Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit: Studien zum Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft 9783484970663, 9783484181854

Die Studien zu F.A Wolf, F. Ast, Herder, F. Schlegel, Arnim, den Grimms und Goethe untersuchen mit Rückgriff auf eine Vi

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German Pages 496 Year 2008

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Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Philologie und das System des Wissens
III. Philologie und Hermeneutik
IV. Philologie und Poesie
V. Philologie und Roman
VI. Zusammenschau
Backmatter
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Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit: Studien zum Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft
 9783484970663, 9783484181854

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Conrad Wiedemann

Band 185

Matthias Buschmeier

Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit Studien zum Verh,ltnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft

n Max Niemeyer Verlag T/bingen 2008

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung f/r Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie der Ludwig-Sievers-Stiftung, Stiftung zur Fçrderung der wissenschaftlichen Forschung /ber Wesen und Bedeutung der freien Berufe, Hannover.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet /ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-18185-4

ISSN 0081-7236

= Max Niemeyer Verlag, T/bingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch/tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul,ssig und strafbar. Das gilt insbesondere f/r Vervielf,ltigungen, Cbersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest,ndigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Inhaltsverzeichnis

I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Philologie und das System des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Antike und Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 III. 3. 4. 5. 6. 7.

Philologie und Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philologie, Bildung, Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poeto-philologische Hermeneutik – Johann Gottfried Herder . . . . . . . Hermeneutik als Philologie des Einen Geistes – Friedrich Ast . . . . . . . Fragment und kollektive Autorschaft – Friedrich August Wolfs ›Prolegomena ad Homerum‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philologie und Hermeneutik als Kritik – Friedrich Schlegel . . . . . . . .

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IV. 8. 9. 10.

Philologie und Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poeto-Philologie – Ludwig Achim von Arnims ›Von Volksliedern‹ . . . Philologie jenseits der Hermeneutik – Jacob Grimm . . . . . . . . . . . . . . Goethe und die historische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Philologie und Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Erzählte Sammlung – ›Der Sammler und die Seinigen‹ . . . . . . . . . . . . 12. Versammelndes Erzählen – Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Eingesammeltes Erzählen: Wielands ›Das Hexameron von Rosenhain‹ . . . 14. »Vom Standpunkte der Poesie« – Philologie in den ›Noten zum Divan‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Epos und Roman – Friedrich Schlegel und der ›Wilhelm Meister‹ . . . 16. Der Roman als philologisches Kompendium – Goethes ›Wanderjahre‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 V

Siglennachweis/Abkürzungen

Im Folgenden werden für die Siglen nur die Ausgaben nachgewiesen. Auf eine Auflistung aller zitierten Texte aus den jeweiligen Ausgaben wird verzichtet. Beiträge der siglierten Autoren, die nicht in den entsprechenden Ausgaben enthalten sind, werden im Literaturverzeichnis einzeln aufgeführt. DVjs FA

Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Friedmar Apel u.a., Frankfurt/M. 1985–1999 [Frankfurter Ausgabe] HSW Herders Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan u.a., Berlin 1877–1913 HWG Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften. Hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt/M. 1985 HWGr Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Bänden, Bd. 2: Schriften zu Literatur und Philosophie 1767–1781. Hg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt/M. 1993 HA Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hg. von Erich Trunz u.a., München 1998 [Hamburger Ausgabe] IASL Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur KGN Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin 1967–2005 KSA Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler u.a., Paderborn – München – Wien u.a. 1959–2006 Lj Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: FA Bd. 9. Hg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann, Frankfurt/M. 1992, S. 355–992 MA Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Karl Richter u.a., München 1985–1998 [Münchner Ausgabe] MLN Modern Language Notes NA Schillers Werke. Nationalausgabe. Hg. von Julius Petersen u.a., Weimar 1943–2006 Steig I Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Hg. von Reinhold Steig und Hermann Grimm. Bd. 1: Reinhold Steig (Hg.): Achim von Arnim und Clemens Brentano, Stuttgart – Berlin 1894 Steig III Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Bd. 3: Reinhold Steig (Hg.): Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm, Stuttgart – Berlin 1904 Steig IV Clemens Brentano und die Brüder Grimm. Hg. von Reinhold Steig, Stuttgart – Berlin 1914 WA Goethes Werke. Hg. im Auftrag der Grossherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887–1913 [Weimarer Ausgabe] Wj1 Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. In: FA Bd. 10. Hg. von Gerhard Neumann und Hans-Georg Dewitz, Frankfurt/M. 1989, S. 9–260 Wj2 Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. In: FA Bd. 10. Hg. von Gerhard Neumann und Hans-Georg Dewitz, Frankfurt/M. 1989, S. 261–774 ZfdPh Zeitschrift für deutsche Philologie

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I. Einleitung

»La literature, c’est la contestation de la philologie (don’t elle est pourtant la figure jumelle)«, schreibt Foucault in ›Les mots et les choses‹1 und macht auf das ambivalente Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft als Rivalen und Zwillingspaar aufmerksam. Die hier vorgelegten Studien wollen Foucaults Hinweis, den er selbst unkommentiert lässt, nachgehen. Dabei steht zur Diskussion, ob das benannte Problem strukturell-systematischer oder historischer Art ist. Hat sich die Philologie an einem gewissen historischen Moment vielleicht in einer Kain-und Abel-Variante vom Zwilling zum Kontrahenten der Literatur gewandelt und wenn, wann wäre dieser Moment anzusetzen? Oder handelt es sich um eine per se schwierige Beziehung zwischen beiden in einer Ehe ungleicher und sich verständnislos gegenüberstehender Partner, denen, sich allen therapeutischen Bemühungen resistent erweisend, nur mehr die endgültige Scheidung bleibt? In Martianus Capellas ›De Nuptiis Philologiae et Mercurii‹, vermutlich Ende des fünften oder Anfang des sechsten Jahrhunderts verfasst, muss, um als Braut vom himmlischen Merkur gefreit werden zu können, sich die Philologie zunächst all ihres gelehrten Ballastes entledigen. Da aber brach sie mit aller Anspannung und großer Kraftanstrengung alles, was je in ihrem Busen sie erwogen hatte, aus. Da wandelte sich dies Erbrechen und das Herausgewürgt-Erbrochene um in Riesenmengen Schrifttums aller Art. Da war zu sehen, welche Bücher und wieviele Bände, wieviele Werke der Zungen aus dem Munde der jungen Frau entströmten.2

Capellas Schrift ist aber keine frühe Satire auf den Philologenstand, der sich einer bulemischen Schlankheitskur unterzieht, sondern ein Traktat über die Einsetzung des Systems der freien Künste, die als »Schar von jungen Mädchen« eifrig herbeilaufen, um einzusammeln, »was aus der Jungfrau Mund entflossen war; und von ihnen eine jede riss an sich, was ihr davon für ihren eignen Zweck von

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Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archélogie des sciences humaines, Paris 1966, S. 313. Martianus Capella, Die Hochzeit der Philologia mit Merkur. Übers., mit einer Einleitung, Inhaltsübersicht und Anmerkungen vers. von Hans Günter Zekl, Würzburg 2005, S. 77.

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Nutzen war«.3 Die Philologie kann derart befreit zum Himmel aufsteigen und den göttlichen Merkur heiraten. Die Gelehrsamkeit hat sie auf Erden zurückgelassen. Wenngleich im System der artes liberalis noch vereint, so setzt sie damit aber eine Aufteilung der Wissensbestände in Disziplinen und ihre Gegenstände in Gang und damit auch die Trennung der Poesie von ihrer Wissenschaft. Scheidungen dauern mitunter lange und sind von vielen Konflikten geprägt. Die vorliegenden Studien möchte einige dieser Auseinandersetzungen, die sich vor der endgültigen Scheidung in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Zeitraum von 1750 bis 1832 zuspitzen, verfolgen. Und wie in jedem guten Trennungsdrama wird man auch hier gelegentlichen Wiedervereinigungsphantasien begegnen. Die Philologie erfreut sich heute, glauben wir Thomas Steinfeld, wieder größter Beliebtheit. »Lebenswelt und Philologie haben sich fest verbunden«, so seine optimistische Diagnose.4 Als »Wissenschaft der populären Kultur« oder als »populäre Philologie« sorgt sie sich um alle Formen kultischer Verehrung – Popmusik oder Hölderlin, alles wird gleichermaßen gesammelt und kritisch kommentiert, denn, so Steinfeld, »im Herzen eines jeden ›Fans‹ wohnt ein Philologe […] und zwar kein moderner, sondern einer noch im Sinne des neunzehnten Jahrhunderts, ein bescheidener Diener am höheren Wesen, der suchen und sammeln, unterscheiden, sortieren und bewahren will. Und auch einer, der liebt.«5 Die 3 4

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Ebd. Thomas Steinfeld, Der leidenschaftliche Buchhalter. Philologie als Lebensform, München 2004, S. 8. Wenn wir alle Philologen sind, erklärt das vielleicht, warum so mancher Bildungsplaner unser Fach für so überflüssig hält. Auch die Philologie selbst hat sich jüngst als Thema verstärkt wiederentdeckt. Nach der intensiven Forschung zur Wissenschaftsgeschichte in den 80er und frühen 90er Jahren, scheint nun verstärkt die Frage nach der Funktion der Philologie im System des Wissens in den Vordergrund zu rücken. So fand im Sommer 2006 in München eine von Fosca Mariani Zini, Friedrich Vollhardt und Denis Thouard organisierte Tagung zum Thema »Philologie als Wissensmodell. Philologie und Philosophie in der Frühen Neuzeit« statt. Die Frühe Neuzeit rückt offenbar in immer stärkerem Maße in den Vordergrund. Vgl. auch Kai Bremer, Philologie und Polemik. Ein Forschungsabriss zum wissenschaftsgeschichtlichen Status der Kontroverse in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte der Germanistik 29/30 (2006), S. 9–16. Eine beeindruckende Analyse des Verhältnisses von Philologie, Philosophie, Theologie und Poetik der Frühen Neuzeit hat jüngst Wilhelm SchmidtBiggemann (Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit, Göttingen 2006) vorgelegt. Wilfried Barner (Pioniere, Schulen, Pluralismus. Studien zur Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft, Tübingen 1997, S. 3-98) stellt vier deutsche Pinoniere des philologischen Humanismus vor. Eine europäische Perspektive verfolgte die von Christoph König im April 2007 initiierte Tagung »Das Potential der Europäischen Philologie« an der Universität Osnabrück. Ich gebe hier keinen Forschungsüberblick. Das wäre angesichts der behandelten Großautoren ein hybrides Unternehmen. Die relevante Literatur wird in den einzelnen Kapiteln diskutiert. Steinfeld, Philologie als Lebensform, S. 12. Das Problem ist nur, »der populären Philologie sind zwar die Namen der einschlägigen Einrichtungen und Medien – ›Doku-

Beschwörung des Philologen als Diener und Liebhaber gehört offensichtlich zu einer der wichtigsten Topoi der Selbstbeschreibung der philologischen Zunft. Sie findet sich bei den Philologen des 18. wie des 19. Jahrhunderts und noch bei einem so scharfen Kritiker der eignen Zunft wie Szondi klingt sie im ethischen Imperativ des Verstehens als Subordination des Interpreten unter die individuelle Bewegung des Textes nach. Die Kritik, die Szondi der Philologie vorhält, resultiert aus der Einsicht, dass sich offenbar entgegen aller Beteuerung das Hierarchieverhältnis von Philologie und Poesie verkehrt hat, die Philologen »mit einer merkwürdigen Geringschätzung ihres Gegenstandes« zu Werke gehen.6 Auch im 21. Jahrhundert schwört ein Philologe seine Zunft auf ihre etymologisch erotisierte Bestimmung als Liebhaber historischer Texte ein. Hans Ulrich Gumbrecht wirft den, wenn auch nicht ganz neuen, so doch bedenkenswerten Gedanken auf, die Philologie habe immer in jenen historischen Perioden Konjunktur, »die sich selbst als Folgezeiten besonders bedeutender Kulturmomente sehen«.7 Anders gesagt, die Philologie versteht sich als eine kulturelle Krisenwissenschaft, die sich bemüht, eine als wertvoll, aber verloren erachtete Kultur zumindest in ihren Zeugnissen zu bewahren. Ein solcher Begriff von Philologie erfordert ein Bewusstsein der Historizität der eigenen Gegenwart und einer grundlegenden historischen Differenz zwischen Untersuchungsgegenstand und Gegenwart. Insofern das Sammeln, Edieren und Kommentieren als grundlegende philologische Tätigkeiten Akte der Bezeugung einer Wertschätzung nicht nur der Präsenz der Objekte an sich, sondern auch der Vergangenheit, der sie entstammen, darstellen – diesen Punkt ignoriert Gumbrecht –, wohnt der Philolo-

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mentation‹, ›Archiv‹, ›Register‹, ›Kommentar‹, ›Original‹, ›Klassik‹ – geläufig, nicht aber der Name der Disziplin« (ebd.). Vgl. Peter Szondi, Über philologische Erkenntnis. In: ders., Hölderlin Studien, Frankfurt/M. 31977, S. 9–34; S. 34. Es ist interessant, dass Szondis Insistieren auf der Form philologischer Erkenntnis und die damit verbundene Anerkennung der Äquivokation einzelner Wörter und Wortgruppen zu einem Modell führt, in dem »darauf verzichtet werden muß die Intention des Dichters zu erkennen« (ebd., S. 30) und er sich damit ganz in der Nähe von de Mans Philologie wiederfindet. »But, in practice, the turn to theory [die Dekonstruktion, mb], occurred as a return to philology, to an examination of the structure of language prior to the meaning it produces. […] It appears that the return to philology, whether it occurs casually or as a consequence of highly self-conscious, philosophical mutations, upsets the taken-for-granted assumptions with which the profession of literature has been operating.« Paul de Man, The Return to Philology. In: ders., The Resistance to Theory, Minneapolis 1986, S. 21–26. Zu den Vorzügen Szondis gehört freilich, dass er dem »Problem der Hermeneutik« (ebd., S. 9) nicht ausweicht, es ignoriert, sondern ihm »ins Augen zu sehen« (ebd., S. 34) bereit ist und vermeidet, Mehrdeutigkeit mit Beliebigkeit zu verwechseln. Hans Ulrich Gumbrecht, Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im Umgang mit literarischen Texten. Aus dem Amerikanischen v. Jochen Schulte, Frankfurt/M. 2003, S. 11.

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gie immer auch ein melancholischer Zug inne.8 Schnell aber wandelt sich diese melancholische Stimmung der Philologen in ein Bewusstsein von der Verfügungsgewalt über die Texte, was bereits in der Philologie der Frühen Neuzeit zu einer statuierten Differenz gegenüber der überlieferten Tradition führt. Das Bewusstsein, in der Differenz die Tradition dennoch weiterzuschreiben, wirft für den Philologen auch die Frage nach dem Status seiner Autorschaft auf. Der philologische Herausgeber, so Gumbrecht, konstruiert immer auch die Rolle des Autors, er sucht sich mit ihm zu identifizieren, sich an seine Stelle zu imaginieren, nicht im Sinne einer nachdichtenden Gestaltung, sondern der editorialen Zurichtung des Textes und der dafür nötigen autoritativen Entscheidungen. »Die Schwelle zwischen Philologie und Nachdichtung sollten Editoren zwar nie ganz überschreiten, doch das kann nicht implizieren, daß sie von der Anwendung ihres ästhetischen Urteilsvermögens je ganz entbunden sind.«9 Die Autorphantasie der Philologen aber ist für Gumbrecht die Identifikation mit dem, was sich nicht identifizieren lässt, der Intentionalität des Autors. Historisch gesehen stellt sich das Problem anders. Gerade weil der Autor nicht zu identifizieren, seine Intentionalität nicht einmal durch Divination greifbar ist, weil er sich multipliziert hat, können sich die antiken wie die goethezeitlichen Philologen in der Tat als ›Autoren‹ von Werken kollektiver Genese sehen, die sie im eigentlichen Sinn ›erstellen‹. Offenbar aber ist das Begehren von Philologie und Poesie keineswegs nur einseitig zu denken. Immer wieder präsentieren sich Autoren in der Maske des philologischen Herausgebers und es soll hier erneut die Frage nach der Funktion dieser Maske gestellt werden. Dabei ist die These leitend, dass es sich um eine Form der Reaktion der Literatur auf die Etablierung einer institutionell selbstständigen Reflexion über Dichtung in Form der Philologie handelt. Steinfeld sieht das entscheidende Moment im Verhältnis von Literatur und Philologie in der Etablierung dieser Differenz durch gegenseitige Beobachtung, die dann weitere Differenzen auf beiden Seiten der Unterscheidung nach sich zieht. Auf Seiten der Philologie führt sie zur Unterscheidung von Wissenschaft versus Liebhabertum, auf Seiten der Literatur zur Unterscheidung von eigentlicher und uneigentlicher Dichtung bzw. von Kunst und Kommerz. Mit der Etablierung des Anspruchs einer Hochkultur reagiert, so Steinfeld, die Literatur auf die Beobachtung der Kanonisierung und damit Sortierung der Dichtung durch die Philologie.10 Wielands wie Goethes Versuche, beständig die Herrschaft über ihre Werke zu behalten, äußert sich in den Bemühungen,

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Eine solche Festlegung des Philologen auf Gegenstände seiner Affirmation ist freilich höchst schwierig. Wenngleich man sich i.d.R. Gegenständen zuwendet, denen man eine gewisse Neigung entgegenbringt, so darf der Umkehrschluss nicht gelten. Gumbrecht, Die Macht der Philologie, S. 51. Steinfeld, Philologie als Lebensform, S. 16.

sich dem eigenen Werk redaktionell gegenüber zu verhalten.11 Solcherart Verbindungen wollen diese Studien im Zeitraum von ca. 1750 bis 1832 nachspüren und dabei die von Foucault herausgestellten Momente im Blick behalten. Warum ist die Literatur die Infragestellung der Philologie? Welche Konsequenzen hat ihre intime Nähe? Und: Ist die Philologie nicht auch die Infragestellung der Literatur? Und wenn, auf welche Weise? Diese Fragen im Hinterkopf behaltend wird der Leser bei einem Blick in das Inhaltsverzeichnis einige Autoren und Texte vermissen, die man zu Recht dort erwarten könnte. Dies betrifft insbesondere Hamann, Wilhelm von Humboldt und August Wilhelm Schlegel, um nur einige zu nennen. Werden letztere zumindest in verschiedene Kapitel eingebunden, so bleibt Hamann gänzlich ausgelassen.12 Die Studien erheben nicht den Anspruch, alle Aspekte des Verhältnisses zwischen Philologie und Poesie der Goethe-Zeit zu behandeln, sondern einige, wenngleich zentrale Aspekte in der Goethe-Zeit. Aufgrund der guten Forschungslage konnte etwa die satirisch-polemische Auseinandersetzung als ein bedeutender Bereich dieses Verhältnisses weitgehend ausgespart bleiben.13 Schon in der Antike sahen sich die ›Bücherkritzler [der Alexandrinischen Bibliothek, mb] pausenlos zankend im Vogelkäfig der Musen‹ dem satirischen Spott ausgesetzt.14 Vor allem im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde diese satirische Kritik immer heftiger. Alexander Košenina hat jüngst die These aufgestellt, die satirische Auseinandersetzung mit der Philologie diene einer doppelten Funktion. Zum einen werde durch die »Imagologie des defizitären Philologen«15 die Ablehnung einer an stupender Gelehrsamkeit und Buchstabentreue orientierten Philologie erneuert und

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Dazu siehe die aufschlussreiche Studie von Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin – New York 2007. Glücklicherweise liegt eine sehr kenntnisreiche Untersuchung zu Hamanns Philologie bereits seit geraumer Zeit vor: Volker Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie. Hamanns Philologie zwischen enzyklopädischer Mikrologie und Hermeneutik, Stuttgart u.a. 1972. An Hoffmanns Untersuchung wird deutlich, dass die Aufnahme dieses komplexen Autors den vielleicht sowieso schon weiten Rahmen endgültig überschritten hätte. Einen breiten Überblick bietet Roland Dietrich, Der Gelehrte in der Literatur: literarische Perspektiven zur Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems, Würzburg 2003. Sehr präzise: Alexander Košenina, Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung, Göttingen 2003 und die frühere große Studie von Gunter E. Grimm, Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang, Tübingen 1998. So der von Timon von Phlius (320–230 v. Chr.) überlieferte Ausspruch: »Viele werden genährt im volkreichen Ägypten, Bücherkritzler, pausenlos zankend im Vogelkäfig der Musen«. Alexander Košenina, Bilder und Gegenbilder des Philologen zwischen Aufklärung und Romantik. In: ZfdPh 124 (2005), S. 161–179; S. 167.

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verstärkt, zum anderen bewirke aber gerade dieses Negativbild eine Umorientierung innerhalb der Philologie. Die Literatur übt gegenüber ihrer Wissenschaft damit eine Art Korrektivfunktion aus. Sie beobachtet verstärkt, dass ihre Beobachtungen beobachtet werden. Diese Umstellung ist ein typisch moderner Zug der satirischen Kritik der Philologie durch die Literatur. Hatte etwa im Barockroman – man denke nur an den ›Assenat‹ (1670) eines Philip von Zesen – noch die philologische Gelehrsamkeit die poetische Handlung durch den Materialreichtum ihrer Anmerkungsapparate oft geradezu erdrückt, so wird eine solch philologisch überladene Poesie in Parodien wie Gottlieb Wilhelm Rabeners ›Hinkmars von Repkows Noten ohne Text‹ (1745) ad absurdum geführt. Dabei bedienen sich die Texte einer doppelten Strategie: Einerseits imitieren sie die philologische Form von Anmerkungen, Glossen, Fußnoten etc. oder geben sich ganz als philologische Abhandlungen bzw. operieren unter der Fiktion philologischer Herausgeberschaft,16 andererseits werden diese philologischen Formen fiktionalisiert und durch Markierung der parodistischen Übertreibung als satirische Literatur erkennbar. Die Literatur korrigiert also in ihrem Medium die Disziplin, deren Untersuchungsobjekt sie eigentlich ist. Mit anderen Worten: Die Literatur arbeitet an der Aufstellung eines Begriffs einer Wissenschaft ihrer selbst mit. Bei allen Unterschieden der inhaltlichen Vorstellung eines solchen Begriffs, so zielen Autoren wie Lessing, Herder, Friedrich Schlegel, Arnim und Goethe alle auf einen solchen Einfluss der Poesie auf die Philologie. Ausgangspunkt aber ist jeweils eine kritische Evaluation der Philologie der Zeit und die Beobachtung, dass sich poetischer und philologischer Diskurs nicht nur voneinander entfernen, sondern immer mehr in funktionale Gegensätze geraten. Denn wenn auch die Philologie sich von der literarischen Kritik durchaus beeinflusst zeigt, so ist auch nicht zu übersehen, dass sie versucht, die Poesie in ihrem historischen Objektstatus festzuschreiben und die von ihr zuvor betonten positiven Eigenschaften einer Bildungskraft der Poesie auf die Philologie selbst zu übertragen. Die Genese dieses Konflikts und die sich verändernde Relation von Poesie und Philologie im System des Wissens werden im zweiten Kapitel im Überblick dargestellt. Im dritten Kapitel werden anschließend die Konsequenzen dieser Verschiebungen für die Goethe-Zeit in Studien zu Herder, Friedrich Ast, Friedrich August Wolf und Friedrich Schlegel genauer untersucht. Im Zentrum der Diskussion über Macht und Ohnmacht von Poesie und Philologie steht dabei der Geist-Begriff, der ganz unterschiedliche Fassungen erfährt. In der Debatte um

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Diese Tradition setzt sich über Wieland bis zu Jean Paul fort. Dazu siehe Jan Cölln, Philologie und Roman. Zu Wielands erzählerischer Rekonstruktion griechischer Antike im ›Aristipp‹, Göttingen 1998 und Walther Rehm, Jean Pauls vergnügtes Notenleben oder Notenmacher und Notenleser. In: ders., Späte Studien, Bern – München 1964, S. 7–96.

die Deutungshoheit über den Begriff wird deutlich, dass die Differenzen zwischen Philologie und Poesie sich einer Auseinandersetzung um einen angemessenen Umgang mit der kulturellen Tradition schulden. Bei allen behandelten Autoren wird dieser Konflikt über die Diskussion um die Medien des (rechten) Verstehens ausgetragen. Auf Seiten der Philologie wird versucht, die Hermeneutik – um 1800 noch keineswegs als allgemeine Verstehenslehre institutionalisiert – in die Bestimmung der Philologie einzubauen, ohne dass die Spannungen zwischen historischer Wissenschaftlichkeit und aktualisierender Bildungssendung ausgetragen oder gar gelöst werden könnten. Auf der anderen Seite sucht etwa Herder die Einsicht in die geschichtliche Unhintergehbarkeit aller Überlieferung mit einem Sprachmodell poetisch-sinnlicher Hermeneutik zu vereinbaren, die die Poesie als einen sich selbst stiftenden Zusammenhang begreift. Einsicht in diesen Zusammenhang, so Herder, ist nur über einen produktiven Anschluss im eigenen Medium möglich, der allerdings die geschichtliche Kenntnis der Genese dieses Zusammenhangs sowie die genaue Kenntnis ihres Mediums, der Sprache, voraussetzt. Hier konvergieren Philologie und Poesie bei Herder wieder.17 Herder aber hinterlässt ein Problem, an dem sich alle Autoren in irgendeiner Form abarbeiten: Wie lässt sich das Verhältnis von Geist und Geschichtlichkeit bestimmen, und welche Konsequenzen hat die Konzeptualisierung dieses Verhältnisses a) für den Begriff der Philologie und b) für die Poesie? Mit Wolfs Arbeiten zu den Homerischen Epen18 wird diese Frage mit dem Problem der Einheitlichkeit der geschichtlich-literarischen Tradition in Verbindung gebracht, das im Zentrum der Querelle des ancien et des moderns steht. Für die Literatur stellt sich damit vor allem die Frage nach der Legitimation ihrer Formen. Die Beschreibung der Querelle als Signum eines fundamentalen Bruchs denunziert zuvor normativ angesehene Ausdrucksweisen als anachronistisch für eine Literatur der Moderne. Friedrich Schlegel sehen wir mit dieser Einsicht ringen und, wie zu zeigen sein wird, mit Rückgriff auf Wolf eine erstaunliche Lösung finden: die

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Und hier wäre der Einfluss Hamanns sicherlich zu verorten, der diese Verbindung von literarischem Autor und Philologe bereits verkörpert und in seinen Texten inszeniert: »Hamanns Noten und Zitate in ihrer Fülle und Buntheit und fremdsprachlicher Korrektheit lassen sich wohl weder so weitgehend unter literarisch-ästhetischen Gesichtspunkten betrachten, wie dies für die Romane Wielands und Jean Pauls möglich ist, noch entsprechen sie in ihrem Umfang, ihrer Aufmachung und Funktion den Vorstellungen einer bloß pragmatischen, zweckhaften Zu- und Unterordnung, für die die Gelehrtensatire plädiert. Stattdessen scheint in Hamanns Autorschaft ein Interpedenzverhältnis von allgemein literarischer und spezifisch philologischer Rückbezüglichkeit vorzuliegen.« Hoffmann, Hamanns Philologie, S. 100. Ähnliche Untersuchungen hätten sich sicherlich für den Ossian-Komplex angeboten. Allein, hier ist das Feld ergiebigst bestellt: Wolf Gerhard Schmidt, ›Homer des Norden‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons ›Ossian‹ und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. 4 Bde. Berlin – New York 2003.

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Modernisierung der Antike. Modern ist die Moderne für Schlegel, wo sie in der Antike bereits den Haarriss erkennt, der sich für die Modernen zur (unüberwindlichen) Kluft geweitet hat. Mag es ein Zeitalter der Naturpoesie gegeben haben, uns erscheint es lediglich als Medienfiktion der antiken Philologen.19 Diese Medienfiktion einer Naturpoesie zeigt sich in der Goethe-Zeit immer wieder als die fiktionale Inszenierung von Mündlichkeit als modus operandum der Poesie. Herders organologische Sprachtheorie bietet den Autoren aber die Möglichkeit, in der Sprache durch ihren genetischen Zusammenhang auch an das Überspringen der epochalen Kluft zu glauben, wenn auch nicht im Sinne eines realhistorischen Entwurfs, so doch als poetische Utopie. Bei Arnim (Kap. IV.8.) etwa wird die Poesie nicht nur zur Form, in der eine solche Utopie ihren Ausdruck findet, sondern durch die sie auch als Kraft in die Gegenwart eingeführt werden kann. Alle Formen philologischer Auseinandersetzung Arnims, Brentanos und Tiecks mit der literarischen Tradition stehen unter diesem Imperativ.20 Jacob Grimm, oft auch in die Reihe ›romantischer Philologen‹ aufgenommen, aber widerspricht einem solch gegenwartsbezogenen Ansatz auf das Schärfste, wie im Streit um das ›Wunderhorn‹ und die Volksliteraturprojekte Arnims und Brentanos deutlich wird (Kap. IV.9.). Zwar sieht auch er in der Poesie eine quasi göttliche Kraft wirken, beschränkt aber ›Poesie‹ auf ein vormals goldenes Zeitalter, das eben unwiederbringlich verloren sei. Die Philologie kann nur als ihr treuer Grabpfleger fungieren. Die Fokussierung auf das Sammeln und Edieren von Quellen sowie ihrer sprachgeschichtlichen Kommentierung und die damit verbundene strenge Historizität der Grimmschen Philologie zeigt ihre Ahistorizität aber da am deutlichsten, wo sie sich einer genaueren historischen Bestimmung dieses Zeitalters entzieht: Es ist die griechische Antike so gut wie die nordische Sagenwelt und das europäische Mittelalter mitsamt ihrer Märchenwelt. Dennoch hält Jacob Grimm, dies wird nicht unbestritten bleiben, an einer Philologie jenseits eines hermeneutischen Vermittlungs- und damit Versöhnungsauftrages fest. Bei J. Grimm sehen wir die Widersprüchlichkeit zweier Historismusbegriffe aufeinandertreffen: Historismus als Form der Preokkupation von Geschichte als Wert an sich, der keiner weiteren Legitimierung bedarf und sich ganz einem historischen Detailismus hingibt; und der Historismus, der das Indi19

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Es ist doch reichlich allgemein gesprochen, wenn Gadamer (Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Methode, Tübingen 21965, S. 204f.) schreibt, die »Geschichtstheologie der Goethezeit […] denkt die Zukunft als die Wiederherstellung einer verlorenen Vollkommenheit der Urzeit«. Wenn diese Studie als Beitrag zur Differenzierung dieser Aussage gelesen würde, wäre ich bereits sehr zufrieden. Auch Tieck wird in dieser Studie nicht eigens besprochen. Vgl. aber dazu Achim Hölter, Ludwig Tieck: Literaturgeschichte als Poesie, Heidelberg 1989 und Dieter Martin, Barock um 1800. Bearbeitung und Aneignung deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts von 1770 bis 1830, Frankfurt/M. 2000, S. 248–256. Zu Tieck siehe auch Martus, Werkpolitik, S. 371–443.

viduum immer in Geschichte aufgehoben weiß. Beide Formen werden das 19. und das frühe 20. Jahrhundert prägen. In dieser Diskussion scheint die Position Goethes schwierig zu bestimmen. Intensiv hat sich die Forschung auch mit Goethes Geschichtsdenken beschäftigt und ist zu den unterschiedlichsten Resultaten gekommen. Koselleck zeigt, dass bei Goethe, anders als bei vielen seiner Zeitgenossen, kein Begriff geschichtlicher Totalität im Sinne teleologischer Vollendung zu finden sei. Vielmehr versuche er über begriffliche Oppositionen, »semantische Alternativen möglicher Geschichten immer neuer Konstellationen«21 zu beschreiben. Damit stellt sich Koselleck gegen eine Tradition, die Goethe als Vorreiter des deutschen Historismus feiert. Es ehrt Koselleck umso mehr als damit ein ›Vergehen‹ seiner historischen Zunft an Goethe korrigiert wird. Friedrich Meinecke wollte, Nietzsches Vereinahmung Goethes für seine Historismus-Kritik zurückweisend, in Goethe auf der einen und Ranke auf der anderen Seite den Gipfel eines deutschen Historismus sehen. Nicht allein verstanden als Bewusstwerden der Historizität der Dinge, weiß dieser Historismus in der Schau des menschlichen Lebens das Individuum und sein inneres Leben in den Gesamtstrom der geschichtlichen Entwicklung einzuordnen, die zwar kein äußeres Telos mehr hat, wohl aber als struktureller Wirkungszusammenhang teleologisch ausgerichtet bleibt.22 Anstatt, wie Koselleck betont, das persönliche Verhältnis zur Geschichte als Relativierung historischer Totalität zu verstehen, sucht Meinecke, Totalität und Individuum zur Deckung zu bringen, so dass auch das Disparate letztlich unter das homogenisierende Gesetz der Geschichte tritt. Rudolf Vierhaus hat zu Recht herausgestellt, dass Goethe »weit von dem Historiker Ranke entfernt« war mit seinem Ansatz, Geschichte in Narrationen zu verwandeln, sieht aber in der Verbindung von narrativer Deutung der Geschichte und Bildungsprozess bei Goethe durchaus Analogien zur historistischen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts.23 Wird in der Regel versucht, Goethes Positionierung zur Geschichte über sein autobiographisches Werk

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Reinhart Koselleck, Goethes unzeitgemäße Geschichte. In: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 27–40; S. 35, sowie diese Folge des Goethe-Jahrbuchs überhaupt. Siehe auch sehr treffend Gerhard Neumann, Naturwissenschaft und Geschichte als Literatur. Zu Goethes kulturpoetischem Projekt. In: MLN 114 (1999), S. 471–502. Vgl. Friedrich Meinecke, Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, 3. verä. Aufl., Leipzig 1939, S. 52ff. und natürlich ders., Die Entstehung des Historismus [1936], 2München 1946; insbesondere das 10. Kapitel S. 469–613. Eine Aufarbeitung der intensiven Historismus-Debatte kann hier nicht geleistet werden. Vgl. dazu zur Einführung: Friedrich Jäger/Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1991. Zur Teleologie des Historismus vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 207. Rudolf Vierhaus, Goethe und der Historismus. In: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 104–114, S. 113. Seltsam unentschieden bleibt Heinz-Dieter Weber (Goethe und der Historismus. In: Saeculum 48 (1998), S. 72–94) in seiner Einschätzung.

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zu beschreiben, so gehe ich einen anderen Weg. Daniel Fulda hat vorgeschlagen, die Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft aus den ästhetischen Diskussionen Ende des 18. Jahrhunderts zu begründen.24 Diese These bedarf m.E. einer Differenzierung. Die wesentlichen methodischen Fortschritte für eine sich formierende Geschichtswissenschaft, z.B. auf dem Gebiet der Quellenkritik, werden in den Philologien erzielt, wenngleich deren Historisierung ohne die aufklärerische Wendung zur Geschichte undenkbar ist.25 Die Philologie ist, lange vor dem Siegeszug der Geschichtswissenschaft im späteren 19. Jahrhundert, die erste moderne historische Wissenschaft. Eine Antwort auf die Frage, wie Goethes Verhältnis zum Historismus zu bestimmen ist, kann daher entlang seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Philologie seiner Zeit gesucht und gefunden werden. Die unterschiedliche Bewertung von Goethes Stellung zur Geschichte dürfte vor allem in der Vermengung der Begriffe Historizität, Historismus und Historisierung begründet sein.26 Historische Kritik heißt für Goethe vor allem philologische Kritik und eine Kritik an der historischen Kritik ist Kritik an der philologischen Methode, wie sie F. A. Wolf entwirft und Carl Lachmann später perfektioniert. Goethes eigener Umgang mit Geschichtlichkeit ist in dieser Trias am ehesten mit dem von Glenn Most aufgestellten Begriff von Historisierung als Technik der »defamiliarization, recontextualization, and narrativization« zu identifizieren (vgl. Kap IV.10.). Denn diese Form von Historisierung »in effect disqualifies genesis and eschatology«, der Punkt, der Goethe, so wird deutlich werden, von Arnim und Brentano trennt.27 Genauso vorschnell aber wäre geschlossen, Goethe eine einseitige Ablehnung und Distanzierung von den Ergebnissen Wolfs oder auch J. G. Eichhorns zu attestieren, wie ihm, angesichts der persönlichen Beziehung, unbedingte Sympathie zum Wolfschen Geschichtsbegriff zu unterstellen. Vielmehr ist genauer nach der ambivalenten und zum Teil widersprüchlich erscheinenden Stellung Goethes zum philologischen Diskurs seiner Zeit zu fragen. Zur Beantwortung dieser Frage werden vor allem seine eigenen ›philologischen Arbeiten‹, insbesondere die ›Noten zum West-Östlichen Divan‹ untersucht (V.14.). Wurde eingangs betont, dass hier keine Wissenschaftsgeschichte der Philologie widergeschrieben werden, sondern das Austauschverhältnis von Poesie und 24 25

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Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860, Berlin – New York 1996. Dazu natürlich Reinhart Koselleck, [Art.] Geschichte, Historie. In: Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 625–717. Zu dieser Unterscheidung siehe sehr präzise: Glenn W. Most, Preface. In: ders. (Hg.), Historicization – Historisierung, [Kritische Studien zur Philologiegeschichte. 5] Göttingen 2001, S. VI–XII. Most, Preface, S. VIII und IX.

Philologie in den Vordergrund treten soll, dann wird man fragen, inwiefern sich Goethes literarisches Werk davon beeinflusst zeigt. Diesem Komplex widmet sich das Kapitel V. Im Zentrum der Untersuchung steht dabei das von der Philologie aufgeworfene und radikalisierte Problem textueller Einheit. Dieses (alte) Problem, so die These, wird um 1800 mit der Diagnose eines Verlustes des gesellschaftlichen Zusammenhangs als Gemeinschaft in Verbindung gebracht und, so könnte man in Ergänzung zu Martus sagen, die Frage des ›Werkes‹ in der Tat eine konkrete politische Dimension erhält.28 Die Philologie operiert auch um 1800 in ihrem bewährten Negativmodus gegenüber der Gegenwart. Goethes Novellenerzählung ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹ ist nur ein früher Versuch der Bearbeitung des Zusammenhangs von sozialer und textueller Einheit, der in ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ fortgeführt wird. Ziel dieser Versuche, so wird zu zeigen sein, ist dabei nicht, eine bedrohte literarische Tradition einfach fortzuschreiben oder sie durch Übersetzung und Neupublikation zu bewahren,29 sondern diese Tradition auf ihre Möglichkeiten für eine Poetik der Moderne zu befragen und damit auf die von der Philologie der Goethe-Zeit aufgeworfene Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erzählen zu antworten und der Moderne, anders als die Philologie, positiv zu begegnen. Studien, die ihre Untersuchung eng am historischen Material ausrichten und dabei eine spannungsreiche Beziehung zwischen Poesie und Philologie nachzeichnen, geraten natürlich in Gefahr, sich selbst der Kritik auszusetzen, die die Literatur der Goethe-Zeit bereits gegen die Philologie in Anschlag gebracht hat. Dem ist nichts entgegenzusetzen als die (er)nüchternde Einsicht, dass es einer gewissen Peinlichkeit nicht entbehrte, wenn man sich nach 200 Jahren beschleunigter Differenzierung anschickte, diesen Prozess in ähnlicherweise in Frage zu stellen wie einige der hier behandelten Autoren. Zufriedenheit aber stellte sich ein, wenn man nach der Lektüre in manchen Varianten der gegenwärtigen Rede vom philologischen Rollback der Literaturwissenschaft Figuren der hier diskutierten Konstellationen wiederentdeckte und auf sie zu antworten wüsste. Die nun anschließenden theoretischen Vorbemerkungen sind nicht als methodisches Instrumentarium der Studie zu verstehen, sondern dienen vor allem der Selbstverständigung grundsätzlicher Fragen hinsichtlich des in Anspruch genommenen systemtheoretischen Gesellschaftsbegriffs, was dazu nötigt, sich auf eine oft sperrige Terminologie einzulassen. Die darauf folgenden Darstellungen erhe-

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Martus (Werkpolitik, S. 13–22) beschränkt den Begriff des Politischen in seiner Arbeit ganz auf die immanenten Strategien der ›Werke‹, die erst in einem zweiten Schritt ökonomische oder juristische Bedeutung erlangen. In dieser ambivalte Stellung des Werkes um 1800 zwischen Autonomie und Heteronomie, kommt den Leitkategorien Einheitlichkeit, Geschlossenheit und Überzeitlichkeit aber eben auch eine im engen Sinne des Begriffs politische Dimension zu. Anders vielleicht als in Arnims ›Wintergarten‹.

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ben explizit den Anspruch, auch ohne diese theoretischen Überlegungen aus der Einleitung verständlich zu sein. Dennoch dürfte die wahrgenommene Lektüre den Blick für manches verhandelte Problem schärfen. Zuvor noch ein technischer Hinweis, der in der gegenwärtigen Situation angebracht ist. Rechtschreibung und Zeichensetzung der Studie folgen der 24. Auflage des Dudens. Bei mehreren möglichen Varianten folge ich den Empfehlungen der Redaktion. Historische Schreibweisen sowie Zitate bleiben unverändert.

Theoretische Vorüberlegungen Jede historisch verfahrende Literaturwissenschaft kann nicht umhin die methodischen Bedingungen anzugeben, unter denen sie ihre Gegenstände auf einen zeitgeschichtlichen, medialen oder semantischen Kontext bezieht.30 Die marxistische Literaturtheorie wie deren moderne Varianten der ›gender‹ und ›postcolonial studies‹ gingen und gehen mehr oder minder reflektiert von einem mimetischen Abbildungsverhältnis von Realgeschichte und Literaturgeschichte aus, das sich vor allem in Monokausalerklärungen zeigt. Nach dem (noch nicht) eingelösten Versprechen der Sozialgeschichte31 in den 70er Jahren, Ableitungsverhältnisse zwischen dem Sozialen und dem Symbolischen schlüssig belegen zu können, haben die Diskursanalyse und daran anschließende Theorien wie der ›New Historicism‹ auf das Problem mit Nivellierung jeglichen Unterschieds zwischen literarischen und anderen Texten reagiert und können so synchron wie diachron die Textur der Kultur durchschreiten. In dieser Studie soll daran festgehalten werden, dass Literatur sich nicht in einem bedeutungsfreien Isotop bewegt, sondern gekoppelt ist, an Beziehungen zur sie umgebenden Gesellschaft, und zwar in Bezug auf materielle, mediale und semantische Referenzen. Niklas Luhmann hat mit seiner Variante der Systemtheorie eine Neuinterpretation des Gesellschaftsbegriffs vorgelegt, die mir aus mehreren Gründen geeignet scheint, das Verhältnis von Literatur, Welt und Gesellschaft angemessen zu beschreiben und zugleich historisch zu perspektivieren.32 Eine solche Perspektive vermeidet einseitige Kausalargumentationen und 30

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Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko, Der Bedeutungsbegriff in der Literaturwissenschaft. Eine historische und systematische Skizze. In: dies. (Hg.), Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte, Berlin – New York 2003, S. 3–32; S. 21ff. Vgl. Jürgen Fohrmann, Das Versprechen der Sozialgeschichte (der Literatur). In: Martin Huber/Gerhard Lauer (Hg.), Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, S. 105–112. Ob damit die Sozialgeschichte im »systemtheoretischen Gewande« daher kommt, sei einmal dahin gestellt. Vgl. Klaus Dieter Ertler, Sozialgeschichte der Literatur in

Referenzen und versucht der Polyvalenz und Polykontexturalität33 von Literatur gerecht zu werden. Im Folgenden werden die Grundannahmen Luhmanns nicht mehr explizit ausgeführt, da eine gewisse Vertrautheit inzwischen wohl vorausgesetzt werden darf. Ich verzichte daher darauf, den zahlreichen Einführungen zum Thema eine weitere in Form eines Theoriekapitels hinzuzufügen.34 Hingegen soll der Nutzen und Anschlusswert der Luhmannschen Thesen für eine literaturwissenschaftliche Betrachtung aufgezeigt werden, ohne dass an dieser Stelle schon eine Auseinandersetzung am historischen Material erfolgen soll. Auch ist damit keineswegs eine systemtheoretische Methode der Textinterpretation impliziert, noch dass eine solche hier entwickelt werden soll.35 Die Systemtheorie ist eine Theorie der modernen Gesellschaft – zu der Kunst und Literatur gehören. Als solche wird sie hier in Anspruch genommen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Theorie der funktionalen Ausdifferenzierung ist eine genuin historisch ausgearbeitete These, die ihren Fokus (für Mitteleuropa) auf die Zeit nach 1750 legt. Ist gelegentlich moniert worden, dass die systemtheoretische Literaturwissenschaft den Zeitraum vor 1750 überwiegend ausblende,36 so wurde allzu leicht darüber hinweggegangen, dass funktionale Differenzierung kein methodologischer Begriff, sondern ein bestimmter historischer Prozess ist. Untersuchun-

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systemtheoretischem Gewande: eine paradoxe Konstellation? In: Huber/Lauer (Hg.), Nach der Sozialgeschichte, S. 191–202. Insofern übernehme ich die Terminologie Gerhard Plumpes und Niels Werbers. Das bedeutet aber keinesfalls, dass ich mich ebenfalls mit ihren jeweiligen Vorschlägen hinsichtlich Codierung und Programmierung des Literatursystems identifiziere. Dies dürfte im weiteren Verlauf deutlich werden. Wo nicht, helfen Einführungen. Zum Beispiel für den elementaren Bedarf: Margot Berghaus, Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie, Köln 22004; Anspruchsvoller: Niklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, Darmstadt 22004. Auch Jürgen Fohrmann (Einleitung. In: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 7–17; S. 8) sieht eine »skeptischere Haltung« gegenüber einer vorschnellen Übertragung systemtheoretischer Begrifflichkeit als Methode der Texterschließung angebracht. Zum Grundproblem siehe auch die anderen Beiträge des Bandes. So etwa Albert Meier, Vorwort. In: ders. (Hg.), Die Literatur des 17. Jahrhunderts. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), München – Wien 1999, S. 9–17; S. 12. Auch Claus-Michael Ort (Sozialgeschichte als Herausforderung der Literaturwissenschaft. Zur Aktualität eines Projektes. In: Huber/Lauer (Hg.), Nach der Sozialgeschichte, S. 113–128; S. 121f.) stellt die »Frage des historischen Geltungsbereiches systemtheoreotischer Modelle«, verkürzt Luhmann aber ebenfalls auf das 18. Jahrhundert. Ingo Stöckmann (Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas, Tübingen 2001, S. 3) wirft der systemtheoretischen Literaturwissenschaft vor, sie arbeite »explizit an einer Theorie der modernen Literatur«. Ein Vorwurf, der sich hinsichtlich einer Theorie der modernen Gesellschaft etwas merkwürdig ausnimmt.

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gen der letzten Jahre haben dabei die von Koselleck benannte und zeitlich sehr fokussierte Sattel- oder Schwellenzeit systemtheoretisch relativiert.37 Die Prozesse der funktionalen Ausdifferenzierung setzen bereits im 16. Jahrhundert an.38 Ab Mitte des 18. Jahrhunderts aber werden diese Prozesse zunehmend reflektiert und darüber kommuniziert und so letztlich beschleunigt. Der Einbau evolutionärer Entwicklung in die Systemtheorie wird also keineswegs auf die moderne Gesellschaft beschränkt, sondern auf den historischen Prozess insgesamt bezogen. Die vier von Luhmann ausgemachten Formen gesellschaftlicher Differenzierung – (1) segmentär (2) Zentrum vs. Peripherie (3) stratifikatorisch (4) funktional,39 – bezeichnen weltgeschichtlich zwar keine »lineare Sequenz«,40 sind in der Abfolge für eine Gesellschaft aber auch keinesfalls beliebig. Das zugrunde liegende Modell gesellschaftlichen Wandels ist Evolution und die langfristige Ausbildung von »evolutionäre[n] Errungenschaften«,41 die dann zu neuen Formen der Differenzierung führen können. Für den hier untersuchten Zeitraum aber bleibt die verstärkt wahrgenommene und vollzogene Umstellung von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung die »Basisproblematik«.42 Über das Verhältnis zwischen dem Sozialsystem Literatur und der Literatur als Symbolsystem ist in den letzten Jahren eine teils heftige Auseinandersetzung geführt worden, die hier nicht wiederholt zu werden braucht.43 Im Mittelpunkt dieser Kontroverse stand immer wieder die Frage, wie sich die Literatur zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft verhält, sich also ein Text-Kontext-Verhältnis im Werk manifestiert und welche Bedeutung dem Subjekt oder Aktanten in die37

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Dazu Luhmann bereits früh: Niklas Luhmann, Paradigmenwechsel in der Systemtheorie. In: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. [Poetik und Hermeneutik XII], München 1987, S. 305–322. Das würde Koselleck wahrscheinlich gar nicht anders sehen. Der Begriff des mathematischen Sattels impliziert ja geradezu eine kontinuierliche Entwicklung, in der der Wendepunkt nur jenen Punkt bezeichnet, an dem das Krümmungsverhalten letztlich umschlägt. Vgl. Niklas Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde, Frankfurt/M. 1997, S. 613. Ebd., S. 615. Ebd., S. 616. So Karl Eibl, Autonomie und Funktion, Autopoiesis und Koppelung. Ein Erklärungsangebot für ein literaturwissenschaftliches Methodenproblem mit einem Blick auf ein fachpolitisches Problem. In: Huber/Lauer (Hg.), Nach der Sozialgeschichte, S. 175–190; S. 189. Siehe die übersichtliche Darstellung der Positionen bei Oliver Jahraus/Benjamin Marius Schmidt, Systemtheorie und Literatur. Teil III. Modelle Systemtheoretischer Literaturwissenschaft in den 1990ern. In: IASL 23 (1998), Nr. 1, S. 66–111 und ClausMichael Ort, Sozialsystem ›Literatur‹ – Symbolsystem ›Literatur‹. Anmerkungen zu einer wissenssoziologischen Theorieoption für die Literaturwissenschaft. In: Siegfried J. Schmidt (Hg.), Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven, Opladen 1993, S. 269–294.

sem Verhältnis zukommt. Wurde der Empirischen Literaturwissenschaft vorgeworfen, durch ihren verengten Empiriebegriff die Einzeltexte auszugrenzen, so blieb ebenso offen, wie ein Kontextbezug ohne Aktant zu denken ist. Für eine Verbindung beider Desiderate bietet die Luhmannsche Theorie Ansätze, die Christopf Reinfandt weiter entwickelt hat.44 Der literarische Text soll als Kommunikation eines Individuums ausgewiesen werden, ohne in eine intentional fallacy zu verfallen. Autor und Text sind in einem historischen, semantischen und medialen Kommunikationszusammenhang verortet, der eine simplizistische Übereinanderblendung verbietet. Eine Analyse dieses Zusammenhangs muss dabei ein Modell präsentieren, das der Textualität literarischer Kommunikation gerecht wird.45 Ein solches Programm bedarf guter Gründe, begegnet man doch immer noch dem Vorurteil, Luhmanns Theorie laufe zwangsläufig auf eine solipsistische Betrachtung einzelner voneinander abgeschotteter Systeme hinaus, in denen der Mensch verloren gehe.46 Eine solche Auffassung aber missversteht Luhmanns Ansatz grundsätzlich.47 In segmentär bis hin zu stratifikatorisch organisierten Gesellschaften fallen Identität und soziale Funktionsbestimmung für das Individuum weitgehend zusammen. In der Schichtengesellschaft bestimmen Schicht/Kaste/Stand zugleich die Zuordnung der gesellschaftlichen Funktion, in der die persönliche Identität einzelner Menschen aufgeht.48 Der Bauer ist Bauer, der König ist König, ein

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Christopf Reinfandt, Der Sinn fiktionaler Wirklichkeiten. Ein systemtheoretischer Entwurf zur Ausdifferenzierung des englischen Romans vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Heidelberg 1997. Zur Kritik des Luhmannschen Kommunikationsmodells als zu sehr an mündlicher Kommunikation orientiert siehe Georg Stanitzek, Was ist Kommunikation? In: Fohrmann/Müller (Hg.), Systemtheorie der Literatur, S. 21–55. Luhmann selbst arbeitet entscheidende Unterschiede heraus, die später auch in dieser Studie wichtig werden. Vgl. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 205–301. Diese Befürchtung sah schon Maturana selbst. »Bei der Formalisierung der Dynamik einer lebenden Einheit passiert es leicht, dass die Einheit des lebenden Systems verschwindet. Auch wenn sie versuchen, soziale Systeme zu formalisieren, gehen leicht Dimensionen verloren. Plötzlich befinde ich mich in der Situation, dass der Mensch dabei verschwindet«, zitiert nach Carsten Starck, Autopoiesis und Integration. Eine kritische Einführung in die Luhmannsche Systemtheorie, Hamburg 1994, S. 34. So stellt Luhmann (Soziale Systeme. Grundriß einer Theorie, Frankfurt/M. 1984, S. 288f.) klar: »Sieht man den Menschen als Teil der Umwelt der Gesellschaft an (statt als Teil der Gesellschaft selbst), ändert das die Prämissen aller Fragestellungen der Tradition, also auch die Prämissen des klassischen Humanismus. Das heißt nicht, dass der Mensch als weniger wichtig eingeschätzt würde im Vergleich zur Tradition. Wer das vermutet (und aller Polemik gegen diesen Vorschlag liegt eine solche Unterstellung offen oder versteckt zu Grunde), hat den Paradigmawechsel der Systemtheorie nicht begriffen«. Zum Problem des Individuums siehe grundsätzlich: Niklas Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus. In: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien

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Übertritt in die Schicht des anderen kann nur durch Zauberkräfte oder Verwechselungen im Märchen geschehen.49 Die Inklusions-/Exklusionsbereiche der Gesellschaft waren i.d.R. durch Geburt geregelt und wurden auf der Ebene der Haushaltsverhältnisse stabil gehalten.50 Dabei wurde Exklusion immer als Sonderfall behandelt, für den bestimmte Maßregeln ausgearbeitet werden mussten. So legten etwa Stadt-, Zucht-, und Zunftordnungen genau fest, wann ein Mitglied auszuschließen war, wohingegen Inklusion keiner größeren Rechtfertigung bedurfte als die soziale Herkunft und daher nahezu selbstevident gegeben war.51 Mit dem 18. Jahrhundert setzt verstärkt ein Prozess ein, der vermehrt Chancen für eine Bildungskarriere jenseits der Herkunft offenhielt.52 Die These der funktionalen Ausdifferenzierung beschreibt diesen Prozess des Auseinandertretens von persönlicher und gesellschaftlicher Identität. Im Ergebnis führte dies dazu, dass gerade die Familie ihre Funktion zur gesellschaftlichen Positionsbestimmung zunehmend einbüßt und zum (Rückzugs-)Ort der Intimität von Individuen wird.53 Wenn die Gesellschaft von Stratifikation zu funktionaler Differenzierung übergeht, muß sie auch auf die demographischen Korrelate ihres internen Differenzierungsmusters verzichten. Sie kann dann die Menschen, die zur Kommunikation beitragen, nicht mehr auf ihre Teilsysteme aufteilen, wie es bei der Stratifikation oder bei der Zentrum/Peripherie-Differenzierung noch möglich gewesen war. Man kann nicht Menschen den Funktionssystemen derart zuordnen, daß jeder von ihnen nur einem System angehört.54

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zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt/M. 1989, S. 149–258; S. 156. Dieses immer wiederkehrende Motiv in Märchen, Sagen und Mythen scheint als Bearbeitung des Inklusionsschemas bereits dessen Auflösung durch die fiktionalen Exklusionsphantasien der (Außenseiter-)Helden zu antizipieren. Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 697 und Luhmann, Individuum, S. 157. So war individueller Aufstieg durchaus möglich, was aber nicht bedeutete, dass der Herkunftshaushalt, seine Position in der stratifizierten Gesellschaft automatisch änderte. Das ist natürlich eine sehr pauschalisierende Einschätzung und es dürften sich sicherlich auch Gegenbeispiele finden lassen, hier genügt die Betonung einer Tendenz. Natürlich war das im Falle des Knechts immer noch höchst unwahrscheinlich, aber die bekannten Fälle von Nobilitierungen der bekannten Dichtergrößen im 18. und frühen 19. Jahrhundert zeigen, dass das stratifikatorische Gesellschaftsgefüge durchlässiger wurde. Was wiederum auch auf die veränderte Liebessemantik zurückzuführen ist, in der Ehen nun nicht mehr nach ständischen Gesichtspunkten beschlossen werden, sondern die individuelle Liebe zum Hauptmotiv für die Familiengründung wird. Vgl. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, Frankfurt/M. 1982. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 744.

Darin liegt der eigentliche Paradigmenwechsel der Systemstheorie als Theorie der modernen Gesellschaft, dass Individualität und Identität sich nicht mehr über Inklusionsverhältnisse bilden können, sondern sich jenseits der Gesellschaft behaupten müssen. Das heißt aber jetzt, daß die konkreten Individuen nicht mehr konkret placiert werden können. Sie müssen an allen Funktionssystemen teilnehmen können, je nachdem, in welchen Funktionsbereich und unter welchen Code ihre Kommunikation eingebracht wird. Allein schon die Sinngebung bestimmter Kommunikation [....] ordnet die Kommunikation einem bestimmten Funktionssystem ein. Individuen müssen sich an all diesen Kommunikationen beteiligen können und wechseln entsprechend ihre Koppelung mit Funktionssystemen von Moment zu Moment.55

Zunächst entstehen für das Individuum damit ungeheure Freiräume und Wahlmöglichkeiten unter den von verschiedenen Funktionssystemen bereitgestellten Wirklichkeitsentwürfen.56 Für einen literaturwissenschaftlichen Zugang bietet dies den Vorteil, Autoren als Personen nicht allein dem Literatursystem zurechnen zu müssen, sondern die Kommunikationsbezüge ermöglichen eine wechselnde Koppelung an verschiedene Sozialsysteme. Diese Vielfalt an Möglichkeiten zur Teilnahme an gesellschaftlicher Kommunikation kann aber auch mit der zunehmenden Schließung der Systeme kollidieren. Insbesondere das Wissenschaftssystem bildet eine Expertenkultur aus, die eine Identifikation von Person und Systemzuordnung bzw. Wissenschaftszuordnung als Spezialist im jeweiligen Felde wieder reetabliert. Moderne Wissenschaft setzt den Spezialisten voraus, und sie bildet zusätzlich Disziplinen mittels der kommunikativen Zusammenfassung einer Mehrzahl von Spezialisten; das heißt, aus einer Rollen- ist eine Systemdifferenzierung geworden, die eine ihr koordinierende Rollendifferenzierung rückwirkend stabilisiert. Es gibt dann in der modernen Wissenschaft eine eineindeutige Zuordnung von Disziplinen zu ›disziplinären Gemeinschaften‹ und damit fällt erstmals die wissensmäßige und soziale Differenzierung der Wissenschaft zusammen.57

Ein treffendes Beispiel für diesen Prozess ist wohl die Rezeption der Goetheschen Beiträge zur Optik und Farbenlehre, die von der zeitgenössischen, universitär institutionalisierten Physik als Dilettantismus zurückgewiesen wurden.58 Gesamt-

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Ebd., S. 625. Was Luhmann (Individuum, S. 173) unter anderem an der Entstehung von kontraktualistischen Gesellschaftstheorien festmacht, mit »denen der Einzelne als Einzelner bezeichnet wird«. Rudolf Stichweh, Wissenschaft, Universität, Profession. Soziologische Analysen, Frankfurt/M. 1994, S. 208. Zur Ausdifferenzierung der Physik im 19. Jahrhundert siehe Rudolf Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland, Frankfurt/M. 1984, insbesondere S. 318–393.

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gesellschaftlich aber wird die gesteigerte Komplexität durch die Kontingenz der Lebensbezüge als Identitäts- und Individualitätskrise gedeutet und der Begriff des Individuums wird als einzulösender Wert in die gesellschaftliche Kommunikation wieder eingeführt.59 Mindestens ebenso wichtig ist aber eine tiefgreifende bewußtseinsgeschichtliche Veränderung, die sich [im Sturm und Drang, mb] immer weiter durchsetzt: Der Gedanke der Veränderbarkeit der Welt.60 Doch dieser Gedanke hat auch eine Kehrseite, die gleichfalls im Sturm und Drang besonders hervortritt. Der Gedanke der Veränderbarkeit ist nur die eine, offensive, Seite eines Bewußtseins von Kontingenz, dessen andere, depressive, Seite der Verlust orientierender Außenhalte ist.61

Wenn das Individuum außerhalb der Gesellschaft platziert ist und soziale Systeme sich nicht durch Personen, sondern allein durch Kommunikation konstituieren, dann stellt sich zwangsläufig die Frage, inwiefern Individuen an sozialen Systemen partizipieren, sie beeinflussen und von ihnen beeinflusst werden. Wir fragen also nach der Ausgestaltung der System/Umwelt-Beziehungen. Für Luhmann gibt es drei logische Betrachtungsweisen ausdifferenzierter Systeme:62 1. Hinsichtlich des Verhältnisses des jeweiligen Teilsystems zum Gesamtsystem der Gesellschaft (Funktion) 2. Hinsichtlich des Verhältnisses der Teilsysteme untereinander (Leistung) 3. Hinsichtlich der Selbstbeobachtung der Teilsysteme (Reflexion) Je nach Systemreferenz geraten also je verschiedene Momente in den Blick. Auf der dritten Ebene operiert das System geschlossen, d.h. ohne jeglichen Fremdkontakt und reproduziert sich stets aus den eigenen Elementen. Indem das System autopoietisch operiert, tut es, was es tut, und nichts anderes. Es zieht also eine Grenze, bildet eine Form und läßt alles andere beiseite. Daraufhin kann es das Ausgeschlossene als Umwelt und sich selbst als System beobachten. Es kann die Welt anhand der Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz beobachten und dadurch, daß es das tut, die eigene Autopoiesis fortsetzen.63

Betrachten wir funktionale Systeme unter dem Aspekt ihrer Autopoiesis, so ist kein Umweltkontakt, d.h. für uns auch keine Kontextualisierung möglich und

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Prominenter Ort dafür war, wie unmittelbar einsehbar, die Literatur bzw. der Roman. Dazu vgl. Hans-Georg Pott, Literarische Bildung. Zur Geschichte der Individualität, München 1995. Karl Eibl, Die Entstehung der Poesie, Frankfurt/M. 1995, S. 116. Ebd., S. 117. Vgl. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 757. Siehe auch N. L., Ist Kunst codierbar? In: ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 245–266; S. 261. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 183.

nötig. Eine solche Betrachtung kann nur über die Innenseite der Form,64 also die Operationen des Systems Auskunft geben. Umwelt wird nur als Außenseite der Form mitgedacht, sie gibt keine Informationen, die das System zur Reproduktion seiner eigenen Strukturelemente benötigt. Eine Reduzierung auf den Begriff der Autopoiesis aber ist für unsere Zwecke nicht hinreichend, denn »er erklärt [...] nicht die historischen Systemzustände«.65 Auf dieser Ebene wird Literatur als Symbolsystem sichtbar, das nur die Innenseite seiner Form in den Blick nimmt. Auf Ebene zwei, den System-zu-System-Beziehungen, werden aus der unspezifizierten Umwelt bezeichnungsfähige Bezugseinheiten – die anderen Teilsysteme. Weiterhin operiert das System innerhalb seiner eigenen Grenzen, aber nun kann es beobachten, welche spezifischen Sachverhalte in seiner Umwelt, d.h. in anderen Systemen für es, in welcher Weise relevant sind. Diese Beobachtungen können nun wieder kommuniziert werden und damit auch zur Autopoiesis des Systems beitragen.66 Wird je nur eine Systemreferenz (Funktion, Leistung oder Selbstreflexion) als Bezugspunkt gewählt, geht damit die Möglichkeit verloren, Luhmanns Ansatz als Kontextualisierungsstrategie zu nutzen. In solch einseitig verfahrenden Arbeiten sieht Gebhard Rusch letztlich eine Reproduktion des klassischen Problems der Literaturwissenschaft zwischen textimmanenter und kontextbezogener Interpretation.67 Beansprucht eine systemtheoretische Perspektive einen Mehrwert an Erkenntnis leisten zu können, muss sie diese Dichotomie hinter sich lassen und ihr Entweder-oder in ein Sowohl-als-auch verwandeln. Es gilt alle drei Systemreferenzen in den Blick zu nehmen, ohne ihren Unterschied zu verkennen. Nun mag man einwenden, auch auf Bezugsebene eins und zwei handele es sich lediglich um Systeme, d.h. kodierte Kommunikationszusammenhänge, denen ein Zugriff auf die Welt und deren Materialität nicht möglich ist. Dem ist insofern zuzustimmen als es keinen unvermittelten Durchgriff auf die Welt durch das System, auch nicht psychischer Systeme geben kann. Die Formulierung deutet damit bereits an, dass die System/Umwelt-Beziehungen sich vor allem über Vermittlungsfunktionen gestalten müssen, denn auch Luhmann sieht sich mit der Frage konfrontiert, »wie gestaltet ein System, und in unserem Falle: wie gestaltet das Gesellschaftssystem, seine Beziehungen zur Umwelt, wenn es kei64

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In Anlehnung an Spencer Browns Formbegriff hat jede Form als Unterscheidung immer zwei Seiten, jeder positive Wert führt seine Negation auf der anderen Seite der Form immer schon mit. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 66. Vgl. ebd., S. 609. Vgl. Gebhard Rusch, Phänomene, Systeme, Episteme. Zur aktuellen Diskussion systemtheoretischer Ansätze in der Literaturwissenschaft. In: Henk de Berg/Matthias Prangel (Hg.), Kommunikation und Differenz. Systemtheoretische Ansätze in der Literatur- und Kunstwissenschaft, Opladen 1993, S. 228–244.

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nen Kontakt zur Umwelt unterhalten und nur über eigenes Referieren verfügen kann?«68 Die Antwort auf dieses grundlegende Problem wird über zwei Begriffe gegeben: ›strukturelle Koppelung‹ und ›Interpenetration‹, um die Beziehungen und Austauschprozesse zwischen sozialen Systemen und zwischen diesen und psychischen Systemen zu beschreiben, denn »faktisch sind alle Funktionssysteme durch strukturelle Koppelung miteinander verbunden«.69 Obwohl Luhmann sich immer wieder als radikalen Konstruktivisten beschreibt, leugnet er keinesfalls die Existenz einer materiellen Welt und individueller Menschen. Denn selbstverständlich kommt auch Luhmann, kommen auch die Konstruktivisten der nachdenklicheren Sorte nicht ohne irgendwelche Umweltkontakte aus. Systemtheorie und Konstruktivismus stellen für die Umweltabhängigkeiten von Systemen den Begriff der ›strukturellen Koppelung‹ zur Verfügung. Er führt eher ein Schattendasein, ist aber ein dringend notwendiger Komplementärbegriff zu dem weit prominenteren der Autopoiesis: Er bezeichnet den Einfluß der Umwelt auf das System, den natürlich auch Systemtheorie und Konstruktivismus nicht leugnen können. Für normale Sterbliche ist er sehr hilfreich, denn er macht Systemtheorie mit einer Reihe von Alltagsvorstellungen kompatibel, zum Beispiel mit der, daß wir Menschen sind und mit Menschen umgehen.70

Reinfandt schlägt nun vor, die Leistungsebene der System-zu-System Beziehungen von sozialen Systemen,71 um »die Beziehungen zwischen dem Sozialsystem Literatur und den mit der funktionalen differenzierten Gesellschaft konfrontierten psychischen Systemen« zu erweitern. In diesem Sinne aktualisiert das Sozialsystem Literatur also nicht nur seine Beziehung zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft über Leistungen, sondern auch – zumindest zum Teil – seine Beziehungen zu den in der Umwelt der Gesellschaft befindlichen psychischen Systemen.72

Bei der Beantwortung der Frage, wie eine solche strukturelle Koppelung zwischen Individuum und System aussehen könnte, ist die Bedeutung des Wahrneh-

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Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 100. Ebd., S. 779. Eibl, Autonomie und Funktion, S. 184f. Luhmann (Soziale Systeme, S. 295) selbst hält die Zuordnung von Leistung für das Verhältnis von psychischem System und sozialen Systemen für zu kurz gegriffen. Da ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis bestehe, das in Co-evolution entstanden sei, handele es sich um ein Konstitutionsverhältnis. Dazu das Zitat: »Die Systemleistung, die interpenetrierende Systeme füreinander erbringen, besteht also nicht im Input von Ressourcen, von Energie, von Information. Auch dies bleibt natürlich möglich. Ein Mensch sieht etwas, erzählt es, steuert also Information zum sozialen System bei. Was wir Interpenetration nennen greift jedoch tiefer, ist kein Leistungszusammenhang, sondern ein Konstitutionszusammenhang«. Beide Reinfandt, Sinn fiktionaler Wirklichkeiten, S. 32.

mungsbegriffs bei Luhmann bisher unterschätzt worden.73 Das wahrnehmende Individuum wird zur »Vermittlungsfunktion«74 zwischen Welt, die als Totalität unverfügbar bleibt, und System. Mit dem Begriff der Vermittlung kann dabei nicht eine Verschmelzung oder Überschneidung, sondern lediglich ein Austausch im Sinne von Reizung gemeint sein.75 Die Differenz zwischen den Operationsweisen von psychischen und sozialen Systemen bleibt dabei zunächst unüberbrückt. Diese operieren und reproduzieren sich über Kommunikation, jene über Bewusstsein. »Nur ein Bewußtsein kann denken (aber eben nicht: in ein anderes Bewußtsein hinüberdenken), und nur die Gesellschaft kann kommunizieren.«76 Die ältere hermeneutische Theorie der Einfühlung, insbesondere bei Schleiermacher, setzt einen spiritus communis zwischen Leser und Autor voraus, an dem beide schon durch Bewusstsein teilhaben können. Rein logisch gesehen wird dadurch zur Erklärung von Verstehen bereits vorausgesetzt, was sich erst noch erweisen müsste, eben dass es einen solchen spiritus communis gebe. Damit werden, wie Peter Szondi treffend bemerkt, die Probleme des Verstehens eher verstellt als gelöst. Für die vorhin angedeutete Kritik an der harmonisierenden Funktion des [...] Geistbegriffs ist relevant, daß der Geist, indem er zur Bedingung der Möglichkeit von Verstehen erklärt wird, (insofern alle Dinge im Geist ursprünglich eins sind und alles Geistige ursprünglich eins und gleich ist) zugleich die Lösbarkeit aller hermeneutischen Probleme verbürgt, welche durch faktische Verschiedenheit gegeben sind [...]. Alle diese Probleme finden sich durch den Begriff des Geistes immer schon gelöst.77

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Eibl (Entstehung der Poesie, S. 136) beispielsweise verweist lediglich auf den Begriff der Grenze, an der Austauschbeziehungen stattfinden. »Differenz ist überhaupt erst Voraussetzung von wechselseitiger Beziehung. Gewiß entstehen durch Ausdifferenzierung Grenzen; aber sie isolieren nicht, sondern sie selektieren und reflektieren. Gerade die Grenzen sind Voraussetzung dafür, daß Poesie im Gesellschaftssystem nicht einfach als subsidiäre Dichtung ornamental mitläuft, sondern daß das Gesellschaftssystem zur Umwelt von Poesie wird, auf die diese nach Maßgabe ihrer eigenen Selektions-, Kohärenz- und Erhaltungsbedingungen reagiert. Und sie sind auch Voraussetzungen dafür, daß sie ins ›Leben‹ wirkt.« So sehr die Aussage allgemein zutrifft, so sehr bedarf sie gerade im systemtheoretischen Kontext einer theoretischen Begründung. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 740. So auch Starck, Autopoiesis und Integration, S. 55f. Ohne dies hier weiter auszuführen, sei angemerkt, dass eben darin der Unterschied zur Allgemeinen Systemtheorie besteht, die grundsätzlich von offenen Systemen ausgeht. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 105. Der Mensch reduziert sich dabei natürlich keineswegs auf Bewusstsein, und es wäre in der Tat zu fragen, ob leibhafter Wahrnehmung nicht ein ähnlicher Status eingeräumt werden müsste. Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik. Hg. von Jean Bollack und Helen Stierlin, Frankfurt/M. 1975, S. 143.

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Diese Probleme sollen hier durch einen revidierten Kommunikationsbegriff umgangen werden. Individuen und soziale Systeme sind in der modernen Gesellschaft rekursiv aufeinander verwiesen: Ohne Bewusstsein könnten Systeme über nichts kommunizieren, ohne Kommunikation ermöglichende Systeme sich Individuen aber nicht mitteilen. Genau dieses Bedingungsverhältnis ist mit dem Begriff der ›Interpenetration‹ gemeint. Interpenetrierende Systeme ermöglichen sich gegenseitig, indem sie sich ihre Eigenkomplexität zur Verfügung stellen.78 Bewusstsein in Form psychischer Systeme ist zur Fortsetzung seiner Autopoiesis auf unentwegte Wahrnehmung angewiesen. Wahrnehmung ist eine Spezialkompetenz des Bewußtseins, ja sogar seine eigentliche Fähigkeit. Ganz überwiegend ist das Bewußtsein Tag für Tag, ja Minute für Minute mit Wahrnehmungen beschäftigt. Es läßt sich über Wahrnehmungen durch eine äußere Welt faszinieren. Ohne Wahrnehmung müßte es seine Autopoiesis beenden.79

Erst durch Externalisierung und Konstruktion einer Außenwelt durch Wahrnehmungsakte kann das Individuum, aufgrund der Eigenleibwahrnehmung sowie den allgegenwärtigen Problemen mit der Außenwelt auf sich selbst aufmerksam werden und Selbstreferenz erzeugen und damit erst wird Denken als Voraussetzung für Kommunikation möglich.80 Wahrnehmung ist darauf eingerichtet, eine schon bekannte Welt auf Informationen abzusuchen, ohne daß man sich eigens und ausnahmsweise entschließen müßte. Sie ermöglicht dem Bewußtsein eine vorübergehende Anpassung an vorübergehende Lagen. Das weitere Prozessieren der Information ist dann durch die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz vorstrukturiert. [...] Vom Bewußtsein aus gesehen findet alle Kommunikation in einer wahrnehmbaren Welt statt. Wahrnehmungen zu prozessieren und durch Gedachtes zu steuern ist die primäre Leistung des Bewußt-

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Luhmann, Soziale Systeme, S. 290. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995, S. 14f. Auch Quine sieht ein Primat der Wahrnehmung für die Konstitution von theoretischem Denken und deren Sprache. Allerdings verläuft seine Argumentation genau anders herum, wenn er von Wahrnehmungsähnlichkeiten als Grundlage der Referenz ausgeht. Sein Begriff der Wahrnehmungs-Ähnlichkeit ist schon ein intersubjektiver Begriff, der sich nur aus Kommunikation ergeben kann, denn eine andere Möglichkeit der nichtleiblichen Interaktion haben Menschen nicht. Vgl. Willard Van Orman Quine, The Roots of Reference, Illinois 1973. Zu einem Versuch Quines Wahrnehmungsbegriff literaturwissenschaftlich fruchtbar zu machen, siehe Friedmar Apel, Deutscher Geist und deutsche Landschaft. Eine Topographie, München 1998, S. 22–25. Nach einer langen individualistisch-konstruktivistischen Periode in der Kognitionswissenschaft, sehen neueste Forschungsergebnisse eine im Gehirn messbare Übereinstimmung von visueller Wahrnehmung unterschiedlicher Individuen in gleicher Wahrnehmungssituation: »individual brains to ›tick collectively‹ during natural vision.« Siehe Uri Hasson/Yuval Nir/Ifat Levy/Galit Fuhrmann/Rafael Malach, Intersubject Synchronization of Cortical Activity During Natural Vision‹ In: Science 303 (12. März 2004), S. 1634–1640, dazu im selben Heft Luiz Pessoa, Seeing the World in the Same Way, S. 1617f.

seins. Beteiligung an Kommunikation (und damit auch: Kommunikation schlechthin) ist nur möglich, wenn dies vorausgesetzt werden kann.81

Wie genau Wahrnehmung, die ja selbst aus einem geschlossenen System heraus agiert, diese Externalisierung von neurophysiologischen Prozessen »auf noch immer rätselhafte Weise«82 leistet, braucht hier zunächst nicht weiter zu interessieren. Entscheidend ist, dass über den Wahrnehmungsbegriff System und Bewusstsein oder System und Individuum strukturell aneinander gekoppelt werden. Im Sinne dieses schon recht komplex bestimmten Begriffs ist alle Kommunikation strukturell gekoppelt an Bewußtsein. Ohne Bewußtsein ist Kommunikation unmöglich. Kommunikation ist total (in jeder Operation) auf Bewußtsein angewiesen – allein schon deshalb, weil nur das Bewußtsein, nicht aber die Kommunikation selbst, sinnlich wahrnehmen kann und weder mündliche noch schriftliche Kommunikation ohne Wahrnehmungsleistung funktionieren könnte.83

Mit dem Begriff der Wahrnehmung schließt Luhmann eine Lücke, die die vorherige Emphase des Sinn-Konzeptes offen gelassen hatte. Noch in ›Soziale Systeme‹ fungierte Sinn als Schaltstelle zwischen sozialen und psychischen Systemen. Sinn als »Überschuß [...] von Verweisungen auf andere Möglichkeiten«,84 ist die aus der Co-evolution von psychischen und sozialen Systemen emergierte ›evolutionäre Errungenschaft‹, die durch die Produktion von ständig neuen Kontingenzen des Es-könnte-auch-anders-sein, die Autopoiesis von Bewusstsein und Kommunikation als Prozessieren dieser Kontingenzen beständig fortsetzt und nicht hintergangen werden kann. Auch der Verweis auf die Sinnlosigkeit der Welt produziert erneut wieder Sinn.85 Auf diese Weise ermögliche Sinn die Interpenetration psychischer und sozialer Systembildungen bei Bewahrung ihrer Autopoiesis; Sinn ermöglicht das Sichverstehen und Sichfortzeugen von Bewußtsein in der Kommunikation und zugleich das Zurückrechnen der Kommunikation auf das Bewußtsein der Beteiligten.86

Sinn fungiert auf diese Weise als Universalmedium, das immer die andere Seite seiner Form als Möglichkeit mit sich führt, »Einheit von Aktualität und Potentialität« ist.87 Wahrnehmung als kommunizierte Beobachtung aber erklärt nun die konkreten Inhalte der Kommunikation als Selektion durch Aufmerksamkeit.88 Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass etwa Kommunikation Wahrnehmung

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Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 27. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 121. Ebd., S. 103. Luhmann, Soziale Systeme, S. 93. Ebd., S. 95f. Ebd., S. 297. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 55. Vgl. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 17.

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ausdrücken könnte.89 Eine solche Auffassung ignorierte die aufrecht erhaltene Trennung der Operationsweisen von psychischen und sozialen Systemen. Kommunikation kann nur auf Wahrnehmung referieren, sie bezeichnen, nicht aber selbst produzieren. »Kommunikation mittels Kunstwerken muß deshalb Wahrnehmbares inszenieren, ohne sich selbst als Wahrnehmung in je individuell verkapselten psychischen Systemen reproduzieren zu können.«90 Sehr wohl kann für das Bewusstsein psychischer Systeme also etwa ein literarischer Text anschaulich oder sinnlich erfahrbar sein,91 weil Wahrnehmung für das Bewusstsein als seine Operationsweise zur Verfügung steht und auf sie angewiesen ist. Aus der stillschweigend gemachten Voraussetzung, dass andere auf ähnliche oder gleiche Weise erfahren, eines »senus communis aestheticus«,92 mag die Kantische Zumutung erfolgen, dass wir für unsere subjektiven ästhetischen Urteile intersubjektive Zustimmung einfordern. Im § 6 und § 8 der Kritik der ästhetischen Urteilskraft formuliert Kant bekannterweise als entscheidendes Kriterium das interesselose Wohlgefallen in der ästhetischen Anschauung, die von allen »Privatbedingungen als Gründe des Wohlgefallens« absieht und daher muß er glauben Grund zu haben, jedermann ein ähnliches Wohlgefallen zuzumuten. Er wird daher vom Schönen so sprechen, als ob Schönheit eine Beschaffenheit des Gegenstandes und das Urteil logisch [...] wäre; ob es gleich nur ästhetisch ist und bloß eine Beziehung der Vorstellung des Gegenstandes auf das Subjekt enthält.93

Der Grund aber, warum diese Zustimmung allzu oft ausbleibt, kann in der Unmöglichkeit gesehen werden, die individuelle ästhetische Wahrnehmung aus dem eigenen Bewusstsein in das andere zu übertragen. Kant spricht daher von ›Zumutung‹ und ›als ob‹. Ästhetische Urteile sind demnach doppelte Zurechnungen durch das wahrnehmende Individuum: Einerseits auf die ästhetisch erfahrenen Objekte, andererseits auf das Bewusstsein des anderen.94 Die Schwierigkeiten, unmittelbare Übereinstimmung zu erreichen, deuten darauf hin, dass wir Wahrnehmungen und insbesondere ästhetische Wahrnehmungen nur bezeichnen und hoffen können, dass der andere zustimmt. Diese Zustimmung aber könnte

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Ebd., S. 20f. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 83. Über die historische Erscheinungsweise dieser Inszenierung wäre gesondert zu reden. Dazu vgl. Lothar van Laak, Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 2003. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. In: ders., Werke in zwölf Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1977, Bd. 10, § 40, S. 227. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 6, S. 124f. [Meine Hervorhebung, mb]. Wir werden weiter unten sehen, dass in dieser doppelten Zurechnung die besondere Funktion der Kunst als Brücke zwischen Wahrnehmung und Kommunikation besteht.

allenfalls durch Kommunikation erzielt werden und deren Erfolg ist zunächst unwahrscheinlich.95 Soll Wahrnehmen des Objekts als Verstehen einer Kommunikation, also als Verstehen der Differenz von Information und Mitteilung gelingen, ist dazu ein Wahrnehmen des Wahrnehmens erforderlich. [...] Und für die soziale Kommunikation heißt dies, daß sie es mit einer selbsterzeugten Verstehensschwierigkeit zu tun hat, an die offene Sinnerwartungen anknüpfen können.96

Auf diese Weise kann Sinn über Wahrnehmung produziert werden. Dabei muss natürlich nicht alles, was wahrgenommen wird, auch kommuniziert werden, wohl aber kann nur mit Bezug auf Wahrnehmung kommuniziert werden und sei es in deren Ausblendung oder Verfremdung. Denn auch hier gilt, dass jede Form ihre andere Seite als das im Moment nicht Bezeichnete immer mit sich führt. Ob der Begriff der strukturellen Koppelung ein »Dementi« früher Positionen Luhmanns ist, mag von theoriegeschichtlichem Interesse sein, braucht hier aber nicht weiter verfolgt zu werden. Offensichtlich ist aber das Konzept des Individuums bzw. »eines sozialen Akteurs«97 in die Theorie autopoietischer sozialer Systeme zurückgekehrt. Die Rede von einer Hermeneutisierung der Theorie braucht keineswegs nur pejorativ geführt zu werden.98 »Ständig referiert die Kommunikation deshalb auf Personen und setzt dabei voraus, daß diese Refe-

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Siehe die einschlägige Stelle bei Luhmann (Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 25–35; hier S. 26f.): »Kommunikation ist unwahrscheinlich. [...] 1) Als erstes ist es unwahrscheinlich, daß jemand überhaupt versteht, was der andere meint, gegeben die Trennung und Individualisierung ihres Bewußtseins. Sinn kann nur kontextgebunden verstanden werden, und als Kontext fungiert für jeden zunächst einmal das, was sein eigenes Gedächtnis bereitstellt. 2) Die zweite Unwahrscheinlichkeit bezieht sich auf das Erreichen von Empfängern. Es ist unwahrscheinlich, daß eine Kommunikation mehr Personen erreicht, als in einer konkreten Situation anwesend sind. [...] Über die Grenzen des Interaktionssystems hinaus können die hier geltenden Regeln jedoch nicht erzwungen werden. [...] 3) Die dritte Unwahrscheinlichkeit ist die Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs. Selbst wenn eine Kommunikation verstanden wird, ist damit noch nicht gesichert, daß sie auch angenommen wird. Mit kommunikativem ›Erfolg‹ meine ich, daß der Empfänger den selektiven Inhalt der Kommunikation (die Information) als Prämisse des eigenen Verhaltens übernimmt, also an die Selektion weiterer Selektionen anschließt und sie dadurch in ihrer Selektivität verstärkt.« Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 70. So Johannes Weyer (System und Akteur. Zum Nutzen zweier soziologischer Paradigmen bei der Erklärung erfolgreichen Scheiterns. In: KfSS 45 (1993), S. 1–22; S. 5) geradezu vorwurfsvoll. Auch Georg Stanitzek (Im Rahmen? Zu Niklas Luhmanns Kunst-Buch. In: Henk de Berg/Matthias Prangel (Hg.), Systemtheorie und Hermeneutik, Tübingen – Basel 1997, S. 11–30; S. 19) sieht Luhmanns Modell der Schließung des Kunstwerks »von einer klassischen hermeneutischen Konzeption nicht so weit entfernt, wie es glauben machen

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renz durch die Realität hochkomplexer, aber intransparenter autopoietischer Systeme gedeckt ist.«99 Dennoch muss deutlich bleiben, auf welcher Ebene diese Einflussmöglichkeiten liegen, und welcher Status ihnen zugeschrieben wird. Auf der Ebene der Kommunikation wird der intentionale Anteil des Individuums relativiert. Kommunikation mit seinen drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen vollzieht sich bei Luhmann immer als ein Verstehen von Ego, dass bei Alter eine Unterscheidung von Information und Mitteilung vorliegt, die an ihn/sie gerichtet wird. Genauer müsste man sagen, die Ego auf sich als von Alter mitgeteilt bezieht, denn Ego hat keine Möglichkeit in das Bewusstsein von Alter hinüber zu denken und dessen Intention einzuschauen. Die Frage des semantischen Gehalts der Mitteilung wird bereits Sache der Anschlusskommunikation, die dann über Annahme oder Ablehnung entscheiden kann. Mit Verstehen bzw. Mißverstehen wird eine Kommunikationseinheit abgeschlossen ohne Rücksicht auf die prinzipiell endlose Möglichkeit, weiter zu klären, was verstanden worden ist. Aber dieser Abschluß hat die Form des Übergangs zu weiterer Kommunikation, die solche Klärungen nachvollziehen oder sich anderen Themen zuwenden kann.100

Durch die Notwendigkeit an Kommunikation anschließen zu müssen, um Verständigung zu erlangen, wird die Autopoiesis von Kommunikation erst möglich. Damit kann Alter nicht von einer starken Annahmewahrscheinlichkeit der inhaltlichen Propositionen ausgehen und Ego bleibt sich der doppelten Differenz zwischen seiner Verstehensleistung und Alters Selektion einer Information als Mitteilung stets bewusst. Für eine Textwissenschaft bleibt die Frage nach dem Status von Texten. Sind Texte schon Kommunikation, die den drei Selektionen gerecht wird?101 Zunächst ist festzuhalten, dass auch Luhmanns Kommunikationsmodell nicht ohne Kommunikationsteilnehmer auskommt, auch wenn das traditionelle Sender-Empfänger-Schema aufgegeben wird. »Mindestens zum Mitteilen und Verstehen, vielfach auch zur Erzeugung der Tatbestände, die im Kommunikationszusammenhang als Information fungieren, sind Menschen erforderlich.«102 Vor allem aber, wenn Kommunikation von der dritten Selektion ›Verstehen‹ aus konzipiert wird, ist sie ein zumindest zweistelliger Prozess. Kritisiert wurde Luhmann für seine Definition von Kommunikation als Ereignis, das a) zeitpunktfixiert ist, b) unmittelbar nach Auftreten wieder verschwindet

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will«. Und: »Luhmanns Ästhetik ist aber nicht zuletzt als originelle Hermeneutik oder Lectio-Lehre zu verstehen.« Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 378. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 83. Siehe zum Problem Stanitzek, Was ist Kommunikation?, S. 21–55. Luhmann, Soziale Systeme, S. 294.

und c) unwiederholbar ist.103 Wie kann also ein Text, der offensichtlich allenfalls Kriterium a) erfüllt, Kommunikation sein? Luhmann antwortet: »Durch Schrift wird Kommunikation aufbewahrbar, unabhängig von dem lebenden Gedächtnis von Interaktionsteilnehmern, ja sogar unabhängig von Interaktion überhaupt. Die Kommunikation kann auch Nichtanwesende erreichen«.104 Ein Text als Artefakt aber kann lediglich die Differenz von Information und Mitteilung aufzeigen. Die schriftliche Fixierung setzt eine wie auch immer gestaltete Intention voraus. Jemand hat Informationen isoliert und sich entschieden, eine oder mehrere davon mitzuteilen. Diese Entscheidung zur Mitteilung ist mit dem Begriff des Textes zugleich mitgegeben.105 Schon um Differenz zu bemerken, muss rezipiert werden. Ein Text kann also lediglich Kommunikationsofferten speichern und als Kommunikationsanlass dienen. Wie diese Anlässe realisiert werden, ist Thema der Anschlusskommunikation und auch ›fertigen Werken‹ kommt so eine Unbestimmtheit »bis hin zu einer hoffnungslosen Interpretationsbedürftigkeit«106 zu. Erst hier kann Verstehen einsetzen, ohne dass dies Verstehen schon ein Verstehen von Inhalten sein muss.107 »Beobachtbar wird die durch Verstehen realisierte Umsetzung eines Textes als kommunikatives Ereignis allerdings nur dann, wenn auf ihrer Grundlage eine kommunikative Anschlusselektion stattfindet.«108 Halten wir fest: Auch für eine systemtheoretisch informierte literaturwissenschaftliche Argumentation bleiben historisch-semantisch situierte Individuen als Produzenten von Texten relevant, insofern ihnen als wahrnehmende Beobachter eine Mittlerposition zwischen Welt und System zukommt. Nehmen wir die Erweiterung der Leistungsebene auf die Beziehung soziales – psychisches System hinzu, dann können zwei weitere klassische Unterscheidungen der Literaturwissenschaft mit einem systemtheoretischen Ansatz in Einklang gebracht werden. Denn einerseits muss nun ein (wie auch immer) intendierter Text als zeitgenössische Form der Mitteilung gedacht werden, der im Produktionskontext des Autors bestimmte Selektionen hinsichtlich der Form und des Inhalts vornimmt, um ihn anschlussfähig für die literarische Kommunikation zu machen,

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Vgl. ebd., S. 102. Ebd., S. 127. Vgl. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 70. Ebd., S. 24. Seit Chladenius weiß die Hermeneutik, dass Verstehen notwendig mehr sein kann als das vom Verfasser vermeintlich intendierte: »Allein weil die Menschen nicht alles übersehen können, so können ihre Worte, Reden und Schriften etwas bedeuten, was sie selbst nicht willens gewesen zu reden oder zu schreiben: und folglich kan man, indem man ihre Schrifften zu verstehen sucht, Dinge, und zwar mit Grund dabey gedencken, die denen Verfassern nicht in Sinn kommen sind.« Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schriften, Leipzig 1742, §156, S. 86f. Reinfandt, Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten, S. 75.

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andererseits kann die Zurechnung ›literarisch‹ erst durch die Anschlusskommunikation bzw. durch die Aufnahme der Kommunikationsofferte erfolgen. So rücken also Produktions- wie Rezeptionsästhetik zugleich in den literaturwissenschaftlichen Blick. Im Hinblick auf die Interpenetration des Literatursystems mit psychischen Systemen ergibt sich also für jeden Text eine Differenz zwischen dem Kontext literarischer Kommunikation zum Zeitpunkt seiner Entstehung (Produktionskontext) und dem Kontext literarischer Kommunikation seiner kommunikativen Umsetzung (Rezeptionskontext).109

Alle Äußerungen können als Kommunikationsofferten aufgefasst werden und es gilt zu beschreiben, welchen Systemreferenzen diese Äußerungen zuzurechnen sind, wieso und was als symbolisches Mehr jenseits von Information und Mitteilung an ihnen gefunden werden kann.110 Eine Charakterisierung der Literatur als Kommunikation erlaubt es, »den Text als Grenzlinie zwischen Symbol- und Sozialsystem bzw. als Gelenkstelle umzudispositionieren«,111 und beide Systemreferenzen im Blick zu halten. Das Koppelungselement ist im Begriff der Wahrnehmung gegeben. Wenn für Bewusstsein gilt, dass es nur denken, aber nicht kommunizieren kann, dann gilt gleiches auch für Wahrnehmung.112 Zwischen Wahrnehmung und Kommunikation entsteht eine Differenz, die nicht ohne Weiteres eingeholt werden kann. Das Individuum »läßt sich über Wahrnehmungen von seiner Außenwelt faszinieren«.113 Jede Wahrnehmung bleibt zunächst individuelles Bild von der eigenen Welt.114 Diese Tatsache trifft natürlich auch auf den Künstler und Schriftsteller zu. Lesen wir Kunstwerke und die Werke der Literatur als Weltwahrnehmung und -beschreibung und verstehen sie als Mitteilung an uns, dann ist »Kunst eine Art von Kommunikation [...], die [...] Wahrnehmung in Anspruch nimmt«.115 Wo Kunst aber als bloße Imitatio oder Kopie der Welt gelesen wird, da ergibt sich keine unmittelbare Differenz zwischen Information und Mitteilung, die als individuelle Intention beschrieben werden könnte. Kriterium der Bewertung kann lediglich die Originaltreue oder (psychologische) 109 110

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Ebd., S. 107. »Zurechnungen betreffen niemals das innere Geschehen (die Autopoiesis) der beteiligten Systeme, sondern immer nur ihr Verhalten, wie es durch einen Beobachter gesehen und auf die Umwelt bezogen wird.« Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 333. Jahraus/Schmidt, Systemtheorie und Literatur, S. 99. Vgl. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 187. Ebd., S. 15. Auch der Radikalkonstruktivist Luhmann hat keine Schwierigkeiten damit, dass wir aufgrund ähnlicher neurophysiologischer Voraussetzungen über die meisten Gegenstände der Wahrnehmung wohl Übereinstimmung erzielen können, aber eben nur in Kommunikation. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 26.

Wahrscheinlichkeit der Abbildung sein. Erst wenn der Begriff der Individualität des Künstlers Einzug in die Kunstkritik hält, Kunst als Ausdruck des Individuums gedeutet wird,116 kann man zur Einsicht gelangen, dass nicht nur über, sondern auch durch Kunst kommuniziert werden kann. Kunstkommunikation ist die Wahrnehmung eines wahrnehmenden Individuums (Rezeption), das beobachtet, wie wahrgenommen wird (Produktion).117 Auf eine besondere Weise »könnte man sagen, daß Kunst wie eine Art von ›Schrift‹ die Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation überbrückt, die Wahrnehmungsunfähigkeit der Kommunikation kompensiert«.118 Literatur und Kunst bedienen sich auf je spezifische Weise der Wahrnehmung und kommunizieren darüber. Offenbar sucht die Kunst ein anderes, nichtnormales, irritierendes Verhältnis von Wahrnehmung und Kommunikation, und allein das wird kommuniziert. [....] Alles ›künstlich‹ Hergestellte provoziert den, der es wahrnimmt, zu der Frage: wozu?119 Vielmehr soll [...] behauptet sein, daß das Kunstwerk selbst ausschließlich als Mittel der Kommunikation hergestellt wird und mit den üblichen, vielleicht noch gesteigerten Risiken aller Kommunikation diesen Sinn erreicht oder nicht erreicht. Dies geschieht durch einen zweckentfremdeten Gebrauch von Wahrnehmungen. [...] Kommunikation vermag Wahrnehmung zu faszinieren und dadurch Aufmerksamkeit zu lenken.120 Kunst macht Wahrnehmung für Kommunikation verfügbar, und dies außerhalb der standardisierten Formen der (ihrerseits wahrnehmbaren) Sprache. Sie kann die Trennung von psychischen und sozialen Systemen nicht aufheben. Beide Systeme bleiben füreinander operativ unzugänglich. Und gerade das gibt der Kunst ihre Bedeutung. Sie kann Wahrnehmung und Kommunikation integrieren, ohne zu einer Verschmelzung oder Konfusion der Operationen zu führen.121 So gesehen, wäre es die Funktion der Kunst, etwas prinzipiell Inkommunikables, nämlich Wahrnehmung, in den Kommunikationszusammenhang der Gesellschaft einzubeziehen.122

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Von verschiedener Seite ist argumentiert worden, dass die Individualitätsproblematik als eine der wichtigsten Reaktionen auf den Prozess funktionaler Differenzierung gesehen werden kann. Siehe Eibl, Entstehung der Poesie und Marianne Willems, Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang, Tübingen 1995. Vgl. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 70. Ebd., S. 33. In den letzten Jahren hat sich ein immenses Forschungsfeld diesem Zusammenhang von Wahrnehmung und Literatur gewidmet. Für einen kleinen Überblick siehe Vf., Kann die Schrift vor Augen zaubern? Wahrnehmung, Kultur, Literatur und das Problem ihrer Medialität in neueren Publikationen. In: Kulturpoetik 5.1 (2005), S. 101–110. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 42. Ebd., S. 40f. Ebd., S. 82f. Ebd., S. 227.

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So wird eine inhaltliche Positionierung gegenüber der Realität möglich, sei sie lediglich abbildend, pejorativ oder affirmativ,123 darüber ist in Anschlusskommunikationen zu entscheiden. Literatur eröffnet damit einen Kommunikationsraum für neue Ordnungsmodelle »der sonst vorfindbaren Realität«.124 Kunst oder Literatur sind direkt an der Schnittstelle125 zwischen den Wahrnehmungs- und Ausdrucksweisen von Individuen und der Gesellschaft sozialer Systeme verortet. In ihrer eigentümlichen Zwischenstellung zwischen privatem und öffentlichem Bereich erlaubt die Literatur eine öffentliche Institutionalisierung privater Erfahrung in ihrer vollen Individualität. [...] Gleichzeitig ist sie dabei aber allerdings auch offen für die in diesem Zusammenhang bedeutsamen Einflüsse anderer Sozialsysteme, so daß z.B. insbesondere moralische Fragen sich in einer durch Religion, Erziehung oder Politik ›vorgeklärten‹ Form in der Literatur niederschlagen. Auf diese Weise erscheint die Literatur als wichtige Vermittlungsinstanz zwischen dem für die Bildung des Individuums zentralen Privatbereich, der aus dem öffentlichen Leben weitgehend ausgeklammert wird, einerseits und dem vom Individuum Unterordnung unter die Notwendigkeiten des jeweiligen Subsystems fordernden öffentlichen Bereich andererseits.126

Von Seiten der kritischen Theorie, insbesondere durch Jürgen Habermas, wurde Luhmann vorgeworfen, in seinem Theorieentwurf wäre Gesellschaftskritik nicht vorgesehen und er falle letztlich wieder in Positivismus zurück.127 Die Gesellschaftstheorie Luhmanns weigert sich in der Tat, Direktiven zur Verbesserung oder teleologische Zielvorgaben zu formulieren. Das bedeutet aber keineswegs, dass Kritik an gesellschaftlichen Entwicklungen aus dieser Beschreibung notwendig herausfallen muss. Sie kann als Kommunikation innerhalb der Gesellschaft prozessiert werden. Denn jede Weltbeobachtung findet in der Welt statt, jede Gesellschaftsbeobachtung, wenn sie als Kommunikation vollzogen wird, in der Gesellschaft. Die Gesellschaftskritik ist Teil des kritisierten Systems, sie läßt sich inspirieren und subventionieren, sie läßt sich beobachten und beschreiben.128

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Ebd., S. 230ff. Ebd., S. 232. Eibl (Entstehung der Poesie, S. 134) sieht als neues Funktionsprimat der Literatur um 1800 die gesellschaftlich ungelösten Probleme zu bearbeiten, ohne dass sie einer Lösung zugeführt werden könnten. »Der Werther bezeichnet genau die Übergangsstelle, einen säkularen Schnitt in der Funktionsgeschichte der Dichtung, die Entstehung der Poesie, die sich vom Funktionsprimat der Unterstützung von Problemlösungen ablöst und zum Funktionsprimat der Reflexion ungelöster Probleme wechselt.« Luhmann (Kunst der Gesellschaft, S. 83) bezeichnet Kunstwerke als »Nahtstelle psychischer und sozialer Systeme«. Reinfandt, Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten, S. 40. Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985, S. 422–445. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1118.

Literatur als Selbstbeschreibung der Gesellschaft führt die in ihr kondensierten Wahrnehmungen als ein Beobachten von Beobachtungen wieder in die gesellschaftliche Kommunikation ein, wo sie wiederum beobachtet und kommentiert werden kann. Versteht sich Literatur in diesem Sinne als Kommunikationsraum, so können selbstverständlich über sie Aussagen getroffen werden, wie ›In Werk X finden wir die Entfremdung durch den Kapitalismus dargestellt‹. Dabei ist aber stets mitzudenken: Wir verstehen den Text als eine Mitteilung und verhandeln in unserem Kommentar über das inhaltliche Was? der Kommunikation. Wir können uns nun ablehnend oder annehmend dazu verhalten, indem wir z.B. das Werk X zur Seite legen oder eine Dissertation darüber verfassen. Zu unserem Kommentar können sich andere Kommunikationsteilnehmer wiederum positiv oder negativ äußern. ›In Werk X wird ganz und gar nicht ein Entfremdungsprozess dargestellt‹ oder ›Ja, und hier wird überdem zu politischem Handeln aufgerufen‹. Jede Selbstbeobachtung und jede Selbstbeschreibung setzt sich daher unvermeidbar ihrerseits der Beobachtung und Beschreibung aus. Jede Kommunikation kann ihrerseits Thema einer Kommunikation werden. Das heißt aber, daß sie positiv oder negativ kommentiert, daß sie angenommen oder abgelehnt werden kann.129

Damit ist Niels Werber und Gerhard Plumpe widersprochen, wenn sie davon ausgehen, dass es der Literatur bei ihren Umweltbeobachtungen lediglich um die ›Poesiefähigkeit‹ der Importe ginge »und nicht etwa um die ökonomischen oder politischen Verhältnisse zu verändern«.130 Die Bezugswelt der Individualität im emphatischen Sinne ist immer transsozial. Damit aber bleibt Gesellschaft als das grundsätzlich Widerständige auf Dauer im Fokus der Kritik. Seit den Tagen der Stürmer und Dränger wird es eine der vornehmsten selbstgewählten Aufgaben von Literaten sein, Sozial- und Institutionenkritik zu üben. Daß die Gegenvorschläge, die sie gelegentlich machen, in der Regel wenig taugen [...] verschlägt nichts. Denn solcher Kritik geht es nicht um die mühseligen kleinen Schritte der Verbesserung [...], sondern ums ›Ganze‹, um ein enthusiastisches Welt- und Menschenbild.131

Zugleich aber wird deutlich, dass eine solche Konzeption von Literatur in keiner Weise auf Inhalte einer solchen Funktion festgelegt ist. So ist auch Siegfried J. Schmidts These zu relativieren, die gesellschaftliche Funktion von Literatur bestehe darin, die Folgelasten der funktionalen Ausdifferenzierung zu kompen-

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Ebd., S. 888. Gerhard Plumpe/Niels Werber, Einleitung. In: dies. (Hg.), Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft, Opladen 1995, S. 3–8; S. 7. Eibl, Entstehung der Poesie, S. 129.

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sieren und damit bestehende Ordnung nicht nur zu bestätigen, sondern auch zu stützen. Im moralischen Bereich entwickeln sich im Literatursystem Möglichkeiten der ›symbolischen‹ Bewältigung der Folgelasten der funktionalen Differenzierung, vor allem der Individualisierung und der zunehmenden Identitätsansprüche (Stichwort: ›Entfremdung‹). Diese Folgelasten entstehen vor allem durch die Lockerung sozialer und religiöser Bindungen. [...] Durch diese Entwicklung wird das Literatursystem im 18. Jahrhundert zum ideologisch prämierten Ort der geistig, emotional und moralisch gleichermaßen entfalteten Subjektivität (Stichwort: Selbstverwirklichung), die in allen anderen Bereichen entweder auf einen Sektor verkürzt oder gar völlig geopfert wird: in der Wissenschaft dem Leitziel Objektivität, in der Philosophie dem Leitziel Wahrheit, in der Wirtschaft der Arbeitsteilung und Entfremdung zugunsten des Profits, im Recht im Gleichheitsgrundsatz. Allein das Literatursystem bietet noch das Versprechen komplexer, risikoreicher, innovativer Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten ganzheitlicher Art, in denen kognitive, moralische und hedonistische Momente integriert bleiben (bzw. werden) können.132

Was Schmidt hier als soziologische Funktionsbestimmung ausgibt, ist aber vornehmlich eine Selbstbeschreibung des Literatursystems. Alle Stichworte, die Schmidt aufführt – Selbstverwirklichung, Entfremdung, Integration und Versöhnung – können als Versuche der Positionsbestimmung des Literatursystems im Gesellschaftssystem gesehen werden und als Leistungsangebote an psychische Systeme, die das Literatursystem selbst formuliert. Sinn macht aber eine solche Rede nur, wenn es Träger dieser Erfahrung gibt. Der Literatur werden alle diese Funktionen zugesprochen und sie schreibt sie sich selbst zu, wohl aber auf dem Hintergrund der zunehmenden Reduzierung der gesellschaftlichen Funktion von Literatur auf Unterhaltung.133 Wenn einerseits Unterhaltung zu einem wesentlichen Kriterium für Produktion und Rezeption von Literatur wird, dann wird dieses Phänomen um 1800 von den Höhenkamm-Autoren durchaus als Entwertung der Kunst reflektiert und einerseits mit dem Versuch einer umfassenden Erziehungs- und Bildungskonzeption von Kunst beantwortet (Lessing, Schiller), andererseits wird Dichtung als Ort der Reintegration oder Entdifferenzierung, insbesondere der Teilsysteme Naturwissenschaft und Geschichte, konzipiert, um so den Menschen wieder innerhalb der Gesellschaft verorten zu können (F. Schlegel, Novalis, Arnim, z.T. Goethe). Wenn wir davon ausgehen, dass die Literatur ihre gesellschaftliche Umwelt beobachtet, dann ist damit keineswegs impliziert, dass sie dies wertneutral tut.

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Siegfried J. Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1989, S. 20f. Worin Werber, Plumpe und mit ihnen Reinfandt die Funktion der Kunst in der modernen Gesellschaft sehen.

Es wird später zu präzisieren sein, wie die Literatur und insbesondere der Roman rekursive Geschlossenheit und strukturelle Koppelung auf der Ebene der erzählerischen Darstellung vereinen kann, ohne die Operationen zu vermischen. Zunächst aber gilt festzuhalten, dass auch die Theorie der funktionalen Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems auf der Ebene der Selbstbeschreibung ein Entfremdungsempfinden erkennt, das kommuniziert wurde. Seit dem 16. Jahrhundert reagiert man auf der Ebene der Selbstbeschreibung mit Unsicherheiten, mit Kämpfen um die richtige Wahrheit, mit der Erfahrung eines Ordnungsverlustes, mit semantischen Doppelungen, zum Beispiel der Unterscheidung wahrer und falscher Tugend, und mit der Fixierung auf eine Welt des Anscheins, auf die der Mensch sich einzustellen habe.134

All diese Aspekte beziehen sich je nach Lesart entweder auf Betrachtungsebene 1 (Funktion) oder 2 (Leistung). Es wurde schon gesagt, dass sich auf Ebene 3 (Reflexion) die Selbstbestimmung und Selbstbeobachtung des Systems vollzieht und sie damit zum eigentlichen Ort autopoietischer Reproduktion wird, die nun aber auch auf die intern prozessierten ›Importe‹ aus Ebene 2 als Wiedereintritt der zuvor getroffenen Unterscheidung zur Umwelt zurückgreifen kann. Für die Literatur stellt sich die Frage, wo und wie sich die Selbstbestimmung und -beobachtung vollziehen kann. »Die Frage nach dem Ort der Selbstreflexion des Kunst- und Literatursystems wird von Luhmann, Schmidt und Plumpe zunächst übereinstimmend mit dem Hinweis auf die ästhetische Theorie beantwortet.«135 Das erscheint zunächst plausibel, da es ja offensichtlich selbstgegebene Aufgabe der Ästhetik zu sein scheint, Funktion und Verfahrensweise von Kunst/Literatur zu beschreiben. Mit ihrem Aufkommen bei Baumgarten tritt die Ästhetik aber als Teildisziplin der Philosophie als Wissenschaft auf. Kant hat diesen Widerspruch erkannt und die Konsequenzen daraus gezogen: Es gibt weder eine Wissenschaft des Schönen, sondern nur Kritik, noch schöne Wissenschaft, sondern nur schöne Kunst. Denn was die erstere betrifft, so würde in ihr wissenschaftlich, d.i. durch Beweisgründe ausgemacht werden sollen, ob etwas für schön zu halten sei oder nicht; das Urteil über Schönheit würde also, wenn es zur Wissenschaft gehörte, kein Geschmacksurteil sein. Was das zweite anlangt, so ist eine Wissenschaft, die, als solche, schön sein soll, ein Unding. Denn, wenn man in ihr als Wissenschaft nach Gründen und Beweisen fragte, so würde man durch geschmackvolle Aussprüche (Bonmots) abgefertigt.136

Zugleich aber sieht er seine ›Kritik der Urteilskraft‹ als Wissenschaft, wenn sie die Möglichkeit einer solchen Beurteilung von der Natur dieser Vermögen, als Erkenntnisvermögen überhaupt, ableitet. Mit der letzteren, als

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Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 958. Reinfandt, Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten, S. 41. Kant, Kritik der Urteilskraft (§44), S. 239.

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transzendentalen Kritik, haben wir es hier überall allein zu tun. Sie soll das subjektive Prinzip des Geschmacks, als ein Prinzip a priori der Urteilskraft, entwickeln und rechtfertigen.137

Diese Zitate legen nahe, Ästhetik im 18. Jahrhundert als spezifische Reaktion der Philosophie auf die Ausdifferenzierung eines autonomen Kunstsystems aufzufassen. Daraus ergibt sich die Folgerung, dass ästhetische Überlegungen einer eigenen philosophisch-wissenschaftlichen Funktionsorientierung folgen und nach Maßgabe der Leitdifferenz wahr/falsch eine Fremdbeschreibung des Kunstsystems erstellen. Diese widerum trägt von außen Leistungserwartungen an das Kunstsystem heran, die kunstspezifisch umgesetzt werden.138

Als wissenschaftliche Disziplin verweist die Ästhetik dabei auf die Ende des 18. Jahrhunderts immer noch zu findenden Funktionsüberlagerungen, die sich aus der auflösenden Rangdifferenz innerhalb der Wissenschaften ergeben.139 Nach dem endgültigen Ausschluss der Kunst aus dem System der Wissenschaft Mitte des 18. Jahrhunderts aber kann das Wissenschaftssystem die Kunst nicht mehr über ihre Bestimmung instruieren, denn nun »bestimmt im Falle der funktionalen Differenzierung jedes Funktionssystem die eigene Identität selbst«.140 Da Funktionssysteme nicht mehr über Personen beschrieben werden können, ja Individuen ihre Koppelung an Funktionssysteme beständig zu wechseln vermögen, kann die Zurechnung von Äußerungen oder Texten zum Kunstsystem nicht über die Autorfunktion erfolgen, wenngleich wir nicht vergessen, dass es diesen real gibt bzw. gab. Nicht alles, was Goethe sagt und schreibt, ist Kunst, weil Goethe ein Dichter war.141 Ist die Zurechnung aber allein der Willkür der Beobachter überlassen? Die Literatur entwickelt insbesondere für den Roman eine ganze Reihe von Techniken, die immer wieder auf die Künstlichkeit, auf die Fiktionalität aufmerksam machen.142 Dazu zählen insbesondere alle Formen von Selbstreflexivität und Rahmung.143 Und so ist es auch kein Zufall, dass Konzepte wie die romantische Ironie und Goethes Verfahren der wiederholten Spiegelung zeitlich mit der Ausdifferenzierung zusammenfallen. Will die Literatur/Kunst als auto137 138 139 140 141

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Ebd. (§ 34), S. 216. Reinfandt, Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten, S. 41f. Luhmann (Kunst der Gesellschaft, S. 268f.) schreibt: »Von einer Klärung der Situation ist man allerdings um 1800 noch weit entfernt«. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 745. Rudolf Stichweh (Zur Entstehung, S. 11) weist darauf hin, dass im 18. Jahrhundert weitgehend die Zuordnung zu Wissenschaftsgebieten und die Behandlung bestimmter Problemfelder aus einem biographischen Zusammenhang zu explizieren sind. Das dürfte für Goethe und seine Beschäftigung mit Farbenlehre, Geologie und Morphologie sicherlich auch zutreffen. Was natürlich noch nicht garantiert, dass sie bemerkt werden. Vgl. dazu Till Dembeck, Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul), Berlin – New York 2007.

nom wahrgenommen werden, dann muss sie nun alles leisten, was beispielsweise für das klassizistische Drama in Frankreich noch die Poetik Aristoteles leisten konnte. »Nur durch die Beobachtung, daß ein Objekt als Kunstwerk hergestellt worden ist, kann man es als ein Objekt im System der Kunst beobachten.«144 Das moderne Kunstwerk reflektiert seine Funktion als Beobachtungsmedium in der Ausstellung seiner Selbstbeobachtung schon mit. »Jedes Kunstwerk muß sich als ein solches anzeigen«, schreibt Goethe im Laokoon-Aufsatz.145 Es muss »die Direktive für die Ausarbeitung und Beurteilung des Kunstwerks dem Kunstwerk selbst entnommen werden«146 können. Auf diese Weise reproduziert es die Anschlussfähigkeit für die Kommunikation des Kunstsystems aus seinen eigenen Elementen. Es zeigt sich selbst als Kunst an und daher kann über es als Kunst kommuniziert werden. Klassik und Romantik sind wohl die ersten poetologischen Konzepte, die dies in vollem Maße reflektieren und so auf den Prozess funktionaler Differenzierung reagieren, ihn für das Kunstsystem gleichzeitig vorantreiben und so als Komplementärbegriffe deutlich werden. Daraus ergeben sich hier folgende Grundannahmen: 1. Das Werk muss als Ort der Selbstbeschreibung nicht nur des Kunstsystems, sondern auch von Gesellschaft angesehen werden. 2. Das literarische Werk zeigt sich durch Form und Struktur selbst an. 3. Diese Formen und Strukturen lassen sich beschreiben. Damit ist das Dilemma zwischen werkimmanenter und kontextbezogener Interpretation aufgelöst. Vor einer genaueren Beschreibung des Verhältnisses des Literatursystems zum Wissenschaftssystem seien die grundlegenden Argumentationsschritte noch einmal rekapituliert: Das Bewusstsein operiert über Wahrnehmung. Soziale Systeme operieren über Kommunikation. Beide Operationen sind einander nicht zugänglich. Kunst als Schnittstelle zwischen psychischen und sozialen Systemen bezieht »Inkommunikables nämlich Wahrnehmung in den Kommunikationszusammenhang der Gesellschaft«147 ein. So ist Kunst immer auch Selbstbeobachtungs- und Selbstverständigungsmedium der Gesellschaft. Als Funktionssystem kann die Kunst nur selbst für seine eigene Identität verantwortlich sein. Sie kann dies nur auf der Ebene der Kunstwerke. Kunstwerke sind der Ort der Autopoiesis des Systems auf dessen Innenseite und Beobach-

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Elena Esposito, Code und Form. In: Fohrmann/Müller (Hg.), Systemtheorie, S. 56–81; S. 66. Johann Wolfgang Goethe, Über Laokoon. In: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Friedmar Apel u.a. Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. von Friedmar Apel, Frankfurt/M. 1998; S. 489–500; S. 491. Die Frankfurter Ausgabe wird von hier an mit der Sigle ›FA‹ abgekürzt. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 334. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 227.

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tung der gesellschaftlichen Umwelt auf ihrer Außenseite. Beide Seiten der Form sind der Analyse zugänglich. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die Literatur sich ganz auf die funktionale Differenzierung einlassen muss, will sie nicht in andere Funktionssysteme eingegliedert werden, zugleich aber versucht wird, die Literatur noch einmal zum Ort einer Identifikation des Subjektes mit seiner Welt und Geschichte zu machen,148 was nicht gleichbedeutend mit der Aussage ist, dass der Literatur diese Funktion wirklich zukommt. Als zentrale Frage, so die These, wird verhandelt, ob und wie es unter den Bedingungen der Moderne noch »das kulturelle Archiv einer Gesellschaft«149 geben kann, oder ob Traditionszusammenhänge einfach abreißen können und dürfen. Welches Teilsystem der Gesellschaft verwaltet dieses Archiv? Im Rahmen funktionaler Differenzierung sieht Literatur sich mehr und mehr in Bedrängnis, ihre Rolle als Bewahrer, Vermittler und Transformator des kulturellen Erbes und der kulturellen Identität aufrecht zu erhalten. Sie wird in dieser Rolle zunehmend von den historischen Wissenschaften Philologie und Geschichte dispensiert. Damit wird für die Kunst die Frage ihrer Selbstbestimmung virulenter denn je.

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Vgl. Friedmar Apel, Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982, S. 182f. Fohrmann, Einleitung, S. 13.

II. Philologie und das System des Wissens

In den letzten Jahren hat eine intensive Forschung vielfältige Interpedenzen, Konvergenzen und Divergenzen zwischen literarischen, d.h. fiktionalen Texten und wissenschaftlichen bzw. nicht-fiktionalen Texten zusammengetragen. Insbesondere die Herausbildung der Geschichtswissenschaft als Leitdisziplin innerhalb der sich etablierenden Geisteswissenschaften stand dabei im Vordergrund.1 Weit weniger Beachtung in der Forschung fand und findet dabei das Verhältnis der Literatur zu seiner eigenen neu entstehenden Wissenschaft, der Philologie. Ist die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in den letzten beiden Jahrzehnten sorgfältig untersucht worden, so wird hier eine andere Perspektivierung vorgenommen. Betrachtet die Wissenschaftsgeschichte die Entstehung moderner Wissenschaft als doppelten Differenzierungsprozess, der nach außen Wissenschaft von einer nicht-wissenschaftlichen Umwelt differenziert, zugleich aber durch Innendifferenzierung unter Angabe der jeweilig maßgebenden Kriterien ein System gleichrangiger, nicht hierarchisch geordneter Disziplinen entstehen lässt,2 so bleibt dieser Blick doch immer auf das System Wissenschaft gerichtet. Im Anschluss an die theoretischen Vorbemerkungen wird hier davon ausgegangen, dass Systemdifferenzierung keineswegs nur auf der Innenseite des Systems neue Strukturen etabliert, sondern damit auch eine signifikante Veränderung der Umwelt einhergeht, die auf neu entstehende Systemkomplexe reagiert. Konkret bedeutet dies für die folgenden Kapitel, dass sehr viel mehr als bisher geschehen, die Reaktion der Literatur3 auf die Ausdifferenzierung einer Wissenschaft, die sie zu ihrem Objekt macht, untersucht werden soll. Das Verhältnis von Literatur

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Siehe Klaus Heitmann, Das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung in älterer Theorie. In: Archiv für Kulturgeschichte 52 (1970), S. 244–279, Fulda, Wissenschaft aus Kunst und Thomas Prüfer, Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft, Köln – Weimar – Wien 2002. Für den Bereich der Germanistik siehe Rainer Kolk, Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 48–114; S. 55. Ich werde im Folgenden – eingedenk, dass der Begriff in dieser Bedeutung erst seit Ende des 18. Jahrhunderts einigermaßen konsistent gebräuchlich ist – Literatur weitgehend synonym mit Dichtung und gelegentlich Poesie verwenden. Bei abweichendem Sprachgebrauch wird darauf verwiesen. Siehe dazu: Klaus Weimar, [Art.] »Poesie«,

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zur Literaturwissenschaft ist insofern unique, als hier der einzige Fall vorliegt, in dem ein Wissenschaftsobjekt auf den Prozess seiner Objektivierung in ihrem eigenen Medium reagieren kann. Natürlich reagiert z.B. auch die bildende Kunst auf Entwicklungen in der Kunstwissenschaft, doch ist mir kein Fall bekannt, dass etwa ein Kunstwissenschaftler im Gegenstand seiner Wissenschaft selbst auftritt. Es lässt sich aber kaum übersehen, dass spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Literatur sich immer wieder mit der Figur des Philologen auseinandersetzt und Dichter ihre Autorschaft nicht allzu selten als philologische Tätigkeit beschreiben. Wurde bereits angedeutet, dass das Verhältnis von Poesie und Philologie immer dann eine grundlegende Reflexion erfährt, wenn in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung Krisenphänomene oder epistemologische Wendemarken ausgemacht werden, so soll dies im Folgenden überblickshaft für die Antike, den Humanismus und die Aufklärung entwickelt werden. Doch wird man hier keine kleine Philologiegeschichte erwarten dürfen. Gefragt werden soll auch hier nach dem Wechselverhältnis von Philologie und Poesie und nach den Konsequenzen, die sich daraus für die Stellung beider im System des Wissens ergeben.

1. Antike und Humanismus Heinz Schlaffer hat in seiner Studie ›Poesie und Wissen‹ aufgezeigt, dass die Geschichte der abendländischen Tradition seit dem fünften und sechsten vorchristlichen Jahrhundert als eine Geschichte der Entmächtigung der Poesie gelesen werden kann.4 Exemplarisch an der platonischen Dichterkritik im ›Ion‹ und der ›Politeia‹ vorgeführt, schildert Schlaffer einen Differenzierungsprozess, der die ursprüngliche Einheit von Poesie und Philosophie/Wissenschaft in die Dichotomie falsch/wahr aufspaltet und erstere damit aus dem Bereich autorisierten Wissens ausschließt. Bei Homer und Hesiod wird der Dichter noch als Sprachrohr der Götter vorgestellt, der mittels divinatorischer Beseelung allein Zugang zum göttlichen und damit höchsten Wissen hat. »Er und nur er verfügte über das bedeutende kulturelle Wissen: Er kannte dank höherer Inspiration Gestalt und Wirken der Götter, die Entstehung der Welt, die Grenzen der Erde, die Ereignisse der Vorzeit, die Gesetze des richtigen Handelns, die innersten Gedanken der Menschen.«5 Ein solch umfassender Poesiebegriff kennt, solange ihm autoritative Wirkung zukommt, kein Bewusstsein von Fiktionalität. Erst die Entste-

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in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Harald Fricke, Jan-Dirk Müller und Klaus Weimar, Berlin – New York 1997–2003, Bd. 2, S. 96–100. Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, [1990] Erw. Ausgabe, Frankfurt/M. 2005. Ebd., S. 16.

hung und Herausbildung eines Wissens jenseits göttlicher Inspiration – in der Philosophie und den angewandten Wissenschaften – das sich nicht mehr ohne Weiteres mit der mythologischen Überlieferung deckt, lässt die Stellvertreterposition des Dichters als Sprachrohr göttlicher Offenbarung fragwürdig werden. Einer solchen Kritik am poetischen Wissen folgt die soziale Degradierung des Dichters, deren bekannteste Schilderung in der berühmten Ausweisung aus dem platonischen Staat, aber nicht nur dort, zu finden ist.6 An die Stelle des Wissens der Poesie tritt das Wissen über die Poesie, deren Voraussetzung ein revolutionärer Medienumbruch in der antiken Welt war.7 Die Überführung der mündlichen Tradition poetischer Überlieferung in Schriftgut, das nun in entstehenden Bibliotheken gesammelt wird, ist Anzeichen wie Verstärkung der Entmächtigung und Profanisierung der Poesie. Der Materialität der Schrift ist, anders als dem Vortrag und dem Gesang, nichts Göttliches mehr anzusehen und die kunstvollen Buchverzierrungen künden noch vom Gefühl des zu surrogierenden Verlustes im Medium der Schrift. Und mehr noch: Das sprachliche Zeichen als Buchstabe steht seiner Kombination zu Inhalten indifferent gegenüber. Das 18. Jahrhundert wird dafür den Terminus »willkürliche Zeichen« prägen. So finden sich im Medium der Schrift göttliche Prophezeiung, politische Abhandlung und wissenschaftliches Traktat im gleichen Zeichenmaterial dargestellt. Schon Aristoteles muss für die Dichtung im neunten Buch der ›Poetik‹ einen anderen, freundlicherweise höheren Wahrheitsanspruch in Anschlag bringen, weil vor der Schrift alle Aussagen gleich (wahr und falsch) sind. Da sich die Homerischen Epen weder durch andere Schriftdokumente noch durch aussagenlogische Konsistenz dem neuen, harten Wahrheitsbegriff fügen, weicht Aristoteles auf die psychologischen Verdienste der Dichtung als Medium anthropologischer Selbstreflexion aus.8 Einmal schriftlich fixiert wird die literarische Tradition zudem überprüfbar. Galt es den Rhapsoden des epischen Zeitalters noch als legitim, eigene Zusätze und Abweichungen auszugestalten, so dürfte dies mit der Verbreitung verbindlicher Schrifttexte aufgehört haben. Schlaffer argumentiert, dass mit der Differenzierung zwischen Wahrheit – Lüge, Geschichte – Gegenwart und der medialen Differenz Mündlichkeit – Schriftlichkeit eine unmittelbare Rezepti-

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Ebd., S. 21. »Noch im fünften und vierten Jahrhundert gab es eine starke Gegenbewegung gegen den unvermeidlichen Übergang vom gesprochenen zum geschriebenen Wort; erst die Kultur des dritten Jahrhunderts [v. Chr., mb] kann, und auch sie nicht ohne eine gewisse Übertreibung – als eine ›Bücherkultur‹ bezeichnet werden.« Rudolf Pfeiffer, Geschichte der Klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, [1968] 2. durchges. Auflage, München 1978, S. 34. Schlaffer nennt als Kriterien dieses neuen Wissens 1. Definitionsfähigkeit der Begriffe, 2. diskursive Überprüfung der Begriffsdefinitionen wie der in ihnen ausgedrückten Sachverhalte und 3. eindeutige Begriffsverwendung. Vgl. Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 59.

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onsweise des poetischen Textes verloren ging und damit Poesie und die durch sie vermittelte Tradition erklärungsbedürftig geworden sind. Dies ist für Schlaffer die Geburtsstunde der Philologie: »Sobald […] das unreflektierte Weiterleben der Poesie problematisch und der Abstand der Zeiten zwischen Entstehung und der späteren Präsentation von Dichtung bewußt geworden ist, muß zum produktiven Dichter und reproduktiven Sänger als dritter der interpretierende Philologe hinzutreten.«9 Die Plausibilität der Darstellung Schlaffers scheint sich durch einen kurzen Blick auf die disziplinäre Geschichte der Philologie noch zu erhöhen.10 In der Tat scheint um 300 v. Chr. eine verstärkte Sorge um die schriftliche Aufzeichnung des gesamten literarischen Erbes wie der Herstellung autoritativer Texte aufgekommen zu sein. Interessanterweise, hier gilt es Schlaffers Darstellung, die allzu sehr auf die epistemologische Auseinandersetzung zwischen Dichtung und Philosophie fokussiert ist, zu relativen, gehen diese Bemühungen von den bei Schlaffer sozial so dysfunktionalisierten Dichtern selbst aus. Rudolf Pfeiffer weist in seiner klassischen Studie zur ›Geschichte der Klassischen Philologie‹ darauf hin, dass die Dichter und Rhapsoden die Aufgabe der literarischen Tradierung durchaus selbst gestalteten und die Philologisierung des eigenen Bestandes vorantrieben. Die soziale Funktion der Dichtung bestand, da ist Schlaffer Recht zu geben, seit langem nicht mehr darin, göttlich inspiriertes Wissen zwecks lebensweltlicher Relevanz zu überliefern, das sich nur aus der lebensweltlichen Präsenz des Göttlichen legitimieren ließ, sondern in der Tradierung einer kulturell bedeutsamen Selbstdeutung der attischen Geschichte im Mythos. Schlaffer weist mit Herodot auf eine Figur, die in ihrem Werk »die eigene kulturelle Tradition zu bestimmen und sich von ihr zu distanzieren« vermag.11 Damit entsteht ein Bewusstsein von der Relativität der eigenen Kultur und des in ihren Artefakten überlieferten Wissens. Zugleich und dies gilt es gegenüber Schlaffer zu betonen, wird damit die Einsicht in die Notwendigkeit kultureller Selbstbestimmung zur Identitätsstiftung formuliert, die, wo nicht mehr über militärische Dominanz, über das literarische Erbe erfolgen muss. Als Prophet degradiert, weiß der Dichter um seine Funktion als Archiv der Kultur, in dem nicht nur gesammelt, sondern auch weiter geschrieben wird. Einer Kultur, die aufgrund der Transformation von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit ihre besondere Aufmerksamkeit nun der materiellen Überlieferung der Schriftdokumente widmen muss. So gesehen kann man in der Tat von einer Profanisierung der Funktion

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Ebd., S. 24. Die wohl erste umfassende Metareflexion als »Geschichte der Geschichte der Philologie« legt Ernst Friedrich August Gräfenhan (Geschichte der klassischen Philologie im Alterthum. 4 Bde, Bonn 1843–1850 [Neudruck Osnabrück 1973]) vor. Zitat ebd. Bd. 1, S. 14. Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 50.

des Dichters reden, denn die alte Aufgabe der Traditionsweitergabe wird abzüglich sakraler Aufladung weiter geführt. Die Figur des Geschichtsschreibers Herodots zeigt aber bereits einen neuen Konflikt um die Position des Archivdirektors an: Dichtung und Historie werden von nun an darum konkurrieren.12 Pfeiffer zeigt mit seiner profunden Kenntnis der griechischen Zeugnisse, dass aber keineswegs von einer einfachen Umakzentuierung der sozialen Rolle gesprochen werden kann. Die Philologisierung des literarischen Betriebes geht einher mit der Diagnose eines umfassenden kulturellen Niedergangs der griechischen Welt im dritten Jahrhundert v. Chr. Jetzt zum erstenmal [300 v. Chr., mb] waren die Griechen überzeugt, daß die alte Ordnung der Dinge im politischen ebenso wie im geistigen Bereich, ja in ihrer gesamten Lebensweise, ein für allemal dahin war. Der endgültige Bruch zwischen der machtvollen Vergangenheit und einer noch ungewissen Zukunft trat in ihr Bewußtsein. Aristoteles und seine persönlichen Schüler waren dieser Trennungslinie noch nicht gewahr geworden. Die junge Generation um 300 v. Chr., unter einer neuen Monarchie lebend, erkannte, daß auch die Formen der großen alten Dichtung einer Zeit angehörten, die für immer vorbei war.13

Pfeiffer sieht aber in der Verfallsdiagnose keineswegs den Grund einer allein archivarisch verfahrenden Philologie gelegt, der es vornehmlich um das Überleben der Textzeugen einer glorreichen Vergangenheit zu tun ist.14 Vielmehr führe das Bewusstsein, eine Krisen- und Übergangszeit zu durchleben dazu, sich neu zur Vergangenheit, aber eben auch zur Zukunft positionieren zu können. Es musste neben der Inventarisierung der Bestände vor allem um die Weiterentwicklung der eigenen dichterischen Produktivität gehen, wollte man die kulturelle Hegemonialstellung zurückgewinnen und zugleich der Gefahr entgehen, die Dichtung als gesellschaftliche Institution gleich mit ins historische Archiv abzulegen. Man mußte die Dichtung befreien aus der gefährlichen Lage, in der sie sich befand, und Gedichte zu schreiben mußte eine besonders ernsthafte und zuchtvolle Arbeit auf der Grundlage umfassender Kenntnis [...] werden. Die neuen Schriftsteller hatten auf die alten Meister besonders der ionischen Dichtung zu blicken, nicht um sie nachzuahmen – was für unmöglich oder zumindest nicht für wünschenswert erachtet wurde –, sondern um sich an ihnen in einer eigenen, neuen dichterischen Technik zu schulen. Ihr unvergleichlich wertvolles Erbe mußte man bewahren und studieren. Die vor allem empfand man damals als notwendig für die Neugeburt und das Fortleben der Dichtkunst und danach als Verpflichtung gegenüber den Leistungen vergangener Zeiten, die den Meisterwerken der hellenistischen Literatur zum Leben verholfen hat-

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Siehe dazu detailliert: Heitmann, Das Verhältnis. Pfeiffer, Geschichte der Klassischen Philologie, S. 114f. Pfeiffer folgt hier der Einschätzung Friedrich August Wolfs in den ›Prolegomena ad Homerum‹. Dieser aber sieht nur den Verfallsprozess auf allen künstlerischen Ebenen und vermag in den Bestrebungen der Dichter-Philologen keinen Ansatzpunkt für die Wiederbelebung des literarischen Lebens sehen.

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ten. Das Verhältnis der neuen Generation zur Vergangenheit war grundsätzlich verschieden von dem des Aristoteles; die Perspektive der Literaturkritik war vollkommen verändert. So führte eine neue Auffassung von Dichtkunst bei den Dichtern selbst zur Wiederbelebung der Dichtung ebenso wie zu einer neuen Art des Umganges mit den alten dichterischen Texten und damit allen anderen literarischen Zeugnissen.15

Pfeiffer nennt diesen neuen Typus »Dichterphilologen«.16 Ein Blick auf die semantische Bestimmung von Philologe und Philologie zeigt aber, dass bis Seneca im ersten Jahrhundert n. Chr. deren Begriffsbedeutung keineswegs allein auf Textzeugnisse, schon gar nicht auf poetische reduziert ist. Vielmehr steht philologia und philologus bzw. das griechische ϕιλολογι´α und ϕιλολογος für Universalgelehrter und das Streben nach wissenschaftlicher Bildung, d.h. auch für den Prozess des Wissenserwerbs und der Wissensgenerierung, die sich keineswegs allein auf die Buchstabengelehrtheit richtet.17 Eine solche begriffsgeschichtliche Rekonstruktion kennt bereits das frühe 19. Jahrhundert. Im ersten Stück der 1803 in Stuttgart erscheinenden ›Philologie. Eine Zeitschrift zur Beförderung des Geschmacks an griechischer und römischer Sprache und Litteratur, und eines gründlichen Studiums derselben‹ schreibt der Herausgeber Carl Viktor Hauff, Professor und Prediger im Kloster Bebenhausen: »Philologie drückte bald die Liebe zu den Wissenschaften, gelehrten Untersuchungen, und gelehrten Schriften aus, bald war sie die Untersuchung und Abhandlung gelehrter Materien selbst.«18 Dichtergelehrte wie Philitas von Kos (ca. 300 v. Chr.), Eratosthenes (ca. 295–195 v. Chr.), der der Alexandrinischen Bibliothek vorstand, oder Kallimachos (310–240 v. Chr.), der mit seinen ›Pinakes‹ das erste umfassende Verzeichnis aller griechischen Schriftsteller und der von ihnen verfassten Werke anlegte,19 zeugen davon, dass Dichtung und Wissenschaft trotz unterschiedlicher Wahrheitsbegriffe keineswegs nur in Opposition zueinander standen. Die Inventarisierung der Wissensbestände umschließt alle Formen von Schriftgut und sie dienen als Geburtsort neuen Wissens wie neuer literarischer Ausdrucksweisen. Seit Entstehung der Bibliothek muss, wer Dichter sein will, die Tradition kennen. Daher sind mit Kallimachos20 und Eratosthenes zwei Dichter die ersten Phi15 16 17

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Pfeiffer, Geschichte der Klassischen Philologie, S. 115. Ebd., S. 121. Vgl. dazu die Stellensammlung und deren Kommentierung bei: Gabriel R. F. M. Nuchelmans, Studien über philologos, philologia und philologein, Zwolle 1950, S. 11–37. Vgl. auch Manfred Landfester, Frühneuzeitliche Philologie (1450–1800). In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. von Manfred Landfester u.a., Bd. 15/2 Rezeptionsund Wissenschaftsgeschichte. Pae–Sch, Stuttgart 2002, Sp. 245–255; Sp. 245ff. Carl Victor Hauff, Ueber den Begriff und Werth der Philologie, mit Hinsicht auf den Zeitgeist und den Zweck dieser Zeitschrift. In: Philologie 1 (1803), S. 1–52; S. 1. Vgl. dazu Rudolf Blum, Kallimachos und die Literaturverzeichnung bei den Griechen. Untersuchungen zur Geschichte der Bibliographie, Frankfurt/M. 1977. Vgl. Pfeiffer, Geschichte der Klassischen Philologie, S. 158: »Trotz ihrer Neuartigkeit waren Kallimachos’ Gedichte von einer genauen und umfassenden Kenntnis der älte-

lologen oder die ersten Philologen zwei der bedeutendsten Dichter ihrer Zeit. Insofern der Dichter als Philologe gleichzeitig Gelehrter und Wissenschaftler ist, erscheint unplausibel, warum »die antike Poesie ihre Bindung an soziale Aufgaben und konkrete Lebensformen«21 verlieren sollte und Schlaffer nachantiker Dichtung »ihr originäres Lebensrecht«22 abstreitet. Die Bibliothek ist keineswegs ein peripherer – hier projiziert Schlaffer vielleicht seine kulturpessimistische Diagnose der Gegenwart –, sondern zentraler Ort der Wissensgeschichte des westlichen Kulturkreises,23 die in Alexandria eben kein geschlossener Bereich ist. Bibliotheken »standen jedem offen, der fähig und willens war, zu lesen und zu lernen.«24 Nur wenn die Bibliothek zum Ort der Genese von Kunst wurde, konnte diese noch eine soziale Rolle einnehmen, die sie in unmittelbarer Gegenwärtigkeit des öffentlichen Vortrags vielleicht eingebüßt hatte.25 Und dennoch: Nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass bereits sehr früh die Dichtung in einen funktionellen Gegensatz zur Philologie als Textwissenschaft geriet.26 Die

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ren Dichtung geprägt, aus der er seine Vorbilder nahm. Die Ausübung seiner Kunst und die Reflexion über sie gingen Hand in Hand. Diese Reflexion erstreckte sich ganz natürlich auch auf die Literatur der Vergangenheit, auf all die Formen von Metrum und Sprache und auf die verborgenen Quellen ihrer Themen. Nur das leidenschaftlichste Studium konnte zur höchster dichterischer Meisterschaft führen, und nur grenzenlose Wißbegierde konnte die unbetretenen Pfade zu neuen Wissensgebieten eröffnen.« Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 70. Ebd., S. 72. Auch wenn es von Beginn an satirische Angriffe gegen die Alexandrinischen Gelehrten gab, so gilt es doch auf die Warnung Pfeiffers (Geschichte der Klassischen Philologie, S. 127) zu achten: »Milden Protest legte ich einmal ein gegen Versuche, die hellenistischen Dichtergelehrten in einem ›Elfenbeinturm‹ eingeschlossen zu sehen, wie es in den letzten Jahren so seltsam in Mode gekommen ist. Sicherlich mußten ihre Bücher für einen kleinen Kreis gebildeter Kenner schreiben, aber […] Philitas zuerst und nach ihm der Reihe nach die Vorsteher der Bibliothek waren Erzieher der Thronerben und damit dem Wechselspiel des politischen Kampfes ausgesetzt.« Pfeiffer, Geschichte der Klassischen Philologie, S. 133. Zugleich sollte man diese Emphase der Öffentlichkeit realistisch sehen: Nur ein geringer Bruchteil der Bevölkerung hat Zugang zu Schrift und Buch. Davon abgesehen halte ich Schlaffers Darstellung hier auf unzulässige Weise für historisch verkürzend. Keineswegs kann man das Ende einer oralen Tradition poetischer Weitergabe bereits im Hellenismus ansetzen. Schlaffer weist ja selbst darauf hin, dass das Schriftwissen einer kleinen, elitären Gruppe vorbehalten bleibt. Es ist aber doch nicht so, dass damit der öffentliche, mündliche Umgang mit Dichtung geendet hätte. Für die Lebendigkeit oraler Dichtung und ihrer Bedeutung im Sozialen siehe: Rudolf Schenda, Von Mund zu Ohr. Bausteine zu einer Kulturgeschichte volkstümlichen Erzählens in Europa, Göttingen 1993. Dies sollte man im Auge behalten, wenn man von einem »Gegensatz zwischen romantisch-spekulativer und neuhumanistisch-verwissenschaftlicher Philologie« spricht, der sich »in der Heidelberger Romantik« zuspitzte. Vgl. Andreas B. Kilcher, Philologie in unendlicher Potenz. Literarische Textverarbeitung bei Achim von Arnim. In: Scientia

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Philologie, wenngleich oft noch in Personalunion mit dem Dichter, tritt nun als Verwalter des kulturellen Erbes auf, dichterische Produktion und kritische Textarbeit beginnen sich voneinander zu lösen. Manifestiert findet sich das neue Verständnis des Philologen als Kulturverwalter im ersten Jahrhundert n. Chr. in den Briefen Senecas, wenn er nun zwischen dem Philosophen, Philologen und Grammatiker unterscheidet. Ist der Philosoph an ethischen Fragen interessiert, der Grammatiker an rein sprachlichen Problemen, so ist der philologus »nach Seneca vor allem ein Antiquar, ein Altertumsforscher.«27 Das Bewusstsein einer semantischen Veränderung des Philologiebegriffs ist um 1800 ebenfalls präsent. So beschreibt Hauff in seinem oben schon zitierten programmatischen Einleitungsaufsatz zur Zeitschrift bereits einen frühen Ausdifferenzierungsprozess von Dichtung, Philologie und Philosophie, der vor dem Hintergrund der »Veränderungen in den wissenschaftlichen Fächern«28 gesehen wird. Wird bei ihm im Folgenden die Reduzierung der Philologie auf Sprachstudien kritisiert, so weist auch er auf Seneca hin, der den reinen Grammatiker vom antiquarischen Philologen unterscheide: Schon Seneca Ep. 108 machte einen Unterschied zwischen philologus, grammaticus, und philosophus. Er sagt: ›Ciceronis libros de rep. prehendet hinc philologus aliquis, hinc grammaticus, hinc philosophiae deditus; alius alii curam suam mittit.‹ Dem Philologen schreibt er in dieser Stelle besonders antiquarische und historische Bemerkungen für die Erklärung einer Schrift zu – dem Grammatiker Erklärungen einzelner Wörter und ihrer Bedeutung oder des Sprachgebrauchs, und dem Philosophen moralische Bemerkungen.29

Die Unterscheidung der Arbeit des Philologen vom moralischen Auftrag des Philosophen einerseits und der des Grammatikers andererseits führt zu einem Philologiebegriff, der sich unter dem Namen der Altertumskunde um 1800 etabliert und dieser die umfassende Verwaltung historischer Bestände überträgt. Diese aus den Quellen geschöpfte Kenntniß bezieht sich dann nicht nur auf ihre Sprache, sondern eben sowohl auf ihre Sitten und Gebräuche, auf ihre Gelehrsamkeit, ihre herrschenden Ideen, Meinungen, Verfassungen, auf ihre Kultur und derselben Fortschritte, auf den Geist, der in ihren Schriften athmet. […] Philolog und Humanist und gelehrter Kenner des Alterthums, oder Erklärer der Denkmäler, welche uns die Griechen und Römer hinterlassen haben, sind dann Synonyme.30

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Poetica 8 (2004), S. 46–68; S. 51. Die späteren Kapitel werden zeigen, dass um 1800 sehr wohl Poesie und Philologie auch als konkurrierende Modelle auftreten können, offensichtlich ist dies aber keineswegs ein spezifisch modernes Phänomen. Nuchelmans, Studien, S. 38. Hauff, Ueber den Begriff, S. 10. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6f.

Es zeigt sich, dass eine solche Bestimmung nicht lange auf Griechen und Römer beschränkt bleiben kann, ohne normative Setzungen vorzunehmen. Obwohl an einer Privilegierung des Griechischen und Lateinischen weiterhin festgehalten wird, weitet Hauff die grundlegende Definition der Philologie kurz darauf konsequent auf »die ausgestorbenen Sprachen überhaupt«31 aus. Damit wird der Gegenstandsbereich der Philologie radikal von jeder Beschäftigung mit lebendigen Sprachen getrennt. Zugleich aber kann durch diese Spezialisierung die Geschichte als ihr alleiniger Objektbereich gelten, dem dann eine Bildungsidee zur Rechtfertigung an die Seite gestellt wird.32 Mit Geschichte und Bildung werden damit zwei Bereiche besetzt, um die Dichtung sich ebenfalls bemüht, etwa in Lessings und Schillers Konzepten zur ästhetischen Bildung, die sich aber dezidiert an modernen und nicht allein an antiquarischen Gegenständen entwickeln soll. Wenn auch die Erzählung des Verhältnisses von Poesie und Philologie sich soweit als Verlustgeschichte darbietet, so wirft Schlaffer einen Gedanken auf, der eine andere Perspektivierung ermöglicht. Verliert auf der einen Seite die Poesie jegliche Autorität in Wissens- und Wahrheitsfragen, so gewinnt sie mit dem Bewusstsein ihrer Fiktionalität zugleich einen immensen gestalterischen Freiraum. Was einst als Autoritätsbezeugung durch göttliche Instanzen durchaus ernst gemeint gewesen sei, werde nun zum Fiktionalitätsindex.33 Wo Literatur ihren Fiktionscharakter gleich selbst anzeigt, entledigt sie sich des Lügenvorwurfs wie allen Ansprüchen eines korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs. Sperrt sich die Dichtung einerseits damit zwar selbst aus dem Bereich der ernst zu nehmenden Wissenschaften aus, so etabliert sie durch diese Grenze eben einen Bereich autonomer Selbstbestimmung. Von dieser Seite der Grenze ist es ihr nun möglich, frei in die anderen Wissensfelder hinüberzuwechseln und sich dort für ihre Fiktionen zu bedienen. Erst durch einen Begriff des Eigenen wird das Andere für die Dichtung wieder verfügbar. Es erstaunt, dass sich bis heute die Einschätzung in der Forschung hält, Herausgeberfiktionen etc. hätten tatsächlich authentifizierende Funktion übernehmen sollen. Vielmehr wird die Beteuerung der historischen Wahrheit zum Signum einer neuen Gattung, des Romans, und dient diesem zur Markierung seines fiktiven Charakters.

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Ebd., S. 8. Hauff wettert zum Beispiel gegen die Einrichtung von Real-Schulen, die »um in der Absicht, den Zweck der Ausbildung früher zu erreichen« das humanistische Bildungsideal in einen instrumentellen Wissensbegriff »zur Brauchbarkeit für die menschliche Gesellschaf [um]bilden« und »nicht mehr durch das Vehikel der alten Autoren«, sondern durch Realkenntnisse Bildung erreichen wollen. Vgl. ebd., S. 15ff. In dieser Weise grenzt Schlaffer Poesie von Literatur ab. Poesie steht hier für die alte göttlich inspirierte Macht des Epos. Vgl. ders., Poesie und Wissen, S. 70f.

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Im Weiteren braucht eine historisch möglichst genaue Rekonstruktion der Entwicklung griechisch-römischer Philologie nicht zu interessieren.34 Wir werden unten sehen, dass die Genese vieler Argumente Schlaffers und Pfeiffers in das späte 18. Jahrhundert fällt, für Deutschland genauer in das Jahr 1795, als Friedrich August Wolf seine ›Prolegomena ad Homerum‹ publiziert. Die grundlegenden Fragen sind angesprochen: Wie verhalten sich Poesie und Philologie im Prozess ihrer Ausdifferenzierung zueinander? Welche funktionelle Rolle kann die Dichtung gesellschaftlich noch beanspruchen, wenn sie kein Wissen, keine Wissenschaft mehr darstellt, sondern selbst Objekt wissenschaftlicher Untersuchung geworden ist? Und: Hat dieser Konflikt Auswirkungen auf die Schreibweisen der Dichtung? Deutlich sollte im Referat der Positionen Schlaffers und Pfeiffers geworden sein, dass die abendländische Dichtung von Beginn an, ihre Position im System des Wissens beständig neu auszuhandeln und zu rechtfertigen hatte. Differenzierung bedeutet immer auch Differenzierungsdruck, der sublimiert werden muss, um nicht im neu entstehenden System zu verschwinden. Die wenigen Hinweise auf die Figur des Dichterphilologen zeigen bereits an, dass die Dichtung wie kaum ein anderes Wissenschaftsobjekt, wenn es denn einmal zu einem solchen geworden ist, einerseits auf ihre Wissenschaft angewiesen ist, andererseits aber von dieser immer auch gefährdet ist, eine gesellschaftlich relevante Position durch radikale Historisierung einzubüßen. Vielleicht nicht ohne Grund tritt die Figur des Dichterphilologen an entscheidenden gesellschaftlichen und epistemologischen Wendemarken auf, sei es im dritten Jahrhundert v. Chr., sei es im Renaissancehumanismus des 14. bis 16. Jahrhunderts,35 sei es in der Sattelzeit um 1800. Insofern ist es problematisch, wenn Martus, wo nicht explizit, so doch implizit durch die Struktur seiner Arbeit, die Philologie aus dem Diskurs der Literaturkritik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts erwachsen lässt, obwohl er am Beispiel Tieck sehr wohl um die Unterschiede von ›kritischer Kommunikation‹ und 34

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Zur römischen Philologie siehe: Robert A. Kaster, Geschichte der Philologie in Rom. In: Fritz Graf (Hg.), Einleitung in die lateinische Philologie, Stuttgart – Leipzig 1997, S. 1–16. Zum Humanismus wäre in der Tat viel zu sagen, was hier aber aus Platzgründen unterlassen wird. Ich verweise nur auf die Übersicht bei Landfester, Philologie, Sp. 237–255 und Peter Lebrecht Schmidt, Frühneuzeitliche Philologie (13.–18. Jahrhundert). In: Der Neue Pauly, Sp. 282–298 und die Darstellung bei Rudolf Pfeiffer, Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen, München 1982 und Ada Hentschke/Ulrich Muhlack, Einführung in die Geschichte der Klassischen Philologie, Darmstadt 1972, S. 1–64. Einen guten Überblick bieten auch Anthony Grafton/Glenn W. Most, Philologie und Bildung seit der Renaissance. In: Graf (Hg.), Einleitung, S. 35–50. Einen detaillierten Einblick durch Einzelstudien in die hier interessierenden Zusammenhänge gibt der jüngst erschienene zweibändige Kolloquiumsbericht von Perinne Galand-Hallyn/Fernand Hallyn/Gilbert Tournoy (Hg.), La philologie humaniste et ses représentations dans la théorie et dans la fiction, 2 Bde., Genf 2005.

›philologischer Kommunikation‹ weiß. Hinzu kommt, dass Philologie meist als ›Deutsche Philologie‹ bzw. ›Germanistik‹ gedacht wird. Tieck beispielsweise stand die »Leitformel der germanistischen Werkpolitik im 19. Jahrhundert«,36 zumindest um 1800, wohl kaum zur Verfügung, da es zu diesem Zeitpunkt keine Insitutionalisierung des Faches gibt. Auf die evidentere Klassische Philologie, ihre Geschichte und die aktuellen Diskussionen des Faches in der Goethe-Zeit geht Martus nur am Rande ein. Viele der bereits in der antiken Diskussion aufgespürten Entwicklungen kehren nämlich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert nur verschärft zurück. Und genau wie einst sind sie jetzt als Reaktion auf grundlegende Umstellungen im System des Wissens wie gesellschaftlicher Prozesse zu lesen. In der Sattelzeit wird verstärkt die Behauptung ausgesprochen, man trete nun in eine neue Epoche ein. Die Trennung einer beginnenden Moderne von einer recht differenzlos betrachteten Vormoderne ist Teil der gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Fehler, den die gegenwärtig oft anzutreffende Rede einer um 1800 beginnenden Moderne in zuverlässiger Wiederkehr begeht, besteht in der Behauptung, dem Narrativ der Moderne faktische Geltung zuzuschreiben und die Beschreibungen, die eben nur Eigenwahrnehmungen artikulieren, in den Rang historisch-faktischer Quellen zu heben. Allerdings, die wiederholte Behauptung eines Epochenwechsels, die bewusste Konstruktion eines Gegensatzes von alt und modern, macht diese Konstruktion im Zeitbewusstsein zu einem Faktum. Erst wenn, wie im Fall des Verhältnisses von Poesie und Philologie sehr gut zu beobachten, die langsam ausgebildeten Formen nicht nur faktisch vorliegen, sondern auch explizit zur Markierung eines Unterschiedes herangezogen werden, rücken sie in den Status eines epochalen Definitionskriteriums auf, wie die Behauptung einer typisch modernen Leitdifferenz wahr/falsch für die Etablierung einer Fachwissenschaft Philologie zeigt. Der italienische Humanist Giovanni Lamola (ca. 1407–1449) setzt sich beispielsweise von einer alten philologischen Tradition ab, die »multa non intellexerunt, multa abraserunt, multa mutarunt, multa addiderunt«, und beschreibt dann seine eigene Praxis wie folgt: »ego […] quantum diligentiae ac ingenii peritiaeque in me fuit […] adhibui ut omnia secundum priorem textum restituerem […] curavi etiam ut usque ad punctum minimum omnia ad veteris speciem exprimerem, etiam ubi essent nonnullae vetustatis delirationes.«37 Eindeutig wird hier als Kriterium für die philologische Texterstellung der Code wahr/falsch angewendet. Aber erst

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Martus, Werkpolitik, S. 394. Siehe dazu auch das folgende Kapitel und IV.8. Zitiert nach Landfester, Philologie, Sp. 247. Übersetzung ebd.: »Was ich an Fleiß, Intelligenz und Erfahrung besaß, habe ich dafür eingesetzt, den urspr. Text vollständig wiederherzustellen. Auch sorge ich dafür, den gesamten Text bis zum kleinsten Punkt nach dem Muster der Urschrift einzurichten, selbst wenn einige Unstimmigkeiten in der Überlieferung vorhanden waren.«

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das wiederholte Insistieren auf diesem Code in den wissenschaftlichen Selbstbeschreibungen ab dem 18. Jahrhundert, lässt daraus ein tatsächliches Kriterium werden, das über Inklusion und Exklusion im Wissenschaftssystem entscheidet. Es wird sich zeigen, dass zur Formulierung eines neuen Philologieverständnisses der Code wahr/falsch eng an den Begriff von Geschichtlichkeit gekoppelt wurde und die Philologie dann als historische Wissenschaft auftreten konnte, die sich sowohl von der Polyhistorie als auch von einer grammatisch-kritischen Textphilologie absetzte.

2. Aufklärung Deutlich erkennbar ab dem frühen 18. Jahrhundert zeichnet sich ein fundamentaler Umbau im System des Wissens ab. Die topischen Universalsysteme, die in ihren an der Rhetorik als vertikal ausgerichtetem Ordnungsschema orientierten Rubriken an der Metapher von der Architektur des (Wissens-)Hauses festhielten, können angesichts der sprunghaft ansteigenden Datenmengen des neuzeitlichen Wissens ihre Ordnungsfunktion kaum mehr aufrechterhalten. Die Metaphern vom Haus oder Baum des Wissens werden ersetzt oder ergänzt durch solche des horizontalen, prinzipiell offenen Raumes, des »Feld des Wissens«,38 wie es bei Wilhelm von Humboldt heißt. Die Rede ist nun von Wissenslandschaften, Bezirken und Provinzen, die auf entsprechenden Karten zu verzeichnen sind.39 Eine solche Metaphorik reagiert auf und produziert dabei mit den seit dem 16. Jahrhundert einsetzenden Prozess der Umordnung einer hierarischstratifikatorischen Wissensordnung hin zu funktional orientierten Ordnungen, die auch und vor allem die Hierarchien innerhalb des Systems des Wissens mehr und mehr einebnen, d.h. in die Fläche projizieren.40 Im neuen System des Wissens, das zum System der sich ausdifferenzierenden Wissenschaften wird, kann

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Wilhelm von Humboldt, Ueber die Verschiedenartigkeit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5: Schriften zur Sprachphilosophie II. Hg. von Wolfgang Stahl [ohne Ort] 1999, S. 7–269; S. 163. Vgl. Vf., Ordnungen der ungesicherten Welt. Archiv und Karte in der Metaphorologie des Wissens bei Sterne und Goethe. In: Hartmut Böhme (Hg.), Topographien der Literatur, Stuttgart 2005, S. 126–150. Zahlreiche Beispiele für den Einfluss der Metapher in der neueren Wissenschaftstheorie bei: Arthur H. Robinson/Barbara Bartz Petchenik, The Nature of Maps. Essays toward Understanding Maps and Mapping, Chicago 1976, S. 1–22. Vgl. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 747f.: »Auf der Ebene des umfassenden Systems der Gesellschaft kann keine allgemeingültige, für alle Teilsysteme verbindliche Rangordnung der Funktionen eingerichtet werden. Keine Rangordnung heißt auch: keine Stratifikation.«

nur verbleiben, was konsequent die sich mehr und mehr durchsetzende Leitdifferenz wahr/falsch übernimmt und damit einerseits nach innen entscheidet, was dem System an Operationen zur Selbstreproduktion zur Verfügung steht, zugleich nach außen die Operationen des Systems von denen anderer Funktionssysteme unterscheidet.41 Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein war die Poesie42 Teil des Systems der Wissenschaften, wenn auch in je verschiedene Hierarchiestufen eingeordnet.43 Solange Dichtung und Poetik beide in einem regelgeleiteten System zur Erzeugung von Geistesprodukten aus dem Fundus der überlieferten Tradition innerhalb der Rhetorik verortet wurden, konnten sie sich prinzipiell mit den Verfahrensweisen anderer Wissenschaften vergleichen.44 Wie Schmidt-Biggemann

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Vgl. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 302: »Er [der Code, mb] muß also nach außen hin selektiv und nach innen hin informativ wirken.« Ein moderner Sprachgebrauch stößt hier unweigerlich auf Schwierigkeiten, die im Folgenden bei der synonymen Verwendung des Begriffs ›Literatur‹ mitgedacht sein soll. Da weiterhin eine begriffskritische Aufarbeitung des Literaturbegriffs fehlt, sei erneut darauf verwiesen, dass im 17. und 18. Jahrhundert Literatur sich keineswegs auf fiktionale Werke bezieht, sondern eine Vielzahl singulärer Bedeutungen haben kann. Klaus Weimar sieht gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Bedeutung als »Gesamtheit des Gedruckten« etabliert. Vgl. ders., Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989, S. 200. Im Folgenden wird Literatur i.d.R. als Oberbegriff für sämtliche Gattungen fiktionaler Werke genutzt, wenngleich diese Setzung weithin thetisch bleibt. Einen sehr guten Überblick über die Genese des Wissenschaftsbegriffs mit Schwerpunkt im 18. und 19. Jahrhundert bietet immer noch Alwin Diemer, Die Begründung des Wissenschaftscharakters der Wissenschaft im 19. Jahrhundert – Die Wissenschaftstheorie zwischen klassischer und moderner Wissenschaftskonzeption. In: ders. (Hg.), Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert, Meisenheim 1968, S. 3–63. Zum System der sieben Freien Künste siehe: Ilsetraud Hadot, Geschichte der Bildung; artes liberales. In: Graf (Hg), Einleitung, S. 17–34 sowie der immer noch gut lesbare Paul O. Kristeller, Renaissance Thought and the Arts. Erw. Ausgabe, Princeton 1990. Vgl. Stichweh, Wissenschaft, Universität, Profession, S. 60: »In der Umorientierung auf Selbstkonstitution der Elemente wissenschaftlicher Forschung zeichnet sich zugleich ein Umbruch im Typus des sinnvollen individuellen Beitrags zur Wissenschaft ab. Angesichts eines Wissens, das aus der Tradition überkommen ist und als traditionsgestütztes Wissen rezipiert wird, ist der angemessene Beitrag, den man sich als Gelehrter vorstellen kann, idealiter das System, d.h. ein Muster der Ordnung des Wissens in einer zunehmend vollständigen Enzyklopädie. Universitätsgelehrte des 16.–18. Jahrhunderts versuchen denn auch vielfach einen solchen systematischen Entwurf, und das ist wiederum gut koordiniert mit der Praxis ihrer Lehre. Eine Wissenschaft, die ihre Elemente selbst konstituiert, kann demgegenüber bereits das Hinzufügen eines neuen Elements als einen sinnvollen Beitrag würdigen. Darin liegt die Neudefinition der Basiseinheit des wissenschaftlichen Fortschritts, die der Grund ist für die Inklusionseffekte, die am Anfang disziplinär differenzierter Wissenschaft auftreten, und die zugleich die Form beschreibt, in der die neukonstituierenden Disziplinen – an deren

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gezeigt hat, ändert sich dies in dem Moment, als die Poetik von innen heraus eine Grenze zur Rhetorik zieht:45 Die Folgelasten, die Baumgarten mit der Umstrukturierung der artistisch-poetischen Wissenschaft zur erkenntnisorientierten Ästhetik produzierte, sind kaum überschätzbar. Die Rhetorik büßte ihren wissenschaftlichen Charakter völlig ein und verschwand einstweilen aus dem Disziplinenkanon, Reden und Schreiben war nur noch Ausdrucksfunktion der Sache, nur ästhetisch und analytisch legitim und faßbar. Mit dem Verlust des artistischen Wissenschaftsmodells verlor sich auch die Kenntnis und die Erkenntnis des sprachlichen Instrumentalcharakters. Das Ende der Kunstlehre einer Sprachfügung bedeutete, daß artistische Regeln aufgehoben waren. Mit Invention, mit Judicium, mit Topik, Rhetorik, auch mit Poetik war nicht mehr zu rechnen. An die Stelle des gelehrten Regelvirtuosen trat das empfindsame Genie. Die Konstitution der Ästhetik beseitigte die letzten Reste universaler Topik.46

Zunächst aber scheint der Verlegenheit, wohin mit der Dichtkunst, mit dem schillernden Begriff der »schönen Wissenschaft« begegnet worden zu sein.47 Lässt sich schöne Wissenschaft als Genitivus subjectivus im Sinne der Wissenschaft vom Schönen, wie auch als Genitivus objectivus, also einer ästhetischen Wissenschaft lesen, so konnte man eine Zeit lang Ästhetizität und Wissenschaftlichkeit zugleich behaupten. Diese Formulierung konnte aber nur vorübergehend verdecken, dass sie bereits die konsequente Trennung von Produzieren und Rezipieren von Texten, damit auch die Trennung von Dichtung und Philologie, von Kunst und Wissenschaft implizierte. Wie Klaus Weimars Rekonstruktion von Sulzers Begriffsverwendung zeigt, hat die »Poesie [...] ihre Stelle in Wissenschaftsorganisation und Wissenschaftssystem sang- und klanglos geräumt.«48 In der ersten Auflage seiner Wissenschaftssystematik von 1745 firmiert die Poesie noch umstandslos als ›Wissenschafft‹, in Ankündigung und Probedruck (1756) seines geplanten Lexikons unausdrücklich, aber deutlich im Sinne des verengten Begriffs als eine von zwei ›Schönen Wissenschaften‹, in der zweiten Auflage der Enzyklopädie von 1759 dagegen kommentarlos nicht mehr als Wissenschaft, sondern als einer der ›anderen Theile der Gelehrsamkeit‹ unter den ›Schönen Künsten‹, und im Lexikon selbst endlich sind Rede- und Dichtkunst so unter dem Begriff ›redende Künste‹ zusammenge-

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Wissensentwicklung nun nicht mehr jeder einzelne Gelehrte partizipiert, weil disziplinäre Differenzierung sich auf der Ebene der Gelehrten als Spezialisierung manifestiert – sich hinreichend viele Beiträge für ihre Fortentwicklung beschaffen.« Damit soll freilich nicht behauptet sein, dass die Rhetorik nun plötzlich gänzlich an Einfluss verliere. Die jüngere Forschung zur Rhetorik hat einleuchtend gezeigt, wie die rhetorische Tradition weiterhin wirksam bleibt, nun aber eben oft verdeckt. Vgl. die Beiträge in: Jürgen Fohrmann (Hg.), Rhetorik. Figuration und Performanz, Stuttgart 2004 und Dietmar Till, Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2004. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica Universalia. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983, S. 303. Vgl. Weimar, Geschichte, S. 122f. und S. 200–209. Ebd., S. 190.

fasst wie vorher und auch noch gleichzeitig bei anderen unter dem verengten Begriffe ›schöne Wissenschaften‹.49

Die leere Stelle im Wissenschaftssystem übernimmt bei Sulzer einerseits die Ästhetik als »Wissenschaft, welche sowol die allgemeine Theorie, als die Regeln der schönen Künste aus der Natur des Geschmaks herleitet«,50 andererseits die Poetik als »richtige Bestimmung des eigenthümlichen Charakters der Poesie«.51 Offensichtlich hat sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Objektbereich Literatur herausgebildet, der nun im Wissenschaftssystem bearbeitbar ist, dessen Produktion aber nicht mehr in den Aufgabenbereich dieses Systems fällt. Genau deshalb kann auch Dichtung nicht mehr definiert werden als die durch die »Wissenschaft aller Wissenschaften«52 erlernte Fähigkeit, »die Rede durch wolabgemessene und wolklingende Verse fortzuführen«.53 Rhetorik und Dichtkunst sind nun zwei zu trennende Bereiche der Rede, die sich in Form, Inhalt und Haltung des Redners unterscheiden. Der Rhetor muss zu persuasiven Zwecken eine Bewegung des Gemüts beim Adressaten erzeugen, darf seine eigene Affiziertheit aber allenfalls inszenieren, um seinen Gegenstand stets zu besitzen und nicht die Kontrolle über die Mittel zur Erreichung seines Ziels zu verlieren. »Der Dichter wird von seinem Gegenstand lebhafter gerühret, er wird davon so hingerissen, daß er in Begeisterung oder doch in eine Träumung geräth, in welcher seine Phantasie freyer und lebhafter würket.«54 Nicht mehr die perfekte und eloquente Beherrschung der rhetorischen Figuren sind das Kennzeichen des Dichters, sondern seine emphatische Empfindungsfähigkeit, sein Genie. »Der Grund des poetischen Genies wird also in einer ungewöhnlich grossen Fühlbarkeit der Seele zu suchen seyn, die mit einer ausserordentlichen Lebhaftigkeit der Einbildungskraft begleitet ist.«55 Die Herausbildung eines Objektbereiches Literatur mit einhergehender Trennung von gelehrtem Schriftsteller und literarischem Dichter beeinflusste die Konzeption der Philologie auf entscheidende Weise, wie eine Auswertung enzyklopädischer Quellen für den Zeitraum von 1726 bis 1847, also exakt jener Periode, in der sich die Philologie als institutionell verankerte Wissenschaft etablierte, im Folgenden zeigen soll. 49 50 51 52 53 54

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Ebd., S. 197. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste: Aesthetik, Bd. 1, Leipzig 1771, S. 20. Ebd., [Art.] Dichtkunst. Poetik, S. 258. So nennt Sulzer (ebd., [Art.] Redekunst. Rhetorik, Bd. 2, Leipzig 1774, S. 960) die Rhetorik. Ebd., [Art.] Dichter, S. 246. Ebd., [Art.] Dichtkunst. Poesie, S. 250. Vgl. auch ebd.: »Der Ton des Redners, so stark, so nachdrüklich und pathetisch er auch wird, ist doch immer der Ton eines Menschen, der weiß, was er spricht, und vor wem er spricht«. Ebd., [Art.] Dichter, S. 247.

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Johann Heinrich Zedlers ›Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste‹ behandelt das Lemma ›Philologie‹ im 27. Band von 1741. Der Artikel ist größtenteils wörtlich aus Johann Georg Walchs ›Philosophischem Lexicon‹ von 1726 übernommen und lässt die gegebene Bestimmung der Philologie auf den Anfang des 18. Jahrhunderts datieren. Hier wie dort wird zwischen einer weiteren und einer engeren Bedeutung des Begriffs unterschieden. In der weiteren Bestimmung sei die Philologie bei den Alten zu finden und »erstreckte sich auch auf die Historie, daß sie also der Philosophie entgegen gesetzt wurde«. Auch im modernen Sprachgebrauch finde sich die alte Bedeutung als historische Wissenschaft, »sonderlich die Erkänntnis der Alterthümer«. Demgegenüber definiere ein engerer Gebrauch die Philologie als Lehre von den Sprachen und umschließe so Rhetorik, Poesie und Kritik. Als Lehre von den Sprachen sei ferner zu unterscheiden zwischen dem eigenen Gebrauch der Sprache (Sprachkunst) und dem Gebrauch der Sprache durch Andere, der in den Bereich der Kritik falle und im Weiteren nicht näher erläutert wird. Die Sprachkunst gliedert sich auf in a) die Grammatik als System des richtigen Gebrauchs der Regeln einer Sprache, b) in Philologie im engeren Sinne als Untersuchung des »innerlichen Wesen derselben« und c) in die Übung mit der Sprache »zierlich und genauer in Ansehung der Ideen umzugehen«56 und dementsprechend in Rhetorik einerseits als Lehre der ungebundenen Rede und Poesie als die der gebundenen Rede andererseits. Untersuchung von Sprache Sprachkunst Hinsichtlich des eignen Gebrauchs

Philologie im engeren Sinne Innerliches Wesen der Regeln

Kritik Hinsichtlich des Gebrauchs Anderer

Grammatik Richtigkeit des gemeinen Gebrauchs

Umgang mit Sprache hinsichtlich der Ideen

Rhetorik

Poesie

Ungebundene Rede

Gebundene Rede

Begriffsbestimmung der Philologie nach Walch/Zedler (1741)

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Alle Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Bd. 27, Leipzig – Halle 1741, Sp. 1983. [Reprographischer Nachdruck Graz 1961].

Hier wird Philologie primär als Sprachstudium und nur vernachlässigt als Kritik konzipiert. Das Sprachstudium dient vor allem der Ausbildung und Verfeinerung des eigenen Sprachgebrauchs in prosaischer und poetischer Rede. Philologie fungiert als Oberbegriff von Dichtung und Rhetorik als zwei unterschiedener Arten des Redegebrauchs. Eine philologische Ausbildung befähigt demnach zum eigenen gelehrten Reden. Im Artikel »Wissenschaften« werden dementsprechend die Teile der Philologie als »1) Sprach-Kunst oder Grammaticam; 2) Redner-Kunst oder Rhetoricam; 3) Dicht-Kunst oder Poesie« benannt. Deutlich ist die Verbindung zur mündlichen Redetradition. Der Bezug auf Schriften und deren Kritik wird hingegen marginal gehalten und erscheint in diesem Artikel lediglich an vierter Stelle als »Wortforschungs-Kunst oder Criticam«.57 Vergleicht man diesen Aufbau mit dem Eintrag »Philologi«, so findet sich aber bereits eine deutliche Differenzierung. Auch hier werden zunächst die Philologen als jene bestimmt, »welche sich in ihrem reden und schreiben einer reinen, zierlichen und wohllautenden Art bedienen«, und als Gelehrte auch nebst der Erkänntniß der Hauptsprachen die Historie wissen. Unter der Historie aber wird verstanden, die Wissenschaft der alten Fabeln, von allerhand Gebräuchen, alten Gesetzen, Ordnungen und Gewohnheiten, von der Geographie, Genealologie, Chronographie, von der wahrhaftigen Historie der Kirchen- und Polizey-Sachen, wie auch was sich mit gelehrten Leuten und Disziplinen hin und wieder zugetragen, wie dieselben gewachsen, und wodurch sie wieder in das Abnehmen gekommen.

Der Philologe ist noch mit dem universal gebildeten Polyhistor identisch.58 Dieser zunächst nicht sonderlich überraschenden Konzeption aber folgt unmittelbar die weitere Unterscheidung zwischen Grammatikern und Philologen. War im Philologie-Artikel die Grammatik wichtiger Bestandteil der Philologie selbst, so distanziert man sich nun von der Bezeichnung als »Grammaticus«: Sonsten wurde den Philologis auch der Name Grammaticus zugelegt; weil aber dergleichen Leute sich öfters verführen liessen, bloß auf die Wörter Achtung zu geben, und sich um solche zu bemühen, so will man unter Grammaticus und Philologis einen Unterschied machen. Voßius tract. de philologia. Und so gehören hieher alle, die von Schriften und Sprachen, derer Erlern- und Vergleichung unter einander geschrieben, und entweder um die so genannte allgemeine Schrift und Sprache sich bemühet, oder allgemeine Lehrsätze von Sprachen gegeben, oder besondere Sprachen gründlich untersuchet, oder über die von alten Zeiten auf uns gekommene Schriften und deren Richtigkeit über die davon vorhandene alte Abschriften, derer mancherley im

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beide Zitate: Zedler, Bd. 57. Leipzig – Halle 1748, Sp. 1401. Conrad Wiedemann (Polyhistors Glück und Ende. Von Daniel Morhof zum jungen Lessing. In: ders., Grenzgänge. Studien zur europäischen Literatur und Kultur, Heidelberg 2005, S. 107–133; S. 114) erkennt treffend den Wechsel vom humanistischen Philologen als »poeta« zum frühaufklärerischen Polyhistor. Zu ergänzen ist, dass der Begriff des Philologen nun mit dem des Polyhistors mehr und mehr identisch zu werden scheint.

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Druck ergangene Auflagen, nöthige Verbesserungen, u.d.g. ihr Urtheil ergehen lassen, u.s.w. Diese letzten werden auch Critici genennet, und hat der unermüdete le Clerc ein gelehrtes Buch de Arte Critica heraus gegeben.59

Wurde die Disziplin Philologie im Artikel aus dem Jahr 1726 auf das Sprachstudium zur Verbesserung des eigenen sprachlichen Ausdrucks beschränkt, so erscheint die Bestimmung des Philologen 20 Jahre später bereits wesentlich erweitert, indem er als historisch-vergleichender Kritiker um die Verbesserung der überlieferten Schriften bemüht ist. Der Philologe erfüllt so im Wissenssystem eine überaus wichtige Position. Einerseits bereitet er in den alten Schriften das Material für eine enzyklopädische Sammlung allen vorhandenen Wissens vor, andererseits verfügt er über die sprachlich-rhetorische Fähigkeit, dieses Wissen einer immer noch latinistisch geprägten Gelehrtenkultur zu organisieren und elegant darzustellen.60 Der Philologe als Polyhistor wird damit zur zentralen Instanz des frühmodernen Wissenschaftssystems, zu dem die Poesie als Schwester der Rhetorik weiterhin gehört.61 Diese Begriffsbildung findet sich dabei schon in der Frühen Neuzeit. Bei Caspar Hofmann etwa ist der Philologe bereits derjenige, der über die gesamte schriftliche Überlieferung herrscht und für ihre Vermittlung verantwortlich zeichnet, die aber noch nicht in hermeneutischer Auslegung, sondern im philologischen Exzerpt besteht. Philologie ist also jene Erforschung und Betrachtung der Wörter sowie denk- und wissenswürdiger Sachen bei den Autoren sowie besonders die Kenntnis des Altertums. Außerdem die Erläuterung von Sentenzen, die Kommentierung von Gedichten, Apothegmen, Sprichwörtern, Historien, Exempeln, die Befassung mit Chronologie, der Geschichte, mit bedeutenden Menschen, der Natur der Lebewesen, mit dem Münzwesen und dergleichen mehr. Dann auch die Beschreibung von Sachen, Flüssen, Bergen, Landschaften, Städten und was dort in rühmlicher Kunde überantwortet ist. Darauf beziehen sich auch die Einrichtungen, die Sitten, die Kultur der Völker und Stämme, die Gewohnheiten des Altertums, die Behörden, die Gerichtsformen, religiösen Rituale, die Dinge des Landbaus, der Stadt, des hauses, des öffentlichen Lebens: dies alles aus den guten Autoren zu vermerken ist die Aufgabe des Philologen.62

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Alle Zedler, Bd. 27, Sp. 1984. Vgl. Stichweh, Wissenschaft, Universität, Profession, S. 60. Damit finden wir den Philologen bereits auf seinem (langen) Weg vom grammaticus zum hermeneuticus. Vgl. Lutz Danneberg, Vom grammaticus und logicus über den analyticus zum hermeneuticus. In: Jörg Schönert/Friedrich Vollhardt (Hg.), Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, Berlin – New York 2005, S. 255–337. Caspar Hofmann, De barbarie imminente [1578], Nürnberg 1726, S. 212. Zit. nach: Wilhelm Kühlmann, Lektüre für Bürger: Eigenart und Vermittlungsfunktion der polyhistorischen Reihenwerke Martin Zeillers (1589–1661). In: Wolfgang Brückner/Peter Bickle/Dieter Breuer (Hg.), Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, Wiesbaden 1985, S. 917–934; S. 918.

Noch Sulzers Darstellung in seiner Schrift ›Kurzer Begriff aller Wissenschaften‹ von 1745 zeigt eine ähnliche Bestimmung, wenngleich die polyhistorische Materie zugunsten der Sprachlehre zurückgedrängt wird. Zwar ordnet Sulzer noch, wie oben gesehen, die Künste inklusive der Poesie zum System der Wissenschaften bzw. der Gelehrsamkeit hinzu,63 zugleich aber wird die Philologie als von ihr zu unterscheidende Kategorie aufgeführt, so dass man zunächst meinen könnte, hier liege die beschriebene Trennung bereits zugrunde. Werden die Künste aber als völlig gleichwertige Disziplin geführt, so können ihre Unterkategorien nur schwerlich zum Objekt einer ihr zugeordneten Wissenschaft werden. Philologie definiert Sulzer als »Inbegriff aller Regeln, Lehren und Anmerckungen, welche zu gründlicher Erlernung von Sprachen dienen.«64 Als solche sei sie unabkömmlich, da alle Wissenschaft, Rhetorik und Dichtkunst eine gute Sprachbeherrschung voraussetze. Anders als in der ›Theorie der schönen Künste‹ sind hier Rhetorik und Dichtkunst noch ganz aufeinander bezogen und die Philologie, wie im ›Zedler‹, dient vor allem der Vervollkommnung des Sprachgebrauchs. Die antiken Schriften sind bei Sulzer noch immer Ausgangspunkt und Vorrat für die gegenwärtige Wissenschaft und so seien alle Sprachen zu erlernen, »in welchen Schriften verfasset sind, wodurch die Wissenschaften und Künste befördert werden«. Für die Erlernung von Sprachen, insbesondere des Griechischen und Lateinischen aber sei, mangels anderer Möglichkeiten, die Lektüre der alten Schriften unumgänglich (§ 22). Da diese allzu oft durch mehrmaliges Abschreiben »an vielen Orten verdorben und verstellt« sind, so sei die Philologie um einen neuen Teil erweitert worden, »welcher die Wortkritik kann genennet werden«.65 Für das bessere Verständnis der alten Texte sei darüber hinaus die

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Das Grimmsche Wörterbuch stellt über »das verhältnis von wissenschaft zu kunst« fest: »bis weit in das 18. jh. hinein überdecken sich beide begriffe. kunst ist ein altes wort des wissens, und wissenschaft umfaszt jede geistige tätigkeit, unter anderem auch dichtung und musik, und selbst nichtgeistiges können. darum handelt es sich in kunst und wissenschaft ursprünglich durchaus nicht um zwei seiten des geistigen lebens, sondern um einen gesamtbegriff von groszer spannweite.« Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. XIV/2, Berlin 1960, Sp. 789. Sulzer erkennt bereits, dass im Wissenschaftsbegriff eine semantische Verschiebung stattfindet, ohne dass er daraus wirkliche Konsequenzen für seine Systematik zieht. Johann Georg Sulzer, Kurzer Begriff aller Wissenschaften und andern Theilen der Gelehrsamkeit, Leipzig – Halle 1745, § 6, S. 6: »Man pfleget bißweilen alle Theile der Gelehrsamkeit mit dem allgemeinen Namen der Wissenschaften zu belegen, oder man nennet sie auch die Künste und Wissenschaften. In eigentlichem Verstande aber kömmt der Name Wissenschaft nur denjenigen Theilen der Gelehrsamkeit zu, welche sich mit allgemeinen Wahrheiten beschäftigen, die aus der Natur der Dinge, von denen sie handeln, durch Nachforschung der Vernunft auf eine unumstößliche Art hergeleitet werden. Man kann aber einen jeden besonderen Theil der Gelehrsamkeit eine Disciplin nennen.« Sulzer, Kurzer Begriff, S. 6. Alle ebd., S. 15.

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Kenntnis der »Antiquitates«66 – insbesondere Sitten, Gebräuche und Lebensart der Völker – von Nutzen, deren Studium daher auch zur Philologie gehöre. Da Sulzer die Philologie nur auf gegenwärtige Zwecke bezogen denkt, insbesondere als Mittel zur Ausbildung der Gelehrten, die ihr Wissen einerseits auf die antiken Schriften stützen, andererseits das eigene sprachliche Vermögen, rhetorisch wie poetisch, an den Exempla üben und zu verbessern suchen, kann er die seit der Antike bestehende Fachtradition der philologischen Textkritik und des philologischen Kommentars nur auf diese Zwecke bezogen denken. Eine Geschichte der Philologie, wie etwa später bei F. A. Wolf zu sehen, ist nicht Teil seiner Konzeption. Auch für Johann Andreas Fabricius ist die Philologie im ersten Band seiner Wissenschaftsgeschichte ›Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit‹ von 1752 »nichts anders als die Wissenschaft der Sprachen«.67 Anders als der ›Zedler‹68 aber schließt er erstmals die lebendigen Sprachen, die eigene Muttersprache und auch die ›barbarischen‹ Sprachen, explizit in den Gegenstandsbereich der Philologie mit ein. Zur Wissenschaft der Sprachen aber gehöret nun eine Kenntniß ihres Ursprunges, ihrer Veränderungen, Menge, Unterschiedes, Uebereinstimmungen, ihrer Seele, ihres rechten Gebrauchs, ihrer Wortfügung oder Verbindung und Regierung der Wörter, welches man den Syntax nennet, ihrer Mundarten, ihres Reichthums, der barbarischen und unrechten Redensarten, ihrer Buchstaben, deren Ausprache, Rechtschreibung, der Wörter, ihrer Verwandelung und Abstammung, auch rechter Bedeutung und Anwendung, in Redensarten, Perioden und der Schreibart, mit allem was damit einige Verwandtschaft hat, welches gar vieles in sich fasset, daher es gar viel bedeutet ein Philologus zu seyn, wenn man zumal auch die Kenntniß der durch Wörter angedeuteten Sachen darunter einschließet.69

Weit strenger als Sulzer konzipiert Fabricius die Philologie als Sprachwissenschaft, deren Aufgabengebiet genau markiert wird. Der Philologe muss, um nicht als »blosser Wortkrämer«70 zu erscheinen, sein Spezialwissen nun mit anderen Gebieten der Gelehrsamkeit verbinden. Vermag die Philologie als Wissenschaft, »die

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Ebd., S. 14. Johann Andreas Fabricius, Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit. Bd. 1, Leipzig 1752, S. 67. Sulzer hingegen fordert im Philologieartikel ein umfassendes deutsches Wörterbuch, das a) alle gebräuchlichen Wörter, b) die jeweilige Bedeutung nach etymologischem, konnotativem und figürlichem Sinne, c) den Unterschied nahezu synonymer Wörter und d) die Stilhöhe der Wörter anzeigen sollte, um zur Verbesserung der deutschen Sprache für Rhetorik und Poesie beizutragen. Das Sprachstudium aber beschränkt er zunächst noch ganz auf die toten Sprachen. Vgl. Sulzer, Kurzer Begriff § 14, 15 und § 23, 24. Fabricius, Abriß, S. 68. Ebd., S. 71.

alten Schriftsteller, sonderlich die Poeten der Alten recht [zu] lesen, [zu] verstehen, [zu] verbessern und zu nutzen«, so können ihr »Reichthum, ihre Mängel«71 für das System der Gelehrsamkeit deutlich werden. Die anfangs noch streng linguistisch ausgerichtete Definition der Philologie ergänzt Fabricius im weiteren Verlauf des Artikels durch die bereits bei Zedler und Sulzer zu findenden Rubriken Grammatik, Poetik und Kritik sowie die Kenntnis der Altertümer. Ohne eine nähere oder systematische Begründung zu geben, fügt er wie Zedler Geographie, Historie und Mythologie hinzu und ergänzt damit den Begriff der Philologie um wesentliche Elemente, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts Christian Gottlob Heyne und Wolf zu tragenden Säulen der Philologie als Altertumswissenschaft erklären werden. In dieser Verbindung ordnet Fabricius die Philologie den »schönen Wissenschaften«72 zu, welche die Philologie, die freien Künste und im weiteren Sinne des Begriffs die Philosophie umfassen. Weder die ›schöne Wissenschaft‹ im Ganzen noch die Philologie im Einzelnen dürften dabei als die »Hauptgelehrsamkeit selbst«73 angesehen werden, sondern allenfalls als ein »Werkzeug zur Hauptgelehrsamkeit«.74 Wird bei Fabricius einerseits das Bemühen erkennbar, der Philologie im Sprachstudium mit klar umrissenem Aufgabenbereich eine eigenständige Legitimation als Einzelwissenschaft im System der Gelehrsamkeit zu geben, so wird andererseits deutlich, dass auch er die Philologie nicht aus der polyhistorischen Tradition löst und sie weiterhin Hilfswissenschaft zur Aneignung polyhistorischer Kenntnisse bleibt. Den Bruch, der sich zwischen der engeren Definition als Linguistik und der weiteren als Polyhistorie in diesem Ansatz auftut, versucht Fabricius durch den synthetischen Begriff der schönen Wissenschaft, zu dem nun auch wieder die freien Künste und ihre Ausübung gehören, aufzuheben oder doch zu verdecken. Solange alle Bereiche in dieser Rubrik aufgehoben sind, scheint es nicht weiter nötig, das Verhältnis von Philologie und Dichtung näher zu bestimmen und eine Rollendifferenz zwischen gelehrtem Schriftsteller und Dichter zu erörtern. Dennoch wird schon hier die Aufspaltung des Autorbegriffs implizit mitgeführt und nur provisorisch durch die, wie Fabricius eingesteht,75 definitorisch nur schwerlich zu fassende Klammer ›schöne Wissenschaften‹ zusammengehalten. Die Auswertung der lexikalischen Begriffsbestimmungen der Philologie zeigt bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein ein breites Spektrum von Ansätzen.

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Beide ebd., S. 72. Ebd., S. 73. Ebd., S. 79. Ebd., S. 81. So sagt er nach versuchter Begriffsbestimmung versöhnlich, dass er über Umfang und Inhalt des Begriffs »mit niemand streiten will«. Ebd., S. 73.

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Zu diesem Zeitpunkt kann daher noch nicht von einer klar umrissenen Disziplin gesprochen werden. Vielmehr schlagen sich in der Bestimmung des Begriffs die allgemeinen Umbrüche im Wissenssystem nieder, das einerseits am alten Ideal des rhetorischen Universalgelehrten festhält, andererseits bereits bemerkt, dass die einzelnen Gebiete der Wissenschaft jede für sich derart viele neue Erkenntnisse und Fragestellungen produzieren, dass ein Gelehrter kaum mehr die Möglichkeit hat, sich in all diesen Gebieten auszukennen.76 Übersicht und Systematisierung bleiben Hauptaufgabe des Polyhistors, neben dem sich längst der Fachwissenschaftler emsig nur auf seinem Spezialgebiet bemüht. Der Versuch, alle diese Gebiete im Einzelnen kennenlernen zu wollen, gilt bereits als ein »eitles Unternehmen«.77 Mit steigendem Differenzierungsdruck, der sich nun auch immer stärker an der institutionellen Verankerung einzelner Fächer an den Universitäten festmachen lässt, stellt sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch an die Philologie die »Preisfrage«,78 ob sie sich als eigenständige Wissenschaft etablieren kann und damit die Frage ihrer Legitimation. Solange sie im System vor allem dazu diente, den Schatz antiken Wissens bereitzuhalten, durfte sie sich vor Anfechtungen sicher wähnen. In dem Moment aber, wo die Antike als ent76

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So formuliert August Ludwig von Schlözer (Theorie der Statistik. Nebst Ideen über das Studium der Politik überhaupt, Göttingen 1804, S. 63): »Jeder muss in seinem eigenen Fach ein gelernter Meister sein: die Erweiterung, die fast alle Wissenschaften in neueren Zeiten erhalten haben, lassen keine Pansophie, keine Polyhistorie, kein ex omnibus aliquid mehr zu.« Das erkennt bereits 1745 Sulzer, Kurzer Begriff, S. 5. Siehe auch ebd., S. 4: »Die Erkänntnis nimmt unter den Menschen beständig zu, solange das Nachforschen anhält. Der Strom der Gelehrsamkeit ist unendlich. Sie gleichet einem Baum der alle Jahre neue Zweige treibet, aus welchen hernach große Aeste werden. In den neuern Zeiten ist sie zu einer solchen Ausdehnung angewachsen, daß sie sehr schwer zu übersehen ist. [...] Sie ist ein Land, dessen Umfang, Gränzen und vielen Einwohnern desselben unbekannt sind. Kein Mensch hat Leben oder Kräfte genug, alles darinn kennen zu lernen. In dessen ist es angenehm, einen Abriß derselben vor sich zu haben, und die Namen, die Lage und allgemeine Beschaffenheit der verschiedenen Provinzen und Städte derselben auf einer Landkarte zu lernen.« Zur Bedeutung der Kartenmetapher für das System des Wissens siehe Vf., Ordnungen der ungesicherten Welt. Zum Wandel des Enzyklopädiebegriffs vom Ort der möglichst vollständigen Sammlung des verfügbaren Wissens zur geordneten Übersicht des Zusammenhangs der Wissenschaften siehe auch: Ulrich Dierse, Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs. Archiv für Begriffsgeschichte, Supplementheft 2, Bonn 1977. Die Antwort auf die »Preisfrage« nach dem Beweis der Wissenschaftlichkeit der Philologie sei, so Nikolaus Wegmann (Philologische Selbstreflexion. Die Frage nach der disziplinären Einheit. In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München 1991, S. 113–126; S. 118) das zentrale Movens für die verstärkte philologische Selbstreflexion über die »Selbständigkeit der Philologie gegenüber den übrigen Fächern« Ende des 18. Jahrhunderts gewesen.

scheidender Bezugspunkt moderner Wissenschaft in den Hintergrund tritt oder ganz aufgegeben wird, muss die Philologie, will sie einen Platz im neuen Wissenssystem behaupten, andere Gründe vorbringen können.79 Moses Mendelssohn beschreibt den Umbruch bereits 1764 in seiner Preisschrift ›Abhandlung über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften‹ in nuce. Die Schriften der vorigen Zeiten, sind in unsern Tagen fast unbrauchbar geworden. Ihre berühmtesten Lehrgebäude enthalten zwar noch einige Materialien, die mit Nutzen angewendet werden können, allein man glaubt, es lohnen sich die Mühen nicht, daß man ihrethalben das zerfallene Gemäure durchsucht, und den Schutt aufgräbt, mit welchen sie bedeckt sind. [...] Dass wir so schwache Gründe, so wenig Bündiges und Zusammenhangendes in den Systemen der Alten finden, kömmt daher, weil die Vernunft seit der Zeit merkliche Progresse gemacht hat, weil wir durch die Bemühungen der Weltweisen, der Wahrheit näher gekommen sind, die ersten Grundsätze der Natur besser einsehen, und deutlicher auseinandersetzen gelernt haben.80

Eine solche Diagnose stellt die Philologie in ihrer Funktion für das moderne Wissen radikal in Frage. Wenn Mendelssohn aber die alten Muster »in den schönen Wissenschaften und Künsten«,81 insbesondere im Homer, unübertroffen sieht, dann wird überdem deutlich, dass Dichtung zwar noch den Beinamen Wissenschaft führt, vom System neuzeitigen Wissens, das den Wissenschaftsbegriff nicht mehr länger ontologisiert, sondern methodisiert (Wissenschaft sein vs. Wissenschaftlichkeit), aber bereits deutlich getrennt wird.82 Für die Philologie deutet sich damit an, dass sie ihre Legitimation nicht in der Aktualisierung antiken Wissens suchen kann, sondern sich auf historische Studien der antiken

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Vgl. Stichweh, Wissenschaft, Universität, Profession, S. 88f.: »Die Erhaltung des Wissens hat ihre wichtigste institutionelle Stütze an der eigentümlichen europäischen Vorstellung, dass gelehrte Bildung Sprachlernen ist. Sprache, Texte und Wissen gehen hier einen Zusammenhang ein, in dem die Erhaltung des Wissens von der immer erneuerten Aneignung klassischer Sprachen und Texte gesichert wird. [...] Aber das konnte man in der Frühmoderne nach der massiven Rezeption antiken Wissens, das zudem dank Buchdruck dauernd verfügbar war, nicht mehr ernsthaft glauben, und vermutlich ist die Differenzierung von Sprachlernen (=Erhaltung) und Enzyklopädie/Klassifikation (=Organisation) selbst ein wichtiges dynamisches Moment in der Entstehung moderner Wissenschaft.« Moses Mendelssohn, Abhandlung über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften, Berlin 1764. In: ders., Gesammelte Schriften. Hg. von I. Elbogen, J. Guttmann u.a. Bd. 2, Berlin 1931, S. 267–330; S. 269 [Reprographischer Nachdruck Stuttgart 1972]. Mendelssohn, Abhandlung über die Evidenz, S. 270. Diemer stellt dem klassischen Wissenschaftsbegriff, dessen Kennzeichen Absolutheitsglaube, Voraussetzung von Wahrheit, Allgemeinheitspostulat und Evidenzcharakter sind, den modernen Wissenschaftsbegriff mit den leitenden Kriterien, Reflexion, Verifizierung, Entmetaphysierung, Autonomisierung, Operationalisierung, Problematisierung, Konditionalisierung, Hypothesierung, Propositionalisierung und Intersubjektivierung gegenüber. Vgl. Diemer, Begründung des Wissenschaftscharakters, S. 24 und S. 36.

