Philologie der Poesie: Von Goethe bis Peter Szondi 9783050093871, 9783050058368

Literary scholars and poets are like intimate strangers. They owe their closeness to literature and their alienation to

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German Pages 165 [166] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Einleitung
1 Wilhelm von Humboldt 1798. Zu Goethes ›Herrmann und Dorothea‹ und der Problematik einer dichterischen Aktualität
Die Gattung angesichts des Bildungsprogramms
Humboldts ›Über Göthe’s Herrmann und Dorothea‹
Aktualisierung Kants
Die bürgerliche ›Natur‹
Eine ungebärdige literarische Technik?
Sprachpraxis
Zur ästhetischen Kritik
Leitbegriffe der Philologie als Institution
Übergänge
2 Sprachdenken. Schillers Elegie ›Der Spaziergang‹ nach Wilhelm von Humboldt
Philosophie und Lesepraxis
Gedanken und Geschwindigkeit
Sprache in Dynamik
Kunsttheoretischer Sinn
Hermeneutik der Literatur
3 Grenzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate ›Zur Philologie‹ als Form des Romans ›Lucinde‹
Wiegebewegung
Begriffsarbeit in den Notaten ›Zur Philologie‹
Wissenschaftlich vs. kunstmäßig
Absolute Philologie als Kontrolle des Absoluten
Annihilierte Werke von Goethe, Platon und Lessing
Die Hauptsache: Cyklisation
Philologische Methoden im Zeichen literarischer Gattungen
Der Roman ›Lucinde‹ als Modell einer progressiven Philologie
Philologie der Gattungen der Liebe
›Lehrjahre der Männlichkeit‹
Reflexion der Produktivität in der Allegorie
Perspektiven oder: Wann endet eine Interpretation?
4 Wissensvorstellungen in Goethes ›Faust II‹
Zur klassischen und späten Ästhetik Goethes
Forschungskritik oder Das Partikulare
Die Klugheit des Werkes und wie es seinen Gelehrten ergeht
Wissenskontroversen werden ästhetisch (und nicht ohne äußere Willkür) entschieden
Kommentare zum Schaffensprozeß
5 Epenzwang. Philologische Argumente am Beispiel des ›Kalevala‹
Ästhetik des Heroismus
Antike/Moderne
Hysteresis
Vier Argumente
Zur Machart des ›Kalevala‹
Interpretationskonflikte/Sinn
6 Vom Stillstellen der Traditionen. Hofmannsthals Begriff der ›Cultur‹ im Blick auf Goethe und die Universität
Das ›System Hofmannsthal‹
Historismus
Goethes Norm
Kompromisse mit der Universität
7 Positionen auf dem Weg zu einer kritischen Hermeneutik
Subjektivität nach Schleiermacher
Zur Tiefenhermeneutik Gadamers
Szondis experimentelle Auslegung Schleiermachers
Bollack und die insistierende Lektüre
8 Peter Szondis Ethik des wissenschaftlichen Essays
Subjektivität
Außerhalb der Institution
Das literarische Selbst
Hermeneutik und wissenschaftlicher Essay
Polemik
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Personenregister
Publikationsnachweise
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Philologie der Poesie: Von Goethe bis Peter Szondi
 9783050093871, 9783050058368

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Christoph König Philologie der Poesie Von Goethe bis Peter Szondi

Christoph König

Philologie der Poesie Von Goethe bis Peter Szondi

ISBN 978-3-05-005836-8 e-ISBN (PDF) 978-3-05-009387-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038031-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Unternehmen von De Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelabbildung: Aus Friedrich Schlegels Notaten ›Zur Philologie‹; Quelle: Stadtbibliothek/Stadtarchiv Trier; Foto: Anja Runkel; Signatur: Hs 2506 4° folio 1–3. Satz: SatzBild, Sabine Taube Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorbemerkung   VII Einleitung   IX 1 Wilhelm von Humboldt 1798. Zu Goethes ›Herrmann und Dorothea‹ und der Problematik einer dichterischen Aktualität   1 Die Gattung angesichts des Bildungsprogramms   2 Humboldts ›Über Göthe’s Herrmann und Dorothea‹   5 Aktualisierung Kants   8 Die bürgerliche ›Natur‹   10 Eine ungebärdige literarische Technik?   12 Sprachpraxis   15 Zur ästhetischen Kritik   18 Leitbegriffe der Philologie als Institution   19 Übergänge   22 2 Sprachdenken. Schillers Elegie ›Der Spaziergang‹ nach Wilhelm von Humboldt   24 Philosophie und Lesepraxis   25 Gedanken und Geschwindigkeit   27 Sprache in Dynamik   29 Kunsttheoretischer Sinn   32 Hermeneutik der Literatur   34 3 Grenzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate ›Zur Philologie‹ als Form des Romans ›Lucinde‹   36 Wiegebewegung   38 Begriffsarbeit in den Notaten ›Zur Philologie‹   39 Wissenschaftlich vs. kunstmäßig   40 Absolute Philologie als Kontrolle des Absoluten   43 Annihilierte Werke von Goethe, Platon und Lessing   44 Die Hauptsache: Cyklisation   45 Philologische Methoden im Zeichen literarischer Gattungen   47 Der Roman ›Lucinde‹ als Modell einer progressiven Philologie   48 Philologie der Gattungen der Liebe   50 ›Lehrjahre der Männlichkeit‹   51 Reflexion der Produktivität in der Allegorie   53 Perspektiven oder: Wann endet eine Interpretation?   53  56 4 Wissensvorstellungen in Goethes ›Faust II‹  Zur klassischen und späten Ästhetik Goethes 

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VI 

 Inhalt

Forschungskritik oder Das Partikulare   59 Die Klugheit des Werkes und wie es seinen Gelehrten ergeht   62 Wissenskontroversen werden ästhetisch (und nicht ohne äußere Willkür) entschieden   64 Kommentare zum Schaffensprozeß   68 5 Epenzwang. Philologische Argumente am Beispiel des ›Kalevala‹  Ästhetik des Heroismus   71 Antike/Moderne   72 Hysteresis   73 Vier Argumente   75 Zur Machart des ›Kalevala‹   76 Interpretationskonflikte/Sinn   78 6 Vom Stillstellen der Traditionen. Hofmannsthals Begriff der ›Cultur‹ im Blick auf Goethe und die Universität   81 Das ›System Hofmannsthal‹   82 Historismus   86 Goethes Norm   88 Kompromisse mit der Universität   91  95 7 Positionen auf dem Weg zu einer kritischen Hermeneutik  Subjektivität nach Schleiermacher   95 Zur Tiefenhermeneutik Gadamers   98 Szondis experimentelle Auslegung Schleiermachers   99 Bollack und die insistierende Lektüre   100 8 Peter Szondis Ethik des wissenschaftlichen Essays  Subjektivität   103 Außerhalb der Institution   104 Das literarische Selbst   106 Hermeneutik und wissenschaftlicher Essay  Polemik   111  113 Anmerkungen  Literaturverzeichnis   133 Personenregister   149 Publikationsnachweise   153

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Vorbemerkung Dieses Buch verdankt sich einem Gedanken meines Freundes James Conant: Nach der Lektüre einiger der hier versammelten Aufsätze aus den Jahren 1999 bis 2013 wies er auf ihre innere Einheit hin und riet, sie zusammen zu veröffentlichen. Tatsächlich reflektieren die einzelnen Kapitel einen Gedanken, den ich seit langem verfolge. Die Zahl der Gedanken, die ein Forscher mit Leidenschaft und Hartnäckigkeit verfolgt, ist naturgemäß begrenzt. Die Frage, auf welcher Notwendigkeit die Verständigung und das Verstehen zwischen Dichtern und ihren Interpreten beruhen, gehört in dieser Hinsicht in das Zentrum meiner Arbeit. Andere Gedanken und Fragen folgen daraus, darunter die Überlegung, in der historischen Entwicklung dieser Notwendigkeit eine systematische Zeit zu erkennen, also eine Geschichte von Positionen, die, einmal gewonnen, unhintergehbar sind. Mit meiner Studie über ›Hofmannsthal‹ (2001) und über dessen Projekt, mit philologischen Mitteln ein Kulturdichter zu werden, habe ich Möglichkeiten analysiert, das Verhältnis von Poesie und Philologie in der Moderne zu aktualisieren. Der Aspekt ästhetischer Erkenntnis grundiert dabei das Interesse für die Frage, wie sich ein Autor bei den Seinen durchsetzen kann. Die HofmannsthalStudie war in jenes wissenschaftshistorische Interesse eingebettet, das ich zuvor und auch seither – ebenso verstreut wie systematisch – verfolgt habe. Daher rührt die Einheit der Aufsätze, die mir erst gestattet, diese Publikation vorzulegen.

Einleitung Die Nähe von Poesie und Philologie beruht auf einem Erkenntnisinteresse, das im Laufe der Geschichte unterschiedliche Formen angenommen hat. In beiden Welten, der dichterischen wie der wissenschaftlichen, besteht das Erkenntnisinteresse in dem Verlangen, eine schwierige schriftliche Äußerung zu verstehen. Auf der Seite der Poesie wirkt sich das Verlangen auf das Produzieren selbst aus: Das Werk kommt durch Entscheidungen zustande, die ein Verständnis des bisher Geschriebenen und einen auf die Zukunft gerichteten Kompositionswillen voraussetzen. Das reale Verständnis und das imaginäre Verständnis sind Teil der Entscheidungen, die im Schaffensprozeß fallen. Gemeinsam prägen sie eine ästhetische Rationalität aus, der sich der Philologe zuwendet, um dem Werk eine Stimme zu geben. Das Werk erhält – sofern man dessen ästhetische Rationalität zu würdigen in der Lage ist – die Gelegenheit, sich selbst auszulegen. Der Grundsatz der protestantischen Exegese ›scriptura sui ipsius interpres‹ formuliert diese Erkenntnis, freilich mit theologischen Voraussetzungen, die die Philologie nicht teilen kann. Die philologische Vernunft untersteht ihrerseits dem Wissen­schaftsimperativ und damit einer anderen Rationalität als das literarische Werk. Der Philologe nähert sich der Literatur mit der Vorgabe, das eigene Verständnis am Leitfaden der ästhetischen Rationalität so auszudrücken, daß eine Debatte über seine Einsichten und sein Verständnis möglich ist. Auch das Erkenntnisinteresse des Philologen gilt einer schriftlichen Äußerung; es beruht auf der Reflexivität des Werks, doch ist die Form des philologischen Erkenntnisinteresses – anders als die Form der Selbstauslegung der Literatur – diskursiv. Die Nähe von Poesie und Philologie fördert also einen Zwang zutage, der paradoxerweise zugleich das Verständnis ermöglicht und eine Entfremdung bedeutet. Die Trennung der Welten manifestiert sich in der deutschen Literatur- und Wissenschaftsgeschichte institutionell. Die institutionelle Trennung von Poesie (das Wort im Sinn aller literarischen Gattungen gebraucht) und Philologie ist älteren Ursprungs als die Gründung der philologischen Disziplinen um 1800, denn schon die Akademien unterscheiden und trennen sich in Deutschland – anders als etwa in Frankreich – nach Wissenschaftsakademien und Akademien der Künste. Die Literatur kam erstmals zu ausdrücklichen akademischen Ehren in der Preußischen Akademie der Künste als eine eigene ›Sektion für Dichtkunst‹ im Jahr 1926, und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt etablierte sich 1949 als eine eigene, freie Einrichtung, in der literatur- oder kulturaffine Professoren neben den Dichtern Mitglieder werden konnten. Die 1700 mit Leibniz als erstem Präsidenten gegründete Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften hatte mit den Künsten und der Literatur nichts zu tun. Deutlich wird an diesen Exempeln, daß die paradoxe fremde Nähe nicht nur eine prinzipielle Ausprägung erhält, sondern auch eine sich wandelnde historische Gestalt annimmt, je nachdem welche institutionellen Verhältnisse Poesie und Philologie zueinander ausbilden. Die Wissenschaftsgeschichte der philo-

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 Einleitung

logischen Disziplinen muß dieser Trennung eine höhere Bedeutung einräumen, als sie das bislang tut. Der Genitiv im Titel dieses Buchs ›Philologie der Poesie‹ kehrt das für gewöhnlich angenommene Verhältnis um, ohne indes an die Stelle der alten Hierarchie eine neue zu setzen. Gegenüber der Überlegenheit der Poesie läßt sich die philologische Praxis verteidigen, da sie sich zugleich als eine in der Poesie wirkende, auf sie einwirkende Kraft erweist. Im Zusammenspiel von subjektivem und objektivem Genitiv läßt sich das Verhältnis begreifen. Der subjektive Genitiv anerkennt die Philologie der Poesie als Teil der poetischen Kreativität – der objektive Genitiv drückt den Gedanken aus, daß die Poesie der genuine Gegenstand der Philologie ist. So hat der objektive Genitiv die im subjektiven Genitiv dargestellten Verhältnisse zur Bedingung. Mein Buch setzt also den Akzent nicht auf eine Poesie der Philologie, d. h. auf den Gedanken, daß die Philologie poetisch werden müsse, um ihre Aufgaben zu lösen. Das herkömmliche und auch das dekonstruktive Verständnis des Literarischen stellen sich einem solchen Akzent entgegen. Doch erst wenn die Frage lautet, wie eine Philologie beschaffen sein müsse, um in ihrem Feld der Strenge der Poesie gerecht zu werden, gewinnt sie den Maßstab, um der philologischen Praxis der Poesie gerecht zu werden. Sie kann ihr durch eine entsprechende Auffassung des Verstehens gerecht werden. Damit ist der Gedankengang meines Buchs umrissen. Ich beginne mit einem Doppelporträt, in dem Wilhelm von Humboldt einmal mit Goethe (Kapitel 1) und das zweite Mal mit Schiller (Kapitel 2) gepaart wird: Ein in hohem Maß reflexives und von der disziplinär sich damals etablierenden Philologie geprägtes Verstehen bestimmt Humboldts Gespräche mit den Dichtern. Die Auslegung von Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ nach deren Eigenheiten prägt die Gespräche, die indes nicht ohne Kompromisse bleiben. Die Kompromisse sind möglich in Begriffen, die (wie ›Bildung‹ und ›Sprache‹) von den Freunden geteilt werden, doch tatsächlich von der poetischen und der philologischen Praxis jeweils ablenken. Friedrich Schlegel wird – nicht zuletzt kraft des Einflusses, den seine Reflexivität auf die Hermeneutik des Freunds Friedrich Schleiermacher ausübt – zum Begründer einer Philologie, die sich des eigenen Paradoxes bewußt ist. Es geht ihm um die Frage, wie die Philologie ihre begrifflichwissenschaftlichen Grundlagen zugunsten eines partikularen Verstehens überwinden kann – die ›Cyklisation‹ rückt als Verfahren in den Mittelpunkt (Kapitel 3). Im Umgang mit den Wissensvoraussetzungen eines Werks erweist sich deren Gelingen. Goethes Nähe zum Denken des frühromantischen Schlegel wird besonders im ›Faust II‹ deutlich, namentlich in seinem Willen, die Traditionen besser zu beherrschen als die in der Antike bewanderten Gelehrten, mit denen er Umgang pflegt (Kapitel 4). Die Gelehrsamkeit ist weniger (wie eine Wissensgeschichte meint) Thema des Stücks als eine methodisch-poetische Herausforderung, eine Prinzipienfrage, wie sie die Wissenschaftsgeschichte stellen kann. Goethe nimmt genau in wissenschaftsgeschicht­ licher Weise diese Herausforderung an. Freilich haben die klassische Philologie und ihre neuphilologischen Erben (Ger­ manistik, Romanistik und Anglistik) erst durch eine gedankenlose Spezialisierung

Einleitung 

 XI

ihren Erfolg im 19. und frühen 20. Jahrhundert begründet. Die kritisch sich ihrer Grundlagen versichernde Philologie versinkt für eine lange Zeit in der Latenz. In der dichterischen Praxis macht sie sich zwischenzeitlich und vereinzelt geltend: Etwa wenn Elias Lönnrot auf der Grundlage eines philologisch rekonstruierten altkarelischen Liederguts das finnische Epos ›Kalevala‹ konstruiert und für die Komposition auf Überlegungen aus der Gründerzeit der Philologien, namentlich von Friedrich August Wolf zurückgreift (Kapitel 5). Den anderen, umgekehrten Weg einer Exhaustion des philologischen Programms geht – in der Tradition Goethes (Kapitel 4) – der zum Romanisten ausgebildete Hugo von Hofmannsthal, der sich in der historistischen Vielfalt von Traditionen zurechtfinden muß. Die Ordnung des Materials ist ihm von seinem Selbstverständnis als ›Kulturdichter‹ aufgegeben – Hofmannsthal entfaltet eine imaginäre Artistenphilologie, die klassische Aufgaben des Verstehens mit modernen Mitteln gewaltsamer poetischer Aneignung lösen soll (Kapitel 6). Diese poetischen Aktualisierungen des philologischen Programms bezeugen die Nähe von Poesie und Philologie, noch mehr aber wird deutlich, daß die Latenz der Reflexivität, von der ich spreche, sich ergibt, weil jene Nähe nicht Eingang in die Reflexion der philologischen Praxis gefunden hat. Der institutionelle Niedergang einer auf das literarische Werk fokussierten Hermeneutik geht mit dieser Latenz einher. Die Geschichte der Reflexion auf das Verhältnis von Poesie und Philologie ist auch eine Geschichte der Hermeneutik (Kapitel 7). Zwar entsteht Mitte des 20. Jahrhunderts mit Hans-Georg Gadamers philosophischer Hermeneutik ein neues In­teresse an der literarischen Tradition, doch bleibt die Besonderheit einzelner Werke mißachtet, da es um das Verstehen ›tieferer‹ anthropologischer Phänomene geht. Peter Szondis Anstrengung, die poetische Strenge seiner Gegenstände in der Ethik seiner wissenschaftlichen Essays (und weiterhin in seiner persönlichen Haltung) zu verankern, setzt die Erfahrung des Symbolismus und das moderne Theater voraus. Sie zeugt von einer neuen Epoche und richtet sich sowohl gegen eine Reflexionslosigkeit in der Geschichte der Philologien als auch gegen die Täuschung, daß sich die Philologie auf eine philosophische Hermeneutik stützen kann (Kapitel 8). Szondi begründet eine kritische Hermeneutik, die eingedenk der fremden Nähe von Poesie und Philologie weiterentwickelt werden kann.

1 W  ilhelm von Humboldt 1798. Zu Goethes ›Herrmann und Dorothea‹ und der Problematik einer dichterischen Aktualität Verstehen setzt das schon einmal Erkannte voraus. Im Gegenstand objektiviert sich, woran Dichtung und Interpretation anschließen können. Zwischen ihnen vermit­ telt eine Rationalität, die gleichwohl ihre ästhetische oder hermeneutische Eigen­ art bewahrt. Wie kann man diesen Vorgang näher charakterisieren? Oft hat man es sich in der Interpretationsgeschichte leicht gemacht und das Gemeinsame in einem dritten, im weiteren Sinn ›kulturellen‹ Raum gesucht – dabei beginnen die Schwierig­ keiten des Verstehens erst, wenn sowohl der Autor als auch der Interpret auf jeweils ihre Weise diesen ihnen durchaus geläufigen Raum verlassen und negieren, um ihre Ziele zu erreichen. Doch wie weit reicht die ästhetische Rationalität, mit der die Interpretation rechnen kann? Die methodische Kritik setzt die ästhetische voraus, und in das Ver­ stehens­problem dringt das Problem ästhetischer Wertung ein. Die philologische Kritik mag dabei über die Grenzen der Werke hinaus gehen, um sie so zu bestimmen – sie gewinnt aus den Umwegen, die zu nehmen sie sich genötigt sieht, den Standpunkt, um auch die eigenen Vorstellungen, Werte, Institutionen und deren Grenzen zu ana­ lysieren. Indem man fragt, wie Goethe etwa benutzt wurde, tritt man in Distanz zum eigenen kulturellen Rahmen, um zu rekonstruieren, was Goethes Werke ursprünglich wollten, und man prüft kritisch, wie weit Goethe dabei ging. Allgemeine kulturelle Ansichten besitzen für Literaturwissenschaftler gemein­ hin eine große Anziehungskraft und wirken in das Fach hinein, überschreiten also Grenzen, die über die Kritikfähigkeit des Interpreten wachen. Die nötige Dialektik wird selten ausgespielt: Das Resümee von außen, das den Zusammenhang will, das auch an die kulturelle und die ethische Verantwortung erinnert und schließlich mit der Literatur Verbindung hält, sollte innen zerlegt und erneuert werden. Doch in der Geschichte der Interpretation halten die Trennungen gerne vor. Lange hat eine enge, spezialisierte und daher erfolgreiche Philologie sich eingekapselt und die eigenen ästhetischen Urteile verdrängt. Auch das war kulturell verankert. Fehlt diese Dialek­ tik, kann man immerhin – von heute aus – die Frage an das Werk richten, ob es selbst genügend ästhetische Kraft besitzt, um sich, hätte man diese seine Kraft nur gewür­ digt, gegen eine Interpretationsgeschichte zu wehren, deren Voraussetzungen das Werk in zumindest abstrakter Weise kennen und vorwegnehmen kann. Daher kehre ich im folgenden – mit historischen und systematischen Absich­ ten – zu den Anfängen der deutschen Literaturwissenschaft zurück, zu Wilhelm von Humboldt,1 dessen Vorschlägen kein institutioneller Erfolg beschieden war. Hum­ boldt hat auf den ästhetischen Eigensinn geachtet, der das Werk von allgemeinen Ansichten entfernt, die in den Blick kommen, je nachdem welche Grenzen es zieht. Es sind Ansichten in der Form, die das Werk ihnen gibt. Humboldt versucht zwei Wege

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 Wilhelm von Humboldt 1798. Zu Goethes ›Herrmann und Dorothea‹

geltend zu machen, die dieser Eigensinn nehmen kann, um sich durchzusetzen, und begründet beide philosophisch. Zum einen achtet er auf die Gattungsgestalt, zum anderen begründet er sprachlich: in den Wörtern eines literarischen Werks dessen Unübersetzbarkeit. Auf prägnante Weise und individuell, sei es in der Gattung oder in den Wörtern, bringe der Dichter jeweils seine Bildungswelt auf einen Punkt. Diese beiden Wege möchte ich durch zwei Beispiele verdeutlichen und gegen­ einander abwägen. Humboldt legt in seiner Abhandlung über Goethes Epos ›Herr­ mann und Dorothea‹, die im Jahr 1799 erscheint,2 Kants ästhetische Kritik aus und prüft, ob Goethes Gattungsinterpretation der antiken Kunst gewachsen ist. Eine Ordnung stehe der anderen gegenüber, und Ruhe sei ihr jeweiliger Sinn. Doch Hum­ boldt erkennt Goethes besondere, historische, moderne Situation. Die empirische Negation einer philosophischen Erwartung zeigt ihm, wie unmöglich Goethes Projekt ist. Humboldt scheitert in dem Versuch, Kants ›Natur‹, die sich im Epos realisiere, mit Goethe und seiner Bildung gleichzusetzen. Ebenso bemerkt er bei seiner Übersetzung des ›Agamemnon‹ von Aischylos, die er gleichzeitig beginnt, aber erst viel später ver­ öffentlicht (1816),3 daß die fremden Wörter des Dichters ihn in der Praxis zwingen, einen vorgefaßten, totalen Bildungssinn zu individualisieren. Die Einzigartigkeit des Sinns, den die Wörter in ihrer Zeit erreichen, verhindern in dieser Sicht, sie später platt zu aktualisieren. Die Sprachpraxis drängt dabei stärker auf Individualität als eine (enttäuschte) philosophische Erwartung. ›Bildung‹ fördert auf diese Weise den Sinn für die historische Partikularität der Werke. Man nimmt ihr diesen Blick, wenn man sie in einem anthropologischen Sinn versteht oder als allgemeinen Wertekosmos interpretiert. Die Versuchung einer un­mittelbaren Verständigung ist seit jeher groß, da ›Bildung‹ nicht nur den Schaffens­ prozeß prägt, sondern auch zur – unerhört reflexiven – Leitvorstellung der Philologie damals wird. Humboldts Analysen zeigen, daß Dichtung und Philologie sich jeweils innerhalb ihrer eigenen Logik von der gemeinsamen Leitvorstellung, die rasches Ein­ verständnis verspricht, abkehren müssen, um zu der Besonderheit zu gelangen, die eine literarische Hermeneutik voraussetzt und einlösen will. Im ›Wort‹ ist das viel­ leicht eher zu leisten als in der Gattung. Daß Humboldt systematisch darauf verzichtet und sowohl für die Gattungsanalyse als auch für die Übersetzung Verfahren findet, das Anarchische der Bildung zu heilen, sei es sozialutopisch oder im Rhythmus der Übersetzung, hat durchaus strategische, bildungspolitische Gründe. Goethe macht es ihm auf seine Weise vor.

Die Gattung angesichts des Bildungsprogramms Ein erfolgreiches Werk, ein Werk, dessen Sinn mit dem Geschmack seiner Leser eine lange Zeit übereinstimmt, das aber heute den Interpreten langweilt oder lachen macht, weckt den Verdacht, es besitze wenig ästhetischen Eigensinn – Eigensinn, der das Werk sowohl vor der modischen Begeisterung wie auch vor dem nicht weniger



Die Gattung angesichts des Bildungsprogramms 

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modebedingten Vergessen schützen hätte können. Ist Goethes ›Herrmann und Doro­ thea‹, 1796/97 entstanden, ein solches Werk? Die Geschichte Herrmanns, der sich in Dorothea verliebt, die vor den politischen Wirren im Gefolge der französischen Revolution geflohen ist, scheint in reiner Weise die Werte des deutschen Bürgers zu spiegeln und sowohl die Familienideologie wie seinen frankreichfeindlichen Patrio­ tismus zu bestätigen: Herrmann versöhnt seine ökonomischen Interessen mit seiner Liebe durch die Ehe und schützt diese Ehe in der abgeschlossenen, ruhigen Welt einer deutschen Kleinstadt. ›Herrmann und Dorothea‹ wurde »zu einem Hausbuch des deutschen Bürgertums«4 im 19. Jahrhundert; die Germanisten sahen darin bis zum Ersten Weltkrieg das Hauptwerk Goethes.5 Danach geriet das Epos zusehends in Ver­ gessenheit. Die Rezeption hat sich stets auf die Gattungsfrage konzentriert. Geschichtsphilo­ sophische Gedanken stehen in der Forschungstradition neben Anweisungen zum Metier und versuchen oft dieses zu begründen – mit Recht achtet man auf das Metier, denn im Metier selbst hat Goethe zu Philosophie und Ästhetik Stellung genommen (freilich bleiben die Begründungen und inwiefern sie berechtigt sind auf einem anderen Brett). Goethes folgender Satz enthält das und steht daher meist im Mit­ telpunkt: »Eine Haupteigenschaft des epischen Gedichts ist, daß es immer vor und zurück geht, daher sind alle retardierenden Motive episch.« 6 Der Satz fällt in einem Brief an Schiller aus dem Jahr 1797; im selben Jahr faßt Goethe in dem kurzen Text ›Über epische und dramatische Dichtung‹ die gemeinsame Gattungsdiskussion zusammen. Goethe leitet den Gegensatz von der »Natur des Menschen«7 her, ein philosophischer Standpunkt, und scheidet zwischen Rhapsoden und Mimen (Schauspielern) – die Gattungen folgten ihnen. Ein Rhapsode würde das Epos vortragen, als ob es vergan­ gen wäre, er hätte den Überblick, während der Schauspieler das Drama vorantreibe, unruhig ob des noch ungewissen Ausgangs. Der Rhapsode wird »nach Belieben rück­ wärts und vorwärts greifen und wandeln, man wird ihm überall folgen«8. Die Gattung von ›Herrmann und Dorothea‹ zu bestimmen, ist seit jeher schwie­ rig. Davon zeugen die verschiedenen Versuche bis auf den heutigen Tag: man sprach anfangs von Idylle (Klopstock), bürgerlicher Epopöe (Humboldt), idyllischem Epos (Hegel). Der Wechsel des sujets erfülle angesichts veränderter historischer Verhält­ nisse die Gesetze der Gattung; in seinen ›Vorlesungen über die Ästhetik‹ argumen­ tiert Hegel: »Die epische Poesie hat sich deshalb aus den großen Völkerereignissen in die Beschränktheit privater häuslicher Zustände auf dem Lande und in der kleinen Stadt geflüchtet, um hier die Stoffe aufzufinden, welche sich einer epischen Darstel­ lung fügen könnten. Dadurch ist denn besonders bei uns Deutschen das Epos idyllisch geworden«9. In dem Maß jedoch, in dem das Bürgertum historisch zum Erfolg eilt, sieht die Goetheforschung in der Gattung die Möglichkeit, den Bildungsgehalt des Werks zu kommentieren. Das Epos Homers, an das Goethe, vorzüglich in der Über­setzung von Johann Heinrich Voß, anknüpft, soll sowohl der Nobilitierung des Bürger­lichen als auch der Abkehr davon gedient haben. Der Unterschied zwischen Nobilitierung und Abkehr schwindet in den Deutungen dahin, die darauf achten, daß

