias: Glaube, Hoffnung, Liebe den höchsten Rang innehat 26 ). Von dieser religiösen Bedeutung wird in der moralistischen Literatur in den meisten Fällen ganz abgesehen. Da der Hoffende stets auf das Zukünftige ausgerichtet und auf das bedacht ist, was er noch nicht besitzt, gilt die Hoffnung — der stoischen Lehre entsprechend — in der Regel als eitel oder gar als dem Glück hinderlich. So schreibt Quevedo in den Sentencias: La esperanza es sueño de vivos, porque les suele salir tan vana como el sueño de tesoros a los dormidos 27 ).

Chamfort geht sogar noch einen Schritt weiter. In seinen Maximes Pensées heißt es:

et

L'Espérance n'est qu'un Charlatan qui nous trompe sans cesse; & pour moi, le bonheur n'a commencé que lorsque je l'ai perdue. Je mettrais volontiers sur la porte du Paradis le vers que le Dante a mis sur celle de l'Enfer:

Lasciate ogni Speranza, voi di'entrate28). In dieser Reflexion, die sich durch ihre geistreich-paradoxe Ausdrucksform auszeichnet, erscheint die stoische Lehre, daß das Glück darin besteht, nicht mehr zu wünschen oder zu hoffen, in neuer Gestalt. Chamfort scheint diese Sentenz in bewußter Antithese zu La Rochefoucauld, dem »Anti-Seneca«, formuliert zu haben. Wichtiger aber als der Unterschied der philosophischen Anschauungen, die in beiden Reflexionen vertreten werden, ist die Verschiedenartigkeit der literarischen Gestaltung. Während in der 168. Maxime La Rochefoucaulds mehrere Gedanken in einem Satzgefüge, das eine logische und rhythmische Einheit bildet, zusammengeschlossen sind, zerfällt die Reflexion Chamforts in zwei Teile, die nur gedanklich miteinander verbunden sind durch die Zuspitzung auf das Paradox, daß erst der Verlust der Hoffnung den Gewinn des Glücks ermöglicht. Die überraschende Verwendung des Dante-Zitates bildet die Schlußpointe, durch die die in 26) Vgl. Josef Pieper, Hoffnung als Tugend, in über die Hoffnung, Leipzig 1935, S. 25—46. 27) Sentencia 155. Obras completas de Don Francisco de Quevedo Villegas, hrsg. von Luis Astrana Marin, Obras en Prosa, Madrid 21941, S. 933. 28) Chamfort, Maximes et Pensées, Caractères et Anecdotes, Bd. I, S. 108.

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der Ich-Form vorgetragene Sentenz den Ton des Persönlichen verliert und die Beziehung zur Gesellschaft, an die die Maxime sich wendet, wiederhergestellt wird. Was bei Chamfort fehlt, ist die Stimmung der Melancholie oder Resignation, die in der Maxime La Rochefoucaulds indirekt zum Ausdruck, kommt. Diese Stimmung, die auch in anderen Reflexionen La Rochefoucaulds anklingt, ist aber nicht eine unmittelbare Folge seines berühmten oder berüchtigten Pessimismus, sondern das Ergebnis bewußter literarischer Gestaltungskunst. Den »pessimisme de La Rochefoucauld« teilt auch Chamfort8*), nur der künstlerische Ausdruck dieser Haltung zur Welt und zum Leben ist bei beiden Autoren verschieden. Bei Chamfort wird alles, was gesagt werden soll, direkt ausgesprochen, je deutlicher und pointierter die Formulierung, je besser die Maxime. Bei La Rochefoucauld dagegen ist der Stil gedämpfter und verhaltener. Dadurch wird es dem Autor möglich, die feinsten Nuancen des sprachlichen Ausdrucks zu nutzen und auch Stimmungen, die ihrem Wesen nach etwas Vages sind, das sich nicht unmittelbar aussprechen läßt, dem Leser zu suggerieren. Der besondere künstlerische Wert der interpretierten Maxime beruht darauf, daß es La Rochefoucauld hier gelungen ist, jenes unbestimmte Gefühl der Melancholie und Resignation überzeugend zum Ausdruck zu bringen, ohne daß dadurch die Reflexion als solche an Prägnanz und gedanklicher Schärfe verliert.

29) Der Moralist des achtzehnten Jahrhunderts ist wie La Rochefoucauld der Meinung, daß das Leben einer Krankheit gleicht. Er schreibt: »Vivre est une maladie dont le sommeil nous soulage toutes les 16 heures. C'est un palliatif. La mort est le remède« (a.a.O. S. 113). 70

V

»Nos vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisés« Nachdem eine Maxime La Rochefoucaulds als kleines in sich geschlossenes Kunstwerk betrachtet worden ist, soll versucht werden, dem Wesen der Réflexions ou Sentences näher zu kommen, indem mehrere Maximen, die in den gleichen Motivzusammenhang gehören, interpretiert und miteinander verglichen werden. Wir wählen zunächst das Motiv der Verquickung von Tugend und Laster, das La Rochefoucauld selbst als das Hauptthema seines Werkes angesehen hat, wie sich schon daraus ergibt, daß er als Motto über die letzten beiden Ausgaben der Maximes schrieb: Nos vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisés1). In diesem viel zitierten Satz ist eine der Grundthesen der französischen Moralistik des siebzehnten Jahrhunderts auf die kürzeste und schärfste Formel gebracht worden. Der gleiche Gedanke, den Jacques Esprit in seinem Werk La Fausseté des Vertus humaines auf mehr als fünfhundert Seiten zu beweisen sucht, wird hier als Quintessenz der Réflexions ou Sentences der Maximensammlung vorangestellt. Literarisch wirksam ist dieses Motto allein durch seine paradoxe Ausdrucksform, durch die der Widerspruch des Lesers herausgefordert und zugleich sein Interesse für das Werk, in dem dieses Leitwort bewiesen werden soll, wachgerufen wird. Für die Frage, wie La Rochefoucauld zu dieser kurzen und prägnanten Formulierung gekommen ist, erweist sich der Vergleich mit einer der frühen Maximen, die der Herzog mehrmals überarbeitet und in die Edition von 1678 nicht mehr aufgenommen hat, als sehr aufschlußreich. Noch in der Ausgabe von 1675, in der das genannte Motto bereits enthalten ist, finden sich folgende Sätze: Nous sommes si préoccupés en notre faveur, que souvent ce que nous prenons pour des vertus n'est que des vices qui leur ressemblent, et que l'amour-propre nous déguise 8 ).

1) Œuvres I, S. 31. 2) Max. 172 der Edition von 1675. Œuvres I, Max. 607, S. 257. 71

Die erste Fassung dieser bereits gekürzten Reflexion lautet: Nous sommes preocupes de telle sorte en nostre faueur que ce que nous prenons le plus souuent pour des uertus ne sont en effect que des uices qui leur ressemblent et que l'orgueil et l'amour propre nous ont déguisés 3 ).

Eine Gegenüberstellung dieses Textes mit dem mehr als zehn Jahre später entstandenen Motto läßt erkennen, wie aus einem logisdien Gedankengang, der keinen Widerspruch enthält, nur durch Verkürzung und Komprimierung ein rational nicht mehr auflösbares Paradox entstehen kann. Die psychologische Begründung: »Nous sommes préoccupés de telle sorte en notre faveur, q u e . . . « wird gestrichen, den vorsichtigen Ausdruck »ce que nous prenons pour des vertus« verschärft der Autor zu »nos vertus«, und aus den »vices qui leur ressemblent et que l'orgueil et l'amour-propre nous ont déguisés« werden durch einen Kunstgriff »des vices déguisés«. Damit ist aus einer rational begründeten psychologischen Beobachtung eine paradoxe These geworden. Der Wandlungsprozeß, der sich hier genau nadiverfolgen läßt, zeigt, daß es sich auch bei dieser anscheinend so einfach gebauten, lapidaren Äußerung La Rochefoucaulds nicht um einen mühelos gewonnenen glücklichen Einfall handelt, sondern um das Ergebnis stets erneuter künstlerischer Arbeit. Auch der Satz: »Nos vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisés« ist als der »letzte Ring einer langen Gedankenkette« zu verstehen, bei dem es dem Leser selbst überlassen bleibt, den logischen Widerspruch durch eine psychologische Erklärung aufzuheben. Sucht man nach dem Ursprung der paradoxen Gleichsetzung von Tugend und Laster, die uns bei La Rochefoucauld in den verschiedensten Formen begegnet, so muß man bis zu den Schriften der Kirchenväter zurückgehen. Dort findet sich nicht nur der Gedanke, daß die Laster nur unter der Maske von Tugenden den Menschen zu täuschen vermögen — »Vitia non decipiunt nisi sub specie umbraque virtutum«4) —-, sondern auch die paradoxe Behauptung, daß die Tugenden der Heiden nichts als glänzende Laster seien: »Virtutes paganorum splendida vitia«. Diese Sentenz, die durch die Prägnanz der Formu3) Manuscrit

de Liancourt

Max. 3, S. 1.

4) Zitiert nach: Pensées ingénieuses des Peres de l'Eglise, hrsg. von dem Père Bouhours, Paris 1746, S. 284. — Beiläufig sei bemerkt, daß sich dieser Gedanke in ganz ähnlicher Formulierung schon bei Seneca findet. Im V. Buch der Briefe an Lucilius heißt es: »uitia nobis sub uirtutum nomine obrepunt« [Ad Luciiium 45/7).

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lierung sprichwörtlich geworden ist 5 ), scheint das Ergebnis der Verkürzung und Komprimierung einer längeren Reflexion aus dem 19. Buch De Civitate Dei zu sein. Es heißt dort in bezug auf die Vernunft, die glaubt, aus eigener Kraft über die Leidenschaften herrschen zu können: Proinde virtutes, quas habere sibi videtur, per quas imperat corpori et vitiis, ad quodlibet adipiscendum vel tenendum, nisi ad Deum retulerit, etiam ipsae vitia sunt potius quam virtutes6). Selbstverständlich läßt sich der auf ein religiöses Ziel ausgerichtete Gedankengang des Augustinus, der nur im Zusammenhang mit seiner Gnadenlehre zu erklären ist, nicht gleichsetzen mit der psychologisch begründeten Sentenz La Rochefoucaulds, hinter der nicht eine didaktische, sondern eine künstlerische Absicht steht. Dennoch ist die Parallele zwischen dem Motto zu den Réflexions ou Sentences und den zitierten Gedanken der Kirchenväter aufschlußreich, insbesondere da La Rochefoucauld selbst auf die Übereinstimmung zwischen seinen Maximen und den »pensées de plusieurs Pères de l'Église« hingewiesen hat 7 ). Ähnlich wie bei der stilistischen Gestaltung des Mottos verhält es sich bei der literarischen Formung der 171. Maxime, in der La Rochefoucauld das gleiche Motiv variiert hat. Nur wird hier die rational nicht mehr beweisbare Behauptung vom Autor selbst künstlerisch gerechtfertigt durch ein überzeugendes Bild. Die endgültige Fassung lautet: 5) Vgl. Heinrich G. Reichert, Urban und human. Gedanken nische Sprichwörter, Hamburg 1956, S. 144.

über

latei-

6) Augustinus, De Civitate Dei XIX/25, Opera omnia {Patrologia lat., hrsg. von J.-P. Migne) Bd. VII, Paris 1864, S. 656. — Vgl. auch Petrus Lombardus, Sententiae, Lib. II, Distinctio XLI: »An omnis intentio vel actio eonim qui carent fide sit mala« (Patrologia lat., Bd. 192, S. 750). — Die Frage, ob von Tugenden der Heiden gesprochen werden könne, wurde noch um die Mitte des 17. Jahrhunderts eifrig diskutiert. Das Tridentinum hatte ausdrücklich die Fähigkeit der Heiden zu echten Tugenden definiert, während die Jansenisten gegen diese Anschauung polemisierten. La Mothe le Vayer veröffentlichte im Jahre 1642 eine umfangreiche Abhandlung De la Vertu des Payens, in der er zu zeigen sucht, »que de nommer la vertu recherchée pour l'amour d'elle mesme, vn vice, c'est former des paradoxes du tout contraires à l'intention de Saint Augustin« (Œuvres, Paris 1662, Bd. I, S. 562). Von jansenistisdier Seite wurde dieses Werk scharf angegriffen, insbesondere von Antoine Arnauld in seinem Traité de la Nécessité de la Foi en Jésus Christ. 7) Vgl. Préiace de la première

Édition (1665), Œuvres I, S. 27.

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Les vertus se perdent dans l'intérêt, comme les fleuves se perdent dans la mer8).

Im Mittelpunkt dieser mit Recht berühmten Sentenz steht wiederum ein Paradox. Die These: »Les vertus se perdent dans l'intérêt« muß den Widerspruch des Lesers wachrufen, da die Begriffe »Tugend« und »persönliches Interesse« einander ausschließen. Selbst wenn man, wie La Rochefoucauld es in der Préface de la cinquième Édition fordert, die Bedeutung des Wortes intérêt so weit wie möglich faßt und darunter nicht nur »un intérêt de bien«, also einen Eigennutz im materiellen Sinne versteht, sondern auch ein Streben nach Ehren oder Ruhm, »un intérêt d'honneur ou de gloire«'), bleibt der Widerspruch bestehen, denn von Tugend kann nur bei einem altruistischen Handeln die Rede sein, l'intérêt aber setzt in jedem Fall ein egoistisches Motiv voraus. So läßt sich rational die Behauptung, daß die Tugenden sich im Eigennutz verlieren, genauso wenig beweisen wie die These, daß unsere Tugenden meist nur verkappte Laster seien. Wie bei dem Motto aber steht auch hier hinter dem logischen Widerspruch eine psychologische Wahrheit. La Rochefoucauld, der nicht nur ein guter Schriftsteller, sondern auch ein scharfer Beobachter der Triebkräfte menschlichen Handelns war, hat sie an anderer Stelle seines Werkes deutlich ausgesprochen. Die erste Sentenz der Ausgabe letzter Hand, die nicht zufällig an die »maxime supprimée« erinnert, die zur Verdeutlichung der Entstehung des Mottos herangezogen wurde, beginnt mit den Worten: Ce que nous prenons pour des vertus n'est souvent qu'un assemblage de diverses actions et de divers intérêts que la fortune ou notre industrie savent arranger [. .. ]10).

Die motivische Zusammengehörigkeit dieser Reflexion mit der Maxime 171 braucht kaum bewiesen zu werden. Statt »les vertus« wählt der Autor wieder den einschränkenden Ausdruck »Ce que nous prenons pour des vertus«. Durch diese sachlich richtigere, stilistisch aber weniger wirkungsvolle Formulierung wird es La Rochefoucauld möglich, die »sogenannten Tugenden« mit den »divers intérêts« gleichzusetzen, ohne daß ein logischer Widerspruch entsteht. Daß auch hier das Paradox schon im Keim vorhanden ist, zeigt die Schlußwendung, die der Autor dieser Reflexion erst bei der Überarbeitung für die 8) Œuvres I, S. 100. 9) Œuvres I, S. 30. 10) Œuvres I, S. 31.

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Edition von 1675 gegeben hat. Sentenz:

In der letzten Fassung endet die

et ce n'est pas toujours par valeur et par chasteté que les hommes sont vaillants et que les femmes sont chastes11).

Hinter dieser prägnanten Formulierung steht die gleiche psychologische Erkenntnis wie hinter der These: »Les vertus se perdent dans l'intérêt, comme les fleuves se perdent dans la mer«. Mit der Einsicht, daß die Menschen in den meisten Fällen nicht aus Tugend, sondern aus Eigennutz tugendhaft handeln, ist jedoch für das literarische Verständnis der Maxime noch kaum etwas gewonnen. Das künstlerisch Bedeutsame an der Sentenz beruht nicht auf der richtigen Analyse der Motive des menschlichen Verhaltens, sondern es besteht in der Komprimierung dieser psychologischen Erfahrung zu einer paradoxen These und in der Umwandlung dieser unbeweisbaren Behauptung in ein überzeugendes Bild. Die Wirkung der Maxime resultiert in erster Linie aus der Anschaulichkeit, die der rein abstrakte Gedanke durch die literarische Gestaltung gewonnen hat. Wie gut der Vergleich gewählt ist, zeigt die Gegenüberstellung mit einem Abschnitt aus dem W e r k La Fortune des Gens de Qualité von J. de Caillière, in dem ein ganz ähnliches Bild verwandt wird. Auch Caillière spricht von dem Meer, das die Flüsse in sich aufnimmt, auch bei ihm sind die Flüsse ein Bild für die menschlichen Tugenden, nur wird das Meer nicht mit dem Eigennutz, sondern mit der Rechtschaffenheit verglichen. Im letzten Kapitel des Buches heißt es: La probité est comme le sein de la mer, celle-cy rassemble toutes les rivieres du monde, & celle-là ramasse toutes les vertus ensemble, pour en composer l'homme de bien").

Ob La Rochefoucauld diese Zeilen, die Dreyfus-Brisac als das literarische Vorbild für die 171. Maxime anführt"), gekannt hat, ist für die Beurteilung seiner Sentenz ohne Bedeutung, denn die Tatsache, daß ein anderer Autor ein ähnliches Bild zur Verdeutlichung eines ganz anderen Gedankens verwandt hat, nimmt der literarischen Lei11) Ebda. — In der ersten Fassung, die sich in den Ausgaben von 1666 und 1671 findet, lautet die Maxime: »Ce que nous prenons pour des vertus n'est souvent qu'un assemblage de diverses actions que la fortune arrange comme il lui plaît« (S. 31, Anm. 2). Hier hat im Gegensatz zu den bisherigen Beispielen die Umarbeitung nicht eine Kürzung, sondern eine Erweiterung der Reflexion zur Folge. 12) A.a.O. S. 290.

13) La Clei des Maximes de La Rochefoucauld, S. 165. 75

stung La Rochefoucaulds nichts von ihrer Originalität. Aus der Darstellung Caillières konnte der Autor der Maximes zweifellos nichts lernen, denn dort hat der Vergleich keinerlei Überzeugungskraft. Die Vorstellung, daß der Schoß des Meeres alle Flüsse der Welt sammelt, ist schon als solche weniger einleuchtend als das Bild von den Flüssen, die sich im Meer verlieren. Als Veranschaulichung des Gedankens, daß die Rechtschaffenheit den Inbegriff aller Tugenden darstellt und daß sie es ist, die den »homme de bien« bildet, aber ist dieses Bild denkbar ungeeignet. Da die Vorstellung, daß das Meer die Flüsse zu einem bestimmten Zweck sammelt, widersinnig ist, läßt sich der Vergleich gar nicht zu Ende führen. — Anders bei La Rochefoucauld. Hier ist nicht nur das Bild überzeugend und der Vergleich treffend, sondern es wird durch die Veranschaulichung des Gedankens dem Leser etwas suggeriert, was über die direkte Aussage hinausgeht. Mit dem Bild des unendlichen Meeres, in das die Flüsse naturnotwendig münden, verbindet sich beim Leser unwillkürlich die Vorstellung, auch das intérêt, das in dem Vergleich dem Meere entspricht, sei so groß, daß die Tugenden ihm naturnotwendig anheimfallen müssen. So wie in der Maxime von der trügerischen Hoffnung angedeutet wurde, daß der Mensch den Leidenschaften gegenüber keine Freiheit besitzt14), so wird hier indirekt zum Ausdrude gebracht, daß das persönliche Interesse stärker ist als der menschliche Wille. Tugend und Laster stehen im Dienste des allumfassenden intérêt. Der gleiche Gedanke, der in der Maxime: »L'intérêt met en œuvre toutes sortes de vertus et de vices« 13 ) und in der Sentenz: »Le nom de la vertu sert à l'intérêt aussi utilement que les vices« 16 ) unmittelbar ausgesprochen ist, wird hier dem Leser durch ein assoziativ wirkendes Bild zu verstehen gegeben. Damit erweist sich auch der Vergleich als ein Kunstmittel, das geeignet ist »de faire entendre en peu de paroles beaucoup de choses«. In weniger Worten ließ sich der Gehalt der Maxime nicht mehr zum Ausdruck bringen. Das zeigt am deutlichsten eine Gegenüberstellung der verschiedenen Fassungen. Geht man aus von dem Text in der Originalhandschrift : Touttes les uertus des hommes se perdent dans l'interest comme les fleuues se perdent dans la mer17) 14) 15) 16) 17)

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Vgl. Kap. Max. 253 Max. 187 Manuscrit

IV, S. 65. (Œuvres I, S. 133). (Œuvres I, S. 106). de Liancourt, S. 72.

und vergleicht die bereits gekürzte Maxime im Drude von 166518), so erweist sich die ein Jahr später entstandene endgültige Fassung, die sich durch die vollkommene syntaktische Übereinstimmung der beiden Glieder des Vergleichs auszeichnet, als die Form, in der der größte Inhalt auf dem engsten Raum zur Darstellung gekommen ist. Das gleiche gilt für die verschiedenen Fassungen der Maxime 182, in der das Motiv der Verquickung von Tugend und Laster die kunstvollste Gestaltung gefunden hat. Im Manuscrit de Liancourt lautet die Reflexion: Les vices entrent dans la composition des vertus comme les poisons entrent dans la composition des plus grands remedes de la médecine: la prudence les assemble elle les tempère et elle s'en sert vtillement contre les maux de la vie 19 ).