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Dichter beschränken muss, wie mit Heinz Schlaffer festzuhalten ist: »Der Verlust praktischer Funktionen trieb erst den ästhetischen Charakter der antiken Literatur hervor. Ohne den Begriff zu kennen, hatte sich die Philologie zur Literaturwissenschaft gewandelt.«83 So weit war es indes noch nicht. Die Geburtsstunde der Philologie als Fachwissenschaft wird seit Goethes Diktum, Friedrich August Wolf habe mit seinem Insistieren an der Universität Göttingen als Student der Philologie (studiosus philologiae) eingeschrieben zu werden, eine »fünfte Facultät, die philologische«84 gegründet, auf das Jahr 1777 datiert.85 Den Versuch einer systematischen Begründung der Philologie als Fachwissenschaft aber legt Wolf erst 1807 mit seiner ›Darstellung der Alterthums-Wissenschaft‹ vor, nachdem er bereits seit 1785 in seinen Vorlesungen wiederholt eine ›Enzyklopädie der Philologie‹86 entworfen hatte und damit gegenüber der ›Encyklopädie aller philologischen Wissenschaften‹87 von 1793 seines Schülers Erduin Julius Koch bereits die Philologie im Singular führt und so als Einzeldisziplin ausweist. Der Titel ›Enzyklopädie‹ deutet aber

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Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 173. Vgl. Michael Bernays (Hg.), Goethes Briefe an Friedrich August Wolf, Berlin 1868, S. 65 und Manfred Riedel, Zwischen Dichtung und Philologie. Goethe und Friedrich August Wolf. In: DVjs 71 (1997), S. 92–109; S. 94. Dass dies eine Legende ist, hat Edward Schröder (Studiosus philologiae. In: Neue Jahrbücher für Pädagogik 32 (1913), S. 168–171) bereits 1913 nachgewiesen. Der erste stud. Philologiae hat sich in Göttingen 1736 eingeschrieben. J. M. Gesner hatte hier bereits 1734 ein philologisch-pädagogisches Seminar gegründet, das aber vornehmlich der Ausbildung von Gymnasiallehrern und Theologen in alten Sprachen gewidmet war und so »dem Mangel tüchtiger Lehrer auf das Künftige abzuhelfen«, wie es in einer späteren Ausgabe der Schul-Ordnung vor die Churfürstliche-Braunschweig-Lüneburgische Lande. Darinnen sonderlich 2. Die Einrichtung des Seminarii Philologici zu Göttingen 02./13. August 1737 heißt. Für die klassische Philologie kann man um 1810 bereits von einer voll entwickelten Disziplin in der Philosophischen Fakultät ausgehen, während die Deutsche Philologie bis 1840 um einen solchen Status ringt. Vgl. Rainer Kolk, Zur Professionalisierung und Disziplinentwicklung in der Germanistik. In: Fohrmann/Voßkamp (Hg.), Wissenschaft und Nation, S. 130–132. Friedrich August Wolf’s Encyclopaedie der Philologie nach dessen Vorlesungen im Winterhalbjahre 1798/1799, hg. von S. M. Stockmann. 2. mit einer Übersicht der Literatur bis zum Jahre 1845 vers. Ausg., Leipzig 1845 oder Friedrich August Wolf’s Vorlesungen über die Altertumswissenschaft, hg. von J. D. Gürtler und S. F. W. Hoffmann. Bd. 1: Vorlesung über die Enzyklopaedie der Altertumswissenschaft, hg. von J. D. Gürtler, Leipzig 1831. Es handelt sich hierbei jeweils um die von Wolf nicht autorisierte Publikation der Mitschriften seiner Hallenser Vorlesungen. Vgl. Erduin Julius Koch, Encyklopädie aller philologischen Wissenschaften für Schulen und Selbst-Unterricht, Berlin 1793, die in der ersten Abteilung eine komplette Umarbeitung von Sulzers Darstellung der Philologie aus ›Kurzer Begriff aller Wissenschaften‹ enthält. Koch hatte 1792 einen ersten Abriss der Vorlesung Wolfs aus dessen Skripten unter dem Titel ›Hodegetik für das Universitäts-Studium‹ in Berlin veröffentlicht.

bereits darauf hin, dass das Fach selbst »als System von Unterdisziplinen begriffen« wird, »um als Enzyklopädie präsentiert werden zu können.«88 Zunächst aber stellt Wolf 1807 im ersten Band der von ihm und Philipp Buttmann herausgegebenen Zeitschrift ›Museum der Alterthums-Wissenschaft‹ die Diagnose, dass trotz der institutionellen Etablierung des Faches an der Universität dieses sowohl dem inhaltlichen Umfang als auch dem Begriffe nach noch weitgehend unterbestimmt sei.89 So firmiere die Philologie mal als Linguistik, mal als Sprachwissenschaft, klassische Gelehrsamkeit, alte Litteratur, Humanitäts-Studien oder ganz allgemein als schöne Wissenschaft, was Wolf scharf zurückweist.90 Mit der Auflistung blickt Wolf auf die verschiedenen vorgestellten Konzepte des 18. Jahrhunderts zurück. Dabei kritisiert er neben der unterschiedlichen Bezeichnung vor allem die immer wieder anzutreffende Neigung der Philologen, sich eng an andere Wissenschaften anzubinden und ihre Legitimation als dienende Hilfswissenschaft zu suchen.91 Wolf erkennt klar die sich seit dem 16. Jahrhundert ändernde Situation und beschreibt selbst die Auswirkungen des Differenzierungsprozesses auf die Philologie, die einer modernen wissenschaftstheoretischen Rekonstruktion nicht viel nachsteht. Vor allem im Renaissancehumanismus des 14. bis 16. Jahrhundert sei die Antike als Muster nicht nur der Darstellung, sondern vor allem als »Magazin der reichhaltigsten Gedanken und Grundsätze«92 wiederentdeckt worden. Aus diesem Magazin heraus konnten die Wissenschaften und Künste neue Kenntnisse und Formen entwickeln. Daher erlebte die Philologie als ein Ineinandergreifen von Textrezeption und -produktion eine neue Blüte und konnte im Zentrum des Wissenschaftssystems stehen. Angesichts der Vermehrung und Spezifizierung allen Wissens und der Verwendung der Nationalsprachen als Wissenschaftssprache im späten 17. und vor allem im Laufe des 18. Jahrhunderts habe sich die Situation der Philologie allerdings grundlegend geändert. Die Produktion neuen Wissens basiere nun nicht mehr auf der Grundlegung durch den Bezug zu antiken Autoren.93 Die meisten modernen Wissenschaften bräuchten das alte Wissen nicht mehr, da sie dieses in den Ergebnissen ihrer Forschung weit hinter sich gelassen

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Dierse, Enzyklopädie, S. 24f. Wolf baut die ersten Ansätze seines Göttinger Lehrers Christan Gottlob Heynes systematisch aus, der, wie bekannt, die Forderung nach Entwicklung einer historisch-kritischen Methode immer wieder vorgetragen hatte. Friedrich August Wolf, Darstellung der Alterthums-Wissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert, Berlin 1807, S. 11 [Reprographischer Nachdruck mit einem Nachwort von Johannes Irmscher, Weinheim 1986]. Vgl. ebd., S. 13f. Ebd., S. 84. Ebd., S. 84ff.

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hätten.94 Selbst die Jurisprudenz und die protestantische Theologie, die weiterhin ganz auf dem Fundament der Quellen des Altertums beruhten, könnten in der veränderten Situation allenfalls hinreichen, die Philologie als subordinierte Hilfswissenschaft zu rechtfertigen, nicht aber als eigenständiges Fach.95 Wolfs Ziel ist, die verstreuten und voneinander abweichenden Meinungen über das Wesen der Philologie »zu einem organisch Ganzen zu vereinigen« und sie »zu der Würde einer wohlgeordneten philosophisch-historischen Wissenschaft emporzuheben«.96 Dabei müsste die Beschäftigung mit alten Sprachen als Selbstzweck und »Vorrath von allgemeinen Ideen und Formen unseres Denken«97 anerkannt werden. Wolf versucht der Marginalisierung der umfassenden Bedeutung der Philologie in der Frühen Neuzeit durch eine strikte Spezialisierung als historische Wissenschaft der Antike zu begegnen und liefert eine »historische Wissenschaftstheorie der Philologie«.98 Anders als Fabricius, der prinzipiell alle lebendigen Sprachen zum Objektbereich der Philologie erklärte, sieht Wolf lediglich die Griechen und Römer als Gegenstand einer Wissenschaft, da nur sie im Gegensatz zu anderen Völkern eine Art von Bildung, eine höhere Geisteskultur mit voll entwickelten Literaturen und Schriften ausgebildet hätten. Wolf verschränkt damit die historische Legitimation mit einer normativklassizistischen Bildungsidee, wie Winckelmann und Lessing es für die Kunstgeschichte vorgemacht hatten.99 Ziel und Begründung einer Wissenschaft des

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In heutiger Terminologie klingt das etwa so: »Eine erste bemerkenswerte Entwicklung ist, daß an die Stelle eines rezipierten ein selbst hervorgebrachtes Wissen tritt. Die Wissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts weist alle wissenschaftsexternen Formen der Wissenserzeugung und alles Wissen, das ihr aus einer vorwissenschaftlichen Vergangenheit überkommen ist und nicht die wissenschaftlichen Prüfinstanzen durchlaufen hat, der Tendenz nach ab. In diesem Sinn ist sie erstmals autopoietische Wissenschaft.« Stichweh, Wissenschaft, Universität, Profession, S. 57f. Vgl. Wolf, Darstellung, S. 87. Ebd., S. 5. Ebd., S. 91. Ulrich Muhlack, Klassische Philologie zwischen Humanismus und Neuhumanismus. In: Rudolf Vierhaus (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, S. 99. Das ist in der Forschung allgemeiner Konsens und verschiedentlich wiederholt. Vgl. Axel Horstmann, [Art.] Philologie. In: Historisch-kritisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7, Basel 1989, S. 552–572; besonders S. 561 und ders., Die Klassische Philologie zwischen Humanismus und Historismus. F. A. Wolf und die Begründung der Altertumswissenschaft. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 1 (1978), S. 50–71; Ada Neschke, Hermeneutik von Halle: Wolf und Schleiermacher. In: Archiv für Begriffsgeschichte 40 (1997/98), S. 142–159. Nikolaus Wegmann spricht bei Wolf von einem Konzept, das vornehmlich »bildungsmythisch« legitimiert werde, er aber in den Prolegomena diese Konzeption selbst unterlaufe habe. Vgl. ders., Was heißt einen ›klassischen Text‹ lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung. In: Fohrmann/Voßkamp (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, S. 365 und S. 370. So richtig und wichtig der

Altertums100 müsse »die Kenntniss der alterthümlichen Menschheit selbst« sein, »welche Kenntniss aus der durch das Studium der alten Ueberreste bedingten Beobachtung einer organisch entwickelten bedeutungsvollen National-Bildung hervorgeht«.101 Die Objekte einer derart als klassische Kulturwissenschaft konzipierten Philologie sind demnach: Politische und häusliche Zustände, Kultur, Sprache, Künste, Wissenschaften, Sitten, Religionen, Nationalcharaktere und Denkarten des Altertums.102 Als streng historische Wissenschaft aber ist die Philologie dafür notwendig auf überlieferte Quellen angewiesen, die Wolf in drei Kategorien teilt: 1. Schriftliche Werke, zu denen er auch später aufgezeichnete Rhapsoden- und Bardengesänge zählt. 2. Künstlerische Werke, insbesondere Zeichnungen, Bildnisse und Statuen. 3. Überbleibsel gemischter Art etwa als Steininschriften oder Münzen.

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Bildungsbegriff und die damit einhergehende Fokussierung auf die klassische Antike der Griechen und Römer für Wolf ist, so muss eine mindestens ebenso starke Tendenz zu einer strikt historischen Ausrichtung der Philologie anerkannt bleiben. Mit Wolf zeigt sich wohl erstmals das Dilemma, in dem die Philologie um 1800 steckt: Einerseits Repräsentation und Vergegenwärtigung einer vergangenen Epoche als wie auch immer verstandene Bildung leisten zu wollen, andererseits mit der strikten Historisierung und Verwissenschaftlichung des Faches die historische Differenz so zu verstärken, dass ein aktualisierender Bezug zur Gegenwart mehr und mehr unwahrscheinlich erscheint. Im Streit zwischen Arnim und Jacob Grimm werden dann diese beiden Momente explizit benannt und als Position ausdifferenziert, von denen die Grimmsche zur disziplinären Ausdifferenzierung der Germanistik führen wird. Kaum an einer anderen Systemstelle lässt sich die Transformation der Theorie der Gelehrsamkeit in die neuen Leitbegriffe ›Wissenschaft‹ und ›Bildung‹, wie sie schon das Grimmsche Wörterbuch nachzeichnet, besser ablesen als an der konzeptionellen Veränderung der Philologie. Siehe auch Wegmann (Philologische Selbstreflexion, S. 120ff.), der bei Wolf aber zu einseitig eine »pädagogische Philologie« ausmacht, die Bemühungen um die Einschreibung in das System der Wissenschaft dadurch zu stark vernachlässigt. Zum Thema allgemein: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.), Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft, Stuttgart 1987. Wolf, Darstellung, S. 124f. Vgl. ebd., S. 30. Angesichts einer solchen Genese des Faches erscheinen mir die Ausfälle gegen kulturwissenschaftliche Ansätze mit ihren steten Verweisen auf die philologischen Traditionen und Tugenden des Faches zumindest verwunderlich. Mit Blick auf die Liste der zu bearbeitenden Gegenstände des Faches bezeichnet Johann Heinrich Christian Barby in seiner ›Encyklopädie und Methodologie des humanistischen Studiums oder der Philologie der Römer und Griechen‹ (Berlin 1805) diese als »allgemeine Culturwissenschaften« (S. 7). Wolfs lange Liste (vgl. ebd., S. 894f.) der zur Altertumskunde gehörenden 24 Disziplinen wurde u.a. von Boeckh und Hegel als unsystematisch kritisiert. Vgl. dazu Axel Horstmann, Antike Theoria und moderne Wissenschaft. August Boeckhs Konzeption der Philologie, Frankfurt/M. u.a 1992, S. 69ff.

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Diese Quellen könnten nun a) als Monumente und Zeugnisse vergangener Zustände betrachtet werden, als welche sie prinzipiell von gleichem historischen Wert sind, oder b) als ästhetisch-schöne Werke, was zugleich die Zahl der Dokumente wesentlich reduziere. Für eine Altertumswissenschaft dürfe aber schon daher nicht allein der ästhetische Wert Kriterium sein, weil sehr oft gewöhnliche Überbleibsel und Alltagsgegenstände hülfen, Stellen der schönen Literatur zu klären.103 Die Erforschung dieser Quellen setze notwendigerweise ein Studium der alten Sprachen voraus. Die Kenntnis der alten Sprachen wird bei Wolf aber nicht mehr allein zur Verbesserung des eigenen Sprachvermögens instrumentalisiert, sondern umgekehrt helfe dem Philologen der praktische Gebrauch der alten Sprache bei der Lektüre der Alten. Wolf wendet sich ausdrücklich gegen die Arbeit mit Übersetzungen, da diese »von der Kunst ab[führt], in einer alten Sprache zu denken«.104 Das Sprachstudium stellt so gleichsam das Organon des Philologen da und soll sich a) auf eine philosophische Theorie der Sprache, die den Zusammenhang von Sprache und Denken reflektiert, stützen und b) in eine historische Grammatik münden, die nicht ein System von Regeln zu einem bestimmten Zeitpunkt wiedergibt, sondern eine Untersuchung ihrer Entstehung, ihres Baus, ihrer fortschreitenden Bildung, ihrer Orthographie, Prosodie, Etymologie, Analogie und Formenlehre, Syntax und Idiome vorstellt. Die in allen Lexikoneinträgen genannte Kategorie Grammatik wird von Wolf ebenfalls konsequent historisiert: »So wird denn aus der Grammatik gewissermassen Geschichte einer Sprache.«105 Die Ausrichtung der Philologie als historische Altertumswissenschaft wirft zugleich das Problem auf, in welches Verhältnis sich der Philologe zur Historie und ihren Quellen setzt, wenn sein Ziel »die Kenntniss der alterthümlichen Menschheit selbst«106 ist. Denn »ihre Aufgabe wird, zugleich mit der historischen Erforschung des Altertums dessen normative Geschichtlichkeit zur Darstellung zu bringen«.107 Damit aber ist ein Paradoxon eingebaut, das die Konzeption der Philologie als historische Wissenschaft mit sich führt und die Hermeneutik auf den Plan ruft. Einerseits postuliert sie die radikale Historizität des Wissens von der Antike, andererseits muss sie damit eingestehen, dass vollkommenes historisches Wissen kaum zu erlangen ist und immer auch einen subjektiven Charakter behält. Dies wird spätestens seit Chladenius’ Theorie des individuellen SehePunckts108 in die Diskussion um die Objektivität der historischen Wissenschaften

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Wolf, Darstellung, S. 33. Ebd., S. 118. Ebd., S. 36. Ebd., S. 124. Muhlack, Klassische Philologie, S. 98. Dazu vor allem Szondi, Einführung, S. 79–86.

eingebracht, in deren Anschluss der Wahrscheinlichkeitsbegriff als Kompensationsbegriff eingeführt wird. La définition d’une discipline (la philologie classique) chez F. A. Wolf et F. Ast, puis chez Schleiermacher et enfin chez Boeckh est en même temps celle d’une herméneutique, sans que ces deux dimensions fondatrices de l’activité intellectuelle soient nettement hiérarchisées entre elles. Il est vrai que pour toute esquisse systématique de la discipline, l’herméneutique est comprise dans le champ de la philologie. Mais il est vrai que cette même définition de la philologie suppose une théorie de la compréhension, de l’interprétation et de l’explication, que les fondateurs de la discipline n’ont pas manque d’élaborer. Philologie est herméneutique générale se présupposent mutuellement.109

So verweist zunächst auch Wolf auf die praktische Hermeneutik als Verfahren der Ausblendung des Gegenwärtigen und als Eingehen in die der Gegenwart entfremdete Denkart vergangener Jahrhunderte, dessen Ziel es ist, mit der persönlichen Individualität eines Autors übereinstimmend zu denken und so seine Eigenheiten mit denen anderer zu vergleichen.110 Wolf aber lehnt die praktische Hermeneutik als methodisch spekulativ ab. Kein Text, keine Quelle ließe sich aus der Überzeugung grundsätzlicher Harmonie der Denkart von Philologe und Autor erklären.111 Denn zwischen Autor und Philologe steht zunächst einmal der historische Text, der keinen unmittelbaren Zugriff auf die Denkart seines Verfassers zulässt: »Ingleichen lässt sich kein Text mit nothwendiger Ueberzeugung von der Harmonie unserer Gedanken mit denen des Verfassers erklären, ehe nicht die Echtheit und Richtigkeit seines Vortrages bis auf die einzelnen Ausdrücke erwiesen worden«.112 Weniger antizipierende Texttheorie als die oft undurch109

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Michael Werner, A propos de la notion de philologie moderne problèmes des définitions dans l’espace Franco-Allemand. In: Michel Espagne/Michael Werner (Hg.), Philologiques I. Contribution à l’histoire des disciplines littéraires en France et en Allemagne au XIXe siècle, Paris 1990, S. 1–21; S. 17. Wohlgemerkt lag eine umfassende Theorie philosophischer oder literarischer Hermeneutik zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch nicht vor. Schleiermacher hat eine ausgearbeitete Darstellung seines Ansatzes nie zu Lebzeiten veröffentlicht. Den mit Bezug auf F. A. Wolf und F. Ast verfassten Akademievortrag ›Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch‹ hält er erst am 13. August 1829 als Wolf längst gestorben war. Wolf, Darstellung, S. 37f. Hier setzt er sich deutlich von seinem Lehrer Heyne ab, der noch 1822 in der bloßen Identifikation mit der Autorposition eine Möglichkeit historisch-philologischen Arbeitens sah. Vgl., ders., Akademische Vorlesungen über die Archäologie der Kunst des Alterthums, insbesondere der Griechen und Römer, Braunschweig 1822, S. 3: »Wer ein Kunstwerk vollkommen gerecht betrachten will, muß sich zuvor, um es ganz zu verstehen, auf den Standpunkt des Künstlers erheben, beachten, ja die Lage und die Umstände, in welchen sich der Verfertiger befand, erwägen und nicht aus dem Gesichte verlieren. Er muß die Gedanken des Künstlers, welche ihn bei seinem Werke belebten, gefaßt haben.« Wolf, Darstellung, S. 38.

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sichtige Überlieferungsgeschichte der Texte bringt Wolf zu der Einsicht, dass jeglichem interpretatorischen Zugriff eine historisch-kritische Untersuchung des Textes vorauszugehen habe, da man ansonsten davon ausgehen müsse, dass ein vorliegender Text nicht das Werk eines einzelnen Autorindividuums, sondern aus editorischer Kompilation im Laufe der Jahrhunderte entstanden sei. »Wolfs Hermeneutik ist – trotz nicht immer eindeutiger Formulierung – nicht eine Hermeneutik des Autors, sondern des Werkes.«113 Wolf führt, und dies dürfte eine wesentliche Neuerung im Gegensatz zum 18. Jahrhundert sein, Kritik und Hermeneutik als zwei notwendig aufeinander bezogene Tätigkeiten des Philologen zueinander.114 Die philologische Kritik muss zu allererst die Echtheit und Richtigkeit eines Textes bis in die einzelnen Ausdrücke hinein klären, bevor ein interpretatorischer Zugriff erfolgt. Eine solche Position markiert deutlich die Unterschiede zu den zuvor erläuterten Positionen, in denen der Textkritik allenfalls marginale Bedeutung zugesprochen oder in ihr das alleinige Ziel philologischen Arbeitens gesehen wurde. Bei Wolf wird die philologisch-kritische Durchmusterung des Textes zur Grundlage literarischer Hermeneutik.115 In diesem Verfahren liegt für ihn ein entscheidendes Kriterium für die Etablierung der Philo-

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Vgl. Hermann Patsch, Friedrich August Wolf und Friedrich Ast: Die Hermeneutik als Appendix der Philologie. In: Ulrich Nassen (Hg.), Klassiker der Hermeneutik, Paderborn u.a. 1982, S. 86. Peter Szondi sieht die Tradition, Kritik und Hermeneutik als »von einander unabhängige Disziplinen« bis ins 19. Jahrhundert weitergeführt. Nicht umsonst entwickelt er wesentliche Elemente seiner literarischen Hermeneutik aus den Ansätzen Wolfs und Asts heraus. Vgl. ders., Einführung, S. 38. Dagegen versucht Gumbrecht (Die Macht der Philologie, S. 19) neuerdings, die Philologie wieder jenseits der Hermeneutik zu positionieren und fordert »nichtinterpretative Möglichkeiten – des Umgangs mit kulturellen Objekten«. In diesem Sinne ist Flashars Einschätzung, das Objekt der Hermeneutik bei Wolf sei nicht der Text, sondern der Autor, zu relativieren, zumal sie nur schwach durch Belege gestützt wird. Vgl. Hellmut Flashar, Die methodisch-hermeneutischen Ansätze von Friedrich August Wolf und Friedrich Ast – Traditionelle und neue Begründungen. In: ders./Karlfried Gründer/Axel Horstmann (Hg.), Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, Göttingen 1979, S. 22f. Für Wolf scheint »das Verstehen in höherer Bedeutung« (Wolf, Darstellung, S. 38) eben nicht allein in der Auslegung des vom Autor Gewollten zu bestehen, und nicht mehr allein in der Erläuterung einzelner Werke aus dem historischen Kontext heraus, sondern in der umfassenden Kenntnis des Zeitalters selbst. Diese Verstehensbewegung ist dabei bereits, anders als Flashar behauptet, zirkulär gedacht: »Es kann aber von diesem allen wenig geleistet werden, am wenigsten ein Auffassen der Eigenthümlichkeiten von Zeiten und Schriftstellern, wenn nicht vorher Zeiten und Schriftsteller hinreichend bestimmt sind.« (ebd.) Voraussetzung dafür aber sei die »philologische Kritik« (ebd.).

logie als exakter Wissenschaft,116 die er von früheren philologischen Verfahren abhebt. So heißt es in den ›Prolegomena ad Homerum‹ von 1795: Von dieser etwas leichtfertigen und sozusagen prinzipienlosen Methode unterscheidet sich bedeutend die angemessene fortlaufende und nach sicheren wissenschaftlichen Gesetzen geführte Durchmusterung des Textes. [...] Die Pflästerchen reißt sie ab und zeigt die entblößten Schäden. [....] Obwohl bei dieser Methode die Kraft selbstständigen Schaffens und die Kunst freier Konjekturalkritik wohl am Platze ist, so muß man dennoch, da die Zuverlässigkeit einer jeden alten Lesart bekanntlich von der Unverdorbenheit der Schriftstücke abhängt vor allen Dingen daraufhin arbeiten [...] die Eigenthümlichkeiten und die besondere Natur der Quellen zu erforschen, aus denen der Text des betreffenden Schriftstellers geschöpft werden soll.117

Mit der Ablehnung der praktischen Hermeneutik als unzureichend für die Etablierung wissenschaftlicher Gewissheit, gibt er deren Vorwurf, etwa in Georg Friedrich Meyers ›Versuch einer allgemeinen Auslegekunst‹ (1757), zurück, die Philologie sei deshalb kein hinreichender hermeneutischer Grund, weil ihre Ergebnisse immer auch falsch sein könnten und sich daher keine richtige Auslegung aus ihr deduzieren lasse.118 Wenn Meyer eine Äquivokation von mathematischer und hermeneutisch-philologischer Gewissheit nicht gelten lassen kann und das Streben danach durch den »Ausleger und Commentator« als etwas »unmögliches und ungereimtes«119 zurückweist, dann versucht Wolf nun ein Verfahren zu entwickeln, das die Richtigkeit der philologischen Arbeit gewährleistet und so zum Ausgangspunkt für die Hermeneutik werden kann. Er teilt dafür die philologische Kritik, die das Alter und die Echtheit der Dokumente prüft und die Wiederherstellung dessen zum Ziel hat, was ein Urheber wirklich geschrieben hat oder der Kassation dessen, was er nicht geschrieben hat, in die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts geläufigen Begriffe der niederen und höheren Kritik. Die niedere Kritik greift auf die überlieferten Urkunden zurück, vergleicht diese und vermerkt die abweichenden Lese- und Schreibarten der Überlieferungsgeschichte: »Für diejenige Art der Fehler, welche infolge 116

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Manfred Fuhrmann (Friedrich August Wolf. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 15. Februar 1959. In: DVjs 33 (1959), S. 187–236; S. 222) ist zuzustimmen, wenn er schreibt: »Die Beweisbarkeit war für ihn Kriterium aller Wissenschaft; mochten sich die historisch-kritischen Disziplinen von den exakten durch die Art der Beweise und die Kunst der Beweisführung unterscheiden: in ihrem Anspruch auf Wahrheit und Gültigkeit der Ergebnisse standen ihm Geschichte und Mathematik bei aller sachbedingten Inkommensurabilität gleichberechtigt nebeneinander.« Das wird vor allem anhand der Kategorie der Wahrscheinlichkeit im Folgenden deutlich. Friedrich August Wolf, Prolegomena zu Homer. Ins Deutsche übertragen v. Hermann Muchau, Leipzig 1909, S. 60f. Auch Szondi (Einführung, S. 123) sieht »die ganze Skepsis Meyers auf die Richtigkeit beschränkt«. Georg Friedrich Meyer, Versuch einer allgemeinen Auslegekunst, Halle 1757, § 242, S. 125f. [Reprographischer Nachdruck Düsseldorf 1965].

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allzu häufigen und unsorgfältigen Abschreibens immer wieder von neuem sich einzuschleichen pflegen, ist ein wirksames Heilmittel vorhanden, nämlich die Kritik, welche Handschriften von verschiedenen Abschreibern untereinander vergleicht.«120 Der streng vergleichenden Textkritik zur Seite steht die höhere oder auch divinatorische Kritik. Sie versucht aus inneren Beweisgründen, nach deduktiven Schlussverfahren ohne weitere Quellengrundlage bestimmte Lesarten zu begründen. Eine solche divinatorische Kritik aber könne allenfalls Wahrscheinlichkeit, nicht aber Wahrheit hervorbringen und sei daher kein konsequent wissenschaftliches Verfahren. Wolf spielt an dieser Stelle das Wahrscheinlichkeitspostulat gegen einen wahrheitheitsbasierten Referenzcode aus. Mit der expliziten Unterscheidung rekurriert Wolf auf die intensive Diskussion des Wahrscheinlichkeitsbegriffes in Poetik und Historiographie des 18. Jahrhunderts, die von der aristotelischen Unterscheidung im neunten Buch der ›Poetik‹ ausgeht. Gegen Ende des achten Buches beschreibt Aristoteles den Aufbau der Tragödie nach innerer Notwendigkeit mit exakt dem Kriterium, das Wolf für die divinatorische Kritik anfügt. »Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht ein Teil des Ganzen.«121 Ebenso verfährt die divinatorische Kritik: was keiner inneren Notwendigkeit des Textes, keiner Einheit der Handlung folgt, muss später erfolgter Zusatz bzw. Verfälschung sein. Aristoteles ordnet nun zu Beginn des neunten Buches dieser inneren Notwendigkeit den Begriff der Wahrscheinlichkeit zu. Die Produktion von Wahrscheinlichkeitsannahmen sei daher die Aufgabe des Dichters: »Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.«122 Daran schließt sich die berühmte Unterscheidung der Verfahren der Geschichtsschreibung und der Dichtung an, wonach die Geschichte zeige, was wirklich, also wahrhaft und bezeugt, geschehen sei, wohingegen die Dichtung stets im Konjunktiv arbeite und zeige, was geschehen könnte.123 Da die Dichtung also stets mit variablen Operatoren arbeiten kann, präsentiere sie das Allgemeine und sei daher der Geschichtsschreibung vorzuziehen, die sich immer auf den konkreten Einzelfall beziehen müsse, um glaubhaft zu sein.124 120 121 122 123 124

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Ebd., S. 91. Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1994, S. 29. Ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 29. Die Wertung des Aristoteles lässt sich leicht in mathematische Begriffe übersetzen. Während die Dichtung im Grunde mit Platzhaltern operiert, mit denen sich eine beliebige Menge identifizieren kann, (daher auch die Masken in der antiken Tragödie, die eine Konkretisierung der Figuren verbieten) in der Mathematik also etwa Buch-

In der Diskussion des Verhältnisses von Historiographie und Dichtung125 steht der Wahrscheinlichkeitsbegriff im Zentrum. Wie die intensive Forschung der letzten Jahre gezeigt hat,126 steht die Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts noch immer unter dem Einfluss rhetorischer Textverfertigungsstrategien. So rekurriere die pragmatische Geschichtsschreibung, etwa bei Johann Christoph Gatterer, auf den Evidenzbegriff.127 Mendelssohn hatte bereits 1764 als Kriterien für die Evidenz erstens »Gewißheit«, zweitens aber deren leichte »Faßlichkeit«, die sich vor allem an Anschaulichkeit erkennen lässt, benannt.128 Gatterer greift diese Unterscheidung auf, die einerseits zwar als abstrakte oder wissenschaftliche Evidenz deduktiv eine »umständliche Entwicklung der Begriffe aus der Grundidee«129 fordert, andererseits aber als Evidenz individueller Dinge, diese zur sinnlichen Erscheinung bringen soll oder in der Einbildungskraft als bereits unmittelbar gegeben vorstellt.130 Daher, so Scharloth, gehöre die Evidenz primär in die rhetorische Kategorie der ›elocutio‹.131 »Die Wahrheitsfrage ist von der Frage der Evidenz letztlich nicht berührt.«132 Für eine Verwissenschaftlichung, die Wahrheit als wesentliches Inklusionskriterium erfordert, konnte der Evidenzbegriff also nur bedingt nützlich sein.133 Vor immer neue Schwierigkeiten gestellt, historische Fakten beglaubigen zu können, greift die aufklärerische

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staben, so gleicht die Geschichtsschreibung immer der konkreten mit Zahlen besetzen Aufgabe. Der mathematischen Formel aber kommt immer höhere Allgemeinheit und Erkenntniskraft zu als der konkretisierten Aufgabe. Zur langen Tradition des Themas siehe Heitmann, Verhältnis, S. 244–279. Insbesondere Fulda, Wissenschaft. Vgl. dazu die detaillierte Rekonstruktion von Joachim Scharloth, Evidenz und Wahrscheinlichkeit: Wahlverwandtschaften zwischen Romanpoetik und Historik in der Spätaufklärung. In: Daniel Fulda/Silvia Serena Tschopp (Hg.), Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Berlin – New York 2002, S. 247–276. Mendelssohn, Abhandlung über die Evidenz, S. 272. Was Scharloth aber übersieht, der den Unterschied im Wesentlichen aus Gatterer ›Vorrede von der Evidenz in der Geschichtskunde‹ (1767) rekonstruiert. Johann Christoph Gatterer, Vorrede von der Evidenz in der Geschichtskunde. In: Die Allgemeine Welthistorie die in England durch eine Gesellschaft von Gelehrten ausgefertigt worden. In einem vollständigen und pragmatischen Auszuge. Mit einer Vorrede Joh. Christoph Gatterers, hg. von D. Friedrich Eberhard Boysen. Alte Historie, Bd. 1, Halle 1767, S. 1–38; S. 6. Vgl. Scharloth, Evidenz, S. 254f. Gatterer schreibt: »Nebst der Wahrheit der Sachen, wird man historische Schriften auch von der Seite des Geschmacks und der Schreibart beurtheilen.« Johann Christoph Gatterer, Vorrede. In: ders. (Hg.), Allgemeine historische Bibliothek von Mitgliedern des königlichen Instituts der historischen Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 1, Halle 1767 [ohne Seitenangabe]. Scharloth, Evidenz, S. 258. Mendelssohn behauptet daher, dass man in den metaphysischen Wissenschaften wohl von Gewissheit reden könne, keineswegs aber von ihrer Fasslichkeit, was sie aber nicht

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Geschichtsschreibung Mitte des 18. Jahrhunderts auf den Wahrscheinlichkeitsbegriff zurück, dessen Prägung Wolf, wie gleich zu sehen, mit Einschränkungen übernimmt.134 Steht bei Aristoteles der Wahrscheinlichkeitsbegriff einerseits für eine innere Notwendigkeit, aus der sich die Stellung jedes Teils zum Ganzen der Handlung erklären lassen muss, so lässt sich andererseits in der wahrscheinlichen Handlung stets ein Allgemeines erkennen. »Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut.«135 In einer solchen Formulierung aber ist die Möglichkeit zur Kalkülisierung des Wahrscheinlichkeitsbegriffes als deduktive Ableitung schon impliziert.136 Soll Wahrscheinlichkeit »die Stelle der Gewissheit vertreten«,137 bedarf es der kausalgenetischen Verknüpfung der Tatsachen.138 Bereits Sigmund Jacob Baumgarten, der ältere Bruder Alexander Gottliebs, hatte 1744 in ›Über die eigentliche Beschaffenheit und Nutzbarkeit der Historie‹ zwischen äußerer Wahrscheinlichkeit der Geschichte, die sich anhand der Quellenlage bemisst, und innerer Wahrscheinlichkeit, die sich aus der »glaubwürdigen Ableitung [...] der zweifelhaften Begebenheiten in die historisch unbezweifelten Umstände«139 ergibt, unterschieden. Mendelssohn legt nun 1756 die Übernahmen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs sowohl als Darstelllungs- wie auch Begründungsstrategie für die Geschichtsschreibung nahe, indem er den Aspekt zukunftsbezogener Erwartbarkeit von Ereignissen auch auf vergangene appliziert.140 Gatterer kann daher entsprechend sagen: Es geht also die Hauptsorge eines Geschichtsschreibers, der sich bis zur höchsten Geschichtsschreiber Classe, der pragmatischen, aufschwingen will, dahin, die Veranlassungen und Ursachen einer merkwürdigen Begebenheit aufzusuchen, und das ganze

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weniger »unleugbar« mache als die Sätze der Geometrie. Lediglich die Darstellung wäre komplizierter. Vgl. Mendelssohn, Abhandlung über die Evidenz, S. 272. Zur Wandlung des Wahrscheinlichen von der Metapher zum Terminus siehe wie immer brillant Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M. 21999, S. 118–142, dem Scharloths und meine Darstellung folgt. Aristoteles, Poetik, S. 29, 31. Blumenberg, Paradigmen, S. 130. So Moses Mendelssohn, den Blumenberg zitiert, 1756 in ›Gedanken von der Wahrscheinlichkeit‹. In: ders., Gesammelte Schriften. Hg. von I. Elbogen, J. Guttmann u.a., Bd. 1, Berlin 1929, S. 147–164; S. 149. Die vor allem für den aufklärerischen Roman von zentraler Bedeutung wird. Vg. dazu Manfred Engel, Der Roman der Goethezeit. Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik. Transzendentale Geschichten, Stuttgart 1993, S. 91–101. Scharloth, Evidenz, S. 262f. Vgl. Moses Mendelssohn, Ueber die Wahrscheinlichkeit. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 502: »So wie es wahrscheinlich ist, dass sich dasjenige zutragen wird, wozu die wenigsten Wahrheitsgründe fehlen; ebenso wahrscheinlich ist, dass sich dasjenige zugetragen hat, wozu uns die meisten Wahrheitsgründe gegeben sind.« Siehe auch Blumenberg, Paradigmen, S. 133.

System von Ursachen und Wirkungen, von Mitteln und Absichten, so verwirrt auch alles im Anfange durch und neben einander zu laufen scheint, aufs möglichste entwickelt darzustellen.141

Noch 1747 hatte Chladenius das Wahrscheinlichkeitspostulat als methodisches Verfahren, sich geschichtlicher Wahrheit anzunähern, rundherum abgelehnt. Zwar erkennt er an, dass bei vielen historischen Ereignissen eine letztendliche Gewissheit fehle, diese dürfe aber keinesfalls durch Wahrscheinlichkeitsannahmen ersetzt werden. Man solle einfach nicht allzu schnell an einer gewissen Richtschnur verzweifeln, nach welcher man dereinst, die historischen Streitigkeiten zu prüfen, in den Stand gesetzt werden könnte. Wer aber dieselben, mit seiner der Wahrscheinlichkeit auszumachen gedenkt, dadurch sie von iedem auf gleiche Art für wahr gehalten werden müste, der thut die vergeblichst Arbeit von der Welt.142

So konnte sich die Semantik des Wahrscheinlichkeitsbegriffs von einer Metapher des Scheinbaren, das keiner realen Entsprechung bedarf, zu einem »Instrument des Geistes der Kritik«143 wandeln, als das die Wahrscheinlichkeit bei Wolf wieder auftritt. Ist Dichtung bereits aus dem Kreise der Wissenschaften ausgeschlossen, so kann die Fundierung der Philologie als Wissenschaft aber nicht auf einem Verfahren beruhen, das analog zur Charakteristik der Dichtung verfährt.144 Als historische Wissenschaft hat sie sich streng an die überlieferten Quellen zu halten, an das, was tatsächlich der Fall ist. Auch ein logisierter Wahrscheinlichkeitsbegriff aber vermag allenfalls unvollständige Wahrheit zu vermitteln. Die divinatorische

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Johann Christoph Gatterer, Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen. In: ders. (Hg.), Allgemeine historische Bibliothek, S. 15–89; S. 81. Johann Martin Chladenius, Vernünftige Gedanken von dem Wahrscheinlichen und desselben gefährlichen Missbrauche. Aus dem Lateinischen und mit Anmerkungen versehen von Johann Jacob Weitbrecht, Leipzig 1748, S. 9 [Reprographischer Nachdruck, hg. und mit Anmerkungen versehen von Dirk Fleischer, Waltrop 1989.] Im zehnten Kapitel »Von der historischen Wahrscheinlichkeit« seiner 1752 erschienen Schrift ›Allgemeine Geschichtswissenschaft‹ hingegen ist die Wahrscheinlichkeitsannahme immerhin schon »das letzte Refugium«, wenn anders Zweifel nicht beseitigt werden können. Vgl. ders., Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrtheit gelegt wird, Leipzig 1752, S. 320. Blumenberg, Paradigmen, S. 136. Scharloth (Evidenz, S. 264) zeigt, dass »bis in die 50er Jahre des 18. Jahrhunderts« in Poetik und Historik unterschiedliche Wahrscheinlichkeitskonzepte existierten. Die im Folgenden stets gleiche Übersetzung von ›verisimile‹ und ›probabile‹ mit ›wahrscheinlich‹ habe zu einer »oszillierenden Doppeldeutigkeit des Wahrscheinlichkeitsbegriffs mit der Gefahr, aber auch der Möglichkeit einer produktiven Kontamination der beiden Bedeutungsdimensionen« geführt.

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Kritik kann als methodisches Schlussverfahren daher allenfalls zu höchsten Graden der Wahrscheinlichkeit führen, nicht aber zur vollständigen Wahrheit. Mag man daher auch, wie es recht ist, einen durchdringenden Forschergeist dem Besitz zahlreicher Handschriften vorziehen, so ist es dennoch für das Genie des Forschers selbst von allerhöchstem Interesse, so viel Kodizes als möglich zur Vergleichung heranzuziehen, um auf das Zeugnis derselben das Urteil über die richtige Lesart zu stützen und so vielseitig seiner genialen Spürkraft zur Hilfe zu kommen.145

Erst eine Kombination beider Verfahren führe zu einer Wahrheit, die jener in den »exacten Wissenschaften«146 in nichts nachstehe, denn so ergebe sich ein doppeltes Prüfverfahren. Was die niedere Textkritik als richtige Lesart anhand der Dokumente erarbeitet hat, wird sich auch als innere Notwendigkeit des Textes erweisen. Umgekehrt habe sich oft genug gezeigt, dass die Entscheidung eines Kritikers aus Gründen der Wahrscheinlichkeit sich später durch aufgefundene Quellen habe verifizieren lassen.147 Damit hat Wolf eine methodische Implementierung des Referenzwertes wahr/falsch erreicht, die auch für die zeitgenössische Geschichtsschreibung eine neue, bis dahin unerreichte Qualität hat. Die Philologie hält darüber hinaus einer ästhetisierenden Historiographie, wie sie durch Herder, Schiller und Humboldt konzipiert wird, eine historischkritische Methode entgegen.148 Eine solche Methode allerdings nimmt zu ihrer Rechtfertigung die Kategorie der Evidenz, wie noch Gatterer u.a. für die Historiographie eingefordert hatten, nicht mehr in Anspruch. Wolf verweist Kritiker, die die Gewissheit der Ergebnisse seiner Methode aufgrund fehlender Evidenz und, so darf man hinzufügen, Eloquenz, in Zweifel stellen, auf die Historizität der Gegenstände, die eine solche Gewissheit unmöglich mache.149 Damit ist die Geschichtsschreibung zwar einerseits von den mathematischen Wissenschaften unterschieden, zugleich aber auch von den Ansprüchen auf ästhetisch-evidente

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Wolf, Prolegomena, S. 62. Wolf, Darstellung, S. 40. Vgl. ebd., S. 41. Mit exaktem historischen Arbeiten kann nicht, wie oben bei Wolf zu sehen (Wolf, Darstellung, S. 40f.), eine Analogisierung mit den mathematischen Wissenschaften gemeint sein. Vielmehr ist der entscheidende Schritt der Philologie zur Wissenschaft in der Entwicklung einer hiervon zu unterscheidenden Methode zu sehen, die aber für ihre Gegenstände durch möglichst vollständige Beschreibung (Durchmusterung) Exaktheit erreichen kann. Vgl. Diemer, Differenzierung, S. 204. Zu Herder siehe Hinrich C. Seeba, Geschichte als Dichtung. Herders Beitrag zur Ästhetisierung der Geschichtsschreibung. In: Storia della Storiografia 8 (1985), S. 50–72. Zu Schiller als Historiker siehe Prüfer, Bildung der Geschichte. Wolf, Darstellung, S. 41: »Aber die erreichte Gewissheit ist öfters hier nicht geringer als dort, [...] so dass bei denen, welche historisch-kritischen Demonstrationen den Mangel mathematischer Strenge und Evidenz vorwerfen, am Ende die Geschichte ihre Schuld tragen muss, dass sie eben Geschichte ist, und nicht Mathematik.«

Darstellung entbunden und allein am Kriterium einer Wahrheit, »die nicht minder überzeugend ist, als deren die exacten Wissenschaften sich zu Recht rühmen«, ausgerichtet.150 Mit dieser entscheidenden Wende legt Wolf den Grund für die heftig geführten Auseinandersetzungen über die angemessene Editionsund Publikationsweise alter Texte, wie sie etwa zwischen Jacob Grimm und Friedrich Heinrich von der Hagen, aber auch mit Arnim und Brentano geführt wurden. Auffallend ist, dass Wolf in seiner als wissenschaftliche Begründungsschrift konzipierten ›Darstellung der Alterthums-Wissenschaft‹ die Kriterien für Wissenschaftlichkeit nahezu gänzlich aus dem historisch-kritischen Verfahren herleitet, kaum aber auf die hermeneutischen Aspekte seines Ansatzes eingeht. Insbesondere das für die spätere Geisteswissenschaften prägende Verhältnis von Verstehen vs. Erklären,151 das er in den Vorlesungen zur ›Enzyklopädie der Philologie‹, die erst posthum erscheinen, intensiver diskutiert, wird hier noch gänzlich unberührt gelassen.152 Will Wolf offensichtlich die Philologie in ihren Ergebnissen an den exakten oder objektiven Wissenschaften ausrichten, so kann er dies nur, wenn sie nachprüfbar verifiziert bzw. falsifiziert werden können. Diese Bedingung aber können schlechterdings nur empirische Sätze erfüllen, die sich für die Philologie aber kaum im Verfahren hermeneutischen Verstehens, sondern nur aus textkritischer Beschreibung gewinnen lassen, die daher zur Grundlage der Philologie wird. Erst wenn die Philologie sich jenen festen wissenschaftlichen Grund erarbeitet hat, kann sie überhaupt zum Erklären und Verstehen ansetzen.153 Wolf selbst führt die Kombination beider kritischer Verfahren musterhaft in seinen ›Prolegomena‹ vor. Einerseits hat er selbstständig die Lexikographen, Scholiasten und die anderen alten Grammatiker durchgearbeitet, ferner, [...] alle übrigen Schriftsteller, bei denen sich irgendeine Spur eines Homerzitates vermuten ließ. Unter diesen Schriftstellern habe ich auch die griechischen Dichter, besonders die alexandrinischen, nicht außer acht gelassen, indem ich den Nachahmungen Homers auf die Spur kommen wollte, nicht etwa, um zu beobachten, wie Homers Blüten, auf fremden Boden übertragen dufteten [...], sondern um zu erforschen, ob sich irgendwo bei jenen Dichtern in ihrer nach dem Meister der epischen Dichtkunst gebildeten Sprache und Ausdrucksweise darüber eine Andeutung fände, was sie in den Homerexemplaren gelesen oder für die richtige Lesart erklärt hatten.154

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Ebd., S. 40. Die im 19. Jahrhundert noch eng auf einander bezogen sind. Vgl. Diemer, Differenzierung, S. 212. Vgl. etwa Wolf, Vorlesungen, S. 270ff. So setzt auch Friedrich Ast (Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808 § 71, S. 172) die Philologie an den Beginn des hermeneutischen Verstehenszirkel: »Die Hermeneutik oder Exegetik [...] setzt daher das Verständnis des Altertums überhaupt in allen seinen äußeren oder inneren Elementen voraus und gründet darauf die Erklärung der schriftlichen Werke des Altertums«. Wolf, Prolegomena, S. 72f.

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Andererseits stützt er die vorgestellte These seiner ›Prolegomena‹, Homer könne nicht als alleiniger Verfasser der Homerischen Epen gelten, mit einem deduktiven Schlussverfahren, das von den zuvor durch niedere Kritik erbrachten Ergebnissen ausgeht:155 Es folgt also augenscheinlich aus jenen oben aufgeführten Ergebnissen mit Notwendigkeit, dass die Gestalt so großer, in fortlaufender Reihe weitergeführter Dichterwerke von keinem Dichter hat im Umriss entworfen, noch auch im einzelnen ausgearbeitet werden können ohne ein kunstgerechtes Hilfsmittel für das Gedächtnis.156

Insofern ist Fuldas und Prüfers These von der Entstehung der Geschichtswissenschaft aus der Kunst zu relativieren. Zumindest für die historisch-kritische Methode, die sich im späten 19. Jahrhundert auch in der Geschichtswissenschaft durchsetzt, muss eine solche Genese vielmehr aus der Philologie als bereits am Wissenschaftssystem orientierte Disziplin hergeleitet werden.157 Wolf selbst spricht davon, »die Textkritik der alten Schriftsteller richtig mit dem Studium der geschichtlichen Tatsachen auf eine gleiche Stufe gestellt«158 zu haben. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ist die Situation um 1800 sowohl für die Geschichtsschreibung als auch für die Philologie noch keineswegs eindeutig geklärt. Neben einer sich mehr und mehr am Code wahr/falsch orientierenden, universitär verankerten Disziplin, gibt es seitens einer kleinen Gruppe von Autoren in Jena, Weimar und Heidelberg den Versuch, für die Kunst, verbunden mit dem Versprechen einer kulturellen Integration von Wissenschaft und Kunst, einen absoluten Geltungsanspruch auf die Repräsentation und Vermittlung von Vergangenheit zu erheben. Kaum aber ließe sich behaupten, dass dieser Anspruch über die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinaus hätte gerettet werden können.159

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Der Argumentationsgang geht über eine Untersuchung der Entstehung der Buchstabenschrift in Griechenland, über die Art und Weise wie Gedichte verfasst und vorgetragen wurden bis hin zur Rolle der Rhapsoden für die Überlieferung der Epen. Um seine These weiter zu stützen, präsentiert Wolf eine Vielzahl von Stellen, die einer philologischen Textkritik nicht standhalten und damit als nichthomerischen Ursprungs ausgewiesen werden müssen. Wolf, Prolegomena, S. 138. So schon Anthony Grafton (Polyhistor into Philolog: Notes on the Transformation of German Classical Scholarship, 1780–1850. In: Histories of Universities 3 (1983), S. 161): »After his [F. A. Wolf, mb] time, philology was the first historical discipline, the model for all other historical historical sciences«. Wolf, Prolegomena, S. 81. Es gilt also letztlich zu klären, wie die These von der Autonomisierung der Kunst/ Literatur als Ausdifferenzierung eines Teilsystems, sich mit einem solch integrativen Ansatz zusammendenken lässt, wenn je die gleichen Autoren und Texte ins Feld geführt werden. Dieser Widerspruch bleibt bei Daniel Fulda (Goethe-Zeitliche Ästhetik und die Ermöglichung einer textuellen Repräsentation der ›Geschichte‹. Zur Genese einer

Die Fundierung der Philologie in niederer Kritik einerseits und in divinatorischer Hermeneutik andererseits stellt dem Philologen Autor und Text als Objektbereiche gegenüber.160 Der Philologe selbst soll zwar auch mit »der Kunst des Stils und der Composition, sowohl in Prosa als in Versen, nebst den Grundsätzen der alten Metrik«161 vertraut sein, aber lediglich zu den heuristischen Zwecken seiner Tätigkeit. Keineswegs soll er sich anschicken, »den Alten ähnliche Werke« zu verfassen. Er »würde aus seiner Sphäre als Litterator herausgehen, und, was die Natur sonst dem Gelehrten versagt, er würde selbst als Künstler thätig werden.«162 Hier ist die funktionale Trennung von Philologe und Dichter konsequent vollzogen.163 Es wird sich fortan die Frage stellen, wie dieses Verhältnis von Seiten der Wissenschaft und wie durch die Literatur selbst gestaltet wird.

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symbolischen Form. In: Fulda/Tschopp (Hg.), Literatur und Geschichte, S. 305) unerkannt: »Charakteristisch für die autonomisierte Literatur der Goethe-Zeit ist vielmehr, dass sie Geltungsansprüche erhob bzw. integrationistische Verheißungen formulierte, die über ihr eigenes Teilsystem hinausreichten – und von der auf Geschehensintegration angewiesenen Geschichtsschreibung aufgenommen wurde.« Klaus Weimar (Zur neuen Hermeneutik um 1800. In: Fohrmann/Voßkamp (Hg.), Wissenschaft und Nation, S. 195–204; S. 198) diagnostiziert um 1800 einen grundlegenden Wandel in der Bewertung des Verhältnisses von Produzent und Rezipient: »Sie [die Leser] haben dreierlei für sich entdeckt: erstens die grundsätzliche Fremdheit des Geschriebenen, weshalb es erst seither einen Begriff für die Gesamtheit der Texte als Objekte gilt, den der Literatur nämlich; zweitens das grundsätzliche Anderssein der Dichter, das allerdings nicht hermeneutisch formuliert, sondern sofort in die Poetik verschoben und als ›Genie‹ heroisiert wurde.« Wolf, Prolegomena, S. 42. Ebd., S. 116f. Auch wenn Wolf die Darstellung Goethe zueignet, mit dem sich in den Jahren um die Jahrhundertwende ein freundschaftlicher Umgang entwickelt hat, so kann ich nach dem Gang der Untersuchung schwerlich Manfred Riedel (Zwischen Dichtung und Philologie, S. 100) zustimmen, wenn er mit Nietzsche das »Werk von F. A. Wolf im Horizont der frühhumanistischen Poeten-Philologen betrachtet« und die persönliche Zuneigung der beiden allzu sehr auf die fachlichen Ansätze projiziert. Die folgenden Darstellungen werden zeigen, dass Goethe, wie Arnim und andere, einem poeto-philologischen Ansatz verpflichtet sind, von dem sich aber die historisch-kritische Fachphilologie deutlich unterscheidet und abwendet.

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III. Philologie und Hermeneutik ›Nachahmen soll ich nicht, und dennoch nennet Dein lautes Lob mir immer Griechenland?‹ Wenn Genius in deiner Seele brennet, So ahm dem Griechen nach. Der Griech erfand. Klopstock, Aufgelöster Zweifel (1771) 1

3. Philologie, Bildung, Geist Bereits in Wolfs programmatischen Schriften zur Philologie wurde deutlich, dass sein Konzept der Altertumswissenschaft als Ergreifen des griechischen Geistes sich kaum allein auf Basis selbst genauester Textkritik gründen konnte. Einerseits wird nämlich die Philologie als konsequent historische Wissenschaft konzipiert, andererseits kann Wolf kaum hinter die Einsichten der pragmatischen Geschichtsschreibung zurück, die sich bereits der unhintergehbaren Perspektivität des historischen Standpunktes bewusst war. Die Geschichtswissenschaft versucht diesen als defizitär empfundenen Wahrheitsbegriff durch die Theorie der Wahrscheinlichkeit auszugleichen. Bei Wolf tritt an diese Stelle das Zusammenspiel von niederer und höherer bzw. divinatorischer Kritik. Indem Wolf aber eine Beschränkung des Objektbereichs der Philologie auf Griechen und Römer vornimmt, muss er den antiken Kulturen eine normative Relevanz zusprechen, die nicht allein historisch, sondern vor allem durch einen Gegenwartsbezug zu rechtfertigen ist. Sein bildungspolitisches Argument »Vergegenwärtigung des alterthümlichen Lebens und Vergleichung des spätern und des heutigen«2 Geistes wird zum Einfallstor hermeneutischer Unwägbarkeiten in seine Konzeption der Philologie als Wissenschaft, insofern eine Rekonstruktion, sei es des Geistes, sei es der Autorintention auf der Basis willkürlicher Zeichen eben wegen der Arbitrarität dieser Zeichen allenfalls von Plausibilität, nicht aber von Wahrheit sprechen kann.3 1

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Friedrich Gottlieb Klopstock, Aufgelöster Zweifel. In: ders., Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Horst Gronemeyer u.a., Werke Bd. II, Epigramme, hg. von Klaus Hurlebusch. Berlin – New York 1982, S. 12. Wolf, Darstellung, S. 30. Vgl. Lutz Danneberg, Probalitas hermeneutica. Zu einem Aspekt der Interpretationsmethodologie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Axel Bühler/Luigi Cataldi Madonna (Hg.), Hermeneutik der Aufklärung, Hamburg 1994, S. 27–48. Georg Friedrich Meyer (Versuch § 98, S. 52) teilt die ›willkürlichen Zeichen‹ in zwei Klassen: bestimmte und unbestimmte. Bezeichnet ein bestimmtes Zeichen immer dasselbe, kommt ihm immer dieselbe Bedeutung zu, so ist das unbestimmte Zeichen durch eine flexible Bedeutungsreichweite gekennzeichnet: »Ein unbestimmtes willkürliches Zeichen, (signum arbitrarium vagum), ist ein solches, welches nicht immer, so ofte

Eine solche Forderung wird interessanterweise durch eine fiktionale philologische Figur an die Philologie herangetragen. In Nicolais ›Sebaldus Nothanker‹ versucht dieser bereits 1773 der satirischen Kritik am Philologen als bloßem Buchstabenkrämer, Büchergelehrten und Polyhistor mit einem bildungspolitisch avancierten Konzept der Philologie als Hermeneutik zu antworten. Nach seinem Umzug nach Leipzig trifft Sebaldus im ersten Abschnitt des zweiten Buches seinen Dachgeschossnachbarn, einen alten Magister, der über »gründliche Kenntnisse der alten Sprachen und alles dessen, was zur Philologie gehört«,4 verfügt, und bei dem Sebaldus eine gewisse Sympathie für sein Forschungsprojekt apokalyptischer Erklärungen vermutet. Der alte Magister aber zeigt sich angesichts der reduzierten Wahrnehmung der lebensvollen Stadt Leipzig auf die Ansammlung von Büchern verwundert und sucht Sebaldus, die lebensweltliche Erdung des Büchergewerbes nahezubringen. Wird im Bildungsideal der Sebald-Figur die polyhistorische Identität von Philologie und Gelehrsamkeit ironisiert5 und ihr die Ökonomisierung des Bildungsbetriebs desillusionierend gegenüberstellt, so bietet Nicolai in Sebaldus Freund Hieronymus, der die »Aufklärung des menschlichen Geschlechts«6 liebt, eine neue Form der philologischen Gelehrsamkeit an, die der Kritik der beiden Modelle entgehen soll: Die Philologie des Geistes im Zeichen der Aufklärung. Es giebt vielmehr noch eine höhere Art der Gemeinnützigkeit, die Genie, Gelehrsamkeit, Anstrengung aller Geisteskräfte erfodert, und die man dadurch erreicht, wenn man […] nicht allein jede Wissenschaft vor sich selbst, sondern auch in Absicht auf alle andere, und alle in Absicht auf die menschliche Gesellschaft betrachtet. […] der Philologe giebt klassische Autoren heraus, samlet Lesearten und berichtigt Varianten, ohne ein einzigmahl seine Leser auf den Geist der alten Schriftsteller, auf den Zweck warum sie geschrieben haben zu führen.7

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es gebraucht wird, eine und eben dieselbe Bedeutung bezeichnet.« Er spricht daher auch einschränkend von »hermeneutisch wahr halten«. Meyers ganze Schrift ist auch als Versuch zu lesen, Formen hermeneutischen Sprechens trotz der erkannten Willkürlichkeit der Zeichen unter der Leitdifferenz wahr/falsch zu legitimieren. Vgl. etwa den anschließenden § 99, ebd., S. 53f. In § 118 schränkt Meyer aber zugleich den senus hermeneutice verus ein, indem er dessen Wahrheitsgehalt von logischer, metaphysischer und moralischer, also philosophischer Wahrheit abgrenzt, und man daher keinesfalls vom einem auf das andere schließen könne. Vgl. ebd., S. 65, siehe auch §126, S. 68f. Aufgrund dieser Einschränkung führt Meyer das uns seit Popper geläufige Falsifikationsprinzip als Regulationsprinzip zur Leitdifferenz wahr/falsch nur für die Auslegung willkürlicher Zeichen ein. Vgl. z.B. § 89 und 94, ebd., S. 46 und S. 49. Friedrich Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Kritische Ausgabe. Hg. von Bernd Witte, Stuttgart 1991, S. 61. Deren Hauptaufgabe überwiegend darin bestehe, »Materialien in Ordnung [zu] bringen«. Ebd., S. 89. Ebd., S. 85f. Ebd., S. 90ff.

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Bei Nicolai zeigt sich die paradoxe Spannung in der aufklärerischen Philologiekonzeption. Ist sie, um sich als Einzeldisziplin im System der Wissenschaften durchzusetzen, auf Autoreferentialität angewiesen, so zeigt sich aber gerade die Autopoiesis als Grund aufklärerischer Kritik an der Philologie. Sie bedarf also einer anderen bzw. weiteren Legitimationsbegründung als der Ausrichtung an der Codierung des Wissenschaftssystems. Dafür tritt bei Nicolai der Geist als Bildung in die Philologie ein. Diese Korrektur der Philologie aber vollzieht sich im Medium der literarischen Satire, nicht als theoretische Reflexion innerhalb der Philologie. Zugleich aber wird beim Aufklärer Nicolai in der satirischen Kritik die Philologie zur Instanz, die für die Vermittlung und damit der Entfaltung des Geistes zuständig ist. Auch dieser Konflikt wird für das Verhältnis von Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit konstitutiv bleiben, in der die Philologie sich »als führende Bildungsmacht«8 zu (re)etablieren sucht. Wolf arbeitet sich an diesem Paradox weiterhin ab. Um die wissenschaftliche Leitdifferenz wahr/falsch bedienen zu können, bedarf es Darstellungsstrategien, die die Wahrscheinlichkeit des Gesagten nicht nur unterstreichen, sondern erst erzeugen und so wiederum die Annahmewahrscheinlichkeit des Geäußerten erhöhen. Kurz: Es bedarf Techniken der wissenschaftlichen Evidenzerzeugung. In Wolfs posthum veröffentlichten Vorlesungen wird deutlich, dass er die Notwendigkeit einer hermeneutischen Ergänzung der Philologie gesehen hat, um sie aus ihrem Schattensein als Hilfsdisziplin zu befreien, ohne dass es aber zu Lebzeiten zu einem ausformulierten oder gar publizierten Versuch dazu gekommen wäre.9 Wolf insistiert vielmehr auf der Vorgängigkeit der Philologie als historisch-kritischer Wissenschaft der antiken Objekte, die jeder möglichen Vergegenwärtigung vorauszugehen habe, die aber im Bildungsbegriff sehr wohl mitgedacht ist. Mit Schleiermachers Bezug auf Wolf und Friedrich Ast im Titel seiner Akademie-Reden von 1829 und dessen Wiederaufnahme durch Wilhelm Dilthey in ›Die Entstehung der Hermeneutik‹ (1900) wird die Entstehung einer hermeneutischen Theorie eng an die Entstehung der Philologie gebunden. Erinnert man sich der Wurzeln der Hermeneutik in der Bibelkritik und -exegese sowie der Jurisprudenz – der hermeneutica sacra und der hermeneutica juris bzw. profana

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Hentschke/Muhlack, Einführung, S. 82. Die verbreitete Tendenz, Wolfs Vorlesung zur Rekonstruktion ›seiner‹ Hermeneutik heranzuziehen, erscheint mir zumindest problematisch. Wolf hat sich stets dagegen verwahrt, Kollegmitschriften unter seinem Namen publiziert zu sehen. Es gibt keine zu Wolfs Lebzeiten publizierte ›Enzyklopädie der Philologie‹. Zur Geschichte der Vorlesungen und ihrer Publikation siehe: Peter L. Schmidt, Friedrich August Wolf und das Dilemma der Altertumswissenschaft. In: Joachim Ebert/Hans-Dieter Zimmermann (Hg.), Innere und äußere Integration der Altertumswissenschaften. Konferenz zur 200. Wiederkehr der Gründung des Seminarum Philologicum Halense durch Friedrich August Wolf am 15. Oktober 1787, Halle – Wittenberg 1989, S. 64–78; S. 66ff.

für den gesamten Bereich nichtsakraler Auslegung,10 die zu nicht unwesentlichen Teilen auch aus Textkritik bestanden – dürfte die Koppelung der (Spezial-)Hermeneutik an die Philologie, deren Traditionslinie als heuristisches Hilfsmittel oben beschrieben wurde, in der Tat historisch zu vertreten sein. Wenn auch Gadamer und Dilthey11 mit Schleiermachers Hermeneutik einen Punkt erreicht sehen, an dem die allgemeine Hermeneutik sich von ihrer Bindung an die philologische Textkritik befreit und nun »das Verstehen als solches zum Problem gemacht«12 werde, so zeigt der Wolf-Ast-Bezug bei Schleichermacher eine inverse Beziehung auch zwischen allgemeiner Hermeneutik und Philologie an. Einerseits wird das Projekt einer philosophischen Hermeneutik mit Rückbezug zur Philologie entwickelt,13 andererseits verweist die Möglichkeit dieser Rückbindung auf ein Problem, das innerhalb der Philologie bereits sichtbar geworden war, methodologisch aber kaum aufgearbeitet wurde: das Problem des Verstehens und die Einsicht in die universelle Interpretationsbedürftigkeit nicht nur dunkler Stellen, sondern eines Werkes insgesamt.14 Der Ausgangspunkt dieses hermeneutischen Problems lässt sich dabei auf einen Begriff zurückführen: Geist.15 Im Folgenden soll die Wechselwirkung von impliziter wie expliziter Hermeneutik zur Philologie genauer in den Blick genommen werden. Dabei soll deutlich werden, dass, erstens, die Philologie, gerade wo sie Bildungsanspruch und Wissenschaftlich-

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Siehe auch die Standardeinführung von Jean Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 22001. Dilthey sieht schon bei Wolf eine allgemeine Hermeneutik entwickelt. Wir haben gesehen, wie eng dies aber bei Wolf noch im Verbund mit der Philologie geschieht, von der Schleichermacher hingegen kaum mehr redet. Vgl. Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers. Bd. II, Schleiermachers System als Philosophie und Theologie. In: Gesammelte Schriften. Hg. von Karlfried Gründer. Bd. 14.2, Göttingen 1966, S. 620. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 167. Schon Josef Körner hat anlässlich seiner Ausgabe der Schlegelschen Notizhefte ›Zur Philologie‹ gezeigt, dass die Hefte u.a. Friedrich Ast und Schleiermacher zu lesen bekommen haben. Vgl. Friedrich Schlegel, Philosophie der Philologie, mit einem Vorwort hg. von Josef Körner. In: Logos 17 (1928), S. 1–72, hier S. 4ff. Zum Einfluss Schlegels auf Schleiermacher siehe auch: Hermann Patsch, Friedrich Schlegels ›Philosophie der Philologie‹ und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63 (1966), S. 434–472, der einen direkten Einfluss Schlegels auf Schleiermacher aber zurückweist. Vgl. ebd., S. 441. Eine Rekonstruktion einzelner Positionen kann hier nicht geleistet werden. Einen sehr guten Überblick über die historische Problemlage gibt: Gerhard Kurz, Alte, neue, altneue Hermeneutik. Überlegungen zu den Normen romantischer Hermeneutik. In: Sandra Heinen/Harald Nehr (Hg.), Krisen des Verstehens um 1800, Würzburg 2004, S. 31–54. Kurz weist auf den zentralen Satz bei Schleiermacher hin, »daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen und das Verstehen auf jeden Punkt muß gewollt und gesucht werden.« Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, zitiert nach Kurz, ebd., S. 41. Szondi, Einführung, S. 139.

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keit vereinen will, der Hermeneutik bedarf, zweitens, die Hermeneutik, wo sie sich historischen Gegenständen widmet, der Philologie bedarf, sich damit aber beide die Dichtung zum Objekt machen, deren Bearbeitung extern im Wissenschaftssystem zu erfolgen habe. Davon aber setzt sich, drittens, die Idee ab, dass nur im »Dichten über die Dichtung«16 deren ›Geist‹ entwickelt und jenseits antiquarischer Rekonstruktion für die Gegenwart fruchtbar zu machen ist, es also zu einer Passung zwischen Darstellungsgegenstand und Darstellungsmodus kommen muss. Führte die auf den ersten Blick ähnlich gelagerte Forderung nach einer authentischen (Eigen-)Interpretation, der interpretatio authentica,17 wonach »ein jedweder der beste Ausleger seiner eigenen Worte«18 ist, in einen Regress, da die Selbstauslegung auch wieder auslegungsbedürftig wäre, also auf eine beständige Selbstkommentierung hinausliefe, so ersetzen etwa Herder, Schlegel und Goethe die Deutungsperson durch ein Deutungsmedium:19 Nicht der einzelne, reale Dichter, sondern die Dichtung, das Poetische wird zur verantwortlichen Instanz.20 Sie arbeiten am Projekt der Entwicklung interner poeto-hermeneutischer und poeto-philologischer Verfahren. Bei Wolf tritt der Geist-Begriff im Haupttext der ›Darstellung der AlterthumsWissenschaft‹ recht selten auf, dafür aber markiert die paratextuelle Zueignung an Goethe, den Problembereich des Folgenden gleich dreifach: Goethe, der Kenner und Darsteller des griechischen Geistes, empfangen wohlwollend den mit Liebe dargebrachten Anfang einer Sammlung von Schriften und Aufsätzen, die bestimmt sind, hin und wieder das weite Gebäude von Kenntnissen aufzuklären, 16

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Adam Müller, Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur (1805/06). 11. Vorlesung. In: ders., Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Hg. von Walter Schroeder und Werner Siebert, Bd. 1, Neuwied – Berlin 1967, S. 115–126; S. 118. Vgl. dazu Kurz, Alte, neue, altneue Hermeneutik, S. 31ff. Den Gedanken formuliert bereits Christian Wolff 1740 in seiner lateinischen Logik ›Philosophia rationalis sive logica‹. Vgl. dort z.B. § 903. Meyer, Versuch § 136, S. 75. Der Begriff der interpretatio authentica wird in § 98 eingeführt. Vgl. ebd., S. 52. Dem korreliert eine Wende in der Autorkonzeption um 1800. Nicht mehr der singuläre, reale Autor verfügt über sein Werk, maßgebend wird vielmehr der Autor als »eine Position in der Systematik der Interpretation«. Vgl. Kurz, Alte, neue, altneue Hermeneutik, S. 48. Bekannterweise hat sich vor allem Goethe immer gegenüber Anfragen nach der Auslegung seiner Werke, besonders des ›Faust‹ und der ›Wanderjahre‹ verwahrt. Müller (Vorlesung, S. 118) verbindet mit der Figur eine Absage an die Frage nach einer Autorintention überhaupt, sei sie selbstgegeben oder fremd attribuiert: »Denn wozu überhaupt diese Annahme von Absichten und einzelnen Zwecken beim großen Dichter? […] so ist das Leben und Erzeugung des Lebens die ewige, einzige Absicht des Dichters«. Müller fragt also nach der Funktion von Dichtung überhaupt. Diese Funktion sei Ziel und Zweck jedes einzelnen Dichters wie Werkes. »Es ist offenbar, daß das individuellste, geschlossenste Kunstwerk auch das universellste, das unendlichste, das bedeutendste sein müsse.« Ebd.

in welchen jener das Leben verschönernde Geist ursprünglich wohnte. An wen unter den Deutschen könnte man bei einem Unternehmen solcher Art eher denken, als an Den, in dessen Werken und Entwürfen, mitten unter abschreckenden modernen Umgebungen, jener wohlthätige Geist sich eine zweite Wohnung nahm?21

Diese Zueignung als Paratext einer dann folgenden philologischen Abhandlung markiert bereits, bevor der philologische Text beginnt, eine Umwertung: Wird in dieser »erhabensten öffentlichen Huldigung, die Goethe als Haupt der Gemeinde in dieser Zeit erfahren hat«,22 nicht gesagt, dass der Dichter und seine Werke, die bisher dem griechischen Geist eine Heimstatt geboten, ihn gekannt und dargestellt haben, im Folgenden abgelöst wird durch die aufklärende Wissenschaft der Philologie als Altertumskunde? Übernimmt damit die Philologie nicht eine Funktion der Dichtung als Medium kultureller Transformation? Trennen sich hier nicht einmal mehr Philologie und Literatur? Stimmt es, dass »Philologie und Literatur […] damals wirklich in einer Symbiose«23 lebten? J. H. C. Barby wird in seiner ›Encyclopädie und Methodologie des humanistischen Studiums und der Philologie der Griechen und Römer‹ von 1805 deutlicher, wenn er mit Blick auf den Einwand der Modernen in der Querelle, »daß wir Dichter haben«, fragt, »sollen wir denn nur Klopstock, Schiller, Goethe und Wieland […] lesen?«24 und kurz darauf die These vertritt, »daß gute Schriftsteller weit sicherer und bequemer als Muster des Geschmacks aufgestellt werden können, wenn sie in einer ausgestorbenen, als wenn sie in einer noch lebenden Sprache geschrieben haben«.25 Konsequent statuiert er dann: »Von einer richtigen Erklärungskunst und Kritik geht alle weitere Kultur des Geistes aus«.26 Die Fachdisziplin Philologie wird als der für die humanistische Bildung maßgebende Ort konzipiert, nicht etwa die Schriften Goethes, wenngleich ihnen eingeräumt wird, noch griechischen Geist zu atmen.27 »Die Altphilologie übernimmt analog zur Kunst in der

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Wolf, Darstellung, S. IIIf. Joachim Wohlleben, Friedrich August Wolfs ›Prolegomena ad Homerum‹ in der literarischen Szene der Zeit. In: Poetica 28 (1996), S. 154–170; S. 155. Ebd., S. 155. Ich denke, man sollte hier Nietzsches Urteil aus seinem Vortrag ›Homer und die Klassische Philologie‹ nicht unnötig auf den Leim gehen. Für Nietzsche ist Wolf im Vergleich zu Nietzsches zeitgenössischen radikal-positivistischen Kollegen ein ästhetischer Philologe. Der sonst so feinsinnige Nietzsche aber nimmt nicht wahr, dass mit Wolf eben dieser Positivismus einen ersten Legitimationsschub erhält. Dem folgt auch Christoph König (Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen, Göttingen 2001, S. 28ff.), der Wolf mit Goethe und Nietzsche in die Reihe der Artistenphilologen aufnimmt. Zu den Gründen meiner gegenteiligen Einschätzung siehe vor allem Kap. III.6. Barby, Encyklopädie, S. 16. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Barby (ebd., S. 310f.) hingegen billigt der Dichtung sehr wohl noch eine reaktualisierende Kraft zu, die aber immer eines philologischen Regulativs bedürfe: »Auch gestattet

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Ästhetik Schillers und Humboldts die Aufgabe einer ästhetischen Erziehung des Menschen.«28 Damit aber ist auch eine andere Möglichkeit gegeben: Die Altphilologie übernimmt von der Poesie die Aufgabe zur ästhetischen Erziehung. Goethes und Schillers Konzept der ästhetischen Bildung ist immer von der Kunst aus unter Einbezug eines Studiums der Alten gedacht, Wolfs Konzept hingegen strikt von der Philologie aus. Genau gegen diesen Punkt wendet sich Goethes nie aufgegebene Kritik an Wolfs Verfahren.29 So sagt er am 25. November 1808 zu seinem philologischen Freund und Berater Riemer in einem Gespräch über F. A. Wolf und dessen Thesen über Homer: Daß die Humaniora nicht die Sitten bilden! Es ist keineswegs nöthig, daß alle Menschen Humaniora treiben. Die Kenntnisse, historisch, antiquarisch belletristisch und artistisch, die aus dem Alterthum kommen und dazu gehören, sind schon so divulgirt, daß sie nicht unmittelbar an den Alten abstrahirt zu werden brauchen, es müßte denn einer sein Leben hineinstecken wollen. Dann aber wird diese Kultur doch nur wieder eine einseitige, die vor jeder anderen einseitigen nichts voraus hat, ja noch obenein nachsteht, indem sie nicht produktiv werden und sein kann.30

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man ihm, besonders wenn er es mit einem Dichter zu thun hat, gern gewisse Rechte und Freiheiten, sobald er sich derselben nur mit der gehörigen Mäßigung bedient. Dahin gehört unter anderm, daß er, wo und wann er es für nöthig hält, ausgestorbene Wörter wieder ins Leben zurückrufen, veralterte wieder in Umlauf bringen, und mit gehöriger Vorsicht auch aus edleren Provinzialdialekten alles das entlehnen darf, was er braucht.« Manfred Beetz, ›In den Geist der Alten einzudringen‹. Altphilologische Hermeneutik als Erkenntnis- und Bildungsinstrument der Weimarer Klassik. In: Karl Richter/Jörg Schönert (Hg.), Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß, Stuttgart 1983, S. 27–55; S. 38. Grafton (Polyhistor into Philolog, S. 168ff.) macht hingegen auf den latenten Widerspruch zwischen den Ansprüchen der Philologie auf Verwissenschaftlichung einerseits und Bildung andererseits aufmerksam, da die Fokussierung auf methodologische Fragen »inevitably pushed questions of content into the background« und sich der für die Forschung notwendige universitäre Drill der philologischen Seminare als Didaxe in den humanistischen Gymnasialunterricht fortsetzte, der so aber »no coherent image of the ancient world or even individual ancient writers« als Voraussetzung für eine umfassende Bildung an den antiken Vorbildern erlaubte und folgert für die Mitte des 19. Jahrhunderts: »Evidently, Humboldtian ideals of research came to contradict equally Humboldtian ideals of Bildung« und »Wissenschaft and Bildung could not fit easily in one bed or one curriculum« (S. 176). Das ist sicherlich eine Pointierung. Der Bezug auf Goethe dient natürlich auch der Legitimation der Disziplin und die Nennung Goethes als Musterbeispiel neuhumanistischer Bildung trug bereits zu seinen Lebzeiten zu seiner Überstilisierung als Inkarnation des klassischen Geistes bei. Goethes Gespräche. Hg. von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Bd. 2, S. 228. Die Gespräche werden von hier an, sofern nicht in der Frankfurter Ausgabe enthalten, als Anhang an die Weimarer Ausgabe unter der Sigle ›WA V‹ zitiert.

Wolf, seit 1784 nicht mehr Professor für Philosophie und Pädagogik, sondern für Poesie und Eloquenz, ›versteckt‹ den neuen Hoheitsanspruch der Philologie über die zu seinem Objekt gemachte Literatur noch in der paratextuellen Huldigung. 1787 gründet er in Halle das erste Seminarum philologicum. Bei Friedrich Ast wird die Aufklärung und hermeneutische Vermittlung des antiken Geistes ganz zur Hauptaufgabe der Philologie, deren textkritische Verfahren nur zweckdienliche Hilfsmittel bleiben. So heißt es bereits im ersten Satz der Vorrede zum ›Grundriss der Philologie‹ (1808): »Der Zweck dieses Grundrisses der Philologie ist, den Geist des classischen Alterthums in seinen künstlerischen und wissenschaftlichen Offenbarungen charakterisierend darzustellen.«31 Exakt diese Funktion, als »Kenner und Darsteller des griechischen Geistes«32 hatte Wolf noch Goethe und damit der Dichtung zugesprochen. Ast geht es nur sekundär um ein Verstehen der Antike als historische Epoche, denn weder um der todten Gelehrsamkeit und des mechanischen Wissens willen, noch um der Sprachkenntnisse wegen studiert der Philolog die Werke der klassischen Schriftsteller, sondern um eine wahre und lebendige Anschauung und Erkenntniss des classischen Alterthums zu erlangen; denn dieses ist als classische Welt das Muster der ächten Bildung.33

Ast strebt keine bloße Rekonstruktion antiken Gedankenguts an, aus dem man sich dann exemplarisch bedienen kann. Er weist dieses Verfahren der älteren Philologie vehement zurück. Ast, Schüler Schellings und Bekannter Friedrich Schlegels in Jena, fordert in einem triadischen Modell die Verbindung von antiker und moderner Bildung durch die Philologie. Die Besonderheit der antiken und der modernen Bildung und ihr Gegensatz ist darauf gegründet, dass in der alten Bildung die Form, das ist, die schön gebildete, geregelte Gestaltung, vorherrscht, in der neueren hingegen das innere Wesen der Künste und Wissenschaften. […] Und dieser Geist unserer Bildung kann sich nur dadurch vollenden, dass er die Form der harmonischen und selbstständig gebildeten Schönheit in sich aufnimmt, um das Innere zur vollendeten Darstellung und Wirklichkeit zu bringen; was eben am unmittelbarsten und sichersten durch die uns im Geiste vorschwebenden Musterbilder der griechischen Kunst und Wissenschaft und des griechischen Lebens überhaupt erreicht werden kann.34

In der als Ergänzung zum ›Grundriss‹ gedachten Schrift ›Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik‹ (1808) arbeitet Ast die theoretischen Grundla-

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Friedrich Ast, Grundriss der Philologie, Landshut 1808, S. I. [meine Hervorhebung]. Wolf, Darstellung, S. III. [meine Hervorhebung] Ast, Grundriss, S. 6. Ast, Grundriss, S. 7f. Siehe auch S. 23: »So kann Philologie auch für uns nur das Studium der zur allgemeinen Bildung des Menschen nothwendigen Künste und Wissenschaften seyn«.

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gen für ein solch triadisches Konzept aus, das ohne den Bezug zur Herderschen Sprachtheorie nicht zu denken ist. Weit stärker als Wolf, bei dem normativer Bildungsanspruch und Historisierung nur durch ein wage angedachtes hermeneutisches Modell zusammengebracht werden können, zeigt sich bei Ast ein hermeneutisches Bemühen, die Antike weniger als Epoche, sondern als Geisteshaltung zu charakterisieren. Das philologische Studium wird bei ihm die Methode zur Einübung in diese Haltung. Mit Wolf und Ast sind zwei Entwicklungsmöglichkeiten der Philologie der Goethe-Zeit exemplarisch aufzeigt: auf der einen Seite die Philologie als historisch-kritische Textwissenschaft, auf der anderen Seite die Philologie als Hermeneutik des Geistes, die um Vergegenwärtigung bemüht ist.35 Beide Positionen haben ihre gemeinsame Keimzelle in den frühen Schriften Herders. Herder wird zum Paten sowohl für die Philologie als historische Wissenschaft, wie sie später radikal bei den Grimms gedacht wird, als auch für ein Konzept poeto-philologischer Hermeneutik und Dichtung bei Ast, Tieck, Arnim, Brentano bis hin zu Goethe. Bevor wir später noch einmal zu Wolf und Ast zurückkehren, um ihre Positionen auf neuem Hintergrund ausleuchten zu können, gilt es zunächst Herders Position zu erläutern.

4. Poeto-philologische Hermeneutik – Johann Gottfried Herder Herder hat in seinen sprachtheoretischen Schriften, insbesondere in ›Über den Ursprung der Sprache‹ (1770) und in ›Über die neuere Deutsche Literatur. Fragmente‹ (1767/68) eine genetische Sprachtheorie vorgelegt, die Sprache ihrer alleinigen instrumentellen Verwendung entzieht und sie als Aufzeichnungsmedium, das gleichzeitig Geschichte schreibt und in das sich Geschichte einschreibt, konzipiert. Sprache wird zum Sediment der historischen Ideenentwicklung: Nicht mehr göttliche Erfindung zur providentiellen Offenbarung, sondern Offenbarung der Geschichte der Gattung – der Genese des Individuums als in Freiheit gesetzte Schöpfung Gottes.36 Herder unterscheidet zwischen Sprache als anth35

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Grafton (Polyhistor into Philolog, S. 176f.) kritisiert zu Recht die Einteilung in »the rational and lingusitic school of Hermann and the intuitive, holistic school of Böckh«. Hermann und Böckh stehen am Ende einer Entwicklung, die, wie zu zeigen sein wird, bereits bei Herder angelegt ist. Grafton sieht hingegen als »general aim […] the will to replace the text« (S. 181) bei nahezu allen Philologen der Goethe-Zeit. »Der menschliche [Ursprung, mb] zeigt Gott im größesten Licht: sein Werk, eine menschliche Seele, durch sich selbst, eine Sprache schaffend und fortschaffend, weil sie sein Werk, eine menschliche Seele ist. Sie bauet sich diesen Sinn der Vernunft als eine Schöpferin, als ein Bild seines Wesens. Der Ursprung der Sprache wird also nur auf eine würdige Art göttlich, so fern er menschlich ist.« Johann Gottfried Herder, Über den

ropologischer Grundausstattung und Sprache als Kulturgeschichte einer Nation. Der menschlichen Seele wird ein doppelter Zeichencharakter zugesprochen. Sie ist selbst immer schon sprachliches Zeichen, das entziffert werden muss. Diese Entzifferung aber ist nur in und durch Sprache, also in Zeichen möglich. Eine vollkommene Semiotik wäre zugleich vollendete Anthropologie wie Sprachphilosophie. Es giebt eine Symbolik, die allen Menschen gemein ist – eine große Schatzkammer, in welcher die Känntnisse aufbewahrt liegen, die dem ganzen Menschengeschlechte gehören. Der wahre Sprachweise, den ich aber noch nicht kenne, hat zu dieser dunklen Kammer den Schlüssel: er wird sie, wenn er kommt, entsiegeln, Licht in sie bringen, und uns ihre Schätze zeigen – Das würde die Semiotik sein, die wir jetzt bloß dem Namen nach in den Registern unsrer philosophischen Enzyklopädien finden: eine Entzieferung der menschlichen Seele aus ihrer Sprache.37

Neben diese anthropologische Chiffrenschrift aber treten die individuellen wie nationalen Prägungen der Sprache. Wenn Sprache sich zugleich als redendes Subjekt wie als zu lesende Schrift der menschlichen Seele aus sich selbst hervorbringt, dann muss auch die Sprache einer Nation, die mehr ist als die Summe ihrer lebenden und sprechenden Individuen, nämlich unhintergehbarer historischer Sprachorganismus, gleichsam die Seele der Nation sprechen lassen und sich diese Seele wieder durch Sprache entziffern lassen.38 Sprache als »Vorratshaus solcher zu Zeichen gewordenen Gedanken« wird zum semantischen Archiv, in dem der »Gedankenschatz eines ganzen Volks«39 vorliegt. Dieses Archiv ist aber keineswegs jene »dunkle Kammer«, deren Zugang bis zur Ankunft des messianischen Sprachweisen verschlossen bleibt. Die Philologie, die nicht als grammatischer Formalismus endet, sondern die Grammatik, das Regelwerk der Sprache,

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Ursprung der Sprache. [Zweiter Teil, viertes Naturgesetz]. In: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften. Hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt/M. 1985, S. 809. Band von hier an mit der Sigle ›HWG‹ abgekürzt. Herder, Über die neuere Deutsche Literatur, Zweite völlig umgearbeite Ausgabe Riga 1968. (I.2.). In: HWG, S. 553. Gaier (Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, S. 61, Anm. 86) weist darauf hin, dass in der Edition mit »umgearbeitete« ein Druckfehler vorliegt und nicht in der heute ungewöhnlichen Form »umgearbeite«. In ›Über den Ursprung der Sprache‹ heißt es: »Jedes Individuum ist Mensch, folglich denkt er die Kette seines Lebens fort. Jedes Individuum ist Sohn oder Tochter: ward durch Unterricht gebildet: folglich bekam es immer einen Teil der Gedankenschätze seiner Vorfahren frühe mit, und wird sie nach seiner Art weiter reichen – also ist auf gewisse Weise ›kein Gedanke, keine Erfindung, keine Vervollkommnung, die nicht weiter, fast ins Unendliche reiche‹. So wie ich keine Handlung tun, keinen Gedanken denken kann, der nicht auf die ganze Unermeßlichkeit meines Daseins natürlich hinwürke; so nicht ich und kein Geschöpf meiner Gattung, was nicht mit jedem auch für die ganze Gattung und für das fortgehende Ganze der Gattung würke.« Herder, Über den Ursprung der Sprache, [zweiter Teil, viertes Naturgesetz], HWG, S. 800. Beide Herder, Über die neuere Deutsche Literatur. 2. Ausgabe. In: HWG, S. 553.

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als zu interpretierendes Zeichen zu deuten weiß, öffnet das kulturelle Archiv zeitlich wie topographisch ferner Nationen. Herders Hermeneutik ist dabei eine Hermeneutik der Einfühlung, nicht vornehmlich eine Einfühlung in das Bewusstsein der Autoren,40 sondern zuallererst ein Einfinden in die Sprache. Die doppelte Sprachbewegung, einerseits Buch andererseits Schrift eines Volkes zu sein, ermöglicht die Überschreitung des eigenen Kultur- und Sprachkreises in der Philologie.41 Dokumentiert sich die Sprache der alten Völker insbesondere in Schriftdokumenten, so bleibt der Eintritt in ihren Denkkreis eine notwendig zirkuläre Bewegung, ohne dass Herder den Begriff des hermeneutischen Zirkels kennt. »Die Literatur wuchs in der Sprache, und in der Sprache die Literatur: unglücklich ist die Hand, die beide zerreißen, trüglich das Auge, das ein ohne das andere sehen will.«42 Sprache ist demnach keineswegs nur Speicher, in dem sich Geschichte sedimentiert, sondern zugleich Archivtektonik, die das Zuspeichernde formiert und damit jedem zukünftigen Zugriff die Struktur vorgibt, »die Form der Wissenschaften, nicht bloß in welcher, sondern auch nach welcher sich die Gedanken gestalten«.43 Diese Bewegung ist dabei als Oszillation an der Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu denken. Der rekursive Anschluss an ein Vorgängiges gibt diesem Vorgängigen erst eine bestimmte Bedeutung, die sich dann aber in das Gegenwärtige der Sprache wieder einträgt. Vergangenheit ist also immer vom Gegenwärtigen zu denken. Dies muss auch den Begriff der Tradition betreffen, der bei Herder durchaus ambivalent verhandelt wird. Tradition erscheint zunächst als ein den Menschen formatierender und bestimmender Zusammenhang: »Bleibt der Mensch unter Menschen: so kann er dieser bildenden oder mißbildenden Cultur nicht entweichen: Tradition tritt zu ihm und formt seinen Kopf und bildet seine Glieder.«44 Die Verbindung mit dem Bildungsbegriff aber offenbart, dass die Tradition sich immer erst vom sich bildenden Subjekt her etabliert. Tradition konstituiert sich aus der Perspektive der Gegenwart. Zugleich aber erscheint das Gegenwärtige immer 40

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Natürlich finden sich entsprechende Textstellen, z.B.: »Wo es der Mühe lohnt, ist dies lebendige Lesen, diese Divination in die Seele des Urhebers das einzige Lesen und das tiefste Mittel der Bildung« Herder, Vom Erkennen und Empfinden der Seele. Bemerkungen und Träume [1778]. In: ders., Herders Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 8, Berlin 1892, S. 165–235; S. 208. Die Ausgabe wird von hier an mit der Sigle ›HSW‹ bezeichnet. Das Folgende wird zeigen, dass Herders Einfühlungsoder Divinationsbegriff aber keineswegs auf ein naives Konzept der Selbstvergessenheit des verstehenden Subjekts hinausläuft. So auch die Argumentation von Andreas Herz, Dunkler Spiegel – helles Dasein. Natur, Geschichte, Kunst im Werk Johann Gottfried Herders, Heidelberg 1996, vor allem Kapitel VII.2. und VII.3. Vgl. Herder, Über die neuere Deutsche Literatur. 2. Ausgabe, (I.3.), HWG, S. 559. HWG, S. 559. HWG, S. 556. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: HSW Bd. 13, Berlin 1887, S. 349.

schon durch das apostrophiert Vorgängige geprägt und imprägniert. Herders Position, und hier wird er sich von Schlegel unterscheiden, beschreibt eine paradoxe Figur: Erscheint auf der einen Seite Geschichte als erst vom Subjekt zu bildender Zusammenhang, so auf der anderen Seite als der das Subjekt immer schon prägende Hintergrund. Der Differenzierung in Oberflächen- und Tiefendimension der Herderschen Geschichtskonzeption,45 wäre jene in Vorder- und Hintergrund an die Seite zu stellen. Die Vordergründigkeit der Gegenwart ist gleichsam nur das Palimpzest der Tradition, die aber als einheitlicher Zusammenhang ein hermeneutischer Beschreibungseffekt auf der sichtbaren Vorderseite ist. Eine solche Hermeneutik erhält ihren Zielpunkt im Sichtbarmachen des großen Plans der Geschichte, der bei Herder – theologisch rückversichert – mit dem Plan Gottes in eins fällt. Die sich öffnende historisch-hermeneutische Differenz wird bei Herder zum Anlass genommen, diese in Identität rückzuführen, die »Ordnung der Vergangenheit« als »Sinnangebot für die Gegenwart«46 zu entwerfen. Es bleibt aber gegen deterministisch-fatalistische Deutungen festzuhalten: Der Akt des Verstehens besteht im gegenseitigen Einprägen auf der jeweils anderen Seite.47 Die enge Verschaltung von geschichtsphilosophischem und sprachtheoretischem Konstrukt konfrontiert den Philologen, der sich um ein historisches Verständnis der alten Schriftdokumente bemüht, mit neuen Herausforderungen, denn sie zwingt ihn auch zur Reflexion seines eigenen Standpunktes. Der Weg über die Einübung anderer Sprachen führt den Philologen zurück auf seine eigene Sprache. Er muss, um dem unmittelbaren Gesetzt-Sein in die eigene Sprache zu 45

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Jürgen Fohrmann, Literaturgeschichte als Stiftung von Ordnung. Das Konzept der Literaturgeschichte bei Herder, August Wilhelm und Friedrich Schlegel. In: Albrecht Schöne (Hg.), Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses. Bd. 11: Historische und aktuelle Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung – Zwei Königskinder? Zum Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft, hg. von Wilhelm Voßkamp und Eberhard Lämmert, Tübingen 1986, S. 79. Fohrmann, Literaturgeschichte, S. 80. Damit ist auch Herders Ablehnung eines epigenetischen Präformationismus erklärt. Nicht allein die Vergangenheit prägt und determiniert die Gegenwart und Zukunft, sondern umgekehrt. In den ›Ideen‹ nennt Herder denn auch den Kraft-Begriff, der als Bewegungsprinzip allem Organischen innewohnt. Diese treibende Kraft ist aber nicht mit einer immer schon vorhandenen und sich bloß entfaltenden Struktur zu identifizieren. Vgl. Herder, Ideen. In: HSW 13, S. 173: »so, dünkt mich, spricht man uneigentlich, wenn man von Keimen, die nur entwickelt würden, oder von einer Epigenesis redet, nach der die Glieder von außen zuwüchsen. Bildung (genesis) ists, eine Wirkung innerer Kräfte, denen die Natur eine Masse vorbereitet hatte, die sie sich zubilden [!], in der sie sich sichtbar machen sollten.« Zum Problem allgemein vgl.: Helmut Müller-Sievers, Epigenesis. Naturphilosophie im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts, Paderborn – München – Wien 1993. Zu Herder siehe S. 116–134 und ders., Self-generation. Biology, Philosophy and Literature around 1800, Stanford 1997, S. 90–120.

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entkommen, sich mühsam den Weg durch fremde Sprachen suchen.48 Philologie ist Fremdphilologie, um eine reflektierende Position zur eigenen Sprache als Kulturarchiv der Nation einnehmen zu können. Hundert unerhörte Dinge mehr würden uns über diesen Gedankenvorrat eines Volks gesagt werden können, die jeder Eingeborne der Sprache, ihr mit begierigem Ohr hörete. Allein die Stelle eines solchen Sprachforschers ist freilich schwer zu besetzen, weil in sie ein Mann von drei Köpfen gehört, der Philosophie und Geschichte und Philologie verbinde – der als Fremdlinge Völker und Nationen durchwandert, und fremde Zungen und Sprachen gelernt hätte, um über die seinige klug zu reden – der aber zugleich als ein wahrer Idiot, alles auf seine Sprache zurückführet, um ein Mann seines Volks zu sein.49

Der Charakter dieser hermeneutischen Bewegung ist aber keineswegs allein philologischer Natur, denn Herders Theorie einer sinn-bild-lichen Sprache verweigert sich dem Zugriff auf Dichtung durch abstrakte Begriffssprache.50 So ginge es eben nicht darum, eine Sprache zu lernen: »Alles kömmt auf den Unterschied an: lernen wir die Sprache, oder erfinden wir sie uns selbst«. Entscheidend ist für Herder dabei das Verhältnis von »Ausdruck« und »Gedancke«. Wieder greift Herder auf sein historisches Sprachmodell zurück: Im vorreflexiven Zeitalter habe noch jene Übereinkunft von Zeichen und Bezeichnetem bestanden, die aus dem anthropologisch unhintergehbaren Zusammenhang von Sinneswahrnehmung und Zeichengebrauch, der »Beredsamkeit des Auges und des sprechenden Anlitzes«,51 »sinnlich, wo man mit dem anschauenden Blicke zugleich den Namen verbindet«, hervorging.52 Entgegen des ersten Eindrucks aber nimmt hier nicht eine irrever48

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So auch Gerhard Kurz (Die Originalität der Übersetzung. Zur Übersetzungstheorie um 1800. In: Ulrich Stadler (Hg.), Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens, Stuttgart – Weimar 1996, S. 52–63, S. 54): »Etwas summarisch resümiert gilt für die ganze Epoche die Überzeugung, daß nur in der Aneignung des Fremden der eigene Geist zu sich komme. Daher kommt der Übersetzung, in ihrer doppelten Absicht als Übersetzung des Fremden ins Eigene und des Eigenen ins Fremde, eine besondere Rolle zu.« HWG (I.2.), S. 554. Ausführlich zum Problem einer Hermeneutik der Sinnlichkeit im 17. und 18. Jahrhundert: van Laak, Hermeneutik. Zu Herder insbesondere S. 233–272. Anders als bei van Laak und auch Andreas Herz soll hier nicht versucht werden, Herders Ansatz selbst wieder einer hermeneutischen Aktualisierung als Beitrag zu einer modernen Theorie ästhetischer Erfahrung zu unterziehen. Beide Herder, Über die neuere Deutsche Literatur, (III.5.), HWG, S. 394. Ebd., (III.10.), S. 421. In jüngerer Zeit hat Quine (Roots of Reference, S. 37f.) auf die ursprüngliche Verbundenheit von Zeichen, Bezeichnetem und Sinn in onto- wie polygenetischer Hinsicht verwiesen. »Though we learn it [language, mb] by learning to relate strings of words to strings of words, somewhere there have to be nonverbal reference points, nonverbal circumstances that can be intersubjectively appreciated and associated with the appropriate utterance on the spot. [...] The two roles of observation, their role in the support of theory and their role in the learning of language, are

sible Verlustgeschichte ihren Beginn, sondern Herder erinnert daran, dass noch in der Alltagssprache des »gemeinen Mannes«,53 des einfachen Volkes Zeichen, Bezeichnetes, »die Gegenstände des Lebens«, und Sinn als vom Sprecher intendierter Gedanke, eine zumindest postulierte Einheit bilden und daher die Identität von Gedanke und Ausdruck welterschließende Funktion haben kann.54 »Bei keinem Zeichen muß das Zeichen selbst, sondern der Sinn des Zeichens empfunden werden; die Seele muß nicht das Vehikulum der Kraft, die Worte, sondern die Kraft selbst, den Sinn empfinden.«55 Für eine solche Sprache stellt sich kaum ein hermeneutisches Problem.56 Denn die Kraft der (poetischen) Sprache selbst drückt die affektive Wirkung und den »angeklebten« Sinn gleichsam in den Rezipienten hinein, wie es im ›1. Kritischen Wäldchen‹ heißt: »Und dies ist die Kraft, die dem Innern der Worte anklebt, die Zauberkraft, die auf meine Seele durch Phantasie und Erinnerung wirkt: sie ist das Wesen der Poesie.«57 Diese

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inseparable. Observations are relevant as evidence for the support for theory because of those very associations, between observable events and theoretical vocabulary [...] The meaning of a sentence lies in the observations that would support or refute it. To learn a language is to learn the meanings of its sentences, and hence to learn what observations to count as evidence for and against them. The evidence relation and the semantical relation of observation to theory are coextensive.« HWG (III.10.), S. 395. »Von Verbis und Nominibus an bis hinab zur kleinsten Partikel kann es erwiesen werden, daß sie alle an wirklichen, sinnlichen, und zwar den gemeinsten, oft vorkommenden Gegenständen gebildet worden.« Johann Gottfried Herder, Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. In: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 8: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792–1800. Hg. von Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt/M 1997, S. 303–640; S. 359. Gaier (Herders Sprachphilosophie, S. 79) weist auf den Bezug zum alten rhetorischen Kraftbegriff etwa bei Breitinger hin: »Der poetische Ausdruck hat eine entzückende und bezaubernde Kraft auf die Sinnen und die Einbildung und machet, daß wir [...] uns bereden, wir sehen die Sachen der Natur gegenwärtig vor uns.« Johann Jacob Breitinger, Critische Dichtkunst, 2 Bde., Zürich 1740 [Photomechanischer Nachdruck Stuttgart 1966], Bd. 2, S. 406. Johann Gottfried Herder, 1. Kritisches Wäldchen. In: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 2: Schriften zu Literatur und Philosophie 1767–1781. Hg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt/M. 1993, S. 195. Band von hier an mit der Sigle ›HWGr‹ abgekürzt. So auch das Ergebnis von Werner Strubes Analyse (Vom ästhetischen Umgang mit poetischen Texten. Ein Beitrag zu Poetik und Hermeneutik des 18. Jahrhunderts. In: Schönert/Vollhardt (Hg.), Geschichte der Hermeneutik, S. 403–424; S. 421): »Was das Verhältnis zwischen ästhetischem und hermeneutischem Umgang mit poetischen Texten angeht, gilt hinsichtlich aller berücksichtigten Ästhetiker, daß sie von einer ästhetischen Rezeption ausgehen, die sozusagen problemlos abläuft.« Strube setzt dann ästhetische und hermeneutische Rezeption, d.h. eine wissenschaftliche Rezeption, die an Auslegung im weitesten Sinne interessiert ist, als zwei sich ausschließende Modi des Umgangs mit poetischen Texten gegenüber und übersieht dabei, daß etwa Szondi durchaus bemüht ist, eine Theorie zu entwickeln, die beides wieder zusammenführt. HWGr, S. 197.

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Fähigkeit weist Herder, anders als noch Breitinger, nicht der Malerei, sondern explizit der Poesie zu, die er daher in der paragonen Tradition an die Spitze der Künste stellt. Poesie, so heißt es im ›Plan zu einer Aesthetik‹, sei eine »sinnliche Wissenschaft«.58 Die Rede von der Poesie als erste der Künste meint in seinem genetischen Modell vornehmlich jene natürliche Poesie der Alten, sei es des Orients, sei es Griechenlands. Denn in der historischen Entwicklung zeichnet sich im Auseinandertreten von Gedanke und Ausdruck auch ein Verlustgeschäft ab. Erst wenn Gedanke und Ausdruck in ein Hierarchieverhältnis auseinandertreten, das den Ausdruck durch den Gedanken erschaffen denkt, stellt sich die Frage, was denn nun der hinter dem Ausdruck liegende Gedanke, respektive der Sinn sei. Das Modell konzipiert den Gedanken als der Form vorgängig, kann aber auf jenen immer nur nachträglich im Sinne einer Zuschreibung zugreifen. Diesem Problem kann sich unter den Bedingungen des reflektierten oder philosophischen Zeitalters kein Autor mehr gänzlich entziehen. Poesie als sinnliche Wissenschaft wird Herders Gegenprogramm zu Baumgartens philosophischer Ästhetik. Ästhetik als philosophische Wissenschaft betrieben setzt sich ihren Gegenstand immer nur als Objekt gegenüber und verfährt nach der »analytischen Methode«.59 Dieser objektiven Ästhetik stellt Herder gleich im ersten Paragraphen des Fragments den Entwurf einer subjektiven Ästhetik entgegen, die er von der philosophischen Ästhetik kategorial unterschieden wissen möchte. Sei erstere Wissenschaft, scientia, die in »Begriffen lehrt und überzeugt«,60 so komme der subjektiven Ästhetik als anthropologisches Vermögen eine bestimmte Wirkkraft zu, sie ist »immer habitus«. Der Ästhetik in diesem Sinne kommt eine produktive Kraft zu, die selbst als Kunst beschrieben werden kann. Herder wertet Ästhetik als Wissenschaft ab und hält ihr einen aisthetischen Entwurf entgegen, der die Grenze zwischen ästhetischer Theorie und poetischer Produktivität aufhebt, Theorie selbst als Kunst entwirft: §1. Aesthetik, als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis kann objective und subjective genommen werden; im ersten Fall ists eine philosophische Untersuchung, der sinnlichen Erkenntnis, als ihres Gegenstandes; und in so fern ist die Wissenschaft die Baumgarten erfand, und niemand bisher übersehen hat, die also alle Eigenschaften der philosophischen Untersuchung, Beweise, und analytische Methode haben muß Oder sie ist bloß eine Fertigkeit, meine sinnliche Erkenntnis zu brauchen und alsdenn ist sie eine Kunst, α´ι´σϑητσυ´ς macht; dahin gegen die erste α´ι´σϑητικου´ς zu bilden hat, als Wissenschaft.61

Ästhetik wird so als kulturelle Praxis, als Handlung und Fähigkeit von einer disziplinär verfahrenden Wissenschaft abgegrenzt. Herder verwendet den Kunstbe58 59 60 61

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Herder, Plan zu einer Aesthetik, In: HWG, S. 669. HWG, S. 659. HWG, S. 660. HWG, S. 659.

griff im Sinne von ars und techné. In dieser Bestimmung greift Herder auf die Aufklärungshermeneutik und ihren Anleitungen zur Erhellung dunkler Stellen zurück, verweist damit auf die Notwendigkeit der Kombination von philologischem Handwerk und methodischer Reflexion. Im Kunstbegriff wird aber zugleich die Vorstellung einer völlig regelgeleiteten Erkenntnismöglichkeit nach ›Beweis‹ und ›analytischer Methode‹ verabschiedet und ein gewisses Maß von Genialität nicht nur auf Seiten des Autors, sondern auch auf Seiten des Rezipienten eingefordert. Auch Friedrich Schlegel wird in seinen Fragmenten ›Zur Philologie‹ immer wieder auf dieser Doppeldeutigkeit von Kunst, in der Bestimmung zwischen techné und Genie, insistieren. Ein solches Lektüreprogramm aber verortet Herder nicht mehr im System Wissenschaft. Zieht er einerseits die Trennungslinie zwischen Kunst und Wissenschaft energisch nach, so wertet er aber andererseits diesen Prozess um. Der Ästhetik als der Wissenschaft von der Kunst wird abgesprochen, ihren vorgeblichen Gegenstand mit ihren Mitteln erfassen zu können: »1) als Wissenschaft zieht sie [die Ästhetik, mb] uns von anderen ab z.E. von der Kunst 2) sie schwächt die Kunst durch Bewußtsein der Regeln 3) sie schwächt die Empfindungen; und ist dem Genusse, und unserem Leben also schädlich.«62 Nach dem Verhältnis von Ausdruck und Gedanke in der Dichtung gefragt, antwortet der frühe Herder ausweichend, indem er »Gedanke«, das ihm als Begriff intellektuell-philosophisch konnotiert erscheint, durch »Empfindung« ersetzt. Damit veranschlagt er für die Dichtung einen Produktions- und Rezeptionsraum, der jenseits der Verstandesregeln liegt und ein eigenes Erkenntnisvermögen für die Dichtung sowohl beim Produzenten als auch beim Rezipienten reklamiert, und zugleich die Kategorie der Einfühlung auf den hermeneutischen Arbeitsplan ruft. Grund dieser Umakzentuierung ist für Herder die ursprüngliche, sinnliche Gestalt von Sprache, die andere Sinnes-Kanäle nutze als die Begriffssprache. Zugleich aber ist der Dichter auf das Sprachzeichen angewiesen. Dem Buchstaben als kleinste materielle Einheit spricht Herder noch keinen Zeichencharakter zu. Daher wird der Buchstabe als Lautbild und nicht die Schrift zur Metapher der poetischen Sprache. Erst eine hypotypotische Sprache, die in der Schrift ihre Schriftlichkeit ausblendet, im Schreiben spricht, im Lesen zu hören vermag, gleichsam ganz Buchstabe wird, kann an die ursprüngliche Nähe von Ausdruck und Gedanke anknüpfen. Nur eine solche Sprache wird wie die Alten denken und sprechen können und sich ihrem Geist nähern können, da sie den Sündenfall des Zeichens als Differenz von Ausdruck und Gedanke überwindet. Herder sieht explizit die Möglichkeit einer transformierten Restitution dieses ursprünglichen Sprachverhältnisses in der Dichtung. Da das sechste Fragment

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HWG, S. 664.

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der dritten Sammlung Herders Hermeneutik poetischer Sinnlichkeit in nuce enthält, sei es hier in extenso zitiert: Jetzt bitte ich die Dichter etwas beiseit, mit denen ich ein Wort zu sprechen habe. Wenn bei sinnlichen Begriffen, bei Erfahrungsideen, bei einfachen Wahrheiten, und in der klaren Sprache des natürlichen Lebens der Gedanke am Ausdrucke so sehr klebt: so wird für den, der gleichsam der Oberherr dieser Spähre gewesen, (wenigstens in der alten sinnlichen Zeit der Welt) für ihn, muß der Gedanke zum Ausdrucke sich verhalten, nicht wie der Körper zur Haut, die ihn umziehet; sondern wie die Seele zum Körper, den sie bewohnet: und so ists für den Dichter. Er soll Empfindungen ausdrücken:- Empfindungen durch eine gemalte Sprache in Büchern ist schwer, ja an sich unmöglich. Im Auge, im Anlitz, durch den Ton, durch die Zeichensprache des Körpers – so spricht die Empfindung eigentlich, und überläßt den toten Gedanken das Gebiet der toten Sprache. Nun, armer Dichter! und du sollst deine Empfindungen aufs Blatt malen, sie durch einen Kanal schwarzen Safts hinströmen, du sollst schreiben, daß man es fühlt, und du sollst dem wahren Ausdruck der Empfindung entsagen; du sollst nicht dein Papier mit Tränen benetzen, daß die Tinte zerfließt, du sollst deine ganze lebendige Seele in tote Buchstaben hineinmalen, und parlieren, statt auszudrücken. – Hier sieht man, daß bei dieser Sprache der Empfindungen, wo ich nicht sagen, sondern sprechen muß, daß man mir glaubt, wo ich nicht schreiben, sondern in die Seele reden muß, daß es der andere fühlt: daß hier der eigentliche Ausdruck unabtrennlich sei. Du mußt den natürlichen Ausdruck der Empfindung künstlich vorstellen, wie du einen Würfel auf der Oberfläche zeichnest; du mußt den ganzen Ton deiner Empfindung in dem Perioden, in der Lenkung und Bindung der Wörter ausdrücken: du mußt ein Gemälde hinzeichnen, daß dies selbst zur Einbildung des andern ohne deine Beihülfe spreche, sie erfülle, und durch sie sich zum Herzen grabe: [...] wie sehr klebt hier alles am Ausdrucke: nicht in einzelnen Worten, sondern in jedem Teile, im Fortgange derselben und im Ganzen. Daher rührt die Macht der Dichtkunst in jenen rohen Zeiten, wo noch die Seele der Dichter, die zu sprechen, und nicht zu plappern gewohnt war, nicht schrieb, sondern sprach, und auch schreibend lebendige Sprache tönete: in jenen Zeiten, wo die Seele des andern nicht las, sondern hörte, und auch selbst im Lesen, zu sehen und zu hören wußte, weil sie jeder Spur des wahren und natürlichen Ausdrucks offen stand. [...] daher rührt alles Leben der Dichtkunst, was ausstarb, da der Ausdruck nichts als Kunst wurde, da man ihn von dem, was er ausdrücken sollte, abtrennete: [...] der Fluch, der auf dem Lesen der Alten ruhet, wenn wir bloß Worte lernen, oder den Inhalt historisch durchwandern, oder aestehtische Regeln, oder Beispiele ausklauben, kurz! wenn wir Gedanken und Worte in ihnen abgetrennt betrachten: nicht das schöpferische Ohr haben, das die Empfindungen in seinem Ausdrucke, in vollem Ton höret; nicht jenes dichterische Auge haben, das den Ausdruck als einen Körper erblickt, in welchem sein Geist denket und spricht und handelt [...] daher rührt jener Unsegen, daß es uns schwer wird, wie die Alten zu denken, weil man das Denken ohne Ausdruck erhaschen wollte, und wie die Alten zu sprechen, weil man wiederum den Ausdruck vom Gedanken abgesondert betrachtete.63

In Herders Text findet auf der metaphorischen Ebene eine Doppelung statt: Einerseits wird das Schreiben als Fortsetzung des systemischen Flusses der Körperlichkeit mit ihren dunklen Kanälen begriffen, worüber größtmögliche 63

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HWG, S. 402–404.

Direktheit suggeriert werden soll. Der Fluss soll über die schreibende Hand in die Tinte fortgesetzt werden. Schon hier besteht eine Spannung zwischen zyklischem Fluss im System Körper sowie der Linearität der Schrift. Andererseits wird die medialisierende Vermittlung durch das Verbot thematisiert, seine Tränen direkt auf das Blatt zu ergießen und die Empfindung zur Schriftlichkeit zu sublimieren.64 Die Unmittelbarkeitsmetaphorik wird durch eine der Vermittlung konterkariert. Vermitteltheit wird so erneut als Kernbegriff der Herderschen Hermeneutik sichtbar. Ganz offensichtlich erfordert hermeneutisches Verständnis nicht nur eine produktiv gestaltete Sprache auf Seiten der Dichter, sonst gäbe es kein Problem bei der Lektüre der Alten, sondern setzt ein »schöpferisches Ohr« auch beim Rezipienten voraus,65 ein Wiedererlangen eines natürlichen Wahrnehmungsvermögens, das so angeregt selbst wieder produktiv werden kann.66 Zum Ideal wird eine dem hermeneutischen Verständnis entgegenkommende, ja es ermöglichende mündliche Volkspoesie.67 Dabei aber geht es nicht um eine wirkliche Rückkehr zu oralen Formen der Poesie, sondern um deren Transformation im Medium der Schriftlichkeit, als »Aspekt impliziter Mündlichkeit«.68 Darauf wird zurückzukommen sein. Die Differenz zur bisher nur angedeuteten und weiter unten ausgeführten Position Asts zeigt sich in der unterschiedlichen Bedeutung, die dem GeistBegriff beigemessen wird. Denn Herders Anliegen ist es keineswegs, den Geist der Griechen durch Sprachstudien in seine Zeit zu kopieren oder durch Übersetzungsübungen im Deutschen möglichst perfekt die griechischen Metren nach64 65

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Zum Thema umfassend natürlich: Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999. So nennt denn auch Pierre Pénisson (Die Palingenesie der Schriften: die Gestalt des Herderschen Werks. In: Johann Gottfried Herder, Werke. Hg. von Wolfgang Pross. Bd. 1, München 1984, S. 864–920; S. 911) Herders Konzept eine »Hermeneutik der Beteiligung«. Gebhard Fürst (Sprache als metaphorischer Prozeß. Johann Gottfried Herders hermeneutische Theorie der Sprache, Mainz 1988, S. 106) spricht gar von einem »therapeutischen Programm« zur »Freisetzung der kreativen Kräfte und die Stimmulierung der schöpferischen Tätigkeit des denkenden und sprechenden Menschen.« Eva M. Knodt (›Negative Philosophie‹ und dialogische Kritik. Zur Struktur poetischer Theorie bei Lessing und Herder, Tübingen 1988, S. 77) fasst zusammen: »Alles Rezipieren ist ein produktiver, konstitutiver Akt«. Vgl. auch dort. Kap. 1 »Herders poetische Hermeneutik«. Die dann natürlich in der Muttersprache verfasst ist: »Sie [die Muttersprache, mb] druckte sich uns zuerst, und in den zartesten Jahren, da wir mittelst Worte in unsre Seele die Welt von Begriffen und Bildern sammelten, die dem Dichter eine Schatzkammer wird.« Über die Neuere Deutsche Literatur (III.7.). In: HWG, S. 407. Gaier, Herders Sprachphilosophie, S. 58. Wohl nur so lassen sich die Volkspoesieprojekte Arnims und Brentanos sowie die paradoxe Bewertung von Schriftlichkeit durch Goethe in den ›Wanderjahren‹ und ›Dichtung und Wahrheit‹ erklären.

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zuahmen. Bereits in ›Von den Deutsch-Orientalischen Dichtern‹ (1766) aus der zweiten Fragmentsammlung ›Über die Neuere Deutsche Literatur‹ weist Herder die Bemühungen eines Breitenbauchs, Jakob Friedrich Schmidts und sogar Klopstocks im ›Messias‹ um eine Adaption orientalischer Dichtungsarten im Deutschen zurück. Ausgehend von seinem sensualistischen Grundsatz,69 dass Klima und Sitten, insbesondere also topographische Begebenheiten, die Vorstellungswelt und die Sprache des Individuums wie der Völker prägen, kann Herder den Versuch einer Nachahmung orientalischer Dichtung nur ablehnen, da sie aufgrund fehlender sinnlicher Erfahrungen nie original werden können.70 wenn unsre Dichter ihnen diese Bilder entwenden, so zeichnen sie nicht unsre Natur, sondern reden ihren Originalen einige Worte nach, die wir kaum nur halb verstehen. [...] Und wenn wir diese Bilder auch endlich verstehen – erklären, und aus den lebhaftesten historischen und geographischen Beschreibungen ihre Schönheiten ganz fühlen lernen; nie haben diese historische Beschreibungen, Auslegungen, Erklärungen so viel Eindruck in uns, als die sinnliche Gegenwart dieser Örter, nie das Leben der Anschauung, als wenn wir sie selber sähen; [...] Nie ist die gesunde Einbildungskraft so lebhaft, als die Erfahrung, und die ideale Gegenwart der sinnlichen gleich.71

Zugleich aber hält auch Herder an der Idee fest, dass die Alten die neue Literaturen befördern und befruchten könnten.72 Sein Ziel ist die Gewinnung eines poetisch-hermeneutisch-philologischen Verfahrens, das dies zu leisten vermag. Zunächst aber verschärft Herder die Differenzen zwischen Alten und Modernen noch einmal, indem er den Geist-Begriff mit dem konkreteren Begriff der Nationalvorurteile verbindet. Diese Nationalvorurteile stellen für Herder die Grundmythen, die Ausgangsfiktionen einer Kultur dar, die daher wiederum an topographische Ortungen geknüpft werden und alle Mitglieder einer Kultur »mit dem Stammeln der Sprache von ihren Erziehern lernen«.73 »Daraus entstehet alsdenn für die Dichter eine heilige Mythologie: die national ist, und ihnen jederzeit eine Zauberquelle war, um Fiktionen zu schöpfen, und Bilder zu erhe69

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Zu Herders Sensualismus siehe die Studie von Marion Heinz, Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und Metaphysik des jungen Herder 1763–1778, Hamburg 1994. Herders Position in der Kultur-Klima-Theorie kann sicherlich nicht mehr als kausaldeterministisch bezeichnet werden. Es kann aber auch keine Rede davon sein, dass Herder das Gedankenmodell gänzlich ablegt. Vgl. Cord-Friedrich Berghahn, Moses Mendelssohns ›Jerusalem‹. Ein Beitrag zur Geschichte der Menschenrechte und der pluralistischen Gesellschaft in der deutschen Aufklärung, Tübingen 2001, S. 94. Zur Rezeption der Klimatheorie in Deutschland siehe: Gonthier-Louis Fink, Von Winkelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive. In: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder: 1744–1803, Hamburg 1987, S. 156–176. Johann Gottfried Herder, Von den Deutsch-Orientalischen Dichtern. HWG, S. 277f. Vgl. HWG, S. 279. HWG, S. 281.

ben [...] Für uns sind diese Fabeln halbverloren, oder fremde, oder tot, da unsere mehr wissenschaftliche und denkende Lebensart sie ausgetilget, oder geläutert hat.«74 Ein emphatischer Einfühlungsbegriff, der im Versuch der Ausblendung der historischen Position des Verstehenden eine Nivellierung der historischen Differenz phantasiert, liegt Herder fern. Die Differenz scheint kaum mehr einholbar, ihm »fehlt das Schiff von euch [Homer, Hesiod, Orpheus, mb] in mein Land in meine Sprache«,75 wie es in der Vorrede zum zweiten Teil der ›Volkslieder‹ von 1779 heißt. Weder kann die hermeneutische Bewegung bei Herder als mühsam antiquarisch-grammatische Pflichtübung gedacht sein, noch als genialisches Hineindivinieren. Herders Ansatz steht unter einer Aporie, die sich so leicht nicht auflösen lässt. Verlagert er einerseits das Verstehen historischer Texte ganz in den Entstehungskontext,76 nimmt sie in ihrer Historizität ernst, so postuliert er andererseits eine Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart wie zwischen Antiquar und Künstler,77 die kaum überbrückt werden kann. Verstehen der Alten und damit Bildung an ihnen wäre dann angesichts dieser Kluft aber kaum mehr möglich. Fungiert aber die Analogie von den Lebensaltern der Sprache keineswegs nur als historisches Modell, das eine zeitlich nicht reversible Abwärtsbewegung beschreibt, sondern ein triadisches Modell entwirft, dass die »Möglichkeit eines

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HWG, S. 282. Herder, Volkslieder. In: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 3: Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen. Hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt/M 1990, S. 69–428; S. 233. Nur eines von beliebig vermehrbaren Beispielen, hier aus dem ›Reisejournal‹: »Was hätte ich gegeben, um einen Orpheus und eine Odyssee zu Schiff lesen zu können. Wenn ich sie lese, will ich mich dahin zurücksetzen: so auch Damm, und Banier und Spanheim lesen und verbessern und auf der See meinen Orpheus, Homer und Pindar fühlen.« Herder, Journal meiner Reise im Jahre 1769. In: ders., Werke in zehn Bänden. Bd. 9.2: Journal meiner Reise im Jahre 1769. Pädagogische Schriften. Hg. von Rainer Wisbert, Frankfurt/M. 1997, S. 9–126; S. 23. Diese Figur durchzieht den gesamten ›Winkelmann‹-Aufsatz Herders: »Das Geschäft des Künstlers und Antiquars ist bei einer Bildsäule wesentlich verschieden. Der Künstler sieht als Künstler, schöne oder häßliche, kurz bildbare, mechanisch oder geistig bildbare Formen, und darf sich nicht bekümmern, wie der Mann oder Gott heiße, den die Form darstellet, der in der alten Geschichte lebet. Beim Antiquar ist dies Hauptwerk. Es darf ihm nie der Gedanke einkommen: würde ich das auch bilden können? kanns unsre Zeit bilden? gnug, es ist gebildet und erfragt: vom wem? wenn? wie? was bedeutets? wozu hats gedienet? Schön oder häßlich, ist ihm eine Nebensache; nur freilich, je schöner je besser: denn auch der Antiquar soll ein Mensch sein von Augen und Geist und Seele. Je mehr er dies ist, besto brauchbarer für Staat, Literatur, selbst für den Künstler«, Johann Gottfried Herder, Denkmal Johann Winkelmanns. In: HWGr, S. 630–673, S. 642. Bei gleichzeitiger Trennung von künstlerischer und wissenschaftlicher Tätigkeit betont Herder aber auch hier die Notwendigkeit zur gegenseitigen Öffnung der Verfahren.

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Zusammenbestehens der letzten drei Stadien«78 einräumt, so eröffnet Herder auch hier die Option einer hermeneutischen Aktualisierung, für die Poesie, Philologie und Philosophie zusammentreten müssen. Bereits im ›Fragment über die Ode‹ (1764/65), Teil einer geplanten umfassenden Schrift zur Ode, die zu einer frühen Poetik Herders werden sollte, findet sich die Kennzeichnung des in den Fragmenten ›Über die Neuere Deutsche Literatur‹ weiterentwickelten Modells. Das Odengenie sei »zugleich ein Kenner des Altertums« und auf die Frage »Wer soll über die Ode schreiben?« antwortet Herder: der »dichterische Philolog«.79 Ein solches Werk aber vermag Herder nicht abzuschließen und vorerst selbst nur im Modus der Fiktion vorzustellen, dessen imaginärer Titel lautet: »Poetische Übersetzung der morgenländischen Gedichte; da diese aus dem Lande, der Geschichte, den Meinungen, der Religion, dem Zustande, den Sitten, und der Sprache ihrer Nation erklärt, und in das Genie unsrer Zeit, Denkart und Sprache verpflanzt werden.« Herder sucht die Anknüpfung vor allem als schöpferisches Verfahren: die eigene Nationalsprache durch die poeto-philologische Auseinandersetzung mit dem originären Genie der alten Dichter zu vervollkommnen. Das aber kann nicht durch Nachdichten und wortgetreues Übersetzen geschehen, sondern allein durch Neuschöpfung, wie das fiktive Vorwort zum fiktiven Titel ausführt: ›Diese Übersetzung hat notwendig das schwerste und mühsamste Werk sein müssen, zu dem in der Erklärung, die Bemerkungen einiger wenigen Philologen von Geschmack, und in der Übersetzung die Cramerschen Psalmen nichts als kleine Beiträge haben sein können, oft um uns zu helfen, Gesichtspunkte zu zeigen und behutsam zu machen. Allein wir halten es auch für eine Originalarbeit, die mehr Einfluß auf unsere Literatur haben kann, als zehn Originalwerke. [...] sie ist ein Muster einer Nachahmung, die Original bleibt. [...] Siehe hier deine Natur, und Geschichte, deine Götzen und Welt, deine Denkart und Sprache: nach diesem bilde dich, um der Nachahmer deiner selbst zu werden. Und willst du von einer der vorzüglichsten Nationen ihre Schätze nützen: siehe hierher! Ich such dich mit einer Kunst bekannt zu machen, wie sie Geschichte und Religion in Gedichte zu wandeln wußten; raube ihnen nicht das Erfundene, sondern die Kunst zu erfinden, zu erdichten, zu dichten, und einzukleiden!‹80

Nur in genialischer Neuschöpfung kann der Orient, kann Griechenland für die Modernen entstehen. Damit zieht Herder zugleich die Grenze zwischen philolo-

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Apel, Sprachbewegung, S. 86. Alle Herder, Fragment Über die Ode, HWG, S. 98. Jochen A. Bär (Sprachreflexion der deutschen Frühromantik. Konzepte zwischen Universalpoesie und grammatischem Kosmopolitismus. Mit einem lexikographischen Anhang, Berlin – New York 1999, S. 237) hat diesen Gedanken zentral »für die gesamte frühromantische Philologiekonzeption« genannt, leistet aber keine Rekonstruktion der Genese der Figur im späten 18. Jahrhundert. Ich versuche in dieser Studie zu zeigen, warum die Literatur der Goethe-Zeit sich so intensiv mit der Figur des Philologen beschäftigt, sicherlich nicht, um das »Ideal eines poeta doctus« (ebd., S. 239) wiederzubeleben. Beide Herder, Von den Deutsch-orientalischen Dichtern, HWG, S. 292f.

gisch exakter, original getreuer Übersetzung und originärer Eigendichtung weitgehend ein, »der Übersetzer muß selbst ein schöpferisches Genie sein, wenn er hier seinem Original und seiner Sprache Genüge tun will.«81 Eine so verstandene Philologie, die nicht antiquarisch, sondern selbst im Modus der Dichtung verfährt, arbeitet daher immer an den Entwicklungspotentialitäten der eigenen Sprache, die als geschichtlicher Organismus ihre eigene Geschichtlichkeit aus sich selbst heraus, aber stets in ein Neues hinein, transformiert.82 Dabei wird die Entgegensetzung Dichtung – Philologie chiastisch symphonisiert: Poetische Philologie und philologische Poesie. »Kurz! Als Poetische Heuristik wollen wir die Mythologie der Alten studiren, um selbst Erfinder zu werden. Eine Götterund Heldengeschichte in diesem Gesichtspunkte durchgearbeitet, – einige der vornehmsten alten Schriftsteller auf diese Weise zergliedert, – das muß Poetische Genies bilden, oder nichts in der Welt.«83 Herder bereitet in seinen frühen Schriften damit zwei Schlüsselbegriffen der poetologischen Diskussion um 1800 den Boden, die die Frühromantiker ins Zentrum ihrer Dichtungskonzeption stellen: Unendliche Progression und Sympoesie. Denn das beständige Transformieren der antiken Klassiker in neue Originalwerke wird etwa bei Friedrich Schlegel, wenn auch nicht als aufsteigender Fortschritt, sondern als ein aus dem eigenen Bestand sich immer fortwährendes Umwälzen, Weiterschreiben der Literatur gedacht.84 81 82

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Herder, Über die Neuere deutsche Literatur, (I.8.), HWG, S. 204. Vgl. Apel, Sprachbewegung, S. 88. Herders Kulturmodell geht so schon sehr früh über eine Idee eines Präformatismus hinaus. Ganz in diesem Sinne formuliert Herder (Über die Neuere Deutsche Literatur (II.4a.). HWG, S. 306) auch für eine Übersetzung der Griechen im vierten Fragment der zweiten Sammlung ›Von der griechischen Literatur in Deutschland‹: »Die meisten Übersetzer wollen doch gern ein Wort mitreden, in der Vorrede, in kritischen Noten, oder im Leben ihres Autors, und die meisten reden in der Vorrede Komplimente, oder von den Ausgaben ihres Autors: in den Noten aber oft langweilige Erklärungen, die dem Leser keinen guten gesunden Hausverstand zutrauen; oder Zänkereien, die ihn noch weniger angehen, oder ein Kram von philologischer Gelehrsamkeit. Endlich wird das Leben des Autors dazu übersetzt: und so ist ein Buch fertig: für den Übersetzer Tagelohn, für den Verleger Meßgut, für den Käufer ein Buch in seine Bibliothek: für die Literatur? nichts! oder Schade! Null oder negative Größe. Aber – Wenn uns jemand den Vater der Dichtkunst Homer übersetzte: ein ewiges Werk für die deutsche Literatur, ein sehr nützliches Werk für Genies [...] all dies kann eine Homerische Übersetzung werden.« Und dazu passt seine Forderung »Wo ist ein Übersetzer, der zugleich Philosoph, Dichter und Philolog ist: er soll der Morgenstern einer neuen Epoche in unsrer Literatur sein!« HWG, S. 293. Vgl. Herder, Über die Neuere Deutsche Literatur. Dritte Sammlung 1767. In: HWG, S. 449f. Herder unterläuft damit in der »Quellere des anciens et des modernes« beide Fronten. Weder geht es ihm um eine normative Verklärung der Alten, noch um ein allein in die Zukunft projektiertes Ideal von Vollkommenheit, das die Leistungen der Alten lediglich als dessen Vorstufen, d.h. als überwunden ansieht. Vgl. Gaier, Herders Sprachphilosophie, S. 48f.

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Herder gibt damit auch die Leitlinie für das Konzept einer Poeto-Philologie bei Arnim und Brentano, zugleich aber auch wesentliche Konzepte für die historistische Philologie der Grimms in Zügen vor, zwischen denen sich, wie zu zeigen sein wird, Goethes Haltung zur Philologie situieren lässt. Über eine Darstellung der philologischen Hermeneutik Friedrich Asts wird einsichtig, warum Herder zum Ort der Genese beider Projekte werden kann.

5. Hermeneutik als Philologie des Einen Geistes – Friedrich Ast Trotz der scheinbaren Nähe, die Ast zu Herder einnimmt, wird schon im ersten paradigmatischen Satz aus den ›Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik‹ deutlich, dass sein Ansatz zwar nicht ohne Herders Konzept von der Sprache als Schatzkammer der Ideen zu denken ist, aber auf dem Hintergrund der Schellingschen Philosophie ganz andere Folgen für das Verhältnis von Literatur und Philologie zeitigt. »Sprache ist Ausdruck und Offenbarung des Geistes, sowohl in seinem äusseren (objektiven), als in seinem inneren (subjektiven) Leben.«85 Signifikant deutlich wird in diesem ersten Satz bereits der Unterschied zu Herder. Geht Herder von einem kaum mehr rekonstruierbaren und nicht monokausal fixierbaren Ursprung der Sprache aus, so nimmt er eine hermeneutische Position ein, die unhintergehbar an die historisch gewachsene Diversität von Sprache als Ideenkammer verschiedener Völker und Nationen gebunden ist, und deren Ziel es ist, eben jene Differenzen herauszuarbeiten und erst in den Differenzen schöpferisches Potential ausmacht. Ast hingegen spricht vom Geist nur im präsentischen Singular. Asts Position soll hier nicht im Hinblick auf eine gegenwärtig wünschenswerte Theorie literarischer Hermeneutik analysiert werden, wie Szondi dies tut. Vielmehr stellt sich die Frage, welche Konsequenz eine Hermeneutik des Geistes86 für das Verhältnis von Literatur und Philologie um 1800 nach sich zieht. Wird bei Herder historisches Verstehen nur möglich über die Bewusstwerdung der historischen Sprachgenese und deren darstellerischen Nachvollzug in den sogenannten Originalwerken, so vermag Ast durch den einheitsstiftenden Geist-Begriff die historische Differenz wieder aufzuheben und in der Philologie das Verfahren zu sehen, den Geist von seiner historischen Last zu befreien. Alles Verstehen und Auffassen nicht nur einer fremden Welt, sondern überhaupt eines Anderen ist schlechthin nicht unmöglich ohne die ursprüngliche Einheit und Gleichheit alles Geistigen und ohne die ursprüngliche Einheit aller Dinge im Geiste. Denn 85 86

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Ast, Grundlinien, S. 1. Patsch (Friedrich August Wolf und Friedrich Ast, S. 91) spricht von einer »Geist-Philologie« und »Geist-Hermeneutik« Asts.

wie kann das Eine auf das andere einwirken, dieses die Einwirkung des anderen in sich aufnehmen, wenn nicht beide verwandt sind, das eine also dem anderen sich zu nähern, sich ihm ähnlich zu bilden oder umgekehrt daselbe sich ähnlich zu bilden vermag? So würden wir weder das Alterthum im Allgemeinen, noch ein Kunstwerk oder eine Schrift verstehen, wenn nicht unser Geist an sich und ursprünglich Eins wäre mit dem Geist des Alterthums, so dass er den ihm nur zeitlich und relativ fremden Geist in sich selbst aufzunehmen vermag. Denn nur das Zeitliche und Aeussere (Erziehung, Bildung, Lage u.s.w.) ist es, was eine Verschiedenheit des Geistes setzt; und wird von dem Zeitlichen und Aeusseren, als in der Beziehung auf den reinen Geist zufälligen Verschiedenheit, abgesehen, so sind sich alle Geister gleich. Und eben dies ist das Ziel der philologischen Bildung, den Geist vom Zeitlichen, Zufälligen und Subjektiven zu reinigen, und ihm diejenige Ursprünglichkeit und Allseitigkeit zu ertheilen, die dem höheren und reinen Menschen nothwendig ist, die Humanität: auf dass er das Wahre, Gute und Schöne in allen, wenn auch noch so fremden, Formen und Darstellungen auffasse, in sein eigenes Wesen es verwandelnd, und so mit dem ursprünglichen, rein menschlichen Geiste, aus dem er durch die Beschränkung seiner Zeit, seiner Bildung, seiner Lage getreten ist, wiederum Eins werde.87

Ist eine ursprüngliche Identität bei Herder der uneinholbare Ausgangspunkt, der nur in der Dichtung der Muttersprache neu begründet werden kann, so ist sie bei Ast Grundvoraussetzung des Verstehens. Philologie ist das Verfahren, die historischen Verwerfungen und Verstellungen eines im Grunde identischen Geistes aufzuklären. Erst ein so herauspräparierter Geist-Begriff, dessen inhaltlichen Kern die Humanitätsidee darstellt, kann als normative Bildungsidee für die Gegenwart fungieren. Ast lässt das historisch Fremde als solches nicht gelten, weil es nur Verkleidung des immer schon Identischen ist.88 Zum mythischen Ort der ursprünglichen Einheit wird bei Ast die orientalische Welt, »weil sie den zeitlichen Gegensatz zwischen der realen und der idealen Bildung noch nicht kannte«,89 sprich noch jene Einheit darstellte, in die sich die griechische Antike und das Christentum aufgespalten habe. Eine derart betriebene philologische Hermeneutik fordert den Verstehensakt als Wiedereinsetzung des antiken in den christlichen Geist und umgekehrt als dialektische Synthese auf höherer Stufe. 87 88 89

Ast, Grundlinien, §70, S. 168f. [meine Hervorhebungen]. Szondi weist auf die Schellingsche Genese des Konzepts aus dessen ›Philosophie der Kunst‹ hin, der hier nicht weiter nachgegangen wird. Vgl. Szondi, Einführung, S. 146f. Ast, Grundlinien, S. 170. Dieser Mythos ist um 1800 natürlich weit verbreitet. Auch und gerade Herder hatte 1774 in ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹ den Orient als Ursprungsland der Menschheit und deren Kultur beschrieben, die dann über Ägypten nach Griechenland bis in unsere Zeit führte und Winkkelmanns Verurteilung der ägyptischen Kulturleistung zurückgewiesen: »Der Ägypter ohne Morgendländischen Kindesunterricht wäre nicht Ägypter, der Grieche ohne Ägyptischen Schulfleiß nicht Grieche; eben ihr Haß zeigt Entwickelung, Fortgang, Stufen der Leiter!« HSW, Bd. V, S. 475–586; S. 489 (erster Abschnitt). Das Standardwerk zum Thema Orientalismus liegt nun vor. Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin – New York 2005.

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Die beiden Pole der Geschichte sind die griechische und die christliche Welt, die aber beide aus Einem Mittelpuncte, dem Orientalismus, hervorgetreten sind, und, vermöge ihrer ursprünglichen Einheit, in unserer Welt nach Wiedervereinigung streben.90

Eine solche Rückkehr auf höherer Stufe des Geistes zu sich selbst aber hat das Interesse an historischer Erkenntnis schon verloren, die sich immer nur als ein Relatives zum Absoluten verhält. Und so löst sich der hermeneutische Zirkel als stets neu auszuhandelndes Verhältnis von Teil zum Ganzen immer schon in der »a-priorischen Identität von Einzelnem und Ganzen«91 im Geist-Begriff auf. Konkret bedeutet das für Ast, dass sich in jedem Werk der Antike immer schon der Geist realisiert habe und daher materialisiert vorliege. »Durch jeden besonderen Dichter und Schriftsteller des Alterthums geht uns die Idee und der Geist des gesammten Alterthums auf.«92 Das Ganze aber ist dann nicht, wie in Herders genetischem Modell, in ständiger Bewegung, sich beständig fortschaffend und wandelnd, sondern identitätsphilosophisch fixiert. Der hermeneutische Zirkel ist keine sich wechselseitig konstituierende Bewegung mehr, sondern schon die erste Einzelheit erregt die Idee des Ganzen als bereits in den Texten vorliegend.93 Nur so kann die Philologie als »ein wahrhaftes Reproduciren oder Nachbilden des schon Gebildeten«94 konzipiert werden und zum maßgebenden Instrument eines Bildungsprozesses werden. Ihr allein wird die Fähigkeit zugesprochen, die Vereinigung des historisch sich immer weiter entzweienden und von sich selbst entfremdenden, aber letztlich identischen Geistes als »harmonische In-eins-Bildung des äusseren [...] und inneren [...] Lebens«95 zu leisten. So wie bei den Alten Philologie alles das in sich fasste, was zur allgemeinen Bildung und eigentlichen Veredlung des Menschen führt, als 1) die freie Künste und Wissenschschaften, 2) Bildung der Sprache und des Vortrags, 3) historische Kenntniss oder Gelehrsamkeit: so kann Philologie auch für uns nur das Studium der zur allgemeinen Bildung des Menschen notwendigen Künste und Wissenschaften seyn.96

Um diese Stelle aber konkurriert um 1800 eine weitere Bewerberin: die Dichtung in den Entwürfen einer neuen Mythologie der Frühromantiker, Hölderlins

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Ast, Grundlinien, S. 170f. Szondi, Einführung, S. 150. Ast, Grundlinien, S. 182. Vgl. Szondi, Einführung, S. 151. Bei Ast lautet die Stelle: »Nicht nur das Ganze eines Werkes, sondern auch die besonderen Theile, ja einzelne Stellen können folglich nur so verstanden werden, dass man mit der ersten Besonderheit auch den Geist und die Idee des Ganzen ahndend erfasst;« Ast, Grundlinien, S. 188; siehe auch S. 191f.: »Jedes Einzelne also deutet den Geist an, weil es aus ihm geflossen ist und mit ihm erfüllt ist.« Vgl. auch Patsch, Friedrich August Wolf und Friedrich Ast, S. 95. Ast, Grundlinien, S. 187. Ebd., S. 188. Ast, Grundriss der Philologie, S. 22f.

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Versuchen einer poetischen Synthese von Antike und Christentum, und schließlich Goethes Verfahren einer Poeto-Philologie.

6. Fragment und kollektive Autorschaft – Friedrich August Wolfs ›Prolegomena ad Homerum‹ Mit hartherzger Kritik hast du den Dichter entleibet, Aber unsterblich durch dich lebt das verjüngte Gedicht. Goethe 97

Herder hatte in seinen frühen ästhetischen Schriften eine hermeneutische Figur entworfen, die versucht, nicht nur den Hiatus zwischen Gegenwart und Geschichte, sondern im selben Zug auch das schwierige Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem, etwa für Sprache – Sprachen, Volk – Völker, Poesie – Nationalliteraturen, beschreibbar zu machen. 1795 erscheinen Wolfs ›Prolegomena ad Homerum‹ und man kann in der Tat sagen, dass »nahezu alle bedeutenden Literaturgrößen jener Tage von dem Ereignis ›Prolegomena‹ berührt waren«.98 Zur Erklärung der »explosive[n] und schockhafte[n] Wirkung«,99 die das kleine auf Latein publizierte Bändchen nach sich zog, reicht die Zusammenfassung der These, es gebe keinen für ›Ilias‹ und ›Odyssee‹ allein verantwortlichen Autor Homer wohl kaum aus, zumal sie als These nicht einmal neu war. Wolfs Leistung bestand vor allem in der systematisch-induktiven Synthese bereits kursierender Hypothesen.100 Neben der schon hervorgehobenen Implementierung

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Johann Wolfgang Goethe/Friedrich Schiller, Distichen aus der Sammelhandschrift »Der Wolfische Homer«. In: MA 4.1, S. 715. Wohlleben, Friedrich August Wolfs, S. 154. Siehe auch den ausgezeichneten Aufsatz von Stefan Matuschek, Homer als ›unentbehrliches Kunstwort‹. Von Wolfs ›Prolegomena ad Homerum‹ zur ›Neuen Mythologie‹. In: Dieter Burdorf/Wolfgang Schweickard (Hg.), Die schöne Verwirrung der Phantasie. Antike Mythologie in Literatur und Kunst um 1800, Tübingen 1998, S. 15–28. Eine materialreiche Rezeptionsgeschichte, die bei gleichzeitiger Anerkennung der Leistungen Wolfs antritt, diesen zu widerlegen, findet sich bei: Richard Volkmann, Geschichte und Kritik der Wolfschen Prolegomena zu Homer. Ein Beitrag zur Geschichte der homerischen Frage, Leipzig 1874. Eine aktuellere umfassende Bibliographie zu Wolf findet sich bei Reinhard Markner/ Giuseppe Veltri (Hg.), Friedrich August Wolf. Studien, Dokumente, Bibliographie, Stuttgart 1999, S. 102–144. So Gerhard Kurz, Die Homerische Frage und die Literaturtheorie um 1800. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. von Manfred Landfester u.a. Bd. 14: Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte. Fr–Ky, Stuttgart 2000, Sp. 512–516; Sp. 512. Vgl. Georg Finsler, Homer in der Neuzeit. Von Dante bis Goethe, Leipzig – Berlin 1912, S. 464: »Das Aufsehen, das die Prolegomena machten war ungeheuer. Es waren da so sehr die vielen während der letzten Jahrzehnte laut gewordene Gedanken über die Entstehung des Epos in einer scheinbar streng wissenschaftlichen Form

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einer philologischen Methode zur »kritisch-historischen Auslegung«101 des Textes, die die Konjekturalkritik auf ein neues Niveau hob und – dezidiert Grammatiker und Philologen voneinander abgrenzend102 – damit die Philologie als Einzeldisziplin fester im entstehenden System Wissenschaft verankerte, besteht die grundlegende Wende bei Wolf in der Entlastung von der Autorfrage für den philologisch-hermeneutischen Diskurs bzw. in ihrer Übertragung auf die Thematisierung medientheoretischer Implikationen des Übergangs von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Wolf nimmt hier entscheidende Anregungen aus der historisch-kritischen Bibelauslegung auf. Schon in den 1760er Jahren hatte J. S. Semler, Professor für Theologie in Halle, wo Wolf 1783 seine Professur antrat, die These vertreten, »that the Old and New Testament were not, as Lutheran orthodoxy claimed, a coherent body of eternally valid propositions, but rather two congeries of books written by very different authors and aimed at very different audiences.«103 Der entscheidende Anstoß aber scheint von Johann Gottfried Eichhorns ›Einleitung ins Alte Testament‹ (1780–83) ausgegangen zu sein. Grafton geht soweit zu sagen, »that Eichhorn’s work was the model for Wolf’s Homeric Einleitung«.104 In der Tat überträgt Wolf Ansatz und Methode aus dem Bereich theologischer Bibelkritik auf die Kritik poetischer Texte. Für viele stellte die Destruktion des ›göttlichen Homer‹ indes eine ähnlich ketzerische Tat

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zusammengefaßt, daß die Absetzung Homers als eines dichterischen Individuums als ein fast unausweichlicher Schluß erschien.« Eine gute Übersicht der Diskussion bietet: Joachim Latacz, Homerische Frage. In: Der Neue Pauly, Sp. 501–516. Dort auch die Hinweise, dass sowohl die Debatte um die Autorschaft Homers als auch die mediengeschichtliche Fragestellung nach dem Schriftbesitz Homers bereits eine antike Diskussion war. Eine auf das Wesentliche reduzierte Übersicht bietet auch die Einleitung zur englischen Übersetzung der Prolegomena. Vgl. F. A. Wolf, Prolegomena to Homer. Translated with an Introduction and Notes by Anthony Grafton, Glenn W. Most, and James E. G. Zetzel, Princeton 1985, S. 3–36. Wolf, Prolegomena, S. 70. Wolf wird, wie ein überfleißiger Schüler, nicht müde zu betonen, wie ertragreich sein intensives Studium der ›Grammatiker‹ gewesen sei, so dass der Leser seiner Beteuerung »Prahlerei mit meinem Fleiß liegt mir ganz fern« (ebd., S. 77) nicht recht glauben mag. Bei aller Wertschätzung antiker wie humanistischer Philologen, so spricht Wolf doch stets im Brustton der Überlegenheit seiner zur Wissenschaft erhobenen Philologie. Vgl. vor allem Kapitel 6, ebd., S. 75ff. Wolf betont in den ersten Kapiteln seiner Schrift immer wieder die Neuheit seines Verfahrens. Vgl. etwa ebd., S. 66. Anthony Grafton, ›Man muß aus der Gegenwart heraufsteigen‹. History, Tradition, and Traditions of Historical Thought in F. A. Wolf. In: Hans Erich Bödecker u.a. (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986, S. 416–429; S. 419. Zur Frühgeschichte der historisch-kritischen Theologie siehe den auch Grafton informierenden Gottfried Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther, Göttingen 1961. Grafton, ›Man muß aus der Gegenwart heraufsteigen‹, S. 422. Siehe dort im Folgenden auch die Diskussion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden.

dar wie die Infragestellung der unmittelbaren göttlichen Genese der biblischen Schriften. Eichhorns Arbeit bedeutet in ihrer Historisierung auch eine Relativierung der in ihnen mitgeteilten Religions- und Wertvorstellungen.105 Für die Dichtung der Goethe-Zeit leistet Wolf aber auch legitimierende Vorarbeit. Wenn die religiösen und poetischen Egodokumente der abendländischen Tradition keinen einzelnen (göttlich-inspirierten) Autor mehr haben und an sie folglich die Kategorie der Autorintention nicht mehr herangetragen werden kann, dann verschieben sich damit auch die Wertungen für andere ›Kollektivstimmen‹. Eine Populärkultur mit dem Prädikat »Ursprünglich-Poetisch« geadelt kann nun als Naturpoesie scheinbar gegen eine Kunstpoesie, d.i. die durch Autorensubjekte verfasste Dichtung, ausgespielt werden. Der gesamte Volksliteraturdiskurs, wenngleich Wolf darüber nicht spricht, ist auf einen Schlag qua philologischer Legitimierung aus der antiken Literaturgeschichte dem Bereich des Trivialen entrissen. Bevor Rezeption und Auswirkung dieser Wende in der programmatischen Volkslieddebatte anlässlich der Veröffentlichung von ›Des Knaben Wunderhorn‹ dargestellt werden, soll hier zunächst das Wolfsche Argument näher vorgestellt sein.106 Es wird sich zeigen, dass die an Homer aufgezeigten Konsequenzen sich so einfach nicht auf das in der Forschung so beliebte Oppositionsschema von Naturpoesie vs. Kunstpoesie bringen lassen. Wolf startet seine Schrift als kritische Durchsicht der Homer-Philologie seit der Antike.107 Es handelt sich dabei aber keineswegs nur um einen Literaturbericht. Die Durchmusterung der philologischen Tradition ist zugleich eine Durchsicht durch den Homer-Text selbst, der eben als Dokument nur in und durch philologische Bearbeitungen vorliegt, da ein Urtext nicht greifbar ist. Daher steht eine Übersicht zu den Homer-Handschriften und -ausgaben konsequenterweise am Beginn der Schrift. Wenn der deutsche Übersetzer Hermann 105

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Diese Parallele erkannte Goethe sofort, wie in einem Gespräch mit Böttiger aus dem Frühjahr 1795 deutlich wird: »Den meisten Beifall hat sich Wolf von den neuern Theologen zu versprechen, die kein geringes Triumphlied darüber anstimmen werden, daß nun auch dieser heidnische Moses entthront ist.« FA Bd. 31: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Teil I vom 24. Juni 1794 bis zum 31. Dezember 1799. Hg. von Volker C. Dörr und Norbert Oellers, Frankfurt/M. 1999, S. 78. Leider wird in neueren Forschungsbeiträgen meist nur auf die Rezeption der Großthese Wolfs abgehoben, dabei gerät der eigentliche Text oft kaum in den Blick. Das mag daran liegen, dass die deutsche Übersetzung von Muchau offensichtlich wenig bekannt ist, zumindest wird sie selten herangezogen. Dies ist überhaupt ein wichtiges Moment in der disziplinären Selbstvergewisserung des Faches. Auch Heeren bringt 1797 eine breit angelegte Geschichte der Philologie heraus. Vgl. Arnold Hermann Ludwig Heeren, Philologie. Geschichte des Studiums der Griechen und Römer. 4. Abt. der Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des 18. Jahrhunderts von einer Gesellschaft gelehrter Männer ausgearbeitet. Bd. 1, Göttingen 1797.

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Muchau ein Verzeichnis wissenschaftlichen Konventionen gemäß an das Ende des Buches stellt und so die ›Prolegomena‹ auch sichtbar als mit Noten, Quellen- und Literaturverzeichnis ausgestattetes wissenschaftliches Werk präsentiert, dann erkennt er dennoch deren systematische Funktion für das Verstehen des Kommenden. Das Verzeichnis ist Wolf nämlich nicht allein nachträglich eingereichtes Hilfsmittel und Beweis wissenschaftlicher Redlichkeit, wenngleich dies eine wichtige Rolle spielt, sondern geradezu Bedingung für den Zugang zum Argument. Muchau schreibt in einer Fußnote zum Titel: »Die für das Verständnis dieser Schrift wichtige Übersicht über die Homer-Handschriften usw. finden sich am Ende des Buches.«108 Gilt dem wissenschaftlich verfahrenden Philologen der Quellenbeweis durch Handschriften mehr als die divinatorische Gabe und das stilistisches Gespür für den Duktus des Textes,109 so macht die Literaturübersicht bereits klar, dass der Fall Homer den Philologen hier vor kaum lösbare Schwierigkeiten stellt. Wolf aber relativiert die Problematik mit dem Hinweis, auch von anderen antiken Schriftstellern seien nur Handschriften jüngeren Datums, etwa aus dem Mittelalter, bekannt. Weniger das Alter der Handschrift als vielmehr die Reputation des jeweiligen Herausgebers und Textkritikers sei maßgebend für die Autorität eines Textes. Wolf hält gleich zu Beginn fest, »daß es unmöglich sei, Homers Dichtwerk nach diesen Quellen wieder auf den wahren und unverfälschten Text, wie er ursprünglich aus seinem göttlichen Munde geflossen ist, zu bringen«.110 Nachdem er lange und umständlich seine Vorarbeiten erläutert und praktische Ergebnisse seiner Textarbeit beispielhaft aufgelistet hat, kommt er im elften Kapitel zum Kern der Sache. Er betont, dass seine These von der kollektiven Autorschaft wohl neu sei,111 verweist aber sowohl im Haupttext als auch in der Fußnote auf Robert Woods 1769 erschienene Abhandlung ›An Essay

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Wolf, Prolegomena, S. 59. Wolf (ebd., S. 79f.) weist ästhetische Gesichtspunkte bei der Textkritik strikt zurück und wendet sich damit gegen eine popularisierende Herausgeberschaft, wie sie Herder mit der Volksliedsammlung und später Arnim und Brentano mit der WunderhornSammlung praktiziert und programmatisch favorisiert haben. Seine Methode sei »weit verschieden von jener Leichtigkeit, welche sich dazu verleiten läßt, jede geschmackvolle und dem Sinne nach passende Lesart, die sich gerade darbietet, auch für richtig und ursprünglich zu halten. Denn oft kommt man bei einer strengeren Beurteilung, die sich auf eine vergleichende Betrachtung der älteren Handschriften stützt, gerade zu dem Ergebnis, daß diejenigen Lesarten allen Anspruch auf Richtigkeit haben, welchen die meisten Anstöße anhaften, während andre unsicher sind und keine Glaubwürdigkeit besitzen, welche sich durch einen überaus annehmbaren und bestechenden Sinn auszeichnen.« Ebd., S. 63. Was sein Lehrer Johann Gottlob Heyne in seiner Rezension in den ›Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen‹ (Nr. 186 (1795), S. 1857–1864) ihm auch vorwirft und damit indirekt unterstellt, Wolf habe seinen Plan ausgeführt, ohne ihn daran zu beteiligen.

on the Original Genius of Homer‹, 1773 von Michaelis ins Deutsche übersetzt, die die zentrale Frage nach dem Schriftbesitz Homers wieder zu stellen gewagt habe.112 Wolf trägt das Argument gestrafft vor: Aber wenn nun die Vermutung einiger Gelehrten sich als annehmbar erweist, daß die Homerischen und die übrigen Epen jenes Zeitalters in keiner Weise schriftlich aufgezeichnet, sondern zuerst von Dichtern im Gedächtnis ausgearbeitet und im Gesange vorgetragen sind, darauf aber von Rhapsoden, welche sich der Erlernung derselben mit einer besondern Kunst beschäftigten, durch den Vortrag unter das Volk gebracht wurden, wobei viele Stellen in diesen Gesängen, bevor sie durch schriftliche Aufzeichnung im Wortlaut festgelegt wurden, teils absichtlich, teils zufällig eine Änderung erfahren mußten; wenn infolgedessen die Homerischen Epen, sobald man mit der Niederschrift derselben begann, bereits viele Abweichungen voneinander aufwiesen, und bald darauf sich noch neue einstellten infolge des leichtsinnigen Vorgehens und der haltlosen Vermutungen derjenigen Abschreiber, welche den Text eifrigst zu vervollkommnen und entsprechend den besten Gesetzen der Dichtkunst und nach ihrem eignen Sprachgebrauch zu verbessern trachteten, wenn wir schließlich diesen ganzen zusammenhängenden Text und die Liederreihe zweier in sich geschlossener Gedichte nicht eigentlich dem Dichtergenie des Mannes, dem wir sie gewöhnlich zuschreiben, sondern vielmehr der Kunstfertigkeit eines gebildeteren Zeitalters und den vereinten Bemühungen vieler verdanken, und wenn es sich mit glaubhaften Vernunftgründen und Beweisen wahrscheinlich machen läßt, daß die einzelnen Gesänge, aus denen Ilias und Odysee zusammengefügt sind, nicht alle ein und denselben Verfasser haben […] was wird es dann heißen, diese Dichtungen in dem alten Glanze und in ihrer ursprünglichen Form wiederherzustellen?113

Schon in der Präsentation seines Argumentes führt Wolf mit den Begriffen ›Wahrscheinlichkeit‹, ›Vernunftgründe‹ und ›Beweis‹ ein wissenschaftstheoretisches Legitimationsvokabular ein. Er verwirft den Traditionsbegriff, der gegen das »strenge Gesetz der Geschichtsforschung« ausgespielt wird. Tradition, das ist das unhinterfragte, kritisch nicht reflektierte, mit einem Autornamen versehene

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1775 erschien eine von Wood erweiterte Ausgabe unter dem Titel ›An Essay on the Original Genius an Writings of Homer. With an Comparative View of the Ancient and Present State of the Troade‹. 1778 bringt Michaelis auch eine Übersetzung dieser erweiterten Ausgabe heraus. Wood, wie auch Abbé d’Aubignac in ›Conjectures académiques ou Dissertation sur l’Illaide‹ (1664/1715) und Thomas Blackwell in ›Enquiry into the Life and Writings of Homer‹ (1735), die ebenfalls als wichtige Vorbereiter der Wolfschen These gelten können, gehen aber noch wie selbstverständlich von einem historischen Dichtergenie aus. Zu einer Übersicht über die von Wolf aufgenommene und von da an in der Klassischen Philologie immer wieder heftig diskutierte ›Homerische Frage‹ siehe den Forschungsbericht von Alfred Heubeck, Die homerische Frage. Ein Bericht über die Forschungen der letzten Jahrzehnte, Darmstadt 21988, sowie zum aktuelleren Stand der Forschung Tilmann Krischer, Friedrich August Wolfs ›Prolegomena ad Homerum‹ und die neuere Homerforschung. In: Poetica 28 (1996), S. 171–180. Zu d’Aubignac, Blackwell und Wood in Bezug auf Wolf siehe Fuhrmann, Friedrich August Wolf, S. 206–216. Wolf, Prolegomena, S. 92f.

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Ergebnis literarischer Aneignungspraxis. Eine solche Praxis kann der Wissenschaft aber nicht als »gesicherte Wahrheit« gelten.114 Die Homerischen Epen sind für Wolf Resultat eines jahrhundertelangen, heterogenen Überlieferungs- und Aneignungsprozesses, an dem Sänger, Aufschreiber, Abschreiber und antike Philologen mitgearbeitet haben.115 Die Autorinstanz Homer wird zwar als erster Dichter noch genannt, fungiert aber eigentlich nur als begründungslogischer Namensindex, den Wolf in der Folge auch weiterhin wie selbstverständlich nutzt. Zugleich erscheint die Philologie als Textkritik aus dem Werk ›Homer‹ erwachsen. Die Genese von Philologie und Dichtung wird durch einen reziproken Wechselerweis erklärt: Als ›Werke‹ entstehen Dichtungen – mit Blick auf den archetypischen Gegenstand ›Homer‹ vielleicht die Dichtung überhaupt – durch die ordnende und sammelnde Arbeit der Philologen bzw. der Diaskeuasten. Erst die Sammlung und Zusammenstellung aber ermöglicht die vergleichende Textkritik als eigentliches Kerngeschäft des Philologen.116 Wissenschaft aus Dichtung – Dichtung aus Wissenschaft, das ist der Chiasmus, auf den bei Wolf das Verhältnis von Poesie und Philologie in der Antike gebracht werden kann. Die Editionsverfahren der antiken Dichter-Philologen, von denen Rudolf Pfeiffer spricht, werden dabei von Wolf strikt von denen der Kritiker getrennt. Anders als Pfeiffer aber macht Wolf bereits ein systematisches Argument, wenn er weniger auf die Person als auf die funktionale Bestimmung der Art und Weise der Textarbeit schaut. Er unterscheidet nicht den Dichter-Philologen vom Kritiker, sondern vielmehr die kritische Philologie von einer poeto-philologischen Editionspraxis. Dem Philetas von Kos etwa gesteht Wolf sowohl den Titel des Dichters wie des Grammatikers zu.117 Entscheidend ist für ihn die Trennung der Funktionen. In Philetas Bemühen, seinen »Freunden ein neues Homer-Exemplar herzustellen«, konnte der ›Dichter-Philolog‹ – belassen wir es bei dem Terminus, um begriffliche Verrenkungen zu vermeiden – sich bei unterschiedlichen Textvarianten vorliegender Handschriften, aufgrund einer fehlenden kritischen Methode, nur auf »sein eignes künstlerisches Urteil« verlassen. Im Bestreben eine »echt Homerische Sprache zu geben, setzten vielleicht manche ihr ganzes Können ein […] indem sie oft viele Verse fortließen und anderswo eine glänzende Darstellung, wo eine solche fehlte, hinzufügten«.118 Wolf kann an dieser Stelle einen Seitenhieb auf die populäre poeto-philologische Editionspraxis, wie 114 115

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Alle ebd., S. 94. Vgl. unten den gänzlich anders gelagerten Traditionsbegriff Achim von Arnims. Insbesondere die Komposition der einzelnen Gesänge erscheint Wolf als Produkt philologischer Autorschaft: »Denn nicht plötzlich und zufällig ist die Herstellung vor sich gegangen, sondern es haben sich zur Lösung dieser Aufgabe die Studien vieler Gelehrten und vieler Zeiten vereinigt.« Ebd., S. 154. Vgl. ebd., S. 178ff. Vgl. ebd., S. 148. Alle ebd., S. 179.

sie bei Herder, später bei Arnim, Brentano und Tieck entwickelt und praktiziert wird, nicht unterdrücken: Recht weit waren jene noch von dem ersten Bestreben entfernt, welches sich ängstlich davor hütet, etwas anderes als ein von dem Autor selbst geschriebenes Wort in den Text zu setzen; entgehen doch auch heute noch die Herausgeber, die über eine geniale Erfindungskraft verfügen, dieser Klippe nicht. Kurz, diese ganze Kunst hat mehr von der ästhetischen Beurteilung, wie man heute sagt, als der kritischen ihren Ausgang genommen, oder aber mehr von der dichterischen als von der handschriftlichen Textverbesserung.119

Hier wird einmal mehr deutlich, dass Wolfs Homer-Schrift keineswegs nur ein Beitrag zu einer fachwissenschaftlichen Einzelfrage ist, sondern die Beantwortung der Homerischen Frage zur Etablierung eines fachwissenschaftlichen Ethos nutzt, der einen wissenschaftlichen von einem ästhetischen Zugriff auf Texte funktional strikt trennt.120 In der ›Erklärung der Oden des Horaz‹ von 1801 heißt es lapidar zum methodischen Vorgehen: »Der Aesthetik bedarf man weniger«.121 Die ›Prolegomena‹ sind gleichzeitig methodische Abhandlung, Literaturgeschichte der Homerischen Epen, Mediengeschichte, Disziplinengeschichte der Philologie und Diskussionsbeitrag im Streit um den angemessenen Umgang mit der literarischen Tradition. Die These von der kollektiven Autorschaft lässt den Text für Wolf zum Signum einer ganzen Epoche, eines Zeitalters werden. Die unterschiedlichen Textschichten, die es wieder freizulegen gilt, sind Sedimente einer Geschichte der klassischen Welt. Nicht aufgrund der Genialität eines Autorgenies Homer, das Wolf ihm durchaus zugesteht,122 kann dem Epos ein Totalitätsanspruch zugewiesen werden, sondern wegen seiner Genese aus kollektiver Autorschaft. ›Ilias‹ und ›Odyssee‹ sind gleichsam erste und authentischste Enzyklopädien der Antike.123 Von allen gelehrten Verstellungen befreit wird die »Ursprünglichkeit« und

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Ebd., S. 180 [Meine Hervorhebung, mb]. Hier ist die eigentliche Opposition zu suchen. Grafton (Polyhistor into Philolog, S. 176–184) kritisiert zu Recht eine allzu strikte Trennung zwischen vorgeblich textgebundener und holistischer Ansätze innerhalb der Philologie. Seine Fokussierung auf die wissenschaftsgeschichtlichen Aspekte macht ihn aber blind für den sich seit Herder eigentlich auftuenden Antagonismus zwischen Poesie und Fachphilologie. Friedrich August Wolf, Erklärung der Oden des Horaz: Ode I.4., In: Erklärung zweier Oden des Horaz von Friedrich August Wolf. Als Beilage zu dem Programm des Grossh. Lyceums zu Wertheim, hg. mit Vorerinnerungen von Johann Gottlieb Erdmann Föhlisch, Wertheim 1849, S. 33–43, S. 38. Wolf (Prolegomena, S. 145) erscheint »der Entwurf einer so umfangreichen und so mannigfach mit Episoden durchflochtenen epischen Dichtung dem Standpunkte Homers und seiner dichterischen Anlage – wie ich behaupte – für unangemessen.« Dass Homer der Vater aller Wissenschaften sei und sein Werk gleichsam ein Lexikon antiker Wissenschaften darstelle, ist bereits ein antiker Topos.

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»Naturwüchsigkeit« deutlich, die eben keine Kunst, sondern Natur sei und nicht »aus einer in Büchern aufgezeichneten Formel einer gelehrten Wissenschaft«124 entstanden sei. Wolfs Argument beruht dabei weitgehend auf Annahmen zur Medialität der Poesie. Wo Schrift als Verbreitungs- und Aufzeichnungsmedium fehlte, bedurfte es mentaler Erinnerungs- und Aufführungstechniken. Diese Techniken, so Wolf, haben den Text bereits in seiner Frühphase verändert.125 Die Epen konnten in konkreten Aufführungskontexten nur schwerlich in Gänze vorgetragen werden.126 Der gute Rhapsode, der von seiner Kunst leben musste, wird sein Programm den Erfordernissen, d.h. dem jeweiligen Auditorium angepasst haben,127 so dass einzelne Gesänge über die antike Welt verteilt wurden, bis irgendwann, Wolf vermutet bei Peisistratos im sechsten Jahrhundert v.Chr., eine erste Niederschrift und um die Zeit des Aristoteles im dritten Jahrhundert v.Chr. eine zusammenstellende Redaktion erfolgt sein muss. Die Figur des Rhapsoden stand damit im Zentrum der Traditionsvermittlung. In seiner Figur vereinigten sich Dichter und Vermittler von Poesie. Die Dichter haben einerseits, so Wolf, ihre Gesänge aufgrund fehlender Literalität selbst vorgetragen, andererseits waren die Rhapsoden auch oft Dichter und trugen neben fremden Dichtungen auch eigene vor. Eben diese Vermischung von Produktions- und Distributionsinstanz führte zu einer veränderten Autorsemantik, für die die Urheberfrage weitgehend bedeutungslos war. In der folgenden Zeit aber […] haben die Rhapsoden nicht nur fremde Gesänge, sondern auch ihre eignen zum Vortrag gebracht, und fast jeder Rhapsode war zugleich in einer Person auch ein leidlicher Dichter; […] Hieraus hat sich schließlich – wie ich meine – der Tatbestand ergeben, daß so viele Dichtungen jener Zeit später, wenn die Namen der Rhapsoden, von denen sie verfaßt waren, in Vergessenheit gerieten und sie von andern und wieder andern wiederholentlich neu zum Vortrag gebracht wurden, schließlich mit falschem Autornamen und zuguterletzt als ›herrenlos‹ im Volksmunde umgingen.128

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Wolf, Prolegomena, S. 94. Nun ist gerade die orale Tradition auch als besonders beständig beschrieben worden. Die Standardisierung durch Metrum, Strophen, Reime, so das Argument, garantiere eine möglichst identische Weitergabe. Schon in Platons ›Ion‹ freilich wird der Rhapsode auf die Techniken seiner Auslegung hin befragt. Wolf (ebd., S. 135) betont einerseits die Leistungen der Didaskalie, schränkt aber ein, dass »selbst das allerzuverlässigste Gedächtnis […] allmählich weit vom wahrheitsgetreuen Wortlaut« abweicht. »Eine Tatsache ist als sicher allgemein anerkannt, nämlich, daß die beiden Epen Homers nur stückweise und in ganz verschiedener Ordnung abgesungen worden sind.« Ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 135: »Daß sie [die Rhapsoden, mb] nämlich von allen verstanden und mit Wohlgefallen angehört würden, mußte ihre Hauptsorge sein, nicht die, daß sie die Gedichte in der ursprünglichen Form bewahrten, in welcher sie einstmals der Dichter erschaffen hatte.« Ebd., S. 130f.

Erst in der Alexandrinischen Epoche, der ersten Epoche ausgeprägter Schriftlichkeit und vor allem der Indexierung des literarischen Bestandes, sei die Frage nach der Autorschaft von »herrenlosen Versen« von Bedeutung gewesen.129 ›Homer‹ ist daher nicht mehr als der Katalogindex für eine »vielgestaltige und daher so unklare Überlieferung«.130 Wie historisch exakt Wolfs Rekonstruktion ist, braucht hier nicht weiter zu interessieren. Heute scheint sich in der Forschung eine Wolf teils widersprechende, teils bestätigende Tendenz abzuzeichnen, nach der ein »das Handwerkliche weit überragender Einzelsänger Homeros in Ausnutzung der seit ca. 800 v. Chr. verfügbaren Möglichkeiten der Stoffstrukturierung durch Schriftanwendung um 700 v. Chr. eine […] thematisch und strukturell einheitliche, individuell geformte und geprägte Gestaltung(en) von Ausschnitten aus dem beliebten alten Sagenstoff der Troia-Geschichte« verfasst hat, die aber »bis zur abgeschlossenen Textualisierung der griech. Kultur im fünften Jahrhundert v. Chr. mündlich durch Rhapsoden weiterverbreitet«131 wurden.

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Charakteristischerweise parallelisiert auch Wolf (ebd., S. 187f.) den Aufstieg der Philologie als Verwalterin des literarischen Erbes mit dem Niedergang der antiken Gegenwartsdichtung. »Von ihm [Zenodot, mb] bis zur Apion rechne ich die dritte Periode dieser Geschichte der Homer-Kritik, in der endlich, dank der Verdienste der Kritiker und Grammatiker, die wie Pilze in Alexandrien und Pergamum aus der Erde wuchsen, eine beständigere Form des Textes eingeführt worden ist. Jetzt war in vielen Beziehungen das Aussehen der griechischen Wissenschaften, wie auch das der Staaten umgewandelt. An Stelle der Marktgerichte, der Rednerbühnen, Theater und Staatsaufführungen sah man Museen und Bibliotheken, anstatt dichterischer Genies, reich an eigener Schöpferkraft, eine ängstliche und nur an schwache Anläufe sich heranwagende Nachahmung, anstatt des lebendiges Hauches der Poesie und Beredsamkeit nüchterne, oft frostige Gelehrsamkeit und eine über alle Gebiete der Wissenschaft sich ergießende Lesewut […] statt der großartigen, auf dem Boden der Natur erwachsenen Blüte alle Künste, Kränzlein, gewunden aus überall zusammengepflückten Blumen.« Ebd., S. 136. Das scheint ein kontinuierliches Moment von Autorschaft zu sein. »Die Position des Autors ist eine ungewisse, und so taucht seine Figur auch in den Anfangszeiten der Weltliteratur nicht auf. Aber auch dort, wo dann Namen im Schnittfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gebräuchlich vorzukommen beginnen, geht es zunächst mehr um eine materialbezogene (Zu-)Ordnungsfunktion des ›Machers‹ (gr. poietés) als um ein genuines Interesse an biographischer und produktiver Repräsentanz gegenüber dem Werk.« Erich Kleinschmidt, Autor und Autorschaft im Diskurs. In: Thomas Bein/Rüdiger Nutt-Kofoth/Bodo Plachta (Hg.), Autor – Autorisation – Authentizität, Tübingen 2004, S. 5–16; S. 5. Auch für die Mediävistik sieht Thomas Bein (Autor – Autorisation – Authentizität. Mediävistische Anmerkungen zur Begrifflichkeit. In: Bein/Nutt-Kofoth/Plachta (Hg.), Autor, S. 17–24; S. 19) »den Autor als biographisch greifbare Größe« nicht. Hauptsächlich habe man es mit der »Form der Fremdsignatur, das heißt, daß Handschriftensammler und Schreiber, in einem sekundären Sammelprozeß Texte mit Namen versehen«, zu tun. Latacz, Homerische Frage, Sp. 509.

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Wichtiger aber als etwa die mnemotechnischen Implikationen ihrer Schriftlosigkeit (metrische Gestalt, Metaphorizität etc.) wiegt für die Griechen des Homerischen Zeitalters die kulturelle Bedeutung der Gesänge als von den Göttern gestiftete Theogonien. Selbst wenn Schriftgebrauch bereits vereinzelt eingeführt war, erscheint es Wolf unwahrscheinlich, dass diese Grundmythen unmittelbar in Schrift überführt worden seien. Abgesehen von den nicht ausgereiften Trägermedien, die eine Aufzeichnung nur sehr mühsam und kostspielig zuließen, erfahren die Gesänge mit dem Wechsel in das Medium Schrift einen grundlegenden Funktionswandel. »Die Gesänge aber, welche sie dichten, haben sie in langer Übung sich gewöhnt mündlich vorzutragen und anzuhören, so daß der Versuch, die in Gesang und Vortrag lebenden Gedanken in stumme Zeichen zu bannen, nach dem Sinne jenes Zeitalters nichts anderes bedeutet haben würde, als sie zu vernichten und ihnen Lebenskraft und Odem zu rauben.«132 Die kulturelle Funktion der Epen und ihrer Vorträger wird von Wolf auf die mündliche Tradition beschränkt.133 Nur als gesprochene Sprache kommt der Poesie energetische Kraft zu. Die Metapher vom lebendigen Wort und dem toten Buchstaben wird hier in die Antike zurück verlängert. Eine Aufzeichnung durch Schrift überführt den nun als Text vorliegenden Gesang aus den Kontexten mythischreligiösen Gebrauchs in Werke der Literatur, genauer der Literaturgeschichte. Jetzt erst werden die Fassungen vergleichbar und entsprechend bearbeitbar. Die Figur kann auch umgedreht werden. Die sukzessive Einführung der Schrift, die Entwicklung in Philosophie und Wissenschaft hat das in den Gesängen überlieferte Wissen fragwürdig erscheinen lassen, es entmythologisiert. Waren die Epen in ihrer religiösen Funktion überflüssig geworden,134 so erfreuten sie sich weiterhin ästhetischer Wertschätzung. Das phonetische Alphabet erlaubte eine Fixierung des Wortlautes und nichts sprach mehr dagegen, es zu tun. ›Kraft‹ und ›Odem‹ als der mündlichen Dichtung inhärente Energien konnten von der unmittelbaren Aufführungssituation in dem Moment abgekoppelt werden, wo Schrift in der Lage war, die Lautlichkeit der mündlichen Tradition darzustellen. Steht zunächst die Schrift in Griechenland noch ganz »im Dienst des gesprochenen Wortes«,135 so sind die Homerischen Epen in ihrer schriftlichen Form Werke simulierter Mündlichkeit. Damit beginnt ein umfassender, zweiter Transformationsprozess sowohl des Textes, seiner kulturellen Funktion als auch der Litera132 133

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Wolf, Prolegomena, S. 106. Daher hatten, wie Wolf schreibt, die Rhapsoden »von Staats wegen wie im Privatleben das höchste Ansehen. […] immer galten sie als Lieblinge der Götter und waren ein Gegenstand der Verehrung für die Menschen« (ebd., S. 131). So ja das Argument Schlaffers. Øivind Andersen, Mündlichkeit und Schriftlichkeit im frühen Griechentum. In: Antike und Abendland (33) 1987, S. 29–44; S. 33 und Wolfgang Rösler, Mündlichkeit und Schriftlichkeit im archaischen Griechenland – bei Friedrich August Wolf und aus heutiger Sicht. In: Ebert/Zimmermann (Hg.), Innere und äußere Integration, S. 55–63.

tur insgesamt. Mit Verbreitung und Etablierung von Schrift werden etwa poetische Ausdrucksmittel, die einst der Erinnerungshilfe dienten, überflüssig. Eine neue Art des literarischen Ausdrucks wurde ermöglicht: die Prosa. Wolf situiert nun die Homerischen Epen bereits im Übergang zwischen Poesie und Prosa.136 Die Homerische Ausdrucksweise zeigt sich »von der barbarischen Tonart gar weit entfernt […], welche im Kindheitsalter der Völker durch einen ›Regenschauer von Tropen und Wortbildern‹ angegeben wird«.137 Als Schaltstelle der nicht mehr nur Poesie und noch nicht ganz zur Prosa gewordenen Dichtung vermag der Homerische Text zugleich traditionell und modern zu sein. Traditionell sind die Epen in ihrer gänzlichen Unkenntnis von Schrift und ihrer Herkunft aus einer mündlich vermittelten Kultur, »keine Quelle der Erzählung alter Tatsachen außer dem Gedächtnis, der Sage und schriftlosen Denkmälern«.138 Modern sind die Epen in ihrer Stillage, die »in ihrem gleichmäßigen und keuschen Stil gewissermaßen schon prophetisch auf die demnächst nachfolgende prosaische Redeform hinweist«.139 Die Problematisierung dieses Spannungsverhältnisses von Mündlichkeit mit ihren Attributen der Lebendigkeit, Dynamik, Kraft, Natürlichkeit, Ursprünglichkeit zur fixierenden, den Geist tötenden Schrift als Medium, auf das die Dichtung nun angewiesen ist, durchzieht die abendländische Tradition bis weit in das 19. Jahrhundert hinein. Interessanterweise weitet Wolf denn seinen ›griechischen‹ Befund auch auf andere zentrale Traditionen mündlicher Poesie aus, etwa der germanischen Sagen, der arabischen und hebräischen Literatur.140 Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang vor allem sein Verweis auf die orientalische Poesie. Wie die Homerischen Epen sei auch diese ursprünglich »mündlich fortgepflanzt« worden, bevor sie dann in »Liedersammlungen (Diwan genannt)«141 zusammengefasst und redigiert worden seien. Die in der Goethe-Zeit maßgeblich verhandelten Ursprünge der Dichtung (Griechen, Araber, Hebräer) werden von Wolf zwar nicht ihrer Ursprünglichkeit beraubt, aber als Produkte kollektiver Autorschaft behandelt, die ihre Erscheinungsgestalt einer philologischen und damit schriftlichen Überlieferungsgeschichte verdanken.142 Wolf geht sogar noch einen Schritt weiter. Wurde die

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Zu dieser Zwittereigenschaft siehe auch Uvo Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München 1988. Wolf, Prolegomena, S. 115. Ebd., S. 125. Ebd., S. 115. Dies zeigt, dass Wolf keineswegs die »Völker des Orients« vollkommen ausschließt, wie man mit einem verengten Blick auf die ›Darstellung der Alterthums-Wissenschaft‹ behaupten könnte. So aber Peter L. Schmidt, Friedrich August Wolf, S. 69. Wolf, Prolegomena, S. 167. Dazu siehe auch unten das Kapitel V.14. zu Goethes ›Divan‹, Seite 292ff. Andersen (Mündlichkeit und Schriftlichkeit, S. 44) spricht von der »Usurpation des gesprochenen Wortes durch die Schrift« als Programm der Prosa.

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Autorschaft Homers durch den Nachweis kollektiver Autorschaft der Rhapsoden bereits dekonstruiert, so überträgt er gegen Ende der Schrift die Kategorie Autorschaft auf den Herausgeber Aristarch, der seiner Meinung nach verantwortlich für den vorliegenden Vulgärtext ist.143 Da man nicht mehr hinter diesen Text zurückgehen könne, einen unverstellten ›Homer‹, der ja bereits ein Konstrukt der rhapsodischen Zusammenstellungen sei, nicht mehr zurückgewinnen könne, rückt der kompilierende Herausgeber in den Status des Autors ein. Die philologische Ermächtigung über den Text habe »seine Autorschaft«,144 wie Wolf nun offen sagt, hervorgebracht. Zu unterscheiden wären demnach zwei Formen von Autorschaft. Zum einen gibt es für Wolf die Produzenten der Homerischen Verse. Diesen Dichtern aber verweigert Wolf den Status ›Autor‹. Von Autorschaft lässt sich für Wolf erst dann wirklich reden, wenn ein Werk, nicht nur einzelne Verspassagen vorliegen. Das Werk ist konstitutiv für Autorschaft, nicht umkehrt. Deshalb sind die philologischen Bearbeiter der Epen, die diese zu einem Werk ›Homer‹, ganz materiell gedacht, zusammengebunden haben, Autoren. Wenn die Rede von Autorschaft bei ›Homer‹ in Anschlag zu bringen ist, dann auf dieser Ebene philologischer Ermächtigung. Fassen wir noch einmal zusammen: Die Homerischen Epen sind erstens, nicht das Produkt eines einzelnen Dichters, sondern Ergebnis einer kollektiven Arbeit von Rhapsoden, die einzelne Gesänge umgewandelt bzw. weitergedichtet haben. Zweitens, die uns vorliegende Textfassung ist das Ergebnis vielfältiger Aufzeichnungs- und Emendationsprozesse der oralen Tradition, deren abschließende Rezension durch Aristarch erfolgte. Gilt uns dieser Text, die Vulgärausgabe, als der ›ursprüngliche‹ Homer, kann Aristarch als der Autor dieses Textes gelten. Autorschaft wird nicht über kreative Schaffenspotentiale, sondern philologische Ermächtigung definiert, die erst den Text und dann ein Werk konstituiert hat. Es mag darin vielleicht die größte Provokation für die durch den Sturm-und-Drang Pathos geprägten Genie-Autoren bestanden haben. Die mündliche Tradition, die Naturpoesie, der man sich doch gegen allen französischen Klassizismus wieder zuwenden wollte, kennt das Konzept der genialen Autorschaft nicht. Darüber hinaus erscheint diese orale Tradition immer schon durch den Spiegel der Schrift gebrochen und vermittelt. Wir haben, so Wolf, keinen Zugang mehr zu diesen Traditionen – außer in der Schrift. Wo diese Tradition erhalten bleiben soll, bedarf sie der philologischen Autorschaft. Je größer aber der akkumulierte Textbestand ist, desto größer werden die Möglichkeiten des Vergleichs und damit der Konjekturalkritik. Der exponentielle Anstieg von Vergleichsoptionen aber vervielfacht auch die Möglichkeiten der deutenden Bezugnahmen. Es entstehen Textvarianten, die je ihre Gründe für 143 144

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»Unser Vulgärtext ist nichts andres, als die Rezension des Aristarch.« Wolf, Prolegomena, S. 211. Ebd., S. 212.

oder gegen sich anführen können, ohne dass Eindeutigkeit sich einfindet. Grund dieser Uneindeutigkeit ist die Abwesenheit jeglicher Rückversicherungsinstanzen: des Urhebers, der Rhapsoden und im Übergang von mündlicher zur schriftlicher Kultur, eines schriftlichen Originals. Die Abwesenheit des Autors wirft, wo er nicht in unmittelbarer Rede gestellt werden kann, immer Deutungsfragen auf, die, solange man den Autor dennoch zur Bezugsgröße seiner Auslegung macht, unentscheidbar sind.145 Die Hermeneutik um 1800 wird bei genereller Infragestellung der intentionalen Zuverlässigkeit der Rede diese Unentscheidbarkeit auch bei Anwesenheit des Autors in Anschlag bringen. Die Auskunft des Dichters, wie genau er dieses oder jenes gemeint habe, und was er damit bezwecken wolle, geht schon in der Formel vom ›Besserverstehen des Autors als dieser sich selbst‹ in Belanglosigkeit über. Mit dem Akt der Niederlegung in Schrift ist der Text vom Autor interpretatorisch freigegeben. Ein solches Verhältnis aber wird man für die Antike noch nicht behaupten wollen. Im medialen Umbruch besteht die Verunsicherung zunächst in der Abwesenheit des Produzenten, der für sein Werk nicht sprechen kann. Die Abwesenheit des Autors steht am Beginn der Hermeneutik. »Nur im Text also konnte es Stellen geben, die schwierig oder mehrdeutig waren, und keinen Mensch mehr, der zu sagen vermochte, was er damit gemeint hatte.«146 Schriftlichkeit zeigt sich als der Geburtsort von Dichtung als Werk, philologischer Kritik und Hermeneutik. Anders formuliert: Der Homerische Text ist bei Wolf Ort der Genese dieser Trias. Für die Beantwortung der hermeneutischen Frage konnten die antiken Kritiker noch keine Regeln finden und die Hermeneutik findet daher in der antiken Philologie, trotz des offensichtlichen Bedarfs, keinen Ort. Das Problem aber wird bereits in der antiken Debatte um die Frage einer möglichen textimmanenten Exegese Homer ex Homerum diskutiert. Letztlich, und dies markiert dann auch den Unterschied, bleibt diese Debatte aber eine Diskussion zur Textkritik. Deutungsfragen sind

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Dies wird als eines der Hauptprobleme in der hermeneuticae sacrae erkannt, wie Johann Jacob Rambach in seiner ›Erläuterung über seine eigenen Institutiones Hermeneuticae sacrae‹, 1738 in Gießen von Ernst Friedrich Neubauer herausgegeben, sagt: »Difficultas hujus negotii kommt meistensteils her ex defectu vivae vocis«. Zitiert nach: Hans Georg Gadamer/Gottfried Boehm (Hg.), Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1976, S. 62–68; S. 64. Glenn W. Most, Rhetorik und Hermeneutik: Zur Konstitution von Neuzeitlichkeit. In: Antike und Abendland 30 (1984), S. 62–79; S. 71. Mosts These, auf die hier Bezug genommen wird, geht vom »Musterfall« der Schriftlichkeit der Hermeneutik aus, die gegen die mündliche Rhetorik abgesetzt wird. Mosts These ist hier von Interesse, da er sehr schön beschreibt, wie das um 1800 ja bekannte und als »Niedergang der Rhetorik« umstritten diskutierte Phänomen eine Zuspitzung eines Problems ist, das bereits ganz am Beginn der Literaturgeschichte und Geschichtsschreibung in der Antike zu erkennen ist.

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nur insofern von Relevanz, als sie bei der Entscheidung zugunsten bestimmter Emendationen hilfreich erscheinen.147 Die Erstellung des Textes als Werk bedeutet zugleich das Ende einer als kontinuierlich empfundenen mündlichen Tradition. Die schriftliche Überlieferung impliziert den Abstand zwischen der Vergangenheit des Textes (als genitivus objectivus wie subjectivus gedacht) und der Gegenwärtigkeit des Lesers. Die chorizontisch-diaskeuastische Tätigkeit wird damit zugleich zum Anzeichen eines historischen Bruches, einer klaren Konturierung der Differenz von Vergangenheit und Gegenwart. Ohne dass Wolf dies intentional zu unterstellen wäre, spricht er damit doch Folgenreiches aus. Wir werden sehen, wie sehr Goethe etwa bei der Herausgabe seiner Ausgabe letzter Hand, der Ordnung seines literarischen Nachlasses als Literaturarchiv, seine Autorschaft nur durch seine Herausgeberschaft gesichert sah, die sogar testamentarisch durch Eckermann verlängert wird. Kumulieren wird das Phantasma als Herausgeber Anspruch auf die Autorschaft zu erheben, dann 1841 in Carl Lachmanns Versuch, die Rechte an Lessings Werken sich juristisch zu sichern.148 So wäre Heinrich Bosses These zu pointieren: Autorschaft ist nicht nur Werkherrschaft, sondern Werkherrschaft setzt Autorschaft ins Recht.149 Verliert die Dichtung als lebendiger Klangkörper unter der Transformation ins Medium der Schrift ihre Dynamik, so bedarf der (schriftlich oder gedruckt überlieferte) poetische Text einer neuen Kraft, die ihn mit ›kulturellem Kapitel‹ versieht. In der Goethe-Zeit wird das Medienproblem verstärkt als Gattungs- und Formdiskussion zwischen Poesie und Prosa,150 respektive Lyrik und Roman ver-

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Eine Aussage, die auch im 20. Jahrhundert offensichtlich noch Akzeptanz findet: »Der durch Handschriftenkritik festgelegte Text verlangt fast stets danach, in scharfer Prüfung verbessert zu werden. Diese emendatio (Ausmerzung von Überlieferungsfehlern) muß sorgfältig vorbereitet sein, wenn sie dem ›Original‹ näher kommen soll. Das heißt aber: Der Sprachgebrauch des Autors muß bis in Feinheiten des Stiles so aufgenommen sein, daß mit seiner Hilfe der aus den Handschriften erarbeitete Text die Aussage bis in den rhythmischen Ablauf vermitteln kann. Doch verlangt schon einfache Verbesserung des Textes vom Herausgeber nicht selten ein gewisses Maß an ›Divination‹«. Friedrich Neumann, Studien zur Geschichte der deutschen Philologie. Aus der Sicht eines alten Germanisten, Berlin 1971, S. 17f. Vgl. dazu Wolf Kittler, Literatur, Edition und Reprographie. In: DVjs 64 (1991), S. 205–235; S. 214f. Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft, Paderborn – München – Wien 1981. Hier sehr schön dargestellt, wie Konzepte der Autorschaft und die Entstehung des Copyrights sich in Bezug aufeinander entwickeln. Es wäre zu überlegen, ob die poststrukturalistische Verabschiedung des Werkbegriffs nicht ein wenig voreilig war. Es zeigt sich, dass der Begriff im Zentrum einer Debatte steht, ohne die Begriffe wie ›Text‹, ›Textualität‹, ›Autorschaft‹ und ihre modernen Problematisierungen kaum verstehbar sind. Dazu unten Seite 329ff. mehr.

handelt, wenn Poesie der Mündlichkeit und Prosa der Schriftlichkeit zugeordnet wird. Für das erkannte hermeneutische Problem tritt die Paulinische Opposition von Geist und Buchstabe ein. Wolf braucht den Geist-Begriff, um aus seinem argumentativen Dilemma – dem »Trieb nach Erforschung der geschichtlichen Wahrheit in offenem Konflikt mit den Bedürfnissen unbedingten normativen Wertens«151 – zu entkommen. Hatte er über Kapitel hinweg die Geschichte der philologischen Degenerierung des Textes beschrieben, so stellt sich der Leser die Frage, wieso ›Homer‹ noch immer die Faszination ausübt, die ihn zum beständigen Lebensbegleiter eines Werthers und zum Ideal epischer Poesie werden ließ. Wolf erkennt das Dilemma und antwortet: »Die Homerischen Epen sind nicht so verbildet und verunstaltet, daß sie im einzelnen ein ihrer alten ursprünglichen Form unähnliches Gepräge zeigen [Genau dies hatte er aber doch gerade demonstriert, mb]. Im Gegenteil paßt in ihnen fast alles auf ein und denselben Geist, der darin waltet.«152 Der Geist und nicht die buchstäbliche Erscheinungsform ist ursprünglich und immer noch auffindbar. Diese Einsicht verleitet Wolf, der mit der Schrift doch die strenge historische Kritik als Methodik der Philologie etablieren wollte, zu der erstaunlichen Aussage, dass ihn »nach und nach ein Widerwille gegen das zwecklose Spiel mit Konjekturen«153 beschleiche. Hier liegt der Wendepunkt, an dem Wolf in die historisch-kritische Philologie die hermeneutische Frage nach dem Geist implementiert. Der Geist-Begriff ermöglichte die Beibehaltung des Einheitspostulats trotz faktischer Fragmentierung des Textes.154 Wolf erkennt selbst das Dilemma der Unvereinbarkeit seiner philologischen Analysen mit

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Fuhrmann, Friedrich August Wolf, S. 206f. Fuhrmann (ebd., S. 225) spricht gar von »Antinomie«. Wolf, Prolegomena, S. 213. Ebd., S. 214. Wenn der ›Geist‹ bei Wolf zunächst als Ausweichbegriff erscheint, so nimmt er doch eine wichtige funktionale Stellung ein. Die Verlegenheit, in die sich Wolf durch seine eigene Stringenz gebracht hat, ist kein Problem, »das sein genialer Geist nicht zu bewältigen vermochte«, wie Fuhrmann (Friedrich August Wolf, S. 224) meint, sondern eben jene noch offene Systemstelle, die sich zwischen wissenschaftlicher Philologie und Hermeneutik aufgetan hatte, und für die ›Geist‹ der Versuch einer Lösung war. Grafton (›Man muß aus der Gegenwart heraufsteigen‹, S. 422) hingegen meint, Wolf gebe den Einheitsbegriff völlig auf. Gerade hier wird die Bedeutung Eichhorns deutlich. Auch er hatte trotz seiner philologischen Einsicht am Einheitspostulat für Bibel und Homer festgehalten, muss diese aber auf anderer Ebene festmachen. Vgl. Johann Gottfried Eichhorn, Einleitung ins Alte Testament. 3 Bde., Leipzig 1780–83. Hier Bd. 1, 1780, S. 55–59. Wegmann (Was heißt einen ›klassischen Text‹ lesen?, S. 370) stellt fest: »Wolf hat in seiner textkritischen Arbeit die eigene bildungsphilosophisch fundierte Einheitskonzeption selbst unterlaufen«. Es zeigt sich, dass dieser Konflikt auch den ›Prolegomena‹ und nicht nur in der ›Enzyklopädie‹ evident ist.