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 Wilhelm von Humboldt 1798. Zu Goethes ›Herrmann und Dorothea‹

der Stil Homers etwas Fremdes in den Stoff trage. Goethe habe, so Wilhelm Scherer in seiner ›Geschichte der deutschen Litteratur‹ (1883), die »Deutschen ihre eigene häus­ liche Welt mit den Augen Homers ansehen«10 gelehrt. Friedrich Gundolf hingegen interpretiert die ›italienische und klassische‹ Darstellung später als Distanz gegen­ über dem bürgerlichen Gegenstand.11 Insgesamt finden die Verfahren selbst: etwa die Gliederung nach Gesängen, der Hexameter, feste Formeln (»die kluge, verständige Hausfrau«, oder »Doch der Vater fuhr auf und sprach die zornigen Worte«) nur in zweiter Linie Beachtung, etwa als Zeugnis eines Könnens, das wenig wiege angesichts des ›Seelenadels‹ (Gundolf). Paul Michael Lützeler konstatiert Elemente aller Genres und bescheidet sich mit dem Wort von einer ›gemischten Gattung‹; dabei hat er auch Handwerkliches im Sinn und achtet auf die dramatischen Elemente, die in das Epos eingehen: die knappe Fabel, der szenenhafte Aufbau, Dialoge und die Spannung auf das »potentiell tragische Ende« hin.12 Doch jenseits der rhetorisch-stilistischen Figuren konzentriert er sich auf die ästhetische Behandlung der Materie selbst und leitet die Modernität des Werks von den Widersprüchen her, die es prägen.13 Doch tatsächlich bringt das Werk Ruhe in die entfalteten Gegensätze. Verzichtet es nach der epischen Form, die kaum mehr als ein Gewand ist und selten anders gewürdigt worden ist, durch seine ›Bildung‹ auf eine weitere Art der Kritik? Die Schlüssigkeit jener Deutungen entscheidet sich historisch. Sie gehen zwar von Goethes Unterscheidung zwischen Material und Formgebung aus, prüfen aber nicht hart genug, welchen Wert diese Unterscheidung für die Interpretation des Werks hat. Worin besteht Goethes eigener formaler Wille, von dem er im Briefwechsel mit Schiller ausgeht, angesichts der ideologischen Zugeständnisse, die er selbst ein­ räumt und ihn Zweifel an der Qualität äußern lassen? »In Herrmann und Dorothea habe ich, was das Material betrifft, den Deutschen einmal ihren Willen getan und nun sind sie äußerst zufrieden. Ich überlege jetzt ob man nicht auf eben diesem Wege ein dramatisches Stück schreiben könnte? das auf allen Theatern gespielt werden müßte und das jedermann für fürtrefflich erklärte, ohne daß es der Autor selbst dafür zu halten brauchte.«14 Die Frage, wie eigensinnig die von ihm gewählte Form ist, und was unter Form zu verstehen sei, damit diese Frage sinnvoll wird, muß die Gattungs­ analyse leiten. Verbindet man nun herkömmlich den Begriff ›Epos‹ mit dem Begriff der ›Bildung‹, der einer normativen Ästhetik entspringt und bürgerlichen Sinn trägt, so könnte man auf die potentiell ungebärdige Form der Bildung achten. Der Eigen­ sinn des Epischen muß sich angesichts der Dialektik der Bildung erweisen. Sie ist der Probierstein.15 Die Frage ›Erweist sich die Gattung angesichts der Bildung als eigensinnige Form?‹ hat Wilhelm von Humboldt, der die erste große Studie über ›Herrmann und Dorothea‹ schrieb, selbst schon gestellt. Mehr noch, er hat sie im intellektuellen Verkehr mit Goethe und Schiller entwickelt. ›Herrmann und Dorothea‹ war, als es entstand, schon Gegenstand der Literaturwissenschaft: Goethe schreibt an Humboldt, »daß es Ihnen mit angehört und Sie also eine Art von Neigung wie zu einer eignen Arbeit gegen das­ selbe fühlen müssen. Es ist nicht eine Höflichkeit, die ich hier sage, denn Sie wissen



Humboldts ›Über Göthe’s Herrmann und Dorothea‹ 

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selbst, wie sehr wir in dem Kreise, in dem wir nun schon eine Zeitlang zusammen leben, uns wechselseitig auszubilden unaufhörlich gearbeitet haben.«16 Humboldt schreibt seine zweihundert Seiten starke Abhandlung ›Ästhetische Versuche. Erster Theil: Über Göthe’s Herrmann und Dorothea‹ ein Jahr nach dem Werk und bringt sie 1799 zur Veröffentlichung. Schiller erkennt schon nach der ersten Lektüre des Manu­ skripts die epochale Bedeutung, die die Abhandlung in der Geschichte einer ästhe­ tischen Kritik von Literatur besitzt, und schreibt am 27. 6. 1798: »Man erweist Ihnen bloß Gerechtigkeit, wenn man sagt, daß noch kein dichterisches Werk zugleich so liberal und so gründlich, so vielseitig und so bestimmt, so kritisch und so ästhetisch zugleich beurtheilt worden ist.«17 Humboldts Studie weist einer Literaturwissenschaft den Weg, die es als Institution an der deutschen Universität erst hundert Jahre später geben sollte.18 Was später der Literaturwissenschaft zum Vorteil gereicht und auch was sie belastet, prägt schon ihr Gründungsdokument: Das Werk wird ästhetisch als Einheit betrachtet, doch vom Begriff her, der die Partikularität des solcherart Umrissenen unterhöhlt. Vielleicht ist es kein Zufall, daß das Epos Humboldt als genuiner Gegen­ stand einer in diesem Sinn ›epischen Literaturwissenschaft‹ erscheint: Den Überblick, den das Epos gewährt, legt er gern zugrunde. Der Dichter Schiller zieht in jenem Brief sogleich auch eine Grenze zwischen – wie er sagt – philosophischer und pragmati­ scher Reflexion des Werks: »Ich betrachte auch deßwegen Ihre Arbeit mehr als eine Eroberung für die Philosophie als für die Kunst, und will damit keinen Tadel verbun­ den haben. Es ist ja überhaupt noch die Frage, ob die Kunstphilosophie dem Künstler etwas zu sagen hat. Der Künstler braucht mehr empirische und spezielle Formeln«19. Zwei Wege der Gattungsbetrachtung tun sich auf, und Humboldts Anstrengung besteht darin, den technischen mit dem philosophischen zusammenzuführen. Die Totalität, die der Begriff gewährt, der hier der Begriff der ›Bildung‹ ist, soll auch das Einzelne umfangen, auf das sich der Dichter-Rhapsode, wenn er sich im Werk vorund zurückbewegt, konzentriert. In der Zusammenarbeit mit Humboldt gibt Goethe die Freiheit seines technischen Interesses auf, er bringt das Opfer einem Programm zuliebe, das Humboldt dann aufzeichnet. Denn in ›Herrmann und Dorothea‹ erneuert sich das Epische, gegen das Geschehen gewissermaßen, auf der Ebene der Ordnung, die sich in jedem Augenblick des Geschehens durchsetzt. Der Sinn der Gattung lautet in jener historischen Situation: Es kann uns nichts passieren. Was Humboldt zum Ausgleich bringen kann, sei es die Technik oder der philosophische Sinn, ist von der ›Bildung‹ selbst schon aufgenommen – das Besondere würde dadurch entstehen, daß der Dichter innerhalb des Epos die Möglichkeit, Individuen zu bilden, radikalisiert.

Humboldts ›Über Göthe’s Herrmann und Dorothea‹ Für Goethes Bildungsepos folgt Humboldt Kants Kritik der ästhetischen Urteils­ kraft – er leitet seine Gedanken aus der »Natur der dichterischen Einbildungskraft«20

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 Wilhelm von Humboldt 1798. Zu Goethes ›Herrmann und Dorothea‹

ab. Gleichzeitig entfaltet er eine historische Entwicklung, denn nicht alle Dichter werden in gleichem Maß den Anforderungen der Kunst gerecht, die er in der Antike und namentlich in den Epen Homers vollkommen erfüllt sieht. Seine Frage, wie antik Goethe sei, ist kritisch gemünzt und kann auch so gestellt werden: Ist unter den Bedingungen der Moderne, die die Innerlichkeit bestimmt, das Epos – als ideale Manifestation der ästhetischen Einbildung – noch möglich? Humboldt schreibt über einen Anachronismus: Er zeigt, wie ›Herrmann und Dorothea‹ trotz allem ein Epos ist und es gar nicht sein kann. Die 104 Kapitel der Abhandlung lassen sich – entgegen dem ersten Eindruck, den das schlicht durchnumerierende Inhaltsverzeichnis vermittelt – in sieben Abschnitte gliedern, die wiederum zwei Teilen zugehören. Die zwei Teile sind der Individualität des Dichters (Kapitel I–XLVII) und der Gattung (Kapitel LII–CIV) gewidmet. Humboldt legt die Gründe dafür gleich zu Beginn seiner ›Einleitung‹ dar: »Nichts vollendet so sehr den absoluten Werth eines Gedichts, als wenn es, neben seinen übrigen eigen­ thümlichen Vorzügen, zugleich den sichtbaren Ausdruck seiner Gattung und das lebendige Gepräge seines Urhebers an sich trägt.«21 Auf diese doppelte Weise setze die Einbildungskraft ihre Gesetze durch: ästhetisch und also auf das Ideal bezogen, das das reine Individuum in sich ausbildet, und technisch, von Regeln und Gesetzen einer Gattung bestimmt, die aus reinen Stimmungen, in die eine Gattung versetze, hergeleitet werden könne. Die Ruhe, die von dem Epos ausgehe, charakterisiere es als Gattung. Die Identität der beiden Wege herzustellen, erweist sich als die große Schwierig­ keit, der Humboldt begegnet: Ohne weiteres kann er das Genie Goethes bestimmen, doch schon die ersten Festlegungen in der Mitte des Buchs, wie denn der allgemeine Charakter der Epopöe beschaffen sei, lassen Zweifel Humboldts erkennen, ob ›Herr­ mann und Dorothea‹ dem gerecht werde: »Das Charakteristische der epischen Dich­ tung scheint also darin zu liegen, dass sie uns ihren Gegenstand auf das lebendigste und sinnlichste darstellt, dass sie durch denselben unserm Blick grosse und weite Aussichten eröfnet [sic] und uns in einer solchen Höhe über demselben erhält, in der wir nur theilnehmende Beobachter sind, ihn selbst aber immer als etwas Fremdes ausser uns ansehen.«22 Lebendig, sinnlich, vielfältig und objektiv sei das Epos – nur mittels einer Reinterpretation dessen, was die ›Natur‹ ausmache, die im Genie der Kunst die Regel gebe, erhält Goethes Werk schließlich von Humboldt jene Größe zuge­ standen. Der erste große Teil des Buchs beginnt mit einer theoretischen Grundlegung (Kapitel II–XII), privilegiert die bildende Kunst im Epos gegenüber der Sprache (Kapitel  XIII–XIX) und vergleicht im übrigen Homer (und auch Ariost) mit Goethes Werk. Humboldts Theorie konzentriert sich auf den Begriff des ›Idealischen‹. Der Dichter trachte danach, seine Individualität von einem reinen und mächtigen Stand­ punkt her neu zu organisieren, auf den alles außerhalb seiner selbst bezogen werden kann. Denn die Idealität habe den Vorzug, einerseits formal, also im ›reinen Sinn künstlerisch‹ zu sein (»die Einheit, die dadurch in ihm herrschend wird, ist dennoch



Humboldts ›Über Göthe’s Herrmann und Dorothea‹ 

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keine Einheit des Begriffs, sondern durchaus nur eine Einheit der Form«23), und ande­ rerseits die Welt in ihrer Totalität zu erfassen. In diesem Sinn präge das Individuum mit Grund die Welt, denn »das Unterscheidende des Ideals besteht gerade darin, dass es sich alles, aber alles nur auf seine Weise aneignet.«24 Idealische Wahrnehmung kann nur dann auf Totalität Anspruch erheben, wenn die von ihr gebildeten Individuen auf andere verweisen, denn »sobald einmal eine einzige idealisch gezeichnete Figur da steht, nöthigt sie von selbst, andre und wieder andre und so viele hervorzurufen, bis sie einen Kreis vollendet hat«25. Dieses zirkulare Denken, das sich – entgegen heutigen Vorstellungen von einer syntaktischen Arbeit am Sinn26 – der Identität verschreibt, privilegiert Humboldt in seiner Argumentation; er zieht eine Kunst vor, nach der die einzelne Gestalt die andere – von ihren Umrissen her – charakterisiert und nimmt den zeitgenössischen, sinnenhaften Sprachgebrauch im Sinn von ›Gestalt‹ und ›äußerer Erscheinung‹ ernst: »das Ganze knüpft sich fester zusammen, wenn immer ein Theil den andern und nicht jedesmal der Dichter jeden besonders zu bilden scheint«27. Im Verhältnis von Figur und szenischem Hintergrund und in der Entfaltung der Charaktere in der Handlung sieht Humboldt daher ent­ scheidende Vorzüge von Goethes ›Herrmann und Dorothea‹. Auf diese Weise begründet Humboldt eine Hierarchie von bildender Kunst, die einen allgemeinen Anspruch erheben kann, und der Dichtkunst, die nicht ›objek­ tiv‹ genug sei, da sie ihren Mangel, über die Sprache direkt an den Verstand, und auch an das Herz, gebunden zu sein, erst überwinden muß. »Die Poesie ist die Kunst durch Sprache. […] Sie soll den Widerspruch, worin die Kunst, welche nur in der Ein­ bildungskraft lebt und nichts als Individuen will, mit der Sprache steht, die bloss für den Verstand da ist und alles in allgemeine Begriffe verwandelt […] vereinigen, dass aus beiden ein Etwas werde, was mehr sey, als jedes einzeln für sich«.28 Hum­ boldt nimmt zur Ut-pictura-poesis-Debatte seit Winckelmann und Lessing Stellung; er gibt hier Goethe und nicht Schiller den Vorzug; Schiller weist er ausdrücklich auf den systematischen Ort hin, den Humboldt ihm in dem XIX. Kapitel über die Poesie gibt.29 Von den Aussichten, die dessen Weg eröffnet, spricht er hier nicht: von einer ge­nuinen, modernen, sprachlichen ›Idealität‹. Das bleibt den Briefen und der Ein­ leitung zu den Briefen (1830)30 vorbehalten – dort billigt er Schiller zu, der Antike näher zu kommen, gerade weil er nicht mittels einer Tradition oder naiv an die Antike anschließen wolle und statt dessen selbsttätig der Notwendigkeit seiner Kunst-Form, seinem Genie folge. Zugleich mit der Poesie drängt Humboldt die Problematik zurück, die er in seiner eigenen Sprachphilosophie entwickelt, namentlich die besondere Distinktionsfähigkeit der Sprache und die Überlegung, daß eine allgemeine (sprach­ wissenschaftliche) Anstrengung die Begrenzung der Einzelsprachen als einseitige Produkte des ›menschlichen Geistes‹ zugunsten der Sprachfähigkeit des ›Menschen­ geschlechtes‹ überwinden könne.31 Der Norm des Ganzen folgend32 und nicht einer Rationalität, weder bei Schiller noch bei sich, billigt Humboldt allein der bildenden Kunst zu, eine ›allgemeine‹ Kunst zu sein. »Denn sie ist rein darstellend und sinn­ lich«33.

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Humboldt macht Kompromisse. Er schreibt über ein Werk, das er – gegen sich selbst – geprägt hat. Grell tritt Goethes implizite Bildungstheorie ans Licht, die Hum­ boldt strategisch recht kommt. In der philosophischen Anlage des Buchs findet Hum­ boldt den Weg, über ein Werk zu sprechen, das sich gegen jene Reflexion nicht wehrt. Die Philosophie erweist sich somit auch als diplomatischer Umgang mit einem Kon­ flikt. Denn anders, als Humboldt mehrfach betont, stellt er ›Herrmann und Dorothea‹ kaum als individuelles, im Einzelnen unberechenbares Werk vor. Es gibt kaum Anlaß dafür: Erst viel später entfaltet Goethe die wilde Seite der Bildung, die Anarchie des Wissens. Die ›Klassische Walpurgisnacht‹ im zweiten Teil des ›Faust‹ (1826) wird zur Gründungsszene einer Philologie, die sich auch der heterogenen Kraft ihres Wissens bewußt ist, auch wenn Goethes Konstruktion stets aufs neue die eigene Wildheit unterbindet.

Aktualisierung Kants Humboldts konspirative Beruhigung erfolgt durch eine Aktualisierung von Kants ›Kritik der Urteilskraft‹. Humboldt pointiert die Gedankenfigur, die der Abhandlung über ›Herrmann und Dorothea‹ zugrunde liegt, in einem Brief, den er am 18. 3. 1799 aus Paris an Goethe schreibt.34 In Paris ist Humboldt mit dem Bemühen gescheitert, Kant zu vermitteln. Die französische empiristische Konzeption des Menschen war nicht aufnahmefähig für eine derartige konstruktivistische Reflexionsphilosophie. Um das Scheitern zu verstehen, beginnt er mit seinen Sprachstudien, die der Philo­ sophie nachgeordnet bleiben.35 Merkwürdigerweise gibt er Kants Konstruktionen einen normativen Sinn und schärft ihn in seiner Isolation. Er übersetzt Kants Macht der ästhetischen Einbildungskraft in konkrete Normen der Totalität, die der Bevorzu­ gung der bildenden Kunst zugrunde liegen. Schiller schildert Goethe gegenüber den Vorgang und benennt das Ergebnis: »Unser Freund Humboldt […] bleibt mitten in dem neugeschaffenen Paris seiner alten Deutschheit getreu und scheint nichts als die äußere Umgebung verändert zu haben. Es ist mit einer gewissen Art zu philosophie­ ren und zu empfinden wie mit einer gewissen Religion; sie schneidet ab von außen und isoliert, indem sie von innen die Innigkeit vermehrt.«36 Die deutsche Innerlichkeit radikalisiert sich in fremder Umgebung. Humboldt schreibt: »was mich an Deutschland knüpft, was ist das anderes, als was ich aus dem Leben mit Ihnen, mit Schiller, mit dem Kreise schöpfte, dem ich nun schon seit beinahe zwei Jahren entrissen bin. Wer sich mit Philosophie und Kunst beschäftigt, gehört seinem Vaterlande eigentümlicher als ein anderer an, dies habe ich auch noch hier an Alexander und mir erfahren. Ich war vielleicht ebenso gern, vielleicht noch lieber in Paris als er, allein er war unendlich weniger fremd hier. […] Philosophie und Kunst sind mehr der eigenen Sprache bedürftig, welche die Empfindung und die Gesinnung sich selbst gebildet haben, und durch die sie wieder gebildet worden sind.«37



Aktualisierung Kants 

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Mit Hilfe von Goethes Naturkonstruktion erläutert Humboldt seine Philologie. Zwar setzt sie die Sprache voraus, doch diese ist dem Bildungstrieb unterworfen, der aus lauter Individuen einen Kreis bildet, innerhalb dessen sie sich verstehen; der Kreis selbst ist wieder ein Individuum und schließt sich mit anderen zusammen zur Nation, die so zur Grundlage des Verstehens wird.38 Humboldt studiert, um die nationale Begrenzung dieser Hermeneutik zu überwinden, die Kunst Goethes: »Kein großer Dichter wirkt anders, als durch eine vermöge der Kunst erhöhte und eigen zubereitete Natur; aber aus Ihren Werken strahlt noch außerdem ein gewisser magi­ scher Widerschein der Kunst selbst (im höchsten Verstande des Worts) zurück.«39 Humboldt konstruiert mit Kant eine dialektische Bewegung zwischen Natur und Kunst. Zwar stehe die Kunst innerhalb der ›Natur‹, doch nicht in einer Natur dem herkömmlichen Sinn nach. Die Natur ist nicht als Gegenstand ›schön‹, an den sich ein Interesse knüpft, sondern als »Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens«40. Ent­ sprechend lautet der Satz in Humboldts Abhandlung: »Daher ist die Kunst die Fertig­ keit, die Einbildungskraft nach Gesetzen productiv zu machen«41. Die Gesetze der Ein­ bildungskraft und nicht die konkrete Realität der Natur stellen, folgt man Humboldt, Goethes Werke vor. Daher spricht Humboldt vom »magischen Widerschein der Kunst selbst«. Den Gedanken, daß es die Kunst auch für sich gebe, begründet Kant mit seiner Theorie des Genies: Im Genie gebe die Natur der Kunst die Regel.42 Mit der ›Kunst selbst‹ ist indes bei Humboldt die bildende Kunst gemeint, der damit Arten des Genies unterscheidet. Die Gattung erhält, als Prinzip, den Vorrang gegenüber dem Genie. Humboldt legt Kant zugunsten einer Bildungstheorie aus, die in der bildenden Kunst ihre Erfüllung sieht, und die Besonderheit von Goethes Genie bestehe darin, sich ihr zu verschreiben. Die Schwierigkeit, Kants Naturbegriff mit dem pantheistischen Goethe zu verbinden, bestimmt das Verhältnis zwischen Goethe und Schiller; Humboldt sucht dafür eine Lösung – und wird konkret und schließlich normativ. Er bildet zwei Formen der Einbildungskraft (der »Geistesstimmung«) aus, eine spontane und eine geordnete, und stuft sie hierarchisch: »Ich habe oft darüber nachgedacht, wie diese Erscheinung psychologisch zu erklären sei. Ihre Beschäftigung mit der bildenden Kunst hat unstreitig großen Anteil daran, allein sie ist selbst mehr eine Folge als eine Ursach dieser Geistesstimmung. Wenn es erlaubt wäre, in dem Genie eine zeugende und eine bildende Kraft zu unter­ scheiden, so würde ich Ihnen ein Übergewicht der letztern zuschreiben.«43 Im Gegenspiel von Wort und bildender Kunst wäre das Wort auf der Seite des Spontanen, Sprudelnden, Zeugenden, das Goethe vom Sturm und Drang her zuge­ standen wird (und dem Shakespeare folge), doch der klassische Goethe von 1799 stehe auf der Seite der Ordnung von Individuen und sei der Antike daher näher als Shakespeare. Deutlich wird, daß Humboldt mit seinem Bildungskonzept den von Kant übernommenen Eigenraum der Kunst auslegt, gewichtet, reduziert und Goethe darin aufnimmt. Beide Standpunkte: die Reflexion und die bildende Kunst, bestim­ men Goethes Werke, und Humboldt versucht sie irgendwie zusammenzuführen.

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Die bürgerliche ›Natur‹ Humboldt will indes der Natur Goethes nicht auf Kosten der Kunst recht geben. Der Versuch, beides gleichzusetzen, mißlingt, weil die Moderne der Antike in der Kunst unterlegen sei, und so zwingt ihn der Vergleich von Goethe und Homer, die ›Natur‹ zu historisieren; die Möglichkeit dazu hat er sich geschaffen, als er die ›Natur‹ unter dem Mantel der ›Einbildungskraft‹ nach Dichtertypen auslegt, nach sprach- und kunstorien­tierten, und diese den Epochen zuweist. Goethes Natur unterliegt zuletzt, da sie in der Moderne antik sein wolle.44 Der erste Teil der Abhandlung schließt, nachdem Homer (Kapitel XX–XXVIII) und ›Herrmann und Dorothea‹ (Kapitel XXIX–XXXVII) jeweils für sich analysiert werden, mit einem Vergleich (Kapitel XXXVIII–XLVII). Maßstab ist durchwegs die Art des Dich­ ters, seinen ›idealen‹ Blick in der Gestaltung der Figuren durchzusetzen. Es gehört zur Bildungsinterpretation der ›Einbildungskraft‹ (im Wort selbst ist ›-bildung-‹ ent­ halten), daß sie sich in den Figuren konzentrieren soll. Von Humboldts Gegenwart her gesehen, sind durchaus andere ›Individuen‹ denkbar. Doch das ideale Prinzip der Gestaltung gibt die Antike vor. So erhalten auch die Figuren Goethes in der Szene ihr Profil, in der Begebenheit, der ›Syntax‹ der Ereignisse: »der Leser lebt allein in der Begebenheit, die er vor sich sieht […] das Ganze knüpft sich fester zusammen, wenn immer ein Theil den andren und nicht jedesmal der Dichter jeden besonders zu bilden scheint«45. Andere als antike Individuen können nicht vom Ideal durchdrun­ gen sein, dem Goethe vielleicht innerhalb der Moderne näher komme, doch gegen­ über der Antike müsse er zurückbleiben. Im Vergleich zwischen Goethe und Homer sucht Humboldt nach den Grundlagen der Figuren. Während die ›Alten‹ die »Natur in ihrer sinnlichen Pracht und Grösse mahlen,«46 zeige Goethe das »Innre der Menschheit«47. Einer verborgenen, nicht explizierten Weisheit stehe der Gedanke, ein »intellektueller Schwung«, gegenüber. Statt dem Wesen der Kunst angemessen zu schreiben, biete Goethe »Reize für uns Modernere«. Die Veränderung wird bildungsgeschichtlich interpretiert: »die Verfei­ nerung [der Bildung] [liegt] auf dem Wege […], den das Schicksal unsrer Ausbildung vorgezeichnet hat«48. Goethe zeichne seine Figuren und die Handlung, die zwischen den Begebenheiten und den Gesinnungen vermittle, aus ihrem inneren Reichtum heraus: »Es sind nicht so sehr ihre Handlungen, an und für sich genommen, es sind mehr ihre Charaktere, die, aber immer bloss in diesen Handlungen, uns anziehen«49. An der Fremdbestimmung, an der Antikenvorstellung eines Schicksals als eines »übermenschlichen Gegenstands, ohne den keine dichterische Wirkung möglich«50 sei, hält Humboldt fest und findet einen geradezu tiefenpsychologischen Ausweg: An die Stelle der Götter tritt eine »Macht, die aus dem Innern der Menschheit, aber aus ihren nie ergründeten Tiefen entspringt«51. Das Schicksal bewegt nun den Einzelnen und allenfalls indirekt noch die ganze Welt. Die Leistung Goethes besteht für Humboldt darin, die moderne Verfeinerung antik vorzustellen, ohne dabei die objektive Kunst der Alten zu erreichen: »Wenn



Die bürgerliche ›Natur‹ 

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wir indess hier diesem Gedicht und der neueren Poesie überhaupt etwas zuschrei­ ben, was sie vor der älteren auszeichnet; so ist diess kein Vorzug, der das Wesen der Kunst angeht. In diesem bleiben die Alten immer die Meister und werden nie auch nur erreicht, viel weniger übertroffen werden. Das eigenthümliche Verdienst, von dem wir hier reden, ist nur, die Bahn eröfnet zu haben, den ganzen Reichthum an Gedan­ ken und Empfindungsgehalt der neueren Zeit in das ächt künstlerische Gewand zu kleiden, das man sonst nur bei ihnen antrift.«52 Das Bild vom ›echt künstlerischen Gewand‹ formuliert den Hauptpunkt der Abhandlung als Paradox – eine Kunst, die sich in Äußerlichkeiten erfülle. Humboldt geht von dem Vorurteil seiner Zeit aus, daß die Alten die Reflexion nicht kannten. Ihre Kunst sei Erscheinung und objek­ tiv, weshalb die Weisheit – in der Erscheinung – verborgen bleiben kann. Das sei ihre Stärke, während die Reflexion in der Moderne zutage trete und nur schwer zu einer Einheit gebracht werden könne. Diese Kunst bleibe subjektiv. Nun ist die Antike moderner, als Humboldt es annimmt,53 man denke nur an die Dramen von Euripides. Doch innerhalb seiner Konstruktion kann er den Gegensatz zwischen Erscheinung und Gedanken nur durch die reine Vermittlung aufheben, in einem negativen statt in einem dialektischen Sinn: Spricht er vom ›intellektuellen Schwung‹, meint er einen von Kant her erfaßten Goethe, dem die objektive, plastische Kunst letztlich fern sei. Dem Paradox möchte sich Humboldt entwinden und seine Diplomatie besteht darin, Goethes Nichtkunst trotzdem wieder als Kunst zu deuten. Daher gesteht er Goethe die ›Verfeinerung‹, den Fortschritt zu – allein seine Zeit bleibe zurück und verweigere seiner Kunst die Allgemeinheit, die sie ebenso benötige wie verdiene. Ein utopisches Argument. Der zweite Teil der Abhandlung wendet in diesem Sinn den Blick vom Urheber zur Gattung und zum Werk in seiner Besonderheit. Dabei gewinnt Humboldt im Vergleich beider Teile das Kriterium, über die Qualität des Werks zu urteilen: sie erweise sich in der Übereinstimmung von ›Natur‹ und Form. Um Goethes Epos – innerhalb der utopischen Einschränkung – legitimieren zu können, muß Humboldt der modernen Innerlichkeit jene Größe zugestehen, die früher der heroische Stoff mit sich brachte. Wieder dient Kants Einbildungskraft als Ausgangspunkt: Ein Gegenstand sei groß, wenn er als groß empfunden wird. Dabei führt Humboldt die ästhetische Wirkung ›objektiv‹ auf die Dichternatur zurück: Als groß empfunden werde ein Gegenstand, wenn in ihm die Gesetze der Natur sich durchsetzen. Dem Begriff der Epopöe sei daher Genüge geleistet, »sobald unser Gemüth auf eine dichterische Weise in den Zustand lebendiger und allgemeiner sinnlicher Betrachtung versetzt ist«54, ob durch einen heroischen oder einen bürgerlichen Stoff. Die Bedingung sei erfüllt, wenn der Bürger zur Natur geworden, mit ihr eins ist. Humboldt führt eine dialektische Bewegung von der Natur zur Kultur, in der der Mensch Kenntnisse und Fähigkeiten erwirbt, jedoch fremdbestimmt bleibt (er spricht von dem »bearbeiteten Menschen«55), und schließlich wieder zur ›Natur‹ vor. Eine scharf gesehene, soziale Dreiteilung ergibt sich. Durch die ›Kultur‹ bleiben alle ausge­ schlossen, die einer »bloss körperlichen Beschäftigung«56 nachgehen, von der Kultur

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selbst ist die aristokratische ›Öffentlichkeit‹57 bestimmt, die der Bürger – drittens – durch seine Bildung überwinden kann, was ihn wieder der Natur nahebringe. Dann sei ›Herrmann und Dorothea‹ ein Epos, denn es spiele in einer »Menschenclasse […], die wirklich auch jetzt noch natürlicher, einfacher und antiker lebt.«58 Humboldt hat einen gesellschaftlichen Eigenraum konzipiert, der außerhalb der Machtverhältnisse liegt, in dem die Menschen weder reich noch arm, nicht machtlos und nicht über­ mächtig sind. Eine künstliche Beschränkung soll zur Natur führen. Vor allem durch die Auslegung der Geschlechtereigenschaften sucht Humboldt seine Überlegung zu erhärten. Seine Charakterisierungen folgen den kurrenten Werten. Über Goethes Dorothea sagt er: »Welche treffende Schilderung der schönen Leichtigkeit des weiblichen Charakters, mit welcher die Weiber, durch ihr ganzes Wesen idealischer und künstlerischer gestimmt, die Liebe nur wie ein anmuthiges Spiel behandeln und an diess Spiel dennoch reiner und wahrer ihr ganzes Daseyn hingeben, als der schwerfälligere Mann an den feierlichen Ernst seiner Gefühle.«59 Ähnlich hat August Wilhelm Schlegel die Figuren gezeichnet, und auch seine Ge­dankenfigur reduziert die ästhetische Überlegung. Wie Humboldt gibt er dem Genre eine sozialhistorische Begründung. Man benötige bürgerliche Figuren, da die sich, anders als Aristokraten oder Angehörige der unteren Stände, frei bewegen können. Doch sogleich erfährt auch bei ihm diese Möglichkeitsbedingung des Ästhe­ tischen eine Wertsetzung. Schlegel schwärmt wie Humboldt von der »männliche[n] Selbst­beherrschung« Herrmanns und seinem »bescheidenen Edelmut« gegenüber der Frau.60 Die Logik dieser Argumentation ist zwingend: Solange sich das Bürgerliche sozial nicht hegemonial durchsetze, bleibe das Epos nur in den Grenzen des Bürgertums natürlich. Damit ist für Humboldt das Epos, in dem ein Mensch wie ein Held alle Men­ schen repräsentiere, und sei es allein innerlich, in seiner Zeit etwas Unmögliches.61

Eine ungebärdige literarische Technik? Das Epos, das sich durch Ruhe auszeichne, bezweckt den Ausgleich von Individuen. Was immer an Technik sich verselbständigen mag, wie etwa in den Werkstattge­ sprächen zwischen Schiller und Goethe, fängt die Bildungsästhetik ein, die eine neue Literaturwissenschaft lehrt, vom Begriff her zu lesen. Mithilfe des Begriffs interpre­ tiert Humboldt Kant und läßt Goethe in die privilegierte Antike ein. Der Preis ist die Beschränkung auf einen Rahmen, wie ihn im 19. Jahrhundert der Roman schafft. Insofern im Roman – der Gedanke Hegels – das Epos fortlebt, könnte ›Herrmann und Dorothea‹ von der Zukunft her betrachtet werden. Auf die wirkliche Moderne, die die Gegenposition zu Humboldt wäre und die Goethe in den ›Wahlverwandtschaf­ ten‹ wählt, verzichtet Goethe hier. Wie Goethe selbst Humboldts Kompromiß schon vorerinnert, auch wenn er sich damit in etwas Unmögliches geführt sieht, zeigt ein Durchgang durch ›Herrmann und Dorothea‹. Die eingangs genannte, leitende Frage



Eine ungebärdige literarische Technik? 