Schon für die Drucke von 1664 und 1665 wurde dieser Text gekürzt 20 ), aber erst in der Ausgabe von 1666 findet sich die endgültige Fassung, in der der Ausdruck die letzte Prägnanz und Kürze, der Aufbau eine vollkommene Symmetrie und der Rhythmus die größtmögliche Ausgewogenheit gewonnen hat. Wir zitieren diesen Text nach der Ausgabe letzter Hand von 1678: Les vices entrent dans la composition des vertus comme les poisons entrent dans la composition des remèdes: la prudence les assemble et les tempère, et elle s'en sert utilement contre les maux de la vie 21 ).

Die künstlerische Wirkung beruht bei dieser Reflexion auf dem geschickt gewählten und glänzend durchgeführten Vergleich. Auch hier läßt sich der Gedanke nicht von der Form abstrahieren, ohne seine Originalität zu verlieren. Das Motiv der Verflechtung von Tugend und Laster haben vor La Rochefoucauld auch andere Autoren gestaltet. Seneca z. B. schreibt in seinen Epistulae morales: »[...] sic enim uitia uirtutibus inmissa sunt, ut illas secum tractura sint«22). Sogar der Vergleich der Laster, die für das Zusammenleben notwendig und nützlich sind, mit Giften, die zur Bewahrung der Gesundheit verwandt 18) Max. 180: »Toutes les vertus se perdent dans l'interest comme les fleuves se perdent dans la Mer« (S. 78). 19) A.a.O. S. 77. 20) Im Vordruck von 1664 ist es die erste Maxime: »Les vices entrent dans la composition des vertus, comme les poisons entrent dans la composition des remedes de la medecine: la prudence les assemble, & les tempere, & elle s'en sert vtilement, contre les maux de la vie« (S. 3). 21) Max. 182 (Œuvres I, S. 103 f.). 22) Ad Lucilium 114/12.

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werden, findet sich schon in den Essais von Montaigne 23 ). Das gleiche Bild kehrt in dem bereits genannten Werk La Fortune des Gens de Qualité wieder zur Verdeutlichung des Gedankens, daß sich die menschliche Klugheit der Schwächen und Fehler zu ihrem Vorteil zu bedienen vermag. Es heißt dort: La plus-part des hommes [ . . . ] sont des aueugles [ . . . ] ; l'entreprise seroit folle de les vouloir rendre clairvoyans. Vn homme d'esprit se sert de leur sottise à son auantage, comme les Medecins préparent les venins pour chasser les maladies [ . . . ]24).

Eine Gegenüberstellung dieser Zeilen mit der Reflexion La Rochefoucaulds zeigt, daß das künstlerische Vermögen des Autors nicht in erster Linie in der Wahl des Vergleichs, sondern in seiner Durchführung zum Ausdruck kommt. Bei Caillière bleibt die Darstellung literarisch unwirksam. Die Parallele zwischen dem »homme d'esprit« und den »Medecins« wird sprachlich in keiner Weise hervorgehoben, sondern eher verwischt. Weder die Prädikate »se sert« und »préparent«, noch die Objekte des Vergleichs »leur sottise« und »les venins« entsprechen einander. Der Gedanke würde schon an Prägnanz gewinnen, wenn es hieße: »Les hommes d'esprit se servent des sottises à leur auantage, comme les Medecins se servent des venins pour chasser les maladies«. Eine solche sentenzartige Verschärfung des Gedankens aber findet sich im Werk Caillières nur selten. — Bei La Rochefoucauld dagegen ist der Bau der Maxime im höchsten Grade kunstvoll. Aus dem einfachen Vergleich wird ein doppelter. Zunächst heißt es: »Les vices entrent dans la composition des vertus, comme les poisons entrent dans la composition des remèdes«. »Composition« bedeutet hier nicht, wie Fritz Schalk übersetzt, »Stoff« oder, wie es bei Kurt Jung heißt, »Gefüge«25), sondern »Zusammensetzung«, wobei 23) In dem ersten Essay des III. Buches De ¡'utile et de l'honneste heißt es: »De mesme en toute police, il y a des offices nécessaires non seulement abjects, mais encore vitieux: les vices y trouvent leur rang et s'employent à la cousture de nostre liaison, comme les venins à la conservation de nostre santé« (Essais, hrsg. von Albert Thibaudet, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1939, S. 766). 24) Caillière, a.a.O. S. 93. 25) In der Ubersetzung von Fritz Schalk lautet die Maxime: »Die Laster mischen sich zum Stoff der Tugend wie die Gifte zum Stoff der Heilmittel. Die Klugheit sammelt und mildert sie und bedient sich ihrer mit Nutzen gegen die Übel des Lebens« {Die französischen Moralisten, Bd. I, S. 23); und Kurt Jung übersetzt: »Die Laster mengen sich ins Gefüge der Tugenden wie die Gifte zu den Heilmitteln. Die Vorsicht sorgt für günstiges Maß und milde

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sowohl der Vorgang der Zubereitung der Arzneien als auch das Resultat, also die Mischung der verschiedenen Stoffe gemeint ist. So wie die Heilmittel stellen auch die Tugenden eine Zusammensetzung verschiedener Elemente dar, so wie die Gifte in die »composition des remèdes« Eingang finden, so die Laster in die »composition des vertus«. Das Gute an diesem Vergleich besteht darin, daß »les vices« und »les poisons« nicht nur in ihrer Funktion übereinstimmen, sondern daß sich auch assoziativ eine Verbindung zwischen diesen Begriffen einstellt. Hinzu kommt, daß die beiden Glieder des Vergleichs in ihrer sprachlichen Konstruktion genau übereinstimmen. Seine eigentliche Bedeutung erhält der Vergleich aber erst durch den zweiten Teil der Reflexion. Die Sätze: »La prudence les assemble et les tempère, et elle s'en sert utilement contre les maux de la vie«, gelten sowohl für die Gifte, die in der rechten Mischung und Dosierung als Heilmittel dienlich sind, als auch für die Laster, die, durch Klugheit zum Ausgleich gebracht und gemäßigt, mit Nutzen angewandt werden gegen die Übel des Lebens. Worauf es ankommt, ist die Linderung der »maux de la vie«, und die Schlußpointe besteht darin, daß mit dem Worte »maux« sowohl die Schmerzen und Krankheiten im physischen Sinne als auch die Übel im moralischen Sinne bezeichnet werden. Damit ist die Reflexion zu einer vollkommenen Einheit zusammengeschlossen. Die physische und die moralische Welt entsprechen einander. Das Leben gleicht einer Krankheit, die nur durch eine Mischung aus Heilstoffen und Giften, aus Tugenden und Lastern gelindert werden kann. Was hinter der Maxime La Rochefoucaulds steht, ist die Haltung der Resignation, ein Sich-Abfinden mit den Bedingtheiten der moralischen Welt. Diese Einstellung ist aber weit entfernt von der Auffassung, daß die Laster zum Allgemeinwohl beitragen oder gar notwendig sind, im Sinne der Lehre »private vices, publick benefits«, die Mandeville in seiner berühmten Fable of the Bees aus dem Jahre 1714 entwickelt hat. Der Unterschied zwischen den Anschauungen des französischen Moralisten und des englischen Satirikers kommt am deutlichsten zum Ausdruck in der Kritik, die Voltaire im Hinblick auf die Maxime La Rochefoucaulds gegen die Bienenfabel gerichtet hat. In seinem Dictionnaire philosophique heißt es am Ende des Artikels Abeilles: Il est très-vrai que la société bien gouvernée tire parti de tous les Mischung und bedient sich ihrer mit Erfolg gegen die Übel des Lebens« (a.a.O. S. 32).

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vices; mais il n'est pas vrai que ces vices soient nécessaires au bonheur du monde. On fait de très-bons remèdes avec des poisons, mais ce ne sont pas les poisons qui nous font vivre 2 *).

Voltaire hat in diesen Zeilen den Vergleich aus der Maxime La Rochefoucaulds aufgenommen und im Sinne seiner Kritik fortgesetzt. So wie die Gifte zwar die Krankheit zu mildern, nicht aber den Körper zu nähren vermögen, so können auch die Laster die »maux de la vie« lindern, nicht aber »le bonheur du monde« begründen. Diese Weiterführung des Vergleichs ist durchaus im Sinne La Rodiefoucaulds, dessen »ethischer Realismus« 27 ) nicht mit einem Utilitarismus, wie ihn Mandeville vertrat, verwechselt werden darf. Wie kunstvoll die Maxime La Rochefoucaulds gebaut ist, läßt sich verdeutlichen durch den Vergleich mit einer Reflexion Pascals, die formal starke Ähnlichkeiten aufweist und auch das Motiv der Verquickung von Tugend und Laster behandelt. In den Pensées heißt es: Nous ne nous soutenons pas dans la vertu par notre propre force, mais par le contrepoids de deux vices opposés, comme nous demeurons debout entre deux vents contraires: ôtez un de ces vices, nous tombons dans l'autre 28 ).

Dieser Reflexion liegt philosophisch betrachtet die Tugendlehre des Aristoteles zugrunde. Im zweiten Buch der Nikomachischen Ethik wird die Anschauung entwickelt, daß die Tugend nur die »fieoövrig«, die rechte Mitte zwischen zwei Lastern sei. Bei Pascal wird diese Lehre auf die Stellung des Menschen zu Tugend und Lastern übertragen und in ein scharfes Paradox verwandelt: wir behaupten uns in der Tugend nicht durch unsere eigene Kraft, sondern durch das Gegengewicht zweier entgegengesetzter Laster. Diese These ist als solche genauso anfechtbar wie die Behauptung La Rochefoucaulds »Les vices entrent dans la composition des vertus«. Wie in den Maximes wird diese Paradoxie auch dem Leser der Pensées durch einen Vergleich einleuchtend gemacht; der Autor wählt das unmittelbar überzeugende Bild von dem Menschen, der sich nur durch den Gegendrude zweier entgegengesetzter Kräfte aufrecht zu halten vermag. Auch bei Pascal folgt ein zusammenfassender Nachsatz: »ôtez un de ces vices, nous 26) Œuvres complètes (L'Imprimerie de la Société littéraire-typographique) 1785, Bd. 37, S. 41. 27) Diesen Terminus verwendet Gerhard Hess in seinem Aufsatz: La Rochefoucauld. Die Maximen, DVj. XIII (1935) S. 456—489. Zu der Max. 182 vgl. S. 466 ff. 28) Pensées, Fr. 359 (Œuvres XIII, S. 272).

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tombons dans l'autre«. Das ist sehr prägnant und gut formuliert, so kunstvoll wie bei La Rochefoucauld aber ist dieser Abschluß nicht, denn die Schlußfolgerung bezieht sich nur auf das Phänomen in der moralischen Welt, nicht aber auf das Bild aus der physischen Welt, das zum Vergleich herangezogen wurde. Pascal kommt es darauf an, die Paradoxie der menschlichen Lage so scharf wie möglich zum Ausdruck zu bringen, daher die Verkürzungen und die antithetische Konstruktion seiner Sätze. La Rochefoucauld dagegen will anhand des gleichen Motivs ein ganz anderes literarisches Thema gestalten. Ihm kommt es nicht darauf an, durch den Aufweis des Widerspruchs, der im moralischen Verhalten des Menschen verborgen liegt, eine religiöse Wirklichkeit, die ebenso paradoxer Natur ist, zur Anerkennung zu bringen, sondern er will die Bedingtheiten der moralischen Welt als natürliche Gegebenheiten hinnehmen und eine resignierte Lebenslehre daraus entwickeln. Sein Ziel ist nicht zu reformieren, sondern einen Ausgleich zu schaffen zwischen den Gegensätzen, deshalb wählt er nicht die Antithese, sondern den Parallelismus, nicht asyndetische Konstruktionen, sondern rhythmisch ausgewogene Sätze. Fragt man sich zum Schluß, was La Rochefoucaulds Maximen über das Verhältnis von Tugend und Laster mit seiner Reflexion über die trügerische Hoffnung verbindet, so ist es der gleiche Grundton der Resignation, der diese Sentenzen trotz der Verschiedenheit des Motivs und der Kunstmittel als zusammengehörig erscheinen läßt. Ob es die Hoffnung ist, die bejaht wird, obgleich der Autor weiß, daß sie keine Erfüllung findet, oder die Klugheit, die sich der Gifte und Laster zu ihren Zwecken bedient, immer steht hinter der Aussage ein Wissen um die »maux de la vie« und ein Sich-Abfinden mit der »condition humaine«.

81 6 Kruse, Maxime

VI

»L'esprit est toujours la dupe du cœur« Der Versuch, die Eigenart u n d Besonderheit eines moralistischen W e r k e s aus dem Thematischen oder rein Gedanklichen e r k l ä r e n zu wollen, ist stets zum Scheitern verurteilt, d e n n da es den M o r a l i s t e n nicht u m das Individuelle geht, das in seiner Vielfalt unendlich ist, s o n d e r n um das Typische, das sich in a l l g e m e i n g ü l t i g e n G r u n d s ä t z e n aussprechen läßt, ist die A n z a h l der M o t i v e i h r e r Schriften eng b e g r e n z t u n d die Reihe der möglichen A n t w o r t e n auf die immer w i e d e r k e h r e n d e n F r a g e n b a l d erschöpft. Das W o r t des Terenz: »Nulluni est iam dictum, q u o d n o n sit dictum prius« 1 ) gilt f ü r alle M a x i m e n u n d Reflexionen, nur m u ß m a n sich b e w u ß t bleiben, daß es den A u t o r e n auch g a r nicht darauf a n k a m , n e u e T h e m e n zu w ä h l e n oder n e u e T h e s e n zu v e r t r e t e n , s o n d e r n daß es i h n e n d a r u m ging, das Gedachte noch einmal zu d e n k e n u n d n e u u n d b e s s e r zu formulieren. Diese F r e u d e an der Möglichkeit, durch die Kürze u n d P r ä g n a n z des Ausdrucks oder durch die geistreich-pointierte Darstellung sein Vorbild zu ü b e r t r e f f e n , läßt sich b e s o n d e r s deutlich zeigen an dem T h e m a »l'esprit et le c œ u r « , das nicht n u r La Rochefoucauld m e h r f a c h gestaltet hat, s o n d e r n das auch v o n s e i n e n Z e i t g e n o s s e n — u. a. v o n Pascal und La B r u y è r e — in den v e r s c h i e d e n s t e n F o r m e n a b g e w a n d e l t w o r den ist. W e l c h e r Beliebtheit sich dieses T h e m a in d e r zweiten H ä l f t e des 17. J a h r h u n d e r t s e r f r e u t e , zeigt ein Dialog des Père B o u h o u r s aus dem J a h r e 1687, in dem es heißt: »II f a u t a v o û ë r [ . . . ] q u e le c œ u r et l'esprit sont bien à la m o d e : on n e p a r l e d ' a u t r e chose d a n s les belles conversations« 2 ). Schon zwei J a h r z e h n t e f r ü h e r w a r in Paris ein a n o n y m e s W e r k mit dem Titel: Le Démêlé de l'Esprit et du Cœur erschienen, das b e r e i t s 1668 eine N e u a u f l a g e erlebte 3 ), u n d noch u m 1) Eunuchus, Prolog, V. 41. 2) Dominique Bouhours, De la manière de bien penser dans les ouvrages de l'esprit, Premier Dialogue, Amsterdam 1688, S. 66. 3) Es handelt sich um eine allegorische Novelle, die dem Abbé de Torche zugeschrieben wird. Die 2. Edition erschien wiederum bei Gabr. Quinet in 82

die Mitte des 18. Jahrhunderts schrieb Voltaire in seinem Zadig: »Que je vous sais bon gré [...] de n'avoir point dit l'esprit et le cœur! car on n'entend que ces mots dans les conversations de Babylone; on ne voit que des livres où il est question du cœur et de l'esprit composés par des gens qui n'ont ni de l'un ni de l'autre« 4 ). Die Satire Voltaires richtet sich hier gegen die vielen Autoren, die in der Nachfolge Rollins ihre didaktischen Traktate »par rapport à l'esprit et au cœur« verfaßten 5 ), und damit das Motiv formelhaft und folglich sinnentleert wiederholten, während gleichzeitig Vauvenargues und später Chamfort versuchten, das Verhältnis von esprit und cœur in geistvollen Wendungen neu zu fassen, um den Vergleich mit ihrem großen Vorbild La Rochefoucauld herauszufordern. Fragt man, was die französischen Moralisten an diesem Thema so stark angezogen haben mag, so sind es zunächst die vielen Bedeutungsnuancen, die die Begriffe esprit und cœur enthalten können 6 ). Diese Differenzierungsmöglichkeit beider Worte, die Fülle der Assoziationen, die sich mit ihnen verbinden, erlauben es dem Autor, das gleiche Motiv vielfach zu variieren und bei einzelnen Maximen verschiedene Deutungsmöglichkeiten offenzulassen, so daß der Leser bei der Lektüre dieser Sentenzen angeregt wird »de rêver au delà de ce qu'elles disent«. Außerdem erscheinen die Begriffe esprit und cœur als Gegensätze, die für antithetisch zugespitzte Formulierungen, wie sie die KunstParis, aber mit einem neuen Titel und ergänzt durch die Erzählung L'Accomodement de ¡'Esprit et du Cœur. (Vgl. Ant.-Alex. Barbier, Dictionnaire des ouvrages anonymes, Bd. I, 'Paris 1872, Sp. 875.) — Außerdem findet sich eine andere Erzählung unter dem Titel Le Démêlé de l'Esprit et du Cœur im IV. Bd. des Recueil de pièces galantes en prose et en vers (Recueil La Suze-Pellisson), Paris 1680, S. 1—54. Auch für dieses Werk wird der Abbé de Torche als Autor genannt. (Vgl. Frédéric Lachèvre, Bibliographie des Recueils collectifs de Poésies publiés de 1597 à 1700, Bd. II, Paris 1903, S. 686 f. und Bd. III, Paris 1904, S. 556 f.) 4) Voltaire, Romans et Contes, hrsg. von René Groos, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1954, S. 69. 5) Rollin hat sein viel gelesenes Werk De la manière d'enseigner les belles lettres, par rapport à l'esprit et au cœur in den Jahren 1726—1728 veröffentlicht. 6) Vgl. Fritz Neubert, Zur Wort- und Begriffskunst der französischen Klassik, in Wechssler-Festschrift, Jena/Leipzig 1929, S. 153—177 (bes. S. 172 f.). — Charles Bruneau, Esprit: Essai d'un classement historique des sens, in Études romanes dédiées à Mario Roques, Paris 1946, S. 169—180.