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der ästhetischen Erfahrung bei der Lektüre der Epen.155 Das Ausweichmanöver auf den Geist aber eröffnet ein zweites, ungleich komplexeres Problem, das bei Wolf unbeantwortet bleibt. Wolf präsentierte zwei Möglichkeiten des Zugangs zur Vergangenheit des Textes. 1. Die philologisch-kritische Arbeit stellt sicher, dass man auf einen Text zurückkommen kann und dieser als formale Einheit erscheint. 2. Der Geist stellt sicher, dass man auf einen Text zurückkommen kann und garantiert dessen ästethische Einheit. Beide Thesen stehen im Konflikt miteinander. Wo Wolf eine methodische Antwort schuldig bleibt, gibt seine philologische Praxis Auskunft. Obwohl Wolf mit dem Geist-Begriff auf etwas dem Text Vorausgehendes zielt, erscheint das Medium der Schrift, der Buchstabe ihm nicht defizitär. Im Gegenteil, der unstete Geist wird durch den Text lakonisiert. Erst wo das Medium Geist in die Form des Textes tritt, wird er ›sichtbar‹ und erst, wo der Geist dem Buchstaben die Form gibt, wird die Schrift zur Literatur. Für Wolf ist es die philologische Durchmusterung des Textes, die diesen Prozess nicht nur einfach nachvollzieht, sondern durch ihren rekursiven Anschluss erst konstituiert. Die philologische Lektüre ist das Substrat, das den verflüssigten Geist im Text verfestigt, er sich – und hier passt die Metapher – herauskristallisiert. Wie dieser Geist aber diskursiv widerzuschreiben wäre, davon weiß Wolf nichts. Dies wird das Projekt Friedrich Schlegels werden. Wenngleich Wolf selbst einer philosophischen Hermeneutik Zeit seines Lebens stets ablehnend gegenüberstand, so hat Schleiermacher doch die von Wolf nolens volens vollzogene Wende erkannt und in seinem Bezug auf Wolf im Titel seiner Hermeneutik gewürdigt. Mit Blick auf die ›Prolegomena‹ kann keine Rede mehr davon sein, dass bei Wolf »Harmonie herrscht zwischen Autor, Werk und Interpreten, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Buchstabe und Geist«, wie Patsch meint.156 Wolfs »bewußt und ausschließlich praktische[r] Ansatz«157 der philologischen Durchmusterung des Textes und seiner Geschichte führte ihn, vielleicht ungewollt, zu einem Punkt, an dem die Behauptung der Aufklärungshermeneutik einer Harmonie von Ausdruck und Sinn kaum mehr aufrechterhalten werden konnte. Der Geist erscheint bei Wolf noch als Versuch der Restituierung dieser Harmonie. Wolfs Text erhält auch darum seine brisante Rezeptionsgeschichte, weil er an dem für die Antikenrezeption maßgeblichen Text die Implikationen der Spannung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Textkritik und Hermeneutik aus-

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Diesen Befund bestätigt Jutta Osinski (Homer-Bilder im 19. Jahrhundert. In: Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart 2002, S. 202–219; S. 203). Entscheidend aber ist, dass Wolf sich durchaus dieser Differenz bewusst war und nach einem Ausweg gesucht hat, für den er auf den Geist-Begriff rekrutiert. Patsch, Friedrich August Wolf und Friedrich Ast, S. 88. Ebd., S. 86.

buchstabiert. ›Homer‹ eignet sich als Archetext dieses Diskurses der GoetheZeit, weil die an ihm diagnostizierten Spannungen und Brüche denen so ähnlich sind, die die Autoren der Moderne für ihre Gegenwart ausmachen. Wer über Homer um 1800 schreibt, der schreibt sich, auch unter Beteuerung striktester Historizität, in einen Gegenwartsdiskurs über Aufgabe und Wert der Literatur ein. Exakt als einen Beitrag zu dieser Diskussion haben Herder, Goethe, Schiller, Humboldt und Schlegel ihn gelesen. Ihre jeweiligen Reaktionen auf Wolfs Schrift sind dabei Dokumente der Positionierung ihrer eigenen poetologischen und hermeneutischen Programme.

7. Philologie und Hermeneutik als Kritik – Friedrich Schlegel Auf die Schwierigkeiten aus den Exzerpten Schlegels ›Zur Philologie‹ eine kohärente Theorie der Philologie herauszulesen, ist verschiedentlich hingewiesen worden.158 Auch hier soll ein solch allzu optimistischer Versuch, »den ›Begriff der Philologie‹ so zu rekonstruieren, wie Schlegel ihn beabsichtigt hatte«,159 nicht unternommen werden. Vielmehr wird in den publizierten philologischen Schriften zur antiken Literatur, den Kritiken sowie den veröffentlichten Fragmenten einem philologischen Lektüre- und Verstehensmodell nachgespürt, das mit einzelnen Fragmenten und Notizen aus dem Nachlass sich gut ergänzt.160 Der große fragmentarische Korpus des Schlegelschen Werkes aber wird ebenso Zitate bereithalten, die der hier vorgeschlagenen Lesart entgegenstehen, wie, beiseite gesprochen, sie womöglich Belege für jede Lesart bereithielten. Bevor 1798 der erste Band seiner ›Geschichte der Poesie der Griechen und Römer‹ erschien, eigentlich als der zweite Band der 1797 bei Michaelis erschienenen Schrift ›Die Griechen und Römer‹ gedacht, hatte Friedrich Schlegel seit 1794 bereits einige Vorstudien zum Thema veröffentlicht. Der Aufsatz ›Über das Studium der Griechischen Poesie‹, wohl bereits Ende 1795 fertig gestellt, aber erst 1797 als Kernstück von ›Die Griechen und Römer‹ publiziert und der 1796 in der Zeitschrift ›Deutschland‹ erschienene Aufsatz ›Über die Homerische Poesie‹ als Dokumente seiner intensiven Bemühungen um eine Charakteristik der 158 159

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Vgl. Wegmann, Was heißt einen ›klassischen Text‹ lesen?, S. 374. So Vittori Sanoli, Philologie, Geschichte und Philosophie im Denken Friedrich Schlegels. [1930] Aus dem Italienischen übers. von K.-Richard Bausch. In: ders., Philologie und Kritik. Forschungen und Aufsätze, Bern – München 1971, S. 82–101; S. 83. Gelegentlich sollte man sich an eine Warnung Franz Norbert Mennemeiers (Friedrich Schlegels Poesiebegriff dargestellt anhand der literaturkritischen Schriften. Die romantische Konzeption einer objektiven Poesie, München 1971, S. 18) erinnern: »Diese [die unveröffentlichten Fragmente, mb] sollte man gegebenenfalls als erläuternden Kommentar zu den Hauptschriften lesen, nicht aber sollte man umgekehrt diese Hauptschriften als Kommentar zu den privaten Nachlaß-Notizen benutzen«.

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griechischen Poesie fallen also exakt in die Umbruchsphase die Wolfs ›Prolegomena‹ in den Altertumswissenschaften ausgelöst hatten.161 Seit Hans Robert Jauß’ Arbeiten zum Studium-Aufsatz162 und Ernst Behlers Kommentar zu der historisch-kritischen Edition der Studien zum Klassischen Altertums ist bekannt, dass Schlegels Auseinandersetzung mit der Literaturgeschichte der Alten keineswegs eine eindeutige Positionierung in der Querelles des anciens et des modernes ermöglicht. Vielmehr lassen sich aus diesen Studien Momente seiner Ästhetik der Moderne, der frühromantischen Ästhetik entwickeln. Bei Schlegel lässt sich studieren, wie seine philologische Arbeit zu einem neuen ästhetischen Konzept führt. Behler sieht dabei den eigentlichen Einfluss Wolfs in »seiner geschichtlichen Sehweise von der Entstehung, Entfaltung und Vervollkommnung der epischen Gattung«,163 also in der konsequenten Umstellung auf Historizität als philologische Zugangsweise. Über die Rekonstruktion der griechischen Literaturgeschichte durch Schlegel soll die Bedeutung der Wolfschen Schrift für Schlegels epische Theorie als Theorie des kommunikativen Anschlusses von Texten an Texte sichtbar werden und Behlers Einschätzung überprüft werden. Mit seiner Theorie literarischer Traditionsbildung markiert Schlegel einen zentralen Punkt in der Debatte um das Verhältnis von Oralität und Schriftlichkeit, der Tradierung und Transformation literarischer Formen und der Möglichkeit von Poesie unter den Bedingungen der Prosa, der Paulinisch-hermeneutischen Frage nach dem Verhältnis von Geist und Buchstabe sowie dem Verhältnis von Antike und Moderne.164 Schlegels Neuausrichtung von Philologie und Kritik diskutiert her-

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Zu Schlegels Verhältnis mit Wolf siehe Siegfried Reiter, F. A. Wolf und Fr. Schlegel. Mit einem ungedruckten Brief. In: Euphorion 23 (1921), S. 226–233. Schlegel hatte Wolf Ende 1796, also bereits lange nach Fertigstellung des ›Studium‹-Aufsatzes und der Abhandlung ›Über die Homerische Poesie‹, in Halle besucht. Der bei Reiter abgedruckte Brief Wolfs zeugt von einer Achtung vor der Kühnheit – Wolf nennt die Schrift durchaus positiv ›anzüglich‹ (ebd., S. 230) – des Schlegelschen Stils, zugleich aber auch von einer Skepsis gegenüber Schlegels Periodisierungsversuchen. Vgl. Hans Robert Jauß, Fr. Schlegels und Fr. Schillers Replik auf die Querelle des Anciens et des Modernes. In: Europäische Aufklärung – Herbert Diekmann zum 60. Geburtstag, hg. von H. Friedrich und F. Schalk, München 1967, S. 117–140. Wiederabgedruckt in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 1970, S. 67–106. Ernst Behler, Einleitung. Zu den einzelnen Beiträgen. In: Kritische-Friedrich-SchlegelAusgabe. Hg. von Ernst Behler u.a. Bd. I, Paderborn – München – Wien u.a. 1979, S. CXLI–CLXXXIII; S. CLIV. Von hier an mit der Sigle ›KSA‹ und der jeweiligen Bandangabe zitiert. Entlang dieser drei Kategorien entwickelt Günter Oesterle den Begriff des Romantischen. Vgl. ders., Arabeske und Roman. Eine poetikgeschichtliche Rekonstruktion von Friedrich Schlegels ›Brief über den Roman‹. In: Dirk Grathoff (Hg.), Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode, Frankfurt/M. – Bern – New York 1985, S. 233–292; S. 258ff.

meneutische Probleme auf eine Weise, die die um 1800 allgegenwärtige Verlustdiagnose der Moderne nicht mehr redupliziert, sondern zu überwinden sucht.

Studien zum klassischen Altertum Blickt man auf die wohl kürzeste Literaturgeschichte der Griechen, wie sie Schlegel in ›Von den Schulen der griechischen Poesie‹ (1794) zusammenfasst, mag eine solche Aussage zunächst überraschen: Der Gang der Griechischen Poesie war also folgender. Sie ging von der Natur aus (Jonische Schule), und gelangte durch Bildung (Dorische Schule) zur Schönheit. Diese stieg von der Erhabenheit zur Vollkommenheit, und sank wieder zum Luxus, und dann zur Eleganz hinab. Nachdem die Schönheit nicht mehr vorhanden war, ward die Kunst zur Künstelei, und verlor sich endlich in Barbarei.165

Schlegel zeichnet hier in knappster Form die bekannte Verfallsgeschichte nach, die mit einer Gattungsgeschichte von Epos, Lyrik und Drama als je vollendete Formen griechischer Poesie zusammengedacht wird, aber in ihrer Tendenz von Natur zur Kunst zugleich auf den Umschlag in »Alexandrinische Gelehrsamkeit und Künstelei«166 zusteuert. Der Eintritt der Gelehrsamkeit in die Poesie, die gegen Bildung ausgespielt wird, und auf dem Hintergrund der erläuterten Begriffsgeschichte mit der Fachphilologie gleichzusetzen ist, bedeutet »das ganz natürliche Ende der Kunst«.167 Es überrascht ein wenig, wenn Schlegel diese abgesunkene Literatur mit denselben Attributen »absichtliche Dunkelheit […] und künstlerische Spielereien« versieht, die später auch dem Romantikerkreis in Jena vorgehalten werden, und darüber hinaus mit dem Postulat einer Kunstautonomie identifiziert: »Kunst war der Zweck der Kunst«.168 Diese Überraschung aber resultiert wohl eher aus dem Eindruck einer poststrukturalistisch geprägten Romantikforschung, die die romantische Ästhetik allein an den Momenten von Selbstreflexivität und Sprachspiel festzumachen und über eine Verlängerung der modernistischen Avantgarden zu den Vordenkern der eigenen Theorie zu machen suchte.169 Hier, wie später im ›Studium-Aufsatz‹, aber zeigt sich

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KSA I, S. 18. KSA I, S. 17. KSA I, S. 16. KSA I, S. 16. Dabei dürfte schon seit Benjamins Romantik-Buch klar sein, dass der Begriff der Selbstreflexion zu einer infiniten Überschreitung, nicht zu einem rekursiven Rückfall in die Grenzen des Werkes führt. Vgl. Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: ders., Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schwepphäuser. Bd. I.1, Frankfurt/M. 1974, S. 7–122; S. 66ff. Bei allen auch fruchtbaren Einblicken, die er zu geben vermochte, dürfte dieser Vorwurf wohl vor allem Paul de Man treffen.

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bereits ein »polemisch-aufklärerischer«170 Zug, den Schlegel erst nach seiner religiösen Wende ab 1802 nach und nach gegen einen katholischen (Sprach-)Mystizismus eintauscht. Schon in der Skizze von 1794 deutet Schlegel eine dezidiert lebensweltlich orientierte Interpretation an, in der die »ästhetische […] Geschichte der Athenischen Poesie durch die Geschichte zu erläutern« wäre, denn beide erklärten »sich gegenseitig«.171 Wenn es eine Konstante in Schlegels Denken gibt, dann ist es wohl diese lebensweltliche Zielrichtung seiner Arbeiten, in denen Literaturgeschichte nie als Selbstzweck erscheint. 1812 schreibt er in der Widmung seiner ›Geschichte der Alten und Neuen Literatur‹ an Fürst Metternich zurückblickend: »Denn mein vorzüglichster Wunsch war es, der großen Kluft, welche immer noch die literarische Welt und das intellektuelle Leben des Menschen von der praktischen Wirklichkeit trennt, entgegenzuwirken«.172 Behlers Einschätzung von F. A. Wolfs Einfluss auf Schlegel kann nun ein erstes Mal hinterfragt werden. Das Bewusstsein einer historischen Durchführung der Literatur- und Textkritik hat dieser keineswegs jenem zu verdanken.173 Herder, vor allem aber Winckelmanns ›Geschichte der Kunst des Altertums‹ hatten einem historisierenden Zugriff, der die Kunst in den Gang der sozio-ökonomischen Gesellschaftsgeschichte einordnet, bereits den Weg geebnet.174 In den Heften ›Zur Philologie‹ heißt es denn auch ausdrücklich, »Wolf und Winckelmann sind meine Stützen«.175 Gerade wenn Schlegel die historische Tendenz in der Abfolge der Schulen für Devianzen und Leerstellen offen hält, zeigt sich sein ausgeprägtes Bewusstsein für das Individuelle vor der Geschichte. Die Bedeutung der Wolfschen ›Prolegomena‹ wird indes bei der sich innerhalb der

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Peter Szondi, Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. In: ders., Poetik und Geschichtsphilosophie I. Studienausgabe der Vorlesungen. Hg. von Jean Bollack u.a. Bd. 1, Frankfurt/M. 1974, S. 11–266, S. 109. Alle KSA I, S. 14. KSA VI, S. 4. Wenngleich er die streng historische Durchführung zu würdigen weiß, wie in einer Notiz aus dem Konvolut ›Zur Philologie‹ aus dem Jahr 1797 deutlich wird: »Wolfs Proleg.[omena] einzig in ihrer Art durch historischen Geist«. KSA XVI, S. 39. Dem wäre eine Briefstelle vom 23. Dezember 1795 entgegenzuhalten: »Aber an Philosophie, an Geschmack, und vielleicht an Kenntniß der ganzen Masse der Griechischen Poesie fehlt es gar sehr.« In: KSA XXIII, S. 267. Szondi (Antike und Moderne, S. 108) betont scharf den »Trennungsstrich« zwischen Herders organizistischem und Schlegels teleologischem Geschichtsbild (vgl. ebd. S. 120). So sehr die Unterschiede zwischen Herder und Schlegel im Einzelnen zutreffen mögen, so wird die folgende Darstellung auch zentrale Gemeinsamkeiten, vor allem im Entwurf einer poeto-philologischen Hermeneutik, aufzeigen. Insbesondere die These einer geschichtsphilosophischen Teleologie bei Schlegel, die mit Hegel gleichgesetzt wird, gilt es gegenüber Szondi zu differenzieren. KSA XVI, S. 52 [Nr. 196].

Griechenstudien Schlegels leicht verschiebenden Charakterisierung des Epischen deutlich. Zur Zeit der Homerischen Epen, der Ionischen Schule,176 gab es, so Schlegel, noch keinen eigentlichen Begriff von Kunst, sondern nur den »Mythus«, aus dem sich erst später »Poesie, Geschichte und Philosophie«177 entwickelten. Mythos steht dabei für die funktionale Identität aller drei Begriffe. Epos, Hymnus und Erzählung seien Medien des Mythos gewesen. Nicht der Mythos sei Gegenstand und Inhalt von Poesie, sondern die Poesie und ihre metrischen Formen dessen »notwendiger Begleiter vor der Bildung der Prosa«178 gewesen. Ganz selbstverständlich scheint Schlegel von einer überwiegend mündlich dominierten Kultur auszugehen, wenn er von den notwendigen »Medien des Gedächtnisses« schreibt. Sowohl das Epos als auch die damit verwandte Erzählung und später die dorische Lyrik sind, unabhängig von der Frage, ob die Werke schriftlich aufgezeichnet geworden sind, Zeugnisse einer noch mündlich dominierten Kultur. Entscheidend für die kulturelle Bedeutung des Epos scheint Schlegel der performative Rahmen der Darbietung durch Rhapsoden und Sänger.179 Der Unterschied Natur – Ideal wird bei Schlegel über die Oppositionen Empfänglichkeit – Selbsttätigkeit des darstellenden Genies gedacht. Schlegel hält hier entschieden am Genie- bzw. Autorbegriff fest. Er schreibt am 18. November 1794 an seinen Bruder August Wilhelm, der im 24. Buch der ›Odyssee‹ eine philologische Konjektur ausgemacht haben will, und weist die These einer kollektiven Autorschaft eindringlich zurück: Ich gebe gern zu daß die Ordnung der Il.[ias] und Odyßee nicht vom Homer herrührt, oder vielmehr daß wir durchaus nicht wißen können, wie willkührlich die Wie-

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Kurze Zeit nach Erscheinen des Aufsatzes in der ›Berlinischen Monatsschrift‹ im November, nimmt Schlegel, wohl auf Anraten des Bruders, eine andere Einteilung vor. Nun stehen das mythische, lyrische und dramatische Zeitalter als Hauptkategorien. Das lyrische Zeitalter wird in eine Dorische und Ionische Schule geteilt, letztere wieder in Ionischen und Aeolischen Stil unterteilt. Vgl. den Brief an August Wilhelm vom 7. Dezember 1794. In: KSA XXIII, S. 220f. und in: Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm. Hg. von Oskar F. Walzel, Berlin 1890, S. 204. Ich gebe für den Briefwechsel im Folgenden auch die Angaben aus Walzels älterer Briefausgabe. Zitiert wird nach KSA. KSA I, S. 6. KSA I, S. 6. So schreibt er am 2. Oktober 1795 an A. W. Schlegel: »Zu den Festen, welche in ganz Hellas späterhin sich verbreiteten und organisirten, war Poesie ein wesentl.[icher] Bestandtheil. Dichtung, Gesang – festliche Freude schien den Griechen das Band, welches Menschen mit den Göttern verknüpft.« KSA XXIII, S. 254f. und Walzel, Briefe, S. 238. Das Epos aber sei eben kein Ausdruck bacchantischer Improvisation, sondern um deren Einheit und Ebenmäßigkeit hervorzubringen, »habe der Geist mehr als einmal in sich selbst zurückkehren« (ebd.) müssen, wofür wohl eine schriftliche Aufzeichnung zur Redaktion Voraussetzung gewesen wäre. Die Passage ist später in die ›Geschichte der Poesie der Griechen und Römer‹ eingegangen. Vgl. KSA I, S. 506.

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derhersteller dieser Ordnung verfahren sind, wenn sie nur wirklich Wiederhersteller waren. Allein das kann ich nicht wahrscheinlich finden, daß jene Gedichte nicht von einem Manne herrühren sollten. Die innere Bestandheit ist so groß, die Einheit des Werks deutet so sehr auf die Einheit des Urhebers, daß ich bey dieser Meinung verbleibe, bis auf die bestimmtesten Beweise vom Gegentheil. […] Es gab eine große Menge solcher Barden, eine große Menge solcher Sagen unter den Griechen. Gut! […] Die Il.[ias] und Od.[yssee] mußte sich doch wunderbar deutlich von andern Liedern unterscheiden, daß ihr Ruhm alle andern so sehr verdrängte […] es ist aber wohl das Werk eines Mannes von großen Fähigkeiten, Erfahrungen und nach Art seiner Zeit, von großen Kenntnißen.180

Im Brief vom 20. Januar 1795 legt Friedrich Schlegel nochmals nach. Die Homerischen Epen seien ganz und gar nicht mit der Hebräischen Poesie und der Bibel zu vergleichen, wie August Wilhelm und Humboldt, der mit F. A. Wolf zur selben Zeit in regem Briefkontakt stand, meinten. Seien diese nur »eine Sammlung von Sagen, Gesetzen, Gebräuchen, Geschichten«, so die Epen eben »ein Werk«.181 Der Werkbegriff wird von Schlegel offensichtlich rein autorbezogen gedacht, die Formulierung »Werk eines Zeitalters«,182 die im Anschluss an Wolf Karriere macht, wird abgewiesen. Ist in dieser frühen Epoche der Poesie das Genie noch nahezu eins mit der Natur und Kultur, aus der es entstammt, so empfängt es deren innere Einheit, die es dann nur aus sich herausschaffen, zur Darstellung bringen muss. Innere Einheit, Vollkommenheit und Harmonie der Epen sind für Schlegel auch keine hinreichenden Gründe, um »die Ordnung der Iliade für neuer und unächt zu erklären, wenn man es nicht aus äußern [Gründen, mb] dartut«.183 Je selbsttätiger nun das natürliche Genie aus sich herausschafft, je mehr verliert es die Bindung an die Natur und umgekehrt. Nur in dieser Lösung vom Naturhaften vermag sich das Genie dem Ideal der Kunst anzunähern.184 Schlegel ordnet der Dorischen Schule in der griechischen Literaturgeschichte diese Mittelstellung zu, in der das Verhältnis von Natur und Ideal, von »Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit auch in einer Art von Gleichgewicht« ist. »Das Prinzip der Darstellung liegt in der Mitte zwischen Natur und Ideal.«185 Die Abschiedsgeschichte vom natürlichen Weltverhältnis im mythisch-epischen Zeitalter mit seiner undifferenzierten Einheit des Mythos und des Epos bzw. der Erzählung birgt also auch eine Option für eine Fortschrittsgeschichte, die sich dann im attischen Drama, dessen Darstellung »ganz ideal«186 war, realisiert habe. Schlegel, und hier hat

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KSA KSA KSA KSA Hier KSA KSA

XXIII, S. 215 und Walzel, Briefe, S. 197. XXIII, S. 225 und Walzel, Briefe, S. 210. XXIII, S. 225 und Walzel, Briefe, S. 210. I, S. 6. Genau dies wird Wolf ein Jahr später tun. befindet sich Schlegel ganz nah bei Schiller. I, 11. I, 12.

Szondi Recht,187 teilt nicht jenen elegischen Ton der Trauer eines verlorenen goldenen Zeitalters, weil er in dessen Verabschiedung die Möglichkeit einer Poesie der Zukunft erkannt hatte. Schlegel zeigt sich also zunächst von der Kritik an der unechten äußeren Ordnung der Homerischen Epen unbeeindruckt. Wenn er die Autorschaft Homers über den Werkbegriff verteidigte, so zeigt sich aber vor allem nach der Lektüre der ›Prolegomena‹, dass nun der Autorbegriff nicht mehr konstitutiv für den Werkbegriff sein musste. Werke entstehen durch eine verbindende Kraft, die Teile zu einer inneren Einheit zusammenschließt. Der für das Schlegelsche Projekt zentrale Begriff der ›inneren Einheit‹ wird bereits 1793 entworfen und nicht wieder aufgeben. Im Mai 1793 schreibt Friedrich Schlegel an seinen Bruder: Es giebt nur zwey Gesetze für die Dichtkunst. Eines derselben ist – das Mannichfaltige muß zu innerer Einheit nothwendig verknüpft seyn. Zu Einem muß alles hinwirken, und aus diesem Einem, jedes Andren Daseyn, Stelle und Bedeutung folgen. Das, wo alle Theile sich vereinigen, was das Ganze belebt und zusammenhält, das Herz des Gedichtes liegt oft tief verborgen. […] Die Theile müssen in das grössere Ganze sanft verschweben, wie Wellen des Stromes. Daß eine Reihe von Gemälden gleicher Größe, in ähnliche Rahmen eingesetzt, ein Ganzes bilden können, kann ich nicht glauben.188

Nicht die äußere, gleichartige Rahmung, zu der auch Verseinteilung und Metrum gehören, vermag ein Werk zu konstituieren, sondern ein zu entwickelnder innerer Nexus, der die Teile zu einem Ganzen zusammenzufügen vermag. Die Innerlichkeit des Nexus ist dabei ein Effekt des Textvollzuges von außen. Sie ist ein Punkt, von dem aus ein synthetisierender Zugriff auf die je gegebene Mannigfaltigkeit des Textes sich ermöglicht. Ein Punkt, der zugleich innen, aber auch außen als dem unmittelbaren Zugriff entzogen gedacht wird. Schlegel synonymisiert daher Einheit mit Herz, Seele, Geist, Gott: »Was wir in Werken, Handlungen, und Kunstwerken Seele heißen (im Gedicht nenne ichs gern Herz) im Menschen Geist und sittliche Würde, in der Schöpfung Gott«.189 Als »lebendigster Zusammenhang«190 muss die Einheit stets aufs Neue wieder vollzogen werden, sie ist ein regulatives Ideal: »Einheit, das nothwendige obschon nie erreichbare

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Vgl. Szondi, Antike und Moderne, S. 107f. Zugleich aber gilt in Erinnerung an die Ausführungen zu Herder festzuhalten, dass dieser Zukunftsgedanke, wenngleich nicht in ähnlicher Emphase, auch dort anzutreffen war und der Vorwurf des »naiven Historismus Herders« (ebd., S. 133) diesem kaum gerecht wird. Der Streit um das Goldene Zeitalter, das Verhältnis von Natur- und Kunstpoesie wird noch einmal grundsätzlich und schärfer zwischen Jacob Grimm, dem ein solcher Historismus vorzuhalten wäre, und Achim von Arnim diskutiert. Dazu siehe unten. KSA XXIII, S. 97 und Walzel, Briefe, S. 86f. Walzel datiert den Brief auf den 8. Mai 1793, Behler auf Ende Mai 1793. KSA XXIII, S. 129 und Walzel, Briefe, S. 111. KSA XXIII, S. 129 und Walzel, Briefe, S. 111.

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Ziel«.191 Wenn Schlegel später vom Gleichgewicht von Natur und Ideal spricht, dann zeigt sich hier bereits der Grund. Beide, Natur und Ideal, es wären Kunst und Bildung zu ergänzen, gehen eine freie Verbindung ein: »Er vereinigt die frische Kraft der noch ungezähmten Natur, und die Geselligkeit, Reizbarkeit, den Überfluß, die Spiellust der Bildung.«192 Als stets neu auszuhandelndes Verhältnis zeigt sich die innere Einheit, der Geist, eben nicht in einer reduktionistischen Festlegung eines monolithischen Sinns, sondern in der Produktivität einer Vielseitigkeit des Anschlusses, dass »der Geist des Systems, der etwas ganz anderes ist als ein System, allein zur Vielseitigkeit führt – welches paradox scheinen kann, aber sehr unläugbar ist.«193 Der Geist ist nicht identisch mit dem System. Geist ist die Bewegung, die den Begriff der Einheit, der dem System zugrunde liegt, erst ermöglicht. Einheit wird so zum Postulat, das dem Text unterstellt werden muss, auch wenn der Grund für die Einheit zunächst nicht benannt werden kann. »Der Romeo ist Einheit, aber ich habe sie noch nicht erforschen können.«194 Genau darin besteht die Aufgabe der Kritik. Dazu später. Nachdem Schlegel im Sommer 1795 die ›Prolegomena‹ gelesen hatte,195 sah er sich veranlasst, seine Studien zur Griechischen Poesie zu überdenken und stellte sich die Frage, inwiefern Wolfs Thesen Auswirkungen auf diese zeitigten. Wurde bei Wolf schon das Dilemma deutlich, wie dessen philologische Dekonstruktion des gesamten Homerischen Textes und die dennoch empfundene große Einheit vereinbar seien, so gibt auch Schlegel zu, sich den Homerischen Epen »mit Rücksicht auf die Wolfischen Untersuchungen«, so der Untertitel des 1796 erscheinenden Aufsatzes ›Über die Homerische Poesie‹, »nicht ohne einige Verlegenheit« zu nähern. Ohne sich in der Menge der philologischen Spezialfragen, die Wolf aufgeworfen hatte, zu verlieren, visiert Schlegel an, »den ganzen Inbegriff der griechischen Poesie zu ordnen«.196 Dabei geht es in diesem Projekt um nichts ande-

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KSA XXIII, S. 130 und Walzel, Briefe, S. 111. KSA I, S. 121. KSA XXIII, S. 130 und Walzel, Briefe, S. 111. KSA XXIII, S. 97 und Walzel, Briefe, S. 86. Im ›Studium-Aufsatz‹ kann Schlegel diese Frage dann beantworten: »Eins der trefflichsten Gedichte dieser Art, der ›Romeo‹ des Shakespeare ist gleichsam nur ein romantischer Seufzer über die flüchtige Kürze der jugendlichen Freude; ein schöner Klagegesang, daß diese frischesten Blüten im Frühling des Lebens unter dem lieblosen Hauch des rauhen Schicksals so schnell dahinwelken. Es ist eine hinreißende Elegie, wo die süße Pein, der schmerzliche Genuß der zartesten Liebe unauflöslich verwebt ist. Diese bezaubernde Mischung unauflöslich verwebter Anmut und Schmerzen ist aber eben der eigentliche Charakter der Elegie.« KSA I, S. 241. Am 31. Juli 1795 schreibt er an seinen Bruder: »Hast du Wolffs Proleg.[omena] zum Homer schon gelesen? Nach Deiner Vorstellungsart muß Dir vieles darin sehr gefallen und ich bin nur in einigen wenigen Stücken andrer Meynung.« KSA XXIII, S. 243f. und Walzel, Briefe, S. 230. Beide KSA I, S. 123.

res als eine Antwort auf das Wolfsche Dilemma zu geben: Wie kann die Einheit der Homerischen Epen gerettet werden? Es zeigt sich schnell, dass die Wolfsche Dekonstruktion der äußeren Gestalt des Epos Schlegel nicht vor grundlegende Schwierigkeiten stellt. Vielmehr ist Homer nun noch mehr als zuvor der ideale Gegenstand, an dem seine Theorie der »inneren Einheit« entfaltet, und, so die These, später auf den Roman als neuem Epos übertragen werden kann. Auffällig, doch auf dem Hintergrund der folgenden Darstellung verständlich, ist die Umakzentuierung der Epocheneinteilung der Griechischen Poesie im Vergleich zur Abhandlung ›Von den Schulen der Griechischen Poesie‹ (1794). War hier das Epos noch identisch mit der Zeit eines undifferenzierten Mythos, so grenzt er nun das epische Zeitalter markant von jener Zeit ab, in der »der lehrende Gesang dieser alten Seher nicht ein freies Spiel der Einbildungskraft, sondern Befriedigung eines ernsten Bedürfnisses, und eben darum nicht eigentlich schöne Kunst« war. In dieser vorhomerischen Zeit, die in der ›Geschichte der Poesie der Griechen und Römer‹ von 1798 weiter in Orphische Vorzeit und Vorhomerische Periode unterteilt wird, seien zwar poetische Gesänge durch Priester-Barden zu kultisch-religiösen Festen vorgetragen worden, ihre Zweckgebundenheit markiere aber den wesentlichen Unterschied zum Epos. Sollten, außer den heiligen Vorschriften, Weissagungen, Beschwörungen und Gebeten in der allereinfachsten Weise, auch die frühesten Urkeime der künftigen Göttersage in dieser Vorzeit der Poesie ein Gegenstand derselben gewesen, und nicht bloß in leidenschaftlichen Liedern, sondern auch in kunstlosen Erzählungen fortgepflanzt sein: so darf man doch die ruhigere Besonnenheit, die freiere Darstellung, und schönere Dichtung hier noch nicht erwarten, durch welche die rohe Erzählung erst zum Epos wird.197

Charakteristischerweise nutzt Schlegel für die Beschreibung des Epos bereits hier Begriffe der Kantischen wie der Schillerschen Ästhetik.198 Mit der Inanspruchnahme der Kantischen Theoreme von der ›Zweckmäßigkeit ohne Zwecke‹ und dem freien »Spiel der Empfindungen und der Vorstellungen«199 in der ästhetischen Erfahrung zieht er die Griechische Poesie, die er nun mit der Homerischen Poesie als eine Poesie der Schönheit erst beginnen lässt, in den Bereich ästhetischer Autonomie und grenzt sie so von der Orphischen und Vorhomerischen Periode ab.200 Auf andere Weise wie Wolf, aber in der Tendenz ganz ähnlich, situiert Schlegel Homer bereits jenseits einer naiven Naturpoesie.201

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Beide KSA I, S. 119. Vgl. Matuschek, Homer, S. 18. So zitiert Schlegel Kant fast wörtlich in der ›Geschichte der Poesie der Griechen und Römer‹. Vgl. KSA I, S. 445. Vgl. KSA I, S. 444. Vgl. auch die folgende Notiz: »Sobald ein Kunstmetrum da ist und eine Kunstdiction wie im Homer, so ists auch schon etwas Kunst und nicht ganz Naturpoesie.« KSA XVI,

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Der Konflikt um Natur- und Kunstpoesie als Streit zwischen Alten und Modernen wird damit, dies hat die Forschung allzu oft übersehen, unterlaufen. In der ›Geschichte der Poesie der Griechen und Römer‹ heißt es lakonisch: »Die Vieldeutigkeit der Worte, Kunst, Natur, Kunstpoesie und Naturpoesie, und die häufige Unbestimmtheit der damit verknüpften Begriffe gibt dem Hange der Umdeutung noch freieres Feld.«202 Ein Feld, das Schlegel nutzt. Nur weil Homer in diesem Sinne schon Moderner ist, kann er als Anschlusspunkt für die Poesie der Moderne in Anspruch genommen werden.203 Carsten Zelle hat gezeigt, dass die Verdoppelung der Geschichte in den Figuren des Kreislaufes (Antike) und des Fortschritts (Moderne) bei Schlegel bereits Anachronismen enthält und beide Bewegungen sich ineinander verschränken. Seinem Urteil, dass »auch für Schlegel die Moderne in der Antike«204 beginne, ist unumschränkt zuzustimmen, nur mit der Differenzierung, dass dies bereits in der Charakterisierung des Epos zu spüren ist. Um dies zu zeigen, grenzt Schlegel das Epos zunächst vom Drama ab. Dieses sei nach Aristoteles »ein durchaus vollständiges, in sich vollendetes Ganzes«, in dem jede Handlungseinheit sich intern motiviere und alle »Verwicklungen

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S. 136. Im ›Studium-Aufsatz‹ nennt Schlegel die Griechische Poesie »ein Maximum und Kanon der natürlichen Poesie« (KSA I, S. 307). Diese Formulierung aber deutet, so meine These, darauf hin, dass die Grenze dieser natürlichen Poesie im Homerischen Epos wie im sophokleischen Drama erreicht ist. Das Epos mehr noch als das Drama aber trägt Keime der Modernität schon in sich. Dies übersieht Szondi (Antike und Moderne, S. 122 und S. 133), der zwar die Gespaltenheit des Modernitätsbegriffes bei Schlegel klar erkennt, in seiner Fokussierung auf den ›Studium-Aufsatz‹ aber die Differenz, die Schlegel auch in den Begriff der Antike einzieht, übersieht. KSA I, S. 501. Jauß (Literaturgeschichte als Provokation, S. 13), sieht in einer solchen Argumentation »eine List der […] philologischen Metaphysik der Tradition, die Modernität immer in ihre je eigenen Gegenstände zurück verlängere«. Ulrike Zeuch (Das Unendliche. Höchste Fülle oder Nichts? Zur Problematik von Friedrich Schlegels Geist-Begriff und dessen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, Würzburg 1991, S. 42ff.) hingegen kontrastiert weiterhin eine unmittelbare Einheit der Antike gegen die durch Reflexion erreichte Einheit der Moderne. So wichtig diese Denkfigur um 1800 ist, so versperrt sie für Schlegel den Blick auf seinen Versuch, der Antike Züge der Moderne einzuschreiben. Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart 1995, S. 232. Während Zelle die beiden Konzepte bei Schlegel in einem unauflöslichen Widerspruch sieht, der das Geschichtsbild Schlegels »in der Mitte auseinander« (ebd., S. 234) fallen lasse, so denke ich, dass es Schlegel gerade um die Gleichzeitigkeit beider Momente geht. Erst wo beide Modelle nicht mehr in einen bloßen Gegensatz zu bringen sind, wird die Trennung Antik-Modern zu überwinden sein. Ohne dies hier ausführen zu können, sind meiner Vermutung nach seine Theorie des (philologischen) Lesens, wie des Fragments und der romantischen Ironie Versuche, diese Einsicht einzuholen.

vollkommen aufgelöst«205 werden. Der Tragödie kommt also innere wie äußere Einheit zu. Einheit des Aufbaus und Einheit der Handlungen korrelieren miteinander. Beim Epos hingegen kann von der Einheit der Handlung nicht die Rede sein. Schlegel knüpft an die auch bei Wolf erörterte Frage an, worin denn eigentlich die Handlung der ›Ilias‹ bestehe. Für Wolf kommt dem insofern Bedeutung zu, als ein einheitlich gedachter Handlungskern, ein auszumachender ›Mythos‹ im aristotelischen Sinne, als ein Plausibilitätsargument für eine individuelle Autorschaft der Epen fungieren könnte. Er führte daher den Beweis, dass weder der Zorn des Achills noch die Eroberung Trojas als Kern der Handlung betrachtet werden können. Schlegel lässt sich auf eine solche Betrachtung gar nicht erst ein. Gegen Aristoteles, der die Handlung des Epos mit dem des Dramas analogisiert habe,206 behauptet er gegen die »gewöhnlichen Meinungen der Theoristen«,207 eine Inkommensurabilität der Handlungsbegriffe von Drama und Epos. »Das epische Gedicht stellt aber keineswegs eine einzige vollständige poetische Handlung, sondern eine unbestimmte Masse von Begebenheiten dar.« Zeichnet sich das Epos durch seine »unbegrenzte Vielheit« aus, so kann dessen »Einheit nicht etwa genealogisch, historisch oder dramatisch«208 bestimmt werden und sei auch keine »biographische oder chronologische Einheit«.209 Das Epos bietet vielmehr »eine vollständige Ansicht der ganzen ihn umgebenden Welt«. Nach den ›Prolegomena‹ kann Schlegel »diese schöne Weltsicht« aber nicht mehr eine »systematische Enzyklopädie eines Polyhistors« nennen. Die Totalität des Epos, die Wolf auf dessen kollektiven Ursprung zurückgeführt hatte, ergibt sich bei Schlegel aus der Ungebundenheit im Zweck, der nicht teleologisch ausgerichteten Handlungsstruktur. Das Epos bietet sich für ihn als ein Tableau dar, das weniger zeitlich sukzessive, sondern räumlich juxtapositorisch geordnet erscheint. Daher wird auch der aristotelische Handlungsbegriff abgelehnt. Im Epos treten die einzelnen Begebenheiten wie Figuren und Gruppen in einem Gemälde zusammen, so dass »die kleinen Massen in immer größere zusammenwachsen«. Es hat daher keinen eigentlichen Anfang und kein Ende, sondern fängt »in der Mitte an«.210 Die Einheit und Harmonie der Homerischen Epen besteht also nicht in einem die Einzelteile übergreifenden Handlungsschema, das diese organisiere, sondern im Zusammentreten einzelner, in sich vollendeter Teile. Schlegel verbindet nun vorgeblich die im 26. Kapitel der aristotelischen ›Poetik‹ zu findende Einschätzung, »daß die ›Illiade‹ und ›Odyssee‹ viele Teile enthalten, welche für sich beste-

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KSA I, S. 124. Vgl. KSA I, S. 131. KSA I, S. 123. Beide KSA I, S. 124. KSA I, S. 131. Alle KSA I, S. 124.

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hende Ganze sind«211 mit der Wolfschen These der multiplen Autorschaft. Schlegel aber deutet Wolf um und entschärft ihn.212 Gemessen an der Wolfschen Rekonstruktion der Entstehung und Überlieferung der Epen ist die Schlegelsche Rede von der »Mehrheit ihrer Verfasser«213 verstellend. Für Wolf sind einzelne Verfasser, als Autoren, nicht mehr zu identifizieren. Gerade daraus leitete sich die These von der kollektiven Autorschaft als ›Werk eines Zeitalters‹ her. Schlegel aber hält am Konzept der Autorschaft Einzelner fest.214 Das Homerische Werk wird so zum Gruppenprojekt von vortrefflichen Einzelautoren. Es dürfte die Vermutung nicht völlig aus der Luft gegriffen sein, dass damit ebenfalls eine Charakterisierung des frühromantischen Schreibprojektes vorliegt. Die berühmte Metapher, die Schlegel dafür findet, ist der poetische Polyp: »denn das epische Gedicht ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein poetischer Polyp, wo jedes kleinere oder größeres Glied […] für sich eignes Leben, ja auch ebensoviel Harmonie als das Ganze hat.«215 Mit dem Rekurs auf die Entdeckung der Reproduktionsfähigkeit einzelner abgeteilter Körperteile durch den Schweizer Abraham Trembley 1740 steht der Polyp bei Schlegel als Metapher für den organischen Zusammenhang der Homerischen Epen trotz oder vielleicht auch wegen der Eigenständigkeit der einzelnen Teile, als einer ›fraktalen Epik‹, wie Reinhard Markner sie kürzlich benannt hat.216 Hatte Schlegel vor Erscheinen der ›Prolegomena‹ noch den Befund des Bruders, man bemerke im 24. Buch der ›Odyssee‹ »die Nadel des Kritikers […] womit er die Lücke zustopfe«,217 kritisch hinterfragt und an der »Einheit des Urhebers«218 festgehalten, so macht er sich später selbst auf die Suche nach unechten Stellen und Spuren diaskeuastischer Redaktion und wird fündig, wie Notizen aus den bisher unedierten Nachlassheften ›Fragmente zur Geschichte der Griechischen

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KSA I, S. 131. Allzu einfach macht es sich Jure Zovko (Verstehen und Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel. Zur Entstehung und Bedeutung seiner hermeneutischen Kritik, StuttgartBad Cannstatt 1990, S. 30f.), der Schlegels Position allzu schnell mit der Wolfs identifiziert und dem wichtige Nuancierungen entgehen. KSA I, S. 131. In der ›Geschichte der Poesie der Griechen und Römer‹ findet sich diese Umdeutung expressis verbis: »daß wohl einer unter den Sängern der ›Ilias‹ und der ›Odyssee‹ der vornehmste, wie das Haupt und der Führer der andern, der Vater und Meister der Schule sein mochte; vielleicht der Vortrefflichste von allen, wahrscheinlich nur der Älteste der gleich vortrefflichen.« KSA I, S. 523. KSA I, S. 131. Reinhard Markner, Fraktale Epik. Friedrich Schlegels Antwort auf Friedrich August Wolfs homerische Fragen. In: Jutta Müller-Tamm/Cornelia Ortlieb (Hg.), Begrenzte Natur und Unendlichkeit der Idee. Literatur und Bildende Kunst in Klassizismus und Romantik, Freiburg 2004, S. 199–216; S. 213. Brief vom 18. November 1794, KSA XXIII, S. 214f. und Walzel, Briefe, S. 197. KSA XXIII, S. 215 und Walzel, Briefe, S. 197.

Poesie‹ zeigen: »Odyß. II, 276,277. Verschlechterung d[er] Menschen. Charakteristisch. Verse die wahrscheinlich irgendwoher von Diaskeuasten entlehnt sind«219 oder »Odyss. XV. Der ganze Anfang diaskeuastisch«.220 In der ›Geschichte der Poesie der Griechen und Römer‹ von 1798 fordert er: »Genau zu bestimmen, was die Diaskeuasten mit ihr [der Homerischen Poesie, mb] und an ihr tun konnten, und was sie wirklich getan haben, das ist die Hauptsache und das Eine worauf es wirklich ankommt«.221 Durch diese Befunde aber sieht Schlegel die Homerischen Epen nicht wirklich bedroht. Im Gegenteil, die Fragmentierung der Epen zieht in sie die gleiche Dynamik ein, wie der ›Studium-Aufsatz‹ in das Verhältnis von Antike und Moderne. Stand dort die Antike für das Modell des geschlossenen Kreises und die Moderne für den unendlichen Fortschritt, so kann Schlegel nun an den Homerischen Epen eine Verbindungsfigur der sich antagonistisch gegenüberstehenden Modelle aufzeigen. Die ungebrochene formale Einheit der Epen vermittelt den Eindruck eines statisch-symmetrischen Gefüges. In traditioneller Terminologie, die Schlegel nun aber unterläuft, sind sie klassisch zu nennen. Die Aufbrechung der formalen Einheit und der Rückgriff auf die Idee der ›inneren Einheit‹ führt ein vorwärts treibendes Moment in die Figur ein, da ›innere Einheit‹ sich nie ganz auf das Werk verlassen kann, sondern auf Anschluss angewiesen ist. Die Metapher des poetischen Polypen verweist darauf, dass es eben nicht das Ganze ist, das als geschlossen gelten kann, sondern diese Geschlossenheit eine der Einzelteile ist.222 Die Zusammenstellung der vom zusammenfügenden ›Kitt‹ befreiten Teile ergibt nun ein Ganzes, das nicht mehr klassisch geschlossen, sondern progressiv ist: »Im Vergleich mit d[em] Ganzen ist d[as] Einzelne immer classisch, das Ganze aber progressiv –«.223 So werden die Epen zum prototypischen Modell einer Vereinigung des Klassischen und des Modernen, das Schlegel das Romantische nennt. Das Romantische ist daher kein Gegenbegriff zum Klassischen, sondern der Synthesebegriff der antithetischen Struktur von Antike und Moderne. Das Romantische, so ließe sich pointieren, ist das Klassische unter modernen Bedingungen. »Classisch ist zugleich regressiv und progressiv.«224 Trotz des nach der Wolf-Lektüre nun offen eingestandenen kollektiven Charakters der mündlichen Tradierung und der Zurückweisung des »Einen 219

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Friedrich Schlegel, Fragmente zur Geschichte der Griechischen Poesie, S. 5v. Zitiert nach Markner, Fraktale Epik, S. 215. Bei Markner auch die Kritik am Editionsplan der KSA. Ebd. KSA I, S. 517. In diesem Sinne tritt die Metapher im sechsten der ›Ästhetischen Briefe‹ Schillers auf, die Schlegel in den ›Horen‹ 1795 mit Sicherheit gelesen hat. Vgl. dazu unten Seite 256. KSA XVIII, S. 92. KSA XVI, S. 174.

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Urheber[s]«225 der Epen, trifft Schlegel aber weiterhin eine strikte Unterscheidung zwischen poetischer und philologischer Tätigkeit. Zwar legten die Wolfschen Untersuchungen »bei Gelehrten, die das Altertum nicht kennen«, die Vermutung nahe, dass die Kernzelle der poetischen Tradition und damit der Altertumskunde »dem Kunstfreunde wie unter den Händen wegzugleiten und gleichsam zu zerfließen«226 drohe. Diese Gefahr ist für Schlegel aber nicht gegeben, da er eine unausgesprochene Prämisse dieser Klage nicht teilt. Voraussetzung dieser Klage ist offensichtlich die Einsicht, dass der Erweis philologischer Redaktionstätigkeit in der Zusammenstellung der einzelnen Rhapsodien, die Einheit und Harmonie der Epen erst hergestellt habe und diese also nicht Produkt der Poesie, sondern der Gelehrsamkeit, eben der Philologie sei, und damit der Text gleichsam entzaubert werde. Diese Prämisse weist Schlegel mit einem komparatistischen Blick auf andere bekannte Epen, die den Eindruck von Disharmonie erweckten, zurück. »Waren es aber die Diaskeusten, denen die homerische Poesie ihre epische Harmonie verdankt, so ist es unbegreiflich, warum sie gegen andre alte Gedichte, die sie doch auch diaskeuasierten, minder freigebig waren.« Die poetische Harmonie, die jeder in der Homerischen Epik fühle, kann für Schlegel nicht Produkt philologischer Zusammenstellung sein, sondern bedarf poetischer Schöpferkraft, die sich daher auch hinter aller redaktioneller Verstellung zeige: die, von denen die epische Harmonie der homerischen Rhapsodien herrührt, sind die eigentlichen Autoren derselben; mögen auch noch so viele Vorgänger ihnen Stoff zugebildet und Sagen poetisiert, oder Nachfolger ihre einzelnen Gesänge, die für sich bestehende Ganze waren, ihrer Absicht gemäß oder entgegen, durch Kitt und Klammern zusammengefügt, ja sogar Stellen eingeschoben und weggelassen haben, so lange nur nicht alles umgebildet und neu gestaltet wurde.227

Daher rührt die Forderung nach der Aufdeckung aller Stellen, die auf das Wirken des Philologen hindeuten, »der bloß Diaskeuast und gar nicht Poet wäre«, und die ursprünglich-natürliche Harmonie nur als »Ökonomie des Ganzen«228 betreibt. Anders als bei Wolf, der den Autornamen zu einem bloßen alexandrinisch-bibliothekarischen Index degradierte und eigentlich auf diesen ebenso gut verzichten könnte, fungiert der Dichtername ›Homer‹ hier als Bezeichnung der genuin poetischen Genese der Epen. Als solcher ist er Schlegel »zu einem unentbehrlichen Kunstworte der Poesie«229 geworden. ›Homer‹ steht für das Poetische schlechthin, das sich vom Gelehrten und seiner philologischen Autor225 226 227 228 229

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Vgl. KSA I, S. 510ff. In einer langen Fußnote nennt Schlegel für seine Darstellung Wolfs ›Prolegomena‹ als »Text und Quelle des Folgenden« (S. 510); hier S. 514. Beide KSA I, S. 515. Beide KSA I, S. 516. Beide KSA I, S. 517. KSA I, S. 523.

schaft unterscheidet. Hier zeigt sich abermals die Rückbindung des Poetischen an ein Konzept genialer Autorschaft,230 das bei Schlegel, trotz der Annahme eines gemeinschaftlichen Entstehungsprozesses der Epen, nicht aufgegeben wird. Der Kollektivsingular ›Homer‹ steht somit für eine bestimmte Form des Werks als Resultat einer Gemeinschaft von je genialen Einzelautoren, die die Tendenzen des Zeitalters bündelten und zur Darstellung brachten. Es kann daher bei Schlegel auch nicht die Rede von einer generellen »Verabschiedung von Autorpersönlichkeit«231 sein. Die von Wolf rekonstruierte Entstehungsgeschichte der Mythen entbindet das Konzept der Sympoesie aber sehr wohl von der Idee einer körperlichen Präsenz der Autorengruppen. Genau genommen bezieht sich der Begriff auch gar nicht vornehmlich auf eine etwaige gemeinschaftliche Produktion von Texten. Die Homerischen Gesänge sind nicht primär Lieder einzelner Rhapsoden, die nach und nach und mehr und mehr aufeinander Bezug nehmen. Sympoesie ist kein geselliges Dichten, sondern Anschluss an Texte, wobei die Erinnerungsleistung der Rhapsoden, obgleich mündliche Kommunikation, von Schlegel wie Schrift behandelt wird.232 Sympoesie verweist auf eine zu leistende schöpferische Arbeit auf beiden Seiten des Kommunikationsprozesses, des Autors wie des Lesers.233 Eine durch Philologie von philologischer Ermächtigung befreite Poesie folgt nicht mehr einer äußeren systematischen, aber »fremdartigen Einheit«, sondern gerade die formale Fragmentierung hebt die poetische Harmonie besonders hervor. So verkehren sich auch die Begriffe von Ordnung und Unordnung. Die redaktionelle Ordnung der Diaskeuasten wird zur ›poetischen Unordnung‹, wohingegen

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Der Terminus ›geniale Autorschaft‹ soll keine Kongruenz mit dem Geniekonzept des Sturm und Drang implizieren, sondern lediglich darauf hinweisen, dass Schlegel hier an ein gewisses Maß poetischer Potenz denkt. So aber Markner, Fraktale Epik, S. 214. Dies gilt es einmal festzuhalten, denn keineswegs ist zeitliche wie räumliche Absenz der Sympoeten nur »Kondition schriftgestützer Kommunikation«, wie Matthias Schöning (Ironieverzicht. Friedrich Schlegels theoretische Konzepte zwischen Athenäum und Philosophie des Lebens, Paderborn u.a. 2002, S. 82) in allzu gutgläubigem Anschluss an Luhmann meint. Wolf hatte ja gerade die Nicht-Schriftlichkeit der Homerischen Rhapsodien zum Ausgangspunkt seiner ganzen Argumentation für deren kollektiven Ursprung gemacht. Es dürfte also wesentlicher die Tatsache der Speicherfähigkeit an sich sein, was Schlegel im Begriff des Rhythmus ja mehrfach thematisiert. Texte sind also hier gespeicherte Rede, wobei gespeichert keine eins zu eins Relation von Vorlage und Aufgezeichnetem impliziert, sondern lediglich auf die Möglichkeit eines kommunikativen Anschlusses verweist. Die Problematik wird unten erläutert. Vgl. auch Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/M. 1984, S. 352. Darauf verweist schon Benjamin, Der Begriff, S. 69: »Es ist klar: für die Romantiker ist Kritik viel weniger die Beurteilung eines Werkes als die Methode seiner Vollendung.«

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die Zersplitterung der Form die »ursprüngliche Ordnung«,234 »der sich übrigens von selbst dazu fügenden […] Rhapsodien«235 wieder sichtbar mache. Angesichts der Unterscheidung von philologisch konstruierter und poetischnatürlicher Einheit vermag es verwundern, wenn Schlegel in den folgenden Passagen den Diaskeuasten zugleich aber auch eine bestimmte Leistung zubilligt. Die Zusammenstellung der Homerischen Epen sei durch diese nämlich nicht willkürlich geschehen, sondern folge einem Editionsprinzip, das als Legitimationsargument zur Herstellung einer formalen Einheit bereits die innere Einheit der einzelnen Rhapsodien erkannt und diese lediglich nach außen gewendet habe. Anders als Wolf, der den Gedanken einer Gruppierung der Gesänge um eine Hauptidee, etwa dem Zorn des Achilles, ablehnt, sieht Schlegel die diaskeuastischen Bemühungen als »Rücksicht und Beziehung auf ein Höchstes«, das die einzelnen Rhapsodien strukturiere und ordne. So gesehen produzieren die formalen Zusammenstellungen »keine Beziehung, welche sie nicht schon vorher haben mußten.«236 Schlegel kommt hier auf den bereits 1793 entworfenen Begriff der inneren Einheit zurück. Diese wird als »unbegränzte Beweglichkeit« und »freie Lebendigkeit« des »Kunstgeistes, welche die wesentlichsten Eigenschaften des homerischen Epos sind«, bestimmt. Es scheint der Geist zu sein, der aufgrund einer bestimmten Bewegung Einheit herstellt.237 Wir kehren also zurück zur Eingangsfrage nach der Einheit der Homerischen Epen, die offensichtlich in einer spezifischen Form des Anschlusses von individuellen Ganzheiten aneinander besteht. Einheit entsteht erst im Moment des Aufeinanderbeziehens dieser Teile, »an welche sich alle übrigen anschließen«.238

Einheit und Fragment Jetzt wird auch verständlich, wieso Schlegel die scheinbar entgegengesetzten Tätigkeiten der Chorizonten als Kritiker und der Diaskeuasten als Redakteure in notwendiger Verbindung sieht und er in der Kombination beider Verfahren seinen philologischen Ausgangspunkt findet. Der Aufweis der diaskeuastischen

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KSA I, S. 518. KSA I, S. 519. KSA I, S. 519. Schöning (Ironieverzicht, S. 78f.) hingegen meint, Einheit konstituiere sich nur auf der äußeren Ebene als »Buch«. Ich stimme zwar zu, dass das Romantische »eine Vielzahl divergenter Beobachtungen provoziert« und daher eine vom Autor kaum zu kontrollierende Anzahl von Anschlussstellen eröffnet, Schöning verpasst aber den entscheidenden Punkt, dass nicht allein die äußere Rahmung als Buch die Idee der Einheit stiftet, sondern jede gemachte Anschlusskommunikation als Selektion aus der Vielzahl der möglichen Beobachtungen Ordnung stiftet, Sinn produziert, und diesen Sinn als Begriff der inneren Einheit des Werkes aufstellt. KSA I, S. 124.

Verbindungsstellen fungiert für Schlegel je als Markierung der kommunikativen Anschlussstellen und diese können ihm so zum Index seines Einheitskonzepts werden.239 Damit ist ein anderer Akzent von romantischer Kommunikation gesetzt. Wenn Peter Fuchs in der Form des Fragments eine »Erschwerung kommunikativer Anschlüsse«240 sieht, die die extensiven Möglichkeiten von Anschlusskommunikationen in der Moderne zu restringieren suche und so durch Reduzierung von Komplexität als Ordnungsversuch gelesen werden kann, schlage ich vor, das Fragmentarische als Auforderung zum Anschluss zu lesen, »um die Ergänzung seines innersten Wesens in der Tiefe eines fremden zu suchen und zu finden«,241 wie es im ›Gespräch über die Poesie‹ heißt. Die eigene Position komplettiert sich erst im Anschluss an ein Anderes, d.h. wenn das Andere mir Aufmerksamkeit entgegenbringt. Nicht nur die fragmentierte Geschichte, die fragmentierte Poesie, sondern auch das fragmentierte Subjekt ist angewiesen auf die Ergänzung durch ein Gegenüber. Einheit ist dann aber nicht mehr statisch zu denken, sondern für alle drei Bereiche nur dynamisch. Die Einheit der Geschichte, der Poesie und des Subjektes stellt sich nur in einer wiederkehrenden Bewegung und Bestätigung durch das je Fremde ein und vergeht dann wieder.242 Das Spiel der Mitteilung und der Annäherung ist das Geschäft und die Kraft des Lebens, absolute Vollendung ist nur im Tode. Darum darf es auch dem Dichter nicht genügen, den Ausdruck seiner eigentümlichen Poesie, wie sie ihm angeboren und angebildet wurde, in bleibenden Werken zu hinterlassen. Er muß streben, seine Poesie und seine Ansicht der Poesie ewig zu erweitern, und sie der höchsten zu nähern die überhaupt auf der Erde möglich ist; dadurch daß er seinen Teil an das große Ganze auf die bestimmteste Weise anzuschließen strebt: denn die tötende Verallgemeinerung wirkt gerade das Gegenteil.243

Ohne hier umfassend auf die romantische Theorie des Fragments eingehen zu können, mag zur Stützung dieser These ein kurzer Blick auf die Charakterisierung des Fragments in ›Lessings Gedanken und Meinungen‹ von 1804 genügen. Seit 1799 hatte Schlegel sich mit Plänen einer Lessing-Ausgabe getragen, die aber

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So ungefähr sagt dies Norbert Bolz (Der Geist und die Buchstaben. Friedrich Schlegels hermeneutische Postulate. In: Ulrich Nassen (Hg.), Texthermeneutik, Aktualität, Geschichte, Kritik, Paderborn u.a 1979, S. 79–112; S. 82f.) auch, nur weiß man nicht recht, ob sein leicht polemischer Stil eine pejorative Deutung des Schlegelschen Ansatzes nahelegen soll. Peter Fuchs, Die Form romantischer Kommunikation. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 3 (1993), S. 199–221; S. 210. KSA II, S. 286. Es wäre zu überlegen, ob nicht gerade hier ein ethischer Imperativ bei Schlegel sichtbar wird. Wenngleich nichts den Erfolg garantiert, so sind wir doch angehalten, uns dem anderen zuzuwenden, nicht seinetwillen, sondern zuvorderst unsretwillen. Schlegel bringt es auf die Formel »Liebe bedarf der Gegenliebe«. KSA II, S. 286. KSA II, S. 286 [Meine Hervorhebung, mb].

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zunächst unausgeführt bleiben.244 1802 konnte er den Leipziger Verleger Siegfried Julius Mahlmann für das Projekt gewinnen. 1804 erscheinen dann in der Juniussischen Buchhandlung drei Bände, die neben Auszügen aus Lessings Schriften in Paris entstandene kommentierende Texte Schlegels enthalten. Im zweiten Band bringt Schlegel, eingeleitet durch den kleinen Aufsatz ›Vom kombinatorischen Geist‹, unter dem Titel ›Fragmente dramaturgischen, literarischen und polemischen Inhalts‹ eine Textkollage aus über 30 verschiedenen Schriften Lessings ohne jegliche Titel- und Quellenangabe.245 Eine solche Editionspraxis schuldet sich dabei keineswegs philologischer Faulheit, sondern gerät zur Demonstration der Darstellbarkeit seiner Idee innerer Einheit, die sich nicht nur trotz, sondern wegen der Fragmentierung eines formal einheitlichen Textkorpus zeige. Die Ausgangsfrage ist dabei: »In wiefern können sie, obwohl Fragmente, dennoch als ein Ganzes betrachtet werden?« und sie geht über in eine provokante These: »ungeachtet der Verschiedenheit der Materie, dennoch sichtbare Einheit liegt in der scheinbar formlosen Form.«246 Wenn Schlegel nun den Witz und den eigentümlichen Stil Lessings als Einheit stiftende und Form gebende Momente herausstellt und die »kühnen Kombinationen, […] seine Sprünge und überraschenden Wendungen« als Merkmale dieses »genialischen Styls«247 herausstellt, dann ist die Fragmentalität der Darstellung die diesem Stil entsprechende Form der Formlosigkeit. Schlegel verschweigt hier geflissentlich, dass diese Form Produkt seiner editorischen Zurichtung der Lessingschen Texte ist. Schlegel schneidet die Texte zu Fragmenten zusammen und komponiert ihre Zusammenstellung bewusst. Sein editorisches Understatement zeigt an, wie sehr der vorliegende Text sich mehr seiner Herausgebertätigkeit denn Lessings Autorschaft schuldet. »Die Ordnung der nachfolgenden Fragmente ist im Ganzen chronologisch, und auch, so viel als möglich war, nach dem Zusammenhang eingerichtet; einige mehr isolierte Bruchstücke sind willkürlich eingeschaltet, wo es am schicklichsten schien.«248 Die hervorgehobenen Passagen unterlaufen die zuvor aufgestellten Editionsprinzipen der zusammenhängenden, chronologischen Ordnung und zeigen an, dass die tatsächliche Ordnung den Wertkategorien (›am schicklichsten‹) des Herausgebers entspringt. Damit gerät aber auch die Charakterisierung der Wirkung der Lessingschen Schriften zu einem Effekt philologischer Arbeit. Was vordergründig Lessing als Autorleistung zugeschrieben wird, ist seinem Herausgeber geschuldet, der dadurch selbst in den Autorstatus aufrückt. Es sind also eigne literarische Mittel oder Schriften notwendig, die ganz bestimmt nur diesen Zweck haben, die produzierende Kraft zu erregen, zu prüfen und zu nähren. 244 245 246 247 248

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Zur Entstehung siehe KSA III, S. XXVIff. Vgl. KSA III, S. XXIX. KSA III, S. 81. Alle KSA III, S. 84. KSA III, S. 85 [meine Hervorhebung, mb].

[…] Also wird nicht eine verfehlte Unform, wohl aber eine absichtliche Formlosigkeit hier ganz an ihrer Stelle, und das Fragmentarische bei solchen Mitteilungen nicht nur verzeihlich, sondern auch löblich und sehr zweckmäßig sein.249

Die äußere Zurichtung als Fragment verstärkt den witzigen Geist der Schriften. Das Fragment als formlose Form ist nicht primär Abbild der Witzes und der Genialität des Autors, sondern es erregt und nährt den Witz des Lesers, seine »produzierende Kraft«. Der Witz stiftet aber keine feste Einheit, die von da an unangreifbar wäre. Die Wirkung des Witzes ist, von Schlegel in der Metapher des Blitzes als momentanes Aufscheinen beschrieben, »eine chaotische Synthesis.«250 Die oxymorale Zusammenstellung verweist auf zwei unterschiedliche Effekte der Wirkung des Witzes im Fragment. Der Pluralität des Fragments korrespondiert ein innerer Plural des Rezipienten, den dieser nicht zu restringieren, sondern auszuschöpfen habe.251 Wird auf der Textebene in die unendliche Sinnfülle des poetischen Materials Ordnung über den Begriff der inneren Einheit, wenn auch nur augenblickshaft, eingeführt, so arbeitet das Fragment aber durch seinen beständigen Aufforderungscharakter eben auch an der Multiplizierung von Kommunikationsofferten und -anschlüssen mit, die Fuchs als charakteristisch für die Moderne ansieht und »notwendiger Effekt der Detotalisierung oder Dekomposition der höchsten Einheit«252 ist. Genau wie der Blitz sofort wieder entzogen ist, so auch die innere Einheit. Sie muss sich stets neu in der ästhetischen Erfahrung einstellen.253 Interessant ist, dass dieser Effekt sich offenbar einer Editionsleistung schuldet. Schlegel praktiziert an Lessings Schriften, was er an der Textgeschichte der Homerischen Epen gelernt hatte, deren philologische Zurichtung in zwei Richtungen erfolgte: 1. als verbindende Tätigkeit der Diaskeuasten, die Einzelgesänge zu einem Epos zusammenbanden und 2. als Textkritik der Chorizonten, auf der Suche nach unechten Stellen. Mit Recht verbanden die Diaskeuasten die homerische Poesie, welche als eine Masse der hellenische Bildung, […] der wir, ihren selbständigen Geist ahnend, innere Einheit zutrauen, für die Kunstgeschichte […] ein unteilbares Ganzes ist, und ewig bleiben wird. Groß und gleich zum Ziel […] begann auch die alte Kritik damit, die ältesten Gesänge ihrem Geiste gemäß ergänzend zu ordnen.

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KSA III, S. 83f. So Manfred Frank, Einführung die frühromantische Ästhetik, Frankfurt/M. 1989, S. 295. Vom ›inneren Plural des Verstehens‹ spricht Willy Michel, Ästhetische Hermeneutik und frühromantische Kritik. Friedrich Schlegels fragmentarische Entwürfe, Rezensionen, Charakteristiken und Kritiken (1795–1801), Göttingen 1982, S. 160f. Frank, Einführung, S. 297. Das führt Schlegel zu seinem Modell der zyklischen Lektüre. Siehe dazu unten.

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Ebenso richtig war es aber auch, daß die Chorizonten, was die Diaskeuasten verbunden hatten, wieder zu trennen strebten: denn die Kritik soll unterscheiden und auflösen soweit sie kann, und darf keine Disharmonie verschweigen. Man darf nur die beiden entgegengesetzten Ansichten vereinigen, und die homerische Poesie zugleich in dem Sinne der Diaskeuasten und in dem der Chorizonten betrachten. Auch zu dieser Untersuchung liegen also die Veranlassungen, Mittel und Bruchstücke […] deutlich und klar in den Alten selbst; und es brauchte nur ein Auge, welches in einigen zerstreuten Teilen das Ganze zu erblicken vermag.254

Der Konjunktiv in »brauchte« kann hier freilich auch als Präteritum gelesen werden und zeigt Schlegels Selbstbewusstsein an. Das anvisierte Projekt ist Forderung an die Zukunft und zugleich wird der vorliegende Text ›Die Geschichte der Poesie der Griechen und Römer‹ damit zum ersten vorliegenden Dokument dieses Projektes und Schlegel zu dessen Begründer. Die Zielrichtung einer derartigen Konzeptualisierung der griechischen Poesie und der Kritik der Homerischen Epen ist deutlich. Herder und Friedrich Schlegel dürften wohl als erste die Macht der Literaturgeschichtsschreibung, damit auch die ›Macht der Philologie‹ voll realisiert haben. Ihr anti-antiquarischer Ansatz, der gleichwohl die Kategorie Geschichtlichkeit nicht preisgibt, modelliert bewusst ein Verständnis der Tradition aus der Position der Gegenwart. Zugespitzt gesagt: Die Geschichte der Literatur wird auf die Gegenwart hin geschrieben, ja sie hat überhaupt nur ihre Berechtigung als ein Beitrag zum Verständnis der Gegenwart. Auf dieser Folie relativiert sich dann auch die eingangs zitierte Einschätzung Behlers, nach der bei Schlegel über Wolf vermittelt eine ›Emanzipation des Historischen‹ statthabe.255 Die Theorie der griechischen Poesie ist vornehmlich ein Versuch der rekursiven Aufstellung eines bestimmten Modernitätsbegriffes. Dies ist keineswegs Rückprojektion eines theoretischen Kommunikationsbegriffes, sondern Kern des romantischen Projektes.256 Im 254 255

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KSA I, S. 526f. Carsten Zelle (Die doppelte Ästhetik, S. 230) bezeichnet die Traditionslinie, in die sich Behler hier einordnet, indem er auf die Studien von Richard Brinkmann (Romantische Dichtungstheorie in Friedrich Schlegels Frühschriften und Schillers Begriffe des Naiven und Sentimentalischen. Vorzeichen einer Emanzipation des Historischen. In: DVjs 32 (1958), S. 344–371) hinweist. Wie wirkmächtig diese Tradition ist, zeigt sich bis in die jüngere Forschungsliteratur hinein. Vgl. etwa Harald Schnur, Schleichermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert. Studien zur Bibelauslegung zu Hamann, Herder und F. Schlegel, Stuttgart – Weimar 1994, S. 143ff. Im ersten Stück des zweiten Bandes des ›Athenäums‹ erscheint 1799 der Aufsatz ›Ueber die natürliche Gleichheit der Menschen‹ von August Ludwig Hülsen, in der diese Denkfigur in nuce ausgeführt wird. »Einmal ist das immer gewiß: der bloße Glaube an eine Vergangenheit, da noch die Menschen durch Unschuld und kindliche Eintracht glücklich waren, könnte uns gar nicht erfreuen, noch uns zu irgend einem Troste gereichen, wenn wir nicht tief in unserem Innern die Zukunft auch ahneten, da ein entflohenes schönes Zeitalter mit seinen Tugenden und Freuden zu uns zurückkehren wird. […] Aber es ist so gar gewiß: nur der Blick in die Zukunft führt uns

›Athenäum‹-Fragment 151 heißt es lapidar: »Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte, oder wünschte; vorzüglich sich selbst.«257 Der Satz ist aber nicht pejorativ zu verstehen,258 wie das unmittelbar folgende Fragment 153 deutlich macht. »Je populärer ein alter Autor ist, je romantischer ist er. Dies ist das Prinzip der neuen Auswahl, welche die Modernen aus der alten Auswahl der Klassiker durch die Tat gemacht haben, oder vielmehr immer noch machen.«259 Hier fasst Schlegel die romantische Literaturgeschichtsschreibung als eine Auswahlkommunikation mit Blick auf das eigene Projekt. Er zieht die Konsequenz, die er aus den Wolfschen ›Prolegomena‹ gelernt hatte.260 Werke konstituieren sich aus einer Form des nachträglichen Anschlusses an sie. So schreibt Schlegel: »Mein Studium der Gr.[iechischen] π[Poesie] ist ein constitutives Werk«.261 Woran nicht angeschlossen wird, das wird vergessen, aber auch: jeder Anschluss bedeutet Variation, Veränderung, Aneignung. Tradition ist »schaffender Rückblick«262 aus der Position der Gegenwart, wie es in den ›Ideen‹ von 1800 heißt, ihre Herstellung als Faktum obliegt der Arbeit des Geistes: »Geist als vornehmes, auswählendes Vermögen«.263 Schlegel versucht nicht, sich in die Position der antiken Autoren zu versetzen, um deren ›Intention‹ zu verstehen.264 Sein Verstehen ergibt sich aus einem

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zurück auf die Vergangenheit, haben selbst nur ihren Ursprung und ihre ganze Bestimmung allein in der Gegenwart. […] Alles was wir daher suchen und fordern mögen, ist nothwendig nichts anders, als unsre eigne freie That in einer wirklichen Anschauung und folglich ewig und immer die Gegenwart.« In: Athenäum. Eine Zeitschrift. Hg. von August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Zweiten Bandes Erstes Stück, Berlin 1799 [Reprographischer Nachdruck Darmstadt 1992], S. 152–180. KSA II, S. 189. Das dürfte man inzwischen wohl auch von Schlegels Werk sagen können. Wie Jauß (Literaturgeschichte als Provokation, S. 90) meint, bei dem Schlegel im ›Studium-Aufsatz‹ »das Antike-Bild aus allem Gegenwartsbezug herauslösen will«. KSA II, S. 189. Auch Denis Thouard (Friedrich Schlegel: De la Philologie à la Philosophie (1795–1800). In: ders., (Hg.), Symphilosophie. F. Schlegel a Iéna. Avec la traduction de la Philosophie trancendentale, Paris 2002, S. 17–66; S. 26) vertritt die These, dass das frühromantische Literaturprogramm in unmittelbarem Bezug zu Wolf entstanden sei: »Cette interprétation de Wolf contribue fortement à la constitution de la nouvelle théorie littéraire du premier romantisme qui abandonne l’idée de canon esthétique au profit d’une fusion des genres dans la »poésie universelle progressive.« Thouard (ebd., S. 37ff.) betont für Schlegels Philologie-Konzept die Bedeutung der Diaskeuasten, wie sie bei Wolf beschrieben werden. Zu ergänzen ist aber die Arbeit des Chorizonten. Nur in der wechselsseitigen Tätigkeit kann das progressive Moment entstehen, um das es Schlegel geht. KSA XVIII, S. 297. KSA II, S. 258. Aus dem ersten Heft des dritten ›Athenäum‹-Bandes. KSA XVIII, S. 106. Diese Möglichkeit schließt auch Klaus Weimar (Historische Einleitung zur literaturwissenschaftlichen Hermeneutik, Tübingen 1975, S. 102) bei Schlegel aus.

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kommunikativen Anschluss an die Texte, auf die er modellierend zugreift, nicht umgekehrt. Geschichte wird daher auch nicht als chronologisch aufsteigende Reihe gedacht, sondern die Figur der Perfektibilität wird umgedreht und nur rückwärts lesbar.265 In der Abhandlung ›Epochen der Dichtung‹ aus dem ›Gespräch über die Poesie‹, das in der Rahmenhandlung als Dokument selbst Kommunikationsanlass wird, schreibt Schlegel: Es ist aller Kunst wesentlich eigen, sich an das Gebildete anzuschließen, und darum steigt die Geschichte von Geschlecht zu Geschlecht, von Stufe zu Stufe immer höher ins Altertum zurück, bis zur ersten ursprünglichen Quelle. Für uns Neuere, für Europa liegt diese Quelle in Hellas, und für die Hellenen und ihre Poesie war es Homeros und die alte Schule der Homeriden.266

Geist, Buchstabe, Studium Für die Theorie des kommunikativen Anschlusses bei Schlegel kommt der Schrift, der Textualität eine besondere Bedeutung zu, ohne die sein philologischer Ansatz kaum zu verstehen ist, und die Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, anders als Schleiermacher, trennscharf hält.267 Wie Heinrich Nüsse in seiner immer noch aufschlussreichen Studie zur Theorie der Sprache bei Friedrich Schlegel gezeigt hat, steht der ›Buchstabe‹ bzw. das synonym verwandte ›Wort‹ als Schrift dem ›Gespräch‹ entgegengesetzt gegenüber. Wendet sich das Gespräch268 immer unmittelbar einem anderen Du zu, dem es sich mitteilen will, so bleibt die Schrift zunächst für sich, ist nicht bloße Fixierung eines Gesprochenen, sondern schon »Werk: die kunstmäßige Vermittlung der sprachlichen Teile unter sich. Da schriftliche Sprache bei niemandem anzulangen braucht, ist ihr Zeit gegeben, sich in eigenem Ausmaße zu verständigen.«269 Ist Schrift auf der einen Seite Medium, den Gedanken zu befestigen, so bedeutet die Entäußerung des Gedankens im Schriftzeichen seine Entsubjektivierung als Ablösung von der Person des Redenden. In der ›Wilhelm Meister-Rezension‹ weist Schlegel daher eine auf die Autorintention gerichtete Deutung zugunsten der Pluralisierung von im Werk bereits angelegten Deutungsentwürfen als Aufgabe der Kritik zurück: »Das muß alle Kritik, weil jedes vortreffliche Werk, 265

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Genau in diesem Punkt läuft meine Interpretation der These Szondis von einem linearteleologischen Geschichtsverständnis Schlegels entgegen. Vgl. noch einmal Szondi, Antike und Moderne, S. 120. Szondi sieht dann aber beim ›romantischen‹ Schlegel, der versuche, den ›Studium-Aufsatz‹ hinter sich zu lassen, auch ein zyklisches Moment in der Geschichtskonzeption, das sich Herder wieder annähere. Vgl. ebd., S. 144. KSA II, S. 290. Vgl. Patsch, Friedrich Schlegels ›Philosophie der Philologie‹, S. 451. Heinrich Nüsse (Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, Heidelberg 1962, S. 83ff.) zeigt, dass es kein Widerspruch ist, wenn Schlegel das Gespräch als literarische Form wählt. Das literarische Gespräch ist eine besonders hohe Kunst der Schrift, nicht der Rede. Ebd., S. 83.

[…] mehr weiß als es sagt, und mehr will als es weiß. […] Jene poetische Kritik will gar nicht wie eine bloße Inschrift nur sagen, was die Sache eigentlich sei«.270 Ermöglicht die Schrift ein beständiges Zurückkehren zum Gedanken, so verliert der Schreibende zugleich die Kontrolle über den nun für sich stehenden Gedanken.271 Werke sind Schlegel daher auch nur »Anlaß zur Mittheilung«.272 Kommunikation mit dem Text kommt erst in dem Moment zustande, wo dieser nicht nur als Mitteilung eines alter an ein ego verstanden wird, sondern wo ego ihn zum Anlass für weitere Mitteilungen nimmt. Wo im Gespräch Einspruch unmittelbar erhoben werden kann, da ist der Text der Willkür seiner Leser ausgesetzt. »Die Schrift ist stumm, kann nicht antworten, sich nicht selbst erklären; es können Mißverständnisse entstehen über den Inhalt, den Zusammenhang, den Sinn der Gedanken und Begriffe, die richtige Bedeutung der Worte:«273 Wie und auf welche Weise ego den Text zum Anlass für weitere Mitteilungen macht, ist von alter nicht mehr beeinflussbar.274 Aus dieser Ein270 271

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KSA II, S. 140. Auch Hans Dierkes (Literaturgeschichte als Kritik. Untersuchungen zu Theorie und Praxis von Friedrich Schlegels frühromantischer Literaturgeschichtsschreibung, Tübingen 1980, S. 132) spricht vom »grundsätzlich intersubjektiv unkontrollierbaren Charakter der Schlegelschen Texthermeneutik«, den er aber in seiner Konsequenz schnell wieder beiseite drängt. Die Schwäche von Dierkes Studie liegt darin, dass sie meint, Schlegels Kritikbegriff bleibe »vom ›Gespräch‹ bis zur Schlußredaktion der Wiener Vorlesung (1821/22) bzw. bis zur Spätfassung des ›Gesprächs‹ (1823) prinzipiell nicht angetastet«. Ebd., S. 316. Mit der Unkontrollierbarkeit seiner Texthermeneutik ist ein poetologisches Konzept verbunden, das nach dem Tod von Novalis 1801 von Schlegel mehr und mehr aufgegeben wird und die Frühromantik in einen geschichtsphilosophisch ontologisch-spekulativen Historismus überführt. KSA XVIII, S. 403. So Schlegel in der ›Geschichte der europäischen Literatur‹ KSA XI, S. 115. Wenn Schlegel unmittelbar darauf sagt: »Hier muß dann eine künstliche gelehrte Erklärung eintreten«, bleibt offen, ob er 1803/1804 bereits wieder an die Möglichkeit einer wahrhaften Rekonstruktion glaubt, die den ursprünglichen Sinn aufzeigt. Darauf deutet die Rede vom Missverständnis hin. So wohl die basalste Rekonstruktion des Kommunikationsbegriffes, der hier in Anschlag gebracht wird: Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 193–224 oder ders., Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 25–35. Luhmann selbst (Soziale System, S. 194, FN 4) verweist interessanterweise auf die Entstehung seines Kommunikationsbegriffes um 1800. Festzuhalten aber bleibt, dass gerade der Luhmannsche Kommunikationsbegriff eine Zuschreibung von Mitteilungsabsichten, ein Zurückrechnen der dreifachen Selektion auf ein alter impliziert. So kann auch die vorliegende eigene Interpretation des Schlegelschen Ansatzes der zugestandenermaßen gegebenen Gefahr eines hermeneutischen Eigentors entgehen. Auch hier wird durchgängig die rekonstruierte Position Schlegel intentional ›unterstellt‹. Die Frage nach der Faktizität einer solchen Intentionalität auf der Ebene des Bewusstseins braucht dabei nicht diskutiert werden. Der Ansatz ließe sich eingedenk dieser unterschiedlichen Akzentuierung als »Hermeneutischer Intentionalismus« bezeichnen. Siehe dazu: Axel Bühler,

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sicht speiste sich in der allgemeinen Hermeneutik das Gebot der hermeneutischen Billigkeit als moralisches Regulativ, das ›Rücksicht‹ (!) gegenüber der Intention des Autors einfordert und der später die Rede vom ›besser Verstehen des Autors als dieser sich selbst‹ an die Seite tritt.275 Die Idee der Schrift und des Textes zielen bei Schlegel nicht auf eine Objektivierung und Speicherung einer subjektiv intendierten Mitteilungsabsicht, sondern eben auf die Freisetzung der ganzen Potentialität von Sprache. »Es geht nicht um Gedanken, die vor dem Buchstaben waren, sondern um Gedanken, die nach dem Buchstaben möglich geworden sind.«276 Der Transformation ins Endlich-beschränkte des Buchstabens, der sich der unendlich gedachte Geist beim Eintritt in die Sprache unterziehen muss, ist zugleich auch die Möglichkeit seiner Realisierung als Unendliches. »Das Wort ist endlich und will unendlich werden – der Geist ist unendlich und will endlich werden«, so fasst Schlegel das dialektische Verhältnis von Geist und Buchstabe. Wo der unendliche Geist nur im Modus des Defizitären im Buchstaben realisiert werden kann, da bedarf es eines beständigen Wiederannäherungsversuches an ihn in Form des Zurückkommens auf den Buchstaben. Hier wird nun bei Schlegel explizit, was bei Wolf unausgesprochen blieb. Wenn auch das Wort und das Werk die zur Form gewordene Materie des Geistes ist,277 so kann der hermeneutische Akt doch nicht als bloße Entzifferung, Rückführung der Form auf die Materie des Geistes verstanden werden. Es gibt keinen Rückgriff auf den buchstabenlosen Geist, ebenso wie es keinen Buchstaben, kein Wort ohne Geist gibt.278 Zugleich aber hält Schlegel an der Differenz zwischen beiden fest. Die Differenz wird genutzt, um beide Seiten der Unterscheidung dynamisch und beweglich zu halten. Geist wird dabei nicht mehr als der Buchstabenform vorgängige Substanz gedacht, die zu bestimmen wäre, sondern als die im Buchstabenmaterial immer schon gekoppelte Form. Eine Überlegung Luhmanns und einen Verdacht Schlegels – »Sollte zu Geist und Wort etwa noch ein dritter Begriff gehören? – etwa Medium«279 – aufnehmend ließe

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Der Hermeneutische Intentionalismus als Konzeption von den Zielen der Interpretation. In: Ethik und Sozialwissenschaften 4 (1993), S. 511–518. Eine Formel, die sich bei Kant, Fichte, Humboldt, Schlegel, Schelling und Schleiermacher finden lässt. Zu Schleiermacher insbesondere siehe Frank, Das individuelle Allgemeine, S. 358–364. Nüsse, Sprachtheorie, S. 92. So Weimar, Historische Einführung, S. 99. Diese Differenzierung scheint angebracht. Wenn Oesterle (Arabeske und Roman, S. 260) von der »Dominanz des Geistes über den Buchstaben« bei Schlegel spricht, verdeckt dies allzu sehr den wechselseitigen Zusammenhang, der hier aber meiner Meinung nach von großer Wichtigkeit ist. KSA XVIII, S. 291.

sich ›Geist‹ als »Medium zweiter Ordnung«280 beschreiben, das die Differenz zwischen Medium und Form, Geist und Buchstabe wieder in sich hineinkopiert. Denn nun wird deutlich, warum Buchstabe und Geist auf beiden Seiten der Differenz, als Medium und als Form auftreten können. Als Medium, als einzelner Buchstabe bedarf er der Formgebung durch das Regelwerk der Sprache, um seine Funktion erfüllen zu können. Sprache ist also das Programm, um das Medium Buchstabe in Form umzuwandeln. Wie kann man nun aber sagen, dass diese Form selbst Medium von etwas (z.B. des Geistes) ist? Luhmann gibt den Ratschlag, »die umgekehrte These auszuprobieren: daß die Form sich das Medium erst schafft, in dem sie sich ausdrückt«.281 Die Sprachform wäre dann das Medium, dem ›Geist‹ eine je individuelle Werkgestalt verleiht. Wir sehen nun die Zirkelstruktur des Verhältnisses von Geist und Buchstabe. Einmal ist der Geist Medium, das durch den Buchstaben Form annimmt und nun sichtbar wird. Das andere Mal ist der Buchstabe Medium, das durch Geist zur Form gebunden wird und als Medium nicht mehr wahrgenommen wird. »Ohne Buchstabe kein Geist; der Buchst.[abe] nur dadurch zu überwinden, daß er fließend gemacht werde.«282 Das in der theologischen Bibelauslegung stets problematische und in der Tendenz aporetische Verhältnis von Geist und Buchstabe283 wird dabei von Schlegel umgewandelt in eine Lektüreanweisung,284 die die Differenz beider nicht aufzulösen versucht, sondern immer mitführt. »Buchstabe ist fixierter Geist. Lesen heiß gebundenen Geist frei machen.«285 Schlegel unterscheidet sich aber gerade da von Fichte, wo diese Lektüremodell nicht wieder zu einer Hierarchisierung des Verhältnisses und der Präferenz eines philosophischen Geistes führt.286 Ist der Buchstabe nämlich schon beim Akt der Niederlegung

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Vgl. Niklas Luhmann, Das Medium der Kunst. In: Delfin 7 (1986), S. 8. Luhmann möchte freilich die Begriffe Geist und Materie als metaphysische Tradition verabschiedet wissen. Mir scheint aber, dass Schlegels Geist-Begriff bereits auf das durch Luhmann markierte Problem reagiert. Luhmann, Medium der Kunst, S. 8. KSA XVIII, S. 344. Zu der theologischen Bedeutung des Begriffspaares und seiner Begriffsgeschichte siehe Gerhard Ebeling, Geist und Buchstabe. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, Tübingen 31959, Sp. 1290–1296. Vgl. Wegmann, Was heißt einen ›klassischen Text‹ lesen?, S. 387: »Der philologische Textbezug ist demnach eine Praxis des Lesens, die sowohl den Geist als auch den Buchstaben realisiert, die sowohl das Philosophisch-Spekulative des (Text-)Sinns wie die unhintergehbare Buchstäblichkeit des Textes in einem Kalkül zur Anwendung bringt«. KSA XVIII, S. 297. Zumindest gilt dies für die Phase der Fragmente ›Zur Philologie‹. Schlegel wird dieses Modell in den Philosophischen Vorlesungen später wieder aufgeben. Siehe KSA XIII, S. 183–188. Zu Fichte vgl. Johann Gottlob Fichte, Ueber Geist und Buchstabe in der Philosophie. In: ders., Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften.

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defizitäres Medium für den Ausdruck des unendlichen Geistes, so kann andersherum aus dem Buchstaben heraus er nicht völlig erfasst werden. »Ist es denn auch möglich, noch d[en] Geist zu erklären, d.[en] ganzen Geist einer Schrift zu fassen? Ist welcher drin, so ist er unendlich.«287 Das Zurückkommen als Approximation wird zu einer nicht an ein Ende kommenden Anschlusskommunikation: »ein unaufhörliches, stets von neuem wiederholtes Lesen der klassischen Schriften, ein immer wieder von vorn anfangendes Durchgehen des ganzen Zyklus: nur das heißt wirklich lesen.«288 Die Figur richtet sich dabei sowohl auf das Objekt des Textes als auch auf die Bemühungen des Verstehenden. Erst in der Unausschöpflichkeit des Sinnhorizonts erweist sich die Klassizität eines Werkes, wie im 20. ›Lyceum‹-Fragment deutlich wird: »Eine klassische Schrift muß nie ganz verstanden werden können. Aber, die, welche gebildet sind und sich bilden, müssen immer mehr draus lernen.«289 Poesie und Verstehen sind, wie die Geschichte selbst, zirkulär und zugleich progressiv, eben: progressive Universalpoesie. Genau in dieser Bewegung aber zeigt sich der Geist an, stärker noch, die Bewegung ist der Geist. Diese Überlegungen lassen auch Schlegels Position zum Problem der Autorschaft klarer werden. Er präsentiert eine Theorie des Lesens, die Verstehen vom Autorbewusstsein abkoppelt und als Multiplizierung hermeneutischer Anschlussmöglichkeiten beschreibt. Festzuhalten aber bleibt, dass die Freisetzung auf der Rezeptionsseite nicht dazu führt, auf der Produktionsseite auf das Konzept der genialen Autorschaft zu verzichten. Wenn Bolz eine durchaus berechtigte Parallele zum Lektüremodell Barthes zieht,290 dann verwischt dies aber auch eine Grenze. Besteht für Barthes letztlich bei jedem Text die Möglichkeit, ihn zu lesen oder in der Lektüre zu schreiben,291 so macht Schlegel letzteres zum Spezi-

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Hg. von Reinhard Laut u.a. Bd. 6, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 333–361. Auch Winfried Menninghaus (Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt/M. 1987, S. 83f.) sieht eine deutliche Grenze zwischen Fichtes und Schlegels Konzeptionalisierung des Verhältnisses von Geist und Buchstabe. KSA XVIII, S. 115. An anderer Stelle heißt es hingegen: »Der gesamte Geist als Wort constituiert – d[er] Geist des Universums heraufgebannt.« KSA XVIII, S. 291. Der von Bolz (Der Geist, S. 91) angegebene Nachweis KSA III, S. 148 ist falsch. Richtig ist KSA III, S. 53. KSA II, S. 149. Vgl. auch das ›Athenäum‹-Fragment 404. KSA II, S. 241. In den Fragmenten ›Zur Kritik‹ heißt es noch dezidierter: »Alle class.[ischen] Schriften werden nie ganz verstanden, müssen daher ewig wieder kritisirt und interpretirt werden.« KSA XVI, S. 141. Vgl. Bolz, (Der Geist, S. 93f.), der auf die Unterscheidung Barthes, einen Text bloß zu lesen oder ihn lesend neu zu schreiben, rekurriert. In ›Le plaisir du texte‹ schreibt Barthes (Œuvres complètes. Hg. von Éric Marty. Bd. II 1966–1973, Paris 1994, S. 1493–1529; S. 1500.) über zwei Arten der Lektüre: »D’où deux régimes de lecture : l’une va droit aux articulations de l’anecdote, elle considère

fikum poetischer Texte. Dies impliziert dann eben auch eine spezifische Zurichtung der Texte durch Autorsubjekte, die ein solches Lektüremodell erst ermöglicht. Nicht zuletzt die redaktionelle Bearbeitung und Zusammenstellung aller ›Athenäum‹-Fragmente durch Friedrich Schlegel zeugt von einem solchen Autorbewusstsein. Autor ist nun aber auch der Herausgeber. Die Positionen von Herausgeber und Autor werden in ihrem produktiven Status zunehmend ununterscheidbar. Wir finden bei Schlegel einen Ausgleich, ein Aufeinanderbezogensein der Position des Autors und des Lesers, beide bedürfen einander. Der Autor wird nicht mehr unabhängig vom Leser gedacht, sondern erst im beschriebenen Lesemodell wird die Position des Autors als Dichter, der eine solche Lektüre ermöglicht, sichtbar.292 Von daher motiviert sich auch die Unterscheidung von ›Autor‹ und ›Schriftsteller‹ bei Schlegel: »Nicht jeder d[er] etwas schreibt, ist oder soll ein Autor seyn.«293 Dazu gehört, wie er in der ›Forster‹-Schrift sagt, »Selbständigkeit der schöpferischen Kraft, ohne die es unmöglich ist, ein großes wissenschaftliches, künstlerisches oder geschichtliches Werk zu vollenden«.294 Er nennt »die Selbständigkeit eine Cardinaltugend für den Autor. […] Selbständigkeit ist etwas religiöses«.295 Ein solchermaßen hervorgebrachtes Werk aber sagt sich von seinem Urheber los und steht nun isoliert und frei für Lektüren offen.296 Dabei ist ›Genie‹ auf der Produktionsseite das Äquivalent zum ›Geist‹:

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l’entendue du texte, ignore les jeux de langage […] l’autre lecture ne passe rien ; elle pèse, colle au texte, elle lit, si l’on peut dire, avec application et emportement, saisit en chaque point du texte l’asyndète qui coupe le langage – et non de anecdote«. Vgl. Ute Maak, Ironie und Autorschaft. Zu Friedrich Schlegels Charakteristiken, Paderborn 2002, S. 47. Maak will, ähnlich wie Bolz, den Autor als bloßen »Effekt von Lektüre(n)« sehen und übersieht dabei, dass der Autorbegriff, wie der Begriff ›Homer‹ als spezifischer Ausweis des Poetischen gilt. Es findet also eine wirkliche Wechselbeziehung statt. Nur klassische Werke werden jene wiederholte Lektüre einfordern, die sie aber rekursiv erst als klassische Werke und ihre Urheber als klassische Autoren ausweisen. Wenn man dieses Wechselverhältnis nicht berücksichtigt und die Urheberposition wegstreicht, dann bleibt unverständlich, warum eben nicht jeder Autor, wohl aber Schriftsteller sein kann. Auch wenn Barthes (Plaisir du texte, S. 1508) vom ›Tod des Autors‹ spricht, so erkennt er an, dass jede Lektüre diesen begehrt und seiner bedarf. »Comme institution, l’auteur est mort – sa personne civile, passionnelle, biographique, a disparu; dépossédée, elle n’exerce plus sur son œuvre la formidable paternité dont l’histoire littéraire, l’enseignement, l’opinion avaient à charge d’établir et renouveler le récit: mais dans le texte, d’une certaine façon, je désire l’auteur – j’ai besoin de sa figure […] comme il a besoin de la miennee.« In der wechselseitigen Bedürftigkeit der Positionen besteht die Analogie zu Schlegel. KSA XVIII, S. 38. KSA II, S. 98. KSA XVIII, S. 203. Hinrich C. Seeba (Wirkungsgeschichte der Wirkungsgeschichte. Zu den romantischen Quellen (Friedrich Schlegel) einer neuen Disziplin. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 3 (1971), S. 145–167; S. 159) beschreibt Schlegels Ansatz als strikte Rezep-

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»Denn Genie ist Geist, lebendige Einheit der verschiedenen natürlichen, künstlichen und freien Bildungsbestandteile einer bestimmten Art.«297 Dem Genie eignet also die im Wortlaut nahezu gleiche Eigenschaft wie dem Geist. Nur wo die »gesetzlich freie innige Gemeinschaft mehrerer Talente«298 zu erkennen ist, da ist Genie. Erkennbar aber wird sie erst durch den Geist, durch ein rekursives Anschließen an das vom Genie Gebildete. Genie und Autor sind also bestimmt durch das Phänomen der Nachträglichkeit, zugleich aber schuldet sich die Tatsache, dass eine solche Nachträglichkeit überhaupt möglich ist bzw. faktisch vollzogen wurde, eben der Arbeit eines Autors. Ein solcher Autor schafft bereits im Bewusstsein seiner eigenen Entmächtigung, ja er fordert sie durch sein Werk geradezu ein. Darin unterscheidet er sich vom rhetorischen Autor, der sein Werk ganz als Instrument zu persuasiven Zwecken betrachtet. Allerdings, und das ist gegenüber jenen Interpreten zu betonen, die den vorgeblichen Tod des Autors bei Schlegel als Tyrannenmord bewillkommnen, zeugt diese freiwillige Rücknahme von einem ungeheuren Machtbewusstsein, wenn die Nachträglichkeit der Autorzuschreibung bereits als Effekt des Schreibprozesses gedacht wird.299 Der Autor drängt dem Leser keine Intentionen auf, zwingt ihn aber, wenn er nicht bloß Konsument,300 sondern der von Schlegel gewünschte ›klassische Leser‹ ist, zu einem Lektüremodell, das als Ergebnis den Urheber nun als ›klassischen Autor‹ auszeichnet und selbst im Modell des Kreislaufes operiert: »Alles kritische Lesen, alles Lesen mit Rücksicht auf Klassizität […] ist cyklisch. […] Studium verdient nur das Lesen genannt zu werden, was cyklisch ist«301 und »Classisch ist alles was cyclisch studirt werden

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tionshermeneutik, in der es dem Leser obliege »die jeweilige Wirkung eines Werkes in seinem Mitvollzug selber zu bestimmen.« KSA II, S. 98. So in der Rezension zu Jacobis ›Woldemar‹. KSA II, S. 89. Stefan Matuschek (Die Macht des Gastmahls. Schlegels ›Gespräch über die Poesie‹ und Platons ›Symposium‹. In: ders. (Hg.), Wo das philosophische Gespräch ganz in Dichtung übergeht. Platons Symposium und seine Wirkung in der Renaissance, Romantik und Moderne, Heidelberg 2002, S. 82–96; S. 96) spricht anlässlich des ›Gesprächs über die Poesie‹, das vordergründig eine Multiplizierung von Autorschaft vorführe, von einem »Überlegenheitsanspruch des Autors« Schlegel, der sehr wohl einen »Autoritätsanspruch« für sich veranschlage, was zu einem »Nebeneinander von relativierenden und hierarchisierenden Tendenzen« führe. Dabei zieht Schlegel den normalen auf Unterhaltung bedachten Leser mit jenen gründlicheren Lesern zusammen, die am Ende der Lektüre stets eine klare ›Botschaft‹, einen Wert mit nach Hause tragen wollen: »Freilich mögen viele wohl nur blättern, um die Zeit zu töten, oder um doch auch zu hören, und mitsprechen zu können. Die Gründlicheren hingegen lesen oft zu kaufmännisch. Sie sind unzufrieden mit einer Schrift, wenn sie nicht am Ende sagen können: Valuta habe bar und richtig empfangen.« KSA II, S. 92. KSA XVI, S. 67.

muß«.302 Ein zurückkommendes, wiederholendes Lesen aber heißt eben nicht in liturgische Repetition zu verfallen. Wieder greift Schlegel auf das Oppositionspaar von Kreislauf und Progression zurück, die in diesem neuen Lesen zusammengeschaltet werden.303 Dies ist Grundfigur der Verbindung von Antike und Moderne im Begriff des Klassischen bei Schlegel.304 Gelegentlich spricht er gar von einer »Theorie des Klassischen«.305 Der Begriff des ›Cyklischen‹, der die Figur des Kreislaufes in die der Spirale überführt, ist dabei schon als diese Kombination gedacht.306 Das Zyklische wie das Klassische307 hat bereits eine zugleich progredierende wie regressive Bewegungsrichtung,308 und eignet sich so zur herme302 303 304

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KSA XVI, S. 139. Auch Mennemeier (Friedrich Schlegels Poesiebegriff, S. 194) spricht von einer ›progressiven Klassizität‹. Damit soll nicht behauptet sein, alle Bedeutungsvarianten des Begriffs bei Schlegel erschöpft zu haben. Anne Grosse-Brockhoff (Das Konzept des Klassischen bei Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Köln – Wien 1981, S. 96f.) weist auf dessen leicht inflationären Gebrauch bei Schlegel hin: »Der Begriff ›klassisch‹ scheint innerhalb der Überlegungen Schlegels ein wenig über Gebühr strapaziert worden zu sein.« Sie selbst macht mindestens »zehn Schattierungen in seine Verwendungsweise« aus. Zuzustimmen ist Oesterle (Arabeske und Roman, S. 260), wenn er für Schlegel einen »nachantiken und antiklassizistischen nachmodernen« Dichtungsbegriff veranschlagt. Das Attribut »antiklassisch« aber würde ich bestreiten wollen. KSA XVI, S. 74. Immer wieder kreist Schlegel um dieses Verhältnis, auch wenn er klassische und progressive Philologie zunächst gegeneinander stellt, um sie dann ineinander fallen zu lassen: »Gehört die Diaskeue zur klass.[ischen] oder zur progr.[essiven] φλ[Philologie]? Das Nichtwissen, was werden kann ist eigentlich nur negative Progressivität. – Sie gehört allerdings zur klass.[ischen] aber die progr.[essive] muß auch klassisch seyn«. KSA XVI, S. 78f. Das Zyklische findet sich in analoger Weise in der Geschichtskonzeption der Romantik. So expressis verbis in Joseph Görres’ ›Mythengeschichte der asiatischen Welt‹ (1810) (In: Gesammelte Schriften. Hg. von Wilhelm Schellberg, Bd. 5, hg. von Willibald Kirfel, Köln 1935, S. 1–303, S. 20): »Die Linie des Fortschritts wird jene sein, die dann entsteht, wenn mit einem stetig erweiterten Streben ein stetig in den Kreis einbeugendes sich verbindet, jede Linie, die sich gestaltet, wenn ein sich immer mehr öffnender Zirkel fortdauernd im Kreise sich bewegt, das ist die Spirale.« Zur Figur der Wiederholung im zyklischen Geschichtsverständnis um 1800 siehe Sabine Haupt, ›Es kehret alles wieder‹. Zur Poetik literarischer Wiederholung in der deutschen Romantik und Restaurationszeit: Tieck, Hoffmann, Eichendorff, Würzburg 2002. Dort vor allem Kap. 2, S. 79–206. Zu Schlegel, S. 114–120. Haupt bleibt dabei strikt bei geschichtsphilosophischen Überlegungen und erwähnt Schlegels philologischen Ansatz mit keinem Wort. Schlegel setzt beide Begriffe in der Tat gleich: »Class[isch] = Cykl[isch].« KSA XVI, S. 163. »Die Cyklisation ist wie eine Totalisazion von unten herauf .« KSA XVI, S. 68 und »Die ganze class.[ische] π[Poesie] war zugleich regredirend und progredirend; […] Bei d[en] Modernen soll die Progression und auch die Regression immer wachsen.« KSA XVI, S. 110. Görres (Wachstum der Historie. In: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. von Günther Müller, Köln 1926, S. 363–440; S. 379)

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neutischen Maxime, wie Schlegel zu Beginn der frühen ›Lessing‹-Schrift betont: »So lange wir noch an Bildung wachsen, besteht ja ein Teil, und gewiß nicht der unwesentlichste, unsers Fortschreitens eben darin, daß wir immer wieder zu den alten Gegenständen, die es wert sind, zurückkehren, und alles Neue, was wir mehr sind oder mehr wissen, auf sie anwenden, die vorigen Gesichtspunkte und Resultate berichtigen, und uns neue Aussichten eröffnen.«309 Mit und gegen Barthes ließe sich sagen: Wo der Leser vom Autor zum Wieder-Schreiben des Textes gezwungen wird, da schreibt er diesen paradoxerweise in seiner fortifizierten Position erst fest, anstatt ihn aus dieser zu vertreiben.310 »Nur der Autor ist wahrer Priester […] näml.[ich] geistiger.«311 Im 112. ›Lyceum‹-Fragment bringt Schlegel die entscheidenden Punkte zusammen. Der analytische Schriftsteller beobachtet den Leser, wie er ist; danach macht er seinen Kalkül, legt seine Maschinen an, um den gehörigen Effekt auf ihn zu machen. Der synthetische Schriftsteller konstruiert und schafft sich einen Leser, wie er sein soll;

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prägt für das romantische Geschichtsverständnis die Formel »Cycloidialen Progressus«. KSA II, S. 100f. Vgl. auch die Formulierung, dass mit dem »Kreislauf eine ewig fortschreitende, immer höher steigende Vollendung natürlich verbunden sei«. KSA XIII, S. 283. Wohl aus diesem Grund spricht Barthes von verschiedenen Möglichkeiten der Lektüren. Es bleibt aber auch bei Barthes kein Zweifel, welches Lektüremodell für ihn das angemessene, resp. ›richtige‹ ist. In ›S/Z‹ (Œuvres complètes, S. 561f.) spricht Barthes von der Arbeit am Text, die der Leser zu leisten habe: »Lire cependant n’est pas un geste parasite, le complément réactif d’une écriture que nous parons de tous les prestiges de la création et de l’antériorité. C’est un travail […] Lire, en effet, est un travail de langage«. Dabei wird hier aber auch der Unterschied zu Schlegel deutlich. Meine These ist, dass sein Modell der Lektüre, den genialischen Autor wieder evozierern soll. In die Freiheit der Lektüre entlassen, postuliert der Leser den Autor dennoch. Kantisch gewendet setzt dies den Autor in die Position Gottes. Der in Freiheit gesetzte Mensch kehrt freiwillig und zugleich notwendig zu Gott zurück, der, wenn auch nichts anderes auf ihn deutet, gedacht werden muss, um die moralischen Gesetze und die Freiheit des Individuums praktizieren zu können. Der Autor, als Gott, ist somit zugleich entzogen und doch unendlich mächtig und präsent. Vgl. auch KSA XVIII, S. 21 [Nr. 28], wo Schlegel die Kantische Letztbegründung der Willensfreiheit in einer theologisch-transzendenten Gottesidee bespricht. Zur religiösen Herkunft und Konsequenzen frühromantischer Autorschaft siehe: Guido Bolz, Über romantische Autorschaft. In: Friedrich A. Kittler/Horst Turk (Hg.), Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt/M. 1977, S. 44–52; S. 46ff. Damit dreht Schlegel, die bei Hamann ausgestellte Idee von ›Gott als Schriftsteller‹ um in die Formel vom ›Dichter als Gott‹. Vgl. Joachim Ringleben, Gott als Schriftsteller. Zur Geschichte eines Topos. In: Bernhard Gajek (Hg.), Johann Georg Hamann. Autor und Autorschaft. Acta des sechsten Internationalen Hamann-Kolloquiums, Frankfurt/M. u.a. 1996, S. 215–276. KSA XVIII, S. 203.

er denkt sich denselben nicht ruhend und tot, sondern lebendig und entgegenwirkend. Er läßt das, was er erfunden hat, vor seinen Augen stufenweise werden, oder er lockt ihn es selbst zu erfinden. Er will keine bestimmte Wirkung auf ihn machen, sondern er tritt mit ihm in das heilige Verhältnis der innigsten Symphilosophie oder Sympoesie.312

Sympoesie verweist weniger auf das gemeinschaftliche Verfassen von Werken durch Autoren, sondern meint die Interaktion des Lesers mit dem vom Autorgenie geschaffenen Werk. Der Idee der Entmächtigung des Autors tritt die seiner absoluten Herrschaft an die Seite.313 Daher ist der ›klassische‹ Dichter »zugl[eich] synthetisch und analytisch«.314 Die neuen Klassiker entstehen aus der Spannung der Fixiertheit der Alten und der Bewegung in den Neuen.315 So können die Alten »künftig einmahl in d[em] Classischen selbst übertroffen werden.«316 Das Klassische konstituiert sich in der gemeinsamen Arbeit von Leser und Autor am Werk. Diese Interaktion ist von beiden Seiten her als schöpferischer Akt des produktiven Vermögens der Einbildungskraft gedacht.317 »Wir berühren uns miteinander; die Einbildungskraft in der geistigen Anschauung ist immer nur symproduktiv, nie allein und einsam produktiv.«318 Verstehen ist nur deshalb möglich, weil poetische Produktivität als anthropologisches Vermögen sich nicht auf den Dichter beschränkt.319 Wir sind des Verstehens »fähig, weil auch ein Teil des Dichters, ein Funke seines schaffenden Geistes in uns lebt«,320 wie es im ›Gespräch‹ heißt. Ergebnis dieser Symproduktion ist daher wieder Poesie, nun aber schon um eine Potenz erweitert. Poesie der Poesie. Eine Kritik, die sich dem Schlegelschen Lektüremodell verpflichtet, rückt damit ebenfalls in den Rang eines Kunstwerkes, ihr Kritiker wird zu einem wahren Autor, als Schöpfer von Poesie. »Die

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KSA II, S. 161. So ist der Dichter denn auch der »Mittelpunkt«, von dem die »Poetisazion« ausgehe. KSA XVI, S. 112. KSA XVI, S. 92. Schlegel bringt das auf folgende Formel: »Class[isch] = fix, […] Progr[essiv] = bewegt« KSA XVI, S. 166. KSA XVI, S. 94. Damit ist auch eine Differenzierung angemahnt, die bei aller Buchstabenmagie oft verloren zu gehen droht. Nicht die Buchstaben selbst sind es, die sich ›bewegen‹, Werke entstehen lassen etc., sondern zwei menschliche ›Bewusstseine‹ anlässlich von Niederlegung auf der einen und Resurrektion von ›Geist‹ auf der anderen Seite. Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, Köln 1804–1805, KSA XII, S. 359. Öfter noch als Einbildungskraft stehen »Fantasie« und »Witz« bei Schlegel als Begriffe für dieses Vermögen. KSA II, S. 285.

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wahre Kritik ein Autor in der 2t Potenz. –«.321 Im diesem Begriff von Kritik führt Schlegel zwei begriffsgeschichtliche Traditionslinien zusammen: die philologische Textkritik der Antike bzw. des Humanismus und die ästhetische Kunstkritik, für die Shaftesbury exemplarisch steht.322 Das Programm dieser Bewegung ist der Geist. Er ist bei Schlegel, wie wir sahen, keine metaphysische Größe, der gar ontologischer Rang eingeräumt würde und etwa dem Wort dichotomisch gegenüberstünde, wie Nüsse es formuliert,323 sondern Geist bezeichnet das beständige Oszillieren zwischen Wort und Sinn, d.h. also eine Art des kommunikativen Anschlusses: die Bewegung selbst ist der Geist. Er kann so auch nur im Nachvollzug einer Bewegung verstanden werden. Ein Nachvollzug, der sich in zwei verschiedenen Modi realisiert, einmal im Leseakt, das andere Mal in der Produktion des Sinnzusammenhangs als Syntheseleistung, als produktive Leistung der Einbildungskraft. Beide Modi sind eng aufeinander bezogen. »Buchstabe ist fixierter Geist. Lesen heiß gebundenen Geist frei machen.«324 Damit ist aber keine Abwertung des Buchstabens gegenüber einem unendlichen Geist impliziert. Erst im Durchgang, »einer immer von neuem der Prüfung unterworfenen Durcharbeitung«325 der Buchstäblichkeit eines Textes wird Geist sichtbar. Die Bindung durch den Buchstaben und die Notwendigkeit der zyklischen Lektüre ist Ermöglichungsgrund der Freiheit des Geistes. Die freie Bewegung des 321

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KSA XVIII, S. 106. Nahezu gleichlautend, auch in der Konsequenz für eine Theorie des Geistes als Anschluss, die bekannte Formulierung bei Novalis in den ›Vermischten Bemerkungen‹, die z.T. in die ›Blütenstaub‹-Fragmente eingeflossen sind, die, 1797 entstanden, er im Februar 1798 an A. W. Schlegel sandte: »Der wahre Leser muß der erweiterte Autor seyn. Er ist höhere Instanz, die die Sache von der niedern Instanz schon vorgearbeitet erhält. Das Gefühl, vermittelst dessen Autor die Materialien seiner Schrift geschieden hat, scheidet beym Lesen wieder das Rohe und Gebildete des Buchs – und wenn der Leser das Buch nach seiner Idee bearbeiten würde, so würde ein 2ter Leser noch mehr läutern, und so wird dadurch daß die bearbeitete Masse immer wieder in frischhaltige Gefäße kömmt die Masse endlich wesentlicher Bestandtheil – Glied des wircksamen Geistes.« Ders., Vermischte Bemerkungen. Nr. 125. In: ders., Schriften. Hg. von Paul Kluckhorn und Richard Samuel, Bd. II: Das philosophische Werk, Stuttgart 1960, S. 412–470; S. 470. Zur Begriffsgeschichte vgl. Kurt Röttgers, Kritik und Praxis. Zur Geschichte des Kritikbegriffs von Kant bis Marx, Berlin – New York 1975, S. 19ff. Reingard Nethersole (›Poesie‹ als Infragestellung der Philologie. In: Voßkamp/Lämmert (Hg.), Zwei Königskinder, S. 202–211; S. 210) versucht dies zu bestreiten und charakterisiert die Philologie Schlegels wie der Grimms, auch im Frühwerk, als »restaurative Verfahrensweisen«. Dem kann hier nur widersprochen werden. Auch wenn es einer langen Traditionslinie seit Scherer folgt, so kommt man nicht umhin, eine fundamentale Differenz zwischen den Romantikern und den Grimms diagnostizieren zu müssen. So richtig in der Skizze die Position Schlegels erkannt wird, so verkannt wird die der Grimms. Dazu siehe unten. Vgl. Nüsse, Sprachtheorie, S. 107. KSA XVIII, S. 297. KSA III, S. 80.

Geistes bedingt seine Fixierung im Buchstaben, der solcherart überwunden und »fließend gemacht wird.«326

Philologie und Kritik »Kritisiren heißt einen Autor besser verstehen als er s.[ich] selbst verstanden hat.«327 Schlegel zitiert hier nicht nur die um 1800 geläufige hermeneutische Maxime. Mit ihr unterstreicht er, dass seine Hermeneutik als Hermeneutik des Lesens gedacht ist. Philologie ist Lesen als Befriedigung des philologischen Triebes und zugleich produktiver Akt. »Die Lectüre ist eine Kunst«,328 die aus dem Wortmaterial einen Text als Zusammenhang, als Gewebe erst entstehen lässt. »Lesen heißt den philologischen Trieb befriedigen, sich selbst literarisch affizieren. Aus reiner Philosophie oder Poesie ohne Philologie kann man wohl nicht lesen.«329 Dabei fallen der Begriff der Kritik und der Philologie auf eine neue Weise zusammen. Nicht mehr wird die Philologie identifiziert mit Textund Konjekturalkritik, sondern beide Begriffe werden neu bestimmt. In dieser neuen Bestimmung der Philologie werden die alten Begriffe aufgehoben: »Die gesammte φλ [Philologie] ist gewissermaßen nichts andres als Kritik. Die Kritik als Kunst kann nur an Schriften geübt werden, und zwar an klassischen. Alles ist vereinigt hier: poetische Kritik, grammat.[ische] philologische, historische, philosophische. – Dasselbe gilt wohl auch von Grammatik und Hermeneutik.«330 Der Kritik- und Kunstbegriff verweist hier auf eine sehr technisch gedachte Tradition der Philologie. Diese Tradition wird von Schlegel nämlich dezidiert nicht aufgegeben.331 »Die echte Rezension sollte die Auflösung einer kritischen Gleichung, das Resultat und die Darstellung eines philologischen Experiments und einer literarischen Recherche sein.«332 Die genaue Textkritik bleibt ihm notwendig, denn diese erfordert eben jene zyklische Lektürehaltung, die klassische Texte erst entstehen lässt. Die Philologie wird dabei in Analogie zur antiken Kunstkritik bestimmt. »Bey den Alten war die Ganze Kritik eine Kunst, ungetrennt.« In

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KSA XVIII, S. 344. KSA XVI, S. 172. KSA XVIII, S. 198. KSA II, S. 238f. In den Fragmenten ›Zur Philologie. II‹ heißt es: »Aber was ist denn überhaupt Lesen? Offenbar etwas Philologisches«. KSA XVI, S. 67. KSA XVI, S. 47. Es geht Schlegel, wie Hans-Joachim Heiner (Das Ganzheitsdenken Friedrich Schlegels. Wissenssoziologische Deutung einer Denkform, Stuttgart 1971, S. 5f.) aber meint, ganz und gar nicht darum, eine »mystische Philologie« zu entwerfen, »die alles, was nur Handwerk und Gelehrsamkeit darstellt abstreift«. Die höhere Philologie, die er ins Auge fasst, so viel sollte deutlich werden, hebt Textkritik, Hermeneutik, Grammatik und philosophische Reflexion ineinander auf. KSA II, S. 241.

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›Lessings Gedanken und Meinungen‹ versucht Schlegel eine genauere Bestimmung des Kritikbegriffes, indem er ihre (antike) Geschichte skizziert und diese dann ins Verhältnis zu den Modernen setzt. Die Rekonstruktion des Gangs der antiken Philologie vollzieht sich in den von Wolf bekannten Bahnen, auf denen sich, wie wir sahen, noch Heinz Schlaffer bewegt. Ohne einen Versuch chronologischer Einteilungen überhaupt zu unternehmen, setzt Schlegel den Beginn der Philologie an, »nachdem das Zeitalter der großen Poeten vorüber war«.333 Aufgrund fehlender Massenreproduktion von Texten, bei einer gleichzeitig fast unüberschaubar gewordenen Anzahl von Einzelwerken, seien Ordnung und Übersicht aller Werke sowie die »Prüfung und Vergleichung« einzelner Abschriften die Hauptaufgaben der Philologie gewesen. Damit aber haben die antiken Kritiker einen Kanon durch »die Auswahl der klassischen Schriftsteller« erst hervorgebracht. Die auf die Modernen überkommene Tradition antiker Textzeugnisse ist das Ergebnis dieser Selektionen, und wenn auch »manches, was uns merkwürdig sein würde, nicht auf uns gekommen ist, weil es außer diesem Zyklus lag«, ist dies aus historischer Perspektive zwar zu bedauern, die eigentliche Leistung der antiken Philologie aber besteht in der Überlieferung klassischer Muster jeder Gattung, ohne die die nachfolgende Literatur nicht denkbar gewesen wäre. Die Reduktion komplexer Textcorpora auf als musterhaft und »ewiger Nachbildung würdig«334 angesehene klassische Werke habe den poetischen Sinn der Griechen wachgehalten und der Nachwelt überliefert. Schlegel ist sich der funktionalen Bedeutung dieses Wandels bewusst. Wenn er auch die traditionsbildende Leistung der Philologie zu würdigen weiß, so erkennt er, dass damit die Dichtung ihre zuvor privilegierte Position in der Systematik des Wissens eingebüßt hatte. »Gelehrsamkeit und Kritik« mussten nach ihrem Untergang »die Stelle der Poesie einigermaßen ersetzen«.335 Diese Trennung, obwohl auf Seiten der Poesie zunächst als Verlustgeschäft markiert, ist notwendige Voraussetzung für die Gewinnung einer neuen Dichtung. Hier zeigt sich nun die ganze Konsequenz der Schlegelschen Theorie des kommunikativen Anschlusses. Poesie ist immer Anschluss an das schon Gebildete. Bricht die Möglichkeit zur Fortsetzung literarischer Kommunikation weg, so endet im selbigen Moment die Poesie als sich aus seinen eigenen Registern reproduzierender Textzusammenhang. Geht durch historische Zäsuren – etwa dem »Untergange der Verfassung und der Sitten«336 – dieser Zusammenhang einmal verloren, bedarf es einer Form der Speicherung, um für spätere Generationen die Möglichkeit zum Wiederanschluss zu geben. Diese Aufgabe kommt der Kritik zu. Wo die Dichtung zur klassischen Litera333 334 335 336

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Beide KSA III, S. 52. Alle KSA III, S. 53. KSA III, S. 62. KSA III, S. 54.

tur geworden ist, nicht mehr aktiv produktiv ist, sondern als Nachlass verwaltet wird, ist sie zwar für den Moment stillgestellt, bietet aber die Möglichkeit des Zurückkommens. Da Geschichte bei Schlegel stets progressiv – aber eben nicht teleologisch – gedacht ist, wird jede Nation unvermeidlich mit Situationen konfrontiert, in denen der unmittelbare Kommunikationszusammenhang ihrer individuellen Dichtungsart unterbrochen wird. Tritt nun die Philologie nicht an die Stelle von Dichtung, so kann sich diese nicht erhalten und geht gänzlich verloren. »In der Tat kann keine Literatur auf die Dauer ohne Kritik bestehen und keine Sprache ist vor Verwilderung sicher, wo sie nicht die Denkmale der Poesie erhält, und den Geist derselben nährt.«337 Genau dies aber ist die Situation der deutschen bzw. westeuropäischen Literaturgeschichte, die Schlegel entwirft. Der Unterschied zwischen Alten und Modernen wird nun nicht mehr an der Existenz einer natürlichen Poesie festgemacht. Schlegels Differenzierung nach Nationen führt ihn, ganz ähnlich wie Herder, zu der Annahme, dass jede Nation ihre eigene Naturpoesie gehabt habe. Für die deutsche Dichtung setzt Schlegel diese »Blütezeit« für das 12. und 13. Jahrhundert an.338 »Damals hatte die deutsche Sprache eine Allgemeinheit und Süßigkeit, welche sie schwerlich wieder erreichen wird.«339 Träger dieser Literatur seien vornehmlich Ritter und Fürsten gewesen und ihre Produktionen seien dem unmittelbaren Lebenszusammenhang entsprungen. Ähnlich stelle sich die Situation in Frankreich und Spanien dar. Der Vorzug einer solchen naiven, romantischen Literatur aber kehrt sich schnell gegen sie selbst. Das Fehlen geistlicher und damit gelehrter Träger besiegelt ihr literaturgeschichtliches Schicksal. In dem Moment, als die ritterliche Lebenswelt historisch untergeht – Schlegel datiert auf den Tod Friedrich II. und den Beginn des Interregnums340 Mitte des 13. Jahrhunderts – geht auch die aus dieser Lebenswelt entwachsene Poesie verloren, da die Geistlichen kein Interesse an ihrer Überlieferung zeigen. »Nur in Italien waren die drei ersten großen Dichter zugleich Gelehrte […] aber doch mehr Gelehrte als irgend einer unter jenen früheren Erfindern, zugleich Dichter und die ersten Wiederhersteller der alten Literatur«.341 Die Dichter-Philo-

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KSA III, S. 55. Hier zeigt sich ein Manko Szondis (Antike und Moderne, S. 107), wenn er sich hauptsächlich auf den ›Studium-Aufsatz‹ bezieht und Schlegels Ablehnung eines nationalen Goldenen Zeitalters zitiert. Es ließe sich freilich streiten, ob Schlegel hier wirklich an ein Goldenes Zeitalter denkt. In jedem Fall sieht er in dieser Epoche einen ersten, bisher unerreichten Gipfel deutscher Dichtung erreicht. KSA III, S. 62. Vgl. KSA III, S. 62. Zwar folgt mit Konrad IV. 1250 bis 1254 ein weiterer Staufer als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nationen. Schlegel spielt aber mit der Formulierung »großen Kaiser des Hohenstaufischen Hauses« sicherlich auf Friedrich II. an. KSA III, S. 54.

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logen des Renaissancehumanismus lassen den Kommunikationszusammenhang, anders als in Deutschland, nicht abreißen. In Deutschland aber fehlen solche Köpfe, die Poesie und Philologie zusammenschließen konnten. »Dichtkunst und Gelehrsamkeit waren getrennt; eine Trennung, die jederzeit Barbarei zur Folge haben muß.«342 Die Wendung ins Präsens hinein sollte für den Gang der weiteren Argumentation festgehalten werden, denn sie führt die historische Diagnose unmittelbar an Schlegels Gegenwart heran. Aus dieser Trennung leitet er das Fehlen einer eigentlich nationalen, deutschen Literatur bis ins 19. Jahrhundert hinein ab. Beginnt das literarische mit dem politischen Interregnum, so geht die Zeit der poetischen Barbarei für Schlegel weit darüber hinaus, »bis zu der neuen Literatur und Poesie, die erst jetzt nicht sowohl entstanden, als zu entstehen im Begriff ist«.343 Eine literaturgeschichtliche These, die sich bis heute in die Lehr- und Studienpläne einer »Neueren Deutschen Literaturwissenschaft« verlängert.344 Die provenzalischen Gesänge, die altfranzösischen Erfindungen, und die herrlichen Werke altdeutscher Dichtkunst sind verschollen, und die fast unbekannt gewordne Poesie harret meist noch im Staube der Büchersammlungen auf einen Befreier. Da der Geist und das Leben, aus welchem die romantische Poesie hervorging, verschwunden und zerstört war, ging auch diese Poesie selbst unter, und mit ihr zugleich der Sinn dafür, weil hier nicht wie in Griechenland auf das Zeitalter der Dichtung ein Zeitalter der Kritik folgte; um, da die Kraft neue Schönheit hervorzubringen nicht mehr vorhanden war, wenigstens die alte auf die Nachwelt zu bringen.345

Schlegel aber bietet auch eine Erklärung, warum vornehmlich in Deutschland sich keine neue literarische Sprache zu bilden vermochte. Dabei kann er nicht gänzlich die deutsche Gelehrtentradition von Opitz bis Leibnitz ausblenden. Seien diese aber entweder an der alten Poesie nicht sonderlich interessiert gewesen oder ihre Werke bald vergessen worden,346 so wiege weit schwerer, dass deutsche Gelehrte fast nur Latein geschrieben hätten. Das Deutsche wie das Griechische, sagt Schlegel, seien als Sprachen »ganz zur Poesie«347 geneigt und widerstrebten, anders als das Italienische und Spanische, dem prosaischen Sprachfluss. Im Unterschied zum antiken Griechenland habe es in Deutschland aber bis ins 19. Jahrhundert hinein keine Kraftanstrengung gegeben, einen deutschen Prosastil zu entwerfen; die Gelehrten seien immer ins Lateinische oder Französische ausgewichen. So aber konnte sich weder die alte Poesie erhalten noch eine neue Prosa entste-

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KSA III, S. 62. KSA III, S. 64. So dass Ingo Stöckmann (Vor der Literatur) sich noch an der Wende zum 21. Jahrhundert genötigt sieht, eine Dissertation dagegen zu schreiben. KSA III, S. 54f. Wie Schlegel im Falle von Opitz beklagt. Vgl. KSA III, S. 64. KSA III, S. 62.

hen. »Die alte Dichtkunst war verloren und vergessen, die Ausbildung der Prosa gleichsam schon vor ihrer Entstehung gehindert und immer mehr und mehr zerstörte die Nation sich selber.«348 Vor diesem Hintergrund ordnen sich die frühromantischen Versuche der Verschmelzung von Gattungen, der Poetisierung von Prosa durch eine zu entwerfende Theorie der Prosa349 und die Hinwendung zum Mittelalter in das Projekt einer philologischen Kritik ein, zu dessen Ahnherrn nun Lessing stilisiert wird. War der Niedergang der deutschen Poesie mit der Abwesenheit einer kritischen Tradition begründet worden, so sieht Schlegel in Lessing den ersten kritischen Propheten, der, zugleich Dichter, die Aussicht auf die Möglichkeit einer neuen deutschen Literatur eröffnet habe. Damit kehrt sich das Verhältnis von Philologie und Poesie im Vergleich mit den Griechen um. Folgte bei jenen die Kritik auf die Dichtung als deren Speicherarchiv, so müsse bei den Deutschen, die derzeit keine Literatur besäßen, die Kritik in der Ausbildung einer poetischen Prosa erst vorangehen. In dieser Umkehrung des Verhältnisses von Kritik und Dichtung sieht Schlegel den archimedischen Punkt der neuen Literatur erreicht. Mit der Veränderung dieses Verhältnisses aber ist auch schon die Möglichkeit und die Idee einer Kritik von ganz andrer Art gegeben. Einer Kritik, die nicht so wohl der Kommentar einer schon vorhandenen, vollendeten, verblühten, sondern vielmehr das Organon einer noch zu vollendenden, zu bildenden, ja anzufangenden Literatur wäre. Ein Organon der Literatur, also eine Kritik, die nicht bloß erklärend und erhaltend, sondern die selbst produzierend wäre.350

Zugleich ist diese neue, »die Literatur in ihrem ganzen Umfang erst konstituierende und organisierende Kritik«351 auf eine Form des Verstehens gerichtet, die nicht mehr allein Nachvollzug einer Autorintention, sondern Produktion von Sinn überhaupt ist. Eine solche Produktivität setzt den Verstehenden selbst in den Rang eines Schöpfers. »Muß der vollendete φλ [Philolog] nicht auch Poet sein?«352 Insofern der Philologe selbst Poet ist, können nun Autor und Philologe über die »Schriften« sympoetisieren. Sympoetisieren heißt also Verkehr mit alten Texten, die nur so in die Moderne überführt werden können.353 »Man soll übersetzen, um die moderne[n] Sprach[en] antik zu bilden, sich selbst das Klassische praktisch zuzueignen in Saft und Blut, und die größere Verbreitung desselben zu

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KSA III, S. 63. Vgl. KSA XVI, S. 434–446. Die berühmte Formulierung aus dem 116. ›Athenäum‹Fragment: »Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen«, KSA II, S. 182. KSA III, S. 82. KSA III, S. 82. KSA XVI, S. 49. Bär (Sprachreflexion, S. 224) prägt für diesen Zusammenhang die schöne Wendung ›progressive Universalphilologie‹.

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befördern. Das sind die Grundsätze worauf es ankommt.«354 Dass hier nicht an ›deutsche Hexameter‹ Klopstockscher Provenienz gedacht ist, dürfte inzwischen deutlich sein. Die Philologie steht vor der Wahl: Entweder sie überlässt die Texte als historische Dokumente dem Altertum und betreibt ihre Grabpflege oder sie nimmt sich ihrer an und bringt sie in der Lektüre wieder in die Gegenwart ein. Damit aber werden sich die Texte selbst verändern, im Extremfall, wie Wolf eindrucksvoll gezeigt hatte, nicht nur ihrem Geiste, sondern auch ihrem Buchstaben nach. »Kritik – als d[ie] Kunst, Werke zu bilden, freil[ich] auch umzubilden, zu behandeln, zu diaskeuasiren, zu kritisiren.«355 Sie werden von alten, zu modernen, schließlich zu ›klassischen Texten‹. Wer dies leisten will, der aber muss das Wissen und die Akribie des Philologen und die Schöpfermacht des Poeten haben. »Beydes zugleich thun ist Sache des φλ [philologischen] Genies.«356 So ist die Frage der Übersetzbarkeit antiker Autoren keine Frage der Mimikry, sondern der dichterischen und philologischen Potenz, wie in dem berühmten, auch im ›Athenäum‹ publizierten Fragment zur Übersetzung deutlich wird: »Wer vollkommen ins Moderne übersetzen will, muß desselben so mächtig seyn, daß er allenfalls alles Moderne machen könnte; zugleich aber das Antike so verstehen, daß er es nicht nur bloß nachahmen, sondern allenfalls wiedererschaffen könnte.«357 Schlegel spielt hier Übersetzungen eines Voß gegen die seines Bruders August Wilhelm aus.358 Novalis wird zum Kandidaten, der nicht nur eine neue Mythologie, eine neue Bibel, sondern auch den Korpus der Antike in klassischen Werken neu schreiben könnte: »Wäre doch die Wiedererschöpfung in die Alterthumslehre einzuführen! Hardenb.[erg] könnte wohl den Gedanken haben, daß alle verlohrne Klassiker noch einmahl werden wiederhergestellt werden.«359 An anderer Stelle nennt Schlegel Goethe, der »noch mehr«360 als selbst Winckelmann, Moritz und Herder die Idee einer Philosophie der Philologie erfasst

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KSA XVI, S. 67. KSA XVIII, S. 125. KSA XVI, S. 63. KSA XVI, S. 65. Zur Übersetzungstheorie Friedrich Schlegels und deren Zusammenhang mit dem hier verhandelten Problembereich der Philologie siehe Apel, Sprachbewegung, S. 89–98. Es finden sich eine Vielzahl polemischer Stiche gegen Voß in den Fragmenten. Im Fragment Nr. 50 aus dem Konvolut ›Zur Philologie. II‹ (KSA XVI, S. 64) werden Voß und A. W. Schlegel als Repräsentanten grundverschiedener Übersetzungsphilosophien gegeneinander gestellt. Vgl. aber auch Fragment Nr. 111 (KSA XVI, S. 71), wo er Voß durchaus eine Leistung für die Philologie zugesteht. KSA XVI, S. 65. KSA XVI, S. 61. Später ist es »der φλ[philologische] Goethe«. Im Vergleich mit Winkkelmann deutet sich das Dilemma allerdings an. »Goethe übertr.[ifft] Winckelmann an Kunstgefühl, aber er hat nicht Kenntnisse genug.« KSA XVI, S. 69. Wohl der Grund, warum Friedrich sich und seinen Bruder als geeignete Kandidaten für die zu besetzende Position des Dichter-Philologen sah.

habe, und schreibt unser Profession dann folgenden Satz ins schlechte Gewissen: »Sich s.[ein] ganzes Leben mit Poeten z.B. zu beschäftigen ohne allen poetischen Sinn; das trifft die Philolog[en] sehr häufig. Auf diese Weise läßt sich der Historismus der Philologe darthun.«361 Die Notwendigkeit des Historismus fällt dabei einer Doppeldeutigkeit anheim, die charakteristisch für Schlegels philologischen Ansatz ist. Verweist er einerseits immer wieder auf Wolfs und Heynes Leistung, streng historisch verfahren zu sein und damit die Philologie als historische Wissenschaft362 etabliert zu haben, so wird hier andererseits deutlich, dass Schlegel damit in keiner Weise einem Historismus, der Geschichte als Selbstzweck betreibt363 und die Bewahrung der antiken Schriften allenfalls bildungspolitisch legitimiert, das Wort redet. Sich an den Alten zu bilden, heißt für Schlegel, Neues zu bilden, als Kritiker produktiv zu werden. »Nur wer einen Text in der Lektüre bildet, d.h. hermeneutisch konstituiert, kann sich an ihm bilden.«364 Doch Schlegel geht noch einen Schritt weiter und beschreibt das Verhältnis von Philologie und Poesie, Dichter und Philolog als reziproken Austauschprozess. Denn der Entwurf einer neuen, die moderne überwindenden Poesie verlangt nicht nur dichterisches Vermögen auf der Seite des Kritikers bzw. des Philologen: »Der vollendete Poet muß zugleich poet.[ischer] Krit[iker] seyn, also auch Kunstφλ[philolog].«365 Erst in dieser chiastischen Durchdringung wird der Begriff der romantischen Poesie greifbar. »Das vollkommene Romantische ist das Klassische. […] Das verstandene Klassische ist das Romantische. Romantische und klassische Poesie konvergieren durch vollkommene kritische

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KSA XVI, S. 41. Vgl. auch »Die Wissenschaft die aus der φλ[Philologie] entspringt heißt Historie« (KSA XVI, S. 67) und sich damit von der bloßen Textkritik abhebt. Wolfs ›Prolegomena‹ sind ihm dabei Beispiel für die Kombination von historischem Bewusstsein und gründlicher Textkritik. »Wolfs Proleg.[omena] als Krit.[erium] des historischen Sinns eines φλ Bornirtismus [?] eines solchen Conjecturalφλ[philologen] wie Eichstädt.« KSA XVI, S. 45. Ich glaube, die Auflösung macht so wenig Sinn, stattdessen lese ich: ›Wolfs Proleg.[omena] als Krit.[ik] des historischen Sinns eines φλ[philologischen] Bornirtismus [?] eines solchen Conjecturalφλ[philologen] wie Eichstädt.‹ Zwar sollen die ›Prolegomena‹ auch Kriterium für den maßgebenden historischen Sinn der Philologie sein. Die Genitivkonstruktion mit »eines« lässt aber auch die Lesart zu, Wolfs und Eichstädts Arbeiten folgten demselben Kriterium. In der Auflösung mit ›Kritik‹ verbietet sich eine solche Lesart. Willy Michel (Ästhetische Hermeneutik, S. 162f.) beschreibt Schlegels Historismus als Gewahrwerden der Historizität des eigenen Standpunktes. Damit ist aber eine Relativierung von Geschichtlichkeit, nicht deren Inauguration als unhintergehbarer Wirkungszusammenhang impliziert. Bolz, Der Geist, S. 108. KSA XVI, S. 45. Bei dem Dichter ist Schlegel etwas nachsichtiger als beim Philologen. In der Philologie muss des Dichter »nicht grade Meister aber doch Liebhaber« sein, dazu aber »gehört gar nicht so viel«. (ebd.)

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Behandlung«366 und »Alle romantisch[en] Studien sollen classisch gemacht werden; alle classisch[en] romantisirt.«367 Schlegel bringt damit in der Figur von Differenzierung/Entdifferenzierung nicht nur sein, sondern, so wäre Fohrmann zu ergänzen, das Projekt nahezu aller Autoren des Jena/Weimar Zirkels auf den Punkt. Herder, Humboldt, Schiller, Schlegel, Schelling und letztlich Goethe, sie alle setzen auf die Hoffnung einer »Entdifferenzierung, die auf der Differenzierung der Moderne beruht, ihre Mittel nutzt«.368 Die kritische Behandlung, die philologische Durchmusterung des Textes fungiert dabei zugleich als Regulativ, um einer Beliebigkeit des Anschlusses vorzubeugen. Wer den Text philologisch ernst nimmt, wie Schlegel einfordert, wird ihn auch verstehen. Ein Verstehen, das seine Restriktion aber nicht im Abgleich mit der Autorintention erfährt,369 sondern in der Praxis der zyklischen Lektüre, deren Synthesis dann einem Autorsubjekt als Leistung zugerechnet wird.370 Philologie wird von Schlegel keinesfalls jenseits der Hermeneutik positioniert, sondern in deren Kern. Das Klassische ist das, »was nie ganz verstanden werden kann«,371 wie das 404. ›Athenäum‹-Fragment sagt. Zielpunkt der Schlegelschen Hermeneutik ist dabei eben nicht die Autorintention, sondern umgekehrt: die Überschreitung einer monolithischen Mitteilungsabsicht durch den Kritiker wird zum Ausweis der Potenz des Autors, dessen lebendiger Geist sich im Leser fortpflanzt. Diese Kraft aber wird nur evident in der Lebendigkeit der Anschlüsse an den Text: Der unpoetische Text hat keine Kritik.372

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Weimar, Historische Einführung, S. 104. Grosse-Brockhoff (Das Konzept, S. 97) sieht einen Begriffswechsel vom Klassischen zum Romantischen, um ersteren »zu entlasten«. KSA XVI, S. 107. Explizit wird Novalis in seinem Fragment ›Über Goethe‹ (Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 640–647; S. 640ff.): »denn man irrt sehr, wenn man glaubt, daß es Antiken giebt. Erst jetzt fängt die Antike an zu entstehen. Sie wird unter den Augen und der Seele des Künstlers. Die Reste des Alterthums sind nur die specifischen Reitze zur Bildung der Antike. […] Der classischen Litteratur geht es, wie der Antike; sie ist uns eigentlich nicht gegeben – sie ist nicht vorhanden – sondern sie soll von uns erst hervorgebracht werden. Durch fleißiges und geistvolles Studium der Alten entsteht erst eine klassische Litteratur für uns – die die Alten selbst nicht hatten.« Jürgen Fohrmann, Schiffbruch mit Strandrecht. Der ästhetische Imperativ in der ›Kunstperiode‹, München 1998, S. 114. So der Vorschlag von Lutz Danneberg (Zum Autorkonstrukt und zu einem methodologischen Konzept der Autorintention. In: Fotis Jannidis u.a. (Hg.), Die Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999, S. 77–105; S. 101), um der Beliebigkeit vorzubeugen, denn der »Text läßt sich grundsätzlich mit allem verbinden, was dem Interpreten einfallen mag«. Danneberg (Zum Autorkonstrukt, S. 84) ist davon allerdings auch gar nicht weit entfernt, wenn er schreibt, »Texte erhalten einen intentionalen Charakter zugesprochen«. KSA II, S. 241. Vgl. Benjamin (Der Begriff, S. 79), der von der »Unkritisierbarkeit des Schlechten« spricht.

Die gleiche semantische Differenz findet sich im Begriff der Kunst bei Schlegel. Als Technik, besser als techné, ist sie die kunstmäßige Ausbildung des stets gegebenen philologischen Triebes, als ästhetisches Prinzip aber treibt es ein immer Neues aus sich hervor. Die projektierte »romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie« und als solche Aktualisierung und Darstellung des Geistes als Wirkprinzip. Für ihn gilt demnach, was für die Poesie gilt: er bewegt sich »zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügel der poetischen Reflexion in der Mitte schweben[end] […] nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein«.373 Poesie in diesem Sinne ist noch keine gestaltete Form. Poesie ist Geist, »die höchsten Kräfte des Menschen«,374 wirkendes Prinzip, das dem Menschen universell gegeben ist. Als anthropologische Grundausstattung sind philologischer Trieb und Poesie zwei Momente des Einen Geistes, die in verschiedene Richtungen zielen. »Zur Philologie muß man geboren sein, wie zur Poesie und zur Philosophie.«375 ›Poesie‹ aber ist noch keine Kunst, so dass die Frage, »wie die Poesie eine Kunst sein und werden solle«, ihre Berechtigung findet. Auch Andrea gibt im Gespräch über seine Abhandlung zu den Epochen der Dichtkunst im ›Gespräch über die Poesie‹ zu, »das Reich der Poesie ist unsichtbar«.376 Wenn ›Poesie‹ aber das wirkende und schaffende Prinzip ist, aus dem Kunst sich allererst entwickeln kann, dann muss die Geschichte der Künste im Allgemeinen, – »jede, die auch nicht in den Worten der Sprache ihr Wesen treibt, hat einen unsichtbaren Geist, und der ist Poesie«377 – und die Geschichte der Literatur im Speziellen auch eine Geschichte der ›Poesie‹ darstellen, »eine Schule der Poesie in ihrer Geschichte«.378 Die Geschichte der Literatur als »Schule der Poesie« führt ihre Schüler durch alle möglichen Ausdrucks- und Stilformen, die die Poesie erst sichtbar machen. Als Musterschüler des Kollegs tritt einmal mehr Goethe auf. »Goethe’s Universalität gab einen milden Widerschein von der Poesie fast aller Nationen und Zeitalter; eine unerschöpfliche lehrreiche Suite von Werken, Studien, Skizzen, Fragmenten, Versuchen in jeder Gattung und in den verschiedensten Formen«.379 Goethe ist damit für Schlegel der erste romantische und zugleich klassische Autor, der nicht nur Moderner ist, sondern Klassizität und Progressivität zu vereinen weiß: »Goethe ist kein Moderner, sondern ein Pro-

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KSA II, S. 182. KSA II, S. 303. KSA II, S. 241. Beide KSA II, S. 307. KSA II, S. 304. KSA II, S. 307. KSA II, S. 302.

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gressiver also zugl.[eich] antik«380 und: »In Goethe sind die Bestandtheile d[es] Modernen und des Romantisch[en] gar nicht geschieden«.381 Wenn Kunst erst die zur Form gewordene Poesie ist, dann gilt umgekehrt, dass Kunst selbst nur als Anschluss an bereits Gebildetes verstanden werden kann. Sie ist mitunter kein emergentes Phänomen, sondern kann ihren eigenen Formenhaushalt nur in der Inanspruchnahme und Überschreitung der Tradition regenerieren.382 Und nur so wird die Rede von der ›Poesie der Poesie‹ verständlich. Poesie wie Philologie sind zweistellige Begriffe, die einerseits auf anthropologische Vermögen verweisen andererseits aber auf konkret vorliegende Materialien. Die synonyme Verwendung der Begriffe zur Bezeichnung verschiedener Inhalte aber verknüpft diese beiden semantischen Bedeutungen. Die konkreten Materialien erscheinen als die Realisierungen der anthropologischen Vermögen. Poesie ist Poesie, weil das Poetische in ihr wirkt, sich so aber erst vom Unsichtbaren ins Feld des Sichtbaren wendet. Die Leistung der romantischen Poesie und Kritik besteht darin, dass sie diesen Vorgang durch ihre Verfahren markiert und transparent macht.383 Sie heißt Transzendentalpoesie, weil sie die Bedingungen der Möglichkeit von Poesie in ihrem eigenen Medium mitführt und ausstellt bzw. darstellt, wie im 238. ›Athenäum‹-Fragment deutlich wird: So sollte wohl auch jene Poesie die in modernen Dichtern nicht seltnen transzendentalen Materialien und Vorübungen zu einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung, die sich im Pindar, den lyrischen Fragmenten der Griechen, und der alten Elegie, unter den Neuern aber in Goethe findet, vereinigen, und in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein.384

Eine solche Selbstbefragung der ›Poesie‹ in der Poesie,385 an anderer Stelle wird gleiches für den Roman gesagt, parallelisiert Schlegel im 255. Fragment mit den Verfahren der Wissenschaft. Die Auszeichnung der modernen Wissenschaft besteht wesentlich in der Befragung der eigenen Methodik und ihrer Grundgesetze als Bedingung ihrer Möglichkeit. Insofern die Kunst die Frage nach der Poesie als Dichtungsvermögen, d.h. ihrer eigenen Entstehungsgründe in sich

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KSA XVI, S. 102. Vgl. auch Nr. 232, KSA XVI, S. 104: »Goethe ist ein poetischer Kant mit Grazie; ein kritischer Empiriker in der Poesie. – (Der erste poetische Universalist.)« KSA XVI, S. 106. Zur Einschätzung Goethes als »Romantiker« siehe unten die ausführliche Diskussion zur ›Meister-Rezension‹. Vgl. KSA XVI, S. 67. Das dürften die berühmte romantische Ironie, der Witz und Formen der Selbstreflexivität sein. Darauf soll hier noch nicht näher eingegangen werden. KSA II, S. 204. Man denkt natürlich an die Formel Benjamins vom »Kunstwerk als Reflexionsmedium«, vornehmlich der Reflexion seiner selbst. Vgl. Benjamin, Der Begriff, S. 62–71.

selbst behandelt, wird sie zur ›Wissenschaft‹. Es gilt aber genauso die Umkehrung des Satzes. Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, soll der Künstler von seinen Mitteln und Zwecken, ihren Hindernissen und ihren Gegenständen gründliche Einsicht und Wissenschaft haben, so muß der Dichter über seine Kunst philosophieren. Soll er nicht bloß Erfinder und Arbeiter sondern auch Kenner in seinem Fache sein, und seine Mitbürger im Reiche der Kunst verstehn können, so muß er auch Philolog werden.386

Die Wissenschaft der Sprachkunst ist die Philologie. Das Kennzeichen moderner Philosophie seit Kant aber ist die transzendentale Selbstbefragung. In Schlegels ›Philosophie der Philologie‹ werden so Poesie, Philosophie und Philologie in einen sich gegenseitig bedingenden Zusammenhang überführt. Der Künstler bedarf der Kennerschaft des Philologen, der Philologe »muß in gewissen Maße ein Künstler seyn, um das Altertum zu verstehn«,387 und beide bedürfen der Philosophie zur transzendentalen Kritik. »Denn in der Philosophie geht der Weg zur Wissenschaft nur durch die Kunst, wie der Dichter im Gegenteil erst durch Wissenschaft ein Künstler wird.«388 Es geht bei den jeweiligen Übernahmen nicht um die Anwendung einer Fachwissenschaft auf die andere, denn »wenn der Philosoph Philosophie auf Philologie und Historie anwendet: so ist das Produkt immer nur Philosophie, nicht Philologie, noch Historie«,389 sondern die jeweiligen Grundfragen sollen zusammengeführt werden: »Der Philolog soll (als solcher) philosophiren. […] Philologiren gebraucht wie Philosophiren«. So wird das jeweilige Einflussverhältnis auch nicht in substantivischen, sondern in adjektivischen, also beisetzenden Bestimmungen formuliert: »Es ist weder Kunst noch Wissensch.[aft] sondern nur künstl[erische] oder wissensch[aftliche] Beschäftigung in bestimmter Richtung und bestimmtem Charakter.«390

Romantische Poesie Das Projekt, das im ›Gespräch‹ weiter verfolgt wird, ist dabei kein neues Produkt des ›Athenäum‹-Kreises, sondern liegt im Keim bei Friedrich Schlegel bereits früh vor. Am 27. Februar 1794 schreibt Friedrich an seinen Bruder über die Gemeinsamkeit ihrer Bestrebungen zur antiken Literatur: Der Gedanke macht mir Vergnügen, daß unsere Bestrebungen, so verschieden sie auch sind, dennoch vielleicht an demselben Ziele zusammentreffen. Das Problem unserer

386 387 388 389 390

KSA II, S. 208f. KSA XVI, S. 39. KSA II, S. 216. KSA XVI, S. 32. Beide KSA XVI, S. 42.

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Poesie scheint mir die Vereinigung des Wesentlich-Modernen mit dem WesentlichAntiken; wenn ich hinzusetze, daß Göthe, der erste einer ganz neuen Kunst-Periode, einen Anfang gemacht hat, sich diesem Ziel zu nähern, 391

Wichtig sind die zentralen Begriffe Vereinigung, Göthe, Anfang und Ziel. Hier zeigt sich der Kern des romantischen Projekts, das sich nicht aus der Opposition Antik-Modern erklären lässt, sondern aus der bekannten triadischen Aufhebung der Antithesen in eine ganz neue Periode, an deren Anfang – wohlgemerkt nicht als Telos – Goethe gesetzt wird. Schlegel ruft die Goethe-Zeit aus. Es ließe sich aber argumentieren, dass die Beschäftigung mit der griechischen Poesie in die Frühphase des Schlegelschen Werkes und vor allem vor die romantische Periode des ›Athenäum‹-Kreises falle, in der sich die Literaturauffassung Schlegels wesentlich verschoben und er sich selbst von seinen frühen Arbeiten distanziert habe. Insbesondere für den ›Studium-Aufsatz‹ lassen sich Belege finden, dass aufgrund der langen Phase zwischen Manuskriptabgabe und Druck, Schlegel zum Zeitpunkt der Publikation bereits unzufrieden auf den Aufsatz zurückblickte.392 Diese Distanzierungen treffen aber nicht den Kern des Projektes, wie in ›Lessings Gedanken und Meinungen‹ von 1804 deutlich wird. Die ›neue‹ Poesie kann »nur aus einer durchdringenden, ganz umfassenden Kenntnis des griechischen Altertums, verbunden mit einer ebenso gründlichen Nachahmung, oder vielmehr Wiederbelebung und Einverleibung der großen Ideen des Altertums in unser eigenes Wesen hervorgehen.«393 Die Körper-Metaphern der Wiederbelebung bzw. Einverleibung zeigen an, dass es nicht um eine mimetischreproduzierende Aneignung von Stoffen und Formen gehen kann, sondern die Idee der Schöpfung, des Schöpferischen aufgerufen wird. Die Konturierung, »die scharfe Gränzbestimmung«394 der Opposition Antik-Modern geht eben nicht in dem Gegensatz von Natur- und Kunstpoesie auf, insofern letztere die Werke einer neuen Kunst-Periode meint, von der Schlegel oben sprach, sondern wird

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KSA XXIII, S. 185 und Walzel, Briefe, S. 170. So schreibt er entschuldigend an Schiller am 2. Mai 1796: »Seltsame Unfälle haben die Erscheinung meiner Griechischen Versuche zur Messe verhindert, und meine Hoffnung Ihnen die Schrift ›Über das Studium der Griechischen Poesie‹ spätestens ietzt zu überreichen, getäuscht. – […] Ich muß Sie im voraus bitten, beym Lesen nicht zu vergessen, daß das M[anu]scr[i]pt schon im vorigen Herbst abgeliefert wurde. Seitdem die Philosophie der Kunst durch Sie in wenigen Monaten um viele Jahre älter geworden.« (KSA XXIII, S. 297). Schlegel meint seine Lektüre des Schiller Aufsatzes ›Über naive und sentimentale Dichtung‹. Vgl. auch den Brief vom 15. Januar 1796 an den Bruder August Wilhelm, in dem er von der befruchtenden Schiller-Lektüre berichtet. Vgl. ebd., S. 271. KSA III, S. 64 [meine Hervorhebung, mb]. KSA II, S. 207.

erst zur Voraussetzung jener neuen Kunstpoesie.395 Zu unterscheiden wären dann bei Schlegel zwei Modernitätsbegriffe.396 Zum einen seine Beschreibung der Moderne als interessante Kunst, die als Gegenwartsdiagnose negativ belegt wird, zum anderen aber die Möglichkeit einer neuen Epoche, einer ›wirklichen Moderne‹, die als neue Synthese aus der Opposition Antik-Modern hervortritt. Diese Differenzierung geht verloren, wenn man versucht, Schlegels Position in seinen Griechenstudien auf nur einer Seite der Querelles – nämlich des ›Anciens‹ – zu verorten und ihn gegen einen ›romantischen‹ Schlegel ausspielt. Entgegenzuhalten ist Schlegels Hermeneutik397 als ein Verstehen, das nicht versucht, »ein Werk und seine Rezeption wirkungsgeschichtlich zu kontinuieren, sondern durch die Intervention neuer Begriffe vom überlieferten geistesgeschichtlichen Bestand abzuspalten. Statt sie fortzuschreiben, diskontinuiert der Romantiker die Wirkungsgeschichte eines Werkes durch Korrektur und Kritik und bezieht es auf zukünftige Möglichkeiten.«398 Und doch verweisen Schlegels literaturgeschichtliche Arbeiten immer wieder auf diese Tradition und mit Blick auf die vorangegangen Untersuchungen bleibt festzuhalten, dass Schlegel diese Abspaltung nicht als bloße Destruktion, weniger als Hintersichlassen denn als aneignende Umschreibung versteht.399 In dieser Differenzierung zeigt sich auch, dass Schlegels kritische sich nicht ohne Probleme mit Gadamers philosophischer Hermeneutik verrechnen lässt.400 Erscheint bei Gadamer die Tradition von der Position des

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So kann ich auch nicht Jauß’ Deutung (Literaturgeschichte als Provokation, S. 94) teilen, dass Schlegel die »Antike weiter als je von der künstlichen Bildung der Moderne in die Vergangenheit abgerückt« habe. Dies trifft nur auf eine Moderne zu, von der sich sein Projekt der ›wirklichen‹ Moderne wieder absetzt. Oesterle (Arabeske und Roman, S. 258f.) sieht den Modernitätsbegriff bei Schlegel in prosaische und poetische Moderne aufgespalten. Sein Hinweis auf die unterschiedlichen Modernitäts- und Romantikbegriffe bei Schlegel wird von der Forschung leider immer noch viel zu selten zur Kenntnis genommen. Oesterle (ebd., S. 265) spricht zu Recht von »Verwirrung in der Forschung«. Unverständlich bleibt, wieso Patsch (Friedrich Schlegels ›Philosophie der Philologie‹, S. 445) den Begriff Hermeneutik hier zurückweist. Wenn auch Schleiermacher nicht auf Schlegel zurückführbar ist, so dürfte unzweifelhaft sein, dass das Problem des Verstehens zentral in Schlegels Ansatz ist. Bolz, Der Geist, S. 108. Fehl geht aber Schnurs Einschätzung (Schleiermachers Hermeneutik, S. 146.), Schlegels zyklisches Lektüremodell diene der Fortschreibung eines kanonischen Textkorpus. Der Autor hätte gut daran getan, die laut vorgetragene Kritik an der Forschung etwas leiser zu artikulieren, bleibt er doch selbst meist dahinter zurück. Vgl. z.B. ebd., S. 147ff. So Hans Eichner (Friedrich Schlegels Theorie der Literaturkritik. In: Friedrich Schlegel und die Romantik. Sonderheft der ZfdP 88 (1969), S. 2–19; S. 12), der bei Schlegel »die Bedeutung [des Werks] nur durch die Tradition, in der es steht« sieht. Auch Zovko (Verstehen und Nichtverstehen, S. 20) versucht partout eine Gleichsetzung mit Gadamer.

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Verstehenden unhintergehbar, so entsteht sie bei Schlegel erst im Zugriff durch den Verstehenden. Der Tradition selbst wird kein ontologisch-metaphysischer Status zugesprochen, sondern sie unterliegt, weil aus Texten bestehend, demselben Konstruktivismus wie das einzelne Werk. Schlegel ist nicht vornehmlich, wie man eine Theorie des Anschlusses ja auch lesen könnte, an einer Horizontverschmelzung gelegen, sondern an der Eröffnung neuer Horizonte. Die Position des Modernen wird dabei nicht verlassen. Die Rede einer Verbindung von Alten und Modernen sollte den Ausgangspunkt der Feststellung einer absoluten Verschiedenheit des Antiken und des Modernen im ›Winckelmann-Fragment‹ aus dem ›Athenäum‹401 als conditio sine qua non für die Gewinnung eines Standpunktes der Identität beider nicht aus dem Blick verlieren. Es ist ihm nicht um eine Annäherung von Vergangenheit und Gegenwart zu tun, sondern seine kritischen Fragmente sind – in Umkehrung des 22. ›Athenäum‹-Fragments – Projekte auf die Zukunft.402 Hatte die historische Altertumswissenschaft eines Winckelmanns, Heynes und Wolfs die ästhetische Differenz zwischen Antike und Gegenwart aufgezeigt, so haben diese damit erst den Grund für eine neue Form der Philologie gelegt, die methodisch auszuführen Schlegel unter dem Titel ›Philosophie der Philologie‹ im Anschluss an seine antiken Studien plante. Im 149. ›Athenäum‹-Fragment beschreibt er Winckelmann als Paradigma einer philologischen Wende, die Wolf gleichsam antizipiert habe: Der systematische Winckelmann, der alle Alten gleichsam wie Einen Autor las, alles im ganzen sah, und seine gesamte Kraft auf die Griechen konzentrierte, legte durch die Wahrnehmung der absoluten Verschiedenheit des Antiken und des Modernen, den ersten Grund zu einer materialen Altertumslehre. Erst wenn der Standpunkt und die Bedingungen der absoluten Identität des Antiken und Modernen, die war, ist oder sein wird, gefunden ist, darf man sagen, daß wenigstens der Kontur der Wissenschaft fertig sei, und nun an die methodische Ausführung gedacht werden könne.403

Die Rede von der gleichzeitig absoluten Verschiedenheit und Identität von Antike und Moderne zeigt die paradoxe Struktur der Schlegelschen Hermeneutik in nuce an. Glenn W. Most bietet eine sinnvolle, dreiteilige Differenzierung der »Auffassungen vom Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit«. Er unterscheidet 1. Andersartigkeit: Beschreibt sich eine Gegenwart einer Vergangenheit gegenüber als andersartig, »so stellt man einen totalen Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart« fest. Die gegenwärtige Epoche wird als Neuanfang

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Nr. 149. KSA II, S. 188f. Die Abkoppelung vom Historischen wie vom Gegenwärtigen und die Hinwendung zum Zukünftigen betont Szondi bereits früh. Vgl. Peter Szondi, Friedrich Schlegel und die romantische Ironie. Mit einer Beilage über Tiecks Novellen. [1954] In: Helmut Schanze (Hg.), Friedrich Schlegel und die Kunsttheorie seiner Zeit, Darmstadt 1985, S. 143–161; S. 155f. KSA II, S. 188f. [meine Hervorhebung, mb].

beschrieben, die aufgrund der ›absoluten Verschiedenheit des Antiken und Modernen‹ der Vergangenheit nur antagonistisch gegenübersteht. 2. Neuartigkeit: in der man sich »als Teil einer vielleicht oberflächlich gespannten, aber grundsätzlich ununterbrochenen Kontinuität mit der Vergangenheit« fühlt. Die Neuheit besteht demnach nicht in einem Wechsel, sondern der Variation innerhalb der Tradition. 3. Neuzeitlichkeit: man findet sich »in einer anderen und viel komplizierteren Welt, als die Vergangenheit sie kannte, doch hält man an einer Gemeinschaft zwischen Vergangenem und Gegenwärtigen fest«.404 Nur im dritten Modell sieht Most die Möglichkeit einer Hermeneutik gegeben, die stets nach einer Vermittlung zwischen Vergangenheit und Zukunft frage. Das Zitat zu Winckelmann aber zeigt, dass Schlegels Hermeneutik quer zu 1. und 3. liegt, die sowohl absolute Verschiedenheit als auch absolute Identität von Alten und Modernen postuliert. Das ist aber nur ein scheinbarer Widerspruch (daher paradox), weil Schlegel sich der Opposition Antik-Modern nicht durch Ausblendung einer der beiden Positionen entzieht, sondern eine »Annihilation« der Kategorie Gegenwart unternimmt. Bei Schlegel ketten sich nicht Vergangenheit und Gegenwart, sondern Vergangenheit und Zukunft aneinander. Die Gegenwart ist lediglich eine »Zeit der Verlegenheit«. Schlegels Hermeneutik ist die Signatur dieser Verlegenheit an der selbstgeschriebenen Epochenschwelle. Die Romantik ist »zugleich eine Theorie ihrer eigenen Neuzeitlichkeit«.405 Romantik ist daher auch keine Selbstbenennung einer jungen Autorengruppe zwecks Schulenbildung. In den Romantikbegriff selbst zieht ein stark transitorisches Moment ein. Deswegen kann Schlegel von der romantische Poesie sagen: »Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden«.406 Was aber immer im Werden begriffen ist, kann keine Gegenwart erlangen. Wenn Schlegel als »Ziel der Philologie« fordert, »das Altertum praktisch in sich zu realisieren«,407 dann heißt das nicht, sich dem Altertum und ihren Autoren genialisch-assimilierend anzuverwandeln, sondern den Geist des Altertums zu erfassen heißt, das Altertum in sich neu zu schaffen, einen individuellen Begriff des Altertums durch Kritik und Dichtung zu produzieren. Philologie ist damit keine Rekonstruktion, sondern Übersetzung von Texten. Hier zeigt sich der Einfluss Herders deutlich. Übersetzen aber, so Schlegel, ist nichts anderes als die Transformation eines Textes in die zu überwindende Gegenwärtigkeit, der Versuch, die uneinholbare historische Differenz nicht durch Assimilierung 404 405 406 407

Beide Most, Rhetorik und Hermeneutik, S. 75. Beide Most, Rhetorik und Hermeneutik, S. 76. KSA II, S. 183. KSA II, S. 118, Fragment Nr. 147.

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des Verstehenden ans Historische zu überwinden, sondern umgekehrt. Damit ist jeder Verstehensakt Übersetzung in die Zukunft und Aufgabe der Philologie als Kunst und Wissenschaft. »Uebersetzen ist offenbar etwas φλ[Philologisches] wie Charakterisiren; beides ist Sache d[er] K[unst] aber auch der Wss[Wissenschaft]. – Jede Uebersetzung ist Verpflanzung oder Verwandlung oder beides. […] Jede wahre Uebersetzung muß eine Verjüngung sein.«408 Verstehen erscheint bei Schlegel nicht als eine theoretisch zu ergründende Aufgabe, sondern als je an den Materialien durchzuführende Praxis.409 Deshalb kann die Philologie als praktische, technische Kunst zum modellierenden Oberbegriff der Hermeneutik werden. Bemerkt sei aber die Verschiebung im Vergleich zur aufklärerischen Philologie, in der die Hermeneutik lediglich als Unterkategorie firmierte. War dort die Hermeneutik wie die Grammatik, methodisches Mittel der Philologie, so wird hier die philologische Lektüre zur Methode des Verstehens und bleibt als solche technisch,410 wie Schlegel mehrfach betont. Damit ist aber keine neue Hierarchisierung von Hermeneutik und Philologie gegeben,411 wie sie dann bei Schleiermacher statt hat, sondern ein aufeinander bezogenes und sich bedingendes Wechselverhältnis von philologischer Lektüre, die immer zugleich Produktion von Sinn ist, und Hermeneutik. Der Entwurf einer ästhetischen Theorie und Praxis, die Philologie, Hermeneutik, Grammatik und Kritik mit dem Begriff der Poesie zusammenzuschließen und die Dichtung als Medium dieser Entdifferenzierung des Wissens aufzustellen versucht, wird von Schlegel nicht zu Ende geführt. Wurde oben die Differenzierung eines jungen graekophilen gegen einen frühromantischen Schlegel mit Hinweis auf die Kontinuität in der Zielsetzung seiner philologischen Bemühungen relativiert, so stellt sich die Situation für das Spätwerk anders dar. Schlegel kehrt nun zum Modell einer ausdifferenzierten Wissenslandschaft zurück, in der die Poesie vornehmlich als Gegenstand ihrer Geschichte thematisiert wird. Als Methode der Literaturgeschichtsschreibung wird der Kritikbegriff nicht aufgegeben und erfährt, wie gesehen, 1804 in ›Lessings Gedanken und Meinungen‹ noch einmal eine emphatische Apologie. Nicht zu übersehen ist aber eine sukzessive Abkehr von der im Werk vor 1800 postulierten gesellschaftspolitischen Integrationsleistung der Poesie. Wenngleich nicht aufgegeben, so wird diese nun 408 409 410

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KSA II, S. 204. Weimar (Historische Einführung, S. 107) spricht von ›Anwendung‹. Darauf macht Friedmar Apel (Sprachbewegung, S. 93) eindringlich und völlig zu Recht aufmerksam: »Die ganze romantische Rede von Unbestimmtheit, Unendlichkeit etc., so häufig als idealistisch mehr diffamiert als bezeichnet, hat immer auch ihren technisch-praktischen Aspekt.« Dies hat Schlegel selbst wohl auch erkannt, wenn er wunderbar ironisch im 54. ›Lyceum‹-Fragment schreibt: »Es gibt Schriftsteller [in Deutschland] die Unbedingtes trinken wie Wasser; und Bücher, wo selbst die Hunde sich aufs Unendliche beziehen.« KSA II, S. 154. So auch Zovko, Verstehen und Nichtverstehen, S. 21f.

auf eine andere Systemstelle verschoben. Nicht mehr eine philosophisch reflektierte Dichtung wird als Leitmedium einer neuen Epoche präsentiert, sondern, ganz im Sinne Hegels, eine nun christlich-teleologisch verstandene (Geschichts) Philosophie und, vielleicht weniger im Sinne Hegels, die Religion. »Die wahre Verbindung ist Rel[igion] und φσ[Philosophie] – und π[Poesie] und Hist[orie]. Meine erste Formel π[Poesie] und φσ[Philosophie] kann nicht sehr viel Resultate geben.«412 Auch der avancierte Versuch eines neuen Philologiebegriffs wird aufgegeben.413 Schlegel fällt dabei hinter das durch Wolf und andere erreichte Niveau des späten 18. Jahrhunderts in der Begriffsbestimmung wieder zurück. In der ›Propädeutik und Logik‹ der Vorlesungen von 1805/06 steht bereits die Philosophie an der Spitze der Wissenshierarchie. Die Philologie folgt an fünfter Stelle.414 Sie wird auf die Position, die sie seit der Antike bis ins 18. Jahrhundert hinein zugewiesen bekommen hatte, zurückgeführt. »Die Philologie ist eine Wissenschaft, die nicht bloß um ihrer selbst, sondern als Hilfswissenschaft zu höheren Zwecken erlernt und getrieben wird.«415 Damit endet auch Schlegels ambitioniertes Projekt einer poeto-philologischen Hermeneutik. Seine späteren Studien etwa zum Sanskrit sind dann, wie bei W. v. Humboldt, eher linguistische denn philologische Beiträge416 oder anders gewendet: das Projekt der »Aus-

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KSA XVIII, S. 572. Manfred Franks Einschätzung (Einführung, S. 306) auch der späte Schlegel setze die Poesie noch über die Philosophie ist der letzte Absatz aus dem ›Anhang zur Logik‹ entgegenzuhalten: »Diese drei Denkarten also […] sind Bestandteile oder Bedingungen der einen wahren und vollendeten Philosophie. Die ersten Prinzipien derselben enthalten den Idealismus, die Seele aber, die das Ganze durchdringt, belebt und zur höchsten, wahren Einheit und Realität verbindet, kann nur aus jenem moralischen Geiste und Glauben hervorgehen, der in der sokratisch-platonischen, mehr aber noch in der christlichen Philosophie der herrschende war. Ohne diesen Führer, der sicher und unwandelbar den menschlichen Geist durch alle entgegenstehenden Schwierigkeiten und Hindernisse, durch die ewig wechselnden und nie sich gestaltenden Trugbilder, die dunkeln, verworrenen Irrsale irdischer Beschränkung zum lichtstrahlenden Ziele der Erkenntnis führt, gibt es kein Heil weder im Denken, noch im Tun, weder im Wissen, noch im Leben.« KSA XIII, S. 384. Poesie mag noch als Mittel zur Darstellung dieses Höchsten fungieren, sie ist diese Höchstes aber selbst nicht mehr. Auch Zovko (Verstehen und Nichtverstehen, S. 86) sieht mit den Kölner Vorlesungen die ›kritische Epoche‹ Schlegels an ihr Ende gekommen. In den Fragmentbeilagen ›Zur Philosophie‹ aus den Jahren 1803–1807 findet sich hingegen noch einmal die Idee eines nicht-stratifikatorischen System des Wissens, in dem Wissenschaft und Künste in einem Kreis und nicht hierarchisch angeordnet werden. Die Poesie bildet mit der Philosophie die horizontale Spiegelachse dieses Kreises. Vgl. KSA XVIII, S. 572. KSA XIII, S. 184. Dazu vgl. Helmut Gipper/Peter Schmitter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik. Ein Beitrag zur Historiographie der Linguistik, Tübingen 1979, S. 43–49.

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treibung der Moderne durch die Moderne«417 erscheint bereits kurz nach 1800 sich gegen sich selbst gewendet zu haben: Alle Versuche zur Entdifferenzierung haben immer nur neue Differenzierungen nach sich gezogen.

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Fohrmann, Schiffbruch, S. 114.

IV. Philologie und Poesie

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Poeto-Philologie – Ludwig Achim von Arnims ›Von Volksliedern‹

Rainer Kolk, Lothar Bluhm und Ulrich Wyss haben in ihren Arbeiten zur Etablierung der Germanistik als Fachwissenschaft überzeugend darauf hingewiesen, dass noch fern einer universitären Disziplin Deutsche Philologie die entscheidenden Kriterien für die Durchsetzung eines institutionellen Status zunächst durch eine »Verdichtung von Kommunikation«1 entwickelt wurden, die sich zwischen den an altdeutschen Schriften Interessierten in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aufgespannt habe.2 Zu diesem Kreis von Interessierten gehörten ohne Zweifel auch Ludwig Achim von Arnim und Clemens Brentano, deren Bedeutung für die frühe Prägung der Brüder Grimm nicht zu unterschätzen ist. Denn durch ihre Mitarbeit an ›Des Knaben Wunderhorn‹ fanden sie erstmals Gelegenheit, ihr Interesse an alter Poesie einer Öffentlichkeit durch Publikationen vorzustellen und so ihre ersten editorischen Erfahrungen zu sammeln. Brentano rechnete sich sogar den Verdienst zu, die Grimms an die altdeutsche

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Kolk, Liebhaber, S. 56. Vgl. auch Rainer Kolk, Wahrheit – Methode – Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert. In: IASL 14 (1989), S. 50–73. Vgl. auch ders./Holger Dainert, ›Geselliges Arbeiten‹. Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfängen der Deutschen Philologie. In: Fohrmann/Voßkamp (Hg.), Von der gelehrten, S. 7–41. Lothar Bluhm, Die Brüder Grimm und der Beginn der Deutschen Philologie. Eine Studie zu Kommunikation und Wissenschaftsbildung im frühen 19. Jahrhundert, Hildesheim – Zürich 1997; Ulrich Wyss, Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus, München 1979. Ulrich Hunger (Altdeutsche Studien als Sammeltätigkeit. In: Fohrmann/Voßkamp (Hg.), Wissenschaft und Nation, S. 89–98; S. 98) sieht auch »keine Epochenscheide zwischen vorwissenschaftlicher und wissenschaftlicher Germanistik« um 1800. Aus wissenschaftshistorischer Perspektive mag dies zutreffen, nicht aber im Selbstverständnis von Autoren wie etwa den Grimms. Zur Binnendifferenzierung der einzelnen philologischen Disziplinen im Laufe des 19. Jahrhunderts siehe Wolfgang Höppner, Zum Selbstbild der deutschen Philologie in ihrer Frühphase im Kontext des Disziplin-Begriffs und seiner Beschreibung. In: ders./Lutz Danneberg/ Ralf Klausnitzer (Hg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion, Frankfurt/M. u.a. 2005, S. 65–86.

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Poesie herangeführt zu haben.3 Der Briefwechsel Grimm-Arnim sowie ArnimBrentano ist entsprechend gefüllt mit Hinweisen auf alte Manuskripte, Bücher und die Bibliotheken, in denen sie zu finden seien, wer sie zuerst abgeschrieben habe, wer sie wie zu publizieren gedächte und vor allem, welche Editionskriterien zu veranschlagen seien. Im Folgenden sollen die sich mehr und mehr voneinander trennende Praxis poeto-philologischen und wissenschaftsphilologischen Umgehens mit diesen alten Texten dargestellt und nach den Erwartungen befragt werden, die mit beiden Modellen verknüpft wurden. Dabei soll sehr viel stärker als in den oben genannten Untersuchungen der Blick auf die Konsequenzen dieser Trennung für die Poesie gerichtet werden.4 Einer der Gründe, warum Arnim sich trotz seines auffälligen Interesses für alte Poesie nicht für eine fachspezifische Spezialisierung entschieden hat, ist in seinem hermeneutischen Modell von Literatur zu sehen. Dabei schließt er einerseits an Herders Konzeption einer Ursprache der Poesie an, die Oralität als bevorzugten Modus des Poetischen darstellt, andererseits aber an den bei Ast aufgezeigten Gedanken Schellingscher Provenienz eines von der historischen Entwicklung abgekoppelten Geistes – hier eher theologisch denn transzendentalphilosophisch gewendet –, der sich historisch in je verschiedenen Formen zeigt.

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Er schreibt an Arnim am 19. Oktober 1807 aus Kassel: »Es ist äußerst nothwendig, daß Du mit mir zusammen und zwar hierher kömmst, um den ewig aufgeschobenen zweiten Theil des Wunderhorns zu rangieren. Ich hoffe, dass Du deinen Liederkasten bei Dir hast, ich habe einen ganzen Karren voll. Wir können es hier außerordentlich gut und besser noch als damals in Heidelberg. Denn ich habe hier zwei sehr liebe, liebe altdeutsche vertraute Freunde, Grimm genannt, welche ich früher für die alte Poesie interessiert hatte, und die ich nun nach zwei Jahren langem, fleißigen, sehr konsequentem Studium so gelehrt und reich an Notizen, Erfahrungen und den vielseitigsten Ansichten der ganzen romantischen Poesie wiedergefunden habe, daß ich bei ihrer Bescheidenheit über den Schatz, den sie besitzen, erschrocken bin. Sie wissen bei weitem mehr als Tieck von allen den Sachen, und ihre Frömmigkeit ist rührend, mit welcher sie sich alle die gedruckten alten Gedichte, die sie aus Armuth nicht kaufen konnten, so auch das Heldenbuch und viele Manuscripte äußerst zierlich abgeschrieben haben.« Zitiert nach: Reinhold Steg/Hermann Grimm (Hg), Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Bd. 3: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm, Stuttgart – Berlin 1904, S. 3f. Von hieran mit der Sigle ›Steig III‹ zitiert. Charakteristisch für die Fokussierung auf die Konsequenzen im Wissenschaftssystem ist das Arnim-Kapitel bei Bluhm (Die Brüder Grimm, S. 276–302), das sich fast ausschließlich mit der Weiterentwicklung der Grimmschen Position beschäftigt. Eine ähnliche Perspektive wie hier vorgeschlagen nimmt allenfalls Kilcher (Philologie in unendlicher Potenz, S. 46–68) ein. Martus (Werkpolitik, S. 5) hat einen ganz ähnlich gelagerten Ansatz, wenn er »sich mit dem Problem des Schreibens unter den Bedingungen von Kritik für Teilnehmer und Beobachter« auseinandersetzt.

Obwohl zum Streit über Natur- und Kunstpoesie mit Jacob Grimm und zur Poetologie Arnims sehr gute Forschungsbeiträge vorliegen,5 sollen die wesentlichen Aspekte hier noch einmal rekapituliert werden und in den Kontext poetophilologischer Schreibweisen um 1800 gestellt werden. Manifestiert sich der Streit explizit im Briefwechsel mit Jacob Grimm anlässlich einer von Arnim und Brentano dem Grimmschen Aufsatz ›Gedanken: wie sich die Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten‹ zugefügten Fußnote im 19. Heft der ›Zeitung für Einsiedler‹ vom 4. Juni 18086 und ist bis 1813 immer wieder Gegenstand grundsätzlicher poetologischer Reflexion Arnims und philologischer Selbstvergewisserung Grimms, so zeigt sich die im Streit geäußerte Position Arnims schon im 1804 geschriebenen und 1805 erstmals veröffentlichten Aufsatz ›Von Volksliedern‹.7 Gleich zu Beginn des Aufsatzes beschreibt Arnim das echte Volkslied als Manifestation und Ausdruck eines nicht-reflexiven Wissens, »was keinem ein Wunder«, das den natürlichen Menschen, dem Volk, zueigen sei. Anders aber als in der philologischen Herder-Rezeption J. Grimms, der die Natürlichkeit, die poetische Ursprache grundsätzlich verloren sieht, versteht Arnim das Poetische als Prinzip, als »Methode«, die nicht historisch situierbar und gebunden ist und demnach auch nicht vergessen werden kann. Arnim schließt an den ›poetischen‹ Herder sowie Asts Hermeneutik des Einen Geistes an. Tradition wird 5

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Aus der älteren Forschung: Hans Jolles, Einfache Formen, Halle 21956, Oskar Walzel, Jenaer und Heidelberger Romantik über Natur- und Kunstpoesie. In: DVjs 14 (1936), S. 325–360. Aus der neueren Forschung: Ulfert Ricklefs, Magie und Grenze. Arnims ›Päpstin Johanna‹ Dichtung. Mit einer Untersuchung zur poetologischen Theorie Arnims und einem Anhang unveröffentlichter Texte, Göttingen 1990, S. 19–58, Martin Neuhold, Achim von Arnims Kunsttheorie und sein Roman ›Die Kronenwächter‹ im Kontext ihrer Epoche, Tübingen 1994, S. 36–126. Bereits vor der Publikation weist Arnim Ende Mai 1808 J. Grimm auf die Fußnote hin und eröffnet damit die Diskussion: »Dem Aufsatz über Sagen habe ich eine Anmerkung beigefügt, vielleicht veranlaßt Sie das gelegentlich die Sache historisch durchzuführen, ich gestehe, daß ich gar keine Vorstellung habe von einer Naturpoesie getrennt gedacht und von einer Kunstpoesie getrennt. Auch in den schlechtesten Dichtungen wollte ich Ihnen noch deutlich beides und sogar das dritte zeigen, was beide stört und aufhebt.« In: Steig III, S. 14. Die Fußnote in der ›Zeitung für Einsiedler‹ (in Gemeinschaft mit Clemens Brentano herausgegeben von Ludwig Achim von Arnim. Mit einem Nachwort zur Neuausgabe von Hans Jessen, [Photomechanischer Nachdruck] Darmstadt 1962, S. 152): »Wir wünschen den historischen Beweis davon, da nach unsrer Ansicht in den ältesten wie in den neuesten Poesien beyde Richtungen erscheinen.« Die erheblich kürzere Fassung des dem ersten Band des ›Wunderhorns‹ 1806 angehängten Aufsatzes erschien 1805 in der von J. F. Reichhardt redigierten ›Berlinischen Musikalischen Zeitschrift‹ in den Nummern 20–23 und 26. Wieder abgedruckt in: Des Knaben Wunderhorn. Alte Deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Studienausgabe in neun Bänden. Hg. von Heinz Rölleke. Bd. 5: Lesarten und Erläuterungen I/2, Stuttgart 1979, S. 706–716. Die ›Wunderhorn‹-Fassung findet sich in Bd. 1 der Studienausgabe, S. 406–442. Diese Fassung wird hier zitiert.

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bestimmt als Selektionsmechanismus, der, was nicht Teil an diesem Prinzip hat, aus sich und damit dem kulturellen Verwendungszusammenhang aussondert. Das bedeutet im Umkehrschluss: die Tatsache der Überlieferung gilt schon als Beleg für die Präsenz einer poetischen Kraft, die den Liedern inhäriert, da sie ansonsten überhört und ausselektiert worden wären. Ich führe Ihnen manche Beobachtung vor, aus verschiedenen Zeiten, aus verschiedenen Gegenden, alle einig in dem Glauben, daß nur Volkslieder erhört werden, daß alles andre vom Ohre aller Zeit überhört wird. – Was ist erhört? – Alles was geschieht, was nur entfallen, nicht vergessen werden kann, was nicht ruht, bis es das Höhere hervorgebracht, das ist erhört.8

Der Tradition kommt für Arnim insofern ein Wert zu, »weil sie die Sichtung schon bestanden hat«.9 Das allein zeichnet sie gegenüber der modernen Dichtung aus. Anders als für J. Grimm, der nur in der Naturpoesie den Ausdruck eines unmittelbaren Gott-Mensch Verhältnisses sehen kann, für den Kunstpoesie, deren Signum die »Zubereitung«10 durch den einzelnen Dichter ist, die Natürlichkeit verloren hat, die jener eignete, hat für Arnim jeder Dichter, sogar der verhasste Voß, Anteil an der »Urnatur«. »Naturtrieb« und »Kunstbewusstsein«11 sind nicht zwei historisch voneinander zu trennende Charakteristika von Dichtung, sondern müssen als wechselseitig aufeinander einwirkende Grundvermögen des Menschen gesehen werden. Darin dürfte der Hauptunterschied zwischen Arnim und Grimm liegen, dass jener in den Begriffen von Natur- und Kunstpoesie anthropologische Konstanten, dieser historische Phänomene sieht. Wenngleich das Höhere nicht vergessen, nicht vergehen kann, so kann es doch verdrängt werden. Arnim bietet hier eine leicht veränderte Version des Abschieds vom Goldenen Zeitalter, indem er onto- und polygenetische Entwicklung parallelisiert. Die Beschreibung seiner individuellen Erfahrung des Verfalls des Volksliedes und die Ersetzung durch »die falschen Kukuk-Eyer«12 wird neben eine größere geschichtliche Entwicklung gestellt, in der – »in diesem Wirbelwind des Neuen« – »fast alle Volkslieder erloschen« seien.13 Daher legitimiert er die Sammlung von Volksliedern, und als Paratext zum ›Wunderhorn‹ genau diese Sammlung, als Bemühen, dass »Deutschland nicht so weit verwirthschaftet werde«. In einer Metaphorik von Boden und Scholle, denen die Volkslieder durch ihre Wurzeln erst den nötigen (Zusammen-)Halt geben können,14 wer-

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Alle Arnim, Von Volksliedern, S. 406. Am 5. April 1811 an Jacob Grimm, Steig III, S. 109. Aus J. Grimms Antwortschreiben vom 20. Mai 1811, Steig III, S. 114. Beide Steig III, S. 109. Arnim, Von Volksliedern, S. 407. Ebd., S. 408, noch deutlicher auf S. 416ff. Das Verschwinden dieser Wurzeln und Bäume hat demnach auch die Korrosion des nationalen Bodens zur Folge: »O mein Gott, wo sind die alten Bäume, unter denen

den die Lieder auch zum Symbol national-kultureller Identität.15 Auf den ersten Seiten des Aufsatzes entfaltet Arnim damit bereits eine für sein Werk zentrale Denkfigur: Einerseits wirkt in der Poesie ein überzeitlich situiertes poetisches Prinzip, das sich Ausdruck verschafft, andererseits erscheint die Form dieses Ausdrucks kulturell-topographisch determiniert, das ist das Herdersche Erbe. Beide Momente sind in der jeweiligen Kombination eng miteinander verknüpft und aufeinander verwiesen. Nur in den jeweiligen nationalen, topographischen und historischen Äußerungsformen offenbart sich das »Höhere«.16 Der aus der »Volksthätigkeit« hervorgehende Dichter, der dem Poetischen als allgemeinem Prinzip die volkstümliche, nationale Form gibt, wird so zum »spiritus familiaris«.17 Dem Dichter wird bei Arnim gegen die kulturelle Verfallsgeschichte eine erlösende Bedeutung zugeschrieben. Wo er dem Höheren zum Ausdruck verhilft, »an eine höhere Kunst« glaubt »als die uns umgiebt und begegnet«, da breche mit einem Mal die Möglichkeit einer neuen »Morgenstunde« an, ein »Sonntag nach sieben Werktagen«.18 Die Metaphorik einer Wiederkehr der Morgenstunde nach dunkler Nacht, eines Sonntags nach grauen Werktagen zeigt ein zyklisches, kein linear-teleologisches Verständnis dieser Bewegung an. Poesie ist

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wir gestern noch ruhten, die uralten Zeichen fester Grenzen, was ist damit geschehen, was geschieht? Fast vergessen sind sie schon unter dem Volke, schmerzlich stoßen wir uns an ihren Wurzeln. Ist der Scheitel hoher Berge nur einmal abgeholzt, so treibt der Regen die Erde hinunter, es wächst da kein Holz wieder, daß Deutschland nicht so weit verwirthschaftet werde, sey unser Bemühen.« Arnim, Von Volksliedern, S. 408f. Jochen A. Bär (Wie deutsch war die deutsche Philologie der Gründerväter? Anmerkungen zur romantischen Germanistikkonzeption. In: Hartmut Kugler (Hg.), www. germanistik2001.de. Vorträge des Erlanger Germanistentags, Bd. 1 Bielefeld 2002, S. 245–258) betont hingegen den kosmopolitischen Zug der romantischen Philologie. Es wäre allerdings ein Gewinn dieser Arbeit, wenn man einsähe, dass von einer Homogenität romantischer Philologie kaum gesprochen werden kann, was Bär natürlich weiß. Die Differenzen der Ansätze Herders, F. Schlegels, Arnims und J. Grimms sollten dies deutlich zeigen. Kosmopolitisch wäre in der Tat nur die frühromantische und Goethische Konzeption zu nennen. Man ist verleitet an die Luhmannsche Unterscheidung von Medium und Form zu denken. Nur durch strikte Koppelung der Form der jeweiligen Dichtungen wird das Medium Poesie überhaupt sichtbar, andererseits sind die Formen der Dichtung ohne das Medium Poesie unmöglich. Es wird im weiteren Verlauf sich zeigen, dass gerade hier Luhmann eine treffende Beschreibung hermeneutischer Prozesse liefert. Noch deutlicher wird es einer Fußnote Arnims zum Genie. Arnim bietet zur Bezeichnung des höheren Prinzips mitunter verschiedene Begriff wie »das Höhere«, »Poesie«, »das Thätige«, »Genie«: »Wenn Genie das Schaffende genannt werden kann, so ist die Kunst die Art der Erscheinung dieses Geschaffenen. Genie ohne Kunst wäre Luft ohne Beschränkung, Kunst ohne Genie wäre ein Punkt ohne alle Dimension.« Arnim, Von Volksliedern, S. 416. Beide Arnim, Von Volksliedern, S. 423. Alle Arnim, Von Volksliedern, S. 425.

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für ihn kein verlorener Weltzustand, sondern stets zu aktualisierende Möglichkeit eines anderen Weltverhältnisses des Menschen, dem er sich auch der widrigen Zustände zum Trotz nur zuwenden muss. Eine solch originäre Dichtung aber ist nur möglich, wenn der Dichter der vorliegenden Manifestationen des Höheren eingedenk ist, er die poetische Tradition kennt. Denn alles, was sich erhalten hat, ist für Arnim schon Repräsentation dieses Höheren. »Was ich hoffe ist kein leerer Raum, die Geschichte hat es so oft bewährt, wie das reine Streben der Menschen in gewissen Perioden siegend und singend hervortritt, Kunstwerke gefunden, erfunden und höher verstanden werden!«19 Die Reihe ist hier keineswegs als Numeratio gemeint, sondern die wohl prägnanteste Formulierung des hermeneutischen Verfahrens der Poeto-Philologie Arnims. Die Sammlung alter Dichtung wird zum Ausgangspunkt für neues dichterisches Schaffen. Genau in dieser dichterischen Auseinandersetzung mit der Tradition20 aber ist ein höheres Verstehen erst möglich, weil so das Allgemeine, das poetische Prinzip, das in der alten Dichtung wirkt, erkannt wird. Zugleich ist damit auch die Poetik des ›Wunderhorn‹-Projekts benannt. Anders als in den Voranzeigen zum ›Wunderhorn‹ angedeutet, ist nicht die Sammlung zur Aufbewahrung durch Druck das eigentliche Ansinnen, damit hätten sich Arnim und Brentano in Gesellschaft mit vielen anderen Volksliedsammlungen und dem Märchen- und Sagenprojekt der Grimms gefunden.21 Ihr Anliegen ist die Regenerierung einer als degeneriert empfundenen Sprache und Kunst durch Injektion natürlicher Volkssprache. Ein solches Projekt kann aber schlechterdings von Philologen besorgt werden, die in einer unästhetischen Sprache jene wahrer Kunst sezieren. Verstehen, so Arnim nochmals, kann nicht aus gelehrt-philologischer Kritik entstehen, sondern nur in freiem Umgang mit dem alten Sprachmaterial. »Doch dieses wie so manches

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Ebd., S. 425. [meine Hervorhebung] Der Traditionsbegriff steht lange für die mündliche Überlieferungstradition von Mythen und Sagen, erst die christliche Inanspruchnahme erweitert ihn um die Erhaltung von Schriftdokumenten. Vgl. den Artikel ›Tradition‹. In: HWP, S. 1317–1325. Siehe die Vorankündigungen vom 21. September 1805 in der ›Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung‹, Nr. 106, Sp. 891f. und vom 22. September 1805 im ›Kaiserlich privilegirter Reichs-Anzeiger‹, Nr. 254, Sp. 3258f. sowie vom 1. Oktober 1805 in der ›Zeitung für die elegante Welt. Intell. Bl.‹, Nr. 61. Wiederabgedruckt in: Des Knaben Wunderhorn, Studienausgabe, Bd. 3 Stuttgart 1979, S. 343–345. Wolfgang Braungart (›Aus den Kehlen der ältesten Müttergens‹. Über Kitsch und Trivialität, populäre Kultur und Eitelkultur, Mündlichkeit und Schriftlichkeit der Volksballade, besonders bei Herder und Goethe. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 41 (1996), S. 11–32; S. 19) beschreibt auch die Herdersche Volksliedsammlung als »Ergebnis künstlerischer und gelehrter, philologischer Arbeit« und zieht, vielleicht für Herder etwas stark, daraus die Konsequenz: »Kommentare kontrollieren, was dem Volk im Buch wieder zurückgegeben wird.« Dies wird man wohl erst für die Sammlungen der Grimms sagen können, die aber, so soll im Folgenden deutlich werden, den Gedanken einer Breitenwirkung aufgegeben hatten, weil es ihrem philologischen Ethos entgegenstand.

andere wunderbare Lied ist aus den Ohren des Volkes verklungen, den Gelehrten allein übrig geblieben, die es nicht verstehen, alle Volksbücher sind so fortdauernd blos von unwissenden Speculanten besorgt […]. Aber in den Gelehrten, wie sie vom Volke vergessen, so liegt gegenseitig in ihnen der Verfall des Volks, das tiefere Sinken der Gemüther.«22 Arnims Projekt folgt dabei einer doppelten didaktischen Intention. Einerseits gibt seine Sammlung dem Dichter Material, an dem er das Poetische gewahr werden kann, das ihn zur Produktion anregen wird, andererseits stellen seine Bearbeitungen und Neudichtungen, wie sie sich im ›Wunderhorn‹ finden, dem Volke im Volkslied einen wahren Begriff von sich selbst gegenüber. Die Sammlung wird somit zugleich Objekt und Subjekt von Bildung, was eine professionalisierte Philologie nicht zu leisten imstande ist. Die Gelehrten indessen versassen sich über einer eigenen vornehmen Sprache, die auf lange Zeit alles Hohe und Herrliche vom Volke trennte, die sie endlich entweder vernichten und allgemein machen müssen, wenn sie einsehen, daß ihr Treiben aller echten Bildung entgegen, die Sprache als etwas Bestehendes für sich auszubilden, da sie doch nothwendig etwas flüssiges seyn muss, dem Gedanken sich zu fügen, der sich in ihr offenbart und ausgießt, denn nur so allein wird ihr täglich angeboren, ganz ohne künstliche Beihilfe. Nur wegen dieser Sprachtrennung in dieser Nichtachtung des besseren poetischen Theiles vom Volke mangelt dem neueren Deutschlande großentheils Volkspoesie, nur wo es ungelehrter wird, wenigstens überwiegender in besondrer Bildung der allgemeinen durch Bücher, da entsteht manches Volkslied, das ungedruckt und ungeschrieben zu uns durch die Lüfte dringt.23

Erinnert man sich der Legitimationsstrategien einer Philologie als Wissenschaft bei Wolf, der Bildung am griechischen Geist anführte, der Grimms und anderer Deutschphilologen, die vornehmlich in der Erhaltung und Rekonstruktion von historisch wertvollen Werken die Existenzberechtigung ihres Faches sahen, dann streitet Arnim der Fachphilologie beide Begründungen ab. Um Missverständnissen vorzubeugen: Arnim lehnt die Ziele, die mit den Legitimationsstrategien verknüpft sind, keineswegs ab. Im Gegenteil, beide Ziele finden sich, wie gezeigt, im Aufsatz wieder. Aber Arnim streitet der Philologie als Disziplin die Fähigkeit ab, diese Funktionen zu erfüllen. Er setzt in diese Systemstelle stattdessen wieder die Dichtung ein. Wo die Dichter »an einem größeren Gedichte fortarbeiten, das die Zukunft zusammenstellen wird«, wie Arnim an Jacob Grimm im Oktober 1812 schreibt, »da knüpfen sie an das die alte Poesie durchwebende Band wieder an«.24 Arnim verbindet dabei die Web-Metaphorik für das Dichten mehrmals mit einem christlich-theologischen Bedeutungsfeld, das die Dich-

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Arnim, Von Volksliedern, S. 429. Ebd., S. 430. Am 22. Oktober 1812. In: Steig III, S. 224.