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sei nun wiederholt: Wie eigensinnig ist die von Goethe gewählte Form, und was ist unter ›Form‹ zu verstehen, will man die Form aus den Zwängen der zeitgenössischen ästhetischen Betrachtungen lösen? Das Städtchen ist zu Beginn des ersten Gesangs wie leergefegt. Die meisten sind hinaus, um den Strom von Flüchtlingen zu betrachten, der draußen vor dem Ort vor­ beizieht. Wenige nur, darunter der Wirt und seine Frau, sind zuhause geblieben; sie haben dafür ihren Sohn geschickt. Goethe entfaltet einen Gedankengang, der von einer Schelte der Schaulust seinen Ausgang nimmt. Der Wirt spricht: »Was die Neugier nicht tut! So rennt und läuft nun ein jeder, Um den traurigen Zug der armen Vertriebnen zu sehen.«62 Nur mit einer Absicht dürfe man schauen: mit der Absicht zu geben und zu helfen. Das tut der Sohn. Doch selbst die Hilfe, die im Grunde spontan Grenzen sprengen kann, wird in einem neuen Gedankenschritt gebändigt. Bei aller Hilfe müßten die Grenzen zwischen arm und reich erhalten bleiben. Der Sohn fährt auf der neuen Kutsche hinaus. Das sei die Hauptsache: »Trefflich hast du gehandelt, o Frau, daß du milde den Sohn fort Schicktest mit altem Linnen und etwas Essen und Trinken, Um es den Armen zu spenden; denn Geben ist Sache des Reichen Was der Junge doch fährt, und wie er bändigt die Hengste! Sehr gut nimmt das Kütschchen sich aus, das neue; bequemlich Säßen viere darin und auf dem Bocke der Kutscher. Diesmal fuhr er allein; wie rollt’ es leicht um die Ecke!«63 Folgerichtig sind beide zufrieden mit den Dingen, die sie dem Sohn mitgegeben haben: sie benötigen sie nicht mehr. Wäre dieses Prinzip, eine Aufregung (das spon­ tane Schenken) einzufangen und ihr einen ihr gegenläufigen Sinn zu geben, nicht ständig am Werk, müßte man diese Szene als Karikatur des Wirts lesen. Doch wer hier lacht, lacht nicht mit, sondern über Goethe, der weiter macht in dieser Manier.64 Herrmann lernt bei den Flüchtlingen Dorothea kennen und verliebt sich in sie. Wieder daheim, gerät er mit dem Vater in Streit, der ihn mit der Tochter des reichen Kaufmanns am Ort verheiraten möchte. Die zwei Ratgeber und Freunde des Hauses, der Pfarrer und der Apotheker, lösen im fünften Gesang die Situation – nur vorerst indes, denn neue Konflikte folgen auf jede Lösung. Die beiden konstruieren einen neuen Gegensatz und stellen Herrmann dar als den, der das Gegensätzliche in sich vereinigt. In der Welt gebe es zwei Strömungen: das Gewinnstreben der Reichen aus der Stadt und den Sinn des Bauern für den Gleichlauf der Natur. In der Kleinstadt, als deren Bürger sie Herrmann imaginieren, sei dieser Konflikt zwischen Gewinn und Nützlichkeit aufgehoben:

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»[…] Und Heil dem Bürger des kleinen Städtchens, der ländlich Gewerb’ mit Bürgergewerbe gepaaret.«65 Das sei doch ganz im Sinn des Vaters, der sich jedoch noch nicht überzeugen läßt, denn ein Kleinstadtbürger könne auch eine falsche Braut wählen. Ein neuer Gedanke ist vonnöten. Goethe gibt ihn. Er lautet: Ein gebildetes Individuum wählt das ihm Gemäße, denn zur Bildung gehört die Wahrung des eigenen Kreises, des Kreises der eigenen individuellen Welt. Der Pfarrer spricht: »Rein ist Herrmann: ich kenn’ ihn von Jugend auf, und er streckte Schon als Knabe die Hände nicht aus nach diesem und jenem. Was er begehrte, das war ihm gemäß; so hielt er es fest auch.«66 Die Frage ›Erfüllt Dorothea diese Erwartung?‹ treibt das Geschehen nun voran. Pfarrer und Apotheker machen sich zu zweit auf (zu zweit, denn das gleiche ihr Urteil aus), um zu prüfen, ob stimmt, was Herrmann sagt: »Und ihr werdet sie bald vor allen andern erkennen; Denn wohl schwerlich ist an Bildung ihr eine vergleichbar.«67 Der Bildung, von der hier der Text selbst spricht, überläßt die Gattung bis ins Einzelne die Gestaltung. Dorotheas Bildung meistert die Konflikte sowohl in der Vergangen­ heit, auf die sich Apotheker und Pfarrer konzentrieren, als auch in der Gegenwart des Stücks. Die beiden Kundschafter erfahren, daß sich das Mädchen bei einem Überfall französischer Truppen vorbildlich zur Wehr gesetzt habe, und ihrem früheren Gelieb­ ten, der für die Revolution sein Leben gab, bewahrt sie ein treues Andenken; Herr­ mann führt sie nach Hause, findet aber keine klaren Worte für seine Liebe. Sie glaubt, er dinge sie als Magd, und bewahrt in dieser Lage, angesichts des Spotts des Vaters und einer neuerlichen Prüfung durch den Pfarrer, ihre Würde – ihre Zuneigung für Herrmann bekennend und entschlossen zu entsagen. Doch alles löst sich in Wohl­ gefallen auf. Das Werk endet mit einer Ansprache Herrmanns, in die sich antifranzö­ sische Töne mischen: »Desto fester sei bei der allgemeinen Erschüttrung, Dorothea, der Bund! Wir wollen halten und dauern, Fest uns halten und fest der schönen Güter Besitztum. Denn der Mensch, der zur schwankenden Zeit auch schwankend gesinnt ist, Der vermehret das Übel und breitet es weiter und weiter; Aber wer fest auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich. Nicht dem Deutschen geziemt es, die fürchterliche Bewegung Fortzuleiten und auch zu wanken hierhin und dorthin. ›Dies ist unser!‹ so laß uns sagen und so es behaupten!«68

Sprachpraxis 

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Wenn Bildung der Sinn der Gattung von ›Herrmann und Dorothea‹ ist, so meint ›Bildung‹ die ständige Konstruktion individueller Ganzheiten, bis ins Kleinste. Das wäre ihre formale Gestaltungsfreiheit, die sie wahren kann, selbst wenn sich das Werk von außen auf eine bestimmte Gattung festlegen will. Den ästhetischen Rang des Epos entscheidet der Verlust dieser Gestaltungsfreiheit, wenn Goethe sie – wie es auch Herrmanns Programm will, das ungehindert zur Autoreflexion des Stücks wird – auf den sozialen Stand des deutschen Kleinstadtbürgers und seine Werte festlegt. Bildung als Form schafft anarchische Verhältnisse im Kleinen – sie ist in diesem Sinn eine flexible literarische Technik. Doch allem Einzelnen ist derselbe ästhetische Sinn eingeprägt wie den größeren Individualitäten, nämlich die Identität mit sich selbst. Der Verzicht auf die Idee, daß im Kleinsten auch das Große enthalten sei, könnte die Trennung zwischen formaler und kulturell-ästhetischer ›Bildung‹ wahren – diesen Verzicht unterlaufen Goethe und Humboldt indes durch den Begriff und seine kon­ krete, normative Auslegung, deren Norm lautet:69 ›Es kann uns nichts passieren.‹

Sprachpraxis In all den Jahren, in denen Humboldt seinen Sprachforschungen nachgeht, reist, mit den Dichtern denkt und als Diplomat oder Politiker handelt, übersetzt er zwi­ schen 1796 und 1816 den ›Agamemnon‹ des Aischylos und erfährt, wie sich die List philologischer Vernunft in einer kreativen Praxis durchsetzt,70 die mehr gibt als nur die Vernunft, wie Schiller sie ihm zugesteht. Unmittelbar und wissend zugleich ist diese Praxis: unmittelbar, weil sich der Gegenstand aufdrängt, dem Übersetzer ent­ gegenstellt und aus der konkreten sprachlichen Situation heraus gemeistert sein will – wissend, weil die unberechenbare Wahrnehmung von den Begriffen her gedeu­ tet wird, gegen die sie sich – innerhalb der Rekonstruktion – kehren kann. In dieser Praxis leuchtet jene unberechenbare Kreativität auf, von der Humboldt selbst spricht: »Immer aber bleiben Leichtigkeit und Klarheit Vorzüge, die ein Übersetzer am schwersten, und nie durch Mühe und Umarbeiten erringt; er dankt sie meistentheils einer ersten glücklichen Eingebung«71. Die Bildungstheorie kommt oft erst danach, um die Fremdheit, das Unerwartete, das Ungewollte dann wieder einzubinden und so die weitere Arbeit innerhalb des Textes zu prägen. Die reflexive Aufhebung der Negation, die eine ästhetische Erwartung erfahren hat, bestimmt die Argumentation der Abhandlung über ›Herrmann und Dorothea‹, und auch im Übersetzen gilt Hum­ boldts Augenmerk dem aktualisierenden, die Seele des Lesers ergreifenden Rhyth­ mus, nachdem er die Fremdheit der Wörter rekonstruiert hat. Humboldts Reflexion bleibt auf die praktische, auch kreativ hellsichtige Irritation bezogen. Doch ›Herrmann und Dorothea‹ hat er nicht als Sprachkunstwerk gedeutet. Die Überlegungen, die Humboldt in der Einleitung seiner ›Agamemnon‹-Übersetzung vorausschickt, zeigen deutlich, was ihm Goethes Werk zu bedenken nicht aufgegeben hat: eine sprachliche Fremdheit. Ihr möchte sich Humboldt in seiner Übersetzung

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stellen. Die ›Klarheit‹, die Humboldt sich von der Übersetzungspraxis erhofft, soll das Original nicht vereinfachen, sondern im Gegenteil dessen Fremdheit durchdringen und wiedergeben. Goethe gibt in einem Brief an Knebel vom 28. 3. 1797 einen Finger­ zeig, welchen Sinn Humboldts Übersetzung für ihn in seiner literarhistorischen Kon­ stellation gewinnt: Während Schiller den ›Wallenstein‹ schreibe, übersetze Humboldt den ›Agamemnon‹, August Wilhelm Schlegel Shakespeares ›Julius Caesar‹, und er selbst sitze über ›Herrmann und Dorothea‹.72 Das Epos ist in gattungsgeschichtsphilo­ sophischer Weise auch eine Übersetzung, doch Humboldt erweitert mit den anderen, indem er sich in seiner Einleitung auf Wörter konzentriert, die an der Bildung orien­ tierte Gattungsreflexion des Epos und seiner Studie darüber. Er gibt Widerworte gegen Goethe und bestreitet nun auch linguistisch dessen Nähe zur Antike, die er unter Absehen von der Sprache in der Abhandlung konstruieren will. Drei Gedanken verbindet Humboldt in seiner Einleitung: Sie gelten der Sprache, den Wörtern und dem Rhythmus. Sprache faßt er schon in den ersten Studien als die materiale, sinnliche Seite einer Denkfähigkeit und traut ihr zu, schärfer als andere Zeichensysteme die Einheiten zu fassen, die das Denken bildet, und sie auch zu Begriffen zu kombinieren.73 Daher führt er auf die Sprache der Griechen ihre Mytholo­ gie und des weiteren die Kunstwerke zurück. »Die früheste geschichtliche Ueberliefe­ rung gestaltete sich in dem glücklichen Griechischen Geiste von selbst zum Stoffe der Kunst, ein Vorzug der wohl hauptsächlich der in ihrem ersten Ursprung dichterischen Sprache zuzuschreiben ist, da die Form immer die Materie besiegt, die nur, wo jene mangelhaft ist, sich in ihrer rohen Unbeholfenheit hervordrängt«.74 Diese SprachOrdnung vor der Dichtung schaffe eine mythologische Natur, die schon immer artifi­ ziell ist und in der der Dichter produktiv sei. Sie erlaube Aischylos, die Atridenerzäh­ lung und den Untergang Trojas, eine Familien- und eine Weltgeschichte, in einem Hauptmotiv zu verknüpfen: dem Tod Iphigenies. Die Ordnung des Dramas stehe dazu wie – folgt man der rekonstruktiven Hermeneutik Schleiermachers – die Rede zur Sprache.75 Ohne Gegensatz, denn die Sprache ist nur, insofern man sie spricht. Die Idiosynkrasie einer bestimmten historischen Sprachordnung scheide die Sprachen voneinander und mache literarische Werke im Grunde unübersetzbar: Davon geht Humboldt aus. Er anerkennt die Differenz gerade der Wörter, denn in ihnen konzentriere sich, wie im Ideal die Totalität, die allgemeine, für sich schon unvergleichliche Ordnung: »das unbestimmte Wirken der Denkkraft zieht sich in ein Wort zusammen, wie leichte Gewölke am heitren Himmel entstehen. Nun ist es ein individuelles Wesen […]. Wenn man sich die Entstehung eines Worts menschlicher Weise denken wollte […], so würde dieselbe der Entstehung einer idealen Gestalt in der Phantasie des Künstlers gleich sehen.«76 Trotzdem hält er am Übersetzen fest, denn es bleibt die Möglichkeit, die Welt der eigenen Sprache zu verändern und zu bereichern, um dem Wort in der Übersetzung die gleiche Individualität zu ermög­lichen. Damit gewinnt die Übersetzung eine vorzügliche, nationenbildende Aufgabe: »Wie sich aber der Sinn der Sprache erweitert, so erweitert sich auch der Sinn der Nation.«77 Möglich sei das nur, wenn das Fremde der Wörter in der Übersetzung erhalten bleibt, die einen

Sprachpraxis 

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klaren Blick auf den fremden Gegenstand voraussetze. Eine angemaßte Dunkelheit: die ›Fremdheit‹ lehnt Humboldt ab. Als schreckte Humboldt vor dem eigenen Gedanken zurück, führt er ein drittes ein: den Rhythmus. Ihn leitet die Sorge um die Klarheit des Werks, die er in der Über­ setzung anstrebt. Die Aischylos zugeschriebene Dunkelheit will er bewahren und er lehnt es ab, mit der Einsicht des Interpreten übersetzend einen Zusammenhang zu stiften. Man könnte das, denn die Dunkelheit im ›Agamemnon‹ ergebe sich durch das Auslassen von »Mittelideen«, durch eine rationale Konzentration, die auf »ver­ mittelnde Bindesätze, Gedanken, Bilder, Gefühle, Erinnerungen und Ahndungen, wie sie aus dem tief bewegten Gemüthe entstehen«78, verzichte. Die Klarheit, die der Übersetzer dennoch, kraft der Eingebung, erreichen könne, beruhe auf der indivi­ duellen Totalität der Nation und des Dichters, die man kennen müsse. Ihren Aus­ druck findet diese Totalität, so Humboldt, im Rhythmus, einer Form, die die Seele des Interpreten ergreifen könne, weil sich darin die Seele der Griechen ausdrücke. So gilt für die Griechen und die Deutschen gleichermaßen, die als einzige in ihren Spra­ chen den griechischen Rhythmus nachbilden können, was er über ›Weile und Ton‹ sagt: »man denkt immer Alles im Geistigen zu finden. Es ist hier nicht der Ort dies auszuführen; aber mir hat es immer geschienen, dass vorzüglich der Umstand, wie sich in der Sprache Buchstaben zu Silben, und Silben zu Worten verbinden, und wie diese Worte sich wieder in der Rede nach Weile und Ton zu einander verhalten, das intellektuelle, ja sogar nicht wenig das moralische und politische Schicksal der Natio­ nen bestimmt oder bezeichnet.«79 Humboldt deutet erneut das Metier innerhalb einer bildungs­theoretischen Reflexion und unterwirft es ihr auch. Er hat an der präzisen Nachahmung der Versformen am meisten gearbeitet, und der Rest der Einleitung gilt Über­legungen zur »wahren Form«80 im einzelnen. Die Konstruktion vernachlässigt gänzlich die Syntax – so bricht Humboldt in seiner Übersetzung die Satzzusammen­ hänge auf und unterläuft die Anstrengung, den besonderen Sinn, die Eigenart des Gesagten zu verstehen, also sein eigentliches Anliegen.81 Goethe nimmt mit einem disparaten Brief am 1. 9. 1816 Humboldts Übersetzung in Empfang.82 In einander fremden Absätzen folgt er dem Gedankengang der Ein­leitung, oft geradezu geistesabwesend. Sein Augenmerk gilt weniger der Synonymenfrage, dem Rhythmus, der Gattungszuordnung (dem Lyrischen, auf das Humboldt Wert legt) – das alles streift er kurz, und er verzichtet gänzlich auf die sprachphilosophi­ sche These, Sprache sei als eine Ordnung vor der Dichtung zu verstehen, und damit auch auf alles ›Stoffliche‹ bzw. Mythologische. Er beschreibt statt dessen eine Art her­ meneutisches Mysterium: Um dem Ungeheuren und Fremden dieser Tragödie »ent­ gegenzustehen«, gelte es, »alle unsere Sinne zusammen[zu]nehmen«; hilfreich sei, daß Aischylos jeder Figur einen in sich geschlossenen Gesang (›Aristeia‹) gebe, lauter Individuen, einzelne Gedichte: »In einem jeden guten Gedichte muß die ganze Poesie stecken«83. Die gedankliche Bewegung, die Humboldt, veranlaßt durch das Fremde der Wörter, vollzieht, übersieht er. Er sucht die Natur, die bildend den unmittelbaren Anschluß an die antiken Dichter gewährt.

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 Wilhelm von Humboldt 1798. Zu Goethes ›Herrmann und Dorothea‹

Zur ästhetischen Kritik Doch für ›Herrmann und Dorothea‹ haben Goethe und Humboldt eine Art Abkom­ men geschlossen. Will der Dichter literaturpolitisch durch Bildung in die Nation hinein­wirken, so bedeutet ihm der Gelehrte Humboldt, daß er dann antik werden müsse, und Humboldt erklärt sich bereit, seine kantische Ästhetik, die sich in der ›Antike‹ erfülle, nach der Natur des Dichters zuzurichten. Spricht man hier von einem Kompromiß, dann setzt das historische Alternativen voraus, auf die beide verzichten: Goethe etwa auf die Anarchie des Wissens, die sich in der technischen Seite der Bildung nieder­schlagen kann. In Goethes Pantheismus gehören Anarchie und Natur zu­sammen, aufgrund eines Prinzips, namentlich seiner ›Natur‹, über das Goethe verfügt und das er – technisch – suspendieren kann. 84 Humboldt verzichtet seinerseits auf das Projekt, Kant durch eine philosophisch begründete Geschichte der menschlichen Bildung zu vervollständigen,85 in der die Sprachstudien und seine Übersetzungstheorie eine grundlegende Rolle spielen. Letztlich setzt sich bei beiden die bessere eigene Einsicht durch. Goethe verzichtet zwar in Hinkunft nicht auf die Antike, aber auf weitere antikische Epen, wohl auch weil Humboldt schon in seiner Abhandlung über ›Herrmann und Dorothea‹ ein Scheitern artikuliert: Gerade das Ver­ hältnis von Goethe zur antiken Dichtung zeige, daß sich die Geschichte nicht arretie­ ren lasse. Das Fremde sei konstitutiv. Jenes Abkommen hat sich auf eine Leitidee, einen Begriff, nämlich die ›Bildung‹ konzentriert. Darin zeigt sich ein allgemeineres ästhetisch-methodisches Problem sowohl der Dichtung als auch der Interpretation, das das Verhältnis von Poesie und Literaturwissenschaft in der deutschen Kulturgeschichte nachhaltig prägt. Es geht um die Grundlagen ästhetischer Kritik. Eine allgemeine Betrachtung ist nötig, die die Praxis der institutionell verfaßten Philologien einbezieht, gerade weil sich auch nach der Auflösung des Abkommens im ›Unternehmen Deutsche Klassik‹86 wenig geändert hat. Eine Interpretation gibt stets einen Vertrauensvorschuß und sollte den Sinn eines Werkes in dem Maß rekonstruieren, in dem es gelungen ist – in dem Maß, in dem jener Vertrauensvorschuß gerechtfertigt ist. Oft folgt der Interpret den Deutungen, die ein Werk, explizit oder implizit, enthält. Die Autoreflexion des Werks – als ›textus sui ipsius interpres‹ – ist zurecht der Ausgangspunkt. Doch wenn der Interpret einen Wahrheitsanspruch anerkennt, den die Dichtung erhebt oder der ihr zugeschrieben wird, und der über das sekundäre philologische Wissen hinausreicht, dann führt die Interpretation nicht mehr zu dem partikularen Werk und wie es gemacht ist hin, sondern zu einer ›Wahrheit‹, die sich in ihm ausdrücke.87 Unter diesen Vorzeichen steht die Philologie seit ihren Anfängen im Schatten der Dichtung.88 Auch Humboldts ergebene Haltung ist dafür ein – frühes – Beispiel. Als er, einem Vorschlag Schillers folgend, zu Beginn des Jahres 1794 nach Jena übersiedelt, wo er über Schillers Vermittlung bald auch Goethe kennen lernt, »akzeptiert [er] Schillers Führungsrolle unbedingt«89, da Schiller zur kritischen Vernunft hinzu, die auch ihm



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zu Gebote stehe, die künstlerische Erfindungskraft besitze; und am 30. 7. 1825 resü­ miert sein Bruder Alexander in einem Brief an Goethe: »Beide Humboldts gehören Ihnen an, und der Stolz ihres Lebens war es, ihren Beifall sich erworben zu haben.«90 Die Dependenz nimmt unterschiedliche Gestalt an. Schiller ist Humboldt zwar näher als Goethe, doch dessen künstlerische Größe zieht Humboldt an, der Goethe zudem für sein Bildungsprojekt braucht.91 Und allgemein wechseln im Laufe der Geschichte die Gründe für solche Demut; man findet sie nicht zuletzt in der Konstitution der Philo­logien selbst, als Ausdruck einer immer neu zu erfüllenden Sehnsucht nach Aktualität und Ganzheit. Oft liegen der Autointerpretation des Werks Begriffe zugrunde, die der kulturel­ len Sphäre entstammen oder darin ihren Gebrauchswert besitzen. Gerade das ver­ führt dazu, die Werke der Dichter anhand der Begriffe zu verstehen. Dichtung und Philologie teilen sich oft gerade darin das Populäre, das sie auf jeweils unterschied­ liche Weise benötigen. Man denke an die Rolle des von der Medizin popularisierten Wissens in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Da das Werk seine Beson­ derheit indes nur in der Kritik dieser Begriffe gewinnen kann, sucht der Interpret den Begriffen, die das Werk für sich anbietet, ihren anderen Sinn abzulesen. So geht in der Wortbedeutung selbst die Schere zwischen critique und Kritik, im Doppelsinn des Ver­ ständnisses der Werke und der schärferen Distanz ihnen gegenüber, auf. Die Quali­tät bemißt sich nach der Radikalität, in der das Werk seine Besonderheit verteidigt. Wenn das Werk seinen Protest gegen den eigenen Wunsch populär zu sein nur klandestin äußert, muß der Interpret oft seiner eigenen Wissenschaft widersprechen, die zur Grundlage laute literarische Selbstdeutungen genommen hat, die strategisch auf die literarischen, kulturellen, wissenschaftlichen Felder gemünzt waren. Gewinnt ein Werk seine Eigenart durch die Anstrengung, der begrifflichen Reflexion zu wider­ stehen, einschließlich derer, die der Interpret kraft der Wissenschaftsgeschichte, in der er steht, mit dem Werk teilt, dann muß gerade eine Übereinstimmung Skepsis auslösen, zumal die doppelgesichtige Institution nur abseits der Destruktion der Werke, die sie im Seminar vornimmt, den normativen Wert der Werke feiern kann. Entweder das Werk kommt über seine Werte nicht hinaus, oder der Kritiker möchte den Widerstand des Werks übersehen, der gern seinen Interessen zuwider läuft. Kri­ tisch ist eine Philologie, die bereit ist, sowohl dem Werk als auch dem Interpreten zu mißtrauen. Indem Humboldt mit seiner epischen Interpretation scheitert, bedenkt er mehr höflich als kritisch, doch entgegen seiner eigenen Argumentation, Goethes Eigenart (Bildung), wenn es auch nicht die ist (Bildung als literarische Technik), von der ich spreche.