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form der Maxime fordert, die besten Möglichkeiten bieten. Sie können dazu dienen, dem alten Gegensatz von raison und passion eine neue Form zu geben. Zuweilen kann der Begriff esprit, der, wie Charles Bruneau betont, in dieser Gegenüberstellung stets als »le principe pensant« aufzufassen ist7), sogar durch das Wort raison ersetzt werden. Diese Bedeutung klingt noch an, wenn Voltaire den esprit, soweit damit eine »qualité de l'âme« gemeint ist, als »raison ingénieuse« bezeichnet. Die Definition Voltaires sei hier im Zusammenhang angeführt, da sie zeigt, wie viele Begriffe mit dem Wort esprit assoziieren. In dem Dictionnaire philosophique heißt es: »Le mot esprit, quand il signifie une qualité de l'âme, est un de ces termes vagues, auxquels tous ceux qui les prononcent attachent presque toujours des sens différens: il exprime autre chose que jugement, génie, goût, talent, pénétration, étendue, grâce, finesse; & il doit tenir de tous ces mérites: on pourrait le définir, raison ingénieuse«8). — Das Herz dagegen, das schon seit der Antike als der Sitz und die Quelle der Leidenschaften gegolten hatte, steht trotz der These: Que le siege des passions n'est pas dans le cœur, die Descartes in seinem Traktat Les Passions de l'Ame mit Nachdruck vertrat9), in den meisten Fällen für die Leidenschaften, genauer gesagt für die »passion d'amour«. So wie an die Stelle des Gegensatzes von esprit und cœur gelegentlich die Antithese raison und cœur oder raison und amour treten kann10), so werden in einzelnen Fällen auch esprit und passion oder esprit und amour einander gegenübergestellt11). Ein Werk wie De l'Usage des Passions von Senault, in dem das Verhältnis von raison und passion in aller Breite erörtert wird, enthält Abschnitte, die deutliche Parallelen zu 7) Ebda. S. 173. 8) Art. Esprit, Section II; Voltaire, Œuvres complètes, a.a.O. Bd. 40, S. 110. 9) Vgl. Art. XXXIII, Œuvres, Bd. XI, S. 353 f. 10) Das berühmteste Beispiel ist das Fragment Pascals: »Le cœur a ses raisons, que la raison ne connaît point [ . . . ] « (Pensées, Fr. 277, Œuvres XIII, S. 201), bei dem die Wirkung auf dem Wortspiel mit der doppelten Bedeutung von raison beruht. Dieses Fragment findet seine Entsprechung in dem Dialogue de l'Amour et de la Raison von Le Pays, in dem es heißt: »que l'Amour a des raisons qui valent mieux que celles de la Raison même« (René Le Pays, Nouvelles Œuvres, hrsg. von Albert de Bersaucourt. Collection des Chefs-d'Œuvre méconnus, Paris 1925, S. 173). 11) Nicole z. B. schreibt in den Essais de Morale: »L'amour est le maître de l'esprit; il en dispose comme il veut. Il a mille adresses pour empêcher de croire ce qu'il n'aime pas« (Nouvelle édition, Bd. X, Paris 1730, S. 227).

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der moralistischen Diskussion über das Verhältnis von esprit cœur aufweisen").

und

N e b e n raison und passion aber gibt es noch einen zweiten traditionellen Gegensatz, der auf die Entwicklung der Begriffe esprit und cœur eingewirkt hat, nämlich die christliche Antithese v o n nvev/m und odog, von esprit und chair. Der Begriff cœur konnte im Erbauungsschrifttum des 17. Jahrhunderts, das zweifellos eine wichtige Quelle für die Moralisten g e w e s e n ist, ohne weiteres an die Stelle des paulinisdien Begriffes chair treten, da schon in der Bibel das Wort Herz in sehr verschiedenem Sinne und an mehreren Stellen sogar synonym mit chair verwandt wird. Im Galaterbrief schreibt Paulus: Or, les œuvres de la chair sont manifestes: ce sont l'impudicité, l'impureté, le dérèglement, l'idolâtrie, la sorcellerie, les inimitiés, les querelles, les jalousies, les animosités, les disputes, les divisions, les sectes, l'envie, l'ivrognerie, les orgies, et autres dioses semblables"), und bei dem Evangelisten Markus heißt es: Car c'est du dedans, du cœur des hommes, que sortent les mauvaises pensées, les impudicités, les vols, les meurtres, les adultères, la cupidité, les méchancetés, la fraude, la débauche, le regard envieux, la calomnie, l'orgueil, la démence 14 ). Diese christlich-spiritualistische Abwertung des Begriffs cœur, die Assoziation mit der Vorstellung der »passions mauvaises« 15 ), die sich mit der stoischen Lehre von der Verachtung der Leidenschaften auf 12) Schon im ersten Traktat finden sich folgende Sätze: »Comme ces Passions naissent des sens, elles prennent tousiours leur party, l'Imagination ne les represente jamais à l'Esprit, qu'elle ne parle en leur faueur: Auec vn si bon Aduocat elles corrompent leur Maistre, & gagnent toutes leurs causes. L'Esprit les écoute, il examine leur raisons, il considere leurs inclinations, & pour ne les attrister, il prononce bien souuent a leur auantage [ . . . ] « (a.a.O. S. 14 f.). 13) Gal. V/19—21. Um die Ubereinstimmungen zwischen der biblischen Uberlieferung und den Begriffen, die die französischen Moralisten verwenden, klarer hervortreten zu lassen, wird im Text nach der französischen Ubersetzung Le Nouveau Testament, Version synodale, Paris 1911, zitiert. In der Vulgata lautet die Stelle: »Manifesta sunt autem opera carnis: quae sunt fornicatio, immunditia, impudicitia, luxuria, idolorum servitus, veneficia, inimicitiae, contentiones, semulationes, irae, rixae, dissensiones, sectae, invidiae, homicidia, ebrietates, comessationes, et his similia [ . . . ]«. 14) Marc. VII/21—22: »Abintus enim de corde hominum malae cogitationes procedunt, adulteria, fornicationes, homicidia, furta, avaritiae, nequitiae, dolus, impudicitiae, oculus malus, blasphemia, superbia, stultitia.« 15) Vgl. Rom. VII/5. 85

das beste vereinigen ließ, findet sich nicht bei allen Autoren, die das Verhältnis von esprit und cœur literarisch gestaltet haben — man denke nur an die ganz andersartige Verwendung des Gegensatzes bei Guez de Balzac und bei Pascal18) —, sie ist aber im moralistischen Schrifttum zweifellos vorherrschend. Auch bei Autoren, die sich der christlichen Tradition, in der sie stehen, nicht mehr bewußt sind, tritt sie deutlich zutage. So heißt es bei Saint-Évremond: »Le cœur est un aveugle, à qui sont dues toutes nos erreurs«17), und Chamfort formuliert: »La pire de toutes les mésalliances est celle du cœur«18). Die allgemeine Anschauung wird in den anonym erschienenen Maximes, Sentences et Réflexions morales et politiques aus dem Jahre 1687 in die Worte gefaßt: Pour être sage, il faut que l'esprit & la raison soumettent le cœur, & pour être méchant, il faut que le cœur domine la raison et l'esprit 1 ').

Obgleich La Rochefoucauld in seiner Ausdrucksweise zurückhaltender ist, kann nicht übersehen werden, daß auch in seinem Werk der Begriff cœur einen negativen Akzent erhält. Hier läßt sich sogar anhand der ersten Fassung der Maximes zeigen, daß der Autor bewußt von christlichen Anschauungen ausgegangen ist. Im Manuscrit de Liancourt heißt es: Une preuue convainquante que l'homme n'a pas esté créé comme il est, cest que plus il deuient raisonable et plus il rougit en soy mesme de l'extrauagance de la bassesse et de la coruption de ses sentiments et de ses inclinations 20 ). 16) Vgl. Hans Flasche, Der Begriff >cceur< bei Guez de Balzac. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte des Pascalschen Denkens. RJb. II (1949) S. 224— 254. — Max Scheler, Zu Pascals >le cœur a ses raisonsfeuDiscours sur les Passions de l'Amoun, RSH N.S. 72 (1953) S. 277. — Die gleiche Frage ist in der Fassung: »Lequel donne plus de peine de cacher son amour, ou de feindre d'aimer« in den vierten Band des Recueil La Suze-Pellisson, Paris 1680, S. 185 aufgenommen worden. 37) Vgl. Max. 559 (Œuvres I, S. 234). 38) Max. 70 (Œuvres I, S. 61). 39) Bei Mme de Sablé lautet die Sentenz: »L'amour a un caractere si particulier, qu'on ne peut le cacher où il est, ni le feindre où il n'est pas« (Max. LXXX, Cabinet du Bibliophile, N° X, Paris 1870, S. 46).

113 8 Kruse, Maxime

üben zu können. Das wird besonders deutlich, wenn man zum Vergleich einen Abschnitt aus dem Werk Deila Dissimulazione onesta von Torquato Accetto heranzieht. Auch in diesem moralistischen Traktat aus dem Jahre 1641 geht der Autor von dem Grundsatz aus, daß die Liebe sich nicht verheimlichen lasse: »Amor, die non vede, si fa troppo vedere«40). Diese These, die durch die Anspielung auf die Gestalt des Amor mit den verbundenen Augen bereits ein bildhaftes Element enthält, wird im folgenden erläutert durch einen anschaulichen Vergleich. So wie bei einem Hause, das in Brand gerät, die Funken und Flammen aus dem Dach und aus den Fenstern schlagen, so läßt sich auch das Feuer der Liebe nicht verbergen: Tanto avviene e peggio quando amor prende stanza ne' petti umani accendendogli da dovero, perché i sospiri, le lagrime, la pallidezza, gli sguardi, le parole e quanto si pensa e si fa, tutto va vestito con abito d'amore41).

Eine so vollständige Umsetzung des Gedankens in Anschauung, wie sie hier vorliegt, ist in der Kunstform der Maxime, die eine starke Konzentration und folglich auch eine gewisse Abstraktion fordert, nicht möglich. Dennoch muß gerade bei den Sentenzen, die sich mit einer »question d'amour« beschäftigen, ein bildhaftes Element in der Darstellung erhalten bleiben, denn erst durch die Veranschaulichung gewinnen die verschiedenen Thesen, die sich aus den ganz allgemeinen »questions galantes« ableiten lassen, künstlerische Überzeugungskraft. Eine solche Veranschaulichung kann durch eine metaphorische Ausdrucksweise erreicht werden, oder aber — in den meisten Fällen noch wirkungsvoller — durch einen Vergleich. Ein geschickt gewähltes Bild vermag nicht nur, wie bereits gezeigt wurde, den Leser von einer zweifelhaften oder falschen These zu überzeugen, sondern es verleiht auch einem banalen Gedanken oder einer altbekannten Anschauung eine neue Bedeutsamkeit. Als Beispiel möge die berühmte Maxime 76 dienen: Il est du véritable amour comme de l'apparition des esprits: tout le monde en parle, mais peu de gens en ont vu42).

Dem Gedanken, der dieser Sentenz zugrundeliegt, würde niemand besondere Aufmerksamkeit zuwenden, wenn er nicht so glänzend zur Darstellung gebracht wäre. Das läßt sich schon dadurch beweisen, daß 40) Torquato Accetto, Deila Dissimulazione onesta, Bari 1928, S. 47. 41) Ebda. S. 48. 42) Œuvres I, S. 63. 114

der Traktat La Justification de l'Amour, dem La Rochefoucauld diesen Gedanken entnommen hat, ganz unbekannt und von der Forschung unbeachtet geblieben ist. Es handelt sich um eine anonyme Abhandlung, die 1660 im dritten Teil des Recueil de pièces en prose, les plus agréables de ce temps von Charles de Sercy herausgegeben wurde. La Rochefoucauld hat diesen Traktat bestimmt gekannt, da in dem gleichen Sammelband seine längere Reflexion L'amovr propre zum ersten Mal im Druck erschienen ist43). Die literarische Quelle für die 76. Maxime bilden gleich die ersten Sätze der Abhandlung: L'Amovr est le nom du monde le plus commun, & la chose la plus rare; tout le monde en parle; beaucoup de personnes croyent le ressentir; peu le connoissent [ . . . ]44).

Diese Bemerkung ist — wenn man sie vom Standpunkt des 17. Jahrhunderts betrachtet — in keiner Weise ungewöhnlich, denn nach der höfischen Liebesauffassung, die gerade im Kreise der Preziösen weit verbreitet war, gilt der Begriff amour als ein hohes Ideal, das, obgleich jedermann davon spricht und jeder Autor darüber schreibt, doch den Wert der Seltenheit besitzt. Von dieser Bedeutung des Wortes amour ist auch La Rochefoucauld ausgegangen, und so lautet die erste Fassung seiner Sentenz: Il est de l'amour comme de l'aparition des esprits: tout le monde en parle, mais peu de gens en ont vû45).

Nicht nur der Gedankengang und der antithetische Aufbau dieser Maxime stimmen mit den ersten Sätzen der Justification de l'Amour überein, sondern auch die Wendung »tout le monde en parle« ist wörtlich aus dem Vorbild übernommen. Die literarische Leistung La Rochefoucaulds besteht allein in der Verkürzung und Veranschaulichung des Gedankens. Es kam darauf an, den Leser davon zu überzeugen, daß es etwas gibt, das so viel besprochen ist wie die Liebe und gleichzeitig »la chose la plus rare«. Dazu dient das Bild von den Geistererscheinungen, das so überraschend und originell ist, daß der 43) Es handelt sich um die Reflexion, die La Rochefoucauld 1665 der ersten Edition der Maximes vorangestellt hat und die hier mit einem Widmungssdireiben A Mademoiselle *** verbunden ist (S. 335—344). Der Traktat La Justification de l'Amovi steht in dem Recueil unmittelbar vor dem Text von La Rochefoucauld (S. 289—334). 44) Ebda. S. 289. 45) Edition von 1665, Max. 86, S. 53 f. Diese Fassung findet sich bereits in einem Brief La Rochefoucaulds an Mme de Sablé vom 10. XII. [1663], Œuvres III/l, S. 159.

8*

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oft ausgesprochene Gedanke plötzlich in einem neuen Lichte erscheint. Die künstlerische Wirkung beruht hier ganz auf dem Vergleich, aus dem sich auch der Schluß der Maxime fast zwangsläufig ergibt. Da die Geistererscheinungen in unserer Vorstellung in erster Linie der optischen Sphäre angehören, setzt der Autor dem »tout le monde en parle« ein »peu de gens en ont vû« entgegen. Diese Formulierung ist besonders glücklich, nicht nur, da sie syntaktisch und rhythmisch mit dem Vordersatz genau übereinstimmt, sondern vor allem, da sie es dem Leser überläßt, ob er die Geistererscheinungen und folglich auch die wahre Liebe nur als selten oder sogar als unwirklich auffassen will. So blieb La Rochefoucauld bei der Überarbeitung des Textes für die Edition von 1666 nur noch die Verdeutlichung des Begriffes amour durch das Epitheton »véritable«. Durch diese Hinzufügung wird auch zwischen den beiden Gliedern des Vergleiches ein rhythmisches Gleichgewicht hergestellt und der Begriff amour in einen scharfen Gegensatz zu allen Formen der galanterie oder coquetterie gerückt. Nach dieser Ergänzung kann kein Zweifel mehr bestehen, daß die Sentenz im Sinne der erneuerten höfischen Liebesdoktrin 46 ) verstanden werden muß und in Zusammenhang steht mit Maximen wie: »Ce qui se trouve 46) Unter der erneuerten höfischen Liebesdoktrin ist die Liebesauffassung und -lehre zu verstehen, die die Preziösen ausgehend von den Lois d'Amour in der Astrée entwickelt haben. Da diese Lehre mit der höfischen Minneauffassung des Mittelalters, wie sie von den Troubadours begründet und von Andreas Capellanus theoretisch erörtert worden ist, weitgehend übereinstimmt, scheint es berechtigt, sie als erneuerte höfische Liebesdoktrin zu bezeichnen. Auf die Ubereinstimmungen zwischen den Anschauungen der höfischen Dichter des Mittelalters und der höfischen Literatur des 17. Jahrhunderts hat schon Fidao-Justiniani in seinen Studien über La Survivance de l'esprit chevaleresque hingewiesen (vgl. Qu'est-ce qu'un classique ?, Paris 1930, S. 59—171). Die Frage, ob sich ein historischer Zusammenhang zwischen der Liebeslehre der Troubadours und der Preziösen nachweisen läßt, ist jedoch noch nicht geklärt. Es bleibt zu untersuchen, inwieweit die mittelalterliche Liebestheorie im 17. Jahrhundert bekannt gewesen ist. Dabei kann man davon ausgehen, daß die altfranzösische Dichtung im Kreise der Preziösen nicht ganz vergessen gewesen ist, wie der Traktat De la lecture des vieux romans von Chapelain oder die Vers en vieux langage von Voiture beweisen. Außerdem haben nicht nur vielgelesene französische Autoren wie Brantôme, Étienne Pasquier und Charles Sorel eine gewisse Kenntnis vermittelt (s. o. Anm. 26), sondern auch die zahlreichen italienischen Liebestraktate der Renaissance, die in Frankreich viel gelesen wurden. Man denke z. B. an das Libro de Natura de Amore von Mario Equicola aus dem Jahre 1525, in dem beschrieben wird »Como Latini et Greci Poeti, Ioculari Prouenzali, Rimanti Francesi, Dicitori Thoscani, & trouatori Spagnoli habiano loro Amante lodato, & le passioni di loro stessi descritto« (S. 187 ff.). 116