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tung als Fortschaffen des Werkes Gottes sieht.25 Die Überlieferung wird, wie der Regenbogen als reales, beständig wiederkehrendes Zeichen des Bundes Gottes mit den Menschen nach deren Abfall von ihm, zum Index der durch alle Zeiten wirkenden poetischen Kraft.26 Aktualisierung als sich beständig fortschreibender Anschluss wird zum Modus der Bewahrung und gleichzeitiger Umbildung der Tradition.27 In der Parallelführung der beiden semantischen Felder wird die Dichtung mit der höchsten Forderung an die Kunst konfrontiert, den um 1800 allenthalben diagnostizierten Riss der Moderne wieder zu heilen: der Wiederversöhnung des Menschen mit der (göttlichen) Welt. Mit wehmütiger Freude überkömmt uns das reine alte Gefühl des Lebens, von dem wir nicht wissen, wo es gelebt, wie gelebt, was wir der Kindheit gern zuschreiben möchten, was aber früher als Kindheit zu seyn scheint, und alles, was an uns ist, bindet und lößt zu einer Einheit der Freude. Es ist, als hätten wir lange nach der Musik etwas gesucht und fänden endlich die Musik, die uns suchte! – Es wird uns, die wir vielleicht wieder eine Volkspoesie erhalten, in dem Durchdringen unserer Tage, es wird uns anstimmend seyn, ihre noch übrigen lebenden Töne aufzusuchen, sie kommt immer nur auf dieser einen ewigen Himmelsleiter herunter, die Zeiten sind darin feste Sprossen, auf denen Regenbogen Engel niedersteigen, sie grüßen versöhnend alle Gegensätzler unsrer Tage und heilen den großen Riß der Welt, aus dem die Hölle uns angähnt, mit ihrem Zeigefinger zusammen.28

Die Verschränkung poetischer und religiöser Bildbereiche knüpft zwar an die frühromantische Idee einer neuen Mythologie, einer neu zu schreibenden Bibel an, hat aber eine deutlich andere Stoßrichtung. Bei Arnim bringen sich Dichtung und Religion gegenseitig hervor. Obwohl es oft so scheint, werden die Begriffe keineswegs synonym verwendet. Dichtung entsteht, hier wendet Arnim das griechische Enthusiasmus-Konzept christlich, nur durch das Wirken Gottes. 25

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Im Dezember 1812 schreibt Arnim an J. Grimm: »Gott schafft und der Mensch, sein Ebenbild, arbeitet an der Fortsetzung seines Werks. Der Faden wird nie abgeschnitten, aber es kommt nothwendig immer eine andere Sorte Flachs zum Vorschein.« Steig III, S. 249. So auch im Brief an J. Grimm vom 22. Oktober 1812, in dem der Regenbogen zur Metapher für das ewige Prinzip der Poesie wird, das sich historisch je anders entfaltet: »daß Gottes Regenbogen, ob er über dem verbrannten Moskau oder über der Arche Noahs stehe, immer aus denselben Farben bestanden, ob er gleich etwas andres dem Menschen sei und bedeute.« Steig III, S. 225. Vgl. zum Traditionsbegriff noch einmal das Herder-Kapitel. Detlef Kremer (Ingenium und Intertext. Die Quelle als psychsemiotischer Motor in der Literatur der Romantik. In: Thomas Rathmann/Nikolaus Wegmann (Hg.), ›Quelle‹. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion, Berlin 2004, S. 241–256; S. 253) fasst zusammen: »Arnim betrachtet die Literaturgeschichte als zeitloses Archiv, das ständig überschrieben und umgeschrieben wird. Jede zeitgenössische Literatur rückt ihr gegenüber in die Position der Textverarbeitung.« Arnim, Von Volksliedern, S. 430.

Das Poetische ist gleichsam das Wirken Gottes. Zugleich ist aber die Religion damit auf die Dichtung verwiesen, in der sich das Wirken Gottes Ausdruck verschafft und gegenwärtig ist. Das Ewige als Kraft Gottes ist dabei in der Begegnung mit Dichtung zwar als anwesend gedacht, zugleich muss es aber immer wieder neu hervorgebracht werden, wenn der »Faden« nicht abreißen soll. In der schlichten Speicherung der alten Texte und deren Zergliederung kann sich kein Verstehen des göttlich-poetischen Prinzips einstellen, erst in der umschaffenden Anbildung an sie wird dies möglich. In diesem Sinne wird Religion in wahrer Dichtung immer neu hervorgebracht und erst aus der gegenseitigen Verwiesenheit von Religion und Poesie kann die heilend-versöhnende Kraft von der einen zur anderen übergehen bzw. die Religion in der Poesie ihr Wirkungspotential als gleichzeitig apokalyptische, d.h. auf die Zukunft bezogene und als präsentische Eschatologie entfalten. Doch bewährt uns die tiefe Kunstverehrung unserer Zeit, dieses Suchen nach Ewigem, was wir selbst erst hervorbringen sollten, die Zukunft einer Religion, die dann erst vorhanden, wenn darin als Stufen eines erhabenen Gemüths begriffen, über das sie selbst begeistert ausflorirt. In diesem Gefühle einer lebenden Kunst in uns wird gesund, was sonst krank wäre, diese Unbefriedigung an dem, was wir haben, jenes Klagen der Zeit.29

Damit verschränken sich auch die zeitlichen Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nicht nur werden sie, wie man die Metapher vom Faden auch lesen könnte, miteinander in einer Linie verbunden, sondern sie erscheinen vielmehr als ineinander verwoben. Dies impliziert zugleich, dass alle drei Zeitdimensionen in Rekursion und Vorgriff beständiger Transformation unterworfen sind, deren Antrieb und Bewegungskraft ein selbst erzeugtes Phänomen des kommunikativen Anschlusses von Texten an andere Texte ist.30 Tradition ist ein von der Gegenwart her projektierter31 Textzusammenhang, der diese als

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Ebd., S. 437. Vgl. Vf./Till Dembeck (Hg.), Textbewegung? Zur Einleitung. In: dies. (Hg.), Textbewegungen 1800/1900, Würzburg 2006, S. 9–19. Der Ausdruck ist mit Bedacht gewählt, denn die Vergangenheit wird in der Tat, wenngleich paradox, zum Projekt auf eine Gegenwart und Zukunft. Dies ist eine semantische Dimension, die sich durch den Konstruktions- und Projektionsbegriff nicht einholen lässt. Das ist natürlich ein romantischer Projektbegriff, wie ihn Friedrich Schlegel im 22. ›Athenäum‹-Fragment aufstellt: »Der Sinn für Projekte, die man Fragmente aus der Zukunft nennen könnte, ist von dem Sinn für Fragmente aus der Vergangenheit nur durch die Richtung verschieden, die bei ihm progressiv, bei jenem aber regressiv ist. Das Wesentliche ist die Fähigkeit, Gegenstände unmittelbar zugleich zu Idealisieren, und zu realisieren, zu ergänzen, und teilweise in sich auszuführen. Da nun transzendental eben das ist, was auf die Verbindung oder Trennung des Idealen und des Realen Bezug hat, so könnte man wohl sagen, der Sinn für Fragmente und Projekte sei der transzendentale Bestandteil des historischen Geistes.« KSA II, S. 168f.

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von sich determiniert dargestellt erscheinen lässt. Gegenwart selbst ist aber nie gegenwärtig. Die frühromantische Einsicht, dass die Gegenwart sich in rekursiven Anschlüssen ihrer Vergangenheit anbildet und diese so zugleich umbildet und selbst erst in diesen markierten Anschlüssen als schon wieder verlorene Gegenwart sichtbar wird, verbürgt die Hoffnung auf eine Zukunft, die aus einer solchen Gegenwart, wie diese aus der Vergangenheit, einen Zusammenhang formiert, der die produktiven Elemente aufnimmt, anderes hingegen ausscheidet. Auf diese Weise wird in das zyklische Modell eine progressive Bewegung eingetragen, eine flächige Kreisbewegung der Materie, die so beschleunigt, einen vertikalen Sog, eine Spirale, produziert. Im christlichen Rückhalt aber bleibt diese Bewegung an die Idee der Erlösung gebunden. Eine Erlösung, die freilich nicht als ein Ankommen und ein Ende der Bewegung verstanden werden kann,32 sondern als ein Gewahrwerden, ein Aufmerken auf das göttliche Movens dieser Bewegung. Die Dichtung als Materialisierung des göttlich-poetischen Prinzips tritt genau in dieser Funktion als Aufmerksamkeitserreger auf und kann so zum Hoffnungsträger einer, in der Begegnung mit ihr momentanen und sich je neu einzustellenden Erlösung werden. Dieses Moment wäre dann wie ein Sprung aus der Konzentrizität der Spirale hinaus, ein Sprung aus der Zeit, um gleich wieder in sie zurückzufallen. Es dürfte nicht übertrieben sein, hierin nicht nur die Nussschale Arminscher Geschichtsphilosophie zu sehen, sondern den Kernpunkt, an dem frühromantischer Geschichtsbegriff und Poetik zusammenfallen. Dieses Paradox ist zentral: Der Begriff der Tradition ist dem der Ewigkeit entgegengesetzt und doch wird die Tradition zur Bedingung eines Sprungs aus der Zeit bei Arnim, ein Sprung, der die Tradition erst sichtbar macht und als Zukunft entwirft, in der wir uns dann weiterbewegen.33 Der Schluss des Volkliedaufsatzes fasst alle Bildfelder in gewagter hypotaktischer Prosa zusammen: Überlieferte Tradition als zu lesendes Buch, Tradition als Nährboden neuer Dichtung, Dichtung als Wiedervereinigung des durch die Geschichte Getrennten, Figur des Propheten, Parallelisierung von poetischen und religiösen Bilderfeldern, d.h. auch rhapsodischer und textueller Überlieferung, Dichtung als Inkorporation eines Höheren, Tradition und Dichtung als Gewebe, Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Aufhebung der Zeit: 32 33

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Und damit in letzter Konsequenz gänzlich unchristlich erscheint. Wie schreibt der Erzähler im ›Zauberberg‹ so treffend: »Bedeutet aber nicht die Statuierung des Ewigen und Unendlichen die logisch-rechnerische Vernichtung alles Begrenzten und Endlichen, seine verhältnismäßige Reduzierung auf Null? Ist im Ewigen ein Nacheinander möglich, im Unendlichen ein Nebeneinander? Wie vertragen sich mit den Notannahmen des Ewigen und Unendlichen Begriffe wie Entfernung, Bewegung, Veränderung, auch nur das Vorhandensein begrenzter Körper im All?« Thomas Mann, Der Zauberberg, 4Frankfurt/M. 2004, [Sechstes Kapitel. Veränderungen], S. 474.

So wird es dem, der viel und innig das Volk berührt, ihm ist die Weisheit in der Bewährung von Jahrhunderten ein offnes Buch in die Hand gegeben, daß er es allen verkünde, Lieder, Sagen, Sprüche, Geschichten und Prophezeihungen, Melodieen, er ist ein Fruchtbaum, auf den eine milde Gärtnerhand weiße und rothe Rosen eingeimpft zur Bekränzung. Jeder kann da, was sonst nur wenigen aus eigener Kraft verliehen, mächtig in das Herz der Welt rufen, er sammelt ein zerstreutes Volk, wie es auch getrennt durch Sprache, Staatsvorurtheile, Religionsirrthümer und müßige Neuigkeit, singend zu einer neuen Zeit unter seiner Fahne. Sey diese Fahne auch nicht gestickt mit Trophäen, vielleicht nur das zerrissene Segel der schiffenden Argonauten, oder der versetzte Mantel des armen Singers, wer sie trägt, der suche darin keine Auszeichnung, wer ihr folgt, der finde darin seine Schuldigkeit, denn wir suchen alle etwas Höheres, das goldne Flies, das allen gehört, was der Reichthum unsres ganzen Volkes, was seine eigene innere lebende Kunst gebildet, das Gewebe langer Zeit und mächtiger Kräfte, den Glauben und das Wissen des Volkes, was sie begleitet in Lust und Tod, Sagen, Kunden, Sprüchen, Geschichten, Prophezeiungen und Melodieen, wir wollen allen alles wiedergeben, was im vieljährigen Fortrollen seine Demantfestigkeit bewährt, nicht abgestumpft, nur farbspielend geglättet […]. Wer da lebt und wird, und worin das Leben haftet, das ist weder von heute, noch von gestern, es war und wird und wird seyn, verlieren kann es sich nie, denn es ist, aber entfallen kann es für lange Zeit, oft wenn wir es brauchen, recht eifrig ihm nachsinnen und denken. Es giebt eine Zukunft und eine Vergangenheit des Geistes, wie es eine Gegenwart des Geistes giebt, und ohne jene, wer hat diese?34

Die oben schon angedeuteten Konsequenzen für das Arminsche Zeitmodell treten durch diese semantische Verdichtung am Schluss des Volksliedaufsatzes offen zu Tage. In der Verschränkung und Parallelführung von christlich-messianischen Anspielungen in der Figur des verkündenden Propheten, der die durch Staat, Religion und Sprache getrennten Völker hier unter der Fahne der Volksdichtung wieder versammelt, den gleichzeitigen Verweisen auf die griechische, d.h. die mündlich-rhapsodische Überlieferung und die ägyptische Mythologie nimmt Arnim die um 1800 entscheidenden Traditionslinien für die Charakterisierung der Volksdichtung zugleich auch für die Figur des Dichters in Anspruch. Arnim spielt dabei auf die Überlieferung des Pfingstereignisses aus der Apostelgeschichte an, in der die christliche Botschaft durch den Heiligen Geistes formatiert und simultan in alle Sprachen übersetzt wird.35 Die Botschaft des Heiligen Geistes ist unzweideutig, muss aber, um gehört zu werden, in den jeweiligen national-kulturellen Formen der Zuhörer ertönen. Der Unterschied zur alttestamentarischen Version der Sprachvervielfältigung im Babel-Mythos (Gen 11,1–9) als Strafe, als Verlust der adamitischen Ursprache, besteht in der Positivierung von Sprachunterschieden. Pfingsten ist die Geschichte von den Möglichkeiten der Übersetzung und damit auch der Anerkennung der jeweiligen Volkssprachen.36 34 35 36

Arnim, Von Volksliedern, S. 440–442. Vgl., Apg. 2,1–12. Vgl. Jürgen Trabant, Die Einbildungskraft und die Sprache. Ausblick auf Wilhelm von Humboldt. In: Neue Rundschau 1985, S. 161–182; S. 167.

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Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa? Wie hören wir denn jeder seine eigene Muttersprache? Parther und Meder und Elamiter und die wir wohnen in Mesopotamien und Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asien, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Einwanderer aus Rom, Juden und Judengenossen, Kreter und Araber: wir hören sie in unsern Sprachen von den großen Taten Gottes reden.37

Die Apostel sind Sprachrohr des Heiligen Geistes und damit Verkünder des kommenden Himmelreichs. »Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.«38 Die Apostelgeschichte selbst thematisiert dabei das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Wird einerseits aus der Schrift, d.h. dem Alten Testament zitiert, etwa von Petrus aus Joel 3,1–5,39 und ist die Apostelgeschichte des Lukas natürlich selbst Teil der Schriftreligion, so wird doch der Verkündigungsauftrag dezidiert als orale Überlieferung, als face-to-face Kommunikation geschildert.40 Es wird sich später im Streit mit Jacob Grimm zeigen, dass der Bezug auf die Sprachkonzeption des Pfingstfestes auch die Ablehnung der Idee einer Ursprache, die, noch nahe am Göttlichen, sich nach und nach ausdifferenziert und sich dann immer weiter vom göttlichen Ursprung entfernt habe, impliziert. Das Pfingstwunder besteht, wie Trabant zeigt, nicht in der Einlösung einer paradiesischen Sprache, die universelle Verständigung ermöglicht, sondern in einem Programm der Eigenständigkeit jeder Volkssprache und handelt von der Aufgabe, sich dieser Eigenständigkeit durch Überlieferung und Übersetzung zu nähern. Dass aber die Transformation in die jeweils andere Sprache gelingt, liegt in der Sprache überhaupt innewohnenden Kraft, die hier der Heilige Geist symbolisiert, begründet. Nicht die Sprachausdrücke werden vereinheitlicht, sondern in Sprache überhaupt arbeitet eine Energie, die als einheitliches Wirkprinzip Verstehen ermöglicht. Nicht ohne Grund wird es der Geist-Begriff sein, der für fast 200 Jahre die hermeneutische Diskussion bestimmt. Neben der Positivierung von Volkssprache durch den Rekurs auf die Pfingsttradition ist der Bezug auch für die dem Aufsatz zugrunde liegende Zeitkonzeption nicht uninteressant. Die Verkündung der Ankunft des Messias wird in der Apostelgeschichte zeitlich unbestimmt gelassen. In dieser Unbestimmtheit 37 38 39 40

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Apg. 2,6–11. Apg. 2,3–4. Vgl., Apg. 2,17–21. Hier nur einige Beispiele aus dem unmittelbaren Kontext der Stelle: Apg 2,14; Apg 2,22, in denen face-to-face Kommunikation mit Rückgriff auf die Schrift, also die Thora, verbunden wird.

ist ein Konzept von Zeitlichkeit angelegt, das sich der Schematisierung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entzieht und die heilsgeschichtliche Erlösung im Modus der Plötzlichkeit41 beschreibt, wie es in Apg. 1,6–8 ausdrücklich heißt.42 Diesem theologischen Zusammenhang wird nun von Arnim mit der Hesiod-Anspielung »es war und wird und wird seyn« aus der ›Theogonie‹ die poetisch-antike wie auch die ägyptische Überlieferung an die Seite gestellt, die sich einem ähnlich radikalen Zeitkonzept verpflichtet. Auch die HesiodStelle handelt vom Verhältnis des Dichters zum Göttlichen. Der Eingangsgesang der ›Theogonie‹ zeigt ein ganz ähnliches Spiel mit der Verkündigung wie die Apostelgeschichte. Der Text beginnt mit dem Vorsatz des Rhapsoden von den helikonischen Musen zu berichten. Bereits in Vers 22 wird aber deutlich, dass Hesiod nur zu singen vermag, weil jene, von denen er singt, ihm dieses gelehrt haben und mehr noch, die Musen »hauchten die Stimme mir, die göttliche, ein, zu sagen, was war und was sein wird« und »singt von dem, was ist, was war und was sein wird.«43 Ähnlich wie der Heilige Geist, der zugleich Subjekt und Objekt der Verkündigung ist, sind hier die Musen, Ursprung und Quelle der Poesie und zugleich ihr Gegenstand. Sie besingen, »was ewig lebt«.44 Die Musen als die göttliche Inspirationsquelle des Dichters legitimieren zugleich dessen Sprechen als ein wahrhaftes.45 Neben der antiken Bezugnahme ist auch eine alttestamentarische Referenz erkennbar. Das Zusammenfallen der Zeitkategorien, der paradoxe Entzug von Zeitlichkeit im Moment des Ewigen konnotiert den alttestamentarischen Gottesnahmen, Jahwe. Zwar ist die etymologische Erklärung des Tetragramms JHWH weiterhin theologisch umstritten,46 gerade die Polyvalenzen sind hier aber von Interesse. Im zweiten Buch Mose nennt der Herr Mose seinen Namen. Luther

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Zu den ästhetischen Implikationen eines solchen Zeitmodells siehe natürlich Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/M. 1981. »Die nun zusammengekommen waren, fragten ihn und sprachen: Herr, wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich für Israel? Er sprach aber zu ihnen: Es gebührt euch nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater in seiner Macht bestimmt hat; aber ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.« Hesiod, Theogonie, V. 31f. und V. 38. Zitiert nach: Hesiod, Theogonie, Griechisch und Deutsch. Hg. u. übers. von Albert von Schirnding, Darmstadt 1991. Ebd., V. 21. Vgl. Ebd., V. 29. Dass bereits bei Hesiod die Musenanrufung einen philosophischen Stachel an der Aufrichtigkeit der göttlichen Berufung mitführt, zeigt Schlaffer schön auf. Schon hier verweist die Bezugnahme auf göttliche Inspiration auf ein innerpoetisches Reflexionsverfahren. Vgl. Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 62ff. Vgl. den Artikel ›Jahwe‹. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 16, Berlin – New York 1987, S. 438–441.

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übersetzt: »Wie ist sein Name?, was soll ich ihnen sagen? Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und sprach: So sollst du zu den Israeliten sagen: ›Ich werde sein‹, der hat mich zu euch gesandt.«47 Das Verb hjh kann dabei sowohl auf die Wurzel hawah, was soviel wie sein und werden bedeutet, als auch auf hajah, also geschehen, veranlassen, da sein bezogen werden. Da die hebräischen Verbformen in der 3.Pers.m.Sg im Präsens und Futur (i.d.R) identisch sind, werden beide Zeitformen semantisch mitgeführt. So lässt sich der Name Gottes als Er veranlasst zu werden, als Ich bin, der ich bin und lutherisch als Ich werde sein, der ich sein werde übersetzen. Damit ist schon im Namen Gottes impliziert, dass das Göttliche selbst den irdischen Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entzogen ist und vielmehr als ewig wirkendes, produktives Prinzip verstanden werden muss, das anderes ins Leben ruft, im Lebendigen wirkt und zugleich sich als Lebendiges erweist und zeigt.48 In der Tat hat es aber schon Ende des 18. Jahrhunderts den Versuch gegeben, den mosaischen Gottesnamen mit dem ›Es war, es ist und wird sein‹ als Inschrift am Isis-Tempel zu Sais zusammenzubringen. Wielands Schwiegersohn Carl Leonhard Reinhold veröffentlicht 1788 bei Goeschen in Leipzig unter seinem Bruderschaftsnamen Decius die Schrift ›Die hebraeischen Mysterien oder die aelteste religioese Freymaurerey‹, in der er versucht, einen Zusammenhang zwischen alttestamentarischer und altägyptischer Überlieferung herzustellen. Die Isis-Inschrift wird im Zuge der detaillierten Herleitung des Gottesnamen Jahwe erwähnt. Wem aus uns, meine Brüder! sind endlich die alten ägyptischen Inschriften unbekannt; die eine auf der Pyramide zu Sais: Ich bin alles, was ist, war und seyn wird, meinen Schleyer hat kein Sterblicher aufgehoben; und jene unter der Bildsäule der Isis: Ich bin was da ist? Wer aus uns, Brüder! versteht nicht den Sinn dieser Worte so gut, als ihn vormals der ägyptische Eingeweihte verstehen musste, und weiß nicht, daß damit das wesentliche Daseyn, die Bedeutung des Wortes Jehova beinahe wörtlich ausgedrückt ist?49

Schiller übernimmt Passagen aus Reinholds Schrift in seine 1790 im zehnten Heft der ›Thalia‹ erschienenen universalhistorischen Abhandlung ›Die Sendung Mose‹ 47 48

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Ex 3,14. Eben darin unterscheidet sich die Sprachfähigkeit Gottes in der Genesis von der des Menschen. Der Mensch kann nur benennen, nicht durch das Wort erschaffen. Die sprachliche Kreatürlichkeit liegt bei Gott, die Nomenklatur beim Menschen. Vgl. Trabant, Die Einbildungskraft, S. 163ff. Carl Leonhard Reinhold, Die hebraeischen Mysterien oder die aelteste religioese Freymaurerey, in 2 Vorlesungen gehalten in der ... zu ****, Leipzig 1788, S. 53f. In einem undatierten Aphorismus aus dem Nachlass schreibt Goethe wie selbstverständlich: »Die Natur ist immer Jehowah / Was sie ist, was sie war, und was sie seyn wird.« FA Bd. 13: Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen. Hg. von Harald Fricke, Frankfurt/M. 1993, S. 92.

und stellt ebenfalls über Jao bzw. J-ha-ho eine Verbindung zwischen ägyptischer Mythologie und mosaischem Bibelbericht her.50 Schiller geht sogar soweit, die mosaischen Bücher als Strategie des Mose darzustellen, um die Hebräer mit Hilfe eines monotheistischen Gottes aus der Gefangenschaft zu führen. Das Konzept habe Mose in der kleinen, elitären Bildungsschicht der ägyptischen Tempeldiener kennen gelernt. Neben einer gehörigen Portion Antisemitismus, die in Schillers abschätziger Charakterisierung der Hebräer mitschwingt, rüttelt er damit kräftig an den Grundfesten auch der christlichen Religion. Historisiert Schiller aber die Entstehung der monotheistischen Religion als strategischen Schachzug Mose im politischen Befreiungskampf der Hebräer, so nimmt er die weitreichenden Konsequenzen für die Konzeption des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die in der Exodusgeschichte formuliert wird, zurück. Arnim ist ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, nicht weit von einer blasphemischen Lesart entfernt, wenn er durch seine Zusammenstellung verschiedener mythologisch-religiöser Traditionen die messianische Kraft als das momentane Gewahrwerden des Göttlichen in der Dichtung darstellt. Dichten, das ist nicht zu weit gegriffen, wird bei Arnim zu einem Akt der Transsubstantion: Dichtung als Eucharistie. Das Göttliche wäre dann eben nicht als bloß Geistiges vorzustellen, sondern als etwas in den Dokumenten der literarischen Tradition materialisiert vorliegend Gedachtes, das »im vieljährigen Fortrollen seine Demantfestigkeit bewährt, nicht abgestumpft, nur farbspielend geglättet […] das Grabmahl der Vorzeit, das frohe Mahl der Gegenwart, der Zukunft ein Merkmahl in der Rennbahn des Lebens.«51 In der Dichtung ist bei Arnim das Göttliche als real anwesend gedacht. Eine solche Lesart wird vor allem durch die philologische Überlieferungsgeschichte der saitischen Inschrift nahegelegt und kann als zeitgenössisches Wissen um 1800 vorausgesetzt werden. Ohne auf die antiken Quellen, vor allem Plutarch,

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Vgl. Friedrich Schiller, Die Sendung Mose: »Nichts ist erhabener, als die einfache Größe, mit der sie von dem Weltschöpfer sprachen. Um ihn auf eine recht entscheidende Art auszuzeichnen, gaben sie ihm gar keinen Nahmen. Ein Nahme, sagten sie, ist bloß ein Bedürfniß der Unterscheidung, wer allein ist, hat keinen Nahmen nöthig, denn es ist keiner da, mit dem er verwechselt werden könnte. Unter einer alten Bildsäule der Isis las man die Worte: ›Ich bin, was da ist‹ und auf einer Pyramide zu Sais fand man die uralte merkwürdige Innschrift: ›Ich bin alles was ist, was war, und was seyn wird, kein sterblicher Mensch hat meinen Schleyer aufgehoben.‹ Keiner durfte den Tempel des Serapis betreten, der nicht den Nahmen Jao – oder J – ha – ho, ein Nahme, der mit dem Ebräischen Jehovah fast gleich lautend, auch vermuthlich von dem nehmlichen Inhalt ist – an der Brust oder Stirn trug;« In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 17: Historische Schriften. Hg. von Karl-Heinz Hahn, Weimar 1970, S. 385. Im Folgenden wird die Nationalausgabe mit der Sigle ›NA‹ zitiert. Arnim, Von Volksliedern, S. 441. Vgl. die Anspielung auf die Bibel, 1. Kor. 9,24.

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näher einzugehen,52 ist festzuhalten, dass die Wendung Ende des 18. Jahrhunderts einige Prominenz erlangt und es gar bis in eine Fußnote in Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ (1790) schafft.53 Bereits 1750 hatte Paul Ernst Jablonski, einer der besten Kenner ägyptischer Mythologie und Altertümer seiner Zeit, im ›Pantheon Aegyptiorum‹ verschiedene Versionen der Inschrift auf dem Boden des Isis-Tempels von Sais diskutiert. Die ägyptische Göttin Isis, die einigen Varianten nach auch mit der Urgöttin Neith identisch ist, wird von ihm als »ipsa natura«54 bezeichnet. Sie fungierte als Mutter der Natur, die aus ihrem Leib, der gleichzeitig Mann und Frau ist, selbstschöpferisch die Welt gebiert. In ihr ist die schöpferisch-bewegenden Kraft, die in der Welt wirkt, personifiziert. Als Mütter aller Mütter und Väter aller Väter55 ist sie selbst der Zeitlichkeit enthoben. Ein Charakteristikum, das sich für Jablonski in der Inschrift widerspieglt. Zugleich aber gilt Isis, oft mit Minerva gleichgesetzt, als Göttin der Weisheit, ihre Offenbarungen sind Wissen vom Göttlichen.56 Jablonskis Rekonstruktion des Mythos fand Eingang in eine der populärsten mythologischen Enzyklopädien der Goethe-Zeit. In der dritten durch Johann Joachim Schwaben gründlich revidierten Auflage von Benjamin Heidrichs ›Gründliches mythologisches Lexikon‹ von 1770 heißt es im Isis-Artikel: »zu Sais las man an dem Fuße ihrer Bildsäule in dem Heiligthume des Tempels der Minerva, welche man mit ihr für einerlei hielt: ›Ich bin das All, das gewesen ist, das noch ist, und das noch sein wird; und meinen Mantel hat noch kein Sterblicher aufgedeckt‹«57 und er fügt am Ende des Artikels hinzu: »Daher nahm man sie denn ebenfalls für die ganze Natur aller Dinge; und sie war also in gewissem Verstande von Neith oder Minerva der Äegypter nicht unterschieden.«58 Auf Jablonski rekurriert wesentlich auch Herders ›Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts‹ (1774), Arnim sicherlich bekannt, in der Rekonstruktion der ägyptischen Götterlehre. Auffällig ist bei Herder, dass er kein Interesse hat, ägyptische Mythologie als Selbstzweck zu rekonstruieren. Er wehrt sich gegen eine rational-kritische Auslegungspraxis der Bibel, wie er sie vor allem durch den

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Dazu siehe Christine Harrauer, »Ich bin, was da ist…«. Die Göttin von Sais und ihre Deutung von Plutarch bis zur Goethe-Zeit. In: Wiener Studien 107/108 (1994/95), S. 337–355. In §49. Harrauer, »Ich bin, was da ist…«, S. 341. Ebd., S. 339. Ähnlich die Musen bei Hesiod. Benjamin Heidrich, Gründliches mythologisches Lexikon, zu besserm Verständnisse der schönen Künste und Wissenschaften nicht nur für Studierende, sondern auch für viele Künstler und Liebhaber der alten Kunstwerke, sorgfältig durchgesehen, ansehnlich vermehret und verbessert von Johann Joachim Schwaben, Leipzig 1770, Sp. 1377f. [Photomechanischer Nachdruck Darmstadt 1967]. Ebd., Sp. 1387.

Orientalisten und Philologen J. D. Michaelis und dessen Kommentaren zu den Büchern Mose vertreten sieht. Herder dreht dessen Gedankenfigur, die sich im Grunde auch bei Reinhold und Schiller noch findet, schlicht um. Das Alte Testament sei keineswegs Resultat einer Übernahme verschiedener mythologischer Quellen, ein Deutungszugang, der »zuletzt die ganze Bibel, die heiligsten simpelsten Offenbarungen zu Orientalischen, Arabischen und Aegyptischen Phantasien machen, und alles Wort Gottes als Schaum gelehrter Phrasen verdunsten wird!«59 Die nicht zu bestreitenden Übereinstimmungen, die Herder ebenfalls philologisch nachzeichnet, sind für ihn Beweis der göttlichen Hieroglyphe, die sich etwa in der Zahl 7 in der Genesis zeige. Die weiteren Teile der Schrift widmet Herder dem Nachweis dieser Hieroglyphe in den ältesten Mythologien. Die Hieroglyphe, die Herder als eine Bild- und Symbolkommunikation ausmacht, ist für ihn die göttliche Grundstruktur allen Daseins, die Weltformel, der alles zugrunde liegt, und eben deshalb allen Völkern und Mythologien gleichermaßen bekannt ist. Sie gilt es in den verschiedenen historischen Varianten aufzuspüren und damit auch das Wirken Gottes in den Werken des Menschen als dessen Ebenbild zu erklären. Diese Hieroglyphe, so Herder, zeige sich auch im ägyptischen Mythos von Ptah (Phthas) und Neith(a). Herder folgt hier Jablonski weitgehend. Phthas sei Mann und Weib, Neitha Weib und Mann. Sie sind, obwohl in zwei Figuren gespalten, sich ergänzende Polaritäten und als Einheit »Weltordner, Weltschöpfer«.60 Phthas »haucht und schafft: diese webt – und was? das alte schöne, so oft missverstandene Bild aller Geheimnisse, den grossen Schleier der Natur!«61 Hauchen und Weben werden als die produktiven Grundkräfte der Welt vorgestellt. Beide Begriffe stehen nicht erst bei Arnim für metaphorische Attribute der Poesie. So ist denn auch die Bibel nicht als Urkunde aus Archiven und Bibliotheken überliefert, sondern selbst »Archiv aller Künste und Einrichtungen«,62 »woraus alle Denkmale, Lieder, Bilder, Poesien und Philosophien entsprangen«.63 Entscheidend scheint zu sein, dass die Grundhieroglyphe des Daseins in der Dichtung immer wieder nachvollzogen werden kann, und

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Johann Gottfried Herder, Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts. In: HSW, Bd. 6, S. 334. HSW, Bd. 6, S. 350. HSW, Bd. 6, S. 350f. HSW, Bd. 6, S. 332. HSW, Bd. 6, S. 332. Für die Archivthematik um 1800 übrigens auch interessant, dass Herder Archiv und Bibliothek in ihrer Speicherfunktion als »elende Erhaltungsmittel« (ebd.) abtut, und dagegen einen Archivbegriff verwendet, der als produktiver Ort für Kunst, Poesie und Wissenschaft bereits eindeutig dynamisiert ist.

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damit auch das Wirken Gottes.64 Grundstruktur dieser Hieroglyphe ist eine sich ergänzende Polarität, die Herder in der Form Männlich-Weiblich sieht.65 Wie da sich Gewebe, Farben, Gestalten gatten! heben! abstechen! und halten! – Wie die Natur, die unsichtbare Mutter da webet und auftrennet, zerstört und sticket – Teppich und Schleier, und Wunderansicht, wo wir nur Farben gaffen und Plan und Absicht nicht verstehen oder enträthseln. Siehe da jene uralte Penelope, die Künstlerin Minerva zu Sais: ihre Aufschrift nun deutlich genug: Das All bin ich! was war! was ist! was wird! kein Sterblicher enthüllte meinen Schleier! Die Sonne war mein Kind! […] Eins also nur erklärende Parallele des andern, wie die ganze Aegyptische Naturlehre also weiblich und männlich symbolisiert. Man füge beide in einander – und da das Bild der Allschöpfung, Allbelebung, was wir schon hatten und oft genug haben werden

das Hermesurbild, aus dem alles ward.«66

Die mythologische Tradition wird bei Herder zum Schleier, zum gewebten Gewand, welches das Hauptsymbol nur verdeckt.67 Er spricht der gelehrten Philologie die Fähigkeit ab, dieses Hauptsymbol zu entwickeln, den Schleier aufzuheben. Eigentlich aber gibt es kein hinter dem Schleier Liegendes, was zu entdecken wäre. Herder macht in seiner Lesart selbst deutlich, dass, um im Bild zu bleiben, die Hieroglyphe eingewebt in die Tradition ist, und nur im Studium der Textur wieder sichtbar wird. So deutet sich auch im Sturm-und-Drang Gestus seines Sprachstils an, wessen Aufgabe eine solche Deutung wohl sein dürfte. »Hiehier als Dichter und 64

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Ich erinnere an die Parallele zum Heiligen Geist der Pfingstgeschichte. Der Begriff »Weltgeist« ist für Herder nur ein Begriff unter vielen, der für dasselbe Prinzip steht: »Ibisfigur, Erstes Zahlbild – hier heißt’s Kneph, der Weltgeist, das Symbol des Guten, das Schlangenbild, der doppelte Urgrund aller Wesen! Bild des Unendlichen, und der doppelgeschlechtigen Allbefruchtung«, HSW, Bd. 6, S. 352. Eine Konstruktion, die Wilhelm von Humboldt 1799 in seinem ›Horen‹-Aufsatz ›Über den Geschlechterunterschied‹ wieder aufnimmt. Vgl. dazu Vf., Wilhelm von Humboldts Poetik des Wissens. In: Stephan Pabst/Astrid Bauereisen/Achim Vesper (Hg.), Kunst und Wissen. Beziehungen zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie im 18. und 19. Jahrhundert, Würzburg 2008, S. 139–161. HSW, Bd. 6, S. 351. Vgl. »Die älteste, reinste, mit Gestalten unvermischte Mythologie der Aegypter hatte mitunter ein Gewebe unsrer Urkunde gleich: das in Aegypten nur in Symbole gehüllet, immer noch das Hauptsymbol besaß«, HSW, Bd. 6, S. 364.

Künstler!«, ruft er im ersten Teil der Schrift aus. Verständlich wird, warum der Dichter zu dieser Aufgabe befähigt ist. Sein Dichten ist Nachvollzug der schöpferischen Tätigkeit Gottes und ihres Berichts.68 Wer sonst außer der Dichter, könnte in der Lage sein, ›Geist‹ dieses Berichts zu erkennen und auszusprechen. Der beste Bibelhermeneut ist der Dichter, sein Werk der beste Bibelkommentar, der keiner gelehrten Instruktion über Details mehr bedarf, sondern zu dem aus der Einfachheit und Erhabenheit des Bibelwortes die Hieroglyphe Gottes spricht und diese im poetischen Nachvollzug, wie Herder es im ersten Teil selbst praktiziert, lesbar wird.69 Arnim wird sich der Reichweite seiner Anspielung bewusst gewesen sein. So wird bei ihm der Dichter nicht nur zur Figur, in der die Natürlichkeit des Volkes seinen Ausdruck und seine Form findet, er dem Volk nur zurückgibt, was er aus ihm empfangen hat. Der Dichter ist hier zugleich antiker Rhapsode wie christlicher Prophet. Die messianische Heilserwartung wird aber nicht teleologisch in die Zukunft verschoben, sondern als augenblickhaftes Ereignis ästhetischer Erfahrung in Produktion wie Rezeption konzipiert. Der Moment der Erlösung ist ein außerhalb der Zeit stehender Moment. So wie Zukunft und Vergangenheit in diesem Moment zusammenfallen, so ist auch die Kategorie Gegenwart nur als stets schon entzogene begreifbar. Arnim positioniert sich keineswegs als neutraler philologischer Herausgeber der Sammlung, sondern erhebt sich gleichsam selbst in eine prophetisch-messianische Position.70 Diese leitet sich aber eben nicht aus dichterischer Genialität her, sondern nimmt ihre Kraft aus dem Bewusstsein, an dem höchsten Prinzip zu partizipieren und dieses hervorzubringen. Aus seiner Poeto-Philologie wird eine Poeto-Theologie. Es bliebe zu klä-

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Vgl. »So dichtet, so erhält Gott!«, HSW, Bd. 6, S. 332f. Nicht umsonst wettert Herder bereits ganz zu Beginn gegen »eine Sündfluth von Noten, Erklärungen, Auslegungen; Auslegungen der Auslegungen – Unsinn!« (HSW, Bd. 6, S. 200) und verlangt und praktiziert »Haltung am Text« (HSW, Bd. 6, S. 201). Dahinter steht natürlich der lutherisch geschulte Theologe Herder. Es bleibt aber darauf zu verweisen, dass auch hier Herders poeto-hermeneutisches Konzept nicht aufgegeben wird, denn gerade im Durchgang durch die Urkunden des Menschengeschlechts kann sich ja erst ein Grundverständnis für die Bibellektüre einstellen, die sich dann wieder ganz auf den Text einlassen kann. In der religiösen Aufladung der Semantik liegt also ein weit höherer Anspruch als die Bezugaufnahme auf die lange Auseinandersetzung um das Hierarchieverhältnis von Dichtung und Historie, wie Claudia Stockinger (Tod und Auferstehung des Autors im Architext. Clemens Brentanos philologisch-poetische Gründung Prags. In: Detering (Hg.), Autorschaft, S. 220–240; S. 228) meint: »Die Aufgabe des Dichters besteht darin, in der deutenden Lektüre der Sage paradiesische Zustände zu restituieren. Dem ›ganzgesinnten Forscher‹ erschließt sich deren ›höhere, überzeitliche, ewig poetische Wahrheit‹ auch dann noch, wenn die ›historische Urkunde‹ bereits ›verstummt‹ ist. Zeitigt das historische Studium keinen über die bloßen Fakten hinausgehenden epistemologischen Mehrwert [...], so bewährt sich der Dichter als Exeget der Geschichte.«

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ren, ob Arnim und die ganze Frühromantik nicht aber zu Herder bereits in eine wichtige Differenz getreten sind. War für den Theologen Herder das poetische Schaffen tatsächlich Zugang zum göttlichen Prinzip, so wird für die Romantiker das (poetische) Schaffen zum höchsten Prinzip, der Dichter göttlich,71 seine Dichtung kann daher zum Versprechen einer neuen Bibel werden.

9. Philologie jenseits der Hermeneutik – Jacob Grimm Der Streit um die Poesie und ihre Wissenschaft Jacob Grimm erkennt im Bestreben, der Dichtung ein anthropologisch fundiertes Aktualisierungsvermögen zuzusprechen, die Hauptdifferenz zwischen seiner und Arnims Position. Grimm geht von einer göttlichen Ursprünglichkeit der Poesie aus, von der sie sich zwangsläufig in ihrer Geschichte immer weiter entferne. In der alten Poesie können wir den göttlichen Ursprung noch erahnen. Die historische Differenz, der Riss aber ist für Grimm nicht mehr zu überbrücken. Arnim hingegen denkt das Göttliche strikt auf die jeweilige Gegenwart bezogen und diese in der Dichtung als Zeitkategorie transzendiert, besser suspendiert. Gegenwart ist wie der Moment der Erlösung gekennzeichnet durch die Erfahrung permanenten Entzugs. Der kürzeste Moment, der Gegenwart sein kann, ist Ewigkeit.72 Diese offenbart sich nur in der beständigen Produktivität der Menschen und muss so stets in Kunst und Literatur neu realisiert werden.73 Es ist bekannt, dass es insbesondere J. Grimm war, der »gegen alle Versuche, alte und fremde Poesie durch Übersetzung und Bearbeitung für die eigene Zeit und die eigene

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So dass für Novalis hinter dem Schleier der Isis nicht etwa das Göttliche, sondern der Mensch sich selbst findet. »Einem gelang es – er hob den Schleyer der Göttin zu Saïs, / Aber was sah er? Er sah – Wunder des Wunders – Sich selbst.« Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen 1798. In: ders., Studienausgabe der Werke, Tagebücher, Briefe, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. von Hans Joachim Mähl, Darmstadt 1999, S. 312–424, S. 374. Nietzsche wird diese Konsequenz in ›Also sprach Zarathusthra‹ in die Metapher vom Mittag und im Bild vom Torweg zwischen Vergangenheit und Zukunft, an dem das Wort »Augenblick« geschlagen steht, präsentieren und ins Zentrum seiner Philosophie von der Ewigen Wiederkehr stellen. Dies wäre ein eigener Exkurs. Als ersten Anhaltspunkt vgl. aber die Episoden ›Von der Erlösung‹, ›Vom Gesicht und Rätsel‹ und ›Mittags‹. Nietzsche lässt seine Lehre denn auch gleich in der Figur des Propheten Zarathusthra auftreten. Grimm schreibt an Arnim am 31. Dezember 1812: »Im Ganzen streitest Du mehr für die Menschlichkeit, ich mehr für die Göttlichkeit der Poesie, Du willst ihr überall ein unmittelbares Bedürfnis, eine nützliche Anwendung und Entspringung aus dem Leben zum Grund legen«, Steig III, S. 254.

Nation lesbar zu machen«74 vehement anschrieb, wenngleich er in der eigenen Editionsarbeit seinen eigenen Maßstäben nicht immer Rechnung trug. Die Ablehnung J. Grimms resultiert aus drei Punkten, die Arnims Projekt grundsätzlich entgegen laufen: Das Form/Inhalt-Verhältnis, sein streng historizistisches Geschichtsverständnis und die unterschiedliche Auffassung von der gesellschaftlichen Funktion der Literatur. Alle drei Unterschiede werden in der Argumentation stets parallel in Anschlag gebracht, bezeichnen aber doch eigenständige Problembereiche. Im Zuge des Streites zwischen Jacob und Wilhelm Grimm über die Editionsprinzipien der von beiden geplanten Edda-Ausgabe, der 1811 in Briefen an Arnim und Savigny ausgetragen wird, erläutert J. Grimm, warum er »jede Bearbeitung eines Gedichtes für eine Verletzung, also für schlecht und namentlich jede Übersetzung für Unrecht, also ein Übel«75 hält. Jede Dichtung, so Grimm, sei untrennbar aus Form und Inhalt hervorgegangen. Grimm sieht das Verhältnis von Form und Inhalt nicht als Komposition, die sich je so und so gestalten könnte, sondern als striktes Bedingungsverhältnis. Die jeweilige spezielle Form eines Gedichts ist dem geäußerten Gedanken »individuell notwendig«. Nur in der Form, und zwar nur in genau dieser Form konnte der Gedanke in der jeweiligen historisch-topographischen Situation lebendig werden. Grimm greift zur Darstellung dieses engen Verhältnisses auf organische Metaphern zurück. Form und Inhalt sind gemeinsam entstanden und können nicht separat voneinander gedacht werden. Wollte man das eine vom anderen trennen, »so ist das Leben fort«, denn erst in der simultanen Erscheinung von Form und Inhalt wird der Geist als verbindendes Element zwischen beiden sichtbar. In der Analyse können zwar Inhalt wie Form bestimmt werden, um in der Übersetzung nachgeahmt zu werden, dabei gehe aber eben der Geist, der sich nur in der Verbindung beider zeige, notwendig verloren.76 Für den Umgang mit alter Dichtung bedeutet dies für Grimm, dass, wenn überhaupt, nur die ursprünglich gegebene

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Gunhild Ginschel, Der junge Jacob Grimm 1805–1819. 2. vermehrte Auflage, Stuttgart 1989, S. 86f. Ginschel gibt einen guten Überblick über die Versuche frühromantischer Übersetzungspraxis, etwa Tiecks. In ihrer Wertung allerdings wiederholt sie die Position Grimms, wenn sie die Intention der romantischen Projekte lediglich auf die Vermittlung alter bezaubernder Dichtung durch Modernisierung beschränkt (vgl. S. 81), und feststellt, dass »alles andere, was die Heidelberger Romantik zur Wiedererweckung der altdeutschen Poesie geleistet hat« hinter den Arbeiten Grimms zurücktrete (S. 85). J. Grimm am 20. Mai 1811. In: Briefe der Brüder Grimm an Savigny. Aus dem Savignyschen Nachlass hg. in Verbindung mit Ingeborg Schnack von Wilhelm Schoof, Berlin – Bielefeld 1953, S. 101 [im Folgenden Grimm-Savigny]. Alle Grimm-Savigny, S. 102: »Wenn wir beim Zerlegen auch die Bestandteile zu fassen wähnen, der dritte, der verbindet, der Geist entflieht«. Hier wird auch der Unterschied zum Übersetzungsmodell des Pfingstereignisses sehr schön deutlich.

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Gestalt Zugang zum Geist der Alten ermögliche. Bei den Alten, in der Naturpoesie, sei kein konstruierender Geist bzw. Autor erkennbar, sondern die Dichtungen in ihrer Gestalt entwüchsen, wie Pflanzen, dem gemeinsamen Boden des Volks. »Die Volkspoesie tritt aus dem Gemüth des Ganzen hervor; was ich unter Kunstpoesie meine, aus dem Einzelnen. Darum nennt die neue Poesie ihre Dichter, die alte weiß keine zu nennen«.77 Jede Übertragung oder Bearbeitung als Veränderung der Form entreiße die Pflanze ihrem Boden. »Ein übersetztes Gedicht ist eine auf Papier geklebte, saft und farblose Pflanze, woran der beste Geruch u. Farbe wenigstens dahin.«78 Wo die Form nur nachgeahmt werde, wie Grimm etwa von der Hagens Niebelungen-Edition, aber auch der Voßschen Homerübersetzung vorwarf,79 da könne nicht einmal von einer originalgetreuen Kopie des Werkes gesprochen werden, allenfalls von einem Abziehbild.80 »Ein Übersetzer ist gleich einem Mahler, der ein herrliches Bild in bloß Grau copiren soll.«81 Daher plädiert J. Grimm dafür, lediglich eine wörtliche Paraphrase der ›Edda‹ neben dem Originaltext zu geben, die sich gar nicht erst den Anschein gibt, Original zu sein. Eine solche Paraphrase dient J. Grimm aber nicht etwa zur besseren Vermittlung des Textes für die Leser. Eine Ausrichtung der Editionskriterien am kommerziellen Erfolg, wie es Arnim anmahnte, lehnte J. Grimm rundweg ab.82 Die Paraphrase dient ihm vielmehr zur Offenlegung seiner Editionskriterien, sie soll Zeugnis seiner wissenschaftlichen Studien sein. »Die Uebersetzung der Edda muß nothwendig noch hundertmal schlechter und untreuer werden, als jede andere, eine wörtliche Paraphrase wäre mir lieb […], weil sie den sichersten, offenbarsten und kürzesten Beweis von unsern Studien gäbe.«83 Eine solche Übersetzung wird ihm zum wissenschaftlichen Legitimationsargument. Ein bloßer Abdruck des Originals, wie in von der Hagens

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J. Grimm an Arnim am 20. Mai 1811, Steig III, S. 116. Grimm-Savigny, S. 102. In einem Brief an Arnim vom 9. Juli 1811 spricht er pejorativ von »Voßischen Dollmetschungen«, Steig III, S. 133. »Wie kann aber das gut heißen, was nur vom guten abgezogen ist, u. wo das gute daneben steht, als das viel bessere?«, Grimm-Savigny, S. 102. Grimm-Savigny, S. 102. Armin gibt in einem Brief an W. Grimm vom 25. Juni 1811 zu bedenken: »Seid vorsichtig mit der Herausgabe des Originaltextes, es giebt vielleicht nicht zehne, die ihn lesen können und wollen«, Steig III, S. 129. J. Grimms Antwort an Arnim vom 9. Juli 1811: »Nicht wenig bestärkst du mich in meiner Sache durch den sonderbaren Rath, die Edda nur in der Uebersetzung und ohne den Text herauszugeben, damit wäre mir alle Freude daran abgeschnitten, welche sich doch darauf gründen muß, daß ein herrliches Werk wieder in die Welt gegeben wird; es ist mir unmöglich zu rechnen, ob es zehn oder noch weniger lesen werden«, Steig III, S. 133. Die MärchenEdition der Grimms zeigt aber hingegen ebenso deutlich, dass auch sie nicht immer dieser Linie treu geblieben sind. Steig III, S. 133.

›Edda‹-Ausgabe,84 zeugt für Grimm allenfalls von Unsicherheit und Unkenntnis des eigentlichen Textes. Die Übersetzung steht nicht für eine möglichst große Annäherung an das Original oder, so das goethezeitliche Ideal, kann gar selbst Original sein, sondern wird vielmehr zum Signum der Distanz zur Vorlage. Eine Distanz, die die Grenze zwischen Poesie und Wissenschaft einmal mehr nachzeichnet. Um einen Text fehlerfrei und originalgetreu editieren zu können, und das ist der Maßstab den Grimm immer wieder ansetzt, bedarf es zuallererst des genauen sprachlichen Verständnisses.85 »Seine [von der Hagens, mb] Ausgabe liefert den bloßen isländischen Text, niemand wird sie lesen können und ganz sicher hat er ihn selbst nicht ganz, höchstens halb verstanden, denn das ganze Buch wimmelt von Sprachfehlern. […] es ist vor allen Dingen unerlaubt, ein Werk herauszugeben, das man nicht einmal versteht.«86 Ähnlich konsequent argumentiert J. Grimm gegen Arnims und Brentanos Editionspraxis im ›Wunderhorn‹. Ihre im ›Volkslieder‹-Aufsatz deutlich gewordene Intention, der Sammlung eine aktualisierende Bedeutung zuzumessen,87 habe dazu geführt, dass sie »aus einem Gefühl gegen das Moderne« versucht hätten, viele der Lieder »künstlich zu ergänzen und zu vermehren, indem Sie zu der Aenderung oder dem neuen Lied die alte Manier nachahmten, damit das ganze alt

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Friedrich Heinrich von der Hagen, Lieder der älteren oder Sämundischen Edda, Breslau 1812. Der Ausgabe war ein Wettlauf um eine Abschrift des in Kopenhagen liegenden ›Codex Regius‹ aus dem 13. Jahrhundert zwischen den Grimms und v. d. Hagen vorausgegangen. Die Grimms planten eine dreibändige Ausgabe, die neben dem Abdruck des Originaltextes eben jene paraphrasierende Übersetzung sowie einen quellengeschichtlichen und die mythengeschichtlichen Zusammenhänge erklärenden Kommentar beinhalten sollte. Die zuvorkommende Veröffentlichung v. d. Hagens löste dann einen ›öffentlichen Krieg‹, wie J. Grimm es nannte (vgl. Steig III, S. 218), aus. Zu den Positionen und Hintergründen, die hier nicht alle erläutert werden können, siehe Lothar Bluhm, compilierende oberflächlichkeit gegen gernrezensirende Vornehmheit. Der Wissenschaftskrieg zwischen Friedrich Heinrich von der Hagen und den Brüdern Grimm. In: ders./Achim Hölter (Hg.), Romantik und Volksliteratur. Beiträge des Wuppertaler Kolloquiums zu Ehren von Heinz Rölleke, Heidelberg 1999, S. 49–70. Interessanterweise meldet Arnim gerade in diesem Punkt Skepsis gegen die Sprachkompetenz der Brüder an: »Die Hauptschwierigkeit bei einer Herausgabe der Edda bleibt mir aber, daß ich Euch nicht so viel Sprachkenntniß zutrauen kann, bei allem Respekt, den ich für Euer Talent und Fleiß habe, um mit den dänischen Gelehrten eine Concurrenz auszuhalten.« Arnim an J. Grimm am 14. Juli 1811, Steig III, S. 137. Um sich auch von dieser Seite abzusichern, baten die Brüder den Skandinavier Rasmus Rask um Hilfe bei der kritischen Edition. Vgl. Bluhm, compilierende oberflächlichkeit, S. 59. J. Grimm an Arnim am 26. September 1812, Steig III, 218f. So sagt Arnim im Brief an J. Grimm vom 14. Juli 1811, dass er und Brentano »gleichviel nach unsrer besten Überzeugung an den Liedern zum Verständnis in unserer Zeit änderten«, Steig III, S. 137.

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aussehe, oder vielmehr das Neue nicht störe.«88 Der Brief an den Bruder Wilhelm vom 17. Mai 1809 macht auf ähnliche Weise wie der ›Volkslied‹-Aufsatz von Arnims Seite deutlich, dass bereits früh die grundsätzlichen Positionen im Streit geklärt waren und sich im Verlauf des Briefwechsels mit Arnim und Brentano auch nicht geändert haben. J. Grimm rechnet hier mit deren poeto-philologischer Vorgehensweise radikal ab.89 Dieser Geist von Sammeln und Herausgeben alter Sachen ist es doch, was mir bei Brentano und Arnim am wenigsten gefällt, bei lezterm noch weniger, Clemens’ anregende Bibliothek hat wohl alles das hervorgebracht. Die Auswahl ist gewiß vortrefflich, die Verknüpfung geistreich, die Erscheinung für das Publikum angenehm und willkommen, aber warum mögen sie fast nichts als Kompilieren und die alten Sachen zurechtmachen. Sie wollen nichts von einer historisch genauen Untersuchung wissen, sie lassen das Alte nicht als Altes stehen, sondern wollen es durchaus in unsere Zeit verpflanzen, wohin es an sich nicht mehr gehört, nur von einer bald ermüdeten Zahl von Liebhabern wird es aufgenommen. Sowenig sich fremde edele Tiere aus einem natürlichen Boden in einen anderen verbreiten lassen, ohne zu leiden und zu sterben, sowenig kann die Herrlichkeit alter Poesie wieder allgemein aufleben, d.h. poetisch; allein historisch kann sie unberührt genossen werden.90

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Briefkonzept J. Grimms an C. Brentano vom Februar/März 1809. In: Clemens Brentano und die Brüder Grimm. Hg. von Reinhold Steg, Stuttgart – Berlin 1914, S. 40 [Im Folgenden ›Steig IV‹]. Siehe auch den Brief an Arnim vom 6. Mai 1812: »Es mag sein, daß mich zweierlei beschränkt, und ich daher mit meiner Ansicht vor andern nicht bestehe, 1) weil ich einen ungemessenen Respect vor der Unerfindung und Unerfindlichkeit der Sagen habe, und da ich viel kenne, mir jede Abweichung und Vermischung unerlaubt erscheint. Darum ist es mir manchmal, wenn ich Deine Bücher lese, als müßte ich wünschen, Du hättest die vielen alten Bücher nicht gelesen, in sofern Du Sie wieder zu Deinen brauchst«, Steig III, S. 192. Das gleiche Argument gegen die poeto-philologische Schreibweise formuliert er im Brief vom 26. September 1812 auch in Bezug auf Brentanos Märchenbearbeitungen: »Daß Dir Clemens Bearbeitung nicht recht ist, freut mich sehr und ich bedauere nur seinen darauf verwendeten Fleiß und Geist; er mag das alles stellen und zieren, so wird unsere einfache, treu gesammelte Erzählung die seine jedes Mal gewisslich beschämen. Meine Ehrfurcht vor dem Epischen, das ich für unerfindlich halte, steigt täglich höher, und ich könnte vielleicht einseitig werden, und nichts anderes mehr mögen, das ist die gute reine Unschuld, und steht so ganz von selbst da; ihr neuen Dichter könnt mir aller Gewalt keine neue Farbe aufbringen, sondern sie blos untereinander mischen, ja ihr könnt sie nicht einmal ganz rein auftragen; vor andern wäre es eitel und fast ungerecht, alte Sagen mit dem zuzusetzen, was nur aus der Idee an sie entsprungen sein kann, und ihnen ihre eigene Milch wieder zu trinken zu geben. Ich kann nicht lassen, dieses Nachahmen und reminisci für eine wahre Schwäche zu halten, die aber dem Clemens bei seinem Irrthum von bessermachen verhüllt bleibt«, Steig III, S. 219f. Herman Grimm/Gustav Hinrichs (Hg.), Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit. Zweite vermehrte und verbesserte Ausgabe, Weimar 1963, S. 101.

Schon hier wird die biologistisch-organizistische Metapher vom ›Verpflanzen‹ der alten Dichtung angeführt.91 J. Grimm streitet aber nicht nur der Poeto-Philologie die Zuständigkeit für die Aktualisierung der literarischen Tradition ab, sondern er weist jeglichen damit verbundenen hermeneutischen Verstehensanspruch als Entfaltung eines Wirkungspotentials von Dichtung zurück. Im Widmungsbrief an Savigny aus der ›Deutschen Grammatik‹ schreibt er: »was die vorzeit hervorgebracht hat, darf nicht dem bedürfnis oder der ansicht unserer heutigen zeit zu willkürlichem dienste stehen, vielmehr hat diese das ihrige daran zu setzen, dasz es treulich durch ihre hände gehe und der spätesten nachwelt ungefälscht überkomme.«92 Er setzt so die streng historisch verfahrende Wissenschaft Philologie als Verwalterin des kulturellen Erbes ein. Zugleich resultiert Verstehen für J. Grimm nicht mehr aus poetischer Anverwandlung, sondern ist allein in wissenschaftlicher Auseinandersetzung möglich. Der Verstehenshorizont wird dabei strikt auf die Historie beschränkt, wie er an Savigny am 20. Mai 1811 schreibt: »bloß Die können sie verstehen, welche gründlich und im Zusammenhang studiren«,93 oder am 6. Juli 1817: »Wird die alte Poesie auf ein strenges, gelehrtes Studium eingeschränkt, so ist das meiner Neigung gerade lieb und recht«.94 Hinsichtlich des Verständnisses von Form und Gehalt lässt sich für Jacob Grimm festhalten, dass er beide untrennbar aufeinander verwiesen sieht. Erst in der Komposition beider wird der Verständnis ermöglichende Geist sichtbar. Ein Verstehen der alten Dichtungen ist daher für J. Grimm nur aus der strikten Beibehaltung des ursprünglichen Verhältnisses von Form und Inhalt möglich. Seine Übersetzungen sind ihm Dokumente der philologischen Verstehensarbeit an den Texten,95 sie dienen dazu, seine methodische Arbeitsweise transparent zu machen und folgen keinem kulturellen Vermittlungsauftrag. Seine Position ist

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Organizitätsmetaphern werden interessanterweise sowohl von Arnim als auch Grimm genutzt. Im ›Volkslied‹-Aufsatz hingegen wird sie im Bild des Aufpfropfens der Rosen gebrochen. Das Bild des Aufpfropfens symbolisiert zugleich die Verbindung von Natur und Künstlichkeit, deutet, im Gegensatz zu Grimms Verwendung, in der Figur des Gärtners die Figur des Poeto-Philologen bereits an. Vgl. Arnim, Von Volksliedern, S. 441. Zum Organismus-Begriff bei Grimm siehe: Veronika Krapf, Sprache als Organismus. Metaphern – Ein Schlüssel zu Jacob Grimms Sprachauffassung, Kassel 1993. Jacob Grimm, Vorrede Deutsche Grammatik. 1. Teil, Göttingen 1819. In: ders., Kleinere Schriften. Bd. VIII: Vorreden, Zeitgeschichtliches und Persönliches, Gütersloh 1890 [Photomechanischer Nachdruck Hildesheim 1966], S. 25–95; S. 27. Grimm-Savigny, S. 103. Grimm-Savigny, S. 261. Da es für Grimm eben keine getreue Übersetzung mit Blick auf das Original geben kann, favorisiert er Prosaauflösungen, die »die alte Form freiwillig aufgeben«, so an Savigny im Sommer 1812 in seinem langen Brief über treue Übersetzungen, in: GrimmSavigny, S. 116. Daran ist zu erkennen, dass J. Grimm Übersetzungen keineswegs rundherum ablehnt. Siehe auch Ginschild, Der junge Jacob Grimm, S. 153–170.

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demnach als nicht-hermeneutische Philologie zu markieren.96 Philologie dient hier nicht der Vermittlung des alten Geistes zwecks Aktualisierung zu Bildungszwecken. Damit geht Grimm auch über F. A. Wolf hinaus. Es ist hinlänglich bekannt und die vorangehende Darstellung sollte dies deutlich gemacht haben, dass Achim von Arnim und auch Brentano eine grundsätzlich andere Position beziehen. Auch wenn die Rhetorik im Briefwechsel die Unterschiede in der Sache sehr direkt benennt, so bleiben doch die Personen weiterhin freundschaftlich miteinander verbunden. Wenn hier also die Rede von einer Auseinandersetzung über die Deutungshoheit des kulturellen Erbes zwischen Dichtung und Philologie ist, dann gilt zu bedenken, dass dies auf die funktionalen Anteile der Kommunikation bezogen gilt. Die jeweiligen Personenbeziehungen muss dies nicht zwangsläufig negativ beeinflussen.97 Wie also sieht Arnim das Verhältnis von Form und Inhalt? Arnim spitzt die unterschiedliche Bewertung der poetischen Tradition immer wieder auf den Gegensatz Philologie – Dichtung zu, die er als zwei grundsätzlich verschiedene Modi des Umgangs mit der Tradition darstellt. In Bezug auf die von J. Grimm geforderte Übersetzung als eine Art Paraphrase stellt er fest, »daß die Philologen eine andere Art von Uebersetzung nothwendig machen würden, als andre Leute lesen mögen«.98 Arnims und Grimms Position stehen sich diametral gegenüber. Arnim versteht Dichtung eben nicht nur historisch, besser historizistisch, sondern immer bezogen auf eine je neu herzustellende Gegenwart. Das bedeutet aber keinesfalls eine Ablehnung des Historischen durch Arnim. Im Gegenteil behauptet er gegenüber Brentano am 4. Februar 1809, er habe »eine wunderliche Strenge und Heiligkeit«99 gegen die Geschichte. Auch erkennt er die wissenschaftlichen Leistungen der Philologie an, allerdings nur insofern sie das Eigenrecht der Dichtung nicht infrage stellen. »Was Dein Werk unabhängig von

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Die Rede von der Nicht-Hermeneutik ist freilich zugespitzt. Auch für Editionsvorhaben bedarf es eines gewissen Maßes an Sprachverständnis, das als hermeneutischer Akt verstanden werden könnte. Ein solcher Hermeneutikbegriff indes wäre im Vergleich zu Arnims Konzept so sehr zurückgenommen, dass allenfalls der ›alte‹ Begriff der grammatischen Auslegung hierfür in Anschlag zu bringen wäre. Charakteristisch für Grimm ist, dass Sprachverstehen eben nicht zu einer Übersetzung des Originals führen soll, sondern auf der Editionsebene in Anschlag gebracht wird. Hermeneutik meint hier aber eine Verstehensoperation umfassenderen Sinns. Arnim überlässt diese Operation aber keineswegs der Philosophie, sondern spricht der Dichtung und ihrem Dichter diese produktiv-vermittelnde Kraft zu. Dies gilt zumindest für Arnim. Brentano entfremdet sich sowohl von den Grimms als auch immer mehr von Arnim in Folge seines späteren religiösen Fundamentalismus, dem die alten Freunde zunehmend mit Befremden gegenüberstehen. Arnim an W. Grimm am 25. Juni 1811 in: Steig III, S. 128. Reinhold Steg/Hermann Grimm (Hg), Achim von Arnim und die ihm nahe standen. 3 Bde. Hier: Bd. 1: Reinhold Steg (Hg.), Achim von Arnim und Clemens Brentano, Stuttgart – Berlin 1894, S. 270. [Im Folgenden ›Steig I‹].

dem, was blos Geschichte der Poesie angeht, über Geschichte der Zeit, Sagen, Mythen beibringt, werde ich mit größerem Interesse […] empfangen, schicke es mir in jedem Falle recht bald.«100 Die philologisch-historische Abhandlung bringt für Arnim jenes Material hervor, mit dem der gegenwärtige Dichter mehr oder weniger frei umgehen darf.101 Die Philologie entlastet die Dichtung von historischen Rechtfertigungszwängen. Arnim erkennt die funktionelle Trennung von Literatur und ihrer Wissenschaft auch als Möglichkeit zur Befreiung vom jahrhundertealten Anspruch an die Dichtung, sie müsse im Historischen exakt sein oder sie lüge.102 In einer Fußnote zu Görres’ Schrift ›Der gehörnte Siegfried und die Nibelungen‹ im fünften Heft der ›Zeitung für Einsiedler‹ vom 15. April 1808 schreiben die Herausgeber:103 Um in das Historische dieses nach unsrer Ueberzeugung wichtigsten und lange vernachläßigten Durchbruchs unserer Poesie nach allen Richtungen einzudringen, den Gegenstand möglichst zu erschöpfen, damit künftige Bearbeiter dieser Gedichte sich unbesorgt ihrer Erfindung überlassen dürfen, hoffen wir in der Folge noch die Untersuchungen zweier Gelehrten hierüber mittheilen zu können.104

Brentanos hier durchscheinender Plan eines kritischen Registers zum ›Wunderhorn‹, das alle Änderungen anzeigen sowie Anlass einer Geschichte des Volksliedes aus dem ›Wunderhorn‹-Material werden sollte,105 wird hingegen sowohl

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An J. Grimm im Oktober 1810, Steig III, S. 77. Vgl. dazu auch Kilcher, Philologie in unendlicher Potenz, S. 49f. Das hatte J. Grimm Arnims ›Gräfin Dolores‹ brieflich am 24. September 1810 vorgeworfen. Grimm schließt daran den Rat für die Dichter, »mehr aus der Gegenwart« aufzunehmen, anstatt historisch fehlerhaft zu schreiben. Erst durch diesen Gegenwartsbezug könnte Dichtung historisch werden, da Dichtungen – Antizipation des New Historicism – »bewahren […] was gerade die Historie auslässt«, Steig III, S. 73. Zu dieser Zeit hatte Arnim nahezu die alleinige redaktionelle Verantwortung. Zeitung für Einsiedler, S. 37. Im Februar 1808 schaltet Brentano wohl in Reaktion auf die ätzende Kritik durch Johann Heinrich Voß im ›Morgenblatt für gebildete Stände‹ (Nr. 283 und 284) im dortigen ›Intelligenz-Blatt‹ (Nr. 4, S. 15f.) eine Anzeige, mit der er hoffte, einen drohenden Absatzverlust in Folge der Voß-Kritiken abzuwenden, und in der er »mit der Beyhülfe einiger Freunde, welche während unserer Sammlung dahin arbeiteten, eine gedrängte Geschichte der Volkslieder, mit möglicher Zeitbestimmung, wie auch eine Kritik der ächten und zweifelhaften Stücke unserer Sammlung« ankündigt. Zitiert nach ›Des Knaben Wunderhorn‹, Studienausgabe, Bd. 3, S. 366. Brentano aber fragt die Brüder Grimm erst nach der Veröffentlichung der Anzeige in seinem Brief vom 20. Januar 1809. »Ich hatte auch schon eine Antwort an die Zeitungen fortgeschickt, als mir Arnim seine schickte, und zugleich einen Aufsatz von ein paar Bogen versprochen und angezeigt, welcher einen genauen Text über alles Falsche und Aechte nach meinem guten Gewissen liefern sollte, und zugleich mit literärischen Notizen die Geschichte des Buchs erzählen, um diesem Sch-ßkerl auf einmal das Maul zu stopfen. Nun möchte der Zimmer das gar gern drucken, mir aber fehlt es an mancherlei Literar-Notizen, und ich kann die Arbeit unmöglich zu Stande bringen, wenn

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von Arnim als auch von den Brüdern Grimm zurückgewiesen. J. Grimm verwahrt sich dagegen, dass eine von ihnen gelieferte Geschichte des Volksliedes von Arnim und Brentano als Rechtfertigung ihrer ergänzenden und zusetzenden Editionspraxis im ›Wunderhorn‹ genutzt werden könnte. Es bestehe ein wesentlicher Unterschied erstens, zwischen der alten »lebendigen Beweglichkeit« des Volksliedes, die eine Veränderungen der Form nach sich gezogen habe und zweitens, jener von der Hand eines überlegenden Dichters, der sich berechtigt glaubt, den unverständlichen Sinn nach seiner Absicht zu ändern und aus eigenem Vermögen fortzusetzen, wenn er schon nicht mangelhaft ist, nachdem ihn seine Sinnesart oder irgend ein guter oder witziger Gedanke dazu getrieben hat. Also halte ich dafür, das neue Dichten […] darf nicht aus der Unbestimmtheit der alten Volkslieder gerechtfertigt werden, folglich nicht aus einer critischen Geschichte der Poesie. […] Wenn Sie also einen Index des Wahren und Falschen im Wunderhorn nebst einer Geschichte der Volkslieder herausgeben, so fürchte ich, daß dies dem Zimmer [der Verleger, mb] mehr schaden als nutzen wird.106

Dieser Vorwurf richtet sich freilich gegen Arnim ebenso wie gegen Brentano. Er betrifft vor allem das Form/Inhalt Verhältnis. Sieht J. Grimm eine untrennbare und je historisch einmalige Identität von Form und Gehalt, so denken Arnim und Brentano das Verhältnis als beständige Refiguration.107 Auch Arnim hält an der seit Herder etablierten These fest, dass verschiedene historische Kontexte verschiedene Formen von Dichtung nach sich ziehen. Anders als J. Grimm radikalisiert Arnim aber nicht die bei Herder zweifelsohne gegebenen historistischen Momente, sondern rekurriert auf dessen Idee einer stets zu (re-)aktualisierenden Inanspruchnahme der poetischen Tradition zur originären Eigenschöpfung. Dabei sieht er den historischen Prozess nicht als in Epochen getrennte lineare Abfolge, sondern als kontinuierliches Anknüpfen, Umschreiben und so letzt-

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Ihr beiden nicht barmherzig seid und mir eine gelehrte Kritik aller drei Bände und Eure Ideen über die Geschichte des teutschen Liedes mittheilt; wir wollen das Ganze sodann unter beiderseitigem Namen herausgeben, o Jacob rümpfe die Nase nicht!«, in: Steig IV, S. 33f. Vgl. dazu auch ›Des Knaben Wunderhorn‹, Studienausgabe, Bd. 9, S. 709. Briefkonzept an Brentano Ende Februar 1808, Steig IV, S. 41f. Stefan Willer (Entnationalisierung und romantische Philologie. Zur Figur der Grenze bei Jacob Grimm. In: Kugler (Hg.) www.germanstik2001.de, S. 259–270; S. 265) hingegen sieht mit Blick auf das Mythologiekonzept auch bei J. Grimm »eine mythologisch-philologische Praxis des Spinnens«. Ich denke, beide Positionen schließen sich nicht grundsätzlich aus, denn das Mythologie-Konzept baut im Wesentlichen auf dem organischen Sprachkonzept Grimms auf, was aber nicht ausschließt, dass Poesie als historisch strikt gekoppelter Form/Medium Zusammenhang gesehen wird. Sprache lebt weiter, die Formen alter Poesie nicht, sondern nur die in der Sprache weiter fortwirkenden Mythologeme, weshalb denn Grimms Philologie sich immer mehr zur einer linguistischen Etymologie und Stoffgeschichte entwickelt.

lich als permanente Aktualisierung, woran sich legitimerweise auch die modernen Dichter durch Rekursionen beteiligen können. Am 8. Februar 1808 schreibt er an Brentano: Um die guten Leute die Büchergelehrten Antiquarier habe ich mich nie bekümmert, am meisten hatte ich das werdende Geschlecht der jungen Kinder vor Augen. […] unter allen diesem nachgemachten Alterthume ist nie etwas erschienen, was den Geist der Zeit so lebendig berührt hat wie Macpherson (›Ossian‹) mit seiner Neumachung der alten Gedichte, das geht so weit, daß man jetzt kaum die alten sehr merkwürdigen Fragmente lesen mag, die jetzt unverändert erscheinen.108

Die Inanspruchnahme der kulturellen Tradition ist also einerseits auf Überlieferung und Erhaltung der Originale angewiesen, die Arnim und Brentano selbst auch befördern, und nicht wie Arnim hier vorgibt, ihn angeblich »nie bekümmert« habe, andererseits ist damit noch nichts gewonnen. Speicherung durch Aufzeichnung und Druck der Originale bedeutet für Arnim eben nicht Erhaltung der Tradition, sondern allenfalls deren Ablage.109 Fortgesetzt wird die Kommunikation nur, wenn an sie produktiv angeschlossen werden kann, »dieselbe Erfindung […] sich immer wieder an spätere Namen und Begebenheiten anschließt und so gegen Untergang bewahrt«,110 wie es in einer Fußnote zu W. Grimms Übersetzung von ›Des Löwen und König Dieterichs Kampf mit dem Lindwurm‹ im sechsten Heft der ›Zeitung für Einsiedler‹ vom 20. April 1808 heißt. Die Fetischisierung, die J. Grimm mit der Wiederherstellung des Originals betreibt, kann Arnim nur als Selbsttäuschung verstehen, denn immer schon sei ein überkommenes Dokument nicht mehr Original, »das originellste Werk ist doch nur Fortsetzung von etwas«.111 Folgte man J. Grimm in seiner Ablehnung poetischer Übersetzungen, so bedeutete dies den Abbruch der literarischen Tradition. An J. Grimm schreibt er am 14. November 1811: Du scheinst sehr viele Volksbücher aller Nazionen zu vergessen, die sich in Uebersetzungen viele Jahrhunderte bis auf unsre Zeit unvergesslich gemacht haben, eine

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Ludwig Achim von Arnim/Clemens Brentano, Freundschaftsbriefe. Hg. von Hartwig Schulz. 2 Bde, Frankfurt/M 1998, Bd. 1, S. 484. Sehr schön zu sehen sind die unterschiedlichen Ansätze auch im Briefwechsel zur Idee eines ›Altdeutschen Sammlers‹, den Brentano im Januar 1811 in einem Brief an die Brüder Grimm projektiert. Brentanos Brief wie Grimms Plan finden sich erstmals gedruckt in: Reinhold Steig, Jacob Grimms Plan zu einem Altdeutschen Sammler. In: Zeitschrift für Volkskunde (1902), S. 129–138. Das zu begründende Journal für die Akquirierung und Publikation von Volkspoesie sollte Brentanos Meinung nach »nicht sowohl philologisch, als auch mündlich« sein, ebd., S. 130. Grimms Plan hingegen will »durchaus kein sogenannt unterhaltendes Buch«, sondern hat »vielmehr ein gänzlich gelehrtes ernstes Ziel vor Augen«. »Wir wollen Materialien zusammentragen zu einer Geschichte deutscher Poesie.« Ebd., S. 135. Zeitung für Einsiedler, S. 48. Arnim an J. Grimm am 24. Dezember 1812. In: Steig III, S. 249.

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Menge Fabeln, Märchen, die Bibel, der Horaz, der sein bestes den Griechen verdankt, Legenden, die Klage, wahrscheinlich aus dem Lateinischen, das Buch des Thomas a Kempis in allen Sprachen, der Robinson, Wilkinasaga, Werther in Frankreich etc. Im entfernteren Sinne danken wir den Uebersetzungen, sowohl den gedruckten als auch denen in den Schulen für den Lehrer verfassten, alles was aus älterer Bildung zu uns übergegangen. Den Uebersetzungen italienischer Novellen danken wir Shakespeares mannigfaltige Richtung, den Uebersetzungen des Shakespeare manches in Schiller und Goethe.112

Bezeichnend für Arnims Verständnis ist hier, dass griechische wie nordische Tradition, schriftliche wie mündliche Formen, alte und moderne Dichter in einem diachronen statt historisch synchronen Schnitt zusammengefasst und aufeinander bezogen werden. Ein solch diachrones Verständnis von Dichtung entzieht der Unterscheidung einer alten Natur- und einer modernen Kunstpoesie, wie sie J. Grimm vertritt, den Boden. Schon die den Streit auslösende Fußnote im ›Einsiedler‹ deutete Zweifel an, ob ein solcher Unterschied überhaupt historisch zu halten wäre. Für Arnim ist die Suche nach intertextuellen und quellengeschichtlichen Verweisen, wie sie die Grimms in ihren Editionskommentaren ja vorlegen, vielmehr Beleg dafür, dass Dichtung immer nur als aufeinander bezogene Kommunikationsform zu deuten ist, ein Begriff von ›Ursprung‹, wie er in Grimms Begriff der Naturpoesie gegeben ist und wie ihn Herder in seiner Ursprungsschrift schon zurückgewiesen hatte, daher Chimäre bleiben muss.113 »Wenn Du nun in Deinen Untersuchungen über Gedichte, wie der Reinike Fuchs, die Spur der verschiedenen Erfindungen immer weiter hinauf in Jahrhunderte verfolgen kannst, wie sich eins ans andere gereiht hat, warum willst Du in unserer Zeit das Gras wachsen sehen und hören? warum willst Du den einzelnen Dichtern nicht einräumen, daß sie auch unbewußt an einem größeren Gedichte fortarbeiten.«114 Arnim sieht sehr wohl, dass Form und Gehalt aufeinander verwiesene Momente sind, die in der konkret vorliegenden Dichtung als strikt gekoppelt nicht voneinander zu lösen sind, vielmehr das eine das andere erst sichtbar macht. Für Grimm ist diese Form der Koppelung damit historisch verbraucht und lediglich als historisches Objekt interessant.115 Arnim aber sieht gerade im immer wieder 112 113

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Steig III, S. 136. Vgl. auch Ulfert Ricklefs, ›Das Wunderhorn‹ und Arnims Kunstprogramm und Poesieverständnis. In: Walter Pape (Hg.), ›Das Wunderhorn‹ und die Heidelberger Romantik: Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Performanz, Tübingen 2005, S. 147–194; S. 192: »Arnims Programm der Poetisierung […] kennt kein Eigentum, keine historisch-philologische Ursprungs und Epochenechtheit, sondern allein die Evidenz der poetischen Vorstellungen und der Wortwirkungen.« An J. Grimm am 22. Oktober 1812, Steig III, S. 224. Erinnert sei nochmals an die programmatische Stelle aus der ›Deutschen Grammatik‹: »was die vorzeit hervorgebracht hat, darf nicht dem bedürfnis oder der ansicht unserer heutigen zeit zu willkürlichem dienste stehen, vielmehr hat diese das ihrige daran

neu zu gestaltenden Verhältnis von geschichtlichem Stoff und poetischer Form eine Erneuerung des produktiven Potentials. Grimms Position einer historischen Spezifizierung des Medium/Form Verhältnisses führt letztlich dazu, dass er den Formenvorrat der alten Poesie für abgeschlossen halten muss, »so ist auch der Garten alter Poesie verschlossen worden«.116 Die Koppelung lässt sich nur noch rekonstruieren, nicht aber mehr rekonfigurieren. Diese historischen Formen stehen nicht mehr zur Weiterprozessierung zur Verfügung. Daher lehnt Grimm das poeto-philologische Projekt und auch dessen poeto-theologische Zuspitzung so entschieden ab: »Ueberhaupt erkläre ich mich gegen jede bewußte Mischung, Sammeln und Dichten sind unverträglich miteinander«.117 Für Arnim stellt sich das Problem nicht, da er das Medium/Form Verhältnis nur in den jeweiligen Erscheinungsformen für strikt gekoppelt ansieht, er aber erkennt, dass nur dann Anschlussfähigkeit gegeben ist, wenn mit dem, was schon Form ist, nämlich den vorliegenden Werken, »ein neues mediales Substrat gebildet werden kann«, etwa ein riesiger Fundus von Darstellungstechniken, Reimarten und geschichtlichen Stoffen, die zu neuen Formen gekoppelt werden können, »wobei in der jeweiligen Koppelung das mediale Substrat nicht verbraucht, sondern durch Gebrauch jeweils erneuert wird.« Was Luhmann über das Verhältnis von Wort und Satz sagt, kann auf das Verständnis des Verhältnisses von literarischer Tradition und moderner Dichtung bei Arnim und Brentano übertragen werden. »Jeder Satz besteht mithin aus beliebig wieder verwendbaren Komponenten, wobei die laufende Satzbildung den Wortbestand einer Sprache regeneriert, Wortsinn kondensiert und konfirmiert, also anreichert, aber auch nie wieder gebrauchte Worte dem Vergessen überlässt.«118 Das Wiederaufgreifen, das Verstehen der Tradition als Kommunikationsofferte verhindert einerseits den Verlust dieser Tradition, bringt sie andererseits aber produktiv in die gegenwärtige Kommunikation als relevant wieder ein.119 Zugleich wird der Begriff der Tradition so von jeglichem geschichtlichen Konservatismus befreit. Tradition erscheint viel weniger als erdrückende historische Last, die fortwährend

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zu setzen, dasz es treulich durch ihre hände gehe und der spätesten nachwelt ungefälscht überkomme.« Grimm, Vorrede Deutsche Grammatik, S. 27. An Arnim am 29. Oktober 1812, Steig III, S. 235. J. Grimm an Arnim am 31. Dezember 1812, Steig III, S. 257. Am 29. Oktober 1812 schreibt er über Brentano: »Das Unglück für Brentanos Poesie ist, daß er viel zu viel literarische Materialien kennt, ich wollt, er hätte wenig Bücher gelesen, so würde er desto mehr schreiben.« Steig III, S. 236. Alle Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 220. Ulrich Wyss (Der doppelte Ursprung der Literaturwissenschaft nach 1800. In: Fohrmann/Voßkamp (Hg.), Wissenschaft und Nation, S. 73–88; S. 77) schreibt mit Bezug auf Tiecks ähnlich gelagertes Projekt: »Vergegenwärtigung der Poesie: das heißt hier also, eine abgelebte Dichtungsart so lesen, dass sie mit der Produktivität des Lesers zu kommunizieren anfängt.«

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aufgrund ihres kulturellen Wertes mitgewälzt werden muss. Erst die Abschleifungen der Jahrhunderte, die An- und Umbildungen offenbarnen den Edelsteincharakter einer Überlieferung.120 So fordert Arnim den Leser auf, ihm zugängliche Quellen mit den nun aufgezeichneten abzugleichen, um den Mechanismus kultureller Erinnerung nachzuvollziehen: »Der Leser wird gebeten, das unter uns noch sehr gebräuchliche Volksbuch von Heinrich dem Löwen hiermit zu vergleichen, wie dieselbe Erfindung, wenn sie ächt aus dem Volkssinne hervorgegangen, sich immer wieder an spätere Namen und Begebenheiten anschließt, und sich so gegen Untergang bewahrt.«121 Wie bereits angedeutet, resultiert der Streit um Natur- und Kunstpoesie aus grundverschiedenen Poesie-Begriffen: einmal ist Poesie bloß historisches Phänomen, einmal anthropologisches Vermögen. Die Brisanz des Streites resultiert dabei weniger aus dem Gegensatz zwischen Historie und Anthropologie, sondern aus der Konzeptualisierung der Historie als einer Verlustgeschichte, die in letzter Konsequenz bei J. Grimm dazu führt, so sieht Arnim es zumindest, dass moderner Dichtung ihr poetischer Charakter abgesprochen wird.122 Grimm begründet den Wert der alten Poesie vor allem aus der größeren Unmittelbarkeit zum Göttlichen,123 das als Prinzip zwar in jedem Menschen weiterwirke, sich aber historisch immer weiter durch Reflexion und Wissenstrieb abschwäche.124 Einfachheit und Natürlichkeit im Ausdruck der Sprache, wie sie sich in Mythen, Märchen und Sagen zeigen, zeugten noch von dieser Unmittelbarkeit. Die alten Menschen sind größer, reiner und heiliger gewesen, als wir, es hat ihnen und über sie noch der Schein des göttlichen Ausgangs geleuchtet […] So ist mir nun die alte, epische Poesie = Sagen-, Mythengeschichte reiner und besser, ich will nicht

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Vgl. nochmals die Beschreibung Arnims im ›Volkslied‹-Aufsatz, S. 441. Zeitung für Einsiedler, S. 48. So fragt J. Grimm: »Glaubst du nicht, daß etwas ebenso unwiderbringlich untergehe, als die Jugend, und ebenso nothwendig ein anderes kommen muß, als das Alter? […] warum sollte die epische Poesie allein können geblieben sein?«, Steig III, S. 119. J. Grimm an Arnim im Juli 1811: »Glaubst du mit mir, daß die Religion von einer göttlichen Offenbarung ausgegangen ist, daß die Sprache einen ebenso wundervollen Ursprung hat und nicht durch Menschenerfindung zuwege gebracht worden ist, so mußt du schon darum glauben und fühlen, daß die alte Poesie und ihre Formen, die Quelle des Reims und der Alliteration ebenso in einem Ganzen ausgegangen ist«, Steig III, S. 139. Symptomatisch, dass J. Grimm an dieser Stelle auf das triadische Geschichtsmodell zurückgreift: »Ich meine den Unterschied zwischen der goldnen, silbernen und eisernen Zeit, und was alle Mythen aussagen, läßt sich nicht wegraisonniren, sondern ist wahr. Das Gold ist rein, in sich herrlich, unzerstörlich; das Eisen auch wahr und organisch, aber großer Politur und Verarbeitung fähig und schimmert viel mehr, auch unterliegt es dem Rost. Alle Arbeit muß von außen an ihm gemacht werden, und es ist nicht weich wie das Gold, das sich aus sich selber in Faden spinnen läßt.« Steig III, S. 119.

sagen, lieber und näher, als unsere witzige, d.h. wissende, feine, zusammengesetzte, in der ich den Trieb nach Wissen und Lehren […] erkenne. Die alte Poesie ist unschuldig und weiß von nichts; sie will nicht lehren.125

Die Unschuld und Reinheit der alten Poesie ist derart verloren, »daß die moderne Kunst niemals absolut vollkommen sein kann«126 und »ihr neuen Dichter könnt mit aller Gewalt keine neue Farbe aufbringen«,127 so J. Grimm an Arnim. Grimm verknüpft mit der Vorstellung vom göttlichen Ursprung der Poesie die seit Wolfs ›Prolegomena‹ heftig diskutierte These, die großen überlieferten Epen hätten keinen einzelnen Autor haben können, sondern seien gleichsam aus einem Volkskörper heraus erwachsen. Im Epos fallen damit Religion, Geschichte und Poesie eines Volks zusammen. Eine Geschichte der Poesie, wie J. Grimm sie mit Rückgriff auf Herder versteht, ist so gleichzeitig eine Geschichte der Geschichte des jeweiligen Volks, aus dem das Epos entstanden ist. In diesen Dokumenten haben sich »Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten.«128 Gelegentlich wird die Verschärfung des Streites mit Arnim auf die Dynamik des Briefwechsels zurückgeführt. Festzuhalten ist demgegenüber aber die große Kontinuität der gehaltenen Positionen über Jahre hinweg. Bereits 1807, also ganz zu Beginn der Zusammenarbeit am ›Wunderhorn‹, schreibt J. Grimm in einer Fußnote zu dem kurzen Aufsatz ›Von Übereinstimmung der alten Sagen‹, der in der 36. Nummer des ›Neuen literarischen Anzeigers‹ erscheint: ich behaupte die folgenden sätze und ihre identität: die ältestete geschichte jedwedes volks ist volkssage. jede volksage ist episch. das epos ist alte geschichte. alte geschichte und alte poesie fallen nothwendig zusammen. in beiden ist vermöge ihrer natur die unschludigkeit (naivetät) offenbar. so wie es aber unmöglich die alte sage auf dieselbe art zu behandeln, wie mit der neueren geschichte verfahren werden musz […] so ungereimt ist es, ein epos erfinden zu wollen, denn jedes epos musz sich selbst dichten, von keinem dichter geschrieben werden. beweis sind die menge mislungener arbeiten in allen nationen. aus dieser volksmäszigkeit des epos ergibt sich auch, dasz es nirgends anders entsprungen sein kann, als unter dem volke, wo sich die geschichte zugetragen hat.129

Ist die Grimmsche Philologie eine notwendig historische Wissenschaft, so ist ihr Historismus ein Archivprojekt, das lediglich Zeugnis geben will von einer ab-

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J. Grimm an Arnim am 20. Mai 1811, Steig III, S. 117. So Wilhelm Grimm an Brentano am 15. Dezember 1810, Steig III, S. 89. Steig III, S. 220. Jacob und Wilhelm Grimm, Vorrede. In: Kinder und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage 1837. Hg. von Heinz Rölleke, Frankfurt/M. 1985, S. 12–22; S. 20. Jacob Grimm, Von Übereinstimmung der alten Sagen. In: ders., Kleinere Schriften. Bd. IV.1: Recensionen und vermischte Aufsätze, Berlin 1869 [Photomechanischer Nachdruck Hildesheim 1969], S. 9–12; S. 10.

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und verschlossenen Vergangenheit,130 von der zwar noch feine (linguistische) Spuren in die Gegenwart hineinreichen, diese Spuren ihr aber nur noch anachronistisch gegenüberstehen. »Das Sammeln und Vervielfältigen thut vor allem andern Noth, weil in der Unruhe der Zeiten die einzelne Aufbewahrung nicht genug gesichert ist und die Tradition immer mehr einsiegt.«131 Im Briefwechsel über die Märchenbearbeitungen von Clemens Brentano und der Vorbereitung des Grimmschen Märchenbuches zeigt sich im Antwortschreiben Arnims vom 22. Oktober 1812 auf Grimms oben zitierten Brief wohl am deutlichsten die Ablehnung dessen Projektes einer Geschichte der Poesie. Hatte Arnim schon im Oktober 1810, wohl für Grimm etwas überraschend, offenbart, »daß meine geschichtliche Neugierde diese Richtung nie genommen, daß ich kein Gedicht durchlesen könnte, um Data über seine Entstehung daraus zu sammeln«,132 so wendet er sich nun in aller Deutlichkeit sowohl gegen den historischen Ansatz als auch gegen J. Grimms Kulturkritik, deren Kombination die Grimmschen Sammel- und Editionsvorhaben weitgehend motivierten: Glaube mir die Welt hätte noch soviel Poesie, als sie empfinden kann, und wenn alle poetischen Bücher, alte wie neue, an einem Tage untergingen. So lange Gott und seine Gedanken noch größer sind als der Mensch, wird es immer eine Poesie geben und eine Möglichkeit der Erfindung, und eine Nothwendigkeit dazu. […] die Poesie ist weder jung noch alt und hat überhaupt keine Geschichte, wir können nur etwa von ihren Aeußerlichkeiten gewisse Folgen von Beziehungen angeben.133

Auffällig ist bei Arnim, dass er die in der Verbindung von religiösem Ursprung der Poesie mit der Idee vom Epos als Historie versteckte Paradoxie erkennt und deutlich markiert. Sieht J. Grimm sich in seiner Methodik selbst als streng historisch verfahrender Wissenschaftler, so ist seine Begründung dieser Wissenschaft durch eine kulturelle Verlustgeschichte des Göttlichen in der Poesie offenbar gänzlich unhistorisch gedacht, wenn man sich die konkreten Gegenstände sei-

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J. Grimm an Arnim: »wie das Paradies verloren wurde, so ist auch der Garten alter Poesie verschlossen worden.«, Steig III, S. 235. Johannes Janota (Einleitung. In: ders. (Hg.), Eine Wissenschaft etabliert sich: 1810–1870. Texte zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik III, Tübingen 1980, S. 1–60, S. 32f.) hingegen sieht bei Jacob Grimm offenbar eine Zielrichtung, die sich gegen die Philologisierung d.h. Verwissenschaftlichung der Altdeutschen Studien wandte und anstelle der Wissenschaft, das ›Volk‹ als Rezipienten im Blick habe. Janota blendet m. E. hier zwei Dinge unzulässigerweise übereinander, wenn er meint, die Gegenstände (Volkspoesie) der wissenschaftlichen Tätigkeit der Grimms würden davon zeugen, dass sie ihre Philologie für das Volk, also als populäre Wissenschaft betrieben. Das aber kann ich gerade in der Frühphase um 1800 und im Streit mit Arnim und Brentano nicht erkennen. Jacob und Wilhelm Grimm, Vorrede. In: Altdeutsche Wälder. Hg. durch die Brüder Grimm, Kassel 1813, Bd. 1, S. I–VI; S. V. Steig III, S. 76. Arnim an J. Grimm am 22. Oktober 1812, Steig III, S. 224f.

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ner Arbeit ansieht. So fasst er unter den Terminus ›alte Poesie‹ den Zeitraum von den griechischen Epen bis hin zu den mittelalterlichen Versepen des 13. und 14. Jahrhunderts, die alle offenbar noch gleich nah zum göttlichen Schein stehen. Grimm grenzt also einen weiten Zeitraum von mehr als 3000 Jahren gegenüber einer davon strikt getrennten Moderne ab. Nur diese strikte Trennung, die Inanspruchnahme eines epochalen Bruchs in zwei Kulturphasen ermöglicht es Grimm, von einem kategorialen Unterschied zwischen Natur- und Kunstpoesie zu sprechen, und diesem Bruch eine kulturpessimistische Wertung zu unterlegen. Die Rede von Ursprünglichkeit impliziert eine schnelle Vergänglichkeit des Ursprungsmomentes und eine unmittelbar daran anschließende Entwicklung weg von diesem Ursprung. Arnim aber schreibt: »Nie habe ich den Einfluß der Geschichte auf die Poesie geleugnet, aber eben weil es keinen Moment ohne Geschichte giebt als den absolut ersten der Schöpfung, so ist keine absolute Naturpoesie vorhanden, es ist immer ein Unterschied von mehr oder weniger in der Entwicklung beider.«134 Gerade ein konsequent historischer Standpunkt, so Arnim, spricht gegen einen historisch verortbaren Unterschied von Kunst- und Naturpoesie. Hier zeigt sich die ganze Brisanz der bei Herder ungelöst gebliebenen Aporie zwischen Historisierung und Aktualisierung. Herder hatte in seiner Argumentation gegen einen göttlichen Ursprung der Sprache sich gleichfalls der Beantwortung der Akademiefrage nach einem Ursprung entzogen. Vielmehr entwirft er eine Sprachmatrix aus anthropologischen, geschichtlichen und topographischen Vektoren, die die jeweiligen Sprachvarianten determinieren und in einem System wechselseitig bedingender Sprachursprünge erklärbar werden lässt. Damit wird die Frage nach dem einen Ursprung obsolet. Weder göttliche Instruktion noch menschliche Erfindung kann bei Herder Ursprung der Sprache sein. Wo ein Ursprung nicht auszumachen ist, da wird ein hermeneutisches Wechselspiel von Teil und Ganzem ins Werk gesetzt und damit die Idee eines stets neu auszuhandelnden Verhältnisses beider. Herder lehnt zwar die göttliche Ursprungstheorie Süßmilchs ab,135 rekurriert aber auf die in der Antike und im biblischen Schöpfungsmythos bekannte Idee vom »Othem Gottes«,136 der als belebendes Prinzip wirkt, und die Arnim durch den Hesiod- und Pfingst-Verweis im ›Volkslied‹-Aufsatz anzitiert hatte. »Kein Gedanke in einer menschlichen Seele war verloren; nie aber auch Eine Fertigkeit dieses Geschlechts auf einmal ganz da, wie bei den Tieren: »›Zufolge der ganzen Ökonomie‹ war sie immer im Fortschritte, im Gange, nichts Erfundenes, wie der Bau einer Zelle, sondern alles

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Arnim an J. Grimm am 14. Juli 1811, Steig III, S. 134. Vgl. Johann Peter Süßmilch, Versuch eines Beweises, dass die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schoepfer erhalten habe, Berlin 1766. Herder, Über den Ursprung der Sprache, S. 704.

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im Erfinden, im Fortwürken, strebend.«137 Sieht J. Grimm sich bei Herder in der Auffassung bestätigt, dass ein menschlicher Erfinder der Sprache und damit auch der alten Poesie nicht behauptet werden könne, man vielmehr von »einem Ganzen ausgegangen ist«,138 so nimmt Arnim die Idee eines schaffenden, belebenden göttlichen Prinzips auf,139 das in der Geschichte wirkt und sich historisch je verschieden manifestiert und damit zugleich zum Legitimationsargument des modernen Dichters werden kann, dem Grimm das Poetische abspricht. Dagegen verwahrt sich Arnim. Nur in der Verbindung des Historischen mit dem Gegenwärtigen als Poesie kann diese als Gegen-Gegenwart140 einen Wert haben. Als je nur Geschichtliches kommt den historischen Materialien höchstens antiquarischer Wert zu. Poeto-philologisches Dichten wird so bei Arnim zu dem hermeneutischen Verfahren, das eine Vermittlung von Allgemeinem und Individuellem ermöglicht, wenn es in Auseinandersetzung mit der Überlieferung ein dort realisiertes poetisches Prinzip in eigene Produktivität transformiert. In meinen Worten war also nur ein Verdammungsurteil gegen die Geschichte der Poesie, insofern daraus etwas gegen unsre Zeit gefolgert werden könnte. […] Es ist gerade der schönste, erquicklichste Stoff, die beruhigendste Lehre, das Allgemeine, das Ueberlieferte mit seiner einzelnen Natur zu verknüpfen, daß es darin lebendig werde. Wird die ältere Darstellung dadurch vernichtet? Keineswegs, vielmehr in ihrem eigentlichen Werthe recht bestätigt. […] Der Gelehrte wird das Letzte, was er geschichtlich erreichen kann, nur befriedigen: der eigentliche Zuhörer des Dichters, der ungelehrte Zeitgenosse, versteht nur allein diese Vergegenwärtigung eines Allgemeinen. […] Ob ein Paradies der Poesie gewesen ist, weiß ich nicht, das weiß ich aber, daß, wenn ich nichts besäße als die ältesten Denkmale der Poesie, ich noch viel mehr dichten würde, um mir die Lücke auszufüllen, die jene nicht umgreifen und umfassen.141

Herders frühe Schriften zeigen sich in der Auseinandersetzung zwischen Arnim und Grimm als die Keimzelle zweier Denkmodelle, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auszudifferenzieren beginnen: Wird Herder auf der einen Seite zum Bezugspunkt eines konsequent anti-hermeneutischen Historismus, dem Bewusstsein einer Unhintergehbarkeit von Geschichtlichkeit, was, verbunden mit der Lehre von den drei Zeitaltern, eine kulturpessimistische Perspektive nach sich zieht, so wird er auf der anderen Seite zum Begründer des poetophilologischen Verfahrens, das an einen Abbruch, einen gänzlichen Verlust der Tradition nicht glauben will und eben in der Aktualisierung der alten Stoffe

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Ebd., S. 801. J. Grimm an Arnim Ende Juli 1811, Steig III, S. 139. Herder (Über den Ursprung der Sprache, S. 801) schreibt: »Er hat zu erfinden angefangen; wir alle haben ihm nacherfunden, bilden und mißbilden.« Dieser paradoxe Begriff trifft vielleicht am besten Arnims Konzept, das einerseits einen Streich gegen seine Gegenwart führt, zugleich aber eine andere Art von Gegenwart ins Leben rufen will. Arnim an J. Grimm am 24. Dezember 1812, Steig III, S. 248f.

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und Mythen, die Möglichkeiten ihrer Fruchtbarmachung jenseits dokumentarischer Erhaltung sieht. Mit dieser Aktualisierung wird die Hoffung auf Aufhebung der Gegensätze von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbunden, die Hoffnung, »den großen Riß der Welt, aus dem die Hölle uns angähnt«,142 wie es im ›Volkslied‹-Aufsatz hieß, durch das »Gefühl einer lebenden Kunst« zu heilen, »was sonst krank wäre, diese Unbefriedigung an dem was wir haben, jenes Klagen der Zeit«.143

10. Goethe und die historische Kritik Anatomieren magst du die Sprache, doch nur ihr Kadaver, Geist und Leben entschlüpft flüchtig dem groben Skalpell. Goethe 144

Selten hat Goethe in einem öffentlich geführten Literaturstreit so deutlich Stellung bezogen wie in der Auseinandersetzung um das ›Wunderhorn‹. Seine in der ›Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung‹ im Januar 1806 erschienene Rezension scheint die heftige Kontroverse zwischen fachphilologischer und poetischer Herausgeberschaft bereits vorauszuahnen und ergreift klar für Arnim und Brentano Partei. Goethe situiert die Sammlung vom ersten Satz seiner Besprechung an auf Seiten der Poesie und sieht sie in keiner Weise als philologischen Beitrag. Dies wird gleich im statuarischen ersten Satz deutlich: »Die Kritik dürfte sich vorerst nach unserem Dafürhalten mit dieser Sammlung nicht befassen.«145 Die Sammlung erhält ihren Wert nicht durch die Aufzeichnung bedrohten Liedgutes zwecks literarischer Bestandspflege. Als Liederbuch sind die Texte auf ihre Rückverwandlung in Ton und Lied angewiesen, um ihrer eigentlich poetischen Bestimmung gerecht zu werden. Dabei dreht Goethe die aus der Volkslieddebatte so hinreichend bekannte Argumentation schlechterdings um. Wurde in den Vorworten der Volksliedsammlungen, im Übrigen auch durch Arnim und Brentano, immer eine Überlieferungsgeschichte von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit erzählt, die in geschichtspessimistischer Variante etwa bei Jacob Grimm vom Niedergang einer ursprünglichen, oralen Tradition ausging, und in der die schriftliche Aufzeichnung und kritische Edition lediglich restauratorisch-archivarische Funktion hat, so findet sich bei Goethe eine gegenläufige Bewegung. Als Liedersammlung ernst genommen, vermag die Sammlung Ausgangspunkt einer (Re-)Oralisierung der Kultur zu werden. Solcherart rückverwandelt wäre

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Arnim, Von Volksliedern, S. 430. Ebd., S. 437. MA 4.1, S. 715. Dieses Distichon wurde in die ›Xenien‹ des ›Musenalmanaches‹ von 1797 übernommen. Goethe, Rez. ›Des Knaben Wunderhorn‹. In: FA 19, S. 253–267; S. 253.

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die gedruckte Sammlung überflüssig, als Medium von Bildung erscheint nicht die philologische Edition, sondern die Verlebendigung einer mündlichen Tradition, der die Texte eigentlich entwachsen sind. Würden dann diese Lieder, nach und nach, in ihrem eigenen Ton- und Klangelement von Ohr zu Ohr, von Mund zu Mund getragen, kehrten sie allmählich, belebt und verherrlicht, zum Volke zurück, von dem sie zum Teil gewissermaßen ausgegangen: so könnte man sagen, das Büchlein habe seine Bestimmung erfüllt, und könne nun wieder, als geschrieben und gedruckt, verloren gehen, weil es in Leben und Bildung der Nation übergegangen.146

Goethe ist bemüht, den Volks- und den Nationenbegriff auseinanderzuhalten und strebt damit eine Korrektur des Konzeptes von Volkspoesie an. Er erkennt sehr wohl, dass die von Arnim und Brentano vorgelegten Gedichte keineswegs aus dem Volke eingesammelt und auch nicht für das gemeine Volk gedichtet worden seien.147 Es ist die in ihnen angelegte Spannung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Natur und Kunst, die Goethe verantwortlich für ihre Wirkung macht. Alles, was »dieses wechselseitige Wirken«148 versucht, auf eine Seite festzulegen, zerstört den bildsamen Effekt der Sammlung. Der Oszillation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit entspricht dabei die Verschaltung poetischen und prosaischen Sprechens. Die Position Goethes scheint also zunächst völlig klar und in Opposition zur philologischen Kritik zu stehen, wie sie später etwa J. H. Voß und die Grimms gegen das ›Wunderhorn‹ äußern. Goethe setzt dagegen das Eigenrecht der Poesie. Interessanterweise, und dies ist bisher unkommentiert geblieben, aber zieht er zur Rechtfertigung seiner Position ein philologisches Argument heran, indem er indirekt auf Wolf und Eichhorn rekurriert. Diese hatten gezeigt, wie sehr die jahrhundertealte orale und schriftliche Überlieferung zu solchen Verzerrungen führt, dass von gesicherter Autorschaft nicht mehr die Rede sein kann. Eine eingehende Kritik der Homerischen Texte hatte Wolf zu der Annahme kollektiver Autorschaft geführt. Exakt dieses Konzept von Autorschaft führt Goethe nun gegen die philologische Destruierung der ›Wunderhorn‹-Sammlung an: »so finden wir noch mehr Ursache, eine sondernde Untersuchung, inwiefern das alles, was uns hier gebracht ist, völlig echt, oder mehr und weniger restauriert sei, von diesen Blättern abzulehnen.«149 Die Herausgeberschaft eines vielfältigen Veränderungen unterworfenen Textbestandes berechtigt die Redaktoren sich durchaus als Autoren zu verstehen.

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FA 19, S. 253f. Wie sein eigenes Balladenkonzept ja auch. Vgl. Braungart, Aus den Kehlen. FA 19, S. 265. FA 19, S. 267.

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Die Herausgeber sind im Sinne des Erfordernisses so sehr, als man es in späterer Zeit sein kann, und das hie und da seltsam Restaurierte, aus fremdartigen Teilen verbundene, ja das Untergeschobene, ist mit Dank anzunehmen. Wer weiß nicht, was ein Lied auszustehen hat, wenn es durch den Mund des Volkes geht, und nicht etwa nur des ungebildeten, eine Weile durchgeht! Warum soll der, der es in letzter Instanz aufzeichnet, mit anderen zusammenstellt, nicht auch ein gewisses Recht daran haben? Besitzen wir doch aus früherer Zeit kein poetisches und kein heiliges Buch, als insofern es dem Auf- und Abschreiber solches zu überliefern gelang oder beliebte.150

Dies ist ein erstaunlicher Befund, denn er bedeutet, dass die philologisch-kritische Aufarbeitung der Bibel wie der Homerischen Epen erst deren produktives Potential wieder freigesetzt habe. Anders als von Wolf intendiert, der selbstverständlich den bestmöglichen Text emendieren wollte, versteht Goethe hier die philologische Dekonstruktion als Aufforderung, an den poetischen Bestand kommunikativ anzuschließen und sich ihn produktiv anzueignen. Nach der anfänglichen Irritation durch die Lektüre der ›Prolegomena‹151 und dem daran anschließenden Streit zwischen Herder und Wolf hatte Goethe nach einem Ausweg gesucht, wie er sich mit den Ergebnissen Wolfs versöhnen bzw. wie diese ihm nutzbar sein könnten. Am 26. Dezember 1796 berichtet er Wolf über die Wirkung, die die ›Prolegomena‹ auf ihn gemacht hätten. Der Brief wiederholt die Position aus der ›Wunderhorn‹-Rezension. Die philologische Destruktion hat ihn ermuntert, die Epenprojekte ›Hermann und Dorothea‹ sowie ›Achilleis‹ als moderne Aneignungen der epischen Form in Angriff zu nehmen: Vielleicht sende ich Ihnen bald mit mehrerem Muthe die Ankündigung eines epischen Gedichtes, in der ich nicht verschweige, wieviel ich jener Überzeugung schuldig bin, die Sie mir so fest eingeprägt haben. Schon lange war ich geneigt mich in diesem Fache zu versuchen und immer schreckte mich der hohe Begriff von Einheit und Untheilbarkeit der Homerischen Schrifften ab, nunmehr da Sie diese herrlichen Werke einer Familie zueignen, so ist die Kühnheit geringer sich in grössere Gesellschafft zu wagen und den Weg zu verfolgen den uns Voß in seiner Luise so schön gezeigt hat.152

Vorschnell geschlossen wäre allerdings, darin eine grundsätzliche Übereinstimmung mit Wolfs Methodik der Kritik zu sehen.153 Das Konzept kollektiver bzw. 150 151 152

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FA 19, S. 267. Vgl. den Brief an Schiller vom 17. Mai 1795. In: MA 8.1, S. 79. FA 31, S. 543. Am 16. Mai 1798 hingegen schreibt er an Schiller: »Ihr Brief trifft mich wieder bei der Ilias! […] Ich bin mehr als jemals von der Einheit und Unteilbarkeit des Gedichts überzeugt.« MA 8.1, S. 577. Der Unterschied dürfte aber wohl im inzwischen anders gelagerten Einheitsbegriff bestehen. Im Frühjahr 1795 sagt er: »Ich als Dichter habe ein ganz anderes Interesse, als das der Kritiker hat. Mein Beruf ist zusammenfügen, verbinden, ungleichartige Teile in ein Ganzes zu vereinigen. Des Kritikers Beruf ist aufzulösen, trennen, das gleichartigste Ganze in Teile zu zerlegen. Als Dichter habe ich also eine unübersteigliche Scheidewand zwischen mir und dem heillosen Beginnen des Kritikers gezogen. Aber ich kann nun doch des Kritikers in hundert Fällen nicht entbehren. Ich lese meinen Homer

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philologischer Autorschaft wird von Goethe zunehmend in Anspruch genommen, um sich der verschiedensten literarischen Traditionen bedienen zu können und sie sich produktiv anzueignen. Wenn ein Ergebnis Wolfs war, dass ›Werke‹ nicht von Autoren, sondern von philologischen Herausgebern geschaffen werden, dann ist es nur konsequent, dass Dichter, die ein ›Werk‹ anstreben, sich als Herausgeber fingieren. In der Rezension begegnen wir zum ersten Mal einem Paradox, das uns im Folgenden weiter beschäftigen wird und dessen Bedeutung und Genese noch genauer zu beleuchten ist: die Würdigung und Inanspruchnahme der Ergebnisse einer methodisch neu ausgerichteten Philologie bei gleichzeitiger Zurückweisung ihres methodischen Anspruchs, denn soviel ist klar: Sollten die Philologen ihr neues methodisches Werkzeug an die ›Wunderhorn‹-Lieder anlegen, wie vor allem Jacob Grimm es anmahnt, dann bleibt an ihnen nicht mehr viel ›Originales‹. Eine solche Behandlung aber hatte Goethe zurückgewiesen. Für ihn bedeuteten die Erkenntnisse Wolfs und Eichhorns vor allem die Einebnung der historisch-geographischen Brüche. Jede literarische Tradition wird nun virtuell dem produktiven Zugang geöffnet – für Goethe ein erster Schritt zum Konzept von Weltliteratur. Er fordert denn Arnim und Brentano auch auf, den nationalistischen Unterton des Völkischen zu streichen und ihre Sammlung zu internationalisieren. »Brächten sie uns noch einen zweiten Teil dieser Art deutscher Lieder zusammen, so wären sie wohl aufzurufen, auch was fremde Nationen […] dieser Liederweise besitzen auszusuchen, und sie im Original und nach vorhandenen oder von ihnen selbst zu leistenden Übersetzungen darzulegen.«154 Wenngleich auch Arnim ein produktives Verhältnis zur Tradition sucht, so beruht seine Theorie des Poetischen, wie oben ausgeführt, doch auf anderen Voraussetzungen. Mit einer christlich motivierten Volksliedfrömmelei kann Goethe ebenso wenig wie mit dem Projekt national-völkischer Einheitsstiftung155 durch messianische Selbsterhöhung des Dichters anfangen und warnt Arnim und Brentano auch eindringlich – man muss wohl konzedieren erfolglos – davor, dieser Tendenz zu folgen. Neben den Konzepten von kollektiver Autorschaft und Weltliteratur wird hier aber auch das Gegenmodell Goethes zur historischen Kritik angedeutet: die

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mit Bewunderung, stoße aber auf einmal auf Szenen und einzelne Stellen, die allen Eindruck stören u. mich aufs unangenehmste situieren. Hier weiß ich dem Kritikus unendlichen Dank, wenn er mir sagt: ja, grade diese Stelle ist unecht.« FA 31, S. 78. FA 19, S. 266. Zumindest nicht im Sinne nationaldeutscher Limitierung. Im nicht publizierten Aufsatz ›Über das lyrische Volksbuch‹ von 1808 schreibt er: »ja man müßte ausdrücklich auf die Verdienste fremder Nationen hinüberweisen, weil man das Buch ja auch für Kinder bestimmt, die man besonders jetzt früh genug auf die Verdienste fremder Nationen aufmerksam zu machen hat.« FA 19, S. 400.

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Charakteristik.156 Goethes Liste mit sentenzhaften Charakterisierungen »aus dem Stegreife: denn wie könnte man sie anders unternehmen«,157 unterläuft bereits jede streng philologische Kritik. Die Charakteristik ist das »lebhafte poetische Anschauen«158 der Sache, die subjektive Zuneigung als augenblickshafte Intuition. Die ›Winkelmann‹- und ›Hackert‹-Schrift, die ›Noten zum Divan‹, um nur einige zu nennen, sie alle sind weniger philologische Kritiken, denn solche Charakteristiken. Die gleichzeitige Inanspruchnahme und Distanzierung vom philologischen Diskurs mag ein Grund sein, warum in der Forschung stets so sehr nur eine Seite des Verhältnisses zwischen Goethe und der Philologie betont wird – sei es eines Gegensatzes, sei es der symbiotischen Nähe. Es war ein Philologe und nicht der schlechteste, der die Symbiose von Poesie und Philologie in der Kongenialität von Goethe und Wolf begründet sah. Aber, wie allzu oft, wurde diesem das Schicksal zuteil, das er anderen so grandios prognostizierte. Die Philologen haben Nietzsche nie recht verstanden. Nietzsche sah in Wolf und Goethe die Repräsentanten einer anderen Philologie, einer Philologie, die sich nicht an den Kriterien wissenschaftlicher Ausdifferenzierung orientiert, sondern an der gegenseitigen Befruchtung von Gelehrsamkeit und Sprachgefühl, Wissenschaft und Dichtung, für die Wolf auf der einen, Goethe auf der anderen Seite als Paten in die Pflicht genommen werden.159 Es verwunderte, wenn Nietzsche in den nachgelassenen Notizen zu seiner geplanten Kampfschrift ›Wir Philologen‹, die ähnlich der Schlegelschen ›Philosophie der Philologie‹ nie über den Fragmentstatus hinausgekommen ist, im Rahmen der ›Unzeitgemässen Betrachtungen‹ tatsächlich eine poetische Apologie auf Wolf

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Damit ist natürlich nicht die Charakteristik eines Aloys Ludwig Hirt gemeint, gegen die sich Goethe und Schiller in ›Der Sammler und die Seinigen‹ wenden. Martin Dönike (Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizismus 1796–1806, Berlin – New York 2005, S. 235) hat aber gezeigt, dass es sich hier »um einen umfassenden Versuch handelt, das ›Charakterisitische und Leidenschaftliche‹ in die zum damaligen Zeitpunkt noch immer deutlich von Winckelmann und Lessing geprägte Ästhetik zu integrieren. Zum ›Sammler‹ siehe unten S. 224ff. FA 19, S. 265. FA 19, S. 265. Siehe dazu unten auch Seite 215. Christoph König (Wahrheitsansprüche. Goethe, Nietzsche und Hofmannsthals Ideen für eine allgemeine Philologie um 1905. In: Eberhard Lämmert/Christoph König (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt/M. 1999, S. 44–58) zeigt wiederum wie Hofmannsthal über Nietzsche, die Goethe-Wolf-Analogie übernimmt, leider um sie selber auch widerzuschreiben. Vgl. auch König, Hofmannsthal, S. 40–42. Zum Umfeld des Nietzsche-Aufsatzes siehe: Hubert Canick/ Hildegard Canick-Lindemaier, ›Das Gymnasium in der Knechtschaft des Staates‹. Zu Entstehung, Situation und Thema von Friedrich Nietzsches ›Wir Philologen‹. In: Glenn W. Most (Hg.), Disciplining Classics – Altertumswissenschaft als Beruf. [Kritische Studien zur Philologiegeschichte. 6], Göttingen 2002, S. 97–115.

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und die von ihm beschleunigte historisch-kritische Wende der Philologie angestimmt hätte, indem er dessen persönliche Nähe zu Goethe und Wilhelm von Humboldt zum Signifikant des ästhetischen Gehalts seiner Philologie gemacht hätte. Dieses erbpflegerische Geschäft hatten lange vor Nietzsche bereits Wolfs Schüler, nun Direktoren humanistischer Gymnasien, gründlich besorgt. »Sein [Wolfs, mb] Geistesleben in Verbindung mit W. v. Humboldt und Göthe trieb in der Blüthe der männlichen Kraft zu Halle die schönsten Früchte, und machten seinen Hörsaal zu einem Musentempel, worin sich aus allen Gauen Deutschlands und aus der Schweiz Jünglinge versammelten, welche mit der Liebe der Begeisterung an der beredten Lippe ihrer Lehrers hingen.«160 Der Kathederphilologe als Musaget inmitten enthusiamierter Jünger erscheint hier ohne jede Ironie als Realkopie der Imagination eines poetischen Meisters in seinem Hain. Der Philologe selbst nimmt die Stelle ein, die vormals dem Dichter vorbehalten war. Sie sucht das Charisma einer in der Tradition durchgängigen Phantasmagorie von der exzentrischen Dichterexistenz auf die Figur des Philologen zu übertragen. Eine Übertragung allerdings, die, wenn sie im Wissenschaftsbetrieb nicht zur Existenzbedrohung werden soll, alle produktiv-ästhetischen Attribute ausstreichen muss, und der Nietzsches eigene Universitätskarriere zum Opfer fallen musste. Nietzsche erkennt die Aporie, auf die die historistisch-positivistische Philologie ihr Fundament im 19. Jahrhundert aufbaut. Sie bleibt in der Falle gefangen, die Humboldt und Goethe im Bildungsanspruch der Kunst gestellt hatten. Wird nun die Bildung einer Zeit verurtheilt, so sind jedenfalls die Philologen schwer angegriffen: entweder nämlich wollen sie, in der Verkehrtheit ihres Sinnes, gerade jene schlechte Bildung, weil sie dieselbe für etwas Gutes halten, oder sie wollen sie nicht, sind aber zu schwach, das Bessere, das sie erkennen, durchzusetzen. Entweder liegt also ihre Schuld in der Mangelhaftigkeit ihrer Einsicht oder in der Ohnmacht ihres Willens. Im ersten Falle würden sie sagen, sie wüßten es nicht besser, im zweiten, sie könnten es nicht besser. Da aber die Philologen vornehmlich mit Hilfe des griechischen und römischen Alterthums erziehen, so könnte die im ersten Falle angenommene Mangelhaftigkeit ihrer Einsicht einmal darin sich zeigen, daß sie das Altertum nicht verstehen; zweitens aber darin, daß das Altertum von ihnen mit Unrecht in die Gegenwart hineingestellt wird, angeblich als das wichtigste Hülfsmittel der Erziehung, weil es überhaupt nicht oder jetzt nicht mehr erzieht. Macht man ihnen dagegen die Ohnmacht ihres Willens zum Vorwurf, so hätten sie zwar darin volles Recht, wenn sie dem Alterthum jene erzieherische Bedeutung und Kraft zuschreiben, aber sie wären nicht die geeigneten Werkzeuge, vermittels deren das Alterthum diese Kraft äußern könnte: das heißt: sie wären mit Unrecht Lehrer und lebten in einer falschen Stellung: aber wie kamen sie dann in diese hinein? Durch eine Täuschung über sich und ihre Bestimmung.161

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Föhlisch, Vorerinnerungen aus der Vergangenheit für die Schule der Gegenwart, S. 4f. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente zu ›Wir Philologen‹. 1875 7[7]. In: ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Monti-

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Die Rede von den Alexandrinischen Poeten-Philologen und der Renaissance erscheint so als ambivalent. Im spätgriechischen Fall ist die Bezeichnung bereits beißende Ironie, im italienischen hoffnungsvoller Rückblick. Die Täuschung der Philologen über ihre eigentliche Bestimmung besteht in der Anmaßung, Vermittler und Produzent von Bildung sein zu wollen und mit dieser Anmaßung, die Dichtung selbst nur als historische Hülse in eine Gegenwart zu stellen. »Es ist eine falsche Auffassung, zu sagen: ›immer gab es eine Kaste, welche die Bildung eines Volkes verwaltete‹: folglich sind die Gelehrten nöthig. Denn die Gelehrten haben eben nur das Wissen um die Bildung (selbst dies nur besten Falls).«162 Die Differenz zwischen Dichtung und Philologie, die Nietzsche hier markiert, ist jene von Bildung und Wissen, der Unterschied, den das Französische zwischen ›savoir‹ und ›pouvoir‹ macht. »Das Mittel, die Philologie, macht dem Philologen die Nachahmung unmöglich. Kennen ohne können.«163 Der Philologe weiß um die Bildungsbestände. Philologie ist das Programm ihrer materialen Akkumulation, Bibliothek und Archiv ihr Speicherort. Speicher und Suchprogramm aber generieren selbst kein neues Wissen, sondern sind allenfalls dessen materielles Transzendental, deren sich die Dichtung bedient und bedient hat. Der Philologe erscheint dem Dichter als sein Schatten, den er nicht loszuwerden vermag. Die Verwechslung von Schatten und Körper ist die Metapher für das Verhältnis von Poesie und Philologie bei Nietzsche und seine Anklage an die zeitgenössische Philologie, sie sei gleich den Homerischen Schatten im Hades ohne ihren Körper, der Poesie, dem allein sie eigentlich ihre Existenz schulde. »Die Hadesschatten des Homer – welcher Art von Existenz sind sie eigentlich nachgemalt? Ich glaube, es ist die Beschreibung des Philologen; es ist besser Tagelöhner sein als so eine blutlose Erinnerung an Vergangenes–«.164 Der Philologe vermag aus den Schnipseln seiner Fragmente keinen griechischen Körper mehr zusammenflicken, sein Bildungsanspruch wird zur theatertechnischen Imagologie:165 »sie spiegeln es wieder, aber wie auf einer Rauchwolke«. Die resurrektierende Macht spricht Nietzsche der Dichtung zu. Griechische Menschen bleiben Chimäre, »bis sie wieder von einem Dichter nachgeschaffen

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nari. Vierte Abteilung. Erster Band, Berlin 1967, S. 202f. Von hier an mit der Sigle ›KGN‹ und der jeweiligen Angabe der Fragmentnummer zitiert. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. März 1875 3[66]. In: KGN 4.1, S. 109. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Sommer 1875 6[1]. In: KGN 4.1, S. 173. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. März 1875 3[51]. In: KGN 4.1, S. 104. Genau diese Umakzentuierung der Körper-Text Metapher, auf die Nietzsche hier rekurriert, findet um 1800 statt. Vgl. Lutz Danneberg, Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien. Zum Hintergrund und zur Entwicklung der Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Jörg Schönert/Ulrike Zeuch (Hg.), Mimesis, Repräsentation, Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin – New York 2004, S. 241–282; S. 258f.

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sind: die ergänzende Phantasie Vieler muss hier arbeiten.«166 Der Chimäre nachjagend wird der Philologe zur tragisch-komischen Figur: »Betrüger oder Betrogene sind die Philologen«.167 Ist diese Philologie berufen zur Erziehung der Nation, dann folgt daraus bei Nietzsche die Diagnose einer schleichenden, aber umfassenden Philologisierung der Kultur, deren hervorstechendstes Kennzeichen ihre Zeugungsunfähigkeit ist. »Der objektiv-kastrirte Philolog, der im übrigen Bildungsphilister und Kulturkämpfer ist und daneben reine Wissenschaft treibt«,168 ist Ausdruck einer Aporie, an deren Beginn wir Herder gesehen haben. Hier setzt Nietzsches Projekt ein. Seine Kritik der Philologie ist Kulturkritik im großen Stil und sein Programm einer anderen Philologie politisch-kulturelle Utopie: Auch das Gegenmodell, das er präsentiert, kommt uns bekannt vor. Es ist der Schlegelsche StudiumsBegriff: »Das Maaß des Studiums liegt darin: nur was zur Nachahmung reizt, was mit Liebe ergriffen wird und fortzuzeugen verlangt, soll studirt werden.«169 Eine solche Hermeneutik der Liebe mag bei Nietzsche überraschen. Sie erklärt sich aus dem unmittelbar folgenden Fragment. »In der Art hat Goethe das Alterthum ergriffen.«170 Die Überwindung einer statisch-positivistisch-historistischen Kultur wird möglich durch die Freisetzung eines neuen produktiven Potentials vermittels der Philologie. Und Nietzsche war ein sorgfältiger Schlegel-Leser: Die Vernichtung der Philologie zu Zwecken ihrer Neueinsetzung. Unsre Stellung zum klassischen Alterthum ist im Grunde die tiefe Ursache der Unproduktivität der modernen Cultur: denn diesen ganzen modernen Culturbegriff haben wir von den hellenisirten Römern. Wir müssen im Alterthum selbst scheiden: indem wir seine einzig produktive Zeit kennen lernen, verurtheilen wir auch die ganze alexandrinisch-romanische Cultur. Aber zugleich verurtheilen wir unsre ganze Stellung zum Alterthum und unsre Philologie zugleich!171

Manfred Riedel hat Wolf und Goethe als Beispiel für die Philologen-Poeten angeführt, die Nietzsche bei seinem Projekt einer zukünftigen Philologie im Sinne hatte.172 Lässt sich dies vielleicht mit Blick auf die Nachlassfragmente Nietzsches

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Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Sommer 1875 6[10]. In: KGN 4.1, S. 176f. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Sommer 1875 5[15]. In: KGN 4.1, S. 119. Vgl. auch ebd. 7[1], S. 197, wo der Begriff der Chimäre fällt, die Philologie als Don Quixotterie. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Sommer 1875 5[109]. In: KGN 4.1, S. 145. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Sommer 1875 5[171]. In: KGN 4.1, S. 165f. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Sommer 1875 5[172]. In: KGN 4.1, S. 166. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Sommer 1875 5[47]. In: KGN 4.1, S. 129. In einem Kapitel-Schema heißt es zu Kap. 5 dann: »Der zukünftige Philologe als Sceptiker über unsre ganze Cultur und damit auch als Vernichter des Philologen-Standes.« Ebd. 5[55], S. 132. Vgl. Riedel, Zwischen Dichtung und Philologie, S. 93f und S. 108f. Die Einschätzung Wolfs ist aber keineswegs so eindeutig positiv, wie Riedel suggeriert. Für eine der

belegen,173 so bleiben doch Fragen offen. Wie konnte Wolf zum Gründungsheroen exakt jener Philologie aufsteigen, die Nietzsche so vehement bekämpft? Die Rekonstruktion und Verortung des Wolfschen Ansatzes oben und die dort diskutierte Forschung hat ja sehr schön nachweisen können, wie gerade Wolf es ist, der wissenschaftliche Disziplinierung und Bildungsanspruch, also exakt jenes Dilemma, das Nietzsche zu durchbrechen im Sinn hat, zusammenzuführen sucht. Es gehört zur disziplinären Selbstinthronisierung, dass das Fach mit Wolf, später Lachmann, Gründungsfiguren auf gleiche Art und Weise kultisch inszeniert wie die Dichter und ihre Werke, um die es sich eigentlich bekümmern sollte. Darin besteht der Unterschied zwischen Wissenschaftsgeschichte und disziplinärer Hagiographie.174 Wolfs Schüler haben schnell verstanden, dass hierfür vor allem zwei Dinge nötig sind: Ein manifestes Werk und biographische Auratisierung. Ersteres wurde mit der Herausgabe von Vorlesungsmitschriften und der Forderung nach einer Edition des handschriftlichen Nachlasses erreicht,175 zweites durch den beständigen Verweis auf die ›Freundschaft‹ zwischen Goethe und Wolf, dessen Leben wie Goethes in Briefen erzählt, Gegenstand philologischer Editionsarbeit wird.176 Hans Blumenberg hat in einem kleinen, gerade sechsseitigen Beitrag, die Dinge ins rechte Licht gerückt: »Es ist erstaunlich, in welchem Maße Wolf alles verkörperte, was gegen Goethes Natur und gegen sein Verhältnis zur Natur

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Hauptthesen Wolfs von der Schriftlosigkeit Homers, für dessen Beleg er großen argumentativen Aufwand betreibt, hat Nietzsche nur Spott übrig. Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Sommer 1875 5[114]. In: KGN 4.1, S. 146. Es gibt eine Menge weiterer Stellen, an denen Wolf von Nietzsches Kritik bedacht wird. Es ist vielmehr die Renaissance, Goethe und Wagner, die als Poeten-Philologen bezeichnet werden. Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Sommer 1875 5[109]. In: KGN 4.1, S. 145. Für erstere stehen exemplarisch die Arbeiten der Forschergruppe um Voßkamp und Fohrmann, die endlich die disziplinäre Selbstbeweihräucherung durchbrochen hat. Vgl. Föhlisch, Vorerinnerungen aus der Vergangenheit für die Schule der Gegenwart, S. 31. Vgl. etwa: Friedrich August Wolf. Ein Leben in Briefen. Die Sammlung besorgt und erl. durch Siegfried Reiter. 3 Bde, Stuttgart 1935. 2 Ergänzungsbände Halle/Saale 1956 und Opladen 1990. Eine eindrückliche Verbindung beider Strategien stellt die mehr auf die Würdigung Wolfs als Goethes abzielende Edition: ›Goethes Briefe an Friedrich August Wolf‹. Vgl. dort S. 1: »Goethe und Wolf, beide zeigen sich in den Gebieten ihres Wirkens und Schaffens als Herrscher […]. Indem die beiden großen zueinander in Beziehung treten, scheint sich die neubelebte Alterthumswissenschaft mit der in herrlicher Blüthe dastehenden Poeise zu berühren; und die Frage tritt uns nahe: […] welche Stellung gebührt dem Philologen in der deutschen Literatur?« Bernays trifft dabei die eigentlich entscheidende und dieser Studie zugrunde liegende Frage: »welche Einwirkung hat unsere Poesie, zur Zeit, als ihre Kräfte in der reichsten Entfaltung begriffen waren, von der Philologie empfangen […] oder hat gar eine heilsame Wechselwirkung zwischen deutscher Poesie und Philologie stattgefunden« (ebd.). Diese Fragen werden aber dort nicht weiter verfolgt.

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ging.«177 Natürlich verkennt Blumenberg nicht den Respekt, den Goethe gegen die Leistung Wolfs aufbringt, er weiß um die für eine zeitlang engen persönlichen Kontakte zwischen Wolf und Goethe. Er lässt sich aber davon nicht blenden und deutet eine grundlegende Differenz zu Wolf an. Eine Differenz, die vom Charakteristischen ins Systematische sich wenden lässt. Blumenberg gelingt es mit einem einfachen Eingangssatz den Punkt zu markieren, der bereits mehrfach anvisiert worden ist. Bei allen Unterscheidungen, die zwischen Klassik und Romantik zu treffen sind, so gibt es doch eine vereinigende Idee: »Nur ein Erbstück der Vergangenheit, das größte, ist Klassik und Romantik gemeinsam, dieses ist aber in eigentümlicher Weise für eine ihrer liebsten Ideen exemplarisch geworden: für die der kollektiven Urheberschaft.«178 Eichhorn und Wolf waren es, die diese Idee ins Herz der Goethe-Zeit pflanzten. Blumenberg aber stellt uns damit vor ein Problem. Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Goethe und Wolf, Poesie und Philologie bestimmen, wenn einerseits grundlegende Differenzen diagnostiziert werden, andererseits ein so fundamentales Prinzip wie das der kollektiven Autorschaft mit Rückbezug auf Wolf entwickelt worden sein soll? Über die persönlichen Beziehungen zwischen Wolf und Goethe braucht hier nicht mehr gesprochen werden, das hat die Forschung ausgiebig getan. Wichtig erscheint mir aber eine genauere Rekapitulation der Positionierung Goethes zu Wolfs Homerischen Thesen als dies mit Bezug auf den überlieferten Briefwechsel der beiden möglich ist. 1970 publizierte Franz Schmidt eine kurze handschriftliche Notiz – wahrscheinlich ein Aufsatzschema – mit dem Titel ›Beyläufige Gedanken über historische Critik‹, die sich im Riemer-Nachlass des Goethe-Schiller-Archivs gefunden hatte. Schmidt kann glaubhaft machen, dass es sich dabei offensichtlich um eine resümierende Stellungnahme Goethes zu Wolfs historisch-kritischer Methode handelt.179 Da es sich um ein Diktat von Riemers Hand handelt, kann als terminus post quem der September 1803, als Riemer Hauslehrer und wissenschaftlicher Mitarbeiter in Goethes Haushalt wird, gelten. Schmidt datiert den Text mit guten Gründen auf die Jahreswende 1807/1808.180 Was besagt er? Der skizzierte Argumentationsgang deutet auf eine grundlegende Kritik an den methodologischen Prämissen der Quellenkritik Wolfs, wie er sie in den ›Prolegomena‹ und in der ›Darstellung der Alterthums-Wissenschaft‹ entwickelt hatte, und für die er seinen Platz in der Ruhmeshalle der Philologen zugewie-

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Hans Blumenberg, Wolfs Tod. In: ders., Goethe zum Beispiel. Hg. von Manfred Sommer und dem Hans Blumenberg-Archiv, Frankfurt/M. 1999, S. 10–15; S. 14. Ebd., S. 10. Franz Schmidt, Goethe über die ›historische Kritik‹ F. A. Wolfs. In: DVjs 44 (1970), S. 475–488. Ebd., S. 486.

sen bekommen hat. Goethe greift hier vor allem den Anspruch an, durch syllogistische Schlussfolgerungen historische Sätze mit Evidenz auszustatten und sie zu beweisen. Er insistiert dagegen auf einen nicht zu eliminierenden subjektiven Anteil aller historischer Urteilssätze.181 Die Prinzipien der Quellenkritik werden folgendermaßen zusammengefasst: – Alter der Quellen – Einhelligkeit der Autoren – Untersuchung der historischen Möglichkeitsbedingungen der Quellenaussagen Alle drei Prinzipien werden nun einer Kritik unterworfen. Wolf selbst sage, dass das Alter der Quellen kein Hinweis auf ihre Zuverlässigkeit sei. »Die ältesten und ersten Quellen, sagt Wolf selbst […] sind nicht immer die wahren, die spätern nicht immer falsch.« (A 4f.)182 Auch der Einhelligkeit der Autoren wird mit einem polemischen Verweis auf die Kanonisierung von Glaubens- (katholische Theologen) und Wissenschaftsirrtümern (Newtonianer) ihre Begründungslegitimation abgesprochen. Zudem trete der Fall einhelliger Übereinstimmung nur sehr selten ein, was sofort die Frage aufwerfe: »für wen soll entschieden werden?« (A 11). Die Wolfsche Antwort, wo Wahrheit nicht zu ergründen sei, müssten zumindest Wahrscheinlichkeiten stark gemacht werden, wird nicht akzeptiert und mit Verweis auf Aristoteles’ ›Poetik‹ in Frage gestellt. »Was ist wahrscheinlich. Das Wahre ist oft nicht wahrscheinlich, und das Wahrscheinliche doch nicht wahr.« (A 13f.) Neben Wahrscheinlichkeitsgründen bzw. zu ihrer Untermauerung könnte die Untersuchung der historischen Möglichkeitsbedingungen eines Sachverhaltes dienen, »gleichsam das was Menschen möglich ist.« (A 15) Dies aber sei nur schlechterdings möglich. Die Ergründung der Möglichkeitsbedingungen, »sich in fremde Zeiten und Gegenden zu versetzen, und für jene etwas möglich zu finden« (A 16f.), ist ein Akt der Divination, die hier als methodisches Prinzip ebenfalls abgewiesen wird. Nur innerhalb einer Traditionslinie erscheint der zeitliche Rekurs möglich. Ist die Traditionslinie einmal abgebrochen, dann verbleibt in der Tat nur der divinatorische Zugang zum Disparaten. Allein über die Divination lassen sich aber weder Wahrheits- noch Wahrscheinlichkeitsannahmen plausibel machen. »Denn um etwas möglich zu finden, muß man in der 181

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Dieser Eindruck hat sich ihm bereits bei der ersten Bekanntschaft mit Wolfs Thesen aufgedrängt, von der er am 17. Mai 1795 an Schiller berichtet: »Wolfs Vorrede zur Ilias habe ich gelesen, sie ist interessant genug, hat mich aber schlecht erbaut. Die Idee mag gut sein, die Bemühung respektabel, wenn nur nicht diese Herrn, um ihre schwachen Flanken zu decken, gelegentlich die fruchtbarsten Gärten des ästhetischen Reichs verwüsten und in leidige Verschanzungen verwandeln müssten. Und am Ende ist mehr subjektives als man denke in diesem ganzen Krame.« MA 8.1, S. 79f. Ich zitiere nach Schmidt, Goethe über die ›historische Kritik‹ mit Angabe der Blattnumerierung (A–D) und der Zeilenangabe.

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Reihe dessen seyn, wohin das Mögliche gehört. Ein Physiker konnte die Luftballone möglich finden, ein Unphysiker nicht.« (A 17–19) Im Folgenden wird nun der Begriff der Divination, ohne dass er genannt wird, weiter umkreist. Wenn also die Glaubwürdigkeit der Quellen einer historischen Untersuchung über »Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Sache« (B 1) letztlich in einen unendlichen Regress führt, da die historischen Zeugen, um ihnen validierende Kraft zuschreiben zu können, wieder einer Kritik unterworfen werden müssten, die ebenfalls wieder zu kritisieren wären etc., so bleibt nur der Schluss, dass jedes Ergebnis als »Einsicht nicht aus dem Zeugenverhör hervor« (B 3) gehen kann. Woher dann? Jede Schlussfolgerung, die aus historischen Quellen gezogen würde, sei kein Resultat dieser Quellen, sondern Ergebnis der Arbeit des Geistes und als solcher »ein Coup de Genie, (ein ursprünglicher Akt.) Sonst kommt überhaupt kein Schluss zu stande« (B 5f.). Jede logische Argumentation im Geschichtlichen lässt sich auf einen solchen »Coup de Genie« zurückführen, denn jeder historische Syllogismus beinhalte in seinem Ausgangssatz bereits eine Konklusion, die auf eine frühere Schlussreihe führe, die ihrerseits wieder auf eine vorgängige führe. »Der Mensch fängt s[ein] Raisonnement immer mit einer Conclusio an, die zu einer früheren Schlußreihe steht; denn jede Reflex[ion] jedes Axiom ist eine solche Conclusio« (B 18–20). Der unendliche Regress kann nur in der Annahme eines ursprünglich setzenden Aktes des Bewusstseins vermieden werden.183 Goethe spielt dies dann am Beispiel des wichtigsten Argumentes der ›Prolegomena‹ durch: der Schriftlosigkeit des Homers. Der apriorische Bewusstseinsakt, »der Handgriff meines Geistes« (C 3), erscheint uns äußerlich, weil er unserem Bewusstsein nur als Erfahrung wiedergegeben werden kann. Das Bewusstsein ist nämlich spontan produktiv und zugleich rezeptiv. Was es spontan produziert, kommt als Wort zu ihm zurück und erst in dieser Rückkehr, dem Wiedereintritt ins Bewusstsein durch die Sprache, erscheint die ursprüngliche Einsicht des synthetisierenden Geistes als Erfahrungssatz.184 Kurz es sind allemal Axiome, höhre Sätze, die ihren Grund in sich selbst mitbringen, allgemeine Ennunciationen des Geistes, die im Grunde innere Anschauungen sind, und nicht aus einzelnen Erfahrungssätzen zusammengestoppelt oder aufgebaut werden; es ist ein Geistesfunken, ein Geistesblitz, der mit einem Schlage geschieht, und

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Neben den Kantischen Einflüssen sieht man hier deutlich, dass auch die Lektüre von Fichtes Wissenschaftslehre nicht ganz an Goethe vorbeigegangen ist. Diese ist ja kürzlich wieder zugänglich gemacht worden. Vgl. Goethes Fichtestudien. Faksimile-Edition von Goethes Handexemplar der Programmschrift ›Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre‹. Hg. und kommentiert von Wolf von Engelhardt, Weimar 2004. Dahinter steht ein schwieriger Komplex innerhalb der Kantischen Bewusstseinstheorie, die das Zugleich vom Spontaneität und Rezeptivität des Bewusstseins erweisen muss. Da eine Erläuterung hier zu weit weg führen würde, verweise ich auf meinen Aufsatz »Vom Wirken des Geistes im Werk. Kant und das bewegte Kunstwerk. In: Buschmeier/Dembeck (Hg.), Textbewegungen, S. 167–185.

nur die Nachbildung ins Wort, in eine äußere Darstellung geschieht durch mechanischen Auf- und Zusammenbau von Gründen und Gründchen […]. Der Aufbau von Grund, Belegen &gl ist nur ein Realisiren der Idee, aber unvollkommen. […] Daher kann nur der Glaube, ein schneller Faßblick (apercü), Neigung (Li[e]be) sich mit einem Mal einer Idee bemächtigen. (C 5–15)

Damit aber ist das historisch-kritische Verfahren in seinen methodischen Ansprüchen bewusstseinstheoretisch dekonstruiert. Wurde die Charakterisierung der ›Wunderhorn‹-Lieder, »wie es uns der Augenblick eingibt«,185 vorgenommen, dann ist das auf diesem Hintergrund mehr als eine entschuldigende Geste für die Flüchtigkeit der Besprechung: es ist das methodische Prinzip des Goetheschen Kritikbegriffs. Wie grundlegend Goethe die Denkfigur ansetzt, wird deutlich, wenn er direkt anschließend auf seine beiden wissenschaftstheoretischen Unternehmungen zur Metamorphose der Pflanzen und Farbenlehre als Gegenmodell verweist (vgl. C 15f.). Wenn Goethe seine ›Metamorphose der Pflanzen‹ und die ›Farbenlehre‹ Wolfs Ansatz gegenüberstellt und ihn mit dem Glauben der Newtonianer vergleicht, dann tritt hier die Ablehnung, die grundsätzliche Differenz, von der Blumenberg spricht, am deutlichsten hervor. Goethes Wissenschaftsmodell ist ein anderes. »Alles ist ein Sehen auf dieselbe Art; und närrisch meynen die Menschen, ein andres Sehen könne jenes erste beurtheilen, das nun gar nicht mehr ist. Alles Sehen ist nur eins« (C 17–19). Diesem wahrnehmungstheoretischen Wissenschaftsbegriff verpflichtet kann die historische Kritik keine Wissenschaft im von Wolf anvisierten Sinne sein.186 Sie rückt vielmehr dahin, wo Schlegel sie von Beginn an wissen wollte: »Historische Critik ist eine Kunst« (A 9f.). Der Kunstbegriff verweist hier exakt auf das Verhältnis von Aperçu und dessen Nachbildung ins Wort. Im Begriff der Kunst verbinden sich das technisch-handwerkliche und das Genialische. In dieser Verbindung kann Wissenschaft Kunst und Kunst Wissenschaft sein, mit dem Unterschied, dass bei Schlegel und noch sehr viel mehr bei Goethe ein gänzlich anderer Wissenschaftsbegriff zugrunde liegt als ihn der Wissenschaftsbetrieb zu entwickeln beginnt. Aus dieser Differenz erwuchs die bis zu seinem Tod anhaltende Enttäuschung über das Nicht-Verstehen seiner ›wissenschaftlichen‹ Arbeiten seitens der Fachwissenschaftler, zu denen er hier Wolf zählt. Wollte man der Philologie nicht recht trauen und dem Text über die historische Kritik den Eingang in den Goethe-Kanon verwehren, so wäre die ›Winkelmann‹-Schrift von 1805, also in zeitlicher Nähe zu ›Beyläufige Gedanken‹ entstanden, ein weiterer Text, an dem sich, vielleicht weniger drastisch,

185 186

FA 19, S. 254. Von Bedeutung hier auch der Verweis auf Neigung und Liebe. Unten Seite 327 wird der Zusammenhang von Goethes Schule des Sehens mit seiner Hermeneutik der Liebe näher erläutert.

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doch immer noch deutlich genug, die methodischen Unterschiede zwischen F. A. Wolf und Goethe auftun. Goethe versuchte mehrmals, Wolf zu einem Beitrag zu seinem WinckelmannProjekt zu bewegen. Wolf aber hielt sich offenbar zurück, obwohl Goethe ihm den Beitrag Meyers und die gedruckten Briefe Winckelmanns bereits übersandt hatte. Im Brief vom 25. Februar 1805 wird Goethe eindringlicher und spezifiziert seine Anforderungen: Möchten Sie doch auch geneigt sein, nach unserer früheren Abrede, noch einiges von der philologischen Seite hinzuzutun. Ich bereite mich vor, auch von meiner Seite ihn als Menschen zu schildern. Die Aufgabe bei dieser Gelegenheit für Ihr Fach, welches Sie selbst am vollkommensten übersehen, werden Sie sich selbst am vollkommensten entwerfen können. Der Zustand der Philologie im allgemeinen in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als der Bildungszeit Winckelmanns. Etwas über den Zustand der Schulen und Akademien in jener Zeit, um auszumitteln, was denn wohl Winckelmann, bei seinen sehr zerstückten und zerstreuten akademischen Studien, allenfalls für Sprach- und Altertumskenntnisse erwerben konnte. Betrachtungen über den Gebrauch, den man von philologischen Kenntnissen zu jener Zeit machte, welchen Zwecken, biblischen etc. man sie hauptsächlich widmete. Wie es mit den äußern Hülfsmitteln aussah, deren Kenntnis und Handhabung sich Winckelmann, während seiner Bibliothekariats Zeit in Nöthenitz, erwerben konnte, als Ausgaben, Kommentarien u.s.w. Und welche Zeugnisse seiner Ausbreitung, besonders über griechische Literatur, seine Werke geben. Wie ihm die Auslegung und Verbesserung einzelner Stellen geglückt und ob ihm das literarische Altertum auch einiges schuldig sei, da ihm das plastische soviel schuldig geworden. Dieses sieht freilich etwas weitläuftig aus; allein wenn Sie aus dem großen Vorrat Ihrer Kenntnisse und Einsichten, nur aphoristisch über dieses und jenes sich erklären mögen; so werden Sie unsern kleinen Arbeiten dadurch eine sehr ehrenvolle Krone aufsetzen.187

Goethe spricht Wolf hier dezidiert als philologischen Gewährsmann an, der Winckelmann in seiner Fachtradition würdigen soll. Der Brief fordert für den Beitrag ausdrücklich eine gehörige Portion Billigkeit ein, von der das ganze Projekt lebt. Dazu aber ist Wolf nicht der Mann und Goethe hätte nach dessen Ausfall gegen Herder 1795 eigentlich um den cholerischen Charakter Wolfs wissen müssen. Am 18. März 1805 schreibt dieser missmutig zurück, ja er gehorche Goethes Verlangen, aber erwarten solle man nicht zuviel von seinem Beitrag. Schuld daran sei nicht er, sondern vielmehr Goethes Aufgabenstellung und der damit verbundene Stoff, also die Arbeiten Winckelmanns selbst: »Stellen, die den wahren Philologen verraten, sind überaus selten bei W., und in historischer Kritik ist er gar nicht gewandt und gewissenhaft genug.«188 Wolf sieht in Win-

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FA Bd. 32: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 24. Juni 1795 bis zum 9. Mai 1805. Teil II. Vom 1. Januar 1800 bis zum 9. Mai 1805. Hg. von Volker C. Dörr und Norbert Oellers, Frankfurt/M. 1993, S. 554. Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 2 Bde. Hg. von Karl Robert Mandelkow, Hamburg 1965. Bd. 1, S. 426.

ckelmann weder den Praezeptor einer Altertumskunde, die seinen Ansprüchen genügt, noch kann er etwas mit Winckelmanns freiem Umgang mit der Antike anfangen, den aber Goethe so bewunderte. Nach Meyers ›Entwurf einer Kunstgeschichte‹ und den Briefen Winckelmanns folgen die ›Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns‹, die von Goethe, Meyer und eben F. A. Wolf stammen. In seinem dann doch gelieferten Beitrag schildert Wolf Winckelmann als bloßen Autodidakten, dessen Kenntnisse des Altertums kein Ergebnis seiner universitären Laufbahn – »ein seltsam planloses und zerstücktes Studium« – gewesen sei, sondern vielmehr seiner »Selbstbildung«.189 Aufgrund seiner Tätigkeit als Hofmeister und Schullehrer habe Winckelmann keinen Anteil an den innovativen Entwicklungen der Philologie in England und Holland genommen. Er verblieb in seinem Studium auf den Stand »aus dem 15ten Jahrhundert eingeschränkt«.190 In Deutschland sei die Philologie bis ins frühe 18. Jahrhundert nicht über den Status einer juristisch-theologischen Hilfswissenschaft hinausgekommen oder in die »deutsche Geschmackslehre«, der philosophischen Ästhetik, abgedriftet. Darin ist natürlich eine Selbststilisierung Wolfs zu sehen, der durch die Abwertung insbesondere der Hallenser Philologie und Ästhetik vor Wolf, seine eigene Leistung, die ja überwiegend in die Zeit seiner Lehrtätigkeit in Halle fällt, als Epoche machend präsentiert. Das ›eigentliche Studium des Altertums‹,191 so legt die Schilderung nahe, habe erst mit ihm, Wolf, begonnen. Damit ist Winckelmann zwar einerseits als Kind seiner Zeit entschuldigt, allerdings von einer Position, die ihn in die gleiche Reihe der ›uneigentlichen‹ Vorgänger stellt. Wolfs Beitrag ist nicht die von Goethe gewünschte Würdigung Winckelmanns, sondern vor allem strategische Selbstpositionierung. Winckelmanns Arbeiten seien immer unabgeschlossen gewesen und vorschnell in den Druck gegangen. Was hätte Winckelmann nicht alles leisten können, wenn er eine »mit allen neu erschienenen Forschungen über das literarische Altertum versehenen Bibliothek gehabt hätte.«192 Dann aber holt Wolf zum Rundumschlag aus, indem er Winckelmann bereits das Bemühen um historisch genaue Arbeiten abstreitet und ihn, sein philologisches Ethos beschwörend, zum Dilettanten deklassiert: Denn welche Masse einzelner Data müssen wohl durchforscht beisammen sein, um in diesem Teile von Geschichte etwas Vollendetes hervorzubringen! Allein schwerlich gedachte er selbst ein Werk zu verfassen, dessen Wert in durchgängiger Fehlerlosigkeit aller historischer Angaben bestände, wenn er auch manchmal den Mund etwas

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Goethe, Winkelmann und sein Jahrhundert. In: FA 19, S. 220–232; S. 223. FA 19, S. 225. Vgl. FA 19, S. 225: »Denn in Deutschland gab es eigentlich kein Studium des Altertums.« FA 19, S. 228.

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vollnimmt: […] Allerdings fodern die Gesetze geschichtlicher Untersuchungen, so wie die philologische Kritik, die Basis derselben, eine seltene Mischung von Geistes-Kälte und kleinlicher unruhiger Sorge um hundert an sich geringfügige Dinge, mit einem alles beseelenden, das Einzelne verschlingenden Feuer und einer Gabe der Divination, die dem Ungeweihten ein Ärgernis ist. Unserem W., man muß es gestehen, fehlte jenes gemeinere Talent, oder es kam vielmehr bei dem Mangel vollständiger Vorbereitung zu seiner Kunstgeschichte nicht recht zur Tätigkeit, indem er […] sich in dem Meer von Schönheit verlor, das den verwandten Sinn, ohne irgend einen Blick auf die Geschichte, ganz hinzunehmen vermag. Jetzt fing er an den Gelehrten zu verachten, und sich nicht einmal um die historischen Hülfsmittel zu bekümmern, die das Ausland darbot. Man hat hierin einen undeutschen Stolz erkannt, und ich werde ihn deshalb nicht eben loben. […] Allein dann mißkannte er seinen Beruf, wenn er von Zeit zu Zeit den Vorsatz fasste, an die philologisch-kritische Bearbeitung der Griechen zu gehen.193

Der einzige Wert, den er Winckelmanns Schriften zugesteht, besteht in der kongenialen Auffassung des griechischen Geistes. Darin sei er vielen Philologen überlegen. In der Gegenüberstellung von Geist-Hermeneutik und Buchstaben-Philologie ist abermals eine geschickte Aufwertung des eigenen Ansatzes zu sehen, der, wie oben gesehen, eben in der anvisierten Verbindung von Philologie und Geist im Namen der Bildung besteht. Wolf sieht in einer Denkschrift, wie sie Goethes Projekt darstellt, keinen rechten Nutzen für die Altertumswissenschaft. Allein eine historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Winckelmanns mit berichtigenden »Supplementen« könne den wahren Wert, das Verhältnis von zu lobenden und zu tadelnden Einsichten herausstellen. Winckelmann rückt damit in den Status eines Primärautors auf, der durch die philologische Bearbeitung seiner Werke eigentlich erst zu einem Autor würde. »Indessen wer sollte nicht wünschen, daß den W. Schriften ein Gleiches von Sprachgelehrten und Geschichtforschern widerführe, daß sich sogar mehrere verbänden, jede Abweichung von der strengsten Wahrheit ohne Leidenschaften anzuzeigen, wenn W. bald etwas anderes aus Stellen der Alten entwickelte, als sie enthalten«.194 Es verwundert ein wenig, dass Goethe all dies unwidersprochen hinnimmt, insbesondere, wenn man seine eigene Schilderung Winckelmanns näher betrachtet. Vielleicht mag seine schwere Erkrankung im Frühjahr 1805 ein Grund dafür gewesen sein, die briefliche Auseinandersetzung mit Wolf zu scheuen. In seinem Antwortschreiben vom 2. Mai 1805 deutet Goethe an, dass er kaum die Kraft gehabt habe, seinen eigenen Beitrag zu schreiben.195 In diesem Beitrag aber wird die Differenz zu Wolf deutlich genug, so dass wir um die briefliche Entgegnung nicht traurig sein müssen.

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FA 19, S. 229–231. FA 19, S. 232. Vgl. FA 32, S. 567f.

Goethe weist bereits in seinem Vorwort auf den fragmentarischen Charakter des Kommenden hin. Anders als Wolf, der in dem Projekt nur die Prolegomena zu einer Winckelmann-Ausgabe sehen kann, scheint aber für Goethe der angemessene Zugang zu Winckelmanns Werk gerade in der aphoristischen Charakteristik zu liegen. Er fordert den Leser zu Ergänzung der Skizzen, »zu eigener Herstellung dieses bedeutenden Lebens«196 auf. Die Skizzen und Briefe sollen nur als Anregung, als »Reiz« dienen, um zu eigenen Betrachtungen über Wert und Leistung Winckelmanns zu gelangen. Goethe präsentiert hier eine analoge Überlegung wie in ›Beyläufige Critik‹. Nur »das Anschauen ihres besonderen Ganzen« vermag Einsicht und Erkenntnis des Zusammenhangs ergeben, ja diesen Zusammenhang erst darzustellen. Der Blick ist das erste Medium dieses Zusammenhangs. Dieses Anschauen ist aber nur ein innerer Erkenntnismodus, der, wenn er Wirkung entfalten will, »durch Reflexion und Wort« entäußert werden muss. Eine solche Vor-stellung vermag den »Geist der Betrachtung«197 auch beim Leser anzuregen. Eine derartige Charakteristik gibt ihre Deutungshoheit aus der Hand und lässt sie erst in der Rezeption entstehen. Sie versucht nicht, die Person und ihr Werk zu fixieren, sondern dynamisch und damit lebendig zu halten. Ganz gegen klassizistische Vollkommenheits- und Abgeschlossenheitsformeln wird Winckelmanns Werk selbst dieser Dynamik unterworfen. Auch die drucktechnische Fixierung seiner Werke vermag diese Dynamik nicht zu unterbinden. Als Werke sind sie immer nur vorläufig. »Sie sehen […] nur einer Vorbereitung, nicht einem Werke gleich.« Der eingeforderte Rezeptionsmodus entspricht einer Bewegung der Texte selbst. Der Werkcharakter, die monumentale Erscheinung der Winckelmannschen Schriften wird zum Zufallsprodukt kontingenter Lebensumstände, dass sie »im Druck für die Folgezeit fixiert worden, hing von unendlich mannigfaltigen, kleinen Umständen ab. Nur einen Monat später, so hätten wir ein anderes Werk […] vielleicht etwas ganz anderes.« Und so wechselt die Charakteristik einer Person über in die Verlebendigung des Werkes selbst. »Und so ist alles, was er uns hinterlassen hat, als ein Lebendiges für die Lebendigen, nicht für die im Buchstaben Toten geschrieben. Seine Werke, verbunden mit seinen Briefen, sind eine Lebensdarstellung, sind ein Leben selbst.«198 Was bei Wolf zu einer scharfen Kritik an den Winckelmannschen Schriften geführt hatte, wendet sich bei Goethe zum Kennzeichen ihres Wertes. Eine solche Konzeption stellt einen Ausfall gegen jede pedantische Gelehrsamkeit dar. Die implizite Anspielung auf den toten Buchstaben ist auch hier eine Kritik an einer vornehmlich an Textemendation interessierten Philologie,

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Goethe, Winkelmann und sein Jahrhundert. FA 19, S. 176. Alle FA 19, S. 177. Alle FA 19, S. 200.

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für die aber auch Wolf, wenngleich durch ›Geist‹ angereichert, einsteht.199 In einem Aphorismus aus dem Nachlass greift Goethe die Geist/Buchstabe Unterscheidung ebenfalls auf. Darin wird deutlich, wie belanglos für Goethes Hermeneutik die methodische Textkritik letztlich bleibt: Es ist kein großer Unterschied, ob ich eine correcte Stelle falsch verstehe Oder ob ich einer corrupten irgend einen Sinn unterlege Das letzte ist für den einzelnen vortheilhafter als das erste. Es wird eine Privat Emendation, wodurch er für seinen Geist gewinnt, was jene für den Buchstaben gewonnen.200

Goethes Kritik steht für ein gänzlich anderes kulturpolitisches Programm, das Produktion gegen tote Archivierung, Fraktur gegen formale Abgeschlossenheit, hermeneutische Toleranz gegen philologische Bevormundung setzt. Traurig ist es, wenn man das Vorhandne als fertig und abgeschlossen ansehen muß. Rüstkammern, Galerien und Museen, zu denen nichts hinzugefügt wird, haben etwas Grab- und Gespensterartiges; man beschränkt seinen Sinn in einem so beschränkten Kunstkreis, man gewöhnt sich solche Sammlungen als ein Ganzes anzusehen, anstatt, daß man durch immer neuen Zuwachs erinnert werden sollte, daß in der Kunst, wie im Leben, kein Abgeschlossenes beharre, sondern ein Unendliches in Bewegung sei.201

Das scheint mir für eine anti-romantische Kampfschrift als die die Forschung das ›Winkelmann‹-Buch oft gelesen hat, eine erstaunliche Aussage.202 Erstaunt könnten aber auch jene Leser und Leserinnen sein, die versuchen, Goethe einen Historismus avant la lettre zu bescheinigen und ihn in symbiotische Nähe zu Wolf zu rücken suchen. Ein Blick auf die zurückliegenden Untersuchungen dieses Kapitels zeigt einen weiten Prospekt von Problemen, die das Verhältnis von Philologie und Dichtung in der Goethe-Zeit prägen: Mündlichkeit – Schriftlichkeit, Geist – Buchstabe, Poesie – Prosa, Epos – Roman, Einheit – Fragment, Dichtung – Wissenschaft, Tradition – Historie, Bildung – Ausbildung, Autorschaft. Deutlich sollte werden, wie sehr philologischer und poetischer Diskurs in Beziehung stehen. Auch wenn die Autoren eine oppositionelle Stellung gegenüber einer wissenschaftlichen Philologie beziehen, so bleiben sie keineswegs davon unberührt. Es zeigt sich eine tiefgehende Auseinandersetzung um den Umgang mit dem diagnostizierten Epochenbruch und der in Frage gestellten Tradition und damit auch die Frage nach der funktionellen Bestimmung der gesellschaftlichen Teilsys-

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Goethe geht es also nicht darum, philologisches Leseverhalten zu adressieren (so Martus, Werkpolitik, S. 444), sondern eine andere ›Leseethik‹ als die der Philologie einzufordern. Diese Ethik ist der von F. Schlegel durchaus sehr ähnlich. FA 13, S. 69. FA 19, S. 198. Vgl. dagegen den Kommentar von Friedmar Apel, FA 19, S. 762ff.

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teme, deren Möglichkeit zur Ausdifferenzierung an diese funktionelle Leistung gebunden ist. Jede Systembildung arbeitet stets mit Abgrenzungen von anderen. Im Falle der Literatur funktioniert diese Abgrenzung auch über Inklusionsbewegungen: Indem ein zugleich von gesellschaftlichem Integrations- und Autonomieanspruch formuliert wird, ergibt sich die Notwendigkeit, Schließung und Öffnung des Systems nicht in einen Widerspruch treten zu lassen. Die hier vertretene These ist, dass dies wesentlich durch eine Figur geleistet wird: der philologischen Autorschaft in weitestem Sinne. Herausgeber, Sammler, Editoren, Archivare, sie sorgen einerseits für die oft bemerkten selbstreflexiven Erzählfiguren, andererseits sprengen sie immer wieder die vermeintlich formale Geschlossenheit der Werke. Diese Figuren haben dann eine doppelte Funktion an der Grenze zum literarischen Text: Sie schließen einerseits die Literatur von Inklusions- und Nivellierungsbestrebungen anderer (Funktions-)Systeme ab (insbesondere der entstehenden Philologie und Geschichtswissenschaft als den vermeintlichen neuen Verwaltern des kulturellen Erbes), andererseits aber ermöglichen sie den Import kontextueller Elemente ins System Literatur.

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V. Philologie und Roman

Das besondere Interesse wird daher im Folgeden der Erzählprosa gelten. Dort versammeln sich die unterschiedlichsten philologischen Figuren, ihre Institutionen und Medien: Erzähler, Sammler, Herausgeber, Redaktoren, Kritiker – Sammlungen, Ausgaben, Manuskripte, Kommentare, Bibliotheken und Archive. Zu einem zentralen Punkt innerhalb der Historismus-Diskussion zu Goethe ist immer wieder sein Sammlungsverständnis geworden, das angeblich in seiner weit ausgreifenden Tätigkeit historistische Objektfaszination zeige. Für die frühneuzeitlichen Wunderkammern hat die französische Kunstsoziologin Patricia Falguières die historisch sicherlich gewagte These aufgestellt, diese hätten sich als verräumlichte Form der Sammlungstopik explizit aus einer literarischen Tradition heraus entwickelt, da diese nicht mehr in der Lage zur Darstellung der extensiven Ausweitung von Wissensbeständen und der Differenzierung ihrer Systematik innerhalb einer kohärenten Form gewesen sei. In dieser Perspektive wird die Sammlung der Kunst- und Wunderkammer zu einem, wenn auch langen, Kapitel der Geschichte der Literatur.1 Wolfgang Braungart hat darüber hinaus nachgewiesen, dass die frühneuzeitliche Sammlungspraxis eng mit der poetologischen Auseinandersetzung und Entwicklung einer literarischen Gattung, der Utopie, verbunden war.2 In beiden Fällen wird die Verschaltung von epistemologischen, politischen und poetologischen Fragen deutlich. Dieser Konnex geht auch im 19. Jahrhundert nicht verloren. Die Literatur, insbesondere der Roman, inszeniert nun vielfach Sammlungen und Sammler. Sammlungspraxis, Sammeltexte und Erzählsammlungen treten in eine spannungsreiche Beziehung. Man könnte die These Falguières für die Goethe-Zeit vielleicht umdrehen. Die Literatur entwickelt nun Darstellungsformen, die der Multiplizierung der Wissensbestände wieder gerecht zu werden versuchen. Dies freilich nicht mehr als Versuch vereinheitlichender Integration durch Formen, die traditionell zur Herstellung synthetischer Einheit zur Verfügung standen, sondern in der Entwicklung einer Poetologie, die in der Lage ist, die Polymathie unter Beihaltung ihrer Diversifizität, wenn auch nicht als äußere Systematik, so doch als inneren Zusammenhang zu

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Vgl. Patricia Falguières, Les chambres des merveilles, Paris 2003. Wolfgang Braungart, Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklärung, Stuttgart 1989.

repräsentieren. Die Literatur um 1800, und hier besteht in der Tat eine gewisse Analogie etwa zum Barock, arbeitet sich am Problem der Bedingungen der Möglichkeit von epistemologischer, sozialer, politischer und ästhetischer Einheit in vielfacher Weise ab.3 Ein Problem, das von jeher mit dem Sammeln verknüpft war und ist. Die Philologie nach Eichhorn und Wolf hatte dieses Problem für die literarische Tradition verschärft. Thomas Steinfeld hat Recht: »Den Philologen und den Sammler trennt eine vielleicht unzählige Male durchbrochene, aber doch scharfe Linie. Es ist, mehr noch als Linie zwischen dem Eigentum und dem Entliehenen, die Linie der Kritik.«4 Der Sammler ist immer bestrebt, seine Sammlung zu komplettieren. Wenn das Ziel dem Sammler auch immer unerreichbar bleiben muss – sonst hörte er auf Sammler zu sein – so ist es doch die Vollständigkeit, die Einheit seiner Sammlung, nach der er strebt. Die Philologie der Goethe-Zeit ist natürlich auch geprägt von der Sammelleidenschaft von Manuskripten. Die philologische Methode hingegen stellt die Einheitlichkeit der Texte zunächst immer in Frage, sie nennt sich daher kritisch. Die philologische Diskussion wird Goethe zum Anlass einer grundlegenden Reflexion auf das Einheitsproblem in seinem Erzählwerk, das in besonderer Weise sowohl Sammler, Sammeltexte und Erzählsammlungen und ihre Organisatoren versammelt. Hier zeigt sich am deutlichsten, wie einflussreich die philologische Diskussion für die poetologische Konzeption vor allem für das Spätwerk geworden ist. Mit dem Themenkomlex aber ist mehr angesprochen als die Beschreibung von Erzählformen oder die Auseinandersetzung um bestimmte kanonisierte Texte der Tradition. Die philologische Diskussion über die Einheitlichkeit der überlieferten Traditionen wird von Goethe mit der Diagnose fraglich gewordener Einheitskonzepte des sozialen, des politischen und des kulturellen Raumes verbunden. Seine Auseinandersetzung mit Wolf zeugt von dem Bemühen, die Rolle der Dichtung im diagnostizierten Epochenbruch neu auszuhandeln. Erkannte auch Arnim den zunehmenden funktionalen Konflikt zwischen Poesie und Philologie, so führt diese Einsicht bei Goethe aber weder zu einer einzig pessimistischkulturkritischen Bewertung der Lage der Dichtung (Grimm) noch zu einem theologisch-teleologisch überhöhten Konzept poetischen Messianismus (Arnim) 3

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Zur philosophischen Verhandlung des Problems siehe die sehr schöne Studie von Karen Gloy, Einheit und Mannigfaltigkeit. Eine Strukturanalyse des ›und‹. Eine systematische Untersuchung zum Einheits- und Mannigfaltigkeitsbegriff bei Platon, Fichte, Hegel sowie in der Moderne, Berlin – New York 1981. Eine etwas breitere Perspektive bietet der Sammelband: Karen Gloy/Enno Rudolph (Hg.), Einheit als Grundfrage der Philosophie, Darmstadt 1985. Beide Schriften aber zeigen zugleich, dass die Problematik nicht allein als Modernisierungsphänomen gelesen werden kann, schon gar nicht als neuzeitliches. Wie in Kapitel I für die Philologie der Antike gesagt wurde, wäre vielleicht eher von einem Phänomen krisenhafter Selbstbeschreibung zu sprechen. Steinfeld, Philologie als Lebensform, S. 73.

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und schon gar nicht zum Versuch, die Differenzierungsleistung innerhalb der Philologie abzuwerten und ihr kulturpolitisch entgegenzuwirken. Im Gegenteil, Goethe nimmt die Philologie in Haftung, um die Dichtung noch einmal zum Medium umfassender gesellschaftlicher Selbstbeobachtung zu machen, und sie zugleich in eine Form zu überführen, die mit der inhaltlichen Beschreibung dieser Beobachtung konvergiert. Es wird also zu überlegen sein, ob, analog zur großen Bedeutung des Sammelns als sozialer Praxis,5 auch bestimmte Formen textueller Sammlung mit bestimmten Sozial- und Verstehensmodellen in Verbindung zu bringen sind. Versammelt die Erzählung oder wird die Erzählung zur Bewahrung eingesammelt? Mit Blick auf die oben geführte Diskussion zur Analogisierung von mündlicher und schriftlicher Überlieferung mit bestimmten gesellschaftlichen Zuständen, dürfte kaum überraschen, dass in der GoetheZeit der Frage der medialen Repräsentation von Erzählen eine eminente Rolle für die Reflexion ihrer sozialen Funktion zukommt.6

11. Erzählte Sammlung – ›Der Sammler und die Seinigen‹ Goethes Sammelpraxis ist ganz geprägt durch das Medium der Mündlichkeit. Immer wieder finden sich in den überlieferten Gesprächen mit Goethe Szenen, in denen er anhand der Betrachtung von Münzen und Medaillen, Stichen und Gemmen kunsttheoretische Probleme bespricht.7 Gespräche, in denen sich der Eindruck didaktischen Eifers nicht ganz abwehren lässt. Goethes Sammelpraxis steht dabei in einer Hinsicht noch ganz in der Kunstkammertradition des 17. Jahrhunderts. Das Konzept der Kunstkammer erschöpft sich keineswegs nur in ihrer Speicherfunktion und den damit verbundenen Systematisierungsbemühungen. Sie ist zugleich Schauraum, in dem die Sammlung in ihrer Ordnung vor die Augen tritt, und Bühne, durch deren Spiel sich diese Ordnung dem Besucher, der daran Teil hat, erschließt. Die performative Bewegung als

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Vgl. Robert Felfe, Einleitung. In: ders./Angelika Lozar (Hg.), Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur, Berlin 2006, S. 8–28, S. 14ff. Zum Prozess der Verschriftlichung des Erzählens als Ergebnis einer Differenzierung medialer Geltungsansprüche der Poesie und der Stellung des Romans in diesem Prozess siehe: Robert Vellusig, Verschriftlichung des Erzählens. Medienprobleme des Romans im 17. und 18. Jahrhundert. In: IASL 30 (2005), S. 55–99. Vgl. z.B. das Gespräch mit v. Müller, Meyer, Riemer und Christoph Friedrich Ludwig Schultz vom 23. September 1823 In: WA V.4, S. 280f. Vgl. auch das Gespräch mit Eckermann vom 24. Februar 1824, in: FA Bd. 39: Gespräche mit Eckermann. Hg. von Christoph Michel, Frankfurt/M. 1999, S. 88f. Vgl. zu Goethes Sammelpraxis ausführlicher Vf., Abgelegt und Aufgeführt. Von Gemmen, Statuen und Medaillen oder der Transformation der Antike bei Goethe. In: Felfe/Lozar (Hg.), Sammlungspraxis, S. 247–269, auf dem dieses Kapitel aufbaut.

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Oszillieren zwischen Ablegen und Aufführen, Ver- und Enthüllen8 findet sich bei Goethe als Grundfigur wieder: Einerseits das geordnete und systematische Ablegen der Sammlungsobjekte, andererseits das Vorführen ausgewählter Stücke zur Betrachtung. Zum Ablegen: Goethe war seit seiner Tätigkeit als Minister geradezu obsessiv damit beschäftigt zu ordnen. Ernst Robert Curtius ist unumschränkt zuzustimmen: »Sammeln und Ordnen des Gesammelten war ein Grundzug von Goethes Wesen«.9 Die Ordnungsbemühungen erstrecken sich neben seinen schriftlichen Dokumenten auch und insbesondere auf seine verschiedenen Objektsammlungen. Nicht nur müssen neu eingetroffene Stücke in die bestehende Systematik eingeordnet werden, manchmal wird diese Systematik selbst wieder verändert und die Sammlung neu arrangiert, je nach Erkenntnisinteresse.10 Die Ordnungsbestrebungen sind für Goethe dabei zentraler Teil seiner Sammlungspraxis, die er gelegentlich auch anderen anempfiehlt. So ergeht im Spätsommer 1823 an J. Grüner der dringende »Wunsch, er möge einige Schränke anschaffen und am System zu ordnen anfangen, wozu schon das schönste Material vorhanden ist«.11 Grüner scheint diesem Rat aber nicht nachgekommen zu sein, so dass Goethe selbst zur Tat schreitet:

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Die für Gemäldesammlungen im 17. und 18. Jahrhundert durchaus gängige Praxis, Bilder mit einem Vorhang zu verhüllen, überträgt Goethe gewissermaßen auf seine Münz- und Gemmensammlung, wie der Bericht des Kanzlers Müller vom Neujahrstag 1832 zeigt: »Sodann zeigte er uns die schöne Münze Alexanders von Medici; auch einen herrlichen bronzenen Kopf aus jener Zeit, einen Amor vorstellend, zwischen zwei Arabesken. Man trug dergleichen Knöpfe am Hut. Die Mahagoni-Schatull, worin diese Antiquitäten und viele andere Münzen verwahrt sind, stand offen, als wir eintraten; er schloß sie sogleich, mit sichtbarer Freude, etwas vor uns zu verbergen, und holte er später mit Feierlichkeit jene Seltenheiten heraus.« Goethe, Gespräche. In: FA Bd. 38: Vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum Tode. Hg. von Horst Fleig, Frankfurt/M. 1993, S. 501. Ernst Robert Curtius, Goethes Aktenführung. In: Neue Rundschau 62 (1951), S. 110–121, S. 111. Dazu nur eine kleine Auswahl an Daten aus den Tagebüchern der Weimarer Ausgabe: 4.–6. Januar 1812 Ordnen der Schwefelgüsse; 18. Juli 1818 Ordnen des Kunstkabinetts (des Herzogs); 20.–22. Januar 1822 Edelsteine und Kupferstiche geordnet; 4.–10. März 1826 Ordnen von Kupferstichen und Zeichnungen, Sohn ordnet das Münzkabinett; 9. März 1830 Ordnen der Kupferstiche; 17. Juli 1831 Münzschränke und kleine Bronzestatuen geordnet; 3. August 1831 Ordnen der Kupferstiche. Siehe dazu auch Christian Schuchardt, Goethes Kunstsammlungen. 3 Bde, Jena 1848–1849. Das Umordnen konnte ihm gar zum »Opium für die jetzige Zeit« (WA V.3, S. 109) werden, so Goethe gegenüber Louise Seidler Ende November 1813. Eine Formulierung, die sehr prägnant einerseits das Zwanghafte andererseits das Berauschende dieses Aktes für Goethe deutlich macht. WA III.9, S. 112.

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Als ich heute von meinen Berufsgeschäften nach Hause kam, fand ich Goethe in meinem Bilderzimmer. Nach kurzem Gespräche wurde mein Arbeitszimmer geöffnet, und Goethe zeigte auf einen mit vierzehn Schubkästen versehenen Schrank, den er zu meiner Überraschung verfertigen und während meiner Abwesenheit, weil er meine Amtsstunden kannte, hatte aufstellen lassen.12

Seine eigene Kupferstichsammlung ordnet Goethe nach nationalen Schulen und innerhalb dieser chronologisch und nach individuellen Künstlern.13 Der Akt des Ablegens und Einordnens ist dabei immer wieder verbunden mit der Aufführung einzelner Stücke, die Anlass geben, deren Charakteristik und geschichtliche Bedeutung zu erörtern. Will man diesen Akten des Vorlegens mehr als einen anekdotischen Charakter abgewinnen und sie als zentralen Bestandteil nicht nur der Sammlungspraxis auffassen, so verweisen sie auf ein Grundprinzip der Goetheschen Kunst- und Geschichtsvermittlung. Nach Erika Fischer-Lichte ist Performativität gebunden: 1. an Präsenz als »spezifische Ausstrahlung eines Darstellers, die er durch seine bloße physische Gegenwart im Raum vermittelt, [...] eine Art Energietransfer vom Darsteller auf den Zuschauer«;14 2. an Atmosphäre, sie »bringt [...] eine besondere Räumlichkeit hervor, welche Bühne und Zuschauerraum, Akteure und Zuschauer umgreift und in diesem Sinne vereint«;15 3. an die Aufführung, die sich ereignet, »wenn sich zwei Gruppen von Personen, Akteure und Zuschauer […] für eine bestimmte Zeitspanne am selben Ort versammeln und dort gemeinsam etwas tun. Die Aufführung entsteht aus ihrem Zusammentreffen. D.h. in einer Aufführung laufen Produktion und Rezeption nicht nur gleichzeitig ab, sondern bedingen auch einander, wirken aufeinander ein.«16 Für eine textorientiert verfahrende Literaturwissenschaft sind diese Kategorien nicht unproblematisch, denn nur allzu selten lassen sie sich medial aufzeichnen oder sind schlicht nicht Gegenstand der Überlieferung geworden. Eine große Ausnahme dürfte hier wohl der Fall Goethe darstellen. Von kaum einem anderen Autor gibt es mehr aufgezeichnete Gespräche, Anekdoten, Erinnerungen, Briefe, Tagebücher etc., die gut editiert vorliegen.

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Woldemar u. Flodoard Biedermann, Goethes Gespräche. 2. stark vermehrte Ausgabe. Bd. II, Leipzig 1909, S. 597. Das Zitat Grüners ist hier auf den 12. August datiert. Der Tagebucheintrag Goethes hingegen datiert vom 9. September. Die umfassendste Studie zu Goethe als Sammler von Druckgraphiken und Zeichnungen hat jüngst Johannes Grave (Der ›ideale Kunstkörper‹. Johann Wolfgang Goethe als Sammler von Druckgraphiken und Zeichnungen, Göttingen 2006) vorgelegt. Dort auch eine detaillierte Beschreibung der unterschiedlichen Sammlungen und deren Anordnungen. Erika Fischer-Lichte, Theater als Modell für eine Ästhetik des Performativen. In: Jens Kertscher/Dieter Mersch (Hg.), Performativität und Praxis, München 2003, S. 97–112; S. 99. Ebd., S. 102. Ebd., S. 103.

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Selbst, wenn ein guter Teil dieser Schilderungen Stilisierungen sein dürften, so wird aus diesen Dokumenten erkennbar, dass Sammeln und die theatrale Inszenierung der Sammlung bei Goethe aufeinander verweisende Formen der Überlieferung als Transformation des kulturellen Erbes darstellen: Er war vom Hofe gekommen, alle seine Hausgenossen waren spazierengefahren, da schickte er zu mir [J. H. Voß der Jüngere, mb] mit den Worten, ich solle ihm Gesellschaft leisten. Als ich zu ihm ins Zimmer trat, fand ich ihn, schon wieder in seinem blauen, heimischen Überrock, seine Medaillen und Münzen durchmusternd; […] ›Sie sollen meine Münzen sehn‹, sagte er. Dies hatte er mir schon lange versprochen. Er besitzt eine herrliche Sammlung, die er als Künstler und kritischer Kenner zu ehren weiß. Diese zeigte er mir stückweise mit vollständigen Erläuterungen, die ihn aber oft auf die lieblichsten Allotria führten. […] Es ist unbeschreiblich, wie diese großen Gegenstände auf seine große Seele wirken und was während der Stunde, wo er darüber sprach, in seinem Innern vorging und durch Worte, Mienen, Bewegungen und noch sonst so viel Bedeutsames sich kundtat.17

Die Sammlung selbst besitzt keinen gehobenen Eigenwert, Goethe besitzt kaum Originale. Sie erhält besonders dann ihren Wert, »wenn man sie von ihm beschreiben und dem Gehalt und Inhalt nach entwickeln hört.«18 Die Sammlungsgegenstände erfahren ihre semiotische Aufladung durch ihren Darsteller und Entwickler Goethe in den Repräsentationsräumen des Hauses als Bühnenraum in den Stunden der Aufführung.19 Damit werden die Darstellungsobjekte dem historischen Kontext entrissen, werden präsent und ganz in den gegenwärtigen Augenblick gestellt, in dem sie erst Bedeutung im Interaktionsspiel der Beteiligten erlangen.20 Für solche Momente ist aber eines unabdingbar: »die Gegenwart bedeutender Kunstwerke«,21 wie Goethe in der Einleitung zum ›Winkelmann‹-Buch schreibt. Der Besitz, das beständige Zurückgreifenkönnen auf das anschaubare 17 18 19

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Anita und Walter Dietze (Hg.), Treffliche Wirkungen. Anekdoten von und über Goethe. Bd. 1, München 1987, S. 308f. So aus J. H. Voß’ fast gleichlautendem Bericht in der Weimarer Ausgabe. Vgl. WA V.1, S. 279. Im Historischen Teil der ›Farbenlehre‹ heißt es: »Denn es ist am Ende doch nur immer das Individuum, das einer breiteren Natur und breiteren Überlieferung, Brust und Stirn bieten soll. […] denn was in und von ganzen Massen geschieht, bezieht sich doch zuletzt nur auf ein tüchtiges Individuum, das alles sammeln, sondern, redigieren und vereinigen soll.« FA Bd. 23.1: Zur Farbenlehre. Hg. von Manfred Wenzel, Frankfurt/M. 1991, S. 615. Vgl. Susanne Scholz, Objekte und Erzählungen. Subjektivität und kultureller Dinggebrauch im England des 18. Jahrhunderts, Königstein/Taunus 2004, S. 132: »Indem die Sammlung Geschichte durch Klassifikation ersetzt, schafft sie für das Auge des Sammlers einen Raum der Simultaneität, in dem die Dinge, durch seinen Blick und auf diesen hin in eine bestimmte Konfiguration gebracht werden, zum Teil seines persönlichen Narrativs werden. Die individuelle Historizität der Münze wird der historischen Erzählung, in deren Zentrum der Sammler steht, untergeordnet.« Goethe, Winkelmann und sein Jahrhundert. In: FA 19, S. 9–244; S. 177.

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Objekt ist Goethe unverzichtbar: »›Mir ist der Besitz nötig‹«, äußerte er [gegenüber Kanzler v. Müller am 23. Oktober 1812, mb], »um den richtigen Begriff der Objekte zu bekommen. Frei von den Täuschungen, die die Begierde nach einem Gegenstand unterhält, läßt erst der Besitz mich ruhig und unbefangen urteilen. Und so liebe ich den Besitz, nicht der beseßnen Sache, sondern meiner Bildung wegen, und weil er mich ruhiger [und dadurch glücklicher macht]. Auch die Fehler einer Sache lehrt mich erst der Besitz, und wenn ich z.B. einen schlechten Abdruck für einen guten kaufe, so gewinne ich unendlich an Einsicht und Erfahrung.«22 Zu den Akteuren dieser sozialen Spiele gehören die betrachteten Objekte, sie sind keinesfalls nur Requisite, sondern stehen im Zentrum des Goetheschen Projektes einer transformatorischen Aneignung und Anbildung der Antike. Obwohl Goethe jährlich gut hundert Dukaten für die Ausweitung seiner Sammlung aufwendete,23 stellte seine Ästhetik der Präsenz den Sammler vor nicht leicht zu überwindende Schwierigkeiten, insbesondere auf dem Gebiet der antiken bildenden Kunst. Es war die Erfahrung der unmittelbaren Gegenwart antiker Kunstwerke, die ihm Rom als einzigen Ort hatten erscheinen lassen, an dem die Antike als Epoche eines natürlichen Weltverhältnisses von Mensch und Natur selbst als allgegenwärtiges Ideal in ästhetischer Erfahrung zu greifen war.24 Goethe, dessen Antikenerfahrung insbesondere im Rom des ausgehenden 18. Jahrhun-

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FA Bd. 34: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Napoleonsche Zeit. Hg. von Rose Unterberger, Frankfurt/M. 1994, S. 106f. Die Passage in […] nach WA V.3, S. 44f. Sie fehlt in der FA. Grave (Der ›ideale Kunstkörper‹, S. 355]) erkennt bei Goethe ab 1809 die Hoffnung, »kunstgeschichtliche Entwicklungslinien ohne allzu viele Lücken« am eigenen Bestand nachvollziehen zu können. So sagt Goethe zu Kanzler Müller am 19. November 1830. Vgl. FA Bd. 38: Briefe, Tagebücher und Gespräche: Die letzten Jahre. Hg. von Horst Fleig, Frankfurt/M. 1993, S. 335. Vgl. auch Margarete Oppel, Kunst-Ideal und Sammlungstätigkeit. In: Sabine Schulz (Hg.), Goethe und die Kunst, Opladen 1996, S. 60–61; S. 61. Dabei darf man nicht der naiven Vorstellung verfallen, Rom am Ende des 18. Jahrhunderts hätte noch einem ursprünglich antiken Zustand geglichen. Bereits seit der italienischen Renaissance und ihrem gesteigertem Interesse an der Antike wurden systematisch antike Kunstschätze wieder in Rom versammelt, die ohne Rücksicht auf restauratorische Gesichtspunkte auf dem Kunstmarkt europaweit gehandelt wurden. Es entstand sogar der Plan, Rom zu einem Weltgelehrtenzentrum auszubauen und Antikensammlungen anzulegen, die das antike Rom stellvertretend repräsentieren sollten. Vgl. Christina Riebesell, Die Sammlung des Kardinal Alessandro Farnese (1520–1589) als Stellvertreterin für das antike Rom. In: Andreas Grote (Hg.), Macrocosmos in microcosmo: die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450–1800, Opladen 1994, S. 397–416. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Romreisenden des 18. Jahrhunderts eine bereits musealisierte Stadt besuchten. Winckelmanns Arbeit als Antiquar in der Villa Albani, die schon vor Baubeginn als Gebäude für die Antikensammlung des Kardinals Alessandro Albani geplant war, unterstreicht einmal mehr, dass von »ursprünglicher« Antike hier nicht die Rede sein kann.

derts eine Erfahrung antiker Wiedererfindung durch die Renaissance war, knüpft an den von Bredekamp pointiert formulierten Renaissance-Gedanken an, »daß Kunstwerke und vorzugsweise Antiken zwischen Natur und Mensch zu vermitteln vermögen.«25 Die entscheidende Wendung aber dürfte in der semantischen Umakzentuierung des Vermittlungsbegriffes liegen. 1797 noch hält Goethe in seinem kleinen Aufsatz ›Über die Gegenstände der bildenden Kunst‹ am Konzept einer sich in der Begegnung mit dem Material des Kunstwerkes einstellenden, unmittelbaren aisthetischen Erfahrung fest, wenn er schreibt: »Die vorteilhaftesten Gegenstände sind die, welche sich durch ihr sinnliches Dasein selbst bestimmen.«26 Im Bericht über den zweiten römischen Aufenthalt vom April 1788, begonnen 1817, aber erst 1829 beendet, wird nun ästhetische Erfahrung als Vergegenwärtigung des griechischen Ideals an Versuche der historischen Einordnung gebunden. So ist auch die Renaissancerezeption Goethes als erster Schritt einer Historisierung der Antike zu werten, die von der Idee einer unmittelbaren Gegenwärtigkeit vorsichtig Abstand nimmt.27 Schon in der ›Italienischen Reise‹ macht sich angesichts weitgehend zerstörter antiker Bauwerke, etwa des Tempels von Paestum, den Goethe am 23. März 1787 besucht, die Enttäuschung breit, dass der unmittelbare Eintritt in die Welt der Antike auch angesichts der Originalrelikte kaum mehr möglich ist: »Doch nahm ich mich bald zusammen, erinnerte mich der Kunstgeschichte, gedachte der Zeit deren Geist solche Bauart gemäß fand, vergegenwärtigte mir den Styl der Plastik und in weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet.«28 Erst durch die kunsthistorische Erörterung im Angesicht des Objekts kann die verlustig gegangene ästhetische Erfahrung sublimiert werden. Kunsterfahrung wird so rückgebunden an einen Interaktionsprozess von Gespräch und Erläuterung, Gegenwart des Objekts und ästhetischer Wahrnehmungshaltung. In Italien aber vermag der aufmerkende und geschulte Blick noch die kunsthistorische Erörterung überflüssig zu machen: Wenn man, wie in Rom der Fall ist, sich immerfort in Gegenwart plastischer Kunstwerke der Alten befindet, so fühlt man sich, wie in Gegenwart der Natur, vor einem Unendlichen, Unerforschlichen. Der Eindruck des Erhabenen, des Schönen, so wohltätig er auch sein mag, beunruhigt uns, wir wünschen unsre Gefühle, unsre Anschau-

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Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993, S. 19. Goethe, Über die Gegenstände der bildenden Kunst. In: FA 18, S. 441–444; S. 441. Daher auch Goethes Abneigung gegen das allegorische Kunstwerk, »das seinen Augen das, was wirklich dargestellt ist« entzieht und »das Interesse an der Darstellung selbst zerstören« kann. FA 18, S. 443. Ausführlich nachgezeichnet in Angelika Jacobs, Goethe und die Renaissance. Studien zum Konnex von historischem Bewußtsein und ästhetischer Identitätskonstruktion, München 1997. FA Bd. 15.1: Italienische Reise. Hg. von Christoph Michel und Hans-Georg Dewitz, Frankfurt/M. 1993, S. 237.