Leitbegriffe der Philologie als Institution Die ›Bildung‹ gab den Philologien in ihrer Frühgeschichte eine zentrale Rolle in der deutschen Universität. Die Fächer besaßen in ihr ein hochintegratives Konzept, und

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 Wilhelm von Humboldt 1798. Zu Goethes ›Herrmann und Dorothea‹

universitätspolitisch traf man ins Herz der neuen Institution. Mithilfe des Konzepts ›Bildung‹ erfaßte die Reflexion nicht nur den zentralen bürgerlich-liberalen, politi­ schen Wert, sondern es ließen sich gleichzeitig auch die Gegenstände der Forschung benennen, und man verfügte damit über ein wissenschaftliches, hermeneutisches Verfahren, denn nur Individuen können, so die Theorie, andere Individuen ver­stehen. Wissensanspruch, Ethik und Strategie ließen sich zusammendenken: Wilhelm von Humboldt setzte schließlich, seinem Selbstverständnis nach als Philologe, die neue Universität durch, unter Berufung auf den Grundsatz: »Der wahre Zwek des Men­ schen  – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlassliche Bedingung.«92 Nicht einmal ein ganzes Jahr, von 1809 bis 1810, war Humboldt Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Ministerium des Innern. Dort erhielt er die einzigartige Chance, seine Vorstellungen zu realisieren.93 Seine Denk­ schriften für den König, mit denen er die Universitätsgründung vorantrieb, enthal­ ten zwei entscheidende Gesichtspunkte: einerseits die ökonomische Unabhängigkeit vom Staat, und andererseits die Vorstellung, daß die Forschung zur Grundlage habe, den Menschen zu bilden, und daher die Studenten an der Forschung zu beteiligen seien. So ihre Individualität zu befördern, ist der alte Sinn der Verbindung von For­ schung und Lehre. Eine Grenzziehung der Universität gegen die Öffentlichkeit hin, ein Verzicht auf allgemeine Erziehungsaufgaben würde diesen Prozeß einschrän­ ken. Daher schützt Humboldt nicht eine spezialisierte Disziplin gegen das kulturelle Leben, sondern er schützt die Bildung, die Universität und (bürgerliche) Welt teilen, gegen die ökonomischen und politischen Interessen des Staates. Den Forscher trennt er von der Macht.94 Weil Wissen als Bildung verstanden wird, öffnet sich die Uni­ versität der Öffentlichkeit – ein großer Raum soll entstehen, in dem sich die Indi­ vidualität frei entfalten kann. In dem ›Antrag auf Errichtung der Universität Berlin‹ vom 12./14. 5. 1809 schreibt Humboldt: »Allein nur Universitäten können […] auf die Bildung der ganzen, dieselbe Sprache redenden Nation einwirken. Wenn Ew. König­ liche Majestät nunmehr diese Einrichtung förmlich bestätigten und die Ausführung sicherten, so würden Sie Sich aufs neue Alles, was sich in Deutschland für Bildung und Aufklärung interessirt, auf das festeste verbinden«.95 Die Rolle der »bildungsphilosophisch begründeten Philologie«96 wird augen­ scheinlich: Humboldts Verehrung für Friedrich August Wolf, den er 1792 kennenlernt, gehört zu den zentralen Voraussetzungen für die Gründung der Berliner Universi­ tät. »Ich bitte Sie, mich ja immer als einen ausschließlichen Schüler dieses Fachs zu betrachten«, schreibt Humboldt ihm 1796 und meint damit dessen Philologie.97 Die Nähe beider zur Literatur macht sich bemerkbar, auch in der »Goethe-Nähe« der Humboldtschen Berufungspolitik.98 Humboldt zieht Wolfs Pläne 1809 für seine künf­ tige Universität hinzu und macht ihn zum Direktor der wissenschaftlichen Deputation für die Sektion des öffentlichen Unterrichts.99 Wolf steht Goethe prinzipiell näher als



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Humboldt. Er widmet seine ›Darstellung der Althertums-Wissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Werth‹100 (1807) Goethe, der ihn dazu aufgefordert hatte, seine »archäologischen« Hauptvorlesungen zum Druck zu bringen. Wolf wendet Goethes Naturkonstruktion auf die Betrachtung der Griechen und ihres Verhältnisses zu den Deutschen an. Zweimal gilt es – mithilfe der Denkfigur, daß sich das Individuelle angesichts einer Totalität bilde – eine Einheit zu schaffen: die Einheit von Homers Epen trotz der Theorie, daß viele Dichter daran geschrieben haben, und die Identität der Griechen und der Deutschen über die Zeiten hinweg.101 Die Bildung der Griechen mache die Vorrangstellung der Antike aus.102 Wolf konkretisiert in seinen ›Prolegomena ad Homerum‹, wie Humboldt in seiner Abhandlung über ›Herrmann und Dorothea‹, Elemente aus Kants ästhetischer Theorie, um bildungstheoretischen Prämissen, vor allem der ›Totalität‹, gerecht zu werden. Zwar gebe es keinen alleinigen Autor, keinen Homer, doch davon sei die Einheit des Epos nicht berührt. Die sukzessiven Ergänzungen bis hin zu der endgül­ tigen Fassung durch Aristarch, dem alexandrinischen Philologen, folgten, so Wolf, einem Gesetz, das im griechischen Volk und seiner Geschichte wirke. Der nationale Bildungstrieb wachse über den Autor hinaus und schaffe ein Individuum, das mit einer individuellen Person nichts gemein habe und die individuelle Einheit des Werks verbürge. Dieses Gesetz charakterisiert Wolf zwar mit Kants Hilfe, doch gegen dessen Naturbegriff.103 Wenn Goethe sich nun als einer jener ›Homeriden‹ gibt und sich auf diese Weise Mut macht,104 setzt das voraus, daß nicht nur die Geschichte der Grie­ chen, sondern auch die Geschichte bis zu den Deutschen seiner Zeit homogen sich herangebildet habe. Daher steht Wolfs Programm auch im Zeichen der Aneignung: einer spezifischen Aktualisierung zwischen Griechen und Deutschen, die einander in der Kultur verstehen, die anderen Völkern fremd bleibe. Die Griechen seien das erste Volk überhaupt, »bei welchem der Trieb sich auf mannichfaltige Art auszubilden aus den innersten Bedürfnissen des Geistes und Gemüthes hervorging, und aus leiden­ schaftlicher von einem Objecte zum andern forteilender Neigung ein schön geord­ neter Kreis von Künsten und Kenntnissen entstand, die das Leben des Menschen zur eigennutzlosen Beschäftigung seiner höhern Kräfte erhoben. […] mit der Prioriät ist zugleich die Originalität der griechischen Cultur ausgedrückt.«105 Der Unterschied zu Humboldts unfreiwilliger Diagnose von Goethes Ferne zur Antike und von der Partialität dessen Standpunkts dem sozialen Status nach ist augenscheinlich. Nicht zufällig geht er, was Michael Bernays bemängelt, in seiner Abhandlung über ›Herrmann und Dorothea‹ auf Wolfs homerische Untersuchungen nicht ein.106 Wolf wirft Humboldt »Deductionen« vor, die keine historische Betrach­ tungsweise vertragen würden, indes erweist sich die Historiographie Wolfs als erheb­ lich ›deduktiver‹. Die entschiedene Bevorzugung der Antike nötigt Humboldt, ihre Unhaltbarkeit in der Moderne einzusehen – Anfänge einer ungedämpften histori­ schen Analyse aus der Negation philosophischer und linguistischer Erwartungen.107 Humboldts irritierbares Denken führt die Leitvorstellung der ›Bildung‹ an eine Grenze

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 Wilhelm von Humboldt 1798. Zu Goethes ›Herrmann und Dorothea‹

und veranlaßt ihn, Konsequenzen zu ziehen: Statt Kants ›Natur‹ zu aktualisieren, fällt er über neue oder übersetzte Werke ein eigenes Urteil. Ein Übergang wird so möglich.

Übergänge Nicht jeder Philologe will seine Leitvorstellungen bedenken. Schon Anfang des 19.  Jahrhunderts lassen sich eine enge und eine integrative Philologie108 unter­ scheiden. Die enge Philologie trennt die Räume und nimmt – durchaus polemisch – den Standpunkt ein, sie habe es allein mit dem Wissen zu tun, also mit der Über­ lieferung, der Sprache und ihrer Kenntnis, sowie den Realia, der materiellen Umwelt, die man – in einem noblen Sinn – auch ›Antiquitäten‹ nannte. Das ›Wissen‹ bezieht die Arbeit und die Pflicht ein, nicht das Interesse am aktualisierten Gegenstand, und sucht die nationale Anerkennung, die die Arbeit sanktionieren soll, ohne daß nor­ mative Vorstellungen mitbedacht werden. Karl Lachmann stellt den integrativen Bil­ dungsbegriff von Humboldt in Frage und gibt ihn auf. Das Interesse am Gegenstand, also die Konstruktion einer individuellen Aneignung, sieht er als etwas Privates an, das in einzelnen, elitären gesellschaftlichen Gruppen gepflegt wird; insofern denkt er demokratisch. Verwerflich ist ihm der private Wert, der sich durchsetzen will, und ebenso die Instrumentalisierung von Institutionen; es bleiben die Tätigkeit allein bzw. die tätige Person. Seine Gegner an der Universität greift Lachmann an, indem er ihre Charaktereigenschaften rügt; auf den Berliner Friedrich Heinrich von der Hagen, den Nibelungenherausgeber und überhaupt ersten Germanisten auf einem Lehrstuhl (1810), ist Lachmanns Satz bezogen: »Wollen Unwissende lehren, die, von nichtiger Lust angereizt, arbeitsscheuen Liebhabereifer, und wohlgemeinte, aber eitele und erfolglose Betriebsamkeit sich als Verdienst anrechnen: die Verachtung der Schüler stürze sie, die jetzo leicht zu durchschauen sind, von dem Stuhle des Hochmuts. Wir haben Ursach genug, endlich durch unverdrossene tüchtige Arbeit die so lange und nicht mit Unrecht verweigerte Achtung der Zeitgenossen uns zu verdienen.«109 Die Liebhaber sind gebildet und stehen der Literatur nahe – ihnen gegenüber ist der institu­tionelle Eifer nicht weniger abzulehnen, beides stehe dem Arbeiter-Philologen fern, der allein durch eine Tätigkeit sich auszeichne, keineswegs durch wissenschafts­ kritische Gedanken, die die Faktoren, die im Spiel sind, reflektierten und darauf die Ergebnisse jener Tätigkeit bezögen. Eine integrative Philologie rechnet hingegen mit allem. Bei Humboldt bildete eine Einheit, was später auseinanderbrach: die Elemente oder Normen, die die philologi­ sche Praxis prägen und sich in einer Dreieckskonstruktion, einem ›philologischen Dreieck‹, aufeinander be­ziehen lassen, namentlich Wissensansprüche, der Macht­ wille und moralisch-ethische Werte.110 In der Gravitation dieser Normen vollzieht sich die Praxis, die im Leitbegriff der ›Bildung‹ ihren reflexiven Ausdruck fand. Die Geschichte hat eine ganze Reihe solcher Leitbegriffe hervorgebracht: Bildung, Nation und Leben, moderner auch: Sprache, Kritik und Diskurs. Regelmäßig haben solche

Übergänge 

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Leitkonzepte, die alle kulturellen Status besaßen, die Philologie mit der Dichtung ver­ bunden. Besteht ihre fachliche Funktion darin, die Elemente der Praxis zu integrie­ ren, so ist die entscheidende Frage, auf welche Weise sie die Konflikte reflektieren, sie ins Profil treiben oder zum Schweigen bringen. Die Integration ist nicht notwen­ dig ein Vorzug. Erst in der Kritik dieser Konstitution läßt sich ein Wahrheitsanspruch erheben. Die Deutsche Philologie in der Nachfolge von Lachmann hat sich durch eine Spe­ zialisierung durchgesetzt, die weder über die eigenen institutionellen und norma­ tiven Voraussetzungen nachdachte noch eine öffentliche Bildungsaufgabe über­ nahm: also indem sie die Kräfte des philologischen Dreiecks künstlich trennte. Von den zwei philologischen Traditionen, die sich im 19. Jahrhundert gegenüberstanden, war die Philologie, die die Literatur (der Weimarer Klassik) zur Grundlage nahm, institutionell der ›engeren‹ Philologie unterlegen. Die Trennung von Tätigkeit und Kultur hat die Philologie lange geprägt, auch wenn sie nicht ihrer Verfassung gerecht wurde. Man war so in gewisser Hinsicht redlicher, zeigte auf den Überbau, den die anderen benutzten. Die Trennung ist zur Ideologie dieser Philologen geworden, auch mit dem gegenläufigen Effekt heute, die aktualisierende Liebhaberei allein als ›Philologie‹ zu installieren. Lange indes erwies sich die Trennung als produktiver denn die reflexive Privilegierung einer Ganzheitsnorm, wie sie Humboldt im Kompromiß mit Goethe und Wolf einführte. Auf die möglichen Vorzüge der Integration kam man später unter anderen Voraussetzungen zurück.

2 S  prachdenken. Schillers Elegie ›Der Spaziergang‹ nach Wilhelm von Humboldt Friedrich Schillers Gedicht ›Der Spaziergang‹111, das in der ersten Fassung noch ›Elegie‹ hieß, setzt ein mit dem Gang eines Wanderers durch eine amöne Landschaft: »Sey mir gegrüßt mein Berg mit dem röthlich strahlenden Gipfel, Sey mir Sonne gegrüßt, die ihn so lieblich bescheint,« (V. 1f), eine Landschaft, die sich unverhofft selbst in Bewegung setzt und vorbeizufliegen beginnt: »Lachend fliehen an mir die reichen Ufer vorüber,« (V. 37): Der Wanderer hat sich in Gedanken rasch wechselnder Bilder verloren, in »eine lange Zerstreuung, während der doch die Reise immer fortgeht«112 (Schiller an Humboldt); schließlich erwacht das lyrische Ich aus seinen zusehends beunruhigenden Träumen, die eine Katastrophengeschichte menschlicher Kultur- und Zivilisationsgeschichte vorführen, und kann sich kraft einer entschiedenen philosophischen Auslegung der wilden Natur beruhigen, die ihn am Ende seiner Schau umgibt: »Wild ist es hier und schauerlich öd’. Im einsamen Luftraum Hängt nur der Adler, und knüpft an das Gewölke die Welt. Hoch herauf bis zu mir trägt keines Windes Gefieder Den verlorenen Schall menschlicher Mühen und Lust. Bin ich wirklich allein? In deinen Armen, an deinem Herzen wieder, Natur, ach! und es war nur ein Traum, Der mich schaudernd ergriff, mit des Lebens furchtbarem Bilde, Mit dem stürzenden Thal stürzte der finstre hinab. Reiner nehm’ ich mein Leben von deinem reinen Altare, Nehme den fröhlichen Muth hoffender Jugend zurück!« (V. 181–190) Kein »Schall« bedeutet ohne Sprache; doch die Sprache des Gedichts führte das Ich bis zum »Altar«, der an die Kulturgeschichte im Gedicht anschließt. Das Wort steht am Ende einer Reihe von Wörtern, die den Gang des Gedichts (vom Gebirge und Fels zu behauenem Stein und eben dem »reinen Altare«) bestimmen. Widerspricht die Lin­ guistik des Gedichts dessen programmatischer Aussage vom Ende des Sprechens in der Natur? Ich werde das hier verneinen: Die Sprache, die das Gedicht an sein Ende führt, ist einem Konzept von ›Sprache‹ unterworfen, das im Rausch des raschen Wechsels, in der Geschwindigkeit Bildung, und das heißt für den Klassiker: erhabene Natur schafft.



Philosophie und Lesepraxis 

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Philosophie und Lesepraxis Die Freundschaft zwischen Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schiller, zwischen dem Linguisten, Philologen und Literaturkritiker einerseits, und dem Dichter ande­ rerseits birgt eine methodische Problematik, die im Mittelpunkt dieses Kapitels steht. Humboldts Lektüre des ›Spaziergang‹ wird mein Probierstein sein. Zu fragen ist: Wie kann der Interpret den Gegenstand verstehen, den er zerstören würde, müßte er ihn selbst sich ausdenken? Das Problem trifft in den Kern der Hermeneutik: Die Reflexion des Interpreten setzt ein literarisches Werk voraus, das selbst reflektiert (sonst wäre das Verständnis nicht möglich), aber das auf produktive Weise, d. h. in der Produk­ tion, etwa in der Sukzession bestimmter Wörter, tut. Die Frage nach der Freundschaft ist daher neu zu stellen. Drei Sätze von Wilhelm von Humboldt möchte ich an den Anfang stellen; sie ent­ stammen einem Brief an Schiller vom 23. 10. 1795113 und zielen alle drei auf Schillers Gedicht ›Der Spaziergang‹, das Humboldt gerade eben zur Lektüre erhalten hat: Der erste Satz gilt einer philosophischen Regel und lautet: »mit der größesten Deutlichkeit durchschaue ich jetzt die herrliche Organisation dieser eignen Welt«: Der Philosoph, an Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ geschult, sucht nach der Regel, die das Werk hervorgebracht hat. Sie lautet: Die Vernunft durchdringt die Natur und gewinnt eine andere, erhabene Natürlichkeit. »So entlassen Sie den Leser, wie Sie ihn am Anfang durch sinnliche Leichtigkeit einluden, am Schluß mit der erhabenen Ruhe der Vernunft.« Man könnte auch sagen: Das Gedicht reflektiere den Gedanken der Ästhetik Kants, daß im Genie die Natur der Kunst die Regel gebe, hier eben eine durch den Verstand gelaufene Natur. Darauf sucht Humboldt, wie sich noch zeigen wird, auch seine Lektürepraxis zurückzubiegen. Der zweite Satz gilt dem Prozeßhaften im Gedicht, dessen Dynamik: »Anfangs schien es mir wirklich, als läge hierin ein Fehler in Ihrer Arbeit, als wären Sie zu ununterbrochen mit Schilderungen fortgegangen, und hätten nicht genug dafür gesorgt, die zerstreute Phantasie wieder zu sammeln, jedes einzelne Bild in wenige einzelne Züge zusammenzustellen. Allein bei genauerer Untersuchung muß ich dieß Urtheil gänzlich zurücknehmen, das bloß subjektiv war. Alles ist im höchsten Grade klar, unglaublich schön, und freiwillig fließt eins aus dem andern her«. Der Philosoph setzt darauf, daß diese Dynamik, von einem Bild zum nächsten, der im ersten Satz genannten Regel folgt. Was eins aus dem andern herfließe, müsse schließlich in jene erhabene Natur münden. Im dritten Satz widmet sich Humboldt den einzelnen Ausdrücken: »Vorzüglich sind mit einige Bilder und Beiwörter aufgefallen, die zugleich Neuheit und Schönheit auszeichnet, das ›energische Licht‹, des Schmetterlings ›zweifelndem Flügel‹«. Bei genauer Betrachtung erkennt man, daß Humboldt schön findet, was die klassische Trennung von bildender Kunst und Sprachkunst nachbuchstabiert: Das tätige Licht und der sprechend-zweifelnde Schmetterlingsflügel vertreten die bildende Kunst und

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 Sprachdenken. Schillers Elegie ›Der Spaziergang‹ nach Wilhelm von Humboldt

die Poesie. Doch Humboldt hat sich das nicht zu erklären versucht. Ohne Erklärung, spontan, folgt er dem Gedicht. Kritische Regel, Dynamik und Ausdruck treten hier zueinander. Die Trias zeigt, daß Humboldt sich des schwierigen Verhältnisses zwischen Philosophie (qua Rekon­ struktion der Regel) und einer ästhetischen Rationalität bewußt ist, die zum Sinn des Gedichts führen kann, einem Sinn, der sich dann in einzelnen Wörtern prägnant zeige. Man kann bei Schiller und Humboldt vom gleichen Theorieniveau ausgehen, so daß bei beiden die Spontaneität sekundär zustande kommt. Entscheidend ist, daß Humboldt als Interpret eine Zerteilungstechnik entwickelt, innerhalb derer, oft geübt, eine sekundäre Natur theoretischer Bildung entstehen kann, eine Spontaneität, die der von Schiller nahekommt – mit Schillers Begriff spreche ich von einer sentimentalischen philologischen Praxis. Und tatsächlich unterwirft Humboldt die Praxis Schillers, der die Dichtung im Wechsel von Vorstellungen sich konstituieren läßt (die Distichen des Gedichts schaf­ fen diese Vorstellungen und ihren Wechsel), seiner Vorstellung von Sprache – die berühmte Formel – als Energie, die sich in der Unterbrechung, und das heißt im Wort niederschlage – darauf werde ich noch näher eingehen. Das schöne Wort ist also Aus­ druck einer Spontaneität, welche die Philosophie nicht – wie in einer Konjektur, die eine Lücke füllt, weil man das Gesetz kennt – erklären könne. Humboldts Kommentar zu einzelnen Wörtern, den er im selben Brief an Schiller formuliert, nimmt denn auch zwei Wege: den der Kritik und den des Lobs. Einerseits verlangt er Schiller gegenüber, daß die Philosophie sich in der Sprache des Gedichts durchsetze, wobei die Philosophie den Übergang von der Natur in die Kultur und zuletzt zur höheren Natur meint. Zum anderen lobt er (wie eben den »zweifelnden Flügel«). Während Lob der Spontaneität gemäß ist, als Reflexion eines in die Sprache eingeführten und diesen brechenden philosophischen Gedankens, und einem unbe­ rechenbaren, partikularen Ereignis gilt, äußert Humboldt Kritik in einem konjektu­ ralen Sinn. Die Konjektur beruft sich auf die philosophische Regel. Ihm mißfällt die Zeile »Und vom Dädal beseelt, redet das fühlende Holz« (V. 124). Schiller spielte auf die hölzerne Kuh an, die Dädalus für Pasiphae schnitzte, damit diese den Stier reizen und empfangen könnte. Humboldt schrieb: »sollte es auch gegen die Geschichte sein, lieber Stein«; und so änderte Schiller denn; in der zweiten Fassung lautet die Zeile: »Und vom Meißel beseelt redet der fühlende Stein«. Das Gedicht hält sich anson­ sten strikt an den Übergang von ›Gebirge‹ und ›Fels‹ zu ›Stein‹, das die mensch­ liche, kulturelle Prägung des Felsen meint. Also von Natur zur Kultur. Schiller drückt sich linguistisch konsequent aus, denn Grimms ›Deutsches Wörterbuch‹ hat genau diese Unterscheidung (Fels = »im reiche der natur«; Stein = »im dienste des men­ schen«). Daß Schiller Humboldts und also Grimms Gesetz folgt (Grimm zitiert sub voce ›stein‹ zweimal den ›Spaziergang‹), demonstriert die programmatische Ebene des Gedichts.114 Letztlich wird die sprachliche Spontaneität, die Humboldt lobte, von einem ihr äußerlichen Referenzsystem (eben der Trennung der Künste in der Klassik) kontrol­



Gedanken und Geschwindigkeit 

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liert. Rühmt er »zugleich Neuheit und Schönheit«, so richtet sich in dieser histori­ schen Lage tatsächlich die Schönheit der Wörter gegen die Neuheit. Was Humboldt spontan schön findet, ist eben nicht neu, sondern gehört der klassischen Ästhetik an. Dennoch: Humboldt folgt dem Gedicht und schafft mit der ›Sprache‹, als unterbrochene Dynamik verstanden, eine Form textueller Reflexion, und das bezogen auf ein philosophisches Ungenügen. Die ›Sprache‹ ist in diesem Verstand der Modus des schieren Wandels, der grundsätzlich Abweichungen von ästhetischen Normen (auch von denen der Klassik) zu erkennen erlaubt. Wird sie beschränkt, so liegt das in der Absicht des Gedichts, das sein Natur-Kultur-Programm verläßt. Inwiefern vermag Humboldts Sprachdenken die partikulare Vernunft eines Werkes zu verstehen? Von dieser Frage aus aktualisiert sich in der Freundschaft der hermeneutische Konflikt zwischen Kritik und Sinn des Werks, der historisch die Form von transzendentaler Ästhetik und Sprachdenken annimmt. Mit der systematischen Frage stellt sich die wissenschaftsgeschichtliche nach den Traditionen, die von Hum­ boldt bis zu einer kritischen Hermeneutik heute reichen, und in der Schiller selbst sich bewegte.115 Das führt zu einer Wissenschaftsgeschichte der Literatur. Zeigen wird sich, daß Humboldt eine Technik höchst beweglicher Rationalität entwickelt, die er – Goethe gegenüber – ›Bildung‹ und zu Schiller hin ›Sprache‹ nennt; als Philosoph sucht er diese Technik in einer zweifachen Auslegung von Kants dritter Kritik ein­ zufangen. Spontan bleibt er dort, wo diese Gedanken zum Praxishaushalt geworden sind, einer Art sekundärer Natur.

Gedanken und Geschwindigkeit Am 5. Oktober 1795 schickte Schiller seinem Freund Humboldt die gerade erst, im August und September, entstandene ›Elegie‹, ein langes Gedicht in hundert Disti­ chen, das noch im selben Jahr in der Zeitschrift ›Die Horen‹ erschien. Als Schiller die ›Elegie‹ im Jahr 1800 in der Ausgabe seiner Gedichte stark überarbeitet noch­ mals publizierte, gab er ihr den Titel ›Der Spaziergang‹. War der erste Titel (›Elegie‹) gattungsprogrammatisch und gehörte somit in die Reihe jener Werke Goethes und Schillers, die sie als Dokumente einer neu zu schaffenden Klassik begriffen, so legt der zweite Titel, der den Gang: den Erkenntnisgang durch die Natur betont, den das Gedicht nimmt, die Schwäche des ersten bloß. Die Schwäche liegt darin, daß der Titel nicht faßte, was tatsächlich vorlag: Nicht eine Elegie im Sinn der klassischen Ästhetik hat Schiller geschrieben: Sie würde in der Melancholie das verloren gegangene Ideal aufbewahren und so die schmerzliche Distanz heilen. Doch sein Gedicht fügt an den elegischen Teil die Idylle an (die letzte Zeile lautet: »Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns.«) und hebt den Verlust als Traum auf. In der Wanderung hat es den Verlust nicht gegeben. Der neue Titel führt die Dynamik als entscheidende Kate­ gorie ein.116 Der ›Spaziergang‹ erklärt, wie die Komposition von der Elegie zur Idylle kommt. Ambulatorisch entsteht das Gedicht.

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 Sprachdenken. Schillers Elegie ›Der Spaziergang‹ nach Wilhelm von Humboldt

Diese Dynamik hat für Schiller einen ästhetischen Zweck: Sie soll seinen Ge­danken ermöglichen, sich natürlich auszudrücken, denn im Forteilen können dem Philosophen die Sinne vergehen. Folgt nun die Interpretation dem Gedicht, so wird sie dessen, in der raschen Gedankenfolge entstehenden Sinn zu fassen suchen. Auf die Vernunft im Gedicht ist daher zu achten und auf ihre Geschwindigkeit. Zum Gedankendrama. Die Vernunft gibt dem programmatischen Bild eines ›Spazier­gangs‹ die Form, es ist das Genre der Elegie vor Schillers Abhandlung ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹, also zuvorderst schlicht ein Gedicht aus Disti­ chen. In der griechischen Dichtung war der Zweizeiler aus Hexameter und Pentame­ ter der hohen politischen Dichtung vorbehalten, im Lateinischen gern der privaten Liebesklage, und im 18. Jahrhundert den Epigrammen, den geformten, zugespitzten Gedanken – daran schließt Schiller an.117 Die Herausforderung im ›Spaziergang‹ besteht für ihn darin, den einen »epigrammatischen Gedanken«118 aus dem andern zu entwickeln, um der Dynamik Notwendigkeit zu geben. Damit weiß Humboldt auch die Antwort auf die Bitte, die Schiller noch im selben Brief vorbringt. Schiller schreibt: »Denken Sie, lieber Freund, noch einmal recht streng über mich nach, und schreiben mir dann Ihre Meinung. Poesie wird auf jeden Fall mein Geschäft seyn; die Frage ist also bloß ob episch (im weitern Sinn des Worts) oder dramatisch?«119 Wie im Drama – und ohne epische Retardierung120 – muß die gedankliche Folge sein, die Schiller anstrebt und die Humboldt ihm kritisch zubilligt: »und freiwillig fließt eins aus dem andern.«121 Der ›Spaziergang‹ schafft so, gegen Schillers Elegie und in Distichen, seine ihm eigene Gattung. Eine Art Gedankendrama. Zur Geschwindigkeit. Man hat in Jena offenbar über das Verhältnis von Sprache, Kunst und Gedanken geredet, denn Schiller schreibt Humboldt am 26. 10. 1795: »Das mag seyn, dass meine Sprache immer künstlicher organisiert seyn wird, als sich mit einer homerischen pp Dichtung verträgt, aber den Antheil der Sprache an den Gedan­ ken unterscheidet ein kritisches Auge leicht, und es wäre der Mühe und Aufopferung nicht werth, eine so mühsam gebildete Organisation, die auch nicht an Tugenden leer ist, auf gut Glück wieder zu zerstören.«122 Schiller zollt der Sprache als poetischem Gegenstand sonst wenig Beachtung. Hier kommt er darauf zu sprechen, weil er sich fragt, wie er trotz seiner fehlenden Kenntnisse des Griechischen gerade kraft seiner eigenen, wenn auch ›künstlicheren‹ Sprache (und er nennt die ›Elegie‹ als gelunge­ nes Beispiel) jener ihm »fremden Natur«123 nahe kommen kann. Er gibt alles Recht der Sprache und setzt sie den Gedanken gegenüber, die ihr zwar eine gewisse Künst­ lichkeit geben, doch leicht wäre die Sprache davon abzuziehen. Trotz der Künstlich­ keit beherrsche er eine natürliche Sprache, auch wenn deren Natürlichkeit sekun­ där, poetisch sein mag. Wer genau hinsehe, werde das Sprachliche in der Sprache, ihr ›Naives‹, die Kraft der Sprache zu erkennen wissen. »Ja ich bilde mir in gewissen Augenblicken ein, daß ich eine größere Affinitaet zu den Griechen haben muß, als viele andre.«124 Sprache und die Poesie bilden zur Künstlichkeit, die durch den Gedanken zustande kommt, dann keinen Gegensatz, wenn es rasch zugeht. Die Seele kann sich



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so bei ihrer Produktion nicht erhaschen, kommt nicht ins Stocken; das ist auch der Sinn des bekannten Distichons: »Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen! Spricht die Seele so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.«125 Das Distichon ist aus der Figur, ja Problematik der stockenden Dynamik heraus neu zu deuten. Der Kontext des Distichons, bislang kaum beachtet, erzwingt dies gerade­zu. Was meint Schiller mit den zwei Zeilen? Das lebendige Denken trennt er durch das Attribut ›lebendig‹ von einem Denken, das der vernünftigen, kalten Sprache ange­ höre. Der Geist als Naturpotenz des Lebens steht der Intellektualität gegenüber, und die Seele, eigentlich an das Bild als das ihr genuine Medium gebunden (›erschei­ nen‹), hat nur die Sprache zur Hand. Spricht die Seele, dann ist sie der Intellektua­ lität unterworfen. Doch der Gegensatz ist im Schaffensprozeß überwindbar; wenn Schiller im Schreiben ist (im Gange, sagt er), dann gelte nicht, was er ursprünglich dem Don Carlos – jenem Distichon gleich – in den Mund legen wollte: »O schlimm, daß der Gedanke / Erst in der Sprache todte Elemente / Zerfallen muß, die Seele zum Gerippe / Absterben muß, der Seele zu erscheinen«126. Im selben Brief vom 1. 2. 1796 erklärt Schiller Humboldt: »Bin ich einmal im Gange, wie ich es diesen Sommer und Herbst war, so kann ich unter lastenden Geschäften große Briefe schreiben, ohne an den Mechanismus zu denken. Bin ich aber, so wie jetzt, aus diesem Mechanis­ mus heraus, so erschrickt der Gedanke vor dem weiten Weg den er hat, um zu dem andern [d. i. zu dem Leser] zu gelangen.«127 Die Dynamik, der Fluß sorge schon für die sprachliche Lebendigkeit; sie läßt es Schiller möglich erscheinen, sein Ideal einer von der ›sentimentalischen‹ Künstlichkeit befreiten Sprache, von der er auch Hum­ boldt schrieb, zu erreichen. Innerhalb der Sprache und nicht notwendig im Rekurs auf außersprachliche Zeichen.128

Sprache in Dynamik Humboldt folgt Schillers dynamischer Denkfigur. Sie prägt die Anfänge seiner Sprachtheorie. Im Gegenzug identifiziert Humboldt Schillers poetische Reflexion mit der Sprache überhaupt. Gilt diese Reflexion der Individualität eines literarischen Werkes, tritt ein neuer Humboldt vor unsere Augen: Nicht um die Individualität bzw. den Charakter einer Sprache geht es, den die Philologie im »Sprachgebrauch jedes Schriftstellers«129 festzustellen vermag (insofern vollendet die Philologie erst den von der Linguistik eingeschlagenen Weg), sondern um eine Denktechnik, die den Namen ›Sprache‹ erhält (und in anderem Zusammenhang auch ›Bildung‹ heißen kann) und in der Literatur ihr Potential erst entfalten kann. Insofern hält Jürgen Trabant mit Recht fest, daß Sprache für Humboldt »eine Form der Einbildungskraft, eine Form der Poetizität«130 ist. Wenn nun Humboldt die Sprache Schillers heraushebt, so hat