le moins dans la galanterie, c'est de l'amour« oder: »L'envie est détruite par la véritable amitié, et la coquetterie par le véritable amour«47). Wenn Schopenhauer glaubt, La Rochefoucauld habe mit dem Begriff «véritable amour« jede Form der leidenschaftlichen Liebe gemeint 48 ), so ist das ein Irrtum, der nur darauf zurückgeführt werden kann, daß seit der Romantik das Verständnis für die Liebesauffassung des 17. Jahrhunderts ganz verloren gegangen ist. Ohne die Kenntnis der höfischen Liebesdoktrin aber lassen sich La Rochefoucaulds Reflexionen über die Liebe genauso wenig interpretieren wie die Maximes d'amour von Bussy-Rabutin oder die Romane der Mlle de Scudéry und der Mme de La Fayette. Um zu verstehen, was La Rochefoucauld meint, wenn er schreibt: »II est aussi ordinaire de voir changer les goûts, qu'il est extraordinaire de voir changer les inclinations« 49 ), muß man wissen, daß den Begriffen inclination und goût in den Liebesdiskussionen des 17. und 18. Jahrhunderts eine besondere Bedeutung zukommt. Das Wort inclination, das man heute nur noch in abgeschwächtem Sinne gebraucht, wird von den Preziösen dem Bereich des amour zugeordnet. Die wahre Liebe beruht auf einer inclination50), ja der Begriff wird sogar als Synonym für amour verwandt 51 ). Der Terminus goût dagegen findet seine Anwendung nur im Bereich der galanterie. Einer Liebesbeziehung, die sich auf den goût gründet, haftet eo ipso der Charakter 47) Max. 402 (Œuvres I, S. 182). — Max. 376 (Œuvres I, S. 175). Vgl. auch Max. 349: »Le plus grand miracle de l'amour, c'est de guérir de la coquetterie« (S. 167). 48) Vgl. Die Well als Wille und Vorstellung, 4. Buch, Kap. 44: Metaphysik der Geschlechtsliebe. In diesem Abschnitt behauptet Schopenhauer, daß La Rochefoucauld gemeint habe, »es sei mit der leidenschaftlichen Liebe wie mit den Gespenstern, Alle redeten davon, aber Keiner hätte sie gesehen« (Sämtliche Werke, Bd. II, S. 606). 49) Max. 252 (Œuvres I, S. 133). 50) Schon in der Astrée heißt es: » [ . . . ] l'amour qui vient par inclination, est plus grande et plus estimable que celle qui procede du dessein ou de l'obligation« (Nouvelle édition, hrsg. von Hugues Vaganay, Bd. II, Lyon 1926, S. 72). In der Carte de Tendre von Mlle de Scudéry wird diese Unterscheidung wieder aufgenommen und abgewandelt mit den Worten: » [ . . . ] on peut auoir de la tendresse par trois causes différentes: ou par vne grande estime, ou par reconnoissance, ou par inclination«. Audi hier wird die »tendresse qui naist par inclination« am höchsten geschätzt. (Vgl. Clélie, Histoire romaine, Bd. I, Paris 1660, S. 399 f.). 51) Vgl. Littré, Dictionnaire de la Langue irançaise, Paris 1889, Bd. III, S. 54 c: Inclination, 4° Affection, amitié, amour (Zitate S. 54c—55a). 117

der Flüchtigkeit an. Crébillon der Jüngere, der bekanntlich noch im 18. Jahrhundert die höfische Liebesdoktrin weitergeführt hat52), setzt dem »amour le plus vrai« »ce mouvement vif & passager que l'on honore du nom de goût« entgegen 53 ). An diese so beliebte Unterscheidung soll sich der Leser auch bei der Sentenz über die Beständigkeit der inclination und den Wechsel des goût erinnern. Versteht man diese Anspielung nicht, so bleibt die Maxime ohne Zusammenhang mit dem Ganzen der Sammlung und ohne literarischen Reiz. Noch wichtiger als die Kenntnis dieser Terminologie ist das Wissen um die Grundeinstellung der höfischen Liebesdoktrin zu der Frage nach dem Verhältnis von Liebe und Ehe. Man muß davon ausgehen, daß wie in der von den Troubadours geschaffenen Liebeslehre des Mittelalters auch in der von den Preziösen erneuerten höfischen Doktrin des 17. Jahrhunderts Ehe und Liebe grundsätzlich unvereinbar sind54). Sonst kommt man bei einer Sentenz wie: Il y a de bons mariages, mais il n'y en a point de délicieux 55 )

zu den erstaunlichsten Fehldeutungen. Diese Maxime läßt sich nicht erklären, indem manaufLaRodiefoucauldsEhe mit Andrée de Vivonne hinweist und behauptet, der Autor habe hier die Summe aus seinen persönlichen Erfahrungen gezogen56). Auch die These, dieser Sentenz läge ein origineller Gedanke zugrunde 87 ), läßt sich nicht aufrecht 52) Vgl. H. Petriconi, >Le Sopha< von Crébillon d. J. und Kellers >SinngedichU, RF 62 (1950) S. 350—384. 53) Vgl. Le Sopha. Conte moral, Œuvres de Crébillon, Fils, Bd. IV, S. 81. 54) Zur mittelalterlichen Auffassung von Liebe und Ehe vgl. Erich Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik, Tübingen 1956, Kap. V: Verdichtung und Wandlung der Ideal-Wirklichkeitsspannung in der Liebe, bes. S. 142 ff. — Zu den Anschauungen des 17. Jahrhunderts über Liebe und Ehe vgl. Georges Mongrédien, La Vie littéraire au XVII« siècle, Paris 1947, Kap. III: La Préciosité. I. Salons et ruelles, bes. S. 205 ff. 55) Max. 113 (Œuvres I, S. 78). 56) Diese Behauptung findet sich in dem Aufsatz Les tendances philosophiques et religieuses de La Rochefoucauld von J. Roger-Charbonnel. Der Autor zitiert die 113. Maxime und bemerkt dazu: »Indifférence à l'égard de sa femme, Andrée de Vivonne de la Châtaigneraie; il lui donna 3 filles et 5 fils, mais ne lui accorda aucune tendresse« (APhCh. 146 [1903] S. 504, Anm. I). 57) Vgl. die Dissertation von Ingeborg Dehmel, La Rochefoucauld, La Bruyère, Chamfort u. Vauvenargues in ihren Maximen, Greifswald 1943, in der gerade diese Sentenz als Beispiel für die Originalität der Gedanken La Rochefoucaulds zitiert wird (S. 2).

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erhalten, denn es handelt sich um ein altes und gerade bei den Preziösen besonders beliebtes Thema, das La Rochefoucauld ganz im Sinne der literarischen Tradition behandelt hat. Die neuartige Formulierung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß in dieser Maxime nichts anderes gesagt wird als in dem mittelalterlichen Traktat De Amore von Andreas Capellanus, in dem Essay Sur des Vers de Virgile von Montaigne oder in der Liebeskasuistik der Preziösen. So wie Andreas Capellanus Marie de Champagne in dem berühmten Urteilsbrief behaupten läßt, »amorem non posse suas inter duos iugales extendere vires«58), so gibt auch Somaize in seinem Dictionnaire des Précieuses für den Begriff mariage die Definition » amour finy«59). Montaigne, dessen Essay La Rochefoucauld bestimmt gekannt hat, schreibt ganz im gleichen Sinne: Ung bon mariage, s'il en est, refuse la compaignie et conditions de l'amour60).

Zwar stellt Montaigne, der stets vor einer eindeutigen Entscheidung ausweicht, auch hier in Frage, ob es eine »gute Ehe« wirklich gibt, während La Rochefoucauld schon um der Antithese willen bestätigt: »II y a de bons mariages«. Im übrigen aber stimmen beide Aussagen überein, denn der Nachsatz: »mais il n'y en a point de délicieux« sagt nichts anderes, als daß Ehe und wahre Liebe nicht zugleich bestehen können. Das Wort »délicieux« erscheint als »le mot propre« zur Charakterisierung des »véritable amour«, der sich auf absolute Freiwilligkeit gründet und einen seltenen, gesteigerten Genuß gewährt. Der Ehe dagegen kann dieses Prädikat nicht zuerkannt werden, da sie eine dauernde, vertragsgebundene Gemeinschaft darstellt, die unter dem Gesetz der Pflicht steht, deren Erfüllung »gut«, aber niemals »délicieuse« sein kann. Was der Ehe fehlt, sind die Geheimnisse und Heimlichkeiten sowie die Hindernisse und Schwierigkeiten, deren Überwindung zur höfischen Liebe des 17. Jahrhunderts gehört wie das Bestehen der »aventure« zum mittelalterlichen Minnedienst. Ohne diese erregenden Momente kann die Liebe nicht bestehen, denn: L'amour n'est fait que de mystere, De respects, de difficultez; 58) De Amore, hrsg. von Amédée Pagès, Castello de la Plana 1930, S. 89. 59) Le Dictionnaire des Précieuses, hrsg. von Ch.-L. Livet, Paris 1856, Bd. I, S. 172. 60) Essais III/5, a.a.O. S. 824.

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L'hymen est plein d'autoritez, Peut tout, & ne daigne rien faire; Assembler l'hymen & l'amour, C'est mêler la nuit & le jour61).

Der Begriff »mystère«, der in diesen Versen von Bussy-Rabutin als erstes Attribut der Liebe genannt wird, kehrt auch bei La Rochefoucauld in der Definition des amour wieder. Worauf es ankommt, ist nicht in erster Linie der Besitz der Geliebten, sondern die Kunst der Eroberung. Die Liebe ist »[. ..] une envie cachée et délicate de posséder ce que l'on aime après beaucoup de mystères« 82 ). Neben den »difficultés« oder »obstacles« und den »mystères« oder »secrètes faveurs«, deren Bedeutung für die Liebe auch von Molière hervorgehoben wird83), gehört zur Liebe nach Auffassung der Preziösen noch ein weiteres Attribut, das der Ehe notwendig fehlt, nämlich der Reiz der Neuheit. Sowohl Mlle de Scudéry als auch La Rochefoucauld sprechen von der »grâce de la nouveauté«, die der Liebe erst ihren eigentlichen Glanz verleiht. Schon in ihrem frühen Roman Ibrahim ou l'illustre Bassa läßt Mlle de Scudéry den Marquis français fragen: & pourquoy veut-on que la grâce de la nouueauté, qui est le charme de la Nature, soit vn défaut en amour?'4)

Mit dieser Frage wird die Diskussion der Lehre vom » amour constant«, die schon in der Astrée von Honoré d'Urfé einen breiten Raum einnimmt, wieder aufgenommen. Während aber dort der Autor den Standpunkt vertritt, daß die wahre Liebe allem Wandel enthoben sein müsse, stellt sich Mlle de Scudéry auf die Seite des Marquis français, der zu bedenken gibt, daß alles menschliche Fühlen und Denken wie die Natur einem dauernden Wandel unterworfen ist: ce changement successif [ . . . ] des fleurs & des fruits qu'on voit tous les ans, se trouue aussi en nous-mesmes. Nous auons nos saisons aussi bien que l'année [. . . ]85).

In den Maximen von La Rochefoucauld wird dieses Bild vom Wechsel 61) Maximes d'Amour, a.a.O. S. 275. 62) Max. 68 (Œuvres I, S. 60). 63) »L'amour aime surtout les secrètes faveurs; Dans l'obstacle qu'on force il trouve des douceurs . ..« (zitiert nach Fidao-Justiniani, a.a.O. S. 159). 64) Bd. II, Rouen 1665, S. 54. 65) Ebda. S. 68.

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zwischen Blüte und Frucht mit dem Motiv der »grâce de la nouveauté« verbunden und abgewandelt mit den Worten: La grâce de la nouveauté est à l'amour ce que la fleur est sur les fruits: elle y donne un lustre qui s'efface aisément, et qui ne revient jamais 9 ').

Bezeichnend für La Rochefoucauld ist der melancholische Ausklang der Maxime. Einen ewigen Frühling, wie ihn die Schäferdichtung erträumt hatte, gibt es nicht. Auch der erste Glanz der Liebe, der in der poetischen Fiktion einer arkadischen Welt stets in frühlingshafter Frische erhalten bleibt, ist der Vergänglichkeit unterworfen. Die Schlußwendung »et qui ne revient jamais« trifft genau genommen auf das Bild von dem Blütenglanz, der sich erfahrungsgemäß jedes Jahr erneut, nicht mehr zu. Diese Inkongruenz aber kommt dem Leser gar nicht zum Bewußtsein, da er ganz unter dem Eindruck der Flüchtigkeit aller Erscheinungen steht. La Rochefoucauld brauchte das Motiv der Unwiederbringlichkeit, das mit der Vorstellung der Vergänglichkeit assoziiert, um den Wert der »grâce de la nouveauté« zu steigern und den melancholischen Unterton der Sentenz zu verstärken. Auf den Reiz der Neuheit kann der Liebende nach Auffassung der Preziösen nicht verzichten, und doch soll die Forderung, daß die wahre Liebe stets beständig sein müsse, aufrecht erhalten bleiben. Diesen Widerspruch sucht La Rochefoucauld zu lösen, indem er die Beständigkeit in der Liebe als eine ständige Unbeständigkeit definiert: La constance en amour est une inconstance perpétuelle, qui fait que notre cœur s'attache successivement à toutes les qualités de la personne que nous aimons, donnant tantôt la préférence à l'une, tantôt à l'autre: de sorte que cette constance n'est qu'une inconstance arrêtée et renfermée dans un même sujet 67 ).

Auf den Zusammenhang dieser Maxime mit den Ausdrucksformen der Preziösen hat schon Brunetière hingewiesen 68 ). Dem heutigen Empfinden ist nicht nur die bis zum Paradox gesteigerte Antithetik fremd, sondern auch der auf künstlichen Abstraktionen beruhende Gedankengang. Für uns ist die Liebe eine Leidenschaft, die sich auf den ganzen Menschen richtet, und die Vorstellung, daß der Liebende nacheinander den verschiedenen Eigenschaften der Geliebten den Vorzug geben solle, erscheint uns als psychologisch unmöglich. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts aber dachte man anders. Auch Pascal stellt die Frage: 66) Max. 274 (Œuvres I, S. 144 f.). 67) Max. 175 (Œuvres I, S. 101). 68) Histoire de la Littérature française

classique,

Bd. II, 4 Paris 1926, S. 377.

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» [ . . . ] comment aimer le corps ou l'âme, sinon pour ces qualités, qui ne sont point ce qui fait le moi, puisqu'elles sont périssables?«

Und

er kommt zu dem Ergebnis: » O n n'aime donc jamais personne, mais seulement des qualités« 6 9 ). Diese T h e o r i e liegt auch der M a x i m e La Rochefoucaulds zugrunde und ermöglicht es dem Autor, » l a constance en amour« mit einer »inconstance arrêtée et renfermée dans un même s u j e t « gleichzusetzen.

Es handelt sich dabei um ein ganz ähnliches

Paradox w i e bei dem M o t t o der Sammlung: » N o s vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisés.« In beiden Fällen w i r d die V e r einigung des Unvereinbaren nur vorgetäuscht, denn der Widerspruch liegt nicht in der Sache selbst, d. h. im W e s e n der menschlichen Tugend oder im W e s e n der Liebe begründet, sondern in dem Gegensatz v o n Sein und Schein.

Hierin unterscheiden sich — w i e H u g o Friedrich

überzeugend nachgewiesen hat70) — die Paradoxa La Rochefoucaulds grundsätzlich v o n denen Pascals, bei dem die Widersprüche sich nicht mehr auflösen lassen, da sie in der Denkform des Autors selbst ihre Ursache haben. Pascal w i l l beweisen, daß jeder Mensch ein Paradox, eine V e r e i n i g u n g des Unvereinbaren, darstellt, La Rochefoucauld dag e g e n kommt es nur auf das geistreiche Spiel mit den Begriffen an, bei dem sich die v i e l gerühmte constance

durch einen geschickten

Wechsel des Blickpunktes auch als ihr Gegenteil erweisen läßt. W e n n die Sentenzen über die » g r â c e de la n o u v e a u t é « und die »constance Astrée

en amour« bereits mit den Liebesdiskussionen

in

der

in Zusammenhang gebracht wurden, so nur deshalb, w e i l dieses

W e r k , aus dem die Preziösen die entscheidenden A n r e g u n g e n für ihre »questions d'amour« entnommen haben, auch für die M a x i m e n La Rochefoucaulds v o n großer Bedeutung g e w e s e n ist. In der Forschung hat man bisher nur auf den Gegensatz zwischen der idealisierenden, 69) Pensées Fr. 323 (Œuvres XIII, S. 241 f.). — Der gleiche Gedanke findet sich in abgewandelter Form noch in den Contes moraux von Marmontel. Der Held der ersten Erzählung, Alcibiade, der um seiner selbst willen geliebt sein möchte, wird von dem Philosophen über die Unmöglichkeit seiner Forderung belehrt mit den Worten: »Je voudrois bien savoir quel est ce moi que vous voulez qu'on aime en vous? La naissance, la fortune & la gloire, la jeunesse, les talens & la beauté ne sont que des accidens. Rien de tout cela n'est vous, & c'est tout cela qui vous rend aimable. Le moi qui réunit ces agrémens, n'est en vous que le canevas de la tapisserie; la broderie en fait le prix. En aimant en vous tous ces dons, on les confond avec vous-même« (Bd. I, Leipzig 1791, S. 32 f.). 70) Vgl. Pascals Paradox. Das Sprachbiid einer Denkiorm, ZRPh. 56 (1936) S. 322—370, bes. S. 335 ff. 122

stark von platonischen Elementen bestimmten Liebesdoktrin Honoré d'Urfés und den psychologisierenden Réflexions ou Sentences hingewiesen; die Frage aber, warum La Rochefoucauld gerade die Astrée mit ihrer verwickelten, von Wiederholungen und Digressionen erfüllten Handlung so hoch geschätzt und immer wieder gelesen hat71), ist noch unbeantwortet geblieben. Zur Erklärung dieser zunächst befremdenden Tatsache läßt sich anführen, daß Honore d'Urfé nicht nur e i n e Liebesdoktrin propagiert, sondern die zahlreichen Gestalten seines Romans verschiedene Standpunkte vertreten läßt, wobei auch die Gegner seiner eigenen Lehre scharfsinnige Argumente vorbringen, die La Rochefoucauld für seine Maximen verwenden konnte. Wie das teils durch einfache Übernahme, teils durch künstlerische Umgestaltung geschehen ist, kann an einzelnen Beispielen gezeigt werden. Im achten Buch des ersten Teiles der Astrée findet sich die Behauptung »que pour se faire aimer, il ne faut guiere aimer«72). Diese These, die von dem Vertreter der inconstance verteidigt wird und zu dem Gesetz des vollkommenen Liebhabers in scharfem Widerspruch steht, hat La Rochefoucauld aufgenommen in der Maxime: »N'aymer guere en amour est un moyen asseuré pour estre aymé«73). Von einer künstlerischen Umgestaltung kann bei dieser Sentenz nicht die Rede sein, denn einen Beweis seiner höchst anfechtbaren Behauptung bleibt der Autor dem Leser schuldig. Bussy-Rabutin hatte in seinem Almanach d'Amoui für das Jahr 1663 die entgegengesetzte These vertreten. Er schrieb: Si vous voulez rendre sensible Quelque objet qui vous ait charmé, Pourueu que dans le cœur il n'ait rien d'imprimé, La recepte en est infaillible, Aimez, & vous serez aimé74).

Wollte La Rochefoucauld zeigen, daß auch dieser Grundsatz, der schon in der Antike in der Form: »si uis amari, ama« allgemeine Geltung hatte 75 ), nicht die ganze Wahrheit enthält, sondern daß in gewissem 71) In den Longueruana heißt es: »M. de la Rochefoucaut a été toute sa vie fidèle aux Romans. Tous les après midi il s'assembloit avec Ségrais chez Madame de la Fayette, & on y faisoit une lecture de l'Astrée« (a.a.O., I. Partie, S. 105). 72) Bd. I, S. 289. (Zitiert wird nach der von Hugues Vaganay besorgten Neuausgabe in fünf Bänden, Lyon 1925—28.) 73) Edition von 1665, Max. 302, S. 115. 74) Recueil de pièces en prose (Recueil Sercy), Bd. II, Paris 1662, S. 306. 75) Vgl. Seneca, Ad Lucilium 9/4. 123

Sinne gerade das Gegenteil richtig ist, so hätte er für seine Antithese Argumente anführen müssen. Die Befolgung des Rezeptes: »Prenez le contrepied d'une opinion commune, et affirmez hardiment« genügt nicht. Das scheint La Rochefoucauld selbst empfunden zu haben, denn er hat diese Sentenz in die späteren Editionen seines Werkes nicht mehr aufgenommen. Stärker ist die künstlerische Umgestaltung bei der Maxime: »L'amour est à l'âme de celui qui aime ce que l'âme est au corps qu'elle anime«70). Der Gedanke, der in dieser Sentenz in die Form einer Proportion gekleidet ist, findet sich schon im Vorwort zum dritten Teil der Astrée. Dort heißt es: Aymer que nos vieux et tres-sages peres disoient Amer, qu'est-ce autre chose qu'abreger le mot d'animer, c'est à dire, faire la propre action de l'ame. Aussi les plus sçavans ont dit, il y a long-temps, qu'elle vit plustost dans le corps qu'elle ayme, que dans celuy qu'elle anime77).