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ung in Worte zu fassen: dazu müßten wir aber erst erkennen, einsehen, begreifen; wir fangen an zu sondern, zu unterscheiden, zu ordnen, und auch dieses finden wir, wo nicht unmöglich doch höchst schwierig, und so kehren wir endlich zu einer schauenden und genießenden Bewunderung zurück. Überhaupt aber ist dieß die entschiedenste Wirkung aller Kunstwerke, daß sie uns in den Zustand der Zeit und der Individuen versetzen, die sie hervorbrachten. Umgeben von antiken Statuen empfindet man sich in einem bewegten Naturleben, man wird die Mannichfaltigkeit der Menschengestaltung gewahr und durchaus auf den Menschen in seinem reinsten Zustande zurückgeführt, wodurch denn der Beschauer selbst lebendig und rein menschlich wird.29

In dieser Passage aus der ›Italienischen Reise‹ findet sich Goethes Sammelprogramm in nuce.30 Nicht des historischen Dokumentationswertes, nicht des finanziellen Tauschwertes wegen sind die Objekte es Wert gesammelt zu werden. In der Auseinandersetzung mit ihnen ist die ganzheitliche Bildung des Menschen möglich. Zurück in Weimar, entfernt vom für Goethe so wichtigen milden italienischen Sonnenlicht, wird er mit zunehmenden Alter auf die oft von Meyer bereitgestellte, kunsthistorische Krücke zurückgreifen, derer er sich auch in Italien schon aushilfsweise bedient hatte. Lässt Goethe später auch vom griechischen Ideal als einem erreichbaren Bildungsziel mehr und mehr ab, so doch nie von der Auffassung, dass in der ästhetischen Erfahrung der Mensch sich der Potentialitäten seines Selbstseins bewusst wird.31 In den Sprüchen, die später zu den ›Maximen und Reflexionen‹ werden, schreibt er: »Denn wenn wir uns dem Altertum gegenüber stellen und es ernstlich mit der Absicht anschauen, uns daran zu bilden, so gewinnen wir die Empfindung, als ob wir eigentlich erst Menschen würden.«32 Vergangenheit kann daher für ihn nie abgelegte, rubriziert-antiquarische Historie sein, sondern bedarf der beständigen Reinszenierung, der Überführung

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FA 15.1, S. 585f. Prägnant auch ein Brief W. v. Humboldts an Goethe aus Rom von 1804: »Rom ist der Ort, an dem sich für unsere Ansicht das ganze Alterthum in Eins zusammenzieht, und was wir also bei den alten Dichtern, bei den alten Staatsverfassungen empfinden, glauben wir in Rom mehr noch als zu empfinden, selbst anzuschauen.« Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden, Bd. 5: Kleine Schriften. Autobiographisches, Dichtungen, Briefe. Hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 1981, S. 216. Die Einschränkung »für unsere Ansicht« weist auch bei Humboldt darauf hin, dass hier an eine Antikenerfahrung vom Standpunkt der Moderne gedacht ist. Emphatisch heißt es auch in der ›Winkelmann‹-Schrift: »Ist es [das Kunstwerk, mb] einmal hervorgebracht, steht es in seiner idealen Wirklichkeit vor der Welt, so bringt es eine dauernde Wirkung, es bringt die höchste hervor: denn indem es aus den gesamten Kräften sich geistig entwickelt, so nimmt es alles herrliche, verehrungs- und liebenswürdige in sich auf und erhebt, indem es die menschliche Gestalt beseelt, den Menschen über sich selbst, schließt seinen Lebens- und Tatenkreis ab und vergöttert ihn für die Gegenwart, in der das Vergangene und Künftige begriffen ist.« FA 19, S. 184. FA 13, S. 158.

in gegenwärtige Kontexte, wenn sie vom Bildungsobjekt zum bildenden Subjekt werden will. Goethe fordert von den Altertumsstudien, »daß diese zu einer höheren Cultur so nöthigen Studien niemals rückgängig werden.«33 Historischphilologische Studien bleiben notwendig, doch nicht um ihrer selbst willen. Die Sammlungsobjekte, schreibt Krzysztof Pomian, »sind Vermittler zwischen dem Betrachter, der sie sieht, und dem Unsichtbaren, aus dem sie kommen.«34 Es ist dieser aufmerksame Blick, der die Vermittlung von Antike und Gegenwart erst möglich macht. Der taktile Goethe hätte dem wohl hinzugesetzt, dass vom Anblicken allein die Geliebte zur Braut noch nicht wird. Sein in Italien entwickeltes Sehprogramm entwirft eine Wahrnehmungstheorie, in der sich »das betrachtende Subjekt seiner eigenen Bildsamkeit versichert.«35 Bildsamkeit steht aber hier in einem doppelten Sinne: als Fähigkeit, der Wirklichkeit durch produktiven Blick eine je individuelle Bildlichkeit der Welt gegenüberzustellen und sich so erst in Anbetracht von Kunstobjekten, zu der er die italienische Landschaft mehr und mehr hinzuzählt, als lebenslang zu bildendes Subjekt zu erweisen. Dieses Bildungsideal muss tatsächlich ein solches bleiben. Das Ineinanderübertreten der Sinnhorizonte von Antike und Gegenwart vermag allenfalls momentan in der produktiven Auseinandersetzung mit den Kunstwerken gelingen, ein Augenblick, der als solcher nur immer wieder neu hervorgebracht werden kann, und sogleich wieder entschwindet, in dem aber die Last der Tradition bildungsbürgerlichen Wissens, wenngleich nötige Voraussetzung, ausgeblendet bleibt: Der für dichterische und bildnerische Schöpfungen empfängliche Geist fühlt sich, dem Alterthum gegenüber, in den anmuthigstideellen Naturzustand versetzt; und noch auf den heutigen Tag haben die Homerischen Gesänge die Kraft uns wenigstens für Augenblicke von der furchtbaren Last zu befreien, welche die Ueberlieferung von mehrern tausend Jahren auf uns gewälzt hat.36

»Theorie ist nie meine Sache gewesen«,37 auch der Satz könnte von Goethe gesprochen sein, findet sich jedoch in der novellistisch-biographischen Erzählung ›Der Sammler und die Seinigen‹, die Goethes performatives Sammlungskonzept textuell entfaltet und 1799 in den von Goethe herausgegebenen ›Propyläen‹ erscheint.38 Unter den Titel des diktierten Manuskriptes setzte Goethe

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FA 13, S. 158. Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1998, S. 40. Friedmar Apel, Aufmerksamkeit ist Leben. Goethes ›Italienische Reise‹ als Sehprojekt. In: Sabine Kyora/Axel Dunker/Dirk Sangmeister (Hg.), Literatur ohne Kompromisse. Ein Buch für Jörg Drews, Bielefeld 22005, S. 141–149; S. 148. FA 13, S. 158. Goethe, Der Sammler und die Seinigen. In: FA 18, S. 676–733; S. 676. Siehe dazu sehr anregend: Friedmar Apel, Goethe und die Seinigen: Vom Glück des Sammlers und der Lehre dazu. In: Gisela Ecker/Martina Stange/Ulrike Vedder (Hg.), Sammeln, Ausstellen, Wegwerfen, Königstein/Taunus 2001, S. 109–123.

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eigenhändig den Zusatz »Glück des Sammlers. Lehre dazu«.39 Und tatsächlich scheint der Sammler aus der Novelle einiges mit seinem Schöpfer gemein zu haben, wenn es über ihn und seine Sammlung heißt: Ordnung und Vollständigkeit waren die beiden Eigenschaften, die ich meiner kleinen Sammlung zu geben wünschte, ich las die Geschichte der Kunst, ich legte meine Blätter nach Schulen, Meistern und Jahren, ich machte Katalogen und muß zu meinem Lob sagen, daß ich den Namen keines Meisters, die Lebensumstände keines braven Mannes kennen lernte, ohne mich nach irgend einer seiner Arbeiten zu bemühen, um sein Verdienst nicht nur nach Worten nachzusprechen, sondern es wirklich anschaulich vor mir zu haben.40

Und dennoch ist der Sammler kein Kunsthistoriker, kein zweiter Kunst-Meyer, sondern bezeichnet sich selbst nur als »Liebhaber«.41 Wenn der Sammler seine Briefe an »meine Herren« adressiert, die ihm wiederum »die ersten Stücke der Propyläen«42 zugesandt hatten, so wird in der selbstreflexiven Anspielung der Autoren auf ihr Publikationsorgan schnell deutlich, dass Goethe auf der einen und Schiller auf der anderen Seite hier ein fiktives Selbstgespräch über ihre Kunstauffassung führen, aus der sich auch die unterschiedlichen kunsttheoretischen Positionen innerhalb der Schrift erklären.43 Darüber soll hier nicht weiter gesprochen werden. Vielmehr möchte ich die oft kaum besprochene Darstellungsweise des Textes in den Blick nehmen, die den performativen Gestus textuell zu wiederholen sucht und so eine Poetik der Sammlung entwirft. Ganz offensichtlich handelt es sich bei dem Text um einen kurzen Briefroman. Abgedruckt finden sich acht Briefe, die aus dem Haus des Sammlers an die Herausgeber der ›Propyläen‹ geschickt werden. Als Briefautoren treten der Sammler, seine Nichte Julie und ihr Verehrer, der sogenannte Philosoph auf. Das

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Vgl. FA 18, S. 1286. Die Weimarer Ausgabe (I 47, S. 412) gibt die Unterschrift folgendermaßen an: »Glück des Sammlers überhaupt, Lehre dazu«. Carrie Asman im Nachwort ihrer Ausgabe von ›Der Sammler und die Seinigen‹ mit »Glück der Sammler überhaupt, Lehre dazu«. Vgl. Carrie Asman, Kunstkammer als Kommunikationsspiel. Goethe inszeniert seine Sammlung. In: Johann Wolfgang Goethe, Der Sammler und die Seinigen. Hg. von Carrie Asman, Amsterdam – Dresden 1997, S. 119–177; S. 133. Die Abbildung des Manuskriptes ebd., S. 134 gibt klar der Weimarer Ausgabe Recht. FA 18, S. 691. Zu Kanzler Müller sagt Goethe am 19. Oktober 1830: »Ich habe nicht nach Laune und Willkür, sondern jedesmal mit Plan und Absicht zu meiner eigenen folgerechten Bildung gesammelt und an jedem Stück meines Besitzes etwas gelernt.« Und nicht zufällig findet sich in der privaten Sammlung ein »Gipsabguß des Apolls« von Belvedere wie ihn Winckelmann und Goethe in Rom bewundert hatten. Auf die Bedeutung des Liebhabers und die Dilettantismus-Debatte, die in diesem Text eine zentrale Rolle spielt, komme ich unten noch detailliert zu sprechen. Vgl. unten Seite 315ff. FA 18, S. 693. Dazu siehe Grave, Der ›ideale Kunstkörper‹, S. 355–362.

Medium Brief ist immer zugleich Anrede des Gegenübers, zugleich aber auch Selbstaussprache des schreibenden Subjektes. »Lebhafte Personen stellen sich schon bei ihren Selbstgesprächen manchmal einen abwesenden Freund als gegenwärtig vor, dem sie ihre innersten Gesinnungen mitteilen, und so ist auch der Brief eine Art von Selbstgespräch.«44 Der Brief, obwohl monologisch, imaginiert die Anwesenheit des Empfängers als Gesprächspartner. Er sucht die Raum-ZeitDifferenz durch seinen dialogischen Ton zu überblenden, führt sie als Medium Brief aber immer zugleich mit. Diese Differenz wird in Goethes Text verkürzt auf den Punkt zwischen zwei Sätzen: »Nun sind also meine Gedanken an Sie gerichtet, meine Herren, meine Feder eilt gleichsam zu Ihnen hin, es scheint mir als wenn ich, indem ich schreibe, nach und nach den Weg zurücklege der uns trennt. Schon bin ich bei Ihnen!«45 Dem Brief wie dem Gespräch, eignet ein unmittelbarer Vollzugscharakter des Dargestellten, der Brief ist »augenblickshaftige Vergegenwärtigung des Vergangenen und die Selbstcharakterisierung der briefschreibenden Figur im Schreibmoment«,46 wie Wilhelm Voßkamp sagt. Darin stimmt der Brief in seinem performativen Vollzug mit dem Drama überein.47 Zugleich aber verweist der Briefroman immer auch auf das Dokumentarische seiner Form, kein Briefroman ohne Herausgeber, ohne Sammler der Briefe. In Goethes Text scheint zunächst der Anlass des Briefwechsels nicht unwichtig: Der Sammler will eine Geschichte seiner Sammlung an die Herausgeber der ›Propyläen‹ senden. Bedenkt man, dass der Text selbst auch in den ›Propyläen‹ erschien, so erklärt dies, warum sich in der Fiktion nur die Briefe an die Herausgeber finden.48 In die dialogische Form des Briefes wird dann die Geschichte der Sammlung als Erzählung eingetragen. Mit Beginn des fünften Briefes wird dieses Verfahren zugunsten einer dramatischen Darstellung verstärkt. Der Brief beginnt mit der Absichtserklärung, den Herausgebern »die Geschichte des gestrigen Tages [zu] erzählen«.49 Schnell wechselt der Sammler jedoch vom narrativen in einen quasi dramatischen Modus, wenn er die Diskussion mit dem seine Sammlung besuchenden Fremden in Wechselrede, jeweils mit Ich und Er abgesetzt markiert, darstellt. So erlebt der Leser diese Diskussion nicht als Vergangenes, als Erzähltes, sondern gegenwärtiges Geschehen, und folgerichtig entschul44 45 46 47 48

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FA 19, S. 13. FA 19, S. 718. Wilhelm Voßkamp, Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: DVjs 45 (1971), S. 80–116; S. 103. Durch Johann Jakob Engels 1774 erschienene Schrift ›Über Handlung, Gespräch und Erzählung‹ bereits eine zeitgenössische Einsicht. Es ist ja auf der fiktionalen Ebene keineswegs so, dass »Sammler, Erzähler, Briefschreiber, Herausgeber und Adressat« zusammenfallen, wie Asman (Kunstkammer, S. 142) meint. Dies trifft nur bezogen auf den Autor Goethe zu. FA 18, S. 700.

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digt Julie das Beenden des siebenten Briefes mit der Bitte, »daß ich ganz stille aus Ihrer Gegenwart wegschlüpfe«.50 Die gleiche Technik findet sich im sechsten Brief. Dieser Vergegenwärtigungsstrategie auf formaler Ebene korreliert die dargestellte Praxis bei der Begehung der Sammlung. Im fünften Brief möchte der Sammler die bescheidene Frage, »was Schönheit sei?«51 klären, indem er mit dem Gast »einen sehr schönen Gipsabguß des Apolls, einen schönen Marmorkopf des Bachus […] noch geschwind anblicken«52 will. Dieser jedoch wehrt ab und verlangt zunächst nach begriffstheoretischer Klärung. Kurze Zeit später aber müssen die Diskutanten auf Anschauungsmaterial zurückgreifen und der Sammler, wie Goethe im Privaten, legt Kupferstiche vor, anhand derer die seit Lessing diskutierte Laokoon-Frage erörtert wird. Die Position Goethes ist bekannt. Im siebenten Brief »führte der Oheim ihn gleich gesprächig vor ein interessantes Gemälde«.53 Dieser Betrachtungsweise der Sammlung werden dann zwei andere als pejorativer Kontrast zur Position des Liebhabers und Sammlers in der Figur der Dame und ihrer englischen Begleiter entgegengestellt: Erstens die moralisierende Anschauung und Kritik der antiken Kunst, zweitens die gelehrt-kritische Bildbetrachtung, die, Goethe bekanntermaßen zuwider, »mit einer Lorgnette die Bilder betrachtet« und »manches tadelnswürdige im einzelnen«54 auszumachen vermag, also zergliedernd, statt ganzheitlich wahrnimmt. Beide Betrachtungsmodi führten dazu, »daß man zuletzt, mitten unter Kunstwerken, sich von der Kunst um hundert Meilen entfernt fühlte.«55 Dem wird eine Position der aufmerkenden Blicke, die »meinen Alterthümern eine ungeteilte Aufmerksamkeit verschaffen«,56 gegenübergestellt. Das Kunstwerk wird dann zum ästhetischen Urteil herausfordern, das Gespräch darüber heraufrufen, den Betrachter nicht »stumm« und »kalt« lassen, wie im dritten Brief über den jungen Philosophen moniert wird.57 Eine solche Wahrnehmungshaltung ist dann nicht mehr allein rezeptiv zu verstehen, sie schlägt um in sich verselbständigende Produktion von etwas Neuem, das dem Betrachter nun als ihn bildendes Subjekt gegenübersteht.58 Das Kunstwerk blickt zurück. Ein Blickprogramm, das Goethe keineswegs auf die Kunstbetrachtung reduziert, sondern zu einem umfassenden Programm aufmerksamer Wahrnehmung gestaltet, wie im ›Vorwort zur Farbenlehre‹

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FA 18, S. 724. FA 18, S. 701. FA 18, S. 701. FA 18, S. 719. FA 18, S. 722. FA 18, S. 723. FA 18, S. 695. FA 18, S. 688. Analog wird der Gelehrte als »ernst und einsam« (FA 18, S. 722) bezeichnet, vom anderen ist die Rede als einem »stummen Begleiter« (FA 18, S. 721). Ein Topos, der in der Pygmaliondiskussion wiederholt aufgegriffen wird, u.a. in Herders ›Plastik‹-Aufsatz.

deutlich wird: »Denn das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren.«59 Wie der Briefroman die Ansichten und Emotionen der Figuren entwickelt, das Dargestellte sich in der Darstellung unmittelbar vollzieht und daher bei jedem neuen Vollzug sich das Dargestellte ändern wird, so auch die Gegenstände der Kunst für den Liebhaber: Was stellen wir denn eigentlich dar was wir nicht erschaffen? Und zwar nicht etwa nur ein für allemal, damit es da sei, sondern damit es wirke, immer wachse und wieder werde und wieder hervorbringe. Das ist ja eben die göttliche Kraft der Liebe, von der man nicht aufhört zu singen und zu sagen, daß sie in jedem Augenblick die herrlichen Eigenschaften des geliebten Gegenstandes neu hervorbringt, in den kleinsten Teilen ausbildet, im Ganzen umfaßt, bei Tage nicht rastet, bei Nacht nicht ruht, sich in ihrem eigenen Werke entzückt, über ihre eigene Tätigkeit erstaunt, das Bekannte neu findet, weil es in jedem Augenblicke, in dem süßesten aller Geschäfte wieder neu erzeugt wird. Ja, das Bild der Geliebten kann nicht alt werden, denn jeder Moment ist seine Geburtstunde.60

Enthält die Passage bereits den Kern der Goetheschen Transformationshermeneutik, so verweist sie bei aller Emphase für den performativen Charakter, doch eben auch auf ein Moment, das die bewegte Darstellung immer mit sich führt: die Beobachtungsebene zweiter Ordnung, von der aus der Blick für die anthropologische Seite dieses Prozesses frei wird. Erst durch die in der Darstellung mit vollzogene und sich so simultan einstellende immanente Differenzierung als Eigenbeobachtung setzt das Potential der Kunst frei: »das Höhere was in uns liegt, will erweckt sein, wir wollen verehren und uns selbst als verehrungswürdig fühlen.«61 Der Differenzierungsmodus wird hier nicht allein durch die Fiktion des Briefromans mit den erwähnten medientechnischen Implikationen erreicht, sondern auch durch das für Goethe bekannte Prinzip der ›Wiederholten Spiegelung‹: das selbstreflexive Spiel mit den Herausgebern (!) der ›Propyläen‹; der auf Goethe und die fiktiven Personen des Textes referierenden Figur, »eine neue Art von Sammlung [zu] ordnen, die diesmal nicht aus Bronzen und Marmorstücken, nicht aus Elfenbein noch Silber bestehen soll, sondern worin der Künstler, der Kenner und besonders der Liebhaber sich selbst wieder finde«;62 in den Umschriften von Dokumenten im achten Brief und das durchgehende Spiel mit

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23.1, S. 14. 18, S. 714. 18, S. 711. 18, S. 697.

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Handschriften und stellvertretenden Autorschaften.63 All dies sind Figuren, die das angedeutete Prinzip »Abgelegt und Aufgeführt« als Textstrategie einer Poetik der Sammlung vorführen, deren Kern in der poiesis, den Vollzügen ihrer Darstellung, die Neues aus Altem entwickelt, zu sehen ist. Zu diskutieren wäre aber dennoch, ob Goethes umfassende Sammelpraxis und ihre Objektfaszination nicht doch von einem restaurativen Geschichtsdenken zeugen.64 Betrachtet man sich das Sammelprogramm allerdings genauer, so kann davon keine Rede sein. »Es gilt, die Dinge zum Leben zu erwecken, sie ins Netz der Lebensgeschichte einzuspinnen, sie ins Kommunikationsspiel der Betrachtenden hinüberzuziehen, um sie vor der fatalen Musealisierung zu retten.«65 Goethe sammelt auch kaum wertvolle Originale.66 Sein Sammlungsprogramm ist vielmehr eine Apologetik der Kopie. Die Darstellungen von antiken Gemmen, Kameos, Medaillen und Münzen, auch wenn sie antike Originale wären, sind selbst schon Kopie, denn »sie erhalten das Andenken verlorner wichtiger Kunstwerke«,67 wie es in einem Schema zu der Gemmensammlung des Archäologen und Diplomaten Philipp von Stosch heißt. Schon in ›Über Gegenstände der bildenden Kunst‹ hatte Goethe darauf hingewiesen, dass bekannte mythologische Szenen »irgend eine Tat des Herkules auf einer Gemme« zwar »nie den Wert der ersten«,68 d.h. der Originalkunstwerke erreichten, die Szene aber auf einer Gemme sehr wohl zur Anschauung gebracht werden könne. In dem 1828 ausgearbeiteten Aufsatz zum Stosch-Schema, bezeichnet Goethe Kopien von Gemmen und Münzen erneut als brauchbare Stellvertreter antiker Kunstwerke: Wenn man denn nun auch die Behandlung der besondern Darstellungsarten dem Zweck, dem Material anzueignen verstand, so benutzte man das Gegebene als Copien und Nachahmung der Statuen, selbst im Kleinsten, auf Münzen und geschnittenen Steinen. Deßwegen denn auch beide einen wichtigen Theil des Studiums der Alten ausmachen und höchst behülflich sind, wenn von Darstellung ganz verlorner Kunstwerke oder von Restauration mehr oder weniger zertrümmerter die Rede ist. Mit aufmerksamer Dankbarkeit ist zu betrachten, was besonders in den letzten Zeiten auf diesem Wege geschehen ist; man fühlt sich aufgefordert, daran selbst mitzuwirken, durch Beifall erfreut, unbekümmert um den Widerspruch, da in allen solchen Bemü-

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»(Notabene! Daß sie ja nicht irre werden und, weil Sie meine Hand gesehen, glauben, daß das alles aus meinem Köpfchen komme. Ich wollte erst unterstreichen was ich buchstäblich aus den Papieren nehme, die ich vor mir liegen habe; doch dann wäre zuviel unterstrichen worden. Sie werden am besten sehen wo ich nur referiere, ja Sie finden die eignen Worte ihres letzten Briefes wieder).« FA 18, S. 726. In diese Richtung argumentiert Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt/M. 2000, S. 237ff. Asman, Kunstkammer, S. 135. Dagegen aber eine Unmenge von Merkwürdigkeiten und Kuriositäten. Eine Übersicht bietet Schuchardt, Goethes Kunstsammlungen. Goethe, Stoschische Gemmensammlung, FA 22, S. 689–692, S. 692. FA 18, S. 442.

hungen es mehr um das Bestreben als um das Gelingen, mehr um das Suchen als um das Finden zu thun ist.69

Eine solche Rede über den Wert von Münzen, Medaillen und Gemmen war freilich zu Beginn des 19. Jahrhunderts nichts Neues oder etwa ein von Goethe initiierter Diskurs. Neben den vielen Fachabhandlungen und illustrierten Kupferstichbänden, die Goethe interessiert rezipierte,70 finden sich bereits 1702 die ›Dialogues Upon the Usefulness of Ancient Medals‹ von Joseph Addison, die, ähnlich wie Goethes Sammlerroman, in fiktiven Gesprächen der drei aufklärerischen Freunde Cynthio, Eugenius und Philander, den Nutzwert von Münzsammlungen erörtern. Als besondere Qualitäten von Münzen werden u.a. angeführt die Unterstützung von biographischen Untersuchungen durch die Abbildung von Porträts berühmter wie vergessener Persönlichkeiten der Antike,71 ihr Nutzen als Hilfsmittel für Künstler, denen sie Anschauungsmaterial für historische Darstellungen böten72 und als Hilfsmittel philologischer Arbeit, der sich der gesamte zweite Dialog widmet. Münzen und klassische Texte des Altertums ergänzen sich ideal, da einerseits die Münzdarstellungen dunkle Stellen der klassischen Autoren erklären könnten, andererseits diese oft als Vorlagen für die Münzprä-

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WA I 49ii, S. 115. Die Frankfurter Ausgabe, die nach den Erstdrucken ediert, bringt leider nur die in ›Über Kunst und Alterthum‹ erschienene, gekürzte Fassung des Aufsatzes, sowie das Schema dazu, der Stellenkommentar enthält lediglich den Verweis auf die von Eckermann in den ›Nachgelassenen Werken‹ und so in die Weimarer Ausgabe aufgenommene längere Fassung des Aufsatzes. Vgl. FA 22, S. 1327f. Vgl. etwa Goethes Teilübersetzung von J. C. de Jonges 1823 erschienener Schrift ›Notice sur le cabinet des médailles et des pierres gravées de sa majesté le roi des PaysBas‹ über die Medaillen- und Gemmensammlung am niederländischen Hof im dritten Heft des vierten Bandes von ›Über Kunst und Altertum‹. In: FA 21, S. 567–572 oder zum ›Museum Worsleyanum; or a Collection of antique Bassorelievos, Bustos, Statues and Gems‹ und zum Kupferstichband der Münzsammlung des Lord Northwick ›A selection of ancient coins‹, der 1824 erscheint, beide werden im zweiten Heft des fünften Bandes von ›Über Kunst und Altertum‹ besprochen. Vgl. FA 22, S. 157–161. Diese biographischen Systeme sollten, über die Biographie hinaus, den Betrachter in die Geschichte der jeweiligen Epochen einführen: »A methodical collection of engraved heads will serve as a visible representation of past events, become a kind of speaking chronicle.« James Granger, A Biographical History of England from Egbert the Great to the Revolution. Consisting of Characters disposed in different Classes, and adapted to a Methodical Catalogue of Engraved British Heads intended as an Essay towards reducing out Biography System, and a Help to the Knowledge of Portraits. With a Preface, showing the Utility of a Collection of Engraved Persons, not to be found in any other Biographical Work, London 1775, S. vi. Philander, der numismatische Apologet der Dialoge, meint sogar »that painters have not a little contributed to bring the study of medals in vogue«. Joseph Addison, Dialogues Upon the Usefulness of Ancient Medals. Especially in Relation to the Latin and Greek Poets, in: The Works of Joseph Addison in six Volumes. Hg. von Richard Hurd, Bd. 1, London 1901, S. 253–355, S. 259.

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gung gedient haben. Alexander Pope fasst in seinem Widmungsgedicht prägnant zusammen: The medal, faithful to its charge of fame, Through climes and ages bears each form and name In one short view, subjected to our eye, Gods, emperors, heroes, sages, beauties lie. […] Theirs is the vanity, the learning thine. Touched by thy hand, again Rome’s glories shine; Her gods and god-like heroes rise to view, And all her faded garments bloom anew. Nor blush, these studies thy regard engage; These pleased the fathers of poetic rage; The verse and sculpture bore an equal part, And art reflected images to art.73

Auch im deutschen Kontext der Altertumswissenschaft waren Münzen und Gemmen als wichtige Objekte, aus denen sich Rückschlüsse über die antike Kunst gewinnen ließen, etabliert. So widmet etwa Christian Gottlieb Heyne in seiner ›Einleitung in das Studium der Antike oder Grundriß einer Anführung zur Kenntnis der alten Kunstwerke‹ von 1780 geschnittenen Steinen ein ganzes Hauptstück. Stellen Pope und Addison die Münzen in den Dienst einer Rückgewinnung des antiken Geistes, der nun im britischen Gewand wieder auftreten soll,74 so wird, wie Susanne Scholz zeigt, die »Aufbereitung der römischen Reste für eine britische Idee von imperialer Größe«75 im England des 18. Jahrhunderts in Anspruch genommen. Scholz verweist auf die in England beliebte Praxis der Sammlungsbegehung von Grand Tour-Souvenirs, in denen sich »der Eindruck eines organischen Zusammenhangs von klassischem Ursprungsort und klassizistischem Ermächtigungsnarrativ noch verstärkt«76 und die Münze als metonymisches Zeichen für eine Bildungserfahrung stehe, die den Ursprungsort, die Ursprungszeit und den Ursprungsgeist der erworbenen Objekte gleichsam durch den Besitz mit erwirbt und sich letztlich unterwirft. Die Objekte in ihrem medialen Charakter hingegen seien der Interpretation und Auslegung kaum bedürftig, so Scholz, lediglich der faktischen Bestimmung von Herkunftsort und -zeit. Rückt auch in dieser kolonialistischen Perspektive, wie in Goethes Sammlerpo-

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Alexander Pope, Verses occasioned by Mr. Addison’s Treatise on Medals, in: Addisons, Dialogues, S. 253–254, S. 254. »Oh when shall Britain, conscious of her claim,/Stand emulous of Greek and Roman fame?« Ebd., S. 254. Susanne Scholz, Römische Miniaturen. Zur Medialität von Grand Tour-Souvenirs im England des 18. Jahrhunderts. In: Christian Berkemeier u.a. (Hg.), Von hier nach ›Medium‹. Reisezeugnis und Mediendifferenz, Münster 2004, S. 13–24, S. 13. Ebd., S. 17.

etik, weniger das Sammlungsobjekt als die Umstände seiner Inszenierung und so die Figur des Sammlers in den Vordergrund, so zeigt sich doch ein wesentlicher Unterschied bei Goethe: Anders als im englischen Kontext wird bei Goethe der Bildungsgewinn des transformatorischen Prozesses nie auf eine Ebene politisch-imperialer Machtphantasien übertragen, zumal es sich bei den meisten Stücken weder um Souvenire noch Originale handelt. Hatte die Gegenwart der Originalstatuen77 in Rom ein recht problemloses Übertreten in den »Zustand ihrer Zeit« ermöglicht, überblendete Goethes Ästhetik der Präsenz in den Jahren vor Schillers Tod jegliches hermeneutisches Problem, so verweisen die geschnittenen Miniaturen als Nachahmung des verlorenen Nachgeahmten schon auf eine schwer überbrückbare mediale und zeitliche Differenz, die ganz offensichtlich der Stützung durch den performativen Rahmen bedarf, um noch Wirkung entfalten zu können. Keineswegs sprechen die Stellvertreter für sich. Die Gemmen, Medaillen und Münzen scheinen eines besonderen Kommentars bedürftig.78 Goethe selbst hält sich als hermeneutisches Relais dabei für unentbehrlich. Eine Beschreibung der Sammlung müsste versuchen, den »Gang der Kunst im Plastischen, dessen Widerschein man immer in den Medaillen sieht, dem Freund und Kenner vor Augen zu bringen.«79 Für eine niedergeschriebene Kunstgeschichte aber ist Goethe nicht der Mann. Wo Goethe das Programm einer antiken Kunstgeschichte nach geschnittenen Stei-

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Die Kategorien von Original und Kopie waren im 18. Jahrhundert noch nicht zwingend mit einer Negativunterscheidung belegt. Wenn Goethe die Juno-Büste als getreuen Abguss erwirbt, dann steht er in seinem Verständnis dem ›Original‹ gegenüber, wohingegen die Gemme als Kopie einer verlorenen Statue zwar an diese zu erinnern vermag, an ihre ästhetische Wirkung aber nicht anschließen kann. Das korreliert mit Ernst Osterkamps (Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen, Stuttgart 1991, S. 319) Ergebnissen zu Goethes Bildbeschreibungsverfahren: »Spätestens seit dem Scheitern der ›Propyläen‹ werden alle Versuche zur Bildbeschreibung von Goethes fundamentalen Zweifeln an Sinn und Möglichkeit sprachlicher Bildwiedergabe begleitet. Sie führen schließlich dahin, daß die Bildbeschreibung als Anschauungsersatz verworfen und ihr der Status einer die Anschauung vertiefenden Form des Bildkommentars zugemessen wird, bei dem in der sprachlichen Reflexion, Sehen und Denken zusammentreffen, um im Dargestellten den Modus der Darstellung erkennbar werden zu lassen.« Granger (A Biographical History, S. v) verband mit seiner Aufstellung hingegen noch enzyklopädische Hoffnungen: »Another advantage attending such an assemblage is, that the methodical arrangement has a surprising effect upon the memory. We see the celebrated contemporaries of every age almost at one view, and by casting the eye upon those that sat at the helm of state, and instruments of great events, the mind is insensibly led to the history of that peroid.« Brief an Zelter vom 28. Februar 1811, FA Bd. 33: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 10. Mai 1805 bis 6. Juni 1816. Teil I. Von Schillers Tod bis 1811. Hg. von Rose Unterberger, Frankfurt/M 1994, S.646.

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nen nicht ausführt, wird der Unterschied zu Winckelmann deutlich.80 Goethes Bewunderung Winckelmanns gilt seiner Pionierleistung, seinen umfassenden historischen Kenntnissen, seiner divinatorischen Gaben. Goethe selbst erachtete eine ›Geschichte und Kunst des Alterthums‹, wie Winckelmann sie 1764/1767 vorgelegt hatte, für notwendig, aber nicht hinreichend für die Transformation des antikischen Ideals, »im Gegenwärtigen das Vergangene darzustellen, […] das Abgestorbene mit Lebendigen in die anschaulichste Verbindung«81 zu bringen, wie er in ›Ruysdael als Dichter‹ schreibt. Spätestens nach dem Tode Herders 1803 und Schillers 1805 ist ihm zunehmend bewusst geworden, dass sein Projekt einer Wiedergewinnung des griechischen Ideals in der nordischen Kunst der Gegenwart als öffentlichkeitswirksames Bildungsprogramm gescheitert war.82 Rückzugsraum für die ästhetische Erfahrung der antiken Kunst bleiben seine privaten Inszenierungen der Repräsentanten dieser Kunst, sei es als antike Münze oder Gemme, sei als deren Gips- oder Schwefelabdrucke. Die Kunst kann nur noch in materialen Stellvertretern sich erhalten, diese Materien bedürfen der Ordnung und Systematisierung, lebendig gegenwärtig werden sie aber im Moment der Ausstellung und Aufführung durch den Liebhaber. »Die Texte und Zeugnisse sind an sich tot, ein bloßes Wiedererkennen des Erkannten im Sinne einer klassizistischen Hermeneutik würde diese Starre nur befestigen, erst wenn sie von einem lebendigen Individuum charakteristisch aufgefaßt werden, beginnen die Werke wieder zu sprechen, freilich anders als ehedem«,83 fasst Friedmar Apel prägnant zusammen. Mit dieser Praxis aber verabschiedet Goethe sich zugleich vom Leitbild Antike, wie es Winckelmann in seiner frühen Schrift ›Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke‹ gefordert hatte. Die Ersetzung der griechischen Plastik durch die geschnittene Miniatur, der performativ-private Rahmen ihrer Ausstellung und das über sie erfolgende Gespräch, stellt kaum mehr das Kunstwerk ins Zentrum der Betrachtung, sondern das es darstellende Selbst, so wie die sammlungspoetische Schrift weniger eine Ordnung der Sammlungsobjekte vorstellt, sondern eine Typologie des Sammlers. Reflektierte die Kunstund Wunderkammer in ihrer Sammlungs- und Anordnungssystematik die eigene Positionierung im Makrokosmos, so zeigt die vorgestellte Sammel- und Inszenie-

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Walther Rehm (Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens, Bern – München 1968, S. 155) sieht Goethe hingegen zeitlebens dem Projekt Winckelmanns verpflichtet: »Man kann sich bei Goethe die Verbindung mit dem Bestreben Winckelmanns gar nicht eng genug denken, sich den Willen, die einmal gesichtete Aufgabe durchzuführen, gar nicht entschieden genug vorstellen.« Goethe, Ruysdael als Dichter. In: FA 19, S. 632–636; S. 633. Friedmar Apel, Die Ästhetik des Selbstseins. Goethes Kunstanschauung 1805–1816. In: FA 19, S. 727–757; S. 728f. Das zeigt sich insbesondere an den enttäuschten Reaktionen auf die Einsendungen aus den Weimarer Preisaufgaben und die sie begleitenden Weimarer Kunstausstellungen. Ebd., S. 741.

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rungspraxis Goethes sein Verständnis der Relationen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Verlustmodus an. Der Abschied von einer Ästhetik der Präsenz und die im Alter einsetzende historisierende Betrachtung der Kunst ist zugleich der Abschied vom durchaus auch politisch gedachten Projekt einer klassizistischen Versöhnung einer als antagonistisch erfahrenen Gegenwart. Dennoch hält das Goethesche Sammlungs- und Darstellungsverfahren aber an dem Gedanken der Rettung des Verlorenen fest. Rettung freilich nicht im Sinne restauratorischer Erhaltung. Wenn Goethe 1812 in seinem Aufsatz ›Myrons Kuh‹ die bisherige Auslegung einer verlorenen und nur noch als Münzmotiv zugänglichen antiken Bronze schlicht als »Dilettantenlob«84 verwirft und den klassizistischen Künstlern spöttisch empfiehlt, »die flach erhabene Arbeit wieder zur Statüe«85 zu verwandeln, so wird deutlich, dass nach Griechenland kein Weg zurückführt. Die Tradierung, die nur Transformation sein kann, erfolgt nicht durch systematische Aufbewahrung der Münze, Gemme oder Medaille. Sie bleibt gleichwohl erforderlich und Goethe fügt auch hier seinem Aufsatz einen Kupferstich bei. Tradierung findet auf der Ebene der begleitenden Darstellung statt, sei es als textuelle Performanz, die eher Entfaltung denn Kommentar ist, sei es als Aufführung in den Repräsentationsräumen am Frauenplan. Und doch: bei aller Desillusionierung über den modernen Weltzustand findet sich ein fast trotziges Festhalten an der Idee eines Besseren, wenn auch versteckt im Paralipomenon zu ›Myrons Kuh‹: »Aber wenn denn doch der Riß zwischen Altem und Neuem immer unheilbarer werden soll, so versäume man keine Gelegenheit entschieden auszusprechen, worin denn eigentlich der Charakter der alten Kunst bestehe.«86 Damit wird Goethe auch zum bewussten Agenten der endgültigen Trennung von Antike und Moderne. Ein Prozess, in dem die alte Welt beständig neu »produziert, hervorgebracht, erschaffen wird.«87 Jedes Aussprechen des Charakters der alten Kunst bedeutet ihre Tradierung, ihre Rettung in eine Gegenwart und ist zugleich Abgesang auf ihre verlorene Welt. Wird in ›Der Sammler und die Seinigen‹ versucht, das performative Moment der Sammelpraxis durch die textuelle Inszenierung einerseits als Briefroman andererseits als dramatische Wechselrede einzuholen und wird zugleich auch inhaltlich eine historistische Kunstbetrachtung zurückgewiesen, dann ist hiermit eine Denkfigur aufgezeigt, die Goethe beibehalten wird. In der erzählten Sammlung ist aber nur eine Form der narrativen Auseinandersetzung mit dieser Figur vorgestellt. Die erzählenden Texte Goethes werden mehr und mehr zu sammeln-

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FA 19, S. 617. FA 19, S. 620. Goethe, Myrons Kuh. In: FA 19, S. 617–625; S. 625. FA 18, S. 712.

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den Erzählungen, in die philologische Schreibweisen Einzug halten.88 Stand der ›Sammler‹ bereits im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, seine Sammelpraxis zwischen Original und Kopie, so gilt dies, wenngleich unter anderen Vorzeichen auch für die ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹.

12. Versammelndes Erzählen – Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹ 1790 erscheint die vom Weimarer Dichter, Übersetzer, Journalisten, Verleger und Papierblumenunternehmer Friedrich Justin Bertuch (1747–1822) herausgegebene ›Blaue Bibliothek aller Nationen‹ mit ihrem ersten Band.89 Die Sammlung gibt sich als groß angelegtes Projekt der Versammlung aller möglichen Genres ›wunderbarer‹ Erzählprosa. Der Titel deutet auf eine monumentale Werkanthologie. In seiner Ankündigung stellt Bertuch sie denn auch dem schnelllebigen tagespolitischen Zeitungs- und Zeitschriftenwesen, an dem er als Kaufmann sehr wohl Anteil nahm, als Exil und Archiv der Erzählkunst gegenüber. Bertuch knüpft dabei eine überaus interessante Verbindung zwischen Aufstieg der politischen Presse und Zerfall des kulturell-gesellschaftlichen Zusammenhangs als Substitut politisch-staatlicher Einheit, dem die Erzählsammlung, wenn nicht als Ort seiner Korrektur, so doch als Versuch seiner Verlangsamung, entgegengestellt wird. Es ist gewiß ein gewagtes Unternehmen, unserm teutschen Publiko, das sich seit einigen Jahren her mit einer Art von Heißhunger auf politische, statistische, oder mit Einem Worte, auf sogenannte Journal-Lectüre geworfen, und darüber den Geschmack an den schönen Künsten der Musen verloren zu haben scheint, jetzt eine amüsante Unterhaltung von anderer Art darzubieten. […] daß bey unserer jetzt so allgemein Mode gewordenen politischen Kannengießerey, Anekdoten-Sucht und dem falschen Aufklärungs- und Reformen-Drang […] die Nation den Geschmack an Kunst des Dichters und Schriftstellers, d.h. an Schönheit und Reichthume seiner Compositionen, Leben und Natur seiner Darstellung, Feuer seiner Imagination, Eleganz und Wohlklange seines Styls, und Reinheit seiner Sprache verliehret, die Lektüre […] schlechter wird, und der feinere Weltton der sogenannten guten Gesellschaft, dem allein die Cultur des Geistes und Geschmack an Künsten und schönen Wissenschaften die Politur giebt, zugleich mit herabsinkt. Indessen so wenig es auch bey solch einer allgemeinen Stimmung der Köpfe thunlich ist, gerade gegen den Strom zu schwimmen, so ist doch wenigstens ein Versuch möglich, das zu erhalten, was wir schon haben, und dem verwöhnten Kind ein nützlicheres, wenigstens unschädlicheres, Spielzeug in die Hand zu geben.90 88 89

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Spätestens hier sollte deutlich sein, dass ich nun einen weiteren Philologiebegriff nutze, als noch in den Kapiteln II–IV. Zum vielfältigen Wirken Bertuchs in Weimar siehe den Sammelband Gerhard R. Kaiser/Siegfried Seifert (Hg.), Friedrich Justin Bertuch (1747–1822). Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar, Tübingen 2000. Friedrich Justin Bertuch, Ankündigung der Blauen Bibliothek aller Nationen. In:

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Drei Dinge fallen hier auf: 1. Die Klage gegen eine einseitige Verbindung des Mediums Journal mit Politik. 2. Die Diagnose einer Universalisierung des Politischen durch die Popularität der Journale im Zeichen von Aufklärung. 3. Die Diagnose eines Zerfalls der Kultur des (schönen) Geistes als Konsequenz von 1. und 2. Umso überraschter ist man, wenn die angekündigte Erzählsammlung nun selbst in der Publikationsform des Journals erscheint. Die ›Blaue Bibliothek‹ ist »eine allgemeine und fortlaufende Sammlung«, die »als ein zweymonatiges Journal anzusehen ist«.91 Zugleich unterscheidet sie sich aber signifikant von diesen, da der Korpus bereits festgelegt ist und vorliegt, also dezidiert keine aktuellen Beiträge einbinden will. Zudem strebt die Sammlung Vollständigkeit »aller guten FeenMährchen […] aller alten Volks- und Ritter-Romanenen [sic] […] aller abentheuerlichen komischen Romane, Possen-Schnurren und Phantasien« an.92 Die Sammlung soll also zugleich Archiv (Konservierung) und Bibliothek (Distribution) europäischer Erzählprosa sein. Bertuch erkennt dabei bereits einen Bruch zwischen philologischer Wissenschaftlichkeit und poeto-philologischer Popularisierung alter Erzählstoffe. Bisher sei diese Erzähltradition »eigentlich nur für den Literator und Gelehrten, der mehrere Sprachen verstund, die Geschichte dieses fruchtbaren Zweiges der alten und neueren Literatur studirt hatte«, zugänglich gewesen, nötig sei »ein Schriftsteller, der es unternähme alle diese zerstreuten Schätze mehrerer Nationen planmäßig zu sammeln, gut zu bearbeiten, und sie in einer fortgehenden Sammlung dem Publiko […] zu liefern.«93 Die ›Blaue Bibliothek‹ wird also gleichzeitig als Journal, Werkanthologie und Ergebnis philologischer Herausgebertätigkeit konzipiert. Bertuch, gewitzter Unternehmer, bemerkt offensichtlich eine Verschiebung auf dem literarischen Markt, die einerseits kritisiert und für einen Verfall der ›guten Gesellschaft‹ verantwortlich gemacht wird, der er sich andererseits aber auch nicht entziehen kann. Bertuch verlagert daher den monumentalen und bisher den Philologen vorbehaltenen Werkbegriff auf das Journal, das für das Publikum bestimmt ist. Wird der Erzählsammlung ein Bildungsanspruch und darüber hinaus eine soziale Integrationskraft angesonnen, positioniert die Sammlung das Erzählen nicht jenseits des Politischen, sondern als dessen neue bzw. eigentliche Form. Der Philologe indes wird ins Reservat disziplinärer Spezialisierung verwiesen, das noch weit entfernt von den bildungs-

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ders. (Hg.), Die Blaue Bibliothek alle Nationen. 12 Bde., Gotha 1790–1800. Bd. 1, Gotha 1790, ohne Seitenangabe [S. 3f]. Ebd., S. 10, 12. Ebd., S. 10f. Beide ebd., S. 7f.

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politischen Ansprüchen eines F. A. Wolfs oder Jacob Grimms liegt.94 Die ›Blaue Bibliothek‹ ist deswegen interessant, weil sie in ihrem zwitterhaften Charakter zwischen Werk und Journal auf ein zentrales Problem um 1800 verweist, auf das Schiller mit den ›Horen‹ und Goethe mit den ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹ reagieren: die Reflexion auf die komplexen Zusammenhänge von Politik, Medien und Erzählen als sich je ausdifferenzierende und segmentierende Teilsysteme und der Forderung nach gesellschaftlicher Einheit, wo diese nicht mehr mit gemeinschaftlicher Geselligkeit identifiziert werden kann.

Die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten Die ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹, Goethes erster Prosabeitrag zu Schillers ambitioniert betriebenem ›Horen‹-Projekt und dort 1795 sukzessive erschienen, thematisiert den Zusammenhang von Erzählung und Sammlung auf eine andere Art und Weise als ›Der Sammler und die Seinigen‹. Bildeten dort die Figur des Sammlers und dessen Sammelobjekte das Zentrum des Interesses, so ist hier die Erzählung selbst Sammlung und zwar auf eine doppelte Weise: zum einen bezeichnet der Abbé als die zentrale Erzählerfigur seinen Erzählvorrat mehrfach als »Sammlung«,95 der alte Geheimrat wird ad persona gar zur mobilen Sammelinstitution schlechthin, er ist »ein unerschöpfliches Archiv von Menschen- und Welt-Kenntnis, von Begebenheiten und Verhältnissen«,96 zum anderen ist der Text als Ganzes betrachtet keine homogene Erzählung, sondern eine Versammlung tradierter Geschichten, die durch einen Erzählrahmen miteinander verbunden werden.97 Manfred Koch sieht daher in den ›Unterhaltungen‹ »erstmals die Idee der Weltliteratur« aufscheinen.98 Die ›Unterhaltungen‹ folgen damit ganz offenbar zunächst der Formvorgabe einer Verschaltung von zyklischem und instrumentellem Geschehen mit zyklisch-instrumentellem Erzählen, wie sie Volker Klotz als paradigmatisch für die europäische Märchen- und Novellentradition herausgearbeitet hat. Instrumentelles Geschehen heißt, dass jedes Handlungselement »dem ausschließlichen Zweck dient, die zeitweilig gestörte

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Willer (Entnationalisierung, S. 265) zeigt, dass auch bei Grimm »die Schaffung von Zusammenhängen […] aus den philologischen Verfahren selbst« resultiert [meine Hervorhebung, mb]. FA 9, S. 1012f. FA 9, S. 1005. Insofern erfüllen sie die Form der Rahmenerzählung, da »ein oder mehrere nicht mit dem Rahmenerzähler identische Erzähler einem oder mehreren Zuhörern ein oder mehrere vergangene Geschehen frei erzählen.« Andreas Jäggi, Die Rahmenerzählung im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M u.a. 1994, S. 62. Manfred Koch, Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff der ›Weltliteratur‹, Tübingen 2002, S. 148.

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Weltordnung zunächst zu offenbaren, um sie schließlich wieder herzustellen«.99 Zyklisch ist das Geschehen auf zweierlei Weise, einmal in der Wiederherstellung der natürlichen Weltordnung, zum anderen in der wiederholenden Grundstruktur der Gattung insgesamt. Mit dem Ende der Dominanz der primär mündlich tradierten Formen des Volksmärchens als lebendige Überlieferung, treten, so Klotz, vor allem in der Novellistik im Anschluss an Boccaccio, Formen zyklischen und instrumentellen Erzählens. Ersteres verweist auf eine Rahmensituation, die selbstständige Einzelerzählungen veranlasst und begründet. Instrumentelles Erzählen hingegen »besagt: daß der Erzählkreis weder zufällig noch aus beliebiger Laune zusammenkommt, vielmehr in einer außerordentlichen, schwerwiegenden Zwangslage, die mittels Erzählen bewältigt werden soll«.100 Ein solches Erzählen ist damit auf doppelte Weise praktisch: Als wirksames Handeln zur Realisierung des instrumentellen Zwecks und damit der zyklischen Schließung und als gegenwärtiges Erzählen vor den Ohren und Augen der (fiktiven) Zuhörer und (realen) Leser. Sammlung sind die ›Unterhaltungen‹ damit sowohl auf Ebene der histoire als dezidiertes Thema des Erzählens als auch des discours als Art der Darstellung und Organisation des Textes. Beide Instanzen sollen im Folgenden in den Blick genommen werden, wobei besonders darauf zu achten sein wird, ob und wie hier das Gattungsschema abgeändert wird. Die Forschung stellt für die ›Unterhaltungen‹, insofern es keine Einzelstudien zu den Erzähleinlagen sind, vor allem drei Aspekte besonders heraus: 1. Die darin zum Ausdruck kommende Bewertung der Französischen Revolution als das Epoche machende Ereignis. 2. Goethes Positionierung zu Schillers ›Ästhetischen Briefen‹, von denen er unmittelbar vor Beginn der Arbeit an den ›Unterhaltungen‹ die Nummern I–IX von Schiller übersandt bekommen und gründlich gelesen hatte. 3. Die Thematisierung der ›Unterhaltungen‹ als Geburtsort der deutschen Novellistik durch den Rückgriff auf die romanische Tradition (›Decamerone‹/Italien, ›Cent Nouvellles‹/Frankreich, ›Novelas ejemplares‹/Spanien). Diese drei Aspekte sind eng miteinander verknüpft. Ich werde in drei Abschnitten zur ›Politik des Erzählens‹, zu den ›Medien des Erzählens‹ und der ›Poetiken des Erzählens‹, nachzeichnen, wie die ›Unterhaltungen‹ ein erster Versuch sind, sich grundlegend mit den Bedingungen und Möglichkeiten des Erzählens unter der Diagnose einer Umbruchssituation auseinanderzusetzen.

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Volker Klotz, Das Europäische Kunstmärchen. 25 Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne. 3. überar. und erw. Auflage, München 2003, S. 25. Ebd., S. 26.

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Politik des Erzählens Die Forschung hat in vielfältiger Facettierung wiederholt, dass Goethe hier seinem Schrecken und seiner Missbilligung der Französischen Revolution Ausdruck verliehen habe und die Positivierung des in Gefahr geratenen aristokratischen Politik- und Gesellschaftsmodell betreibe, was sich mit der konservativen Grundhaltung Goethes decke. Die Kongruenz des sogenannten Politikverbots in Schillers Ankündigung der ›Horen‹ und im Geselligkeitsgesetz der Baronesse sei Konsequenz dieser Haltung.101 Vorsicht ist aber geboten, das Erzählgesetz vorschnell als Indiz einer politischen Positionierung Goethes auf Seiten des Ancien Régime zu werten. Schließlich wird dessen vehementester Vertreter, der Geheimrat von S., vom Autor Goethe als streitsüchtiger Hypochonder aus der Runde entfernt, wohingegen der revolutionär entflammte Karl verbleiben darf.102 Eine Identifizierung der politischen Sympathie des Autors über die Figuren scheint mir nur schwer möglich, denn »in den Figuren von Karl und dem Geheimrat erscheinen Revolution und Restauration als historische Komplizen.«103 Ganz offensichtlich sind die Familienbande stärker als die persönliche und politische Sympathie der Baronesse mit dem Geheimrat. Mit dem Ausschluss des Geheimrats ist die familiäre Gemeinschaft wieder geschlossen. Alle entscheidenden Figuren sind Familienangehörige. Die Eskalation des Streites zwischen Karl und dem Geheimrat wurde von Schiller bereits als Verstoß gegen das von ihm ausgelobte Politikverbot im Brief vom 29. November 1794 bemängelt.104 Er fürchtete, was spätere Interpreten oft genug getan haben: den Geheimrat vom Rhein mit dem von der Ilm zu identifizieren. Ungeklärt ist, ob Goethe daraufhin noch etwas grundlegend verändert hat. Wenn nicht, dann weil er Schillers Besorgnis nicht teilte, wenn doch, dann auf eine Weise, die den Alten keineswegs als Sieger aus der Diskussion hervorgehen lässt. Goethe plädiert hier, das muss gegen eine bis in die Schulbücher hinein verbreitete Auffassung einer pseudo-marxistischen Lektüre betont werden, weder für das eine noch das andere System, sondern stellt

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So etwa Dieter Borchmeyer (Weimarer Klassik. Porträt einer Epoche, Weinheim 1994, S. 247–251 und S. 260–285) in seiner immer noch maßgebenden Einführung. Die gleiche Grundtendenz zeigt auch Claude David, Goethe und die Französische Revolution. In: Deutsche Literatur und Französische Revolution von Richard Brinkmann u.a., Göttingen 1974, S. 63–86. Auch Klotz (Das Europäische Kunstmärchen, S. 127f.) bläst ins konservative Horn. Wulf Segebrecht (Geselligkeit und Gesellschaft. Überlegungen zur Situation des Erzählens im geselligen Rahmen. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 25 (1975), S. 306–322; S. 314) identifiziert hingegen in Goethe einen »Parteigänger des Geheimrats«. Gerhard Kurz, Das Ganze und das Teil. Zur Bedeutung der Geselligkeit in der ästhetischen Diskussion um 1800. In: Christoph Jamme (Hg.), Kunst und Geschichte im Zeitalter Hegels, Hamburg 1996, S. 91–113, S. 104. Vgl. MA 8.1, S. 39ff.

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eine Epochendiagnose, die, so wird zu zeigen sein, zentrale Punkte des Befundes Bertuchs aufgreift. Die Französische Revolution und die folgenden Kriegszüge sind Goethe selbst ›nur‹ Ausdruck einer schleichenden Degenerierung des alten Systems. Es ist immerhin der auktoriale Erzähler, der in der Beschreibung der unterschiedlichen Positionen des Geheimrats und Karls von der »Heilung und Belebung des alten kranken Zustandes« spricht.105 Der ausgetragene Konflikt ist nicht einer zwischen Bürgern und Adligen, Unterdrückern und Ausbeutern, sondern situiert sich ganz innerhalb des aristokratischen Gesellschaftssystems, denn auch beim ›Revolutionär‹ Karl wird explizit darauf hingewiesen, dass »er selbst ein Edelmann war«.106 Die einzigen ›Bürger‹, die vom Stande her revolutionär legitimiert wären, sind der Hofmeister107 und die Bediensteten, denen aber ausdrücklich nur eine stille Sympathie mit Karls lautstark vorgetragenen Parolen attestiert wird. Die Baronesse hingegen macht die kulturkritische Diagnose des Verlustes von Höflichkeit und Geselligkeit zu einer aristokratischen Selbstanklage. »Überhaupt, fuhr die Baronesse fort: weiß ich nicht wie wir geworden sind? wohin auf einmal jede gesellige Bildung verschwunden ist? […] Wir suchen recht eifrig jede Gelegenheit, wo wir etwas vorbringen können, das den anderen verdrießt und ihn aus der Fassung bringt. O laßt uns künftig, meine Kinder und Freunde, wieder zu jener Art zu sein zurückkehren!«108 Die Baronesse zitiert dann nahezu wörtlich die Formen von Geselligkeit, wie sie etwa die 1748–1750 von Georg Friedrich Meier herausgegebene moralische Wochenschrift ›Der Gesellige‹ propagierte: Achtung, Takt, Schonung, Behutsamkeit, denen in den ›Unterhaltungen‹ die Leidenschaft als destruktive Kraft gegenübergestellt wird. Am Ende des Jahrhunderts greift Goethe damit noch einmal eine der Grundfragen des 17. und 18. Jahrhunderts auf: Wie ist Gesellschaft als Gemeinschaft möglich?109 Dabei lassen sich eine pessimistische und eine optimistische Richtung unterscheiden. 105

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FA 9, S. 1001. Zu Eckermann sagt er am 4. Januar 1824: »Weil ich nun aber die Revolutionen haßte, so nannte man mich einen Freund des Bestehenden. Das ist aber ein sehr zweideutiger Titel, den ich mir verbitten möchte. Wenn das Bestehende alles vortrefflich, gut und gerecht wäre, so hätte ich gar nichts dawider. Da aber neben vielem Guten zugleich viel Schlechtes, Ungerechtes und Unvollkommenes besteht, so heißt ein Freund des Bestehenden oft nicht viel weniger als ein Freund des Veralteten und Schlechten. Die Zeit aber ist in ewigem Fortschreiten begriffen, und die menschlichen Dinge haben alle funfzig Jahre eine andere Gestalt, so daß eine Einrichtung, die im Jahre 1800 eine Vollkommenheit war, schon im Jahre 1850 vielleicht ein Gebrechen ist.« FA 39, S. 532f. FA 9, S. 997. Vgl. dazu Ludwig Fertig, Die Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte des Lehrerstandes und der bürgerlichen Intelligenz mit 14 Quellenschriften, Stuttgart 1979. FA 9, S. 1008. Vgl. Kurz, Das Ganze und das Teil, S. 91f. Hier auch weiterführende Literaturangaben.

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Im Anschluss an Hobbes’ bellum omnium contra omnes konnte Gesellschaft als Form der Regulierung und Unterdrückung des grundsätzlich gewalttätigen und kriegerischen menschlichen Charakters beschrieben werden, die der Staat als politische Macht durchzusetzen habe. Anhänger Lockes und vor allem Rousseaus konnten in der Gesellschaftlichkeit des Menschen hingegen ein anthropologisches Grundbedürfnis nach Geselligkeit sehen, die der Staat als ausbalanciertes Verhältnis von individueller und sozial-politischer Existenz sicherzustellen habe. Die in der Aufklärung noch weitgehend intakte Synonymität von Gesellschaftlichkeit und Geselligkeit implizierte zwar ein Ideal offener, egalitärer Kommunikation, die aber oft gerade nicht sozial oder politisch gedacht wurde. Der gesellige Diskurs war selbstredend ein Oberschichtendiskurs. Die Forderung der Baronesse nach Restituierung von Geselligkeit als gesellschaftliches Konsensprinzip erscheint 1795 überdem bereits anachronistisch. Gesellschaftlichkeit wurde angesichts der sozialen, politischen und militärischen Konflikte zunehmend in ihrer Widersprüchlichkeit erkannt. Ein Befund, der sich mit einer Beschreibung von Geselligkeit als harmonische Form des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft nur schwer vereinbaren ließ.110 Die Baronesse indes hält an der Synonymität von Geselligkeit und Gesellschaft fest, für die vor allem die Taktung von Soziabilität und Individualität entscheidend ist. Anders als die Krisenerfahrung im ›Dekameron‹, auf dessen Analogie gerne verwiesen wird, ist die Krise in den ›Unterhaltungen‹ keine Bedrohung von Außen, der sich durch Delokation zu entziehen wäre. Der auktoriale Erzähler der Rahmenhandlung der ›Unterhaltungen‹ schildert die äußerliche Situation weniger als krisenhaft, denn hoffnungsvoll. Nach langer Zeit entbehrungsreicher Flucht scheint sich für unsere Emigranten nun alles wieder zum Positiven zu wenden. In der Hoffnung auf den weiteren Fortgang der siegreichen Waffen, und begierig einen Teil ihres Eigentums zu ergreifen, eilte die Familie auf ein Gut, das an dem rechten Ufer des Rhein’s, in der schönsten Lage, ihr zugehörte. Wie erquickt fanden sie sich, als sie den schönen Strom wieder vor ihren Fenstern vorbeifließen sahen, wie freudig nahmen sie wieder von jedem Teile des Hauses Besitz, wie freundlich begrüßten sie die bekannten Mobilien, die alten Bilder und jeglichen Hausrat, wie wert war ihnen auch das geringste das sie schon verloren gegeben hatten, wie stiegen ihre Hoffnungen: dereinst auch jenseits des Rheines alles noch in dem alten Zustande zu finden!111

Die Familie befindet sich also keineswegs in krisenhafter Not und Bedrängnis, wie oft zu lesen ist. Nein, dies alles ist überwunden und die erneute Land-

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Zu dieser Problematik ausführlich Friedrich Vollhardt, Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2001. FA 9, S. 999.

nahme eine Rückkehr auf revolutionär unversehrtes Territorium.112 Aber auch der Rückzug auf das adlige Landgut vermag der Gesellschaft nicht zu helfen. Die zurückgewonnene materielle Sicherheit lässt erst den durch die Flucht und ihre Sorgen überblendeten wirklichen Zustand des Kreises erkennbar hervortreten. Die zersetzende Krankheit sind weder die draußen wütende Pest noch die Revolutionstruppen, sondern der Zerfall des geselligen und damit auch des gesellschaftlichen Zusammenhangs als Form der Kultur, dessen Notwendigkeit die Baronesse nun wieder beschwört: »vielleicht haben wir nie nötiger gehabt uns aneinander zu schließen«.113 Und die Progression des Zerfalls wird unterstrichen in der Notwendigkeit zu einer Maßregelung durch ein »Gesetz«, das offenbar allein den Zusammenhang noch konstituieren kann.114 Die exekutiven Medien dieses Gesetzes sind das Gespräch und die Erzählung. Das Gesetz bedeutet denn auch nicht den Rückgang auf die eingespielte Adelskultur und ist kein Indiz für ein politisch-restauratives Plädoyer Goethes, sondern Rekurs auf das in der Renaissance wiederbelebte Konzept einer geselligen humanitas.115 Hier findet sich dann auch wieder die Analogie zum ›Dekameron‹. Die dort porträtierte Krise stellt sich bei einem genauen Blick nicht nur als Krankheit des menschlichen, sondern auch des Gesellschaftskörpers dar, wenn die Konsequenz der äußeren Krankheit sich ausbreitender Egoismus und anarchische Zersetzung der moralischen wie der juristischen Ordnung ist. Das ›Dekameron‹ setzt dagegen das für die Renaissance zentrale Modell einer narrativen Diätetik, einer durchaus physiologisch gedachten Rekonvaleszenz durch das Medium der Dichtung. Dies ist der Konnex zwischen Renaissance-Philologie und Renaissance-Novellistik.116 Schiller mag falsch gelegen haben, die Prokurator-Novelle dem Boccaccio zuzuschlagen,117 doch der Hinweis auf das entsprechende Erzählkonzept lag offenbar nahe. Denn schon hier wird das Problem von Gesellschaftlichkeit und

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Man vergleiche nur diese Darstellung mit der von der späteren Besetzung Weimars durch napoleonische Truppen in ›Dichtung und Wahrheit‹, bei der Goethe wirklich Not auszustehen hatte. FA 9, S. 1009. Für Wulf Segebrecht (Geselligkeit und Gesellschaft, S. 309) ist das gesellige Erzählen ein »prinzipiell apologetischer Akt, es bestätigt das Bestehende, und restauriert, was herkömmlich ist.« Leider wird dabei immer übersehen, dass dies die Position der Baronesse ist, die nicht mit der des Autors identifiziert werden kann. Vgl. Gert Ueding, Gesprächsgesellschaft in Utopia. Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹. In: ders., Aufklärung über Rhetorik. Versuche über Beredsamkeit, ihre Theorie und praktische Bewährung, Tübingen 1992, S. 125–137; S. 131. Vgl. dazu Karl Borinski, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie.Vom Ausgang des klassischen Altertums bis auf Goethe und Wilhelm von Humboldt. 2 Bde. Bd. 1: Mittelalter, Renaissance, Barock, Leipzig 1914, S. 111ff. Siehe auch Eckhard Kessler, Petrarcars Philologie. In: Fritz Schalk (Hg.), Petrarca, 1304–1374. Beiträge zu Werk und Wirkung, Frankfurt/M. 1975, S. 97–112. Vgl. Schillers Brief an Goethe vom 20. März 1795. In: MA 8.1, S. 72.

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Liebesthematik, öffentlicher und privater Geschichte enggeführt. An diese Tradition des ›Dekameron‹ schließt Goethe an. Nur geraten bei ihm öffentliches und privates Subjekt in einen kaum mehr auflösbaren Gegensatz,118 der nur in der Verbannung des Politischen aus der Sphäre des Intimen begegnet werden kann. Die Erzählungen sollen, so die Baronesse, nicht nur von den Tagesereignissen ablenken, sondern die tiefe Zerrüttung der Gesellschaft als Gemeinschaft privater Subjekte wieder ›heilen‹. Die Baronesse denkt dabei noch ganz im Modell einer konfliktlos gedachten Koexistenz von privater und öffentlicher Geschichte. Ein Konnex, der sich, wie Luhmann gezeigt hat, unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung nicht halten kann, wenn Gesellschaftlichkeit auf funktionale Leistungen umgestellt wird. Er wird bereits bei Schleiermacher aufgegeben, wenn dort die identifikatorische Gemeinschaft der Freunde und Liebenden der Gesellschaft der sozial organisierten Prozesse wertend gegenüberstellt wird.119 Die Baronesse hält an deren Identität fest und zeigt darin noch ganz ihre Bindung an einen stratifikatorischen Gesellschaftsbegriff.120 Die typologische Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft greift bei der Baronesse noch nicht. Gesellschaftliche und gemeinschaftliche Einheit sind bei ihr einander bedingende Begriffe.121 Ihr Wunsch, die Familie als Ort der Isolierung von gesellschaftlicher Funktionalisierung zum Zentrum gesellschaftlicher Integration zu machen, zeigt dabei aber bereits ein Bewusstsein der Gefährdung dieses Nexus’ an. Die ›Unterhaltungen‹ sind das Protokoll der Krise der Verankerung von Gesellschaft im Begriff des Individuums wie der Gemeinschaft. Es liegt eine unter der Überschrift ›Politikverbot‹ zu oft verharmloste Sprengkraft in den ›Unterhaltungen‹.122 Das Politische tritt hier als mehr oder weniger

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Vgl. Gerhard Neumann, Die Anfänge deutscher Novellistik. Schillers ›Verbrechen aus verlorener Ehre‹ – Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹. In: Wilfried Barner/Eberhardt Lämmert/Norbert Oellers (Hg.), Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik, Stuttgart 1984, S. 433–460; S. 448. Vgl. dazu Gianni Vattimo, Die Hermeneutik und das Modell der Gemeinschaft. In: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, S. 208–222. Vgl. Luhmann, Individuum und dazu nochmals die theoretischen Vorbemerkungen Seite 16f. Diese Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft entstammt natürlich Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Berlin 1887. Tönnies’ Buch, so könnte man sagen, ist die begriffliche Reinigungsarbeit eines Differenzierungsprozesses, der bereits im späten 18. Jahrhundert einsetzt. In den ›Horen‹ wie in den ›Unterhaltungen‹ ist das Politikverbot keineswegs nur »ein Topos […] der sogenannten Parteilosigkeit«, wie Paul Hocks und Peter Schmidt (Literarische und politische Zeitschriften 1789–1805. Von der politischen Revolution zur Literaturrevolution, Stuttgart 1975, S. 67) für die liberalen Blätter feststellen. Zwar wird der Parteigeist angegriffen, aber nur als typische Erscheinungsform des Politischen.

willkürliches Tagesereignis auf, das, je wie das »Glück der Waffen« sich wendet, mal so mal so ausschlägt. Das Politische ist Kontingenz schlechthin und die Revolution und der Krieg ihr äußerster Ausdruck.123 Dass Kontingenz zum ubiquitären Definiens von Moderne geworden ist, ist seit der Beobachtung von Kontingenz, also seit der verstärkten Umstellung auf die Beobachtung von Beobachtung seit dem 17. Jahrhundert ein Topos.124 Geselligkeit als gesellschaftlicher Integrationsmechanismus unterliegt dabei bereits dieser Umstellung. Sie wird durch die Baronesse bereits als Exklusions-/Inklusionskriterium der Gemeinschaft gehandhabt und unterläuft damit ihren eigenen Anspruch einer umfassenden Integration von Gesellschaft. Da die Begriffe durch die Baronesse eben noch nicht unterschieden werden, können sie in der Darstellung auch weiterhin synonym verwandt werden. Man kann sich eben gesellig und ungesellig verhalten. Wer ersteres tut, gehört dazu, wer nicht, wird aus der (Erzähl-)Gesellschaft ausgeschlossen. So aber tritt Geselligkeit selbst unter das Gesetz moderner Kontingenz. Nur die Religion konnte und kann die Kontingenz der Welteinrichtung als notwendig erklären und solchermaßen alle Kontingenzen integrieren. Entfällt das Religiöse als Legitimationsinstanz, in den ›Unterhaltungen‹ spielt es keine Rolle, und tritt das Politische in die Mitte gesellschaftlicher Integrationsbegründung, dann wird die Konsequenz deutlich, »daß es für den gesellschaftlichen Zusammenhang der Funktionssysteme […] keine gesellschaftlich notwendigen Formen mehr gibt«.125 Auch die Geselligkeit nicht. Das Gesetz ist noch der Versuch, durch Festschreibung der Exklusionsbedingungen den geselligen Kreis geschlossen zu halten und dem Politisch-Kontingenten den Eingang zu verwehren. Der Plan der Baronesse zielt darauf, im Akt kontinuitätsstiftenden Erzählens die gesellschaftlichen Zersetzungserscheinungen durch den Erzählrahmen wieder zu reintegrieren, ohne diese ignorieren zu wollen. Die Baronesse billigt – anders als der Geheimerat – denn auch jedem zu, zu den Tagesereignissen Stellung zu beziehen, sich seine Meinung zu bilden und diese kundzutun. Sie will den politischen Diskurs auslagern und damit bändigen. »Ich kann die Gesinnungen nicht ändern, die bei einem Jeden nach seiner Denkweise entstehen, sich befestigen, streben, wirken, und es wäre eben so törigt als grausam zu

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Und dies sowohl in traditionellem Sinne des »Es könnte auch anders sein« wie auch in Luhmanns Definition als Beobachtung von Beobachtung. Krieg und Politik gründen sich gänzlich auf Reaktionen, die nicht nur aus Beobachtungen des anderen Lagers entstehen, sondern vor allem aus Reaktionen auf die Beobachtung, dass man selbst beobachtet wird. Krieg und Politik sind dabei beständig sowohl auf Selbstbeobachtung als auch auf Fremdbeobachtung angewiesen: »alles wird kontingent, wenn das, was beobachtet wird, davon abhängt wer beobachtet wird«. Niklas Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 100. Vgl. ebd., S. 93–128. Ebd., S. 126.

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verlangen, daß er sie nicht mitteilen sollte.«126 Die Diskussion des politischen Tagesgesprächs wird aus dem Zentrum der Gemeinschaft in die Peripherie der Spaziergänge und Privatzimmer verbannt. Dort wo »Gesellschaft« sich jedoch in Geselligkeit konstituiert, steht nur die Erzählung.127 Die Unmittelbarkeit des von ihr eingeforderten mündlichen Erzählens entspricht dem Wunsch nach unmittelbarer Gemeinschaft im Sozialen, die aber bereits verloren scheint. Ihre Forderung zielt nicht auf das »Interesse des Tages«,128 sondern auf die Problematik gesellschaftlichen Zusammenhangs. Dessen Verlust erklärt sich aus der Dislokation des Politischen von der Peripherie verwaltungstechnischer Ausführung ins Zentrum privater wie öffentlicher Kommunikation, die die Baronesse, anders als der Abbé, nicht unterscheidet.129 Mit dieser Einschätzung hatte Schiller die ›Horen‹ im ersten Stück eröffnet. Genau wie in den ›Unterhaltungen‹ ist es nicht der Krieg, der eine politische Bedrohung etwa des Ancien Régime darstellt, sondern das Politische selbst ist 126 127

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FA 9, S. 1007. Gegen Koch (Weimaraner Weltbewohner, S. 164) sehe ich sehr wohl, dass die Literatur durch die Baronesse »eine fundierende Kraft für das Ganze der Gemeinschaft zugewiesen« bekommt. Koch ignoriert hier die narrativen Distanzierungen der Einzelperspektive der Baronesse. FA 9, S. 1009. Natürlich war Goethe in hohem Maße Politiker und vor allem auch Bildungspolitiker. Hier zeigt sich freilich Goethes dezidiert nicht-demokratische Politikauffassung. Politik besteht in Goethes Selbstdarstellung vor allem in der Administrierung verwaltungstechnischer Akte und nicht etwa in der Herstellung gesellschaftlichen Konsens durch Öffentlichkeit über Fragen der Angemessenheit dieser Akte. Seine Haltung kann daher auch kaum »demokratisch« genannt werden, wie Ekkehart Krippendorff (Goethe. Politik gegen den Zeitgeist, Frankfurt/M. – Leipzig 1999, S. 72) es tut. Dass dieses Bild natürlich eine Stilisierung ist, die das politische Handeln Goethes biographisch verdunkelt, zeigte jüngst in einer gewichtigen Studie Gerhard Müller, Vom Regieren zum Gestalten. Goethe und die Universität Jena, Heidelberg 2006. Müller lässt aber auch die Frage unbeantwortet, wie sich konkretes politisches Handeln und die Abweisung des Politischen als gesellschaftliche Integrationskraft miteinander vermitteln lassen. Bei aller Berechtigung der realhistorischen Fragestellung: so gerät das dichterische Werk in der Tat in die Position bedeutungsloser Wortspielerei. Hier würde die systemtheoretische Vorsicht gegenüber einer vorschnellen Identifizierung von Systemhandeln und -kommunikation mit dem Personenbegriff angebracht sein, um die Gleichzeitigkeit beschreiben zu können. Zu Goethes Politikverständnis siehe auch: Wolfgang Rothe, Der politische Goethe. Dichter und Staatsdiener im deutschen Spätabsolutismus, Göttingen 1998. Den Forschungsstand bis Ende der 90er Jahre fasst zusammen: Hans Rudolf Vaget, Der politische Goethe und kein Ende. Zum Stand der Diskussion nach dem Jubiläumsjahr 1999. In: Goethe. Aspekte eines universalen Werkes, hg. von der Ortsvereinigung Hamburg der Goethe-Gesellschaft, Dössel 2005, S. 124–145. Speziell zu Goethes Verhalten während der Revolutionszeit gewohnt kritisch W. Daniel Wilson, Goethes Weimar und die französische Revolution. Dokumente der Krisenjahre, Köln – Weimar – Wien 2004. Aus der älteren Forschung Hans Tümmler, Goethe in Staat und Politik, Köln 1964.

die Bedrohung, wird zum eigentlichen Krieg und das Politikverbot der ›Horen‹ macht diese zum Ort des Exils von universalisierter Kontingenzerfahrung oder genauer: zum Ort der funktionalen Auslagerung von Kontingenz, mit der die moderne Gesellschaft diese operationalisierbar zu machen sucht. Schiller setzt die Kunst an die verloren gegangene Integrationsstelle der Religion. Zu einer Zeit, wo das nahe Geräusch des Krieges das Vaterland ängstigt, wo der Kampf politischer Meinungen und Interessen diesen Krieg beinahe in jedem Zirkel erneuert, und nur allzu oft Musen und Grazien daraus verscheucht, wo weder in Gesprächen noch in den Schriften des Tages vor diesem allverfolgenden Dämon der Staatscritik Rettung ist, möchte es ebenso gewagt als verdienstlich seyn, den so sehr zerstreuten Leser zu einer Unterhaltung ganz anderer Art einzuladen. […] Aber je mehr das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüther in Spannung setzt, einengt und unterjocht, desto dringender wird das Bedürfnis, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist, sie wieder in Freyheit zu setzen, und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen. […] Mitten in diesem politischen Tumult soll sie für Musen und Charitinnen einen engen vertraulichen Zirkel schließen, aus welchen alles verbannt seyn wird, was mit einem unreinen Partheygeist gestempelt ist.130

Die in der Goethe-Zeit so oft beklagte Zersplitterung der Gegenwart erscheint hier als Effekt der Universalisierung des Politischen zum gesellschaftlichen Konsensprinzip, das die Kunst verdrängt. Die politische Diskussion unterminiert jede Option auf Konstituierung gesellschaftlicher Einheit im Gespräch.131 Darin zeigt sich auch einmal mehr Goethes und Schillers abwiegelnde Haltung gegenüber jeder Idee der Gemeinschaftsstiftung durch politische Einheitskonzepte des Nationalen und Völkischen, wie sie dann im Zuge der Befreiungskriege, an denen Goethe seinem Sohn verboten hat, teilzunehmen, so inflationär um sich griffen. Der politische Radikalismus Karls und des Geheimrats als Gemeinschaftsprinzip einerseits, der Versuch unmittelbarer Gemeinschaftsstiftung der Baronesse durch geselliges Erzählen andererseits sind nur verschiedene Erscheinungsweisen des gleichen Phänomens: des Aufbrechens der Geselligkeitsutopie einer Identität von Gemeinschaft und Gesellschaft. Die Baronesse versucht diese noch durch ihr ›Gesetz‹ zu restabilisieren. Karl verschiebt den gemeinschaftsstiftenden Akt von der genealogischen Beherrschung, die der Geheimrat durch den Strang sichergestellt sehen will, auf die Despotie politischer Gesinnung unter der Fahne der Freiheit, die, wo sie nicht durch Einsicht, dann mit Hilfe der Guillotine Einheit erzwingt.

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Friedrich Schiller, Die Horen. Eine Monatsschrift von einer Gesellschaft verfasst und herausgegeben von Schiller. Erster Band. Erster Stück 1795. In: Die Horen. Unverä. Nachdruck in 6 Bänden. Bd. 1, Weimar 2000, S. III–IX; S. IIIf. FA 9, S. 1000.

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Der Disput zwischen beiden ist der Einspruch Goethes gegen jeden »Radikalismus der Gemeinschaft«, der in Terror jederzeit umzuschlagen droht.132 Auch Schiller weist in seiner Einleitung zu den ›Horen‹ das Politische als Einheitsprinzip zurück. Er greift dabei offenbar auf Wielands ›Vorrede des Herausgebers‹ zur Eröffnung des ›Teutschen Merkurs‹ zurück. Dort hatte Wieland mit Blick auf die Gelehrtenrepublik ein Modell demokratischer Redefreiheit gegen ein Herausgebermodell aristokratischer Steuerung gesetzt. »Die gelehrte Republick in Deutschland hat seit einiger Zeit die Gestalt einer im Tumult entstandenen Demokratie gewonnen, worinn ein jeder […] wohl oder übel über die Angelegenheiten des Staates spricht«. Kennzeichen dieses ›Demokratismus‹ seien »Partheylichkeit« und »Verwirrung« und er ziele darauf, »die Verfassung dieses Staats, der seiner Natur nach Aristokratisch seyn muß, gänzlich umzukehren.«133 Dem entspricht denn auch Wielands Versuch, im beständigen Setzen von Anmerkungen und Vor- und Nachreden durch seine Herausgeberposition, trotz der immensen Fächer-, Gattungs- und Themenvielfalt, so etwas wie einen einheitlichen Stil zu etablieren. Damit gerät der Herausgeber Wieland, der zugleich sein eifrigster Beiträger war, zunehmend in die Position philologischer Autorschaft.134 Wieland verfolgt dabei ein Programm ›geführter Emanzipation‹, das zwischen aufklärerischer Lenkung und Erziehung den Eindruck der Bevormundung des Lesers unbedingt vermeiden muss. Damit wird bei Wieland ein aporetischer Zug von Aufklärung sichtbar: Einerseits ist Wahrheit, Objektivität und Unparteilichkeit erklärtes Ziel des ›Merkurs‹, andererseits setzt er sich als Herausgeber-Autor in die Position des Richters einer »Art von litterarischem Revisions-Gericht«, behauptet aber, »das Publicum allein ist Richter«.135 Die Inanspruchnahme des juridischen Diskurses aber ist nur rhetorischer Trick. Folgt der Richter dem Gesetz als Maßgabe seines Urteils, erklärt sich seine Objektivität durch genaue Befolgung des Gesetzestextes, so fehlt ein solcher Maßstab für den Bereich der Kultur. Hier ist der Herausgeber zunächst die Recht sprechende Instanz und so wird denn auch dem Publikum die Fähigkeit zum rechten Urteil gleich wieder abgesprochen.136 Wieland selbst setzt den Maßstab, der aber doch

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In der Tat weist die Beschreibung Karls wie des Geheimrats nahezu alle Attribute gemeinschaftlichen Radikalismus auf, wie Helmuth Plessner (Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Bonn 21972, S. 13–38; S. 38) sie beschreibt. Alle Christoph Martin Wieland, Vorrede des Herausgebers. In: Der Teutsche Merkur. Des Ersten Bandes Erstes Stück 1773, S. III–XXII; S. XIIIf. Von »auktorialer Herausgeberschaft« spricht Andrea Heinz, Auf dem Weg zur Kulturzeitschrift. Die ersten Jahrgänge von Wielands ›Teutschem Merkur‹. In: dies. (Hg.), ›Der teutsche Merkur‹ – die erste deutsche Kulturzeitschrift?, Heidelberg 2003, S. 11–36; S. 30. Heinz präsentiert sehr anschauliche Graphiken zu den verschiedenen Textsorten und Autorenanteilen der ersten Jahrgänge. Wieland, Vorrede, S. XIIIf. Vgl. Wieland, Vorrede, S. XVII.

mit einem polykontexturalen und polyperspektivistischen Kulturbegriff erst im Prozess kommunikativer Öffentlichkeit vorbehaltlos zu diskutieren wäre. Damit zeigt sich ein noch gespaltenes Verhältnis zur Marktmacht des Publikums, dem auf der einen Seite die Fähigkeit ästhetischer Wertschätzung abgesprochen wird, um das auf der anderen Seite jedoch beständig als Subskribent gebuhlt wird. Eine Figur, die sich vor allem bei Schiller in den ›Horen‹ wiederfinden lässt. Wielands paratextuelle Steuerungsinstrumente erheben den Anspruch einer autoritativen, oder wie er selbst sagt, »aristokratischen« Stimme.137 Auf eine Formel gebracht ließe sich von kultureller Bevormundung bei ökonomischer Emanzipation des Publikums von dieser Kulturaristokratie sprechen. Schiller spielt ganz offensichtlich auf Wielands ›Vorrede‹ an. Damit situiert er einerseits die ›Horen‹ in der vom ›Teutschen Merkur‹ begründeten Tradition der Kulturzeitschrift138 und sucht gleichzeitig dessen Stelle als das maßgebliche literarische Journal zu besetzen,139 andererseits wendet er dessen Metaphorik entscheidend um. Fungiert bei Wieland der Staat und seine politischen Verfassungen als (bekannte) Metapher für den Zustand innerhalb der Gelehrtenwelt und sucht er den ›Merkur‹ als metakritischen Kommentar ihrer Zeitschriften und der damit verbundenen Streitkultur zu situieren, so entkleidet Schiller diese Rede jeglicher Metaphorizität und wendet sie ins Grundsätzliche. Die ›Horen‹ sollen nicht nur innerhalb der literarisch-wissenschaftlichen Welt eine Ausnahmeposition einnehmen, sondern von dieser apolitischen Position aus soll ein anderes Modell gesellschaftlichen Zusammenhangs propagiert werden: Nicht eine bestimmte Politik, das Politische selbst wird als Problem ausgemacht.140 Das Denkmodell entwickelt Schiller in seinen ›Ästhetischen Briefen‹ im Kontext einer breit angelegten Analyse der Gegenwart systematisch. Insbesondere der sechste Brief thematisiert die Zersetzung des gesellschaftlichen Zusammenhangs durch die Universalisierung der Politik und die damit einhergehende Zurückdrängung der Kunst in die gesellschaftliche Nische einer stupenden Unterhal137

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Allzu optimistisch liest John A. McCarthy (Wielands ›Teutscher Merkur‹ und die republikanische Freiheit des Lesers im öffentlichen Leben des 18. Jahrhunderts. In: Heinz (Hg.), ›Der teutsche Merkur‹, S. 51–67) Wieland als Aufklärer einer emanzipierten Öffentlichkeit. Zur Begründung dieser Rubrizierung siehe: Heinz, Auf dem Weg. Dort auch eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen Bewertungen des Projektes. Heinz macht zugleich darauf aufmerksam, dass die Vorreden Wielands nicht immer mit der konkreten Publikationspraxis übereinstimmen. Hier geht es mir aber ganz bewusst um ›Programmatiken‹. Und trat damit natürlich in Konkurrenz zu Wielands ›Der Neue Teusche Merkur‹, den dieser ab 1790 herausgegeben hatte. Ironischerweise war Cotta an Schiller mit dem Plan zu einer politischen Tageszeitung herangetreten. Dem hat Schiller sich mit Verweis auf seine Unerfahrenheit auf politischem Terrain verweigert und stattdessen versucht, ihm das ›Horen‹-Projekt schmackhaft zu machen. Vgl. den Brief an Cotta vom 14. Juni 1794. In: NA 27, S. 14–16.

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tung.141 Im vierten Brief skizziert er zunächst die Dialektik der Aufklärung, die in sich den Keim ihrer Selbstaufhebung bereits trägt und nun in der Adelsgesellschaft, die mit der Aufklärung kokettiere, gegen diese umschlägt. Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im Ganzen so wenig veredelnden Einfluß auf die Gesinnungen, daß sie vielmehr die Verderbniß durch Maximen befestigt. […] Mitten im Schooße der raffinirtesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit heraus zu bringen, erfahren wir alle Ansteckungen und Drangsale der Gesellschaft.142

Diese Diagnose verschärft sich im sechsten Brief in der Gegenüberstellung von griechischer Antike und Moderne noch einmal. Dort habe das Verhältnis von Individuum und Gattung, Subjekt und Staat, Verstand und Kunst noch völlig harmonisch eine Totalität gebildet, für die Schiller hier im Übrigen wie Friedrich Schlegel kurze Zeit später die Polypenmetapher als Beispiel für eine Einheitskonzeption, die Individualität und Ganzheit vermitteln kann, anführt.143 Für die sich ausdifferenzierende Gegenwart sieht Schiller nicht einmal mehr einen fragmentierten Zusammenhang, der doch, deshalb die Polypenmetapher, immer noch Zusammenhang ist, sondern nur loses Bruchwerk, das sich zu keiner Einheit mehr fügen kann. Jene Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens genoß, und wenn es Noth that, zum Ganzen werden konnte, machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerk Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlicher vieler, aber lebloser Theile ein menchanisches Leben im Ganzen sich bildet. […] Ewig nur an ein einzelnes Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet der Mensch sich selbst nur als Bruchstück aus.144

Schiller erkennt dabei an, dass der Kulturprozess diesem Mechanismus notwendig folgt, wenn er nicht im Stillstand verharren will. Die klassische Antike ist gleichsam nur ein prägnanter Moment, der nicht auf Dauer fixiert werden kann. Es eröffnet sich daher die Frage, ob und wenn ja, wie die selbst geschlagene Wunde der Kultur geheilt werden könne und damit eben jener verloren gegangene gesellschaftliche Zusammenhang, der das Verhältnis von Staat und Individuen nicht mehr allein als Antagonismus zu beschreiben übrig lässt, wiederherzustellen wäre. Der siebente Brief diskutiert die Frage, ob der Staat selbst diese Wirkung erzielen könne. Dem politischen Staat spricht Schiller das Ver141

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Vgl. Friedrich Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: NA Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil. Hg. von Helmut Koopmann und Benno v. Wiese, Weimar 1962, S. 309–412, insbesondere auch den 2. Brief ebd., S. 310f. NA 20, S. 320. Vgl. oben Seite 129. NA 20, S. 323.

mögen ab, da er selbst Produkt des die Bindungen auflösenden Kulturmechanismus ist und diesen, um existieren zu können, weiter vorantreiben muss. Politische Gewalt und Geselligkeit als Form des zukünftigen moralischen Staats stehen sich unversöhnlich gegenüber. Jener von Schiller anvisierte Staat bedürfte des Politischen als Medium seiner Integration nicht mehr bzw. erkennte, dass Integration und Politik auf sich ausschließenden Prämissen beruhen. Schiller sucht auch noch diesen Antagonismus in der rhetorischen Frage historisch zu prozessieren: »Der Konflikt blinder Kräfte soll in der politischen Welt ewig dauern, und das gesellige Gesetz nie über die feindselige Selbstsucht siegen?«145 Er präsentiert in den ›Ästhetischen Briefen‹ eine Denkfigur, die auch den Begriff des Individuums nicht ahistorisch, sondern historisch formuliert. Zwischen der Bildung des Individuums und historischer Entwicklung wird so eine enge wechselseitige Bezogenheit etabliert. Es bietet sich keine Alternative zur Überwindung des politischen Staates an, »bis die Trennung in dem inneren Menschen wieder aufgehoben« ist.146 Diese Aufgabe kommt nun der Kunst bzw. der ästhetischen Erziehung zu: »so muß es bey uns stehen, diese Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat durch eine höhere Kunst wieder herzustellen«.147 In diesem höchsten Anspruch an die Kunst besteht wohl bei allen Differenzen der große gemeinsame Nenner zwischen Klassik und Romantik. Wenngleich der Realist Goethe diesem Anspruch – etwa in Wilhelm Meisters Werdegang – immer die lebensweltliche Erdung entgegenstellt, so zeugen noch die Weimarer Preisausschreiben für Künstler von der in den 1790er Jahren auch bei ihm sehr ausgeprägten bildungsästhetischen Sendung, die er auch im Alter nicht gänzlich ablegen kann, aber eine entscheidende Verlagerung vom öffentlichen Kunstdoktrinimus zum privaten Anschauungsunterricht erfährt, wie es sich bereits in ›Der Sammler und die Seinigen‹ zeigte. Verfehlt wäre es daher auch, in der vorgeblichen Entpolitisierung eine Beschwichtigungsstrategie zu sehen.148 Im Selbstverständnis der Autoren waren ihre Projekte weitaus radikaler als eine in politischen Tagesfragen verstrickte Publizistik. Ihre Zurückweisung des Politischen versteht etwa Schiller denn auch durchaus als politischen Akt anderer Art. Es läge nun nahe zu sagen, die offensichtlichen Übereinstimmungen in Schillers Konzeption und der Darstellung der Rahmenhandlung in den ›Unterhaltungen‹ seien bereits das vom poetischen Praktiker Goethe ausgeführte Programm des ästhetischen Theoretikers Schiller.149 In der Tat ist die Konfigura-

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NA 20, S. 328. NA 20, S. 329. NA 20, S. 328. Vgl. Hocks/Schmidt, Literarische und politische Zeitschriften, S. 101. So argumentiert etwas vereinfacht Hartmut Reinhardt (Ästhetische Geselligkeit. Goethes literarischer Dialog mit Schiller in den ›Unterhaltungen deutscher Anusgewanderten‹. In: Peter-André Alt/Alexander Košenina/Hartmut Reinhardt u.a. (Hg.), Prägnan-

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tion des »Märchens«, wie Kai Kauffmann jüngst zeigen konnte, ziemlich genau an Schillers Figur einer gesellschaftlichen Integration durch die Transformation des Kreatürlichen in die Ordnung der Kultur orientiert, wobei Goethe, anders als Schiller, jeglichen instrumentellen Anwendungsbezug auf Wirklichkeit qua Gattungsbezeichnung ›Märchen‹ suspendiert und genau jene Öffentlichkeit ausgeklammert wird, auf die dieser zielt. Damit ist bei Goethe auch die Idee einer zielführenden Steuerung zum neuen, ästhetischen Menschen, wie Schiller sie propagiert, deutlich relativiert.150 Goethes ›Märchen‹ lässt sich nicht auf eine der beiden Optionen, geschichtliche oder ästhetische Integrationsphantasie zu sein, festlegen.151 Ich möchte eine weitere Einschränkung vorschlagen. Es scheint auch mir abwegig, Goethe und Schiller, gerade Freunde geworden, hier bereits wieder in einen grundsätzlichen Gegensatz zu bringen, der Goethe zu einer Polemik veranlasst haben soll. Man war sich ja gerade erst über die Gemeinsamkeiten einig geworden.152 Überdem scheint mir insbesondere darin eine »Kränkung des ›Horen‹-Herausgebers«153 zu bestehen, ihm zu unterstellen, er hätte Goethes vorgeblichen Angriffe und Belustigungen über seine ›Ästhetischen Briefen‹

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ter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings, Würzburg 2002, S. 311–342) gegen eine Forschungstradition, die in den ›Unterhaltungen‹ einen subversiven Gegenentwurf Goethes zu Schillers ›Ästhetischen Briefen‹ liest. Dafür paradigmatisch: Ulrich Gaier, Soziale Bildung gegen ästhetische Erziehung. Goethes Rahmen der ›Unterhaltungen‹ als satirische Antithese zu Schillers ›Ästhetischen Briefen‹ I–XI. In: Helmut Bachmaier/Thomas Rentsch (Hg.), Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins, Stuttgart 1987, S. 207–272. Vgl. Kai Kauffmann, Phantastische Austauschprozesse. Zu Goethes ›Märchen‹ und den Heimatsträumen in Kellers ›Grünem Heinrich‹. In: Georg Mein/Franziska Schößler (Hg.), Tauschprozesse. Kulturwissenschaftliche Verhandlungen des Ökonomischen, Bielefeld 2005, S. 203–226; besonders 210f. Kauffmann kann in der Gegenüberstellung zu Keller sehr gut die Unterschiede zwischen dem Goetheschen Integrationsbegriff und einem an Konzepte von Volk, Nation und Heimat angelehnten Einheitsverständnis aufzeigen. Siehe für das Verhältnis von Schillers ›Ästhetischen Briefen‹ und Goethes ›Märchen‹ auch: Hartmut Reinhardt, ›Lizenz zum Spielen‹. Goethes ›Märchen‹ in seiner dialogischen Verbindung mit Schillers ästhetischen Schriften. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 47 (2003), S. 99–122. Vgl. Neumann, Die Anfänge, S. 454. Nach ihrem 14tägigen Werkstattgespräch in der zweiten Septemberhälfte 1794 schreibt Goethe an Schiller am 1. Oktober 1794 denn auch: »Wir wissen nun, mein wertester, aus unsrer vierzehntägigen Konferenz: daß wir in Prinzipien einig sind und daß die Kreise unsers Empfindens, Denkens, Wirkens teils koinzidieren, teils sich berühren, daraus wird sich für beide gar mancherlei Gutes ergeben. Für die Horen habe fortgesetzt zu denken und angefangen zu arbeiten«. MA 8.1, S. 26. So Koch (Weimaraner Weltbewohner, S. 162), der sich damit auf die Seite Gaiers, (Soziale Bildung gegen ästhetische Erziehung, S. 207–272) schlägt und einen grundsätzlichen Antagonismus zwischen Schiller und Goethe konstatiert.

gar nicht erst bemerkt. So dumm war Schiller nicht. Und hätte er es bemerkt, wie wäre auf dieser Basis der ›Freundschaftsbund‹ – selbst wenn man ihn realistischer als strategische Allianz versteht – denkbar gewesen? Ebenso scheint mir aber eine bloße Exekution des Schillerschen Programms durch Goethe zu kurz zu greifen. Was Goethe mit den ›Unterhaltungen‹ vorlegt, ist vielmehr ein erster, sehr viel nüchternder Schritt zu jenem Erlösungsanspruch, den Schiller an die Kunst stellt. Hier wird die Poesie und ihre unterschiedlichen Poetiken einer kritischen Inventur unterzogen, um zu übersehen, worauf denn die Möglichkeit einer Kunst in der Moderne überhaupt zu gründen wäre. Wurde zu Beginn des Kapitels Bertuchs Erzählsammlung als Erzählarchiv vorgestellt, das in seinem Zwitterdasein zwischen Werkkorpus und Journal beide mit jenem Integrationsanspruch verband, so lenkt dies die Aufmerksamkeit nicht allein auf die poetologischen Konzepte eines solchen Erzählens, sondern auch auf das Problem der medialen Überlieferungsbedingungen. Anders gesagt: die poetologische Erzählreflexion der ›Unterhaltungen‹ ist eingelagert in eine Diskussion der Medien des Erzählens.

Medien des Erzählens Goethe selbst verweist im Umfeld der ›Unterhaltungen‹ auf das andere große Erzählprojekt, das ein Anerzählen gegen den Tod der Erzählerin wie der von ihr weitergegebenen literarischen Tradition ist und zugleich das Musterbeispiel für kollektive Autorschaft, philologische Werkkonstitution und Zusammenhangskonstruktion schlechthin darstellt.154 An Schiller schreibt Goethe am 2. Dezember 1794: »überhaupt gedenke ich aber wie die Erzählerin in der tausend und Einen Nacht zu verfahren«.155 In dieser Referenz zeigt sich mehr als eine erzähltechnische Struktur oder Goethes Idee der drucktechnischen Aufteilung seiner

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Ist eigentlich je bemerkt worden, dass Schahrasad auch die eindrücklichste Darstellung einer erotischen Verbindung von Literatur und Philologie ist? »Schahrasad, die ältere der beiden, hatte viele Bücher, Werke der Literatur und die Weisheitsschriften gelesen, auch Werke der Medizin studiert. Sie wußte Gedichte auswendig herzusagen und las mit Vorliebe Überlieferungen zur Geschichte vergangener Zeiten. Alle berühmten Zitate waren ihr bekannt, dazu die Sprüche weiser Richter und Könige, kurzum: Die war klug, verständig, weise und gebildet, hatte gelesen und studiert.« Dabei ist sie ganz und gar nicht, wie in Capellas ›De nuptiis Philologiae et Mercurii‹ das blasse Weib, das sich erst an ihrer Gelehrsamkeit erbrechen muss, um gefreit zu werden, sondern sowohl Philologin als auch Geliebte. Schahrasad bittet ihre Schwester ja nicht etwa vor dem Akt zu unterbrechen, sondern ausdrücklich erst nachdem »der König seine Lust befriedigt hat«! Zitiert nach: Tausendundeine Nacht. Nach der ältesten arabischen Handschrift in der Ausgabe von Muhsin Mahdi erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott, München 2004, S. 20 und S. 28. Vgl. MA 8.1, S. 42.

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Erzählung. Es situiert die ›Unterhaltungen‹ in mitten des Spannungsfeldes, das wir bishier verfolgt haben. Der Verweis auf ›Tausendundeine Nacht‹ und das ›Dekameron‹ präsentiert das Problem auch als Medienproblem. Endete die Erzählung, stürbe die Erzählerin und stürbe die Erzählerin, dann endete das Erzählen. Während ringsherum die Menschen sterben, kehren alle Mitglieder der Florentiner Erzählgesellschaft gesund und unbeschadet von pestilenzischen Einflüssen zurück. Der therapeutische Effekt, der Geselligkeit erzeugende Zusammenhang ist Resultat der mündlichen Erzähltradition, als die die Novellistik hier erscheint – einer Tradition, die freilich nur in Medium der schriftlichen Sammlung auftritt. Die Übersetzerin Claudia Ott weist in ihrem Nachwort zu ihrer Neuausgabe von ›Tausendundeine Nacht‹ darauf hin, dass die Herausgeberstimmen – charakteristischerweise mal als »Autor«, mal als »Der Überlieferer« tituliert – bereits im Arabischen exakt die Fiktion mündlich-epischen Erzählens bezeichnen, wie sie die europäische Novellistik und Goethe inszenieren.156 Ohne dass die Konsequenzen hier wie etwa in den ›Wanderjahren‹ ausbuchstabiert werden, so zeigt sich bereits die Problematisierung einer möglichen Übertragung des Mündlichen in eine Medienfiktion des Schriftlichen. Dieses Medienproblem als Umstellung auf die Bedingung universal gewordener Kommunikation ist eng gekoppelt an die Diagnose einer kollektiven Krise gesellschaftlicher Zersetzung. Vermag die Erzählsammlung noch den gleichen, heilsamen Effekt zu wirken, wie die die Gesellschaftsmitglieder versammelnde Erzählung? Und bezeichnen nicht versammelnde Erzählung und versammelte Erzählungen zwei völlig unterschiedliche Sozialmodelle des Erzählens? Wie sollte die Erzählung noch einen integrativen Sammlungsbegriff vorstellen, wenn doch seit der Romankritik der Frühaufklärung die Vereinzelung des Lesers zu einem gängigen Topos geworden war, der sich auch bei Goethe immer wieder findet? Das Problem von Zusammenhang und Einheit ist also nicht nur ein philologisches Problem anlässlich der Überlieferungsgeschichte zentraler Texte der abendländischen Tradition, sondern steht als Problem selbst in deren wankendem Zentrum. Das Problem aber wird durch die philologische Kritik weiter verschärft. Die Frage nach der Etablierung von Einheit ist nun auch die Frage nach der Möglichkeit einer Soziabilität, die jenseits des politischen Tagesgeschäftes ihr Selbstverständnis im Begriff der Kultur und Bildung zu verankern sucht. Schiller war dies vor allem ein Formproblem. Er forderte denn in seiner ersten

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»Fiktive Erzähler ohne Namen – wie in ›Tausendundeine Nacht‹ – stammen dagegen aus der Welt der arabischen Epik. Sie sind typisch für eine Textsorte, in der professionelle Erzähler anonym überlieferte Texte mündlich vortragen. Die Leser sollen sich wie Zuhörer fühlen, sie sehen vor sich einen Erzähler in einem Kaffeehaus, auf einem Marktplatz oder in einem Orangenhain – überall dort, wo öffentlich vorgelesen wurde und wird.« Claudia Ott, Nachwort. In: Tausendundeine Nacht, S. 655f.

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Reaktion auf das von Goethe eingesandte Material auch gleich ein, den Zusammenhang des Ganzen dem Leser deutlich vorzustellen. Am 29. November 1794 schreibt er: »Nur ist es schade, daß der Leser zu wenig auf einmal zu übersehen bekommt, und daher nicht so im Stande ist, die notwendigen Beziehungen des Gesagten auf das Ganze gehörig zu beurteilen. Es wäre daher zu wünschen gewesen, daß gleich die erste Erzählung hätte können mitgegeben werden.«157 Goethe kommt dem nicht nach, stattdessen antwortet er mit dem Verweis auf ›Tausendundeine Nacht‹. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass bereits in der Grundkonzeption das Spiel von Unterbrechung und Erzählanschluss angelegt ist. Schahrasad muss die Erzählung immer wieder unterbrechen, weil nur der Anschluss ihr Leben sichert. Wie aber soll eine solche auf Unterbrechung und Abschweifung angewiesene Erzählung noch den gewünschten Zusammenhang stiften können? Die Einheit der Erzählung ergibt sich nicht aus den heterogenen Erzählungen selbst, sondern aus dem das Erzählwerk umgebenden Rahmen. Die auf kontingente Übersteuerung angelegte mehr und mehr ineinander verschachtelte Erzählanordnung wird darin aufgehoben. Dieser Rahmen ist aber nicht nur in den hypodiegetischen Ebenen158 von ›Tausendundeine Nacht‹ zu sehen, sondern vor allem in ihren jeweiligen Paratexten, insbesondere des Inhaltsverzeichnisses als editorische Leistung.159 Johann Heinrich Voß publizierte 1781–1785 seine deutsche Übersetzung der französischen Ausgabe von ›Les mille et une nuits‹, die Antoine Galland 1704–1717 herausgegeben hatte.160 Hatte Galland bereits gegenüber der arabischen Handschrift, die selbst eine philologische Kompilation verschiedenster Quellen war, wesentliche Veränderungen etwa in der Anzahl der Nächte vorgenommen und weiteres Material heterogenster Quellen hinzugefügt, so ist Voß vor allem darum bemüht, durch ein tabulatorisches Inhaltsverzeichnis, das sowohl die Nachtzäsurierung als auch die Erzählebene anzeigt, das arabeske Erzählen in eine systematische Übersicht zu überführen.161 Voß folgt damit konsequent der Logik von Buch- und Druckkultur, imitiert aber auf der histoire-Ebene durch szenisch ausgestaltete Dialoge zwischen Schahrasad, ihrer Schwester und dem König eine Gesprächssituation und versucht, die Fiktion

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MA 8.1, S. 40. Der Terminus impliziert keine narratologische Theorieanleihe. Er steht hier allein für die Tatsache vielfacher Schachtelung der Erzählebenen. Hierzu siehe Erika Greber, Textbewegung/Textwebung. Texturierungsmodelle im Fadenkreuz von Prosa und Poesie, Buchstabe und Zahl. In: Buschmeier/Dembeck (Hg.), Textbewegungen, S. 24–48. Zum Verhältnis der Galand-Ausgabe zu der von Voß besorgten siehe Ernst Peter Wiekkenberg, Johann Heinrich Voß und ›Tausend und eine Nacht‹, Würzburg 2002. Vgl. Die tausend und eine Nacht. Arabische Erzählungen ins Franz. übers. von dem Herrn Anton Galland. Aus dem Franz. übers. von Johann Heinrich Voß, Bremen 1781–1785.

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von Mündlichkeit dadurch noch zu verstärken. Ab dem vierten Band fallen die Nachtzäsurierungen auf der histoire-Ebene weg und bleiben nur in der Kapitelnummerierung bestehen, die Verschachtelung von Rahmen und Binnenhandlung wird mehr und mehr aufgehoben, bis sie nahezu ganz verschwindet. In Vossens ›Tausend und Eine Nacht‹ wird die Mündlichkeitsfiktion aufgebaut, um die drucktechnische Sammlung der Erzählung narrativ zu legitimieren. Ist diese aber einmal einem paratextuellen Editionsprinzip unterworfen (Nachtzäsurierung), wird die Aufrechterhaltung eines hypodiegetischen Organisationsprinzips im Sinne von Erzählrahmen und Binnenhandlung mehr und mehr überflüssig, ja lästig.162 Auf analoge Weise verfährt Goethe mit den ›Unterhaltungen‹. Das Erzählen wird auf der histoire-Ebene durch den Tagesablauf strukturiert und durch die Nacht in zwei ›Erzähltermine‹ geteilt. Am Abend werden vier Erzählungen präsentiert, am nächsten Morgen zwei. Für den kommenden Abend kündigt dann der Abbé eine weitere Erzählung an. Diese aber wird nun gänzlich ohne weitere Legitimierung auf Ebene der histoire präsentiert. Das ›Märchen‹ ist zunächst aufgrund der Erwartung serieller Fortsetzung des Spiels zwischen Erzählrahmen und Binnengeschichte im Medium der fortlaufend erscheinenden Zeitschrift als zu den ›Unterhaltungen‹ gehörig zu erkennen. Anstatt die Rahmenerzählung noch einmal aufzugreifen und so einen innerdiegetischen Zusammenhang zwischen ›Märchen‹ und ›Unterhaltungen‹ zu stiften, wird dieser zunächst lediglich durch paratextuelle Zuschreibung durch das Medium Zeitschrift und einem Hinweis ihres Herausgebers etabliert: In den ›Horen‹ steht kursiv gesetzt: Zur Fortsetzung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter. Obwohl gattungstypologisch wohl am ehesten der oralen Erzähltradition zuzuordnen, wird das ›Märchen‹ aus diesem Zusammenhang gelöst163 und erscheint ganz als Produkt der Schriftkultur: Hier wiederholt sich der Disput um die Einheitlichkeit des Erzählens zwischen Schiller und Goethe. Schiller dringt darauf, das ›Märchen‹ geschlossen abzudrucken. »Das Publikum ist immer mit dem Abbrechen unzufrieden«,164 schreibt er am 31. August 1795. Goethe insistiert aber mehrfach auf einer Aufteilung. Schiller

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So bemerkt Voß, dass die Wiederholung der formelhaften Übergänge wie ›Hier sah Scheherazade, daß es Tag war, und brach ihre Erzählung ab‹ »verschiedene witzige Köpfe beleidigt« habe. Vgl. Voß, Tausend und Eine Nacht, ›Nachricht‹ zu Bd. II, S. III. Das ›Märchen‹ ordnet sich auch nicht eindeutig einer der um 1800 gängigen Märchentraditionen zu. Vgl., Günter Oesterle, Die »schwere Aufgabe, zugleich bedeutend und deutungslos« sowie an »nichts und alles erinnert« zu sein. Bild- und Rätselstrukturen in Goethes ›Das Märchen‹. In: Helmut J. Schneider/Ralf Simon/Thomas Wirtz (Hg.), Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne, Bielefeld 2001, S. 184–209; S. 196. Darin besteht ein wichtiger Unterschied zu den Gattungsvorgaben, wie sie Klotz (Das Europäische Kunstmärchen) beschreibt. MA 8.1, S. 104.

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ignoriert dies mit einem ganz ähnlichen Argument, wie er es zur Eröffnung der ›Unterhaltungen‹ Goethe entgegengehalten hatte. Rechte Wirkung vermag nur durch formale Einheit erreicht zu werden. »Ich bin aber nie für das Trennen, wo dieses irgend zu verhindern ist, weil man das Publikum nicht genug dazu anhalten kann, das Ganze an einer Sache zu übersehen und darnach zu urteilen.«165 Doch auch wenn Schiller das ›Märchen‹ letztlich als Ganzes abdruckt: Es ist die einzige ›Erzählung‹, die typographisch abgesetzt und mit einem eigenen Titel versehen ist. Wo der extra- wie intradiegetische Erzähler abwesend scheint, ist die Erzählung ganz auf das Medium und seinen Herausgeber angewiesen, der sie einsammelt und in diesem Fall seiner dispositionellen Macht ausgeliefert. In der ›Wunderhorn‹-Rezension sah Goethe die Möglichkeit zur Revision einer kulturdefätistischen Geschichtsanalyse in der Rückverwandlung der Aufzeichnung in gelebte Oralität begründet. Ist also die emphatische Darstellung des Erzählens hier bereits ein bewusster Anachronismus und als solcher Absage an den Glauben einer restabilisierenden Macht der Dichtung, wie ihn die Renaissance formulierte, oder sind die ›Unterhaltungen‹ tatsächlich die Einübung in eine gesellige Gesprächskultur? Mit der Beantwortung dieser Fragen eng verbunden ist ein weiteres Medienproblem, das bereits bei Bertuch anklang. Identifizieren Goethe und Schiller die Zeitschrift166 einerseits als maßgebliches Medium einer bürgerlichen Öffentlichkeit, deren Kommunikationsverhältnisse ihnen zutiefst gestört erscheinen, so soll sie in Gestalt der ›Horen‹ dieses Defizit zugleich beheben. Wie aber soll die kulturelle Einheit in einer Publikationslandschaft, deren Signatur Aufspaltung und Neuigkeitssucht ist und (funktionale) Öffentlichkeits- gegen (stratifikatorische) Geselligkeitskultur ausspielt, noch zustande kommen? Das Programm der ›Horen‹ ist es, den Begriff einer Zeitschrift neu aufzustellen und diese gegen andere Blätter abzugrenzen. Schiller will sie zum »Weltjournal« machen, wie er an Friedrich Wilhelm David Daniel Hoven enthusiastisch schreibt.167 Die Zeitschrift selbst soll zum Medium der Ausbildung wahrer Humanität werden und zugleich eine Deutungshoheit über die Form des neu

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Am 9. September 1795 an Goethe. MA 8.1, S. 106. Ich lasse mich hier nicht auf eine weitläufige Begriffsbestimmung ein. Wichtig ist nur die Unterscheidung zwischen Zeitung und Zeitschrift. Vgl. zu dieser Unterscheidung Jürgen Wilke, Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688–1789), Stuttgart 1978, S. 26–36. Am 22. November 1794. In: NA 27, hg. von Gerhard Schulz, Weimar 1958, S. 91. An den noch zögernden Cotta schreibt er am 14. Juni 1794: »Was den Verleger betrifft, so zweifle ich, ob ein Buchhändler etwas ehrenvolleres unternehmen kann, als ein solches Werk, das die ersten Köpfe der Nation vereinigt, und wenn dieß die einzige Schrift wäre, die Sie verlegten, so müßte schon diese einzige Ihren Nahmen unter den deutschen Buchhändlern unsterblich machen.« NA 27, S. 15.

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zu etablierenden Zusammenhangs gewonnen werden.168 Als ein solcher Zusammenhang wird die Zeitschrift selbst vorgestellt. Sie wird vom Herausgeber Schiller als »Gesellschaft« konzipiert, in der die individuellen Autorsignaturen zugunsten der vereinigenden Idee gelöscht werden, um damit »von einer allgemeinen Gewohnheit abzugehen«, die das ›Horen‹-Projekt von anderen Zeitschriften abgrenzt. Diese Form der nun simulierten kollektiven Autorschaft wird die Einzelstücke »zu einem fortlaufenden Werke verbinden«.169 Geriet bei Bertuch das Werk zum Journal, so ist es hier genau andersherum. Indem Schiller die Zeitschrift als ein Werk konzipiert, sind die Einzelteile nicht isolierte Bruchstücke, sondern aufeinander bezogene Beiträge eines zwar äußerlich heterogen erscheinenden, doch ideell koordinierten homogenen Ganzen.170 Anders als in Wielands ›Merkur‹ versucht Schiller aber nicht durch paratextuelle Einflussnahme stilistische Homogenität zu erreichen. Diese, so zumindest die editoriale Fiktion, ergibt sich aus dem einheitlichen Geist der Autorengemeinschaft, den Wieland in seinem Aufklärungsprojekt ja dezidiert nicht einfordert. Wichtig dafür ist das Spiel um die Anonymisierung der Autorschaft.171 Im ersten Stück wird zwar die

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Die Vehemenz mit der Schiller versucht, die Zeitschrift am literarischen Markt zu positionieren und Konkurrenzblätter zu verdrängen, deutet ebenfalls darauf hin. Hocks und Schmidt (Literarische und politische Zeitschriften, S. 103) nennen die ›Horen‹ »einen Markstein in der Geschichte der deutschen Buchwerbung.« Über die überwiegend kritische Rezeption der zeitgenössischen Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft Goethes informiert Hansjürgen Koschwitz, Wider das ›Journal- und Tageblattverzeddeln‹. Goethes Pressesicht und Pressenutzung, Münster 2002. Dabei wird deutlich, dass die Tageszeitungen kritischer gesehen werden als die Journale, die einer je sehr individuellen Bewertung unterzogen werden. Vgl. auch die entsprechenden ›Xenien‹ in Schillers ›Musenalmanach auf das Jahr 1797‹. Es ist bezeichnend für Goethe, dass er auf der anderen Seite immer wieder auf Zeitungsmaterial zurückgegriffen hat und vor allem die Auslandspresse als Informationsquelle geschätzt hat. Helmut Brandt (Die ›hochgesinnte‹ Verschwörung gegen das Publikum«. Anmerkungen zum Goethe-Schiller-Bündnis. In: Barner/Lämmert/Oellers (Hg.), Unser Commercium, S. 19–39) sieht im ›Horen‹-Projekt mit Brecht vielleicht etwas stark »Die ›hochgesinnte‹ Verschwörung gegen das Publikum«. Schiller, Die Horen, S. VII. Kollektivität ist freilich ein signifikantes Merkmal nahezu aller Zeitschriften. Wilke (Literarische Zeitschriften, S. 117) spricht von der Zeitschrift als »kollektives Werk«. Das ist sicherlich richtig. Bei Schiller kommt dem Werkbegriff aber doch eine weitergehende Bedeutung zu. Wenn die Zeitschriften des 18. Jahrhunderts eher ein Kollektiv von Einzelwerken sind, dann ist hier das Kollektiv selbst das Werk. Dass dies ein Spiel war, zeigt der Verlagsvertrag mit Cotta, der in Punkt 14 ausdrücklich anonyme Beiträge verbietet. Vgl. Contract über die litterarische Monathsschrift ›Die Horen‹. In: Rolf Michaelis, Die Horen. Geschichte einer Zeitschrift. Supplementband zu Schiller, Die Horen, Weimar 2000, S. 61–64; S. 62. Damit zeigt sich auch die Differenz zu den ebenfalls weitgehend anonym erschienen literarischen Zeitschriften des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Vgl. Wilke, Literarische Zeitschriften, S. 119.

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»Gesellschaft« der Verfasser aufgezählt, um durch Ausweis ihrer Auserlesenheit zugleich den kulturellen Hoheitsanspruch zu betonen, die Beiträge erscheinen aber zunächst anonym, bevor am Ende eines jeden Jahrgangs eine Liste mit den Verfasserzuordnungen abgedruckt wird. Schiller aber verbindet damit noch mehr. Die Zeitschrift als ein Werk des Kollektivs etabliert einen integrierenden Zusammenhang. In Schillers ›Einladung zur Mitarbeit‹ heißt es: »Treten nun die vorzüglichsten Schriftsteller der Nation in eine litterarische Association zusammen, so vereinigen sie eben dadurch das vorher getheilt gewesene Publikum, und das Werk, an welchem alle Antheil nehmen, wird die ganze lesende Welt zum Publikum haben.«172 Die ›Unterhaltungen‹, dies bedingt sich Goethe ausdrücklich aus,173 bleiben ohne jegliche Kennzeichnung der Autorschaft. Mit der Aufgabe der Autorensignierung verbunden ist die Pluralisierung der in der Zeitschrift repräsentierten Schreibformen. Darin kann man bei allen Unterschieden wohl das medienspezifische Charakteristikum der Zeitschriftenliteratur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts sehen. So findet sich bereits im ersten Stück mit Schillers ›Briefen‹ eine ästhetische, mit Goethes ›Unterhaltungen‹ eine poetische und mit Fichtes ›Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit‹ eine philosophische Behandlung des vereinigenden Grundsatzes. In der Betonung des Werkcharakters der ›Horen‹ ist auch die Verschränkung von Poesie und Wissenschaft damit qua Medium angelegt.174 »Auf diese Art glaubt man zu Aufhebung der Scheidewand beyzutragen, welche die schöne Welt von der gelehrten zum Nachtheile beyder trennt.«175 Damit gibt Schiller auch ein Programm für das Zeitschriften-Projekt der Frühromantik, dem ›Athenäum‹, vor, das sich ebenfalls als geistiger Freundschaftsbund der Gattungs- und Stilpluralisierung versteht. Wie aber verhält sich dieser gegenüber dem vorgeblich klassischen Werkbegriff der Weimarer? Es ist großer Unfug durch folgende Beschreibung einen Antagonismus – den es auf anderer Ebene sicherlich gibt – zwischen ›Horen‹ und ›Athenäum‹ konstruieren zu wollen: »Dem Journal als republikanische Form der Rede, in dem die einzelnen Teile durchaus selbständig sind und doch gerade in ihrer ›Gleichberechtigung‹ ein neues Ganzes ausmachen, dem Harmonie durchaus nicht abgeht. Darüber hinaus soll die republikanische Rede noch durch die ›Synfonierung der Verbrüderung‹ und durch Aufhebung der Autorenindividualität, besonders

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Friedrich Schiller, Einladung zur Mitarbeit. Die Horen. In: Michaelis, Die Horen. Geschichte einer Zeitschrift, S. 65–69; S. 66f. Im Brief vom 6. Dezember 1794. Vgl. MA 8.1, S. 45f. Freilich gab es in Weimar, Jena und anderswo schnell einen Konsens darüber, dass Goethe verantwortlich zeichne. Die sogar in den Vertrag im zweiten Punkt aufgenommen wurde. Vgl. Contract über die litterarische Monathsschrift ›Die Horen‹, S. 61. Schiller, Die Horen, S. V.

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[…] zur Geltung kommen.«176 Davon kann für das ›Athenäum‹ nicht die Rede sein. Anders als in den ›Horen‹ werden die Beiträge hier gekennzeichnet. Dieser Beschreibung des ›Athenäums‹ zufolge, deren Charakteristika – Freundschaftsbund, gemeinschaftlicher Grundsatz, Bildung, Beschränkung auf Philosophie, Philologie, Poesie, Kunst – allesamt auch für die ›Horen‹ zutreffen, handelte es sich bei diesen geradezu um ein republikanisches Manifest, was nun niemand wird behaupten wollen. Das Modell, dem die ›Horen‹ und das ›Athenäum‹ folgen, ist nicht die republikanisch-parlamentarische Rede, sondern das platonische Symposium.177 In der ›Vorerinnerung‹ des ›Athenäums‹ fallen dann auch Herausgeberschaft und Autorschaft gänzlich zusammen. »Wir sind nicht bloß Herausgeber, sondern Verfasser derselben«.178 Zwar betonen auch die Brüder Schlegel »die Unabhängigkeit des Geistes« und distanzieren sich von einer »flachen Einstimmigkeit«, zugleich aber treiben sie den in den ›Horen‹ angelegten Werkcharakter der Zeitschrift noch weiter, als Schiller es bereits tat, indem sie alle angenommenen externen Beiträge auch unter ihre Autorschaft bereit zu stellen sind.179 Ohne Frage aber bereiten die ›Horen‹ – eingedenk aller Differenzen – die Konzeption des ›Athenäums‹ als Gespräch unter Freunden und Brüdern im Geiste entscheidend mit vor. Beide sind aber ohne die moralischen Wochenschriften und die literarischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts und ihre pädagogischen Bildungsziele kaum vorstellbar. Diese stellten erstmals ein periodisches Publikationsorgan für Literatur nahezu aller Genres zur Verfügung, die nun nicht mehr auf das Buch und die damit verbundene Infrastruktur als medialen Träger angewiesen waren. Die moralischen Wochenzeitschriften – allein in Deutschland des 18. Jahrhunderts finden sich davon über 100180 – prägten durch ihre Beliebtheit und Omnipräsenz ganz entscheidend die Formen kleiner Prosaerzählungen im deutschen Sprachraum. Die Zeitschrift löst damit mehr und mehr die Erzählsammlungen kurzer Prosastücke ab, wie sie vor allem in Frankreich für die kompilierende Versammlungen von anecdotes, historiettes, recueils und ana bekannt waren.181 Durch die

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Hocks/Schmidt, Literarische und politische Zeitschriften, S. 111f. Vgl. Matuschek (Hg.), Wo das philosophische Gespräch. Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Vorerinnerung. In: Athenäum. Erster Band. Erstes Stück. Ohne Paginierung. »Fremde Beyträge werden wir dann nur aufnehmen, wenn wir sie, wie unsre eignen, vertreten zu können glauben, und Sorge tragen, sie besonders zu unterschreiben.« F. u. A. W. Schlegel, Vorerinnerung. So Wolfgang Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, S. 162. Über die Zahl lässt sich freilich streiten, je nachdem wie eng oder weit man den Begriff zu fassen bereit ist. Vgl. zu dieser Tradition und der zunehmenden Verlagerung der Erzählsammlung in die Zeitschriften Sonja Hilzinger, Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklä-

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erhebliche Nachfrage der Zeitschriften nach solchen Produktionen, erzeugten sie zugleich eine sich schnell steigernde Dynamik unter den literarischen Produzenten, die ihrerseits vielfältige Formen bedienen mussten, um bei einem gleichbleibenden moralischen Grundmuster, nicht allzu schnell ermüdend, sondern erbaulich auf die zunehmend weibliche Leserschaft einzuwirken.182 Sie variieren nach Kräften die einzelnen Formen des gattungsüblichen Formenfundus in möglichst bunter Abfolge, die zu Grunde liegenden Muster aber werden nie aufgegeben. Briefe, Träume, die Schilderung kurioser kleiner Gesellschaften, das Portrait eines moralischen Charakters […] allegorische Geschichten, morgenländische Märchen und Satiren treten als Darbietungsform neben die lehrhafte Abhandlung, neben die ernsthafte Betrachtung.183

Wichtiger als die naheliegende Tatsache einer Gattungsvielfalt in den moralischen Wochenschriften scheint mir das dort verfolgte Konzept von Autorschaft zu sein, von dem sich die ›Horen‹ und die ›Unterhaltungen‹ abgrenzen. In seiner immer noch maßgeblichen Studie zu den moralischen Wochenschriften stellt Wolfgang Martens deren wesentliche Gattungsmerkmale heraus: Neben den für die Zeitschrift allgemeinen Merkmalen wie periodisch kontinuierliches Erscheinen, einheitliches Layout und Programm bei beständiger Variation des Inhalts und dessen Formen sind für die moralische Wochenschrift insbesondere charakterisierend: das enge Verhältnis zum Leser, Mangel an tagespolitischer Aktualität, der sie von den historisch-politischen wie den gelehrt-wissenschaftlichen Journalen unterscheidet, kurze einprägsame Titel (Der Patriot, Die Matrone, Der Träumer, Der Einsiedler etc.), Neigung zur Wiederholung von Stoffen, sittlichlehrhafter Inhalt gekleidet in didaktische Vortragsformen (Abhandlung, Satire, moralischer Charakter, moralische Erzählung, Traum, Fabel, Allegorie, Brief, erdichtete Gesellschaft), Einheit und Abgeschlossenheit des einzelnen Stücks, das die unterschiedlichen Beiträge ohne typographische Zäsierungen durch Rubriken und Überschriften als Ganzes präsentiert.184 Damit beerben die Wochenschriften im genre mêlé als spielerische Mischung von Vers und Prosa ohne typographische Differenzierung das literarische Rokoko. Als wichtigstes Merkmal aber stellt Martens die durchgängige fiktive Verfasserschaft in den Wochenschriften heraus, die von den drei großen englischen Vorbildern ›Tatler‹, ›Spectator‹ und ›Guardian‹ übernommen wurde und die Anonymität der Autorschaft impliziert. Das einzelne Stück der moralischen Wochen-

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rung. Zur Struktur- und Funktionswandel der Gattung Anekdote in Historiographie, Publizistik und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1997; besonders S. 27–39 und S. 95–119. Vgl. Hildburg Herbst, Frühe Formen der deutschen Novelle im 18. Jahrhundert, Berlin 1985, S. 64–67. Martens, Die Botschaft der Tugend, S. 22. Vgl. ebd., S. 15–22.

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schrift wendet sich als Beitrag eines fiktiven Erzählers der Ich- oder Wir-Form an den Leser. Oft wird dabei diese Erzählinstanz mit dem Titel der Zeitschrift identifiziert. Nicht der Herausgeber Christian Friedrich Weidmann spricht im ›Patriot‹ den Leser an, sondern eben dieser fiktive Patriot. »Der jeweils angenommene ›Charakter‹ […] trägt – zumindest der Intention nach – die ganze Zeitschrift. Verfahrensweise, Manier und Stil der Wochenschriften sind von hierher bestimmt. Entfällt der fiktive Verfasser, erscheint also das Gebotene ohne Markierung anonym-objektiv, oder schreibt gar der Verfasser im eigenem Namen, so ist das ganze Wesen grundsätzlich verändert, der Gattungscharakter aufgegeben.«185 Die fiktive Autorschaft dient vornehmlich dazu, die Kohärenz des einzelnen Stücks formal zu gewährleisten, nicht etwa die Authentizität des Erzählten zu beglaubigen. Der Erzähler ist eine die verschiedenen Gattungen integrierende Instanz, die Mischung dieser Formen legitimiert sich von seiner Person her. Entweder der Leser vertraut diesem Erzähler und folgt ihm, oder eben nicht. Sterne und Jean Paul werden mit diesem Vertrauen ihr digressives Spiel treiben. Neben dem Erzähler können dabei verschiedene Nebenpersonen eingeführt werden, um eine gewisse Abwechselung durch (fiktive) Korrespondenzen und Gespräche einführen zu können. Paradigmatisch hierfür steht die Clubgesellschaft in Addisons ›Spectator‹. Die Mitglieder der Gesellschaft repräsentieren dabei je typische Charaktere bestimmter Stände oder Berufe, die den Club als Miniatur der Gesellschaft erscheinen lassen und es erlauben, je spezifische moralische Belehrungen zu erteilen.186 Der fiktive Charakter dieser Verfassergesellschaften aber war den Lesern durchaus vertraut. Je authentischer die Erzählerfigur, je charakteristischer die fiktive Gesellschaft beschrieben wurde, desto deutlicher trat ihr fiktiver Charakter hervor. Die Verfasserfiktion war gleichsam ein Fiktionsindikator, der das Kommende unter das Signum des Fiktiven stellte und damit auch der juristischen Verfolgung etwa durch die Zensurbehörden weitgehend entzog.187 Der fiktive Herausgeber oder Verfasser dient also keineswegs der Steigerung der Authentizität der Erzählten. Seine Fiktion ist immer schon Indexierung des fiktionalen Charakters des Ganzen. In den ›Horen‹ haben aber die Anonymität der Autorschaft und die damit verbundene Kollektivstimme eine andere Funktion. Diente sie in den moralischen Wochenschriften vornehmlich dazu, die bittere Pille moralischer Belehrung durch das fiktive Spiel im Sinne des Horazschen prodesse et delectare zu versüßen, so fehlt diese Funktion bei Schiller völlig. Wenn Schillers mit den ›Horen‹

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Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 48. Diesen juristischen Aspekt hat für den fiktiven Herausgeber des englischen Romans in Zusammenhang mit der Zeitungskultur des 18. Jahrhunderts Lennard J. Davis (Facutal Fictions. The Origins of the English Novel, New York 1983) stark gemacht.

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verbundenes Ziel die ästhetische Bildung ist, die freilich auch ihre moralische Dimension hat, dann stellt er sich aber auch in die didaktisch-pädagogische Tradition der moralischen Wochenschriften. Die Anonymisierung der Autorschaft bei gleichzeitiger namentlicher Angabe des Autorenkollektivs aber macht den Anspruch deutlich, die Beiträge der Zeitschrift nicht unter den relativierenden Vorbehalt des fiktiven Spiels zu stellen. Goethes ›Unterhaltungen‹ hingegen veranschlagen diesen Vorbehalt sehr wohl, zugleich diskutieren sie neben der europäischen Novellistik auch das Erzählmodell der moralischen Wochenschrift sowie der literarischen Zeitschriften der Aufklärung, die die Erzählsammlungen als Archiv der Literatur ablösen.188 Es braucht hier nicht zu interessieren, inwiefern Goethe tatsächlich der Neubegründer der deutschen Novellistik in den ›Unterhaltungen‹ ist, wie die ältere Novellenforschung immer gern behauptet hat, oder er vielmehr bereits seine Vorläufer im 18. Jahrhundert gefunden hat.189 Es ist ja nicht zu übersehen, dass Goethe sich in den ›Unterhaltungen‹ sehr bewusst mit bestimmten Erzählformen auseinandersetzt und als Eröffnungsbeitrag zu den ›Horen‹ damit auch ein Bewusstsein ihrer medialen Darbietungsform verbindet. Die Thematisierung dieser Erzählformen, die Frage ihrer Einheitlichkeit wird im Rahmen von den Figuren selbst immer wieder diskutiert. Die ›Unterhaltungen‹ sind der erste Versuch, sich über die Möglichkeiten des Erzählens und seiner Funktion unter den gegebenen politisch-medialen Bedingungen zu verständigen. Dafür werden verschiedene Formen europäischer Erzähltraditionen wie poetologische Überlegungen durchgespielt.190 188 189

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Was vor allem darin deutlich wird, dass im späten 18. Jahrhundert viele Zeitschriften nun den Archiv-Begriff im Titel führen. In dieser Tradition, die letztlich auf Tieck zurückgeht, sind die ›Unterhaltungen‹, der Ort, an dem die deutsche Novellistik begründet wird. Vgl. nur Fritz Lockemann, Gestalt und Wandlung der deutschen Novelle, München 1957, S. 33. Mit kanonischer Macht: Benno von Wiese, Die deutsche Novelle von Goethe bis zur Gegenwart. Interpretationen. 2 Bde., Düsseldorf 1962. Dagegen wendet sich vehement Hildburg Herbst (Frühe Formen) und mit Blick auf die Boccaccio-Rezeption in der Frühen Neuzeit Ursula Kocher, Boccaccio und die deutsche Novellistik. Formen der Transposition italienischer ›novelle‹ im 15. und 16. Jahrhundert, Amsterdam – New York 2005. Ich führe damit eine These Manfred Engels (Roman der Goethezeit, S. 230) weiter, der völlig zu Recht sagt, die ›Unterhaltungen‹ »thematisieren präzise den poetologischen Paradigmenwechsel, der Aufklärung und Goethezeit voneinander trennt.« Siehe auch Günter Damann, Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹ als Essay über die Gattung der Prosaerzählung im 18. Jahrhundert. In: Harro Zimmermann (Hg.), Der deutsche Roman der Frühaufklärung. Fiktion und Wirklichkeit, Heidelberg 1990, S. 1–24, der in den moralischen Wochenschriften und der dort angelegten neuen offenen Erzählformen, die sich durch Abwesenheit von Strukturierungen auszeichnen und der in ihnen gleichzeitig noch aufbewahrten alten, strukturierten Erzählformen wie Fabel, Märchen, Anekdote etc., den Ausgangspunkt für die poetologische Auseinan-

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Imitieren die moralischen Wochenschriften in ihren Clubgesellschaften selbst oft den Rahmen novellistischen Erzählens und knüpfen mehr oder weniger bewusst an das ›Dekameron‹-Modell an, in dem die Novellen oft auch dezidiert moralisch-allegorische Funktion haben, so wird deutlich: Die ›Unterhaltungen‹ als Zeitschriftenbeitrag reflektieren beide Traditionen und verweisen auf den medialen Wechsel des Erzählens: Vom mündlichen Erzählen ins Schriftliche der Novellensammlung in die Druckkultur der Zeitschrift. Als Beitrag zu den ›Horen‹, die eben nicht moralische Wochenschrift sind, sondern in der Tradition der literarischen Zeitschrift stehen,191 deren Anspruch auf ästhetische Bildung sich gegen moralische Erziehung etablieren muss, diskutieren sie den Stellenwert des Ästhetischen zwischen moralischer Instruktion und poetischer Autonomie.

Poetiken des Erzählens Unsere rechtsrheinische Erzählgesellschaft könnte sehr wohl als eine der moralischen Clubgesellschaften auftreten, die sich, wie im Falle der Lizard-Family im ›Guardian‹, oft um eine familiäre Keimzelle auf deren Landgut bilden. Die Situation bei Goethe indes ist gleich von Beginn an weniger harmonisch angelegt. Die gute Gesellschaft, statt im geselligen Gespräch sich ihres Wohlbefindens zu freuen, zerstreitet sich und zerbricht. Wenn die Baronesse »belehrende und aufmunternde Gespräche entbehrt«,192 beschreibt sie damit auch den Zerfall der moralischen Erzählgesellschaft, deren Mitglieder zwar noch vor Ort sind, ihre Beiträge aber nicht mehr liefern. Die Baronesse hat ein Gespür dafür, dass dieser alte Zustand verloren und nur durch einen künstlichen Rahmen wieder

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dersetzung in den ›Unterhaltungen‹ sieht. Seiner These, Goethe plädiere entschieden für eine Rückkehr zum alten, strukturierten Erzählen, kann ich nicht folgen, da genau diese Formen in den Diskussionen des Rahmens eher pejorativ besprochen werden und das ›Märchen‹ sich eben nicht den Strukturvorgaben der Märchentradition fügt. Auch der Verweis auf den höfisch-historischen Roman will mir nicht recht einleuchten. Ebd., S. 11. Schon Ursula Borchmeyer (Die deutsche Prosaerzählung des 18. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Zeitschriften ›Der Deutsche Merkur‹ und ›Das Deutsche Museum‹. Diss. Münster 1955, S. 22) sieht in den ›Unterhaltungen‹ »fast sämtliche Themen und Motive der herkömmlichen Prosaerzählung erklingen«. Der Unterschied besteht in der unterschiedlichen Einheitskonzeption. Während die Wochenschriften die Gattungsvielfalt durch ihren fiktiven Verfasser zu einem abgeschlossenen Stück integrieren, so stellen die literarischen Zeitschriften eben diese Vielheit und Pluralität dezidiert aus und überschreiten die Geschlossenheit des Stücks durch Fortsetzungsbeiträge. Vgl. Martens, Die Botschaft der Tugend, S. 87f. Die Auflösung der Gattung ist ab den 1750er Jahren eben in der Auflösung des geschlossenen Charakters des Stücks zu sehen, das sich nun mehr und mehr, auch typographisch, in Rubriken und Sektionen teilt. Vgl. ebd., S. 91–99. FA 9, S. 1009.

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herzustellen ist: »Laßt uns alle diese Unterhaltungen, die sich sonst so freiwillig darboten, durch eine Verabredung, durch Vorsatz, durch ein Gesetz wieder bei uns eintreten, bietet all eure Kräfte auf lehrreich, nützlich und besonders gesellig zu sein.«193 So ist es auch die Baronesse, die als ehemaliges Zentrum der Gesellschaft die Geselligkeitsfiktion der Wochenschrift und deren Erzählkonzepte als Familienoberhaupt einfordert.194 In ihrem ersten größeren Monolog nach den Bassompierre-Geschichten richtet sie sich denn auch gegen das Erzählmuster von ›Tausendundeine Nacht‹, das Goethe ja selbst für die ›Unterhaltungen‹ gegenüber Schiller und Riemer in Anschlag gebracht hatte.195 Die Baronesse weist deren komplexe Erzählgefüge mehrerer diegetischer Ebenen zurück, da diese immer nur aufschiebenden Charakter haben. »Jene Erzählungen machen mir keine Freude, bei welchen, nach Weise der Tausend und Einen Nacht, Eine Begebenheit in die andere eingeschachtelt, Ein Interesse durch das andere verdrängt wird.« Eine solche Erzählung spiele nur mit der Neugierde der Leser und die Spannung der Geschichten resultiere weniger aus ihrem Stoff, denn aus der beständigen Aufschiebung und Unterbrechung der Handlung. Dagegen fordert sie einen aristotelischen Einheitsbegriff ein und folgt auch hier ganz der aufklärerischen Übertragung des aristotelischen Mythosbegriffs auf die Erzählprosa, indem sie den rhapsodischen, d.h. zerstückten Vortrag gegen »die Einheit des Gedichts« stellt und für die Handlung eine »vernünftige Folge« einfordert. Ihre Forderung an die Erzählung entspricht denn gänzlich der aufklärerischen Rezeption der aristotelischen Poetik: Geben Sie uns zum Anfang eine Geschichte von wenig Personen und Begebenheiten, die gut erfunden und erdacht sei, wahr, natürlich und nicht gemein, so viel Handlung als unentbehrlich und so viel Gesinnung als nötig ist, die nicht still stehe, sich nicht auf Einem Flecke zu langsam bewege, sich aber auch nicht übereile, in der die Menschen erscheinen wie man sie gern mag, nicht vollkommen, aber gut, nicht außerordentlich, aber interessant und liebenswürdig. Ihre Geschichte sei unterhaltend, so lange wir sie hören, befriedigend wenn sie zu Ende ist und hinterlasse uns einen stillen Reiz weiter nachzudenken.196

Auf diese Forderung hin folgt die Prokurator-Novelle. Diese legitimiert sich ganz im Stil der Wochenschriften nur durch ihre Erzählerfigur, den Abbé. Auch die Erzählsituation ist dem Modell nachgebildet: in geselliger Runde, die Baro193 194

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FA 9, S. 1010. So auch Vollhardt (Selbstliebe, S. 336): »Das Plädoyer der Baronesse versammelt die Leitbegriffe eines – im wörtlichen Sinn – verlorengegangenen Modells der sozialen Kommunikation, das ohne das Versprechen von ›Tugend‹ und ›Glückseligkeit‹ und damit ohne die Frage nach der Sittlichkeit des einzelnen, seiner Bildung und individuellen Vervollkommnung noch einmal aufgerufen wird.« Damit ist auch gleich die Ironisierung der Position der Baronesse beschrieben. Vgl. dazu Katarina Mommsen, Goethe und 1001 Nacht, Berlin 1960, S. 57ff. Alle FA 9, S. 1037f.

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nesse am Stickrahmen, wird sie nach dem Frühstück erzählt. Was folgt, ist die Geschichte von der Zähmung der sexuellen Begierde eines jungen Mädchens durch Entsagung, die sich vom physischen Fasten in eine Entsagungsethik wandelt und sich aus der »Kraft der Tugend« speist. Die Geschichte wird von der Baronesse unter dem »Ehrentitel einer moralischen Erzählung« begrüßt, sie sei »zierlich, vernünftig, unterhaltend und unterrichtend«. Diese Art von Geschichten sei es, welche die Gesellschaft ganz im Sinne der Baronesse wieder in Geselligkeit zu konstituieren vermöge. In den Forderungen der Baronesse ist also deutlich das Ideal der moralischen Wochenschrift zu erkennen, aus dessen Personal die Figur der Baronesse übernommen scheint. Der Forderung nach weiteren solchen Geschichten aber weist der Abbé zurück, indem er auf den repetitiven Charakter der Gattung verweist. Trotz unterschiedlicher Stoffe und Erzählformen seien diese letztlich alle gleich. Es ist nicht die einzige moralische Geschichte, die ich erzählen kann, sondern alle gleichen sich dergestalt, daß man immer nur dieselbe zu erzählen scheint. […] Nur diejenige Erzählung verdient moralisch genannt zu werden, die uns zeigt, daß der Mensch in sich eine Kraft habe, aus Überzeugung eines Bessern, selbst gegen seine Neigung, zu handeln. Dies lehrt uns diese Geschichte, und keine moralische Geschichte kann was anders lehren.197

Ein Befund, den die Analyse Martens in den Wochenschriften bestätigt gefunden hatte. Die anschließende theoretische Diskussion der Kantischen Pflichtethik durch Luise und den Abbé wird von der Baronesse mit der Forderung nach weiteren Beispielen abgebrochen. Die Wochenschrift unterscheidet sich dezidiert vom religiösen Erbauungsblatt durch die Abwesenheit der direkten moralischen Auslegung der Geschichten. Stattdessen wird durch die spiegelhafte Anordnung verschiedener Erzählformen und -stoffe das gleiche moralische Thema immer wieder behandelt. Genau dieses Spiegelprinzip fordert die Baronesse ein: »Ich liebe mir sehr die Parallelgeschichten. Eine deutet auf die andere hin und erkläret ihren Sinn besser als viele trockne Worte.«198 Eine solche Spiegelgeschichte wird mit der Ferdinand-Novelle geliefert. In der Aufteilung der Beiträge in den ›Horen‹ aber wird die erzähltechnische Analogie zu den Wochenschriften nicht eingehalten, da die eminent wichtige Einheit des einzelnen Stücks aufgegeben wird, die moralische Lehre im wörtlichen Sinn zerstückt wird. Bildete im vierten Stück das Ende der ProkuratorNovelle den Schluss, so werden erst im siebenten Stück die Unterhaltungen der Rahmenhandlung mit den poetologischen Forderungen der Baronesse wieder aufgenommen. Es folgt die Ferdinand-Novelle. Diese bricht im vierten Stück, in dem Moment ab, als Ferdinand seinem Vater seine Zukunftspläne eröffnet.

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Alle FA 9, S. 1057. FA 9, S. 1058.

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Es steht der gewohnte Verweis ›Die Fortsetzung folgt‹. Diese erfolgt aber erst im neunten Stück. Der Fortsetzungsverweis steht hier aber nicht allein für die ›Unterhaltungen‹ insgesamt, sondern auch für die Ferdinand-Erzählung selbst. Luise fordert zu Beginn des neunten Stücks die Fortsetzung der Geschichte. Der Abbé aber meint: »Sie ist wirklich schon aus«.199 Der Abbé in seiner Weigerung und Luise in ihrer Forderung nach Fortsetzung aber vertreten je wieder unterschiedliche Erzählkonzepte. Die Geschichte ist tatsächlich beendet, wenn man sie als Spiegelgeschichte zur Prokurator-Novelle liest, wie die Baronesse es ganz im Sinne der moralischen Wochenschrift gefordert hatte. Der Abbé hatte die Handlung bis zur moralischen Wendung geführt und damit das Problem der Entsagung auf eine andere Weise als zuvor in der Prokurator-Novelle beleuchtet. In beiden Erzählungen erscheint Entsagung als Ergebnis äußerer Umstände, die die Figuren zur Reflexion ihres fehlerhaften Verhaltens veranlasst. Sein Erzählauftrag ist damit beendet, die moralische Botschaft ist angekommen, wie die Betrachtung Luises zeigt.200 Der moralischen Sendung gemäß ist die Erzählung tatsächlich beendet. Luise aber bringt ein innerfiktionales Argument zur Fortsetzung in Anschlag: die Erzählung habe gewisse Erwartungshaltungen und Problemzusammenhänge aufgebaut, die durch den moralischen Schluss nicht aufgelöst seien. Ungeklärt ist nämlich vor allem der Ottilien-Handlungsstrang geblieben. Wird die Liebesgeschichte ebenfalls ihr glückliches Ende finden? Luise bringt in der Forderung nach Fortsetzung ein weiteres Postulat der Aufklärungspoetik ein, demzufolge alle exponierten Erzählstränge und ihre Entwicklungen wie im Drama an ihr Ende geführt werden müssen. »Die Entwicklung haben wir freilich gehört, nun möchten wir aber auch gern das Ende vernehmen«. Der Abbé lobt die Forderung Luises nach Finalität der Erzählung. Denn nicht um des moralischen Lehrsatzes willen soll erzählt werden, sondern Tugend aus der Anteilnahme an der Geschichte eines Menschen, hier »das Schicksal meines Freundes«,201 erwachsen. Damit zeigt sich beim Abbé ein weiteres Mal eine Differenz zur Baronesse. Schon direkt nachdem diese ihr Erzählgesetz verkündet hatte, monierte Luise, dass zu solchen Unterhaltungen wohl bald der Stoff ausgehen werde, denn schon vor der Flucht habe die vornehmliche Unterhaltung der Gesellschaft in Klatschund Tratschgeschichten sowie politischen Verleumdungen bestanden, »wenn nun auch diese Quelle verstopft wird; so werden wir manche Person wohl stumm sehen«.202 Der Abbé macht die »Neuheit« als Prinzip einer solchen Unterhaltung aus. Das Neue hat seinen Reiz darin, dass es zwar die Einbildungskraft in Bewegung setzt, aber »unsern Verstand völlig in Ruhe lässt«. Hatte etwa Brei199 200 201 202

FA 9, S. 1076. Vgl. FA 9, S. 1076. Beide FA 9, S. 1077. FA 9, S. 1011.

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tinger in der ›Critischen Dichtkunst‹ das Neue noch als »Urquelle aller poetischen Schönheit«203 ausgemacht, so spricht der immer leicht kantisierende Abbé der Neuheit ihren ästhetischen Wert ab, da sie eben nicht alle Erkenntnisvermögen in ein freies Spiel zu setzen vermag.204 Die Kritik aber geht noch weiter. Die Fokussierung auf Neuheit setzt eine Dynamik in Gang, die den Menschen »immer von einem Gegenstand zum anderen fortreißt« und führt so »zu ewiger Zerstreuung«, indem sie die »Rückkehr auf sich selbst« verhindere. Darin liegt ja eine Pointe der Kantischen Ästhetik: Beim Schönen wie beim Erhabenen – wenn auch auf verschiedene Weise – wird der Mensch auf sich als Vernunftwesen zurückgeworfen, er sich seiner Potentialitäten bewusst. Darin besteht der Bildungswert des Ästhetischen. Der Abbé stellt damit auch eine Diagnose für die Zerrüttung der kleinen wie der großen Gesellschaft, die durch ihre Neuigkeitssucht eine solche Bildung nicht zulasse: »lästiger ist ihr in der Welt nichts als wenn man sie zum Nachdenken und zu Betrachtungen auffordert«.205 Neuigkeit ist dabei das Prinzip der Klatsch- und Tratschgeschichten wie auch der politischen Berichterstattung von den »Weltbegebenheiten«.206 Auf der Suche nach einem narrativen Konsensprinzip stiftet das Neue nur den Schein einer falsch verstandenen gesellschaftlichen Soziabilität, die als »Menschenmasse«207 das Zerrbild eingeforderter Gemeinschaft bildet. Dagegen stellt der Abbé nun die Geschichte des inneren Menschen, jene, »die uns die menschliche Natur und ihre innere Verborgenheiten auf einen Augenblick eröffnen«,208 und seine Beschreibung entspricht ziemlich exakt den Forderungen Blanckenburgs an den anthropologischen Roman: wo Vorsätze, Wünsche und Hoffnungen bald gestört, aufgehalten und vereitelt, bald unerwartet angenähert, erfüllt und bestätigt werden. Da wo der Zufall mit der menschlichen Schwäche und Unzulänglichkeit spielt, hat er am liebsten seine stille Betrachtung und keiner seiner Helden, deren Geschichten er bewahrt, hat von ihm weder Tadel zu besorgen noch Lob zu erwarten.209

Weil es um den anthropologischen Stellenwert des Erzählten geht, verweigert der Abbé auch die Auskunft, ob die Erzählungen seiner Sammlung als allegori-

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Breitinger, Critische Dichtkunst, Bd. 1, S. 129. Das übersieht Kurz (Das Ganze und das Teil, S. 107), wenn er darin eine Einrede gegen Schillers/Kants Konzept ästhetischer Erfahrung sieht. Die Reduzierung auf das bloß einseitige Spiel der Einbildungskraft wird von Kant explizit zurückgewiesen! FA 9, S. 1012. Diese Kritik deckt sich mit Goethes Ablehnung des auf Neuheit verpflichteten Zeitungswesens. Vgl. Koschwitz, Wider das ›Journal- und Tageblattverzeddeln‹. FA 9, S. 1013. FA 9, S. 1012. Alle FA 9, S. 1013. FA 9, S. 1015.

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sche Schlüsselgeschichte auf »Freunde und Nachbarn« deuten, wie Luise begierig fragt. Die Weigerung ist aber ausdrücklich keine Ablehnung. Der bildsame Effekt der Geschichten besteht in ihrem reflexiven Selbstbezug. Nicht alle Begebenheiten müssen auf einen faktischen Wirklichkeitsbezug verpflichtet werden.210 Ganz in aufklärerischer Tradition von Gottsched über Bodmer und Breitinger bis zu Blanckenburg ist Fiktion hier eine ›mögliche‹ Geschichte der wirklichen (Gottsched) bzw. möglichen (Bodmer/Breitinger) Welt, deren Wahrhaftigkeit nicht in korrespondenztheoretischer Wahrheit zu bestehen hat, sondern in Analogie zur strukturellen Verfasstheit der Wirklichkeit und ihrer Gesetze.211 Das Wunderbare ist der erzähltechnische ›trigger‹ für die bildungspolitische Transformation des bloß Neuen in eine Eigenschaft, die nicht nur die Einbildungskraft in »angenehme und verwunderungsvolle Verwirrung setzt«, sondern eben auch den Verstand in Tätigkeit versetzt, um »in dem vermeinten Widerspruch ein geschicktes Bild der Wahrheit«212 zu erkennen. Die Schweizer gewinnen damit aber bereits einen positivierten Begriff des Wunderbaren. Es ist nicht mehr allein Defizitmodus, der, wie bei Gottsched auf einen letztlich kohärenztheoretisch gedachten Wirklichkeitsbegriff verpflichtet bleibt, sondern nur im Wunderbaren vermag die Poesie auf die rationelle Verfasstheit der Wirklichkeitsstruktur im Modus des Anderssein aufmerksam zu machen. Erst im Medium des Wunderbaren wird das Wirkliche beobachtbar. Daher kann auf eine Imitatio-Poetik verzichtet werden. Darin grenzt sich die wunderbare von der lügenhaften Darstellung ab und ist so geeignet, das prodesse et delectare-Postulat, das auch Bodmer und Breitinger nicht preisgeben, zu erfüllen. Genau in das Spannungsfeld zwischen Wahrheit, Lüge, Wahrscheinlichkeit und Wunderbarem213 werden die Erzählungen des ersten Abends gestellt, der mit der Geschichte der Sängerin Antonelli beginnt. Der Abbé schickt der Erzählung bereits voraus, dass diese von einigen für »ersonnen«, von anderen für »wahr«, von wieder anderen als »wunderbar« zwischen Lüge und Wahrheit erachtet werden. 210

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Da dies alles in der Forschung ausgiebig gezeigte Dinge sind, hier nur ein exemplarisches Zitat aus Blanckenburgs ›Versuch über den Roman‹: »Der Dichter soll in seinen Lesern, auf die Art, wie er es durch seine Mittel vorzüglich kann, Vorstellungen und Empfindungen erzeugen, die die Vervollkommnung des Menschen und seine Bestimmung befördern können.« […] Ich glaube nicht, daß der Dichter auf eine andre Art füglich Lehrer seyn könne, als indem er unsre denkende Kraft und Empfindungsvermögen durch die Kunst in der Anordnung und Ausbildung seines Werks beschäftigt. Er muß sich nicht geradeswegs zum Lehrer aufwerfen; noch weniger müssen es seine Personen. Wir selbst, ohne sein Vordocieren, müssen an ihm lernen können« Christian Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, Leipzig – Liegnitz 1774 [Photomech. Nachdruck Stuttgart 1965], S. 252f. Vgl. Friedmar Apel, Die Zaubergärten der Phantasie. Zur Theorie und Geschichte des Kunstmärchens, Heidelberg 1978, S. 77–82. Beide Breitinger, Critische Dichtkunst, Bd. 1, S. 129f. Vgl. ebd., Abschnit VI, S. 128–163 und Abschnitt VIII, S. 262–290.

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Auf der Erzählebene des Rahmens wird die Geschichte aber durch den Erzähler auktorial beglaubigt. Bleibt zu Beginn noch unklar, ob der Erzähler sich heterodiegetisch oder homodiegetisch zur Geschichte verhält,214 tritt er plötzlich als Figur in der erzählten Welt auf. Durch diesen Wechsel der Erzählhaltungen enthebt der Erzähler die Geschichte von allen innerfiktionalen Zwängen zur Authentifizierung des Erzählten. Solange er als Erzähler, den man der Lüge nicht bezichtigen will, selbst Beteiligter war, muss die Geschichte sich tatsächlich ereignet haben. Diskutieren die Zuhörer die Erzählung zunächst noch in den Kategorien von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, »ob sie wahr sei, ob sie auch wahr sein könne?«,215 behauptet der Abbé, »die ganze wunderbare Geschichte« legitimiere sich nur als wahre. Eine Position, die wenig später Karl ausführt. Überhaupt, sagte Karl: scheint mir, daß jedes Phänomen, so wie jedes Factum an sich eigentlich das Interessante sei. Wer es erklärt oder mit andern Begebenheiten zusammenhängt, macht sich gewöhnlich nur einen Spaß, und hat uns zum besten, wie z.B. der Naturforscher und der Historienschreiber. Aber eine einzelne Handlung oder Begebenheit ist interessant, nicht weil sie erklärbar oder wahrscheinlich, sondern weil sie wahr ist.216

Damit stellt er sich mit dem Abbé gegen Breitinger, der, trotz aller Aufwertungen gegenüber Gottsched, dem Dichter noch dasjenige Wunderbare anempfiehlt, »welches durch einen ziemlichen Grad der Wahrscheinlichkeit gemässiget ist.«217 Dem entsprechen hier die Versuche der Gesellschaft, die Ereignisse als para-wissenschaftliches Phänomen etwa sympathetischer Beziehungen zu erklären und so ihrer Schreckhaftigkeit zu berauben.218 Das Wunderbare an sich stellt für den Abbé indes noch keine Legitimierung des Erzählens dar, weil es »wenig Verdienst« habe. Hier zeigt sich der Abbé als Verfechter des Blanckenburgschen Erzählkonzepts, der dem Wunderbaren zwar seinen Reiz zugesteht, es aber aus dem Roman verbannt wissen will, da kausal nicht erklärbare, außerweltliche Eingriffe nichts mit der inneren Entwicklung des Charakters zu tun haben. Dessen Darstellung müsse immer dem causae efficientes-Prinzip als »Kette von Ursach und Wirkung« folgen, das hier aber reine Willkür sei und sich auf den interessanten Einzelfall reduziere.219 Auch die von Fritz erzählte Anekdote 214

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Einerseits wird gesagt, dass der Abbé sich selbst in Neapel aufhielt, andererseits leitet er die Erzählung durch die Wiedergabe der unterschiedlichen Einschätzungen so ein, als ob er davon nur gehört habe. Vgl. FA 9, S. 1017. FA 9, S. 1027. FA 9, S. 1032. Breitinger, Critische Dichtkunst, Bd. 1, S. 265. Hier sind Breitinger und Bodmer in der Tat noch sehr nahe an Gottschedschen Formulierungen zum Wunderbaren. Anders als Engel (Roman der Goethezeit, S. 232) lese ich diese Erklärungsversuche eben nicht jenseits, sondern vollkommen innerhalb des Wahrscheinlichkeitspostulats, denn sie versuchen, das Wunderbare rationalistisch einzuhegen. Vgl. Blanckenburg, Versuch, S. 22ff. Zitat ebd., S. 10.

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vom Klopfgeist ist nur insofern interessant, als man über die mögliche Ursache des Klopfens spekulieren kann, letztlich aber nur die Wahl »zwischen verschiedenen Wahrscheinlichkeiten« hat, wie Karl sagt.220 Die Geschichten des ersten und zweiten Erzähltermins verhalten sich damit in ihrem Versagen der Etablierung eines konsensuellen Rahmens spiegelsymmetrisch. Verwiesen die ›moralischen Erzählungen‹ alle auf ein stets identisches Allgemeines und sind damit letztlich redundant, so kommen die ›wunderbaren Geschichten‹ nicht über den Status isolierter Faktizität hinaus, der sich keine Maxime entnehmen lässt und das Produkt von Zufällen und äußeren Umständen ist.221 Es ist nicht ohne Ironie, wenn Goethe in diese Diskussion durch eine erneute Verschaltung der diegetischen Ebenen, von Rahmen- und Binnenerzählung, ein Phänomen gleicherart durch das Zerbersten des Schreibtisches treten lässt. Wechselte zuvor der Erzähler von einer in die andere Ebene, so hier das erzählte Ereignis selbst, indem die Gesellschaft den Knall zunächst als Rache eines sterbenden Liebhabers, dann als Menetekel für den Brand auf dem Gut der Tante und schließlich als sympathetische Wirkung zwischen zwei Objekten diskutiert. Zudem sieht Karl sich seinem eigenen Vorwurf, nicht alle Umstände, die zur Erklärung helfen könnten, seien bemerkt worden, ausgesetzt, weil er für eine naturwissenschaftlich-rationalistische Erklärung nicht die richtigen Instrumente zur Verfügung hat. Kurz: Das aufklärerische Erzählkonzept, das auf das Wahrscheinlichkeitspostulat als ökonomisches Prinzip sowohl gegen göttliche Providenz als auch irdische Kontingenz gebaut hatte, verfehlt genau diese Funktion in den ›Unterhaltungen‹. Das »Wahre« der Geschichten, an dem innerfiktional kein Zweifel besteht, lässt sich nicht in narrative Wahrscheinlichkeit überführen222 und eignet sich daher ebenso wenig zur Konstituierung neuer Ordnung wie die moralischen Erzählungen des zweiten Tages. Die poetologische Distanzierung muss nun aber auch Konsequenzen für die Bewertung der Thematik der Einlagen haben. Die dort vorgestellten Charaktere und Themen – etwa das der Entsagung – können nicht vorschnell als intentionale Aussage der ›Unterhaltungen‹ gelesen werden. Zeigt der Abbé eine gewissen Vorliebe für Blanckenburgs Geschichte des inneren Menschen, dann wird aber auch dessen kausal-finalistisches Erzählkonzept, das das Problem providentieller Einflussnahme nur in die Charaktere der fiktiven Welt verlegt, ironisch perspektiviert, wenn diese Konzepte den moralischen Erzählungen unterlegt werden. Luises finalistische Forderung nach Fortsetzung der Geschichte über ihre moralische Pointe hinaus zeigt bereits den aufkläreri220 221 222

FA 9, S. 1030. Vgl. Engel, Roman der Goethezeit, S. 233. Dem hatte Breitinger (Critische Dichtkunst, Bd. 1, S. 262–290) einen ganzen Abschnitt ›Von der Verwandlung des Würklichen ins Mögliche‹ gewidmet.

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schen Konflikt zwischen einer »strengen Kausalitätsforderung und moralischem Anspruch« an.223 Wird also das Scheitern aufklärerischer Poetik auf verschiedenen Ebenen von Goethe vorgeführt, bleibt die Frage nach dem positiven Gegenmodell. Manfred Engel und andere haben ein solches im ›Märchen‹ verwirklicht gesehen.224 Dem ist zuzustimmen. Bereits die oben beschriebene publizistische Abspaltung des ›Märchens‹, die die Lesererwartung nach Fortsetzung und Beendigung der Rahmenhandlung unterläuft, macht deutlich, dass dieses eben nicht mehr als Teil der Binnenerzählungen zu verstehen ist, sondern vielmehr als deren poetisches Korrektiv. Die ›Unterhaltungen‹ selbst fügen sich nicht einem final-kausalistischen Erzählkonzept, sondern brechen es auf. Die Rahmenhandlung erfährt nicht wie im ›Dekameron‹ ihre zyklische Schließung, sondern verläuft sich ins Unbestimmte wie in ›Tausendundeine Nacht‹, in der wir genauso wenig erfahren, ob Scharashad ihr Leben erzählerisch erhalten kann, wie sich hier über das weitere Schicksal der Ausgewanderten ausgeschwiegen wird. So ist es auch nur konsequent, dass die poetologische Erörterung des ›Märchens‹ nicht diesem in den ›Horen‹ drucktechnisch zugeschlagen wird, sondern an das Ende der Unterhaltungen des Rahmens rückt, das als solches nicht erkennbar ist. Karl fordert vom Abbé ein »Märchen«, weil nur diese Gattung von allen Forderungen nach Wirklichkeitsbezug, wie sie auch in den Theorien des Wahrscheinlichen und Wunderbaren von Bodmer und Breitinger noch formuliert werden, freigestellt sei. Wird die Poesie als Produkt der Einbildungskraft auf einen korrespondenz- oder kohärenztheoretischen Wahrheitsbegriff verpflichtet, so muss sie notwendig »mit dem Verstand und der Vernunft in Widerspruch«225 geraten. Nur in der Suspendierung aller mimetischen Realitätsforderungen kann die Kunst ihre Autonomie erweisen. Ganz Kantisch wird dieses Autonomiekonzept als das freie Spiel der Vermögenskräfte beschrieben. Die autonome Poesie wird »nur wie eine Musik auf uns selbst spielen, uns in uns selbst bewegen und zwar so daß wir vergessen, daß etwas außer uns sei, das diese Bewegung hervorbringt.«226 Damit ist, wie Oesterle zeigt, auf die Kantische Ornamentästhetik und seine Unterscheidung von freier (pulchritudo vaga) und anhängender (pulchritudo adhaerens) Schönheit aus dem § 16 der ›Kritik der Urteilskraft‹ angespielt.227 Erstere zeichnet sich nach Kant eben durch das referenzlose Spiel der Einbildungskraft aus, das sich nicht auf die Bestimmung eines Begriffs, noch eines Gegenstandes einzulassen braucht. Die ästhetische Erfahrung freier Schön-

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Voßkamp, Romantheorie, S. 191. Vgl. Engel, Roman der Goethezeit, S. 233–235. FA 9, S. 1081. FA 9, S. 1081. Oesterle, Die schwere Aufgabe, S. 190f.

heit blendet dabei jede Mimesis zunächst aus. An die Stelle des repräsentionalen Charakters von Sprache tritt ihre lautlich-musikalische Dimension. Die Rezeptionserfahrung einer sich selbst erzeugenden Bewegung wird dabei an den poetischen Text attribuiert.228 Aus der Bewegung des Gemüts wird die Bewegung des Textes und seiner »luftigen Gestalten«, der »sich und hin und her schwingt« und »bezeichnet […] die wunderlichsten Bahnen, die sich in ihrer Richtung stets verändern und wenden.« Die arabeske Schlangenlinie verweist in seiner klassizistischen Form (Moritz) dabei zugleich auf die Schließung des Kunstwerks wie auf dessen semantische Übersteigung. Und wie um die Autonomie des Ästhetischen noch einmal zu unterstreichen, bricht der Abbé die poetologische Erörterung Karls ab. Denn: eine externe Bestimmung des Poetischen etwa durch die philosophische Ästhetik stellt dessen Autonomie bereits wieder in Frage. »Fahren sie nicht fort, sagte der Alte, Ihre Anforderungen an ein Produkt der Einbildungskraft umständlicher auszuführen. Auch das gehört zum Genuß an solchen Werken, daß wir ohne Forderungen genießen«.229 Bei aller Übereinstimmung mit Schiller weist Goethe ihn und seine ›Ästhetischen Briefe‹ hier mild-ironisch zurecht. Wie die Autonomie des Ästhetischen sich ins Werk setzen lässt, ist eine Frage des Werks, nicht der Werkbeschreibung. Dass bei aller Autonomie die Poesie und das ›Märchen‹ sich nicht in solipsistischem Selbstkontakt einspinnen oder willkürlicher Phantasie freien Lauf gewähren, sondern in Symbolik und Struktur sehr wohl gesellschaftlich positionieren, dürfte mit einem Blick auf die umfangreiche Forschung zum ›Märchen‹ und seinen Anspielungen »aus der Architektur- und Kunstgeschichte, der Bibel und Geschichtsschreibung, der Alchemie und der Naturkunde, der Politik und Freimaurerei«230 keine Frage

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Zu einer systematischen Rekonstruktion dieser Figur bei Kant siehe: Vf., Vom Wirken des Geistes. Ein schönes Beispiel für eine solche Attribution findet sich in A. W. Schlegels Rezension der ›Horen‹ in der ›Allgemeinen Literatur-Zeitung‹ vom 4–6. Januar 1796, in der auf einmal der Text selbst und nicht mehr die Einbildungskraft schwebt: »So schwebt das ganze Märchen hin, und wer sich nicht an ihm erfreuen wollte, müßte wenigstens nicht mit unbefangenem Geist sich belustigen können, oder alle Werke, woran die Einbildungskraft allen Teil hat, lästig finden«. Zit. nach: FA 9, S. 1534. Alle FA 9, S. 1081. Oesterle, Die schwere Aufgabe, S. 192. Zugleich muss festgehalten werden, dass Kant mit dem Spiel der Einbildungskraft hier keineswegs eine von ihm pejorativ belegte ›dichterische Einbildungskraft‹ oder die ›Phantasie‹ meint. Vgl. dazu Hans Joachim Pieper, Einbildungskraft, Phantasie und Protention. Zur Produktivität der Einbildungskraft in der ›Kritik der ästhetischen Urteilskraft‹. In: Volker Gerhard/Rolf Peter Horstmann/Ralf Schumacher (Hg.), Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. III, Berlin – New York 2001, S. 443–452. Vorsicht ist also geboten, Kants Begriff der freien Schönheit als dessen Begriff der Einbildungskraft vorzustellen. Daneben sind mindestens fünf weitere Formen zu unterscheiden. Vgl. Werner Strube, Die Einbildungskraft und ihre Funktionen in Kants ›Kritik der ästhetischen Urteilskraft‹. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 24 (2000), S. 75–86;

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sein. Der Abbé wehrt sich nicht gegen die Unbestimmtheit des Spiels, sondern gegen den behaupteten Bruch jeglicher referenzieller Beziehung zwischen poetisch-autonomen Bild und Wirklichkeit. Genau darin sah Goethe zeitlebens das (romantische) Missverständnis der Autonomieästhetik. Die symbolische Überdeterminiertheit der im Text verflochtenen Details lässt nur keine endgültigen Zuschreibungen zu. Der Bewegung der Einbildungskraft im Produktionsakt und der Zuschreibung dieser Bewegung an den Text entspricht auf der Rezeptionsseite die Dynamisierung hermeneutischer Prozesse. Eine solche Bestimmung stimmt aber exakt mit Kants Definition der ästhetischen Idee überein, die »der Einbildungskraft Anlaß gibt, sich über eine Menge von verwandten Vorstellungen zu verbreiten, die mehr denken lassen, als man in einem durch Worte bestimmbaren Begriff ausdrücken kann.«231 Kant verbindet damit eine Bewegung zwischen ästhetischen Attributen des Kunstwerks und der Wahrnehmung von Bewusstseinszuständen. Diese Bewegung identifiziert Kant als ›Geist des Werkes‹: »die Dichtkunst und Beredsamkeit nehmen den Geist, der ihre Werke belebt, auch lediglich von den ästhetischen Attributen der Gegenstände her, welche den logischen zur Seite gehen, und der Einbildungskraft einen Schwung geben, mehr dabei, obzwar auf unentwickelte Art, zu denken, als sich in einem Begriffe, mithin in einem bestimmten Sprachausdrucke, zusammenfassen läßt«.232 Eine solche Struktur der ästhetischen Attribute zeichnet das ›Märchen‹ mit seiner letztlich nicht auflösbaren Symbolik aus, die den »Prinzipien der Selektion, Reduktion und Repetition unterworfen ist«.233 Die Zuhörer sollen »an nichts und an alles erinnert werden«.234 Dieser Geist des Werkes integriert nun auch den formal zerstückten Zusammenhang von ›Märchen‹, Rahmen- und Binnenerzählungen. Sind Goethes ›Unterhaltungen‹ eine Reflexion auf die Poetologien des Erzählens und ihre medialen Bedingungen um 1800, die sich den novellistischen Rahmen zu nutzen macht, um verschiedene Erzähltraditionen, die in den Binnenerzählungen durchgespielt werden, auf ihren funktionalen und ästhetischen Wert zu befragen, so präsentieren sie die gesellige Erzählgesellschaft und das ihr eigene orale Erzählen bereits als sich nur mühsam erhaltende Tradition. Die in der Renaissancenovellistik damit verbundene heilend-integrative Wirkung wird

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Strube bezeichnet diese Funktionen der Einbildungskraft als 1. pulchritudo vaga, 2. pulchritudo adhaerens, 3. das Mathematisch-Erhabene, 4. das Dynamisch-Erhabene, 5. die Theorie des Genies, 6. ästhetische Illusion bzw. Phantasie. Er schließt dabei nicht aus, dass weitere Fälle zu bestimmen wären. Daher ist es m. E. verkürzt, wenn Oesterle sagt, der Alte korrigiere die Kantische Position. Es ist die Reduzierung der Kantischen Position durch Karl, die der Abbé ablehnt. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 49, S. 251. Ebd., S. 252. Ingrid Kreuzer, Strukturprinzipien in Goethes Märchen. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 21 (1977), S. 216–246; S. 221. Alle FA 9, S. 1081.

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zwar noch mitgeführt, deren eigentlicher Ort in den ›Unterhaltungen‹, das ›Märchen‹, steht von dieser mündlichen Tradition des Erzählrahmens in den ›Horen‹ abgespalten. Der einheitsstiftende Akt verlagert sich in eine rekursiv auf den vorgängigen Text erstreckende verdichtete Symbolik, die sich eindeutiger Referenzen aber entzieht.235 Darin stellt Goethe sein Einheitsmodell vor. Das ›Märchen‹ in seiner arabesken Struktur ist der Versuch, die beständig unterbrochene Textur der ›Unterhaltungen‹ und die in ihr verhandelten Probleme symbolisch zu integrieren und zusammenzuschließen und dergestalt die Zersplitterung, die formal beibehalten wird, zu überwinden.236 Eine solche symbolische Idee kann aber nicht auf Leitkonzepte wie »Entsagung« reduziert werden,237 sondern muss eben »an nichts und an alles« erinnern. Diese symbolische Integration vollzieht sich jenseits des Grundprinzips von Gesellschaftlichkeit und des ökonomischen Tausches. Genauer: nicht in einem vermittelnden Tausch über eine Währung, sondern in der unmittelbaren Form des Naturalientausches. Der Fährmann verlangt Artischocken, Kohlhäupter und Zwiebeln als Lohn, das Gold wird dezidiert nicht in seiner Funktion als Währung genutzt, sondern vielmehr selbst als Nahrungsmittel – der Schlange.238 Die Beziehungen des Personals knüpfen sich also nicht primär über den Tauschwert von Gold oder Gemüse, sondern über persönliche Verpflichtungen und Bürgschaften. Die Irrlichter verpflichten sich gegenüber dem Fluss, die Alte bürgt für die Irrlichter, später für Liliens Kanarienvogel, Lilie für den erstarrten Hund des Alten, der Alte mit der Lampe für das Leben des Jünglings wie gegenüber der Schlange im Versprechen alle Steine aufzusammeln und über den Fluss zu tragen und schließlich die Schlange gegenüber allen Restfiguren in der Aufopferung als Brücke. Alle diese Verpflichtungen werden am Ende eingelöst und in der Tat haben sich die Hauptfiguren als Gemeinschaft zusammengefunden. Die Lilie nennt den Alten »Vater«239 und Lilie und der Jüngling erscheinen als Braut und Bräutigam, die die erstarrte und fast in Versenkung begriffene genealogi-

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Das erkannte Schiller bereits früh: »Übrigens haben Sie durch diese Behandlungsweise sich die Verbindlichkeit aufgelegt, daß alles Symbol sei. Man kann sich nicht enthalten, in allem eine Bedeutung zu suchen.« Am 29. August 1795 an Goethe. MA 8.1, S. 103. Diese Funktion wurde der Arabeske bereits zeitgenössisch zugesprochen. Vgl. das Zitat Fußnote 41 in Oesterle, Die schwere Aufgabe, S. 194. Entlang des Entsagungsbegriffs versucht Jane K. Brown (Goethe’s Cyclical Narratives. ›Die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter‹ and ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹, Chapel Hill 1975, S. 1–32) Novellen und Märchen zu einer ideellen Einheit zu verschmelzen. Ich kann auch nicht sehen, dass die Erzählgesellschaft »led by the Abbé’s poetic efforts […] has made considerable progress towards social harmony through self-control and renunciation.« Ebd., S. 20. Vgl. Kauffmann, Phantastische Austauschprozesse, S. 208ff. FA 9, S. 1107.

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sche Herrschaft des Königtums zu neuem Leben mit neuem überirdischen Reiche erwecken. Nun könnte man dies zum Anlass nehmen, mit dem ›Märchen‹ tatsächlich eine restaurative Utopie ins Werk gesetzt zu sehen. Das Ende der ›Unterhaltungen‹ macht aber noch einmal deutlich, dass die Zeit der Gemeinschaft vorbei ist. Die Entstehung des neuen Reichs und die drei Mal wiederholte prophetische Ankündigung »Es ist an der Zeit« deutet nicht auf eine Rückkehr des Königs, der sein Volk als Familie gemeinschaftlich versammelt, sondern kündet vom Heraufziehen der Gesellschaft. Die ›Unterhaltungen‹ enden mit einer Umwandlung der Naturalie Gold, der vor allem symbolischer Wert zukommt, in eine Währung mit hohem Tauschwert, von dem sich möglichst viel einzuverleiben nicht mehr lustiges Spiel (Irrlichter) oder ästhetischer Glanz (Schlange), sondern ökonomische Properität bedeutet. Diese letzte Wandlung bedroht die eben doch erst reetablierte Gemeinschaft bereits wieder, der nun die gesellschaftliche Masse im Volk als kapitalistisch-gierige Tauschpartner gegenübertritt. Unvermutet fielen Goldstücke, wie aus der Luft, klingend auf die marmornen Platten, die nächsten Wanderer stürzten darüber her, um sich ihrer zu bemächtigen, einzeln wiederholte sich dies Wunder, und zwar bald hier bald da. Man begreift wohl, daß die abziehenden Irrlichter sich hier nochmals eine Lust machten und das Gold aus den Gliedern des zusammengesunkenen Königs auf eine lustige Weise vergeudeten. Begierig lief das Volk noch eine Zeitlang hin und wider, drängte und zerriß sich, auch noch da keine Goldstücke mehr herabfielen.240

Machte die Baronesse noch keinen Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, so präsentiert das ›Märchen‹ am Ende das deutliche Auseinandertreten der Begriffe. Darin liegt sicherlich ein melancholischer Zug Goethes und doch wird hier keine reaktionäre Klage geführt. Die Symbole der gemeinschaftlichen Integration erfahren eine Umwertung in konkrete Orte gesellschaftlichen Treibens. Die schwerlastende Ernsthaftigkeit der Tempelszene verwandelt sich in touristische Vergnügungsorte, die keineswegs pejorativ belegt werden oder andachtsvolle Erinnerungsstätten vorstellen, sondern allenfalls ein Vergangenes in der Gegenwart in ihrem Objektstatus präsent halten. »Endlich verlief es sich allmählig, zog seine Straße und bis auf den heutigen Tag wimmelt die Brücke von Wanderern, und der Tempel ist der besuchteste auf der ganzen Erde.«241 Wenn es eine Position in den ›Unterhaltungen‹ gibt, der Goethe nahesteht, dann sind es wohl die Irrlichter, die, schon der alten Sphäre nicht gänzlich zugehörig, den Charakter der neuen Zeit erkennen und damit ihr ironisches Spiel treiben. In der Lust an diesem Spiel liegt zugleich die Möglichkeit eines produktiven statt resignativen Verhältnisses zu diesem Wandel. Zu diesem Spiel gehört denn auch die Verwischung eindeutiger Positionierungen, die eine Reglementie-

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FA 9, S. 1114. Ebd.

rung des Poetischen bedeutete. Den Irrlichter, wofür immer sie stehen mögen, ist Festlegung jedoch »die unangenehmste Empfindung«.242 Mit dem in der Tat aufschlussreichen Verweis auf die zeitgenössische Weimarer Rätselkultur als Form von Geselligkeit zeigt Oesterle die Differenz zwischen der dort begegnenden mehr oder weniger komplexen Allegorese und der symbolischen Überdetermination des Goetheschen Rätsels,243 die den Leser zur Rekursivität geradezu zwingt und kann so die Nähe zu Schlegels (philologischem) Lektüremodell herausstellen. Es wird deutlich, wie sehr auch die ›Unterhaltungen‹ die Funktion der Philologie als Verständigung über die Geschichte der literarischen Tradition und deren Ästhetiken als die theoretische Bestimmung der Poesie selbst zu leisten in Anspruch nehmen. In den ›Unterhaltungen‹ ist der Bruch mit einer traditionellen Geselligkeitskultur bzw. deren Transformation im Eingestehen des phantasmagorischen Zuges ihrer Mündlichkeitsfiktionen angedeutet. Die ›Unterhaltungen‹ und ihr arabesker Abschluss im ›Märchen‹ aber stellen noch den spielerischen Versuch dar, die Kollision von »Stimme und Schrift zu überwinden, ihnen das Modell einer semiotischen Synästhesie gegenüberzustellen.«244 Dies wird sich mit den ›Wanderjahren‹ ändern.

13. Eingesammeltes Erzählen: Wielands ›Das Hexameron von Rosenhain‹ Die Aufgabe des Versuchs, Stimme und Schrift noch in eine irgendwie vermittelte Harmonie zu setzen, könnte man mit den Veränderungen des vorgeblich ›klassischen‹ zum ›alten‹ Goethe zu erklären versuchen. Ein Seitenblick auf Wielands Erzählsammlung ›Das Hexameron von Rosenhain‹ (1802–1805)245 und auf das dort anzutreffende Verhältnis von Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Druck, zeigt aber an, dass es sich hier keineswegs allein um eine werkgeschichtliche Besonderheit handelt, sondern die ›Unterhaltungen‹ inmitten einer zentralen

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FA 9, S. 1083. Überhaupt ist diese Dimension eines ironischen Kommentars auf die konkreten Weimarer Verhältnisse nicht zu unterschätzen, setzt Goethe deren Geselligkeitskulturen, an denen er selbst großen Anteil hat, hier in ein schillerndes Licht. Goethe war sich der Künstlichkeit und Ahistorizität dieser Geselligkeitskultur immer bewusst. Auf diesen Zug der Arabeske bei Goethe verweist in anderem Zusammenhang Gerhart von Graevenitz, Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes ›West-östlichem Divan‹, Stuttgart 1994, S. 22f. Christoph Martin Wieland, Das Hexameron von Rosenhain. In: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 38, Leipzig 1805. [Photomechanischer Nachdruck. Hg. von der Hamburger Stiftung zur Förderung der Kultur. Bd. XII Hamburg 1984].

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Diskussion um 1800 verortbar ist, wie Erzählen unter modernen Bedingungen noch möglich ist oder wieder wird. Wielands Erzählzyklus ist wie die ›Unterhaltungen‹ eine dezidierte Auseinandersetzung mit den medialen Voraussetzungen des Erzählens. Hier wie dort werden die prosaischen Kurzformen Anekdote, Märchen, Novelle wie die mit ihnen verknüpften Poetologien des Wunderbaren diskutiert und auch diese Diskussion schuldet sich den Publikationsbedingungen der Goethe-Zeit zwischen Werkausgabe und Zeitschrift.246 Anders als Goethes ›Unterhaltungen‹ hat das ›Hexameron‹ weit weniger Aufmerksamkeit durch die Forschung gefunden, gilt es doch als unambitioniertes Werk eines alternden Dichters. »Der Reiz des ›Hexamerons‹ liegt zweifellos in seiner Anspruchslosigkeit«, urteilt etwa Hansjörg Schnelle symptomatisch.247 Dagegen soll hier aufgezeigt werden, dass Wieland die Goethesche Diagnose einen Schritt weiterführt, indem er die Fiktion mündlicher Geselligkeit in eine anspruchsvolle Herausgeberfiktion einbettet und so noch weit stärker bricht. Schon die Entstehung der Sammlung ist begleitet von den Zwängen der Publikationskultur um 1800. Wieland, immer noch beliebter Publikumsautor, zugleich aber in Weimar zunehmend isoliert und überdem verschuldet, wird in den Jahren ab 1800 von mehreren Verlegern (Friedrich Wilman, Friedrich Viewig und Cotta) angesprochen, ja bedrängt, ob er bereit sei, Beiträge zu verschiedenen Taschenbüchern zu liefern. Die Aussicht auf die lukrative Einnahmequelle war Wieland offensichtlich angenehm, denn allen drei Gesuchen hat er nachgegeben. Zugleich aber stand er bei Göschen als seinem Hausverleger in Schuld, die Ausgabe der ›Sämmtlichen Werke‹ zu befördern, zumal dieser ihn mit großzügigen Vorschusszahlungen bedacht hatte. Wieland sah sich vor die Wahl zwischen Werkausgabe und Anthologiebeitrag – manifestierter und prozessierter Autorschaft – gestellt. Eine Wahl, die neben der finanziellen Frage auch seine Politik der Autorschaft betraf, in der die beständige Revision seiner Ausgaben eine wichtige Rolle spielte.

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Auf diesen Komplex gehe ich hier nicht weiter ein. Anders als in den ›Unterhaltungen‹ werden aber bestimmte Formen direkt durch ein Erzählgesetz im »Vorbericht eines Ungenannten« ausgeschlossen, die bei Goethe noch diskutiert werden: Familiengeschichten und moralische Erzählungen. Der Antrag auf Ausschluss von Feenmärchen und ähnlich wunderbaren Geschichten wird indes abgewiesen. So finden sich denn auch Geistergeschichte, Milesisches Märchen, Feenmärchen, Anekdote und Novelle als Erzählformen. Hansjörg Schnelle, Zu Entstehung und Gestalt von C. M. Wielands Erzählzyklus ›Das Hexameron von Rosenhain‹. In: Neophilologus 60.1 (1976), S. 107–123; S. 119f. Schnelle rekonstruiert hingegen sehr genau die Entstehungsgeschichte und bildet einen der wenige Texte überhaupt, die sich, trotz pejorativer Wertung, eingehender mit dem ›Hexameron‹ beschäftigen.

Die Zersplitterung des zunächst als kohärentes Ganzes geplanten Stücks sprengt zudem die anvisierte symmetrische Form des Zyklus’ auf. Dies wird umso mehr verschärft als Wieland in den Teilpublikationen nicht etwa nur die Binnenerzählung, sondern auch die Rahmenkonstruktion mit abdrucken lässt.248 So lautet der Titel des in Viewegs ›Taschenbuch für das Jahr 1803‹ abgedruckten Beitrages, ›Narcissus und Narcissa aus einer Handschrift das Pentameron von Rosenhain betitelt‹. Ein früher handschriftlich überlieferter Entwurf sah noch vor, geselliges Erzählen par excellence vorzuführen. Die Erzählungen sollten nicht als Ganzes von einem Erzähler dargeboten werden, sondern in Form eines Gesprächsspiels der narrative Staffelstab an einem bezeichnenden Punkt der Handlung an einen anderen Teilnehmer weitergegeben werden.249 Diesen Plan gibt Wieland auf. Stattdessen wird nun das novellistisch-dekameronistische Erzählen durch die Übereinanderblendung von Autor- und Herausgeberfunktion weit stärker gebrochen als bei Goethe. Bereits in den Titelblättern des 38. Bandes der Göschen-Ausgabe von 1805 vermischt sich Autor- und Herausgeberschaft. Ist das ›Hexameron‹ zunächst Teil der Sämmtlichen Werke des Autors Wieland und wird als Werktitel auf dem Titelblatt des Bandes bereits genannt, so folgt darauf ein weiteres Titelblatt, auf dem nun steht »Das Hexameron von Rosenhain. Herausgegeben von C. M. Wieland.« Anstatt den Erzählzyklus durch die Rahmenhandlung beginnen zu lassen, folgt zunächst ein »Vorbericht eines Ungenannten«, der aber exakt jene novellistische Exposition schildert, die er unterläuft: Eine auserlesene Gesellschaft hat sich auf dem Landsitz des Herrn v. P. versammelt und hat nun »ausser den gewöhnlichen Vergnügungen des Landlebens, noch manche Massnehmungen nöthig, um die beschwerlichste aller bösen Feen, die Langeweile abzuhalten.«250 Ganz anders als die Ausgangssituation in Goethes ›Unterhaltungen‹ und Boccaccios ›Dekameron‹, auf das der Titel natürlich anspielt, gibt es keinerlei äußere Krisensituation, die die Gesellschaft dazu veranlasst, »nach dem Beyspiel des berühmten ›Dekamerone‹«251 zu verfahren. Bevor dieser Rahmen jedoch weiter entfaltet werden kann, wird die traditionelle Genrestruktur abgeändert. Schon das ›Dekameron‹ wird von einem sich paratextuell äußernden Autor als dessen Sammlung ausgegeben. Der Erzähler gibt sich streng extradiegetisch-heterodiegtisch.252 Anders bei Wieland: Hier ist bereits die Exposition des traditi-

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Zu den bibliographischen Einzelheiten siehe Schnelle, Zu Entstehung. Der Entwurf findet sich teilweise abgedruckt in: Albert Meier/Wolfgang Proß, Nachwort. In: Christoph Martin Wieland, Das Hexameron von Rosenhain. Hg. von Friedrich Beißner, München 1983, S. 139–158; darin S. 141–145. Wieland, Hexameron, S. 4. Ebd., S. 4f. Ich fange gar nicht erst an, mich auf die unterschiedlichen narratologischen Begriffsbestimmungen theoretisch einzulassen. Die Begriffe dürften aber inzwischen zumin-

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onellen Rahmens im Vorbericht ein Manuskript, dessen Verfasser sich narrativ zu bescheiden weiß. »Dass wir die Leser oder Leserinnen, denen diese Handschrift in die Hände fallen könnte, mit ausführlichen topografischen, mahlerischen und poetischen Beschreibungen des Schlosses, der Gärten, des Parks und der übrigen Umgebungen von Rosenhain verschonen, werden Sie hoffentlich mit gehörigem Dank erkennen«.253 Diesem Vorbericht aber wird eine weitere diegetische Ebene vorgeordnet. Die Handschrift des Vorberichts sei »dem Herausgeber, sehr zierlich auf Velinpapier geschrieben und von etlichen Zeilen mit der Unterschrift Rosalinde begleitet, zugeschickt und zu beliebigem Gebrauch überlassen worden«.254 Der Bericht des Ungenannten wurde also offenbar von einer jungen Dame unter dem Synonym Rosalinde, »weil die wahren Namen hier nicht zu erwarten sind«,255 an den Herausgeber gesandt. Wer für die Handschrift verantwortlich zeichnet, bleibt unklar. Offensichtlich muss es sich aber um ein Mitglied der Landgesellschaft handeln. Der Verfasser des Vorberichts und der Handschrift ist ein intradiegetisch-homodiegetischer Erzähler. Er ist Teil der erzählten Welt und erzählt im Vorbericht auch die eigene Geschichte als Mitglied der Landgesellschaft. Es bleiben aber offene Fragen. Der Herausgeber gibt keine Informationen, wie etwa Rosalinde an die Handschrift gekommen sei. Damit eröffnet sich zumindest eine weitere Option. Rosalinde selbst könnte die Verfasserin sein. Obwohl der Herausgeber immer in der männlichen Form vom Verfasser der Handschrift spricht, scheint das Autograph eindeutig weiblicher Herkunft zu sein, sie ist »sehr zierlich auf Velinpapier geschrieben«.256 Dies ist umso plausibler als es Rosalinde ist, die den Vorschlag für die Erzählgesellschaft vorbringt und selbst deren erste Erzählerin ist. Eingedenk der weitgehend männlichen Codierung von Autorschaft und damit einhergehender Diffamierung weiblicher Autorschaft um 1800, wäre innerfiktional sogar ein Grund für die maskierte Verfasserschaft gegeben.257 Die Identifizierung von Autorschaft und Männlichkeit impliziert dabei zugleich eine Geschlechterdifferenzierung in

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dest eine gewisse Breitenakzeptanz gefunden haben, so dass ich sie hier – ohne auf terminologische Konsistenz jeweiliger Narratologien weiter zu achten – verwende. Wieland, Hexameron, S. 2. Ebd., S. 18. Ebd., S. 4. Ebd., S. 18. Vgl. dazu Corinna Heipcke, Autorhetorik. Zur Konstruktion weiblicher Autorschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. u.a 2002, S. 46–50 und S. 71–74. Heipcke sieht im Verschwinden der Autorin ein Paradigma weiblicher Autorschaft um 1800. Mit diesem Paradigma spielt Wieland hier. Barbara Becker-Cantario (Schrifterstellerinnen der Romantik. Epoche – Werke – Wirkung, München 2000, S. 62) schreibt: »Auf die gesellschaftliche Verachtung im ausgehenden 18. Jahrhundert reagierten dann fast alle schreibenden Frauen der nächsten Generation damit, daß sie ihre Werke anonym oder unter einem Pseudonym veröffentlichten.«

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weibliche Mündlichkeitskultur und maskuliner Schriftkultur.258 Und so ist auch hier nur der Begleitbrief, die weibliche Gattung um 1800, feminin gezeichnet. Eine Zeichnung, die zugleich die Verfügung über die (weibliche) Handschrift an den männlichen Herausgeber überschreibt. Der Hinweis auf das Material des medialen Trägers der Handschrift setzt eine weitere Bedeutungsnuance hinzu. Zur Zeit der Handlung des ›Hexameron‹, die unmittelbar nach der Jahrhundertwende, etwa 1802, angesiedelt ist, zeugt die Benutzung des Velinpapiers von dem Wunsch, das Manuskript jenseits der Kategorien von Herkunft (Autor) und ästhetischem Wert (Form/Inhalt-Relation) über dessen Materialität mit einem autoritativen Wert zu versehen. Als neue Form der Papierherstellung erst Mitte des 18. Jahrhunderts in England erfunden und 1783 erstmals in Deutschland durch den Papierfabrikanten Philip Sebastian Ludwig Keferstein in Kröllwitz produziert, war das Velinpapier eine der edelsten verfügbaren Papiersorten auf dem Markt, die sich aufgrund der ungerippten Oberfläche vor allem durch ihre Feinheit, Glattheit und eine pergamentähnliche Durchsicht auszeichnete.259 Der Text verhandelt von der ersten Seite an seine gespaltene Autorisierung zwischen Originalität und Abschrift, Autor- und Herausgeberschaft, oralem Erzählen und dessen schriftlicher Aufzeichnung und anschließender Drucklegung, männlicher und weiblicher Verfasserschaft. Die Fiktion eines unmittelbaren mündlichen Erzählens wird durch den Herausgeber denn auch gänzlich aufgelöst. Die ihm zugestellte und nun edierte Handschrift ist selbst Ergebnis einer kompilierenden Umschrift. Wenn auch die Binnengeschichten primär orale Erzählungen gewesen seien, so ist deren Wiedergabe hier bereits unter eine doppelte Fiktion von Mündlichkeit gestellt. Die Versionen der Handschrift sind nicht etwa nur Mitschriften dieser Erzählungen, sondern beruhen selbst auf schriftlichen Vorlagen der Erzähler. »Wofern sie nicht einen sehr behänden Geschwindschreiber bey der Hand hatten, so ist zu vermuthen, das jedes sein Mährchen selbst zu Papier gebracht und den andern Mitgliedern der Gesellschaft Abschrift davon zu nehmen erlaubt habe.«260 Wir haben es mit einem fünfstufigen Distanzierungsmodell zu tun: 1. die mündlichen Erzählungen an den Abenden auf dem Landgut 2. Niederschrift der Erzählungen durch die jeweiligen Erzähler 3. Kompilierende Abschrift dieser Manuskripte in eine Handschrift

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Vgl. Ina Schabert/Barbara Schaff, Einleitung. In: dies. (Hg.), Autorschaft. Genus und Genie in der Zeit um 1800, Berlin 1994, S. 9–20; S. 12. Vgl. Lexikon des Buchwesens, hg. von Joachim Kirchner. Bd. II, Stuttgart 1953, S. 823f. Die Literatur ist uneins, ob der englische Drucker Baskerville oder der Papiermacher James Whatman das Velinpapier erfand. Fest steht, dass Baskerville das neue Papier erstmals 1757 für eine Vergil-Ausgabe nutzte. Vgl. auch H. B. [ohne Auflösung], Wer war der Erfinder des Velin-Papiers? In: Der Papier-Fabrikant 8 (1939), S. 62–63. Wieland, Hexameron, S. 19.