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das seinen Grund darin, daß dessen Literatur besonders ›sprachlich‹ weil dynamisch sei. Die Hauptschwierigkeit ist offenkundig: Gewährt die Intensität einer philosophi­ schen Praxis dem Werk seine Individualität? Die philologische Praxis geht voran – aus ihr entsteht die Sprachtheorie Hum­ boldts. »Das Gemüth wird nach und nach durch alle Stimmungen geführt, deren es fähig ist. Die lichtvolle Heiterkeit des bloß mahlenden Anfangs ladet die Phantasie freundlich ein«131, beginnt Humboldt seine Deutung von 1795, um dann das Gedicht seinem Gang nach zu skizzieren. Doch nicht die Dynamik sei der Analyse zugänglich, sondern die Unterbrechungen, die das Gedicht aus der Dynamik und gegen sie erar­ beitet. Die abrupten oder – wie Humboldt sagt – »abgebrochenen« Übergänge ver­ mehren die »poetische Bewegung und die lyrische Wirkung«132. Sei die Dynamik die Bedingung der Poesie, so entstehe das Poetische selbst in der Unterbrechung und sei im Gebrochenen, im Segment erst erkennbar. »Jedes einzelne Bild für sich ist äußerst charakteristisch.«133 Auf die Sprache Schillers achtet Humboldt nicht systematisch (er spricht vom ›Bild‹ und nicht vom Satz), denn Schillers Sprache ist stark genug, philosophische, programmatische Prozesse und Figuren zu tragen – ein dichterisches Vermögen ist am Werk, das sich nicht mit der Sprache verbündet, sondern bestimm­ ten Gebrauch von gedanklichen Voraussetzungen macht. Fast gleichzeitig, im Tegeler Winter von 1795/96, notiert Humboldt eine Folge von Argumenten, die lange vor den empirischen Sprachstudien sein eigenes Sprach­ denken auslösen und den Titel ›Über Denken und Sprechen‹ tragen.134 Das Wesen des Denkens bestehe, so der Ausgangspunkt, darin, den Denkenden vom Gedachten zu unterscheiden. Reflexion setzt daher den zeitlichen Verlauf, ein Vorher und Nachher, ein Fortschreiten voraus, das sich unterbrechen läßt: »Um zu reflectiren muss der Geist in seiner fortschreitenden Thätigkeit einen Augenblick still stehn, das eben Vor­ gestellte in eine Einheit fassen, und auf diese Weise, als Gegenstand, sich selbst ent­ gegenstellen.«135 Damit kann Humboldt die einzelnen Bilder, die Schiller im ›Spazier­ gang‹ schafft, prinzipiell erklären. Es geht um die imaginative Kraft im Gedicht selbst, in dem ein Ich sich in seinen Gegenständen selbst erkennt. Als n ­ ächstes werden – so Humboldt weiter – diese Einheiten zerlegt und kombiniert. Indes ist diese Kombina­ tion nicht additiv, sondern an einem ganzheitlichen Organismus orientiert: Wer kom­ biniert, bildet und ist insofern schöpferisch. Hier deutet sich erstmals die Vorstellung an, daß der Sprache eine poetisch-bildende Kraft eigen sei. In den Sätzen 5 und  6 seiner Aufzeichnung führt Humboldt wieder in kantianischer Weise die ›Sprache‹ ein: »Kein Denken, auch das reinste nicht, kann anders, als mit Hülfe der allgemeinen Formen unsrer Sinnlichkeit geschehen; nur in ihnen können wir es auffassen und gleichsam fest­halten.«136 Ernst Cassirer wird später in seiner ›Philosophie der sym­ bolischen Formen‹, die z­ wischen Subjekt und Objekt allein zu vermitteln vermögen, diesen Gedanken aufgreifen.137 Humboldts sechster Satz lautet schließlich: »Die sinn­ liche Bezeichnung der Einheiten nun, zu welchen gewisse Portionen des Denkens vereinigt werden, um als Theile andern Theilen eines grössern Ganzen, als Objecte dem Subjecte gegenübergestellt zu werden, heisst im weitesten Verstande des Worts:



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Sprache.«138 Die Formulierungen sind subtil, wenn sie ›Sinnlichkeit‹, Formen der Sinnlichkeit (also Kants Anschauungsformen) und Sprache auf­ein­ander beziehen. Die Übereinstimmung von Denken (als Form der Sinnlichkeit) und Sprache, einer sinnlichen, an Töne gebundenen Form der ›Sinnlichkeit‹, ermögliche den Ausdruck und die Bezeichnung. Doch bleibt die Schwierigkeit, wie die beiden Bedeutungen von Sinnlichkeit zueinander stehen. Eine Antwort deutet sich in der Betrachtung des ›Worts‹ im gleichen Fragment (Satz 7) an, noch kryptisch allerdings: »so ist auch das Wort da – gleichsam der erste Anstoss, den sich der Mensch selbst giebt, plötzlich still zu stehen, sich umzusehen und zu orientieren.«139 Die Prägung ist schon erfolgt: Wird das von früheren Gedanken geprägte Wort ausgesprochen, setzt sich die Selbstrefle­ xion in Gang. Sie ist die Theorie zur in der Praxis sich manifestierenden Dynamik. In seinem großen Brief über Schillers ›Wallenstein‹ (September 1800) erklärt Humboldt dessen poetische Kraft und verbindet Denken, Sprechen und Dichtung. Seine These lautet: Schillers Einbildungskraft behandle die Sprache »ihrer Eigenthümlichkeit gemäß, und die Dichtkunst […] wie eine redende Kunst«140. Der Sprache eigen sei die sich im Moment sinnlich (im Wort, das daher mehr ist als ein Zeichen) sich bündelnde Dynamik, die so ins Stocken und zum Denken kommt, als Theorie einer Praxis, und zu neuer Produktion sich aufschwingt. »In Ihrer Einbildungskraft ist das beflügelte Forteilen der Zeit hervorstechend […] In jedem Augenblick taucht Ein Gegenstand auf, in ihn ist das Vorige, das, als vergangen, schlechterdings hinter uns liegt, verschmolzen, und in dem Dunkel, das ihn noch drückt, liegt das Folgende verhüllt. Jeder Schritt ist eine neue Kraftentwicklung «141. In der Dynamik befreit sich das Segment, verstanden als den Zeitfluß hemmende Ausdehnung: »Sie folgen pfeil­ gerade einer Richtung, und erst dann schlägt sich der Kreis um den Leser, wann der­ selbe in dieser Richtung plötzlich angehalten, und durch diese Stockung sich selbst wiedergegeben wird.«142 Diese Stockungen, die von der Sprache die nötige Kraft erhal­ ten, den Gegenstand zu ›intellektualisieren‹, prägten »auch die lyrischsten Ihrer Pro­ ducte«143, gerade weil sie sich der Sprache – reflexiv – wie einem Modell anschmieg­ ten: »Insofern es aber der Sprache ausschließend zugehört, nicht bloß Zeichen eines Gegenstandes zu seyn, sondern denselben dem Menschen durch Intellectualisirung näher zu bringen, behandeln sie dieselbe mehr ihrer Eigenthümlichkeit gemäß, und die Dichtkunst mehr, wie eine redende Kunst – als von der Seite, wo sie der bilden­ den verwandt ist.«144 Damit ist das Gespräch an sein Ende gekommen, bedauern wird Humboldt bis 1830, daß Schiller die Sprache ästhetisch-philosophisch nie recht gewürdigt habe; Humboldt mußte gegen Schiller den Sinn der Produktivität konstru­ ieren: Schillers Dichtung sei Denken als Schaffen und nutze – kraft dieser Dynamik – die Sprache in ihrem genuinen Vermögen.

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 Sprachdenken. Schillers Elegie ›Der Spaziergang‹ nach Wilhelm von Humboldt

Kunsttheoretischer Sinn Der Wechsel ist das leere Medium einer Sinnproduktion, deren Eigenart erst in einer besonderen Aktualisierung der ›Natur‹ entsteht. Vorerst charakterisiert das Gedicht die Natur als Leben in einem beinahe modernen Sinn, als Werden: »Ewig wechselt der Wille den Zweck und die Regel, in ewig / Wiederholter Gestalt wälzen die Thaten sich um.« (V. 191f) Der unerbittliche, gewalttätige Rhythmus ist diesem Willen dienstbar. Humboldt gibt mit einer überdehnten ›Sprach‹-Konzeption den Grund. Erst wenn die Vernunft diese Sprach-Natur auslege, entstehe die literarische Partikularität. Diese reflexive Kraft wird im ›Ich‹ der Elegie und dessen unterschiedlicher Gestal­ tungs- und Reflexionshaltung als Movens der Komposition bewußt gemacht. Die drei Teile des Gedichts sind von solcher unterschiedlicher Haltung bestimmt sind: von der Wanderung durch die Natur, der Imagination der Kulturgeschichte und zuletzt einer Rückkehr aus der Vision. Entscheidend ist der Wechsel von der Vision, in der das Ich mitgerissen wird, zum letzten Teil, wo es innehält und reflektiert. Die Kom­ position zeigt die im Einzelnen herrschende, fortschreitend schaffende Tätigkeit von Schillers imaginativer Arbeit, die Humboldts Interesse findet. Sie setzt sich in allen Bewußtseinsgraden des lyrischen Subjekts durch, das seinen Bildern, ob im Wachen, im Traum oder in der Reflexion, fortwährend gegenübersteht. Humboldt sucht die literarische Partikulariät des Gedichts im Vergleich von Goethe und Schiller zu verstehen, als Vertretern zweier Künste, die sich gleichwohl in der Sprache artikulieren. Wenn er – spontan – Wörter im Loben hervorhebt, vermag Humboldt daher Gattungen zu erkennen – eine Grenze der literarischen Hermeneutik bis hin zur Gattungstheorie von Peter Szondi noch, die in der Ästhetik um 1800 vorge­ bildet ist. Das demonstriert Schillers Gedicht. Denn zunächst prägt im ›Spaziergang‹ der Gegensatz in aestheticis die Stimmen der Natur: Auch im Gedicht malt sie oder sie spricht. »Glühend trifft mich der Sonne Pfeil, still liegen die Weste, / Nur der Lerche Gesang wirbelt in heiterer Luft.« (V. 17f) Die Verben zerteilen sich auch sonst auf die zwei Wortfelder, die indes nicht gleich­ berechtigt wirken, sondern gewichtet sind. Die Hierarchie formuliert klar der Vers: »[…] und es blickt lachend das Blaue herein.« (V. 26) Das Blaue lacht, oder anders gesagt: die Farbe spricht. Die Sprache ist der Modus des Blicks, das ihm Wesent­liche. Die damit eingeführte Hierarchie wird später im weiteren Verlauf des Gedichts histo­ risch beglaubigt. Denn der imaginierte Gang der Menschheit führt, wie eingangs bereits skizziert, durch die Geschichte, fort von der Natur in die Stadt, die der Natur erst Bedeutung verleihe, nämlich in der Religion, in der imperialen Eroberung der Welt, in Gewerbe und Handel, und schließlich in den Künsten und der Wissenschaft. Der Stein (als Fels noch der natürliche Gegenstand) erhalte in der Stadt einen Sinn und findet mittels der bildenden Kunst seine Bestimmung, in der Kunst zu sprechen (wenn auch nur im Bild): »Mit nachahmendem Leben erfreuet der Bildner die Augen, / Und vom Meißel beseelt redet der fühlende Stein,« (V. 123f). Der Stein spricht, an der vom Metrum privilegierten Stelle, nach der Diärese. Bilden und Sprechen sind Tätig­



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keiten der vom Menschen in seiner Einbildungskraft frei gewonnenen Natur. Doch die Bezeichnungen verschwinden in dem Maß, in dem die erkannten, gewonnenen Gegenstände überhand nehmen und dem Menschen verloren gehen. Seinen Lauf nimmt das apokalyptische Geschehen im Gedicht durch den strategischen Mißbrauch der Gebilde, die Visionen beherrschen den Betrachter, das Ich ist – in seinen Visio­ nen – von Anfang an kaum mehr als ein Medium des Geschehens und ergibt sich der Aktivität, die von der Natur ausgeht: die Wiese empfängt das Ich, das Licht labt dessen Blick, der Pfad leitet den Wanderer. Ergativische Verhältnisse, in denen der Betrach­ ter, ursprünglich intransitives Subjekt, zum Objekt eines neuen ergativischen, vom Betrachter geschaffenen Subjekts wird. ›Der Blick labt sich‹ wird zu ›Das Licht labt den Blick‹ (vgl. V. 10). Erst recht entgleiten die Übergänge dem Ich: »[…] Ein fremder / Geist verbreitet sich schnell über die fremdere Flur!« (V. 59f) Und später bekennt der Wanderer rückwirkend (wir hörten es schon …): »[…] und es war nur ein Traum, / Der mich schaudernd ergriff […]« (V. 186f). Damit gehorcht das Gedicht im Explizi­ ten der Kunsttheorie, die es sich selbst gibt und die es im abnehmenden Gebrauch der auf die Sprache bezogenen Wörter bekräftigen möchte: Die in der Geschichte und dank der schriftlichen Überlieferung vordem stummer Gedanken gewonnene Freiheit sprach­licher Macht konnte mißbraucht werden: »Aus dem Gespräche verschwindet die Wahrheit, Glauben und Treue / Aus dem Leben, es lügt selbst auf der Lippe der Schwur.« (V. 149f) Von Humboldts Lob für einzelne ›Beiwörter‹ bin ich ausgegangen; ich erkenne darin den spontanen Reflex einer Lektürepraxis, deren sekundäre Natur sich einer theoretischen Konstruktion verdankt, in der die Poesie und die bildende Kunst zwei philosophische Alternativen der zeitgenössischen Ästhetik bilden, die Humboldt zu einem System der Klassik geprägt hat, das ihre Rivalität schlichten soll. Beson­ deres Gewicht besitzt Humboldts zweihundert Seiten starke Abhandlung ›Ästhe­ tische Versuche. Erster Theil: Über Göthe’s Herrmann und Dorothea‹, die schon 1799, ein Jahr nach dem Epos erschienen war.145 Darin heißt es auf Schiller gemünzt im Abschnitt XIX: »Die Poesie ist die Kunst durch Sprache. […] Sie soll den Widerspruch, worin die Kunst, welche nur in der Einbildungskraft lebt und nichts als Individuen will, mit der Sprache steht, die bloss für den Verstand da ist und alles in allgemeine Begriffe verwandelt […] vereinigen, dass aus beiden ein Etwas werde, was mehr sey, als jedes einzeln für sich.«146 Humboldts Ziel besteht darin, beide Vermögen, das zeugende Schillers und das bildende Goethes von Kants Satz herzuleiten, daß im Genie die Natur der Kunst die Regel gebe. Das plastische Kunstwerk, das Humboldt vor Augen hat, stellt im 18. Jahr­ hundert nicht Allegorien, sondern Individuen vor. Solche Kunst in der Sprache – die Humboldt als Medium der verständigen, begrifflichen Kommunikation auffaßt – ver­ langt nach Bildung, Formung und Gestalt. Der ›bildenden‹ Epik traut die klassische Gattungsästhetik das zu, etwa in Goethes Epos. Da indes die Poesie, in dem Sinn, den Humboldt und Schiller dem Wort geben, d. h. in der Assoziation mit sprach­ licher Abstrak­tion, niemals die epische Objektivität erreichen könne, zu der sie in

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Gegensatz stehe, müsse sie ihren Mangel, über die Sprache direkt an den Verstand gebunden zu sein, erst überwinden. Denn auch das sprachlich-zeugende Vermögen soll von jener ›Natur‹ sich ableiten lassen. Inwiefern, fragt Humboldt, ist die sprach­ liche Kunst natürlich, auch wenn nur innerhalb ihrer Reflexivität und also sekundär? Anders gestellt, heißt die Frage also: Wie kann sich die Vernunft in der Sprache natür­ lich ausdrücken? Humboldts Antwort bestand darin, die Sprache als Dynamik, die in der Stockung produktiv werden kann, auszulegen und – strukturell – mit ›Bildung‹ (qua Natur) gleichzusetzen. Gezeugt werde allerdings etwas Theoretisches, nämlich Wörter, die genau diese Problematik ausdrücken.

Hermeneutik der Literatur Meine Eingangsfrage lautete: Wie kann der Interpret den Gegenstand verstehen, den er zerstören würde, müßte er ihn selbst sich ausdenken? Mit anderen Worten: In welchem Verhältnis stehen die produktive und die kritische Reflexion zueinander? Zur Beantwortung der Frage habe ich bei Schillers Elegie ›Der Spaziergang‹ begonnen und hierauf den Weg über die Sprachtheorien Schillers und Humboldts genommen. Dabei zeigte sich: Das Gespräch zwischen dem Dichter und seinem Interpreten entfal­ tet die – vorerst implizite – Reflexivität des Gedichts und erkennt in den Stockungen der Visionen dessen Sinn. Die zugrundeliegende Dynamik wird von Humboldt als der Sprache eigentümlich gedeutet, und die Besonderheit Schillers bestehe genau darin, diese Eigenart der Sprache als solcher zu manifestieren. Für Humboldt zeigt sich bei Schiller eine Art allgemeine Grammatik der Poesie, der man folgen muß, um die innere Reflexion des Gedichts nachvollziehen zu können. Diese Grammatik läßt sich methodisch operationalisieren. Dann wird ›Sprache‹ zu einer Zerlegungs- und Zerteilungstechnik des Interpreten, die in der Lage sei, in der Kritik die Produktion zu wiederholen und solcherart zu verstehen. Der Grammatik stellt Humboldt indes, in seinen Briefen und den Abhandlungen, die Schiller und Goethe gelten, einen kunsttheoretischen Sinn entgegen. Man könnte meinen, das sei unnötig, denn für Humboldt besitzt Schiller seine Partikularität darin, sich besonders allgemein, linguistisch also zu gebärden. Doch in der allgemeinen Dynamik gleichen sich Sprache und Bildung, in deren Kontrast Schiller seine Individualität gewinnen soll, einander an. Das zeigt sich, wenn man die Abhandlung über ›Herrmann und Dorothea‹ mit Humboldts Schiller-Lektüren vergleicht. So muß der Gegensatz der Künste im Gedicht zur Form werden. Die kunsttheoretischen Optionen prägen schließ­ lich den Sinn der Wörter. Dieser Sinn ist nicht mittels einer »Formel«147 berechenbar. Humboldt entdeckt ihn im Lob, spontan, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen. Der Sinn steckt in den Prägungen, die er neu und schön findet. Die Erkenntnis ist nicht theoriegeleitet, sondern entspringt einer Praxis, deren Theorie das Verstehen begründet.



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Am Ende stehe daher die Frage, inwiefern diese Praxis eine Kunstfertigkeit sei. Humboldts Hermeneutik ist dem Programm verpflichtet, das August Boeckh, in enger Anlehnung an Friedrich Schleiermacher,148 skizziert hat: Ziel ist für Boeckh das Verstehen sprachlicher Äußerungen im Verhältnis von Grammatik und individuel­ lem Ausdruck.149 Diesen Äußerungen ist eine Rationalität eigen, die das Verständ­ nis über die Zeiten erst ermögliche. Boeckh hat dafür die Formel vom ›Erkennen des Erkannten‹ geprägt. Die Formel ist zweideutig, denn sie zielt zum einen auf den geprägten Sinn, zum anderen auf die Erkenntnis, die den Sinn erst möglich gemacht habe. Boeckh schreibt in seiner ›Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissen­schaften‹: »Das Handeln und Produciren, womit sich die Politik und Kunst­ theorie beschäftigen, geht den Philologen nichts an; aber das Erkennen des von jenen Theorien Producirten. Hiernach scheint die eigentliche Aufgabe der Philologie das Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d. h. des Erkannten zu sein.«150 Das ›Erkennen des von jenen Theorien Producirten‹ meint den Sinn, insofern er theoriegeleitet zustande kommt. Auch die Philologie erzeugt solches von ›Theorien Producirtes‹. Sie kontrolliert sich durch ein eigenes ›Erkennen des Erkannten‹ und prüft im nachhinein die Regeln, die sie angeleitet haben, wie eben das Verhältnis von Grammatik und Rede. Ihre Theorie ist eine Theorie der Praxis, insofern sie ihre Regeln nachträglich entdeckt und eben nicht begrifflich vorgeht. In dieser Hinsicht ist sie eine Kunst (das wird Gegenstand des nächsten Kapitels 3 sein). Boeckh schreibt: »Auch berühmte Philologen verstehen sich oft schlecht auf das Verstehen, selbst die besten irren häufig. Wenn also hierzu wirklich eine Kunst gehört, so muss diese auch ihre Theorie haben. Dieselbe muss eine wissenschaftliche Entwicklung der Gesetze des Verstehens enthalten, nicht – wie dies freilich in den meisten Bearbeitungen der Hermeneutik und Kritik der Fall ist – bloss praktische Regeln. […] Durch die Theorie wird also die Philologie erst wirklich zur Kunst«151. Die Gesetze des Verstehens sind an der den Gegenständen eingeprägten ›Erkenntnis‹ zu messen. So läßt sich Humboldts Stellung in der Hermeneutik bestimmen. Die Sprache wird zum Instrument, freizulegen, was sich – gegenständlich – als Erkanntes nieder­ geschlagen hat (›Erkennen des Erkannten‹); die Kunsttheorie hingegen gilt der ›Erkenntnis des Erkannten‹. Sie zielt auf das Individuelle, doch tut sie das innerhalb einer Verstehenstheorie kantscher Provenienz. Indem Humboldt sie als Praxis ver­ innerlicht hat, vermag sie auf die Individualität zu zeigen, noch ohne diese innerhalb einer Theorie des Texts zu verstehen. Die Spontaneität ist theoretisch herangebildet; noch bildet das mit Schiller entwickelte, von beiden geteilte Programm die Basis. In der historischen Distanz zwischen Gegenstand und Interpret, der philologischen Normalität, gibt allein die permanente Reflexion, genauer: das Bedenken einer jeden Theorie dem Philologen die nötige sekundäre Natürlichkeit, um das Partikulare zu begreifen.152 Insofern kann man von einer kritischen Philologie sprechen.

3 G  renzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate ›Zur Philologie‹ als Form des Romans ›Lucinde‹ Die sprichwörtliche Aversion zwischen Dichtern und Philologen setzt den gemein­ samen Gegenstand, die Literatur, voraus. Dichter und Philologen teilen ihn und ver­ halten sich unterschiedlich dazu. Noch mehr: Sie sind aufeinander angewiesen und können dennoch ihre eigenen Aufgaben nur erfüllen, wenn sie diese Abhängigkeit anfechten. Das Paradox, in der Nähe die jeweilige Eigenständigkeit zu wahren, drückt sich gern im gegenseitigen Schweigen aus. Das Paradox bestimmt die Interpretation als Verfahren, individuelle sprachliche Äußerungen zu verstehen. Die Geschichte dessen, was man unter Interpretation jeweils verstand und wie man sie praktizierte, läßt sich erzählen entlang der Versuche, Lösungen im Unvermeidlichen zu finden. Gerade die Disziplinierung der Philologen im 19. Jahrhundert hat eine Distanz der Philologie gegenüber der Kreativität weniger simuliert als erzwungen. Eine hierar­ chisch erlebte Distanz, denn gegenüber der Kreativität galt die Philologie seither als sekundär. Allerdings wußte der Philologe innerhalb seiner Sekundarität einen eigenen Hochmut zu ent­wickeln, indem er umgekehrt den Dichtern keine wissen­ schaftliche Erkenntnis zutrauen wollte. Und dennoch verbirgt die Distanz seit jeher die spezifische Nähe, die sich in der Personalunion von Schriftsteller und Gelehrtem direkt zeigt, sei es in Gestalt des barocken poeta doctus,153 sei es als Artistenphilo­ loge der Moderne, wie Hugo von Hofmannsthal,154 seien es die vielen Germanisten als Autoren heute. Die Dichterphilologen und ›Wissenschaftskünstler‹ (Friedrich Schle­ gel)155 füllen eine eigene, insgesamt wenig erforschte Sparte der Literaturgeschichte. Mein Interesse an der Haßliebe, die diese Geschichte prägt, ist freilich nicht anekdo­ tisch, sondern vielmehr methodisch. Es geht mir um die Grundlagen des Verstehens literarischer Werke selbst, und darum, ob angesichts jenes Paradoxons das Verstehen an ein Ende kommen kann. In den Mittelpunkt tritt das Vermögen der Werke, über sich selbst zu reflektieren. Das reflexive Vermögen der Werke schafft die Nähe, auf deren Grundlage die Eigen­ ständigkeit möglich ist. Die protestantische Exegese wählt für das Vermögen  – mit theologischen, der Philologie fremden Voraussetzungen freilich – die Formel der ›scriptura sui ipsius interpres‹. Die Rationalität, die der Produktion eigen ist und die Grundlage des Verstehens bildet, tritt an die Stelle der Offenbarung. Sie ist die Instanz, die über die Deutung entscheidet. Zu dieser ästhetischen Rationalität hat eine richtig geübte Philologie privilegierten Zutritt. Denn sie gibt der Praxis des Lesens, Kommen­ tierens, kritischen Restituierens, der Exegese oder – um dem universalen Charakter dieser philologischen Praxis gerecht zu werden – der Prognose und Divination156 das Primat. In der Praxis wirken unausgesprochen und im Moment des Erkennens nicht zu bedenkende Fähigkeiten, die vernünftig und insofern der Vernunft der Kunst gewachsen sind. Die Philologie kann, wenn sie sich ihres Potentials bewußt ist, den



Grenzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate ›Zur Philologie‹  

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Ort jener Nähe zwischen der Poesie und der Wissenschaft von der Poesie bilden. Ihn gilt es zu explorieren. Friedrich Schlegel, die zentrale Gestalt der Frühromantiker, hat als erster über die Möglichkeitsbedingungen der Nähe reflektiert, da sie sein Schaffen als Autor wie als Philologe und das entsprechende Schaffen verwandter Geister prägte. Sein Expe­ riment findet innerhalb seiner Erfahrung mit einer ausgebildeten philologischen Dis­ ziplin statt. So können sich in Schlegels Werk die Tätigkeiten von Kritik, Philologie und Dichtung konzentrieren. Sie bilden genau im Moment, als der Konflikt von Poesie und Philologie auftritt, schon eine bis heute kaum mehr erreichbare Reflexionskunst dieses Konflikts. Berühmt ist Schlegel durch den Roman ›Lucinde‹ (1799), durch seine ›Athenäumsfragmente‹, seine Analysen der Werke von Lessing und Goethe, sowie seine literarhistorischen Studien und – später – Vorlesungen. Der Schüler der großen Klassischen Philologen Friedrich August Wolf 157 und Christian Gottlob Heyne ver­ öffentlicht 1799, im Alter von 26 Jahren, seine ›Geschichte und Poesie der Griechen und Römer‹; den Konflikt zwischen Antike und Moderne legt er dem Aufsatz ›Über das Studium der griechischen Poesie‹ zugrunde; 1808 begründet er mit der Abhand­ lung ›Über die Sprache und Weisheit der Indier‹ die moderne Sanskrit-Forschung in Deutschland (Schlegel hatte das Sanskrit 1803/4 in Paris gelernt). Das will heißen: Bevor sich die Hierarchie von Poesie und Philologie institutionell und literarhistorisch einbürgert, sind beide schon ineinander verschlungen. Nicht nur wurde die romanti­ sche Poesie erfunden, um Probleme der Philologie zu lösen (wie ein schönes Aperçu von Heinz Schlaffer in seinem Buch ›Poesie und Wissen‹, 1990, lautet158), sondern die Philologie übernimmt in der Dichtung einen entscheidenden kreativen Part. Schlegel konzentriert sich auf die Verbesserung der Lektürevermögen, die ihr Ziel erreichen durch den Umschlag von der wissenschaftlichen in die poetische Aktivi­ tät. Das damit scheinbar mögliche Ende der Interpretation ist indes durch Schwei­ gen erkauft. Meine Grundgedanken in der Erläuterung von Schlegels Projekt lauten: (1)  Schlegels Arbeitshefte ›Zur Philologie‹ (1797) bereiten die philologischen Tech­ niken und Vermögen vor, um mit der schöpferischen Kraft in den Werken eins zu werden. Die ›Lucinde‹ erweist sich als ein philologischer Roman, wo die quasi erhöh­ ten philo­logischen Methoden selbst poetisch produktiv werden. (2) Das vollkom­ mene Ver­stehen wird von Schlegel vorgeführt (und analysiert) als eine Philologie, die schafft. Das Verstehen gilt dem Eigenen; und das meint: Die Philologie hat sich zur Kunst zu wandeln. Dafür zahlt die Philologie den Preis, sich als jene schöpferische Kraft verheimlichen zu müssen. (3) Eine verheimlichte Wissenschaft ist keine mehr, denn der wissenschaftliche, öffentliche Diskurs, das hin und her gehende – sichtbare – Argument, konstituiert ihre raison d’être. Schlegels große Klugheit bestand darin, das Paradox der Philologie erkannt zu haben. Er sah dieses Paradox in der Notwen­ digkeit der Philologie, sich im Schweigen annihilieren zu müssen, um ihr Ziel, die Wissenschaft kunstmäßig zu üben, zu erreichen.