Der Zusammenhang zwischen diesem Text und der Maxime ist unverkennbar, obgleich La Rochefoucauld die Vorstellung, daß die Seele des Liebenden im Körper des Geliebten lebe78), die dem Gedanken in der Astrée die entscheidende Steigerung verleiht, nicht übernommen hat. Beide Autoren bringen das Wort »aimer« mit »animer« in Verbindung und vergleichen das Lieben mit der belebenden Funktion der Seele 79 ). Für Honoré d'Urfé ist dieser Gedanke sehr bezeichnend, im Werk La Rochefoucaulds dagegen finden sich keinerlei Parallelen. So ist es nicht verwunderlich, daß auch diese Maxime später vom Autor gestrichen wurde, denn die Tendenz La Rochefoucaulds ging immer 76) Edition von 1665, Max. 77, S. 115. 77) Bd. III, S. 7. 78) Dieses Motiv, das sich schon in der mittelalterlichen höfischen Dichtung findet, z. B. in Chrestiens Lancelot, V. 3988—3998 (vgl. E. Köhler, a.a.O. S. 165), ist auch in der preziösen Literatur häufig abgewandelt worden, man denke nur an das Gedicht Stances von Voiture, das beginnt: »Ce soir, que vous ayant seulette rencontrée« (Les Œuvres de Monsieur de Voiture, Paris 1686, Bd. II, Poésies, S. 16 f.). 79) Die Reflexion La Rochefoucaulds kehrt fast im gleichen Wortlaut auch in der 79. Maxime der Mme de Sablé wieder. Es heißt dort: » [ . . . ] et il semble véritablement que l'Amour est à l'ame de celuy qui aime ce que l'ame est au corps de celuy qu'elle anime« (a.a.O. S. 45 f.). Veröffentlicht wurde die Maxime der Mme de Sablé erst posthum im Jahre 1678. Da die genaue Entstehungszeit unbekannt ist, bleibt auch die Möglichkeit, daß La Rochefoucauld die Reflexion von der Marquise übernommen hat. In diesem Fall könnte die Astrée nur als indirekte Quelle gedient haben.

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mehr dahin, die Zahl der Themen zu beschränken und seinem Werk durch Wiederholung und Variation der gleichen Motive Einheit zu verleihen. Die Bedeutung der Astrée für die Réflexions ou Sentences ist aber nicht nur in der ersten Edition des Werkes zu spüren, sondern läßt sich auch in der Ausgabe letzter Hand nachweisen. So findet sich in dem kleinen Band Les très véritables Maximes de Messire Honoré d'Urfé, in dem Hugues Vaganay 172 sentenzartige Formulierungen aus der Astrée zusammengestellt hat80), die Bemerkung: Mal-aysément peut-on soupçonner en autruy un deffaut duquel on est entièrement exempt61).

Diese Reflexion, der die gleiche psychologische Betrachtungsweise zugrundeliegt wie den meisten Sentenzen La Rochefoucaulds, konnte zum Vorbild werden für die 31. Maxime der endgültigen Sammlung, die lautet: Si nous n'avions point de défauts, nous ne prendrions pas tant de plaisir à en remarquer dans les autres82)

Der Roman d'Urfés enthält eine ganze Fülle solcher psychologischer Bemerkungen, die den Moralisten als Anregung dienen konnten. Im siebenten Buch des ersten Teiles heißt es z. B.: »qu'une amour ne se peut bastir, que de la ruine d'une precedente« 83 ). Dieser Gedanke vom Untergang einer Liebe, der die Voraussetzung bildet für das Entstehen einer neuen, kehrt wieder in der 10. Maxime La Rochefoucaulds, die von der Entstehung der Leidenschaften handelt und endet mit den Worten: »que la ruine de l'une est presque toujours l'établissement d'une autre« 84 ). — Auch die für La Rochefoucauld so bezeichnende Rüdeführung des menschlichen Handelns auf geheime egoistische Motive hat ihr Vorbild schon in der Astrée. Der Autor spricht an ver80) Der Band erschien bei H. Lardanchet, Lyon 1913. In dem Vorwort von Louis Mercier heißt es: »Ces maximes, qui n'ont été écrites pour telles, qui ne sont que ,des réflexions venues à l'occasion du récit, ne sauraient être comparées, un instant, aux Maximes de La Rochefoucauld [ . . . ] « (S. XIII). Dieses Urteil ist sicherlich richtig im Hinblick auf die künstlerische Qualität der Maximen, nicht aber im Hinblick auf die literarhistorische Entwicklung, die nur auf Grund eines solchen Vergleiches richtig verstanden werden kann. 81) Ebda. S. 27. 82) Œuvres I, S. 43. 83) LAstrée Bd. I, S. 268. 84) Œuvres I, S. 34. 125

sdiiedenen Stellen seines W e r k e s von der Eigenliebe 8 5 ), obgleich dieses Motiv in einem Schäferroman höchst ungewöhnlich ist. Die A b w e i s u n g von Anerkennung und Lob führt er zurück auf ein »vouloir donner occasion d'estre loué davantage« 8 6 ). D a r a u s wird bei L a Rochefoucauld: »Le refus des louanges est un désir d'être loué deux fois« 8 7 ). Selbst der Nachweis der egoistischen Motive in der Liebe fehlt bei Honoré d'Urfé nicht. Wenn es in den Maximes heißt: »Si on croit aimer s a maîtresse pour amour d'elle, on est bien trompé« 8 8 ), so ist das keine n e u e Einsicht L a Rochefoucaulds, sondern bereits das Ergebnis der Diskussion zwischen Amilcar und Aleandre im vierten Teil der Astiée. Es heißt dort, daß selbst wenn der Liebende bereit ist, alle Opfer für die Geliebte zu bringen, er dennoch in persönlichem Interesse handelt: » [ . . . ] c'est comme l'avare aime l'or, c'est à dire pour nostre interest particulier, q u o y que l'excez de nostre passion nous f a s s e j u g e r au commencement tout le contraire« 8 8 ). A u s dem Gesagten ergibt sich, daß die meisten der » m a x i m e s d'amour« La Rochefoucaulds als eine Fortführung der Liebesdiskussionen in den Romanen d'Urfés und der Scudéry aufgefaßt werden können. Nur unter diesem Gesichtspunkt lassen sich die vielen, zum Teil einander widersprechenden Thesen, die in den Réflexions ou Sentences vereinigt sind, in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. Die verschiedenen Anschauungen, die in den Romanen von mehreren Personen vertreten werden, kommen hier in den verschiedenen Sentenzen zum Ausdruck, in denen die gleichen Themen abgewandelt und in vielfältigen Variationen neben- oder gegeneinander gestellt werden. Wie bei den Maximes d'Amour von Bussy-Rabutin handelt es sich um die Wiederaufnahme altbekannter »questions galantes«, die La Rochefoucauld meistens im Sinne der höfischen Liebesdoktrin, zuweilen aber auch v o m Standpunkt ihrer Gegner beantwortet. Der Einfluß der preziösen Literatur zeigt sich nicht nur in der Thematik, sondern auch in der Wahl der Bilder und Metaphern. Selbst 85) So heißt es z. B. im dritten Band S. 657: » [ . . . ] l'amour de nousmesmes est tellement naturel en nous que rien ne nous peut obliger davantage en quelque aage que nous soyons, que la bonne estime que l'on fait de nous.« 86) Bd. IV, S. 272. Vgl. auch M. Magendie, Du Nouveau sur V >AstréeCaractèresM.< möchte ich hier ganz kurz als eine objektivierte, distanzierte (pädagogisch-optimistische) L e b e n s r e g e l oder (resigniert-pessimistische) L e b e n s w e i s h e i t bezeichnen (Stil mild pointiert, harmonisch, ruhig), den >Aph.< hingegen als einen bewußt subjektiven, einmaligen, witzig-ernsten E i n f a l l , oft mit überraschender, spielerischer, unvermutet tiefer Verknüpfung (Stil scharf pointiert, disharmonisch, unruhig).« 104) Bd. I, S. 118. 105) Max. 78 (Œuvres I, S. 64). 154

Das Neuartige an den Maximen Chamforts besteht vor allem in der Durchdringung dieser Kunstform mit Witz, Sarkasmus und Ironie, die sich bisweilen bis zum Zynismus steigern können. Auch die neuartigen literarischen Mittel, die Chamfort in den Maximes et Pensées, Caractères et Anecdotes angewandt hat, stehen im Dienste dieser witzigen, ironischen oder zynischen Betrachtungsweise. Das gilt insbesondere für die zahlreichen drastischen Ausdrücke und die krassen Bilder, die La Rochefoucauld, für den die Regeln der bienséance eine absolute Gültigkeit hatten, niemals verwandt haben würde. Man braucht nur die Definition des Begriffes amour bei beiden Autoren einander gegenüberzustellen, um den Unterschied in der Auffassung und Gestaltung des gleichen Themas deutlich hervortreten zu lassen. La Rochefoucauld schreibt noch ganz im Geiste der Preziösen: Il est difficile de définir l'amour: ce qu'on en peut dire est que, dans l'âme, c'est une passion de régner; dans les esprits, c'est une sympathie; et dans le corps, ce n'est qu'une envie cachée et délicate de posséder ce que l'on aime après beaucoup de mystères 106 ).

Bei Chamfort dagegen fallen alle Geheimnisse fort und wird in schonungsloser Kürze gesagt: L'amour, tel qu'il existe dans la Société, n'est que l'échange de deux fantaisies & le contact de deux épidermes107).

Bezeichnend für den Moralisten des 18. Jahrhunderts ist die Einschränkung »tel qu'il existe dans la Société«. Ganz ähnlich heißt es auch in der Maxime über die Ehe: Le Mariage, tel qu'il se pratique chez les Grands, est une indécence convenue 108 ).

Nicht dem Begriff der Liebe oder der Ehe selbst gilt die sarkastische Analyse, sondern dem Verhalten der Gesellschaft. So wie ein Jahrhundert vor ihm La Bruyère kritisiert auch Chamfort die Sitten seiner Zeit. Nur geht er in der Schärfe seiner Kritik noch weit über den Autor der Caractères hinaus. Auch La Bruyère hatte über die Eitelkeit der Bürger gespottet, aber eine so drastische und zynische Bemerkung wie: Les bourgeois, par une vanité ridicule, font de leurs filles un fumier pour les terres des gens de qualité109) 106) 107) 108) 109)

Max. 68 Bd. I., S. Bd. I, S. Bd. I, S.

(Œuvres I, S. 59 f.). 185. 192. 142. 155

findet sich bei ihm nicht. Ähnlich verhält es sich mit der Kritik am Hof, am Adel und an der Geistlichkeit. Wohl spottet der Autor der Caractères immer wieder über den »directeur« oder den »orateur« und scheut auch als gläubiger Christ vor einer Kritik an der Geistlichkeit in keiner Weise zurück, aber diese Kritik schlägt niemals in Witz und Sarkasmus um wie in der folgenden Formulierung Chamforts: Il semble que, d'après les idées reçues dans le monde & la décence sociale, il faut qu'un Prêtre, un Curé croie un peu pour n'être pas hypocrite, ne soit pas sûr de son fait pour n'être pas intolérant. Le Grand Vicaire peut sourire à un propos contre la Religion, l'Évêque rire tout-à-fait, le Cardinal y joindre son mot110).

Zu dieser für Chamfort so bezeichnenden ironischen Betrachtungsund Ausdrucksweise gehören auch die vielen literarischen und mythologischen Anspielungen sowie die zahlreichen Zitate, die er in seinen Maximen entweder in einem überraschenden Zusammenhang oder in witzig abgeänderter Form anführt. In den früheren Maximensammlungen des 17. und 18. Jahrhunderts gibt es eine solche Verwendung von Anspielungen und zum Teil sogar fremdsprachlichen Zitaten noch nicht. Chamfort aber pflegt auf diese Weise an die Belesenheit und Bildung der Leser zu appellieren. Nur derjenige, der Paradise Lost kennt, wird die Maxime: Les hommes deviennent petits en se rassemblant: ce sont les diables de Milton, obligés de se rendre Pygmées, pour entrer dans le Pandœmonion111)

richtig zu schätzen wissen; und nur derjenige, dem die Geschichte von Castor und Pollux gegenwärtig ist, versteht auch die Reflexion: La concorde des frères est si rare que la fable ne cite que deux frères amis, & elle suppose qu'ils ne se voyaient jamais, puisqu'ils passaient tour à tour de la terre aux Champs-ÊIisées, ce qui ne laissait pas d'éloigner tout sujet de dispute & de rupture111).

Ein Autor wie La Rochefoucauld hätte solche Beispiele aus der Literatur oder Mythologie nie verwandt, nicht nur, weil er wie alle Angehörigen des hohen Adels keine humanistische Bildung genossen hatte, sondern auch, weil ein »honnête homme« es vermeidet, ein spezielles Wissen zu zeigen oder beim Leser vorauszusetzen, da man ihm das als Pedanterie auslegen könnte. Das einzige Mal, wo La 110) Bd. I, S. 88 f. 111) Bd. I, S. 100. 112) Bd. I, S. 121. 156

Rochefoucauld ein literarisches Zitat angeführt hat, nämlich in der in einer Handschrift überlieferten Reflexion: Dieu seul fait les gens de bien, et on peut dire de toutes nos vertus ce qu'un poëte a dit de l'honnêteté des femmes: . . . Esser onesta Non è, se non un' arte di parer' onesta113),

hat er diesen Satz Guarinis aus dem Pastor Udo schon vor der ersten Edition der Maximes in ein indirektes Zitat verwandelt 114 ) und ein Jahr später bei den Umarbeitungen für die zweite Edition die ganze Maxime gestrichen. Chamfort dagegen verheimlicht sein Wissen in keiner Weise, sondern zeigt eine besondere Vorliebe für Zitate, die er so geschickt anzuwenden weiß, daß er damit ganz neuartige Wirkungen erzielt. In der Maxime: L'espérance n'est qu'un Charlatan qui nous trompe sans cesse; &, pour moi, le bonheur n'a commencé que lorsque je l'ai perdue. Je mettrais volontiers sur la porte du Paradis le vers que le Dante a mis sur celle de l'Enfer: Lasciate ogni Speranza, voi ch'entrate115)

ist es ihm gelungen, durch die Umwertung des Begriffes espérance auch die Bedeutung des berühmten Wortes aus der Divina Commedia in das Gegenteil zu verkehren, so daß die wörtlich übernommene Inschrift des Höllentores hier den Zugang zum Glück verheißt. — Ganz so weit geht Chamfort in der Umwertung der Zitate jedoch meistens nicht. In der Regel beschränkt er sich darauf, ein Zitat in witziger Weise auf einen ganz andersartigen Gegenstand zu beziehen. So schreibt er in dem Kapitel Des Savans et des Gens de Lettres: Je dirais volontiers des Métaphysiciens ce que Scaliger disait des Basques: »On dit qu'ils s'entendent, mais je n'en crois rien«119).

Das beste Beispiel für die Zitatänderungen Chamforts findet sich jedoch nicht in den Maximes et Pensées, sondern in der Notice sur la Vie de Chamfort von seinem Freunde Ginguené. Dort wird berichtet, daß der Moralist, der anfangs für die Französische Revolution eingetreten war, beim Anblick der Schreckensherrschaft derer, die die 113) Zitiert in der Anm. zu Max. 605 (Œuvres I, S. 257). 114) In der Ausgabe von 1665 heißt es: »On peut dire de toutes nos vertus ce qu'un Poëte Italien a dit de l'honnesteté des femmes, que ce n'est souvent autre chose qu'un art de paroistre honneste« (Max. 176, S. 77). 115) Bd. I, S. 108; s. o. Kap. IV, S. 69. 116) Bd. I, S. 199. 157

Menschenrechte proklamiert hatten, ihren Wahlspruch: »Fraternité ou la mort« wiedergab mit den Worten: »Sois mon frère ou je te tue« 117 ). Eine so geistreiche und zugleich sarkastische Umdeutung hätte kaum ein anderer finden können als Chamfort, der seine Art, die Welt zu betrachten, selbst zusammengefaßt hat in der Maxime: »La meilleure Philosophie, relativement au monde, est d'allier, à son égard, le sarcasme de la gaîté avec l'indulgence du mépris« 118 ). Diese Philosophie allein aber vermag die Abwandlung der Kunstform der Maxime im Werk Chamforts noch nicht zu erklären. Um die Wandlung dieser Form zu verstehen, muß man vielmehr von der Verbindung zwischen Maximen und Anekdoten ausgehen, die Chamfort als erster vollzogen hat. Erst der Zusammenhang mit den Anekdoten läßt erkennen, aus welcher literarischen Tradition die neuartigen Züge in den Maximen Chamforts stammen. Beim Erzählen der Anekdote, die als literarische Form den Fazetien der Renaissance verwandt ist 1 1 '), kommt es darauf an, ein Bonmot oder eine andere Pointe geschickt vorzubringen, »in der Anwendung von Zitaten im Widerspruch zur Absicht des Autors zu glänzen« oder durch drastische Ausdrücke und »das harmlose Reden vom Anstößigen« eine witzige Wirkung zu erzielen. Wenn also im Werk Chamforts zwischen Maxime und Bonmot keine feste Grenze mehr gezogen werden kann, wenn der Autor witzig abgeänderte oder umgewertete Zitate anführt und drastische Bilder und Vergleiche wählt, so lassen sich alle diese Züge auf die Verbindung der Maxime mit der Anekdote zurückführen. Viele der Sentenzen Chamforts sind sogar aus Anekdoten hervorgegangen. So liegt z. B. der oben zitierten Maxime: »Les bourgeois, par une vanité ridicule, font de leurs filles un fumier pour les terres des gens de qualité« eine Anekdote über die Heirat zwischen dem Marquis de Grignan, dem Enkel der Mme de Sévigné, und Mlle de Saint-Amant, der Tochter eines reichen Steuerpächters, zugrunde. Saint-Simon berichtet nämlich in seinen Memoiren, daß Mme de Grignan, als sie ihre Schwiegertochter in der Gesellschaft vorstellte, »en faisoit ses excuses, et, avec ses minauderies en radoucissant ses petits yeux, 117) Œuvres

de Chamfort, Recueillies

et publiées

par un de ses

Amis,

Bd. I, S. LIV. 118) Bd. I, S. 91. 119) Zur Theorie der Fazetien vgl. Walter Pabst, Novellentheorie und Novellendichtung.

Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen

Litera-

turen, a.a.O. bes. S. 81 f. (Dieser Darstellung sind auch die folgenden Zitate entnommen.) 158

disoit qu'il falloit bien de temps en temps du fumier sur les meilleures terres«120). In einzelnen Fällen hat Chamfort auch eine von ihm selbst aufgezeichnete Anekdote noch einmal in einer sentenzartigen Formulierung zusammengefaßt121) oder das gleiche Thema sowohl in den Maximes et Pensées als auch in den Caractères et Anecdotes behandelt, so daß — ähnlich wie bei den Sentenzen und Porträts von La Bruyère — die Anekdoten als eine Veranschaulichung der Maximen, oder die Maximen als allgemeingültige Folgerungen aus den Anekdoten betrachtet werden können.