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4. Zustellung durch Rosalinde an den Editor, 5. der diese überarbeitet und herausgibt. Diesen Stufen entspricht eine mediale Transformation von der Mündlichkeit über (Hand-)Schriftlichkeit bis zur Drucklegung. Konstituieren sich die Binnentexte durch die handschriftliche Transformation ihrer mündlichen Erzählungen, so die Form der Rahmung durch die kompilierende Abschrift in Relektüre des Manuskriptes. Dieses Manuskript ist also Produkt kollektivierter Autorschaft, die sich aber in den Binnentexten, ganz in novellistischer Tradition, selbst als WiederErzählungen von Texten ungeklärter Autorschaft ausgeben. Die fehlende Autorisation des Manuskriptes durch Angabe eindeutiger Autorschaft wird nun an die Instanz des ökonomischen und ästhetischen Wertes seiner materiellen Erscheinung (Velin-Papier, Kalligraphie) delegiert und darin kompensiert. Autorschaft aber wird erst durch die editoriale Arbeit und Drucklegung des Herausgebers konstituiert, der diese nun auch für sich in Anspruch nehmen kann.261 Keine Rede kann also davon sein, Wieland stelle hier ungebrochen ein idyllisches Gesellschaftsspiel unterhaltend-geselligen Erzählens innerhalb der Oberschicht dar.262 Der Bruch mit diesem Erzählmodell wird selbst innerhalb der durch Titel typographisch abgesetzten Binnenerzählung, die in Goethes ›Unterhaltungen‹ mit Ausnahme des ›Märchens‹ fehlten, deutlich. Die eröffnende Erzählerin Rosalinde kommt über den ersten Absatz der Erzählung nicht hinaus, bevor die Figuren des Rahmens sie mit dem Wunsch nach Kommentierung unterbrechen. Was in der philologisch besorgten Ausgabe eine Fußnote übernommen hätte, führt hier zum Erzählabbruch. »Verzeihung, sagte Nadine mit einer Verneigung gegen die ganze Gesellschaft, dass ich die Erzählung gleich Anfangs unterbrechen muss, um mir einen kleinen Unterricht auszubitten«.263 Dieser Bitte kommt Wunibald als lebende Glosse mit Verweisen auf ›Tausendundeine Nacht‹ und (Wielands) ›Dschinnistan‹ auf den nächsten Seiten nach, bevor die Erzählung fortgesetzt werden kann, nur um wenig später, diesmal im Manuskript durch den Verfasser der Handschrift unterbrochen zu werden. Es steht hier aber nicht etwa die direkte Einrede des Verfassers, sondern lediglich ihre Wiedergabe durch den Herausgeber. Diese Unterbrechung thematisiert nun auch noch explizit die Verlustgeschichte im Medienwechsel von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit.

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Der Text der Goethe-Zeit, der dieses Spiel wohl am weitesten treibt, ist natürlich Jean Pauls ›Leben Fibels‹ (1811). Siehe dazu Uwe Wirth, Die Schreib-Szene als EditionsSzene. Handschrift und Buchdruck in Jean Pauls ›Leben Fiebels‹. In: Martin Stingelin (Hg.), ›Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‹. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004, S. 156–174. Diese Tendenz bei Schnelle, Zu Entstehung, S. 113f. Wieland, Hexameron, S. 25.

Hier unterbricht der Verfasser der Handschrift die Erzählung auf einige Augenblicke. Wir hätten sehr gewünscht (sagt er), aber es stand nicht in unserem Vermögen, dieses Gespräch der beiden Schutzgeister für die Leser so unterhaltend zu machen, als es für Rosalindens Zuhörer durch die Anmuth und Lebhaftigkei ihres mündlichen Vortrags war. […] Da dieser Mangel weder den Augen noch den Lesern zu ersetzen ist, so wollen wir uns auch keinen Kummer deswegen machen, und laden sie ein, mit uns in die Rosenlaube zurückzukehren, und so gut als ihre eigene Einbildungskraft sie darin unterstützen will, der schönen Erzählerin zuzuhören.264

Wieso also dann die Unterbrechung? Die indirekte Wiedergabe des Einschubs markiert die mündliche Erzählsituation deutlich als Fiktion, wenn einerseits gesagt wird, die Handschrift könne sie nicht imitieren, andererseits der Leser aber wieder zum ›Zuhören‹ aufgefordert wird. Stand in den ›Unterhaltungen‹ zwischen den Erzählungen das Gespräch über deren Bedeutung und Interpretation als Teil dieser Form von Geselligkeit, so steht bei Wieland vorerst nur die Unterbrechung durch die Editoren. Die poetologische Diskussion wird überwiegend in den Vorbericht ausgelagert.265 Bedurfte bei Goethe die Geselligkeit, um sich erhalten zu können, des vertraglichen Schutzes durch die Baronesse, so zeigt sich bei Wieland ein deutlich resignativer Zug. Die harmlose Restituierung von Geselligkeit durch Erzählen, das »Gemeinschaft stiftet«,266 wie sie die Landgesellschaft zur Unterhaltung unternimmt, wird hier als gebrochene Medienfiktion dargestellt. Wieland hält darin nicht »eine ihm entschwindende Wirklichkeit fest«,267 sondern präsentiert deren Schwinden als Effekt eines Medienumbruchs, der für einen grundlegenden Wechsel der Tradierung des literarischen Bestandes steht und der um 1800 zwar längst vollzogen und doch wieder neu diskutiert wird.268 Werden in den ›Unterhaltungen‹ verschiedene poetologische Positionen diskutiert und verschiedene Erzähltraditionen mündlich reaktualisiert, so tritt bei Wieland bereits die dort nur sich andeutende Konsequenz offen zu Tage: Wenn der

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Ebd., S. 39f. Die folgenden Geschichten werden dann mehr und weniger glatt aneinander gereiht, ohne dass die Rahmen- oder Herausgeberfiktion eine größere Rolle spielt. Anlässlich der ›Novelle ohne Titel‹ und ›Liebe ohne Leidenschaft‹ werden noch einmal kurz Gespräche über die Gattungen geführt. So Schnelle (Zu Entstehung, S. 113), der darin eine idyllische »Welt unbeschwerter, urbaner Geselligkeit« (ebd., S. 114) sieht. Ebd., S. 114. Insbesondere die Mediävistik und die Frühe Neuzeit-Forschung hat das Thema Medienumbrüche aufgegriffen. Wie elaboriert dies mit Rahmenerzählungen verknüpft wird, zeigt etwa Sabine Obermaier, Das Fabelbuch als Rahmenerzählung. Intertextualität und Intratextualität als Wege zur Interpretation des Buchs der Beispiele der alten Weisen Antons von Pforr, Heidelberg 2004. Angesichts ihrer Befunde wäre in der Tat zu fragen, inwiefern Paratextualität als Phänomen innerhalb einer Modernisierungsthese für das 18. Jahrhundert beschrieben werden kann.

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Erzähler als »Archiv von Menschen- und Weltkenntnis«269 aus der Gesellschaft entfernt ist wie in den ›Unterhaltungen‹, bedarf diese eines medialen Substrats: Der Aufzeichnung durch die Schrift, deren Dokumente nur durch den Herausgeber dem Schicksal, »unter sieben Siegeln in seinen Schreibtisch einzukerkern«,270 entgehen können. Der Erzähler der ›Unterhaltungen‹ »will freilich nicht leugnen, daß ich auch aus alten Büchern und Traditionen manches aufgenommen habe«,271 doch wird dies völlig in mündliches Erzählen rückverwandelt. Ein gleiches Motiv findet sich im ›Hexameron‹, wenn der junge Wunibald von P*** seine Erzählung »aus einer ziemlich starken Sammlung so betitelter ›Milesischer Mährchen‹ genommen«272 hat, für die weder Autor- noch Herausgeberschaft angegeben werden kann. Die ›Novelle ohne Titel‹ hat der Philosoph Herr M. »ehemals in einem alten wenig bekannten Spanischen Buch gelesen«.273 An anderer Stelle wird eine solche Quellenfiktion ironisiert. Amanda, die Erzählerin des Feenmärchens ›Die Entzauberung‹, weist darauf hin, dass »nur das Wenigste und gerade das Alltäglichste darin mir selbst angehört«.274 Der Märchenkenner Herr von P. allerdings muss bei der Quellenangabe passen. Nicht die literarische Tradition, sondern ein Traum, habe ihr das Märchen eingegeben und aus ihren Träumen könne sie »eine ganz artige Sammlung«275 zusammenstellen. Der Baron von Werdenberg behauptet, nur mittels »einer wahren Geschichte«276 dem Wunsch der Gesellschaft nachkommen zu können. Damit wird das ›Hexameron‹ auch zu einer Diskussion der unterschiedlichen Quellen der Produktion des Poetischen: Überlieferung, Phantasie, Realitätsbezug. Vor einer mündlichen Reaktualisierung der literarischen Tradition aber steht die Manuskript- und Herausgeberfiktion, die das ›Hexameron‹ als eingesammelte Erzählungen präsentiert. Die Erzählsammlung wird zum Archiv der Literatur, für deren Kurrenz der philologische Herausgeber Sorge trägt, und das sich nun selbst in Form der Zeitschrift darbietet wie etwa das 1804 in Tübingen erscheinende »Archives littéraires de l’Europe ou mèlange de littérature, d’histoire et de philosophie«.277

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FA 9, S. 1005. Wieland, Hexameron, S. 20. FA 9, S. 1016. Wieland, Hexameron, S. 94f. Ebd., S. 172. Ebd., S. 167. Ebd., S. 168. Wenn der Philosoph M., als Anhänger der allerneusten Philosophie hier die Analogie von Traum und Märchen verteidigt, dann dürfte dies auch ein ironisierender Seitenhieb auf die von Wieland keineswegs geschätzten Romantiker sein. Ebd., S. 285. Goethe entleiht es am 5. Dezember 1812 aus der Weimarer Bibliothek. Vgl. Elise Keudell, Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek, Leipzig 1982, [Nr. 799], S. 128.

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Das Erzählerkollektiv überstellt sich der Handschrift des Verfassers und dieser überschreibt jegliche Rechte an den Herausgeber. Der Herausgeber wird damit zum autorisierenden und autorisierten Autor: Eine Doppelfunktion, die auf den zwei unterschiedlichen Titelblättern sichtbar wird: Der Name ›Wieland‹ ist Autoren- wie Herausgebersynonym. Die Frage der Erhaltung und Speicherung tritt dabei in den Hintergrund, die Erzählungen finden sich schließlich in der auf teuerem Papier niedergeschriebenen Handschrift. Relevanz jedoch erhält nur das, was in die gesellschaftliche Zirkulation wieder eingespeist wird. Das Medium dieser Rückführung ist nicht Mündlichkeit, sondern der Druck, nicht der Erzähler oder signierende Autor, sondern der Herausgeber. Das Überleben der Erzählung unter den Bedingungen der Druckkultur ist gebunden an die Fürsorge des Herausgebers. Ein Überleben, für das die Erzähler einen hohen Preis bezahlen. »Die vollendete Geburt ist für den Autor Begräbnis und er wird dann nur zum Leser«, schreibt Jean Paul.278 Goethe wie Schiller erkennen bereits, dass die literarische Zeitschrift, das Taschenbuch und der Kalender die Orte literarischen – und im Falle Schillers und Wielands – finanziellen Überlebens sind und sie bemühen sich, diese entsprechend zu besetzen, um ihre Programmatik als Leitkultur durchzusetzen.279 Wielands ›Hexameron‹ aber zeigt die dafür notwendige Strategie von Autorschaft um 1800 an: Präsenz in Zeitschriften, innerhalb der Taschenbücher und als Werk. Goethe wird diesem Beispiel bald folgen. Darin kommen Poesie und Philologie der Goethe-Zeit überein: Autorschaft präsentiert sich zunehmend als – fiktive und reale – Herausgeberschaft. Schnell aber wenden die Philologen das Blatt. Die Herausgeber gebärden sich nun als Autoren. Die Arbeit des Philologen, so haben wir an den Diskussionen sowohl innerhalb der Klassischen wie der Altdeutschen Philologie gesehen, zielt notwendig immer auf die Publikation des von ihm bearbeiteten und hergestellten Werkes. Der Abschreiber mag sich mit der Kompilation verschiedener Fassungen zwecks erhaltender Überlieferung zufrieden geben, der Philologe wird seine Arbeit immer veröffentlichen wollen. Nur die publizierte Ausgabe sichert in seinen Augen den gesellschaftlichen Wert des Autors. Der Philologe ist zugleich der Wächter an den Toren des Werkes. Nicht der Autor, sondern er bestimmt über die Ver-fassungen des Textes. Mit diesem funktionalen Konflikt setzt auch Goethe sich in seinem Alterswerk zunehmend auseinander. Indem die Texte die Entmächtigung der Autoren durch die Phi-

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Jean Paul, Briefe 1804–1808. In: ders., Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. 3. Abt. Bd. 5. Hg. von Eduard Berend, Berlin 1961, S. 259. Zitat gefunden bei Wirth, Die Schreib-Szene, S. 153 (FN 53). Diesen Aspekt zeigt für Goethe sehr anschaulich: Wolfgang Bunzel, Poetik und Publikation. Goethes Veröffentlichungen in Musenalmanachen und literarischen Taschenbüchern. Mit einer Bibliographie der Erst- und autorisierten Folgedrucke literarischer Texte Goethes im Almanach (1773–1832). Weimar – Köln – Wien 1997.

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lologen inszenieren, verfolgen sie eine Strategie ihrer Wiedereinsetzung. Erzählt wird in Erzählungen von Erzählern und sonst nirgends.

14. »Vom Standpunkte der Poesie« – Philologie in den ›Noten zum Divan‹ Es hat sich gezeigt, dass Herder der Ausgangspunkt ist, auf den sowohl eine historistische Philologie als auch eine poeto-philologische Praxis sich berufen kann. Auch die frühromantische Theoriebildung bei F. Schlegel arbeitete sich weiter an diesen Optionen ab. Herder versuchte dabei erstmals einen Verstehensbegriff zu entwickeln, der weder in der Konzeption einer Hermeneutik als philologische Hilfsdisziplin noch als eine universalisierte Hermeneutik aufgeht, sondern die Reflexion eines in die Wissenschaft ausgelagerten Verstehensbegriffes ins Medium des Poetischen selbst wieder zurückzuverlegen sucht. Konfrontiert mit dem Problem einer tautologisch-poetischen Selbstauslegung suchte Herder Philologie, Philosophie und Poesie zu synthetisieren, und wir sahen Schlegel ganz auf dieser Spur weitergehen.

Übersetzung Beide, Herder wie die Schlegel-Brüder, verknüpften diese Aufgabenstellung mit einer Theorie der Übersetzung. Eine solche Verknüpfung lag nahe, wollte man Verstehen wieder im Poetischen verankern und nicht in den philologischen Notenapparat auslagern. Die Übersetzung bot die Möglichkeit, sie nicht allein als Ergebnis einer Verstehensleistung zu präsentieren, sondern Verstehen in poetischer Produktion zuallererst zu initiieren. Nicht erst seit Goethes ›Wilhelm Meister‹, wenngleich dort prominent, »galt es fortan als wesentliches Charakteristikum des deutschen Geistes, daß er erst in der Aneignung des Fremden zu sich selbst kommt.«280 Herder hatte in seinen Schriften seit den 1770er Jahren dieses Modell vorgegeben.281 Lehnte er in ›Von den deutsch-orientalischen Dichtern‹ eine adaptive Übersetzungspraxis ab, die lediglich versuche, jenen orientalischen Stil nachzuahmen und forderte dagegen »ein Muster einer Nachahmung, die Original bleibt«,282 so wird evident, welchen Einfluss Herder auch auf Goethes Verstehensmodell hatte. Sowohl bei Herder als auch Schlegel, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen, bedeutet Verstehen aber keineswegs die Fixierung eines Sinngehalts, sondern im Gegenteil das notwendig aufeinander

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Apel, Sprachbewegung, S. 114. Vgl. oben das Herder-Kapitel. Herder, Von Deutsch-Orientalischen Dichtern. In: HWG, S. 292.

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bezogene Wechselspiel von Fixierung und Dynamisierung als letztlich nicht einlösbare Approximation, sei es der Einsicht in die Schöpfungshieroglyphe (Herder) oder sei es der Zuschreibung eines monolithischen Sinnes der literarischen Überliefung (Schlegel). In ihrer Studie zur Übersetzungstheorie Goethes macht Antonella Nicoletti es zur differenzierenden Gretchenfrage, inwiefern die frühromantische Theorie unendlicher Approximation bei Goethe als ein mögliches Ankommen verstanden werden kann oder eben nicht.283 Benjamin fasste den Unterschied zwischen frühromantischer und Goethescher Übersetzungskonzeption in der Dichotomie vom Streben nach der Idee einerseits und dem Ideal andererseits. Gemein ist beiden das Moment von Beweglichkeit und Dynamik, unterschieden nur die Bewegungsrichtungen: Unendliche Progression auf der einen Seite, Suche nach dem Ursprung, dem Urbilde der Kunst in der Natur auf der anderen.284 Bei aller Bedeutung dieser Differenz: auch Goethe glaubt, zumindest nach Schillers Tod, nicht an ein Ende dieser Suche. Ähnlich intensiv wie bei Schlegel erfolgt eine Auseinandersetzung mit dieser Frage bei Goethe über eine Beschäftigung mit den philologisch-hermeneutischen Entwicklungen seiner Zeit.285 Dies gilt in der Auseinandersetzung mit Wolfs ›Prolegomena‹, die ihm kurzzeitig tatsächlich die Möglichkeit einer Identität von antiker und moderner Poesie aufscheinen ließen und sich in den Epenprojekten der ›Achilleis‹ und ›Hermann und Dorothea‹ niederschlugen, wie für die Zeit nach dem Tode Schillers, der in der Tat sowohl biographisch als auch künstlerisch eine Zäsur für Goethe bedeutete. Goethes ›Noten und Abhandlungen‹, die er den ›Divan‹-Gedichten beistellt, machen deutlich, dass er damit keineswegs die Trennung von Poesie und Philologie als funktional unterschiedene Diskurse fest- und fortschreibt, wie es auf einen ersten Blick vielleicht erscheinen mag. Im Gegenteil unterminiert er den Erklärungs- und Deutungsanspruch der Philologie und verweist diese Aufgabe zurück an die Dichtung und vermag dergestalt poetisch zu realisieren, was bei Herder sich nur im Postulat einer Fiktion vorstellte: »Die poetische Übersetzung der morgenländischen Gedichte; da diese aus dem Lande, der Geschichte, den Meinungen, der Religion, dem Zustande, den Sitten, und der Sprache ihrer

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Vgl. Antonella Nicoletti, Übersetzung als Auslegung in Goethes ›West-östlichem Divan‹ im Kontext frühromantischer Übersetzungstheorie und Hermeneutik, Tübingen 2002. Besonders die Kap. 2.2 und 2.3. Zur Rekonstruktion vgl. Apel, Sprachbewegung, S. 109f. Ein anderes Beispiel, wo Goethe sich über die Auseinandersetzung mit philologischen Fragen eine Position zur Übersetzung-Theorie bildet, ist seine teils distanzierte, teils zustimmende Rezeption der Vossischen Homer-Übersetzung. Vgl. dazu Volker Riedel, Ein ›Grundschatz aller Kunst‹: Goethe und die Vossische Homer-Übersetzung. In: International Journal of the Classical Tradition 8 (2002), S. 522–565.

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Nation erklärt, und in das Genie unsrer Zeit, Denkart und Sprache verpflanzt werde.«286 Die ›Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans‹ scheinen in der Tat eine Einlösung der frühen Herderschen Forderung zu sein. Auch wenn der philologische Titel erst für die Ausgabe letzter Hand hinzugefügt wird – im Erstdruck von 1819 hieß es noch schlicht »Besserem Verständnis« – so wird schon in der Einleitung offenbar unmissverständlich die philologische Absicht, »zu erläutern, zu erklären, nachzuweisen« formuliert.287 In der Tat erscheint der ›Divan‹ denn auch in zwei große Teile gegliedert: die poetischen Gedichte und die philologischen Erläuterungen, d.h. in einen literarischen und einen wissenschaftlichen Teil. Eine solche Lesart könnte zu ihrer Bekräftigung die lange Liste philologisch-orientalischer Literatur heranziehen, die Goethe zur Vorbereitung konsultiert hat. Die Münchner Ausgabe weist eine Auswahl von 140 Titeln nach, die Goethe nachweislich benutzt hat, unter denen sich alle Standardautoren der orientalischen Philologie der Goethe-Zeit wiederfinden. Darüber hinaus stand Goethe mit nahezu allen ranghaften Orientalisten der Zeit, darunter die europäische Autorität einer sich langsam von der Bibelwissenschaft emanzipierenden Orientalistik/Arabistik und einer der ersten Professoren der 1795 in Paris neugegründeten »École spéciale des langues orientales vivantes« Antoine Issac Silvestre de Sacy (1758–1838),288 in brieflichem oder persönlichem Kontakt. Nachdem er 1809 die Oberaufsicht über die Anstalten für Wissenschaft und Kunst in Weimar übernommen hatte, betrieb er überdem eine aktive Berufungspolitik für die Jenaer Orientalistik.289 Goethe selbst nennt im Abschnitt »Lehrer« den englischen Richter und Philologen Sir William Jones (1746–1794), Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827), den Jenaer Orientalisten Georg Wilhelm Lorsbach (1752–1816), dessen auf Goethes Betreiben ernannten Nachfolger Johann Gottfried Ludwig Kosegarten (1792–1860), den Berliner Sammler und Orientkenner Heinrich Friedrich von Diez (1752–1817) und den Österreicher Orientalisten Joseph v. Hammer (1774–1856). Im Abschnitt »Hülfsmittel« werden darüber hinaus der Bibelwissenschaftler Johann David Michaelis (1717–1791) und der von 1788–1803 in Weimar lehrende Philologe Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851), mit dem Goethe auch nach dessen Wechsel nach Heidelberg Kontakt hatte, genannt. In den ›Tag- und Jahresheften‹ zu

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Herder, Von den Deutsch-Orientalischen Dichtern. In: HWG, S. 292. FA Bd. 3.1: West-Östlicher Divan. Hg. von Hendrik Birus, Frankfurt/M. 1994, S. 138. So Goethe in den ›Tag- und Jahresheften zu 1815‹. In: FA Bd. 17: Tag und Jahreshefte. Hg. von Irmtraut Schmid, Frankfurt/M. 1994, S. 260. Siehe dazu Norbert Nebes, Orientalistik im Aufbruch. Die Wissenschaft vom Vorderen Orient in Jena zur Goethezeit. In: Jochen Golz (Hg.), Goethes Morgenlandfahrten. West-östliche Begegnungen, Frankfurt/M. 1999, S. 66–96.

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1818 schreibt er rückblickend über seine eigenen Studien: »Alles ward herangezogen, Anquetills Religionsgebräuche der alten Parsen, Bidpais Fabeln, Freytags Arabische Gedichte, Michaelis Arabische Grammatik, alles mußte dienen mich dort einheimisch zu machen.«290 Goethe schien für seinen philologischen Selbstkommentar wie für die Abfassung orientalisch inspirierter Poesie also bestens gerüstet: Er verfügte über die richtigen Kontakte, Ansprechpartner und Berater sowie über die aktuellste Literatur in Sachen Orient. Betrachtet man die genannten Namen allerdings etwas genauer, dann wird schnell deutlich, dass sich in Goethes Referenzen die ganzen Spannungen und Kämpfe um den Status der Orientalistik als Wissenschaft widerspiegeln, die sich ganz offenbar an ähnlichen Themen wie die Auseinandersetzungen innerhalb des Kommunikationszirkels von Deutsch-Philologen auftaten. Heftig diskutiert wurden auch unter den Orientalisten Editions-, Publikations- und Übersetzungsfragen. Ohne hier eine weitere Wissenschaftsgeschichte wiedergeben zu wollen,291 dürfte die exemplarische Fehde zwischen Diez und v. Hammer bzw. dessen Lehrer, dem Wiener Orientalisten Thomas von Chabert (1766–1841), eine kurze Darstellung Wert sein, zumal, wie Katharina Mommsen minutiös nachgewiesen hat,292 sie ihre deutlichen Spuren im ›Divan‹ und den ›Noten‹ hinterlassen hat. Zunächst erscheint die bittere Auseinandersetzung zwischen Diez und v. Hammer/Chabert eine zwischen philologischem Dilettanten und einer sich zur Wissenschaft formierenden Fachphilologie zu sein. Diez, ausgebildeter Jurist, lernte während seiner preußischen Gesandtschaftstätigkeit in Konstantinopel mehrere orientalischen Sprachen und entwickelte eine besondere Neigung zur orientalischen Lebensweise, die er, zurückgekehrt nach Berlin, den Zeitgenossen seltsam genug, in orientalischem Gewand mit türkischem Diener, weiterhin pflegte. In seiner Bibliothek, deren Nachlass noch heute in der »Bibliotheca Dieziana« der Deutschen Staatsbibliothek zu rekonstruieren ist, versammelte er über 17 000 Bücher und 835 z.T. wertvolle orientalische Handschriften.293 Diez, bekannt

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Goethe, Tag- und Jahreshefte zu 1818. In: FA 17, S. 290. Dafür siehe Wolfdietrich Fischer (Hg.), Grundriß der arabischen Philologie. 3 Bde., Wiesbaden 1982, 1987 u. 1992. Dort insbesondere: Helmut Bobzin, Geschichte der arabischen Philologie in Europa bis zum Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts. In: Bd. III, S. 155–187. vgl. auch Johann Fück, Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1955. Katharina Mommsen, Goethe und Diez. Quellenuntersuchungen zu Gedichten der Divan-Epoche, Berlin 1961. Meine Darstellung folgt dieser philologisch genau recherchierten Arbeit. Mommsen, Goethe und Diez, S. 4. Zur Biographie von Diez vgl. Franz Babinger, Ein orientalischer Berater Goethes: Heinrich Friedrich von Dietz. In: Goethe-Jahrbuch 34 (1913), S. 83–100, zu dessen Nachlass Curt Balcke, Heinrich Friedrich Diez und sein Vermächtnis in der Preußischen Staatsbibliothek. In: Gustav Abb (Hg.), Von Büchern und Bibliotheken. Dem Ersten Direktor der Preussischen Staatsbiblio-

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für seine Orientkenntnisse und seine Sammlungen, wurde 1809 als Beiträger für den ersten erscheinenden Band der ›Fundgruben des Orients‹, bekanntermaßen eine wichtige Quelle für Goethes ›Divan‹, geworben und beteiligte sich mit zwei Aufsätzen. In einem dieser Beiträge kritisiert er die 1770 in Paris erschienene Übersetzung ›Mêlanges de littérature orientale‹ des französischen Orientalisten Denis Dominique Cardonne. Diez’ Beiträge wandelten die ›Fundgruben‹ schnell zur Bühne disziplinärer Selbstverständigung. Ganz ähnlich den Auseinandersetzung im Rahmen der Etablierung einer Deutschen Philologie standen auch hier nicht allein theoretisch-methodische Fragen zur Debatte, sondern die Antagonisten waren vornehmlich darum bemüht, sich – mit Bourdieux zu sprechen – im wissenschaftlichen Feld eine möglichst hervorgehobene Position zu sichern, um von dort aus, die vertretene wissenschaftliche Methodik durchzusetzen. Die Herausgeber der ›Fundgruben‹, vornehmlich Joseph v. Hammer und dessen Lehrer Thomas Chabert, die sich im Untertitel selbst als »eine Gesellschaft von Liebhabern« bezeichnen, hatten Diez’ Text294 nicht nur völlig durch Druckfehler entstellt bzw. diese nicht behoben und u.a. mit einem fehlerhaften Titel versehen, sondern überdies nicht einmal ins Inhaltsverzeichnis des Bandes aufgenommen. Unter den Text setzte v. Hammer im Namen der Herausgeber, also anonym, eine Reihe von Fußnoten, in denen er Diez fehlende Sachkenntnis vorwarf.295 Da v. Hammer die Aufnahme einer Entgegnung in die ›Fundgruben‹ ablehnte, veröffentlichte Diez diese mit einer korrigierten Version seines Beitrages 1811 selbstständig und auf eigene Kosten. Auch in den Bänden zwei und drei der ›Fundgruben‹ polemisierte v. Hammer weiter gegen den vorgeblichen Dilettantismus von Diez. Dieser hatte indes längst mit seinen ›Denkwürdigkeiten von Asien‹, deren erster Band 1811 erschienen war, ein eigenes Projekt zur Verbreitung orientalischer Literatur gegründet und darin v. Hammers Freund Chabert attackiert. Da der literarische Markt für orientalische Produktionen noch begrenzt war, die Kosten kaum wieder einzubringen und daher die Journale auf Patronage angewiesen waren,296 stellten die von Diez selbst finanzierten ›Denkwürdigkeiten‹ auch eine ökonomische Bedrohung der ›Fundgruben‹ dar, zumal es den Platz als führendes Publikationsorgan deutscher Orien-

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thek Geh. Reg. R. Dr. phil. Ernst Kuhnert als Abschiedsgabe dargebracht von seinen Freunden u. Mitarbeitern, Berlin 1928, S. 187–200. Heinrich Friedrich von Dietz: Ermahnung an Islambol, oder Strafgedicht des türkischen Dichters Uweissi über die Ausartung der Osmanen. In: Fundgruben des Orients. Bearbeitet durch eine Gesellschaft von Liebhabern. Bd. 1, Wien 1809, S. 249–274. Um eine kleine Kostprobe des Stils der Anmerkungen zu geben: »Das Ende dieses Verses ist, so wie es hier geschrieben ist, unverständlich. N.d.H [Note der Herausgeber, mb]«. Diez, Ermahnung an Islambol, S. 260. Die ›Fundgruben‹ wurden weitgehend von dem Grafen Wenzeslaus von Rzevuzky finanziert.

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talia zu behaupten galt.297 Der Streit eskalierte endgültig, nachdem v. Hammer und Chabert im Januar 1813 in der ›Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung‹ eine z.T. spöttisch verfasste Rezensionen der Publikationen von Diez veröffentlicht hatten und Diez daraufhin 1815 einen 600seitigen (!) Anhang zum zweiten Band seiner ›Denkwürdigkeiten‹ unter dem Titel ›Unfug und Betrug in der morgenländischen Literatur nebst vielen hundert Proben von der Unwissenheit des H. v. Hammer zu Wien in Sprachen und Wissenschaften‹ publizierte.298 Von Hammer konterte im März 1816 mit einer unweit kürzeren, doch im Ton nicht weniger scharfen Entgegnung299 und rief darüber hinaus die Historische Philologische Klasse der Akademie der Wissenschaften in Berlin zur »Entscheidung der verschiedenen grammatikalischen und literarischen Fragen«300 auf, die diese aber verweigerte. Goethe registrierte die Auseinandersetzung mit einiger Aufmerksamkeit. Bereits Ende 1815 beschäftigte er sich laut Tagebucheintrag vom 28. Dezember mit Diez’ ›Denkwürdigkeiten‹, »besonders deren Anhang«,301 wie es dort heißt. Den ganzen Januar 1816 über beschäftigte er sich mit der Schrift und führt darüber ein »Philologisches Gespräch«302 mit Meyer und dem Weimarer Philologen Ferdinand Gotthelf Hand und Riemer. Im Juni 1816, eine Woche nach Christianes Tod, vermeldet das Tagebuch »Hammers Vertheidigung gegen Diez« und zwei Tage später am 16. Juni »Erklärung der Berliner Academie gegen Hammer« und »Mit Riemer Streitigkeiten zwischen Diez und Hammer«.303 Obwohl Goethe sich einer eindeutigen Stellungnahme verweigert, so war seine Würdigung des ›Buch des Kabus‹, das von Diez übersetzt 1811 erschienen war, 297

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Von 1777–1786 hatte Johann Gottfried Eichhorn das ›Repertorium für Biblische und Morgenländische Litteratur‹, von 1787–1801 die ›Allgemeine Bibliothek der biblischen Literatur‹ bei Weidmann in Leipzig herausgegeben. Auch das 1791 durch Georg Wilhelm Lorsbach begründetet ›Archiv für die biblische und morgenländische Literatur‹ hatte bereits 1794 ihr Erscheinen wieder eingestellt, ein weiterer Versuch mit dem ›Museum für biblische und orientalische Literatur‹, den Lorsbach gemeinsam mit A. J. Arnoldi und J. M. Hartmann 1807 in Marburg unternommen hatte, scheiterte bereits nach einem Band. Heinrich Friedrich von Diez, Unfug und Betrug in der morgenländischen Literatur nebst vielen hundert Proben von der Unwissenheit des H. v. Hammer zu Wien in Sprachen und Wissenschaften. In: Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften, Sitten und Gebräuchen und Alterthümern, Religion und Regierungsverfassung aus Handschriften und eigenen Erfahrungen gesammelt von Heinrich Friedrich von Dietz. Zweyter Theil, Berlin – Halle 1815, S. 481–1078. Joseph v. Hammer, Fug und Wahrheit in der morgenländischen Literatur, nebst einigen wenigen Proben von der feinen Gelehrsamkeit des Herrn von Diez zu Berlin in Sprachen und Wissenschaften. In: Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst 35/36 (1816), S. 137–143. Zitiert nach Mommsen, Goethe und Diez, S. 11. FA 3.1, S. 801. So das Tagebuch vom 13. Januar 1816. Vgl. FA 3.1, S. 803. Beide FA 3.1, S. 811.

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im Abschnitt »Von Diez« der ›Noten‹ eine klare Positionierung in diesem Streit, denn eben diese Schrift hatten v. Hammer und Chabert in ihrer Rezension in der ›Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung‹ eine »Rhapsodie von äußerst abgetragenen moralischen Gemeinplätzen«304 genannt. Goethe hingegen nutzt den Abschnitt, um für das im Selbstverlag erschienene Buch einen Verleger zu suchen und druckt gleichsam als Anzeige das Inhaltsverzeichnis ab.305 Katharina Mommsen hat zudem im Detail nachgezeichnet, wo Goethe explizit Übersetzungsvarianten von Diez in seine ›Divan‹-Lyrik übernommen hat, die v. Hammer und Chabert kritisiert hatten.306 Der Streit zwischen Hammer, Chabert und Diez offenbart drei unterschiedliche Strategien der Vermittlung der orientalischen Tradition, wobei auch Chabert und v. Hammer keineswegs einer Meinung sind. Chabert forderte in der ›JALZ‹ eine Übersetzung, die das Wesentliche des Originals zum Ausdruck bringe, nicht aber alle ästhetischen Gestaltungsmittel zu reproduzieren habe.307 Ziel der Übersetzung sei es, den im Original ausgedrückten Sinn richtig vorzustellen. Ganz analog hatte Barby Übersetzungen als philologisches Hilfsmittel zugelassen.308 »Auf den Geist, nicht auf die Worte kommt es an«,309 so die Maxime. Von Hammer selbst aber verfolgte in seinen Übersetzungen eine andere Strategie. In der Vorrede zu seiner Hafis-Übersetzung schreibt er: »Das höchste Ziel, nach welchem diese Uebersetzung ringet, ist die möglichste Treue nicht nur in Wendung und Bild, sondern auch in Rhythmus und Strophenbau. Wo es möglich war, Vers für Vers wieder zu geben, geschah es«.310 Diez wiederum verwarf v. Hammers Versuch, die orientalischen Verse in deutsche zu überführen und löste diese in Prosa auf, um möglichst exakt den Wortlaut des Originals wiedergeben zu können.

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JALZ Erster Band, Nr. 8 (1811), Sp. 62–72; Sp. 63. Vgl. FA 3.1, S. 277. Vgl. Mommsen, Goethe und Diez, S. 20–24. »Wir können übrigens den Übersetzern orientalischer Werke nicht genug, mit Chabert (in Latifi’s Vorrede), den Grundsatz empfehlen, dass man die leeren, aufgedunsenen, nur durch den Schall des Sylbenmases und Reims das Ohr füllenden Wiederholungen, die kahlen Wortspiele, zumal wenn sie unübersetzbar sind, und überhaupt alle unbefriedigenden Mitteldinge weglassen sollte; und dass es besonders in Übertragung der Dichterwerke der schwärmenden und überspannten morgenländischen Phantasie nicht rathsam, noch allzeit thunlich ist, Alles genau zu liefern.« JALZ, Sp. 62. Übersetzungen sind bei ihm eine »besondere Gattung« der Interpretation. Barby, Encyklopädie, S. 297. Barby, Encyklopädie, S. 306. Noch deutlicher: »Der Sinn und der Geist des Schriftstellers soll erhalten, nicht aber jedes Wort sclavisch nachgebildet werden«. Ebd., S. 307. Joseph v. Hammer, Der Diwan von Mohammed Schemsed-din-Hafis. Aus dem Persischen zum erstenmal ganz übersetzt von Joseph v. Hammer. 2 Bde., Stuttgart – Tübingen 1812, 1813, Erster Theil, S. VI.

Im Abschnitt ›Uebersetzungen‹ diskutiert Goethe drei ähnliche Übersetzungsformen, die aber den Positionen v. Hammers und Diez’ trotz einiger Ähnlichkeiten nicht eindeutig zuzuordnen sind.311 Bezeichnenderweise wird denn auch keine der drei Formen als unzureichend abgewiesen. Analog zu der Stufenfolge in ›Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl‹ bringt Goethe die Übersetzungsarten in eine historisch-systematische Folge.312 Die erste Stufe, die ProsaÜbersetzung, vermag am besten mit dem Fremden bekannt zu machen, da diese die »Eigenthümlichkeiten der Dichtkunst«313 ausblendet, die das Verständnis des Fremden zunächst erschweren. Indem die Prosa sagt, was die Sache ist, ist die Prosaübersetzung eine »den Hauptsinn aufschließende[…] Lectür«.314 In der Einleitung zu den ›Noten‹ wird eine solche Verfahrensweise auch für den vorliegenden Text behauptet, der in der »schlichtesten Sprache, in dem leichtesten, faßlichsten Sylbenmaße« verfasst sei und ohne »Künstlichkeit und Künsteley zu gefallen strebt.«315 Die zweite Epoche der Übersetzung, die parodistische oder auch paraphrastische Übersetzung, hat nicht eigentlich ein Verstehen des Fremden als Fremdes zum Ziel, sondern versucht, dieses dem Heimischen zu assimilieren, sie sucht »für jede fremde Frucht ein Surrogat das auf seinem eignen Grund und Boden gewachsen sey«.316 Als Beispiele werden französische Übersetzungen und Wieland benannt. Diese zweite Epoche versucht das Fremde in die heimische Form zu drängen, wenn sie etwa »durch den fünffüßigen Jambus dem nordöstlichen Ohr und Sinn«317 zu gefallen suche. Auch William Jones’ orientalische Übersetzungen, die die »rhythmischen antiken Formen« nutzt, »um die anmuthigen Zartheiten des Orients auch Classicisten eingänglich zu machen«,318 gehören hierher.

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Dies versucht aber Mommsen, Goethe und Diez, S. 25–31. Vgl. Goethe, Auszüge aus einem Reise-Journal. In: FA 18, S. 225–229. Anders als Hans Rudolf Vaget (Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe: Praxis, Theorie, Zeitkritik, München 1971, S. 66) sehe ich gerade in der Verschaltung von typologischer und historischer Darstellung ein Grundmuster bei Goethe, das hier in ›Uebersetzungen‹, in ›Einfache Nachahmung‹ in Bezug auf Malerei und bildende Kunst und in ›Naturformen der Dichtarten‹ mit Blick auf die Poetik durchgespielt wird. FA 3.1, S. 280. FA 3.1, S. 282. FA 3.1, S. 139. FA 3.1, S. 281. In seiner Akademie-Rede vom 24. Juni 1813 ›Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens‹ unterscheidet Schleiermacher auch eine nachbildende, eine paraphrasierende und eine ›eigentliche‹ Übersetzung. Im Unterschied zu Goethe aber will Schleiermacher die ersten beiden als Übersetzung nicht recht anerkennen. Goethe hingegen billigt jeder Stufe ihr Eigenrecht zu. FA 3.1, S. 283. FA 3.1, S. 270.

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Der dritten und höchsten Form der Übersetzung aber gelingt eine möglichst exakte Identifizierung mit dem Original, indem sie einerseits die Genauigkeit der Prosaübersetzung anstrebt und andererseits den fremden nicht die deutschen Formen überzustülpen versucht, sondern vielmehr im Deutschen nach neuen Formen sucht, die dem Original nahe kommen.319 Das bedeutet zunächst aber eine verfremdende Kontamination des Heimischen, »wozu der Geschmack der Menge sich erst heran bilden muß«.320 Anders als die Forschung es oft gesehen hat, geht es hier nicht allein oder vordringlich um eine Optimierung hermeneutischer Prozesse. Dafür eignet sich die erste Prosaübersetzung am besten, die »eine höhere Stimmung verleihend, wahrhaft erbaut«.321 Darin sieht Goethe den Wert von Diez’ Arbeiten und Luthers Bibelübersetzung. Diez hat sich in seiner Verteidigungsschrift ›Unfug und Betrug‹, die Goethe gelesen hatte, ebenfalls auf Luther und seine Theorie des unmittelbaren Schriftverständnisses, des »litteralis sensus« berufen.322 Dies ist eine interessante Analogie: Offensichtlich scheint die Prosaübersetzung, die Goethe hier anvisiert, ein solch unmittelbares Verstehen zu ermöglichen, wie Luther dies vom biblischen Wort, das keiner weiteren hermeneutischen Ausdeutungen mehr bedarf, behauptet hatte. Der Verweis auf Luthers Übersetzung legt dabei nahe, dass die Unmittelbarkeit erst eine Leistung der Übertragung, deren Effekt ist. Die Übersetzung transformiert die Dunkelheit des Originals in Luzidität. Insofern ist sie hervorgehobenes Medium, um sich das Fremde anzueignen. Die dritte Art der Übersetzung vermag darüber hinaus die Ausdrucksformen des Heimischen zu bereichern und zu verändern, wofür Johann Heinrich Voß’ Homer-Übersetzung in deutschen Hexametern Pate steht. Die dritte Epoche bringt »rhetorische, rhythmische, metrische Vortheile«, die nun als evolutionäre Errungenschaften den Deutschen als Ausdrucksformen zur Verfügung stehen.

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Dass Goethe im Fall eigener Übersetzungen keineswegs immer nach diesem Ideal verfahren ist, zeigt hinsichtlich seiner Übersetzung von Diderots ›Essais‹ Edith Zehm, ›das Werk zu übersetzen und immer mit seinem Texte zu controvertieren‹: Goethes Übersetzungs- und Kommentierungstechnik im kritischen Dialog mit Diderots ›Essais sur la Peinture‹. In: Bodo Plachta (Hg.), Edition und Übersetzung: zur wissenschaftlichen Dokumentation des interkulturellen Texttransfers, Tübingen 2002, S. 105–117. Vielleicht ist dies aber in einer Unterscheidung von poetischer und poetologischer Textvorlage begründet. FA 3.1, S. 281. Diesen Aspekt nimmt Benjamin in seinem Übersetzer-Aufsatz auf und nennt ebenfalls Luther und Voß als Vorreiter: »Um ihretwillen bricht er morsche Schranken der eigenen Sprache: Luther, Voß, Hölderlin, George haben die Grenzen des Deutschen erweitert.« Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Tableaux parisiens. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort über ›Die Aufgabe des Übersetzers‹. In: Gesammelte Schriften. Bd. IV: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen. Hg. von Till Rexroth, Frankfurt/M 1972, S. 9–63; S. 19. FA 3.1, S. 280. Vgl. Diez, Unfug und Betrug, S. 948.

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Übersetzungen dienen demnach nicht allein dem Verständnis des Fremden oder anders gesagt: Wer das Fremde wirklich ›versteht‹, ist zugleich nicht mehr der eigene. In diesem Sinn musste sich Goethe produktiv gegen die orientalische Dichtkunst verhalten. Seine Idee einer Weltliteratur basiert auf diesem Konzept einer dritten Übersetzungsepoche. Der Verweis auf die »Interlinear-Version«,323 der sich die Übersetzung annähern soll und mit der die ›Divan‹-Forschung nicht recht etwas anzufangen weiß, erscheint so in einem anderen Licht. Nicht gemeint ist damit eine möglichst wortgetreue Übersetzung, die keine ästhetischen Ansprüche erhebt.324 Sie wäre darin kaum von der ersten Epoche prosaischer Übersetzung zu unterscheiden. Goethe spielt auf die materielle Praxis und Erscheinungsform der Interlinearversion an.325 Bekanntlich trägt diese die ›Übersetzung‹326 zwischen die Zeilen des Originals ein, so dass durch Über-schreibungen sich beide übereinanderlagern. Übersetzungsgeschichtlich ist die Interlinearversion tatsächlich eine der ersten Formen der Aneignung und Übersetzung lateinischer Werke ins Althochdeutsche vom ausgehenden 8. bis ins 13. Jahrhundert.327 Im Einschreiben auf den gleichen materiellen Träger entsteht dadurch ein Text, der einerseits die größtmögliche Nähe zum Original hält, andererseits im simultanen Aufscheinen von ›Übersetzung‹ und Original einen neuen dritten Text produziert,328 der das eigentliche Verstehen ermöglicht, in dem »alle Mitteilung, aller Sinn, alle Intention«329 im Hegelschen Sinn aufgehoben sind, ohne sich an die Stelle des Originals zu setzen. Nikolaus Henkel macht darauf aufmerksam, dass es in der mittelalterlichen Praxis aber keineswegs vordringlich um eine Vermittlung lateinischer Texte an 323 324 325

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FA 3.1, S. 283. So Nicoletti, Übersetzung als Auslegung, S. 103. Vgl. Nikolaus Henkel, Die althochdeutschen Interlinearversionen. Zum Sprach- und literaturhistorischen Zeugniswert einer Quellengruppe. In: Joachim Heinzle/L. Peter Johnson/Gisela Vollmann-Profe (Hg.), Übersetzen im Mittelalter. Wolfram Studien XIV, Berlin 1996, S. 46–72. Henkel zeigt, dass von Übersetzungen im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein kann. Häufig waren die Interlinearversionen in Latein verfasst – und nicht in der Volkssprache. Vgl. ebd., S. 55. Eine teleologische Entwicklung von der Interlinearversion zu einer deutschen Hochsprache hat die neuere mediävistische Forschung denn auch zurückgewiesen. Vgl. dazu Christoph März, Von der Interlinea zur Linea. Überlegungen zur Teleologie Althochdeutschen Übersetzens. In: Heinzle/Johnson/Vollmann-Profe (Hg.), Übersetzen im Mittelalter, S. 73–86. Und dies in einem weitaus stärkeren Sinne als beim in moderner Theorie so beliebten Palimpsest. Bei diesem wird der Ausgangstext ja zunächst gelöscht und bleibt allenfalls als Spur präsent. Der interessante Effekt des Palimpsests besteht in der möglichen Verschaltung zweier völlig heterogener Texte, wohingegen die Interlinearversion keine diachrone Verknüpfung, sondern eine synchron-simultane Verschaltung vornimmt, aus der heraus auf dem Trägermedium ein dritter Text entsteht. Benjamin, Die Aufgabe, S. 19.

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›illitterati‹ geht, sondern um die möglichst genaue Erschließung des Wortbestandes des lateinischen Originals zu pädagogischen Zwecken innerhalb der monastischen Lehre.330 Der eigentliche Text entsteht in der mittelalterlichen Praxis vor allem aus den performativen Bezügen, über die er in den klösterlichen Alltag eingebunden ist. Daran knüpft noch Luthers sola scriptura-Model an, das den Geist immer nur im buchstäblichen Vollzug des Wortes erkennt.331 Die Interlinearversion ist also nicht schon die Übersetzung, sondern erst in der Verschaltung von Original und Interlinearversion entsteht die »angemessene Übersetzung« als Teil eines »nicht schriftlich fixierten Aneignungsvorgangs«.332 Goethes privates Studium der Bibel scheint einem ähnlichen Verfahren zu folgen. Im vierten Buch von ›Dichtung und Wahrheit‹ berichtet er von seinem frühen Hebräischunterricht. Nicht in Luthers Übersetzung wurde das Alte Testament studiert, sondern »in der wörtlichen beigedruckten Version des Sebastian Schmidt«.333 Dabei handelt es sich um eine 1740 erschienene Ausgabe der ›Biblia Hebraica‹334 des niederländischen reformierten Predigers und Hebräisten an der Universität Ütrecht Everardus van der Hooght (1642–1716). Linienparallel zum hebräischen Text findet sich rechts davon die wortwörtliche lateinische Übersetzung des Orientalisten und evangelischen Theologen Sebastian Schmidt (1617–1696), auf die Goethe hier rekurriert. Wenn auch drucktechnisch nicht über den Linien, so wurde die Übersetzung doch exakt parallel zum Originaltext gesetzt. Die Edition nähert sich so deutlich einer Interlinearübersetzung an und geht eben nicht in einer glossierten Ausgabe auf. Eine summarische inhaltliche Zusammenfassung des jeweiligen Absatzes findet sich denn auch in einer links vom Haupttext gedruckten Glosse. Aus dieser Lektüreerfahrung heraus formiert sich bereits beim jungen Goethe ein eigenwilliges Bild der biblischen Überlieferung.335 Luthers Bibelübersetzung wird zwar als Übersetzung der dritten

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Vgl. Henkel, Interlinearversionen, S. 71f. Vgl. Grondin, Einführung, S. 60f. Henkel, Interlinearversionen, S. 55f. Auch in den ›Noten‹ wird die Übersetzung nicht mit der Interlinearversion identifiziert. Die Passage unterscheidet die Begriffe Original, Interlinearversion und Übersetzung eindeutig. Wie sehr das performative Moment für Goethe bedeutsam ist, wurde oben im Kapitel zum ›Sammler‹ deutlich. FA Bd. 14: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt/M. 1986, S. 142. Biblia Hebraica. Secundum Editionem Belgicamc Everardi van der Hooght collatis aliis bonae notae Codicibus una cum Versione latina Sebastian Schmidii, Lipsiae 1740. Ich danke dem landeskirchlichen Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen in Bielefeld für die freundliche Gewährung der Einsicht in das seltene Exemplar. Obwohl die Goethe-Editoren stets auf das Referenzwerk verwiesen haben, ist dem Hinweis, so weit ich sehe, bisher keine weitere Beachtung geschenkt worden. Bereits früh und noch vor Eichhorns ›Einleitung in das Alte Testament‹ (1780–83), so Goethes Selbstauskunft, sei die Bibel ihm »als ein zusammengetragenes, nach und nach entstandenes, zu verschiedenen Zeiten überarbeitetes Werk« erschienen. Eine

Art gelobt, aber dies trifft mehr auf Luthers eigenes Studium zu denn auf den vorliegenden Text, der dessen Resultat vorstellt. Die dritte Übersetzungsart ist prozessual zu denken. Ihr Ergebnis ist sicher lobenswürdig, entscheidend bleibt aber die je individuelle Aneignungserfahrung. Im zwöflten Buch von ›Dichtung und Wahrheit‹ kommt Goethe anlässlich seiner frühen exegetischen Versuche noch einmal auf seine Studienpraxis zurück. »Was den Hauptsinn betraf, hielt ich mich an Luthers Ausdruck, im Einzelnen ging ich wohl zur Schmidtischen wörtlichen Übersetzung, und suchte mein weniges Hebräisch dabei so gut als möglich zu benutzen.«336 Hier ist also weniger das Resultat, die vorliegende Übersetzung entscheidend, sondern eine produktive Auseinandersetzung, die zwischen hebräischem Originaltext, lateinischer Interlinearversion und deutschlutherischer Übersetzung hin und her changiert. Eine solche Übersetzung unterläuft die Gewalt der Sprache, von der ein Aphorismus aus dem Nachlass sagt: »Die Gewalt einer Sprache, ist nicht, daß sie das Fremde abweist, sondern daß sie es verschlingt«.337 Die Interlinearversion ist genau jene Form der Übersetzung, die sich nicht einfach an die Stelle des fremden Textes setzt, sondern diesem sein Eigenrecht belässt. Eine solche Lesart macht es möglich, »Uebersetzungen« sowohl isoliert als Beitrag zur Übersetzungstheorie als auch im Kontext der ›Noten zum Divans‹ zu betrachten, die eben vom philologischen Mitteilungsauftrag sich, wo nicht gänzlich zu lösen, so doch zu emanzipieren bestrebt sind. Der ›Divan‹ ist dann ein solcher ›dritter Text‹. Der Verwirrung über den Status der ›Divan‹-Gedichte und der Frage, ob sie Übersetzungen seien, wird hier begegnet. Sie sind weder Original noch Übersetzung, sondern die produktive Über-schreibung beider. Auch in einem ganz konkreten Sinn: als Über-schreibung der Hammerschen Übersetzung des orientalischen Originals. Zugleich, und dies ist von Bedeutung, stellt die Interlinearversion zunächst eine philologische Praxis zur Texterschließung dar. Aus dieser Praxis heraus aber entsteht etwas, das diese Praxis übersteigt. Das Schema, wenn auch historisch gedacht, will deshalb auch nicht als teleologische Stufenfolge verstanden sein, da »bey jeder Literatur jene drey Epochen sich wiederholen, umkehren, ja die Behandlungsarten sich gleichzeitig ausüben lassen.«338 Wenn Übersetzungen eine hermeneutische Leistung darstellen, dann zeigt der dritte Typus ein produktives Verstehen an, das beiden Seiten der hermeneutischen Kommunikation »Versatilität« zumutet, Beweglichkeit einfordert. Analog zu der Gedankenfigur in ›Einfache Nachahmung, Manier, Styl‹ zeigt sich auch hier ein grundlegender Wandel in der Künstler-Konzeption bei Goe-

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These, die »noch keineswegs herrschend, viel weniger in dem Kreis aufgenommen war, in welchem ich lebte«. FA 14, S. 554. FA 14, S. 554. FA 13, S. 70. FA 3.1, S. 282.

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the. Ganz offensichtlich ist der Dichter nicht mehr das isolierte »fraglos richtig schaffende Genie«,339 wie es durch die Texte der 1770er Jahre stürmt und drängt, sondern bedarf der geduldigen Ausbildung seiner Anlagen.340 Für den Dichter erfolgt sie über philologische Lektüre und geselliges Gespräch, wie Goethe anlässlich der Eröffnung der von ihm initiierten Weimarer Freitagsgesellschaft 1791 ausführt: Es scheint, als bedürfe der Dichter nur sein Selbst und horchte am sichersten in der Einsamkeit auf die Eingebung der Musen; man überredete sich manchmal als seien die trefflichsten Werke dieser Art von einsamen Menschen hervorgebracht worden. […] Es möchte dieses alles aber wohl nur Selbstbetrug sein: denn was wären Dichter und bildende Künstler, wenn sie nicht die Werke alle Jahrhunderte und aller Nationen vor sich hätten, unter welchen sie wie in der auserlesensten Gesellschaft ihr Leben hinbringen und sich bemühen dieses Kreises würdig zu werden.341

Jede Form der Übersetzung, auch die parodistische, hat ihre je eigene Berechtigung. Der echte Künstler aber lässt diese hinter sich und strebt zur höchsten Form, deren philologische Herkunft, wenn »der ganze Zirkel abgeschlossen«342 ist, in ihr aufgehoben ist. Beschreibt die Philologie des ›Divans‹ einen solchen Zirkel?

Philologie Die den ›Divan‹ begleitende philologische Debatte erhellte bereits, dass Goethe sowohl mit den inhaltlichen als auch den methodischen Streitpunkten reichlich vertraut war, und der Verdacht läge nahe, die ›Noten‹ als Versuch zu lesen, die

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Vaget, Dilettantismus, S. 76. In den Anmerkungen zu ›Diderots Versuch über die Malerei‹ heißt es 1799: »es war Rafael der es nahm, das Kunstgenie, der fortschreitende, sich immer mehr ausbildende und vollendende Künstler. Man vergesse nur nicht, daß man den Schüler, den man ohne Kunstanleitung zur Natur hinstößt, von Natur und Kunst zugleich entferne.« FA 18, S. 559–608; S. 580. Und kurz darauf: »welches Genie auf der Welt wird, auf Einmal, durch das bloße Anschauen der Natur, ohne Überlieferung, sich zu Proportionen entscheiden, die echten Formen ergreifen, den wahren Styl erwählen und sich selbst eine alles umfassende Methode erschaffen? Ein solches Kunstgenie ist ein weit leereres Traumbild, als oben dein Jüngling«. (Ebd., S. 583) Die poetische Variante findet sich in dem kleinen Dramolet ›Künstlers Apotheose‹ von 1788, in dem interessanterweise der Liebhaber das Natur-Genie-Konzept vertritt, dabei selbst aber unproduktiv bleibt und keineswegs positiv besetzt erscheint wie in ›Der Sammler und die Seinigen‹. Vgl. dazu auch Vaget, Dilettantismus, S. 77–84. Goethe, Eröffnungsansprache zur Gründung der Freitagsgesellschaft. In: FA 18, S. 282–284; S. 282. Ähnliche Stellen ließen sich leicht vermehren. Viele finden sich in der analytisch leider nicht sehr ergiebigen Studie von Marianne Henn, Goethes Verhältnis zum Überlieferten in seinem Alterswerk, Heidelberg 1986, S. 68–81. FA 3.1, S. 283.

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Rezeption des ›Divans‹ entweder aus diesen Streitigkeiten herauszuhalten oder darin zu positionieren.343 Die ›Noten und Abhandlungen‹ erscheinen dann als angemessener Ort für eine solche Diskussion, indem sie mit dem philologischen Kommentar offenbar die gleiche Textgattung bedienen, in der sich auch die methodologische Diskussion vollzog. Eine Analyse der ›Einleitung‹ zu den ›Noten‹ zeigt, wie sehr Goethe sich des philologischen Fachvokabulars bedient oder darauf anspielt. Es wird sich aber auch herausstellen, dass die ›Noten‹ nicht das leisten, was sie zu versprechen vorgeben. Es wird also zu fragen sein, welche Funktion sie dann erfüllen. Die Skepsis, die auch in der Forschung immer wieder gegen die ›Noten‹ als philologischem Kommentar begegnet, zeigte sich bereits in der frühen Rezeption, wie an der Rezension Adolf Müllners (1774–1829) im Literaturblatt des ›Morgenblatt für gebildete Stände‹ vom 12. August 1820 deutlich wird, die die zeitgenössischen Vorbehalte parodierend zusammenfasst: Alsdann kommt – man denke! Mitten im Buche, S. 244 – eine Einleitung, und wozu? zu einer Skizze der morgenländischen, besonders der persischen Poesie-Geschichte, voller Abschweifungen auf ganz heterogene Dinge, und nicht halb so vollständig, als wir sie in Hammers Geschichte der Redekünste Persiens und in anderen gelehrten Werken finden könnten, wenn wir sie dort suchen wollten. Den Schluß endlich macht ein Verzeichniß von Namen, die in dem Buche vorkommen. Kurz, die GelehrtenZeitungen mögen uns noch soviel vorpredigen von Vermittlung zwischen der morgenländischen und abendländischen Dichtkunst; das Buch ist eines der wunderlichsten, die Goethe jemals geschrieben hat, es ist so zu sagen ein Räthsel ohne Schlüssel;344

Ganz offensichtlich erfüllten die ›Noten‹ keineswegs die Funktion, »daß ein unmittelbares Verständniß Lesern daraus erwachse«.345 Und in der Tat macht selbst ein flüchtiger Blick in den Text schnell die brüchige Bezugnahme zwischen Noten und Text deutlich, die keineswegs den Ansprüchen philologisch exakter Rekonstruktion entspricht, ja zum Teil eine Referenz zum Haupttext, der ja vorgeblich erläutert werden soll, überhaupt nicht zu finden ist. So fragt man sich, was die Abschnitte ›Israel in der Wüste‹ oder ›Vergleichung‹ für ein unmittelba-

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Mommsens Einschätzung, dass Goethe öffentlichen Fehden stets ablehnend gegenüber gestanden habe, muss bei einem Blick auf den Briefwechsel mit Schiller wohl relativiert werden. So fragt Schiller am 23. November 1795 an: »Vielleicht habe Sie auch Lust, in diesem Stück den Krieg zu eröffnen?« Goethe antwortet am 25. mit dem Vorschlag zur Eröffnung einer neuen Front (diesmal soll es Stolberg treffen): »Hier schicke ich Ihnen sogleich die neueste Sudelei des gräflichen Salbaders. Die angestrichene Stelle der Vorrede ist es eigentlich worauf man einmal, wenn man nichts bessers zu tun hat losschlagen muß.« MA 8.1, S. 129f. Adolf Müllner, Rez. von Goethe ›West-östlicher Divan‹. In: Literatur-Blatt. Morgenblatt für gebildete Stände (67) 1820, S. 265–268; S. 266. Zitiert nach: MA 11.1.2, S. 383–384; S. 384. FA 3.1, S. 138.

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res Verständnis der ›Divan‹-Lyrik leisten sollen.346 Ganz entgegen der angekündigten Intention, hermeneutisches Hilfsmittel für ein Verstehen des ›Haupttextes‹ zu sein, erscheinen der ›Divan‹ und die ›Noten‹ als Müllners »Räthsel ohne Schlüssel«.347 Woran liegt das? Meine These ist, dass Goethe von Beginn an, die Ebenen zwischen philologischem Kommentar und poetischer Darstellung, die durch die Gliederung und Druckanordnung in einen (poetischen) Haupttext mit zugehörigen philologischen Erläuterungen so evident zu sein scheint, verwischt. Dies beginnt bereits mit dem paronomastischen Spiel im Motto, das direkt unter den Titel ›Besserem Verständnis‹ gestellt ist.348 Wer das Dichten will verstehen Muß in’s Land der Dichtung gehen; Wer den Dichter will verstehen Muß in Dichters Lande gehen.

Was besagt es? »Wer das Dichten will verstehen« – Mit dem substantivierten Verb wird auf den poetischen Schaffensprozess hingedeutet, demnach geht es um ein Verständnis dieses Prozesses. »Muß in’s Land der Dichtung gehen;« – hier wird der Bereich, das Feld des Poetischen bezeichnet. Wer den poetischen Prozess, das Dichten verstehen will, der muß es selbst unternehmen, sich auf das literarische Feld begeben. Eine zweite Lesart bietet sich allerdings an: es könnte auch ein Appell sein, poetologische Reflexion nicht als Theorie, sondern am poetischen Gegenstand zu betreiben, nicht als philosophische Ästhetik, sondern als Vollzug am Gegenstand. Der Zweiteiler wäre demnach »Hermeneutische Regel« und »poetologische Regel«.349 Nimmt man beide Lesarten zusammen, entsteht 346

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Es verwundet daher ein wenig, wenn etwa Henn die Goethe-Apotheose der Jahrhundertwende widerschreibend noch in den 80er Jahren die ›Noten‹ als avancierten Beitrag zur Orientforschung beschreibt und hier einen großen kulturgeschichtlichen Beitrag Goethes zur Geschichte des Orients sehen will. Vgl. Henn, Goethes Verhältnis, S. 117. Zum anderen Extrem bemerkt Wolfgang Lentz (Goethes Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan, Hamburg 1958, S. 91) lakonisch: »Die Problematik der ›Noten‹ wird dadurch nicht gelöst, daß man diese mehr oder weniger mitleidig als Sonderfall allgemeinverständlicher Einführungen in die Orientalistik mitlaufen läßt«. Dass der Abschnitt ›Israel in der Wüste‹ sich nicht recht in den behaupteten Zusammenhang der ›Noten‹ fügen will, hat die Forschung mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen denn auch früh gesehen. Vgl. ebd., S. 93. Gisela Henckmann (Gespräch und Geselligkeit in Goethes ›West-östlichem Divan‹, Stuttgart u.a. 1975) indes folgt der philologischen Stimme der ›Einleitung‹ blind und liest die ›Noten‹ als Zeichen »höchster Mitteilungsbereitschaft und Bemühung um Verständnis« (S. 141). Vgl. FA 3.1, S. 137. So Norbert Altenhofer, Poesie als Auslegung. In: ders., Poesie als Auslegung. Schriften zur Hermeneutik. Hg. von Volker Bohn und Leonhard M. Fiedler, Heidelberg 1993, S. 19–46; S. 22.

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daraus eine selbstreflexive Figur: Verstehen der Dichtung vollzieht sich als poetologische Reflexion im Medium des Poetischen selbst und nicht etwa außerhalb ihrer in ästhetischer Theorie.350 »Wer den Dichter will verstehen« – Nach dem Verstehen des Poetischen wird nun dessen Produzent, der Dichter, Gegenstand der hermeneutischen Frage. »Muß in Dichters Lande gehen«. Auch hier erfolgt die Aufforderung, sich in den zu verstehenden Bereich hineinzubegeben und auch hier ist eine doppelte Lesart, eine topographische und eine topologische, möglich. Einerseits könnte im Rahmen einer historisch-kritischen Deutung damit die Aufforderung verbunden werden, sich mit der Zeit, der Kultur, den Sitten etc. vertraut zu machen, um des Dichters Äußerungen verstehen zu lernen, andererseits ist das Land des Dichters auch sein eigenes Werk. Die Aufforderung verwiese so zurück an das »Land der Dichtung« aus Vers zwei, mit dem es auch den identischen Reim teilt. Die metrisch parallel gebauten, anaphorisch wie epiphorisch gesetzten Verse fordern also ein komplexes hermeneutisches Bemühen ein. Um Poesie zu verstehen, bedarf es demnach an dichterischer Erfahrung, Kenntnis der kulturellen Umstände und Werkkenntnis des zu verstehenden Autors. Der Vollzug des Verstehens findet dabei offenbar im Medium des Poetischen selbst statt, sei es als eigene poetische Tätigkeit, sei es in der Lektüre des sich selbst poetologisch reflektierenden Werkes.351 Auf den vorliegenden Text ›West-Östlicher Divan‹ bezogen, an dessen Scharnierstelle zwischen Poesie und Prosa das Motto gesetzt ist, fungiert dieses als retrospektive Lektüreanweisung und als eine auf den kommenden Teil vorgreifende Bestimmung. In diesen unterschiedlichen Bewegungsrichtungen (»gehen«) wird eine hierarchisierende Gegenüberstellung von Poesie- und Prosateil bereits unterlaufen.352 Das Projekt von philologischen ›Noten und Abhandlungen‹ verhält sich aber doch einer solchen Selbstbeschreibung gegenüber antagonistisch, zumal, wenn es als Motto des nun folgenden verstanden wird. Wie lässt sich dies Dilemma auflösen?

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Goethes Abneigung gegen eine theoretisch betriebene Ästhetik ist ja bekannt. So sagt er zum Kanzler Müller am 1. Mai 1826: »Keineswegs, nichts ist mir hohler und fataler wie ästhetische Theorien«. In: Friedrich von Müller, Unterhaltungen mit Goethe. Kleine Ausgabe. Hg. von Ernst Grumach mit Anm. von Renate Fischer-Lamberg, Weimar 1959, S. 131. Goethe selbst bekundet, dass er sich zu den Gedichten Hafis, nachdem er sie in der Übersetzung v. Hammers kennengelernt hatte, nicht anders als »dagegen productiv verhalten« konnte. In: Tag und Jahreshefte zu 1815, FA 17, S. 259. Darüber hinaus erkennt er, wie die orientalische Poesie »zur Reflexion hintreibt«, wie er am 17. Mai 1815 an Zelter schreibt. Vgl. FA, Bd. 34: Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1812 bis 6. Juni 1816. Hg. von Rose Unterberger, Frankfurt/M. 1994, S. 454. Dies wird im Übrigen durch die typographisch identische Gestaltung beider Teile sowie deren Veröffentlichung in einem Band unterstrichen.

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Es hat in der zeitgenössischen Rezeption, vor allem nach dem Vorabdruck einiger Gedichte in Cottas ›Taschenbuch für Damen‹ (1817) einige Verwirrungen über den Status der ›Divan‹-Gedichte gegeben, die Goethes Selbstauskunft in den ›Tag- und Jahresheften‹ zufolge, zu den erläuternden ›Noten‹ geführt haben. »Auch hatte die Probe in dem Damenkalender das Publicum mehr irre gemacht als vorbereitet. Die Zweideutigkeit: ob es Uebersetzungen oder angeregte oder angeeignete Nachbildungen seyen, kam dem Unternehmen nicht zu Gute; ich lies es aber seinen Gang gehen«.353 Dazu mag vor allem der Untertitel des Vorabdrucks im ›Taschenkalender für Damen‹ (1817) »versammelt von Goethe« beigetragen haben, der offen ließ, ob Goethe hier in etymologischer Anspielung auf »Divan« (=Versammlung, Gedichtsammlung) tatsächlich nur als Redakteur einige Proben orientalischer Dichtkunst versammelt habe, oder ob er als Autor oder Übersetzer zeichne. Diese Verwirrung ist erstaunlich, wenn man die Vorankündigung des Vorabdruckes am 24. Februar 1816 im ›Morgenblatt für gebildete Stände‹ betrachtet.354 Dort lautet der Untertitel des ›Divans‹ »Versammlung deutscher Gedichte im steten Bezug auf den Orient«. Wenn hier von »Dichter« die Rede ist, dann doch ganz offensichtlich vom Dichter der deutschen Gedichte, also Goethe, der sich »als einen Reisenden« – schon hier dieser Ausdruck – versteht. Überdem wird an Formulierungen wie »nach orientalischer Weise«, »nach persischer Art«, »deren Art und Ton dem Osten nicht fremd«, »nach orientalischen Überlieferungen«355 deutlich, dass der Unterzeichner der Vorankündigung – v. Goethe – hier orientalisch inspiriert selbst gedichtet habe. Zugleich aber »lehnt er den Verdacht nicht ab, daß er selbst ein Muselmann sey« und bekennt, dass »sein eigenes Poetisches verwebt«356 mit der ganzen orientalischen Lebensart sei. Markiert die Vorankündigung einerseits die Differenz zwischen deutschem und persischem Dichter, so verwischt sie diese durch den Begriff der Verwebung wieder. Es wird eine vorgebliche Ununterscheidbarkeit zwischen Eigenem und Fremden postuliert.357 So reduziert sich die hermeneutische Differenz in der Vorankündigung auch nur auf den Punkt zwischen zwei Sätzen, der Übergang ist unmittelbar: »Der Dichter betrachtet sich als einen Reisenden. Schon ist er im Orient angelangt.«358 Von dieser Ummittelbarkeit aber

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FA 17, S. 290. Abgedruckt in: FA 3.1, S. 549–551. FA 3.1, S. 549ff. Beide FA 3.1, S. 549. In einem Briefentwurf an Cotta vom 16. Mai 1815, in dem er diesem den ›Divan‹ ankündigt, spricht er noch vorsichtig von »verknüpfen«, deutet aber bereits an, dass der ›Divan‹ einem Palimpsest gleiche, in dem sowohl zeitlich diachron als auch topographisch synchron »beyderseitige Sitten und Denkarten über einander greifen«. FA 34, S. 451. FA 3.1, S. 549. Vgl. dazu auch Andrea Polaschegg (Der Flug in die Fremde – der Flug in die Dichtung. Zu einer poetischen und hermeneutischen Denkbewegung um

kann in der parallelen Passage der ›Einleitung‹ zu ›Besserem Verständniss‹ im Erstdruck keine Rede mehr sein. Nicht mehr wird hier in den Orient gehopst, gesprungen oder geflogen, sondern die Reisebewegung ist eine ganz gegenläufige. Nicht in den Orient hinein, sondern aus ihm heraus wird gereist, der Orient als Importware dem skeptischen okzidentalen Leser angepriesen. Die Assimilierung scheint keineswegs vollkommen, »nur bis auf einen gewissen Grad gelingt« sie, erkennbar »an einem eigenen Accent«. Die Figuren des deutschen und persischen Dichters sind in ihren Stimmen nicht austauschbar oder ineinander verwebt, vielmehr wird deren Alterität betont. Sie bleiben in ihrer »Landsmannschaft als Fremdling kenntlich«.359 Die im Erstdruck 1819 publizierte ›Einleitung‹ lässt bei einer genauen Lektüre an der Autorschaft der vorstehenden Gedichte keinen Zweifel. Es ist der »östliche Diwan des westlichen Verfassers«,360 wie es im arabischen Nebentitel auf dem Titelkupfer der Erstausgabe heißt. Wenn Fragen der Autorschaft hier trotzdem virulent sind, dann beziehen sie sich auf die Unterscheidung Poesie/ Philologie bzw. Lyrik/Prosa, wie nun gezeigt werden soll. Ehrhard Bahr hat früh auf die arabische Stilfigur des Personenwechsels verwiesen, von der Goethe in den Gedichten des ›Divans‹ immer wieder, wenn auch vorsichtigen Gebrauch gemacht hat.361 Goethe hatte die Stilfigur in der Einleitung v. Hammers zu dessen ›Divan‹-Übersetzung kennengelernt. Dort spricht dieser von der »beständigen Personenwechselung«, »vermöge welcher der Dichter in einer und derselben Gasel von sich bald in der ersten, bald in der zweyten, bald in der dritten Person spricht.«362 Bahr kommt in seiner Analyse zu dem Schluss, die »reine Form der ›Personenwechselung‹« ließe »sich bei Goethe nicht nachweisen«.363 In seiner Konzentration auf die lyrische Adaption orientalischer Stilmittel hat er dabei dessen ganz offensichtliche Verwendung in der »Einleitung« übersehen. Dort spricht im ersten Absatz »der Dichter«, im zweiten und dritten ein »ich«, im vierten »der Verfasser«, im fünften »der Reisende, im sechsten »unser Dichter«, im siebenten »man« und im achten und letzten Absatz spricht dann im pluralis majestatis ein »wir«. Die ›Noten‹ werden so in ihrem Einleitungstext über das Stilmittel »Personenwechselung«, das sich hier wie in den Eingangsgedichten zeigt, an den lyrischen Teil angeschlossen. Die Grenze zwischen philologisch-wissenschaftlichen Erklärungen, die man vom Titel viel-

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1800. In: Hartmut Böhme (Hg.), Topographien der Literatur, S. 648–672; S. 652), die den Flug als Reisemittel und Grund für diese Unmittelbarkeit stark macht. Alle FA 3.1, S. 139. Vgl. FA 3.2, S. 876 und FA 3.1, Abb. 12. Ehrhard Bahr, ›Personenwechslung‹ in Goethes ›West-östlichem Divan‹. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 73 (1969), S. 117–125. v. Hammer, Der Diwan, Ersther Theil, S. VII. Bahr, Personenwechselung, S. 121.

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leicht erwartet, und den Gedichten, auf die sie sich eigentlich beziehen sollen, wird bereits ein Stück weit zurück verschoben. Verbunden mit der Vielzahl von Autorensynonymen ist nun aber auch eine Anhäufung philologisch-hermeneutischer Redeweisen. Nicoletti sieht bereits im Titel ›Besserem Verständnis‹ eine Anspielung auf die romantische Rede vom ›Besser-Verstehen des Autors als er sich selbst‹. Ihre Lesart konstatiert also eine Differenz zwischen dem Autor der Lyrik und dem Autor der Prosa.364 Dieser vermag jenen nun besser verstehen als er sich selbst. Spricht aber im zweiten Absatz das Autor-»Ich«, dann wird zunächst nicht eine Differenz zwischen Lyrik- und Prosaautor konstatiert, sondern eine zeitliche Differenz von Frühund Spätwerk, die sich bereits im ersten Absatz in der Gegenüberstellung der ›Zeit des Schweigens‹ und der ›Zeit des Redens‹ vorbereitet. Der Unterschied zwischen Früh- und Spätwerk liegt nach Auskunft des sprechenden Ich in der veränderten Zielrichtung des Werkes. Das Frühwerk sei im Vertrauen auf dessen autonome Wirkungskraft entstanden, entscheidend sei nicht gewesen, »wie es damit gemeint sey«, sondern ob »früher oder später das Vorgelegte« benutzt werde, auch wenn damit die Kontrolle über die Rezeption der Werke aus der Hand gegeben werde. Es läge nahe, in dem »Ich« eine poetologische Selbstaussage Goethes zu sehen und ihn daher »zum Interpreten seiner selbst«365 werden zu lassen. Vor einer allzu schnellen Identifizierung mit dem Autor Goethe ist aber nur zu warnen, hält man sich vor Augen, dass Goethe in diesem Fall entweder ein denkbar schlechter Interpret seiner selbst wäre oder schlicht stilisierte, denn keineswegs hatte er bei den »Schriften meiner ersten Jahre« auf Noten und rezeptionssteuernde Kommentare verzichtet. Wenn Birus auf das Vorwort im ›Werther‹ verweist, die dortigen Fußnoten des Herausgebers wären hinzuzufügen, so sind die Anmerkungen und Kommentare zu den Cellini- und Diderot-Übersetzungen und vor allem die geplanten Noten zu den ›Römischen Elegien‹, die Goethe mehrfach mit Schiller brieflich bespricht und die letztlich nur aus zeitlichen Gründen fallen gelassen werden, als weitere ›philologische Texte‹ Goethes zu nennen.366 Wollte man eine Tendenz

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Diesen Punkt macht Nicoletti (Übersetzung als Auslegung, S. 138f.) stark. Es bleibt für mich, vor allem mit Blick auf F. Schlegel, aber unverständlich, warum hier bereits eine Assoziation auf eine »Definiton des Verstehens als Nachkonstruktion« (S. 140) zu sehen ist. Ebd., S. 140. Vgl. Goethe an Schiller am 17. Mai 1795, Schillers Antwort an Goethe am 18. Mai und dann noch einmal Goethe an Schiller am 17. August 1795. In: FA Bd. 31: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 24. Juni 1794 bis zum 31. Dezember 1799. Hg. von Volker C. Dörr u. Norbert Oellers, S. 70 und S. 106. Schillers Antwort in: MA 8.1, S. 80. Birus liegt falsch mit seiner Vermutung, dass der Vierzeiler »Denn bei den alten lieben Toten/Braucht man Erklärungen, will man Noten/Die Neuen glaubt man blank zu verstehen;/Doch ohne Dolmetsch wird’s auch nicht gehen« aus der Samm-

bezüglich der Selbstkommentierung im Werk Goethes ausmachen, so könnte sie auch genau entgegen der Äußerung in der ›Einleitung‹ ausfallen. Insbesondere zum Spätwerk, schon beginnend mit dem ›Märchen‹ aus den ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹,367 über die ›Wahlverwandtschaften‹ bis hin zu den ›Wanderjahren‹ und natürlich ›Faust II‹ lehnte Goethe die oft an ihn herangetragenen Wünsche »anzudeuten, wie es damit gemeynt sey«, mal spöttisch, mal eisern, doch stets ab.368 Die Reflexion wird im Spätwerk, auch das hat die Forschung längst bemerkt, mehr und mehr in die poetischen Werke selbst verlegt.369 Die Noten zum ›Divan‹ markieren diesen Prozess deutlich, wenn sie einerseits im Duktus philologischer Rede gehalten sind, andererseits die Unterscheidung zwischen poetischem und prosaisch-wissenschaftlichem Diskurs zunehmend unterminieren. Die ›Noten‹ sind integraler Bestandteil des ›Divans‹,370 nicht ihr philologischer Appendix, nicht »abgerissene Noten«, sondern »in einem gewis-

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lung ›Sprichwörtlich‹, entstanden zwischen 1812 und 1814, erstmals gedruckt in der Werk-Ausgabe 1815, die erste Andeutung auf Goethes ›Noten‹-Pläne sind (vgl. FA 3.2, S. 1405). Bereits im Brief vom 17. Mai, in dem er Schiller im Übrigen auch von seiner ersten Lektüre von Wolfs ›Homeri et Homeridarum opera et reliquiae‹ von 1794, eben nicht wie oft behauptet die ›Prolegomena‹ von 1795, berichtet, schreibt Goethe unmittelbar davor mit Bezug auf die geplante Veröffentlichung der ›Römischen Elegien‹ in den ›Horen‹: »Man versteht sie nicht das ist wohl wahr; aber man braucht ja auch Noten, zu einem alten nicht allein, sondern auch zu einem benachbarten Schriftsteller«. In: FA 31, S. 70. Vgl. das bekannte von Goethe erstellte Schema, in dem er an ihn herangetragene Deutungen notierte. Goethe, Die Auslegung des Märchens. In: FA Bd. 9: Wilhelm Meisters Lehrjahre u.a. Hg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann, Frankfurt/M. 1992, S. 1116–1119. An Prinz August von Gotha, der sich ebenfalls an einer Deutung versucht hatte, schreibt er am 21. Dezember 1795 in einem überlieferten Konzept: »Ich müßte sehr irren, wenn ich nicht unter den Riesen und Kohlhäupten bekannte angetroffen hätte […] wie Ihro Durchl. aus meiner Auslegung sehen werden die ich aber nicht eher heraus zu geben gedenke als bis ich 99 Vorgänger vor mir sehe werde. Denn Sie wissen wohl daß von den Auslegern solcher Schriften immer nur der letzte die Aufmerksamkeit auf sich zieht.« FA 31, S. 146. Diese Auslegung Goethes hat es nie gegeben. Wenn er in Briefen kommentiert, scheinen diese Kommentare oft sehr abhängig von den Adressaten zu sein. An Zelter schreibt er am 17. Oktober 1827 über den ›Divan‹ und dessen Kommentierung durch ihn: »Freilich, mein Teuerster, ist es eine starke Aufgabe, wenn wir dem guten Tagemenschen zumuten, solche Gedichte zu singen und etwas dabei zu denken. Forderte man von mir einen Kommentar, so würde ich mich erbieten, ein anderes Gedicht zu schreiben desselben Inhalts und Gehalts«. Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. Hg. von Hans Günter Ottenberg und Edith Zehm, München 1991. MA 20.1, S. 1065. Vgl. auch Mathias Meyer, Selbstbewußte Illusion. Selbstreflexion und Legitimation der Dichtung in ›Wilhelm Meister‹, Heidelberg 1989. So auch Altenhofer, Poesie als Auslegung, S. 36.

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sen Zusammenhange« ein »selbstständiger Text«.371 Der reflexive Charakter der Poesie markiert sich in der philologischen Maske – »unseres dießmaligen Berufes«. Die Differenz zum philologischen Diskurs wird hier durch dessen Inklusion und fiktionaler Überformung etabliert. Innerhalb des poetischen Diskurses wird dadurch ein Grad von Selbstreflexivität erreicht, der einen Autonomisierungeffekt hervorbringt. Damit ist nicht gesagt, dass Goethe durch die philologische Maske hier seine Autorschaft gänzlich zu verdecken sucht. Vielmehr sehen wir ein weiteres Beispiel für die oft anzutreffende Koketterie mit Bezügen auf seine eigene Person, sei es im ›Werther‹ oder dem Abbé der ›Wahlverwandtschaften‹, sei es beim Redakteur der ›Wanderjahre‹. Festzuhalten bleiben Fiktionalisierungsstrategien, die für die Stimme sowohl des Philologen-Autors als auch des lyrischen Autor-Ichs der ›Divan‹-Gedichte keine vorschnelle Identifizierung mit dem realen Autor zulassen. So entsteht ein komplexes Gefüge an Bezugsmöglichkeiten, das eine Unterscheidung von Noten und Haupttext, Prosa- und Lyrikautor mehr und mehr unterläuft. Gleiches lässt sich auch mit Blick auf die philologischen Redeweisen in der ›Einleitung‹ feststellen. Wenn im dritten Absatz das »Ich« von der Absicht, »zu erläutern, zu erklären, nachzuweisen« spricht, dann ist darin keine Anspielung auf die frühromantische Hermeneutik zu sehen, wie Nicoletti meint, sondern das aufklärerische Postulat vom Autor als bestmöglichem Ausleger seiner selbst, einer Hermeneutik als Appendix der Philologie. Die Fokussierung auf die avancierte romantische Theoriebildung lässt manchmal vergessen, wie wirkmächtig die frühaufklärerischen Hermeneutiken und ihre Orientierung an der mens auctoris noch bis weit in das 19. Jahrhundert die philologisch-hermeneutische Diskussion bestimmen.372 Daher werde ich im Folgenden auch nicht etwa auf Meiers ›Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst‹ als Referenztext zurückgreifen, sondern auf die schon zitierte, 1805 erscheinende ›Encyklopädie und Methodologie des humanistischen Studiums oder der Philologie‹ von J. H. C. Barby, die sehr schön deutlich macht, dass im allgemeinen Bewusstsein des Faches, die Hermeneutik weiterhin als Hilfswissenschaft der Philologie373 fungierte und weitgehend unberührt von den Schleiermacherschen oder Schlegelschen Ansätzen geblieben ist.374 371 372

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Alle FA 3.1, S. 139. Dazu siehe den ausgezeichneten Aufsatz von Manfred Beetz, Nachgeholte Hermeneutik. Zum Verhältnis von Interpretations- und Logiklehren in Barock und Aufklärung. In: DVjs 55 (1981), S. 591–628. Auch Beetz hält letztlich an der These einer grundlegenden Wende der Hermeneutik um 1800, genauer bei Schleiermacher fest. Barby, Encyklopädie, S. 24. Auch bei F. A. Wolf ist die Hermeneutik ja noch nichts anderes. Vgl. Patsch, Friedrich August Wolf und Friedrich Ast, S. 78ff. Die mens auctoris steht auch bei Barby (Encyklopädie, S. 262) als »Rücksicht auf den Zusammenhang und die Absicht des Schriftstellers« noch 1805 wie selbstverständlich im Zentrum jeder Lektüre. Vgl. auch ebd., S. 231. Zu den zahlreichen Begründungs-

Als Bestimmung und Zweck des philologischen Studiums wird hier ganz analog zur Absicht in der ›Einleitung‹ »verstehen, erklären und beurtheilen«375 angegeben. Die erste und letzte Adresse, wenn »man sich von allen übrigen Hülfsmitteln verlassen sieht«, an die sich der Ausleger halten kann, ist der Autor selbst, »da jeder Schriftsteller der beste Ausleger seiner Worte ist«.376 Die Aufgabenstellung in ›Besserem Verständnis‹ ist dabei eine schwierige, denn einerseits soll das Verstehen des Autor-Ichs aus den Absätzen 1–3 ermöglicht werden, andererseits ein Verständnis des Orients. Die Verstehensbemühungen richten sich also nicht allein auf einen historisch-topographisch entrückten Gegenstand (Orient),377 sondern auf ein zeitgenössisches Werk (Divan). Damit eröffnet Goethe ein neues Kapitel für die Philologie, deren Begründung er eben nicht mehr in der Differenz zur Gegenwart sieht. Nicht-Verstehen ist kein alleiniger Effekt einer räumlich-temporalen Differenz, wie es F. A. Wolf noch gesehen hatte, sondern offenbar immer Möglichkeit in der Rezeption von Texten, wie es das Autor-Ich als Erfahrung am eigenen Werk (Absatz II) beschreibt und wie er im Vierzeiler aus ›Sprichwörtlich‹ bemerkt.378 Bedenken wir aber die Analyse des Übersetzungs-

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varianten der mens auctoris siehe Beetz, Nachgeholte Hermeneutik, S. 619ff. Es wäre einmal die Frage zu stellen, ob Schleiermacher mit seiner psychologischen Interpretation und dem Begriff der Divination wirklich an der hermeneutischen Sperrspitze der Zeit steht. So weit ich sehe, sind beide Begriffe bereits 1795 in den ›Nachträgen zu Sulzers Theorie der schönen Künste‹ voll entfaltet. Vgl. Maaß, Geist eines Schriftstellers, Lectüre, Uebersetzung. In: Charaktere der vornehmsten Dichter aller Nationen, nebst kritischen und historischen Abhandlungen über Gegenstände der schönen Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft der Gelehrten. Dritten Bandes zweytes Stück, Leipzig 1795 [Nachdruck Hildesheim – Zürich – New York 2001], S. 221–236. Aus diesem Artikel übernimmt Barby im Übrigen große Teile seines Übersetzungskapitels. Dies ist insofern verwunderlich, als die Philologie hier bereits als Appendix der Hermeneutik auftritt und nicht umgekehrt. So heißt es etwa: »Um aber hierzu [den Geist eines Schriftstellers zu erfassen, mb] im Stande zu seyn, ist es bey weitem nicht hinreichend, daß man, auch mit den mannigfaltigsten und elegantesten philologischen Kenntnissen ausgerüstet ist, man muß dazu vor allen Dingen reichhaltige und geläuterte psychologische Einsichten mitbringen.« Ebd., S. 225. Von hier aus wäre auch die These Ada Neschkes zu befragen, mit Schleiermacher habe sich die Philologie erstmals von einer historischen zu einer hermeneutischen Wissenschaft gewandelt. Vgl. Neschke, Hermeneutik von Halle, S. 145f. Barby, Encyklopädie, S. 23. Ebd., S. 261. Aus dieser Fremdheit erklärt Barby (Encyklopädie, S. 146) die Notwendigkeit philologischer Bemühungen und deren methodische Strenge, weil die »Schriften aus einem entfernten, von dem unsrigen ganz verschiedenen Zeitalter« sind, »wodurch das Eindringen in den Geist derselben nothwendig erschwert werden muß«. Der aufklärerischen Hermeneutik galt hingegen »Zeitnähe zwischen Autor und Interpret als unbedingter Vorteil.« Beetz, Nachgeholte Hermeneutik, S. 614. Für eine professionalisierte, auf Historizität festgelegte Literaturwissenschaft, wie sie sich als Ergebnis

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kapitels und des Mottos, so bleibt fraglich, ob Goethe tatsächlich an ein Gelingen des Verstehens durch philologische Kommentierung glaubt. Zunächst deutet allerdings alles darauf hin, wenn im sechsten Absatz in Umkehrung der hermeneutischen Maxime der vom Interpreten anzunehmenden Vollkommenheit des Autors, dieser hier selbst vorgibt, »Verständlichkeit zur ersten Pflicht gemacht«379 zu haben. Das Hauptgeschäft des Philologen besteht in der Aufklärung dunkler Stellen. Diese werden als »fremde Worte« bestimmt, »die deßhalb dunkel sind, weil sie sich auf bestimmte Gegenstände beziehen, auf Glauben, Meynungen, Herkommen, Fabeln und Sitten. Diese zu erklären hielt man für die nächste Pflicht.«380 Der Leser der ›Noten‹ wird also Wort- und Sacherklärungen erwarten dürfen, die die im angekündigten Register verzeichneten dunklen Stellen aufhellen. Verstehen ist hier zunächst Verständnis des Wortsinns, des »philologischen Sinns«, wie es bei Barby heißt: »Man sucht sich also mit den vorkommenden Sachen bekannt zu machen, nimmt auf die herrschenden Meinungen, Sitten, Gebräuche, auf den Charakter des Schreibenden sowohl als auch dessen an den die Schrift gerichtet ist […] Rücksicht.«381 Dabei muß, so Barby, der Ausleger »auf das Bedürfnis derer besonders Rücksicht nehmen, für welche er einen Schriftsteller erklärt.«382 Auch dieser Forderung kommt der Ausleger des ›Divan‹ nach, wenn er eigens bemerkt, er habe »das Bedürfniß berücksichtigt, das aus Fragen deutscher Hörenden und Lesenden hervorging.«383 Barby unterscheidet dann drei Arten der Auslegung: 1. die bloß grammatische Interpretation, 2. eine grammatisch-kritische Interpretation und 3. eine philologisch-kritische Interpretation. Die drei Arten stellen dabei jeweils eine Komplexitätssteigerung dar. Die erste Interpretationsart erfüllt exakt die vorgebliche Aufgabenstellung der ›Einleitung‹. Sie hat die »Aufgabe der Bedeutung der einzelnen Wörter, ihrer Construction und der Erläuterung der vorkommenden historischen, mythologischen und anderer Gegenstände«384 nachzuspüren. Diese Art der Interpretation »ist für den Anfänger hinreichend«, wohingegen mit der dritten Interpretationsart in »einer ausführlichen Kritik« die »Aechtheit einer Schrift oder Stelle, so wie die einzelnen Lesarten geprüft und beurtheilt« werden und

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der im 19. Jahrhundert begonnenen Entwicklung heute darstellt, scheint der umgekehrte Fall zu gelten. FA 3.1, S. 139. Barby (Encyklopädie, S. 251) schreibt: »In der Regel kann man […] annehmen, dass jeder Schriftsteller seine Gedanken so deutlich, als es ihm möglich war, habe darstellen wollen, weil er schrieb, um verstanden zu werden;« FA 3.1, S. 139. Barby, Encyklopädie, S. 245. Dies ist Barby einen eigenen Paragraphen wert. Vgl. ebd., S. 286f. FA 3.1, S. 139. Barby, Encyklopädie, S. 287.

»für den eigentlichen Philologen und Kritiker bestimmt« ist.385 Erkennbar ist nun, an wen sich die ›Noten‹ richten. Werden auf der einen Seite Termini der philologisch-hermeneutischen Diskussion bemüht, um den folgenden Text zu legitimieren, so tritt der Verfasser, der sich durch die beständige Personenwechselung nicht vom Autor der Gedichte unterscheiden lässt, keineswegs als professioneller Philologe auf und will seinen Beitrag auch nicht als Beitrag zur Fachdiskussion verstanden wissen, die Goethe, wie wir gesehen haben, aufmerksam verfolgt hat. Entscheidende Eigenschaften des professionellen Philologen gehen ›dem Verfasser‹ denn auch ab: Er hat sich den Sprachgebrauch lediglich anzueignen getrachtet und verfügt keineswegs über »eine genaue und kritische Kenntniß der Sprache«, ohne die aber doch die »Alterthumswissenschaften ihrer sichersten Stütze beraubt werden«.386 Die Noten seien überdies »nur flüchtig behandelt und lose verknüpft«387 und lassen darum keine »genaue und scharfe Bestimmung der Bedeutung der Wörter«388 erwarten. Das beigefügte vom Philologen Kosegarten erstellte und von Goethe überarbeitete Register mit seiner doppelten Referenzstruktur auf die ›Noten‹ und den Lyrikteil ist überdem kaum eine Verständnishilfe. Weder werden die Stichwörter an den angegebenen Stellen erklärt, noch ergibt der Zusammenhang genauere Aufhellung. Einige Begriffe finden sich nur im Lyrik- andere wieder nur im Anmerkungsteil, einige der aufgeführten Begriffe kommen an den angegebenen Stellen gar nicht vor, wie Nicoletti gezeigt hat.389 Es bleibt also trotz der Beteuerungen offen, ob die ›Noten‹ der erklärende oder nicht vielmehr selbst zu erklärender Teil sind. Auch hier ist der philologische Begriffsapparat, wenn nicht ad absurdum, so doch gegen die behauptete Intention der »Verständlichkeit« geführt. Bereits die ›Einleitung‹ positioniert sowohl die ›Noten‹ als auch den ›Divan‹ insgesamt im Streit um die Deutungshoheit der literarischen Tradition auf Seiten der Liebhaber, nicht der professionellen Kenner. Der Liebhaber zeichnet sich durch eine intensive Beschäftigung »mit Neigung«390 zu seinen Gegenständen aus, wie es in der ›Einleitung‹ heißt. Das unterscheidet ihn vom Dilettanten, der »scheut allemal das Gründliche.«391 Weiter unterscheidet den Liebhaber vom Dilettanten die Selbsteinsicht in die Grenzen seiner Vermögen, die dieser nicht erkennt. Der Dilettant will »in seiner Selbstverkennung das Passive an die 385 386 387 388 389

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Alle ebd., S. 287. Beide ebd., S. 145. FA 3.1, S. 139. Barby, Encyklopädie, S. 145. Nicoletti, Übersetzung als Auslegung, S. 153. Die Münchner und Frankfurter Ausgabe stellen alle Angaben auf ihre Seitenzahlen um. Es wäre immer noch eine Untersuchung wert, ob Goethe bewusst einige der von Kosegarten erstellten Referenzstellen nicht berichtigt, sondern fingiert hat. Das bleibt auch bei Nicoletti unklar. FA 3.1, S. 139. Goethe/Schiller, Über den Dilettantismus. Allgemeines Schema. In: FA 18, S. 746.

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Stelle des Aktiven setzen, und weil er auf eine lebhafte Weise Wirkungen erleidet, so glaubt er mit diesen erlittnen Wirkungen wirken zu können«.392 Vaget hat gezeigt, dass diese Einsicht bei Goethe selbst einer Entwicklung unterliegt.393 Der positiven Einschätzung des Dilettanten tritt die Unterscheidung vom echten Liebhaber gegenüber, als Goethe während des zweiten römischen Aufenthaltes (1787–1788) sein eigenes Dilettieren im Zeichnen und Malen als solches endgültig erkennt. Auch der Dilettant ist ein Liebhaber, aber einer, der sich nicht im Genuß bescheiden kann, der selbst produzieren will. Der Dilettant, so leitet Goethe nach Erklärung des Weimarer Bibliothekars Christian Johann Jagemann etymologisch aus dem Italienischen ab, »bedeutet einen Liebhaber der Künste, der nicht allein betrachten und genießen sondern auch an ihrer Ausübung Teil nehmen will.«394 Gegenüber Vaget, der mit seinem konzentrierten Blick auf den Dilettanten, Liebhaber und Kenner weitgehend gleichsetzt, gilt es den Liebhaberkenner vom professionalisierten philologischen Kenner zu unterscheiden. Der Liebhaber unterscheidet sich vom professionalisierten Fachmann in der Funktionalisierung dessen Wissens. Der Kenner betreibt sein Fach weniger um der Sache denn um des Faches willen395 und isoliert sich in der Bücherrepublik, ohne es zu merken. »Die Freunde der Wissenschaft stehen auch oft sehr einzeln und allein, obgleich der ausgebreitete Bücherdruck und die schnelle Zirkulation aller Kenntnisse ihnen den Mangel von Gesellschaft unmerklich macht.«396 Sein Wissen bleibt auf den kleinen Kreis der Fachkollegen beschränkt. In ›Der Sammler und die Seinigen‹ ist der »Gelehrte« ein »stummer Begleiter«, der »ernst und einsam, in den Zimmern auf und ab gegangen war, und mit einer Lorgenette die Bilder betrachtet hatte«.397 Dem echten Liebhaber ist hingegen immer an Teilnahme und -habe gelegen. Er will, eben weil er die Sache liebt, seine Dinge und das Wissen über sie mitteilen, sucht sie »auf mancherley Weise angenehm zu machen«.398 Der Liebhaber ist eine Integrationsfigur, die das spezialisierte Wissen der Kenner von Profession in Anschaulichkeit, in »Uebersicht und Erläuterung«399 überführt. Liebhaber und Kenner sind also nicht gegeneinander auszuspielen. Man

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Goethe/Schiller, Über den Dilettantismus. Entwurf zu einer Abhandlung. In: FA 18, S. 779. Vgl. Vaget, Dilettantismus, S. 23–54. Goethe, Über den sogenannten Dilettantismus oder die praktische Liebhaberei in den Künsten. In: FA 18, S. 780f. Das wird offenbar schon Mitte des 17. Jahrhunderts beklagt. Vgl. Beetz, Nachgeholte Hermeneutik, S. 591f. Goethe, Freitagsgesellschaft, FA 18, S. 283. FA 18, S. 721f. FA 3.1, S. 139. Der unterrichtende Kenner im Falle der Kunstgeschichte ist natürlich der »Kunscht-Meyer«. FA 3.1, S. 139.

verkennte Goethes Haltung völlig, wenn man sie auf die Zurückweisung der Gelehrten- bzw. Wissenschaftskultur reduzieren wollte. Und doch stellt die Ausweitung der Dilettantismuskritik auf die Antipoden »Spezialisierung und allseitige Ausbildung«400 einen zentralen Punkt für Goethes Wissensökonomie dar. Der Liebhaber fungiert als Prüfstein der vom Wissenschaftssystem produzierten Wissensbestände. Er ist als Freund des Künstlers eine »Mittelsperson […] damit die Menschen sich geschwinder mit dem befreunden, was ihnen fremd und wunderlich erscheint.«401 Spürt der Liebhaber eine Distanz zu den Beständen, vermag er keine (Liebes-)Beziehung zu ihnen aufzubauen, dann ist ihm dies sicheres Anzeichen für deren Defizienz.402 Goethe erkennt bereits die Aporien, die im humanistischen Bildungsanspruch einer professionalisierten Philologie und dem von Humboldt dazu entworfenen Unterrichtsentwurf stecken,403 und praktiziert eine andere Bildungspolitik, in der »jedes Buch nur für Theilnehmer, für Freunde, für Liebhaber«404 geschrieben ist. Ausgespart bleibt der kritische Philologe. Genau dieses Moment hatte Diez genutzt, um im Streit mit v. Hammer Goethe auf seine Seite zu bringen. Am 28. November 1815 schreibt er: »Dies ist es, was so vielen von der Innung versagt worden, ich meyne Kenner, welche nicht als Liebhaber sondern als Professionsverwandte die morgenländischen Sprachen treiben und vor den Worten den Geist des Orients nicht sehen können.«405 In einem Brief an Rochlitz wird darüber hinaus auch Neigung und Freundschaft nicht allein zum hermeneutischen Rezeptionsmodus im Zeichen der Billigkeit, sondern auch zum Modus der Produktion:

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Vaget, Dilettantismus, S. 215. So schreibt er an Rochlitz am 30. Januar 1812. Vgl. FA Bd. 34: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 10. Mai 1805 bis 6. Juni 1816. Teil II. Von 1812 bis Christianes Tod. Hg. von Rose Unterberger, Franfurt/M. 1994, S. 20. Das wird ganz offenbar an Goethes Abneigung gegen die Newtonsche Farbentheorie. Wo er keine Beziehung zu ihr aufbauen kann, bekämpft er sie heftig. Charakteristisch ist es auch, wenn Goethe immer wieder Formulierungen wie ›konnte mich nicht damit befreunden‹ benutzt, um seine Missgunst auszudrücken. Nur eins von vielen Beispielen. Er schreibt am 1. Februar 1808 an Kleist über dessen ›Penthesilea‹: »Die prosaischen Aufsätze, wovon mir einige bekannt waren, haben mir viel Vergnügen gemacht. Mit der Penthesilea kann ich mich noch nicht befreunden. Sie ist aus einem so wunderbaren Geschlecht und bewegt sich in einer so fremden Region daß ich mir Zeit nehmen muß mich in beide zu finden.« FA 33, S. 273. Vgl. Grafton, Polyhistor into Philolog. FA 3.1, S. 214. Darin besteht übrigens durchaus eine Analogie zum frühromantischen Projekt. Vgl. oben S. 133. Gedruckt in Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan. 3 Bde. In: Werke Goethes. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. 10.3. Paralipomena, Berlin 1952, S. 220.

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In diesem Sinne machen Sie mir ein großes Geschenk durch Ihren Aufsatz und bethätigen dadurch abermals die frühere mir schon längst bewährte Freundschaft. Doch darf es mich nicht einmal überraschen, daß Sie in meine Intentionen auch bey dieser Arbeit so tief eindringen, da Sie unter diejenigen abwesenden Freunde gehören, die ich mir vergegenwärtige, wenn ich mir meine alten Mährchen in der Einsamkeit zu erzählen anfange;406

Der Anruf407 des Liebhaber ist alles andere als eine breit ausgelegte captatio benevolentia, mit der Goethe seinen Text aus einer polemischen Fachdebatte heraushalten wollte, die sich an der Codierung des Wissenschaftssystems ausrichtet. Dies ist sicherlich ein nicht zu unterschätzendes Moment, aber der Text geht darin nicht auf. Der Rekurs auf das Billigkeitsprinzip stellt in der Emphase von Zuneigung bereits eine Rücknahme von Wahrheitsansprüchen dar. Es muss durch das Vollkommenheitsgebot ergänzt werden, um Neigung und Wahrheit in der universalhermeneutischen Verstehensökonomie, wenn nicht in Einklang, so doch zumindest nicht in offenen Widerspruch treten zu lassen.408 Beziehen wir die Interpretation des Eröffnungsmottos in seinem doppelten Referenzbezug zum Lyrik- wie zum Prosateil mit ein, dann wird das Poetische Medium der Überlieferung und zugleich Interpretations- und Verstehensmedium. Eine solche Poesie aber fordert die Hingabe vom Dichter wie Leser ein. Der 406

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An Rochlitz am 30. Januar 1812, FA 34, S. 20f. In diesem Brief klingt im Übrigen bereits die Klage über die verspätete Würdigung seiner Werke an, die in der ›Einleitung‹ als Motivation für die ›Noten‹ benannt wird. Das Motiv klingt immer wieder an, so auch im Brief vom 5. Februar 1813 an Woltmann: »Erst wenn sie sich mit einer Sache befreunden, dann sind sie einsichtig, gut und wahrhaft liebenswürdig. Als Autor hab ich mich daher jederzeit isolirt gefunden, weil nur mein Vergangenes wirksam war und ich zu meinem Gegenwärtigen keine Theilnehmer finden konnte.« FA 34, S. 180 Die dialogische Struktur von Lyrik- und Prosateil arbeitet Henckmann (Gespräch und Geselligkeit) deutlich heraus. Einer im Prinzip der Billigkeit gründenden Ethik des Verstehens als Maßgabe literaturwissenschaftlicher Interpretation neue Geltung zu verschaffen, fordert Lothar v. Laak, Gutes Deuten, schlechtes Deuten – Das Prinzip hermeneutischer Billigkeit. In: ders./ Susanne Kaul (Hg.), Ethik des Verstehens. Beiträge zu einer philosophischen und literarischen Hermeneutik, München 2007, S. 83–104. So berechtigt eine historisch Entfaltung einer Hermeneutik der Freundschaft, der Liebe und Gegenliebe für die Goethe-Zeit, vor allem bei Goethe und F. Schlegel auch ist, kritisch wäre nachzufragen, ob in der Forderung nach einer Aktualisierung dieses Konzeptes nicht zugleich dessen soziale Integrationsutopie emphatisch wieder aufgerufen würde, der der Realist Goethe im Spätwerk zwar nicht abschwört, so doch entsagt. Entsagung als Aushalten, »wo die seltsamsten Probleme des Erde-Lebens starck und unerbittlich vor uns stehen« (FA 3.1, S. 219), wird dabei selbst zum ethischen Wert erklärt. Dass darin auch eine andere politische Alternative als Ergebung enthalten ist, versuche ich zu zeigen in: Vf., Kartoffeln, Käse, Kommunikation. Einige Anmerkungen zum Verhältnis von Systemtheorie und Hermeneutik anläßlich einer Lektüre von Johann Peter Hebels ›Kannitverstan‹. In: v. Laak/Kaul (Hg.), Ethik des Verstehens, S. 199–224.

Dilettant wird eine solche Haltung nicht einnehmen können, denn seine Billigkeit ist nicht echt. Seine Ehrerbietung gegen den Dichter ist nur »ein Ansehen von Freundlichkeit, von Billigkeit, indem sie doch bloß sich selbst erheben.«409 Des Dilettanten Liebe ist nicht mehr denn verhüllte Selbstsucht. Daher ist dem Dilettanten eigentliches Verstehen nicht möglich. Denn der Künstler und sein Werk bedürfen der Ergänzung, sie können »eine genießende einsichtsvolle und gewissermaßen praktische Teilnahme nicht entbehren.«410 In einer Hermeneutik der Liebe wird das Verhältnis von Wort und Geist im ursprünglich als Eröffnungsmotto für den gesamten ›Divan‹ gedachten Mottogedicht zum ›Buch Hafis‹ als das von Braut und Bräutigam beschrieben.411 Wird der Geist zum Bräutigam, dann liegt hier kein Missverstehen der v. Hammerschen Wortbildungen vor, wie Birus meint,412 sondern eine bewusste Aberration, die die orientalische an die christlich-abendländische Tradition der Allegorie einer Hochzeit von Wort und Geist bindet. Allerdings erfährt diese Motivgeschichte hier eine entscheidende Veränderung. Gemeint ist nicht eine symbiotische Verbindung von Wort und Geist, sondern vielmehr ein Verstehensmodell von Liebe und Gegenliebe. Der ›Geist‹ ist nicht im Buchstaben gebunden, sondern schließt sich an das Wort mit Neigung an.413 Es ist fortzuspinnen, dass aus diesem Anschluss, das Verstehen als Kind dieses ehelichen Vollzugs entsteht. Das Kind aber ist nicht abgeleitet oder Kopie, sondern, wenngleich durch seine Eltern – Wort und Geist – geprägt, selbstständig autonomes Wesen, eben geprägte Form, die lebend sich entwickelt. All dies bedeutet keineswegs eine ignorante Haltung gegenüber der Philologie als ›Geistentbindungswissenschaft‹.414 Im Gegenteil, Goethe beschäftigte sich ja intensivst mit philologischer Fachliteratur, genauso wie er den Rat von

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Goethe, Über den Dilettantismus, FA 18, S. 779. Goethe, Über den sogenannten Dilettantismus. In: FA 18, S. 782f. Vgl. auch den Brief an Schiller vom 14. Juni 1796: »mir kommt aber immer vor, wenn man von Schriften, wie von Handlungen, nicht mit einer liebevollen Teilnahme, nicht mit einem gewissen parteiischen Enthusiasmus spricht, so bleibt so wenig daran, das der Rede gar nicht wert ist.« In: MA 8.1, S. 173. Vgl. zu der Bedeutung dieser Figur auch Kurz, Das Ganze und das Teil, S. 110f. FA 3.1, S. 27, dazu FA 3.2, S. 977f. Birus sieht in Goethes Gleichsetzung von Wort und Braut ein Missverständnis des v. Hammerschen Neologismus’ »Wortbraut«, den dieser anstatt der persischen Genitivkonstruktion ›Bräute des Wortes‹ auf dem Titelblatt seiner Hafis-Übersetzung benutzt hatte. Vgl. FA 3.2, S. 978. Vgl. auch die Verse Suleikas, die Poesie, Geist, Liebe und Leben aneinander binden: »Ach! Wie schmeichelt’s meinem Triebe,/Wenn man meinen Dichter preist:/Denn das Leben ist die Liebe,/Und des Lebens Leben Geist.« FA 3.1, S. 88. Vgl. auch die Gedichte ›Geständnis‹ und ›Elemente‹ im ›Buch des Sängers‹. FA 3.1, S. 16f. Ich erinnere an die Schlegelsche Formulierung, Lesen hieße, gebundenen Geist zu lösen.

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Philologen immer wieder einholte und bei der Gestaltung berücksichtigte. Der Fachphilologe aber nimmt seinen etymologischen Auftrag als Liebhaber des Wortes nicht ernst. Ist Verstehen produktives, zeugendes Anschließen, dann ist der Dichter, nun aber in ganz anderem Sinn, der beste Ausleger seiner selbst bzw. seines Elementes. Sein engster Mitarbeiter während des ›Divan‹-Projektes, der Philologe Johann Gottfried Ludwig Kosegarten, erkennt denn auch in seiner Rezension aus dem November 1819 in der Hallischen ›Allgemeinen Literatur-Zeitung‹ diesen Anspruch an: Solches dankbare Amt übernimmt im West-Östlichen Diwan unser Dichter, zum besten des deutschen Lesers, welcher es zu erkennen wissen wird, daß ihm hier die Dichtkunst vorgeführt wird von dem Dichter, nicht von dem bloßen Philologen. Des Dichters Geist, allem Schönen und Wahren offen, weiß auch der östlichen Dichtkunst Geist und Leben in Wurzel und Blühte aufzufassen und wieder auszusprechen; der gelehrte Philologe, wiewohl er seines Lebens Thätigkeit der orientalischen Literatur widmete, bleibt gar oft in Worten und Formen hängen, dringt zu dem lebendigen Geiste nicht vor. Daher mag der Leser nicht irre werden, wenn er vermerkt, daß manche eigentliche Orientalisten, welche die schätzbarste historische und geographische Ausbeute aus der orientalischen Schatzkammer zu Tage gefördert haben, doch von der orientalischen Poesie nicht sonderviel hören lassen wollen; nicht jedem ist Gefühl und Geist für Dichtung gegeben, am wenigsten jedem Philologen, der gar gerne zuerst immer nur mit dem logisch-grammatischen Maaßstabe zu messen anfängt.415

Doch Kosegarten erkennt nicht, dass auch die ›Noten‹ eher poetische Hermeneutik, denn ernst zu nehmendes philologisches Hilfswerkzeug zu »Besserem Verständnis« sind. Gesteht er dem poetischen Teil zu, besser als jede philologische Abhandlung die orientalistische Tradition an den Westen heranzuführen und fruchtbar zu machen, so sieht er in den ›Noten‹ den philologischen Dilettanten am Werke, der diesen Bildungsanspruch besser dem professionalisierten Philologen überlassen hätte: »Da jedoch der Dichter das Amt des eigentlichen Scholiasten nicht übernehmen konnte, so wird der Leser bisweilen doch noch über dieß und jenes nachfragen müssen, bey Leuten oder Büchern die des Orients kundiger sind.«416 Kosegarten argumentiert schon ganz auf der Ebene funktionaler Differenzierung. Dichter und Philologe folgen gänzlich anderen Produktionsprogrammen. Im Abschnitt ›Verwahrung‹ weist der Verfasser der ›Noten‹ eine heteronome Poetik als Effekt einer solchen Differenzierung zurück. Ist die Ablehnung des Terminus »schöne Redekünste« eine Spitze gegen v. Hammer und dessen ›Geschichte der schönen Redekünste Persiens‹, die Goethe als eine seiner Hauptquelle benutzte, so zugleich auch ein antirhetorischer Affekt, gegen die »Verstel-

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Zit nach MA 11.1.2, S. 374f. MA 11.1.2, S. 377.

lung vom Anfang bis zum Ende«.417 Richtet sich die Verwahrung einerseits gegen die Rubrik »Redekünste«, so andererseits gegen den Akt heteronomer Rubrizierung und Klassifizierung durch den professionellen Philologen: »Ein solches Verfahren kommt aber daher, weil man bey den Classifikationen der Künste, den Künstler nicht zu Rathe zieht. Dem Literator kommen die poetischen Werke zuerst als Buchstaben in die Hand, sie liegen als Bücher vor ihm, der er aufzustellen und zu ordnen berufen ist.«418 Die ›Noten‹ scheinen sich in einen performativen Selbstwiderspruch zu verwickeln, wenn in den unmittelbar folgenden Abschnitten »Dichtarten« und »Naturformen der Dichtung« offenbar Klassifikationsangebote gemacht werden. Der Widerspruch löst sich hingegen direkt auf, wenn die ›Noten‹ als philologische Maske gelesen werden und keine Differenz zu dem Verfasser der Gedichte konstruiert wird, man eine typologische Differenz zwischen Lyrik- und Prosateil entfallen lässt.

Prosa-Poesie Die übliche klassifikatorische Einteilung der Dichtarten ist dem Text zufolge auf zweierleiweise heteronom: Erstens erfolgt sie durch den »Literator« und nicht durch den Künstler. Zweitens erfolgt sie aus methodologisch kontingenten Gründen und »nach äußeren Kennzeichen«. Wenn der Verfasser nun aber seinerseits eine Klassifizierung vorlegt, dann ist dies ein autonomer Akt: Sie erfolgt erstens vom Künstler selbst, zweitens im Medium des Poetischen – gesetzt wir betrachten Lyrik und Prosa des ›Divan‹ als sich komplementierende Teile – und drittens versucht sie eine Bestimmung nicht als Zuschreibung (»benamst«) von »äußeren zufälligen Formen«, sondern unternimmt eine Entwicklung der »inneren nothwendigen Uranfänge«.419 Diese »Naturformen der Dichtung« (Epos, Lyrik und Drama) stellen keine typologischen Gattungsbegriffe dar, unter die poetische Werke subordiniert werden können, sondern stellen, analog zu Goethes morphologischbotanischen Versuchen, auf die hier direkt verwiesen wird, Urphänomene dar, die sich in den jeweiligen Erscheinungen stets vermischen. Durch die »Vereinigung im engsten Raume« tritt das »herrlichste Gebilde«420 hervor. Indem Goethe die historischen Gattungen bereits als Mischungen beschreibt, die »bis ins Unendliche mannigfaltig« sind, setzt er die romantische Forderung nach dem Ineinandertreten der Dichtarten in den Gattungsbegriff selbst ein. Die literaturhistorischen Gattungen, die im Abschnitt ›Dichtarten‹ aufgelistet werden, sind je Variationen der Grundformen. Schon in den ›Anmerkungen über Personen und

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Ähnlich auch im Abschnitt ›Mahomet‹, wenn der Poet vom Propheten durch die Freistellung von persuasiven Zwecken unterschieden wird. Vgl. FA 3.1, S. 157f. FA 3.1, S. 205. Alle FA 3.1, S. 207. FA 3.1, S. 206.

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Gegenstände, deren in dem Dialog ›Rameau’s Neffe‹ erwähnt wird‹ (1805) anlässlich seiner Diderot-Übersetzung heißt es im Abschnitt ›Geschmack‹: »Die Absonderung der Dicht- und Redearten liegt in der Natur der Dicht- und Redekunst selbst; aber nur der Künstler darf und kann die Scheidung unternehmen«.421 Das Poetische ist damit nicht mehr auf eine präferierte Gattung – sei es Lyrik, Epos oder Drama – beschränkt, sondern stellt offenbar jenes Urphänomen dar, das es in den historischen Phänomenen zu erblicken gilt.422 Lediglich dem Homer gesteht der Verfasser der ›Noten‹ zu, »rein episch« zu sein, ohne jede Mischung der Naturformen. Offenbar ist diese Reinheit den Modernen nicht mehr möglich. Das ist kein Widerspruch zur morphologischen Erklärung. Die Verschaltung von typologischer und historischer Erklärung ist geradezu eine Grundfigur, die immer wieder bei Goethe begegnet.423 So wird zum Signum der Moderne – mit Georg Lukács – ihre »Gattungsverschlungenheit«424 oder – mit Goethe – die »Elemente zu verschlingen.«425 In den ›Anmerkungen zu Rameau’s Neffe‹ findet sich eine Unterscheidung von Süd und Nord, Antiken und Modernen, die sehr an Schlegel denken lässt. Wohl findet sich bei den Griechen so wie bei manchen Römern eine sehr geschmackvolle Sonderung und Läuterung der verschiedenen Dichtarten, aber uns Nordländern kann man auf jene Muster nicht ausschließlich hinweisen. Wir haben uns andrer Vorältern zu rühmen und haben manch anderes Vorbild im Auge. Wäre nicht durch die romantische Wendung ungebildeter Jahrhunderte das Ungeheure mit dem Abgeschmackten in Berührung gekommen, woher hätten wir einen Hamlet, einen Lear, eine Anbetung des Kreuzes, einen standhaften Prinzen? Uns auf der Höhe dieser barbarischen Avantagen, da wir die antiken Vorteile wohl niemals erreichen werden, mit Mut zu erhalten ist unsre Pflicht.426

Obwohl die Ähnlichkeit zur frühromantischen Unendlichkeitsrede frappierend ist, besteht hier eine Differenz. Denken die Athenäumsromantiker die Unendlichkeit der Poesie als progressiven, unabschließbaren Prozess allein historischtemporal, so besteht das »Unendliche« bei Goethe in der beständigen Rekombination von Urelementen. Ihre jeweilige historische Phänomenologie kann

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Goethe, Anmerkungen über Personen und Gegenstände, deren in dem Dialog ›Rameau’s Neffe‹ erwähnt wird. In: FA Bd. 11: Leben des Benevenuto Cellini. Übersetzungen I. Hg. von Hans Georg Dewitz und Wolfgang Proß, Frankfurt/M. 1998, S. 753–795; S. 766. In ›Ballade. Betrachtung und Auslegung‹, aus dem ersten Heft des dritten Bandes von ›Über Kunst und Altertum‹ (1821), nennt er »lyrisch, episch, dramatisch« als »drey Grundarten der Poesie«. In: FA Bd. 21: Ästhetische Schriften 1821–1824. Hg. von Stefan Greif und Andrea Ruhlig, Frankfurt/M. 1998, S. 39. Vgl. z.B. oben zur Übersetzungstypologie. Georg Lukács, Goethe und seine Zeit, Bern 1947, S. 32. FA 3.1, S. 207. FA 11, S. 766.

jetzt zur retrospektiven Charakteristik von zu unterscheidenden Epochen werden. Blicken die Romantiker in die unendliche Weite, so Goethe in die Tiefe. Das Urphänomen ist dabei der Sichtbarkeit entzogen, hinter die Naturformen kann man nicht blicken. Das Poetische ist, zumal in der Moderne, nur in seinen jeweiligen Mischungen und Erscheinungen greifbar. Auch hierin liegt eine philologische wie poetologische Regel. Die Annäherung kann nur als Approximation in Produktion wie Rezeption gedacht sein. Die Mischungen aber funktionieren als Index für den Zustand der Moderne. Ist Homer »rein«, lebten die Orientalien noch nah »am Naturquell der Eindrücke«,427 so ist Shakespeare schon die Mischung aus Ungeheurem mit dem Abgeschmackten. In der Dichtung der Modernen, die »in einer ausgebildeten, überbildeten, verbildeten, vertrakten Welt leben und wirken«, wird der ganze »durch Kunst, Wissenschaft, Technik, Politik, Kriegs- und Friedensverkehr und Verderb so unendlich verklausulirte[n], zersplitterte[n] Zustand« offenbar.428 Wäre dann Goethes Hinwendung zur orientalischen Poesie im ›Divan‹ als Ausdruck der Versöhnung von Alten und Modernen zu verstehen? Sicherlich nicht im Sinne einer Restituierung des Alten als eines natürlichen Weltverhältnisses. Ein naives Verhältnis der Dichtung zu sich selbst, ist dem Modernen nicht möglich. Die Zweiteilung des ›Divan‹ in poetischen und prosaischen Teil zeigt bereits strukturell an, dass diese Möglichkeit verworfen wird. Die Charakterisierung der orientalischen Poesie sieht aber bereits den Keim der Moderne in ihr enthalten. Hatte Schlegel sich bemüht, im Epos selbst schon die Moderne und ihren zersplitterten Zustand zu verorten, so zeigt sich eine analoge Figur bei Goethe und seinem literaturgeschichtlichen Abriss in den ›Noten‹. Zeugt das ›Alte Testament‹ bei den Hebräern und die ›Moallakat‹ bei den Arabern wie die religiösen Dichtungen der Parsen bei den Persern noch von einer naiven Dichtkunst, so scheint die orientalische wie die griechisch-westliche Literaturgeschichte eine nach unten geöffnete Parabel zu beschreiben. Ein solches Beschreibungsmuster hat Goethe in der von ihm rezipierten und gewürdigten ›Geschichte der schönen Redekünste Persiens‹ (1818) von v. Hammer vorgebildet gefunden, die er genutzt habe, um »meine eigenen Studien nach den gegebenen Rubriken« zu ordnen und einzurichten. Die von Goethe gelobte »chronologische Ordnung«429 gliedert die persische Literaturgeschichte in eine zuerst aufsteigende Linie, die

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FA 3.1, S. 197. FA 3.1, S. 203. Es klingt vielleicht befremdlich, aber wenn Shakespeare hier zu einer Mischung aus Ungeheurem und Abgeschmackten wird, dann ließe sich doch fragen, ob nicht Goethe wie Schlegel, Häßlichkeit als legitime ästhetische Kategorie für die Moderne betrachtet. Was aber hieße dies für die Unterscheidung von Klassik und Romantik? Das allerdings ist eine gewagte These und Frage, die vorerst wohl im Fußnotenkeller verbleiben muss. Beide FA 3.1, S. 279.

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von der »ursprünglichen Reinheit« des »epischen Zeitalters«, über das »mystische Zeitalter«, zum Scheitelpunkt »lyrisches Zeitalter« als »höchster Flor persischer Dichtkunst«, nach einer Übergangsperiode »bis zur »Abnahme der Poesie« und schließlich dem »Verfall der Dichtkunst« wieder abwärts führt.430 Dieser Linie korrespondiert bei v. Hammer ein Wandel von Poesie zur Prosa. Obwohl Goethe in seinem geschichtlichen Durchgang von Firdusi bis Dschami die ersten fünf Epocheneinteilungen v. Hammers übernimmt, folgt er nicht dessen Verfallsgeschichte. Vielmehr erkennt er hier eine Evolution literarischer Formen, die zwar weg von der Quelle episch-poetischer Reinheit führt, darin aber die Möglichkeit neuer Ausdrucksformen eröffnet, die als Abwandlungen der drei Naturformen erkennbar sind. Eine teleologische Deutung dieses Prozesses wird dabei ausdrücklich zurückgewiesen und betont, dass hier ein »ethisch-poetisches Verhältniß«431 sich zeige, das der intentionalen Überformung gar nicht bedürfe. Dschami, der am Ende dieses Prozesses steht, »zieht die Summe der religiösen, philosophischen, wissenschaftlichen, prosaisch-poetischen Cultur«:432 Er verfügt über das gesamte Repertoire von Ausdrucksweisen, derer er sich bedienen kann. Dies ist zunächst ein Gewinn, von dem auch die gegenwärtige orientalische Literatur profitiert. Kennzeichen dieses Gewinns ist, dass sich bei den Dichtern der Neuzeit, deren Beginn mit der Datierung von Dschamis Tod 1494 zusammenfällt, »Poesie und Prosa immer mehr«433 zu einer »Prosa-Poesie«434 vermischen. Diese Prosa-Poesie erlaubt es dem orientalischen Dichter sowohl in »Cancely-«, »Geschäfts- und Briefstyl« in politischen, ökonomischen wie privaten Angelegenheiten als Chronist zu sprechen. Damit ist es dem Dichter weiterhin möglich, seiner eigentlichen Bestimmung zu folgen, die in der Erhaltung, Weitergabe und Erneuerung der kulturellen Überlieferung besteht. Die gegebene Übersicht stellt exakt diesen Aspekt der Werke der behandelten Autoren heraus. Firdusi stellte »die ganzen vergangenen Staats- und Reichsereignisse, fabelhaft oder historisch« dar, Enveri verknüpft Natur- und Staatsschilderungen »mit den lieblichsten Worten«, Nisami behandelt »uralte lakonische Überlieferungen zu eigenen Zwecken«, Rumi »sucht die Räthsel der inneren und äußeren Erscheinungen auf geistige und geistreiche Weise zu lösen«, Saadi »fühlt die Notwendigkeit sich zu sammeln, überzeugt sich von der Pflicht zu lehren«,435 Hafis, »sich mit theologischen und grammatikalischen Arbeiten«436 beschäftigend wird zum Dichter-

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Vgl. Joseph v. Hammer, Geschichte der schönen Redekünste Persiens, Wien 1818, S. IX–XII. FA 3.1, S. 176. FA 3.1, S. 175. FA 3.1, S. 182. FA 3.1, S. 185. Alle FA 3.1, S. 176f. FA 3.1, S. 174.

Philologen. Dschami ist nun der, der »alles zusammen in Garben band, nachbildete, erneuerte, erweiterte, mit der größten Klarheit die Tugenden und Fehler seiner Vorgänger in sich vereinigte«.437 Überlieferung ist also das Hauptgeschäft des Dichters und Dschami als Produkt der Überlieferung verfügt über alle literarischen Register, um auch gegenwärtiger Chronistenpflicht nachzukommen. Das dichterische Werk wird zur Registratur der historisch-politischen Ereignisse, die dann das Archiv der Nation bilden: so erfahren wir, daß in der neuesten Zeit am persischen Hof sich noch immer Dichter befinden, welche die Chronik des Tages, und also alles was der der Kaiser vornimmt und was sich ereignet, in Reime verfaßt und zierlich geschrieben, einem hierzu besonders bestellten Archivarius überliefern.438

Die hervorgehobene Stellung, die dem Dichter als »Minister aller wissenschaftlichen, historischpoetischen Geschäfte«439 oblag, erklärt, warum »die Perser ihre Gedichte seit acht hundert Jahren noch immer lieben, schätzen und verehren«.440 Nicht der Historiker, nicht der Philologe, aber der Dichter in Vereinigung beider Funktionen übernimmt die Aufgabe kultureller Erinnerung. Wenn es überwiegend Hafis ist, den der ›Divan‹ anspricht und zitiert, dann ist dies kein Zufall. Aus v. Hammers ›Geschichte der Redekünste Persiens‹ und Wolfs ›Prolegomena‹ konnte Goethe lernen, dass in gewisser Weise eine Analogie zwischen Hafis und Homer bestand. Von beiden sind so gut wie keine biographischen Informationen bekannt, beide sind selbst zum Mythos geworden, das Werk beider entstammt oraler Überlieferung und ist Ergebnis fremder Aufzeichnung und philologischer Redaktionsarbeit. Dabei ist Hafis selbst auch Philologe, der mit seinen »philologischen Arbeiten« zu beschäftigt ist, um »seine Gaselen noch bey Lebzeiten zu sammeln«.441 Und doch durch alle Verstellung der Überlieferung ist die Größe der Poesie zu erkennen. Wie Goethe sich die Größe der Homerischen Epen weder durch die Alexandrinische noch Hallensische Philologie nehmen lassen wollte, so ist es auch mit Hafis. Es ist nicht nur die Figur des orientalischen Dichters, an die sich Goethe hier wendet, sondern die des Dichter-Philologen. Der westliche Dichter arbeitet damit auch am Werk des östlichen weiter. Bezeichnet er sich einerseits als »Sänger«, so ruft er andererseits sein »Schreibe-Rohr«442 an, situiert also seinen ›Divan‹ auch im Spannungsgefüge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die Hafis-Figur wird so zur Reflexionsfigur über die Deutungshoheit der literarischen Tradition. 437 438 439 440 441 442

FA 3.1, S. 178. FA 3.1, S. 185. FA 3.1, S. 166. FA 3.1, S. 185. Von Hammer, Der Diwan, S. XIII. Hammer zitiert hier seinerseits einen arabischen Kommentator. FA 3.1, S. 25.

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Deuten Bereits v. Hammer hatte in seiner Vorrede zur Hafis-Übersetzung auf den Deutungsstreit über dessen Poesie hingewiesen. Ist Hafis schon im Name der KoranKundige, »der Bewahrer des Korans«, wie v. Hammer schreibt, der als muslimischer Raphsode »denselben von einem Ende zum andern auswendig wußte«,443 so entbrannte angesichts seiner frivol-erotischen Lyrik früh ein Streit, wie diese zu deuten sei.444 Ähnlich den Auseinandersetzungen um das Hohe Lied wurde von den Schriftgelehrten eine allegorisch-mystische Deutung favorisiert,445 andere wiederum wollten die Lyrik »außerhalb der Gränze des Gesetzes«,446 wie es in der ersten ›Fetwa‹ heißt, sehen und entsprechend verbieten. Das gesamte ›Buch Hafis‹ im Goethes ›Divan‹ ist von dieser Frage durchgezogen. In dem Gedicht ›Offenbar Geheimniss‹ wird den »Wortgelehrten« vorgeworfen, den »Werth des Wortes« bei Hafis zu verkennen und allerlei »närrisches« hinein zu interpretieren. »Werth des Wortes« verweist in der Gegenüberstellung mit der allegorischen Deutung auf den sensus litteralis, der hier stark gemacht und damit für eine sinnlich-weltliche Deutung Position bezogen wird. Daher kann gesagt werden: »Du aber bist mytisch rein«. Rein kann dabei auf zweierlei Weise gelesen werden. Einmal als ›rein von Mystik‹ und damit als Zurückweisung der allegorischen Deutung des »unlautern Wein[s]« der Wortgelehrten, zum anderen aber als ›reine Mystik‹, die sehr wohl ein »Geheimniss« offenbart.447 Auch das »Offenbar« aus dem Titel des Gedichts erscheint so zweideutig und trifft damit exakt den im Gedicht verhandelten Sachverhalt.448 »Offenbar« kann hier a) als Adjektiv zu »Geheimnis« verstanden werden. Die Deutung der allegorischen Interpretation ist nur ein offenbares Geheimnis, das den ausgedrückten Sinn lediglich als Schablone über die Worte legt. Nach der Lektüre des Gedichts

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Von Hammer, Der Diwan, S. IX. Neben v. Hammers Einleitung zur Diwan-Übersetzung ist Jones’ ›Poesis Asiatica‹ als Quelle zu nennen, die Goethe zur Entstehungszeit des Gedichts im Dezember 1814 in der von Eichhorn besorgten und kommentierten Ausgabe erneut las. Auch hier wird eine allegorische Deutung zurückgewiesen, indes aber eine rein materialistisch-weltliche Deutung vorgeschlagen. Bei v. Hammer heißt es: »Als aber später die wahre oder Scheinfrömmigkeit der Muftis […] die Unmöglichkeit sah, Hafiens Lieder aus dem Mund des Volkes zu bringen, mußte sie wohl, um die Orthodoxie des Dichters und die ihrige zu retten, die sinnlichen Bildern für übersinnliche Allegorien, und die ganze Sprache Hafisens für mystische Sprache erklären.« Von Hammer, Der Diwan, S. XXXIIf. FA 3.1, S. 30. Zur Bedeutung der Mystik und für Parallelstellen siehe Erich Trunz, Goethes Gedicht an Hafis ›Offenbar Geheimnis‹. In: ders. (Hg.), Studien zu Goethes Alterswerken, Frankfurt/M. 1971, S. 229–250. Offenbar eine beliebte Wendung Goethes. Vgl. FA 3.2, S. 1013 für weitere Stellen in Goethes Werk.

aber erscheint die auf den ersten Blick ungewöhnliche Lesart b) als alte Form des Partizips »geoffenbart« sehr viel plausibler. Die Poesie als reine Mystik ist sehr wohl Offenbarung eines Geheimnisses. Dieses aber vermögen die Wortgelehrten nicht sehen, »weil sie dich nicht verstehn.« Trunz macht darauf aufmerksam, dass ›weil‹ hier nicht in der heute üblichen kausalen, sondern wie im 18. Jahrhundert oft gebräuchlichen temporalen Bedeutung verwendet wird.449 Die reine Mystik ist daher nicht der Grund (kausal), warum die Wortgelehrten ihn nicht verstehen, sondern das Nicht-Verstehen erfolgt trotz der Reinheit. Während Hafis Poesie reine Mystik ist, verstehen die Wortgelehrten ihn falsch, indem sie ihn ›allegorisch‹ und eben nicht ›rein‹ deuten. In der vertrauten Anrede »Du« des westlichen Dichters an den östlichen deutet sich bereits an, wer allein dieses Geheimnis zu verstehen in der Lage ist, und in welchem Medium der Vollzug des Verstehens möglich ist. Die Antwort wird unmittelbar darauf im Gedicht ›Wink‹ gegeben, das die Lesart b) stützt. Die Alternative besteht nicht in der Wahl zwischen allegorischer und lutherischer Interpretation, denn den Wortgelehrten wird beigestimmt, dass eine einfache Signifikationshermeneutik, der eine Eindeutigkeitsthese zugrunde liegt, wie sie die protestantische Bibelhermeneutik noch bis in die 1780er Jahre vertritt,450 ebenfalls nicht hinreichend für eine Auslegung ist. Im Bild des Wortes als Fächer wird die bei Goethe häufig anzutreffende Metaphorik vom Verhüllen und Offenbaren der Poesie in Anschlag gebracht.451 Die Bildlichkeit des poetischen Wortes ist aber keine, die zur allegorischen Deutung einlädt. Zwei entscheidende Bildfelder werden hier zusammengeführt. Einmal der erkennende Blick, der als momenthaftes Blitzen erscheint und von dessen ungeheurer Bedeutung für Goethes Erkenntnismodell wir wissen, zum anderen das Bild der Geliebten. Das Geheimnis ist für denjenigen offenbar, der sich liebend hinneigt, es offenbart sich dem Liebenden. Im Buch Hafis wird eine Hermeneutik des liebenden Blicks entfaltet, die wahres Verstehen der symbolischen Wahrheit ermöglicht. Die Zurückweisung der allegorischen Hafis-Deutung koinzidiert so auf das Engste mit Goethes Symboltheorie. Darin steht die Allegorie immer noch in enger Anbindung an den Begriff, aus dem sie entstanden ist. Findet sich bei der Allegorie eine eins zu eins Übersetzung zwischen allegorischem Bild und Begriff, also einem letztlich eindeutigen Signifikant-Signifikat Bezug, so fehlt

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Trunz, Goethes Gedicht an Hafis, S. 239f. Diesen Wandel im Werk von Johann Salomo Semler zeigt sehr schön: Gottfried Hornig, Über Semlers theologische Hermeneutik. In: Axel Bühler (Hg.), Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, Frankfurt/M. 1994, S. 192–222. Vgl. auch den Beitrag ebd. von Lutz Danneberg, Sigmund Jacob Baumgartens biblische Hermeneutik, S. 88–157. Eine ähnliche Metaphorik aber auch bei den orientalischen Dichtern selbst. Vgl. den Kommentar MA 11.1.2, S. 492.

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der symbolischen Darstellung diese Eindeutigkeit.452 »Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild und so daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt, und selbst in allen Sprachen ausgesprochen doch unaussprechlich bliebe«.453 Der Dichter sucht im Symbol nicht den bildlich-sprachlichen Ausdruck einer allgemeinen Idee, aus der dann wieder »rückübersetzt« werden kann, das wäre allegorischer Ausdruck, vielmehr durchzieht dieses Allgemeine viele einzelne Besonderheiten. In diesen Besonderheiten, Einzelheiten, drückt sich das Allgemeine immer mit aus. Damit erhält das Symbol eine doppelte Referenz. Einerseits verbleibt es im Besonderen des Wortes, andererseits drückt sich in ihm die allgemeine Idee aus, ohne dass sich diese eindeutig festlegen ließe. Eigenart des Symbols ist vielmehr, dass es lesbar wird nur im individuellen Schauen: »Das ist die wahre Symbolik wo das Besondere das Allgemeinere repräsentirt, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen«.454 Die allegorische Deutung erscheint nur als eine Variante der Eindeutigkeitsthese. Unterschiedliche allegorische Deutungen müssen daher notwendig in einen Widerspruch treten. Das symbolische Verstehen hingegen bewahrt sich die Offenheit. Verstehen gelingt dem, der in Neigung und Hingabe recht auf die Phänomene zu blicken vermag. »Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren.«455 Hier erkennen wir also exakt jene Position wieder, die im Abschnitt über Goethes Kritik der historischen Kritik Wolfs entwickelt wurde. 452

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Eine solche Konzeptualisierung des Symbolsbegriffs entstammt freilich dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert bei Goethe und Coleridge. Gadamer hält an einer grundsätzlichen Unterscheidung von Symbol und Allegorie fest (vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 70). Dagegen versucht Paul de Man (The Rhetoric of Temporality. In: Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. Second Edition, Revised, Minneapolis 1983, S. 187–228; S. 207) die Unterscheidung historisch zu relativieren und die Allegorie gegenüber dem Symbol wieder aufzuwerten, indem er zu zeigen versucht, dass der Allegorie keineswegs eine eins zu eins Entsprechung im Signifikat-Signifikant Bezug zugrunde liegt. »The relationship between the allegorical sign and its meaning (signifié) is not decreed by dogma; […] We have, instead, a relationship between signs in which the reference to their respective meanings has become of secondary importance. But this relationship between signs necessarily contains a constitutive temporal element; it remains necessary, if there is to be allegory that the allegorical sign refer to another sign that precedes it. The meaning constituted by the allegorical sign can than consist only in the repetition […] of a previous sign with which it never coincides, since it is the essence of this previous sign to be pure anteriority.« Goethe, Maximen und Reflexionen. In: FA 13, S. 207. Goethe, Maximen und Reflexionen. In: FA 13, S. 33. Goethe, Entwurf einer Farbenlehre. Vorwort. In: FA Bd. 23.1: Zur Farbenlehre. Hg. von Manfred Wenzel, Frankfurt/M. 1991, S. 14.

In ›Unbegrenzt‹ kommt nun die Tragweite dieser Hermeneutik zum Vorschein. In der liebenden Verbrüderung der Dichter als Zwillinge vermögen sie die historisch-topographische Differenz zu überwinden.456 Auch in den Gedichten des ›Divan‹ finden wir also eine ähnlich komplexe Denkfigur wie in den ›Noten‹. Einerseits wird Hafis als Dichter-Philologe angesprochen, andererseits professionalisierte Deutungsversuche als unbrauchbar zum (eigentlichen) Verständnis zurückgewiesen. Eine Überwindung der zeitlich-räumlichen Distanz ist im produktiven Anschluss des Dichters möglich, so dass vom eigenen Lied gleichermaßen gesagt werden kann: »Denn du bist älter, du bist neuer«. Die Offenbarung der Funktion des Poetischen kann nur im Medium der Poesie selbst erkannt werden, nicht im philologischen Diskurs und nur im eigenen Medium kann sich Poesie ihre Funktion selbst zuschreiben und gegen Ansprüche heteronomer Bestimmung verwahren. Je komplexer die Welt allerdings ist, je weniger vermag der Dichter dieser Funktion in Beschränkung auf sein Genie gerecht zu werden. Als solipistisches Genie drängt er sich und sein Metier ins funktionale Abseits. Signum dieses Verfalls der Stellung der Poesie ist im zeitgenössischen Diskurs die Diagnose eines Wechsels von der Poesie zur Prosa.

Prosa/Poesie Die Diskussion zum Verhältnis von Poesie und Prosa ist für die Goethe-Zeit deswegen so zentral, weil daran die Frage nach der Möglichkeit von Dichtung in der Moderne überhaupt geknüpft ist. Die Unterscheidung zielt daher auch weniger auf eine Präzisierung einer Gattungstypologie. Poesie/Prosa fungiert zunächst als Differenzcode, der poetisches von unpoetischem Sprechen scheidet, also ein Inklusions-/Exklusionskriterium für das literarische System bildet. Wird aber mit dieser Unterscheidung zugleich eine literaturgeschichtliche Verfallsdiagnose verbunden, die die historische Entwicklung als eine Perfektibilitätserzählung des Verstandes begreift, der die Prosa als mediales Substrat korreliert, so führt diese Verschaltung von Funktionscodierung und Geschichtsphilosophie zur Diagnose der Bedrohung des Poetischen, wie sie von Hegel bis Adorno als Abgesang vom Ende der Kunst in der bürgerlich-rationellen Gesellschaft vorgetragen wird. Die frühromantischen Versuche einer ›Theorie der Prosa‹ wie ihre Forderung nach 456

Interessant, dass am Ende der ›Wanderjahre‹ das wahre Erkennen bzw. Verstehen zwischen Vater und Sohn, Wilhelm und Felix ebenfalls über das Bild der Verbrüderung dargestellt wird. »Mit diesen Worten fiel er dem erkennenden und erkannten Retter um den Hals und weinte bitterlich. So standen sie festumschlungen, wie Kastor und Pollux, Brüder, die sich auf dem Wechselwege vom Orkus zum Licht begegnen.« Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. In: FA Bd. 10. Hg. von Gerhard Neumann und Hans-Georg Dewitz, Frankfurt/M. 1989. Im Folgenden zitiert mit ›Wj1‹ für erste Fassung von 1821 und ›Wj2‹ für die zweite Fassung von 1829. Hier Wj2, S. 745.

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einer die Gattungsbestimmungen überschreitenden Poesie sind Antworten auf dieses Problem. Wollte man einerseits das perfektible geschichtsphilosophische Konzept nicht aufgeben, andererseits aber der Dichtung nicht nur ein Hintertürchen offenhalten, sondern ihr eine fundamentale gesellschaftspolitische Integrationsfunktion zuschreiben, so war aufzuzeigen, dass auch in der Moderne und für die Prosa die Attribuierung ›poetisch‹ möglich bleibt. Es musste darum gehen, die Poesie in das Medium der Prosa einzutragen. Nichts anderes meint die Rede von der (romantischen) Gattungsvermischung. Selten ist das Problem und eine Lösung präziser formuliert worden als in einem langen programmatischen Brief Wilhelm von Humboldts an F. A. Wolf vom 5. Januar 1796. Humboldt bezieht sich darin auf eine ihm von Wolf übersandte, nicht mehr erhaltene Vorlesungsmitschrift seiner 1790 gehaltenen Vorlesung zu Aristoteles’ ›Poetik‹ und den darin vorgenommenen Versuch einer Scheidung der Gattungen. Zunächst pflichtet Humboldt Wolf bei, »Gattungen gehörig zu sondern«.457 Auch die geschichtliche Darstellung der Bedeutung der Poesie bei den Griechen findet seine Zustimmung. Nun aber kritisiert Humboldt Wolfs methodisches Vorgehen scharf, indem er ihm eine unzulässige Vermischung von historischer und systematischer Entwicklung des Poesiebegriffs vorhält. Er will die geschichtliche »Untersuchung von der allgemeinen Bestimmung des Wesens der Poesie lieber getrennt als beide verbunden«458 sehen. Mit Rekurs auf Schiller und Kant präsentiert Humboldt eine Bestimmung des Poetischen, die die Tätigkeit der »produktiven Einbildungskraft des Dichters« mit der »Einbildungskraft des Hörers« korreliert.459 Die Bewegung des Geistes auf der Produktionsseite überträgt sich auf den Rezipienten. In der Mitte steht das Werk, dem dann diese Bewegung als Textphänomen zugeschrieben wird.460 Humboldt entgeht auf diese Weise Definitionsversuchen, die die Poesie etwa über das Fiktionskriterium als »Erdichtung« zu bestimmen suchen, wie es in der Gattungsdiskussion über den Roman im Anschluss an die Unterscheidung von Dichtung und Historie bei Aristoteles geschehen war. Der Grund dieser Zurückweisung liegt für Humboldt aber nicht darin, dass historisch »nicht jede Poesie z.B. die didaktische, die ältesten Sänger […] usw. aus Erdichtungen zusammengesetzt« sei, sondern an der Koppelung des Poesiebegriffs mit der produktiven Einbildungskraft. »Aber gewiß ist doch jede wahre Poesie schlechterdings nichts andres,

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Wilhelm von Humboldt, Briefe an Friedrich August Wolf. Textkritisch hg. und kommentiert von Philip Mattson, Berlin – New York 1990, S. 139. Vgl. ebd., S. 464 den Kommentar zum Manuskript Wolfs. Humboldt, Briefe an Wolf, S. 139. Beide ebd., S. 139. Zur Begründung dieser komplexen Figur bei Kant siehe. Vf., Vom Wirken des Geistes. Zu Humboldts Theorie der Einbildungskraft und seine Kant-Rezeption siehe Vf., Wilhelm von Humboldts Poetik des Wissens.

als ein Werk der Einbildungskraft, und selbst angenommen, daß Homer jeden Umstand, den er sang, buchstäblich für wahr hielt, so war dennoch eigentlich seine Phantasie die schöpferische Kraft.«461 Humboldt aber ist weit entfernt über eine anthropologische Bestimmung der Bewusstseinsvermögen, die Dichtungen von Alten und Modernen differenzlos zur Poesie zu erklären. Auch er hält an einer grundlegenden Differenz zwischen beiden fest, verändert aber nun die Verschaltung von historischer und systematischer Argumentation gegenüber Wolf auf eine entscheidende Weise: Die Vermögen und ihre Relation untereinander sind nicht konstant, sondern historisch variabel. Humboldt kehrt die Argumentationsführung um. Nicht aus den historischen Phänomenen wird ein Begriff von Poesie abgeleitet, sondern diese aus einem vorgegebenen bewusstseinstheoretischen Begriff erklärt, der nun selbst historischer Varianz unterworfen ist. Der Unterschied der ältesten und neuesten Sänger hierin scheint mir nemlich der: jene bringen noch schlechterdings mit der vereinten Kraft ihres Gemüthes hervor, ihre Phantasie ist nicht nur noch nicht von den übrigen Seelenkräften (so daß diese rein und für sich zu handeln vermöchten) geschieden, sondern sie hat auch überhaupt vor allen die Oberhand. Daher kann es jenen Sängern noch nicht einfallen historische Wahrheit und poetische Dichtung entgegenzusetzen, oder wenigstens nicht diese Entgegensetzung scharf und rein durchzuführen, und insofern wird jeder Stoff unter ihrer Behandlung (d[urch] Phantasie) dichterisch.462

Diese Denkfigur ermöglicht es Humboldt, einerseits historische Unterschiede zu erklären, andererseits den Begriff des Poetischen nicht auf eine Epoche zu beschränken, wie er es Wolf vorhält. Zunächst aber scheint auch diese Vorgehensweise zu der oben beschriebenen Opposition von Poesie und Prosa im Zeichen einer poetischen Verfallsgeschichte zugunsten einer prosaisch-rationellen Erfolgsgeschichte zu führen. Sobald aber, bei wachsender Cultur, die Phantasie entweder der philosophirenden Vernunft, oder der historischen Urtheilskraft Freiheit läßt, unabhängig und für sich thätig zu seyn, so wird der Geist einer Nation, wenn auch vielleicht noch nicht ihre Sprache […] prosaisch. Sie ist es jetzt nur bei eignen veranlassenden Gelegenheiten, und müßte eigentlich, wenn man sich eine idealisch fortschreitende Kultur denkt, sich immer weiter von der Prosa entfernen.463

Das aber ist nicht zwingend der Fall. Die alte Poesie stehe zwar aufgrund ihrer Sinnlichkeit der Musik nahe und erscheine daher so metrisch vollkommen, die moderne Dichtung hingegen hat diese Sinnlichkeit eingebüßt und verweigert sich der metrischen Behandlung weit stärker als jene, und doch kann aufgrund der Elastizität der Sprache – Humboldt meint ausdrücklich das Deutsche – Poe-

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Alle Humboldt, Briefe an Wolf, S. 139. Ebd., S. 140. Ebd.

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sie möglich werden. War früher die Lebenswelt durch und durch harmonisch gestimmt und daher das Verhältnis der Bewusstseinsvermögen per se produktiv ausgerichtet, so erscheint auch die Sprache als Ausdruck dieses poetischen Weltverhältnisses. Heute ist es die Versalität der Sprache selbst, die es ermöglicht, auch bei Veränderung dieser Verhältnisse, die Bewegung der Bewusstseinskräfte nachzuvollziehen. Sie ist »ihrer Materie und ihrer grammatikalischen Form nach, so reich, so dichterisch, so bestimmt, und so geschmeidig zugleich, daß sie sich auch den feinsten Wendungen der Phantasie und des Gefühls und dem mannigfaltigsten Periodenbau anschmiegt.«464 Solcherweise ermöglicht die deutsche Sprache für Humboldt die Bewegungsübertragung vom Bewusstsein, der Seele, des Herzens auf den literarischen Text, der, obwohl nicht mehr metrische Poesie, sondern Prosa, poetisch zu sein vermag: poetische Prosa, die »eigentlich kein so großer Verlust ist«. Mit griechischen Sinnen und Organen wäre poetische Prosa eine wahre Sünde gewesen. Mit der Römischen Sprache, wo die Sünde, dünkt mich, kleiner geworden seyn würde, war sie nicht möglich. […] Unsere Sprache hält die Mitte. Überhaupt sehe ich die deutsche Sprache, so wie die Nation gern von dieser Seite an. […] An sinnlicher Vollkommenheit steht sie der Griechischen bei weitem nach, aber sie behauptet einen großen Vorzug vor ihr durch zwei recht eigentlich menschliche Eigenschaften 1., im Ausdruck für den Gedanken (die Philosophie) 2., im Ausdruck für die Empfindung, insofern sie nicht sowohl ein Werk der Sinne und Phantasie, als desjenigen ist, was wir Herz nennen.465

Damit wehrt Humboldt, wie auch Schlegel, eine gradlinige Verfallsgeschichte der Moderne ab und trägt die Poesie wieder in sie ein, wobei er sich sehr bewusst ist, dass dies Wolfs streng historischen Ansatz, wie er dann bei Jacob Grimm wieder begegnet, zuwiderläuft. Humboldt ist bemüht, die Wertschätzung des Historischen und die Möglichkeit einer Poesie in der Moderne wieder vereinbar zu machen. Er ordnet die poetische Prosa denn auch dezidiert den spezifisch modernen Gattungen Roman und Trauerspiel (nicht Tragödie!) zu. Damit löst er den zu Beginn des Briefes erhobenen Anspruch ein, die Poesie nicht mehr über den Fiktionsbegriff in Abgrenzung gegen eine korrespondenz- oder kohärenztheoretische Wahrheitsdefinition zu bestimmen, mit der die Aufklärung versucht hatte, den Roman innerhalb des Gattungssystems der Dichtung zu legitimieren, und geht auch einen gehörigen Schritt über Schiller und dessen Ablehnung des Romans als poetische Gattung hinaus.466

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Ebd., meine Hervorhebung. Ebd., S. 141. Humboldt nennt im Brief selbst den ›Werther‹, wird aber den ›Wilhelm Meister‹ ebenso im Blick gehabt haben, dessen fünftes und sechstes Buch er im Herbst 1795 gelesen hatte. Im Brief vom 4. Dezember 1795 an Schiller bringt er die Beurteilung dieser Bücher mit seiner Theorie der Einbildungskraft zusammen. Vgl. Der Brief-

Die Poesie/Prosa-Unterscheidung wird auch von Goethe in den ›Noten‹ ein weiteres Mal aufgenommen – im Abschnitt ›Vergleichung‹.467 Auch hier wird keineswegs nur eine pejorative Rede von der Prosa geführt. Die übliche Wertung scheint sich eher zu verdrehen. Zwar hält auch Goethe die Prosa weiterhin für einen defizitären Schreibmodus, die kategoriale Unterscheidung eines poetischen und prosaischen Verfahrens, die Goethe hier zunächst vornimmt, wird aber doch sukzessive zurückgenommen. Was als Prosa erscheint, kann durch eine linguistisch-stilistische Analyse des Poesiebegriffs als Variation von Poesie verstanden werden.468 Der Poet begegnet den »größten Hindernissen«, wohingegen der Prosaist »die Ellebogen gänzlich frey«469 hat. Dieser Freiheit bedarf aber der Dichter, um »im verklausulirten, zersplitterten Zustand« »seiner Epoche geistreich zu seyn«.470 Die Stichwortliste der Jean Paulschen Neologismen zeigt an, dass dessen Orientalität in der Gewinnung einer modernen Prosa-Poesie besteht, die in der Lage ist, die »seltsamsten Elemente« der »vertrakten Welt«471 darstellerisch zu beherrschen. Prosa steht hier für den realistischen Teil der Darstellung. Prosa sagt, was die Sache ist. Realismus ist dabei freilich nicht im Sinne von mimetischer Abbildung zu verstehen. Die Jean Paulsche Begriffsliste, die Goethe aus dessen ›Hesperus‹ exzerpiert,472 soll die realistische Erdung dessen Poesie anzeigen, die aber im Fragmentarisch-digressiven gebrochen bleibt und genau in dieser Verschaltung der orientalischen Poesie nahekommt. In Abschnitt ›Vergleichung‹ zeigt sich kein Heimweh nach einer ursprünglichen Welt, in der allein die echte Poesie möglich ist. Es konnte, damit stellt Goethe sich gegen weitverbreitete orientalische Ursprünglichkeitsphantasien, »selbst in der ersten besten Epoche persischer Dichtkunst, keine vollkommenreine Naivität statt finden«,473 da der Dichter dort immer schon in alle Weltverhältnisse eingebunden war. An dieser bedeutenden Stelle werden zwei Opti-

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wechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt. Hg. von Siegfried Seidel. 2 Bde., Berlin 1962, Bd. 1, S. 246–250. Dazu insgesamt siehe die so scharfsinnige Studie von Hendrik Birus, Vergleichung. Goethes Einführung in die Schreibweise Jean Pauls, Stuttgart 1986. Birus (Vergleichung, S. 66–73) lehnt den Vermischungsbegriff ab und schlägt als Alternative ›Überformung‹ der Prosa durch Poesie vor. Das mag man zugestehen. Mit Blick auf Schlegels Theorie der Prosa kann ich aber in diesem Konzept keinen fundamentalen Gegensatz zu der frühromantischen Idee der Verschaltung von Poesie und Prosa erkennen, die Birus aber weiterhin konzediert. Wieder begegnen wir einem alten Problem: Prosa ist nicht gleich Prosa und Romantik nicht gleich Romantik. Zu einer systematischen Rekonstruktion der Poesie/Prosa Verschaltung siehe Greber, Textbewegung/Textwebung, S. 24–48. FA 3.1, S. 203. FA 3.1, S. 203. FA 3.1, S. 202. Vgl. Birus, Vergleichung, S. 30ff. FA 3.1, S. 182.

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onen dichterischer Existenz eröffnet: a) der naive Dichter, der ganz in Natur aufgeht, sich von gesellschaftlichen Zumutungen unbehelligt sieht und den Verkehr mit ihr meidet, um seine Kunst ganz zu isolieren; b) der Dichter, der in der Welt lebt und wirkt, und der Dichtung in ihr Geltung und Funktion zu geben sucht. Diese Optionen sind bei Goethe historisch gedacht. Die Option a) einer naiven Dichterexistenz ist für ihn schlicht nicht mehr gegeben. Die Rede vom Weltverkehr und die Parallelisierung von ökonomisch-wissenschaftlichem und poetischem Diskurs, wie sie in den ›Noten‹ zu beobachten ist, bedeutet zugleich Gefährdung und Chance der Position der Dichtung und des Dichters. Will er seine Stellung nicht räumen, dann wird sich seine Kunst auf einen Handelsverkehr mit der Welt einlassen müssen (Prosa) und zugleich ihre Autonomie (Poesie) behaupten müssen (Prosa-Poesie). Systemtheoretisch gesprochen: sich der Gesellschaft als eigenes Funktionssystem mit Leistungen anbieten oder in ihr keinen Platz mehr finden.

Poetische Einheit Der Durchgang durch die Epochen der orientalischen Dichtkunst hat deutlich gemacht, dass eine sich verändernde Welt je neue Formen literarischer Darstellungsweisen erfordert. Will der Dichter seine Stelle als erster Chronist nicht aufgeben bzw. neu behaupten, so bedarf es angemessener Schreibverfahren zur Darstellung dieser vertrackten Welt. Der moderne Autor kann und muss sich dafür nicht nur der gesamten literarischen Tradition bewusst sein und über sie stilistisch herrschen können, sondern über das Vokabular aus »Kunst, Wissenschaft, Technik, Politik, Kriegs- und Friedensverkehr«474 verfügen. Goethe formuliert in ›Vergleichung‹ eine Poetik der Moderne und gibt eine erste Antwort auf die ihn umtreibende Frage, wie selbst unter den Bedingungen einer sich radikalisierenden Modernisierung und Zersplitterung nicht nur dichterisches Schreiben möglich bleibt, sondern welche soziale Funktion Dichtung noch übernehmen kann.475 Stellt Goethe die kulturelle Erinnerungsarbeit der orientalischen Dichter heraus, die historische und nationale Einheit zu stiften vermag,476 so ist dies nach den Napoleonschen Befreiungskriegen 1813 auch als gegenwartspolitische Äußerung zu lesen, die ihm als »Dichterfürst«, dessen Beschreibung im

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FA 3.1, S. 203. Damit ist, wie Birus (Vergleichung, S. 20–23) zeigt, eine Abkehr Goethes von seinen antimanieristischen Positionen verbunden, wie er sie vor allem in der Zeit des Briefwechsels mit Schiller vertrat. Zuzuspitzen wäre: Eine Abkehr Goethes von einem klassizistischen Purismus, den er freilich nie, zumindest nicht in seinen poetischen Werken, konsequent vertreten hat. Eine Abkehr, die auch eine Hinwendung zu frühromantischen Schreibverfahren bedeutet. Vgl. FA 3.1, S. 164.

gleichnamigen Abschnitt ja ziemlich genau auf Goethe und seine Tätigkeiten in Weimar zutrifft, eine integrative Funktion zuschreibt. Aber auch hier zeigt sich Goethe ganz als Realist. Der moderne Dichter – und sei er auch Dichterfürst wie Goethe selbst – wird den vertrackten Weltzustand nicht überwinden können, doch sein so begabter Geist blickt, munter und kühn in seiner Welt umher, erschafft die seltsamsten Bezüge, verknüpft das Unverträgliche, jedoch dergestalt daß ein geheimer ethischer Faden sich mitschlinge, wodurch das Ganze zu einer gewissen Einheit geleitet wird.477

Die Einheit der Moderne wird daher auch nicht in der klassisch durchformten Gestaltung sichtbar, sondern erweist sich als eine innere Einheit des Fragmentierten, die je erst zu entdecken und zu entwickeln ist. Damit ist auch die Form der ›Noten‹ selbst beschrieben, die sich formal als »abgerissene Noten« darstellen. Versagt das »Register« als paratextuelle Rahmung in seiner einheitsstiftenden Funktion, die die »Einleitung« verspricht, ist überdem die Referenz zwischen ›Noten‹ und ›Haupttext‹ alles andere als eindeutig und wird dennoch behauptet, hier läge ein »selbständiger Text« vor, dann kommt dies den Schlegelschen Ideen von epischer Einheit sehr nahe. In ›Unbegrenzt‹ führt Goethe, dies ist, soweit ich sehe, bisher nicht bemerkt worden, exakt jene formale Beschreibung der Hafischen Werke ein, die Schlegel für die Homerischen Epen nach der Wolfschen Lektüre in ›Über die Homerische Poesie‹ aufgestellt hatte. Schlegel hatte für diese den aristotelischen Einheitsbegriff zurückgewiesen. Zur Erinnerung sei die Passage noch einmal zitiert: Die reine dichterische Erzählung […] kennt ihrem Wesen nach weder Anfang noch Ende. […] Er [Homer, mb] erregt nämlich keine bestimmte Erwartung nach der Entwicklung eines Keims, der Auflösung eines Knotens, der Vollendung einer Absicht […]. Im epischen Gedicht ist eigentlich keine Verwicklung und Auflösung.«478

In ›Unbegrenzt‹ heißt es von Hafis ganz analog: Daß du nicht enden kannst das macht dich groß Und daß du nie beginnst das ist dein Loos. Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe, Anfang und Ende immerfort dasselbe, Und was die Mitte bringt ist offenbar, Das was zu Ende bleibt und Anfangs war.479

Einheit stellte sich bei Schlegel als Lektüreeffekt dar. Ganz ähnlich formuliert Goethe, wenn er »die fragmentarisch durcheinander geworfenen, übereinander 477 478 479

FA 3.1, S. 202. KSA I, S. 124f. FA 3.1, S. 31.

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geschobenen Gedichte« des Buches Ruth im ›Alten Testament‹ als philologischen Stimulus zur wiederholten Lektüre und Verknüpfung beschreibt. »Wie oft sind nicht wohldenkende, ordnungsliebende Geister angelockt worden irgend einen verständigen Zusammenhang zu finden oder hinein zu legen und einem folgenden bleibt immer dieselbige Arbeit«.480 Die Bibel, die Homerischen Epen und Hafis Werk werden so unter den gleichen Einheitsbegriff gestellt und erfordern eine ähnliche Lektürebewegung der »Konstruktion der (ästhetischen) Einheit ex post«.481 Eine philologisch-kritische Lektüre, unmittelbar zuvor wurde mit Eichhorn der einflussreichste Bibelphilologe der Zeit genannt, aber steht für Goethe stets in Gefahr, die Poetizität der Texte zu zerstören, die eben in ihrer Unauflöslichkeit besteht. »Mehrmals gedachten wir aus dieser lieblichen Verwirrung einiges herauszuheben, aneinander zu reihen; aber gerade das Räthselhaft-Unauflösliche giebt den Blättern Anmuth und Eigenthümlichkeit.« Direkt nach der ›Einleitung‹, die Verständlichkeit zur ersten Pflicht erhoben und die Aufhellung aller dunkler Stellen versprochen hatte, wird nun im ersten Kapitel ein solch philologischer Ansatz zurückgewiesen bzw. ins rechte Licht gerückt. Auch die philologische Lektüre wird nicht auf den von Barby erhofften eindeutigen Sinn führen, der als Alternative zur formalen, immerhin semiotische Einheit stiften könnte. Das Archebuch der westlichen wie der östlichen Kultur, zu der die Bibel erklärt wird, ist Anweisung einer immer neu ansetzenden, suchenden Lektürebewegung, »daß es uns deßhalb gegeben sey, damit wir uns daran, wie an einer zweiten Welt, versuchen, uns daran verirren, aufklären und ausbilden mögen.« Als »Buch aller Bücher« und in der Anspielung auf Bodmer und Breitingers Bestimmung der Dichtung als ›zweiter Welt‹, insbesondere des Romans als ›alternativer Welt‹, gerät die Poesie selbst zum Ort von Aufklärung und Bildung und desavouiert den philologischen »Wahn«, »durch eine ausführliche paraphrastische Behandlung«482 für das Verstehen einen Gewinn ziehen zu können. Die philologische Stimme der ›Noten‹ wendet sich bereits in deren erstem Abschnitt gegen sich selbst. Diese Polemik setzt sich im Abschnitt ›Geschichte‹ fort, wenn erneut Poesie gegen Philologie gestellt wird: »Auch hat sich das Dichterisch-mährchenhafte jener überbliebenen Momente nach und nach, durch Bemühung der Kenner, zur historischen Prosa herabgestimmt.«483 Damit ist keineswegs die von v. Hammer beschriebene Entwicklung innerhalb der persischen Literaturgeschichte von Poesie zur Prosa gemeint. Der Verweis auf die »Bemühung der Kenner« stellt eine Spitze gegen viele jener Autoren dar, die Goethe für sein Quellenstudium herangezogen hatte. Die Degradierung des Poetischen erscheint als Ergebnis 480 481 482 483

336

Beide FA 3.1, S. 140f. Danneberg, Ganzheitsvorstellungen, S. 280. Alle FA 3.1, S. 141. FA 3.1, S. 157.

der historisch-kritischen Bemühungen der philologischen Kenner – Birus verweist etwa auf Du Perrons Übersetzung der ›Awesta‹ des Zarathustras (1771), de Sacys Entzifferung mittelpersischer Inschriften und Münzen und die Arbeiten Georg Friedrich Grotefends (1775–1853),484 – aber auch gegen v. Hammers Literaturgeschichte selbst, deren positive Einschätzung etwa der Bau- und Kunstgeschichte der Perser Goethe in diesem Abschnitt explizit zurückweist. Abseits von Differenzen in Details zeigt sich aber erneut ein grundlegender Unterschied im Umgang mit der Tradition an. Die Fachphilologie, das wurde oben gezeigt, verstand sich vornehmlich als historische Wissenschaft, der es weniger um den ästhetischen Wert ihrer Objekte als um deren historisch-heuristische Verwertbarkeit zutun war. Wurde die ästhetische Valorisierung immer dann angeführt, wenn es einen Bildungsanspruch zu legitimieren galt,485 so werden die Texte der literarischen Tradition ansonsten »als schriftliche Zeugnisse« betrachtet, »um irgend ein historisches Faktum daraus zu beweisen, oder uns selbst von der Wahrheit desselben zu überzeugen«, wie Barby in seiner ›Encyklopädie‹ schreibt. Der Sinn und Zweck philologischer Textkritik ist historische Heuristik,486 da »jedes auf eine solche Weise verfälschtes Zeugniß viel von seiner Glaubwürdigkeit verliert.«487 Entsprechend wird die Unterscheidung zwischen propositionaler und poetischer Rede als eine zwischen historischer und allegorischer Auslegung getroffen. Spricht bei jener die unmittelbare historische Wahrheit aus den Zeugnissen, so muss diese in hermeneutischer Arbeit durch den Ausleger sorgfältig heraus präpariert werden. Der historische Sinn verbirgt sich hinter der allegorisch-rhetorischen Figuralität, die dazu diene, diesem »eine gewisse Erhabenheit«488 zu verleihen. Hermeneutik ist bei

484 485 486

487

488

Vgl. FA 3.2, S. 1436. Vgl. § 2 »Vom Nutzen dieses Studiums« bei Barby, Encyklopädie, S. 9–22. Entsprechend werden grammatische und historische als philologische Interpretation von der ästhetischen Auslegung, die Barby aber immerhin nennt, abgetrennt. Vgl. Barby, Encyklopädie, S. 232f. Alle Barby, Encyklopädie, S. 213f. Vgl. auch ebd., S. 146. Hier hat auch die protestantische historische Bibelkritik ihren Ansatzpunkt, die, obwohl ja an den sensus litteralis verwiesen, zuallerst die Echtheit dieser Buchstaben erweisen muss, bevor deren sensus verbindlich werden kann. So schreibt Johann Salomo Semler in seiner Lebensbeschreibung 1782 rückblickend über seine Zurückweisung einer wortwörtlichen providentia dei: »indem ich […] das Abschreiben aber und das Drucken der Bibel für eben dieselbe Arbeit hielte, als wenn Abschreiber und Drucker den Plato oder Horatius in Arbeit nahmen. Eine besondere außerordentliche Regierung und Aufsicht Gottes bei solcher Arbeit des Abschreibens zumal des Neuen Testaments, kann nur derjenige behaupten, der die wirklich Welt aus seinem Kopf abhängen läßt.« Johann Salomo Semler, Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt. 2 Theile, Halle 1781/82; 2. Theil, S. 125. Vgl. den Abschnitt ›Wie findet man den Sinn einer Stelle?‹ Barby, Encyklopädie, S. 244–250; S. 247.

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Barby das Bemühen, einen Text seiner ästhetischen Verkleidung zu entblößen und zur historischen Wahrheit durchzustoßen.489 Wenn in den ›Noten‹ also das »Dichterisch-mährchenhafte« gegen die »historische Prosa« der Philologen gestellt wird, dann wird ein anderer Modus der Tradierung erkennbar und zwar »vom Standpunkte der Poesie«.490

Kritik Gegen die bisher erfolgte Argumentation dürfte vor allem ein Einwand vorzubringen sein: Wenn in den ›Noten‹ tatsächlich der Deutungsanspruch der Dichtung über die Dichtung zurückgewonnen werden soll und wenn durch die Unterminierung der Poesie/Prosa-Unterscheidung zugleich der Schreibmodus präsentiert wird, der dies in der Moderne leisten soll, dann fragt es sich, wieso ein Kapitel wie ›Israel in der Wüste‹ in den Text hineinkommt, das geradezu ein Muster an historisch-kritischer Lektüre abgibt und die alttestamentarische Überlieferung, deren dichterisch-märchenhafte Züge eben noch verteidigt wurden, exakt zur historischen Prosa herabstimmt. Gegen Ende des Abschnitts führt Goethe nämlich ein Argumentationsmuster ein, wie es etwa Johann Salomo Semler zur Legitimation einer historisch-kritischen Bibelauslegung gegen eine lutherisch-orthodoxe Auslegung, für die »der ausdrückliche Buchstabe der heiligen Schrift«491 allein zählt, in Anschlag gebracht hatte. Kein Schade geschieht den heiligen Schriften, so wenig als jeder anderen Ueberlieferung, wenn wir sie mit critischem Sinne behandeln, wenn wir aufdecken, worin sie sich widerspricht, und wie oft das Ursprüngliche, Bessere, durch nachherige Zusätze, Einschaltungen und Accomodationen verdeckt, ja entstellt worden.492

489

490 491

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Vgl. den schönen Dreischritt: »1) Jedes Wort muß eine Vorstellung bezeichnen, oder eine Bedeutung haben. 2) Mehrere miteinander in Verbindung stehende Wörter müssen einen Satz bilden, und also einen Gedanken enthalten. Dies nennen wir den Sinn derselben. 3) Ein Satz kann in der Regel nur einen wahren Sinn haben.« Barby, Encyklopädie, S. 239f. FA 3.1, S. 157. FA 3.1, S. 239. Das ist die hier bezeichnete Frontstellung und nicht etwa die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, wie Nicoletti (Übersetzung als Auslegung, S. 212) meint, die eine eng am Text verfahrende Auslegung ja eben nicht anvisiert und mit der die protestantische Hermeneutik nichts anfangen konnte. Wenn in ›Israel in der Wüste‹ auf die symbolische Bedeutung von Zahlen verwiesen wird, dann wird diese Bedeutung ja genau historisch-kritisch erklärt, nicht gedeutet und daher kein übertragener eigentlicher Sinn der Schrift behauptet. Die Analyse des ›Gerichtsverfahens‹ im ›Buch Hafis‹ hatte ja überdem die Abweisung einer allegorischen Deutung gezeigt. Hier liegt Nicoletti gänzlich falsch. Ich kann auch nicht erkennen, dass eine Parallele zur dritten Übersetzungsepoche vorliegen soll. Vgl. ebd., S. 216ff. FA 3.1, S. 247.

Dieses Bekenntnis zu einer historisch-kritischen Lektüre könnte also einmal mehr die ›Noten‹ als philologischen Text ausweisen. Aber auch diese philologische Stimme wird in ihrem Status narrativ relativiert. Der Text steht, erstens, ziemlich deplaziert im ›Divan‹ und trägt zu dessen Erläuterung nichts bei, ist aber dabei der längste Abschnitt in den ›Noten‹. Er steht zwischen der Ankündigung eines künftigen Divans und dem Kapitelblock, der Referenzautoren und Bezüge benennt, wenn man will, also zwischen poetischer und philologischer Rede innerhalb der ›Noten‹. Eingeleitet wird der Text durch eine kurze biographische Reminiszenz des Verfassers, der ›Israel in der Wüste‹ als Zufallsfund während der Redaktionsarbeit ausgibt: »da find’ ich denn einen Aufsatz, vor fünf und zwanzig Jahren geschrieben, auf noch ältere Papiere und Studien sich beziehend«.493 Damit wird der Geltungsanspruch des Folgenden wenn nicht gänzlich zurückgenommen, so doch relativiert. Die Abhandlung wird als Jugendschrift vorgestellt, die »wunderliche Resultate« vorstelle. Am 12. April 1797, also in der Tat etwa 25 Jahre vor der Publikation der ›Noten‹ 1819, berichtet Goethe Schiller von seiner Vermutung, dass die im ›Alten Testament‹ überlieferte Zahl von 40 Jahren für den Zug der Israeliten ins Heilige Land »erst eine spätere Erfindung« sei und er »gelegentlich, in einem kleinen Aufsatz, mitteilen« wolle, »was mich auf diesen Gedanken gebracht hat.«494 Schiller antwortet am 14. April: »Ihre Entdeckungen in den 5 Büchern Mosis belustigen mich sehr«.495 Goethe repliziert am 15. April: »Meine kritisch historisch-poetische Arbeit geht davon aus: daß die vorhandenen Bücher sich selbst widersprechen und sich selbst verraten«496 und bezeichnet das Unternehmen als »Spaß« und Spiel. Der Aufsatz wird so irgendwo zwischen Historie, Poesie und Philologie verortet und in seiner Ernsthaftigkeit ähnlich relativiert wie der Abschnitt ›Alt-Testamentarisch‹. Wichtig erscheint mir hier vor allem der Hinweis auf das Spiel. In einer kurzen Notiz,497 entstanden um 1811 und damit in zeitlicher Nähe der Vorbereitungen zum ›Divan‹, die, obwohl in keinem Bezug zum publizierten Text stehend, den Paralipomena von ›Dichtung und Wahrheit‹ zugeschlagen wird,498 entwickelt Goethe ein Schema verschiedener Arten von Kritik, das mit der hier vorgestellten These konvergiert. Goethe unterscheidet dort eine »affirmative«, eine »negative« und eine »ästhetische« Kritik. Diese drei Kritikarten weisen eine gewisse Ähnlichkeit zur Typologie in ›Uebersetzun493 494 495 496 497 498

FA 3.1, S. 229. MA 8.1, S. 326. MA 8.1, S. 327. MA 8.1, S. 329. Vgl. Goethe, Dichtung und Wahrheit. Paralipomena. In: FA 14, Nr. 39, S. 940. In der Frankfurter Ausgabe wird der Text auf 1812/1813 datiert. Die Weimarer Ausgabe hingegen sieht ihn vor 1812, da er in der Handschrift des älteren John überliefert ist. Die Herausgeber fanden ihn in den Papieren zu ›Dichtung und Wahrheit‹, daher die Zuordnung. Vgl. WA I.53, S. 378.

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gen‹ auf. Die affirmative Kritik vermag mit »Kenntnis und Bemerkung der Zeit und Ort Unterschiede […] uns durch Darstellung einer entfernten Wirklichkeit der Sache näher« zu bringen. Insofern arbeitet sie der prosaischen Übersetzung zu. Die negative Kritik, sucht uns »das wahrhaft inkongruente solcher Schriften deutlich zumachen.« Sie ist deutlich als fachphilologische Textkritik zu erkennen: »Diese wird meistens den Buchstaben anfechten und allenfalls Anachronismen und Anatopismen hervorheben.« Affirmative wie negative Kritik werden keineswegs gänzlich abgewertet. Beiden wird eine, wenn auch beschränkte, Leistung zugesprochen. Diesen beiden Arten der Kritik wird nun die ästhetische Kritik gegenüber gestellt, die, ähnlich der dritten Übersetzungsart, die anderen übersteigt und mit eindeutig positiven Valorisierungen markiert wird. Es gibt noch eine dritte Kritik, welche ich die ästhetische nennen möchte. Sie nimmt alles Überlieferte als poetisch an, läßt das Wahrscheinliche gelten, ohne sich um das Wahre genau zu bekümmern; sie gesteht eine innere Wahrheit den Produktionen zu und erleuchtet die Geschichte aus den alten Denkmalen, anstatt sie darauf zu gründen. Diese Maxime kommt der unsrigen überein, nur das sie das ganze Geschäft als Spiel behandelt, indem wir es sowohl um des Gemüts, als um des praktischen Lebens willen, ernsthaft zu nehmen geneigt waren.499

Die dritte Art von Kritik betrachtet die Überlieferung also ganz vom Standpunkt der Poesie. Als Kritik kann sie allenfalls Spielcharakter für sich beanspruchen, für den Dichter aber scheint sie für sein Verhältnis zur Überlieferung konstitutiv zu sein. Meine These ist, dass in ›Israel in der Wüste‹ ein solch ernsthaftes Spiel gespielt wird, indem sowohl die erste wie die zweite Kritikart einerseits vorgeführt, andererseits unterlaufen wird. Die ›Noten‹ insgesamt sind als Form der dritten Kritik zwischen Ästhetik und Kritik, Poesie und Philologie situiert. Die ›Einleitung‹ hatte die ›Noten‹ als Mittel zu besserem Verständnis des ›Divan‹ angekündigt und wir haben bereits an verschiedenen Punkten gesehen, wie dieser Anspruch mehr und mehr unterlaufen wird, und die philologischen Noten eben zu einem ›kritisch historisch-poetischem Spiel‹ wurden. Mit ›AltTestamentliches‹ wird dies allzu deutlich, denn hier wird die Ernsthaftigkeit des hermeneutischen Unternehmens insgesamt in Zweifel gezogen. Der Verfasser habe sich »mit der süßen Hoffnung geschmeichelt« zukünftig für den ›Divan‹ und die »Erklärungen« etwas leisten zu können. Dazu aber scheint ihm nun die rechte Lust vergangen zu sein. Inmitten der »Vorarbeiten, die ungenutzt und unausgeführt, in zahllosen Blättern« vor ihm liegen, findet er nun den alten Aufsatz gleichsam als Ersatz für die erhofften Erklärungen und fügt ihn hier ein. Das Plädoyer für eine philologische Durchmusterung des Textes, das sich im Abschnitt ›Israel in der Wüste‹ findet, wird vermittels der narrative Einrahmung durch den Abschnitt ›Alt-Testamentliches‹ ironisiert. Verglichen mit allen ande-

499

Alle FA 14, S. 940.

340

ren Abschnitten der ›Noten‹ fällt er überdem als heterogenes Element auf. Diese Heterogenität der philologischen Abhandlung zeigt im Umkehrschluss an, dass die ›Noten‹ eine solche eben nicht sein wollen. Was aber dann? Schauen wir genauer auf die Darstellung des Abschnitts, dann wird neben der philologischen überraschend eine zweite, poetologische Bezugsebene sichtbar. Zunächst: Die Methodik seines argumentativen Vorgehens schildernd wird in ›Israel in der Wüste‹ eine Definition der Poesie bzw. von ›Erzählung‹ gegeben. »Um mich nun in diesem Labyrinthe zu finden, gab ich mir die Mühe, sorgfältig zu sondern, was eigentliche Erzählung ist, es mochte nun für Historie, für Fabel, oder für beides zusammen, für Poesie gelten.«500 Dichtung ist die Kombination von Historie und Fabel, in Anspielung auf Aristoteles’ ›Poetik‹ also die Verbindung von Geschichtsschreibung und Mythos im aristotelisch technischen Sinne. Wenn zur Charakterisierung dieser Poesie später wiederholt der Gattungsterminus »Geschichtserzählung«501 verwendet wird, dann ist damit auch auf den Roman und die lange Diskussion über sein Verhältnis zur Geschichtsschreibung verwiesen. So ist auch die Bibel einerseits Historie, andererseits gehört »ein großer Theil des alten Testaments […] dem Felde der Dichtkunst an«.502 Im Abschnitt ›Israel in der Wüste‹ wird der Pentateuch nun in eine poetische Erzählung zurückverwandelt. Das Bemühen der Eliminierung von Unwahrscheinlichkeiten in dieser Erzählung, die genüsslich ausgebreitet werden, erscheint mit dem Verweis auf Aristoteles denn auch in einem ganz anderen Licht: Die hier vollzogene Arbeit ist keine historische Reinigung des Textes, kein Durchstoßen zur historischen Wahrheit, sondern die literarische Redaktion eines Editors. Das Unbehagen (»unlustig und verdrießlich«) an der realiter vorliegenden Version der fünf Bücher Mose richtet sich offenbar nicht allein gegen die im Pentateuch angegebene Zahl von 40 Jahren Wanderschaft der Israeliten, sondern zunächst gegen deren »höchst traurige, unbegreifliche Redaction«. Die Fabel, also die Zusammensetzung der Geschehnisse, die Anordnung der Erzählung ist ästhetisch missraten. Den Gang der Geschichte sehen wir überall gehemmt durch eingeschaltete zahllose Gesetze, von deren größtem Theil man die eigentliche Ursache und Absicht nicht einsehen kann […] Man sieht nicht ein, warum bey einem so ungeheuren Feldzuge, dem ohnehin so viel im Wege stand, man sich recht absichtlich und kleinlich bemüht, das religiöse Ceremonien-Gepäck zu vervielfältigen, wodurch jedes Vorwärtskommen unendlich erschwert werden muß […] so daß man mit dem verirrten Volke den Hauptzweck völlig aus den Augen verliert.503

500 501 502 503

FA 3.1, S. 231. Vgl. etwa FA 3.1, S. 240 und S. 241. FA 3.1, S. 140. Alle FA 3.1, S. 231.

341

Damit aber nicht genug der Kritik. Nicht nur, dass offenbar unmotivierte moralische Belehrungen den eigentlichen Erzählverlauf immer wieder stören und ihm zuwiderlaufen, auch das Verhältnis des Charakters der Hauptperson zum plot der äußeren Geschichte ist nicht geglückt. Darauf soll der Leser nun sein Augenmerk richten. »Erstlich, auf die Entwicklung der ganzen Begebenheit dieses wunderlichen Zugs aus dem Charakter des Feldherrn […], und zweytens auf die Vermuthung, daß der Zug keine vierzig, sondern kaum zwey Jahre gedauert hat.«504 Die zweite These in Rechnung stellend und den Text auf diese Weise korrigierend gerät das Verhältnis von äußerer und innerer Geschichte wieder ins Gleichgewicht. Und so beginnt die Erzählung mit der Kindheit Moses, seiner Erziehung und der Ausbildung seines Charakters. Moses erscheint als historische Figur einer geschichtlich realen oder doch möglichen Welt. Sein Charakter wird klar benannt: Unter einem solchen gebildeten Volke lebt nunmehr Moses, aber auch als ein abgesonderter, verschlossener Hirte. In dem traurigsten Zustand, in welchem ein trefflicher Mann sich nur befinden mag, der, nicht zum Denken und Ueberlegen geboren, bloß nach That strebt, sehen wir ihn einsam in der Wüste, stets im Geiste beschäftigt mit den Schicksalen seines Volkes, immer zu dem Gott seiner Ahnherren gewendet, ängstlich die Verbannung fühlend […]. Zu schwach durch seine Faust in diesem großen Anliegen zu wirken, unfähig einen Plan zu entwerfen, und, wenn er ihn entwürfe, ungeschickt zu jeder Unterhandlung […].505

Aus dieser Charakterisierung heraus erklärt sich nun das ganze weitere Verhalten Moses während des Feldzuges. Die äußere Geschichte hingegen wird aller Wunder und göttlicher Maschinen beraubt und rationell erklärt. Der Untergang des ägyptischen Heeres etwa wird nicht durch göttlichen Eingriff begründet, sondern »die, den Fußvölkern sonst so fürchterlichen, Reiter und Sichelwagen streiten auf einem sumpfigen Boden einen ungleichen Kampf«506 und werden durch einen »kühnen Haufen« des israelitischen Nachtrabs vernichtet. Der vor den Israeliten in einer Wolke herziehende Gott wird zur Wettererscheinung, die »man Tags für eine Wolkensäule, Nachts als ein Feuermeteor ansprechen kann«.507 Der gesamte weitere Zug wird dann aus geographischen Begebenheiten und dem Verhalten Moses erklärt, das wiederum aus seinen zuvor geschilderten Charakterzügen hervorgeht: Er habe sich weder zum Regenten noch zum Feldheer geeignet. Sein Tod ist denn auch nicht durch das Wort Gottes erfolgt, wie es 5. Mos. 34 berichtet, sondern er wird von Josua und Kaleb aus reichlich weltlichen Gründen ermordet, »um der Sache ein Ende zu machen und mit

504 505 506 507

342

FA FA FA FA

3.1, 3.1, 3.1, 3.1,

S. S. S. S.

231f. 233. 234. 235.

Ernst sich in den Besitz des ganzen rechten Jordanufers und des darin gelegenen Landes zu setzen.«508 Nach dem Ende der Erzählung wird nun begonnen, die äußeren Begebenheiten der Bibelgeschichte, insbesondere die Zeitangaben, der hier »so rasch als consequent« vorgetragenen Fabel anzupassen. Äußere wie innere Geschichte in Übereinstimmung gebracht, erscheinen Mose und sein Gott im rechten Licht und sein »Betragen […] wieder gerechtfertigt und zu Ehren gebracht«.509 Die Erzählung ist von einer unwahrscheinlichen in eine wahrscheinliche Begebenheit transformiert. Und so gestehen wir gern, daß uns die Persönlichkeit Mosis, von dem ersten Meuchelmord an, durch alle Grausamkeiten durch, bis zum Verschwinden, ein höchst bedeutendes und würdiges Bild giebt, von einem Manne, der durch seine Natur zum Größten getrieben ist. Aber freylich wird ein solches Bild ganz entstellt, wenn wir einen kräftigen, kurz gebundenen, raschen Thatmann, vierzig Jahre ohne Sinn und Noth, mit einer ungeheuren Volksmasse, auf einem so kleinen Raum, im Angesicht seines großen Zieles, herum taumeln sehen. Bloß durch die Verkürzung des Wegs und der Zeit, die er darauf zugebracht, haben wir alles Böse, was wir von ihm zu sagen gewagt, wieder ausgeglichen und ihn an seine rechte Stelle gehoben.510

Fassen wir die wichtigsten Kriterien der ästhetischen Kritik und Neuerzählung der Geschichte zusammen: 1. Moralisierende Unterbrechungen, die weder über die Handlung motiviert noch in sie eingebunden sind, werden abgelehnt. 2. Vorgestellt wird der Mensch Mose und sein Charakter, geprägt durch Zeit, Sitten und Umgebung. 3. Erzählt wird weniger eine Staatsbegebenheit, weder Ägyptens noch Israels, sondern diese wird entwickelt am Lebensgang Moses von der Kindheit bis zum Tod. 4. Äußere und innere Geschichte des Charakters werden in Übereinstimmung gebracht, um einen Wahrscheinlichkeitseffekt zu erzielen. 5. Entsprechend werden göttliche Eingriffe und wunderliche Begebenheiten realistisch erklärt und entzaubert. 6. Dermaßen aufgestellt ist die Erzählung eine »Geschichtserzählung«. 7. Die Erzählung ist insofern exemplarisch als an ihr ein größerer Zusammenhang greifbar und einsehbar wird, hier der Konflikt zwischen Glaube und Unglaube.

508 509 510

FA 3.1, S. 239. FA 3.1, S. 232. FA 3.1, S. 247.

343

Diese Punkte aber entsprechen nahezu allen Kriterien der spätaufklärerischen Bestimmung des Romans, wie sie sich etwa bei Wieland und Blanckenburg greifen lassen und in der Forschung ausführlich dargestellt worden sind.511 Offensichtlich werden hier unter ironischem Vorbehalt zwei Redeweisen parallel geführt: Zuerst auffällig und von der Forschung stets bemerkt die philologisch-kritische Rede, auf einen zweiten genaueren Blick zeigt sich überdem der spätaufklärerische Diskurs um den Stellenwert des Romans und das Verhältnis von Poesie und Geschichte. Der gesamte Abschnitt wird dabei unter einen ironisierenden Vorbehalt gestellt,512 wie es auch in den ›Unterhaltungen‹ zu beobachten war. Interessanterweise stehen aber offenbar philologische Rede und Romandiskurs in einem Bedingungsverhältnis. Die Transformation der Bibelgeschichte in einen kleinen ›Roman‹ ist Ergebnis der Redaktion der philologischen Stimme. Die unglücklich redigierten Bücher sind nun besser redigiert. Darauf deutet auch der Beginn des Abschnitts ›Nähere Hülfsmittel‹, in dem es vier Philologen sind, »Michaelis, Eichhorn, Paulus, Heeren«, die »noch mehr Natur und Unmittelbarkeit in jenen Überlieferungen aufweisen als wir selbst hätten entdecken können«.513 Paradoxerweise erscheint hier die Unmittelbarkeit der Erzählung und Überlieferung als Effekt philologischer Vermittlung. Eine Vermittlung aber, die selbst wieder nur als Inszenierung erscheint. Wir haben es in den ›Noten‹ mit einem fiktiven philologischen Editor zu tun, einer philologischen Stimme, die sich zugleich von der des Autors kaum mehr unterscheiden lässt. Autorschaft wird selbst zum philologischen Akt der Redaktion. Ebenda, wo diese Redaktion aber nicht zu Eindeutigkeit führt, Fragen und Inkonsistenzen aufwirft, bleibt das daraus entstehende Werk unvollendet, damit aber lebendig. Die Philologisierung des eigenen Werkes garantiert dessen Anschlussfähigkeit. Das geschlossene Werk ist ein totes. »Wäre es möglich daß uns eine anerkannt-fehlerlose Abschrift eines alten Autors eingehändigt würde, so möchte solcher vielleicht gar bald zur Seite liegen.«514 Die philologische Kritik führt denn auch zur Eröffnung eben dieser Anschlussstellen, indem sie die Konsistenz der Texte aufbricht und die Last der Tradition

511

512

513 514

344

Vgl. Engel, Roman der Goethezeit, S. 92–114; Voßkamp, Romantheorie und Georg Jäger, Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart 1969. Von daher macht es sowenig Sinn Goethe hier als »Bibelwissenschaftler« am Werke zu sehen. Vgl. Willy Schrotthof, Goethe als Bibelwissenschaftler. In: Dieter Kimpel/ Jörg Pometzki (Hg.), Allerhand Goethe. Seine wissenschaftliche Sendung aus Anlaß seines 150. Todestages und des 50. Namenstages der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, Frankfurt/M. 1985, S. 111–128; S. 120. FA 3.1, S. 248. FA 3.1, S. 274.

hinwegnimmt.515 Die Philologie aber wird damit in ihrem Absolutheitsanspruch als defizitär dekuvriert. In ihrem Bestreben den ursprünglichen, authentischen Text wiederherzustellen, gelangt sie genau zum Gegenteil, der formalen Zersetzung. Das scheint nun aber kein Manko zu sein. Im Gegenteil, die Zerstörung der äußeren formalen Einheit legt die Frage nach dem inneren Zusammenhang umso näher. Diese hier aus der Kompositionsweise der ›Noten‹ herauspräparierteThese wird in der Behandlung von ›Israel in der Wüste‹ im zwölften Buch von ›Dichtung und Wahrheit‹ explizit. Dort beschreibt Goethe sein Verhältnis und seinen Umgang mit der Bibel, insbesondere dem ›Alten Testament‹. Goethe parallelisiert den äußeren Überlieferungszusammenhang, die materielle Erscheinungsweise eines Textes und dessen »Sinn, die Richtung des Werkes«516 mit dem Verhältnis von Körper und Seele. Wie der alternde Körper sich immer mehr zersetze, so bedeute jede Überlieferung äußere Veränderungen des Textes. Aber auch wenn dies einmal der Fall sein sollte, »wenn sie auch rein gegeben würde«, wäre Verstehen als eindeutiger authentischer Sinn des Originals, »wegen des Unterschieds der Zeiten, der Orte, besonders aber wegen der Verschiedenheit menschlicher Fähigkeiten und Denkweisen«, kaum möglich. Nicht-Verstehen ist nicht allein Ergebnis der historischen Differenz, sondern einer grundsätzlichen Inkommensurabilität und Inkommunikabilität von Bewusstsein, woraus dann die Pluralität von Interpretationen gefolgert wird.517 Konsequenz der hermeneutischen Pluralisierung ist für Goethe die Individualisierung des Textverstehens, die mit einer Eindeutigkeitsthese unvereinbar ist, und die eigene Persönlichkeit mit dem Text in ein inniges Verhältnis zu setzen sucht, das die gefühlte Zuneigung erklärt: »Das Innere, Eigentliche einer Schrift, die uns besonders zusagt, zu erforschen, sei daher eines Jeden Sache und dabei besonders zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen Innern verhalte, und in wie fern durch jene Lebenskraft die unsrige erregt und befruchtet werde«.518 Das »Ursprüngliche, Göttliche, Wirksame, Unantastbare, Unverwüstliche«, dem »keine Zeit, keine äußere Einwirkung noch Bedingung […] etwas anhaben« können, ist also nicht ein

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Vgl. dazu den Effekt der Korankritik: »Ob nun gleich die Muselmännische Kritik selbst an dem Koran manches Bedenken findet, indem Stellen die man früher aus demselben angeführt gegenwärtig nicht mehr darin zu finden sind, andere, sich widersprechend, einander aufheben und was dergleichen bey allen schriftlichen Überlieferungen nicht zu vermeidende Mängel sind; so wird doch dieses Buch für alle Zeiten höchst wirksam bleiben«. FA 3.1, S. 160. FA 14, S. 554. Vgl. auch den Abschnitt ›Überliefertes‹ im Historischen Teil der ›Materialien zur Farbenlehre‹, in dem es heißt: »Und so finden wir, daß sich die Menschen nicht sowohl mit dem Werke als an dem Werke beschäftigen, und sich über die verschiedenen Auslegungsarten entzweiten, die man auf den Text anwenden, die man dem Text unterschieben, mit denen man ihn zudecken konnte.« FA 23.1, S. 618. FA 14, S. 555.