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 Grenzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate ›Zur Philologie‹

Wiegebewegung Friedrich Schlegels zwei Arbeitshefte ›Zur Philologie‹ entstanden innerhalb weniger Monate und waren – gemäß Hans Eichners, des Herausgebers, Einschätzung – Ende des Jahres 1797 abgeschlossen; die insgesamt 463 Notate, Aufzeichnungen und Frag­ mente blieben bis zur Edition Josef Körners im Jahr 1928 unveröffentlicht. Sie sollten einer Reihe von Aufsätzen zur Begründung einer ›Philosophie der Philologie‹ dienen, wie Schlegel sie gegenüber F. I. Niethammer, dem Herausgeber des ›Philosophischen Journals‹, ankündigte, später auch einem Buch,159 dessen vier geplanten Kapiteln im zweiten Heft einzelne Aufzeichnungen bereits ausdrücklich zugeordnet werden.160 Diese Schreib- und Publikationspläne geben einen ersten Anhaltspunkt dafür, die Arbeitshefte als ein Ganzes zu lesen. Über die Art, wie sie zu lesen sind, gibt die Dynamik der Gedanken Auskunft.161 In den Arbeitsheften kommt es auf Begriffe an. Nicht die Gegenstände der Philo­ logie (die Werke) und eine von ihrer (ästhetischen) Art herzuleitende Methode, sie zu bemeistern, stehen im Zentrum. Sondern die (philologische) Verstehensanstrengung der Notate richtet sich auf die überkommenen Begriffe der Philologie, die in einer Gedankendynamik zu neuen Instrumenten werden sollen. Schlegel strebt danach, die Begriffe einer Philologie zu entwickeln, die über den Lehrmeister Wolf und dessen ›Prolegomena ad Homerum‹162 gerade kraft dieser Begriffsdynamik hinausgelangt. Die Begriffe und Gedanken selbst werden in den Arbeitsheften immer wieder von neuem durchgenommen. Die zentralen Begriffe lauten ›Kritik‹, ›Hermeneutik‹, ›Grammatik‹, ›Historismus‹, das ›Classische‹, ›Wissenschaft‹, ›Cyklisation‹ oder ›materiale Alter­ thumslehre‹; die Begriffe gewinnen nicht nur ein deutlicheres Verhältnis zueinan­ der, sondern sie werden zusehends dem Begriff der ›Kunst‹ unterworfen. Im Zeichen der ›Kunst‹ verlieren die Unterschiede, die die Begriffe im Grunde auszeichnen, an Be­deutung, oder sie treten dort, wo die Begriffe den Kunststatus nicht zu fassen ver­ mögen, zurück. Was Schlegel von seiner Zukunftsphilologie fordert, geschieht also in seinen Arbeitsheften selbst: Die Notate und ihre Begriffe werden ihrerseits ›philolo­ gisirt‹, um Schlegels Neuprägung aufzugreifen, das heißt in ihrer Gänze ergriffen bzw. mit immer neuen Anläufen in eine umfassende Konstruktion eingebaut, und schließ­ lich in ihren Bedeutungen ausgebleicht. Zum Paradox von Schlegels Verfahren philologischer Reflexion gehört, daß sie, je weiter sie voranschreitet, im Theoretischen die Unterschiede zusehends verliert, im Produktiven jedoch umso unverkennbarer und individueller wird. Mit anderen Worten: Die Selbstannihilierung der methodischen Prinzipien (so bestimmt Schlegel mit dem Begriff der ›Annihilazion‹ seine ›absolute Philologie‹ näherhin) mündet in seiner ›Philologie der Philologie‹, wie sie sich in den Arbeitsheften niederschlägt, in ein totalisierendes Wort, nämlich in das Wort von der ›Kunst‹; wird die ›Kunst‹ indes im ›Kunstwerk‹, der ›Lucinde‹ nämlich, ausbuchstabiert, so schaffen die theo­ retisch zum Schweigen gebrachten methodischen Prinzipien in der Verwirrung, von der Schlegel in seinem Roman ausgeht, im Stillen einen Sinn. Zu diesem Zweck wird



Begriffsarbeit in den Notaten ›Zur Philologie‹ 

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die kunstgemäß in der Begriffsarbeit philologisierte Wissenschaft wieder – gegen­ läufig – aktiviert, vor allem die ›Kritik‹ als Technik der Restitution von Texten. Das Philologische wird unsichtbar-sichtbar in dem Hauptwort, mit dem der Roman sich selbst zu begreifen sucht. Es ist ein quasi philologisiertes, seinen Sinn im Hinter­ grund bewahrendes Wort, das dem Wort der Arbeitshefte von der ›philologischen Kunst‹ völlig entspricht, weil dieser Hintergrund philologisch ist – das Wort ›Liebe‹ im Roman ›Lucinde‹. Die Begriffe sind, so läßt sich zugespitzt sagen, geeignete Instrumente, weil sie ihren spezifischen Gehalt in einer Wiegebewegung verlieren und bewahren. Das Par­ tikulare in Schlegels Projekt überhaupt wird sichtbar: Die Doppeltendenz zur Auf­ lösung der semantischen Differenzen einerseits, zur Respezifizierung und also Her­ ausbildung der Differenzen andererseits. Diese Doppelbewegung ist gleichsam das Ein- und Ausatmen der Schlegel’schen Denkbewegung, innerhalb derer nun auch die Arbeitshefte und der Roman aufeinander bezogen werden. Das Schlegel’sche Projekt wird so rekonstruierbar.

Begriffsarbeit in den Notaten ›Zur Philologie‹ Schlegel legt mit folgendem Notat den Grundstein seiner Überlegungen ›Zur Philolo­ gie‹: »Das wichtigste Stück zu einer Philosophie der Philologie ist also eine Theorie der historischen Kritik. – Winkelmanns Historismus« (I/9). Diese Aufzeichnung ist der Grundstein in einem Gedankengerüst, das gleich auf den ersten Seiten entsteht und das Schlegel in der Folge ausfaltet. Schlegel for­ muliert eine Intuition, die sich bewährt. Die Philologie sei grundsätzlich historisch, doch weder Wolfs Skepsis, ob es einen Autor der homerischen Epen gegeben hat (vgl. I/174), ist gemeint noch eine »Totalität von Notizen« (I/92), eine Philologie des Kleinsten und ohne Überblick (das ist das Bild, das bis heute viele von der Philologie haben), sondern Winckelmanns Einsicht, daß die Antike ebenso gültig wie fremd sei. ›Historismus‹ bedeutet daher, hier wie auch später durchwegs, die Anerkennung des Unterschieds zwischen dem Klassischen und dem Progressiven: Winckelmann (»Mein Meister« fügt Schlegel nachträglich ein) habe »den unermeßlichen Unterschied ein­ gesehn, die ganze eigne Natur des Alterthums.« (I/1) Wolf, dem dieser entscheidende Baustein zur Philologie weitgehend fehle,163 wird durch Winckelmann korrigiert. Der Moment dieser Aufzeichnung Schlegels hat eine große ideengeschichtliche Bedeutung: Schillers Ästhetik des Naiven und des Sentimentalischen, das heißt ihre Geschichtsphilosophie und ihre Konzentration auf ein System von Gattungen (auf Idylle, Satire und Elegie), wird Grundlage der neuen Philologietheorie, die Schlegel im Sinn hat.164 Die in dem Notat I/9 mit der Formel »Theorie der historischen Kritik« gemeinte Kritik ist zunächst ein Wort aus der Methodenlehre der Philologie,165 das die niedere (technische) Kritik und die höhere Kritik, das heißt die in der Kenntnis der Urkundensprache sich vollziehende, auf das Einzelne gerichtete Kritik vereint.

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 Grenzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate ›Zur Philologie‹

Höhere und divinatorische Kritik sind eins. Beide Kritikformen haben die Konstitu­ tion (»restit.[utio]«, I/180) und die Prüfung der »Aechtheit« (I/204) eines Texts zum Ziel. Die Ganzheit eines Werkes ist im Bewußtsein der historischen Fremdheit des Werks wieder herzustellen. Die philologische historische Kritik basiert, folgt man weiterhin dem vorlie­ genden Notat, auf einer Theorie, die Baustein einer ›Philosophie der Philologie‹ ist: »Ohne φσ [Philosophie] der Historie auch keine φσ [Philosophie] der φλ [Philologie].« (I/121) Die ›Kritik‹ im genuin philologischen Sinn übernimmt im philologietheoreti­ schen Projekt Schlegels eine tragende Rolle. Zwei Reihen gilt es zu versöhnen, die beide sich auf den Begriff der Kritik stützen. Die erste Reihe geht von Kants Erkennt­ niskritik aus und wird von Schlegel mit der Formel ›Philosophie der Philosophie‹ gefaßt. Eine ›Philosophie der Philologie‹ ist freilich das Ziel (so sollte das Buch, auf das die Arbeitshefte zusteuern, heißen), doch soll sie jener Formel analog sein und so spricht Schlegel – eine zweite Reihe bildend – von der ›Philologie der Philologie‹. Der Betriff ›Philosophie‹ in der angestrebten ›Philosophie der Philologie‹ ist als Philo­ logie zu denken. Schlegels Satz »Philologiren gebraucht wie Philosophiren« (I/90) ist im Bewußtsein geschrieben, daß man die Philosophie auf die Philosophie (Reihe 1), jedoch nicht auf die Philologie anwenden dürfe (vgl. I/87). Das ist ein zentrales Anlie­ gen der Arbeitshefte. Schlegels Wort von der ›Philosophie der Philologie‹ mahnt an, die Philosophie im Namen der Philologie zu verstehen (genetivus subjectivus). Der Philologe soll denken, doch mit Mitteln der Philologie. Letztlich wird die Formanalyse eines Arguments (Philosophie der Philosophie) der praktischen Zuspitzung (Philolo­ gie der Philologie) unterworfen. Die ›Kunst‹ ist Mittel der Unterwerfung und vermag in diesem Sinn die beiden Reihen zu versöhnen. Philologisch ist die ›restitutio‹, und wenn sie theoretische Kraft gewinnen soll, gilt die Herstellung des Ganzen dem Ganzen der methodischen Möglichkeiten. Hier verbindet Schlegel den Gegenstand mit der Methode. Die in der philologi­ schen Kritik zutage geförderten Teile erhalten Berechtigung und damit Sinn, indem die philologische Kritik Teil von philologischen Methoden wird, deren Ganzheit eine ›Philologie der Philologie‹ schafft. Das Werk erhält einen Sinn als Ganzes, auf den sich das Verstehen kunstgemäß bezieht. Das Muster einer solchen Kritik gibt Schle­ gel im letzten Abschnitt seines Lessing-Aufsatzes (1801).166 Die philologische Kritik gilt als ›historische‹ einem fernen, abgeschlossenen, ganzen und fremden Werk, und so stellt sich die Frage, inwiefern die Kritik in dem engeren philologischen Verstand dieser fernen Ganzheit gewachsen sei.

Wissenschaftlich vs. kunstmäßig Um über die ihm nötige Kritik Klarheit zu gewinnen, führt Schlegel den Unterschied zwischen ›wissenschaftlich‹ und ›kunstmäßig‹ ein und er wird die Gültigkeit des Unterschieds auch für die anderen philologischen Methoden in Anspruch nehmen.



Wissenschaftlich vs. kunstmäßig 

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Die technische Kritik muß, so lautet seine These, einen höheren Sehepunkt gewin­ nen, oder – wie er sagt – vollendet werden: »Die Kritik der schrift[lichen] Antiken beruht auf historischen Prinzipien – beson­ ders die sogenannte höhere. […] Die höhere Kritik ist wohl allerdings das Höchste der isolirten Philologie und Grammatik das Fundament. […] Sollen Kritik, ­Grammatik und Hermeneutik bis zur Totalität vollendet werden; so erfodern sie eine ­historische Kentniß des Alterthums. « (I/39 und I/40) Die kunstmäßig gehandhabte Kritik hat also nicht in sich selbst, sondern anderswo die ihr nötige Grundlage. Die Kritik besitzt hier, laut dieser Aufzeichnung, in der Grammatik ihr Fundament. Solche Fundamente zählen zur ›Wissenschaft‹; die ›Wissenschaft‹ meint – das ist durchgängiger Sprachgebrauch in den Notaten – statt eines ›Aggregats‹ (Kant) praktische Regelsysteme,167 die innerhalb eines Ganzen orga­ nisiert sein können. Das Ganze ist zunächst enzyklopädisch gefaßt, es kann also sowohl eine Wissen­ schaft als auch ein System von Wissenschaften sein, eine »Architektonik des Wissens bzw. der Wissenschaften«168. Wissenschaft und Enzyklopädie (d’Alembert und Diderot sind die großen Vorbilder) begründen sich im Diskurs der Zeit gegenseitig. Friedrich Schlegel positioniert sich bewußt in der Geschichte der Begriffe ›Wissen­ schaft‹ und ›Enzyklopädie‹.169 Den Hauptbegriff seiner Philologie, den Begriff der ›Cyklisation‹, auf den ich – der Dynamik der Arbeitshefte folgend – bald zu sprechen komme, verbindet er tatsächlich mit dem Begriff der ›Encyclopädie‹. Es geht um die Frage, wie Ordnung herzustellen sei. Schlegel leitet seinen eigenen (ordnenden) Hauptbegriff paronomastisch von dem Begriff der Enzyklopädie ab: »Verhältnis und Verwandtschaft der cyklischen Methode mit der φλ [Philologie], die in dem Wort ­εγκυκλοπαιδ.[ια] liegt.« (II/59) Schlegel ist zuversichtlich, sich auf Diderots und Wolfs ›Enzyklopädie‹ (die beide, sowohl die allgemeine wie die Fachenzyklopädie,170 nicht mehr der alten Aggregats-Wissenschaft angehören) stützen zu können. Das ist zugleich gegen eine philosophische Begründung des Wissens gerichtet.171 Die Philo­ sophie hatte sich Ende des 18. Jahrhunderts zwischenzeitlich selbst als die ordnende Kraft des Wissens und der Wissenschaften installiert, indem sie Philosophie und Wis­ senschaft (nach Kant der Ort des »nach Principien geordneten Ganzen der Erkennt­ nis«172) gleichsetzte. Schlegel lehnt dies zugunsten seines modernen Verständnisses von Forschung ab, denn ihm kommt es darauf an, daß der Forscher spezifische Gegenstände prozedural (und nicht begriffslogisch) erschließt. Der Übergang von der Philosophie zur modernen (Fach-)Wissenschaft hat für Schlegel kraft eines Metiers, genauer: kraft seiner Philologie stattgefunden. Von den Gelehrten zu den Philoso­ phen und von da zu den Philologen spannt sich personell der Bogen, der den wissen­ schaftsgeschichtlich entscheidenden Wandel von der ›Wissenschaft‹ als Aggregat zu einer ›Wissenschaft‹ als philosophisches System und schließlich zu einer ›Wissen­ schaft‹ als Verfahren, wie sie ab 1800 zeitgemäß war, spiegelt. Schlegel versucht, die Geschichte noch weiter voranzutreiben und das Metier der Philologie über ihren

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 Grenzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate ›Zur Philologie‹

Status einer Wissenschaft hinauszuführen bzw. in ein umfassenderes Vermögen ein­ zubetten,173 eine Totalisierung von Methoden, der er – in der Nähe zur Tradition der Enzyklopädie – auch den Namen ›Encyklopädie‹ gibt. Eine neue Differenz tut sich auf, nämlich der Unterschied zwischen ›Wissenschaft‹ und ›Vermögen‹, verstanden als kunstmäßiger Umgang mit einer Technik. Unsicher ist Schlegel hinsichtlich des systemischen Rangs und auch hinsicht­ lich der Zuordnung der einzelnen ›Wissenschaften‹. Die ›Grammatik‹ gilt anfangs als (kunstmäßig) totalisierbar, d. h. als Vermögen, doch davon kommt Schlegel später ab, er wertet die ›Grammatik‹ systemisch ab, und in der zweiten Hälfte der Notate hat er sich festgelegt (die oben zitierten Aufzeichnungen I/39 und I/40 bezeugen das): Die Beherrschung einer Sprache sei keine Kunst, sondern eine Fertigkeit. Und auch die Zuordnung der Wissenschaften changiert: »Der Hermeneutik entspricht die Grammatik so wie der Kritik die Poetik. So viel Bestandtheile die φλ [Philologie] hat, so viel material[e] Wissenschaft[en] setzt sie voraus. Erst dachte ich: die Herm[eneutik] beruht auf der Logik – die ­klass.[ische] Gramm[atik] auf der φσ [philosophischen] Gramm[atik]. – « (I/159) Nun ist die ›Poetik‹ der Kritik als Wissenschaft zugeordnet. Für Schlegel be­reitet die Poetik die Entscheidungen der Kritik vor. Das ist ein ebenso überraschender wie entscheidender Schritt. Wenn Kritik als Methode zur Konstituierung und Bestim­ mung der Gänze eines Werks verstanden wird, dann vermag die Poetik diese Aufgabe zu erfüllen, wenn sie eine Gattungspoetik ist. Und genau als diese versteht sie ­Schlegel.174 Als eine Gattungspoetik, die von den Gattungen ausgeht, um die Grenzen der Gattungen – im Projekt der romantischen Universalpoesie – schließlich zu über­ winden.175 Schlegel denkt in der Bestimmung der Gattungen konkret, literarisch, an die Literatur selbst und verbindet einzelne Werke mit seinen Begriffen, deren Vorstel­ lungsbilder sie werden. Damit läßt er bestimmte Werke zu einer erkenntniskritischen Möglichkeitsbedingung der Kritik werden. »Muß der vollendete φλ [Philolog] nicht auch Poet seyn?« (I/168)176 Ja, lautet die Antwort, und zwar im Sinne der für die ein­ zelnen Gattungen vorbildlichen, schon existierenden Werke. Nach Schlegels System verfügen die philologischen Methoden bzw. Vermögen wie Hermeneutik, Kritik und Rhetorik über jeweils eigene Wissenschaften, denen sie überlegen sind. (Die Rhetorik tritt, das zeigt Thomas Schirren,177 als Vermögen auf, die Größe eines Werks zu begründen. Die erwiesene Größe ist die Voraus­setzung überhaupt, daß die Partikularität, die von der hermeneutischen Kritik in den Werken eruiert wird, auch tatsächlich möglich ist. Dieser Gedanke rückt allerdings insge­ samt in den Arbeitsheften in den Hintergrund.) Die Überlegenheit der Methoden Her­meneutik und Kritik speist sich aus ihrem Potential – ihr Potential besteht darin, daß sie kunstmäßig gehandhabt werden können; das läßt sich mit dem Wort Kants von den ›Vermögen‹ deutlich zum Ausdruck bringen. Ein solches Ver­mögen ist in der Lage, die Regeln eines Metiers zu nutzen, ohne dafür selbst eine Regel zu be­nötigen.



Absolute Philologie als Kontrolle des Absoluten 

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Das Vermögen ist in diesem Sinn eine Kunst. So spricht ­Schleiermacher später in seinen Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik178 von der Auslegungskunst.179

Absolute Philologie als Kontrolle des Absoluten Doch die Verhältnisse werden dadurch noch komplizierter, die Zuordnungen auf neue Weise variierbar. Auch die Hermeneutik kann, da sie ›kunstmäßig‹ zu prakti­ zieren ist, eine Poetik gebrauchen, wie die Kritik umgekehrt auch eine Grammatik (vgl. oben I/39). Die wissenschaftlichen Grundlagen werden volatil, weil sich die philologischen, höheren Methoden bzw. Vermögen kraft der Kunstperspektive in die Arme fallen, fast ununterscheidbar werden und schließlich jede für sich das Ganze verkörpern muß. »Die φλ [Philologie] ist selbst jeder ihrer Bestandtheile ganz« (I/177). Schlegel bestimmt in diesem Sinn das Verhältnis von Hermeneutik und Kritik; die Wiegebewegung bildet sich aus: »Hermeneutik und Kritik sind absolut unzertrennlich dem Wesen nach: ob sie gleich in Ausübung, Darstellung getrennt werden können, und die Tendenz jeder φλ [Philologie] auf einer Seite gewöhnlich überwiegt.« (I/178) Dieser Satz von der Unzertrennlichkeit zweier kardinaler philologischer Vermö­ gen führt, der Wiegebewegung gemäß, in zwei Richtungen. Zur absoluten Philologie einerseits, und andererseits zur Kontrolle des Absoluten, um die absolute Philologie von der mystischen Philologie zu unterscheiden, die Schlegel ablehnt, weil sie auf die Unmittelbarkeit setzt, ohne eine Technik zu benutzen: »Mystisch ist die φλ [Philo­logie] welche Kritik, Hermeneutik, allenfalls auch Litter.[atur], Archäol.[ogie] und selbst Gram.[matik] überspringt und ohne das Alles gradezu übersetzt z. B. wie die Araber.« (I/173)180 Der eine Weg, den das Notat I/178 weist, lautet: Die absolute Philologie hört auf, Philologie zu sein. »Sie annihilirt sich selbst.« (I/158). In ihr haben die totalisierten Vermögen wie Hermeneutik und Kritik ihre Wissenschaften vertauscht, weil sie selbst für einander eintauschbar wurden. Der zweite Weg, den jener Satz einschlägt, ist der einer Charakterisierung des Absoluten durch ›Tendenzen‹ (vgl. oben I/178), die sich ergeben, weil die ›Wissenschaften‹ (Poetik, Grammatik) und die ›Vermögen‹ (Kritik, Hermeneutik) wirksam bleiben. Wenn die ›Annihilazion‹ das Ideal von Schlegels Philologie ist, das er in der Kunst verwirklicht sieht, dann hat sein Begriff von der »Wissenschaftskunst« (II/65) genau den Sinn, eine Kunst zu praktizieren, die zugleich die Wissenschaft überwindet (als ›Kunst der Wissenschaft‹) und die Wissenschaft (als ›Wissenschaft der Kunst‹, d. h. als ihr dienlich) voraussetzt. Diese Verbindung innerhalb der absoluten Philologie mit Tendenz ist gerade in der Art möglich, wie Schlegel von der Philologie spricht. Das Sprechen von der Philo­ logie nennt Schlegel ›Philologisieren‹. Sein Wort vom ›Philologisieren‹ meint eine ›Philologie der Philologie‹ und ist, wie wir gesehen haben, der Verbindung ›Philo­ sophie der Philosophie‹ abgeschaut. Die philologische Reflexion über sich selbst

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 Grenzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate ›Zur Philologie‹

bedient sich philologischer Mittel. Dazu zählen vor allem, wie ich am Beispiel des Begriffs der ›Kritik‹ bereits gezeigt habe, die Restitution einer Totalität und deren Ver­ stehen. Er bewerkstelligt das, indem er die Begriffe in der Dynamik der Arbeitshefte in einen einzigen überführt. Der Sinn der Begriffe wird unaussprechbar. Sie treten nur mehr als ein Name auf. Der Name lautet in Schlegels Welt ›Kunst‹. Dieser Name ist der Weg – absolut und zugleich konkret – tendenziös zu sein.

Annihilierte Werke von Goethe, Platon und Lessing Doch wie können die Aspekte der Begriffe entfaltet werden, ohne den Charakter der Begriffe, innerhalb des Wortes ›Kunst‹ unaussprechlich zu sein, zu verletzen? Schlegel nennt die Begriffe und Methoden nur beim Namen und erläutert kaum, was seine Begriffe an Bedeutungen von außen mitbringen.181 Tatsächlich wird viel vom Gebrauch der Begriffe bei Wolf und Heyne eingeschleust, und die Begriffe meinen bestimmte Werke, denen sie abgebildet sind, ohne daß diese Werke benannt, geschweige denn gedeutet werden. Schlegel verzichtet auf die Kontur, die die Begriffe durch Vorstellungen konkreter Beispiele besitzen können, die durch sie regelmäßig und recht verläßlich aufgerufen werden. Zu solchen Verbindungen zählen etwa die des Begriffs ›Kritik‹ mit Wolfs ›Prolegomena‹, oder es ist mit ›Grammatik‹ das Werk der Philologen in Alexandrien gemeint, der Begriff ›Übersetzung‹ wiederum hat sein Modell in den Shakespeare-Übersetzungen von August Wilhelm Schlegel, oder der Sinn von ›Kunst‹ bildet sich nach den Schlegel vorbildlichen Werken Platons, ­Lessings und Goethes. Schlegel hebt diese Ideale, denen er Charakteristika, Gedichte und Übersetzungspläne (Platons Dialoge werden dann allerdings nur von Schleier­ macher allein übersetzt) widmet, auch in den beiden Arbeitsheften ›Zur Philologie‹ hervor. Letztlich sorgt Schlegel dafür, daß der Verzicht auf konkrete Angaben zu den Werken selbst kein Verzicht ist, denn er unterwirft die ihm idealen Werke selbst der Annihilation. Die Werke werden auf methodische Bewegungen reduziert, die den Begriffsbewegungen selbst entsprechen und diese somit spiegeln können. Goethe, Platon und Lessing sind die großen Vorbilder, deren prinzipienorientierte Analyse seitens Schlegel einer partikularen Interpretation zuwiderläuft. Der ›Wilhelm Meister‹ wird in der großen bekannten Rezension als Werk gezeigt, das selbst philo­ logisiere. Schlegel sagt es nicht ausdrücklich, aber die Prinzipien, die er in Goethes Roman hervorhebt, sind einschlägig: Gänze,182 Notwendigkeit,183 Autoreflexion,184 Gattungskritik,185 Intuition der Lektüre186 und Vermittlung.187 Platon komme, so Schlegels Auffassung, erst in der deutschen Sprache (also qua Übersetzung philologi­ siert) zum eigenen Ausdruck. Und Schlegel beantwortet die Frage, welche Tendenzen seine Bemerkungen über Lessing einigen, mit dem Hinweis auf dessen einheitliche Methode, die dessen eigene Werke und die Werke aus der angeeigneten Tradition188 präge. Die Methode, der vor dem Material der Vorzug gegeben wird, könne allein eine Wissenschaft anerkennen, die es noch nicht gebe, die jedoch die großen Werke



Die Hauptsache: Cyklisation 

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schon durchdringe:189 die Encyklopädie, worunter er eine Totalisierung der Methoden und Wissenschaften im Namen der Kunst versteht. Schlegel sagt von sich, er habe die Enzyklopädie als neue Wissenschaft im Geist in »kritischen Versuche[n] und Bruchstücke[n]«190 entworfen. Womöglich spricht er von den Arbeitsheften, denn dort hat er den Nachweis geführt, daß es eine Wissenschaft ist, die in der Kunsthaf­ tigkeit tätig ist, d. h. im Schutz nicht weiter definierter Begriffe. Über solche vagen Auskünfte gelangt er in den Notaten ›Zur Philologie‹ auch mit Lessing (seinem kon­ kreten Bild für den Begriff der Kunst) nicht hinaus. Die Notate sollen eine Anweisung für die Lektüre Lessings sein, ohne diese Lektüre durch eine Explikation zu stören. Daher wohl taucht in den Arbeitsheften immer wieder eine Art Schweigegebot auf: »Die Methode darf nicht kritisch seyn. « (I/14) Und: »Auf die Theorie der historischen Kritik muß die Aufmerksamkeit sehr gespannt; sie selbst aber nicht gegeben werden.« (I/18) Schlegel entwickelt die Kunst, im Schweigen der Begriffe beredt zu sein.

Die Hauptsache: Cyklisation Das Verhältnis von Kunst (immer als ein Name gebraucht) und Methode gewinnt – im Zeichen der ›Wissenschaftskunst‹ – einen zentralen Ort in Schlegels Gedankenge­ bäude. Die Integration einer absoluten (unaussprechlichen) und gleichwohl vermit­ telten (aussprechbaren) Philologie ist Schlegels Ideal. Tatsächlich prüft Schlegel die philologische Praxis, inwiefern sie an die Kunst heranführe, und rückt den Begriff der ›Cyklisation‹ ins Zentrum. Cyklisierend könne man, so Schlegels Zuversicht, eine Methode (qua Wissenschaft) sich selbst zur Kunst führen lassen. Es geht also in der Philologie der Philologie nicht um die Totalisierung eines Gegenstands im Sinne des hermeneutischen Zirkels, sondern um die Vervollkommnung eines methodischen Vermögens. In II/73 schreibt Schlegel in diesem Sinn: »Alles kritische Lesen, alles Lesen mit Rücksicht auf Klassizität […] ist cyklisch.« Das Vermögen, so wird sich zeigen, sei nur in der Kunst vermittelbar. Die Cyklisation läßt als Methode der Methoden alle Begriffe in ein Verhältnis zueinander treten. Das zyklische Verfahren wird nicht mit der Hermeneutik gleich­ gesetzt,191 es eigne auch der Kritik und der Grammatik, sowie der Vermögen und Wissenschaften untereinander. Das in der Cyklisation entstehende Ganze sind alle Methoden bzw. Genres der Altertumswissenschaft, und auf dieses Ganze werden die einzelnen Methoden bezogen. Schlegel sieht die mit diesem Begriff benannte Methode im Zentrum der Praxis der ›materialen Alterthumslehre‹, sie sei ihr völlig genuin (vgl. I/99). Diese ›materiale Alterthumslehre‹ besitzt in Schlegels Konstruktion die Qualität und den Rang von absoluter Philologie, Annihilation und Kunst – in diese Anerken­ nung tritt die Cyklisation. Die Cyklisation sei die der Altertumswissenschaft genuine Methode (vgl. I/99), da sie nur hier heimisch sei, und in anderen Disziplinen gerade nicht: die Logik verfahre linear, die Historie heteronomisch, die Mathematik cykli­

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 Grenzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate ›Zur Philologie‹

siere nicht, die Philosophie werde erst durch die Philologie zur Kunst (vgl. II/61). Und so setzt Schlegel im nächsten Notat dezidiert ein: »Auch die Methode der materialen Alterthumslehre erkannte ich selbst, lange ehe ich von Fichte wußte, für cyklisch.« (II/62) Wie die absolute Kunst werde er die Cyklisation im ersten Aufsatz bzw. im ersten Kapitel seines Buchs über den Begriff der Philologie behandeln, dort wo es um die ›Dedukzion der Philologie‹ (vgl. II/8, II/48) gehe. Schlegel beabsichtigt, die ›Cykli­ sation‹ bzw. die ›Totalisierung von unten‹ (vgl. II/84) aus dem Begriff der ›Wissen­ schaftskunst‹ abzuleiten, in dem Kunst und Methode verknüpft sind: »Die Dedukzion der cyklischen Methode liegt vielleicht im Begriff einer Wissenschaftskunst.« (II/65). Letztlich muß Schlegel auch die ›Cyklisation‹ totalisieren (wie die Hermeneutik, die Kritik, die Grammatik auch), denn auch sie hat einen heimlichen Begriffssinn. Schlegel läßt die Cyklisation nicht ohne Bedingungen gehen, als handele es sich schlicht um den Weg vom Allgemeinen zum Besonderen und zurück. Der bereits zitierte Satz II/73 »Alles kritische Lesen, alles Lesen mit Rücksicht auf Klassizität […] ist cyklisch.« gibt einen Hinweis. Das Wort von der »Klassizität« ruft die historistischen Voraussetzungen des Verstehens hervor und alles, was daraus folgt, also die Formen der Philologie selbst.192 Die Cyklisation allein ist also keine Kunst, wenngleich sie ihr nahe kommt; ihre Bestimmungen sind erst zu überwinden. Doch Schlegel kann die Cyklisation der Kunst unterwerfen aufgrund des Gattungsprogramms, welches ihr eine Tendenz gibt und die Kunst bestimmt. Das ist der Sinn der Verbindung von Klassizität und Cyklisation. Die Klassizität ist die Qualität großer Kunst und die Grundlage philo­ logischen Lesens. Von ihr gehen die Romantiker aus – sie ist auf romantischem Weg wieder zu gewinnen. Die Grundlage der Lektüre ist das mit der Klassizität zunächst gegebene Gattungssystem. Die Cyklisation als Methode der Methoden beruht also – in der Rücksicht auf ›Klassizität‹ – auf den Gattungen. Das gilt zwar auch für die Poetik und die Kritik. Das Besondere an der Cyklisation ist die romantische Überzeugung, daß die auf Klassizität gerichtete Verbesserung der Methode kraft einer Entdifferenzierung des Gattungssystems erfolgen kann. Indem Schlegel den Begriff der Cyklisa­ tion durch Gedanken über die Gattungen auslegt, unterwirft er die Methode der Kunst und präzisiert diese Kunst wie Schiller und Goethe Kants Kategorie des Genies.193 Schlegel faßt im Gedanken von der cyklischen Lektüre (die auf meine Vor­stellung einer insistierenden Lektüre vorausweist, wie ich sie im vorletzten Kapitel dieses Buchs entwickle) seine eigene, von ihm angesichts der Klassiker (und gegen sie) ver­ standene Entwicklung zusammen, als sei sie von der philologischen, annihilieren­ den Gedankenbewegung getrieben gewesen. Die Schritte seiner Entwicklung sind an den kurz aufeinander folgenden Werken abzulesen: Das Klassische zeichnete sich für ihn anfangs durch das der Klassik eigene System von Gattungen aus (a). Das Klassi­ sche galt ihm als reines Vorbild, und die Moderne war ihm reine Mimikry (vgl. seine ›Geschichte der Poesie der Griechen und Römer‹, 1798). Das Progressive galt ihm dann (b) als eine defiziente, wenn auch kraft des Interessanten (vgl. ›Über das Studium der griechischen Poesie‹194) eigen­ständige Variante. Der dritte Schritt (c) war die Aufgabe: Das Progressive müsse selbst ein neues System von Gattungen ent­wickeln,



Philologische Methoden im Zeichen literarischer Gattungen 

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um ­wiederum klassisch werden zu können (vgl. die ›Fragmente zur Litteratur und Poesie‹).195 Nur das klassische Werk sei ein eigentlicher Gegenstand der Philologie (ein basso continuo in den Notaten ›Zur Philo­logie‹), und nur die progressive Univer­ salpoesie vermöge diesen Status heute, nur approximativ freilich, zu erlangen. Die Philologie besitzt, weil sie das Altertum konstruiert hat, einen privilegierten Zugang zur Werkstatt, in der die neuen Gattungen entstehen. Sie liefert die Prämissen, sie liefert selbst Gattungen, und sie reinterpretiert literarische Gattungen dergestalt, daß sie den modernen philologischen Ansprüchen genügen. Die philologische Cykli­ sation als immer neues Durcharbeiten der aus den Werken gewonnenen Begriffen zugunsten neuer Gattungsverhältnisse soll schließlich produktiv werden.