120) Saint-Simon, Mémoires, hrsg. von Gonzague Truc, Bibliothèque de la Pléiade, Bd. II, Paris 1948, S. 395. Auf diese literarische Quelle Chamforts hat schon Pierre Grosclaude in seinen Anmerkungen zu den Maximes et Pensées hingewiesen (vgl. Bd. II, S. 276). 121) So ist die Sentenz: » [ . . . ] le grand monde est un mauvais lieu que l'on avoue« (Bd. II, S. 75) eine Zusammenfassung der Anekdote, die beginnt mit den Worten: »M. .. prétend que le monde le plus choisi est entièrement conforme à la description qui lui fut faite d'un mauvais lieu, par une jeune personne qui y logeait [ . . . ] « (Bd. II, S. 145). 159

IX »Conte moral«, Porträt und Maxime Crébillon d. J. als Nachfolger La Rochefoucaulds und La Bruyères Voltaire schreibt in seiner Würdigung der Maximes von La Rochefoucauld: »C'est moins un livre que des matériaux pour orner un livre« 1 ). Dieses Urteil läßt sich im Hinblick auf das Werk La Rochefoucaulds, das mehr als jede spätere Maximensammlung eine künstlerische Einheit bildet, nidit aufrecht erhalten. Dennoch ist dieses Wort aufschlußreich, denn es weist darauf hin, daß es möglich ist, Maximen im Sinne La Rochefoucaulds als Schmuck der Darstellung, als »matériaux pour orner un livre«, in einen größeren Zusammenhang hineinzustellen. Das beste Beispiel für diese neuartige Verwendung der Kunstform der Maxime sind die Romane und Erzählungen von Crébillon d. J., in denen sich eine Fülle von moralistisdien Reflexionen und allgemeingültigen Sentenzen finden2). Die Helden der Werke Crébillons haben eine besondere Vorliebe für das »parier morale« 3 ), 1) Le Siècle de Louis XIV, in Œuvres complètes, Bd. 21, S. 253. 2) Besonders stark treten diese moralistisdien Züge hervor in den Werken Le Sylphe (1729/30), Les Égarements du Cœur et de ¡'Esprit (1736), Le Sopha (1741) und Le Hasard du Coin du Feu (1763). — Da es keine kritische Gesamtausgabe der Werke Crébillons gibt, wird zitiert nach der Collection complète des Œuvres de M. de Crébillon, Fils, die 1777, im Todesjahr des Autors, in London erschienen ist. 3) Schon in der frühen Erzählung Le Sylphe kann der Luftgeist, der die Liebe der Comtesse gewinnen will, seiner Neigung zu allgemeinen moralistisdien Reflexionen nicht widerstehen. Er unterbricht sich selbst mit den Worten: »Un Sylphe amoureux, parier morale! en bonne foi me pardonnerezvous d'avoir si mal employé mon temps?« (Œuvres I, S. 16). — In der berühmten Rahmenerzählung Le Sopha stellt der Erzähler Amanzéi durch seinen Hang zum Moralisieren die Geduld seines Herren Schah-Baham mehr als einmal auf eine harte Probe. Gleich im ersten Kapitel wendet der Sultan ein: »Mahomet me pardonne, si ce n'est pas de la morale que ce que vous venez de me dire« (Œuvres IV, S. 13). Der Aufforderung, alle allgemeinen Reflexionen beiseite zu lassen, aber kann der Erzähler nicht nachkommen, denn der Reiz dieses Conte moral besteht gerade in der Antinomie zwischen der heiter-galanten Erzählung und dem moralistischen Kommentar. — In der

160

ja der Autor verleiht ihnen die Fähigkeit, ihre Gedanken in kurzen, aphoristischen Formulierungen zusammenzufassen. Diese knappen und pointierten Äußerungen bilden den Höhepunkt der Gespräche und stehen zu dem komplizierten, zuweilen sogar schwerfälligen Stil der Erzählungen in wirkungsvollem Gegensatz. An manchen Stellen nimmt der Verfasser oder der Erzähler, der ihn vertritt, selbst zu dem Verhalten seiner Helden Stellung und gibt seinem Kommentar durch allgemeine, meist antithetisch zugespitzte Reflexionen einen besonderen Nachdruck. Im Mittelpunkt dieser moralistischen Erörterungen steht die Diskussion der höfischen Liebesdoktrin, die schon in dem Werk La Rochefoucaulds einen sehr wichtigen Platz einnimmt. So wie die »máximes d'amour« des 17. Jahrhunderts in dem schäferlichen und heroisch-galanten Roman ihre Wurzel haben, so gehen sie hier, nachdem die Kunstform voll ausgebildet und vielfach variiert worden ist, wieder in den höfischen Roman und die Erzählkunst des 18. Jahrhunderts ein. Dabei gewinnt die Maxime andere Ausdrucksmöglichkeiten und eine neue literarische Funktion. In der Maximensammlung muß jede Sentenz ihre künstlerische Wirkung ganz aus sich selbst entwickeln. Wohl kann der Autor durch die vorangehenden und die folgenden Reflexionen die Bedeutung der Aussage erweitern, einschränken oder abwandeln, nie aber kann der Grundton der einzelnen Maxime durch die Stellung in der Sammlung verändert werden. Anders in der Erzählung. Hier vermag der Autor der Sentenz einen ganz neuen Klang zu verleihen, indem er sie einer bestimmten Person in den Mund legt oder sie in Beziehung setzt zu einer gegebenen Situation. Für die Wirkung der Maxime ist es durchaus nicht gleichgültig, durch wen und bei welcher Gelegenheit sie vorgebracht wird. Schon durch eine Inkongruenz zwischen dem Charakter des Sprechenden und dem Wesen der Aussage oder zwischen der allgemeinen Reflexion und der besonderen Situation, auf die sie bezogen wird, kann die Sentenz einen ironischen oder satirischen Unterton erhalten. Mit diesem Gewinn an Möglichkeiten der Differenzierung im Ausdruck ist aber auch ein Verlust verbunden. Durch die Eingliederung in eine Erzählung oder in ein Gespräch werden die Deutungsmöglichkeiten späten Dialogerzählung Le Hasard du Coin du Feu tritt schließlich die Tendenz zu moralistisdien Erörterungen ganz in den Vordergrund. Die Personen sind nur noch Vertreter verschiedener Anschauungen, und die Handlung verliert immer mehr an Bedeutung. Worum es geht, ist die Diskussion einiger »questions d'amour«; es handelt sich, wie schon der Untertitel sagt, um einen Dialogue moral.

161 11 Kruse, Maxime

der Maxime eingeschränkt. Die Kunstform verliert etwas von dem besonderen Reiz der für sich stehenden Sentenz, die mehr Assoziationen zu wecken vermag, da ihre Bedeutung durch keinerlei Beziehungen auf bestimmte Charaktere oder Situationen festgelegt ist. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß die Maximen im Werk Crébillons sich nur im Hinblick auf die Erzählungen, denen sie angehören, interpretieren ließen. Eine gewisse Eigenständigkeit ist das »sine qua non« dieser Kunstform, und so kann man auch die Sentenzen Crébillons aus dem Zusammenhang herauslösen und zunächst ohne Rücksicht auf ihre literarische Funktion aus sich heraus deuten. Mit Redit schreibt Aldous Huxley: »It would be possible to compile out of the works of Crébillon a whole collection of [...] aphorisms« 4 ). Eine solche Sammlung von Aphorismen, die den Vergleich mit dem Werk La Rochefoucaulds und La Bruyères erleichtern könnte, ist bisher noch ni dit zusammengestellt worden. Auch hat sich die Forschung noch nie mit der Frage beschäftigt, ob ein literarischer oder ein geistesgeschichtlicher Zusammenhang zwischen den Werken Crébillons und der französischen Moralistik des 17. Jahrhunderts besteht. Diese Frage scheint naheliegend zu sein, da auch die Kunstform des »caractère«, die La Bruyère mit den aphoristischen Formen verbunden hatte, von Crébillon wieder aufgenommen worden ist. Alle formalen Parallelen aber mußten unbeachtet bleiben, solange der moralistische Grundzug in den Werken Crébillons nicht erkannt worden war. Zu einer Zeit, da dieser Autor ganz allgemein für unmoralisch gehalten wurde, da seine Erzählungen mit der bürgerlichen Liebesmoral in keiner Weise übereinstimmen und noch dazu in einem heiter-galanten Ton geschrieben sind, mußte der Vergleich mit einem ernsthaften Moralisten als abwegig erscheinen 5 ). Auch die Kritiker, die die Werke Crébillons nur 4) Crébillon the Younger, in The Olive Tree and other Essays (1936), London 1947, S. 145. 5) Noch um die Jahrhundertwende war diese Einstellung, die seit der Romantik in der Crébillon-Kritik vorherrschend g e w e s e n ist, weit verbreitet. Das zeigt z. B. der Abschnitt: Le conte licencieux de Crébillon fils von Paul Morillot in der von Petit de Julleville herausgegebenen Histoire de la Langue et de la Littérature française, Bd. IV, Paris 1898, S. 477—480. Hier werden die moralistischen und moralisierenden Reflexionen Crébillons als eine »hypocrisie de style qui jure avec l'obscénité du fond« abgetan (S. 479). — Ähnlich urteilt auch André Le Breton in Le Roman au XVIIIe siècle, Paris 1898, S. 82—89. Er schreibt: »Mettre de l'esprit dans la volupté, ç'a été l'art du XVIII e siècle, et Crébillon fils y excelle. Son libertinage impertinent et souriant, fait d'audace piquante, d'indécence bien apprise, dit tout sans un méchant mot, et, sans montrer rien, laisse tout deviner« (S. 88). 2

162

als ein Abbild der Rokoko-Gesellschaft betrachteten 6 ) und in dem Autor nicht mehr als einen » amuseur« sehen wollten 7 ), konnten die moralistischen Züge in seinen Erzählungen nicht berücksichtigen. Aus dem neunzehnten Jahrhundert ist uns nur eine Studie bekannt, in der auf die Maximen im Werk Crébillons hingewiesen wird, und zwar die umfangreiche Notice bio-bibliographique zu den Contes dialogués de Crébillon Fils von Octave Uzanne aus dem Jahre 1879. In diesem Vorwort heißt es: »En tirant du fatras de ses œuvres complètes les maximes délicates qui s'y trouvent enfouies, on arriverait, non sans étonnement, à constituer un bagage de moraliste très digne de la postérité« 8 ). Diese Bemerkung, die Uzanne durch die Auswahl von elf Aphorismen aus dem Werk Crébillons veranschaulicht, ist bezeichnenderweise ganz unbeachtet geblieben. Es dauerte mehr als ein halbes Jahrhundert, bis Aldous Huxley in seinem Essay Crébillon the Younger den gleichen Gedanken erneut zum Ausdruck brachte und auf die Bedeutung der »aphorisms« und »character-sketches« in den Erzählungen Crébillons hinwies, ohne jedoch das Werk La Rochefoucaulds oder La Bruyères als Vorbild anzuführen 9 ). Erst nachdem in zwei Studien aus dem letzten Jahrzehnt gezeigt worden ist, daß Crébillon von der strengen höfischen Liebesdoktrin des 17. Jahrhunderts ausgeht10) und nicht nur unterhalten, sondern ein sittliches Ideal zur Dar6) Das gilt für Alfred Nöckler, der in seiner Dissertation: Crébillon der Jüngere, Leben und Werke, Leipzig 1912, die literarische hinter der kulturgeschichtlichen Bedeutung Crébillons zurücktreten läßt. Es heißt in dieser Arbeit: »In der Hauptsache stellen Crébillons Schriften eine Copie und zugleich Satire der Sittenverderbnis unter der Regierung Ludwigs XV. dar« (S. 112). 7) Man denke an Emile Henriot, der in seinen Studien Les Livres du second Rayon, 'Paris 1926, über Crébillon schreibt: »Ce n'est, au fond, qu'un amuseur« (S. 184). 8) Petits Conteurs du XVIIle siècle, Bd. IV, S. LXXVII f. 9) A.a.O. S. 135—149. •— Für Huxley ist Crébillon der bezeichnendste Vertreter des »dix-huitième«. Der englische Schriftsteller und Kritiker erkennt wohl den Gegensatz zwischen dem Autor des Sopha und einem modernen Romancier, aber er sieht nicht die Verbindung mit dem 17. Jahrhundert. 10) Vgl. Hellmuth Petriconi, >Le Sopha< von Crébillon D. J. und Kellers >SinngedichtCaractères< de La Bruyère von Jean Hankiss entnommen. (Vgl. Nph. XXXVII [1952] S. 73.) 87) Ebda. 88) Vgl. Œuvres III, S. 27. — Motivische Parallelen zu dieser Gegenüberstellung des Verhaltens der jungen und der alternden Frau finden sidi bei La Bruyère im 43. Abschnitt des Kapitels Des Femmes. Hier wird das Verhalten der Frauen in der Jugend, »autrefois«, wirkungsvoll kontrastiert mit ihrer Handlungsweise, wenn sie jenes »certain âge« erreichen und zu »femmes dévotes« werden. (Vgl. La Bruyère, Œuvres II, S. 95 f.) 185

der gleichen Person vor und nach einem bestimmten Ereignis miteinander konfrontiert wird, finden sich auch in den Caractères**). Mit Recht sagt Paquot-Pierret von La Bruyère: »II présente plus volontiers le contraste sous forme de deux tableaux distincts mais symétriques, chaque trait du premier tableau trouvant son correspondant dans le second«90). Der künstlerischen Wirkung des Kontrastes bedienen sich La Bruyère und Crébillon nicht nur bei der Gegenüberstellung verschiedener Charaktere oder Porträts, sondern auch innerhalb der Kunstform der Maxime. In den Sentenzen, die sich mit dem Wesen und dem Verhalten der Frau beschäftigen, zeigt sich dieser »recours aux contrastes« vor allem darin, daß beide Autoren der weiblichen Eigenart die des Mannes entgegenstellen. Durch den antithetischen Bau der Sentenzen wird der Gegensatz besonders hervorgehoben. La Bruyère schreibt: Les femmes s'attachent aux hommes par les faveurs qu'elles leur accordent: les hommes guérissent par ces mêmes faveurs91),

oder: Un homme éclate contre une femme qui ne l'aime plus, et se console! une femme fait moins de bruit quand elle est quittée, et demeure longtemps inconsolable 92 );

und bei Crébillon heißt es: [ . . . ] dans une femme, les préjugés aident la vertu, mais dans un homme ils la corrompent93),

oder: Il est aisé à un homme de résister à l'amour, & tout y livre les femmes94).

Aus dem Zusammenhang herausgelöst fehlt den Sentenzen Crébillons die literarische Pointe, so daß bei einem Vergleich jeder den Maximen La Bruyères, die psychologisch einleuchtender und kunstvoller formu89) Man denke an das Doppelporträt des reichen Giton und des armen P h é d o n in d e m Kapitel Des Biens de Fortune 83 (Œuvres

II, S. 184 ff.) und

an das Porträt der Arfure, das den 16. Abschnitt des gleichen Kapitels bildet und auch aus zwei einander entsprechenden, gegensätzlichen Bildern zusammengesetzt ist (Œuvres II, S. 162). — Man vergleiche auch die Interpretation des Porträts der Arfure von Helmut Hatzfeld in Initiation à ¡'explication

de textes français, München 1957, S. 55—61.

90) A.a.O. S. 18. 91) Des Femmes 16 (Œuvres II, S. 87). 92) Des Femmes 70 (Œuvres II, S. 103). 93) Le Sopha Kap. VIII, Œuvres IV, S. 87.

94) Ebda.

186

liert sind, den Vorzug geben wird. Betrachtet man die Reflexionen dagegen im Zusammenhang des Werkes, dem sie entnommen sind, so muß man sein Urteil ändern, denn in den Caractères gewinnen die beiden Maximen La Bruyères durch die Verbindung mit den vorangehenden oder folgenden Abschnitten, in denen der Gegensatz zwischen dem Verhalten der Frauen und der Männer weiter ausgeführt wird95), nicht an Bedeutung, während die Sentenzen Crébillons im Rahmen der fünften Erzählung des Sopha eine ganz neue literarische Funktion erhalten. Sie finden sich dort in einem Dialog zwischen Almaïde und Moclès, jenem frommen und tugendhaften Liebespaar, dem unvermerkt die moralisierenden Gespräche zum Verhängnis werden. Mit besonderer Kunst zeigt Crébillon, wie sich »die ersten verhüllten Komplimente in ihre moraltheologische Diskussion schleichen, indem jedes darauf besteht, daß das Geschlecht des anderen weit mehr der Versuchung ausgesetzt sei als das eigene«98). Während in den ersten Geschichten des Sopha nur der Erzähler die Handlung durch moralistische Reflexionen kommentiert, wird hier das »parier morale« von den Liebenden selbst aufgenommen 97 ), wobei der Gegensatz zwischen der heiter-galanten Handlung und den ernsten moralisierenden Betrachtungen seinen Höhepunkt erreicht. In diesem Zusammenhang gewinnen die zitierten Maximen einen ganz neuen Klang. Almaïde sagt, gleichsam als Abwehr gegen das Lob, das Moclès ihrer Tugend gespendet hat: Pour moi [. . . ] il n'est pas bien singulier que j'aie été sage: dans une femme, les préjugés aident la vertu, mais dans un homme ils la corrompent. C'est une espece de sottise à vous de n'être pas galants, en nous c'est un vice de l'être [ . . . ] ,

und Moclès entgegnet auf die Worte der Hochschätzung, mit denen sie sein Verhalten rühmt, in aller Bescheidenheit: Il est aisé à un homme de résister à l'amour, & tout y livre les femmes. Si ce n'est pas la tendresse qui les y porte, ce sont les sens. Au défaut de ces deux mouvements qui causent tous les jours tant de désordres, elles ont la vanité [ . . . ]98).