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einheitlicher »Geist hinter dem Werk«,519 sondern das je individuelle Verhältnis zwischen Leser und Text. Ist dieses Verhältnis einmal hergestellt, ist die innere Idee und der Wert des Werkes für das Individuum erfasst, vermag auch philologische Analyse diesen nicht zu zerstören, denn alles Äußere hingegen, was auf uns unwirksam, oder einem Zweifel unterworfen sei, habe man der Kritik zu überlassen, welche, wenn sie auch im Stande sein sollte, das Ganze zu zerstückeln und zu zersplittern, dennoch niemals dahin gelangen würde, uns den eigentlichen Grund, an dem wir festhalten, zu rauben, ja uns nicht einen Augenblick an der einmal gefaßten Zuversicht irre zu machen.520

Hier zeigt sich nun endlich der Grund, warum Goethe recht schnell ein gelassenes Verhältnis zu F. A Wolf nach dessen Zergliederung des Homers finden konnte, und wieso Goethe der Fachphilologie nicht mit einer solchen Bissigkeit wie etwa Arnim in ›Holländische Geschichten‹ gegenübertritt. Philologische Zergliederung kann seiner Hermeneutik nur wenig anhaben. Wie das Beispiel Homer gezeigt hat, vermag sie sogar förderlich sein, denn sie gibt den von formaler Geschlossenheit verstellten Blick auf das »Urwesen«, die innere Einheit der Texte wieder frei. ›Le mal de la philologie‹, so könnte man sagen, ermöglicht literarische Produktivität. Das lebendige Werk bedarf der Ergänzung und des Anschlusses, der Anteilnahme und so ist es nur konsequent, wenn die im Abschnitt ›Künftiger Divan‹ angekündigte »Vollständigkeit« der ‹Noten‹ Projekt bleibt. Gerade weil »die gegenwärtige Ausgabe nur als unvollkommen betrachtet werden kann«,521 entsteht der Wunsch nach Ergänzung und Komplettierung, der aber im Modus des Fiktiven verbleibt und verbleiben muss, wenn der Text weiterhin an der Zirkulation der Poesie teilhaben soll, sich als individueller Teil des Überlieferungszusammenhangs erweisen will. Es ist bezeichnend, dass Goethe auch diesen Zusammenhang als Hermeneutik des Blicks beschreibt. Ein Blicken, das sich bei Goethe der bloßen Reproduktion der Überlieferung verweigert und stets zeugend produktiv sein will, wie es in einem programmatischen Brief an B. G. Niebuhr vom 23. November 1812 deutlich zur Sprache kommt: Lassen Sie mich das Allgemeine statt des Besonderen aussprechen! Das Vorübergegangene kann unserm innern Aug und Sinn als gegenwärtig erscheinen durch gleichzeitige schriftliche Monumente, Annalen, Chroniken, Dokumente, Memoires, und wie das alles heißen mag. Sie überliefern ein Unmittelbares, das uns, so wie es ist, entzückt, das wir aber auch wohl wieder, um andrer willen, aus hunderterlei Trieben und Absichten vermitteln möchten. Wir tun’s, wir verarbeiten das Gegebene, und wie? als Poeten, als Rhetoren! Das ist von jeher geschehn, und diese Behandlungsarten äußern große Wirkung; sie bemächtigen sich der Einbildungskraft, des Gefühls, sie füllen das

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So aber Luz-Maria Linder, Goethes Bibelrezeption. Hermeneutische Reflexion, fiktionale Darstellung, historisch-kritische Bearbeitung, Frankfurt/M. u.a. 1998, S. 37. FA 14, S. 555. FA 3.1, S. 214.

Gemüth aus, bestärken den Charakter und erregen die Tat. Es ist eine zweite Welt, welche die erste verschlungen hat.

Höchst erwünscht ist jedem, der zu dem Uranschauen zurückkehren möchte, die Kritik, die alles Sekundäre zerschlägt und das Ursprüngliche, wenn sie es nicht wieder herstellen kann, wenigstens in Bruchstücken ordnet und den Zusammenhang ahnden läßt.522 Nicht durch Tradierung des alten Bestandes vermag der Zusammenhang, der »Faden aus der alten Welt in die neue herüberreichen«.523 Die Metaphorik vom Faden ist bezeichnend. Verweist die Metapher einmal auf das Gewebe der Poesie, so ist sie als Faden der Ariadne zugleich Leitfaden aus dem Labyrinth heraus: Die Poesie als Leitfaden durch die Verwirrungen von Geschichte, Wissenschaft, Politik und des individuell zersplitterten Lebens. Die Philologie fragmentierte den Text. Das Fragment aber ermöglicht erst die Etablierung des Zusammenhangs der Poesie als Anschlusskommunikation des schaffenden Individuums. Hier aber, auch wenn es manchem nicht gefallen wird, sehen wir Goethe ins – inzwischen verwaiste – Hauptquartier der Frühromantik einfallen. Das wird vollends deutlich, wenn wir eine weitere ›Vergleichung‹ vornehmen. Schlegel hatte in ›Über das Studium der Griechischen Poesie‹ die moderne Literatur als »ästhetischen Kramladen« angeklagt und »Verwirrung das Gemeinsame ihrer Masse«524 genannt. Eine Anklage, die freilich bei ihm bald positiv gewendet in die Forderung nach der Mischung der Gattungen umschlagen sollte. Im Abschnitt ›Allgemeines‹ der ›Noten‹ bringt der Verfasser eine Charakterisierung der orientalischen Poesie, in der das Bild vom ästhetischen Kramladen in Form des orientalischen Basars und des europäischen Gemüsemarktes wieder auftritt: Die Verwirrung, die durch solche Productionen in der Einbildungskraft entsteht, ist derjenigen zu vergleichen, wenn wir durch einen orientalischen Bazar, durch eine europäische Messe gehen. Nicht immer sind die kostbarsten und niedrigsten Waaren im Raume weit gesondert, sie vermischen sich in unsern Augen und oft gewahren wir auch die Fässer, Kisten, Säcke, worin sie transportiert worden. Wie auf einem Obstund Gemüsemarkt sehen wir nicht allein Kräuter, Wurzeln und Früchte, sondern auch hier und dort allerley Arten Abwürflinge, Schalen und Strunke.525

Damit ist ganz offensichtlich eben nicht nur die orientalische Poesie gemeint, denn die Bildfelder von Basar und Messe/Gemüsemarkt werden auch syntaktisch parallelisiert. Und die folgende Empfehlung, »wenn der Orientale, seltsame Wirkung hervorzubringen, das Ungereimte zusammenreimt, so soll der Deutsche,

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FA 34, S. 118f. FA 23.1, S. 616. KSA I, S. 222. FA 3.1, S. 179.

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dem dergleichen wohl auch begegnet, dazu nicht scheel sehen«,526 zeigt wohl am deutlichsten Goethes Abkehr vom Konzept einer strengen Gattungsunterscheidung an. Dies entspricht der Beschreibung des Werks Jean Pauls in ›Vergleichung‹: es »erschafft die seltsamsten Bezüge, verknüpft das Unverträgliche«.527 Wurde in ›Vergleichung‹ die Orientalität Jean Pauls in eben diesen orientalischarabesken Schreibverfahren gesehen, dann wird diese Form der Orientalität hier als ästhetisches Programm für die moderne Literatur ausgegeben. Denn auch in den folgenden Abschnitten ›Allgemeinstes‹ und ›Neuere, Neueste‹ wird der Bezug zwischen orientalischer und moderner Literatur über das Charakteristikum der Vermischung vorgenommen.528 Eine zeitnahe und ganz ähnliche Figur findet sich auch in Goethes 1813 begonnenem und erst 1826 fertig gestellten Aufsatz ›Shakespear und kein Ende‹. Die Systematik, die Goethe hier in der Gegenüberstellung von antik und modern aufbaut, wird am Beispiel Shakespeare in ihrem Antagonismus sofort wieder unterlaufen. Shakespeare zeichnet sich gerade darin aus, dass er weder antik noch modern, bzw. beides zugleich ist, »indem er das Alte und Neue auf eine überschwengliche Weise verbindet«,529 d.h. zugleich klassisch und romantisch ist. Als klassisches Moment wird dabei seine Weltbezogenheit, sein Realismus hervorgehoben. Wieder begegnen wir dem variierten Bild vom literarisch globalisierten Kramladen: »Aber auch die zivilisierte Welt muß ihre Schätze hergeben; Künste und Wissenschaften, Handwerk und Gewerbe, Alles reicht seine Gaben dar. Shakespear’s Dichtungen sind ein großer belebter Jahrmarkt, und diesen Reichtum hat er seinem Vaterland zu danken. Überall ist England, das meerumflossene, von Nebel und Wolken umzogene, nach allen Weltgegenden tätige«.530 In diesem Realismus vereinen sich die orientalischen Dichter, Shakespeare und Jean Paul. Auch die Gattungsverschaltung wird im ›Shakespear‹Aufsatz wieder aufgenommen, wenn dieser weniger in der Geschichte des Theaters als in der Geschichte der Poesie verortet wird. »So gehört Shakespear notwendig in die Geschichte der Poesie; in der Geschichte des Theaters tritt er nur zufällig auf.«531 Auf diese zunächst doch erstaunliche Aussage erfolgt ein ebenso unkonventioneller, gattungstheoretischer Versuch Goethes, Epos, Dialog, Drama und Theaterstück voneinander zu scheiden. Das Drama wird charakterisiert als ein

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Ebd. FA 3.1, S. 202. Vgl. aus den ›Maximen und Reflexionen‹: »Laßt uns doch vielseitig seyn! Märkische Rübchen schmecken gut, am besten gemischt mit Kastanien. Und diese beyden edlen Früchte wachsen weit auseinander. – Erlaubt uns in unsern vermischten Schriften doch neben den Abend- und Nordländischen Formen auch die Morgen- und Südländischen!« FA 13, S. 390. Goethe, Shakespear und kein Ende. In: FA Bd. 19: Ästhetische Schriften 1806–1815. Hg. von Friedmar Apel, Frankfurt/M. 1998, S. 637–650; S. 644. FA 19, S. 639f. FA 19, S. 646.

»Gespräch in Handlungen, wenn es auch nur vor der Einbildungskraft geführt wird.« Shakespeares Werke seien in diesem Sinn dramatisch zu nennen. Daran ist nicht besonderes. Dies ändert sich aber, betrachtet man die Bestimmung des Epos und die Forderung, Shakespeares Werk weder als Lesedramen noch als Theaterstücke zu rezipieren. Der geeignete Rezeptionsmodus der Werke ist der des Epos, die »mündliche Überlieferung an die Menge durch einen Einzelnen«:532 Durchs lebendige Wort wirkt Shakespear, und dies läßt sich bei’m Vorlesen am Besten überliefern; der Hörer wird nicht zerstreut, weder durch schickliche noch unschickliche Darstellung. Es gibt keinen höhern Genuß und keinen reinern, als sich mit geschlossenen Augen, durch eine natürlich richtige Stimme, ein Shakespear’sches Stück nicht deklamieren, sondern rezitieren zu lassen.533

Shakespeare ist also ein Paradebeispiel wie die Dichtungsarten »bei lebendiger Bearbeitung oft zusammenfließen.«534 Am ›Shakespear‹-Aufsatz und dessen Entstehung im Umfeld der Weimarer ›Romeo und Julia‹-Inszenierungen zwischen 1812 und 1816, die von den Schlegels und insbesondere von Tieck heftig kritisiert wurden, lassen sich deutlich die Anachronismen benennen, die beständig zur Verwirrung über die Begriffe Klassik und Romantik, bzw. Goethes Verhältnis zu dieser geführt haben und führen. Zu einer Zeit als Goethe die Schlegels persönlich durchaus schätzte, entwickelten diese ein Programm, das nicht mit Goethes und Schillers Versuchen einer modernen Klassik zu vereinbaren war. Nach Schillers Tod wendet sich Friedrich Schlegel selbst mehr und mehr von diesem Programm ab und Goethe von seinem ebenfalls. Goethes Kritik an den Romantikern richtet sich nun nicht mehr gegen das Projekt einer Sympoesie, sondern gegen die Tendenz zu Religion, Ritterwesen und Vaterlandsemphase,535 die er bei den romantischen Epigonen als krankhaft diagnostiziert. Seine eigenen ästhetischen Programme hingegen zeigen mehr und mehr eine deutliche Nähe zur frühromantischen Ästhetik der Moderne, für die nun nicht mehr Schlegel, sondern Jean Paul Pate steht. Die Formel, die Goethes späte Anerkennung für ihn erklärt, könnte lauten: J. P. Richter = Frühromantische Ästhetik + realistische Erdung. Eine Ästhetik, die der späte Novalis und der mythologisch-religiös gewendete Friedrich Schlegel nun ihrerseits Goethe vorwerfen.536

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Ebd. FA 19, S. 638f. FA 19, S. 646. Programmatisch dafür die im zweiten Heft von ›Über Kunst und Altertum‹ 1817 erscheinende Abhandlung ›Neu-Deutsche Religios-Patriotische Kunst‹. In: FA Bd. 20: Ästhetische Schriften 1816–1820. Hg. von Hendrik Birus, Frankfurt/M. 1999, S. 105–129. In der Dichtung waren ihm Wackenroders ›Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders‹ aus gleichem Grunde früh verdächtig. Die Paradoxie wird sehr schön an Tiecks Kritik an Goethes ›Romeo und Julia‹Bearbeitung von 1811 klar. Tieck, der seinerseits viele Volksbuchvorlagen ähnlich wie

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Goethes ›Divan‹-Projekt wird einmal mehr erkennbar als der Versuch eines Autors, die im eigenen (klassischen) Kunstprogramm entstandene produktive Blockade zu überwinden. Er stellt sich so ganz in den Kreis der Modernen. Das Phantasma selbst Homeride zu sein, noch einmal die antike Klassizität in modernem Gewand auftreten zu lassen, ist geschwunden. Es bleibt zurück eine orientalische Leichtigkeit der poetischen Ausdrucksfreiheit, die wir im Spätwerk, vor allem in den ›Wanderjahren‹ beobachten. Eine Leichtigkeit aber, die zugleich immer von einer Melancholie, einer Trauer über diese Tatsache begleitet bleibt. Der Roman, auch dies eine frühromantische Lektion, die diese von Goethe und dieser wieder von ihnen gelernt hatte, wird zum idealen Medium werden, der die so divergierenden Ansprüche an die Kunst der Moderne noch zu rahmen weiß und das Epos zu ersetzen vermag: Er ist prosaisch-realistisch, zugleich aber auch poetisch, kann verschiedene Schreibformen und Gattungen in sich zu bergen, kann Fragment und doch Einheit sein und bietet so noch eine epische Totalität des panaromatischen Blicks, der im Dickicht der historischen und gegenwärtigen Welt unmöglich geworden zu sein scheint.

15. Epos und Roman – Friedrich Schlegel und der ›Wilhelm Meister‹ Friedrich Schlegel, so konnte oben gezeigt werden, entwickelte grundlegende Begriffe seiner frühromantischen Poetik in Auseinandersetzung mit Ergebnissen und Konzepten der philologischen Diskussionen seiner Zeit. Vor allem sein Kritikbegriff konnte so entfaltet und neu verortet werden. Im Zentrum der Auseinandersetzung mit F. A. Wolf standen die Homerischen Epen und die Frage ihrer Einheitlichkeit und damit auch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeiten von Einheit in der Poesie überhaupt. Schlegel wie Humboldt beschreiben gegen die formalistisch-klassizistische Vorstellung poetischer Einheit diese als spezifische Bewegung des Geistes. Die Dynamisierung und Temporalisierung des Einheitbegriffs durch den ›Geist‹ bedeutet, zumindest für Schlegel, die bewusste Aufgabe einer Einheit auf formaler Ebene. Das Epos wird beschrieben als das Zusammentreten einzelner in sich vollendeter Teile. In seiner Gattungsdifferenzierung von Drama und Epos nutzt Schlegel diese Charakterisierung der epischen Struktur, um sämtliche an der aristotelischen ›Poetik‹ entlang entwickelten Einheitsoptionen zurückzuweisen: Die Einheit

Brentano und Arnim einer äußerst freien Bearbeitung unterzogen hatte, tritt nun als Verfechter einer puristischen Werktreue auf und wirft der Bearbeitung vor, dass man in ihr »vom Original nur wenig wiederfindet, und wo selbst das, was noch da steht, durch die sonderbaren Umänderungen in einem ganz anderen Lichte erscheint«. Zit. nach FA 19, S. 904.

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des Epos besteht für ihn weder in der Einheit des Mythos als Handlungszusammenhang, weder in historischer noch in genealogischer oder chronologischer Hinsicht.537 Damit sind nicht nur die Gattungsbestimmungen der Altphilologen herausgefordert, die Zurückweisung der aristotelischen Einheitsoptionen zielt auch auf die theoretischen Versuche zur Bestimmung der noch ›jungen‹538 Gattung Roman. Die Tradition der Romantheorie versuchte seit ihren Anfängen bei PierreDaniel Huet, den Roman über Parallelen zu den etablierten Gattungen, insbesondere der Fabel und des Dramas, zu legitimieren. Dabei wurde der Roman auch immer wieder mit dem Epos verglichen und versucht, diesem anzugleichen.539 Dies konnte so lange unproblematisch sein, wie man die mit Aristoteles kontinuierlich behauptete Analogie zwischen Epos und Drama aus dem 23. Kapitel der ›Poetik‹ aufrecht erhielt. Die erzählende Dichtung, also die Epik, müsse die Fabel, »wie in den Tragödien so zusammenfügen, daß sie dramatisch sind und sich auf eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen, damit diese, in ihrer Einheit und Ganzheit dem Lebewesen vergleichbar, das ihr eigentümliche Vergnügen bewirken kann«.540 Diese Stelle konnte und wurde auf mindestens zwei verschiedene Weisen für die Romantheorie in Anschlag gebracht. Epische Einheit kann demnach entweder a) auf der äußeren Ebene aus dem Handlungszusammenhang oder/und b) auf der inneren Ebene aus der Einheitlichkeit der Charaktere sich ergeben. Zumindest aus dieser Perspektive kann der Anlehnung des Romans an das Epos nicht die an das Drama gegenübergestellt werden.541 Die Varianten verhalten sich nicht exklusiv zueinander. Solange die aristotelische Einheitslehre klassizistisch Norm gebend interpretiert wurde, war damit auch für das Epos und in Anlehnung an dieses für den Roman der Einheitsbegriff vorgegeben, der vor allem mit Blanckenburg und dem Roman der Spätaufklärung mit der Option b) um die psychologische Einheit des Charakters erweitert wurde.542

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Vgl. noch einmal KSA I, S. 124f. Ob der Roman faktisch wirklich eine junge oder spezifisch moderne Gattung ist, sei zunächst dahin gestellt. In jedem Fall wird sie zu einer solchen stilisiert und – auch dies wird man behaupten können – wird bis ins späte 18. Jahrhundert, ja selbst bei Schiller noch, nicht als hohe Form der Poesie anerkannt. Siehe zum Thema Hans Hiebel, Individualität und Totalität. Zur Geschichte und Kritik des bürgerlichen Poesiebegriffs von Gottsched bis Hegel anhand der Theorien über Epos und Roman, Bonn 1974. Aristoteles, Poetik, S. 77. Wilhelm Voßkamp (Romantheorie, S. 145) stellt diese zwei Optionen gegenüber. Vgl. Engel, Roman der Goethezeit, S. 93. Entlang dieser Alternative kann man auch die Unterscheidung eines an die Geschichtsschreibung angelehnten ›pragmatischen Romans‹ einerseits und an der Geschichte des inneren Menschen interessierten ›anthropologischen Romans‹ für das 18. Jahrhundert entwickeln. Vgl. ebd., S. 98f.

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Um sich nicht gänzlich auf Freund und Helfer Fußnote verlassen zu müssen, sei mit Gottscheds ›Versuch einer Critischen Dichtkunst‹ zumindest ein Beleg angeführt, dessen oppositionelle Stellung zu Schlegel sich gut zur Kontrastierung eignet. Gottsched scheint sich zur Unterscheidung von Epos und Roman im fünften Hauptstück des ersten Abschnitts ›Von milesischen Fabeln, Ritterbüchern und Romanen‹ zunächst auf das von Huet in seinem ›Traité sur l’orgine des romans‹ (1670) eingeführte Differenzkriterium vom Epos als Helden- und Staatsgeschichte einerseits und dem Roman als privater Liebesgeschichte andererseits einzulassen.543 Mit Rekurs auf das Archeepos schlechthin aber wird dieses Kriterium unter Druck gesetzt, indem er nicht der von Huet vorgestellten Ependefinition als Staats- und Heldengeschichte folgt, sondern umgekehrt das Differenzkriterium des Romans als Liebesgeschichte in die Homerischen Epen verlagert. »Homer selbst, giebt in seiner Odyssee, theils durch die Geschichte der Penelope und ihrer Fryer, theils in den Erzählungen von der Circe, Kalypso und Nausikaa, nun gar zu guten Anlaß, dergleichen Liebesfabeln zu schreiben.«544 Das von Huet als differentia specifica eingeführte Kriterium wird bei Gottsched zu einer Frage des Maßstabes relativiert. Die Epopöe stellt die Geschichte des Helden und seine Taten in Staat und Krieg in den Vordergrund, »Liebe aber nur beyläufig, als ein Nebenwerk«, wohingegen es sich bei den milesischen Fabeln und guten Romanen genau andersherum verhalte: »Heldenthaten aber werden zuweilen als Zierrathe mit eingeschaltet, und als Episoden zur verliebten Absicht gebrauchet«.545 So bedeutsam die Unterscheidung von Staats- und Liebesgeschichte romantheoretisch sein mag, so sei dennoch festgehalten, dass Gottsched sie bereits relativiert.546 Für den hier verhandelten und interessierenden Unterschied hinsichtlich der Einheitlichkeit von Epos und Roman aber setzt Gottsched beide gleich und verbindet damit eine normativ-klassizistische Wertung. Nach der erfolgten Unterscheidung hinsichtlich des dargestellten Inhalts diskutiert Gottsched die gewünschte Erzählstruktur und kehrt dazu zum aristotelischen Mythosbegriff

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So auch Voßkamp, Romantheorie, S. 150. Helmut Koopmann (Vom Epos und vom Roman. In: ders. (Hg.), Handbuch des deutschen Romans, Düsseldorf 1983, S. 11–30; S. 11ff.) weist auf die lange Tradition dieser Unterscheidung zwischen öffentlicher (Epos) und privater (Roman) Geschichte in der deutschen Literaturwissenschaft hin und sieht darin eine klassizistische Tradition der Präferenz des Antiken fortwirken. Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst. Anderer Besonderer Theil. 3. und vermehrte Auflage, Leipzig 1742. In: ders., Ausgewählte Werke. Hg. von Joachim und Brigitte Birke. Bd. 6.2, Berlin – New York 1973, S. 454. Beide ebd., S. 463. Denn natürlich kannte Gottsched die lange Tradition barocker Staatsromane. Die ›Insel Felsenburg‹ etwa erscheint 1731 ein Jahr nach Gottscheds ›Versuch einer kritischen Dichtkunst‹.

zurück, der die Einheitlichkeit der Handlung durch Nachahmung der Einheit der Natur wahre, so Gottsched in der Tradition der imitatio-Interpretation des Mimesisbegriffes,547 die noch in der psychologischen Finalität des Handlungsnexus bei Blanckenburg ihren Niederschlag findet.548 »Haben nun beyde [Epos und Roman, mb], nach dem großen Muster der Natur, die Einheit der Handlung vor Augen, wie die Theile auf ein Ganzes, oder wie die Mittel zum Zwecke: so sind beide regelmäßig.«549 Gottsched ist sich des normativen, nicht-deskriptiven Charakters dieser Festlegung bewusst, wenn er sich entschuldigt, dass er »den Liebesgeschichten eben das Joch auflegen wolle, welches die Heldenlieder so drücket«, hält aber am Homer als Exemplum fest. »Allein ich kann nichts dafür, daß die besten unter den alten Romanschreibern hierinn [der Einheit der Handlung, mb] den Homer nachgeahmet.« Im Homer wie im Helidor finde man »eine einzige Haupthandlung, die auf Liebe hinausläuft [….] Dieses ahmet nun der Natur nach, die an ihren Meisterstücken, viele Glieder unter einem Haupte und Herzen vereiniget.«550 Wie man sich dieses Verhältnis von Teil und Ganzem vorzustellen hat, wird einsichtig in der Metapher vom menschlichen Körper und seiner Glieder, die Gottsched mit erneutem Rekurs auf Huets ›Traité‹ nun auch für den Roman in Anschlag bringt: Wenn es wahr ist, heißt es [bei Huet, mb], daß ein Roman einem vollkommenen Körper gleichen soll […] und daß er aus verschiedenen wohlgebildeten Theilen sich in einem Haupte vereinigen muß: so folget, daß die Haupthandlung, die gleichsam das Haupt des Werkes ist, nur einzeln seyn, und in Vergleichung der anderen hervorleuchten müsse; daß hingegen die Nebenhandlungen, sich als Glieder zu diesem Haupte fügen, ihm an Schönheit und Würde weit nachgehen, unterstützen, und auf eine abhängliche Art begleiten sollen: weil es sonst ein ungestaltes zweyköpfiges Ungeheuer sein würde.551

Die Einheit des Epos resp. des Romans besteht für Gottsched in einem unauflöslichen Zusammenhang von Haupt- und Nebenhandlung, die immer angemessen proportioniert erscheinen müssen. Die Glieder eines menschlichen Körpers können nicht abgetrennt werden, ohne diesen verstümmelt und verunstaltet

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Vgl. dazu Jürgen H. Petersen, Mimesis, Imitatio, Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München 2000. Vgl. Oesterle, Arabeske und Roman, S. 245. Ich betone hier gegenüber dem Mimesisbegriff weit stärker als Oesterle den aristotelischen Begriff des Mythos, der eben anders als ›Mimesis‹ das Problem der Verknüpfung aufruft. Oesterle stellt die Arabeske, das Manieristische, das Groteske, das Pathologische und das Sentimentalische als jene Formen heraus, die es Schlegel ermöglichten, einen kausalgenetischen Handlungsverlauf, der ja auch bei fragmentiertem Textkorpus denkbar wäre, zu unterlaufen. Vgl. ebd., S. 247f. Gottsched, Versuch, S. 463. Alle ebd. Ebd., S. 464.

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zurückzulassen.552 Hier wird der Bezug zu Schlegel akut. Auch dieser hatte eine Körpermetapher zur Beschreibung des Einheitsbegriffes des Epos genutzt – allerdings mit markanten Unterschieden. Bei Schlegel ist es nicht der nach Gottes Ebenbildlichkeit gebildete und daher notwendig einheitliche und vollkommene, ideale menschliche Körper, sondern der monströs anmutende Polyp, dessen Gliedmaße sich selbst jenseits des zerstümmelten Körpers lebendig erhalten, der paradigmatisch für das Epos eintritt.553 Von Wolf belehrt zielt Schlegel genau auf eine Gottsched entgegengesetzte Position: Das Epos zu fragmentieren und das Fragment zu totalisieren. Der Eposbegriff wird auf solche Weise wieder freigestellt, um als Bezugsfolie für die Romandiskussion bei Schlegel zu dienen. Für diesen und Gottsched aber trifft zu, was Hiebel vielleicht etwas überpointiert über letzteren sagt: »Die Theorie des Epos […] ist die Theorie des Romans«.554 Allein, beide haben gänzlich verschiedene Begriffe vom Epos wie vom Roman dabei im Sinn. Zielte die Aufklärungspoetik allenfalls darauf, durch eine Analogisierung von Roman und Epos jenen überhaupt erst im System der Gattungen zu verankern, so sucht Schlegel durch das gleiche Verfahren, dem Roman eine dem Epos analoge Position zuzusprechen. Was der Antike das Epos war, ist der Moderne der Roman. Es musste also darum gehen, die dem Epos zugeschriebenen Potenzen auf den Roman zu übertragen. Damit wird nun recht deutlich, welche grundlegenden Konsequenzen die philologischen Studien und Schriften für Schlegels Literaturbegriff haben. Als Leitthese soll zunächst die Behauptung dienen, dass sich die frühromantische Romankonzeption in der Auseinandersetzung Schlegels mit dem Epos konturiert. Dies führt bei Schlegel aber nicht zu einer Anlehnung an den von Carl Wezel 1780 in seiner Vorrede zu ›Hermann und Ulrike‹ geprägten und dann bei Hegel, später Lukács promovierenden Begriff der »bürgerlichen Epopee«, denn Schlegel und 552

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Diese Metapher ist natürlich wesentlicher älter und findet sich bereits bei Origines. Dort dient, wie Lutz Danneberg weiß (Ganzheitsvorstellungen, S. 247), selbst die Zerstückelung des Körpers zur Offenlegung der »Harmonie des Ganzen«. Ausführlicher zum Zusammenhang von Text und Körper ders., Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers. Das Lesen im ›liber naturalis‹ und ›supernaturalis‹, [Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 3], Berlin – New York 2003; besonders S. 178–203. Noch 1781 fasst der führende englische Philologe James Harris im zweiten Teil seiner ›Philological Inquiries‹ seinen strikt an Aristoteles angelehnten Einheitsbegriff im Verhältnis von Teil und Ganzem in der Metapher des intakten menschlichen Körpers: »Having a Beginning, a Middle, and an End, every part itself becomes a smaller whole, tho’ with respect to the general Plan it is nothing more than a Part. Thus the Human Arm with a view to its Elbow, its Hand, its Fingers, &c. is clearly a Whole, as it is simply but a Part with a view to the intire Body.« James Harris, Philological Inquiries in Three Parts, London 1781 [Reprographischer Nachdruck New York 1970], S. 125. Hiebel, Individualität, S. 137.

die Frühromantiker wollen eben nicht eine Gattung für die prosaische Gegenwart etablieren, die diese als »Mime der Geschichte«555 mimetisch bloß reproduziert, und bei der das Attribut »bürgerlich« einen poetischen Verlustprozess anzeigt.556 Sie entwerfen eine Theorie der poetischen Prosa, die die prosaische Welt zu transzendieren vermag. Sie suchen im romantischen Roman nach der Möglichkeit eines neuen Epos, genauer nach einer neuen Epizität der Poesie. Zunächst aber dürfte eine Differenzierung des Begriffs ›romantischer Roman‹ angebracht sein, die die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Terminus bei Schlegel besser zu unterscheiden hilft. Mit Blick auf die von Oesterle mit Akribie verfolgte Verschränkung von Arabeske und (romantischem) Roman wäre zu fragen, ob Schlegel in diesen arabesken Formen nicht tatsächlich ›nur‹ die Möglichkeit zu einer romantischen Poesie der Gegenwart sah,557 und demnach nicht zwei, sondern mindestens drei Formen des romantischen Romans zu unterscheiden wären. 1. Der romantische Roman der Literaturgeschichte (Romanzen, Ritterbücher, Cervantes, Ariost, Shakespeare) 2. Der romantische Roman der Gegenwart als arabeskes Spiel, das der Kritik an aufklärerischer wie empfindsamer Romankonzeption entgeht (Sterne, Diderot, Swift, Jean Paul) 3. Der romantischen Roman der Zukunft, dessen erstes Anzeichen Goethes ›Wilhelm Meister‹ ist.

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Johann Karl Wezel, Vorrede zu Hermann und Ulrike. 4 Bde., Leipzig 1780. Faksimiledruck mit einem Nachwort von Eva D. Becker, Stuttgart 1971, Bd. 1. S. I–VIII, S. III. Das ist sehr schön an Novalis sich ändernder Rezeption des ›Wilhelm Meister‹ zu sehen, der zunächst als erstes Beispiel eines romantischen Romans gefeiert und dann als prosaisch und modern, als »bürgerliche und häusliche Geschichte« zurückgewiesen wird. Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 505. Vgl. etwa im ›Brief über den Roman‹: »Das bunte Allerlei von kränklichem Witz gebe ich zu, aber ich nehme es in Schutz und behaupte dreist, daß solche Grotesken und Bekenntnisse noch die einzigen romantischen Erzeugnisse unsers unromantischen Zeitalters sind.« (KSA II, S. 330) und »Das wären wahre Arabesken und diese nebst Bekenntnissen, seien, behauptete ich im Eingang meines Briefs, die einzigen romantischen Naturprodukte unsers Zeitalters.« (KSA II, S. 337, meine Herv., mb). Oestele (Arabeske und Roman, S. 237) stellt genau diesen Punkt heraus, scheint aber anzunehmen, der arabeske Roman sei bereits der von Schlegel anvisierte neue romantische Roman. Es bleibt aber sein Befund festzuhalten: »Das Sekundäre ist das allein Mögliche in der prosaischen Gegenwart« (ebd.). Auch Werner Busch (Umrißzeichnung und Arabeske als Kunstprinzipien des 19. Jahrhunderts. In: Regine Timm (Hg.), Buchillustrationen im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1988, S. 117–148; S. 134) sieht in der Arabeske bei Schlegel das »literarische Strukturprinzip, das in der Moderne überhaupt noch Dichtung ermöglicht« und es daher der goethezeitlichen Gegenwart, nicht aber der romantischen Zukunft zuordnet.

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Die Nennung Shakespeares zeigt bereits an, dass ›Roman‹ hier nicht im Sinne eines strengen Gattungsbegriffs verwendet wird. Das ›Gespräch über die Poesie‹ verhandelt alle drei Modelle, die oft in unmittelbarer Nachbarschaft stehen und daher leicht zu verwirren sind. Hinzu kommt, worauf Hans Eichner aufmerksam gemacht hat, die Vermischung des Begriffs der romantischen Poesie als historische Bezeichnung einerseits und poetische Eigenschaft andererseits.558 Indem Schlegel für die romantische Poesie die Erscheinungsmöglichkeiten in den drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchspielt, wird sein Text, wohl selbst ein Roman, zur Inventur des Romantischen: Zur Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit von Poesie in Geschichte, Moderne und ›neuer‹ Moderne, der »neuen Morgenröthe der neuen Poesie«,559 für die Schlegel den Begriff ›Neue Mythologie‹ prägt. Der romantische Roman ist das diesen Zusammenhang stiftende Medium.560 Die Literaturgeschichte des Romantischen in den ›Epochen der Dichtkunst‹ liest sich wie folgt und erweitert das Dreier- zu einem Viererschema. Die antike Literatur, »das Epos, die Jamben, die Elegie, die festlichen Gesänge und Schauspiele; das ist die Poesie selbst.«561 Wie schon in ›Geschichte der Poesie der Griechen und Römer‹ setzt Schlegel mit dem Alexandrinischen Zeitalter einen Bruch an, an dem die natürliche Poesie in Künstlichkeit übergeht und als romantische Poesie verloren ist. »Nachdem die Kraft der Poesie so schnell erloschen als zuvor gewachsen war, nahm der Geist der Menschen eine andre Richtung, die Kunst verschwand im Gedränge der alten und der neuen Welt, und über ein Jahrtausend verstrich, ehe wieder ein großer Dichter im Okzident aufstand.« Schlegel macht nun zwei topographische Bewegungen aus, in denen sich die Poesie wieder erneuert. In Spanien und Italien trifft die »wilde Kraft der gotischen Dichtung« auf die »reizenden Wundermärchen des Orients«.562 Beide Literaturen, die neben der griechischen Poesie als Naturpoesien um 1800 verhandelt werden, ermöglichen in Europa eine neue Ahnung von romantischer Poesie. Dante, Petrarca und Boccaccio schaffen die Grundlage für die Prosa des Romans, Cervantes vereinigt Ritterbuch und Schäferroman zur Idee eines romantischen Romans. Auf der anderen Seite entsteht davon unabhängig in England mit Shakespeare die »romantische Grundlage des modernen Dramas«.563 Mit dem »Tode dieser Großen« vollzieht sich in der Frühen Neuzeit aber bereits ein neuer Bruch, der

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Hans Eichner, Friedrich Schlegels Theorie der romantischen Poesie. In: Schanze (Hg.), Friedrich Schlegel, S. 162–193; S. 185. Zuerst als: Friedrich Schlegel’s Theory of Romantic Poetry. In: PMLA 71 (1956), S. 1018–1041. KSA II, S. 311. Vgl. Fohrmann, Schiffbruch, S. 110. KSA II, S. 293. Alle KSA II, S. 296f. KSA II, S. 301.

diese romantische Poesie wieder in Vergessenheit geraten ließ. Denn in Frankreich entstand im Klassizismus aus dem »mißverstandenen Altertum« ein »umfassendes und zusammenhängendes System von falscher Poesie«.564 Konnte in Frankreich daher keine Idee romantischer Poesie entstehen, so profitiert Deutschland von seiner topographischen Achsenstellung zwischen Süd- und Nordeuropa, Frankreich und England. In Deutschland ›zünden die Funken‹, die von Italien und Spanien mit der Ausbildung einer romantischen Prosa, von England mit einer romantischen Dramatik und von Frankreich mit der »Tradition, man müsse zu den Alten und zur Natur zurückkehren«,565 ausgegangen sind. Die geographische Disposition Deutschlands in der Mitte Europas wird von Schlegel auf die Literatur übertragen. Die deutsche Literatur wird zum Schmelztiegel der romantischen Poesien Europas stilisiert und Schlegel benennt mit Winckelmann und Goethe die beiden Auguren dieses Prozesses. Jener habe gelehrt, »wie man eine Kunst durch die Geschichte ihrer Bildung begründen solle« und einem Verständnis des Altertums den Weg bebahnt, dieser in seinem Werk einen »Widerschein von der Poesie fast aller Nationen und Zeitalter«566 gegeben. Goethes Leistung besteht, so Schlegel, in der Inventarisierung des poetischen Erbes Europas, die er durchgespielt und zum Ausgangspunkt einer neuen wahrhaft romantischen Poesie als die Vereinigung von Antike und Moderne gemacht habe.567 Das Werk Goethes sei daher »eine unerschöpflich lehrreiche Suite von Werken, Studien, Skizzen, Fragmenten, Versuchen in jeder Gattung und in den verschiedensten Formen.«568 Goethes Werk kommt damit Schlegels Romanbegriff sehr nahe: »Roman Mischung aller Dichtarten, der kunstlosen Naturπ[poesie] und der Mischgattung[en] der Kunstπ[poesie].«569 Es ist darauf hingewiesen worden, dass die Schlegelsche Romankonzeption von Herders ›Briefe zur Beförderung der Humanität‹ beeinflusst scheint.570 Schle-

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KSA II, S. 302. Ebd. Ebd. In den Fragmenten zur Poesie von 1799 heißt es: »Harmonie des Antiken und Modernen scheint [der] Geist meiner gesamten Poesie«, KSA XVI, S. 270. KSA II, S. 302. KSA XVI, S. 90. Bereits Rudolf Haym hat auf die Analogien hingewiesen. Vgl. ders., Herder nach seinem Leben und Werken. Bd. 2, Berlin 1885, S. 634f. Siehe auch Eichner, Friedrich Schlegel, S. 164f. und Wolf A. Schmidt, Berührungspunkte der Romantheorien Herders und Friedrich Schlegels. In: German Quarterly 47 (1973), S. 409–414. Die achte Sammlung der ›Humanitätsbriefe‹ führte zum Bruch und einer deutlichen Abkühlung des persönlichen Verhältnisses zwischen Herder und Goethe. Goethe konnte sich mit der bei Herder mehr und mehr durchsetzenden moralischen Bewertung insbesondere der deutschen Literatur der Gegenwart nicht anfreunden, obwohl er selbst recht gut dabei weg kam. Vgl. seinen Brief an Schiller vom 14. Juni 1796 (MA 8.1, S. 173) und an Meyer vom 20. Juni 1796 (FA 31, S. 197–200).

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gel hatte deren siebente und achte Sammlung, die 1796 bei Hartkoch in Riga erschienen war, im neunten Stück des dritten Bandes der Zeitschrift ›Deutschland‹ rezensiert oder vielmehr paraphrasierend wiedergegeben. Schlegel sparte, aus welchen Gründen auch immer, exakt jene Stellen aus, die uns heute durch die ihre Ähnlichkeit mit Formulierungen aus den Notizen, Fragmenten und dem ›Brief über den Roman‹ frappieren. Gruppierte Schlegel die romantische Literaturgeschichte topographisch nach nord- und südeuropäischen Wurzeln, die in Deutschland als Europas Mitte zusammenfließen, dann differenziert und säkularisiert er ein Muster, das Herder in den ›Humanitätsbriefen‹ vorgegeben hatte. Im 97. Brief des achten Fragments der achten Sammlung teilt dieser die Literaturen Europas und ihre Entwicklung in solche katholischer und solche protestantischer Länder. Eine Aufteilung, die ziemlich genau mit jener Schlegels zusammenfällt. Die südeuropäischen, katholischen Länder, insbesondere Spanien und Italien, hätten an ihren alten Dichtungsformen festgehalten, die, Herder spielt auf die Renaissance an, »die schönen Künste und Literatur der Alten war«.571 »Dante, Petrarca und Boccaz«572 sind deren Statthalter in nachantiker Zeit. »In der protestantischen Welt dagegen kam eine neue Poesie auf.«573 Herder zieht den Trennstrich zur Moderne entlang der Religionslinien, denn die Reformation habe das Licht der Aufklärung nicht allein auf »Gegenstände der Religion«, sondern auf die Tradition überhaupt gerichtet. Die neue moderne, protestantische Literatur zeichnet sich entsprechend durch »eine philosophische Hülle« aus. Herder erkennt durchaus an, dass damit ein Verlust an sinnlicher Qualität von Poesie einhergeht, denkt – ganz protestantischer Kirchenrat – diesen Verlustprozess als »dem menschlichen Geist aber nothwendig«.574 Der Trennung von katholischer und protestantischer Dichtung tritt jene von sinnlicher und reflektierter –»Poesie aus Reflexion und (wie soll ich sie nennen?) der reinen Fabelpoesie«575 – mit Schiller von naiver und sentimentalischer Poesie an die Seite. Die modernen, d.h. protestantischen Schriftsteller sind »nur durch Reflexion Dichter.«576

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Johann Gottlob Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität., In: HSW, Bd. 18, S. 95. Ebd., S. 94. Ebd., S. 96. Alle ebd., S. 96. Ebd., S. 100. Ebd., S. 96. Zu Beginn des neunten Fragments relativiert Herder seine hier kategorial vorgestellte Differenzierung dann wieder zugunsten seines genealogischen Modells. »Den großen Unterschied, der zwischen dem Morgen- und Abendlande, zwischen Griechen und uns eintrat, hat keine neue Kategorie, sondern die Vermischung der Völker, der Religionen und Sprachen, endlich der Fortgang der Sitten, der Erfindungen, der Känntniße und Erfahrungen bewirket; ein Unterschied, der schwerlich mit Einem

Die zentrale Mittlerfigur zwischen der »alten und neuen Dichtkunst, als ein Inbegriff beider«577 ist für Herder wie für Schlegel Shakespeare. Interessanterweise rekurriert Herder bereits nicht mehr auf den Gegensatz von griechischrömischer Antike und europäischer Moderne, sondern operiert zunächst mit der sehr viel allgemeiner gefassten und von den wertenden Konnotationen der Querelles entlasteten Differenz von Alt und Neu.578 Shakespeares Werke werden nun zu einem Bindeglied zwischen beiden Literaturen, indem sie einerseits die »Szenen der alten Welt«579 andererseits aber eine neue Form des Prosaausdrucks geschaffen hätten. Da seine Stücke mit den aristotelischen Einheitskategorien brechen, seien sie nicht nur »ein Roman«, »sondern ein in seiner Art aufs vollkommenste nicht etwa beschriebener sondern dargestellter philosophischer Roman«.580 Für den Romanbegriff sind damit drei wichtige Wendungen vollzogen. Erstens wird der Roman von den aristotelischen Einheitsregeln befreit, ja der Verstoß gegen sie wird zum Definiens des Romans. Zweitens wohnt dem Roman ein starkes reflexives Moment inne. Innerhalb der modernen reflektierenden Poesie wird der Roman zu der Gattung, in welcher dieser reflexive Zug am besten zur Geltung kommen kann. Drittens ist aber die Rede von einer Gattung Roman gerade am Beispiel Shakespeare höchst zwiespältig. Herder unterläuft die traditionelle Gattungsbestimmung. Der Roman ist keine festgelegte Gattung, die sich etwa von Lyrik und Drama abgrenzen ließe. Der Roman als Inbegriff moderner Poesie kennzeichnet sich nicht nur in Bestimmung des Handlungsnexus, sondern auch hinsichtlich der gattungstheoretischen Zuordnung als entgrenzende poetische Form, in der die alten Gattungsbestimmungen aufgehoben werden können. Deshalb können Shakespeares Stücke, von den Klassizisten wegen ihrer Abweichung vom aristotelischen Kanon gemieden, zu Romanen werden, weil sie in dieser und anderer Hinsicht (Figurenpersonal, Standesregel) entgrenzend gewirkt haben und so der Poesie ein größeres Feld eröffneten. Keine Gattung der Poesie ist von weiterem Umfange, als der Roman; unter allen ist er auch der verschiedensten Bearbeitung fähig: denn er enthält oder kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographie, Philosophie und die Theorie fast aller Künste, sondern auch die Poesie aller Gattungen und Arten – in Prose.581

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Wort auszudrücken seyn möchte. Wenn ich bei einigen Neuern das Wort Dichter aus Reflexion gebrauchte, so war auch dies unvollkommen: denn ein Dichter aus bloßer Reflexion ist eigentlich kein Dichter.« Ebd., S. 139. Ebd., S. 101. Im 107. Brief des neunten Fragments schreibt Herder denn auch: »Sehr leer war daher der Streit über den Vorzug der Alten und der Neuern, bei welchem man sich wenig Bestimmtes dachte.« Ebd., S. 135. Ebd., S. 101. Ebd., S. 107f. Ebd., S. 109.

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Der Roman ist das Medium, welches die im Zeitalter der Reflexion anachronistisch gewordenen Gattungen in die Moderne zu übersetzen vermag. Herder verweigert sich damit auch einer konsequenten Verfallsgeschichte der Poesie. Im Roman findet die Poesie ihr modernes Residuum. Der Roman ist der Ort, an dem die antagonistischen Prinzipien der Literaturgeschichte – Poesie und Reflexion – nebeneinander treten können und damit auch der Ort, an dem sich Poesie als Ausdruck des Alten und Prosa als Medium der modernen Reflexion ineinander schalten. Was irgend den menschlichen Verstand und das Herz intereßiret, Leidenschaft und Charakter, Gestalt und Gegend, Kunst und Weisheit, was möglich und denkbar ist, ja das Unmögliche selbst kann und darf in einen Roman gebracht werden, sobald es unsern Verstand oder unser Herz intereßiret. Die größesten Disparaten läßt diese Dichtungsart zu: denn sie ist Poesie in Prose.582

Herder spricht der Prosa Poesiefähigkeit zu und arbeitet damit an einem poetologischen Kernproblem, dem wir bei Schlegel, Humboldt, aber auch in Goethes ›Noten zum Divan‹ begegnet sind. Herder benennt auch zwei Gattungen, die in ihrem entgrenzenden und umfassenden Darstellungsanspruch dem Roman ähnelten. Zum einen die Historie, die wir »selbst beinah nicht anders als einen philosophischen Roman zu lesen wünschen«, zum anderen die Homerischen Epen. »Homers Gedichte selbst sind Romane in ihrer Art«.583 Die Umkehrung des Bestimmungsverhältnisses von Epos und Roman aus der Perspektive der Moderne durch Herder verweist auf die Umkehrung des Romansbegriffs im Vergleich zur Aufklärungspoetik: Nicht der Roman ist Epos, sondern das Epos ist Roman. Folgende Ähnlichkeiten zwischen Herders und Schlegels Romankonzeption lassen sich konstatieren: 1. Schlegels Geschichte der romantischen Poesie und ihre topographischen Verortungen zeigen deutliche Analogien zu Herders religionsgeschichtlicher Bestimmung der neueren Literaturgeschichte. 2. Alte und neue Literatur unterscheiden sich durch das ihr inne wohnende Reflexionsniveau. Shakespeare ist die zentrale Figur, welche beide Momente erstmals zusammenzubringen verstand. Beide Autoren beschreiben diese Verbindung über die Differenz Poesie/Prosa. Shakespeare kann so auch zum wichtigsten Ausgangspunkt für die Entwicklung des Romans werden. 3. Der Roman wird kaum mehr als Gattungsbezeichnung in Anspruch genommen. Charakteristisch für den Roman sind zunächst seine entdifferenzierenden Operationen, die scharfe Gattungsbestimmungen unterlaufen und den Roman so unbegrenzt erscheinen lassen. In dieser Eröffnung epischer Universalität besteht für Herder wie für Schlegel ein Analogon zum Epos. 4. Beide sehen in Goethe einen Autor der Moderne, der

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es geschafft habe, die »Form der Alten«584 vom Standpunkt der Moderne wiederzugewinnen. 5. Beide sehen in der Kritik ein wichtiges Instrument, »die Poesie als Kunst auszubilden«585 und beide haben einen Kritikbegriff, der auch auf Seiten des Kritikers eine schöpferisches Vermögen einfordert: »Nur ein Genie kann das Andre beurtheilen und lehren.«586 Im ›Gespräch über die Poesie‹ stehen bei Schlegel denn auch Winckelmann und Goethe für eine in Deutschland sich vollziehende Wende, die Wissen und Poesie wieder in eine Wechselwirkung treten lassen und so die Alexandrinische Spaltung von Dichtung, Gelehrsamkeit und Philosophie, die ein Effekt antiker philologischer Tätigkeit war, aufzuheben. In dieser Aufhebung liegt für Schlegel die Möglichkeit einer neuen zukünftigen romantischen Poesie begründet. Philosophie und Poesie, die höchsten Kräfte des Menschen, die selbst zu Athen jede für sich in der höchsten Blüte doch nur einzeln wirkten, greifen nun ineinander, um sich in ewiger Wechselwirkung gegenseitig zu beleben und zu bilden. Das Übersetzen der Dichter und das Nachbilden ihrer Rhythmen ist zur Kunst und die Kritik zur Wissenschaft geworden, die alte Irrtümer vernichtet und neue Aussichten in die Kenntnis des Altertums eröffnet, in deren Hintergrunde sich eine vollendete Geschichte der Poesie zeigt. Es fehlt nichts, als daß die Deutschen diese Mittel ferner brauchen, daß sie dem Vorbilde folgen, was Goethe aufgestellt hat, die Formen der Kunst überall bis auf den Ursprung erforschen, um sie neu beleben oder verbinden zu können, und daß sie auf die Quellen ihrer eignen Sprache und Dichtung zurückgehn, und die alte Kraft, den hohen Geist wieder frei machen, der noch in den Urkunden der vaterländischen Vorzeit vom Liede der ›Nibelungen‹ bis zum Flemming und Weckherlin bis jetzt verkannt schlummert: so wird die Poesie, die bei keiner modernen Nation so ursprünglich ausgearbeitet und vortrefflich erst eine Sage der Helden, dann ein Spiel der Ritter, und endlich ein Handwerk der Bürger war, nun auch bei eben derselben eine gründliche Wissenschaft wahrer Gelehrten und eine tüchtige Kunst erfindsamer Dichter sein und bleiben.587

Goethe, und dies ist erneut gegen ein alte, aber sich hartnäckig haltende Position der Schlegel-Forschung festzuhalten,588 ist daher noch nicht der neue romantische Dichter, aber der Ausgangspunkt, der Keim, der Prophet einer neuen Poesie,

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Ebd., S. 123. Ebd., S. 121. Ebd., S. 131. KSA II, S. 303. Vgl. Rudolf Haym, Die romantische Schule, Berlin 21906 [1870], S. 251. An dieser Einschätzung entzündet sich ein langer Streit in der Schlegel-Forschung. 1916 weist Arthur O. Lovejoy (On the Meaning of ›Romantic‹ in Early German Romanticism. Part I. In: MLN 31 (1916), S. 385–396) Hayms These von Goethes grundlegender Bedeutung für Schlegels Begriff der romantischen Poesie strikt zurück und lehnt vor allem eine Vorbildfunktion des ›Wilhelm Meister‹ ab. Hans Eichner (Friedrich Schlegel, S. 163) fragt aber zu Recht kritisch, wieso dann der ›Meister‹ und Goethe eine so enorme Bedeutung etwa im ›Gespräch über die Poesie‹ erlangen konnten.

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die aber im Anschluss an Goethe weiterzuentwickeln ist.589 Es entspricht Schlegels Studium- und Philologie-Begriff, wenn er anlog zur beschriebenen Leistung Goethes fordert, in historischen und praktischen Studien alle Formen altromantischer590 Poesie auszuprobieren, um jene neue Epoche der Dichtung erreichen

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Prägnant formuliert im ›Versuch über den Styl in Goethes früheren und späteren Werken‹: »Goethe hat sich in seiner langen Laufbahn von solchen Ergießungen des ersten Feuers, wie sie in einer teils noch rohen teils schon verbildeten Zeit, überall von Prosa und von falschen Tendenzen umgeben, nur immer möglich waren, zu einer Höhe der Kunst heraufgearbeitet, welche zum erstenmal die ganze Poesie der Alten und der Modernen umfaßt, und den Keim eines ewigen Fortschreitens enthält. Der Geist, der jetzt rege ist, muß auch diese Richtung nehmen, und so wird es, dürfen wir hoffen, nicht an Naturen fehlen, die fähig sein werden zu dichten, nach Ideen zu dichten. Wenn sie nach Goethes Vorbilde in Versuchen und Werken jeder Art unermüdet nach dem Bessern trachten; wenn sie sich die universelle Tendenz, die progressiven Maximen dieses Künstlers zu eigen machen, die noch der mannichfaltigsten Anwendung fähig sind; wenn sie wie er das Sichre des Verstandes dem Schimmer des Geistreichen vorziehn: so wird jener Keim nicht verloren gehn, so wird Goethe nicht das Schicksal des Cervantes und des Shakespeare haben können; sondern der Stifter und das Haupt einer neuen Poesie sein, für uns und die Nachwelt.« KSA II, S. 347. Insgesamt wird die Literaturgeschichte als perfektibler Prozess gelesen, doch teile ich Matuscheks allzu glatte Einschätzung nicht, sie sei insgesamt ein Aufstieg zu Goethe. Vgl., ders., Die Macht des Gastmahls, S. 92. Schlegels Modell ist nicht linear teleologisch ausgerichtet, sondern eine wellenartige Kurvenbewegung. Schlegels ›Epochen der Dichtkunst‹ wie auch seine anderen literaturgeschichtlichen Werke gehen von poetischen Peaks aus, auf die dann in der Regel ein Bruch bzw. eine qualitative Abwärtsbewegung erfolgt. Goethe, soviel dürfte deutlich geworden sein, ist nicht Endpunkt einer solchen Bewegung, sondern der untere Scheitelpunkt, an dem sich der literaturgeschichtliche Graph wieder nach oben wendet und auf den neuen Höhepunkt ›Neue Mythologie‹ zuläuft. Diesen Begriff benutzt Schlegel in den Notizen aus dem Jahre 1799. Vgl. KSA XVI, S. 271. Natürlich ist es richtig, dass Schlegel diese Emphase des Romans nur für seine frühromantische Phase bis höchstens 1805 aufrecht erhält, dennoch halte ich die Einschätzung Pravidas, dass »innerhalb der romantischen Bewegung nach 1800 eine Tendenz vom Prosaroman zum Versepos« sich feststellen ließe, für eine Übertreibung. Vgl. Dietmar Pravida, Die Erfindung des Rosenkranzes. Untersuchungen zu Clemens Brentanos Versepos, Frankfurt/M. u.a 2005, S. 224. Zu Schlegel vgl. S. 222–233. Auch wenn Schlegel unter dem Titel ›Aurora‹ sich mit Plänen eines Großepos trug, mit dem ›Roland‹ ein Versepos vorlegte, so muss wohl dennoch von einer randständigen Bedeutung dieser Pläne ausgegangen werden. Die assimilierenden Restitutionsversuche mittelalterlicher Versepen, gliedern sich, wie schon Hans Eichner bemerkte (vgl. KSA V, S. LXXXII ff.), in Schlegels national-religiöse Wende ein, die zwar vom philologischen Wissen profitieren, aber poetologisch offensichtlich hinter die avancierten Versuche zur Gewinnung einer spezifisch modernen Gattung zurückfallen und sich den Vorwurf aus dem Frühwerk gefallen lassen müssen, lediglich einen ästhetischen Historismus zu bedienen. Schon sehr bald gibt Schlegel die Versuche, etwa »komplizierte romanische Versformen im Deutschen nachzubilden, fast völlig« auf. KSA V, S. LXXXV.

zu können. Wer einen neuen romantischen Roman schreiben können will, muss ontogenetisch die Polygenese des Romantischen wiederholen. Als Studien sollte man auch ein[en] SchäferRom[an] machen, ein[en] RitterR.[oman] ein[en] ConversationsR[oman] wie Celestina, ein[en] in Briefen für die jetzige Zeit. – In Werken müssen die Formen nicht aufs Primitive zurückgeführt werden, sondern combinatorisch behandelt. Das Ritterbuch zurückführen auf die ursprüngl[iche] Gattung – wie die Spanischen im Styl – eingestreute Rom[anzen] – Hist[orien] – Umbildung eines alten. SchäferR[oman] rein erfunden.591

Dies setzt auch für den Dichter philologisches Wissen und Studium voraus. Kann etwa die Arabeske sehr wohl eine romantische Form darstellen, die in ihrer Spannung zwischen klassizistischer und romantischer Inanspruchnahme bereits die Grenzen von Antike und Moderne, von Orient und Okzident, verwischt, so kann sie doch die höchsten Ansprüche an die neue Poesie noch nicht erfüllen.592 Wenn Schlegel die Vereinigung philologischen, philosophischen und poetischen Wissens einfordert, dann entwirft er den Roman als die Supergattung, der dies gelingen kann. Er muss »zugleich Geschichte und Theorie der Dichtkunst« selbst sein.593 Geschichte der Dichtkunst kann der Roman insofern sein, als er im Anschluss an Goethe, selbst als »Kompendium«,594 wie es im 78. Lyceumfragment heißt, erscheint. In sympoetischer Nähe fragt Novalis im ›Allgemeinen Brouillon‹: »Romantik. Sollte nicht der Roman alle Gattungen des Styls in einer durch gemeinsamen Geist verschiedentlich gebundenen Folge begreifen?«595 und wieder mit Bezug zu Goethes ›Wilhelm Meister‹: Witzige, bedeutende, sentimentale, moralische, wissenschaftliche, politische, historische, karacteristische, individuelle, drollige oder lächerliche, artistische, humoristische, romantische, tragische, poetische Anekdoten. Geschichte ist eine große Anekdote. Eine Anekdote ist ein historisches Element – ein historisches Molecule oder Epigramm. Eine Geschichte in Anekdoten [...] Es ließe sich etwas über Wilhelm Meister schreiben.596

Theorie wäre ein solcher Roman, insofern er die Poesie auf die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeiten hin befragt und diese entlang der Darstellung der Gattung entwickelt. Das ›Gespräch über den Roman‹ führt ein solches Verfahren

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KSA XVI, S. 282. Eine vorzügliche Übersicht über Geschichte und Funktion der Arabeske und ihre Transformationen in den jeweiligen Künsten bietet Günter Oesterle, [Art.] Arabeske. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch hg. von Karlheinz Barck u.a. Bd. 1, Stuttgart 2000, S. 272–285. KSA II, S. 305. So heißt es denn auch: »Roman, Epos, Elegie, Fantasie, Vision – sind d[ie] Elemente zur Form d[er] mytholog[ischen] π[Poesie].« KSA XVI, S. 288. KSA II, S. 156. Novalis, Das Allgemeine Brouillon, Schriften Bd. III, S. 242–478; S. 271. Novalis, Anekdoten, Schriften Bd. II, S. 567–595; S. 567.

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musterhaft, fast holzschnittartig vor. Der Text beginnt mit einer expositorischen Vorrede des Erzählers, dessen Status zur fiktiven Welt nicht eindeutig geklärt wird. So bleibt unklar, ob er an den berichteten Gesprächen beteiligt gewesen ist und hier gleichsam einen Report präsentiert oder ob es sich nicht vielmehr um rein fiktive Gespräche handelt, die exemplarisch ähnliche »in einem Kreise von Freunden«597 geführte Diskussionen darstellen. Für diese Option spricht einiges.598 Die Gesprächsform599 wird dabei bewusst gewählt, um einen auktorialen Erzählerstandpunkt zu vermeiden, der eine eindeutige Bestimmung des Gegenstandes implizierte. Die Kontrastierung verschiedener Ansichten dient dabei aber nicht der Vorstellung inhaltlich unterschiedlicher Positionen, die der Leser anschließend in eine wertende Hierarchie setzen kann.600 Die optische Metapher der »Ansichten« weist bereits auf das »Interesse an der Vielseitigkeit«. Der verhandelte Gegenstand, die Poesie, wird »bald von dieser, bald von jener Seite« in den Blick genommen. Die Multiplizierung der Perspektiven ist dem »unendlichen Geist der Poesie«601 als Zugriffweise angemessen, zugleich aber wird dieser unendliche Geist der Poesie erst durch diese Vervielfältigung entbunden und sichtbar.602 Innerhalb des ›Gesprächs‹ spielt Schlegel nun exakt jene Punkte durch, die er auf inhaltlicher Ebene vom romantischen Roman verlangt: Es findet sich eine philologische Geschichte der Dichtkunst in Andreas’ ›Epochen der Dichtkunst‹, eine philosophische ›Rede über die Mythologie‹ von Ludoviko, eine Theorie des Romans im Antonios ›Brief über den Roman‹, die reflexiv erneut entfaltet, was auf der Ebene der Darstellung vollzogen wird, und

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KSA II, S. 286. Dieses Spiel wiederholt sich ironischerweise in den (gescheiterten) Versuchen der Forschung den fiktiven Figuren historische Vorbilder im Romantikerkreis zuzuweisen. So wird Ludoviko als mythologischer Redner etwa mit Schelling identifiziert. Es ist bezeichnend, dass sich sehr wohl Ähnlichkeiten feststellen lassen, aber keine eindeutigen Festlegungen. Auf Platons ›Symposium‹ als Folie für das ›Gespräch über die Poesie‹ ist mehrfach hingewiesen worden. Vgl. etwa Matuschek, Die Macht des Gastmahls, S. 81–96. Matuschek (Die Macht des Gastmahls, S. 88) sieht diese Tendenz in der zweiten, späteren Fassung zurückgedrängt und spricht nun von »einem spätromantischen hierarchisch systematisierenden Platonismus«. Alle KSA II, S. 286. Dies entspricht exakt der oben dargestellten Theorie des Lesens bei Schlegel. Die Idee des fiktiven »Gesprächs« als ideale Darstellungsform einer solchen Kritik wird bereits in der ›Meister‹-Rezension betont: »Für diesen Zweck müßten Gespräche über die Charaktere im ›Meister‹ sehr interessant sein können, obgleich sie zum Verständnis des Werks selbst nur etwa episodisch mitwirken könnten: aber Gespräche müßten es sein, um schon durch die Form alle Einseitigkeit zu verbannen. Denn wenn ein einzelner nur aus dem Standpunkte seiner Eigentümlichkeit über jede dieser Personen räsonnierte und ein moralisches Gutachten fällte, das wäre wohl die unfruchtbarste unter allen möglichen Arten, den ›Wilhelm Meister‹ anzusehn« KSA II, S. 143.

eine kritische »Charakteristik«603 des Goetheschen Werks durch Marcus. Nicht nur Philosophie und Poesie gehen in Anspielung auf die platonischen Dialoge ganz ineinander über. Das ›Gespräch über die Poesie‹ vereinigt Philologie, Philosophie und Kritik in »vier Gattungen theoretisierender Prosa« – Vorlesung, Rede, Brief und Charakteristik –, die fiktional in den Dialogen gerahmt werden. In dieser fiktionalen Rahmung beobachtet sich der Text beständig selbst bei diesem Prozess, der in einer geschickten Dopplung explizite wie implizite Theorie ist. Der ›Brief über den Roman‹ ist zugleich interne Dokumenteinlage und explizite Aussprache der Thesen über den Roman, die sich für den Leser in der Struktur des ganzen ›Gesprächs‹ wieder darbietet. Der im ›Brief‹ postulierte Theoriebegriff findet dabei auf zwei Ebenen Anwendung. Zunächst im modernen Sinne von Theorie als ein System von Aussagen über die Möglichkeit, Eigenschaften und Erscheinungsweisen eines Objektes, dem sich die Theorie zuwendet, hier also der Poesie. Zum anderen, und darauf hat die Forschung hingewiesen,604 in Form der antiken Theoria als Anschauung des Kosmos als Ganzes,605 hier in der Aufhebung der Literaturgeschichte des Romantischen im Medium des Romantischen selbst. Theoria »hebt Zeit und Raum auf, damit die Kunstwerke zeitabgehoben kommunizierbar werden.«606 Dies bedeutet aber keinesfalls ihre Negierung als historische Phänomene. Als solche werden sie mit der Gegenwart simultaneisiert. »Ästhetisch gewendete ›Theoria‹ macht das Ensemble vergangener Kunst gegenwärtig.«607 Jetzt wird die berühmte und zentrale Stelle aus dem ›Brief‹ verständlich. Der romantische Roman schaltet die Literaturgeschichte simultan und im Sinne moderner Theorie beobachtet er sich dabei. Zugespitzt: Das Wirken der antiken Theoria wird erst in der Beobachtung der modernen Theorie im Medium des Ästhetischen sichtbar.608 Ein solches ›theoretisches‹ Wissen ist nicht mehr allein naive kontemplative Götterschau, sondern in hohen Maße reflexiv. Schlegel spiegelt die Grundfigur der absoluten Verschiedenheit des Antiken und Modernen bei gleichzeitiger Identität beider, in den Theoriebegriff zurück. Wenn solche Beispiele ans Licht treten, dann würde ich Mut bekommen zu einer Theorie des Romans, die im ursprünglichen Sinne des Wortes eine Theorie wäre: eine geistige Anschauung des Gegenstandes mit ruhigem, heitern ganzen Gemüt, wie es 603 604 605

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KSA II, S. 339. Vgl. Oesterle, Arabeske und Roman, S. 273ff. Hans Blumenberg (Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt/M. 1987) weist auf den Zusammenhang zwischen Astronomie und Entstehung der Theoria hin. Oesterle, Arabeske und Roman, S. 273. Ebd. Denn, so beginnt Blumenberg seine Urgeschichte der Theorie: »Theorie ist etwas, was man nicht sieht« und sie wird nur auf der »Außenseite als ›Verrichtung‹ sichtbar«. Vgl. ders., Das Lachen, S. 9.

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sich ziemt, das bedeutende Spiel göttlicher Bilder in festlicher Freude zu schauen. Eine solche Theorie des Romans würde selbst ein Roman sein müssen, der jeden Ton der Fantasie phantastisch wiedergäbe, und das Chaos der Ritterwelt noch einmal verwirrte. Da würden die alten Wesen in neuen Gestalten leben; da würde der heilige Schatten des Dante sich aus seiner Unterwelt erheben, Laura himmlisch vor uns wandeln, Shakespeare mit Cervantes trauliche Gespräche wechseln; – und da würde Sancho von neuem mit dem Don Quixote scherzen.609

Cervantes im ›Don Quixote‹ und Goethe mit dem ›Wilhelm Meister‹ sind genannt, die die Idee der poetischen Romanprosa verwirklicht hätten. »D[on] Quixote] noch immer d.[er] einzige durchaus romantische Roman. – Die Engländer – Goethe im W[ilhelm] M.[eister] – haben zuerst die Idee von einer Romanπ[Romanpoesie] in Prosa restaurirt.«610 Cervantes und Goethe, ›Don Quixote‹ und ›Wilhelm Meister‹, das sind die Vektoren zwischen denen Schlegel seine Theorie des Romans entwickelt.611 Halten wir kurz inne und fassen zusammen. Wenn unsere Ausgangsthese einer neuen Analogisierung von Epos und Roman für die Theorie des romantischen Romans bei Schlegel haltbar sein soll, dann müsste sich nachweisen lassen, dass Schlegel diese Analogisierung am ›Wilhelm Meister‹ nachvollzieht, der für ihn eine »allgemeine Formel für ein[en] Rom[an]«612 darstellen soll und als solche die erste Ahndung eines zukünftig zu realisierenden romantischen Romans ist.613 Soll der Roman aber als die moderne Gattung im emphatischen Sinne aufgewertet werden, dann kann es nicht genügen, ihn »mit möglichst unterschiedlichen Charakteristiken«614 einfach an die Systemstelle des Epos zu setzen. Um eine Hegelsche Verlustdiagnose zu vermeiden, müssten Epos und Roman bestimmte strukturelle Ähnlichkeiten nachgewiesen werden, die es erlauben, diesem eine jenem vergleichbare Bedeutung zuzuschreiben. Koopmann sieht nahezu das ganze 19. Jahrhundert noch in der klassizistisch-hierarchischen Abwertung des Romans gegenüber dem Epos befangen und erst mit Lukács ›Theorie des Romans‹ von 1920 einen Versuch, den »Roman wieder mit der großen Epik in Verbindung«615 zu bringen. Meine These ist, dass Koopmann diesen Versuch 609 610 611

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KSA II, S. 337. KSA XVI, S. 176. Clemens Heselhaus (Die Wilhelm-Meister-Kritik der Romantiker und die Romantische Romantheorie. In: Hans Robert Jauß (Hg.), Nachahmung und Illusion. Poetik und Hermeneutik I, München 1964, S. 113–127; S. 120) sieht vom »Rückgang auf den cervantinischen Roman« bei den Weimarer Klassizisten (Wieland und Goethe) und den Romantikern (Schlegel, Tieck) die »Erneuerung des Romans in Deutschland« ausgehen. KSA XVI, S. 475. Heselhaus (ebd., S. 115) schlägt bereits vor, die Wilhelm Meister-Rezension zum Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion der romantischen Romantheorie zu machen. Koopmann, Vom Epos, S. 21. Ebd., S. 25.

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120 Jahre zu spät datiert.616 Die Schlegelsche Romantheorie ist nichts anderes als genau dieser Versuch. Der Nachweis für diese These soll in drei Schritten geführt werden: a) im Aufweis des Epos als Theoria seiner selbst, b) in der Parallelisierung des Einheitsbegriffs und c) in den Simultaneitätseffekten, die die Zeitkategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ›annihilieren‹ und es ermöglichen, das literaturgeschichtliche Ensemble der Gattungen, Formen und Stile im Roman zusammenzuführen. Die Legitimation dieser Operation wird u.a. über den Umriss-Begriff begründet. Zunächst: a) In seiner mit Rücksicht auf Wolfs ›Prolegomena‹ verfassten Schrift ›Über die Homerische Poesie‹ von 1796, die oben bereits eingehender besprochen wurde, schreibt Schlegel dem Epos exakt jenen Theoria-Begriff zu, wie er im ›Brief über den Roman‹ beschrieben wurde. Die Theorie, hieß es dort, müsse eine »Anschauung des Gegenstandes mit ruhigem, heitern ganzen Gemüt«617 sein. Schlegel folgt damit der antiken Etymologie von Theoria d.i. Anschauen, Betrachten und der lateinischen Übersetzung als contemplatio. Bei Platon bedeutet die visuelle Metapher »im emphatischen Sinne den Blick für das Ganze und Umfassende«618 des Wissens. Theorie ihrer Gattung ist in diesem Sinne für Schlegel das Epos: »eine vollständige Anschauung für den reinen Begriff und die Gesetze einer ursprünglichen Dichtart«. Das Epos verfügt über eine strukturelle Disposition, die jene kontemplative Stimmung, von der die antike Theoria spricht, ermöglicht: »Erfindung und Ausführung, schaffende Einbildungskraft und ordnende Urteilskraft, Stoff und Form sind in demselben Gleichgewicht«. Das Epos ist damit gleichzeitig vollendete Darstellung und Theorie dieser Darstellung. Eine wichtige Differenz zum Roman ist dabei auszumachen. In der Bestimmung des Epos findet sich ›nur‹ die antike Theoria als natürliches Weltbegreifen. Die Bestimmung des Epos durch das Epos meint also nicht moderne Selbstreflexivität, sondern unmittelbare Einsicht in den Zusammenhang von Allgemeinem und Besonderen. Sie ist »ewig gewesen, oder plötzlich geworden«.619 In die Theorie des Romans aber ist eine Beobachtungsebene zweiter Ordnung eingelassen, die jene für die Moderne bei nahezu allen Autoren des Jena/Weimar Zirkels dezidiert diagnostizierte, charakteristische Reflexivi616

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Um Missverständnissen vorzubeugen: Damit soll nicht eine Vergleichbarkeit von Lukács und Schlegel angedeutet werden. Im Gegenteil: Koopmann weist selbst darauf hin, dass Lukács im Grunde an einer polarisierenden Charakterisierung von Epos und Roman festhält, aber die Hierarchie zugunsten des wirklichkeitsnäheren Romans umdreht. Vgl. ebd., S. 26. KSA II, S. 237. Gert König, Theorie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWP), hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1128–1146; Sp. 1128. Alle KSA I, S. 130 Nahezu gleich lautend in der ›Geschichte der Poesie der Griechen und Römer‹, KSA I, S. 490.

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tät aller Weltverhältnisse im ›philosophischen Zeitalter‹ ermöglicht. Die Theorie des Romans kann nicht mehr allein natürliche Theoria, sondern als Bestimmung der modernen Gattung Roman nur reflektierende Theorie sein. Als solche erfordert sie Mittel, um jene Beobachtungsposition ihrer Selbst einnehmen zu können, bedarf der Distanznahmen, die aber zugleich das strukturelle Gleichgewicht des Epos unmöglich machen: die romantische Ironie. Der Roman ist, mit einer romantischen Formulierung, Epos in 2ter Potenz.620 b) Auf einer zweiten Ebene versucht Schlegel einen Eposbegriff aufzustellen, der sich vor allem von dem bei Gottsched und auch den Schweizern Bodmer und Breitinger zu findenden Einheitsbegriff des Epos verabschiedet. Diese Verabschiedung bedeutete gegen »die gewöhnlichen Meinungen der Theoristen der Epopöe«621 auch eine Verabschiedung der Analogisierung im aristotelischen Handlungsbegriff, »auf Jahrtausende der unerschöpfliche Quell aller der grundstürzenden Mißverständnisse […] welche aus der Verwechslung der tragischen und epischen Dichtart entspringen.«622 Schlegel, daran sei noch einmal erinnert, verortet die Erzählordnung des Epos weniger auf der temporalen, denn auf spatialer Achse als räumliche Anordnung, die durch Einführung von Zeitlichkeit zwar dynamisiert, aber nicht gänzlich ins Sukzessive überführt wird. Das epische Gedicht stellt aber keineswegs eine einzige vollständige poetische Handlung, sondern eine unbestimmte Masse von Begebenheiten dar, unter denen zwar eine Hauptbegebenheit und ein Hauptheld hervortritt, an welche sich alle übrigen anschließen; wie sich in einem schön geordneten Gemälde die Nebenfiguren um eine Hauptfigur gruppieren müssen, nur mit dem Unterschiede, daß in dem fließenden Gemälde, im epischen Gedicht, die Gruppen wechseln.623

Zwei Jahre nach Erscheinen des Aufsatzes ›Über die Homerische Poesie‹ und im selben Jahr der Publikation seiner ›Geschichte der Poesie der Griechen und 620

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In einem nachgelassenen Fragment von 1797 spricht Schlegel denn auch vom Epos als erste Stufe des Romantischen und nennt es den »Anfang des Mischgedichts in Prosa«. KSA XVI, S. 91. KSA I, S. 123. Vgl. auch die nahezu wortgleiche Passage in ›Geschichte der Poesie der Griechen und Römer‹, KSA I, S. 449 ff. KSA I, S. 131. Expliziter wird die dortige Fußnote VII von Schlegel: »Wir müssen also das aristotelische Lob der homerischen Harmonie nicht auf den Schein einer tragischen Ganzheit in dem Ganzen der ›Iliade‹ und ›Odyssee‹, sondern auf die echt epische Einheit der einzelnen Teile, Rhapsodien und Rhapsodiengruppen beziehen. Noch viel weniger auf den bloß historischen Zusammenhang, den wir oft epische Ökonomie zu nennen belieben […]. – Mit sich selbst läßt sich Aristoteles nicht in Übereinstimmung bringen. Aber, wenn man nur beide recht versteht: die Wolfischen Entdekkungen über ihre Entstehung und die Mehrheit ihrer Verfasser, sehr wohl vereinigen.« Vgl. auch wieder die Passagen in der ›Geschichte der Poesie der Griechen und Römer‹ KSA I, S. 466 ff. KSA I, S. 124 [meine Hervorhebung, mb]. Der Begriff auch wieder in ›Geschichte der Poesie der Griechen und Römer‹, KSA I, S. 472.

Römer‹ taucht 1798 diese metaphorische Beschreibung in anderem Zusammenhang wieder auf: in der ›Wilhelm Meister‹-Rezension im zweiten Stück des ersten Bandes des ›Athenäum‹. Der ›Wilhelm Meister‹, so heißt es dort, bestünde aus »beweglichen Gemälde[n]«.624 Diese »deutlich geschiednen Massen und Kapitel bilden mehr oder weniger jede für sich ein malerisches Ganzes.«625 Wachsen im Epos »die kleinen Massen in immer größere zusammen«,626 so dass eine natürliche Harmonie und Einheit, trotz der Autonomie der Einzelteile sich einstellt, so herrscht im ›Meister‹ ein Trieb, »sich zu einem Ganzen zu bilden« und dieser »äußert sich in den größeren wie den kleineren Massen«.627 Dieser organisierende Trieb ist, wie im Epos, »der Geist dieser Masse des ganzen Systems«.628 Schlegels Beschreibung des Verhältnisses von Teil und Ganzem ließe sich ohne Probleme in die Beschreibung der Homerischen Epen einfügen. Über die Organisation des Werks muß der verschiedne Charakter der einzelnen Massen viel Licht geben können. Doch darf sich die Beobachtung und Zergliederung, um von den Teilen zum Ganzen gesetzmäßig fortzuschreiten, eben nicht ins unendlich Kleine verlieren. Sie muß vielmehr als wären es schlechthin einfache Teile bei jenen größern Massen stehn bleiben, deren Selbständigkeit sich auch durch ihre freie Behandlung, Gestaltung und Verwandlung dessen, was sie von den vorhergehenden überkamen, bewährt, und deren innre absichtslose Gleichartigkeit und ursprüngliche Einheit der Dichter selbst durch das absichtliche Bestreben, sie durch sehr verschiedenartige doch immer poetische Mittel zu einem in sich vollendeten Ganzen zu runden, anerkannt hat. Durch jene Fortbildung ist der Zusammenhang, durch diese Einfassung ist die Verschiedenheit der einzelnen Massen gesichert und bestätigt; und so wird jeder notwendige Teil des einen und unteilbaren Romans ein System für sich.629

Auch die Homerischen Epen zeichnen sich durch »Gleichheit der Teile«630 aus und auch hier schließen sich Teile als für sich bestehenden Ganzheiten und die Harmonie des Ganzen631 nicht aus, so dass die Metapher vom poetischen Polypen sich vom Epos auf den Roman übertragen ließe. Dieser Befund lässt sich durch eine Vielzahl von Notizen aus den Nachlassfragmenten stützen. So heißt es in den Fragmenten von 1797 schlicht: »Die romantische Form ist prosaisches Epos«632 und »Der vollkommen[e] Roman muß wohl auch ein Epos sein (d.h.

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KSA II, S. 126. KSA II, S. 129. KSA I, S. 124. KSA II, S. 131. KSA II, S. 130. KSA II, S. 135. KSA II, S. 128. Vgl. KSA II, S. 131. KSA XVI, S. 117.

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classisch[e] und universelle Naturπ[poesie])«633 und über die ›Odyssee‹ heißt es 1798, sie sei, »das älteste romant.[ische] Familiengemählde«.634 Genauso wie Schlegel den Einheitsbegriff mit Bezug auf die philologische Destruktion der Homerischen Epen verteidigt hatte, so verteidigt er auch für den Roman seinen spezifisches Verständnis von Einheit. Der ›Wilhelm Meister‹ unterlaufe zwar die »gewöhnlichen Erwartungen von Einheit und Zusammenhang«,635 wie sie die pragmatische Romantheorie des späten 18. Jahrhunderts formuliert hatte, doch liegt gerade darin die Chance einer neuen Idee von Einheit. Im 103. ›Lyceum‹-Fragment verkehrt Schlegel ein weiteres Mal die übliche Hierarchie von Einheitlichkeit und Fragment über den Geist-Begriff. Viele Werke, deren schöne Verkettung man preist, haben weniger Einheit, als ein bunter Haufen von Einfällen, die nur vom Geiste eines Geistes belebt, nach Einem Ziele zielen. […] Manches Erzeugnis hingegen, an dessen Zusammenhang niemand zweifelt, ist, wie der Künstler selbst sehr wohl weiß, kein Werk, sondern nur Bruchstück, eins oder mehre, Masse, Anlage. […] Das Schlimmste dabei ist, daß alles, was man den gediegenen Stücken, die wirklich da sind, so drüber aufhängt, um einen Schein von Ganzheit zu erkünsteln, meistens nur aus gefärbten Lumpen besteht. Sind diese nun auch gut und täuschend geschminkt, und mit Verstand drappiert: so ist’s eigentlich um desto schlimmer.636

Diese Stelle fügt sich in die obige Darstellung des Verhältnisses von Geist und Einheit ein. Entfällt formale Geschlossenheit als Einheit stiftendes Moment, so bliebe entlang der im Kapiteleingang skizzierten Optionen die Möglichkeit, auf der Handlungs- oder Figurenebene Identität und Einheit zu konstatieren. Für den ›Wilhelm Meister‹ hat die Forschung diese im Bildungsgang Wilhelms festzumachen gesucht und damit beide Optionen in Anspruch genommen. Ist seit den späten 1980er Jahren der Begriff des Bildungsromans zunehmend in die Kritik geraten, so muss diese späte Einsicht angesichts der Prominenz der Rezension Schlegels verwundern. Denn ganz in Übereinstimmung mit seiner Theorie des Lesens wird die Idee der Bildung nicht als affektive Wirkung der inhaltlichen Darstellung eines Bildungsprozesses geschildert,637 sondern der Lektüreanschluss selbst ist es, der produktiv wirkt.638 »Wir sehen auch, daß diese Lehrjahre eher

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KSA XVI, S. 98. KSA XVI, S. 215. KSA II, S. 134. KSA II, S. 159. Die inhaltliche Bestimmung des Handlungsnexus, so Engel (Roman der Goethezeit, S. 394), »kündigt Schlegel kategorisch auf«. Noch in der Rezension von Goethes Sämtlichen Werken, deren erste vier Bände 1806 bei Cotta erschienen waren, in den ›Heidelbergischen Jahrbüchern der Literatur‹ betont Schlegel mit Vehemenz, dass Bildung, obwohl »Hauptbegriff, wohin alles in dem Werke zielt« (KSA III, S. 131), sich nicht auf der inhaltlichen Ebene des Romans verorten lässt und unterscheidet demnach »wahre und falsche Bildung« (ebd., S. 133).

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jeden andern zum tüchtigen Künstler oder zum tüchtigen Mann bilden wollen und bilden können, als Wilhelmen selbst.«639 Schon Schlegel bemerkt, dass eigentliche alle dargestellten Bildungsprozesse im ›Meister‹ scheitern und die Bewegung des Geistes in der Poesie der eigentliche ›Gegenstand‹ des Romans ist: Wie mögen sich die Leser dieses Romans beim Schluß desselben getäuscht fühlen, da aus allen diesen Erziehungsanstalten nichts herauskommt, als bescheidne Liebenswürdigkeit, da hinter allen diesen wunderbaren Zufällen, weissagenden Winken und geheimnisvollen Erscheinungen nichts steckt als die erhabenste Poesie, und da die letzten Fäden des Ganzen nur durch die Willkür eines bis zur Vollendung gebildeten Geistes gelenkt werden!640

Die Brechung der Bildungsgeschichte des Helden, der »fast nie ohne Ironie« erwähnt wird, öffnet den Text für die vielseitigsten kommunikativen Anschlüsse, insofern ein pragmatischer Handlungsnexus nicht einfach durch einen ideellen ersetzt wird, sondern auch dieser ironischer Distanzierung unterworfen wird.641 Es wird später zu zeigen sein, wie diese ironischen Brechungen und die Eröffnung von kommunikativen Anschlussstellen bestimmte Erzählkonzepte nach sich ziehen, die etwa an der Zurückdrängung des auktorialen Erzählers in der Umarbeitung von der ›Theatralischen Sendung‹ zu den ›Lehrjahren‹ und der Einführung eines dokumentarischen Erzählstils sich aufzeigen lassen. Wenn es richtig ist, dass die ›Wilhelm Meister‹-Rezension nicht nur ein Musterbeispiel für den neuen romantischen Kritikbegriff ist, sondern auch ein erster Beitrag zur Theorie des (romantischen) Romans, der den ›Wilhelm Meister‹ als ersten, wenn auch nicht gänzlich ausgereiften Prototypen dieser neuen Gattung präsentiert,642 dann ist festzuhalten, dass dies im Anschluss an die durch Wolfs Philologie belehrte Charakterisierung der Homerischen Epen geschieht. Schlegel greift die aus der Tradition hinlänglich bekannte Analogisierung von Epos und Roman auf, um ihre grundlegende Neudefinition aufeinander zu übertragen. Das Epos eignet sich aufgrund seiner Modernität als Muster für eine neu zuformulierende Literatur der Moderne. Die Analogisierung beider Gattungen, genauer die Tendenz, sich der Gattungsbestimmung zu entziehen, ermöglicht es Schlegel darüber hinaus, ein erstes Beispiel zu geben, um die absolute Identität von Antike und neuer Moderne bei gleichzeitiger scharfer Trennung beider aufzuzeigen.

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KSA II, S. 143. KSA II, S. 144. Vgl. Engel, Roman der Goethezeit, S. 275. Schlegel nennt es das »schlechthin neue und einzige Buch«. KSA II, S. 133. Er will denn auch nichts von der romantheoretische Diskussion seiner Zeit wissen, die nur nach einem »aus zufälligen Erfahrungen und willkürlichen Foderungen zusammengesetzten und entstandnen Gattungsbegriff« (ebd.) urteilt.

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Fanden sich im Epos für Schlegel poetische und prosaische Rede bereits als zu unterscheidende, aber noch nicht in einen Gegensatz getretene Sprechweisen, so ist der Roman, ähnlich wie bei Herder, für ihn der Ort einer neuen Verschaltung von Poesie und Prosa. Beide Begriffe werden dabei von Schlegel von ihren Gattungsbestimmungen etwa als gebundene/ungebundene Rede befreit. Das Poetische zeigt sich in der Möglichkeit zum produktiven Anschluss, das Poetische ist eine bestimmte Bewegung des Geistes. Insofern ist, wie im Falle Homers, die Figur des Autors merkwürdig paradoxiert. Erscheint er als »ein göttlicher Dichter und ein vollendeter Künstler«, so wird sein Name in der gesamten Kritik nicht ein einziges Mal erwähnt. Goethe ist gleichsam omnipräsent und doch entzogen. Goethe und der ›Wilhelm Meister‹, das dürfte auch mit Blick auf die Vielzahl von Notizen und natürlich das berühmte 216. ›Athenäum‹-Fragment, außer Frage stehen, sind für Schlegel die ersten Zeichen der Möglichkeit einer neuen Literatur, die die prosaische Moderne mit ihrer poetischen Prosa im Roman überwinden kann. Obwohl Schlegel auch in seiner Rezension von 1808 noch an der positiven Einschätzung des ›Wilhelm Meister‹ festhält und gar gegen die romantische Kritik in Schutz nimmt,643 so lässt sich doch eine wichtige Verschiebung erkennen. Schlegel variiert nun die aus dem ›Studium‹-Aufsatz bekannte fundamentale Differenz von antiker und moderner Poesie in eine Opposition von romantischer und moderner Kunst. Es ist offensichtlich, dass Schlegel hier an die erste Epoche romantischer Literatur denkt. Ebenso wie einst Antike und Moderne, sind jetzt romantische und moderne Poesie »wie durch eine große Kluft getrennt«.644 Schlegel behält sogar das frühere Differenzkriterium bei. Zeichne sich jene durch Unmittelbarkeit und Eigenständigkeit im Bezug auf das sie umgebende Leben, »auf das auch sie wieder lebendig einwirkten«, so ist das »unterscheidende Merkmal der modernen Dichtkunst [...] ihr genaues Verhältnis zur Kritik und Theorie«. Goethe und der ›Wilhelm Meister‹ gehören »durchaus der modernen Poesie an«.645 Anders als man vermuten möchte, ist damit aber kein pejorativer Gestus gegen Goethe verbunden. Aufschlussreich ist vielmehr der Wandel des Romantikbegriffes, der hier gänzlich literaturgeschichtlich gefasst wird. Schlegel tritt der (romantischen) Literatur seiner Zeit hier geradezu polemisch gegenüber.646 643 644 645 646

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Vgl. Mennemeier, Schlegels Poesiebegriff, S. 384. KSA III, S. 138. KSA III, S. 138f. Vgl. die genau widersprechende Einschätzung Mennemeiers (Schlegels Poesiebegriff, S. 385), der hier einen Angriff auf Goethe sieht. Gerade auf dem Hintergrund der negativen Bewertung der zeitgenössischen romantischen Literatur, etwa Brentanos und Arnims, aber sehe ich hier einen Angriff auf diese falsch verstandene Romantik. Damit soll nicht die deutliche Distanznahme zu Goethe verdeckt werden, die mit der Abwendung vom emphatischen frühromantischen Projekt auch einhergeht. In der Rezension fragt Schlegel nach dem Grund des ausbleibenden Publikumerfol-

Goethe, den er zunächst von der Kritik an der Gegenwartsliteratur ausnimmt, habe, anders als viele andere, verstanden, dass ein Zurück weder zur Antike noch zur Romantik möglich sei.647 Wie schon im ›Gespräch‹ hebt Schlegel die Fähigkeit Goethes hervor, das literaturgeschichtliche »Studium nicht als eine Fessel zu tragen, sondern als Werkzeug zu gebrauchen«. Die Leistung des Romans sieht Schlegel nun nicht mehr in der Aufstellung eines neuen Begriffs des Romantischen, sondern des Klassischen. Der ›Wilhelm Meister‹ »sei ein Roman gegen das Romantische, der uns auf dem Umweg des Modernen (wie durch die Sünde zur Heiligkeit) zum Antiken zurückführe.«648 Eingedenk der bisher verfolgten Argumentation wäre zu überlegen, ob diese ›moderne Antike‹ nicht der dritten Epoche romantischer Poesie entspräche. Entgegenzuhalten ist, dass Schlegel in derselben Rezension mit Blick auf Goethes Elegien diese zwar als »Nachbildungen des Antiken« lobt, zugleich aber anmahnt, solche Versuche könnten allenfalls als »notwendige, aber vorübergegangene Stufe« betrachtet werden. Es zeigt sich dann, dass der postromantische Schlegel, das Romantische wesentlich in der Rekurrenz auf einen Begriff des Nationalen, des Deutschen verortet. Sie soll »ganz nationell sein«649 und »möge sich […] deutscher Weisen und Formen bedienen«.650 Schlegel hebt mit den Liedern und einzelnen Gedichten exakt jene Passagen aus Goethes Werk positiv hervor, die sich dieser Forderung einpassen lassen.651 Der ›Wilhelm Meister‹ freilich kann einem solchen Begriff des Romantischen nicht entsprechen. In der Rückkehr zur Gattungshierarchie, die der oben ausgeführten Rückkehr zur Hierarchie der Wissenschaften an die Seite tritt,652 verkündet sich die Enttäuschung einer (auch politischen) Hoffnung, die Schlegel im früh-

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ges. Bedenkt man die Goethesche Position in der Diskussion um Umriss und Skizze etwa in ›Der Sammler und die Seinigen‹, dürften die Schlegelschen Formulierungen eine Provokation sein, wenn er Goethe nun seine eigenen Maßstäbe kritisch vorwirft, die er und sein Bruder aber 1799/1800 eben als positive Merkmale und mit Skizze, Umriss, Fragment und Spiel als Kernbegriffe frühromantischer Poetik herausgehoben hatten. »Wir finden den Grund jenes, eine lange Zeit hindurch sogar nicht, und vielleicht auch jetzt noch nicht angemessenen Erfolges unsers Dichters darin, daß er die Größe seiner Kraft zu oft in bloßen Skizzen, Umrisse, Fragmente, kleinere bloß zum Versuch oder zum Spiel gebildete Werke vereinzelt, und selbst zersplittert hat.« KSA III, S. 128. Die Isolierung Goethes in der literarischen Landschaft der Zeit, die Schlegel hier beschreibt, hat dieser nach dem Tode Schillers selber mehr und mehr verspürt. KSA III, S. 131. Unnötig anzumerken, dass damit keine naive, sondern allenfalls eine dialektische Rückkehr gemeint sein kann. KSA III, S. 123. KSA III, S. 124. Mennemeier (Schlegels Poesiebegriff, S. 367) sieht denn beim späten Schlegel in der Präferenz der poetischen Gattungen einen »Wechsel, der an die Stelle des ›Romans‹ das lyrische Gedicht rücken läßt«. Vgl. oben S. 165.

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romantischen Projekt der Transzendierung der Gattungsgrenzen und der Idee einer Universalpoesie um die Jahrhundertwende gegründet sah. Sie fällt zurück in einen christkatholisch verbrämten, nationalen Reaktionismus, dem nun eine literaturgeschichtlich rückverlängerte Legitimation im Begriff des Romantischen als der Deutschen Weise und Form an die Seite gestellt wird. c) Günter Oesterle hat die Bedeutung der Umrisstheorie für die literarische Aneignungspraktik von Tradition in Klassizismus und Romantik ausführlich dargelegt.653 Die Debatte, die sich etwa zwischen A. W. Schlegel und Goethe anlässlich der mythologischen Umrisszeichnungen John Flaxmanns entwickelt, braucht daher hier nicht en Detail wiederholt zu werden.654 Oesterle nennt drei wichtige Funktionen der Umrisstheorie in der Goethe-Zeit: »1. die Kraft, etwas aus der Masse herauszuheben 2. die Konzentration auf das ›rein Formale der angeschauten Gegenstände‹ 3. die Möglichkeit, das Sukzessive ins Simultane zu übersetzen.«655 Von diesen Eigenschaften interessiert hier insbesondere die dritte. Im ›Gespräch‹ findet sich der Umriss-Begriff im Anschluss an die statthabende Diskussion über den Sinn oder Unsinn von Gattungspoetiken nach der Darstellung der ›Epochen der Dichtkunst‹. Ganz in klassizistischer Tradition sieht Marcus die wichtigste Funktion des Umrisses in der Begrenzung und Autonomisierung des Kunstwerks: »Das Wesentliche sind die bestimmten Zwecke, die Absonderung wodurch allein das Kunstwerk Umriß erhält und in sich selbst vollendet wird«.656 Charakteristisch für den Umriss ist dabei sein zweiseitiges Vermögen, einerseits von der Fülle der sichtbaren Erscheinungen des Gegenstandes zu abstrahieren, andererseits aber durch die Komprimierung auf seine wesentlichen Züge, den Gegenstand als Ganzen überhaupt erst zu konstituieren

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Vgl. Günter Oesterle, Die folgenreiche und strittige Konjunktur des Umrisses in Klassizismus und Romantik. In: ders./Gerhard Neumann (Hg.), Bild und Schrift in der Romantik, Würzburg 2000, S. 27–58. Angemerkt sei hier zunächst nur, dass sich die Position Goethes, der, wie Oesterle feststellt, zunächst an der strikten Unterscheidung der Künste festhält, vor allem im Spätwerk ändern wird. Man denke nur an die gegenseitige Verwiesenheit der Künste in der ›Pädagogischen Provinz‹ der ›Wanderjahre‹. Der wohl entscheidende Unterschied zwischen den Positionen bleibt aber wohl, dass Goethe zunächst bestrebt ist, jede Kunst auf ihr Maximum zu befragen, bevor er sie untereinander in einen entdifferenzierenden Austausch treten lässt. Bildet sich der jeweilige Künstler in seinem Gebiet nicht bis zum höchsten Grade der Kunst, sondern sucht zu früh den Austausch, gerät er und die Kunst in Gefahr im Mittelmaß, im Dilettantismus zu verbleiben, wohingegen A. W. Schlegel nur im frühzeitigen Rekurs auf eine den Künsten vorgängige Einheit die Möglichkeit sieht, dieser die emphatisch-romantischen Ansprüche anzulasten. Auch A. W. Schlegel hält aber doch an einer »Wahrung der beidseitigen Autonomie« (Oesterle, Die folgenreiche Konjunktur, S. 45) von bildender Kunst und Dichtung fest. Oesterle, Arabeske und Roman, S. 271. KSA II, S. 306.

und sichtbar werden zu lassen.657 Vermittels dieser Verdichtungsleistung vermag der Umriss zum idealen Medium der antiken Theoria als Wesenschau des Ganzen fungieren. Es ließe sich gar zuspitzen, dass die Möglichkeit der kontemplativen Schau der Theorie an die Komprimierungs- und Abstraktionsleistung des Umrisses geknüpft ist. Friedrich Schlegel, so Oesterle, hat im Anschluss an seinen Bruder die Umrisstheorie auf literarische Gattungen übertragen und damit einen Operationsmodus gefunden, der den Karneval der Stile und Gattungen in der Supergattung des Romans paradieren zu lassen vermag, ohne ihre Differenzen historisch einholen zu müssen. Genau daraus entstünde für die Poesie im Allgemeinen und dem Roman im Besonderen ein Simultaneitätseffekt, der es ermögliche, den allgegenwärtig diagnostizierten Bruch zur Tradition zu überspringen658 und diese mit der Gegenwart produktiv gleichzuschalten. Bedingung der Möglichkeit dieses Tigersprungs sei jene »Muße und Kontemplation«659 der antiken Theoria. Wenn dem so ist, und ich sehe keinen widersprechenden Grund, dann wird über diese Verbindung Schlegels Theorie des Epos erneut mit der des Romans parallelisiert. Unter a) wurde bereits auf die auffälligen Ähnlichkeiten in der Bestimmung der Theoria für Epos und Roman hingewiesen. Im Begriff des Umrisses tritt nun eine weitere Analogie hinzu. Zunächst nimmt Schlegel die im Klassizismus hervorgehobene Bedeutung des Umrisses als Begrenzung und Absonderung zur Autonomisierung des einzelnen Kunstwerkes für die durch die ›Prolegomena‹ belehrte Charakterisierung der Struktur der Homerischen Epen als Beieinanderstehen je eigenständiger Rhapsodien zu einer Einheit in Anspruch. So erscheinen

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Vgl. Busch, Umrißzeichnung und Arabeske, S. 127. Diesen antihistoristischen und zugleich gegenwärtigenden Grundzug des Umrisses hat bereits Carl Ludwig Fernow 1806 in seiner Biographie des Umriss-Künstlers Asmus Jakob Carstens (Lebens des Künstlers Asmus Jakob Carstens. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1806, S. 249 ff.) herausgehoben: »sein Beispiel kann auch diejenigen eines Besseren belehren, welche in dem eben so grossen Wahn stehen: dass die Gegenstände des heidnischen Alterthums, so wie der Stil der alten Kunst, nicht mehr für die unsrige taugen, die sich nur an den Gegenständen der christkatholischen Religion zu einer noch nie erreichten Höhe erheben, und nur durch diese eines allgemeinen Interesses fähig sein könne. […] Aber diese frommen Kunstfreunde bedenken nicht, dass unser Zeitalter […] ebenso wenig durch christliche als durch heidnische Mythologie zu begeistern ist; dass also auch beide […] der Kunst gleich ferne liegen; so wie der seit gestern Todte, so todt ist wie der, welcher vor Jahrhunderten starb. Sie bedenken nicht, dass Vergangenheit nie wieder Gegenwart werden kann, und dass es eben so unmöglich sein würde, die Kunst wieder zu ihrer einfältigen Kindheit, als unsere Zeit zu dem kindischen Geist und Glauben der Zeiten zurückzuführen, der jene entwickelt hat.« Zitat und weiterer Kontext auch bei Busch, Umrißzeichnung und Arabeske, S. 129ff. Oesterle, Arabeske und Roman, S. 272.

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die Rhapsodien »in klaren Umrissen und einfachen Massen«660 als je autonome Einzelteile des Ganzen, mit Rückgriff auf Schlegels Polypenmetapher als dessen abgetrennte Glieder, die ihr Einzelleben fortzuführen vermögen. In ›Über die Homerische Poesie‹ erscheint die seit Winckelmann immer wieder gepriesene Einfachheit der Griechen im Epos als Effekt des Umrisses, der trotz der Fülle der Begebenheiten die Epen als sinnliche Einheit erscheinen lasse. »Die epische Dichtart ist unter allen die einfachste. Sie ordnet eine unbegrenzte Vielheit möglicher, äußrer, durch ursächliche Verknüpfung verbundener Gegenstände durch Gleichartigkeit des Stoffs und Abrundung der Umrisse zu einer bloß sinnlichen Einheit.«661 Der Umriss der Einzelrhapsodien führt zu einer Reduktion epischer Komplexität von Handlungszusammenhängen. Der Umriss ist damit Voraussetzung für ein von Schlegel immer wieder betontes Charakteristikum der Homerischen Epen, aber auch der romantischen Poesie: Beide erscheinen äußerlich scharf begrenzt, innerlich aber von unendlicher Fülle. Dies wird nicht als Paradoxie, sondern als wechselseitiges Bedingungsverhältnis gedacht. Nur als Begrenztes, Gerahmtes vermag die »Erwartung ins Unendliche«662 greifbar zu werden,663 und nur, weil diese im Umriss der Einzelteile greifbar wird, kann im Leser ein Prozess angeregt werden, eine Position der, im Sinne der Theoria, unbestimmten, absichtlosen und infiniten Betrachtung der schönen »Weltansicht«664 einzunehmen. Gebildet ist ein Werk, wenn es überall scharf begrenzt, innerhalb der Grenzen aber grenzenlos und unerschöpflich ist, wenn es sich selbst ganz treu, überall gleich, und doch über sich selbst erhaben ist. Das Höchste und Letzte ist, wie bei der Erziehung eines jungen Engländers, le grand tour. Es muß durch alle drei oder vier Weltteile der Menschheit gewandert sein, nicht um die Ecken seiner Individualität abzuschleifen, sondern um seinen Blick zu erweitern und seinem Geist mehr Freiheit und innre Vielseitigkeit und dadurch mehr Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit zu geben.665

Dies zu leisten vermag der Umriss. Aufgrund der umrisshaften Darstellung können die Einzelteile sich wie in einem Gemälde zusammenfinden. Es ist der Umriss, der das Epos als Theoria, als umfassende Schau des Ganzen möglich werden lässt: »Die Einbildung selbst hat ihre [der Homerischen Epen, mb] Umrisse verzeichnet. Es sind gegebene Ganze der Anschauung, Wahrnehmung des äußern und des innern Sinns«.666 660 661 662 663

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KSA I, S. 452. KSA I, S. 124. KSA I, S. 125. So auch Herder im 82. Brief des zweiten Fragments der von Schlegel rezensierten siebten Sammlung der ›Humanitäts-Briefe‹: »Das Unendliche giebt kein Bild: denn es hat keinen Umriß;« HSW, Bd. 18, S. 20. KSA I, S. 125. KSA II, S. 215. KSA I, S. 457.

Damit bringt Schlegel über das visuelle Begriffsfeld eine weitere Dimension in das Verhältnis von Umriss und Epos ein. Diente in Lessings ›Laokoon‹ die Differenz von Anschaulichkeit und Handlung, mithin von Simultaneität und Sukzessivität zur kategorialen Unterscheidung von bildender Kunst und Dichtung,667 so ebnet Schlegel diesen Unterschied für das Epos wieder ein. Zwar spricht er, wie oben zitiert, vom »fließenden Gemälde«,668 nicht zu übersehen ist aber, dass er einen sukzessiven Handlungsbegriff für das Epos über die Umrisstheorie zurückweist: »Die reine dichterische Erzählung […] kennt ihrem Wesen nach weder Anfang noch Ende. Solange nur der Stoff gleichartig bleibt, und die Umrisse sich runden lassen, können die kleinen Massen in immer größere zusammenwachsen.«669 Diese tableauhafte Handlungsstruktur mit je umrissenen Einzelteilen hat notwendig die Aufgabe eines formalistischen Einheitsbegriffs zur Folge. Hatte Schlegel die Einheit der Homerischen Epen bereits auf anderer Ebene als der Handlungsstruktur gesucht, braucht er sich nun für die Gesamtstruktur der Epen nicht mehr in Gegensatz zu Wolf zu stellen, der die Form der Epen als Resultat philologischer Arbeit identifiziert hatte. Sind die Einzelrhapsodien durch Umriss autark geworden, so ist nur hier vollkommene Harmonie und Geschlossenheit zu finden. In der Anordnung des epischen Tableaus hingegen seien die »harten Verbindungsstellen« und die »Ungleichartigkeit der Massen nicht immer sanft genug ineinander verschmolzen«.670 Die mehr räumlich denn zeitlich gedachte Anordnung führt dabei zu einer Simultaneisierung aller Zeitkategorien im Epos. Der epischen Darstellung »gilt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft völlig gleich«, entweder sie »geht ohne Sprung von einem zum anderen über, oder mischt sie alle.«671 Eine solch transpositorische Leistung672 ist nun weit entfernt von einer klassizistischen Umrisstheorie. Die tendenzielle Aufhebung von Temporalität durch den Begriff des Umrisses wird A. W. Schlegel in seinem ›Flaxmann‹-Aufsatz aus dem ›Athenäum‹ 1799 dazu nutzen, den Umriss, nicht als historistische Form antikisierender Darstellung zu beschreiben, sondern ihm die Fähigkeit zuzusprechen, »Poesien der Vergangen-

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Oesterle, Die folgenreiche Konjunktur, S. 34f. KSA I, S. 124. KSA I, S. 124. Weiter heißt es in bewusster Abgrenzung gegen einen aufklärerischen Erzählbegriff: »Er [Homer, mb] erregt nämlich keine bestimmte Erwartung nach der Entwicklung eines Keims, der Auflösung eines Knotens, der Vollendung einer Absicht […]. Im epischen Gedicht ist eigentlich keine Verwicklung und Auflösung.« KSA I, S. 125. KSA I, S. 452. KSA I, S. 478. Wie dann vor allem A. W. Schlegel für den Umriss geltend macht. Vgl. Oesterle, Die folgenreiche Konjunktur, S. 41.

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heit […] anschaulich darzustellen.«673 Für unseren Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass damit in Arabeske und Umriss zwei Formen gefunden sind, die einen antiquarischen Historismus des Antiken unterlaufen und ein unmittelbares Zusammenstehen des historisch Disparaten ermöglichen.674 Es bleibt der Nachweis zu führen, dass der Umrissbegriff, der hier in Bezug auf das Epos entfaltet wurde, auch in der Schlegelschen Bestimmung des Romans bzw. des ›Wilhelm Meister‹ relevant wird. Unter Punkt b) wurde bereits darauf verwiesen, dass Schlegel auch im ›Wilhelm Meister‹ die Handlungsstruktur nicht über den Verlauf einer sukzessiven Bildungsgeschichte darstellt, sondern über die visuelle Metapher des Gemäldes, die die einzelnen Bücher eher als zusammengestellte Bilder, denn als kontinuierlich gedachte Romanhandlung beschreibt und solchermaßen Analogien zu seiner Beschreibung des Epos aufbaut. Die GemäldeStruktur wird nun auch in der ›Meister‹-Rezension gleich zu Beginn mit dem Begriff des Umrisses in Verbindung gebracht. »Die Umrisse sind allgemein und leicht, aber sie sind genau, scharf und sicher.« Der Effekt auf den Leser ist dabei der gleiche wie bei der Lektüre der Homerischen Epen. Der Geist wird »vielfach angeregt«,675 so dass die Beschränkung und Begrenzung durch den Umriss zu einer Überschreitung der unmittelbaren Darstellung führt und jeder »weit über sich selbst erhoben wird« und sich so als »Teil der unendlichen Welt«676

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Oesterle, Die folgenreiche Konjunktur, S. 42. Dies wiederum hebt Herder an Goethe hervor. Ihm sei es gelungen, »sich der Form der Alten auf einem neuen Wege« zu nähern, indem »er eine einzelne gewählte Form im leichtesten Umriß zu ihrer Art vollendet« habe. »So sein Clavigo, seine Stella, sein Egmont, Tasso und jene schöne Griechische Form, Iphigenia in Tauris. In ihr hat er wie Sophokles den Euripides überwunden. Auch aus dem Reich der Unformen rief er Formen hervor, wie sein Faust, sein Kophta; auch andre Gedichtarten sind nach Form der Alten glücklich von ihm bearbeitet worden. Wer nach diesen und andern Productionen, auch in Übersetzungen aus fremden Sprachen, die Poesie der Deutschen Formlos nennen will, der zeige mir unter Italiänern, Spaniern, Franzosen und Engländern beßere Formen. Wenn an mehrere ihrer Dichter das Richtmaas gelegt würde, das Leßing in einigen Stücken an Corneille und Voltaire legte; wo bliebe Form und Umriß?« HSW, Bd. 18, S. 123. Vgl. auch noch einmal die Stelle aus dem ›Gespräch‹ (KSA II, S. 303), in der Goethe für exakt dieses Können gelobt wird. Heselhaus (Die Wilhelm-Meister-Kritik, S. 127) sieht in der Schlegelschen Romanpoetik als »historische Erweckung« alter poetischer Formen einen »Ausdruck des Historizismus«. Es dürfte deutlich geworden sein, dass dem hier nicht zugestimmt werden kann. Vgl. dagegen auch Ernst Behler (Der Roman der Frühromantik. In: Koopmann (Hg.), Handbuch, S. 273–301; S. 275), der bei Schlegel »nicht bloße Wiederholung von schon Dagewesenem, sondern Neuschöpfung aus eigenem Modernitätsbewußtsein« konstatiert. Man sieht bei Behler immer wieder ein gewisses Schwanken zwischen der Historizität als eigentlicher Leistung Schlegels und dessen »Kontemporaneität«, ohne dass beide Momente wirklich stimmig aufeinander bezogen würden. Beide KSA II, S. 126. Beide KSA II, S. 127.

im Umriss der Figurenzeichnung identifizieren kann. Darin sieht Schlegel offenbar ein wesentliches Merkmal des Romans. Treibt der Geist des Lesers durch die vielfache Anregung der Darstellung ins Unendliche, so vermag der Roman diesen Trieb aber immer wieder einzuholen und der gegebenen Gefahr »in ein leeres Unendliches«677 hinauszustreben, vermittels Begrenzung entgegenzuwirken. Auch hier zeigt sich wieder die oben ausführlich rekonstruierte Figur, Progressivität und Zirkularität zusammenzudenken. Dieser Eindruck verstärkt sich noch durch den Hinweis, das zweite Buch, wiederhole »die Resultate des ersten musikalisch«.678 Die einzelnen Bücher als Bilder stehen dabei durch die Begrenzung als eigenständige Teile, bleiben aber, wie im Epos, dennoch nicht unverbunden. Dies setzt exakt jene Dialektik von Isolierung und Zusammenhang ins Werk, die im Epos aufgespürt wurde. »Durch jene Fortbildung ist der Zusammenhang, durch diese Einfassung ist die Verschiedenheit der einzelnen Massen gesichert und bestätigt; und so wird jeder notwendige Teil des einen und unteilbaren Romans ein System für sich.«679 Besonders deutlich wird dies bei der Beschreibung des sechsten Buches ›Die Bekenntnisse der schönen Seele‹. Hatte Goethe selbst geahnt, dass das Buch als disparates Moment wahrgenommen werden würde und lag er mit dieser Einschätzung etwa bei den Reaktionen Körners und W. v. Humboldts durchaus richtig,680 so ist Schlegel die Autonomie und Eigenständigkeit der ›Bekenntnisse‹ willkommenes Beispiel für die Beschreibung der Romanstruktur. Es offenbare nämlich eine »scheinbare Beziehungslosigkeit auf das Ganze und in den früheren Teilen des Romans beispiellose Willkürlichkeit der Verflechtungen mit dem Ganzen«.681 Einheit wird aber analog zum Epos durch den »künstlerischen Geist des Ganzen« trotz oder wegen des autonomen Charakters der Einzelteile erreicht. Die Funktion des Umrisses für den Roman wird nun deutlicher erkennbar. Die aus der klassizistischen Tradition übernommene Autonomisierung und Abgrenzung der umrissenen Teile erscheint als Möglichkeit, einer psychologisch-kausal deterministischen Aufklärungspoetik des Romans zu entrinnen. Wird den isolierten Einzelteilen Autonomie zugeschrieben, so entfällt gleichzeitig der Zwang zu stilistischer und formaler Ähnlichkeit der Teile untereinander, um Einheitlichkeit sicherzustellen. Der Roman kann nun in seinen Einzelteilen jene »Suite von Werken, Studien, Skizzen, Fragmenten, Versuchen in jeder Gattung und in den verschiedensten Formen«682 werden, die Schlegel für das Gesamtwerk

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KSA II, S. 128. KSA II, S. 129. KSA II, S. 135. Vgl. den Kommentar in der Hamburger Ausgabe. HA VII, S. 769. KSA II, S. 141. KSA II, S. 302.

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Goethes veranschlagt hatte. Eine solche Formlosigkeit, wie sie dem Roman in der Geschichte der Gattung immer wieder vorgehalten wurde, teilt er mit dem Epos, deren Form Wolf als Resultat philologischer Bearbeitung enttarnt hatte. Ähnlich wie das Epos sich in seiner Mittelstellung zwischen Poesie und Prosa, Dichtung und Historie einer genauen Gattungsbestimmung entzieht, so versucht Schlegel den Roman eben nicht als fix zu bestimmende Gattung aufzustellen. Wie die »darum etwas verwandte epische Dichtung« durch »ihre eigne Art von Formlosigkeit«, so sind beide, Roman und Epos, »keine Gattungen«, die »so bestimmte Theorien und so feste Grundsätze haben […] als die dramatische Dichtkunst«.683 Weiterhin wird über den Begriff des Umrisses und die Gemäldemetapher der Roman als Konglomerat verschiedener Stile und Gattungen historisch entlastet. In der Rahmung des Romans vermag die Geschichte der Gattungen wieder aufzutreten, ohne als antiquarische Restitution des Vergangenen erscheinen zu müssen, denn das simultane Zusammentreten der je begrenzten Einzelteile führt zu jener progressiven Universalpoesie von der das 116. ›Athenäum‹-Fragment schwärmt. Und nur als solche vermag sie, »gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters«684 zu sein, zugleich aber auch, hierin dem Epos überlegen, Abriss, um nicht zu sagen, Umriss der Geschichte und Theorie ihrer selbst zu werden. Insbesondere Hegels ›Ästhetik‹ beschreibt die Ersetzung des Epos durch den Roman als Verlustgeschäft, des Verlustes eines ursprünglich poetischen Weltzustandes. F. Schlegel geht exakt von dieser im ›Studium‹-Aufsatz gezogenen Diagnose aus. Sein frühromantisches Projekt aber besteht gerade darin, durch die neue Analogisierung von Epos und Roman, letzteren zum Ort einer Poetisierung der Wirklichkeit werden zu lassen. Dieses poetische Potential konnte aber nicht aus einer unpoetischen Gegenwart heraus entwickelt werden. Es bedurfte also der Möglichkeiten den ursprünglich poetischen Weltzustand des Epos nicht auf der Ebene der Darstellung als Idylle wiederherzustellen, sondern das Poetische/ Romantische überall, wo es sich in der Literaturgeschichte zeigte, philologisch aufzuspüren und nun in einer spezifisch modernen Rahmung, dem Roman, wieder analog zu schalten. Der Roman ist so zugleich das Archiv, in dem sich das Romantische eingelagert finden kann, wie das Medium dieses wieder in gegenwärtige kulturelle Zirkulation einzuspeisen.

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Alle KSA III, S. 141. KSA II, S. 182. An dieser Parallele wird weiterhin festgehalten, wenn Schlegel in der Rezension von 1808 schreibt: »denn der Roman ist oftmals, wie das epische Gedicht, nicht bloß das Werk des Künstlers und seiner Absicht, sondern das gemeinschaftliche Erzeugnis des Dichters und des Zeitalters, dem sich und sein Werk widmet.« KSA III, S. 137.

16. Der Roman als philologisches Kompendium – Goethes ›Wanderjahre‹ Nahezu jede Studie der letzten 20 Jahre zu den ›Wanderjahren‹ hebt mit dem Hinweis an, das letzte epische Werk Goethes sei keineswegs Zeugnis einer schwindenden poetischen Gestaltungskraft, sondern mit ›Faust II‹ Kulminationspunkt des Werkes. Bereits 1936 bezeichnete Hermann Broch die ›Wanderjahre‹ als »den Grundstein der neuen Dichtung, des neuen Romans«.685 Findet sich in Formanalysen des Romans eine Tendenz, die Gewagtheit und den Formverstoß hervorzuheben, für die Stefan Blessins ›Goethes Romane. Aufbruch in die Moderne‹686 schon im Titel programmatisch ist, so entgeht manchem, dass die ›Wanderjahre‹ wie schon die ›Unterhaltungen‹ sich in großem Maße mit Formen konventionellen Erzählens auseinandersetzen und diese beerben. Die Aufwertung des Romans ist dabei ganz offensichtlich mit der Aufwertung offener Formen verbunden. An der Rezeptionsgeschichte der ›Wanderjahre‹ lässt sich auch eine Geschichte der Präferenzen literarischer Kritik ablesen. Die wertende Differenz von offenen und geschlossenen Formen tritt dabei keineswegs erst im 20. Jahrhundert, wie oft suggeriert, in den Kritiken zu Tage, sondern steht bereits im Zentrum der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem ›Wilhelm Meister‹, die mit Friedrich Schlegels ›Lehrjahre‹-Rezension begonnen hatte. Anders als in der ›Wanderjahre‹-Forschung üblich soll hier nicht ein weiteres Mal die Prospektivität des Romans, so richtig sie sein mag, beschworen werden und mit der Genialität des alten Goethe begründet werden. Ist zum erreichten Forschungsstand der immanenten Analyse der Erzählform der ›Wanderjahre‹ nur noch wenig hinzuzufügen, so fehlt immer noch eine plausible Erklärung für deren literaturgeschichtliche Genese. Diese Leerstelle ist insofern leicht zu erklären, da literaturgeschichtlich in der Tat kaum Formmodelle auszumachen sind, die sich zur Beschreibung der Form des Romans anbieten würden. Aus dieser Verlegenheit heraus wird dann gerne auf den modernen oder gar postmodernen Roman verwiesen. Ein solcher Vorgriff aber mag zur literaturgeschichtlichen Erhellung des 20. Jahrhunderts beitragen – genau darum geht es ja dem stets zitierten Broch – zur Erklärung der ›Wanderjahre‹ taugt er allenfalls als interessante Analogie.687

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Herman Broch, James Joyce und die Gegenwart, Wien – Leipzig – Zürich 1936, S. 28. Stefan Blessin, Goethes Romane. Aufbruch in die Moderne, Paderborn 1996. Das gilt auch für Barbara Thums Versuch einer Analogisierung der Erzählform der ›Wanderjahre‹ mit Foucaults ›Was ist ein Autor?‹. Vgl. Barbara Thums, Wandernde Autorschaft im Zeichen der Entsagung. Goethes ›Wanderjahre‹. In: Detering (Hg.), Autorschaft, S. 501–520.

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Gelegentlich ist auf gewisse Ähnlichkeiten der Form der ›Wanderjahre‹ zu den Postulaten der romantischen Romantheorie hingewiesen worden. Diese aber, so wurde im vorangegangenen Kapitel gezeigt, wird von F. Schlegel mit engem Bezug auf die Thesen Wolfs entwickelt. Unter Rückgriff auf dessen philologisch belehrte Epos-Theorie hatte Schlegel einen normativen Begriff formaler Einheit zugunsten der Idee innerer Einheit für den Roman aufgegeben. Poetische Einheit, so Schlegel, wird selbst oder vielmehr besonders im Fragmentarischen sichtbar. Auch gilt zu erinnern, dass F. A. Wolf die Idee der Einheit des Werkes keineswegs gänzlich aufgegeben hatte, sondern in der Arbeit des Geistes wieder hergestellt sah.688 Bereits die frühe Kritik an den ›Wanderjahren‹ hatte dieses Einheitskonzept der Jahrhundertwende offenbar wieder vergessen. So proklamierte 1830 Theodor Mundt in seiner Rezension der zweiten Fassung gleich das Ende der Goethe-Zeit. Die »bewegungs- und veränderungsvolle Zeit« führe dazu, dass die »Goethesche Poesie in manchem Betracht als eine vergangene, in manchen Interessen als eine veraltete gelten muß«.689 Da Goethe »die Darstellung nirgends als ein Bruchstück bezeichnet« habe, werden die ›Wanderjahre‹ am Anspruch gemessen, die Fortsetzung und Vollendung der ›Lehrjahre‹ zu sein und derart den ›Wilhelm Meister‹ »als ein Ganzes« abzuschließen. Was man aber präsentiert bekomme, seien »unausgearbeitete Fragmente des Romans zusammengestellt«. Entsprechend »scheint das Hauptgeschäft des Dichters bei der nochmaligen Zusammenstellung« gewesen zu sein, das »aufgespeicherte Material möglichst zu ordnen«. Das ganze Werk sei allenfalls »im Stil eines Kompilators« angefertigt.690 Der Hallenser Philosophieprofessor Friedrich Karl Julius Schütz macht sich angelegentlich der Erstfassung der ›Wanderjahre‹ 1822 die Mühe, die ersten ›Materialien zur Interpretation‹ der deutschen Literaturwissenschaft zusammenzustellen, allein mit dem Ziel der Vernichtung des Werkes.691 688 689

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Vgl. nochmals oben Seite 113. Theodor Mundt, Rezension zu Goethes ›Wanderjahren‹. 2. Fassung. (1830). In: Klaus F. Gille (Hg.), Goethes Wilhelm Meister. Zur Rezeptionsgeschichte der Lehr- und Wanderjahre, Königstein/Ts. 1979, S. 133–143; S. 133. Alle Mundt, Rezension, S. 135. Die natürlich schon mit Friedrich Wilhelm Pustkuchen-Glanzows ›falschenWanderjahren‹ von 1822ff. begonnen hatte. Angesichts dieser Befunde erstaunt ein wenig Martus’ Aussage: »Diese Anmut haben in besonderem Maß die Philologen erreicht, die sich als freundschaftliche Leser Goethes herausgestellt haben. Uneinheitlichkeit eines Werks führt bei ihnen nicht dazu, dem Autor Unfähigkeit zur Einheitsbildung zu attestieren« (Werkpolitik, S. 495). Dies gilt gerade für den späten Goethe erst für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zuvor wurde immer wieder (auch von Goethe-Verehrern wie Korff, Scherer und Staiger) der ›klassische‹ gegen den ›alten‹ Goethe ausgespielt. Die Selbstphilologisierung seines Werkes und die damit verbundene ›Leseethik‹ aber fällt genau in diese nachklassische Zeit. Eine Ausnahme bildete sicherlich Heinrich Gustav Hothos Rezension der ›Wanderjahre‹. Dazu siehe das Folgende.

Eine unzusammenhängende, formlose Dichtung, die nur das offenbarste Bruchstück eines Romans, aus den barockesten und heterogensten, selbst wieder nur fragmentarischen, und längst aus Cottas Damenkalender bekannten, Einzelheiten, von denen der Verfasser selbst gesteht, daß er ›sie zu einem geordneten Ganzen zu verarbeiten, nicht vermögend sei‹, zusammengewürfelt ist; […] und das Wesen der schönen Künste meist nur von der Seite des Technischen und Mechanischen beleuchtet, die dramatische Poesie und Kunst aber (uneingedenk selbst alles dessen, was des Verfassers eigner Geistesverwandter, Schiller, so wie Goethe selbst, über die Wichtigkeit derselben für die sittliche und ästhetische Bildung des Menschen geschrieben), für absolut unwert erklärt:– das ist die so lange (seit 25 Jahren!) vom Verfasser versprochene […] Fortsetzung von Goethes Wilhelm Meister! […] Allein, zu verlangen […], dass man sich den Riß für das Gebäude, eine Skizze als ein Gemälde, und ein Fragment einer Sammlung von Fragmenten als einen Roman verkaufen lassen soll: eine solche Zumutung müssen doch selbst seine entschiedensten Verehrer zu stark finden.692

Und noch 150 Jahre später folgt Hannelore Schlaffer dieser Einschätzung: Gelangweilt wird sich der fühlen, der die ›Wanderjahre‹ liest, wie es der fiktive Herausgeber empfiehlt. Dokumente, die wenig Unterhaltsames enthalten, breitet er mit gespielter Sachlichkeit vor seinem Publikum aus. [...] Die Langweiligkeit, die insbesondere die ›Wanderjahre‹ dem Leser zumuten, akzeptiert die Blässe und Bedeutungslosigkeit, die an der Oberfläche des Tatsächlichen Autor und Leser entgegenblickt. Des Dichters Skepsis gegen das Realitätspostulat des modernen Romans drückt sich aus in der Farblosigkeit des Sprachgestus, der sich nicht gefällig anbietet, in der geradezu pflichtgetreuen Darbietung eines Rhythmus von Haupt- und Nebenhandlung, der nicht zuviel Spannung erzeugen will, und in der Betulichkeit des fiktiven Herausgebers, dessen Sachlichkeit der Realität keine Wunder entlocken kann.693

In seiner im Dezember 1829 und März 1830 erscheinenden 50seitigen Kritik der ›Wanderjahre‹ verweist auch der als Hegel-Herausgeber bekannte Heinrich Gustav Hotho auf den redaktionellen Charakter der Erzählweise, sieht nun aber in »dem poetischen Geschäft, dieß Mannichfaltige zu einem Kunstwerk zu vereinen«, eine künstlerische Leistung Goethes, die vornehmlich in der genauen Komposition der Relation von Rahmenhandlung und Novelleneinlage bestehe.694 Anders als im ›Dekameron‹ und auch den ›Unterhaltungen‹, wo die Novellen Selbstzweck des Erzählens seien, stünden sie hier als »Glieder des Ganzen« an genau

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Friedrich Karl Julius Schütz, Goethe und Pustkuchen, oder: über die beiden Wanderjahre Wilhelm Meisters und ihre Verfasser. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Poesie und Poetik, Halle 1822. Zitiert nach Gille (Hg.), Goethes Wilhelm Meister, S. 108–113; S. 108f und S. 110. Hannelore Schlaffer, Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart 1980, S. 196f. Heinrich Gustav Hotho, Rezension der Wanderjahre. Zweite Ausgabe. (1829/1830). In: Oskar Fambach (Hg.), Goethe und seine Kritiker, Berlin 1955, S. 314–366; S. 333. Hotho schickte Goethe diese Rezension im März 1830 und erhielt eine wohlwollende Antwort.

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vorgesehener Stelle und ergänzten stets die Haupthandlung.695 Die Einheit des Romans werde daher trotz verschiedener »Collisionen« von dargestelltem Inhalt und genutzter Form als innere Einheit gewahrt.696 Diese Kollisionen sind Hotho vielmehr Zeichen eines dialektischen Verhältnisses von Kunst und Welt. Wer es nicht bereits ahnte, der weiß nun, dass Hotho hier ganz auf der Linie der Hegelschen ›Ästhetik‹ argumentiert. Schon die Idee innerer Einheit bei Schlegel verwies auf das Epos und der Fingerzeig auf Hegels ›Ästhetik‹ wirft die Frage nach dem Verhältnis von epischer Welt und der Welt des Romans, epischer Form und Romanform schon in der frühen Rezeptionsgeschichte auf. Bezeichnend in den Analysen von Mundt und Schütz sind zwei Aspekte: Erstens werden die ›Wanderjahre‹ als Werk am Übergang zu einer neuen Epoche sowohl der Literatur- wie der Gesellschaftsgeschichte gelesen, zweitens wird der fragmentarische, kompilierende und kollektive Charakter herausgestellt und der Roman dann im Abgleich mit einem Postulat formaler Geschlossenheit abgewertet, was sich bei Schütz in der Kontrastierung von Riss bzw. Skizze versus ausgearbeitetem Kunstwerk zeigt. Diesem wird der Roman normativ zugeordnet, jenem die Fragmentsammlung und den ›Wanderjahren‹ entsprechend der Status ›Roman‹ abgesprochen. In der Tat trifft die Analyse Schützes ziemlich genau den Sachverhalt. Nach der Darstellung der Schlegelschen Romantheorie als ›Theoria‹ können die ›Wanderjahre‹ als Prototyp dieser neuen positiv verstandenen Romanform gelesen werden. Die Bestimmung des Epos durch Wolf und Schlegel als durch philologische Redaktion erzeugter Zusammenhang von Fragmenten kollektiven Ursprungs gibt die Erzählform der ›Wanderjahre‹ als epischem und philologischem Roman vor. Der epische Roman ist aber nicht identisch mit Wezels und Hegels Begriff der ›bürgerlichen Epopöe‹. Er ist auch nicht »Restauration des alten Epos’ im Zeitalter der bürgerlichen Gesellschaft«,697 sondern der Versuch, eine neue literarische Form für eine sich radikal verändernde Lebenswelt zu finden. Dafür rückt

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Ebd., S. 332. Ebd., S. 349. Hotho gibt damit den Anstoß zu einer ganzen Reihe von Forschungsbeiträgen zur inneren Einheit der ›Wanderjahre‹, die entsprechend das Formprinzip verteidigen. Vgl. etwa Deli Fischer-Hartmann, Goethes Altersroman. Studien über die innere Einheit von ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹, Halle 1941. So Michael Pleistner (Zu einem Kapitel vergessener Rezeptionsgeschichte: Heinrich Gustav Hotho. Rezension der ›Wanderjahre‹ von Goethe, analysiert unter Einbeziehung der Hegelschen Epos- und Romantheorie. In: Euphorion 87 (1993), S. 387–407; S. 398), der im Detail nachweist, wie sehr Hothos Rezension entlang der Hegelschen Diskussion von Epos und Roman erfolgt. Bedenkt man, dass die Hegelsche Ästhetik selbst zu großen Teilen sich der philologischen Redaktion durch Hotho schuldet, vermag diese Übereinstimmung allerdings kaum mehr zu überraschen. Hegels Bestimmung des Epos ist darüber hinaus keineswegs nur innovativ, er übernimmt viele Bestimmungen der Goethe-Zeit.

Goethe ganz in die Nähe zu Schlegels Programm einer Poetik des Romans als »Kompendium«,698 die es ermöglicht, die literaturgeschichtliche Tradition in die neue Welt zu überführen.699 Der Begriff Kompendium zeigt dabei nicht nur die Heterogenität der Materialien an, sondern auch die Bildung eines Zusammenhangs unter ihnen. In ›Aus Makariens Archiv‹ heißt es von den »Kompendien des Lebens; sie bringen die äußern und innern Erfahrungen in’s allgemeine, in einen Zusammenhang«.700 Ist das Archiv der Ort, die Materialien ordnend zu sammeln, so ist der Roman das Medium ihrer Darstellung, ihrer Zusammenfassung und der Bildung eines inneren Zusammenhangs, solcherart ist der Roman ›Kompendium‹.701 Der Roman geht zwar aus dem Archiv hervor, aber nicht in ihm auf. Die Archivfiktion bedeutet daher auch nicht eine Unterminierung des Narrativen unter dem Primat der Akten als historistisch-apokalyptische Posaune vom Ende der Kunst. Sie und der philologische Herausgeber werden im Roman zum Instrument, das tote Speichermaterial in lebendige Zusammenhänge wieder einzustellen bzw. diese überhaupt erst wieder zu bilden. Die frühe Ablehnung der ›Wanderjahre‹ resultiert aus zwei jeweils unangebrachten Kritikoptionen. Zum einen wird der Roman an den (klassizistischen) Kriterien des Epos als Einheit und Totalität von Handlung und Welt gemessen. Helmut Koopmann hat detailliert nachgewiesen wie sehr eine solch normative Auffassung des Epos, trotz der Destruktion durch Wolf, sich noch bis zu Friedrich Theodor Vischers ›Ästhetik‹ in der Mitte des 19. Jahrhunderts gehalten hatte.702 Zum anderen wird der Vergleich mit dem zeitgenössischen Roman unter dem Paradigma einer Umstellung des Literatursystems auf den Leitcode 698 699

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So im 78. ›Lyceum‹-Fragment. KSA II, S. 156. Ich erinnere noch einmal an Blumenberg, der auch die Kollektivität als übereinstimmendes Merkmal der Poetik von Frühromantikern und Goethe erkannt hat. Vgl. oben Seite 210f. Eine Nähe zu frühromantischen Romankonzepten sieht auch Gerhard Schulz, Gesellschaftsbild und Romanform. Zum Deutschen in Goethes ›Wanderjahren‹. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann, hg. von Jürgen Brummach u.a., Tübingen 1981, S. 258–282; S. 261f. Wj2, S. 757. Andreas B. Kilcher (Mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München 2003) hat dafür die Enzyklopädistik als Modell vorgeschlagen. Gerade sein Verweis auf den philologischen Roman des Barock wie auf F. Schlegel und Jean Paul legen auch hier nahe, dass es vornehmlich um Reaktionsweisen der Literatur auf die Philologisierung nicht nur der Wissensbestände, sondern auch der Poesie geht. Die ›Wanderjahre‹ geraten erstaunlicherweise nicht in seinen ansonsten enzyklopädischen Blick. Koopmann, Vom Epos, S. 21ff. Noch Emil Staiger (Goethe. 3 Bde., Zürich 1959, Bd. 1, S. 314f.) sieht die Form der ›Wanderjahre‹ »jenseits des Romans«, erkennt aber gleichwohl, dass Einheit nur » vom Leser zu supplieren sei«. Eine breit angelegte Rekonstruktion zu modernen Epos-Projekten hat Heiko Christians vorlegt. Zu Goethe vgl. Heiko Christians, Der Traum vom Epos. Romankritik und politische Poetik in Deutschland (1750–2000), Freiburg 2004, S. 125–174.

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der Unterhaltung gesucht. Die ›Wanderjahre‹ entsprachen weder dem einen noch dem anderen. Auch Koopmann, der den späten Goethe noch zusammen mit Schiller in einen klassizistischen Topf wirft und keinerlei Veränderung seiner Position wahrnimmt, aber übersieht, dass mit Wolf und Schlegel sich eine dritte Alternative im Verhältnis von Epos und Roman aufgetan hatte, in der nicht versucht wurde, den Roman am Epos zu messen, sondern in der vielmehr das Epos selbst ›umgeschrieben‹ wurde und dessen vorgebliche formale Einheit als philologische Fiktion bzw. Konstruktion entlarvt wurde. Erst ein solcher Epos-Begriff konnte für den Roman zum Modell werden. Darin hatte die Provokation Wolfs bestanden, die zunächst auch Goethe erfasst hatte. Das Epos, so musste nach Wolf klar sein, entspricht keineswegs dem normativen Begriff, wie ihn die poetologische Gattungsdiskussion aufgestellt hatte. Friedrich Schlegel war der erste, der darin neue Möglichkeiten für eine Theorie des Romans gesehen hatte.703 Diese dritte Alternative wurde bis heute auch in der Forschung nicht ernst genommen. Koopmann ist wohl zuzustimmen, »daß der Roman nur dort eine Aufwertung erfahren kann, wo er die Charakteristika der alten epischen Welt übernimmt«.704 Nur übernimmt auch er letztlich die klassizistische Perspektive auf diese als eine einheitliche, natürliche, sich im Epos unmittelbar ausdrückende Welt. Das Ereignis ›Wolf‹ bestand in der Verabschiedung eines unmittelbaren Zugriffs auf diese Welt durch den epischen Text. Oder anders gesagt: Die epische Welt nach Wolf konnte keine ungebrochen klassizistische mehr sein. Eine neue, produktive Korrelation von Epos und Roman wurde in

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Noch ganz geprägt von der Empörung gegen Wolf lehnt Goethe auch Schlegels Schrift ab und unterstellt ihm, er nutze Wolfs Ergebnisse, um jeglichen Einheitsbegriff zu verabschieden. An Schiller schreibt er am 28. April 1797: »Haben Sie Schlegels Abhandlung über das epische Gedicht, im 11ten Stück Deutschlands, vom vorigen Jahr, gesehen? lesen Sie es ja! Es ist sonderbar wie er, als ein guter Kopf, auf dem rechten Wege ist und sich ihn doch gleich wieder selbst verrennt. Weil das epische Gedicht nicht die dramatische Einheit haben kann, weil man eine solche absolute Einheit in der Ilias und Odyssee nicht gerade nachweisen kann, vielmehr nach der neuern Idee sie noch für zerstückelter angibt als sie sind; so soll das epische Gedicht keine Einheit haben, noch fordern, das heißt, nach meiner Vorstellung: es soll aufhören ein Gedicht zu sein. Und das sollen reine Begriffe seyn, denen doch selbst die Erfahrung, wenn man genau aufmerkt, widerspricht. Denn die Ilias und Odyssee, und wenn sie durch die Hände von tausend Dichtern und Redacteurs gegangen wären, zeigen die gewaltsame Tendenz der poetischen und kritischen Natur nach Einheit. Und am Ende ist diese neue Schlegelsche Ausführung doch nur zu Gunsten der Wolfischen Meinung, die eines solchen Beystandes gar nicht einmal bedarf. Denn daraus daß jene großen Gedichte erst nach und nach entstanden sind, und zu keiner vollständigen und vollkommenen Einheit haben gebracht werden können (obgleich beide vielleicht weit vollkommner organisiert sind als man denkt) folgt noch nicht: daß ein solches Gedicht auf keine Weise vollständig, vollkommen und Eins werden könne noch solle.« MA 8.1, S. 341f. Koopmann, Vom Epos, S. 21.

dem Moment möglich, wo die epische Textwelt der modernen ein Stück näher gerückt war, nicht umgekehrt. Dem wäre entgegenzuhalten, dass Goethe auch im Alter noch an einem einheitlichen Begriff des Epos sowie der singulären Verfasserschaft Homers festgehalten habe. Dafür lassen sich handfeste Belege anführen. 1821 schickt der junge Philologe Carl Ernst Schubarth Goethe mehrere Bögen seiner entstehenden Abhandlung ›Ideen über Homer und sein Zeitalter‹,705 in der dieser gegen Wolf für die Autorschaft einer singulären Persönlichkeit Homer plädiert. Goethe ist begeistert.706 An Christoph Ludwig Friedrich Schultz schreibt er: »Er hat mir sechs Bogen eines Aufsatzes geschickt: über ›Homer und sein Zeitalter‹, von schöner und klarer Übersicht, zusammentreffend mit dem, was wir in unserem Kreise für wahr und recht halten. Er wird in dieser verworrenen und sich immer mehr verwirrenden Zeit gewiß viel Gutes stiften und alle fördern, die sich reiner Ansichten erfreuen.«707 Zwar schätzt Goethe den Versuch, sich gegen das philologische Schwergewicht Wolf zu stemmen, bleibt aber hinsichtlich der Wirkung skeptisch. Offenbar ist ihm die Idee, die Einheit der Epen wiederhergestellt zu sehen, sehr willkommen – den Argumenten hingegen traut er nicht recht zu, gegen Wolf bestehen zu können.708 An Zelter schreibt er: »Begegnest du einem Carl Ernst Schubarth, von Breslau, so sei ihm freundlich in meine Seele; er hat über meinen Faust geschrieben und gibt jetzt heraus; ›Ideen über Homer und sein Zeitalter‹; ein Büchlein, das ich höchlich loben kann, weil es uns in gutem Humor versetzt. Die Zerreißenden werden nicht damit zufrieden seyn, weil es 705 706

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Carl Ernst Schubarth, Ideen über Homer und sein Zeitalter. Eine ethisch-historische Abhandlung, Breslau 1821. Ein Grund für die Emphase mit der Goethe versucht, den jungen Autor auch in eine lebenslange Anstellung zu vermitteln, mag darin gelegen haben, dass Schubarth in der Vorrede Goethes Theorie der Metamorphose der Pflanzen als maßgebendes Erklärungsmodell auch für die antike Literaturgeschichte veranschlagt. Überhaupt ist Goethe, etwa mit ›Dichtung und Wahrheit‹, der große Referenzautor Schubarths. Es musste Goethe gewiss schmeicheln, seine wissenschaftlich so oft geschmähten Arbeiten hier zur Grundlage der Literatur- und Nationengeschichte gemacht zu sehen. Dennoch lässt er sich über die Tragweite der Argumentation gegen Wolfs scharfs Analytik nicht täuschen. Vgl. Schubarth, Ideen, S. III–VIII. Schubarth steht Goethe für eine andere Art der Philologie als die ›zerreißende‹ Wolfs. Wenn Martus (Werkpolitik, S. 447f.) Schubarth richtigerweise als Indiz nimmt, dass Goethe die Philologisierung seines Werkes vorantreibe, dann blendet er aber aus, dass Goethe damit eine bestimmte Art der Philologisierung im Sinn hatte. Dies mag freilich auch ein Aspekt von ›Werkpolitik‹ sein. Am 14. Juni 1821, WA IV 34, S. 284. An Riemer schreibt er am 28. Oktober 1821: »Es scheint daß nach der Zeit des Sonderns und Zerstreuens nun die Epoche des Sammelns und Vereinens sich hervortue«. In: FA Bd. 36: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 6. Juni 1816 bis zum 26. Dezember 1822. Teil II. Vom 27. Oktober 1819 bis zum 26. Dezember 1822. Hg. von Dorothea Schäfer-Weiss, Frankfurt/M. 1999, S. 215.

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versöhnt und einet«.709 Kurz darauf schreibt er wieder an Zelter: »Ernst Carl Schubarth, der über meine Arbeiten geschrieben, ist gegenwärtig in Berlin; meldet er sich, so begegne ihm freundlich. Es kommt ein Büchlein von ihm heraus; ›Ideen über Homer und sein Zeitalter‹; begegnet es dir, so greife darnach. Es ist vermittelnd, einend, versöhnend, und heilet die Wunden, die uns von dem Raubgethier geschlagen worden.«710 An den jungen Autor selbst schreibend lobt er ausdrücklich dessen Vorgehen, hält aber mit Blick auf seinen ›Ilias‹-Auszug, der 1821 in ›Ueber Kunst und Alterthum‹ erscheint, fest, dass die Autorschaftsfrage für ihn nicht von oberster Priorität sei. »Wer es auch sey, der diese letzte Redaction, wie sie zu mir kommen ist, vollbracht hat, die Menschheit ist ihm sehr viel schuldig geworden.«711 Und am 24. September 1821 spricht er im Brief an Schultz weiterhin von der möglichen kollektiven Genese der ›Ilias‹: »Schubarth war in Berlin […] Sein Büchlein über Homer, wovon er mir die Aushängebogen schickte, setzt mich in Erstaunen, man mag es nehmen, wie man will! aber es ist eine Ilias post Homerum, im allerbesten Sinne; der alte Herr, oder die alten Herrn, wem wir auch das Gedicht verdanken, würden selbst Freude daran haben.«712 Wie wenig wichtig Goethe offenbar die äußere Form des Epos geworden war, wird im Brief an Zelter vom 8. August 1822 deutlich, in dem er sich wieder wohlwollend über Wolfs Leistungen äußert, die er trotz der merklichen Abkühlung des persönlichen Verhältnisses nicht gemindert wissen will. Lese ich heute den Homer so sieht er anders aus als vor zehen Jahren; würde man dreyhundert Jahre alt, so würde es immer anders aussehen. Um sich hievon zu überzeugen blicke man nur rückwärts, von den Pisistratiden bis zu unserm Wolf schneidet der Altvater gar verschiedne Gesichter. Übrigens ist mir höchst erfreulich daß er (genannter Freund) nicht verbrannt, noch vom Fieber aufgespeist ist, denn ich mag ihn über der Erde nicht gern entbehren. Seinesgleichen kommt auch nicht wieder. Hätte ihn Gott zu so vielem noch freundlich gewollt!713

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Am 14. Oktober 1821, FA 36, S. 212. Am 19. Oktober 1821 FA 36, S. 214. Das Raubtier ist hier natürlich F. A. Wolf. Am 12. Januar 1821 WA IV 34, S. 96. WA IV 35, S. 98f. Ich glaube daher auch nicht, dass der dem ›Ilias‹-Extrakt in ›Ueber Kunst und Alterthum‹ beigestellte Aufsatz ›Freundes Gutachten‹ von Riemer ein eindeutiger Beleg für ein Plädoyer für die singuläre Autorschaft Homers ist, vielmehr für die ästhetische Einheit des Epos. Die Beschreibung der ästhetischen Einheit der ›Ilias‹ durch Riemer erscheint ja gerade ein Effekt der Komprimierung durch Goethe zu sein. Und wenn dort vom ›dichterischen Verdienst‹ die Rede ist, dann ist nicht klar, ob damit Goethe oder Homer gemeint ist. Riemer vermeidet es denn auch, explizit Stellung zu Wolf zu nehmen. Vgl. Friedrich Wilhelm Riemer, Freundes Gutachten. In: FA 21, S. 233–235. Die Herausgeber Greif und Ruhlig hingegen sehen eine klare Positionierung gegen Wolf. Vgl. ebd., S. 842f. FA 36, S. 276.

Da Goethes Haltung in der Homer-Frage offensichtlich keineswegs immer eindeutig ist, lohnt auch ein nochmaliger Blick auf die Auseinandersetzung mit Wolf. Deutlich dürfte im Verlauf der Studien geworden sein, dass Goethe unmittelbar nach Erscheinen der ›Prolegomena‹ deren Thesen ablehnte, nach eingehender Lektüre und Bekanntschaft mit Wolf aber akzeptiert hat und in der kollektiven Autorschaft der Epen auch eine produktive Möglichkeit sah, sich selbst in den Kreis der Homeriden einzuschreiben. Bestehen geblieben ist eine tiefer gehende Skepsis gegen dessen kritisch-methodisches Verfahren der philologischen Analyse. Keinen Zweifel kann es aber an der, wenn auch missmutigen, Akzeptanz der zentralen Ergebnisse Wolfs geben, die Goethe in seinen so geliebten ›Privatunterrichtungen‹ offenbar auch weiter trug. Am 16. März 1819 etwa äußert er sich gegenüber der 27jährigen und als äußerst attraktiv und zeichnerisch talentiert geltenden Julie von Egloffstein: Dieser Gegenstand leitete uns dann weiter zurück in die entferntesten Zeiten der erwachenden Cultur zu der Erfindung der Schrift überhaupt, und ich warf Goethe die Frage auf, wie Homer seine Werke eigentlich geschrieben habe. ›Diese Frage, mein liebes Engelchen!‹ sagte er, ›kann nur durch weitläufige Erzählungen beantwortet, oder vielmehr verneint werden.‹ Nun setzte er uns auseinander, daß Homer aller Vermuthung nach gar nicht existirt und folglich gar nicht geschrieben habe. Die Welt sei geneigt in allem die Persönlichkeit zu lieben, und deshalb schreibe sie einem einzigen so große Gabe zu, wahrscheinlich aber hätten mehrere aufeinanderfolgende Dichter jene Gesänge zustande gebracht – und durch mündliche Überlieferung weiter befördert, bis dann endlich einer auf den gescheidten Gedanken gekommen sei, sie aneinander zu reihen und zu re(digiren), dem denn auch der größte Ruhm gebühre.714

1820, als Goethe für den Abdruck in ›Ueber Kunst und Alterthum‹ seine bereits 1798 angefertigte Inhaltsangabe der ›Ilias‹ redigiert, fängt er erneut an, Wolfs ›Prolegomena‹ intensiv zu studieren. An Knebel berichtet er am 17. Dezember 1820: Ein vor zwanzig Jahren gefertigtes Schema, wo alle Motive der Ilias Schritt vor Schritt ausgezogen sind, und von dem ich dir wohl einmal gesagt habe, ist nun sorgfältig revidirt und der Laconismus desselben durch Ausführlichkeit der Gleichnisse belebt worden. Ich habe bey dieser Gelegenheit, da ich das Werk von vornen bis hinten und von hinten bis vornen anschauend überlaufen mußte, nur auf’s neue Respect vor den letzten Redacteurs empfunden, denen wir unsere Recension schuldig sind. Wir können dieses Werk in seinen Elemente als das würdigste, in seiner Ausführung als das vollkommenste ansehn, was wir besitzen, und wollen also dasselbe immerfort mit Dank anerkennen. Bey dieser Gelegenheit habe auch Wolfs Prolegomena wieder gelesen und mich daran erbaut und ergetzt. Da man das Vorurtheil aufgegeben hat der uralterthümlichen Einheit der homerischen Gesänge, so ist es eine Freude durch alle kritische Nebel hindurchzusehen, wie viel uns übrig geblieben seyn muß.715

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WA V.4, S. 4. Spannend, dass Goethe hier den Redakteuren, nicht den Dichtern den Ruhm an den Werken, entsprechend auch die eigentliche Autorschaft zuerkennt. WA IV 34, S. 41.

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Zu diesem Zeitpunkt hat Goethe sich ganz offenbar mit Wolfs Provokation längst arrangiert. Wie schon im Brief an Schiller vom 28. April 1797, der noch ganz von Empörung geprägt war, benutzt Goethe auch hier wieder den Begriff ›Redakteur‹ zur Kennzeichnung der textkonstituierenden Instanz, die die Einheit der Epen hergestellt habe und der Goethe für diese kompositionelle Leistung seinen Respekt zollt. In den Aphorismen zu ›Aus Makariens Archiv‹ der ›Wanderjahre‹ weist Goethe – vielleicht in Erinnerung an Julie von Egloffstein – nicht nur die beständige wiederkehrende Frage nach der Autorschaft und Person Homers als unwesentlich zurück, sondern nivelliert auch den philologischen Versuch, durch Textkritik wahren vom falschen Text zu scheiden. Entscheidend ist allein die vorliegende Gestalt, rühre sie her von wem sie wolle. Unter mancherlei wunderlichen Albernheiten der Schulen kommt mir keine so lächerlich vor, als der Streit über die Echtheit alter Schriften, alter Werke. Ist es denn der Autor oder die Schrift die wir bewundern oder tadeln? es ist immer nur der Autor den wir vor uns haben; was kümmern uns die Namen wenn wir ein Geisteswerk auslegen. Wer will behaupten, daß wir Vergil oder Homer vor uns haben, indem wir die Worte lesen die ihm zugeschrieben werden? Aber die Schreiber haben wir vor uns, und was haben wir weiter nötig? Und ich denke fürwahr, die Gelehrten, die in dieser unwesentlichen Sache so genau zu Werke gehen, scheinen mir nicht weniger weiser als ein sehr schönes Frauenzimmer, das mich einmal mit möglichst süßem Lächeln befragte: wer denn der Autor von Shakspeare’s Schauspielen gewesen sei?716

Es mutet geradezu als Ironie der Philologiegeschichte an, wenn Goethe, der hier aus Richard Griffth’ Aphorismensammlung ›The Koran‹ (1770) zitiert, dafür des Plagiats beschuldigt wurde.717 Dabei deutet die Nachlässigkeit der Zitatauszeichnung, die im Manuskript noch vorhanden, im Druck aber weggelassen ist, nur umso mehr auf die Identifizierung Goethes mit dem Gesagten. Auch das Tagebuch von 1820 deutet auf einen Bezug zwischen Wolfs ›Prolegomena‹ und der Überarbeitung der ›Wanderjahre‹.718 Parallel zu den Arbeiten an dem ›Ilias‹-Extrakt liest Goethe nicht nur die ›Prolegomena‹, sondern arbeitet intensiv an der Fertigstellung der ersten Fassung der ›Wanderjahre‹. Am 8. Dezember etwa heißt es: »7. Bogen Kunst und Alterthum revidirt und Manuscript von

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Wj2, S. 767f. Die Ironie wird zur Groteske, wenn sich dann noch zeigt, dass mit Sterne auch noch der falsche ›echte‹ Autor genannt wird. So 1863 Alfred Hédouin in ›Goethe plagiare de Sterne‹. Vgl. den Kommentar FA 10, S. 1268. Bereits seit 1807 beginnt Goethe mit der Ausarbeitung verschiedener Werkteile, einige Novellen werden dann in Cottas ›Taschenbuch für Damen‹ vorab veröffentlicht. Dann aber ruht die Arbeit und wird erst 1819 wieder aufgenommen. In diese Zeit fällt dann auch wieder die intensive Beschäftigung mit Wolf. Vgl. zu den Vorabdrucken: Wolfgang Bunzel, ›Das ist eine heilose Manier, dieses Fragmente-Auftischen‹. Die Vorabdrucke einzelner Abschnitte aus Goethes Wanderjahren in Cottas ›Taschenbuch für Damen‹. In: Jahrbuch des freien Deutschen Hochstifts 1992, S. 36–68.

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Wilhelm Meisters Wanderjahren von Fol. 2–47 […] – Prolegomena von Wolf. Um Mittag mit meiner Tochter spazieren gefahren. Mittag zu dreyen. Steine einrangirt. Wolfs Prolegomena. Abends für mich, nächste Sendung Wilhelm Meisters Wanderjahre durchgegangen.« Am 9. Dezember wieder: »Wolfs Prolegomena fortgesetzt. Wilhelm Meisters Wanderjahre.«719 Auch im März 1821 wird weiterhin an den ›Wanderjahren‹ und dem ›Ilias‹-Exzerpt gearbeitet.720 Parallel dazu aber fängt Goethe an, seine gesammelten Dokumente und Briefe mit dem Plan einer vollständigen Ausgabe seiner Werke neu zu ordnen. Ein groß angelegtes Unternehmen der Registrierung und Verzeichnung seiner Aktenbestände beginnt.721 Das Tagebuch vermeldet am 3. Dezember 1820: »Mit Wellern die sämmtlichen Gegenstände durchgesprochen, registrirt und autorisirt«, am 5. Dezember: »Einiges an der Ilias. John fuhr fort die Acten weiter zu verzeichnen«, am 10. Dezember: »Notirte Kräuter die fehlenden Exemplare von Morphologie und Kunst und Alterthum. John berichtigte und verzeichnete den Innern Actenschrank. Ich fuhr an Wilhelm Meisters Wanderjahren fort«, am 11. Dezember: »John rangirte noch einige Actenfächer. Beschäftigte mich mit den Wanderjahren:«722 Am 19. April 1822, also nach Abschluss der ersten Fassung der ›Wanderjahre‹, berichtet er an seinen Verleger Cotta: »Zugleich vermelde daß ich so eben beschäftigt bin, meine sämmtlichen poetischen, literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten, sowohl gedruckte als auch ungedruckte, übersichtlich aufzustellen.«723 Im Schreiben vom 30. Mai 1824 an Cotta präzisiert er den Umfang der Texterfassung: Die Sicherung meines literarischen Nachlasses, wozu ich sämtliche privat Correspondenz, Reiseakten und so manches andere rechne, ist auf einem bedeutenden Punct gediehen. Das Archiv wovon früher die Rede war, umfasste zwar in einem sorgfältigen Verzeichniß schon gar vieles, allein der Inhalt stand an mehreren Orten zerstreut; gegenwärtigt ist alles in einem Local zusammengebracht.724

In seinem eigenen Archiv fasst Goethe demnach alle ihn betreffenden Unterlagen und Schriften an einem zentralen Ort zusammen und lässt Rubrizierungen anlegen. Neben der Vorbereitung einer neuen Ausgabe seiner sämtlichen Werke hat Goethe dabei zwei weitere Vorteile im Blick. Einerseits plant er nach ›Dichtung und Wahrheit‹ eine weitere »Chronik meines Lebens«,725 die späteren ›Tag- und

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Beide WA III 7, S. 256. Vgl. die Einträge vom 19.–27. März 1821. In: WA III 8, S. 30–33. Curtius (Goethes Aktenführung, S. 111) nennt die Aktenorganisation einen »Grundzug von Goethes Wesen«. Alle WA III 7, S. 257. Goethe und Cotta, Briefwechsel 1797–1832 in drei Bänden. Hg. von Dorothea Kuhn, Stuttgart 1979, Bd. 2, S. 88. Ebd., Bd. 2, S. 114f. Ebd., S. 114f.

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Jahreshefte‹, andererseits will er den postumen Umgang mit seinem Werk und seiner Person in seinem Sinne organisieren. In dem Aufsatz ›Archiv des Dichters und Schriftstellers‹, der Ende 1822 im ersten Heft des vierten Bandes von ›Ueber Kunst und Alterthum‹ erscheint, beschreibt Goethe beide Motive. Zugleich wird der kollektive Charakter diese Arbeit deutlich:726 Dieses Geschäft ist nun vollbracht; ein junger frischer, in Bibliotheks- und Archivsgeschäften wohlbewanderter Mann hat es diesen Sommer über dergestalt geleistet, daß nicht allein Gedrucktes und Ungedrucktes, Gesammeltes und Zerstreutes vollkommen geordnet beisammen steht, sondern auch die Tagebücher, eingegangene und abgesendete Briefe in einem Archiv beschlossen sind, worüber nicht weniger ein Verzeichniß, nach allgemeinen und besondern Rubriken, Buchstaben und Nummern aller Art gefertigt, vor mir liegt, so daß mir sowohl jede vorzunehmende Arbeit höchst erleichtert, als auch denen Freunden, die sich meines Nachlasses annehmen möchten, zum Besten in die Hände gearbeitet ist.727

Als Goethe im Juni 1825 erneut mit konzeptionellen Überlegungen zur Überarbeitung der ›Wanderjahre‹ beginnt, nimmt er erneut Wolfs ›Prolegomena‹ zur Hand.728 Es ist nicht zu übersehen: Die Entstehung und Überarbeitung der ›Wanderjahre‹ vollzieht sich parallel einer erneuten intensiven Auseinandersetzung mit Wolf und der Homerischen Frage bzw. der Beschäftigung mit dem Epos (›Ilias‹) selbst. Darüber hinaus beginnt Goethe, sich seinem eigenen Werk gegenüber philologisch-redaktionell zu verhalten. Dabei betont er den kollekti-

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An Boisserée schreibt er am 13. Dezember 1823: »Nun bedenken Sie noch zum Schluß das Hauptgeschäft, das mir in hohen Jahren obliegt, meinen literarischen Nachlaß zu sichern und eine vollständige Ausgabe meiner Werke wenigstens einzuleiten! Es würde mir dies ganz unmöglich sein, wenn sich nicht hübsche junge Leute zu mir gesellten, die sich an mir herauf gebildet haben, mich völlig verstehen, meine Absichten durchdringen und sich anschicken, an meiner statt auf Stoff und Gehalt, der noch so reichlich daliegt, verständig geistreich zu wirken.« FA Bd. 37: Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethes Tod. Teil I. von 1823 bis zum Tode Carl Augusts 1828. Hg. von Horst Hug, Frankfurt/M. 1993, S. 129. Bodo Plachta (Goethe über das ›lästige Geschäft‹ des Editors. In: Bein/Nutt-Kofoth/Plachta (Hg.): Autor, S. 229–238; S. 232f.) stellt heraus, dass Goethe bei der Erstellung der Ausgabe letzter Hand gegenüber dem philologischen Scharfsinn von Carl Wilhelm Göttling, der in seiner ›recenso‹ aller Drucke eine einheitliche, richtige Textgestalt erstellen wollte, durchaus Sorgen hatte, dieser würde die Freiheit des dichterischen Ausdrucks zum Opfer fallen. Goethe, Archiv des Dichters und Schriftstellers. In: FA 21, S. 396–398; S. 398. Es handelt sich um das ›Kräutersche Repertorium über die Goethsche Repositur‹, das sich heute noch im Besitz des Goethe-Schiller-Archis (GSA 39/I,1a) findet. Vgl. dazu auch Willy Flach, Goethes literarisches Archiv. In: Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner, hg. v. der Staatlichen Archivverwaltung der DDR, Berlin 1956, S. 45–71. Vgl. die Einträge vom 5. Juni und 27. Juni 1825. Hier spricht er charakteristischerweise von der »Redaction der Wanderjahre«. WA III 10, S. 64 und S. 72.

ven Charakter dieser Arbeit, die auf der Organisation seines literarischen Archivs beruht.729 Wenngleich damit freilich noch kein strenger Beweis für eine kausal gedachte Verbindung der Konzeption der ›Wanderjahre‹ mit der (philologischen) Frage der Einheit des Epos geführt ist, so sind die aufgezeigten Korrespondenzen doch mehr als auffällig. Auf welche Weise also konnte der Roman von einer formalen Anlehnung an das Epos profitieren? Und welche Funktion käme dem zu? Wohl nicht die einer bloßen Aufwertung der Gattung, denn Goethe machte sich während der Arbeit an den ›Wanderjahren‹ kaum Illusionen über die zu erwartende Rezeption. Das Wolfsche und Schlegelsche Eposkonzept bot Goethe die Möglichkeit, seine kulturkritische Diagnose der ›neuen Zeit‹ im Bruch mit der ›alten‹ Poetik vorzustellen. Diese Konsequenz zieht Hegel dann radikal. Die Welt und damit die Poetik des Epos ist unwiederbringlich verloren. Der Roman ist für Hegel nur das defizitäre Surrogat des Epos in prosaischer Zeit. Wolf hatte aber gezeigt, dass die für das Epos seit Aristoteles stets so positiv hervorgehobenen Elemente wie der panoramatische Überblick einer totalen Welt, Organizität als Einheit und Geschlossenheit der Darstellung, sich nicht dem vermeintlichen Genie eines Schöpfers verdankt, sondern nur aufgrund der kollektiven Genese der Epen möglich war. Wenn also richtig ist, und darin besteht der große Konsens der neueren ›Wanderjahre‹-Forschung, dass Goethe hier die ›Tendenzen einer Zeit‹ zur Darstellung bringen wollte, dann war das Epos die zu wählende Gattung einer solch umfassenden Repräsentation.730 Wenn das Epos aber als geschlossenes Versepos nun aber gar nicht mehr mit der inhaltlichen Diagnose einer fragmentierten Welt zusammenstimmte, dann lag es nahe, auf einen Eposbegriff zurückzugreifen, der mit einer solchen Diagnose formal korrespondieren konnte, und diese formale Korrespondenz auf die Gattung zu übertragen, die – darüber konnte es nach 1800 wohl keinen Zweifel mehr geben – als die bestimmende Gattung der neuen Zeit gelten konnte: dem Roman.731 Wurde der Roman von Herder und F. Schlegel als Rahmung unterschiedlichster Ausdrucks- und Gattungsformen beschrieben, dann konnte Goethe bei Schubarth nachlesen, dass eine solche Bestimmung nur eine weitere Analogie zwischen Epos und Roman anbot. Schubarth sieht das Epos als Begriff, »der es nicht verstattet, es als Gedicht und Dichtung in der strengen Fassung einer Gattung zu 729

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Zum kollektiven Charakter der Erstellung der ›Ausgabe letzter Hand‹ und der zweiten Fassung der ›Wanderjahre‹ im Zuge dieser Redaktion vgl. auch Christina Salmen, ›Die ganze merkwürdige Verlassenschaft‹. Goethes Entsagungspoetik in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹, Würzburg 2003, S. 53–61. Vgl. dazu nur den Bericht Eckermanns vom 11. September 1828, MA 19, S. 250. Wie er ja auch in ›Hermann und Dorothea‹ darauf zurückgreift, um ein zeitgeschichtliches Ereignis zu porträtieren. So schon Blanckenburg, Wezel und schließlich Hegel und weiter bishin zu Benjamin.

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betrachten.«732 Die Trennung der Dichtung in Gattungen ist für Schubarth Ergebnis der Trennung von Poesie und Prosa im fünften und sechsten Jahrhundert v. Chr. Im Epos hingegen seien Poesie und Prosa noch ungetrennt. Alle Gattungen, hier denkt er ganz metamorphotisch, seien daher im Epos angelegt, aus dem heraus sie sich entwickeln.733 Aus diesem Argument leitet Schubarth dann seine Ablehnung der Thesen Wolfs ab. Die Trennung von Poesie und Prosa und die Ausbildungen der Gattungen fällt seiner Darstellung nach zeitlich genau in die Periode, die Wolf als Zeit der ersten Zusammenstellung der Rhapsodischen Gesänge durch die Peisistratiden ausmacht. Schubarth sieht »in der Neigung zu schärfster Sonderung und Abtheilung nach Ober- und Untergattungen« bereits den Verlust der Ganzheit der epischen Welt sich andeuten. Diese konnte man nur »durch Zusammenstellung und dem Verein mehrerer Individuen, also den Begriff einer Vertheilung, wieder als Ganzes erringen«. »Dieser Begriff einer Vertheilung, des Herstellens eines Ganzen durch die genaueste Sonderung und Abtheilung ist es, der dem Homerischen Gesang ebenso fehlt, als der in ihm dargestellten Menschheit.«734 Damit vollzieht Schubarth einen Zirkelschluss, denn das Ziel seines Arguments, die Einheit des Epos zu zeigen, wird bereits als Prämisse vorausgesetzt: Weil das Epos einheitlich ist, kann es nicht Ergebnis philologischer Sonderung sein, weil es dann nicht jenen gattungsumgreifenden, eben einheitlichen Charakter hätte. Damit kann er Wolfs eigentliches Argument nicht erschüttern, das ja diese Prämisse der Einheitlichkeit als Effekt der Bearbeitung ausgewiesen hatte. Dennoch dürfte Goethe, der sich in seinen Lektüren stets heraussuchte, was seinen Ansichten und Absichten entgegenkam, darauf aufmerksam geworden sein, dass der Roman als undifferenzierte Gattung, die die Poesie/Prosa-Unterscheidung zu unterlaufen vermag, einen, wenn auch veränderten Anspruch auf Darstellung von Ganzheit machen konnte. Bereits mitten in den Arbeiten zu den ›Lehrjahren‹ nennt er den Roman ein »pseudo epos«.735 In den ›Maximen und Reflexionen‹ heißt es: »Der Roman ist eine subjective Epopee, in welcher der Verfasser sich die Erlaubniß ausbittet die Welt nach seiner Weise zu behandeln.«736 Diese Unterscheidung beruht letztlich wieder auf dem Wolfschen Objektivitätsargument des Epos. Das Epos ist objektiv, weil es keinen singulären Verfasser hat, sondern Ausdruck der Totalität des antiken Geistes ist, dessen Streben zur Einheit die Redakteure dann an der Textgestalt nur exekutiert haben. Als Epo-

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Schubarth, Ideen, S. 30. Vgl. ebd., S. 18–20. Alle ebd., S. 31. Am 27. November 1794 an Schiller, MA 8.1, S. 39. FA 13, S. 16. Schiller, der den Roman als Gattung bekanntlich nicht sonderlich schätzte, erkennt im ›Wilhelm Meister‹ eine Nähe zur Epopee: »Der Roman, so wie er da ist, nähert sich in mehrern Stücken der Epopee«, MA 8.1, S. 203.

pöe erhebt der Roman ebenfalls Anspruch, Welt als Totalität darzustellen. Subjektiv meint hier aber zweierlei: den Roman als subjektiven Weltentwurf seines Verfassers und die Bindung der Darstellung dieser Totalität an den Werdegang eines Individuums. Der Roman als Kompendium ist der Versuch einer Zurücknahme dieser Bindung, um das nur scheinhaft Epische in eine wahrhaft epische Form zu verwandeln, denn dies ist offensichtlich: die ›Wanderjahre‹ sind nicht mehr Bildungsgeschichte des Individuums Wilhelm Meister. Die Wilhelm-Handlung ist nur eine unter vielen in einer Geschichte der Ausbildung. Die Frühromantiker hatten gezeigt, dass mit einer solchen Formwahl die epische Poesie nicht mehr als vergangene und verlorene Epoche gelesen werden musste, sondern als ein dynamisches Element zur Überwindung eines rein mimetischen Abbildungsverhältnisses von Welt und Dichtung auch Möglichkeitsform für die Literatur der Gegenwart war.737 Das ist eine Paradoxie: Einerseits bot das Epos als (Erzähl-) Kollektiv die Möglichkeit des realistisch-objektiven Weltbezugs, andererseits unterminiert die damit einhergehende Multiperspektivität und Fragmentalität die Stillstellung eines solchen Realismus. Damit wird der Roman, in dem beide Momente zusammengenommen werden, tatsächlich noch einmal zum Medium einer umfassenden Weltdeutung und so zur Hoffnung, die kulturkritische Diagnose von Moderne ins Positive zu wenden. Gerade sie, so könnte man Goethe verstehen, hat Poesie bitter nötig. Denn, so heißt es in den ›Wanderjahren‹: »Poesie wirkt am meisten im Anfang der Zustände, sie seien nur ganz roh, halbkultiviert, oder [!] bei Abänderung einer Kultur«.738 Die ›Wanderjahre‹ sind der komplexe Versuch, für die ›neue Welt‹ infolge eines diagnostizierten gesellschaftlichen Umbruchs eine Form zu suchen, die einerseits in der Lage ist, diese neue Wirklichkeit »noch einmal in ihrer Totalität zu erfassen«,739 andererseits diese aber nicht bloß mimetisch zu reproduzieren. Die ›Wanderjahre‹ sind in der Tat »Transzendentalroman«. Hier hat Goethe nach den ersten Versuchen in den ›Unterhaltungen‹ die Form gefunden, sich über die Möglichkeit des Erzählens unter veränderten medialen, sozialen und ökonomischen Bedingungen zu verständigen.

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Darauf hatte Goethe in der Rezension des ›Wunderhorn‹ insistiert. Siehe oben 203ff. Wj2, S. 564. Meine Markierung. Wolfgang Düsing, Der Novellenroman. Versuch einer Gattungsbestimmung. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 20 (1976), S. 539–556; S. 551. Düsing sieht die ›Wanderjahre‹ ganz auf der Linie Brochs als ersten Typus einer neuen Romangattung, die versuche, Lebenstotalität auf dem Hintergrund einer Epoche nicht mehr als ungebrochene Einheitlichkeit vorzustellen (ebd., S. 543). So richtig auch die formale Beschreibung durch Düsing ist, so gilt es nicht immer nur prospektiv zu argumentieren, sondern zu fragen, wie eine Übertragung solch hoher epischer Qualitäten auf einen fragmentierten Text überhaupt möglich gewesen ist.

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Wollte man wie Hotho auf Hegel zurückgreifen, um eine genauere Bestimmung dieser Gattungstransfusion vom Epos auf den Roman zu gewinnen, dann lohnt ein Blick vor allem auf die Epostheorie, die versucht, die Summe aus den vielen Gattungsbestimmungen der Goethe-Zeit zu ziehen. Als grundlegende Unterscheidungsmerkmale der Gattungen setzt Hegel zwei Kriterien an. Erstens, in welches Verhältnis tritt die Darstellung zur äußeren Welt und zweitens, welche Stellung nimmt der Erzähler zu der dargestellten Welt ein. Damit kommt er zu folgendem Gattungsschema: Epos

Lyrik

Drama

Objektivität – Äußerlichkeit der Welt

Subjektiv – Innerlichkeit der Welt

Objektivität – Subjektivität Das Objektive kommt aus dem Subjekt, das Subjektive wird in objektive Gültigkeit überführt

Absänger zieht seine Subjektivität in der mechanischen Darstellung ganz zurück

Sichaussprechen des Sängers durch musikalischen Ausdruck seiner Innerlichkeit

Gegenwärtige Darstellung des ganzen Menschen

Die Darstellung des epischen Gegenstands »in seinen Verhältnissen und Begebenheiten, in der Breite der Umstände und deren Entwicklung«740 bedarf eines Erzählers, der durch Art und Organisation des Vortrages eine Distanz zum Vorgetragenen gewinnt. Nur so ist Objektivität möglich. »Um der Objektivität willen muß nun aber der Dichter als Subjekt gegen seinen Gegenstand zurücktreten und in demselben verschwinden.«741 Ganz ähnlich hatten Goethe und Schiller in ›Über epische und dramatische Dichtkunst‹ noch gefordert, »der Rhapsode sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedicht nicht selbst erscheinen, er läse hinter einem Vorhang am allerbesten, so daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte«.742 Schiller wies Goethe in seinem Brief vom 29. Dezember 1797 auf die Unmöglichkeit eines reinen epischen Erzählens unter modernen Bedingungen hin.743 Nach Wolfs Medienanalyse der homerischen Epen und der Diskussion um Mündlichkeit als originärer Modus des Poetischen musste also eine Erzählfigur her, die ein objektiv-nüchterndes Erzählen von vollkommen vergang-

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I–III. In: ders., Theorie-Werkausgabe. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 13–15, Frankfurt/M. 1970; Bd. 15, S. 325. Ebd., S. 336. Goethe/Schiller, Über epische und dramatische Dichtkunst. In: FA 18, S. 445–447; S. 447. »Gäb es Rhapsoden und eine Welt für sie«, MA 8.1, S. 477.

nen Begebenheiten unter Rücksichtnahme auf die medialen Überlieferungsbedingungen dieser Vergangenheit ermöglichte. Diese Figur ist der philologische Redakteur der ›Wanderjahre‹ und sein Erzählen aus den Dokumenten der Archive.744 Nur ganz selten fällt der Redakteur aus seiner Rolle und es entschlüpfen ihm subjektive Äußerungen.745 Diese wenigen Variationen fungieren aber nur als Index auf das ansonsten streng durchgehaltene Erzähler-wir im pluralis majestatis. Der Redakteur ist bemüht, »dasjenige was wir damals gewusst und erfahren, ferner auch das, was später zu unserer Kenntnis kam zusammen zu fassen und in diesem Sinne das übernommene ernste Geschäft eines treuen Referenten getrost abzuschließen.«746 Es widerspricht dieser Aufgabe im Übrigen durchaus nicht, wenn der Redakteur manche Sachverhalte, von denen die Dokumente des Archivs Auskunft geben, nicht berichtet, sondern deren Existenz nur kurz vermerkt.747 Manchmal hält er Informationen aus kompositionellen Gründen zurück, etwa um die Spannung zu erhöhen und den Gang der jeweiligen Erzählpassage nicht mehr als nötig zu unterbrechen. »Die Papiere, die uns vorliegen, gedenken wir an einem andern Orte abdrucken zu lassen und fahren diesmal im Geschichtlichen ohne weiteres fort, da wir selbst ungeduldig sind das obwaltende Rätsel endlich aufgeklärt zu sehen.«748 Der Redakteur ist 744

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Dass diese Möglichkeit nahelag, dürfte mit einem Blick auf die romangeschichtliche Omnipräsenz von Herausgeber- und Quellenfiktionen leicht einsehbar sein, wenngleich sie in dieser Geschichte gänzlich andere Funktionalisierungen erfahren können. Für England vgl. dazu nochmals Davis, Factual Fictions. Für den deutschen Kontext siehe Jürgen Nelles, Bücher über Bücher. Das Medium Buch in Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts, Würzburg 2002. Vgl. Safia Azzouni, Kunst als praktische Wissenschaft. Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ und die Hefte ›Zur Morphologie‹, Köln – Weimar – Wien 2005, S. 66. Vgl. Wj2, S. 299; S. 478f; S. 491, S. 530. Wj2, S. 720. Vgl. etwa Wj2, S. 690; S. 721. Wj2, S. 382. Das Rätsel ist die Erklärung der Eigentümlichkeiten Makaries. Vgl. auch Wj2, S. 299 (hier die Erzählung von Wilhelms Wundarztausbildung); S. 537 (die Erzählung von der Rettung Felix’ durch Wilhelm). Azzouni (Kunst als praktische Wissenschaft, S. 62) deutet diese Stellen als Beleg dafür, dass der Redakteur selbst einer höheren zensierenden Instanz unterstellt ist, auf die er Acht geben muss. Wer diese Instanz sein soll, bleibt unbeantwortet. Vielleicht denkt sie dabei an den Illuminaten-Zusammenhang des ›Wilhelm Meister‹, wie Hans Jürgen Schings ihn geltend gemacht hat. Vgl. Hans Jürgen Schings, Wilhelm Meister und das Erbe der Illuminaten. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 1–25, für den Weimarer Kontext siehe Walter Müller-Seidel/Wolfgang Riedel (Hg.), Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde, Würzburg 2003. Widersprüchlich ist in der Rede des Redakteurs nur die Angabe, die Zeichnungen aus ›Lenardo’s Tagebuch‹ nicht wiedergeben zu können, obwohl die Skizze des Schlüssels offensichtlich kein reprographisches Problem darstellte. Vgl. Wj2, S. 599 und S. 620. Den Schilderungen Meyers, auf denen die Beschreibung der Spinner- und Webereimanufaktur beruht, waren ebenfalls fünf Zeichnungen beigefügt. Vgl. FA 10, S. 878–888.

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dabei nicht nur »der Sammler und Ordner dieser Papiere«,749 sondern er verfügt über »die Rechte des epischen Dichters«750 des »Mitteilens, Darstellens, Ausführens und Zusammenziehen«751 seiner Materialien. Der Redakteur nimmt eine analoge Stelle wie die Diaskeuasten ein. Der Unterschied besteht in der deutlichen Markierung dieser Position. Mussten die (modernen) Philologen die Eingriffe der (antiken) Bearbeiter erst durch sorgfältige Analyse offen legen, so wird in den ›Wanderjahren‹ der Philologe selbst zum Schöpfer des Textes. Zugleich ist auch ein deutlicher Unterschied zu einem auktorialen Erzähler gegeben, der keiner Eigenlegitimierung bedarf. Der Redakteur kann nur erzählen, was er in seinen Papieren findet oder durch weitere Recherchen – »was später zu unserer Kenntnis kam«752 – ausfindig machen konnte. Koppelte Hegel analog zu ›Über epische und dramatische Dichtkunst‹ die Objektivität des Epos an den sich ganz zurücknehmenden Rhapsoden, so ist sie in den ›Wanderjahren‹ an den ›sachlichen‹ Redakteur gebunden. Epische Objektivität ist in der Moderne nur durch philologische Authentizität zu haben, sei es im realen Sinne der Wolfschen Textkritik oder im fiktiven Sinne der Herausgeberfiktion.753 Ist das epische Erzählen gleichzeitig das Medium der Vergangenheitsüberlieferung,754 dann geht diese Funktion ganz 749 750 751 752 753

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Wj2, S. 690. Wj2, S. 676. Wj2, S. 720. Wj2, S. 720. Das zeigt sich insbesondere an den Stellen, wo der Redakteur auf die Unzuverlässigkeit der Quellen verweist. Ein Beispiel ist der Aufsatz über Makarie im 15. Kapitel des dritten Buches, den der Redakteur folgendermaßen einleitet. »Zu diesem Punkte aber gelangt können wir der Versuchung nicht widerstehen ein Blatt aus unsern Archiven mitzuteilen welches Makarie betrifft und die besondere Eigenschaft die ihrem Geiste erteilt ward. Leider ist dieser Aufsatz erst lange Zeit, nachdem der Inhalt mitgeteilt worden, aus dem Gedächtnis geschrieben und nicht, wie es in einem so merkwürdigen Fall wünschenswert wäre, für ganz authentisch anzusehen.« (Wj2, S. 733) Es handelt sich dabei um ein Blatt aus dem Archivfach ›Makariens Eigenheiten‹ (Wj2, S. 389) oder um die Niederschrift Wilhelms nach dem Gespräch mit dem Astronom. Zur Problematik allgemein siehe den Sammelband Bein/Nutt-Kofoth/Plachta (Hg.), Autor. So bei Hegel ganz dezidiert. Das Vorhandensein des Epos ist – wie bei Schubarth – bereits Anzeichen für den Verlust der epischen Welt als »eine Heldenvergangenheit, deren dahingesunkener Glanz das Bedürfnis poetischer Erinnerung und Ausgestaltung hervorruft.« Hegel, Ästhetik III, S. 333. Wenn dem so ist und auch Hegel die Entstehung des Epos »Jahrhunderte später« (ebd.) als die Ereignisse der epischen Welt ansetzt, dann fragt es sich doch, wieso hier der epische Weltzustand noch unmittelbar zu uns sprechen kann. Anders gesagt: Wenn Homer die Zeit des epischen Weltzustands bereits im Modus der Vergangenheit vorstellt, warum könnte dies dann nicht auch ein Moderner schildern? Das ist ein wichtiger Unterschied. Um die Homerischen Epen als Dokumente der Selbstaussprache des griechischen Geistes lesen zu können, hatte Wolf deren orale und sukzessiv-kollektive Genese betont und die Transformation durch die schriftliche Überlieferung herausgearbeitet. Bei Hegel bleibt das Pro-

offensichtlich hier an den Philologen und sein Archiv über. Der Redakteur der ›Wanderjahre‹ betreibt so die gleiche ›Werkpolitik‹ wie Martus sie bei Goethe selbst erkennt: »Er bewahrt Leerstellen für Kommentare und Interpretationen; er arbeitet durch Berichte ›aus seinem Leben‹ der Monographie-Produktion zu; und er spielt sein Werk durch Selbstarchivierung in die Hände der Editoren«.755 Es ist sicher richtig, dass damit sein »Werk als Medium, über das sich die neugermanistische Philologie als Goethe-Philologie ausdifferenzieren kann«756 zur Verfügung gestellt wird. Dies aber Goethe intentional zu unterstellen, wie Martus andeutet, scheint mir unangebracht. Goethe war weniger um die Neugermanistik denn um die Möglichkeiten der Poesie unter den Bedingungen der Philologie besorgt. Indem er den Wechsel der Traditionsbildung von der Dichtung auf die Philologie wieder als Fiktionsinstrument inszeniert, kann die Poesie sich wieder ins Recht setzen und findet in der Übertragung vom unmöglich gewordenen Epos auf den Roman zugleich die neu zuständige Gattung. Dem entspricht die Konzeption des Romans als Kollektiv. Safia Azzouni sieht in der Umarbeitung von der ersten zur zweiten Fassung der ›Wanderjahre‹ eine Zurücknahme der Archivfiktion, da der Redakteur in der Fassung von 1821 eine wesentlich stärkere narrative Leitinstanz sei als 1829.757 Sie orientiert sich dabei wesentlich an Thesen Gonthier-Louis Finks, der auf Seiten des Redakteurs bereits »keine eigentliche Überschau« »des gesamten ihm vorliegenden Materi-

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blem des Verhältnisses von epischer Welt und Welt des Epikers ausgeblendet. Hält er an Homer als einzigem Schöpfer der Epen fest, dann muss dieser noch »ganz zu Hause« (ebd., S. 355) gewesen sein, wenn uns die Epen eine ursprüngliche »Anschauung eines nationalen Geistes« in seinen »Bedürfnissen, Künsten, Gebräuchen, Interessen« (ebd., S. 345) geben sollen, denn, »wo anderen heimisch ist, sind wir auch einheimisch« (ebd., S. 355f.). Wie aber passt dies zu folgendem? »Dabei müssen wir uns aber nicht etwa die Sache so vorstellen, als ob ein Volk in seiner heroischen Zeit als solcher, der Heimat seines Epos, schon die Kunst besitze, sich selber poetisch schildern zu können. […] Das Bedürfnis, sich darin als Vorstellung zu ergehen, die Bildung der Kunst tritt notwendig später auf als das Leben und der Geist selbst, der sich unbefangen in seinem poetischen Dasein zu Hause befindet.« (ebd., S. 333) Hegel tappt so in die Falle, die Wolf umgehen wollte. Der poetische Weltzustand ist notwendig ein naiv-unreflektierter. Das Epos als Kunst setzt aber bereits Reflexion und damit den Abschied vom epischen Weltzustand voraus. Das Epos, so hatte Schlegel anders als Hegel erkannt, ist schon Ausdruck der Differenzierung von naiver und sentimalischer Dichtkunst. Es erstaunt, dass Hegel aus der Mündlichkeit-Schriftlichkeit-Debatte der Goethe-Zeit mit ihrem Bewusstsein eines unhintergehbaren Bruchs des Naiven durch den Medienwechsel offenbar wenig gelernt hat. Auch Schubarth (Ideen, S. 19) hatte die Vorstellung zurückgewiesen, bei den Homerischen Dichtungen handele es sich primär um Geschichtsschreibung. Vielmehr gehe es um die Indienstnahme geschichtlicher Stoffe durch die Poesie. Martus, Werkpolitik, S. 447. Ebd. Vgl. Azzouni, Kunst als praktische Wissenschaft, S. 60ff.

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als« sah und dessen Erzählweise »Inkonsequenz« attestierte.758 Setzte Fink aber noch den realen Autor als dem Redakteur übergeordnete Instanz ein, so ersetzt Azzouni diesen durch das Kollektiv von 66 Erzählern, die in keine eindeutige Hierarchie zu bringen seien. »Goethe praktiziert in seinem letzten Roman ein Erzählen ohne Erzähler.«759 Der Redakteur fungiert bei Fink und Azzouni als Reflexions- und Distanzierungsfigur von realem und idealem,760 oder, wie Azzouni theoretisch versierter sagt, dem impliziten Leser: der Redakteur ist ein höflicher Publikumsbeschimpfer.761 Trifft dieser Befund zwar insgesamt zu, so zwingt er aber keineswegs dazu, Archivfiktion und kollektives Erzählen in einen Gegensatz bringen.762 Im Gegenteil, das Archiv und sein philologischer Bearbeiter sind die Geburtshelfer des Romans des kollektiven Erzählens. Sie sind die Medien, die den Roman vom Novellenzyklus und der Erzählsammlung auf der einen, vom Epos auf der anderen Seite differenzieren.763 Schon anlässlich der frühen Fassung schreibt Goethe am 7. September 1821 an Zauper über die fragmentarische Form: »Zusammenhang, Ziel und Zweck liegt

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Gonthier-Louis Fink, Tagebuch, Redaktor und Autor. Erzählinstanz und Struktur in Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. In: Recherches Germaniques 16 (1986), S. 7–54; S. 21 und S. 32. Azzouni (Kunst als praktische Wissenschaft, S. 242) reiht sich damit nahtlos in die von Broch (James Joyce) begonnene Reihe von Kritikern ein, die in den ›Wanderjahren‹ um jeden Preis bereits eine radikale Form des modernen Romans sehen wollen. Zum Roman ohne Erzähler vgl. etwa Joseph Warren Beach, The twentieth century novel. Studies in technique, New York 1960. Dort vor allem der Abschnitt »Exit Author«, S. 14–24. Beach meint mit ›Author‹ den klassischen Erzähler. Wenig Neues, weder in interpretatorischer noch in erzähltheoretischer Hinsicht, kann Jutta Heinz (Narrative Kulturkonzepte. Wielands ›Aristip‹ und Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹, Heidelberg 2006, S. 317–502) bieten. Ihre Interpretation bleibt hinter dem sehr ambitionierten theoretischen Anspruch zurück. Vgl. Fink, Tagebuch, Redaktor und Autor, S. 27–31. Azzouni, Kunst als praktische Wissenschaft, S. 63f. Vgl. ebd., S. 68 und S. 70. Wielands ›Hexameron‹ markiert diesen Übergang. Damit ist nicht gesagt, dass es nicht noch weitere Unterscheidungsmerkmale gibt. Zum Roman fehlt etwa dem ›Hexameron‹ nur noch die eigene Temporalität der Rahmenhandlung. Diese orientiert sich wie im Novellenzyklus noch ganz an den Erzählungen. Die Rahmenhandlung hat daher kein eigentliches Handlungsgeschehen außer dem Erzählen selbst. Goethe hatte in den ›Unterhaltungen‹ und dem Streit zwischen Karl und dem Geheimrat damit bereits ein Stück gebrochen. In den ›Wanderjahren‹ funktioniert die Einebnung einer strikten Unterscheidung von Rahmen und Binnenhandlung eben durch die temporale Ineinanderflechtung der Wilhelm-Handlung mit den vorgeblichen Erzähleinlagen, wie am Beispiel von ›Der Mann funfzig Jahren‹ zu sehen ist. Eben deshalb kann auch der Versuch, die ›Wanderjahre‹ in einen Novellenzyklus ›zurückzuverwandeln‹ nur durch radikale Schnitte im Geschehen der Wilhelm-Handlung erfolgen. Vgl. Wilhelm Meisters Wanderjahre. Ein Novellenkranz. Nach dem ursprünglichen Plan herausgegeben von Eugen Wolff, Frankfurt/M. 1916.

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innerhalb des Büchleins selbst; es ist nicht aus Einem Stück, so ist es doch aus Einem Sinn, und dies war eben die Aufgabe: mehrere fremdartige, äußere Ereignisse dem Gefühl als übereinstimmend entgegen zu bringen.«764 Über die zweite Fassung heißt es dann in den bekannten Briefen an Rochlitz am 28. Juli 1829: Eine Arbeit wie diese, die sich selbst als kollectiv ankündiget, indem sie gewissermaßen nur zum Verband der disparatesten Einzelheiten unternommen zu sein scheint, erlaubt, ja fordert mehr als eine andere daß jeder sich zueigne was ihm gemäß ist, was in seiner Lage zur Beherzigung aufrief und sich harmonisch wohltätig erweisen möchte.765

Und am 23. November 1829 schreibt er: Mit solchem Büchlein aber ist es wie mit dem Leben selbst: es findet sich in dem Komplex des Ganzen Notwendiges und Zufälliges, Vorgesetztes und Angeschlossenes, bald gelungen, bald vereitelt, wodurch es eine Art von Unendlichkeit erhält, die sich in verständige und vernünftige Worte nicht durchaus fassen noch einschließen läßt. [...] Das Büchlein verleugnet seinen kollektiven Ursprung nicht, erlaubt und fordert mehr als jedes andere die Teilnahme an hervortretenden Einzelheiten.766

Azzouni hat einen ambitionierten Versuch für die Rekonstruktion dieser spezifischen Erzählweise der ›Wanderjahre‹ vorgelegt. Sie greift dabei einerseits auf die seit Volker Neuhaus bahnbrechendem Aufsatz etablierte These von der Archivfiktion767 der ›Wanderjahre‹ zurück, sucht aber gleichzeitig deren Poetologie nicht immanent, sondern mit Rückgriff auf die Hefte ›Zur Morphologie‹ zu erläutern. Völlig zutreffend macht sie das Kollektive als Prinzip der Darstellung beider Werke aus und interpretiert diese Form des Kollektiven als den Versuch Goethes, einem »zum Objektiven strebenden Denken Form zu geben«.768 Die entsprechenden Belege zum kollektiv-fragmentarischen Charakter der Morphologie-Hefte, die auch Azzouni anführt, sind schlagend. An Friedrich Christoph Perthes schreibt Goethe am 26. Juni 1817 von der »Redaction älterer Arbeiten zur Naturkunde«, die ein »eigenes buntes Ansehn«769 hätten, an Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck schreibt er am 3. Dezember 1820: »Das Fragmentarische der Behandlung kann niemand besser beurteilen und supplieren als sie. […] Meine Hefte indes werd ich auf bisherige Art und Weise gar wohl fortsetzen, weil gränzenlose Papiere vor mir liegen, wo bald zu dem einen, bald 764 765

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WA IV 36, S. 74. FA Bd. 38: Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethes Tod. Teil II, Vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum Tode. Hg. von Horst Hug, Frankfurt/M. 1993, S. 140. FA 38, S. 199. Volker Neuhaus, Die Archivfiktion in ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. In: Euphorion 62 (1968), S. 13–27. Azzouni, Kunst als praktische Wissenschaft, S. 40. WA IV 28, S. 147.