Philologische Methoden im Zeichen literarischer Gattungen Die Last trägt damit die Literatur. Literarische Gattungen können die philologisch nötige Entdifferenzierung der Methoden, mit anderen Worten: das Projekt der Cykli­ sation verwirklichen. Die Voraussetzungen sieht Schlegel in der Literatur seiner Zeit nicht gegeben. Deren Mangel an historistischem Sinn, der die Grundlage der Philo­ logie darstelle, behindere sie. Bedauernd stellt Schlegel für die Literatur seiner Zeit fest: »Sie [die Literatur] ist bloß Mittel, nicht Theil der Philologie.« (I/139) Schlegel formuliert das Ziel, die literarischen Gattungen zu philologisieren, in seinen Arbeits­ heften (ähnlich wie im ›Lyceums‹-Fragment 75): »Lexika sind φλ [philologische] Satiren. Noten und Scholien sind φλ [philologische] Epigramme, Xenien.« (II/85) Und er ergänzt nachträglich: »Der fortlaufende Kommentar ein φλ [philologisches] Epos, Epopöe.« (II/85) Und früher schon: »Meine Alterthumslehre ist ein philologi­ scher Roman.« (I/220) Diese Notate drücken folgende Gedanken aus: Der Roman sei das Höchste, quasi die ›Kunst‹, die Schlegel stets mit seiner ›materialen Alterthumslehre‹ gleichsetzt. Die philologischen Genres lassen sich für den Roman einer Altertumswissenschaft gebrauchen, wenn die herkömmlichen literarischen Gattungen philologisiert, d. h. nach den Prinzipien einer progressiven Philologie rekonstruiert werden. Lexika sind keine Satiren, aber in der literarisch-genrehaft ausgerichteten Welt der Philologie tun sie, was Satiren (nach Schillers Ästhetik) können, nämlich den Abstand zum Ideal verdeutlichen. Im philologischen Epos wird der historistische Abstand zum Kommen­ tierten (wie hat ihn Goethe in ›Herrmann und Dorothea‹ schmerzlich gespürt) Teil des literarischen Wissens. Und so fort. Zweierlei geschieht hier. Die Philologie gerät in die Gravitation literarischer Genres und deren Welt: Davon zeugen das ›Lexikon‹ und die Altertumslehre insgesamt. Und die Literatur nimmt mit den philologischen Techni­ ken neue Gattungen auf und rechnet damit, selbst philologisiert zu werden. Der phi­ lologische Kommentar ist dafür das beste Beispiel. Er stellt für Schlegel eine bedeut­ same romantische literarische Form dar. Man denke allein an die in der ›Lucinde‹

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 Grenzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate ›Zur Philologie‹

regelmäßig – in der Fiktion – aufgefundenen Texte, die in nachträglichen, das heißt zeitlich späteren Gedanken kommentiert werden.

Der Roman ›Lucinde‹ als Modell einer progressiven Philologie Die Notate ›Zur Philologie‹ haben zum Ziel, die Philologie mit ihren eigenen Mitteln, namentlich der Cyklisation, zu durchdringen. Das Ergebnis der Cyklisation ist ein Wort, nämlich der Begriff der ›Kunst‹, der die Wissenschaften, Techniken und Ver­ mögen der Philologie enthält. Das Wort ›Kunst‹ (oder ›kunstmäßig‹) bezeichnet die vervollkommnete philologische Methode. Freilich soll das Wort inhaltsleer sein, und so werden die darin enthaltenen Methoden nicht expliziert, sondern durch immer neue experimentelle, progressiv sich ändernde Konstellationen, in wachsendem inter­ nen Gebrauch, geführt. Die Notate sind damit selbst ein Werk geworden, im zweiten Grad, das durch eine entgrenzende Gattungenaktivität die für die Klassizität nötige historistische Fremdheit gewinnt. Die Methode ist quasi literarisch – sie will diskursiv nicht faßbar, sondern eine Kompetenz bzw. ein Vermögen sein. Sie ist insofern in actu faßbar, weniger womöglich in den Notaten, deren historische Genese in den (in ihrem Aufbau dem Leben folgenden) Arbeitsheften die progressive Durchdringung mindert, als in einem Kunstwerk. Was sich in den Arbeitsheften andeutet, ist im Ver­ hältnis der Arbeitshefte zu einem Kunstwerk vollends verwirklicht: Der Umschlag der philologischen Methode in die Kunst, um die in der methodischen Reflexion verloren gegangene Diskursivität in der Lektüre des Kunstwerks wieder zu gewinnen. Schlegels Roman ›Lucinde‹196 (1799) hat die philologische Methodik der eigenen Produktion und Machart zugrunde gelegt. Die ›Lucinde‹ entstand eineinhalb Jahre nach den Arbeitsheften ›Zur Philologie‹, in wenigen Monaten seit Dezember 1798. Der Roman enthält die ›Bekenntnisse eines Ungeschickten‹ – so lautet der Untertitel, der nach einem Prolog eingefügt ist und eigentlich den zweiten Titel des Romans dar­ stellt. Die Liebe ist das Sujet des Romans, und es wird sich erweisen, daß in ihr die philologischen Prinzipien des Romans totalisiert werden. Die Verbindung von Liebe und Philologie prägt eine große Passage gleich auf den ersten Seiten. Der Abschnitt zeigt die große Begabung des Ungeschickten, sich und seine Geliebte und auch ihre gemeinsame Liebe in einem Schriftstück zu erkennen; ungeschickt wie er ist, ersetzt er das Schreiben durch das Lesen: »Eine große Träne fällt auf das heilige Blatt, welches ich hier statt Deiner fand. Wie treu und wie einfach hast Du ihn aufgezeichnet, den kühnen alten Gedanken zu meinem liebsten und geheimsten Vorhaben. In Dir ist er groß geworden, und in diesem Spiegel scheue ich mich nicht, mich selbst zu bewundern und zu lieben. Nur hier sehe ich mich ganz und harmonisch, oder vielmehr die volle ganze Mensch­ heit in mir und in Dir. Denn auch Dein Geist steht bestimmt und vollendet vor mir; es sind nicht mehr Züge die erscheinen und zerfließen; sondern wie eine von den Gestalten, die ewig dauern, blicket er mich aus hohen Augen freudig an und öffnet



Der Roman ›Lucinde‹ als Modell einer progressiven Philologie  

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die Arme, den meinigen zu umschließen. Die flüchtigsten und heiligsten von jenen zarten Zügen und Äußerungen der Seele, die dem, welcher das Höchste nicht kennt, allein schon Seligkeit scheinen, sind nur die gemeinschaftliche Atmosphäre unsers geistigen Atmens und Lebens.«197 Das ist der Bericht von einer Liebe, die sich in Texten erkennt, weil Texte ihre Welt konstituieren. »Die […] Äußerungen der Seele […] sind […] die gemeinschaftliche Atmosphäre unsers geistigen Atmens und Lebens.« Die Philologie tritt auf als Technik, diese Welt zu entziffern und also zu konstituieren. Nicht jede Lektüre kann gemeint sein. Philologisch ist die hier vorgeführte Lektüre, weil sie »ewige«, man kann auch sagen: klassische Züge eines dem Betrachter fremden Gegenstands festhält. Bemer­ kenswerterweise gibt der Bericht nicht den Text, von dem die Rede ist: Der Roman ist hier direkt Interpretation. Dieser Bericht im Roman ›Lucinde‹ ist jedoch nur eine Gattung unter einer Viel­ zahl von Gattungen. Was der Bericht im Kleinen erzählt, geschieht im Ganzen des Romans: Texte werden gelesen, um der Liebe von Julius und Lucinde habhaft zu werden. Das geschieht im Brief, im Dialog, in der Tagebucheintragung, in der Cha­ rakteristik, in ›Eine Reflexion‹, in den ›Tändeleyen der Phantasie‹, oder – Goethes Roman zur Gattung heranzitierend – in ›Lehrjahre der Männlichkeit‹. Die Gattungen er­weisen sich als Grundlage, und das herkömmliche Gattungssystem ist – konsequen­ terweise, wie wir nun sagen können – derart aufgelöst, daß manche Gattungen so spezifisch sind, daß sie nur hier Gültigkeit besitzen. Der Bericht selbst trägt als Titel, oder besser: als Namen die ›Dithyrambische Phantasie über die schönste Situation‹. Auf die Philologie als Prinzip des Romans setzt meine Interpretation der ›Lucinde‹; eine solche Interpretation steht freilich gewohnten Einschätzungen entgegen. Manche meinen, Schlegel habe die Form aus gattungspolitischen Gründen gewählt, um die Strukturformel des modernen Romans zu entwickeln (Gert Mattenklott, 1977),198 andere meinen, daß Schlegel das Leben poetisch durchdringen will (Manfred Engel, 1993).199 Das sind wichtige Beobachtungen, doch nur Epiphänomene des Versuchs, den Text als Ganzes zu verstehen. Auch die ältere Rezeption hatte anderes als das hier von mir Entwickelte vor Augen. Sie gehorchte den Normen des Klassischen und der Moral. Das Gültige der Klassik wurde dem Interessanten entgegengehalten, dessen Parteigänger Friedrich Schlegel sei. So argumentierte Emil Staiger in seinen Briefen an Peter Szondi während des Zürcher Literaturstreits 1966/67 (und tat Szondi auf die Seite des ›Interessanten‹).200 Das Mißverständnis Staigers bestand darin, daß Szondi gerade auf die Dialektik des Klassischen und Progressiven, bei Schiller und Schlegel, achtete. Und schon die Zeitgenossen haben die Liebe als Sujet des Romans erkannt, doch deren Darstellung als zu freizügig abgetan. Für die Leser damals standen im Mittelpunkt »die Langeweile und der Ekel, das Erstaunen und die Verachtung, die Scham und die Traurigkeit, womit jeder Leser von gesunden Sinnen diese ›Lucinde‹ von sich wirft.«201 Solche erste Reaktionen auf den Roman provozierten Schlegels Freund Friedrich Schleiermacher, seine ›Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde‹202 (1800) zu schreiben. Eine Verteidigung Schlegels im Namen der Liebe.

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Philologie der Gattungen der Liebe Tatsächlich ist die Liebe allein das Sujet des Romans, doch besteht der Sinn dieser Zuspitzung darin, ein semantisches Dach zu bilden, das wenig sagt und der Praxis alle Freiheit läßt. Die dichterische Praxis, der diese Freiheit zugute kommt, entfaltet sich in den philologischen Operationen des Romans. Philologisch, denn sie wollen dessen Klassizität behaupten. Eine Klassizität aufgrund der Verfaßtheit als fremdes, historistisch gefaßtes Ganzes. Die Methodik auf diesem Weg verbirgt sich im zum Namen gewordenen Begriff. Insofern hat das Wort ›Liebe‹ den Status des Wortes ›Kunst‹ in den Arbeitsheften ›Zur Philologie‹. Und sie hat nicht nur einen analogen Status, sondern auch den Sinn des Wortes aus den Arbeitsheften. Die Liebe wird zur philologischen Methode, die sich hinter ihrem Namen versteckt und also annihi­ liert ist. Dabei muß der Roman seine Klassik, philologisierend, innerhalb eines in Auf­lösung begriffenen Gattungssystems erreichen. Die Gattungen in der ›Lucinde‹ werden zur Wissenschaft einer als philologische Kunst verstandenen Liebe. Eine romantische Klassik entsteht, die den Roman, in den Augen Schlegels, erst zu einem genuinen Gegenstand der Philologie macht. Worin besteht, fragt man sich schließ­ lich, der Eigenwert dieser Philologie gegenüber einer philologisch sich gebärdenden Literatur? Und wie ist die philologische Methode faßbar? Die Mitte der ›Lucinde‹ bildet das Kapitel ›Lehrjahre der Männlichkeit‹. Entsteht damit auch eine Symmetrie der Kapitel, wie Ernst Behler meint?203 Vor und nach den ›Lehrjahren‹ ordnet Schlegel jeweils sechs Kapitel an, und die ›Lehrjahre‹, das längste Kapitel überhaupt, verstehen sich als Referenz gegenüber Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹, die Schlegel in seiner berühmten Rezension »als ersten Beitrag zu seinem eigenen Projekt ›romantischer Roman‹«204 liest, nämlich in seiner Fähigkeit, die ein­ zelnen Teile des Romans zu individuellen Organismen zu bilden, die indes ohne das Ganze des Romans bedeutungslos blieben. Eine einheitliche »Subjektstruktur«205 mache sich in allen Teilen geltend, was schließlich zur Klassizität des modernen Romans führe; im Fragment zur progressiven Universalpoesie (AF 116) schreibt Schle­ gel: Die romantische Poesie »ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr die Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird.«206 Indem das einheitsstiftende Prinzip in den Vordergrund rückt, verliert jedoch jedes Kapitel, auch das Kapitel der ›Lehrjahre der Männlichkeit‹, seinen Prioritäts­ anspruch. Diese ›Lehrjahre‹ stehen nur scheinbar in der Mitte. Sie stehen in einem Geflecht von Gattungen, die untereinander wettzumachen haben, was die Gattung als Gattung jeweils versäumt. Nur innerhalb eines sich radikalisierenden Systems der Gattungen, in dem am Ende jedes Werk seine eigene Gattung sein soll,207 wäre nach dieser Poetik die klassische Totalität zu erreichen. Nimmt man die Gattungen und die Totalisierung zusammen, folgt der Gedanke, daß die Gattungen, insofern sie einem Prinzip folgen, der ›Wissenschaft‹ angehören,



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und insofern sie einander ins Wort fallen, also wechselseitig die Cyklisation ihrer Gattung vorantreiben, einen Kunstzweck verfolgen. Die Tendenz der Kapitel, die sich alle aufeinander beziehen, Titel zu schaffen, die den Status von Eigennamen be­sitzen (›Allegorie der Frechheit‹, ›Lehrjahre der Männlichkeit‹, ›Tändeleyen der Phantasie‹ oder ›Eine Reflexion‹), weil sie zu partikular für eine Gattungsbezeichnung sind, spricht für jene Anstrengung, ein festes System von Gattungen aufzulösen (unter der Voraussetzung einer Idee der Gattung) und so das Individuelle zu schaffen. Die philo­logische Kritik wirkt an der ›Wissenschaft der Gattungen‹ mit und reflektiert den Prozeß ihrer Überwindung. Von den drei Tendenzen Kritik, Hermeneutik und Rhe­ torik, die sich – der jeweiligen Wissenschaft folgend – in der philologischen Kunst bemerkbar machen, tritt die Kritik in der ›Lucinde‹ hervor. Es geht um die restitutio eines Werks, und die zugehörige Wissenschaft ist, den Notaten ›Zur Philologie‹ streng folgend, die Poetik (vgl. I/159). Es ist eine Gattungspoetik, die es – zugunsten der Wis­ senschaftskunst – zu annihilieren gilt.

›Lehrjahre der Männlichkeit‹ Die ›Lehrjahre der Männlichkeit‹ sind ein chronikhaftes Stück Prosa, das aufgereiht die Erlebnisse Julius’ mit einzelnen Frauen schildert und in der glücklichen Verbin­ dung von Julius und Lucinde endet. Das Dokumentarische dominiert das Narrative. Im Grunde werden Liebschaften aufgezählt und laufend kommentiert. Die Erlösung vom Dokumentarischen am Ende verdankt sich einer literaturgeschichtlichen Kon­ struktion. Schlegel baut in das Dokumentarische eine Epochensystematik von Klassik und Moderne ein, die die ›Lehrjahre der Männlichkeit‹ organisiert. Diese Epochen­ systematik folgt der in Schlegels Arbeitsheften entwickelten historistischen Prämisse philologischer Praxis. (Mit dem Übergang vom Dokumentarischen zum HistoristischReflexiven gibt Schlegel zugleich einen wissenschaftsgeschichtlichen Abriß.) Julius hat viel erlebt und ist vielen Frauen begegnet. Bald nach manchen »vorübergehende[n] Zustände[n] ohne Zusammenhang«208, nach der Verwirrung, setzt die philologische Ordnung von Antike und Moderne ein, die erst zur wahren Liebe führt: Zunächst liebt Julius die Frau eines Freundes, die selbst antik und ebenso naiv wie sentimentalisch lebt (es regiert die von Szondi später auf den Punkt gebrachte Einsicht, das Naive sei das Sentimentalische),209 doch Julius selbst muß aus Rücksicht auf den Freund seine Liebe zurückdrängen und lebt daher quasi klas­ sizistisch, das heißt ohne Verbindung von innerer Leidenschaft und objektiver Kunst, die er nach antikem Vorbild schafft:210 »Was er bildete, war groß gedacht und in altem Stil, aber der Ernst war ab­schreckend, die Formen fielen ins Ungeheure, das Antike ward ihm zu einer harten Manier, und seine Gemälde blieben bei aller Gründlichkeit und Einsicht steif und steinern. Es war vieles zu loben, nur die Anmut fehlt; und darin glich er seinen Werken.«211

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Nun erst begegnet er einer älteren Freundin, und ex post werden die Gründe seiner klassizistischen Reaktion deutlich. Die Gründe spiegeln die Opposition von Wissenschaft und Kunst, von einem Spiel nach Regeln, denen Julius gefolgt ist, und der künstlerischen Notwendigkeit, die er nun findet; er gibt der Regel den Namen ›Konsequenz‹ und konzipiert sie kantianisch als Bedingung des Genies.212 Die Regeln (oder anders gesagt: die Wissenschaften) werden erst in einem weiteren, geselligen Kreis kunstmäßig gehandhabt. Der gesellige Genius, der die Regelhaftigkeit über sich selbst hinausführt, tritt als mütterliches Herz auf: »In dieser Anschauung begriff es Julius klar, daß es keine andre Tugend gebe als Konsequenz. Aber es war nicht die kalte steife Übereinstimmung berechneter Grund­ sätze oder Vorurteile, sondern die beharrliche Treue eines mütterlichen Herzens, das den Kreis seiner Wirksamkeit und seiner Liebe mit bescheidner Kraft erweitert und in sich selbst vollendet, und die rohen Dinge der umgebenden Welt zu einem freund­ lichen Eigentum und Werkzeug des geselligen Lebens bildet.«213 Das Poetisch-Systematische wird hier in der biographischen, voll Bewunderung gezeichneten Relation Schlegels zu Goethe nochmals gespiegelt. Goethe tritt quasi als diese gesellige ältere Freundin auf. Die Spiegelung erlaubt die Wertschätzung einer noch fruchtbaren Klassik: Die alte Dame erwartet – trotz ihres Alters, aber dank ihres Charakters – noch ein Kind. Danach folgen in den ›Lehrjahren‹ Übergänge, rasche Liebschaften, die Julius (die schon im Untertitel des ›Romans‹ gegebene Doppelbe­ deutung: Gattung und Liebschaft nutzend) ›Romane‹ nennt, aber noch schreibt er keine. Das ändert sich mit der Liebe zwischen ihm und Lucinde. Der Gang von der Antike in die Moderne vollendet sich, denn: »Lucinde hatte einen entschiedenen Hang zum Romantischen, er fühlte sich betroffen über die neue Ähnlichkeit und er entdeckte immer mehrere.«214 Ihr gemeinsamer Maßstab ist die selbstgebildete Welt. Was sind nun die Grundlagen dafür, daß Liebeslehrjahre einer systematischen Geschichte der Ästhetik folgen können? In den ›Lehrjahren der Männlichkeit‹ kann Schlegel die Grundlagen nicht explizit nennen. Er nennt sie anderswo, namentlich in seiner ›Allegorie der Frechheit‹. An diesem Beispiel wird besonders augenscheinlich, wie die Gattungen einander aushelfen. Die ›Lehrjahre‹ sind das produktive Kapitel; die Reflexion, die sich noch in dem Kapitel der ›Lehrjahre‹ unmittelbar an den Bericht anschließt215 und insofern eigentlich ein philologischer Kommentar ist, erklärt, warum die Gründe für die Produktivität in der Produktivität selbst nicht formulier­ bar sind. (Auch das selbständige Kapitel, das den Titel ›Eine Reflexion‹216 trägt, dient diesem Zweck.) Und das Allegorie-Kapitel liefert die Gründe, von der Seite gewisser­ maßen, mit Abschlägen in der Qualität der Bilder. So treiben die Kapitel qua Gattun­ gen ihre Cyklisation voran.



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Reflexion der Produktivität in der Allegorie Die Reflexion am Ende der ›Lehrjahre‹ ist von erkenntniskritischer Skepis motiviert: Julius’ inneres Leben lasse sich, überlegt er, in all den Erzählungen nicht »äußerlich darstellen«, denn sein Inneres sei der Kern der Kreativität: »In jener tiefsten Mitte des Lebens treibt die schaffende Willkür ihr Zauberspiel.«217 Genie, materiale Altertums­ wissenschaft, Kunst – diese Konzepte sind Schlegels Basis für diesen Satz. Nun geht Schlegel einen Schritt weiter, um einen Ort für seine Interpretation zu schaffen: Was sich nicht direkt darstellen lasse, sei der Allegorie indirekt zugänglich. An sie halte man sich, um zu erkennen, was sich in den ›Lehrjahren‹ nicht ausdrücken ließ und als Unaussprechliches im Inneren sitzt. Namentlich nimmt er auf die ›Allegorie der Frechheit‹ Bezug und ortet in den ›Lehrjahren‹ selbst einen allegorischen, »geistigen Hauch«.218 Der Hauch in den ›Lehrjahren‹ ist ihr Historismus. Und in der ›Allegorie der Frechheit‹ wird dieser Historismus textkritisch fundiert. Tatsächlich erzählt die ›Allegorie der Frechheit‹ von vier Romanen, die der gott­ ähnliche Witz als Söhne gezeugt hat, und es wird berichtet, wie diese Romane, die wiederum literarhistorische Rollen innehaben (der naive, der christlich-ritterliche, der antike und der moderne Roman), zu den Frauengestalten, namentlich zur Dezenz und zur Frechheit sich verhalten. Die Frechheit, deren »Bildung groß und edel«219 ist, tut sich naturgemäß mit dem klügsten und elegantesten der Romane zusam­ men: »Man hätte ihn ebensogut für einen Franzosen wie für einen Deutschen halten können; seine Kleidung und seine ganze Art war einfach, aber sorgfältig und völlig modern.«220 Die Frechheit, Stellvertreterin des Witzes, und der Elegant konstitu­ ieren die romantische Literatur. Ihr werden Julius und Lucinde am Ende huldigen. Damit stellt sich auch hier die Wiegebewegung von Sprechen und Schweigen ein, die ich eingangs als Kern des Schlegel’schen Projekts bezeichnet habe. Der nicht aus­ ge­sprochene Sinn der ›Lehrjahre‹ ist die in der Liebe mögliche Kreativität, die sich er­zählend verwirklicht und allegorisch-reflexiv fassen läßt. Der Sinn der Allegorie ist eine Bücherlandschaft, die philologisch-historistisch totalisiert wird. Die Allegorie macht den notwendigen Mangel der ›Lehrjahre‹ wett: Sie spricht, wie eine Wissen­ schaft gegenüber der Kunst.221 Und die Philologie wird – als ›Kunst‹, die verschwiegen ist – zum Garanten des modernen Werks.

Perspektiven oder: Wann endet eine Interpretation? Die hermeneutische Reflexion nach Friedrich Schlegel entwickelt sich auf der Grund­ lage der in den Notaten ›Zur Philologie‹ explizierten Gedanken. Um dem Schwei­ gen der Reflexion zu entkommen, gehen die Theoretiker der Hermeneutik von der ›Kunst‹ einen Schritt zurück zu den Vermögen der Hermeneutik und der Kritik und behaupten nur mehr den in ihnen notwendigen kunstmäßigen Gebrauch. Entschei­ dend wirkt in dieser Hinsicht Friedrich Schleiermacher, der Freund Schlegels. Der

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Schritt zurück findet sich bereits modellhaft in Schleiermachers Durchgang von den ›Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde‹ (1800),222 einem Briefroman, in dem Schleiermacher bald nach ihrem Erscheinen die ›Lucinde‹ verteidigt, zu dessen 1805 und 1809/10 einsetzenden Kollegien in Berlin. Die ›Vertrauten Briefe‹ nehmen das Wort ›Liebe‹ aus der ›Lucinde‹ auf und sehen in diesem Wort das Prinzip der Totalität des Romans. Diese Totalität verteidigt Schleier­ macher. Er macht die selektive Lektüre, das »Naschen«,223 den Frauen, mit denen er korrespondiert, zum Vorwurf. Die Liebe, die die Totalität des Romans gewährleiste, setze sich »in jedem Zuge« durch: »Hier hast Du die Liebe ganz und aus einem Stück, das Geistigste und Sinnlichste nicht nur in demselben Werk und in denselben Perso­ nen nebeneinander, sondern in jeder Äußerung und in jedem Zuge aufs innigste ver­ bunden.«224 Die Liebe wird als Formprinzip angesehen und folgerichtig mit Begriffen und Konzepten der Ästhetik charakterisiert: mit der Identität von Empirie und Geist, mit der inneren Reinheit eines Kunstprinzips (daher auch als Erläuterung der ›Innig­ keit‹: »Die bürgerliche Welt und die feine Gesellschaft sind so gut als gar nicht vor­ handen.«225), mit Vollendung, Lebendigkeit, der »innern Schönheit«226 und Stil. Auch die Einwände der Korrespondenzpartnerinnen pariert Schleiermacher mit Hinweisen auf den ironischen Abstand Julius’ zu seinen früheren Amouren, also mit Normen der romantischen Kunst (die Figur der Karoline etwa läßt Schleiermacher auftreten und schreiben als ein Mädchen, das die Ironie der ›Lehrjahre der Männlichkeit‹, etwa in der Mädchen-Episode, verkennt).227 Angesichts der ästhetischen Charakterisierung und Verteidigung wäre die Liebe als Stoff selbst kaum mehr nötig, und Schleierma­ cher drückt sich am Rande dieser Möglichkeit aus: der Roman ist ihm ein »Zeichen […] von der Wiederkehr eines großen und schönen Stils in der Kunst«.228 Vom Zeichen einer Kunstkraft zu deren Verkörperung ist in diesen Briefen oft nur ein kleiner Schritt, den die Adressaten freilich nicht verstehen. Das Mißverständnis Schleiermachers mit Ernestine hat in dem von Schleiermacher vollzogenen Schritt zur Liebe als Namen für eine Kunstform seine Ursache. Ernestine begegnet dem Argument, die innere Schön­ heit der Liebe sei ein ästhetisches Prinzip, auf der Ebene des Stoffes: Wer nur innerlich liebe, liebe mangelhaft, da die wahre Liebe sich in den Taten bewähre.229 Schleiermacher benutzt Kunst-Formeln, um die Form der Liebe zu benennen; so muß er die Form nicht näher analysieren, sondern umspielt sie in einer wiederum künstlerischen Gattung. Er reagiert in Gestalt des Briefromans kongenial auf die Vorlage, indem er seine Lektüre auf eigene und andere Briefe verteilt. Er wiederholt Schlegels Prinzip der Cyklisation und schiebt deren Auflösung hinaus. Schlegels Philo­logie der Philologie findet nur schwer zur Philologie als Wissenschaft, d. h. zu den Tendenzen der ›Kunst‹ zurück. Schlegel hat im Verhältnis der Notate zum Roman ein chiastisches Argument vollzogen: Vermögen und Wissenschaft (A) münden, kraft der Cyklisation, in ein Wort (B); dieses Wort ›Kunst‹ wird im Roman übersetzt in das Wort ›Liebe‹ (B’), in dessen Schutz die Prinzipien der Notate produktiv werden können (A’), ohne expliziert zu sein.230 Indem er – mit dem Stilmittel der Allegorie – eine Interpre­ tation der künstlerischen Praxis (B’) vorlegt, öffnet er einen Weg, aus der progressi­