Durch den Charakter der Sprechenden und die Situation, in der die Maximen vorgebracht werden, rückt Crébillon sie bewußt in ein 95) Vgl. Des Femmes 14, 55, 66, 67 (Œuvres II, S. 86, 101, 102). 96) H. Petriconi, a.a.O. S. 359. 97) Der Erzähler leitet das Gespräch zwischen den beiden ein mit den Worten: »Je n'étois pas fâché d'entendre parler morale« (Œuvres IV, S. 84 f.). 98) Le Sopha Kap. VIII, Œuvres IV, S. 87. 187

ironisches Licht. Die Pointe besteht darin, daß M o c l è s und A l m a ï d e gerade durch die moralischen und moralisierenden Gespräche

ihre

Tugenden einbüßen. A l l ihre guten M a x i m e n w i e z. B.: Il est moins humiliant d'être tenté, qu'il n'est glorieux de résister à la tentation"), oder: Ce que l'on appelle sagesse [ . . . ] consiste beaucoup moins à n'être pas tenté, qu'à savoir triompher de la tentation100), oder: [. . . ] l'on ne craint jamais assez un danger que l'on ne connoît pas, & l'on ne tombe ordinairement, que pour avoir trop compté sur soimême101) bringen sie nur immer mehr in Gefahr. Der A u s g a n g der Geschichte mit dem unvermeidlichen Sündenfall der Liebenden bestätigt die Behauptung des Sultans Schah-Baham, » q u e rien n'est moins salutaire que la morale« 1 0 2 ). W o l l t e man jedoch aus diesem literarischen Kunstgriff dem A u t o r einen V o r w u r f machen und seinen Conte

moral

für

unmoralisch erklären, so w ä r e das genauso a b w e g i g w i e die Verurteilung der N o v e l l e n La Fontaines, in denen der Dichter durch das ironische Spiel mit dem Widerspruch zwischen der Erzählung und dem moralisierenden Rahmen eine ähnliche W i r k u n g erzielt 103 ). Liegt der besondere Reiz der M a x i m e n La Rochefoucaulds in dem melancholischen Unterton, der nicht durch die A u s w a h l der M o t i v e , sondern durch die Form der stilistischen Gestaltung

hervorgerufen

wird, so beruht das N e u a r t i g e der Reflexionen Crébillons auf dem ironischen Klang, den die Sentenzen durch ihre literarische Funktion innerhalb der Erzählung gewinnen 104 ). Motivisch stehen sie zum großen 99) Ebda. S. 91. 100) Ebda. S. 92. 101) Ebda. S. 95. 102) Ebda. S. 85. 103) Vgl. Walter Pabst, La Fontaines ironisches Spiel mit der Antinomie, in Novellentheorie und Novellendichtung. Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen, a.a.O. S. 203—230. 104) Man denke auch an die Reflexion: »Si l'on vouloit considérer de sang-froid, combien de choses s'arment contre la vertu d'une femme, on seroit plus étonné de ce qu'elle peut se défendre quelque temps, qu'on n'est ordinairement scandalisé de la promptitude avec laquelle, quelquefois, elle paroît céder la victoire« (Œuvres IX, S. 186 f.). Diese Bemerkung erhält in dem Dialog Le Hasard du Coin du Feu einen stark ironischen Unterton, da sie dem Duc de Clerval in den Mund gelegt wird, der sie auf das Verhalten der 188

Teil noch in der Tradition der Preziösen. Die Zahl der Themen ist so begrenzt und die Variation der moralistischen Gedanken so gering, daß der Leser bei der Lektüre ermüdet, soweit nicht durch das kunstvolle Neben- und Ineinander von rokokohafter galanter Erzählung und strenger moralistischer Reflexion sein Interesse immer neu geweckt wird. Schon aus diesem Grunde ist die Rahmenerzählung Le Sopha als das Meisterwerk Crébillons zu betrachten. In den Egarements du Cœur et de l'Esprit fehlt der Darstellung die heitere und graziöse Leichtigkeit, in dem Roman L'Ecumoire vermißt der Leser die geistvollen moralistischen Reflexionen, in dem >Conte moral< Le Sopha aber ist das ironische Spiel mit dem Gegensatz zwischen der Erzählung und dem Kommentar oder zwischen den Maximen der Helden und ihrem Verhalten auf unübertreffliche Weise gelungen. Mit Recht hat Lord Chesterfield, der in seinen berühmten Letters to his Son mehrmals zu der Lektüre der Maximes La Rochefoucaulds und der Caractères La Bruyères rät105), auch auf das Werk Crébillons hingewiesen. In dem Brief vom 21. April 1751 heißt es: »Do you know Crébillon le fils ? He is a fine painter, and a pleasing writer,- his characters are admirable and his reflections just«106).

nur zu leicht verführbaren Célie bezieht, die ihrerseits die Ironie gar nicht bemerkt, sondern antwortet: »Ce que vous dites-là est bien vrai! Mais ce n'est pas moins une réflexion, que les hommes [ . . . ] ne se présentent guere« (ebda.). 105) Vgl. die Briefe vom 5. September 1748 und vom 6. Juni 1751 in Lord Chesterfield's Letters to his Son and Others, Introduction by R. K. Root (Everyman's Library 823) London/New York 1957, S. 64 f. und S. 235 f. 106) Ebda. S. 228. 189

DIE AUFLÖSUNG DER KUNSTFORM DER M A X I M E

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Die Wandlung der Maxime zum Bonmot und zur romantischen »Pensée» Crébillon der Jüngere ist der erste und der einzige Autor des 18. Jahrhunderts gewesen, der die Maxime in die Erzählkunst aufgenommen und ihr innerhalb eines größeren Werkes eine neue literarische Funktion gegeben hat. Vor ihm hatte nur Marivaux in seine in der Ich-Form geschriebenen Romane einen moralistischen Kommentar eingefügt, in dem die Begebenheiten, die der Held vom Blickpunkt des »personnage agissant« erzählt, von eben diesem Helden aus der Perspektive des »personnage spectateur« betrachtet werden1). In bezug auf die Verbindung von Erzählung und Kommentar scheint der Roman La Vie de Marianne, der zwischen 1731 und 1741 (also kurz vor der Rahmenerzählung Le Sopha) geschrieben worden ist, Crébillon sogar als Vorbild gedient zu haben. So wie in dem Conte moral Crébillons der Sultan immer wieder den Erzähler auffordert, seine unnötigen Reflexionen für sich zu behalten, so wendet sich schon in La Vie de Marianne die Heldin an den Leser mit den Worten: »Je suis insupportable avec mes réflexions, vous le savez bien.« Und sie fügt hinzu: »Souffrez donc encore celle-ci, qui n'est qu'une petite suite de l'autre; après quoi je vous assure que je n'en ferai plus; ou, si par hasard il m'en échappe quelqu'une, je vous promets qu'elle n'aura pas plus de trois lignes, et j'aurai soin de les compter«2). Dieses Versprechen erfüllt Marianne genauso wenig wie Amanzéi seine Zusage an den Sultan, auf alle moralisierenden Reflexionen zu verzichten. Hätte die Heldin den zweiten Teil ihres Versprechens erfüllt und ihre moralischen Betrachtungen in kurzen Formulierungen von nicht mehr als drei Zeilen zusammengefaßt, so hätte sie wohl die Form der Maxime wählen müssen, und man hätte schon hier von einer neu1) Vgl. Jean Rousset, Marivaux et la structure du double registre, StFr. I (1957) S. 58—68, bes. S. 62. 2) Marivaux, Romans, hrsg. von Marcel Arland, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1949, S. 253. 193 13 Kruse, Maxime

artigen Verwendung dieser Kunstform sprechen können. Das ist aber nicht der Fall. Selbst wenn sich einmal eine kürzere Reflexion in dem Roman findet, die sich aus dem Zusammenhang herauslösen läßt, wie z. B. die Bemerkung: On croit souvent avoir la conscience délicate, non pas à cause des sacrifices qu'on lui fait, mais à cause de la peine qu'on prend avec elle pour s'exempter de lui en faire3),

so ist der Gedankengang zu umständlich und die sprachliche Gestaltung nicht konzis genug, als daß eine solche Bemerkung als Maxime bezeichnet werden könnte. Wohl hat Marivaux seinen Romanen durch die geistvollen Reflexionen, in denen die Helden die erzählten Begebenheiten psychologisch ausdeuten und beurteilen, einen moralistischen Zug verliehen; er hat darüber hinaus durch die ironische oder parodistische Verwendung der Form des literarischen Porträts 4 ) die ironische Verwendung der Maxime im Werk Crébillons vorbereitet, ein Nachfolger La Rochefoucaulds oder ein Erneuerer der von ihm geschaffenen literarischen Form aber ist er nicht gewesen. Ähnliches gilt für Marmontel, der in seinen Contes moraux aus den Jahren 1755—17655) nochmals eine Neugestaltung der traditionellen moralistischen Themen versucht hat. Auch Marmontel steht mehr unter dem Einfluß von La Bruyère — auf den er sich schon in der Pré/ace zu seinen Contes moraux bezieht — als in der Nachfolge La Rochefoucaulds. Er hat nicht die Form der Maxime in seinen Erzählungen abgewandelt, sondern einer psychologischen Erkenntnis oder einer moralischen Reflexion, die in den Maximensammlungen ohne lehrhafte Absicht in kurzer und pointierter Form vorgebracht wird, eine didaktische Wendung gegeben und sie dann durch eine in der Einkleidung den Crébillonschen Erzählungen ähnliche Beispielgeschichte veranschaulicht. In der Erzählung Alcibiade z. B. wird der Gedanke, den La Rochefoucauld ausspricht in der Maxime: »II n'y a point de passion 3) Ebda. S. 128. 4) Die ironische Absicht kommt schon in den kritisch-distanzierten oder scherzhaften Bemerkungen zum Ausdruck, mit denen Marivaux diese Porträts einzuleiten oder abzuschließen pflegt. Außerdem zeigen die vielen Anspielungen auf das je ne sais quoi, auf den Gegensatz von esprit und cœur usw., daß es sich um eine parodistische Wiederaufnahme der Porträtkunst des 17. Jahrhunderts handelt. 5) Ein Teil der Erzählungen wurde zunächst einzeln vom September 1755 bis Dezember 1759 im Mercure veröffentlicht. Die erste Sammlung unter dem Titel Contes moraux erschien 1761 und die endgültige Edition 1765.

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où l'amour de soi-même règne si puissamment quedans l'amour[.. .]«6), dahingehend abgewandelt, daß es ein widersinniges Begehren ist, um seiner selbst willen geliebt werden zu wollen. Der Philosoph belehrt den Helden: »[...] il en est de l'amour & de l'amitié comme de tous les mouvemens de l'âme: ce n'est jamais que son bien qu'elle cherche; & si du vôtre elle fait le sien, vous devez être fort content d'elle«7). — In der kunstvollen Erzählung Heureusement, in der Marmontel das Motiv der »honnêteté des femmes« aufnimmt, das La Rochefoucauld gestaltet hatte in der Maxime: »La plupart des honnêtes femmes sont des trésors cadiés, qui ne sont en sûreté que parce qu'on ne les cherche pas«8), tritt die moralisierende Tendenz hinter der graziösen Darstellung zurück, aber bei genauerer Betrachtung liegt auch hier eine lehrhafte Absicht zugrunde. Der Autor will nicht nur zeigen »à quoi tient le plus souvent la vertu d'une honnête femme«, sondern er will dem Leser gleichzeitig deutlich machen, »combien sa faiblesse doit la rendre indulgente pour les fautes mêmes qu'elle a su éviter«9). — Die Erzählung Soliman II. enthält sogar eine deutliche Anspielung auf eine Maxime Pascals. Da die Geschichte mit der Frage Solimans endet: »Est-il possible qu'un petit nez retroussé renverse les loix d'un Empire?«10) kann nicht daran gezweifelt werden, daß Marmontel an den berühmten Satz: »Le nez de Cléopâtre: s'il eût été plus court, toute la face de la terre aurait changé«11) gedacht hat und den Gedanken, der dieser Sentenz zugrundeliegt, durch seinen »conte moral« hat veranschaulichen wollen. Eine solche Umwandlung der Maxime aber gehört nicht mehr zu unserem Thema. Obgleich die französische Erzählkunst des 18. Jahrhunderts zu einem großen Teil »psychologisierend-moralistische Exemplanovellistik« ist12), hat wie gesagt nur Crébillon d. J. unmittelbar auf das Werk La Rochefoucaulds zurückgegriffen und die Form der Maxime in seinen Erzählungen und Dialogen auf wirkungsvolle und zugleich 6) Max. 262 (Œuvres I, S. 138). 7) Contes moraux et pièces choisies de M. Marmontel, Bd. I, Leipzig 1791, S. 33. 8) Max. 368 (Œuvres I, S. 173). 9) Préface zu den Contes moraux, a.a.O. S. V. 10) Ebda. S. 56. 11) Pensées Fr. 162 (Œuvres XIII, S. 83). 12) Vgl. Walter Pabst, Novellentheorie und Novellendichtung, a.a.O. S. 233.

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unauffällige Weise erneuert. Unauffällig sind die Maximen bei Crébillon schon dadurch, daß sie direkt in die Gesprädie oder in die Erörterungen über das Handeln der Helden eingefügt werden und im Druckbild gar nicht als solche hervortreten. Einzelne Reflexionen oder Gruppen von Maximen, die in einen Roman oder eine Erzählung eingeschoben wären, so wie in Goethes Wahlverwandtschaften sechs Aphorismenreihen Aus Ottiliens Tagebuch eingefügt sind, oder Sammlungen von Maximen und Reflexionen, die einem Roman zugeordnet wären wie die Betrachtungen im Sinne der Wanderer und die Sammlung Aus Makariens Archiv dem zweiten und dritten Buch von Wilhelm Meisters Wander jähren13), gibt es weder in dem Werk von Crébillon noch in einem anderen bekannten französischen Roman. Diese Tatsache ist verwunderlich, nicht nur, weil die Maxime in Frankreich eine sehr viel beliebtere und verbreitetere literarische Form gewesen ist als der Aphorismus in Deutschland, sondern vor allem, da so berühmte Romanschriftsteller wie Stendhal und Balzac in ihre theoretischen Werke sehr wohl einzelne Maximen, Fragmente und Aphorismenreihen aufgenommen haben. In dem Buch De l'Amour von Stendhal aus dem Jahre 1822 ist ein längerer Abschnitt mit dem Titel Fragments divers eingeschoben, und in der analytischen Studie Physiologie du Mariage von Balzac aus dem Jahre 1829 finden sich sowohl Sentenzenreihen als auch einzelne eingestreute Reflexionen, die der Autor als »aphorismes«, »maximes« oder »axiomes« bezeichnet. Bei Stendhal besteht nur ein lockerer Zusammenhang zwischen der Abhandlung De l'Amour und den Fragments divers. »J'ai réuni sous ce titre, que j'aurais voulu rendre encore plus modeste«, schreibt der Autor, »un choix fait sans trop de sévérité parmi trois ou quatre cents cartes á jouer sur lesquelles j ai trouvé des lignes tracées au crayon« 14 ). Zum Teil sind es auch nur mit Bleistift beschriebene Zettel verschiedener Größe, die Lisio Visconti, von dem angeblich diese Aufzeichnungen stammen15), 13) Zum A u f b a u der Goetheschen Sammlungen und zu ihrer literarischen Funktion innerhalb der Romane vgl. Wilhelm Flitner, Aus Makariens Archiv. Ein Beispiel Goethescher Spruchkomposition, in Goethe-Kalender auf das Jahr 1943, hrsg. vom Frankfurter Goethe-Museum, 36. Jg., Leipzig 1942, S. 116—174. 14) De l'Amour,

hrsg. von Henri Martineau, Paris 1927, Bd. II, S. 176.

15) Lisio Visconti ist einer der Decknamen, unter denen Stendhal seine eigenen Erlebnisse und Aufzeichnungen mitteilt. Die Entstehung der Fragments divers wird hier ganz ähnlich geschildert, wie Stendhal an anderer Stelle den Ursprung des ganzen Buches De l'Amour dargestellt hat. In einer Notiz des Autors heißt es nämlich, »que les premiers linéaments du livre

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mit Wachs an die Karten angeheftet hat, um die Mühe des Abschreibens zu sparen. »II m'a dit une fois«, fügt der Autor hinzu, »que rien de ce qu'il notait ne lui semblait une heure après valoir la peine d'être recopié« 16 ). Bei diesen Fragments divers Lisio Viscontis, die Stendhal nur als flüchtige Notizen betrachtet wissen will, handelt es sich zum großen Teil — wie bei Goethes Reflexionen Aus Ottiliens Tagebuch und der Sammlung Aus Makariens Archiv — um Lesefrüchte, Randbemerkungen und Zitate, die den verschiedensten Werken entnommen sind. Neben Fragmenten aus Briefen, Tagebüchern und Memoiren finden sich auch Maximen im Sinne der französischen Moralisten, wie z. B.: L'amour tel qu'il est dans la haute société, c'est l'amour des combats, c'est l'amour du jeu17),

oder: En amour, quand on divise de l'argent, on augmente l'amour; quand on en donne, on tue l'amour18),

oder: L'amour est la seule passion qui se paye d'une monnaie qu'elle fabrique elle-même 19 ).

An einer Stelle wird sogar eine Maxime La Rochefoucaulds zitiert und durch einen Nachsatz ergänzt: En amour on doute souvent de ce qu'on croit le plus (la R. 355). Dans toute autre passion l'on ne doute plus de ce qu'on s'est une fois prouvé20).

Diese einzelnen Maximen sind jedoch nicht mehr als ein Zeichen dafür, daß Stendhal sich noch den Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts verpflichtet fühlte. In der Formulierung sind sie in keiner Weise originell und auch kompositorisch im Ganzen des Werkes nicht notwendig wie die scharf formulierten Grundsätze und die witzigen Definitionen, die Balzac unter den Titeln Aphorismes, Catéchisme furent tracés à la hâte sur des chiffons de papier et des cartes à jouer, dans les salons et à la promenade, du 27 décembre 1819 au 3 juin 1820.« (Vgl. das Vorwort zu dem Werk De l'Amour von dem Herausgeber Henri Martineau, a.a.O. Bd. I, S. X.) 16) Ebda. Bd. II, S. 176. 17) Fr. 7 (Bd. II, S. 178). 18) Fr. 78 (Bd. II, S. 205). 19) Fr. 145 (Bd. II, S. 261). 20) Fr. 25 (Bd. II, S. 185). Stendhal zitiert die Sentenz La Rochefoucaulds ungenau. Es handelt sich um die Maxime 348: »Quand on aime, on doute souvent de ce qu'on croit le plus« (Œuvres I, S. 167).

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conjugal, Observations minotauriques und Derniers axiomes in die Physiologie du Mariage eingefügt hat. Diese analytische Studie ist wie die Physiologie du Goût von Brillat-Savarin, auf die Balzac selbst in der Einleitung zu seinem Werk als Vorbild hinweist, in dreißig Meditationen eingeteilt, denen der Autor zum Teil Definitionen oder Axiome voranstellt oder deren Ergebnis er in einzelnen Grundsätzen und Maximen zusammenfaßt. Außerdem veranschaulicht der Autor die theoretischen Untersuchungen durch Anekdoten und Beispielgeschichten. »La matière était si grave«, heißt es in der Einleitung, »qu'il a constamment essayé de l'anecdoter, puisque aujourd'hui les anecdotes sont le passeport de toute morale et l'antinarcotique de tous les livres« 21 ). Die literarische Funktion der Maximen besteht darin, dem Werk der äußeren Form nach einen wissenschaftlichen Charakter zu geben. Schon die Überschrift Aphorismes, die hier ganz wörtlich »Definitionen« bedeutet, und die Bezeichnung axiomes, die sonst nur im Bereich der Geometrie, Arithmetik und Logik verwandt wird, sollen an eine exakte, mathematisch-naturwissenschaftliche Untersuchung erinnern. Gleichzeitig aber sucht der Autor, durch die witzige Formulierung dieser Aphorismen und Axiome die strenge Form aufzulösen und die alten moralistischen Themen zu parodieren. Das zeigt sich besonders deutlich in der III. Meditation, die De la Femme honnête überschrieben ist. Diesem Thema, das die Moralisten von La Rochefoucauld bis zu Crébillon und Marmontel immer wieder behandelt hatten, gibt Balzac eine neue Wendung, indem er dreizehn Definitionen aufstellt, in denen festgelegt wird, wer als »honnête femme« zu bezeichnen ist und wer nicht. Einzelne dieser Aphorismes erinnern noch an die Gesellschaftskritik La Bruyères und Chamforts. So könnte der VI. Aphorismus: Quand un homme a gagné vingt mille livres de rente, sa femme est une femme honnête, quel que soit le genre de commerce auquel il a dû sa fortune22)

auch in dem Kapitel Des Biens de Fortune in La Bruyères Caractères stehen, und der XII. Aphorismus: Une femme honnête est celle que l'on craint de compromettre 23 )

würde als witzige Definition sehr gut in das Kapitel Des Femmes, de l'Amour, du Mariage et de la Galanterie in Chamforts Maximes et 21) La Comédie humaine, hrsg. von Marcel Bouteron, Bibliothèque de la Pléiade, Bd. X, Paris 1950, S. 602. 22) A.a.O. S. 622. 23) Ebda. S. 623.