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zu dem andern Zwecke sich die Redaktionslust wenden kann«.770 In der ›Zwischenrede‹ des zweiten Heftes von 1820 wird dann die eigene Autorschaft durch die Herausgeberschaft am Werk ersetzt, wenn Goethe sagt, »gegen meine eigenen Papiere mich als Redakteur verhaltend« verfahren zu sein.771 Als ein solcher Redakteur habe er »das Überflüssige und manches Unbehagliche daraus verbannen« können. Diese Diaskeue hat den Text aber nicht in eine homogene textuelle Einheit verwandelt: »Demohngeachtet ist einiges geblieben wofür ich nicht einstehe: Widersprüche und Wiederholungen ließen sich nicht vermeiden, wenn das damit unzertrennbar Verknüpfte nicht gänzlich zerstört werden sollte.« Damit ist dem Konzept formaler Geschlossenheit entsagt. Die Beiträge zur Morphologie seien eben nicht »Teile eines ganzen schriftstellerischen Werkes« und konnten »nimmermehr zur Einheit gedeihen«.772 Zugleich wird aber darauf insistiert, dass ein Zusammenhang durch Verknüpfung besteht, der weder durch die Edierung des angesammelten Bestandes noch durch dessen Heterogenität sich auflösen lasse. Dieser Zusammenhang kann demnach nur durch ein inneres Einheitsprinzip bestimmt sein. Azzouni beschreibt dieses innere Prinzip selbst als morphologisch. Die darzustellende Theorie einer Morphologie des Lebens kann nur morphologisch, d.h. als sich schichtende und ansammelnde Kollektivität von Materialien erfolgen. Jeder Entwicklungszustand des Lebendigen ist das Ergebnis des Zusammentretens verschiedener historisch-evolutiver Prozesse, die sich aber weniger in sukzessiver Folge als in einer räumlichen Ordnung des Zusammenseins beschreiben lassen. Der morphologische Forscher allerdings müsse bestrebt sein, diese Schichten voneinander zu trennen und auf einen Ursprung zurückzuführen. In der Idee einer Urpflanze hatte das Goethesche Morphologieprojekt seinen Anfang genommen. Und es war bekanntlich Schiller, der in der ›symbolischen Pflanze‹ eben nur eine Idee sah.773 Dies aber ist entscheidend. Die Ursprungsphantasie ist der uneinholbare Punkt der morphologischen Untersuchung.774 Die Analyse der Stufenfolge der Metamorphose am konkreten Objekt wird eines nicht zu Tage fördern: Die Urpflanze, das Original. 1817 kann Goethe dies akzeptieren und als positives Merkmal der morphologischen Methode herausstellen: »Fromme Wünsche jedoch dürfen wir hegen, liebevolles Annähern an das Unerreichbare zu versuchen, ist nicht

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FA 36, S. 127f. Goethe, Hefte zur Morphologie. In: FA Bd. 24: Schriften zur Morphologie. Hg. von Dorothea Kuhn, Frankfurt/M. 1987, S. 399–642; S. 441. Alle FA 24, S. 441. Vgl. den Abschnitt ›Glückliches Ereignis‹. FA 24, S. 434–438. Darin erklärt sich auch die Vermischung biographischer und wissenschaftsgeschichtlicher Darstellung in den ›Heften zur Morphologie‹. Goethe ist bemüht, seinen eigenen Entwicklungsgang zur Theorie der Morphologie selbst morphologisch zu entfalten.

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untersagt.«775 Ziel der Morphologie ist eben diese asymptotische Annäherung. Ihr Ergebnis ist, wie das der vegetativen Morphologie, die Versammlung verschiedener Einfluss- und Entwicklungsfaktoren in eine Gestalt. Die Darstellung dieses Ergebnisses aber darf dieses nicht – anders als der organische Prozess – zu einer geschlossenen Einheit ineinander blenden, sondern hat die Übergänge und Brüche offen zu bezeichnen. Die beständig wiederkehrende Rede von der ›Redaktion der Papiere‹ deutet bereits die philologische Arbeit an den Heften ›Zur Morphologie‹ an. Sie vollzieht sich im Rahmen der philologischen Inventur des Goetheschen Schriftbestandes. Die beschriebene Darstellungsweise der kollektiven Genese und fragmentarischen Behandlung eines Werkes schuldet sich der Analogie zur philologischen Behandlung der griechischen Epen durch Wolf und F. Schlegel. Hier konnte Goethe die Erfahrung machen, dass Lebendigkeit und organischer Zusammenhang nicht notwendig an formale Geschlossenheit gekoppelt sind, wie es das Klassizismus-Paradigma nahelegte, sondern diese Geschlossenheit vielmehr Produkt einer Übereinanderblendung verschiedener Entwicklungsstufen ist. Genauso hatte Schlegel im Anschluss an Wolf die Homerischen Epen analysiert: Die philologische ›Untat‹ der diaskeuastischen Redaktion folgt nur dem Wunsch der dort angelegten inneren Homogenität äußeren Ausdruck und Form zu geben. Ganz analog und Goethe vielleicht näher als F. Schlegel hatte Schelling in seiner Jenaer Vorlesung 1802/03 über die ›Philosophie der Kunst‹ die Wolfsche These einer vorgeblichen Zufälligkeit der epischen Anordnung mit dem Wesen des Epos als sich selbst setzendes Absolutes der Kunst für überaus vereinbar erklärt: »diejenige Zufälligkeit, die in dem Entstehen der Homerischen Gesänge wirklich gewaltet hat, trifft eben hier mit dem Nothwendigen und der Kunst zusammen, da das Epos seiner Natur nach sich mit einem Schein der Zufälligkeit darstellen muß.«776 Dieser Schritt ist damit aber auch als überflüssige philologische Phantasie markiert, denn das Original lässt sich nicht mehr rekonstruieren, was Wolf

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FA 24, S. 438. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst. In: ders., Ausgewählte Schriften. Aus dem handschriftlichen Nachlass. Hg. von K. F. A. Schelling. Bd. 5, Eßlingen 1859. [Unveränderter reprographischer Nachdruck Darmstadt 1974], S. 694. Schelling trifft mit Schlegel u.a. in der Charakterisierung der Bedeutung von Kausalität und Sukzession für die epische Handlung überein. Beide beschreiben das Epos als Gemälde, auf dem die Handlungen eher nebeneinander, denn hintereinander zu lesen wären. Der Bezug auf Wolf in der dem Zitat unmittelbar vorangehenden Passage: »Wenn man diese als Zufälligkeit erscheinende Absolutheit, die tief im Wesen des Epos gegründet ist, auffaßt, so reicht diese allein hin, die neuere Wolfsche Ansicht des Homer nicht so fremd und unfaßlich zu finden, als sie von den meisten gefunden wird« (ebd.). Auf die näheren Implikationen der Schellingschen Epos- und Romantheorie kann hier leider nicht eingegangen werden.

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freilich nie akzeptiert hätte. Der Begriff des Originals im Sinne monolithischer Autorschaft ist angesichts der kollektiven, oralen Erzähltradition, wie sie Wolf beschrieben hatte, schon Ausdruck dieser Phantasie. Wolf hatte gezeigt, wie sehr man das kritische Seziermesser an den Text legen konnte und doch nur verschiedene Entstehungs- und Bearbeitungsschichten in dieser Geologie des Textes offengelegt wurden. Bezeichnenderweise gibt Goethe selbst in ›Schicksal der Druckschrift‹ einen Hinweis auf F. A Wolf. Auf der Suche nach entsprechender Sekundärliteratur, die seine These stützen könnte, kommt der entscheidende Hinweis nicht von den naturwissenschaftlich interessierten Freunden, sondern vom Philologen und hier wird die Theorie der Morphologie mit der Idee textueller Überlieferung kurzgeschlossen: Da mir nun alle Gelegenheit entzogen war in Büchern mich umzusehen benutzte ich meine Druckschrift gelegentlich daß ich gelehrte Freunde, welche der Gegenstand interessierte, bittend anging, mir zu Liebe, in ihrem weit verbreiteten Lesekreis gefällig acht zu geben, was schon über diese Materie geschrieben und überliefert wäre: denn ich war längst überzeugt es gebe nichts Neues unter der Sonne, und man könne gar in den Überlieferungen schon angedeutet finden, was wir selbst gewahr werden und denken, oder wohl gar hervor bringen. Wir sind nur Originale weil wir nichts wissen. Jener Wunsch aber ward mir gar glücklich erfüllt, als mein verehrter Freund, Friedrich August Wolf, mir seinen Namensvetter andeutete, der längst auf der Spur gewesen die nun auch ich verfolgte.777

Der letzte Relativsatz bezieht sich zwar auf den »Namensvetter« Caspar Friedrich Wolf, kann aber durchaus auch auf F. A. Wolf bezogen werden. In diesem Sinne wandelte Goethe auch auf dessen Spur. Diese offene Lesart ist insbesondere mit Blick auf die Originalitätsthese keineswegs abwegig. Das homerische ›Original‹, so hätte Schiller gegen Wolf einwenden können, sei halt lediglich eine Idee, keine Erfahrung. Mit Goethe gesprochen: Wolfs Philologie, so sehr sie ihren kritischen Gestus auch vor sich hertragen mag, verfahre letztlich morphologisch oder andersherum: die Morphologie ist die Übertragung der philologischen Methode auf den Bereich des Lebendigen. Beide verfahren vereinigend und trennend zugleich. In eine Gleichung gebracht, ergibt sich der für Goethe so gewünschte Effekt eines Erklärungsmusters, in dem erstens, Poesie als lebendig-organischer Gegenstand sichtbar wird, aber nicht mit Natur in eins fallen muss und zweitens, die Analyseverfahren von Natur und Poesie dennoch dem gleichen Modell folgen können. Die Morphologie als Naturwissenschaft ist nur das Analogon einer ›anderen‹ Philologie als Wissenschaft der Poesie. Wenn Goethe zu bedenken gibt, »daß Wissenschaft und Poesie vereinbar seien«, ja »daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe«, dann gilt dies nicht nur von den Naturwissenschaft, sondern – das hatte die Rekonstruktion zu Beginn dieser Stu777

FA 24, S. 425.

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die gezeigt – insbesondere auch für die Philologie, freilich einer anderen als Wolf sie selbst im Auge hatte. Und es klingt in der Tat doch sehr nach frühromantischer Rede, wenn er die Hoffnung ausspricht, »daß, nach einem Umschwung von Zeiten, beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten.«778 Solchermaßen sucht Goethe nicht nur Naturwissenschaft und Dichtung in ein fruchtbares Wechselverhältnis zu bringen, sondern eben auch Philologie und Poesie – ganz wie Schlegel es in den Notizen ›Zur Philologie‹ anvisierte. Dabei werden synthetisierende und analysierende, d.h. heißt zusammenhangsbildende und zusammenhangszersetzende Tätigkeiten als sich je ergänzende Verfahren beschrieben. In diesem Verhältnis werden Dichtung und Wissenschaft einander ergänzende Modelle zur Erfassung der Lebensphänomene: »denn hatte ich doch in meinem ganzen Leben, dichtend und beobachtend, synthetisch, und dann wieder analytisch verfahren, die Systole und Diastole des menschlichen Geistes war mir wie ein zweites Atemholen, niemals getrennt, immer pulsierend«.779 Goethes Theorie von Systole und Diastole bezeichnet ein dynamisiertes hermeneutisches Modell, das die Einheitlichkeit des Werkes als Effekt zusammenschließender Geistesoperationen ausweist.780 Dafür aber bedarf es einer bestimmten ›Zurichtung‹ des Textes. Operiert der menschliche Geist unter der Voraussetzung von Systole und Diastole, so wird zunächst auch jede hermeneutische Operation als beständiges Hin- und Herschreiten zwischen Text und Eigenbeobachtung beschrieben. Wenn Goethe parallel Homer und F. A. Wolfs destruktive Analyse desselben liest, so versucht er die durch Wolf zerstörte ›autoriale‹ Einheitlichkeit des Werkes auf einer anderen Ebene wiederherzustellen: Bey’m studiren des gedachten Werkes merkt’ ich mir selbst und meinen innern Geistesoperationen auf. Da gewahrt’ ich denn, daß eine Systole und Diastole immerwährend in mir vorging. Ich war gewohnt die beyden Homerischen Gedichte als Ganzheiten anzusehen, und hier wurden sie mir jedes mit großer Kenntniß, Scharfsinn und 778 779 780

Alle FA 24, S. 420. »Einwirkung der neueren Philosophie«, FA 24, S. 443. Auch hier hat Hegel viel von seinen Zeitgenossen gelernt. »Wenn deshalb das poetische Vorstellen in seinen Kunstprodukten eine innere Einheit alles Besonderen nötig macht, so kann diese Einigung dennoch um der Losheit willen, deren sich das Element der Vorstellung überhaupt nicht zu entschlagen vermag, versteckt bleiben und dadurch gerade die Poesie befähigen, einen Inhalt in organisch lebendiger Durchbildung der einzelnen Seiten und Teile mit anscheinender Selbständigkeit derselben darzustellen.« Hegel, Ästhetik III, S. 319. Auffällig ist, dass Hegel für das Epos »von einer loseren Einheit«, in der »jede Partie selbständig sein und erscheinen darf« spricht, zugleich aber vehement an der singulären Autorschaft Homers festhält. »Die Vorstellung einer Einheitslosigkeit und bloßer Zusammensetzung verschiedener, in ähnlichem Tone gedichteter Rhapsodien ist eine kunstwidrige barbarische Vorstellung.« Alle ebd., S. 337f. Vgl. auch S. 386, wo er explizit F. A. Wolf als Vertreter dieser ›barbarischen Vorstellung‹ nennt.

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Geschicklichkeit getrennt und aus einander gezogen, und indem sich mein Verstand dieser Vorstellung willig hingab, so faßte gleich darauf ein herkömmliches Gefühl alles wieder auf einen Punct zusammen, und eine gewisse Läßlichkeit, die uns bey allen wahren poetischen Productionen ergreift, ließ mich die bekannt gewordenen Lücken, Differenzen und Mängel wohlwollend übersehen.781

Eine Pointe dieser Beschreibung besteht darin, dass Goethe es letztlich als eine »Befreiung« ansieht, sich nun nicht mehr um das Thema Autorschaft bei Homer kümmern zu müssen: Das gelungene Kunstwerk entsteht erst in der Bewegung des Geistes, der Text und Leser immer wieder neu miteinander verknüpft, denn »der Geist ist es, der Verknüpfungen zu entdecken und dadurch Kunstwerke hervorzubringen hat.«782 An Zelter schreibt er am 28. April 1824 über Wolf und seine Thesen: »Dem Gedanken, daß es eine Sammlung sei, ein Zusammenstellen aus einem reichen Vorrat von Einzelheiten bin ich nicht abgeneigt: denn es ist im Grunde ganz einerlei, ob sich die Einheit am Anfang, oder am Ende bildet, der Geist ist es immer der sie hervorbringt«.783 Der Geist operiert dabei in Analogie zur Natur. »Mir entging nicht, die Natur beobachte stets ein analytisches Verfahren, eine Entwicklung aus einem lebendigen, geheimnisvollen Ganzen, und dann schien sie wieder synthetisch zu handeln, indem ja völlig fremdscheinende Verhältnisse einander angenähert und sie zusammen in Eins verknüpft werden.«784 Synthese bedeutet demnach nicht die Verbindung einander schon harmonisch zugestimmter Verhältnisse, sondern die produktive Zusammenstellung von heterogenen Materialien. Sichtbar werden Zusammenhänge, wenn sie gleichzeitig und im Kontrast, als Opposition hervortreten. Die Systole führt ihre Diastole notwendig mit und gebiert sie in Autopoiesis immer wieder neu, wie Goethe am Beispiel von Farbkontrasten in den ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹ in den ›Wanderjahren‹ deutlich macht: »Wie dem Auge das Dunkle geboten wird, so fordert es das Helle; es fordert Dunkel, wenn man ihm Hell entgegenbringt und zeigt eben dadurch seine Lebendigkeit, sein Recht das Objekt zu fassen, indem es etwas, das dem Objekt entgegengesetzt ist, aus sich selbst hervorbringt.«785 Mit diesem Akt der Selbstermächtigung durch den systolischen Geist geht seine Entselbstung786 im gleichen Augenblick einher. Die soeben hergestellte Verknüpfung muss als Fixierung eines Zusammen-

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FA Bd. 17: Tag- und Jahres-Hefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse. Hg. von Irmtraut Schmid, Frankfurt/M. 1994, S. 316f. Wj2, S. 558f. FA 37, S. 157. FA 24, S. 444. Goethe, Zur Farbenlehre: Didaktischer Teil, FA 23.1, S. 41. Für Joachim Heimerl (Systole und Diastole. Studien zur Bedeutung des Prometheussymbols im Werk Goethes. Versuch einer Neubestimmung, München 2001) eine Grundfigur des Goetheschen Werkes.

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hangs wieder zerfallen, wenn sie sich als lebendige, damit aber auch für produktive Anschlüsse fähige Einheit erweisen will.787 So bleiben für Goethe Rezipient und Werk wechselseitig aufeinander bezogen: Nur weil das Werk unter der gleichen Grundpolarität von Systole und Diastole arbeitet wie der menschliche Geist, kann es zu einer Passung beider kommen. Der Geist findet im Werk sein eigenes (Operations-)Gesetz wieder. Auf der Folie der Konzeption von Systole und Diastole wird der Text nicht mehr nur als ein Objekt betrachtet, sondern als ein eigenständiges Subjekt.788 Die so erkennbare, dem individuellen Kunstwerk selbst inhärente und selbstgestiftete Bewegung zwischen Fixierung und Lösung ermöglicht erst eine Orientierung auf ein übergeordnetes Allgemeines. Dieses Allgemeine ist aber zuvorderst nichts anderes als diese »ewige Formel des Lebens«; es wird erst in der Abfolge sich wechselseitig zernichtender Momente erkennbar. Damit aber lässt sich die Einheit des Kunstwerks nur noch als Paradoxie begreifen, die sich nicht durch ein aristotelisches Mythoskonzept von Anfang und Ende der Handlung beseitigen lässt. Dem entspricht die Charakterisierung der epischen Handlung durch Wolf mit ihrer historisch kontingenten Anordnung der Gesänge. Das Epos ist nicht abschließbar, sondern muss unter Bedingungen der Schriftlosigkeit, seine Anschlussfähigkeit und damit auch Variabilität sicherstellen. Für Schelling ist »die Zufälligkeit des Anfangs und des Endes« im Epos »Ausdruck seiner Unendlichkeit«.789 Die zweite Fassung der ›Wanderjahre‹ trägt am Ende den Vermerk »Ist fortzusetzen«.790 Ein Hinweis, den der fast 80jährige Goethe sicherlich nicht als biographische Aussage gemeint hat. Die Konsequenz eines solchen Ansatzes ist dabei offenbar Merkmal einer radikalen Autonomieästhetik: Weil man das Werk selbst sprechen lassen will, kann es nun als lebendig erscheinen, bedarf dazu aber keiner

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»Grundeigenschaft der lebendigen Einheit: sich zu trennen, sich zu vereinen, sich in’s Allgemeine zu ergehen, im Besondern zu verharren, sich zu verwandeln, sich zu spezifizieren, und wie das Lebendige unter tausend Bedingungen sich dartun mag, hervorzutreten und zu verschwinden, zu solideszieren und zu schmelzen, zu erstarren und zu fließen, sich auszudehnen und sich zusammen zu ziehen. Weil nun alle diese Wirkungen im gleichen Zeitmoment zugleich vorgehen, so kann alles und jedes zu gleicher Zeit eintreten. Entstehen und Vergehen, Schaffen und Vernichten, Geburt und Tod, Freud und Leid, alles wirkt durcheinander, in gleichem Sinn und gleicher Maße, deswegen denn auch das Besonderste, das sich ereignet, immer als Bild und Gleichnis des Allgemeinsten auftritt.« (Wj2, S. 577f.) Am 1. Februar 1827 schreibt er gegenüber Eckermann den Homerischen Epen eine solche Eigenbewegung trotz, vielleicht auch wegen der Wolfschen Destruktion zu: »Wolf hat den Homer zerstört, doch dem Gedicht hat er nichts anhaben können; denn dieses Gedicht hat die Wunderkraft wie die Helden Walhallas, die sich des Morgens in Stücke hauen und Mittags sich wieder mit heilen Gliedern zu Tische setzen.« FA 39, S. 234. Schelling, Philosophie der Kunst, S. 650. Wj2, S. 774.

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formal-klassizistischen Einheitsvorgabe mehr.791 Die Brisanz dieser Überlegung wird bewusst, wenn nicht nur die ästhetischen, sondern auch die sozial-politischen Implikationen des Einheitsbegriffes mitbedacht werden. In den ›Wanderjahren‹ wird in Wilhelms Erzählung von seiner Wundarztausbildung im dritten Kapitel des dritten Buches der Abschied vom antiken Einheits- und Kunstideal mit der gesellschaftlichen Transformation der Rolle der Kunst verbunden. Der bildende Künstler, da seine Produkte »keinen Abgang mehr fanden«,792 wird zum Produzenten plastischer medizinischer Modelle. Die Ablehnung der Anatomie als zergliedernder Wissenschaft, die nicht mehr den Zusammenhang, sondern nur die Segmentierung des menschlichen Körpers im Blick hat, wird der gleichen Kritik unterstellt, wie sie Goethe Wolfs philologischer Kritik vorgeworfen hatte. Ich als Dichter habe ein ganz anderes Interesse, als das der Kritiker hat. Mein Beruf ist zusammenfügen, verbinden, ungleichartige Teile in ein Ganzes zu vereinigen. Des Kritikers Beruf ist aufzulösen, trennen, das gleichartigste Ganze in Teile zu zerlegen. Als Dichter habe ich also eine unübersteigliche Scheidewand zwischen mir und dem heillosen Beginnen des Kritikers gezogen. Aber ich kann nun doch des Kritikers in hundert Fällen nicht entbehren. Ich lese meinen Homer mit Bewunderung, stoße aber auf einmal auf Szenen und einzelne Stellen, die allen Eindruck stören u. mich aufs unangenehmste situieren. Hier weiß ich dem Kritikus unendlichen Dank, wenn er mir sagt: ja, grade diese Stelle ist unecht.793

Die Forderung des Meisters an Wilhelm ist damit auch die Markierung der Differenz zwischen poetischem und philologischem Verfahren. »Sie sollen in kurzem erfahren, daß Aufbauen mehr belehrt als Einreißen, Verbinden mehr als Trennen, Totes beleben mehr als das Getötete noch weiter zu töten«.794 Diese Analogie verweist aber nicht auf die Verweigerung von Differenzierungsleistungen. Im Gegenteil, um die Modelle herstellen zu können, bedarf es zunächst der genauen Zergliederung des anatomischen Aufbaus. Jeder synthetisierenden Tätigkeit geht die analysierende Zersetzung voraus.795 Der hergestellte Zusammenhang der einzelnen Körperglieder ist daher auch nicht der Versuch, die orga-

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Zur wahrnehmungstheoretischen Fassung der Goetheschen (Autonomie-)Ästhetik des bewegten Kunstwerks siehe konzise Friedmar Apel, »Man wird den ganzen Marmor in Bewegung sehen.« Anmerkungen zu Goethes ›Laokoon‹. In: Verf./Dembeck (Hg.), Textbewegungen, S. 206–214. Mit Hegel (Ästhetik III, S. 336) könnte man vom ›epischen Stil‹ sprechen: »Nach dieser Seite besteht der große epische Stil darin, daß sich das Werk für sich fortzusingen scheint und selbständig, ohne einen Autor an der Spitze zu haben, auftritt.« Wj2, S. 605. FA 31, S. 78. Vgl. auch den Zusammenhang, in dem die Stelle oben Seite 205f. zitiert wurde. Wj2, S. 604. Vgl. die Verteidigung Wilhelms nach dem Einwand Friedrichs in Wj2, S. 609ff.

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nische Einheit des Lebens zu ersetzen oder gar wiederherzustellen, sondern der bewusste künstliche Akt der Verbindung durch die inneren Bänder und Sehnen. Ein solches Modell aber wird durch den Meister als Abschied vom klassizistischen Kunstideal dargestellt. Der »schöne Sturz eines antiken Jünglings«, das »schöne Lebendige«, wird vom Meister in ein »reales Muskelpräparat« verwandelt. Die eigentliche Aufgabe des Bildhauers sei es, das Ideal des Menschen vor Augen zu stellen, was sich allein in der entblößten antiken Statue offenbare: »der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch«. Deshalb sind die anatomischen Studien für den Künstler so wichtig. Das neue, christliche Kunstideal eignet sich aber wenig, da es den Blick »auf die unmittelbare Absicht Gottes« verweigere, wenn das Jahrhundert »ohne Feigenblätter und Tierfelle« nicht auskomme und »würdige Männer in Schlafröcken und weiten Ärmeln und zahllosen Falten« fordere. Der Meister wendet sich der plastischen Anatomie zu, weil die Zeit seiner Kunst und ihres antiken Ideals zu Ende ist. Wo dem Ästhetischen keine Eigenbedeutung mehr zugebilligt wird, bleibt nur der Rückzug der Kunst unter das Primat des Nützlichen. Kunst wird Handwerk und Handwerk wird Kunst.796 »Da wendete ich mich rückwärts und da ich das was ich verstand nicht einmal zum Ausdruck des Schönen anwenden durfte, so wählte ich nützlich zu sein, und auch dies ist von Bedeutung.« Weil er seine Kunstfertigkeit unter das Primat des Nützlichen stellt, kann auch der Meister zum Kreis der Auswanderer um Lothario gehören. Nicht aber als Künstler tritt er in die neuen Provinzen ein, sondern als Kunsthandwerker, der mit seiner Arbeit einen gesellschaftlichen Mehrwert, in diesem Falle bessere medizinische Ausbildung, produziert, »so wird gewiß mancher bildende Künstler sich, wie ich es getan, herumwenden und lieber euch in die Hand arbeiten, als daß er gegen Überzeugung und Gefühl ein widerwärtig Handwerk treibe.«797 Die neuen Provinzen sind also keineswegs ein Rückzugsort für die Kunst, wie man es sich auch hätte denken können. Amerika ist die streng weiter gedachte Konsequenz der Transformation aller Gesellschaftsbereiche auf Funktionalität. »Wo ich nutze ist mein Vaterland«, sagt Lenardo in seiner Rede in III.9.798 Es ist das Planspiel einer Gesellschaft, in der die modernen Entwicklungen ohne eine konfliktbeladene Auseinandersetzung mit der Tradition zur gesellschaftlichen Grundlage werden können. Amerika ist die Chiffre eines voraussetzungslosen Anfangs der Moderne, deren

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So auch Odoard in seiner Rede in III.12: »Sobald wir jenen bezeichneten Boden betreten, werden die Handwerke sogleich für Künste erklärt und durch die Bezeichnung ›strenge Künste‹ von den ›freien‹ entschieden getrennt und abgesondert. Diesmal kann hier nur von solchen Beschäftigungen die Rede sein welche den Aufbau sich zur Angelegenheit machen;« Wj2, S. 693. Auch in der Pädagogischen Provinz ist die Erziehung in den Künsten zweckrational auf den Bedarf der Gemeinschaft ausgerichtet. Alle Wj2, S. 607. Wj2, S. 667.

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Kennzeichen die Normierung von Zeit- und Produktionsabläufen als Ablösung der natürlichen und traditionellen Zeitordnung durch den Sonnenlauf ist. Lenardo als ihr entschiedenster Vertreter ist denn auch der Apologet des Anfangs: »›Sie ermutigen mich zu gestehen, daß ich eigentlich auf nichts gerne wirken mag, als auf das, was ich selbst geschaffen habe. […] In Gefolg dieser Sinnesart will ich denn auch gern bekennen, daß ich unwiderstehlich nach uranfänglichen Zuständen hingezogen werde, […] daß meine Einbildungskraft sich über dem Meer ein Behagen sucht‹«.799 Reinhart Koselleck hat als Hauptgründe für einen Beginn der Moderne um 1800 die festzustellenden Beschleunigungstendenzen der Lebenswelt und das nun vorhandene Bewusstsein der intellektuellen Elite in einer Übergangsphase zu leben, ausgemacht.800 Eines der Hauptprobleme dieses Überganges war, so Koselleck, wie man alte wertgeschätzte Traditionen mit den Anforderungen einer sich rationalisierenden Lebenswelt vereinbaren konnte.801 Der Auszug über das Meer versucht diesen epochalen Konflikt – in den ›Wanderjahren‹ etwa im Bezirk des Oheims und seiner Galerie, die nichts, »was auch nur von ferne, auf Religion, Überlieferung, Mythologie, Legende oder Fabel hindeutet«,802 beinhaltet, der Figur des Sammlers,803 und strukturell insgesamt in der Archivfiktion – in der Phantasie eines neuen Anfangs zu umgehen, ihn damit aber auch unbeantwortet lässt. Die Literatur als zentrales Medium, diesen Konflikt auszuhandeln, bleibt in den neuen Provinzen marginalisiert, da sie sich anders als andere Künste nur schwer unter das Nützlichkeitsgebot fügen kann, allenfalls als Unterhaltung freier Zeit, die aber doch in der so straff organisierten Welt der Auswanderer kaum mehr bleibt. Man darf sich daher nicht täuschen lassen, diesen Projektionsraum als positive Utopie zu verstehen. Die offene Form der ›Wanderjahre‹ verhindert »eine zur unbefangenen Identifikation mit dem Dargestellten einladende Lektüre«.804

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Wj2, S. 407. Vgl. auch Thomas Degering, Das Elend der Entsagung. Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹, Bonn 1982, S. 182 und Franziska Schößler, Goethes Lehrund Wanderjahre. Eine Kulturgeschichte der Moderne, Tübingen 2002, S. 276ff. Reinhart Koselleck, Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, hg. von Reinhart Herzog. [Poetik und Hermeneutik XII], München 1987, S. 269–282. Auch Schößler (Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 197) schreibt: »in den ›Wanderjahren‹ wird das Verhältnis von Moderne und Vormoderne, ›alter‹ und ›neuer‹ Zeit befragt und ein spezifischer Umgang der nachrevolutionären Zeit mit Traditionen profiliert. Aus der älteren Forschung in diesem Zusammenhang: Gonthier-Louis Fink, Die Auseinandersetzung mit der Tradition in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹. In: Recherches Germaniques 5 (1975), S. 89–142. Wj2, S. 324. Vgl. I.12, Wj2, S. 410–413. Wilhelm Voßkamp, Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ und ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. In: ders. (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 227–249;

So wird etwa in den Sprüchen ›Aus Makaries Archiv‹ der Traditionslosigkeit und der Idee eines voraussetzungslosen Anfangs eine klare Absage erteilt. »Was an uns Original ist wird am besten erhalten und belobt wenn wir unsre Altvordern nicht aus den Augen verlieren.«805 Insbesondere Hersilie in ihren Briefen ist es, die mit spitzen Bemerkungen sowohl den Auswandererbund als auch den Bezirk des Oheims ironisch perspektiviert, etwa hinsichtlich der überall angebrachten Sinnsprüche, wenn sie zu den tiefgründigen Sinnsprüchen ihres Onkels sagt: »›ich finde aber, daß man sie alle umkehren kann und daß sie alsdann eben so wahr sind, und vielleicht noch mehr‹«806 und Wilhelm (erfolglos) dazu auffordert, die Auswanderer zu verlassen: »Was ziehen Sie so in der Welt herum? Kommen Sie!«807 Figuren wie Hersilie, aber auch Fitz, als ehemaliger Besitzer des Kästchens und seines Schlüssels stellen innerhalb des Romans Kontrapunkte zur planen Welt der Auswanderer und Siedler dar.808 Durch sie tritt das Wunderbare den Visionen der rationalen Weltstrategen entgegen.

›Nicht zu weit‹ Ein weiteres Mittel der Ironisierung stellen die novellistischen Erzählungen dar. Besonders deutlich wird dies bei den Siedlungsplänen Odoards als »Utopie der instrumentellen Vernunft«.809 Nach Lenardos großer Rede vor den Auswande-

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S. 237. So schreibt auch Dieter Borchmeyer (Weimarer Klassik, S. 529): »Man darf in diesem ökonomischen Rationalismus freilich – wie in den ›Lehrjahren‹ – nicht der Weisheit letzten Schluß sehen«. Wj2, S. 769. Siehe auch Nr. 175 und 176; Wj2, S. 772. Wj2, S. 328, vgl. auch S. 330f. Wj2, S. 599. Das gilt natürlich auch für die astrale Figur Makarie. Zu Fitz und Makarie als hermetische Elemente des Romans, die symbolisch-mythisch überdeterminiert sind, siehe etwas verstiegen: Diethelm Brüggemann, Makarie und Mercurius: Goethes Wilhelm Meistes Wanderjahre als hermetischer Roman, Berlin – New York 1999. Auch Hersilie, vielleicht die natürlichste Figur der ›Wanderjahre‹, ist in ihrem Namen nicht frei von mythischen Anspielungen. Eine der beiden Töchter des Kekrops, die für die Seele des Menschen steht, heißt Herse und auch sie und ihre Schwester haben ein Kästchen, das zu öffnen ihnen verboten ist. Darin befindet sich nämlich Erichthonius, der Sohn Vulkans und der Erde in Tod bringender Gestalt. Vgl. Schulz, Gesellschaftsbild, S. 268f. Salmen (Goethes Entsagungspoetik, S. 26) sieht hingegen in Alkmene, die vom Zwillingspaar Herkules und Iphikles wiederholt heimgesucht wird, das mythologische Vorbild ihrer Beziehung zu Wilhelm/Pollux und Felix/Kastor. Vgl. zu den zahlreichen Anspielungen auch: Markus Zenker, Zu Goethes Erzählweise versteckter Bezüge in ›Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden‹, Würzburg 1990. Voßkamp, Utopie, S. 240. Voßkamp ordnet aber fälschlicherweise die Skizze des ›Polizeistaates‹ (vgl. Wj2, S. 688f.) den Binnenwanderern zu. Es handelt sich aber um das Referat Friedrichs über die Pläne der Auswanderer, was aber sehr schön die narrative Distanz zu diesen Plänen andeutet.

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rern in III.9 tritt mit Odoard ein Fremder hinzu, der jenen, die »dem vaterländischen Grund und Boden auch fernerhin angehören wollen«,810 eine Alternative zur Auswanderung anbietet. Bevor diese Alternative jedoch inhaltlich in III.12 vorgestellt wird, rückt zunächst die Person Odoards in den Vordergrund, die in der folgenden Erzählung ›Nicht zu wie‹ dem Leser näher bekannt gemacht werden soll. Die typographische Gliederung scheint zunächst wieder eine in sich geschlossene Erzählung anzudeuten. Auch die Vorbemerkungen des Redakteurs lenken die Lesererwartung in diese Richtung. ›Nicht zu weit‹ wird als Erzählung Odoards angekündigt, die durch Friedrich aufgezeichnet worden sei. So lässt sich die Erzählung als Dokument des Archivs erklären. Wie aber schon in Wilhelms Erzählung seiner Wundarztausbildung und wie auch in ›Lenardo’s Tagebuch‹, bleibt es nicht bei einer konsequenten Durchführung einer Erzählform wie etwa in ›Die gefährliche Wette‹. ›Nicht zu weit‹ beginnt in der Er-Form und mit personalem Erzählverhalten. Der Leser erfährt nicht mehr als die wartenden Figuren im Text. Der Erzähler deutet mit keinem Wort an, dass er den Grund für die verspätete Ankunft der Frau kennt. Erzähler, Figuren und Leser blicken vom gleichen ›point of view‹ auf die Exposition der Erzählung. Der Erzähler verfügt aber über die Innensicht seines Personals. Dann folgt ein Wechsel der Erzählform in die erste Person. War die Eingangspassage zwar personalisiert, so ist die Ich-Form demgegenüber eine wesentliche Verstärkung des personalen Erzählverhaltens. Inhaltlich wird nämlich in den Worten Odoards bis auf seine Flucht nichts Neues berichtet. Die Exposition wird nun gänzlich aus der Perspektive Odoards geschildert. Konsequenterweise finden sich gehäuft Explikationen der Gemütsverfassung; »mir war bange«, »fing an, sie zu hassen«, »in mir kehrte sich alles um und um«.811 Mit der Flucht aus dem eigenen Haus aber bricht die Ich-Erzählung auch schon wieder ab. Nun wird deutlich, wer der Erzähler der Eröffnungspassage ist. Was der mit den Erzählstimmen inzwischen vertraute Leser im pluralis majestatis vor dem ersten Wechsel der Erzählform bereits ahnte, wird nun explizit. »Wir haben, wie an dieser Stelle auffallend zu bemerken ist, die Rechte des epischen Dichters uns anmaßend, einen geneigten Leser nur allzu schnell in die Mitte leidenschaftlicher Darstellung gerissen«.812 Der Redakteur organisiert die Wiedergabe der Erzählung Odoards, oder besser deren Aufzeichnung durch Friedrich. Diese ›Rechte des epischen Dichters‹ bestehen in der freien Verfügung über die Figurenreden und damit der Erzählperspektiven. Denn nach der expositionellen Darstellung des Erzählers und dem Gemütsbericht Odoards folgt nun die Einschätzung der Situation durch die alte Haushälterin. Der Leser nähert sich dem Handlungskern in fingierten O-Tönen. Durch die Einschätzung der Alten 810 811 812

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wird der Leser zunächst in die Irre geführt. Das Verlassen des Hauses wird von ihr als Flucht zu seiner Geliebten gedeutet, da ihm von seiner Frau nicht genügend Zuwendung widerfahre.813 Auch der Wechsel zurück in die Erzählperspektive Odoards klärt dieses Verwirrspiel noch nicht auf. Der Gasthof und das angemietete Zimmer könnten nach den Bemerkungen der Alten als Orte der unehelichen Zusammenkunft gelesen werden. Nach einem Absatz aber bricht die Erzählung wieder ab und Erzählperspektive und Erzählform wechseln erneut. Der sich auktorial gebende Redakteur fügt nun in neutralem Erzählverhalten die ersten wirklichen Hintergrundinformationen über Odoard an – zu diesem Zwecke wurde ›Nicht zu weit‹ in den Roman eingefügt. Am Ende dieser Passage wird deutlich, dass der Redakteur in ›Nicht zu weit‹ mit der Fiktion eines traditionellen allwissenden Erzählers nur spielt, denn wieder wird die Dokumentation Friedrichs als Quelle angegeben und die Archivfiktion dem Leser ins Bewusstsein gerufen. »Genug wenn wir nach dieser vertraulichen Eröffnung, zu der Friedrich’s gutes Gedächtnis den Stoff mitgeteilt, uns abermals zu ihm wenden«.814 Die Aufzeichnungen Friedrichs, die im Archiv dem Redakteur zugänglich sind, stellen nur den Stoff zur Verfügung, aus dem der Redakteur die kleine Novelle schreibt. Erneut wechselt die Darstellungsperspektive. Odoards Ich-Erzählung hebt dort an, wo der Redakteur ihn verlassen hatte; beim Auf-und-Ab-gehen, und schafft dadurch die Brücke, die den Erzählabschnitten Kohärenz verleiht. Mit dem Ende des letzten Erzählabschnittes Odoards wird die Novelle in der Er-Form zu Ende geführt. Dabei werden die beiden Erzählstränge Odoards und Albertines zwar nacheinander berichtet, in der erzählten Zeit aber parallel geführt. Endet jeder Strang für sich tragisch, so wird dadurch die Ehe der beiden zur Entsagungsgemeinschaft der Verzweifelten. Der Konflikt bleibt offen, über das Schicksal der Ehe wird nichts weiter berichtet. Odoard scheint weiterhin der Verwalter abgelegener Provinzen zu sein. Sein Wiedertreffen Sophroniens scheint bei Hofe nicht zur Kenntnis genommen worden zu sein. Damit aber wird die Erzählung auf eine weitere Weise von der unmittelbaren Rahmung durch die Auswandererthematik abgegrenzt. Der dargestellte Inhalt der Liebesbeziehungen, wie schon Trunz bemerkt,815 bleibt von den territorialen Fragen der Auswanderer getrennt. Zugleich aber wird die Genese des Konflikts auf die traditionellen Ehe-, Erbschafts- und Besitzverhältnisse des Feudalsystems zurückgeführt.816 Ganz anders wird Odoard die Verbindung mit

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Odoard weiß nicht, dass Sophronie in diesem Gasthaus einkehren wird. Vielmehr versucht der in seinem Bezirk gut bekannte Odoard eine Ausrede für sein überraschendes nächtliches Einkehren in einem nahe gelegenen Gasthaus, zumal ohne die Ehefrau. Wj2, S. 680. HA VIII, S. 657f. Keineswegs »nur ein Vorwand« sind die Staats- und Erbschaftsverhältnisse wie Blessin (Goethes Romane, S. 321) behauptet. Die Machtspiele am Hofe, die er in den Vor-

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den Nachbarprovinzen organisieren. Nicht durch Heirat werden die Bezirke zu einem Gebiet zusammengeschlossen, sondern durch »gleiche Gesinnungen«, »die Zeit welche die Geister frei macht«:817 Wurde das Feudalsystem mit seinem Erbschaftssystem zunehmend vor das Problem der Partialisierung des Grundbesitzes gestellt, das nur durch verwandtschaftliche Bindungen gemildert, nicht gelöst werden konnte – so ist »der benachbarte alte König, Sophronien verwandt und günstig«818 – kann Odoard dagegen einen Zusammenschluss von drei Provinzen zu einem Bezirk der einheitlichen Gesinnung bewirken. Die alte Territorialverfassung zeigt sich durch zunehmende Zersplitterung und traditionelle Strukturen unfähig, die Verwaltung zur zweckmäßigen Beförderung aller einzurichten. Odoard will daher diese Strukturen auflösen. Diese Auflösung erfolgt durch eine kartographische Revision des gesamten Territoriums.819 Statt tradierte Grundstücks- und Gebietsgrenzen zu übernehmen, hat Odoard »genaue Vermessungen«820 vorgenommen, die neben der Infrastruktur auch den Siedlungsbau neu reorganisieren soll. Auch das bedeutet einen einschneidenden Traditionsbruch, der im Übrigen auch einen Bruch mit der oftmals weitgehend oralen Überlieferungen von Grenzbestimmungen bedeutete.821 Der Bezirk Odoards ist überdem nicht mehr einer der feudal organisierten Stände, sondern einer der handwerklichen Professionalität. Hierarchiemuster werden nicht über Herkunft, sondern über Qualifikation und Nützlichkeit definiert: »Lehrling, Gesell und Meister«.822 Odoards alternatives Provinzprojekt ist der Versuch, diese weder durch aristokratische Erbschaftsallianzen noch durch eine umfassende Umstellung der Personalbeziehungen auf eine Tauschgesellschaft zu vereinigen, wie es

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dergrund rückt sind ja lediglich die sozialen Spiele auf dem Brett der Bodenverhältnisse. Macht definiert sich im Feudalsystem durch Bodenbesitz. Beide Wj2, S. 692. Wj2, S. 679. Eine ähnliche Funktion hat die kartographische Neuaufnahme durch den Hauptmann in den ›Wahlverwandtschaften‹. Vgl. dazu Vf., Ordnungen der ungesicherten Welt, S. 144ff. Wj2, S. 693. Vgl. Achim Landwehr, Der Raum als ›genähte‹ Einheit. Venezianische Grenzen im 18. Jahrhundert. In: Lars Behrisch (Hg.), Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. – New York 2006, S. 45–64. Christian Fieseler danke ich für den Hinweis, dass die verstärkte Landesaufnahme deutscher Territorien im 18. und frühen 19. Jahrhundert zwar durch Stände, kameralistische Verwaltung oder den Landesherrn selbst initiiert wurden, oft aber auf den erbitterten Widerstand lokaler Adeliger stießen, die um ihre althergebrachten Besitzstände fürchten, da nun objektive Daten zur Besteuerung der Bauern vorlagen. Im Falle des Hochstiftes Osnabrücks etwa wurden daher die adligen Besitzungen nicht vermessen, sondern nur die Erdoberfläche aufgenommen. Der von Goethe geschätzte Justus Möser trieb als Geheimer Rat dort die Vermessung mit Ziel einer Änderung der Agrarverfassung voran, konnte sich aber vorerst nicht völlig durchsetzen. Wj2, S. 694.

der Geschirrfasser plant.823 In seinen Provinzen entsteht Soziabilität über persönliche Verpflichtungen und Gemeinschaftsstiftung durch ideellen Konsens. Das gesellschaftliche Ideal des Bezirkes Odoards ist die dörfliche Gemeinschaft, die nun als Organisationsprinzip auch größerer Verwaltungseinheiten dienen soll, wie im Bundeslied der Handwerker deutlich wird. »Wechselseitiges Vertrauen/Wird ein reinlich Häuschen bauen,/Schließen Hof und Gartenzaun,/Auch der Nachbarschaft vertrau’n.«824 Die Kette, in der das Fehlen eines Gliedes ›das Ganze vernichtet‹ und der »regelmäßige Kreis«,825 den die Handwerker zum Absingen des Bundesliedes bilden, sind die symbolischen Konfigurationen der angestrebten Gemeinschaften in Odoards Provinzen. Über die Person Odoards und die Darstellung seiner gescheiterten Ehe wird der Umbruch der Zeit parallel auf zwei Ebenen vorgeführt: Das Scheitern der feudalen Familienpolitik durch den Wechsel vom Allianzprinzip zum Konzept der Liebesheirat826 und die Vision einer bürgerlichen Handwerksgesellschaft, deren gemeinschaftliches Grundprinzip die Entsagung und gegenseitige Verpflichtung bildet. Damit setzt sich der Bezirk Odoards von den Konzepten liberal-ökonomischen Eigeninteresses »gegen die übrige bürgerliche Welt«827 ab. Lenardos amerikanisches Siedlungsprojekt und Odoards bündische Handwerksgemeinschaft sind je unterschiedliche Entwürfe als Reaktion auf die beginnende Maschinisierung und Industrialisierung. Sie sind allesamt Versuche, Gemeinschaftsmodelle unter den Bedingungen bürgerlicher Ökonomie und Industrialisierung aufzubauen. Das persönliche Scheitern Odoards in ›Nicht zu weit‹ kann indes als Ironisierung dieses Gemeinschaftsmodells gelesen werden.828 Die Erzählung diente

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Vgl. Wj2, S. 715. Wj2, S. 695. Wj2, S. 694f. Vielleicht besser der verhinderten Liebesheirat, denn die Ehe von Odoard und Albertine wurde ja noch ganz nach dem Allianzprinzip geschlossen. Beide aber flüchten aus dieser Zweckbeziehung in Liebesbeziehungen. Parallel im Übrigen die Konstellation in ›Wer ist der Verräter?‹. Wj2, S. 693. Wj2, S. 693. Alfred G. Steer (Goethe’s science in the structure of the ›Wanderjahre‹, Athens 1979, S. 92) sieht in ›Nicht zu weit‹ den Versuch, Odoards europäisches Siedlungsprojekt gegenüber den angeblich positiv bewerteten Auswanderern durch sein persönliches Scheitern zu disqualifizieren: »Why should Goethe have wanted to put such a pessimistic note as this narrative insertion, ›Nicht zu weit‹, with the accompanying materials from Odoard’s speech and plans, near the end of the novel? [...] What ›Nicht zu weit‹ represents in essence is a contrast to the league of emigrants, and, as has been seen, it is a gloomy and melancholy one«. Es geht Goethe hier aber weniger um das Ausspielen der beiden Projekte, sondern um unterschiedliche Reaktionen auf die beschriebenen Prozesse. Auch die Auswanderer scheinen mit ihren Plänen ja keineswegs große Begeisterung auszulösen.

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dazu, die Motivation Odoards zur Gründung eines anderen kommunitären Bereichs zu erklären. Was ›Nicht zu weit‹ vorführt, ist das Scheitern des alten aristokratischen Gesellschaftsmodels der ›künstlichen Familie‹. Was im ›Märchen‹ der ›Unterhaltungen‹ noch symbolische Utopie einer Gesellschaft als ›natürliche Familie der Liebe‹ war, scheitert bei Odoard. Sein Versuch ein anderes Gemeinschaftsprojekt aufzustellen, ist nur das Ergebnis dieses Scheiterns. Die Begeisterung der umworbenen Handwerker sowohl für Lenardos wie für Odoards Projekt hält sich merklich in Grenzen. Trotz ihrer emphatischen Reden kann der Redakteur nur von einem »mäßig geselligen Gesang« (Lenardo) und von einem »mäßig munter« abgesungenen Lied (Odoard) nach der Vorstellung der Siedlungspläne berichten.829 Die Aufspaltung der Erzählinstanzen in fingierten auktorialen Erzähler, Odoard, die Alte, den Redakteur und die Aufzeichnungen Friedrichs spiegelt nicht nur die Konfusion der Beziehungen der handelnden Figuren, sondern auch die Verworrenheit einer sich auflösenden Gesellschaftsstruktur. »Novelle und umgebender Roman sind korrelierende Formen, in denen die Problematik der Vermittlung von Augenblick (Krise) und Lebensganzem zum Gegenstand gemacht wird.«830 Damit führt der Text erneut mise en abyme sein Strukturprinzip vor. Die Erzählung einer Biographie, hier Odoards, entzieht sich den traditionellen Techniken der Darstellung. Die »Erzählbarkeit des Subjektes«831 realisiert sich nicht mehr in der Novelle. Weder mündliche Erzählung noch die geschlossene Novelle werden als Darstellungsform konsequent durchgeführt. ›Nicht zu weit‹ korreliert weder auf der Handlungs- noch auf der Darstellungsebene mit der inhaltlichen Harmonievorstellung der Sozialprojekte Odoards. Folgt der Roman formal nicht mehr dem zyklischen Modell des Novellenkranzes, der aber in seiner Geschlossenheit eine formale Korrespondenz zu einer positiv vertretenen Idee von Gemeinschaftlichkeit geboten hätte, führt er vielmehr dessen Aufsprengung immer wieder vor, so wird damit auch das Siedlungsprojekt narrativ distanziert. Die ›Novelle‹ meldet angesichts der »Labyrinthe menschlicher Gesinnungen und Schicksale«832 einen starken Vorbehalt gegen die Planbarkeit sozialer Konstrukte an. ›Nicht zu weit‹, wie alle anderen ›Novellen‹ des Textes,833 wird möglich erst durch die Speicher der Archive und ihre Aufzeichnungsmedien: Brief, Tagebuch, 829

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Wj2, S. 674 und S. 695. Ganz anders hingegen noch ein »heiterer und freier« Gesang, als Lenardo lediglich die Vision des Auswanderns beschwören hatte, ohne eine konkrete Vorstellung von den Plänen zu geben. Wj2, S. 595ff. Gerhard Neumann, Stellenkommentar zu den ›Wanderjahren‹, FA 10, S. 1225. Ebd., S. 1224. Wj2, S. 674. Eine Parallelanalyse würde sich etwa zu ›Wer ist der Verräter?‹ anbieten. Dazu nur einige Andeutungen: Die Erzählung findet sich in einem Paket an Wilhelm. Die Novelle selbst hat einen auktorialen Erzähler, der gerne die Erzählverantwortung an andere Instanzen, etwa Antoni und den guten alten Hausfreund, weitergibt. Zudem

Sammlungen, Mitschriften, deren Verknüpfung der Redakteur erst ermöglicht. Zugleich entzieht er sich der Verantwortung der Herstellung formaler Einheitlichkeit. Er legt den Zustand seiner Quellen in der Textedition offen. Beide sind bestimmt durch das Prinzip der Lücke. Den anvisierten Siedlungsprojekten des Turmes und Odoards scheint keine poetische Form adäquat zu sein. Und beide billigen der Poesie kaum einen privilegierten Platz mehr zu. Odoard meint, die Arbeit des freien Künstlers hält im Vergleich mit dem Handwerker »bei näherer Untersuchung nicht Stich« und über die Auffassung zur zukünftigen Rolle der Literatur in den neuen Gebieten schweigt sich der Redakteur trotz besserer Quellenlage lieber aus.834

Roman und innere Einheit Die Archivfiktion stellt in der Heterogenität ihrer Bestände automatisch die Frage nach textueller Einheit. Wird der Roman in die enzyklopädistische Tradition des Epos als umfassende Darstellung der Lebenswelt des Altertums gestellt, dann, so meine These, gilt dies auch für die Form. Wenn Goethe eines von Wolf gelernt hatte, dann, dass diese Totalität der Vergegenwärtigung einer Epoche notwendig auf dem kollektiven Charakter des Epos beruhte. Nur weil das Homerische Epos ein Produkt philologischer Kompilation heterogener Überlieferungsquellen war, konnte einerseits der Eindruck einer panaromatischen Zusammenschau der epischen Welt andererseits ein Begriff poetischer Einheitlichkeit entstehen. Wird im Homerischen Fall stets versucht, die philologische Textkonstitution zu überblenden und bedarf es wiederum der philologischen Kritik, um diese aufzuspüren, so stellt der Roman beides offen aus. Der Roman offenbart sich als poetisches Konglomerat des diaskeusierenden Redakteurs.835 Der philologische Redakteur836 ist dabei für die ›Wanderjahre‹ wie auch für die Hefte ›Zur Morphologie‹ die narrative Figur, die einerseits einen ästheti-

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wird neben der Archivfiktion, hier ein Archiv selbst Teil der Fiktion. Lucidor findet seine eigenen Aktenstücke als Dokumente einer abgelegten Vergangenheit wieder, wie Wilhelm im Archiv des Turmes auf die abgelegte Vergangenheit seiner Lehrjahre trifft. Die Ambivalenz von »ablegen«, als sich der Dokumente selbst und deren Inhalt zu entledigen, führt bei beiden zur gleichen Konsequenz, die Flucht ins Freie, Lucidor »wollte das Freie suchen, fand sich aber gefangen« (Wj2, S. 367). Wilhelm geht mit Felix in den Garten, muss aber rückschauend feststellen: »was ich kann, will oder soll, weiß ich, grade seit jenem Augenblick, am allerwenigsten« (Lj, S. 930). Vgl. Wj2, S. 690. Zitat Wj2, S. 695. Was auch immer die Gründe für die klassische Aufteilung der Ausgabe letzter Hand nach Lyrik, Epik und Drama gewesen sein mögen, darin den Versuch zu sehen, »der Idee der romantischen Gattungsmischung ein Gegengewicht entgegenzusetzen«, scheint mir abwegig. Vgl. Plachta, Das lästige Geschäft, S. 236. Von der »geradezu philologischen Tätigkeit des Herausgebers« spricht leider nur beiläufig bereits Neuhaus, Archivfiktion, S. 22.

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schen Autonomisierungseffekt trotz formaler Offenheit ermöglicht, andererseits die Möglichkeit bietet, in ein geschlossenes System poetischer Selbstbestimmung kontextuelle Importe nahezu jeder Art einzuspeisen. Was im Archiv vorliegt, kann eingefügt werden. Es ist daher auch kein Zufall, dass in beiden Schriften eine solche Poetolologie vorgestellt wird. Hier lassen sich keine eindeutigen Ableitungsverhältnisse konstruieren, wie Azzouni dies suggeriert.837 Nicht die Hefte ›Zur Morphologie‹ geben die Poetik des Kollektiven der ›Wanderjahre‹ vor,838 sondern beide folgen einer Spur, die die Philologie Wolfs vorzeichnete. Hatte Wolf durch seine Analyse das Problem, wie angesichts versammelter Heterogenität der (Erzähl- und Wissens-)Materialien von (poetischer wie sozialer) Einheit überhaupt noch gesprochen werden könnte, virulent gemacht, so versuchen Schlegel und Goethe eine Antwort auf diese Frage. Erzählen und Wissen werden zu korrelierenden, nicht opponierenden Momenten.839 Damit böte sich nun auch eine Erklärung für den in jüngster Zeit mehrfach bemerkten umfassenden Rekurs auf verschiedenste Wissensfelder und Wissenschaften in den ›Wanderjahren‹ an.840 Zeigt der Roman auf der einen Seite das radikale Auseinanderbrechen eines traditionellen Zusammenhangs von Erzählen und Wissen in der Transformation, die das Erzählen im Wechsel von Oralität zu Literalität, das Wissen in seiner Ausdifferenzierung und Spezialisierung vollzieht, so wird in der philologischen Poetik andererseits ein Modell präsentiert, das beansprucht, diese Disparatheit als »hartnäckigen Realismus«841 produktiv zu machen. Das Archiv ist der Ort dieser anderen Wissensproduktion.842 Wenngleich gesellschaftliche Zersplit837 838

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Vgl. Azzouni, Kunst als praktische Wissenschaft, S. 129. Goethe erteilt einfachen Ableitungsverhältnissen zwischen Naturbeobachtung bzw. -wissenschaft und Kunst eine Absage. Vielmehr müsse man von einem Verhältnis des ergänzenden Nebeneinanders ausgehen: »Das innere Leben der Kunst so wie der Natur, ihr beiderseitiges Wirken von innen heraus war im Buche deutlich ausgesprochen. Die Erzeugnisse dieser zwei unendlichen Welten sollten um ihrer selbst willen da sein, und was neben einander stand wohl für einander, aber nicht absichtlich wegen einander.« FA 24, S. 444. Goethe schreibt diese Einsicht etwas gewagt Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ zu. »Hier sah ich meine disparatesten Beschäftigungen neben einander gestellt, Kunst- und Naturerzeugnisse eins behandelt wie das andere, ästhetische und teleologische Urteilskraft erleuchteten sich wechselweise.« FA 24, S. 444. Dazu trägt Schößler (Goethes Lehr- und Wanderjahre) unter dem theoretischen Mantel des New Historicism beeindruckendes Material zusammen. FA 24, S. 437. Steffen Schneider (Archivpoetik. Die Funktion des Wissens in Goethes ›Faust II‹, Tübingen 2005, S. 21ff.) hat dies als eine umfassende Kategorie für das Spätwerk Goethes herausgestellt, das versuche, die Wissensbestände der Goethe-Zeit nicht nur darzustellen, sondern eine poetologische Antwort auf eine epistemologische Krise versuche, in der Welt und Wissen nicht mehr als Totalität abbildbar sind. Ich stimme Schneider hier grundsätzlich zu, aber betone, dass Goethe die Entwicklungen des Differenzierungsprozesses nicht wieder formal negiert, sondern selbst in Anspruch nimmt. Auch

terung auch beim späten Goethe keineswegs emphatisch begrüßt wird, ganz im Gegenteil, so ermöglicht die Öffnung des Einheitskonzepts poetologisch doch eine positive Einstellung gegenüber Modernität und verbleibt nicht im resignativen Ton der inhaltlichen Kulturkritik.843 Die ›Wanderjahre‹ als Kompendium von gesammelten, übersetzten archivierten und neu arrangierten realen wie fiktiven Dokumenten ist die poetische Form, die eine umfassende Reflexion auf die Zeit noch zulassen. Damit ist noch einmal die Frage nach dem Stellenwert des Romanbegriffs aufgenommen. Walter Benjamin war vielleicht der erste, der, wie später Broch und Beach, in ›Der Erzähler‹ die Erzählerlosigkeit der Moderne konstatierte und den Roman als Gattung beschrieb, deren Eigentümlichkeit darin besteht, das Erzählen vom Erzähler abzukoppeln. Er gründet seinen Befund in einer zunächst melancholisch anmutenden Version von Literaturgeschichte. Die Moderne, so Benjamin, sei aufgrund der umfassenden Korrumpierung aller sozialen Verhältnisse durch Ökonomisierung, die eine Weitergabe von Erfahrung als Lebenshilfe nicht mehr möglich werden lässt, gekennzeichnet durch einen Verlust individueller Erfahrungsmöglichkeiten. Genau darin habe aber seit je die Quelle des Erzählens bestanden, »in jedem Fall ist der Erzähler ein Mann, der dem Hörer Rat weiß.«844 »Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben.«845 Diese orale Erzählkultur ist eine Form kollektiver Erinnerung aus kollektiver Überlieferung. Ein großer Erzähler ist nicht der, der sich am meisten von dieser Erzählgemeinschaft avantgardistisch entfernt, sondern sich ihr am meisten annähern kann. »Und unter denen, die Geschichten niedergeschrieben haben, sind es die Großen, deren Niederschrift sich am wenigsten von der Rede der vielen namenlosen Erzähler abhebt.«846 Die archetypischen Erzählerfiguren sind einerseits die Seemänner, die Weitgereisten und mit Erfahrungen erfüllten Wanderer und andererseits der sesshafte Grundbesitzer, der »Geschichten und Überlieferungen kennt«.847 Der Handwerker, erst Wandergeselle, dann sesshafter Meister, bildet die Schnittmenge beider Erzählertypen.

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im Disparatesten ist Einheit möglich. Das Kollektiv, der Archivroman als Sammelort dieses Disparaten ermöglicht einerseits Totalität, macht andererseits aber deutlich, dass nur in der produktiven Anverwandlung und Zueignung dieser Materialien sich ein immer je individueller Zusammenhang bilden kann. Indem sich der Autor dieser Bildung entzieht, ist der Leser dazu umso mehr aufgefordert. Diesen kritischen Gestus stellt vor allem heraus Richard Meier, Gesellschaftliche Modernisierung in Goethes Alterswerken. ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ und ›Faust II‹, Freiburg 2002. Walter Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt/M. 1977, S. 385–410; S. 388. Ebd., S. 386. Ebd. Ebd.

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Das zunehmende Schwinden dieser Tradition gründet sich für Benjamin in der Medienrevolution des Buchdrucks. Erst in ihrer Folge traten Rede- und Schriftkultur wirklich auseinander. Eine solche Umwälzung der materiellen Basis des geistigen Lebens, kann für Benjamin, an Marx geschult, nicht ohne Folgen bleiben. Eine dieser Folgen ist die Umstellung der Kommunikation auf Information, die nachprüfbar, plausibel sein muss. »Wenn die Kunst des Erzählens selten geworden ist, so hat die Information einen entscheidenden Anteil an diesem Sachverhalt.«848 Auf der anderen Seite des Niedergangs der oralen Erzähltraditionen steht unaufhaltsam der Aufstieg des Romans, dessen Popularisierung eben nur durch die Massenproduktion der Druckpresse möglich geworden ist. Den Roman scheidet Benjamin grundsätzlich von allen Formen des epischen Erzählens. Er ist eine Gattung, gebunden an die Entwicklung »geschichtlicher Produktivkräfte«.849 Im Gegensatz zum Erzähler, der den unmittelbaren Bezug zu seinem Publikum nicht verloren hat und für seine oft wunderlichen Begebenheiten keinen Authentizitätsnachweis vorlegen muss, dessen Publikum allein seine persönliche Integrität genügt, ist der Romancier notwendig allein. Das mündlich Tradierbare, das Gut der Epik, ist von anderer Beschaffenheit als das, was den Bestand des Romans ausmacht. Es hebt den Roman gegen alle übrigen Formen der Prosadichtung – Märchen, Sage, ja selbst Novelle – ab, daß er aus mündlicher Tradition weder kommt noch in sie eingeht. Vor allem aber gegen das Erzählen. Der Erzähler nimmt, was er erzählt aus der Erfahrung; aus der eigenen oder berichteten. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören. Der Romancier hat sich abgeschieden. Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann.850

Benjamin aber verweigert sich einer Verfallsgeschichte. Ohne Zweifel klingt hier Melancholie nach, eine Melancholie aber, die jedem Marxisten im Entfremdungsbegriff mitgegeben ist. Doch Benjamin rauft sich – auch gut marxistisch – zusammen. Ist die Entwicklung der Kunst gebunden an die Entwicklung der Produktivkräfte, so bedeutet jede Entfremdung auch den Beginn einer neuen Stufe von Entfaltungsmöglichkeiten. Benjamin, so sollte man vielleicht wieder einmal betonen, ist Skeptiker, aber auch ein Emphatiker der Moderne.

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Ebd., S. 390. Ebd., S. 388. Über die literaturgeschichtliche Haltbarkeit dieser Aussage braucht man sich nicht zu streiten. Auch Benjamin weiß darum und setzt, merkwürdig genug, Evolution statt Revolution als Entwicklungsmodell an. Vgl. ebd., S. 390f. Ebd., S. 389. Vgl. Schillers ganz ähnliche Diagnose. An Garve schreibt er am 25. Januar 1795, »dass der Schriftsteller gleichsam unsichtbar und aus der Ferne auf einen Leser wirkt, dass ihm der Vortheil abgeht, mit dem lebendigen Ausdruck der Rede und dem Accompagnement der Gesten auf das Gemüth zu wirken« In: NA, Bd. 27: Schillers Briefe 1794–1795. Hg. von G. Schulz, Weimar 1958, S. 126f.

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Und nichts wäre törichter, als in ihm lediglich eine ›Verfallserscheinung‹, geschweige denn eine ›moderne‹, erblicken zu wollen. Vielmehr ist es nur eine Begleiterscheinung säkularer geschichtlicher Produktivkräfte, die die Erzählung ganz allmählich aus dem Bereich der lebendigen Rede entrückt hat und zugleich eine neue Schönheit in dem Entschwindenden fühlbar macht.851

Der Roman, obwohl in seiner konkreten geschichtlichen Realisation der Erzählung gänzlich entgegengesetzt, kann deswegen an ihre Stelle treten, weil sie beide dem gleichen Prinzip verpflichtet sind: der Erinnerung. Sie markiert Benjamin als Grundprinzip allen Epischen und ihre erste poetische Form ist das Epos. Diese Indifferenz des Epischen, ihre gemeinsame Verankerung in der Aufgabe der Erinnerung »schließt […] die Erzählung und den Roman ein«. Trennte sich im geschichtlichen Prozess der Roman vom Epos dann blieb, bei allem Verlust, »das musische Element des Epischen, die Erinnerung also, in ganz anderer Gestalt als in der Erzählung« erhalten. Die Erinnerung des oralen Erzählens »stiftet die Kette der Tradition«,852 sie ist angewiesen auf unmittelbaren Anschluss und nur in der Sicherstellung ihrer Anschlussfähigkeit kann sie sich erhalten. Deshalb muss diese Kette abbrechen, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen das Erzählen nicht mehr ermöglichen. In Wielands ›Hexameron‹ sieht man dieses Erzählen, zu dem sich kaum noch Erzähler herfinden, nur noch in den Nieder- und Abschriften, schließlich der Drucklegung d.h. in der Vervielfältigung sich erhalten. F. A. Wolf hatte den Beginn der Niederschrift der Rhapsodengesänge und damit den Beginn des philologischen Umgangs mit ihnen mit einem zunehmenden Verlust der oralen rhapsodischen Tradition begründet. Wollte man die hohe Kunst der klassischen Blütezeit erhalten, dann war dies nur durch Aufzeichnung möglich.853 Der Roman ist die Gattung, in der dieses Niederlegen wieder produktive Form geworden ist. Der Roman ist nicht mehr auf das Sozialmodell Erzählen angewiesen. Der Romancier borgt aus Büchern für Bücher und nicht umsonst ist für Benjamin Cervantes’ ›Don Quixote‹ deshalb »das erste große Buch der Gattung«.854 Worin besteht also die Leistung des Romans für Benjamin? In der Fähigkeit zum Eingedenken, das über das bloße Gedächtnis des Erzählens hinausgeht. Ein-

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Benjamin, Der Erzähler, S. 388. Alle ebd., S. 399. Darin stimmt Schubart (Ideen, S. 44) ganz mit ihm überein: »So sehen wir über Griechenland an die Stelle eines hohen, productiven Zeitraumes, ein Zeitalter der Gelehrsamkeit, des Sammelns, des Wissens treten«. Diese philologische Arbeit, so Schubarth weiter, sei keineswegs zu verachten und fragt, was Goethe gefallen haben wird: »Ist es nicht gerade so auch unter uns, daß uns die Trümmer von jener gelehrten und mühsamen Thätigkeit, in ihrer Aufspürung, Sammlung und Behandlung, eben deshalb lieb und ehrwürdig seyn müssen, weil sei uns zu einer neuen Thätigkeit gleichfalls veranlassen?« Ebd., S. 46. Benjamin, Der Erzähler, S. 389.

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gedenken aber ist das »verewigende Gedächtnis«.855 Damit wird die Romantheorie zu einer Medientheorie kultureller Erinnerung. Er stiftet keine neue Tradition, keine soziale Gemeinschaft, wie es die Erzählung vermag. Was ins Archiv Eingang findet, mag sich materiell erhalten. Was in den Roman Eingang findet, ist bereits wieder gegenwärtig geworden. Benjamin sah in den ›Wanderjahren‹ noch den Versuch, dem Roman den Rat des Erzählens in Form der Unterweisung einzusenken.856 Warum erkannte er nicht, dass hier der Versuch vorliegt, jene melancholisch-kulturkritische Deutung der Entwicklung der Produktivkräfte mit jenem positiven Begriff des Romans zusammenzubringen? Dafür greift Goethe auf alle Formen epischen Erzählens zurück und bettet sie in deren ursprünglichste Form, das Epos. Das aber war Goethe, nachdem Wolf ihm selbst den Glauben an die ursprüngliche Einheit des Epos erschüttert hatte, nur möglich als Roman. Die erste Fassung überschreibt Goethe noch explizit mit »Ein Roman«. Angesichts der Ankündigung als Fortsetzung der ›Lehrjahre‹ ein eigentlich redundanter Hinweis. Nicht aber, wenn man bedenkt, wie Goethe im Falle des ›Märchens‹ oder der ›Novelle‹ mit solchen Zuschreibungen verfahren ist. Die ›Wanderjahre‹, ganz anders als die ›Lehrjahre‹ oder die ›Wahlverwandtschaften‹, sind geplant als Versuch einer Gattungsbestimmung. Nicht im Sinne normierender Musterbildung, sondern als Versuch, die Gattung auf ihre poetischen Möglichkeiten hin zu befragen. Für die zweite Fassung entfällt der Hinweis und es wurde viel über die Gründe spekuliert.857 Um eine weitere Spekulation hinzuzufügen: Goethe hatte erkannt, dass der Hinweis eine Erwartungshaltung bei seinen Lesern geweckt hatte, die mit seinem (neuen) Romanbegriff nicht in Übereinstimmung zu bringen war und nahezu geschlossene Ablehnung hervorrief. Vielleicht sah er die größere Chance auf eine tiefere Auseinandersetzung durch die Tilgung jeder die Leseerwartung bestimmenden Gattungszuschreibung.858

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Ebd., S. 399. Vgl. Benedikt Jeßing (Konstruktion und Eingedenken. Zur Vermittlung von gesellschaftlicher Praxis und literarischer Form in Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ und Johnsons ›Mutmaßungen über Jakob‹, Wiesbaden 1991, S. 97–138) zum Benjamin-Bezug. Klaus-Detlef Müller (Lenardos Tagebuch. Zum Romanbegriff in Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. In: DVjs 53 (1979), S. 275–299; S. 278) hat darauf aufmerksam gemacht, dass ein selbstreflexiver Verweis auf die Gattung in I.10 wieder durch den Redakteur in den Roman Einzug hält und man – ganz im Sinne romantischer Theoriebildung – davon ausgehen müsse, dass die »Poetik in dem Werk selbst entwickelt wird.« Vgl. auch Wj2, S. 381. Man stelle sich vor Goethe hätte ›Faust II‹ mit dem Hinweis »Ein Schauspiel« veröffentlicht oder auf die Bühne gebracht. Die Reaktionen wären wohl nicht anders ausgefallen.

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Es ist oft bemerkt worden, dass die Novellen als traditionelle Erzählungen präsentiert werden,859 die aber in der Archivfiktion nicht unmittelbar als solche präsentiert werden, sondern vielfältigen Verschriftlichungen und Überlieferungswegen unterworfen sind. Nur unter diesen Bedingungen gelangen sie in die Materialsammlung des Redakteurs. Im Roman werden sie einer weiteren Überformung, sei es durch Anordnung, sei es durch textuelle Eingriffe seitens des Redakteurs unterworfen. Dennoch kommt es nicht zu einer Homogenisierung des Materials durch die Eingriffe des Redakteurs. Die Materialien bleiben in ihrer Disparatheit zu erkennen. Damit stellt sich erneut die Frage, welche Art von Totalität dem Roman zukommt. Goethe weiß sich hier mit Herder und Schlegel einig. Die Form der Totalität ist nicht primär auf der Ebene umfassender epischer Darstellung erreicht, sondern epische Totalität als Romanform meint hier zunächst die Totalität epischer Darstellungsformen, von denen in den ›Wanderjahren‹ kaum eine fehlt:860 Tagebuch (Wilhelm, Lenardo), Brief (Makarie, Hersilie, Wilhelm, Abbé etc.), Novelle (Mann von funfzig Jahren, Wer ist der Verräter), Märchen (Die neue Melusine), technische und wissenschaftliche Beschreibung (Spinner und Weber, Geologie), Kunstbeschreibung (Maler am Lago Maggiore), Rede (Lenardo, Odoard, Wilhelm), epigrammatische Sinnsprüche und Maximen, (Betrachtungen im Sinne der Wanderer, Aus Makariens Archiv), Lieder (Handwerker), Schwank (Gefährliche Wette), biographische Erzählung (St. Joseph, Wilhelm), moralische Erzählung (Die pilgernde Törin). Die Liste ist sicherlich zu ergänzen. Goethe präsentiert damit den Roman als die Gattung, die das Erzählen auch unter der Prosa der Verhältnisse ermöglicht. Ein Erzählen freilich, das nicht mehr ungebrochen präsentiert wird. Warum aber überhaupt noch erzählen? Diese Frage wird mit Blick auf die utilitaristischen Siedlungsprojekte Odoards und des Turmes von Bedeutung. In ihnen ist der Lebensgang des Individu-

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Inwiefern die anderen genannten Novellen traditionell sind, bedürfte der weiteren Untersuchung, etwa im Kontext der Novellentheorie. Die Tatsache, dass ›Die pilgernde Törin‹ (1809), ›Das nußbraune Mädchen‹ (1816), ›Die neue Melusine‹ (1817/19) und ›Der Mann von funfzig Jahren‹ (1818) als für sich stehende Erzählungen bereits veröffentlicht waren, aber zeigt an, dass sie durchaus die konventionellen Formen des Erzählens den Publikumserwartungen entsprechend bedienen und keineswegs ähnlich verstörte Reaktionen wie die ›Wanderjahre‹ hervorriefen. Manfred Engel (Modernisierungskrise und neue Ethik in Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahren oder Die Entsagenden‹. In: Hennig Kössler (Hg.), Wertewandel und neue Subjektivität. Fünf Vorträge, Erlangen 2000, S. 87–111; S. 91f.) wertet sie demnach als das »konventionelle Element der Wanderjahre«. Waltraud Maierhofer (›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ und der Roman des Nebeneinander, Bielefeld 1990, S. 196) bestreitet, »daß Goethe in seinem Altersroman ältere Traditionen des episodischen Erzählens wieder aufnehmen [...] wollte«. Andererseits sieht auch sie, »dass das neue universale Konzept und die episodische Tradition in Wechselwirkung treten und zu einem Wandel in der Struktur des Romans führen« (ebd.). Vgl. Müller, Lenardos Tagebuch, S. 285.

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ums in Ausbildungs- und Arbeitsgänge streng diszipliniert und zum Wohle aller organisiert. Die Taktung synchronisierter Uhren in Amerika, die genormte Körpersprache der Pädagogischen Provinz, die Normierung der Gewerke bei Odoard, sie alle sind Varianten bürgerlicher Rationalität, die das Individuum in seinen ›labyrinthischen‹ Erfahrungsmöglichkeiten einschränkt. Eine Erzählung, die den Übergang zu einer solchen Gesellschaft zeigt, kann davon nicht unbetroffen sein. Gegen Ende des Romans, je näher die Vision der Auswanderer rückt, Erzählzeit und erzählte Zeit in III.14 nahezu in eins zu fallen scheinen, schwindet die Erzählung und die Erzählbarkeit ihrer Handlungen. Der Redakteur gibt den Versuch auf, durch Erzählung wie in ›Nicht zu weit‹ einen wie auch immer gearteten Zusammenhang der disparaten Handlungsstränge zu liefern. An ihre Stelle treten die bloßen Fakten. Hier aber wird die Pflicht des Mitteilens, Darstellens, Ausführens und Zusammenziehens immer schwieriger. Wer fühlt nicht daß wir uns diesmal dem Ende nähern, wo die Furcht in Umständlichkeiten zu verweilen, mit dem Wunsche nichts unerörtert zu lassen uns in Zwiespalt versetzt. […] Wir aber, von unserer erzählenden und darstellenden Seite, sollten diese teuren Personen, die uns früher so viele Neigungen abgewonnen, nicht in so weite Entfernung ziehen lassen ohne von ihrem bisherigen Vornehmen und Tun nähere Nachricht erteilt zu haben, besonders da wir so lange nichts Ausführliches von ihnen vernommen. Gleichwohl unterlassen wir dieses, weil ihr bisheriges Geschäft sich nur vorbereitend auf das große Unternehmen bezog, auf welches wir sie lossteuern sehen.861

Bevor man aber das Buch schon zuzuklappen geneigt ist, rückt der Erzähler einen letzten Brief Hersilies ein, der von Felix’ Besuch berichtet. Mit diesem Brief wird noch einmal das zentrale Motiv des Kästchens als »Katalysator des Inkommensurablen«862 in den Roman eingebracht und damit kehren das Wunderbare und die Liebe als Quellen des Poetischen in den Roman zurück.

Das Kästchen Hatte Schlegel bereits für die ›Lehrjahre‹ diagnostiziert, dass die Erwartung nach formaler Einheit immer wieder enttäuscht würde, und dagegen die Idee innerer Einheit gestellt, so finden sich auch in den ›Wanderjahren‹ trotz der zunächst so heterogen wirkenden Dokumente Verknüpfungen, die die Trennung von Rahmen- und Binnenhandlung kollabieren lassen. Diese Verknüpfung erfolgt über symbolische Konfigurationen, in denen das Kästchen-Motiv eine hervorgehobene Stellung hat. Es ist das Zentralmotiv des Textes. Der immer neugierige Felix klettert, nachdem er und Wilhelm in I.4 mit Fitz in der Gegenwelt der Wilddiebe, Schmuggler und Schatzgräber bei den Köhlern 861 862

Wj2, S. 720f. Schulz, Gesellschaftsbild, S. 268.

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übernachtet hatten, auf dem Weg zum Gut des Oheims in eine Höhle. In der Höhle wiederum findet er einen eisernen Kasten, in dem wiederum das Kästchen liegt. Wie das Kästchen ein Inneres hat, so ist es selbst das Innere eines anderen Äußeren, das wiederum im Inneren der Höhle ist, die selbst wieder Innenraum des äußeren Berges ist. Verwunderlich scheint die Bezeichnung »Prachtbüchlein« oder »kleiner Oktavband«863 für das Kästchen zu sein. Darin kann ein Verweis auf Italien, dem Herkunftsland Mignons gesehen werden. Im Text finden sich hier auffällige Analogien zur Beschreibung Mignons. In den ›Lehrjahren‹ wird Mignon Wilhelm mit den Worten »Hier ist das Rätsel«864 vorgestellt. Als Wilhelm vor der Felsspalte auf Felix wartet, ist das gefundene Kästchen »die Lösung dieses Rätsels«.865 In den ›Lehrjahren‹ wird Mignons Erscheinung als »wunderlich« und »geheimnisvoll«866 beschrieben. In den ›Wanderjahren‹ heißt es vom Kästchen, es sei ein »Wundergeheimnis«,867 der Schlüssel dazu ist ebenfalls wieder ein »Rätsel«.868 Neben diesen Analogien, die sowohl Mignon als auch das Kästchen mit der gleichen Aura des Geheimnisvollen versehen, weist die Erscheinungsform des Kästchens auf Italien. Kästchen in Buchformat und -design waren ein beliebtes Souvenir von der Grand Tour nach Italien. Oft enthielten sie Kameos oder Gemmen mit mythologischen Abbildungen wie auch Goethe sie sammelte.869 In dem hier diskutierten Zusammenhang bringt das Prachtbüchlein als Motiv die Themenbereiche des Innen und Außen, Bedeutung von Schrift, Schatz und Geheimnis zusammen. Neben den bereits erwähnten Themenbereichen findet sich auch hier wieder das Spiel mit den Licht- und Farbkontrasten, hell und dunkel, weniger entgegengesetzt als vielmehr im neologistisch-oxymoralen Nebeneinanderstellen. Er erzählte darauf mit Hast, wie er, aus innerem geheimen Antrieb, in jene Spalte gekrochen sei, und unten einen dämmerhellen Raum gefunden habe. In demselben stand, wie er sagte, ein großer, eisener Kasten, zwar nicht verschlossen, dessen Deckel jedoch nicht zu erheben, kaum zu lüften war. Um nun darüber Herr zu werden, habe er die Knittel verlangt, um sie teils als Stützen unter den Deckel zu stellen, teils als Keile dazwischen zu schieben, zuletzt habe er den Kasten zwar leer, in einer Ecke des-

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Wj2, S. 302. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: FA Bd. 9. Hg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann, Frankfurt/M. 1992, S. 355–992. Im Folgenden zitiert als ›Lj‹. Hier Lj, S. 451. Wj2, S, 302. Meine Hervorhebung. Lj, S. 451 Wj2, S.742. Wj2, S. 599. Vgl. natürlich auch die Lippertsche Daktyliothek. Abbildung in: Wiederholte Spiegelungen. Weimarer Klassik 1759–1832, hg. von Gerhard Schuster und Caroline Gille. 2 Bde., München 1999, Bd. 1, S. 320f.

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selben jedoch das Prachtbüchlein gefunden. Sie versprachen sich deshalb beiderseits ein tiefes Geheimnis.870

Als Souvenir sind die Kameokästen Erinnerungsträger aus Italien. Darin finden sich Stempel, die antike mythologische Szenen drucken und dem Gedächtnis damit einprägen. Goethe dienten sie immer, sich und anderen die Mythologeme wieder in Erinnerung zu rufen.871 Mignon, selbst fast mythische Figur, findet nie einen Zugang zur Kulturtechnik der Schrift. Sie bleibt ganz auf Mündlichkeit verpflichtet, an ihr Scheitern alle zivilisatorischen Bemühungen des Turmes, wenngleich sie sich bemüht zeigt. Das Kind hatte sich eine Zeit her mit großem Fleiße bemüht, alles, was es auswendig wußte, zu schreiben, und hatte seinem Herrn und Freund das Geschriebene zu korrigieren gegeben. Sie war unermüdet und faßte gut; aber die Buchstaben blieben ungleich, und die Linie krumm. Auch hier schien ihr Körper dem Geiste zu widersprechen.872

Mignon lässt sich auch nicht auf den Ort des Schreibens fixieren. Am Ende des Romans sitzt sie auf einem hohen Schreibtisch – und singt.873 Gesang und Schrift sind Gegensätze, an denen Mignon und Felix sich scheiden. Jener bleibt der Zugang zur Schrift versperrt, ihr Ausdruck ist der Gesang, dieser aber erlernt, wenn auch mühsam, Schreiben im Kulturbereich der Pädagogischen Provinz. Felix schreibt an Hersilie eine »mit scharfem Griffel sauber eingegrabene Inschrift«874 auf seine Schreibtafel. Findet Felix’ Liebe zur Hersilie Ausdruck im Medium der Schrift, so Mignons Zuneigung zu Wilhelm in Musik und einem »losrauschenden Tanz«.875 Felix wird am Ende des Romans leben, Mignon nicht. »Im Tod verweigern sich Mignon und der Harfner der Bildung und Entwicklung zur Ordnung.«876 Es gibt wohl kaum einen Ort, an dem die Irreduzibilität des Gesangs auf Schrift deutlicher thematisiert wird als im berühmten Italienlied Mignons zu Beginn des 870 871

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Wj2, S. 302. Meine Hervorhebung. Vgl. die Eingriffe, die Trunz in dieser Passage vornimmt. HA VIII, S. 43f. Vgl. Vf., Abgelegt und Aufgeführt. Ohne dass ich hier daraus ein Argument machen wollte: Es finden sich eine Vielzahl von Stellen, in denen Goethe im Zusammenhang von Gemmen und Kameos vom ›Kästchen‹ oder ›Kasten‹ als deren Aufbewahrungsort spricht. Vgl. nur den Abschnitt ›Münster November 1792‹ in der ›Campagne in Frankreich‹. In: FA Bd. 16: Campagne in Frankreich. Hg. von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt/M. 1994, S. 543–572 oder den Bericht im ersten Heft des vierten Bandes von der ›Hemsterhuis-Galizinische Gemmen-Sammlung‹, der nochmals auf die Episode in Münster 1792 Bezug nimmt. In: FA 21, S. 385–388. Lj, S. 489f. Vgl. Lj, S. 895. Wj2, S. 538. Lj, S. 468. Schlaffer, Wilhelm Meister, S. 51.

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dritten Buchs der ›Lehrjahre‹. Zwar wird das Lied von Mignon gesungen, aber im Roman finden wir lediglich eine Übersetzung einer Mitschrift Wilhelms, der es aber trotz »wiederholen und erläutern« kaum vermag, die »Originalität der Wendungen« nachzuahmen.877 Das anrührende und schöne Mignon-Lied, wie es der Leser im Roman findet, erscheint als defizitäre Übertragung. Die ursprüngliche Natürlichkeit ist durch die Umwandlung in Schrift entzogen und kann lediglich apostrophiert werden. Geht die Natürlichkeit des Gesangs in der Schrift verloren, so stirbt Mignon in der nüchternden Sphäre des Turmes als Institution der schriftlichen Aufzeichnung. Dazu passt, dass in den ›Wanderjahren‹, fast alle Gesänge bereits vor dem Abgesang aufgeschrieben sind. Wilhelm nimmt »ein Blatt aus seiner Schreibtafel«, auf dem das nun von den Handwerkern variierte Lied aufgeschrieben ist und »Odorad reichte den Sämtlichen ein gedrucktes Blatt umher, wovon sie, nach einer bekannten Melodie, mäßig munter ein zutrauliches Lied sangen.«878 Die Gesänge der Wanderer und die Knaben der Pädagogischen Provinz haben, wie die Welt, die man jenseits des Meeres errichten will, ihre Funktion in der gemeinschaftlichen Disziplinierung durch Gleichtaktung879 und haben nichts mehr mit der poetischen Natürlichkeit der Lieder Mignons oder des des Harfners gemein. Die Reminiszenz an Italien, wie sie noch deutlicher in der Gestalt des Malers und seiner Mignon-Bilder auftritt, ist also auch eine Kontrastierung dieser mit poetischer Ursprünglichkeit konnotierten Welt der Mündlichkeit mit jener der Schrift und des Drucks.880 Aus intertextueller Perspektive ergeben sich weitere interessante Anknüpfungspunkte. Aleida Assmann weist auf die Etymologie des Wortes Kästchen 877

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Vgl. Lj, S. 504. Martina Kieß (Poesie und Prosa. Die Lieder in ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹, Frankfurt/M. 1987, S. 168) sagt zu Wilhelms Tätigkeit: »Als Bindeglied zwischen Poesie und Prosa ist Wilhelm Philologe. […] Dabei muß er freilich gestehen, daß mit den philologischen Mitteln der Prosa […] das ursprüngliche Wesen der Poesie […] nicht zu fassen oder gar zu fixieren ist«. Ähnliches ließe sich vom philologischen Redakteur der ›Wanderjahre‹ sagen. Wj2, S. 589 und S. 695. Vgl. dazu auch Günter Sasse, Der Gesang als Medium der Sozialdisziplinierung in Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. In: Goethe-Jahrbuch 118 (2001), S. 274–288. Ist in den ›Lehrjahren‹ Italien noch das Land der unerreichten Sehnsucht, so in den ›Wanderjahren‹ nur Ziel touristischer Unternehmungen. Goethe selbst hatte von diesem Tourismusziel Italien längst Abschied genommen. Er schreibt am 20. Juli 1817 an G. Sartorius: »Nach Italien, wie ich aufrichtig gestehe, habe ich keine weitere Sehnsucht; es ist in so manchem Sinne entstelltes und so leicht nicht wieder hergestelltes Land: von meinen alten Liebschaften und Tätigkeiten fänd ich vielleicht keine Spur mehr« (FA Bd. 35: Zwischen Weimar und Jena. Einsam-tätiges Alter I. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 6. Juni 1816 bis zum 26. Dezember 1822. Teil I: Vom 6. Juni 1816 bis zum 18. Oktober 1819. Hg. von Dorothea Schäfer-Weiss, Frankfurt/M. 1999, S. 129). Vgl. zum Wandel der Grand Tour: Attilio Brilli, Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die ›Grand Tour‹, Berlin 1997.

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hin.881 Das lateinische ›arca‹, Wortstamm für das deutsche ›Arche‹ steht seit den wachsenden Handelsbeziehungen zwischen römischen Händlern und Germanen für Geld- oder Schmuckkästen. Hinzu kommt die lateinische Bedeutung von »arcanus«, d.h. verschlossen, geheim. Reichverzierte Truhen und Kisten dienten aber schon in der Antike zur Aufbewahrung wertvoller Schriften. So führen die Israeliten die von Gott an Mose übergebenen Gesetzestafeln in einer Kiste, der Bundeslade mit. Im frühen Mittelalter vor Einrichtung der Klosterbibliotheken dienten Kisten ebenfalls als Aufbewahrungsorte für Bücher. Als literarisches Motiv erinnert das Kästchen an die Tradition, »als alt fingierte Dichtung oder fromme Überlieferung (Legenden) als Kästen, Truhen, Sarkophagen an verborgenen Orten aufgefunden und als daraus mitgeteilt dahinzustellen«.882 Das Motiv ist bereits in der ›Theatralischen Sendung‹ präsent und wird nahezu unverändert auch in die ›Lehrjahre‹ übernommen. In der Erzählung seiner Jugend berichtet Wilhelm Mariane vom Arcanum, dem verschlossenen Heiligtum seiner Mutter – der Speisekammer. Eines Tages bleibt in der Tür der sonst wohlverschlossenen Vorratskammer der »merkwürdige Schlüssel«883 stecken. Wilhelm nutzt die Gelegenheit und gibt sich den lukullischen Reizen der Speisen hin. Mehr aber als die getrockneten Pflaumen und Äpfel zieht ein seltsamer Kasten seine Aufmerksamkeit auf sich, den der Leser unschwer als das Versteck des Puppenspiels aus dem vorhergehenden Kapitel erkennt. Von der Köchin gestört überfiel ihn eine Angst, und er »alles schnell zusammendrückte, den Kasten zuschob, nur ein geschriebenes Büchelchen, worin die Komödie von David und Goliath aufgezeichnet war, das oben aufgelegen hatte«884 zu sich nahm. In dem Kasten findet sich also ein Manuskript.885 Das Stück von David und Goliath aber ist für Wilhelm die erste Begegnung mit dem Theater. In seiner Lebenserinnerung wird das Stück als Auslöser seiner Neigung zum Theater dargestellt. Zugleich aber ist das Kästchenmotiv in der der Fundszene durch Felix bis ins Detail an die Entdeckung der Wunderlampe im ›Aladdin‹-Märchen aus

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Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 114ff. Friedrich Ohly, Zum Kästchen in Goethes ›Wanderjahren‹. In: ders., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und Bedeutungsforschung. Hg. von Uwe Ruberg und Dietmar Peil, Stuttgart – Leipzig 1995, S. 437–443; S. 442. Lj, S. 371. Lj, S. 371. In Edmund Spensers ›The Shepheards Calender‹ (1579) befindet sich in der von Alexander geraubten Schatzkiste des Darius die ›Illias‹ und die ›Odyssee‹. Diese Tradition reicht bis Heine. Er wandelt das Motiv in den ›Hebräischen Melodien‹ um: Nun befinden sich die Werke des Dichters und Mystikers Jehudah Halevi im selben Kästchen. Dazu siehe. A. Assmann, Erinnerungsräume, S. 119–126. Goethe selbst erhält von Reinhard das »Geschenk einer schönen Reisebibliothek in einem schönen Kästchen«. Vgl. den Tagebucheintrag vom 14. Juli 1807, WA III 3, S. 240.

›1001 Nacht‹ angelehnt886 und knüpft sich damit einmal mehr an den Zusammenhang von Erzählung, Überlieferung und Roman. Das rekurrente Erscheinen des Kästchens in Goethes Werk verweist dabei aber auch immer wieder auf die archetypischen Themen der Poesie: Tod, Liebe und Sexualität. Das Kästchen ist auch in ›Dichtung und Wahrheit‹ und im ›Faust‹ eindeutig vorbelastet. Einst fand ich hinter dem Ofen ein schwarzes Kästchen; ich ermangelte nicht, zu forschen, was darin verborgen sei, und ohne mich lange zu besinnen zog ich den Schieber weg. Das darin enthaltene Gemälde war freilich von der Art, die man den Augen nicht auszustellen pflegt, und ob ich es gleich alsobald wieder zuzuschieben Anstalt machte, so konnte ich nicht geschwind genug damit fertig werden. Der Graf trat herein und ertappte mich. – ›Wer hat Euch erlaubt dieses Kästchen zu eröffnen?‹ sagte er mit seiner Königslieutenantsmiene. Ich hatte nicht viel darauf zu antworten, und er sprach sogleich die Strafe sehr ernsthaft aus: ›Ihr werdet in acht Tagen, sagte er, dieses Zimmer nicht betreten.‹887

Der junge Goethe wird von dem im elterlichen Haus einquartierten französischen Leutnant Graf Thoranc dabei erwischt, ein offensichtlich pornographisches Bild zu betrachten. Ausdrücklich werden dabei drei Elemente genannt, die wir aus den ›Wanderjahren‹ kennen. Erstens ist das Kästchen gut versteckt und Goethe findet es wie Felix zufällig, zweitens wird das Verbot, das Kästchen zu öffnen wie im ›Melusinen‹-Märchen übertreten und drittens wird das Kästchen wegen seines prekären Inhaltes wie durch den Goldschmied schnell wieder geschlossen. Herwig sieht im Vergleich zwischen Goethe und Felix, die Differenz zwischen strafendem »Übervater« Thoranc und Wilhelm als Vaterfigur, die »aktiven Beistand«888 leiste. Goethe habe »im Rahmen der Fiktion ein Kindheitstrauma nachträglich korrigiert«.889 Dagegen ist festzuhalten, dass das Motiv nicht nur im Verhältnis Wilhelm – Felix eine bedeutende Rolle spielt, sondern auch für andere Figurenkonstellationen des Romans. Das Kästchen steht bei allen diesen Beziehungen für das Verhältnis von Liebe und Sexualität in seinen je unterschiedlichen Realisierungen.890 Auch in ›Der Sammler und die Seinigen‹ wird das Kästchen zum Ort erotischer Anstößigkeit. Julie zeigt der besuchenden Dame und ihren englischen Begleitern ein Kästchen, »worin sich eine köstliche liegende Venus befindet«. Die Dame schlägt beschämt die Augen vor der freizügigen Darstellung nieder. Julie, anders als der schöne Seele in den ›Lehrjahren‹, 886 887 888

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vgl. Mommsen, Goethe und 1001 Nacht, S. 125–131. FA 14, S. 100f. Beide Henriette Herwig, Das ewig Männliche zieht uns hinab. ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹: Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie, Tübingen 1997, S. 359. Herwig, Das ewig Männliche, S. 359. Das soll nicht heißen, dass sich das Kästchenmotiv darin erschöpft. Es ist vielmehr ein, wenngleich wichtiger, Bezugspunkt unter anderen.

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hingegen ist der eigene nackte Körper vertraut und weist jede moralisierende Beschränkung der Kunst zurück: »Die Dame: Also diese Nacktheit beleidigt sie nicht? Julie: Ich wüßte nicht wie mich das Schönste beleidigen sollte was das Auge sehen kann; und überdies ist mir der Gegenstand nicht fremd, ich habe ihn von Jugend auf gesehen. […] wie kann man den Menschen vor dem Menschen verheimlichen?«891 Steht hier das geöffnete Kästchen für einen liberalen Zugang zur eigenen Sexualität, so in den ›Wanderjahren‹ das verschlossene Kästchen für die freiwillige wie unfreiwillige sexuelle Entsagung, deren Medium der Brief (Wilhelm an Natalie, Hersilie an Wilhelm) mit seinem ambivalenten Spiel von (imaginierter) Nähe bzw. Intimität und (realer) Distanz ist. In ›Faust I‹ kommt dem Kästchen ebenfalls initiatorischer Charakter zu. Wenn Faust nach der Verwandlung in der Hexenküche Gretchen auf der Straße trifft, wird die Vorhersage Mephistos »Du siehst, mit diesem Trank im Leibe,/ Bald Helenen in jedem Weibe«892 (V. 2603f.) bald wahr. Fausts Verlangen nach Gretchen ist dabei ausschließlich sexuell motiviert. Er möchte sich Gretchen nicht nähern, um eine Liebesbeziehung mit ihr zu beginnen, sondern, um »so ein Geschöpfchen zu verführen« (V. 2644). Trotz Mephistos Einwänden verlangt Faust schließlich nach einem Geschenk für Gretchen, mit dem er sich ihren Körper zur Befriedigung seiner »Liebeslust« (V. 2662) gefügig machen kann. In Gretchens Zimmer wartet Mephisto daraufhin mit einem Schmuckkästchen auf.893 Hier verbindet sich das Motiv ebenfalls wie in »Die neue Melusine« mit dem Eros des Geldes, wenn Gretchen ausruft: »Was hilft euch Schönheit, junges Blut?/Das ist wohl alles schön und gut,/Allein man lässt’s auch alles sein;/ Man lobt euch halb mit Erbarmen./Nach Golde drängt,/Am Golde hängt/doch alles« (V. 2798–2804). Auffällig ist die Platzierung des Kästchens. Mephisto legt es nicht einfach auf den Tisch, sondern stellt es in einen Schrein (vgl. V. 2733). Auch in den ›Wanderjahren‹ findet sich das Motiv der mehrfachen Schachtelung des Kästchens: Felix findet das Kästchen in einer Berghöhle in einem großen eisernen Kasten,894 das Kästchen mit der Melusine fährt in einer Kutsche und führt den Rotmantel in einen Berg. Im ›Faust‹ findet Gretchen das Käst-

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Beide FA 18, S.720. FA Bd. 7.1: Faust. Texte. Hg. von Albrecht Schöne. 4. überarbeitete Aufl., Frankfurt/M. 1999, S. 111. Statt Seitenzahlen werde ich für den ›Faust I‹ die Verszählung übernehmen. Regieanweisungen werden mit Seitenzahlen angegeben. Genau genommen bekommt Gretchen zwei Kästchen, nachdem das erste von Mutter und Pfarrer konfisziert wurde. Das aber verstärkt die folgende Lesart noch. Indem Pfarrer und Mutter als Repräsentanten einer repressiven Sexualmoral ihr das Kästchen wegnehmen, versuchen sie, Gretchen dem von ihnen dämonisierten und durch Mephisto verkörperten Bereich der erotischen Liebe fernzuhalten. Mephisto aber bringt ein zweites Kästchen »Weit reicher als das erste war« (V. 2878). Vgl. Wj2, S. 302. Später will Hersilie nicht »das Schatzkästlein in dem alt-eisernen verrosteten Depositenkasten der Gerichtsstube wissen«, Wj2, S. 658.

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chen in einem Kasten – ihrem Schrank. Der Fund des Kästchens durch Felix in der ersten Fassung der ›Wanderjahre‹ wird überdem mit Fruchtbarkeits- und Gebärkonnotationen vorgestellt, welche die Höhle zum Mutterleib, die Spalte zum Vaginalmotiv werden lässt.895 Er stieg selbst zur Höhle hinauf, an deren Mündung er zuletzt das Kind erblickt hatte, und fand sie leer als er hineintrat. Sie war geräumig, aber zu übersehen. Er forschte nach einem andern Ausgange, fand aber keinen. Die Sache kam ihm bedenklich vor. Er nahm deshalb das Pfeifchen zur Hand, das er am Knopfloch trug, und hörte eine Antwort auf sein Pfeifen die aus der Tiefe erscholl, so daß er wußte, ob er für ein Echo nehmen sollte; als kurz darauf Felix aus der Erde hervorguckte. Man konnte wirklich sagen, aus der Erde: denn die Felsenspalte, durch die er herausschaute, war kaum breit genug, um seinen Kopf durchzulassen.896

Wolf Kittler hat gezeigt, dass die Verschachtelungsstruktur in ›Die neue Melusine‹ an die im 17. Jahrhundert verbreitete Theorie des emboîtement anschließt.897 Das Kästchen symbolisiert daher zweierlei: Es ist Schatzkammer und zugleich Mutterschoß. Es produziert Geld, bringt aber auch ein vieldeutiges Spiel von Ein- und Ausschließungen in Gang. Zuerst sitzt die neue Melusine neben ihrem Kästchen in der Kutsche, dann tritt sie aus dem Zimmer, in dem das Kästchen eingeschlossen war, und was der Erzähler schließlich durch einen Spalt darin erblickt, ist eine Schwangere.898 Dabei steht das Kästchen in der Erzählung selbst wieder für den Zusammenhang von Kapital und Fruchtbarkeit.899 Findet der Rotmantel im Kästchen einerseits die schwangere Melusine, so ist es andererseits eine sich selbst reproduzierende Geldquelle. Das Motiv des »Weibchen im Kasten« aber findet sich, ebenso wie das des sich stets wieder füllenden Geld-

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Zugleich schließt sich hier das Motiv gerade auch in seinem Bezug zur Melusine, die ja zum Volk der Zwerge gehört, das sich im inneren der Gebirge am Gold zu schaffen machen, an die geologischen und geognostischen Diskussionen in den ›Wanderjahren‹ und übrigens auch im ›Faust II‹ (vgl. dort z.B. die Gnomen V. 5840–5864 oder die Pygmäen in der klassischen Walpurgisnacht V. 7605–7643). Wj1, S. 44. Stephan Broser (Kästchen, Kasten, Kastration. In: Cahiers Confrontations 8 (1982), S. 87–114; S. 95f.) verweist aus pyschoanalytischer Perspektive auf die enge Beziehung zwischen dem Kästchen-Motiv und der Fruchtbarkeit der Frau, die im Briefwechsel Freuds auf die Kastrationsangst des zweijährigen Sigmunds zurückgeführt wird: »Cependant la version de la Psychopathologie déplace aussitôt l’accent sur une seconde question : qu’y a-t-il la mère apparaît dans la version épistolaire comme celle qui est recherchée dans le coffre (Kasten), elle devient à présent elle-même un coffre (Kasten) dans lequel on recherche à nouveau quelque chose. C’est là la question à propos du fœtus, de l’enfant dans le ventre de la mère.« Wolf Kittler, Causa sui. Mythen der Autorschaft bei Goethe und Hölderlin. In: Thomas W. Kniesche (Hg.), Körper, Kultur. Kalifornische Studien zur deutschen Moderne, Würzburg 1995, S. 167–180; S. 172f. Zu diesem Zusammenhang siehe auch ebd.

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beutels in ›1001 Nacht‹.900 Der Erzähler erlangt zuletzt den Schlüssel und öffnet das Kästchen, findet eine Summe Geldes und nachdem auch diese aufgebraucht ist, versetzt er es schließlich, um einen letzten Gewinn herauszuschlagen. Mit der Überführung des Geheimnisses in Geldwert endet die Erzählung schlüssig. Nun gibt es nichts mehr zu erzählen. Direkt anschließend aber folgt die Wiederaufnahme des Rätsels im Zeichen der Liebesbeziehung durch den Roman. Der Redakteur bringt den Brief Hersilies, in dem sie vom Fund des Schlüssels zum Kästchen berichtet, aber nicht wage, es zu öffnen und daher Wilhelm auffordert, zu ihr zu kommen. Parallel zur sexuellen Motivierung in den Reden Fausts aber ist der Fund des Kästchens auch durch Gretchen sexuell konnotiert. Gretchen steht nackt vor ihrem Schrank, als sie das Kästchen findet. Die Regieanweisung vor dem Thule-Lied sagt ausdrücklich: »Sie fängt an zu singen, indem sie sich auszieht«, dann folgt das Lied, kein Hinweis darauf, dass sie wieder etwas überzieht. Ihre abgelegten Kleider hingegen führen sie zum Kästchen. »Sie eröffnet den Schrank, ihre Kleider einzuräumen, und erblickt das Schmuckkästchen.«901 Zusätzlich findet sich auch gleich der Schlüssel zum Kästchen, der ihr, anders als Hersilie, unmittelbaren Zugang zum Inhalt verschafft. Darin wird der Unterschied ihrer Sexualbeziehungen deutlich. Gretchen wird das Kästchen öffnen und schwanger werden, Hersilie wünscht sich Wilhelm herbei, das Kästchen zu öffnen, was ihr verweigert wird. Wilhelm und Felix bleiben ihr fern. Gretchen aber hängt sich den gefundenen Schmuck gleich um und tritt vor den Spiegel – nackt. Der Text deutet mit keiner Silbe darauf hin, dass Gretchen sich wieder angekleidet hat. Die temporale Struktur macht dies auch überaus unwahrscheinlich. Sie singt und zieht sich währenddessen aus, unmittelbar darauf räumt sie ihre Kleider in den Schrank, vielleicht um ihre Nachtkleidung zu entnehmen, dann aber entdeckt sie das Kästchen samt Schlüssel, öffnet es, legt den Schmuck an »und tritt vor den Spiegel« (F 90).902 Die nackte Frau vor dem Spiegel kehrt als Motiv in den ›Wilhelm Meister‹ zurück. Die schöne Seele tritt in den ›Lehrjahren‹, nachdem sie ihren schwer verwundeten Liebhaber, Narciß, versorgt und ihre blutverschmierten Kleider abgelegt hatte, vor den Spiegel. Im Spiegel nun wird die narzisstische Anagnorisis auf die schöne Seele übertragen. »Nun führte mich die Hausfrau in ihr Schlafzimmer; sie mußte mich ganz auskleiden und ich darf nicht verschweigen, daß ich, da man sein Blut von meinem Körper

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Vgl. Mommsen, Goethe und 1001 Nacht, S. 140f. Beide FA 7.1, S. 118. Man bedenke, dass ›Faust I‹ durchaus als Bühnenstück gedacht war, die Szene im Kontext der theatralischen Realisierung also mehr als prekär war. Noch die berühmte Gründgens-Aufführung zeigt Gretchen im Nachthemd, von dem im Text jede Andeutung fehlt.

abwusch, zum erstenmal zufällig im Spiegel gewahr wurde, daß ich mich auch ohne Hülle für schön halten durfte.«903 Die schöne Seele wird sich hier erstmals ihrer Weiblichkeit und ihrer sexuellen Anziehungskraft bewusst. Diese Initiation und Codierung als Frau geschieht zwar im selbstbezogenen Blick aber letztlich durch »sein Blut«, durch die Begegnung mit dem Männlichen. Die Frau erkennt im Blick des Spiegels und in der Berührung mit dem vergossenen Blut des Mannes sich selbst als erotisches Objekt. Kurz zuvor war es das vergossene Blut Wilhelms, das ihn an sein Gelübde erinnern soll, »jeder flüchtigen Neigung«904 zu widerstehen und nur aus reiner Liebe, nicht aus erotischer Neigung, sich einer Frau zu nähern. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass auch für Aurelie das Blut des Mannes für das intime Verhältnis von Mann und Frau steht. So gleichen sich auch die Accessoires in beiden Szenen. Den ersten Blutschwall verursacht durch einen Streich über Wilhelms und Narciß’ Hand, stoppt Aurelie wie die schöne Seele mit einem »Schnupftuch«.905 Alle erwähnten und miteinander verknüpften Motive – Kästchen, Blut, Narzissmus, Tod und sexuelle Initiation – finden sich ebenfalls in den ›Wanderjahren‹.906 Wollte Aurelie Wilhelm zeichnen und ihn durch den Schmerz und die zurückbleibende Narbe an sein Liebesversprechen erinnern und wird die schöne Seele durch das Blut des Narciß’ im Spiegel sich ihrer Weiblichkeit erst bewusst, so ist Felix’ erste Begegnung mit der Liebe ebenfalls durch einen blutigen Schnitt gezeichnet.907 Felix wendet bei der ersten Begegnung auf dem Anwesen des Oheims seine Aufmerksamkeit gleich gegen Hersilie, er setzt sich ihr gegenüber und wendet »kein Auge von ihr«.908 Bisher hatte der Leser Felix nur als spielenden und fragenden Knaben kennengelernt. Mit dem Eintritt in den Bereich des Oheims909 aber scheint für Felix ein neuer Lebensabschnitt zu beginnen. Diesen Übergang verknüpft Goethe wie oft in seinem Werk mit dem Motiv des Schlafes. Wie Faust zu Beginn des zweiten Teils erfrischt und verwandelt aus dem Schlaf, der ein Schlaf des Vergessens ist, erwacht und die Ereignisse der Gretchen-Tragödie aus seinem Bewusstsein verdrängt (vgl. V. 4679–4727), so fällt Felix nach der Gefangennahme im Schloss in einen tiefen Schlaf: »er lag im tiefsten Schlafe,

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Lj, S. 739. Lj, S. 645. Vgl. Lj, S. 646 und S. 738. Die Erzählung vom Fischerknaben schließt hier unmittelbar an. Aufgrund ihrer Komplexität werde ich sie hier nicht eingehend interpretieren. Der Verweis aber deutet schon darauf hin, wie sich durch die Motivregister die erst so separat scheinenden Textteile zusammenschließen. Zum Motiv siehe auch: Hans-Joachim Weitz, Ein Motiv in den ›Wanderjahren‹. Der Fingerschnitt. In: ders., Der einzelne Fall. Funde und Erkundungen zu Goethe, Weimar 1998, S. 259–267. Wj2, S. 309. Und so keineswegs erst mit Eintritt in die Pädagogische Provinz.

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schöner und frischer als je; denn eine Leidenschaft, wie sie ihn sonst nicht leicht ergriff, hatte sein ganzes Innerste auf die vollen Wangen hervorgetrieben.«910 Als er schließlich erwacht, findet er sich in einer neuen Welt,911 die Ereignisse, die zur Gefangennahme geführt haben, scheinen vergessen: Als Felix erwachend ein gedecktes Tischchen, Obst, Wein, Zwieback und zugleich die Heiterkeit der offenstehenden Türe bemerkte, ward es ihm ganz wunderlich zu Mute. Er läuft hinaus, er kehrt zurück, er glaubt, geträumt zu haben; und hatte bald bei so guter Kost und so angenehmer Umgebung den vorhergegangenen Schrecken und alle Bedrängnis, wie einen schweren Traum am hellen Morgen, vergessen.912

In nahezu gleicher Situation beginnt nun das kokette Spiel Hersiliens mit Felix. Sie reicht Felix die vorzüglichsten Speisen, dann aber werden Äpfel, das biblische Sinnbild der Verführung und der Entdeckung der Sexualität zwischen Adam und Eva, zum Zeichen der Initiation von Felix. Hersilie reicht ihm einen Apfel, er nimmt ihn, »fing sogleich zu schälen an; unverwandt aber nach der reizenden Nachbarin hinblickend, schnitt er sich tief in den Daumen. Das Blut floß lebhaft«.913 Die folgende Situation gleicht der Konfiguration aus den ›Lehrjahren‹ exakt. »Hersilie sprang auf, bemühte sich um ihn, und als sie das Blut gestillt, schloß sie die Wunde mit englischem Pflaster aus ihrem Besteck.«914 Damit knüpft sich die Szene auch an das Wundarzt- und das Besteckmotiv, das bereits in den ›Lehrjahren‹ eine wichtige Rolle spielt. Felix wird sich ein zweites Mal verletzen und wieder ist Hersilie der Grund. Im Sturz Felix’ vom Pferd und der folgenden Versorgung durch einen Wundarzt sind alle Elemente zusammen, die die Schlussszene des Romans präfigurieren. Sind aber in den ›Lehrjahren‹ die Versorgten Wilhelm und Narciß passiv, so durchbricht Felix gleich die gesellschaftliche Konvention und missdeutet die Zuwendung Hersilies als Erlaubnis nun seinerseits zu ihr körperlichen Kontakt zu suchen. »Indessen hatte der Knabe sie angefaßt und wollte sie nicht loslassen; die Störung ward allgemein, die Tafel aufgehoben und man bereitete sich zu scheiden.«915 Wie später Flavio bei der jungen Witwe, hat Felix bereits gleich zu Beginn seiner Verbindung mit Hersilie, die Möglichkeit einer normgemäßen Beziehung zerstört. Felix und Hersilie werden sich nach dem Abritt zu Makarie auf Jahre nicht wiedersehen. Die Felix-Figur und ihre Beziehung zur Hersilie aber wird im Roman durchweg nicht psychologisch motiviert und das Innenleben Felix’ im Gegensatz zu Her-

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Wj2, S. 306. Am Ende des Romans wird wieder ein tiefer Schlaf Ausgangspunkt für einen neuen Lebensabschnitt von Felix sein. (vgl. Wj2, S. 745). Wj2, S. 307. Wj2, S. 309f. Mit nahezu gleichen Worten wird die Rettung von Felix durch den Wundarzt Wilhelm beschrieben: »das Blut sprang reichlich hervor«, Wj2, S. 744f. Wj2, S. 310. Wj2, S. 310.

silies und Wilhelms kaum entwickelt.916 Das Gebot, das Felix überschritt, wird zur Bestimmung ihrer Beziehung: Distanz. Hersilie wendet sich Wilhelm zu. Sie überreicht ihm die Erzählung ›Die pilgernde Törin‹. Damit wird die Beziehung Hersilie – Felix zu einem Beziehungsdreieck, deren Kommunikationsanlass und Mittelpunkt das Kästchen sein wird. Die letzte Begegnung Hersilies mit Felix verläuft auf höherer Stufe ähnlich wie die erste. Das Kästchen als Zeichen der Neigung der beiden bleibt auch Zeichen der Unmöglichkeit ihrer Verbindung. Der Brief an Wilhelm macht deutlich, dass nun nicht mehr das ungestüme Verhalten von Felix Grund der erneuten Trennung ist, sondern Hersilies Unentschlossenheit zwischen Vater und Sohn.917 Mit dieser Konfiguration wird das Motiv des kranken Königssohns aus den ›Lehrjahren‹ wieder aufgenommen, doch mit entscheidenden Änderungen. Das Kästchen fungiert hier als Motiv der Partnerwahl.918 In ihren Briefen an Wilhelm versucht Hersilie immer wieder über das Kästchen und den gefundenen Schlüssel diesen 916

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vgl. Marianne Jabs-Kriegsmann, Felix und Hersilie. Eine Studie zu ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹. In: Trunz (Hg.), Studien zu Goethes Alterswerk, S. 75–98; S. 75f. und S. 81. Neben Wilhelm trifft die Schwächung der psychologischen Motivierung im Tranzendentalroman auch die Felix-Figur. Da wir über Wilhelms Seelenleben immerhin noch mehr erfahren als von Felix’, könnte man die Frage stellen, ob Felix nicht die eigentliche Hauptfigur des Romans ist. Françoise Derré (Die Beziehung zwischen Felix, Hersilie und Wilhelm in ›Wilhelms Meister Wanderjahren‹. In: Goethe-Jahrbuch 94 (1977), S. 38–48) verschiebt den Akzent der Dreiecksbeziehung stärker auf die Zuneigung Hersilies zu Wilhelm. Nicht Felix – Hersilie, sondern Hersilie – Wilhelm mit einem verliebten Sohn Felix, sei die Konstellation der Liebesbeziehung. Hersilie aber zeigt sich offensichtlich von der immer wieder betonten Schönheit Felix’ angezogen. Hersilie verzweifelt nicht nur an der Ablehnung Wilhelms, sie wünscht sich vielmehr, dass die Männer, die für sie unentscheidbare Wahl treffen. Aus einer Wahl zwischen zwei Männern, wird, wie auch in der ›Pilgernden Törin‹, die Wahl einer Frau durch zwei Männer. Aus der Perspektive des Endes, der Zurückstoßung Felix’, wird nicht die Bevorzugung Wilhelms deutlich, sondern nur die Einsicht Hersilies in die Unmöglichkeit jeder Wahl. Kästchen und Partnerwahl werden auch in Shakespeares ›The Merchant of Venice‹ verwendet. Wer das richtige Kästchen mit dem Bild Portias wählt, wird sie zur Braut bekommen. Freud interpretiert die drei Kästchen als Allegorie für drei Frauen und dreht das Motiv zur Wahl eines Mannes zwischen drei Frauen um. Vgl. Sigmund Freud, Das Motiv der Kästchenwahl. In: ders., Studienausgabe. Hg. von Alexander Mitscherlich u.a. Bd. X: Bildende Kunst und Literatur, Frankfurt/M. 2000, S. 181–194; S. 183ff. Entscheidend aber ist nicht eine solche Umkehrung des Motivs, sondern das Ernstnehmen der Motivtradition. Das Kästchen, das das Bild Portias in sich trägt, ist bereits der Repräsentant ihrer Körpers. Wer das richtige Kästchen wählt, wird Zugang zu ihrem Körper erhalten. In ähnlichem Kontext taucht das Motiv auch in Goethes ›Die natürliche Tochter‹ auf, wo der im Kästchen verwahrte Schmuck und die Kleider das Geheimnis um die Anerkennung Eugenies als Königstochter offenbaren. FA Bd. 6: Dramen 1791–1832. Hg. von Dieter Borchmeyer und Peter Huber, Frankfurt/M. 1993, S. 301–395. Es soll hier keine Parallelstellen-Interpretation durchgeführt werden, es geht vielmehr darum, ein bestimmtes semantisches Feld abzustek-

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zu sich zurückzuholen. Wählte Wilhelm das Kästchen, wählte er Hersilie. Indem Hersilie Wilhelm und Felix die Verfügung über das Kästchen anbietet, bietet sie sich ihnen zur Wahl an.919 In den beiden Briefen, die über den Wiederfund des Schlüssels und des Kästchens berichten, wird darüber hinaus deutlich, dass Hersilie das Desinteresse Wilhelms am Kästchen als Desinteresse an ihr deutet: Parierend, ablehnend sind Ihre Briefe! Indem ich aufstehe Ihnen entgegenzutreten, so weisen Sie mich wieder auf den Sessel zurück.920 Aber das Kästchen muß zwischen mir und Ihnen erst uneröffnet stehen und dann eröffnet das Weitere selbst befehlen. […] Was ziehen Sie so in der Welt herum? Kommen Sie! bringen Sie den holden Knaben mit, den ich auch einmal wiedersehen möchte. Und nun geht’s da wieder an, der Vater und der Sohn! tun Sie, was Sie können, aber kommen Sie beide.921 Allein, ich weiß nicht, war es Wunsch oder Ahnung, ich stellte mir vor, Sie kämen, kämen bald, wären schon da wenn ich auf mein Zimmer trete; genug, es war mir so wunderlich, so seltsam, so konfus, wie es mir immer geht, wenn ich aus meiner gleichmütigen Heiterkeit herausgenötigt werde. Ich sage nichts weiter, beschreibe nicht, entschuldige nicht; genug, hier liegt das Kästchen vor mir in meiner Schatulle, der Schlüssel daneben, und wenn Sie eine Art von Herz und Gemüt haben, so denken Sie, wie mir zu Mute ist, wie viele Leidenschaften sich in mir herumkämpfen922

Nicht Wilhelm aber kehrt zurück, sondern Felix, der sich des Schlüssels und des Kästchens bemächtigt und sich darüber Zugang zu Hersilies Herz verspricht. Es braucht keine psychoanalytischen Kategorien, um den Abbruch des Schlüssels im Schloss des Kästchens als die Verweigerung der körperlichen Vereinigung seitens Hersilies zu interpretieren.923 Der Text vollzieht die Veranschaulichung einer allegorischen Deutung selbst. Felix »läßt das Kästchen stehen«924 und fasst Hersilie in den Arm. Wie er sie in der Apfelszene nicht mehr los lässt, so auch hier. Hersilie kann sich zunächst nicht aus seinen Armen befreien. Auch die Motivierung Hersilies, den Kuss von Felix zu erwidern, ist ähnlich wie in I.5. Dort fühlte sie sich »überrascht und geschmeichelt«,925 und auch hier ist es wieder das Gefühl, geliebt zu werden, das Hersilie schmeichelt: »Ich rang vergebens, seine Augen näherten sich den meinigen, und es ist etwas Schönes, sein eigenes Bild im liebenden Auge zu erblicken. Ich sah’s zum erstenmal, als er seinen Mund

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ken, in dem das Motiv auftritt. Die Stellenverweise fungieren also nicht als ›Belege‹ oder ›Beweise‹, wohl aber als Hinweise. In ›Wer ist der Verräter?‹ fungiert das »Juwelenkästchen« (Wj2, S. 98) ähnlich wie im ›Faust‹ als Brautgeschenk. Wie im ›Faust‹ ist das Kästchen der Schlüssel zum Körper der Frau. Wj2, S. 597. Wj2, S. 599. Wj2, S. 658. Wj2, S. 743. Wj2, S. 742. Wj2, S. 309.

lebhaft auf den meinigen drückte. Ich will’s nur gestehen, ich gab ihm seine Küsse zurück, es ist doch sehr schön, einen Glücklichen zu machen.« Zugleich aber merkt Hersilie, dass ihre Beziehung immer noch durch Distanz geprägt ist. »Ich riß mich los, die Kluft die uns trennt erschien mir nur zu deutlich;«926 Das Ergebnis ist wieder die räumliche Trennung – das Kästchen als Allegorie des Körpers der Frau bleibt verschlossen: »Er warf sich auf sein Pferd und sprengte weg.«927 Es folgen der zweite Sturz vom Pferd und die Rettung durch Wilhelm. Wo Hersilie die Verbindung mit Wilhelm versagt bleibt, die mit Felix ihr unmöglich erscheint, wird die Beziehung zwischen Vater und Sohn, deren Charakteristikum ja ebenfalls lange Distanz war und die in nahezu allen ›Novellen‹ der ›Wanderjahre‹ problematisch ist, neu gestiftet. »So standen sie fest umschlungen, wie Kastor und Pollux, Brüder die sich auf dem Wechselwege vom Orkus zum Licht begegnen.«928 Damit aber ist die Krankheit des Königssohns tatsächlich überwunden. Vater und Sohn sind vereinigt, Hersilie bleibt allein. In dieser symbolischen Konfiguration und Lösung des Vater-Sohn-Konflikts, der in fast allen Novellen des Textes wiederholt gespiegelt wird,929 finden die ›Lehrjahre‹ tatsächlich einen Abschluss. Ein Blick auf die weiteren im Roman vorgestellten Liebesbeziehungen lässt im Dreieck Wilhelm – Hersilie – Felix eigentlich eine Person vermissen. Denn oft sind es nicht Dreier, sondern Viererkonstellationen, die vorherrschen. Zu nennen sind hier: Major, Flavio – Hilarie, schöne Witwe; Lucidor, Antonio – Julie, Lucinde; Odoard, Hausfreund – Albertine, Sophronie und nicht zuletzt die Konstellation aus den ›Wahlverwandtschaften‹, einst als Novelleneinlage für die ›Wanderjahre‹ konzipiert. Die fehlende Stelle könnte Natalie besetzen, Wilhelms Verlobte. Wenn das Motiv als Register gleichsam die Bedingungen der Möglichkeit von Liebesbeziehungen im Roman organisiert, so bleibt aber die Liebe des Protagonisten Wilhelm zu Natalie dabei außen vor. Das Kästchen findet in keinem der Briefe an sie Erwähnung. Ist das Kästchen in der Dreiecksbeziehung Wilhelm – Hersilie – Felix Anlass zum Wechsel von Briefen und Geständnissen, so bleibt die Liebe Wilhelms zu Natalie, die einer nicht einholbaren Distanz. Die Passage der ersten Fassung, in der Wilhelm Natalie wenigstens in der Illusion des Fernrohres nah an sich heranholen kann und dabei fast zu Tode stürzt,930 drückte schon das Phantasma einer imaginierten Nähe im 926 927 928 929

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Beide Wj2, S. 742. Alle Wj2, S. 742. Wj2, S. 745. So schreibt Goethe über das Prinzip seiner späten Poetik an Iken am 27. September 1827: »Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.« FA 37, S. 548. Vgl. Wj1, S. 163f.

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technischen Apparat aus. In der zweiten Fassung wird Wilhelm noch dieser Illusion beraubt, die Passage ersatzlos gestrichen. Hersilie und Wilhelm teilen das gleiche Schicksal: Sie müssen der Nähe des Geliebten entsagen.931 Ob sie sich je wieder sehen, bleibt ungewiss. Natalie reist früh mit den ersten Auswanderern ab. Ob Wilhelm und Felix folgen, bleibt ungewiss. Während bei allen Mitgliedern der Turmgesellschaft explizit erwähnt wird, dass sie nach Amerika abreisen, fehlt dieser Hinweis bei Wilhelm. Das Kästchenmotiv stiftet also eine Vielzahl von Bezügen innerhalb des Gesamtwerkes wie der ›Wanderjahre‹. Erinnert es an die Ursprünglichkeit der Poesie im Gesang Mignons, so auch an die Tatsache der medialen Umformung, die aber einzig die Überlieferung sichert. Auch das Italien-Lied ist uns nur durch Wilhelms Aufzeichnung erhalten. »Kästchen und Juwel haben einen emblematischen Bezug zu Gedächtnis und Erinnerung. Das Kästchen assoziiert Gedächtnis als Hort, Schutz, Behälter, das Juwel bezeichnet den kostbaren und versicherungsbedürftigen Inhalt der Erinnerung.«932 Es enthält mit einer Formulierung Hartmut Böhmes »symbolisches Kapital« »als Halt gegen das Verfallen in der Zeit«.933 Das Kästchen aber bleibt verschlossen. Ein Rückgang auf diese Ursprünglichkeit bleibt unmöglich. Auf der Figurenebene ist das Kästchen im Verweis auf Mariane für Wilhelm eine weitere Reminiszenz einer verdrängten Schuld. Mignon und Mariane, beide in den ›Wanderjahren‹ nicht mehr erwähnten Frauengestalten, deren mit Wilhelm verbundenes Schicksal im Tod endet, kehren im Kästchenmotiv zurück. Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn Wilhelm nichts vom Kästchen wissen will. So schnell wie möglich will er es wieder loswerden und doch verfolgt es ihn auf seiner Wanderschaft in den nachgeschickten Briefen Hersilies. Herwig sieht in Wilhelms Ignoranz nichts anderes als das rationale stereotype Geschlechterbild Wilhelms in seiner Rolle als Mann, dem das Wunderliche per se suspekt ist.934 Ist aber Wilhelms Weigerung, Hersilie wiederzusehen nicht als Ausdruck seiner Angst, erneut eine Frauengestalt zu vernichten, zu erklären? In der ›Italienischen Reise‹ findet sich im Kästchen das tote Kind, dessen Beerdigung exakt der Szenerie bei Mignons Totenfeier entspricht.935 931

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Das Personal aus ›Der Mann von funfzig Jahren‹ scheint zunächst das gleiche Schicksal mehr oder weniger freiwillig zu teilen, um dann am Ende aber doch zueinander zu finden. Der Major heiratet die schöne Witwe und Flavio Hilarie. A. Assmann, Erinnerungsräume, S. 121. beide: Hartmut Böhme, Fetisch und Idol. Die Temporalität von Erinnerungsformen in Goethes ›Wilhelm Meister‹, ›Faust‹ und ›Der Sammler und die Seinigen‹. In: Peter Matussek (Hg.), Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 178–201; S. 195. Herwig, Das ewig Männliche, S. 362. Im Dramenfragment ›Der Zauberflöte zweyter Teil‹ steckt ebenfalls ein Kind im Kasten, der in ein unterirdisches Gewölbe versenkt wurde, und entspringt daraus als Genius,

Ich sah ein Kind zu Grabe tragen. Ein rotsammetner, großer, mit Gold breit gestickter Teppich überdeckte eine breite Bahre, darauf stand ein geschnitztes, stark vergoldetes und versilbertes Kästchen, worin das weißgekleidete Todte mit rosenfarbnen Bändern ganz überdeckt lag. Auf den vier Ecken des Kästchens waren vier Engel, ungefähr jeder zwei Fuß hoch, angebracht, welche große Blumenbüschel über das ruhende Kind hielten, und, weil sie unten nur an Drähten befestigt waren, so wie die Bahre sich bewegte, wackelten und mild-belebende Blumengerüche auszustreuen schienen.936

Auch das Kästchen in den ›Wanderjahren‹ »schien von Gold zu sein, mit Schmelz geziert.«937 Blickt der Goldschmied dem symbolischen Tod Marianes und Mignons ins Gesicht, wenn er das Kästchen öffnet und meint, »an solche Geheimnisse sei nicht gut rühren«?938 Wilhelm liefert das Kästchen in I.12 beim Sammler ab, dessen Haus daran erinnert, »daß Vergangenheit auch in Gegenwart übergehen könne«.939 Wilhelm betritt hier aber nicht ein Kunstmuseum, sondern ein Museum der Alltagsdinge.940 Es finden sich u.a. Kaminschirme, Kaminzangen, Stecknadeln, Teekessel. Der Sammler und sein Nachfolger hegen eine »heftige Neigung zu wunderlichen Dingen«.941 Die Dinge fungieren als Stellvertreter derer, die sie hinterlassen haben, und ihre Bedeutung wird gänzlich auf das Ding übertragen. Daraus resultiert die semantische Überhöhung des Fetischs. So sehr das Ding in seiner Stellvertreterposition und Erinnerungsfunktion aber auch affirmiert wird, so steht es zugleich für eine nicht revidierbare Trennung vom eigentlichen Bedeutungsträger. Der Fetisch unterliegt einer paradoxen Struktur, einerseits die Präsenz des Abwesenden zu evozieren, andererseits immer an dessen Abwesenheit zu gemahnen. »Ich habe einen jungen Mann gekannt, der eine Stecknadel dem geliebten Mädchen, Abschied nehmend, entwendete, den

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was mit Hinblick auf Mignon nun wirklich interessant ist. Vgl. FA 6, S. 221–249; insbes. S. 245–249. Neapel 29. Mai 1787: FA Bd. 15.1: Italienische Reise. Teil 1. Hg. von Christoph Michel und Hans Georg Dewitz, Frankfurt/M. 1993, S. 363. Vgl. auch den Eintrag vom 27. Mai 1787, in der Goethe, Hackert und Hamilton in ein »geheimes Kunst- und Gerümpelgewölbe« absteigen lässt und diese hier ganz ähnlich wie Felix auf geheimnisvolle Kästen stoßen. Auf Goethes Frage nach Aufklärung über deren Herkunft, reagiert Hackert ähnlich wie der Goldschmied in den ›Wanderjahren‹: »Er winkte mir dagegen Stillschweigen«, ebd., S. 353. Siehe auch das Venezianische Epigramm »Diese Gondel vergleich’ ich der Wiege, sie schaukelt gefällig,/Und das Kästchen darauf scheint ein geräumiger Sarg./Recht so! Zwischen Sarg und Wiege wir schwanken und schweben,/Auf dem großen Kanal, sorglos durchs Leben dahin.« Goethe, Venezianische Epigramme. In: FA Bd. 1: Gedichte 1756–1799. Hg. von Karl Eibl, Frankfurt/M. 1987, S. 443–477; S. 445. Wj2, S. 302. Wj2, S. 743. Wj2, S. 409. Vgl. Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 2006, S. 360. Wj2, S. 411.

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Busenstreif täglich damit zusteckte, und diesen gehegten und gepflegten Schatz von einer großen, mehrjährigen Fahrt wieder zurückbrachte.«942 Die Nadel steht ein für das Mädchen und das erotische Begehren nach ihr, aber auch für den Abschied und die Nichterfüllbarkeit dieses Begehrens. Nicht zufällig werden beide syntaktisch unmittelbar nebeneinander gestellt. Könnte man sich für die Nadel schon fragen, ob es sich dabei tatsächlich um ein Übergangsobjekt handelt, »um Trennungen zu bewältigen, […] um die Trennung von der Geliebten zu ›überbrücken‹« – von einer Wiederkehr zur einst Geliebten spricht der Sammler ja nicht – so ist das Kästchen in der Tat ein Fetisch ganz anderer Art. Es ist als Ding Erinnerungsträger an die toten Frauen in Wilhelms Leben, an deren Tod er nicht ganz unschuldig ist. Wilhelm will es loswerden. Er will es »nicht gern auf der Reise mit sich herumführen«.943 Und doch kehrt es immer wieder in Hersilies Briefen zu ihm zurück. Für Wilhelm bleibt das Kästchen ein ›Negativfetisch‹. Es erfüllt alle Merkmale des Fetisch und zugleich auch nicht: es ist ein Alltagsding, aber ein wertvolles, es erfährt eine gleichsam magische Bedeutungszuweisung, allerdings ohne dass diese inhaltlich benannt wird, es ist Erinnerungszeichen für Trennungen und Tod, vermag diese aber nicht zu bewältigen. Das Kästchen bleibt besser verschlossen. Wilhelm wird es nicht wieder in die Hand nehmen. Diese Struktur lässt sich auch auf die kulturelle Bedeutungsdimension übertragen. Steht das Kästchen hier in seiner Motivgeschichte für Aufbewahrung und Überlieferung der Tradition im Zeichen fortgeführter Kontinuität des Sammelns, so in seiner Abgeschlossenheit aber auch für den möglichen Abbruch der Tradition, denn »wir stehen mit der Überlieferung beständig im Kampfe«,944 schreibt Goethe in historischem Teil der ›Farbenlehre‹. Der Sammler sichert durch »sorgfältige Magazinierung der Dinge […] das Kontinuum der Zeit«.945 Auch das Kästchen wird nach dessen Tod wieder zurückgegeben, aber die Tradierung erfolgt ohne eine inhaltliche Bestimmung nur auf der Ebene der materiellen Erhaltung. Man könnte geneigt sein, auch die Archivfiktion als ein solches Einhalten gegen den Verfall der Zeit zu interpretieren. Aber der Redakteur ist eben kein Archivar oder literarischer Sammler, dem es vorwiegend um Sicherung der materiellen Bestände geht. Man könnte in ihm eher einen jener ›Dichter-Philologen‹ sehen, die ihre Dokumente einerseits erhalten andererseits narrativ auflösen, um- und überformen. Die ›Wanderjahre‹ als Archivroman stellen, mit Benjamin gesprochen, episches Eingedenken gegen die Fetischisierung der Akten und Dokumente als Erinnerung.

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Wj2, S. 410. Wj2, S. 411. FA 23.1, S. 615. Böhme, Fetischismus, S. 361.

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Ich statuiere keine Erinnerung in eurem Sinne, das ist nur eine unbeholfene Art sich auszudrücken. Was uns irgend Großes, Schönes, Bedeutendes begegnet, muß nicht erst von außen her wieder er-innert, gleichsam er-jagt werden, es muß sich vielmehr gleich vom Anfange her in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein neueres beßres Ich erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und schaffen. Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Beßres erschaffen.946

Man könnte das Kästchenmotiv auch ein blindes Motiv nennen, in dem Bedeutung scheinbar leerläuft.947 Eben darin aber, dass sich die Bedeutung nicht unmittelbar aufschließen lässt und deren Konstitution an den Leser delegiert wird, besteht ein wichtiges Moment des Motivs. Birgit Baldwin sieht im Kästchen das »paradigmatic example« für eine »allegory of reading«.948 In ihrer Lesart wird die Abbildung des Schlüssels zum Symbol für die Grenzen der Sprache, das Kästchen damit zu einem Symbol der Symbole.949 Ich stimme grundsätzlich zu, dass die Mystifizierung des Kästchens und die Valorisierung des Geheimnisses nur vordergründig eine Aufforderung zur Interpretationsverweigerung darstellt, vielmehr aber ein erzähltechnischer Trick ist, den Leser zur Beschäftigung, zur Relektüre des Motivs aufzufordern. Den Schluss, das wiederholte Lesen des Romans wie des Motivs führe letztlich zu keinerlei Bedeutung, sondern verweise nur auf den Prozess des Lesens selbst, aber halte ich für zu verkürzt. Nicht Verweigerung von Sinngebung, sondern deren Multiplizierung ist das Ergebnis einer Lektüre des Kästchenmotivs. Zugleich aber gibt gerade diese Sinnfülle des Symbols der Gehaltsforschung die Möglichkeit, nun auch die Verbindung zwischen all diesen Sphären aufzudecken, zu zeigen wie in diesem Roman in der Tat sämtliche Gebiete, Geologie, Liebesprobleme, Gesellschaftsprobleme, religiöse und pädagogische Probleme usw. miteinander in einer streng gegliederten inneren Beziehung stehen, niemals isoliert erforscht werden können.950

Die Verweigerung der Lösung des Geheimnisses wird zur Metapher der Struktur des Romans, »daß es ein Ende werde, wenigstens daß eine Deutung vorgehe, was damit gemeint sei mit diesem wunderbaren Finden, Wiederfinden, Trennen

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So zu Kanzler Müller im November 1823. FA 37, S. 120f. Wilhelm Emrich (Das Problem der Symbolinterpretation im Hinblick auf Goethes ›Wanderjahre‹. In: DVjs 26 (1952), S. 331–352; S. 352) sieht »äußerste Sinnleere und äußerste Sinnfülle zugleich« als konstitutives Moment des Kästchenmotivs. Birgit Baldwin, ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ as an Allegory of Reading. In: GoetheYearbook: Publications of the Goethe Society of North America 5 (1990), S. 213–232; S. 214. Ganz auf dieser Linie argumentiert auch Salmen, Goethes Entsagungspoetik, S. 169–178. Baldwin, Wilhelm Meister, S. 224. Emrich, Das Problem, S. 348.

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und Vereinigen«.951 Es ist das Instrument, jenes philologische Lesen in Gang zu setzen, das für Schlegel poetische Einheit zu konstituieren vermag, eine Einheit, die aber je wieder zerfällt.952 Was er über ›Faust II‹ an Iken in seinem berühmten Brief vom 27. September 1827 schreibt, gilt auch für das Kästchenmotiv, wie für die ›Wanderjahre‹ insgesamt: Von einer Seite wird dem Philologen nichts Geheimes bleiben, er wird sich vielmehr an dem wiederbelebten Altertum, das er schon kennt, ergötzen; von der andern Seite wird ein Fühlender dasjenige durchdringen, was gemütlich hie und da verdeckt liegt: Eleusis servat quod ostendat revisentibus und es soll mich freuen, wenn diesmal auch das Geheimnisvolle zu öfterer Rückkehr den Freunden Veranlassung gibt.953

Die ›Wanderjahre‹, dafür wurden hier Gründe versammelt, sind der Versuch, die Dichtung zu befähigen, eine Welt zu repräsentieren, von der eine kleine intellektuelle Elite um 1800 glaubte, sie entziehe sich immer weiter poetischer Darstellbarkeit bzw. sie sei mit den etablierten Formen nicht mehr darstellerisch zu erfassen. Dafür greift Goethe auf ein Modell zurück, das, so hatten Wolf, Schlegel und Schubarth gezeigt, selbst Ergebnis der Diagnose eines tiefgreifenden Epochenwandels ist. Es ist eine Eigenart des späten 18. Jahrhunderts die eigene Situation durch historische Analogiebildung zu beschreiben und so geraten die historischen Rekonstruktionen zur griechischen Literatur auch und vor allem zu einem Gegenwartskommentar. Die rhapsodischen Gesänge, dieses Bewusstsein bildet sich um 1800 heraus, sind ihren antiken philologischen Bearbeitern Zeugen einer fast verlorenen poetischen wie sozialen Vergangenheit. Ihre Redaktion und Aufzeichnung sind auch Ergebnis einer kritischen Selbstbeschreibung der Gegenwart des sechsten Jahrhunderts v. Chr. durch die Alexandrinischen Philologen. Damit verbunden war nicht allein der melancholische Versuch, die Vergangenheit festzuhalten und ihrer in den Dokumenten immer wieder neu ansichtig werden zu können, sondern auch die Hoffnung durch die Tradierung der Bestände, die Möglichkeit zur Überwindung der diagnostizierten Krise offenzuhalten. Daher lag es nur nahe, dieser Sammlung und Zusammenstellung eine möglichst kohärente Form zu geben und, wenn nötig, diese fortzusetzen, weiterzuschreiben und solchermaßen deren kollektive Genese zu verdoppeln. Die Homerischen Epen in ihrer vorliegenden Form, das erkennt selbst Hegel an, konnten also nicht mehr archaische Geschichtsschreibung im Sinn von Vergangenheitsrepräsentation sein, sondern waren idealische Projektion dieser 951

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Wj2, S. 658. Salmen (Goethes Entsagungspoetik, S. 171) weist zu Recht darauf hin, dass sich diese Bewegungsfigur im Zentralmotiv ganz konkret im Auseinaderbrechen und Wiedervereinigen des Schlüssels zeigt. Vgl. oben Seite 406f. FA 37, S. 547. Übersetzung des Seneca-Zitats: Eleusis bewahrt, was es erst den Wiederkehrenden zu erkennen gibt.

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Vergangenheit aus dem Bewusstsein einer gegenwärtigen Krisensituation. Die Redaktion einzelner Gesangsfragmente in die totale Form des Epos, so Wolf, folge einem Telos von formaler Einheitlichkeit und Totalität, die die verloren geglaubte harmonische Weltordnung repräsentieren sollte. Die Einheit des Epos entsprang nicht selbst einer unmittelbaren Natürlichkeit, sondern ist der Versuch, diesem Weltverhältnis durch Kunst eine entsprechende Form zu geben. Es ist diese Künstlichkeit, die Goethe schätzt und die ihn sich mit Idee einer redaktionellen Herstellung der Epen anfreunden lässt. Als Kunstwerke, nicht als historische Dokumente, haben die Homerischen Epen für ihn Wert, nicht, weil sie das Ideal einer naiven Welt zeichnen, sondern weil sie es in Form eines ästhetischen Ideals tun. Solcherart sind sie Kunst der Gegenwart und alle historischmythischen Forderungen können gegen den Kunstgenuss zurücktreten, der nun als Schein von Natürlichkeit entgegentritt. Der für dichterische und bildnerische Schöpfungen empfängliche Geist fühlt sich, dem Altertum gegenüber, in den anmutigstideellen Naturzustand versetzt; und noch auf den heutigen Tag haben die Homerischen Gesänge die Kraft, uns wenigstens für Augenblicke von der furchtbaren Last zu befreien, welche die Überlieferung von mehrern tausend Jahren auf uns gewälzt hat.954

Die ›Wanderjahre‹, das hatten bereits die frühen Kritiker erkannt, sind ein Übergangsroman. In allen ›Novellen‹, in der Auswandererthematik, im Verhältnis Wilhelms zu seinem Sohn, überall sind Übergänge, oft als ganz konkrete physische Bewegungen, zu beobachten. »Innerhalb einer Epoche gibt es keinen Standpunkt, eine Epoche zu betrachten«,955 hätte Luhmann sagen können, tat aber Goethe. Die ›Wanderjahre‹ haben diesen Standpunkt eingenommen, der philologische Redakteur montiert die Dokumente dieser Epoche zusammen und zieht damit deren Grenze noch einmal deutlich nach. Indem Goethe die Philologie derart in Haftung nimmt, hinterfragt er auch noch einmal den Differenzierungsprozess, um der damit einhergehenden Marginalisierung der Poesie im System des Wissens einen Entwurf der Literatur entgegenzuhalten, der sie als das grundlegende Medium gesellschaftlicher Beobachtung und Medium der Vermittlung von alter und neuer Zeit wieder einsetzt. Dafür freilich greift er auf die Ergebnisse dieses Prozesses wieder zurück, um die segmentierte Welt beobachtbar zu machen. Goethe ist Realist genug, um einzusehen, dass eine neue Epoche begonnen hatte. Ein Realismus, der sich in der nüchternen Fiktion der Registrierung von

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Wj2, S. 753. Das wird vor allem im ›Laokoon‹-Aufsatz vorgeführt. Schon Herder hatte darin zwei grundlegend verschiedene Modi des Zugangs zum antiken Kunstwerk durch den Künstler einerseits und den Antiquar/Philologen andererseits gesehen. FA 13, S. 213.

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Archivbeständen artikuliert.956 Dies ist aber nur die eine Seite, denn diese Registrierung wird zu einer groß angelegten Inventur und Revision der Möglichkeiten poetischer Ausdrucksweisen. Soziale, politische oder ästhetisch formale Einheit ist in der Moderne nur um den Preis von Entsagung zu haben. Entsagung aber heißt hier, Aufgabe von Individualität zugunsten der (einheitlichen) Kollektive oder eine Existenz jenseits der Gesellschaft (Pilgernde Törin). Zu unterscheiden aber sind: der Roman des Kollektivs und der kollektive Roman. Gegen die plane Welt des ersten finden sich in den ›Wanderjahren‹ Figuren und Motive des poetisch Inkommensurablen. Goethe betreibt keinen antiquarischen Kulturkonservatismus, dem man ihm gerne unterstellt. Seine Apologie der Moderne besteht darin, sich ihrer Pluralität ästhetisch emphatisch zu stellen. Sein Projekt einer Weltliteratur zielt genau auf diesen Punkt, sich der Vielfalt und Produktivität von Dichtung zu vergewissern. Hier fallen die Vorteile des globalen Warenverkehrs mit der Möglichkeit von Weltliteratur zusammen. Doch beide bedürfen der Umschlagplätze, der Messen und Basare, die in ihrem Chaos doch des verborgenen Einheitsprinzips im Tausch nicht ermangeln. Der Roman, wie ihn Goethe mit den ›Wanderjahren‹ vorstellt, ist der ästhetische Basar der Moderne. Die ausgelegten Waren sind Buchstaben. Kein Warenverkehr aber ohne Tauschprinzip: »der Geist ist es, der Verknüpfungen zu entdecken und dadurch Kunstwerke hervorzubringen hat.«957 Goethes letztes Buchprojekt ist ein Fragment auf die Zukunft – »Es ist Zeit, daß der leidenschaftliche Zwiespalt zwischen Klassikern und Romantikern sich endlich versöhne.«958 –: ein romantischer Roman – après la lettre.

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Zu Recht verweist Ehrhard Bahr (Revolutionary Realism in Goethe’s Wanderjahre. In: William J. Lillyman (Hg.), Goethe’s narrative fiction, Berlin 1983, S. 161–175) auf den anti-konservativen Aspekt dieses Realismus. Wj2, S. 558. So Goethe selbst im oben zitierten Brief an Iken vom 27. September 1827, FA 37, S. 547.

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VI. Zusammenschau

Der kurze Blick auf die lange Geschichte des Verhältnisses der Poesie mit ihrer Wissenschaft zu Beginn dieser Studien hat gezeigt, dass bereits in der Antike jener ambivalente Charakter von Intimität und Rivalität die Beziehung bestimmte. Offensichtlich tritt die Philologie immer dann prominent in den Vordergrund, wenn die gesellschaftliche Selbstbeschreibung eine Krisensituation diagnostiziert. Dieses Krisenbewusstsein ist dabei nicht auf einen gesellschaftlichen Teilbereich beschränkt. Einerseits zeigt es sich als umfassende negative Beurteilung der sozialen und politischen Entwicklung andererseits in der kritischen Diagnose eines kulturell-ästhetischen Verfalls. Bereits in der Antike ist damit die Einsicht in einen grundlegenden medialen Wandel der Überlieferungsbedingungen verbunden. Die Poesie als mündliche Tradition gerät in dem Moment unter Legitimationsdruck, wo die gesellschaftliche Kulturkritik die sozialen Bedingungen einer solchen Tradition als verloren oder zumindest gefährdet beschreibt und auf Schriftlichkeit als Speichermedium umstellt. Damit ist aber nicht nur die Frage nach der bloßen Überlieferung und Aufbewahrung eines Traditionszusammenhangs gestellt, sondern auch die nach der Möglichkeit ihrer Fortsetzung. Die Verschaltung von gesellschaftlicher und ästhetischer Krisendiagnose weist dabei noch auf die zentrale Rolle, die dem Ästhetischen im Sozialen zugestanden wird. Scheint sich aber mehr und mehr ein Funktionskonflikt zwischen Poesie (mündliche Tradition) und Philologie (schriftliche Überlieferung) aufzutun, so reagiert die Dichtung selbst schnell auf diesen Konflikt, indem sie versucht, die Inventarisierung der poetischen Bestände zum Ausgangspunkt der Überwindung der Krisendiagnose zu machen. Die Figur des ›Dichter-Philologen‹ steht für dieses Bemühen ein. Ist man verleitet, die Entwicklung des Verhältnisses von Poesie und Philologie als Entmächtigung der Dichtung im System des Wissens zu lesen, so verstellt dies den Blick auf den Zugewinn, der für die Dichtung mit der Entlastung von der höchsten Aufgabe der Kunst als soziale Integrationskraft damit verbunden ist: Autonomisierung und Flexibilisierung ihrer Formen und Gattungen. Wenn auch zentrale Momente des Verhältnisses von Poesie und Philologie in der Antike, dem Humanismus und der Renaissance ausgebildet werden, die in der Aufklärung und der Goethe-Zeit wiederbegegnen, so wird man hier doch, bei aller Anerkennung der Differenzierungsleistungen früherer Epochen, eine qualitative Verschärfung epistemologischer und gesellschaftlicher Ausdifferenzierung nicht abstreiten wollen. Mit der konsequenten Umstellung von einer 445

stratifikatorischen auf eine funktionale Ordnung der Gesellschaft stellen sich die alten Fragen mit einer neuen Brisanz. Die Modernisierungssemantik um 1800 konzeptualisiert die Selbstbeschreibung als fundamentalen Epochenumbruch und es ist müßig, einen rhetorischen Streit um das historische Aptum dieser Beschreibung zu führen. Die Radikalisierung, die über differentielle Codierung – antik/modern, wahr/falsch, schön/hässlich etc. – in die Gegenwartsdiagnose Einzug hält, führt auch zu einer Verschärfung des immer schon problematischen Verhältnisses der Dichtung mit ihrer Wissenschaft, denn mit dem endgültigen Ausschluss jener aus dem System der neuen Wissenschaften und der Verpflichtung der Teilsysteme auf funktionale Leistungen an das Gesamtsystem, kann die Philologie und in ihrem Gefolge die Geschichtswissenschaft für sich die Sicherstellung der kulturellen Überlieferung und damit der Formierung eines Traditionszusammenhangs beanspruchen und sich der Dichtung als historisches Objekt bemächtigen. So einfluss- und folgenreich auch die Ausrichtung als historische Wissenschaft für die Philologie und ihre Institutionalisierung gewesen ist, so kann sie um 1800 aus der Historizität ihrer Gegenstände nur eine schwache Legitimierung ihrer selbst ableiten. Geschichte ist noch kein Eigenwert. Die Geschichtlichkeit ihrer Objekte wird daher zusätzlich mit einem normativen Wert versehen. Gegenstand der Philologie als Wissenschaft ist damit nicht allein ein historischer Bestand von zu bewahrenden und auf Echtheit zu prüfenden Textzeugnissen, sondern der darin vorgeblich kondensierte ›Geist‹ des Altertums. Hier zeigt sich die Bedeutung der Verschaltung von kulturkritischer Gegenwartsdiagnose und emphatischer Modernisierungssemantik: Die Philologie als im Prozess disziplinärer Modernisierung etablierte Wissenschaft kann sich nun anbieten, die parallelen Verluste dieses Prozesses in der Restituierung des normativ positiv besetzten Altertums aufzufangen, was sich in der ubiquitären Betonung des Bildungsbegriffes in den philologischen Selbstverständigungstexten niederschlägt. Die Philologie handelt sich so aber zugleich Probleme ein, die ihre Ausrichtung am System exakter Wissenschaften in Frage stellen. Die Betonung sowohl des Geist- wie des Bildungsbegriffs wirft die Frage nach der Methodik des Zugriffs, der Extrapolation des Geistes aus den Textzeugnissen auf, die mit den im Zuge der Verwissenschaftlichung entwickelten Verfahren der Textkritik kaum mehr zu beantworten ist. So war die Philologie gezwungen, sich auf die Hermeneutik (wieder) einzulassen. Die Ausrichtung der Philologie als historische Wissenschaft einerseits und die Konzeption einer Hermeneutik, die die Sprache als einen sich selbst auslegenden Zusammenhang beschreibt und damit die poetische Sprache gegenüber dem Bildungsanspruch der Philologie wieder aufwertet, andererseits, finden beide ihren Ausgangspunkt in Herders Sprachtheorie, die versucht, die Poesie noch einmal als sinnliche Wissenschaft an dieses System anzubinden, zugleich aber bereits beständig mit zwei gänzlich unterschiedlichen Wissenschaftsbegriffen 446

operiert. Diese resultieren bei Herder aus der Unterscheidung von Begriffssprache und sinnlicher Sprache. Jene vollzieht schon die Differenzierung von Ausdruck und Gedanke, Zeichen und Bezeichnetem, diese sucht hypotypotisch diese Differenz zu überblenden, in der Schrift ihre Schriftlichkeit auszublenden, im Schreiben zu sprechen, im Lesen zu hören vorgibt, um so sich der Ursprünglichkeit im Zeichenverhältnis wieder anzunähern. Die Unmittelbarkeitsmetaphorik aber steht bei Herder bereits deutlich im Bewusstsein der Unhintergehbarkeit medialer Vermittlungen, die selbst immer mit prozessiert werden. Das Konzept einer Volkspoesie, in der Ausdruck und Gedanke sich möglichst unmittelbar zueinander verhalten, ist nicht als tatsächliche Rückkehr zu einer oralen Poesietradition misszuverstehen. Vielmehr geht es Herder darum, Formen zu finden, Mündlichkeit ins Medium der Schriftlichkeit zu transformieren. Hier setzt wieder der Konnex von Philologie und Poesie ein, denn die Medienfiktion historischer Ursprünglichkeit setzt eine Kenntnis dieser Ursprünglichkeit voraus. Die Einsicht in die Historizität aller Sprachen und Poesie und die damit zusammenhängende, unüberbrückbare Differenz zwischen hier und dort, jetzt und früher verbietet Herder eine Imitatio-Poetik des Antiken und Orientalischen. Damit produziert Herder eine Aporie: Wird einerseits das Verstehen der Texte an die historischen Entstehungsbedingungen gebunden, so postuliert er andererseits einen fundamentalen Bruch zwischen Gegenwart und der Vergangenheit der Texte, der einen verstehenden Zugang zu diesen nur schwer denkbar werden lässt. Eingedenk seiner sinnlichen Sprachkonzeption kann die hermeneutische Brücke auch nicht durch die wissenschaftliche Begriffssprache der Philologie gebaut werden, sondern wird an die Poesie selbst zurückdelegiert. Genauer: Es geht Herder um die gegenseitige Öffnung beider Verfahren. Der Dichter wird über die philologischen Studien seine eigene Sprache in der Auseinandersetzung mit dem originären Genie der Alten bilden. Die Darstellung des Genies der Alten als in der Gegenwart wirkende Bildung aber fällt nicht in den Gegenstandsbereich der Philologie, sondern der Dichtung. Die in seinem Werk angelegte Spannung zwischen Historizität und Poetizität sucht Herder im Chiasmus von der ›philologischen Poesie‹ und der ›poetischen Philologie‹ tatsächlich zu durchkreuzen. Herder kommt deswegen eine Schlüsselposition zu, weil er in der Folge sowohl zum Bezugspunkt einer sich streng historisch gebenden Philologie werden konnte als auch für die poeto-philologischen Projekte Arnims und Brentanos. Entscheidend für die jeweilige Ausrichtung bleibt dabei die Auffassung vom ›Geist‹. Während F. A. Wolf und Jacob Grimm von einem unauflöslichen Konnex von historischem ›Geist‹ und seiner medialen Repräsentation in poetischer Form ausgehen, die zwar historisch-philologisch zu rekonstruieren ist, letztlich aber, so J. Grimm, für die Gegenwart keine (produktive) Option mehr darstellt, gehen Ast und Arnim von einem identitätsphilosophisch fixierten Geist-Begriff aus, der sich historisch nur je unterschiedlich realisiert. Diese Ansätze haben das 447

Interesse an der historischen Erkenntnis des Geistes weitgehend aufgegeben, vielmehr geht es ihnen darum, in den Einzelwerken die Idee des Ganzen als Wirken des stets identischen Geistes zu identifizieren. Sieht Ast gerade hierin die Aufgabe der Philologie und ihre bildungspolitische Legitimation, so begreift Arnim darin die Möglichkeit eines historischen Formen- und Stoffeklektizismus, der dazu befähigt, an den Geist produktiv anzuschließen. Während Grimm also sein Vorgehen über die Etablierung eines historischen Eigenwerts seiner Gegenstände zu etablieren sucht, damit aber sie ganz in der Historie belässt und ein musterhaft historistisches Verhältnis zu ihnen aufbaut, so verweigert Arnim zwar nicht die Anerkennung von Geschichtlichkeit, will sich aber durch Anverwandlung der historischen Objekte selbst in die Arbeit des einheitlichen Geistes stellen. Im Wirken dieses als identisch gedachten Geistes, der als kontinuierliche Kraft der Geschichte ihre verlorene Einheit zurückzugeben vermag, findet sich aber zugleich ein wesentliches Moment des Historismus des 19. Jahrhunderts.1 So kommen beide, Grimm und Arnim, bei gleicher kulturkritischer Einschätzung der Gegenwart zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen. Sieht jener die geschichtliche Entwicklung vom historischen Ursprung der Poesie bei gleichzeitig progredierender Entwicklung der Wissenschaft als eine irreversible Abwärtsbewegung, so kann dieser in der Poesie ein Verfahren erblicken, den ›Geist‹ zu sich selbst, d.h. zur Einheit zu führen und damit den diagnostizierten Riss der Gegenwart zu heilen und den Dichter als Messias, die Poesie als Medium und Form dieser Heilung vorzustellen. Bei Arnim und Grimm zeigen sich zwei unterschiedliche Historismus-Konzepte, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zusammenfallen und die konzeptuelle Widersprüchlichkeit des Historismus kennzeichnen. Man glaubt an die Geschichte als sich selbst setzenden Wert und zugleich an den wie auch immer zu sich selbst kommenden Geist der Geschichte der Nation als deren integrative Kraft. Eine andere Perspektive auf das Verhältnis von Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit hat die Wirkung der Schriften Friedrich August Wolfs, insbesondere dessen ›Prolegomena ad Homerum‹ aufgezeigt. Indem er die Textkritik auf ein neues methodisches Niveau hob und die Philologie auf Wissenschaftlichkeit verpflichtete, wandte er sich strikt gegen jede Art poeto-philologischen Umgangs mit Texten. Auf der anderen Seite zeigten seine Arbeiten auf, dass die vorbildliche Einheitlichkeit der griechischen Poesie und die ihr zugrunde liegende Lebenswelt in der Gestalt der überlieferten Werke eine Medienfiktion ist, die sich vornehmlich der philologischen Redaktionstätigkeit nicht der Schöpferkraft eines poetischen Autors schuldet. Damit verknüpft Wolf die Frage von Natur- und Kunstpoesie mit der Frage der Autorschaft. Jene die kollektiven rhapsodischen Gesänge redigierenden Philologen schaffen allererst ein Werk und rücken in die-

1

Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 207–216.

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sem Sinne in den Status des Autors auf. Die Naturpoesie ist Produkt eines kollektiven Entstehungszusammenhangs, sie könnte daher tatsächlich als unmittelbare Repräsentation des Geistes eines Zeitalters angesehen werden, wenn sie nicht immer schon medial gebrochen wäre. Was als Naturpoesie in dem Homerischen Epen erscheint, ist bereits Kunstprodukt. Zugang zu diesem Zeitalter zu erlangen, ermöglicht demnach für Wolf weniger ein hermeneutischer Umgang mit dem vorliegenden Text als die philologische Freilegung der natürlichen Gestalt der Epen, also der größtmöglichsten Revision jeglichen künstlichen Eingriffs. Ein solches Vorgehen aber bedeutet zugleich die Destruktion und Revision der Vorstellung der Form der Einheit der antiken Poesie. Aufgegeben werden muss die (Winckelmannsche) Vorstellung einer harmonischen Entsprechung von innerer und äußerer formaler Einheit. Im Gegenteil, Wolfs Analyse bringt Schlegel dazu, gerade in der fragmentierten formalen Gestalt der Epen, den angemessensten Ausdruck ihrer inneren Einheitlichkeit zu sehen. Um diese innere Einheit der Homerischen Epen aber beschreiben zu können, ihre normative Geltung weiterhin behaupten zu können, weicht auch Wolf auf den Geist des Werkes aus. Dieser ermöglicht die Beibehaltung des Einheitspostulats trotz faktischer Fragmentierung des Textes. Anders als Ast, zielt Wolf mit dem Geist-Begriff nur mittelbar auf eine dem Text immer schon vorgängige Größe. Das Wechselverhältnis von Geist und Buchstabe als Medium-Form-Relation lässt die philologische Durchmusterung des Textes in ihrer Prozessualität als Sichtbarwerden des Geistes beschreibbar machen. Doch ist die Konsequenz seines Ansatzes eine andere: Je näher der Philologe dem Text buchstäblich auf den Leib rückt, je mehr wird eine prästabilierte Harmonie von Ausdruck und Sinn fraglich. Der Einheit versichernde Geist ist gleichsam noch der Versuch einer Reetablierung dieses Verhältnisses, wo die buchstäbliche Materialität der Texte dies nicht mehr zu gewähren vermag. Das Lektüre- und Studiumsprogramm Friedrich Schlegels, das dieser im direkten Bezug auf Wolf entwickelt, greift diesen Aspekt auf, der bei Wolf mehr eine implizite denn offen ausgesprochene Konsequenz ist. Schon die Studien zur antiken Literatur, das wurde gegenüber einer starken Forschungstradition herausgestellt, stellen den Versuch dar, einen Begriff des Klassischen für die Moderne zu gewinnen. Damit weicht Schlegel der bei Herder und noch bei Wolf anzutreffenden Spannung von Historismus und Hermeneutik aus, indem er seine philologischen Schriften konsequent als Folie zur Entwicklung einer Poetik der Moderne einsetzt und damit auch nicht mehr in einer Verlustgeschichte der ästhetischen Moderne verhaftet bleibt, diese vielmehr ins Positive zu wenden sucht. Stärker als Wolf, der ganz auf die klassisch-antike Literatur bezogen bleibt, sucht Schlegel bereits der Antike Züge der Moderne einzuschreiben. Dafür greift er vor allem auf Wolfs Fragmentierung des zuvor als formal geschlossenen gedachten Epos zurück. Schlegel entwickelt eine Theorie innerer poetischer Einheit, bei der die Herstellung eines innerlichen Nexus als Effekt eines (philologischen) Lektürevollzugs von außen gedacht ist. Eine durch Philologie von philologischer 449

Ermächtigung freigestellte Poesie folgt keinem ihr äußerlichen und heteronom bestimmten Einheitsbegriff, sondern in ihrer Fragmentierung kann sie Poetizität als Akt ihrer Autonomie erst voll entfalten. Damit ist auch eine gänzlich veränderte Geist-Konzeption gegeben als etwa bei Schelling, Ast, Arnim und später Hegel. Geist wird nicht als eine im Grunde identische Größe gedacht, die im Laufe geschichtlicher Entwicklung zu sich selbst kommt, sondern ›Geist‹ ist eine Bewegung des produktiven Anschlusses an Texte, die so ›verlebendigt‹ werden. Eine solche Praxis findet er, von Wolf belehrt, im antiken Epos und seiner philologischen Bearbeitung durch Diaskeuasten und Chorizonten wieder. Das Epos kann daher auch nicht auf die Einheitskonzepte der aristotelischen Tradition verpflichtet werden. Indem er den klassizistischen Einheitsbegriff gegen einen progressiven Modernitätsbegriff ausspielt, zielt Schlegel auf einen neuen Begriff des Klassischen im Namen des Romantischen. Das Romantische ist das Klassische unter modernen Bedingungen. Das Romantische fungiert also nicht primär als Gegenbegriff zum Klassischen, sondern vielmehr als Synthesebegriff, der die antithetische Struktur von Antike und Moderne und damit die Quelleres des anciens et des modernes in sich aufheben will. Schlegels berühmte Theorie des romantischen Fragments ruht auf diesen Einsichten auf. Das Fragment als formlose Form provoziert eine produktive Kraft in der Lektüre, die aber eben nicht zu einer stabilen Einheit führt, sondern als ›chaotische Synthesis‹ eine augenblickshafte Einheit des Materials als rekursive Zusammenschau ermöglicht. Mit einer solchen Konzeption gibt Schlegel zugleich die Idee eines monolithisch fixierbaren Sinns auf und formuliert eine Ethik des pluralen Verstehens. Entscheidend ist ihm weniger das richtige, denn das produktive Verstehen. Sein neuer Begriff des Klassischen setzt genau hier an. Klassische Texte sind Texte, an die möglichst produktiv angeschlossen werden kann, die zur wiederholten oder, wie Schlegel sagt, zyklischen Lektüre zwingen und sich in ihrer Inkommensurabilität nicht gänzlich auflösen lassen. Auf eine Formel gebracht: Klassische Texte erfordern klassische Leser. Es ist für das ambivalente Verhältnis von Klassik und Romantik bezeichnend, wenn Schlegel seine Poetik der Moderne nicht nur mit Bezug auf das ›klassische‹ Epos, sondern auch und vor allem auf den ›Klassiker‹ Goethe entwickelt. Goethes Erzählwerk, insbesondere die ›Lehrjahre‹ werden Schlegel zum ersten Anzeichen einer Poesie der Moderne, die den dichotomischen Epochenbruch antik/modern zu überwinden vermag. Der Roman wird Schlegel zur poetischen Form dieser Synthese, die auf ganz andere Weise als die aufklärerische Romantheorie seit Huet, diesen als moderne Form des Epos beschreibt. Schlegel überträgt die philologische Dekonstruktion des klassizistischen Einheitsbegriffs des Epos auf die Form des Romans als Suite von Fragmenten. Hier sahen wir Schlegels Romanpoetik mit der kritischen Beschreibung der Werke Goethes konvergieren und sich gegenseitig begründen. Dabei ist der Autor der ›Lehrjahre‹ für

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Schlegel noch nicht der neue romantische Dichter, sondern vielmehr Ausgangspunkt einer neuen Poesie. Gründet sich die zentrale Stellung Goethes in seiner Zeit auch auf der romantischen Eloge seines Werkes, so lag die Frage nahe, wie sich dieses in der Diskussion um das Verhältnis von Philologie und Poesie positionieren lässt und inwiefern seine poetologische Konzeption dadurch beeinflusst wurde. Bereits die Auseinandersetzung mit Wolfs Thesen zu Homer zeigt bei Goethe ein höchst differenziertes Bild. Grund für diese in der Forschung oft einseitig oder als widersprüchlich angesehene Ambivalenz sind die zwei möglichen Anschlussoptionen, die Wolf anbietet: Erstens, die Infragestellung einer natürlichen, formalen Homogenität der Homerischen Epen. Dies musste für jede klassische Vorstellung einer organischen Einheit der antiken Literatur und Kunst zunächst eine Provokation darstellen. Zweitens, aber konnte Wolfs These von der kollektiven Autorschaft, die bei ihm eng mit der Einheitsthese verknüpft war, durchaus eine positive Seite abgewonnen werden, ermöglichte sie doch, sich selbst in den Kreis der Homeriden einzugliedern. Darüber hinaus bot das Konzept philologischer Herausgeberschaft als Autorschaft die Möglichkeit, sich der verschiedensten literarischen Traditionen und Formen zu bedienen und sich diese produktiv anzueignen. Aus diesem Grund hatte Goethe Arnim und Brentano gegenüber der philologischen Kritik verteidigt. Für ihn bedeuteten, vielleicht eine Ironie der Philologie-Geschichte, die Einsichten Wolfs und Eichhorns vor allem die Ausblendung historisch-geographischer Differenz. Weltliteratur heißt für Goethe, jede literarische Tradition dem produktiven Zugang zu öffnen. Hier endete dann auch bereits die Verteidigung Arnims und Brentanos wieder. Denn mit deren Projekt einer völkisch-nationalen Einheitsstiftung qua Volkspoesie konnte und wollte er nichts anfangen. Wenn Goethe auch über die persönliche Nähe zu Wolf hinaus, aus dessen Thesen Gewinn zieht, so darf dies nicht über eine nie aufgegebene Differenz zu Wolfs methodischer Kritik als wissenschaftliches Verfahren hinwegtäuschen, die sich aus der Weigerung Goethes erklärt, sich dem neu formierenden Wissenschaftsbegriff unterzuordnen. Goethes Ablehnung von Wolfs Methodik der historischen Kritik zeigt sein kulturpolitisches Programm an, das gegen jede historistische Fixierung der Tradition deren poetisches Potential lebendig zu halten sucht. Goethes eigene ›philologische‹ Arbeiten – die historischen Anmerkungen zur ›Farbenlehre‹, zu den Cellini- und Diderot-Übersetzungen sowie vor allem die ›Noten zum Divan‹ – so konnte gezeigt werden, folgen diesem Programm. In den ›Divan‹-Noten wird noch einmal deutlich, dass Goethe sich nicht in einen bloßen Antagonismus zum philologischen Diskurs seiner Zeit stellt, sondern durch dessen Inanspruchnahme vom ›Standpunkte der Poesie‹, wie es dort heißt, diese wieder als Instanz ihrer Selbstbestimmung einsetzt, indem er die Grenzen zwischen philologischem Kommentar und poetischer Darstellung immer wieder verwischt und beide kaum unterscheidbar zu machen sucht. Hier 451

entwickelt Goethe eine Theorie poetischer Prosa, die signifikante Nähe zu den frühromantischen Ansätzen zeigt. Über die Auseinandersetzung mit der orientalischen Poesie erfahren die (poetische) Arabeske und die Gattungsvermischung eine zuvor nicht gekannte Aufwertung. Die Charakterisierung der orientalischen Poesie gerät zur Beschreibung der Poesie der Moderne. Daher spricht sich in der Auseinandersetzung mit dem Orient bei Goethe nicht die um 1800 weitverbreitete Sehnsucht nach eigentlicher Ursprünglichkeit aus. Die orientalische Literatur und ihr ästhetischer Basar als Metapher des globalisierten Warenverkehrs, zu der die Weltliteratur nun auch gehört, steht Goethe für eine selbstbewusste und keineswegs passive Rolle der Literatur in der Gesellschaft ein. Damit gewinnt er auch ein neues Formverständnis für eine solche Literatur. Das Phantasma, die antike Klassizität im eigenen Werk noch einmal wiederbeleben zu können, wenn er diesem überhaupt je nachgehangen hatte, ist im Spätwerk längst geschwunden. Es bleibt zurück jene orientalische und eklektizistische Leichtigkeit poetischer Ausdrucksfreiheit. Die Welt, wie Goethe sie beschreibt, lässt sich nicht mehr mit einem formalen Einheitsprinzip repräsentieren. Der vertrackte und zersplitterte Weltzustand zwingt der Literatur ihre Form auf. Und doch: Damit wird keine nur negative Diagnose getroffen, denn von Wolf und Schlegel hatte Goethe gelernt, dass gerade die Form des Fragments zum synthetisierenden Anschluss und so zur Herstellung einer, wenn auch nur augenblicklichen Einheit beiträgt. Die Philologisierung des eigenen Werkes, so die Quintessenz der ›Noten zum Divan‹, garantiert erst dessen Anschlussfähigkeit, indem sie die Konsistenz der Texte aufbricht und sie von der Last der Tradition freistellt. Die Philologie wird damit in ihrer Methodik und Zielsetzung zur Herstellung eines authentischen, finalen Textes als defizitär dekuvriert: Ihre Inanspruchnahme führt genau zum Gegenteil, der Aufsprengung eines geschlossenen Textkorpus, was nun aber nicht mehr als Defizitmodus gesehen wird. So wird auch das relativ gelassene Verhältnis von Goethe zu Wolfs Thesen erklärbar. Die philologische Destruktion gibt den Blick auf die wahre, innere Einheit und die Möglichkeit zum produktiven Anschluss wieder frei. Gilt aber insbesondere der alte Goethe mit seiner ausufernden Sammel- und Ordnungstätigkeit manchem als Wegbereiter eines ›materialistischen Historismus‹, galt es zu zeigen, dass weder seine Sammelpraxis noch seine Sammelpoetik dazu Anlass geben. Vielmehr wiederholt sich in der Figur des Sammlers, was zuvor vom Philologen gesagt wurde. Vergangenheit, sei es von Texten oder von Dingen, ist nie rubriziert-antiquarische Historie, sondern bedarf der beständigen Überführung in gegenwärtige Kontexte. Wurde in der Diskussion bei Herder, Wolf, Arnim und Grimm immer wieder auf das Spannungsverhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit als zentrales Argument in der Diskussion um die Macht der Poesie verwiesen, so schlägt sich diese Spannung auch auf die novellistische Erzählsammlung Goethes in 452

den ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter‹ als Frage nach den medialen Möglichkeiten des Erzählens durch. Wird hier scheinbar ein zyklisches, orales Erzählen vorgeführt, das eine Restabilisierung eines bedrohten gesellschaftlichen Zustandes bewirken soll, so konnte gezeigt werden, dass diese Fiktion mehrfach gebrochen wird und insbesondere die Figur der Baronesse, der eine solche Position zuzuschreiben ist, narrativ relativiert und ironisiert wird. Hingegen werden unterschiedliche Erzähltraditionen in den Binnenerzählungen durchgespielt und auf ihren funktionalen und ästhetischen Wert hin befragt. Die aus der romanisch-humanistischen Tradition weiterhin mitgeführte Idee einer therapeutischen Wirkung des (mündlichen) Erzählens und deren eigentlicher gattungsspezifischer Ort, das ›Märchen‹, steht aber von der Mündlichkeitsfiktion des Rahmens abgespalten. Der einheitsstiftende und damit versöhnende Akt verlagert sich auf eine stark verdichtete Symbolik, die sich rekursiv über den gesamten Text legt. Das ›Märchen‹ in seiner arabesken Struktur versucht, die beständig unterbrochene Textur der ›Unterhaltungen‹ durch symbolische Überformung und Überdeterminierung zu integrieren und dergestalt die soziale, politische, mediale und ästhetische Zersplitterung zu überwinden. Aber dieser utopische Zug wird ironisiert und seiner Schwere die Leichtigkeit des ästhetischen Spiels im Treiben der Irrlichter gegenübergestellt, die in keiner Weise an den neuen Verhältnissen bürgerlicher Ökonomie verzweifeln, sondern ihrerseits mit dieser ihr ironisches Spiel treiben. Auch die ›Wanderjahre‹ sind dezidiert als Erzählsammlung konzipiert und in der ersten Fassung zugleich deutlich als ›Roman‹ markiert. Diese Verbindung ist keineswegs zufällig, sondern verweist auf Goethes Versuch einer neuen Bestimmung der Gattung als philologisches Kompendium. Wolfs und auch Schlegels Bestimmung des Epos als Zusammenhang von Fragmenten kollektiven Ursprungs und deren philologischer Redaktion koinzidiert mit der Erzählform der ›Wanderjahre‹. Der Bezug auf das Epos macht deutlich, dass Goethe nach einer Form sucht, mit der sich Welt umfassend darstellen lässt. Der Totalitätsanspruch des Epos wird auf den Roman übertragen und über die Kollektivität von Autorschaften begründet. Epische Objektivität ist hier in der Fiktion philologischer Authentizität gegründet. Die poetische Operationsweise des Fragments kann nun zweierlei leisten. Einerseits koinzidiert die Form des Romans mit der Diagnose der Auflösung einer vormals als einheitlich gedachten Gesellschaftsstruktur, andererseits ermöglicht die Form des philologischen Kompendiums sehr wohl die Bildung eines inneren Zusammenhangs scheinbar disparater Materialien. Reflektiert der Roman das Auseinanderbrechen des Zusammenhangs von Erzählen und Wissen als Wechsel von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, so stellt die philologische Poetik ein Modell dar, diese neue Disparatheit als Realismus produktiv zu machen. Damit verweigern sich die ›Wanderjahre‹ einer Rede vom Ende der Kunst in der Moderne. Hegel freilich hatte ein solches nie proklamiert. Er sah das Ende der romantisch höchsten Forderung an 453

die Kunst, gesellschaftliche Integration tatsächlich leisten zu wollen, gekommen. Die ›Wanderjahre‹ als Konglomerat von gesammelten, übersetzten, archivierten und neu arrangierten Dokumenten fiktiver und nicht-fiktiver Herkunft sollen eine umfassende Reflexion auf die Entwicklung der Zeit ermöglichen. Friedmar Apel hat in der Philologie des frühen 19. Jahrhunderts »eine Strategie dieses letzten Identifikationsversuchs«2 mit einer sich mehr und mehr entziehenden Welt gesehen. So richtig diese Einschätzung mit Blick auf Herders, Schlegels und Arnims Philologie ist, so ist doch unübersehbar, dass sich bereits zwischen 1770 und 1832 markante Paradoxien im Verhältnis von Philologie und Poesie auftun, die im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts und der positivistisch-historistischen Philologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur zu einer immer größer werdenden Kluft zwischen Literatur und Philologie führen, die Nietzsche anprangert und in seinem Werk nochmals zu überbrücken sucht, sondern auch zu einer Restringierung auf strikt historische Gegenstände innerhalb der Philologie. Der produktive Eklektizismus im Weltliteraturkonzept Goethes, das sich aus seiner Auseinandersetzung mit der Philologie seiner Zeit heraus entwickelt, mündet ein in den leeren Eklektizismus des Historismus, der das Fremde nur unter die Fahne des Nationalen zu stellen sucht und gegen dessen hohle Bildungsbürgerverse der sich als letzte Standarte der Poesie begreifende George-Kreis sich so wehrt.3 Die Philologie hat der Literatur nicht mehr viel zu sagen und diese schert sich immer weniger um deren Analysen. Dieser Vorwurf trifft nicht nur eine auf Text- und Editionsprobleme fixierte Philologie, sondern ebenfalls die interpretierende Literaturwissenschaft, deren Arbeit den Literaten nur mehr Ärgernis ist. Bis in die Gegenwart hinein aber hält die Philologie an ihrer Bildungs- und Kulturhoheit fest und bedient sich dieser Rhetorik besonders in Zeiten der (finanziellen) Infragestellung ihres institutionellen Status. Dies ist aber nur eine andere Variante der Figur, die bereits in der Antike begegnete. Die Kulturkritik der Philologen und die (Herauf-)Beschwörung von Krisenzeiten sind Anzeichen ihrer gesellschaftlichen Isolierung. Der Versuch des Ausbruchs aus dem Vogelkäfig der Philologen erfolgt als Ermächtigungsakt über die Literatur, die sich angeblich nur noch mit Hilfe der Philologen erhalten kann, denn »wir Philologen verfügen allein darüber: wir müssen das Unsere tun als Deutsche. Die Leute wollen von uns ja wenig wissen«, schreibt Wilamowitz 1891 und insistiert, dass doch »nur der Philologe übersetzen kann«.4 Ein melancholischer Ton ist vielen Autoren der Goethe-Zeit gewiss nicht fremd, doch verpflichten Herder, Arnim, Schlegel und Goethe die Philologie auf

2 3 4

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Apel, Sprachbewegung, S. 152. Apel, Sprachbewegung, S. 197ff. Vgl. auch Rainer Kolk, George-Kreis und zeitgenössische Germanistik 1910–1930. In: George-Jahrbuch 1 (1996/97), S. 107–125. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Was ist übersetzen? In: ders., Reden und Vorträge. Bd. 1, Berlin 21902, S. 1–26; S. 2; S. 5.

ein erotisches, nicht gewaltsames Verhältnis zu ihrem Gegenstand, der Poesie. Einer solchen Philologie – sie wird sich ihrer Gelehrsamkeit dafür nicht erbrechen müssen – wird die Poesie ihre Zuneigung gewiss nicht verweigern. Bleibt dem philologischen Autor am Ende nur die kritische Maske abzustreifen und sich endlich als sein Dichter zu phantasieren, gleiche Aufnahme für sein Werk hoffend wie dieser. Goethe an Sulpiz Boisserée. 2. September 1829: Dem einsichtigen Leser bleibt Ernst und Sorgfalt nicht verborgen, womit ich diesen zweyten Versuch, so disparate Elemente zu vereinigen, angefaßt und durchgeführt, und ich muß mich glücklich schätzen wenn Ihnen ein so bedenkliches Unternehmen einigermaßen gelungen erscheint. Es ist wohl keine Frage daß man das Werk noch reicher ausstatten, lakonisch behandelte Stellen ausführlicher hätte hervorheben können, allein man muß zu endigen wissen; [...] An Stoff und Gehalt fehlt es nicht, und ich kann froh sein.5

5

WA IV 46, S. 66.

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Register

Addison, Joseph 237f., 268 Adorno, Theodor W. 329 Apel, Friedmar 240, 454 Aristarch 112 Aristoteles 35, 39, 42, 68, 70, 108, 126f., 213, 330, 341, 351, 354, 393 Arnim, Ludwig Achim v. 6, 8, 10f., 32, 73, 75, 84, 93, 98, 104, 106f., 123, 167– 206, 223, 346, 350, 372, 447f., 450– 452, 454 Assmann, Aleida 427 Ast, Friedrich 6, 65, 73, 78f., 83f., 98– 100, 168, 447–450 Aubignac, Abbé de 105 Azzouni, Safia 399–402, 418 Bahr, Ehrhard 309 Baldwin, Birgit 441 Barby, Heinrich Christian 63 Barby, J.H.C. 81, 298, 312–314, 336–338 Barthes, Roland 142, 146 Baumgarten, Alexander Gottlieb 33, 90 Baumgarten, Sigmund Jacob 70 Böckh, August 84 Behler, Ernst 118, 120, 136 Benjamin, Walter 119, 158, 293, 300, 393, 419–422, 440 Bertuch, Friedrich Justin 242f., 247, 259, 263f. Birus, Hendrik 310, 319, 337 Blackwell, Thomas 105 Blanckenburg, Christian Friedrich von 274f., 277, 344, 351, 353, 393 Bluhm, Lothar 167 Blumenberg, Hans 70, 211f., 215, 365, 385 Boccaccio 245, 249, 285, 356 Bodmer, Johann Jacob 275f., 278, 336, 368 Boeckh, August 63, 65 Bolz, Norbert 142

Bosse, Heinrich 114 Breitenbauch, Georg August von 94 Breitenbauchs 94 Breitinger, Johann Jacob 89f., 274–278, 336, 368 Brentano, Clemens 8, 10, 73, 84, 93, 98, 104, 107, 167, 169, 172, 189, 190, 192– 195, 197, 199f., 203, 204, 206, 350, 372, 447, 451 Broch, Hemann 395 Broch, Hermann 381, 400, 419 Böttiger, Carl August 103 Buttmann, Philipp 61 Capella, Martianus 1, 259 Cardonne, Dennis Dominique 296 Cervantes Saavedra, Miguel de 355, 356, 366, 421 Chabert, Thomas von 295–298 Chladenius, Johann Martin 27, 64, 71 Coleridge, Samuel Taylor 328 Cotta, Johann Friedrich 255, 263f., 284, 308, 370, 391 Curtius, Ernst Robert 225 Dante, Alighieri, 356 de Man, Paul 119 de Sacy, Antoine Isaac Silvestre 337 Diderot, Denis 355 Diez, Heinrich Friedrich von 294–300, 317 Dilthey, Wilhelm 78f. Du Perron, Anquetil 337 Egloffstein, Julie von 389f. Eichhorn, Johann Gottfried 10, 102f., 115, 204, 206, 212, 223, 294, 297, 302, 326, 336, 451 Eichner, Hans 356, 362 Engel, Johann Jacob 233

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Engel, Manfred 278 Eratosthenes 42 Esenbeck, Christian Gottfried Daniel Nees von 401 Fabricius, Johann Andreas 56f., 62 Fernow, Carl Ludwig 375 Fichte, Johann Gottlieb 140f., 265 Fink, Gonthier-Louis 399f. Fischer-Lichte, Erika 226 Flaxmann, John 374 Foucault, Michel 1, 5 Fulda, Daniel 10, 74 Gadamer, Hans-Georg 8, 79, 161, 328 Galland, Antoine 261 Gatterer, Johann Christoph 69, 70, 72 Goethe, Johann Wolfgang 4, 6, 9–11, 32, 34f., 60, 75, 80–84, 93, 98, 101, 103, 114, 117, 154, 156–158, 160, 180, 196, 203–271, 274, 277–339, 344–350, 355, 357, 360–366, 370, 372–374, 378–396, 399–408, 414–429, 433, 437, 439–444, 450–454 Görres, Joseph von 145, 193 Göttling, Carl Wilhelm 392 Gottsched, Johann Christoph 34, 275f., 352–354, 368 Griffth, Richard 390 Grimm, Jacob 8, 73, 123, 169f., 173f., 178, 186–206, 244, 332, 447 Grimm, Wilhelm 187, 190, 195, 199 Grotefend, Georg Friedrich 337 Grüner, Joseph Sebastian 225 Gumbrecht, Hans Ulrich 3f., 66 Habermas, Jürgen 30 Hamann, Johann Georg 5, 146 Hammer, Joseph von 294–298, 309, 317, 320, 323–326, 336 Hand, Ferdinand Gotthelf 297 Harris, James 354 Hauff, Carl Viktor 42, 44f. Heeren, Arnold Hermann Ludwig 103 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 63, 120, 329, 354, 383f., 393, 396, 398f., 405, 408, 442, 450, 453 Heidrich, Benjamin 182 Heine, Heinrich 428

488

Herder, Johann Gottfried 6f., 72, 80, 84, 86–101, 104, 107, 117, 120, 123, 136, 138, 151, 154, 156, 169, 172, 182– 186, 194, 196, 199, 201f., 205, 210, 216, 292f., 357–360, 372, 376, 378, 393, 423, 443, 447, 449, 452, 454 Herodot 40f. Herwig, Henriette 429, 438 Hesiod 38, 179, 182 Heyne, Christian Gottlob 57, 61, 65, 104, 155, 162, 238 Hirt, Aloys Ludwig 207 Hobbes, Thomas 248 Hofmann, Caspar 54 Homer 38, 59, 74, 82, 101, 103, 106f., 109, 112f., 115, 117, 125, 130, 209, 322f., 325, 331, 335, 346, 353, 387f., 398, 405f., 408, 451 Hotho, Heinrich Gustav 382–384, 396 Hoven, Friedrich Wilhelm David Daniel 263 Huet, Pierre-Daniel 351–353, 450 Hülsen, August Ludwig 136 Humboldt, Wilhelm von 5, 72, 117, 122, 140, 156, 165, 184, 208, 230, 317, 330– 332, 350, 360, 379 Iken, Carl Jacob Ludwig 437, 442, 444 Jablonski, Paul Ernst 182f. Jagemann, Christian Johann 316 Jauß, Hans Robert 118 Jones, William 294, 299 Kallimachos 42 Kant, Immanuel 24, 33, 125, 140, 146, 159, 182, 274, 278–280, 330 Kauffmann, Kai 258 Keferstein, Philip Sebastian Ludwig 287 Kittler, Wolf 431 Kleist, Heinrich von 317 Klopstock, Friedrich Gottlieb 76, 94 Klotz, Volker 244f. Knebel, Carl Ludwig von 389 Koch, Erduin Julius 60 Koch, Manfred 244 Kolk, Rainer 167 Koöenina, Alexander 5 Koopmann, Helmut 256, 366f., 385f.

Körner, Christian Gottfried 379 Kosegarten, Johann Gottfried Ludwig 294, 315, 320 Koselleck, Reinhart 9, 14, 410 Lachmann, Carl 10, 114, 211 Leibnitz, Gottfried Wilhelm 152 Lessing, Gotthold Ephraim 6, 32, 62, 114, 134f., 153, 234, 377 Locke, John 248 Lorsbach, Georg Wilhelm 294, 297 Luhmann, Niklas 12–15, 18–27, 30, 33, 131, 139, 140f., 171, 197, 250f., 443 Lukács, Georg 322, 354, 366f. Luther, Martin 300, 302f. Mahlmann, Siegfried Julius 134 Markner, Reinhard 128 Martens, Wolfgang 267, 272 Martus, Steffen 11, 382, 399 Marx, Karl 420 Meier, Georg Friedrich 247, 312 Meinecke, Friedrich 9 Mendelssohn, Moses 59, 69f. Metternich, Klemens Wenzel Lothar Graf von 120 Meyer, Georg Friedrich 67 Meyer, Heinrich 216f., 230, 297, 357, 397 Michaelis, Christian Friedrich 105 Michaelis, Johann David 183, 294 Mommsen, Katharina 46, 271, 295, 298 Moritz, Karl Philipp 154, 279 Möser, Justus 414 Most, Glenn 10, 162f. Müller, Friedrich Theodor Adam Heinrich von 228, 232, 307, 441 Müllner, Adolf 305f. Mundt, Theodor 382, 384 Neuhaus, Volker 401 Nicolai, Friedrich 77f. Niebuhr, Barthold Georg 346 Nietzsche, Friedrich 9, 75, 81, 186, 207– 211, 454 Novalis 32, 139, 148, 154, 156, 186, 349, 355, 363 Oesterle, Günter 278, 283, 353, 355, 374f. Opitz, Martin 152

Ott, Claudia 260 Paul, Jean 268, 291, 333, 348f., 355, 385 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 294 Peisistratos 108 Perthes, Friedrich Christoph 401 Petrarca, Francesco 356 Pfeiffer, Rudolf 40–42, 106 Philetas von Kos 42, 106 Platon 364, 367 Plumpe, Gerhard 31–33 Plutarch 181 Pomian, Krzysztof 231 Pope, Alexander 238 Prüfer, Thomas 74 Pustkuchen-Glanzow, Friedrich Wilhelm 382 Rabener, Gottlieb Wilhelm 6 Rambach, Johann Jacob 113 Ranke, Leopold v. 9 Rask, Rasmus 189 Reichhardt, Johann Friedrich 169 Reinfand, Christoph 15, 20, 32 Reinhold, Carl Leonhard 180, 183 Riemer, Friedrich Wilhelm 82, 212, 271, 297, 387f. Rochlitz, Johann Friedrich 317f., 401 Rousseau, Jean-Jacques 248 Sacy, Antoine Issac Silvestre de 294 Sartorius, Georg Friedrich Christoph 427 Savigny, Friedrich Carl von 187, 191 Scharloth, Joachim 69 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 83, 140, 156, 403, 407, 450 Schiller, Friedrich 32, 72, 117, 122, 125, 156, 160, 180f., 183, 196, 205, 207, 213, 232, 244–246, 249, 252–268, 271, 279, 281, 291, 305, 310f., 319, 330, 332, 339, 349, 351, 357f., 386, 390, 394, 396, 402, 404 Schlaffer, Hannelore 383 Schlaffer, Heinz 38–40, 43, 45, 60, 150, 179 Schlegel, August Wilhelm 5, 121f., 148, 154, 374, 377 Schlegel, Friedrich 6–8, 32, 80, 87, 91, 97, 116–165, 175, 210, 215, 256, 292f.,

489

310, 318, 322f., 332, 335, 347, 349f., 352–386, 393, 399, 403, 405, 418, 423f., 442, 449, 450–452, 454 Schleiermacher, Friedrich 21, 65, 78f., 116, 138, 140, 161, 164, 250, 299, 312f. Schlözer, August Ludwig von 58 Schmidt, Jakob Friedrich 94 Schmidt, Sebastian 302 Schmidt, Siegfried J. 31–33 Scholz, Susanne 238 Schubarth, Carl Ernst 387, 393f., 421 Schultz, Christoph Ludwig Friedrich 387f. Schütz, Friedrich Karl Julius 382, 384 Schwaben, Johann Joachim 182 Semler, Johann Salomo 102, 327, 337f. Seneca 42, 44, 442 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 148 Shakespeare, William 124, 196, 323, 348f., 355, 356, 359f., 435 Spenser, Edmund 428 Steinfeld, Thomas 2, 4, 223 Sterne, Laurence 268, 355 Stosch, Philipp von 236 Sulzer, Johann Georg 55–58 Süßmilch, Johann Peter 201 Swift, Jonathan 355 Szondi, Peter 3, 21, 66f., 89, 98f., 120, 123, 138, 162 Tieck, Ludwig 8, 84, 107, 269, 349, 366 Trembley, Abraham 128 Trunz, Erich 327, 413, 426 Vaget, Rudolf 316 van der Hooght, Everardus 302

490

Vierhaus, Rudolf 9 Vischer, Friedrich Theodor 385 von der Hagen, Friedrich Heinrich 73 Voß, Johann Heinrich 154, 170, 193, 204, 227, 261f., 300 Voßkamp, Wilhelm 233 Wagner, Richard 211 Weidmann, Christian Friedrich 268 Werber, Niels 31f. Wezel, Johann Carl 354, 384, 393 Wieland, Christoph Martin 4, 6, 81, 180, 254f., 264, 283–286, 288–291, 299, 344, 366, 400, 421 Winckelmann, Johann Joachim 62, 99, 120, 154, 162f., 216–218, 240, 357, 361, 376 Wolf, Caspar Friedrich 404 Wolff, Christian 80 Wolf, Friedrich August 6f., 10, 41, 56f., 60–84, 101–137, 140, 150, 154f., 162, 165, 173, 192, 199, 204–220, 223, 244, 293, 311–313, 325, 328, 330–332, 346, 350, 354, 367, 371, 377, 380, 382, 384– 389, 390, 392–394, 396, 398f., 403– 408, 417f., 421f., 442f., 447–453 Woltmann, Carl Ludwig 318 Wood, Robert 104 Wyss, Ulrich 167 Zauper, Joseph Stanislaus 400 Zelle, Carsten 126 Zelter, Carl Friedrich 239, 307, 311, 387f., 406 Zesen, Philip von 6