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Pensées passen. In den meisten dieser Grundsätze aber hat Balzac die Grenze von der Maxime zum Bonmot überschritten. Der IX. Aphorismus: Une femme logée au troisième étage (les rues de Rivoli et Castiglione exceptées) n'est pas une femme honnête24), und die folgende Definition: La femme d'un banquier est toujours une femme honnête; mais une femme assise dans un comptoir ne peut l'être qu'autant que son mari fait un commerce très étendu et qu'elle ne loge pas au-dessus de sa boutique25) sind nicht mehr moralistische Reflexionen, sondern nur noch eine amüsante Parodie auf die sozialen Vorurteile. Der einzige unter den französischen Moralisten, auf den sich Balzac ausdrücklich und mehrmals beruft, ist Chamfort. In der Meditation De la Femme vertueuse findet sich die Bemerkung: L'adultère est une faillite, à cette différence près, dit Chamfort, que c'est celui à qui l'on fait banqueroute qui est déshonoré29), bei der es sich um ein ungenaues Zitat aus den Maximes et Pensées handelt 2 '); in der Meditation Des premiers Symptômes steht die These: »Plus on juge, moins on aime« 28 ), die Chamfort der Rousseauschen Anschauung »plus on pense, moins on sente« entgegengestellt hatte2®), und in den Observations minotauriques zitiert Balzac unter Berufung auf seine Quelle ein Bonmot der Duchesse de Chaulnes aus den Caractères et Anecdotes3"). Diese Vorliebe für das Werk Chamforts erklärt sich zunächst daraus, daß der Autor der Physiologie du Mariage hier bereits ein Vorbild für die Verbindung von Maximen und Anekdoten gefunden hatte. Darüber hinaus verdankte Balzac den Maximes 24) Ebda. S. 622. 25) Ebda. 26) Aph. XXV, a.a.O. S. 638. 27) Vgl. Bd. I, S. 195, wo es heißt: »L'Amour est un commerce orageux qui finit toujours par une banqueroute; & c'est la personne à qui on fait banqueroute qui est déshonorée.« 28) Aph. LX, a.a.O. S. 682. 29) Vgl. Bd. I, S. 119: »II n'est pas vrai (ce qu'a dit Rousseau après Plutarque) que plus on pense, moins on sente; mais il est vrai que plus on juge, moins on aime. Peu d'hommes vous mettent dans le cas de faire exception à cette règle.« 30) Vgl. Observation XV, a.a.O. S. 876, und Chamforts Anekdote a.a.O. Bd. II, S. 94. 199

et Pensées, Caractères et Anecdotes die entscheidenden Anregungen für seine sarkastischen Definitionen und Bonmots. Die Wandlung der Maxime in den witzigen Aphorismus, die in der Physiologie du Mariage bis zur Auflösung der Kunstform der Maxime führt, bahnt sich in dem Werk Chamforts bereits an. Schon in den Maximes et Pensées wird die Grenze zwischen der literarisch geformten Sentenz und dem improvisierten Bonmot aufgelöst, schon bei Chamfort dringen Witz, Sarkasmus und Ironie so weitgehend in die Maximensammlung ein, daß der Leser zweifelt, ob der Autor die traditionellen Themen der Moralistik noch ernst nimmt oder nicht. Balzac geht nur einen Schritt weiter als der Moralist des 18. Jahrhunderts: bei ihm fehlt der unmittelbare literarhistorische Zusammenhang mit dem Werk La Rochefoucaulds, die witzig-ironische Darstellung schlägt in eine Parodie um, und die Kunstform der Maxime löst sich in scherzhaften Definitionen auf. Mit dem Werk Chamforts beginnt die Auflösung der Kunstform der Maxime jedoch nicht nur, weil hier die Verbindung mit der Anekdote und dem Bonmot einsetzt, die sich in der wenige Jahre später entstandenen Sammlung Maximes et Pensées, Anecdotes et Bons Mots von Antoine de Rivarol wiederfindet, oder weil hier der Witz und Zynismus eine formprägende Bedeutung gewinnen wie in den frühen Fragmenten Friedrich Schlegels31), sondern auch, weil in diesem Werk die für die Maxime so bezeichnende Tendenz zur Verallgemeinerung zurücktritt und in vielen Fällen die unpersönliche Form der moralistischen Reflexion durch in der Ich-Form abgefaßte Betrachtungen ersetzt wird. La Rochefoucauld spricht in seinen Maximes nicht ein einziges Mal im eigenen Namen, sondern wählt stets eine verallgemeinernde Form der Aussage. Chamfort dagegen mischt persönliche Notizen und sogar ein Selbstporträt unter seine Maximes et Pensées32). Mit diesem Hervortreten der Person des Autors bahnt sich eine Entwicklung an, 31) Man vergleiche die Kritischen Fragmente, die 1797 im Lyceum der Schönen Künste erschienen sind, und die Fragmente, die der Autor 1798 in der Zeitschrift Athenäum veröffentlicht hat (in Friedrich Schlegel, 1794—1802. Seine prosaischen Jugendschriften, hrsg. von J. Minor, Bd. II, Wien 21906, S. 183—288). Zu der Frage des Einflusses Chamforts auf Schlegel vgl. Alice Rühle-Gerstel, Friedrich Schlegel und Chamfort, Euph. 24 (1922) S. 809—860. 32) Diese persönliche Form der Darstellung findet sich besonders häufig im fünften, Pensées morales übersdiriebenen Kapitel des Werkes. Dort ist auch das Selbstporträt eingeordnet, das beginnt mit der Feststellung: »Ma vie entière est un tissu de contrastes apparens avec mes principes« (a.a.O. Bd. I, S. 177 f.).

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die bis zur völligen Auflösung der Maxime im »journal intime« des 19. Jahrhunderts geführt hat. Schon einzelne der Reflexionen Chamforts fallen sowohl thematisch als auch formal aus dem Rahmen der Maximenliteratur heraus und könnten als Tagebuchaufzeichnungen eines Romantikers gelten"). Sdion in diesen Reflexionen wird der Gedanke nicht mehr in einer auf die Gesellschaft bezogenen Pointe zusammengefaßt, sondern in einem lyrischen Bild aufgelöst wie so häufig in den Pensées von Joseph Joubert, die mit einem Abschnitt L'auteur peint par lui-même beginnen' 4 ), oder in den Pensées von Sainte-Beuve, die der Autor selbst als »pensées familières« bezeichnet hat"). Weder die Pensées Jouberts, die wie die Sammlungen Chamforts und Rivarols erst aus dem Nachlaß zusammengestellt und ediert worden sind36), noch die Pensées Sainte-Beuves, die der Autor in kleineren Sammlungen in verschiedenen Bänden seiner Porträts veröffentlicht hat"), gehören zur Maximenliteratur im eigentlichen Sinne. Das Urteil Sainte-Beuves: »Nul livre [...] ne couronnerait mieux que celui de M. Joubert cette série française, ouverte aux Maximes de La Rochefoucauld, continuée par Pascal, La Bruyère, Vauvenargues [.. .]«'8) trifft nicht zu, da die Reflexionen Jouberts, die der Form nach noch an die Maximen des 17. und 18. Jahrhunderts erinnern, literarisch ohne Bedeutung sind. Die künstlerische Wirkung des Werkes beruht nicht auf der Klarheit und Schärfe der Formulierung wie bei den klassischen 33) So z. B. die Bemerkung: »Lorsque mon cœur a besoin d'attendrissement, je me rappelle la perte des amis que je n'ai plus, des femmes que la mort m'a ravies; j'habite leur cercueil, j'envoie mon ame errer autour des leurs. Hélas! je possède trois tombeaux« (ebda. S. 176). 34) Vgl. Pensées de J. Joubert, Édition complète, Paris 1928, S. 1—10. In der v o n Chateaubriand zusammengestellten ersten Ausgabe der Pensées von Joubert bildet dieser Abschnitt den Abschluß des Werkes (s. die von Victor Giraud herausgegebene Reproduction de l'édition originale in der Ausgabe »Pour la Société des Médecins bibliophiles« 1930, S. 271—276). 35) Vgl. Sainte-Beuve, Portraits littéraires, Nouvelle édition, Bd. III, Paris 1878, S. 540, und Portraits contemporains, Nouvelle édition, Bd. V, Paris 1889, S. 456. 36) Uber die verschiedenen Editionen berichtet Fritz Schalk in der Einleitung zu Die französischen Moralisten. Neue Folge, Sammlung Dieterich Bd. 45, Wiesbaden 1952, S. XLI f. 37) Nähere Angaben finden sich in der Einleitung zu Sainte-Beuve, Mes Poisons, Cahiers intimes inédits, hrsg. von Victor Giraud, Paris 1926, S. V—X. 38) Portraits littéraires, Nouvelle édition, Bd. II, Paris 1882, S. 325.

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Moralisten, sondern auf der Vieldeutigkeit der Worte und Bilder, auf dem, was Joubert die »incertitudes qui plaisent« nennt 39 ), oder auf der Unmittelbarkeit des Gefühlsausdrucks, auf dem »enthousiasme [. ..] dans les mots«, von dem er sagt, »c'est lui qui fait ce qu'on appelle le charme«40). Enger als bei den Pensées Jouberts ist der literarhistorische Zusammenhang mit den Maximes La Rochefoucaulds bei den »pensées« von Sainte-Beuve, der sich als Kritiker immer wieder mit dem Werk der Moralisten des 17. Jahrhunderts beschäftigt hat41). In seinem La Rochefoucauld-Porträt aus dem Jahre 1840 sagt Sainte-Beuve ausdrücklich, daß die wiederholte Lektüre der Maximes in ihm die Lust geweckt habe, auch seinerseits Sentenzen zu schreiben. Er erinnert an die Bemerkung: »l'envie de faire des sentences se gagne comme le rhume«, die sich in einem Brief La Rochefoucaulds an Mme de Sablé findet42), und fügt hinzu: »rien d'étonnant que nous l'ayons gagnée à notre tour par un long commerce avec le livre trop relu«43). Fünfzig seiner »pensées« stellt Sainte-Beuve sogar an den Abschluß des genannten La Rochefoucauld-Porträts und fordert damit den Vergleich mit dem berühmten Vorbild heraus. Aber auch an diesen Reflexionen, »qui ont paru plus ou moins analogues de forme ou d'esprit aux Maximes« — wie Sainte-Beuve schreibt44) — läßt sich die Auflösung der von La Rochefoucauld geschaffenen Kunstform klar erkennen. Eine Bemerkung wie: Il y a des moments où la vie, le fond de la vie se rouvre au dedans de nous comme une plaie qui saigne et ne veut pas se fermer 45 )

kann nicht mehr als Maxime bezeichnet werden, da das Bild von der blutenden Wunde nicht zur Veranschaulichung einer scharf formulierten moralistischen These dient, sondern einen »état d'âme« zum Ausdruck bringt, der sich nicht präzis formulieren, sondern nur bildhaft 39) Du Style XXXIII, Pensées de J. Joubert, Paris 1928, S. 280. 40) Des Qualités de l'Écrivain VII, ebda. S. 303. Man vergleiche auch Fritz Schalks Einleitung zu Die französischen Moralisten, Sammlung Dieterich Bd. 22, Wiesbaden o. J., S. XXXVI f. 41) Vgl. Sainte-Beuve, XVII® Siècle, Philosophes et Moralistes in Les Grands Écrivains Français par Sainte-Beuve, Études des Lundis et des Portraits classées selon un ordre nouveau, hrsg. von Maurice Allem, Paris 1928. 42) La Rochefoucauld, Œuvres III/l, S. 136. 43) Sainte-Beuve, a.a.O. S. 56. 44) Ebda. 45) No. XXV, ebda. S. 60. 202

umschreiben läßt. Schon die S t e i g e r u n g des Begriffes »la vie« durch die W i e d e r h o l u n g »le fond d e la vie« zeigt, daß es sich um einen emotional bestimmten, schwellenden Stil h a n d e l t , der mit der rational durchgebildeten, aphoristisch v e r k ü r z t e n Sprachform der M a x i m e nichts m e h r g e m e i n hat. Auch die T h e m e n , die Sainte-Beuve wählt, g e h ö r e n in der M e h r z a h l nicht zu den traditionellen M o t i v e n d e r Moralistik u n d entsprechen d e r F o r m der M a x i m e in k e i n e r W e i s e . In der XXVIII. Reflexion: Les lieux les plus vantés de la terre sont tristes et désenchantés lorsqu'on n'y porte plus ses espérances46) h a t Sainte-Beuve z. B. versucht, ein typisch romantisches Motiv, das sich f ü r ein Gedicht w i e L'Isolement v o n L a m a r t i n e eignet, in die Form einer M a x i m e zu fassen. Daß dieser Versuch mißlingen mußte, v e r s t e h t sich v o n selbst, u n d m a n w u n d e r t sich nur, daß ein so genialer Kritiker w i e Sainte-Beuve e i n e s o l d i e F o r m u l i e r u n g u n t e r die »pensées qui ont p a r u p l u s ou m o i n s a n a l o g u e s de f o r m e ou d'esprit a u x Maximes« a u f g e n o m m e n hat. A b e r Sainte-Beuve i n t e r p r e t i e r t e auch das W e r k d e r französischen M o r a l i s t e n v o m Blickpunkt des Romant i k e r s u n d ü b e r s a h , daß die F o r m der M a x i m e , die der klassischen Kunstansciiauung u n d dem literarischen Geschmack der aristokratischen Gesellschaft d e s A n c i e n Régime entsprach, auf ganz a n d e r e n V o r a u s s e t z u n g e n b e r u h t e als s e i n e s t a r k v o n der e i g e n e n S u b j e k t i v i t ä t b e s t i m m t e n »pensées«. So g e h ö r t Sainte-Beuve n u r noch der I n t e n t i o n nach, nicht aber d e facto zu den Nachfolgern La Rochefoucaulds. Nach ihm h a t k e i n e r der französischen Schriftsteller die K u n s t f o r m d e r M a x i m e e r n e u e r t . Auch eine A n e i g n u n g u n d U m w a n d l u n g dieser Form, w i e sie Nietzsche in seinen A p h o r i s m e n g e l u n g e n ist 47 ), gibt es in d e r m o d e r n e n französischen Literatur nicht. Der einzige u n t e r d e n A u t o r e n des 20. J a h r h u n d e r t s , d e r noch v e r s c h i e d e n e B ä n d e mit aphoristischen Ä u ß e r u n g e n veröffentlicht hat, in d e n e n er auch auf die M a x i m e n des 17. u n d 18. J a h r h u n d e r t s anspielt, ist Paul V a l é r y . In d e m Band Mélange aus d e m J a h r e 1941 steht die Sentenz: »Les v i l a i n e s p e n s é e s v i e n n e n t du 46) Ebda. 47) Uber den Einfluß La Rochefoucaulds und Chamforts auf Nietzsche vgl. Charles Andler, Les Précurseurs de Nietzsche Buch II: L'Influence des Moralistes français, in Nietzsche, sa Vie et sa Pensée Bd. I, Paris 1920, S. 190—196 und S. 213—232. — Zur Form des Aphorismus bei Nietzsche sei auf die Dissertation von Heinz Krüger, Studien über den Aphorismus als philosophische Form, Frankfurt 1956, hingewiesen. 203

cœur« 48 ), die zweifellos als Antithese gegen die berühmte Maxime: »Les grandes pensées viennent du cœur« 49 ) gedacht ist und mit der Valéry das Bibelwort: »Abintus enim de corde hominum malae cogitationes procedunt« 50 ) aufnimmt, das den Ausgangspunkt der in der Moralistik des 17. Jahrhunderts so häufig wiederkehrenden Abwertung des Begriffes cœur gebildet hatte 51 ). — Außerdem findet sich in dem Band Mélange die Bemerkung: Le moi est haïssable... mais il s'agit de celui des autres52),

in der Valéry die These Pascals: »Le moi est haïssable« 53 ), die er schon in den Choses tues angegriffen hatte 54 ), auf geistreiche Weise abwandelt und zu einem Aphorismus umformt, der in der witzigen Formulierung an die Maximen Chamforts erinnert. Um eine Sentenzensammlung im Sinne der französischen Moralisten aber handelt es sich bei dem Band Mélange genauso wenig wie bei den Mauvaises Pensées oder bei den Sammlungen, die Valéry unter dem Titel Tel quel zusammengefaßt hat. In allen diesen Bänden finden sich einzelne Reflexionen, die in der Form den Maximen La Rodiefoucaulds und seiner Nachfolger entsprechen, wie z. B. die Bemerkung: Nous avons de quoi saisir ce qui n'existe pas et de quoi ne pas voir ce qui nous crève les yeux,

die in den Mauvaises Pensées steht 55 ), oder der Aphorismus: Il faut toujours s'excuser de bien faire — Rien ne blesse plus,

der zu der Sammlung Moralités gehört5®). In der Regel aber sind es nur Einfälle und Notizen, die Valéry ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt hatte. Der Autor schreibt selbst in dem Vorwort zur ersten Edition der Analecta aus dem Jahre 1926: »Ce ne sont donc ici que notes pour moi: impromptus, surprises de l'attention, germes; et 48) Paul Valéry, Œuvres, hrsg. von Jean Hytier, Bibliothèque de la Pléiade, Bd. I, Paris 1957, S. 376. 49) Vauvenargues, Max. 127 (Œuvres I, S. 386). 50) Marc. VII/21. 51) S. o. Kap. VI, S. 85. 52) Paul Valéry, a.a.O. S. 325. 53) Pensées Fr. 455 (Œuvres XIII, S. 367). 54) Vgl. Choses tues, Paris 1932, S. 91, wo es heißt: »Que si le moi est haïssable, aimer son prochain comme soi-même devient une atroce ironie.« 55) Mauvaises Pensées & autres, 27Caractères(, Amiens 1946, Bibliographie S. 245—249.

III. Zu den moralistischen Traktaten und den anonymen Maximensammlungen des 17. Jahrhunderts Raymond T o i n e t



Les Écrivains moralistes au XVIIe siècle. Essai d'une table alphabétique des ouvrages publiés pendant le siècle de Louis XIV, 1638—1715, qui traitent de la morale appliquée à la science et à la pratique du monde, à la vie civile, aux mœurs et aux caractères, ainsi que de divers livres de portraits, pensées, maximes et réflexions. In RHL 23 (1916) S. 570—610; RHL 24 (1917) S. 296—306 und S. 656—675; RHL 25 (1918) S. 310—320 und S. 655—671 ; RHL 33 (1926) S. 395—407 (Appendice).

Maurice M a g e n d i e



La Politesse Mondaine et les théories de l'honnêteté, en France, au XVIIe siècle, de 1600 à 1660, Paris 1925, Bibliographie Bd. I, S. IX— XXXVIII.

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IV. Zum Werk von Vauvenargues May W a 11 a s



Vauvenargues en 1948, FSt. III (1949) S. 1—24 (Forschungsbericht).

Fernand



Luc de Clapiers, marquis de Vauvenargues in A Critical Bibliography of French Literature (D. C. Cabeen, General Editor), Bd. IV: The eighteenth Century edited by George R. Hävens — Donald F. Bond, Syracuse University Press 1951, Nos. 2649—2710.

Vial

V. Zum Werk von Chamfort Pierre G r o s c l a u d e



Bibliographie in Chamfort, Maximes et Pensées, Caractères et Anecdotes, Collection nationale des Classiques Français, Paris 1953, Bd. I, S. 51—65. (I. — Éditions; II. — Ouvrages relatifs à Chamfort.)

VI. Zum Werk von Crébillon d. J. Octave U z a n n e



Notice bio-bibliographique in Petits Conteurs du XVIIIe Siècle, Bd. IV: Contes dialogues de Crébillon-fils, Paris 1879, S. I—LXXXII.

Hellmuth P e t r i c o n i —

>Le Sopha< von Crébillon D. J. und Kellers >Sinngedicht