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ven Cyklisation reflexiv und artikuliert herauszukommen. Schlegel schlägt eine Interpretation der philologisch-produktiven Praxis vor. Diesem Weg folgt Schleiermacher in seinen Hermeneutik-Vorlesungen. Er legt quasi seine ›Vertrauten Briefe‹ aus, die August Boeckh zu Recht als Schleiermachers hermeneutisches Werk par excellence hervorgehoben hat: nota bene als hermeneutisches, d. h. von der Hermeneutik ange­ triebenes Werk, und nicht als Studie der Hermeneutik.231

4 Wissensvorstellungen in Goethes ›Faust II‹ Im Frühjahr 1825 schnürt Goethe sein altes ›Faust‹-Paket auf und macht sich an die Fortsetzung ›Der Tragödie Zweiter Teil‹.232 Er beginnt von hinten. Drei Szenen des letzten Aktes (›Mitternacht‹, ›Grablegung‹, ›Großer Vorhof des Palasts‹) entstehen im Februar und März, dann läßt er – für den dritten Akt – das 1800 abgebrochene SatyrDrama ›Helena im Mittelalter‹ abschreiben, füllt Lücken, entwickelt Schemata zur Fortsetzung der Dichtung, und kann noch im selben Frühjahr das Mundum (V H2) für diesen Akt abschließen.233 Im Winter 1826 entstehen erste Skizzen für die Antezeden­ tien (Goethe nennt sie so) im zweiten Akt, und Anfang 1827 schreibt er das Schema für den ersten Akt nieder: der erste große Terzinenmonolog Fausts (»Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig«, V. 4679ff) muß den Zeugnissen nach vor dem 6. Mai 1827 entstanden sein.234 Auffällig lange gelten die Schlußgedichte ›Abkündigung‹ und ›Abschied‹ aus dem ›Faust‹-Plan von 1797/98 (V H2 sieht sie noch vor)235 und werden erst vier Jahre später 1830 durch die kurze Schlußszene ›Bergschluchten, Wald, Fels‹ ausgetauscht. Die Entstehungsgeschichte dieser Szene zeugt von den Schwierigkeiten, ein Schema lebendig zu halten. Goethes Konstruktion, die das ganze Stück hervor­ gebracht hat, kehrt hier wieder: die Natur stecke das Feld ab und bemeistere das Exzentrische selbst, das sie hervorbringe. Davon möchte ich ausgehen und die Frage stellen, wie Goethe mit den Traditionen, die er besser als die Gelehrten zu beherrschen sucht, in ›Der Tragödie Zweiter Teil‹ umgeht. Fünf Schritte habe ich im Sinn. Zuerst skizziere ich einige Veränderungen, die Goethe in seiner späten Ästhetik gegenüber der klassischen vorgenommen hat, und frage, warum er das Gedicht ›Abschied‹ fallen ließ. Eine neue Heterogenität wirkt sich aus. Zwar bleibt Goethe bei seiner naturtheo­ logischen Konstruktion, doch aktualisiert er sie durch das mannigfaltige Material aus der Tradition, ob literarisch, philosophisch oder wissenschaftlich, das er nun zuläßt. Dem muß, so argumentiere ich in einem zweiten Schritt, die Interpretation folgen; während Forscher wie Wilhelm Scherer, Albrecht Schöne und Wilhelm Emrich aus dem Kontext, den sie unterschiedlich bestimmen, das Verständnis für ›Faust II‹ ab­leiten, richte ich das Augenmerk auf den ›partikularen Schaffensprozeß‹ selbst.236 Explizite Autoreflexion und reflexive Gestaltung sind zu unterscheiden. In den Gelehrten, und wie es ihnen im Werk ergeht, richtet das Drama einen bedachten, d. h. expliziten Blick auf seine Aneignung von Traditionen: Ihnen ist der dritte Abschnitt gewidmet. Die Grenzen des Wissens, seine kurzen praktischen Folgen, verdeutliche ich viertens an wenigen Beispielen (aus der ›Klassischen Walpurgisnacht‹ und aus der Szene ›Vor dem Palaste des Menelas zu Sparta‹). Da die Traditionen zugunsten der Konstruktion ästhetisch negiert werden, kann sich gelehrtes und literarisches Wissen im dramatischen Gang der Ereignisse kaum über einzelne Sequenzen hinaus Geltung verschaffen. Diese reflexiven Inszenierungen der Wissensfrage werden – fünftens – auf die Entstehungslogik der Szene ›Bergschluchten‹ bezogen. Es ist die letzte der



Zur klassischen und späten Ästhetik Goethes 

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Tragödie, in der die heteronomen und kompositen Bestandteile spielerisch gebändigt werden. Mit Recht deutet man sie als Resümee des Ganzen.

Zur klassischen und späten Ästhetik Goethes Lassen sich aus dem Schaffensprozeß wichtige Hinweise für die Deutung des Werkes gewinnen, so insbesondere aus dessen Richtung. Wer vom Ende her dichtet, gibt diesem eine besondere Bedeutung – wenn sich der Schluß während des Schrei­ bens ändert, zeugt das von der eigenen Kraft des Neuen. Im Gedicht ›Abschied‹, das ursprünglich den ›Faust‹ beschließen sollte, ergreift der Dichter das Wort: »Am Ende bin ich nun des Trauerspieles / Das ich zuletzt mit Bangigkeit vollführt, / Nicht mehr vom Drange Menschlichen Gewühles / Nicht von der Macht der Dunkelheit gerührt. / Wer schildert gern den Wirrwarr des Gefühles / Wenn ihn der Weg zur Klarheit auf­ geführt.«237 Man tritt mit ihm aus dem Stück und liest den elegischen Epilog als Ver­ mächtnis, als ein Ite missa est, das in großer Klarheit über die Gesetze des Lebens spricht. Es ist eine Klarheit über Chaos und Kontrolle, welche das Stück, nicht aber das Gedicht qua Abgesang prägen, und man fragt sich, wie der Dichter, der den Epilog vor dem Drama schreibt, die Klarheit wird durchsetzen können, und wie das neue Ende dann aussehen muß. Das Gedicht ›Abschied‹ enthält eine Kosmologie, in der alles hell ist. Vom ›Faust‹, in dem die Menschen, das Totenreich und die Gefühle die Welt verdunkeln, will der Dichter nichts mehr wissen. Dabei stört ihn an der Tragödie (»Trauerspiel«) weniger, daß sie sich aus der Hybris gegen das Naturgesetz entwickelt, als daß der Konflikt keine Auflösung zulassen und gerade darin naturwahr sein soll.238 Goethes Zwiespalt sein Leben lang, Konzessionen zu machen, um zu einem Goethe zu werden, der er geworden ist, nämlich sich als Leitbild des deutschen Bürgertums einzuholen, äußert sich hier in der Frage, wie man eigensinnig bleiben und doch in Frieden mit den anderen leben kann. Ein kleiner Kreis von Freunden schwebt ihm vor, und von den Kreisen soll es viele geben. »Denn immer halt ich mich an Eurer Seite / Ihr Freunde die das Leben mir gesellt / Ihr fühlt mit mir was Einigkeit bedeute / Sie schafft aus kleinen Kreisen Welt in Welt.«239 Das ist Empedokles’ Gedanke einer pax universalis, der der Aufklärung des 18. Jahrhunderts vertraut war. Der Friede beruht auf der Liebe (Φιλια), die den Dämon des Freundes (also Goethes) akzeptiert und so dem Streit (Νεικοζ) aus dem Wege geht.240 »Wir fragen nicht in eigensinngem Streite / Was dieser schilt was jenem nur gefällt.«241 Der Kreis ist weniger eine formale Figur, etwa mit den Jahres­ zeiten zum Vorbild, als eine theoretische utopische Konstruktion, die Goethe poli­ tisch legitimiert. Statt in Anarchie sich aufzulösen, mündet das Streben eines jeden, seinem Dämon zu folgen, in der Ordnung, wie sie Platon in seinem ›Staat‹ vorstellt: Als Ordnung der Menschen, von denen jeder das Seine tut (τα εαυτον πραττειν): »Ver­ gnügt mit dem war ihm ein Gott beschieden / Zeigt ihm die Welt des eignen Geistes Spur / Kein Hinderniß vermag ihn zu ermüden / Er schreite fort so will es die Natur.«242

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 Wissensvorstellungen in Goethes ›Faust II ‹

Nach dem Naturgesetz kontrolliert – so die Gedankenfigur – ein Drang sich selbst. Diese Konstruktion, mythisch wie jede Konstruktion, nimmt Gestalt an in der Freun­ desliebe, die als politische Ordnung das Streben des Einzelnen integrieren kann. Doch die Menschen sind nicht schon immer vom Naturgesetz erfaßt, sie müssen zu ihm finden und ihre Welt danach erst aufbauen. Ihr Leben besteht in der Erweiterung der Ordnung, im Hinausschieben der Grenzen (»Sie schafft aus kleinen Kreisen Welt in Welt.«), und erst wenn alles dem Lebensgesetz unterworfen ist, könne das einzelne Leben sich entfalten. Dann steht der Mensch der Geschichte gewappnet gegenüber, die allein jene Klarheit bedrohen könnte. Aus dieser Gegnerschaft erwächst der Sinn des Gedichtes ›Abschied‹. Die Geschichte und der ihr inhärente Aufruhr stehen erst am Schluß, in der letzten Zeile: »Des Zeiten Geists gewaltig freches Toben.«243 Der wilde Jäger reitet draußen, er tobt und wird nicht eingelassen. Mit den Jahren wachsen die Schwierigkeiten, das Toben der Geschichte zu kontrollieren, aber auch der fin­ stere Wille Goethes, daran festzuhalten. »Ich habe freilich gut meine Zug­brücken auf­ ziehen, auch schiebe ich meine Fortifikationen immer weiter hinaus«, schreibt er am 29. Januar 1830 an Zelter.244 In ›Abschied‹ spricht ein souveräner Autor, der seinen Gegenstand, mag er poli­ tisch oder geschichtlich sein, in der Kunst zu erkennen weiß. Nach getaner poetischer Arbeit kann er über die Grenzen des Werks hinaus dessen Gültigkeit beanspruchen. »Nach Osten sey der sichre Blick gewandt / Begünstige die Muse jedes Streben / Und Lieb und Freundschaft würdige das Leben.«245 Die Utopie im Osten, wo die Sonne aufgeht, verlangt nach zwei Schritten: Jedes Streben, nicht nur das künstlerische, möge gefördert werden, und das Leben finde seine Erfüllung in dessen Harmonie. Der Ort, den die Kunst einnehmen kann, ist damit nur angedeutet: Die Muse begünstigt jedes Streben, indem sie – muß man hinzufügen – ihm die Ordnung zuweist, die das Leben würdigt. Das Maß ist ihr Kennzeichen, so daß sie sich innerhalb der Natur gegen die Natur richten muß – eine einseitige Aufgabe. Goethe hat die Gesetze der Natur, die für das Leben gelten, im Lehrgedicht ›Metamorphose der Tiere‹ als Gestaltung eines unbegrenzten Dranges formuliert: »denn zwiefach bestimmte / Sie [die Natur] das höchste Gesetz, beschränkte jegliches Leben, / Gab ihm gemess’nes Bedürfnis, und ungemessene Gaben.«246 Dafür findet das Leben Symbole, die selbst aus der Natur stammen. Der Künstler verläßt sich auf die Natur (d. h. auf ihre Ordnungen) und weiß das Leben mit dem symbolgedeuteten Leben zu verbinden. Dem liegt, wie auch den Zeilen aus der ›Metamorphose der Tiere‹, die klassische Ästhetik zugrunde. Als Goethe fünfundzwanzig Jahre später den programmatischen Schluß einzu­ lösen sucht, gibt das Gedicht ›Abschied‹ nicht mehr die Ordnung wieder, die die Natur des ›Faust II‹ bestimmt. Die Gelassenheit des Gedichts läßt nichts von dem Tumult spüren, den es überwinden soll. Es ist klar und setzt eine schöne Komposition voraus. Um 1800 schrieb er noch in der Gewißheit, daß seine poetische Konzentration (er gab ihr den Namen Stil) den Gesetzen der Natur gewachsen sei. Der Autor unterwarf in seinen Stücken seine Figuren (samt ihrer Reden und ihres Tuns) seinem Willen und zwang sie, für ihn und mit ihm auf das Leben zu schauen. Das moderne Epos



Forschungskritik oder Das Partikulare 

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›Herrmann und Dorothea‹, aber besonders das Trauerspiel ›Die Natürliche Tochter‹ sind dafür Beispiele. Gerade das Trauerspiel ist indes mit gehöriger Skepsis gewürzt, in ihm nimmt Goethe Stellung zur Gewalt der Französischen Revolution, die er nicht mehr nach seiner Gewohnheit im Symbol deuten konnte. Die Resignation, die sich darin andeutet, wird später stärker.247 1830 tauscht Goethe die scheinbar sichere Reflexion nach getanem Geschäft gegen ein szenisches Spiel. Auch wenn die Reflexion lange Jahre die programma­ tische Orientierung für den ›Faust, Zweiter Teil‹ blieb, so verschwindet sie nun. Man kann das verstehen: Die Heterogenität des Dramas, wie es inzwischen entstanden ist, scheint sich dem klaren resümierenden Gedanken zu widersetzen. Immer schwieri­ ger wurde es, die Konstruktion komponierend durchzusetzen. Wer zusammenfassen will, muß eine offene Ordnung einsetzen, die sich damit begnügt, dem klassischen Lebensgesetz in den einzelnen Szenen nachzukommen. Die Vielzahl der Figuren, von denen einige ihren Charakter wechseln oder in andere übergehen, die Zeitensprünge, all die Orte und phantastischen Ortswechsel, auch das eher Additive als dramatisch Notwendige der Ereignisse und Bewegungen lassen sich kaum bändigen. Die Klassik hat, das Streben fördernd, aus sich heraus eine offene Form entwickelt, die, nach neuen Erfahrungen, der alten Konstruktion gerecht werden soll. Offen war Goethe im ›Faust II‹ vor allem gegenüber dem Wissen und der Lektüre.

Forschungskritik oder Das Partikulare Goethe verfügt über eine Konstruktion, die ihm hilft sein Material zusammenzuhal­ ten, doch geht an der Oberfläche, die die Komposition ist, die Einheit verloren; diesen Verlust, der sich aus der Form ergibt, nimmt Goethe ernst – und reagiert aufs neue. Es hat die Goetheforscher seit jeher angespornt zu sehen, worin die Einheit des so offen­ sichtlich Heterogenen bestehe. Man kann die Vielfalt der Antworten kaum mehr über­ sehen, einige wenige, mir paradigmatisch erscheinende Positionen möchte ich, mit einem Blick auf ihren wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang, skizzieren: die von Wilhelm Scherer, von Wilhelm Emrich und von Albrecht Schöne. Daraus ergibt sich mein Deutungsweg. Wilhelm Scherer hat, anders als die Literarhistoriker vor ihm, versucht, ein literarisches Werk nicht zur Diagnose des ihm Fremden (sei es die Nation, oder die Ideengeschichte) zu lesen, sondern auf die eigene Gestalt des Werkes zu achten.248 Was er an den Werken wahrnahm, begründete er durch eine Kraft, der das Werk seine Existenz verdankte. Er suchte diese Kraft in der Seele und den Intentionen des Dichters. 1883/84 begründete er mit seinem ›Faust‹-Kolleg eine regelrechte ›Faust‹Philologie und gab ihr mit auf den Weg, den Gedanken an eine Einheit fahren zu lassen, außer sie sei über Goethes Leben zu finden: seine historisch-psychologische Rekonstruktion (Klaus Weimar) des Dramas verlangte, »dass man in die Entstehungs­ geschichte so viel als möglich eindringt, die ursprünglichen und die späteren Inten­

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tionen unterscheiden lernt und womöglich jedem Zuge, jeder Scene, jedem Motive seine ursprüngliche Stelle anweist und sich stets vergegenwärtigt, dass Scenen oder Motive fehlen können, welche, ursprünglich beabsichtigt, dann nicht ausgeführt, den Zusammenhang des Ganzen in einer Weise herstellen würden, wie er thatsächlich in dem äusserlich abgeschlossenen Werke nicht hergestellt ist.«249 Scherer fügt einen Lebenszusammenhang ein, der noch offener ist als die offene Form des ›Faust‹, und eine Logik hat, auf den sich die Goethephilologen verlassen müssen. Sein Schüler Jacob Minor formulierte das korrekt: »Wie aber Werther nicht bloß Goethe, sondern auch Jerusalem ist, so ist auch Faust Goethe und Herder in einer Person.«250 Mit dem Lebensbegriff versucht Scherer (wie auch sein Freund Wilhelm Dilthey), früh schon, den Historismus zu intellektualisieren: im Leben bemühe sich der Dichter, einer übergreifenden Wahrheit gerecht zu werden (es sind die aufgeklärten Normen, nach denen Scherers Literaturgeschichte geschrieben ist251), und das Werk zeuge – unvoll­ ständig – von diesem Ringen im Leben. Einen Werkbegriff selbst hat er nicht: daher ist ihm die Heterogenität des Faust recht, für deren Erklärung er das Leben benötigt. Diesen quellenorientierten Versuchen, das Künstlerische zu erfassen, begegnet man heute wieder in intertextuellen Analysen, in einer modernen »Neuen Gelehr­ samkeit« (Karl Robert Mandelkow). Modern ist das Schattendasein des Subjekts. Das Leben könne den der Lektüre zugänglichen Kosmos nicht mehr ordnen, im besten Fall empfange der Dichter Ordnungen, die die Traditionen selbst gebildet haben. Da man den inzwischen gewonnenen (meist strukturalistischen) Werkbegriff nicht auf­ geben möchte, verläßt man sich auf Traditionen, die im Werk zitiert werden und so dessen Sinn stiften. Ohne Autor sucht man die Entstehung des Werkes außerhalb des Werkes, im Disput der Traditionen miteinander, die sich gewissermaßen vorbereiten, zitiert werden zu können: Sinn entsteht, indem eine Tradition die übrigen dominiert, und diese Leittradition gilt es auszumachen. Albrecht Schönes Spiel mit den Prolego­ mena in Goethes ›Walpurgissack‹252 hat davon seinen Reiz (und auch der Reichtum seines ›Faust‹-Kommentars): Goethe hat alle Passagen, die – in der ›Walpurgisnacht‹ – einen Besuch Fausts und Mephistopheles’ bei der Satansmesse betreffen, schließ­ lich emendiert. Diese Passagen deutet Schöne aufgrund einer Quelle: des Johannes Prätorius Buch ›Blockes-Berges Verrichtung‹, und reintegriert sie in den ›Faust‹, denn Goethe habe nicht wegen ästhetischer Entscheidungen auf das Zelebrieren von »Gold u Schwanz, von Gold u Schoß«253 verzichtet, sondern wegen seiner Stellung als Mini­ ster und wegen des Publikums, auf dessen Geschmack er Rücksicht nehmen mußte. Doch ob der vielfältigen Bezüge kann man die Autonomie des Werkes nur er­läutern, wenn man alle möglichen Grade von Nähe und Ferne vorsieht, wie sie ein Autor wählen kann: die Übernahme von Quellen, deren Kritik, aber auch das herme­ tische Wegblicken. Solch einen Gegenstand vermißt man sowohl bei Scherer als auch bei Schöne. Scherer kann nicht ästhetisch begründen, was unter Autorintention zu verstehen sei; das bleibt recht willkürlich. Schöne hat nicht im Sinn, Goethes Ver­ hältnis zur Tradition zu analysieren, sondern herbeizuholen, was notwendig sei, um dessen Werk zu verstehen: das Werk zitiere die Traditionen oder spiele auf sie an,



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man blickt als Leser durch die Dichtung auf die Traditionen – wie durch Glas – und wählt aus. Doch ohne eine ästhetische Kontrolle weiß man nicht, welche Traditionen und welche ihrer Konstellationen wichtig sein sollen und warum. Weiß man das mit Wilhelm Emrich?254 Immerhin rückt er die Frage der Vermitt­ lung in die Mitte seines Buches über ›Die Symbolik von Faust II‹ (1943/1957) und deutet das Drama als ein Stück über die künstlerische Produktion selbst. Emrich bedenkt, daß ein Künstler von den Traditionen nur erneuern und verlebendigen kann, was er versteht, und weil Verstehen Gemeinsamkeiten voraussetzt, sei auf diese zu achten. Goethe wird eine Konstruktion zugebilligt, die ihn beim Schreiben leite. Ästhetisches Bewußtsein begründete den Ruhm von Emrichs Buch – unter dessen vitalistischen Prämissen leidet der Ruhm heute. Das Ziel des künstlerischen Schaffensprozesses sei grundsätzlich, aus der geschichtlichen Welt eine normativ-klassische zu machen. Geschichte (sie wird stets konnotiert mit allem Individuellen) müsse daher um der Schönheit willen in Natur umschlagen. Das sei in der Antike gelungen, weshalb Goethe sie der Gotik (gleichzusetzen mit starrer »Geschichte«) entgegenhalte, die im ersten Teil des ›Faust‹ die Welt ausmachte: dank der Wiederkunft der Antike – namentlich in der Begegnung von Helena und Faust – erscheine das Gotische wieder als »reine« Natur. Im Augenblick des antilabischen Wechselgesangs der Liebenden vollziehe sich dies (»Die Wechselrede lockt es, ruft’s hervor. […] Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück, / Die Gegenwart allein – / ist unser Glück«, V. 9376–9382). Emrich setzt für seine Deutung voraus, daß die künstlerische Wiederbelebung des Gotischen durch das Antike nur gelingen kann, wenn das Gotische und das Antike – im Künstler, der beide verstehen muß – dieselbe Herkunft haben. Das sei bei Goethe, dem Inbegriff des Dichters, der Fall. »Ob für Goethe die deutsche Vorzeit, ob die Antike oder später der Orient vorbildlich werden, immer leuchtet hinter ihnen eine zur Natur gewandelte Geschichte auf.«255 Damit gehe es im ›Faust II‹ auch nicht mehr um die jeweilige Produktion, sondern um die Bedingungen der Produktion all­ gemein. Goethe finde diese Bedingungen in »Urformen des menschlichen Produk­ tionsprozesses selbst […], die die eigenste Natur des Künstlers fördern und daher für ihn gleichwertig mit dem Naturprozeß selber werden.«256 Das Leben selbst (weil es im Prozessualen, im Werden seine »Urform« habe) ermögliche den nötigen Umschlag von Geschichte in Natur, der um der Schönheit willen notwendig sei. Das Werk eines Dichters, dem dieser »produktiv unendliche Lebensquell«257 zugänglich wird, ist damit nicht als ästhetische Vermittlung von Traditionen zu deuten, sondern als Aus­ druck eines Vorgangs, der stets schon abgeschlossen ist und den der Dichter »ver­ stehen« müsse. Emrich sieht im ›Faust II‹ eine Konstruktion am Werk. Sie handelt vom Schaffensprozeß und setzt voraus – als gelungene Konstruktion, von der Emrich ausgeht –, daß Goethe seiner eigenen Traditionen schon Herr geworden ist (da er ja in diesem Lebensquell wirkt). So gibt das Stück über den Schaffensprozeß keine Aus­ kunft über das eigene Entstehen. Für Scherer vermittelt das Leben Goethes eine Wahrheit, wovon das Werk der unzureichende Ausdruck sei; Schöne stellt Traditionen neben Werkstrukturen; und

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Emrich erläutert die Symbolik des Werkes aufgrund einer geschichtsphilosophischen Konstruktion. Das ist schon viel. Doch mehr als bisher muß sich der Interpret Klarheit darüber verschaffen, wie Traditionen und Konstruktion im ›Faust II‹ zusammenhän­ gen. Goethe benutzt für das Schreiben Traditionen, er ist gelehrt und kenntnisreich. Das Material kommt von außen, und er muß es sich als Fremdes aneignen. Die Viel­ falt der Szenen rührt von den unterschiedlichen Traditionen, die sein sujet beleben, was immer es sein mag. Es ist in jeder Szene etwas Einzelnes: daher sucht Schöne zurecht nach diesen Traditionen. Doch damit sind die Szenen, oder auch die Figuren, erst einmal dem Verstehen entzogen, das stets einen Sinn im Stück sucht und damit eine Rolle der Traditionen darin. Ein Verstehen ist gemeint, das den Sinn in der Par­ tikularität bzw. Besonderheit der Szenen und Figuren erkennt. Die Möglichkeit der Interpretation, die einen homogenen Vernunftraum voraussetzt, ergibt sich (wie Emrich ausführt) dank einer Konstruktion, aufgrund derer Goethe die Traditionen verwendet, so daß die einzelnen Szenen als ästhetisch-partikulare Aktualisierungen von Goethes Naturtheologie begriffen werden müssen. Aktualisierung heißt nicht Ableitung. Indem die Traditionen sich einer einfachen Umsetzung der Konstruktion verweigern, ja von Goethe abgelehnt werden, hat der Vorgang im Drama stets etwas gewalt­sames. Darin drückt sich ein Schaffensproblem aus, das die allgemein sym­ bolisierende Reflexion unterbindet. Die Schwierigkeiten variieren in den einzelnen Szenen: Stets muß der Naturzusammenhang neu aus den Traditionen erstehen. Diese Partikularität ist dem Interpreten aufgegeben.

Die Klugheit des Werkes und wie es seinen Gelehrten ergeht Der Interpret versteht das Partikulare, wenn es im Werk – wie Exemplare einer Gattung – vielfach auftritt und sich wechselseitig kommentiert. Dann ist es innerhalb des Werkes allgemein258 und hinterläßt gern auch Spuren dort, wo die Werke über sich selbst und die »Logik ihres Produziertseins« (Theodor W. Adorno)259 nachden­ ken. Widmet sich der Interpret der Entstehungslogik, mag er sich von der Klugheit des Werkes leiten lassen. In der Selbstthematisierung wiederholt sich (reflexiv gebro­ chen und oft mit quasi ideologischen Absichten) die skizzierte Dialektik von Tradi­ tion, Konstruktion und Komposition. In einzelnen Protagonisten etwa, die etwas auf­ nehmen, es nach einem Schema ordnen und dem dann Taten folgen lassen. ›Faust II‹ ist voll der reflexiven Passagen, die Deutungsansprüche erheben – ob zu Recht oder nicht, zeigt die Grenzen der Komposition. Über die Aneignung von Welt und Geschichte sprechen insbesondere die Einblicke in die Gelehrtenwelt, die der ganze ›Faust‹ gewährt.260 Im Gelehrten als Figur spricht der Dichter über sich selbst, weil er wie ein Philologe, Historiker oder Naturgelehrter (ebenso mit Hilfe gelehrter Freunde) aus einer großen literarischen wie natur- und kulturgeschichtlichen Tradition schöpft und sein Wissen doch nur in einer Kunstwelt entfalten darf. Auf diese Passagen



Die Klugheit des Werkes und wie es seinen Gelehrten ergeht 

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möchte ich mich beschränken: Sie setzen die Schwierigkeit der natürlichen Symbiose von Traditionenwissen in Szene. Die Rolle der Wissenschaft und die Fruchtbarkeit ihres Wissens verändern sich vom ersten zum zweiten Teil der Tragödie. Die Gelehrten werden zusehends in die Textbewegung eingebunden und erhalten einen Sinn in den Naturvorstellungen, den sie anfangs nicht haben, wo die Wissenschaft, vertreten durch Wagner und Mephi­ stopheles, der den Schüler instruiert (zweite ›Studierzimmer‹-Szene), auf- und dann wieder abtritt.261 Dabei zieht sie die Parodie auf sich. In ›Faust II‹ gehört die Gelehr­ samkeit zu den Verfahren, Einheit und Kontinuität von Figuren und Geschehen im Verhältnis zur Außenwelt zu sichern, die als Vergangenheit in Erscheinung tritt; das Werk selbst steht auf dem Spiel. Davon spricht die Wissenschaft im Werk – und weil sie als Methode sich als unzureichend erweise, auch von den höheren Weihen, die ihr von der Poesie erteilt werden, weswegen sie schließlich abzulehnen sei. Der Faust-Stoff erforderte eine Nobilitierung und erfuhr sie zuerst in der Aufklä­ rung: Etwas wissen wollen, durfte nicht mehr als Hybris bestraft werden. Lessing soll ein Faustdrama geschrieben haben, dessen Manuskript mit einer Bücherkiste ver­ lorengegangen sei. Einige Szenen sind bekannt, und man weiß, daß er am Schluß dem Teufel ein Phantom in die Arme legen wollte. Im fünften Akt ruft ein Engel den Teufeln zu: »Triumphiert nicht, ihr habt nicht über Menschheit und Wissenschaft gesiegt; die Gottheit hat dem Menschen nicht den edelsten der Triebe gegeben, um ihn ewig unglücklich zu machen; was ihr sahet, und jetzt zu besitzen glaubt, war nichts als ein Phantom.«262 Fausts Fehler bestand im übermäßigen Wissensdrang, er verstieß gegen Lessings Ethik der Mitte (Hans Mayer) und sollte also gerettet werden; Lessing ist nicht einfach als Wegbereiter Goethes anzusehen, wie es der aufgeklärte Goethephilologe Ludwig Geiger tat.263 In ›Faust II‹ geht manches von der Diesseitig­ keit verloren, und ›Faust I‹ bezeugt ein neues wissenschaftsgeschichtliches Problem: Das Wissenwollen gilt nicht mehr als vermessen, aber das Zuvielwissen trennt vom Leben. ›Der Tragödie Erster Teil‹ zerfällt in drei Phasen: eine Gelehrtentragödie, eine Universitätssatire und die Gretchenhandlung. Dreimal versucht Faust im Monolog­ abschnitt zu Beginn sich zu entgrenzen.264 Entgrenzt glaubt Faust dem Leben gerecht zu werden – jenseits der veralteten Organisation des Wissens nach vier Fakultäten. Kurz nachdem Mephistopheles dem Schüler seine ironische Lehre gegeben hat, geht man auf die Lebensreise, deren Ausgang die Ambition gründlich kommentiert. Wissen und Leben (besser noch: und Lust) sind zwei Welten, die sich – zum gegenseitigen Schaden – voneinander entfernen. Mit Vorsicht ist Mephistopheles’ »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, / Und grün des Lebens goldner Baum« (V. 2038f) zu lesen: da verhöhnt er – als Stratege eigentlich Teufel – den Schüler und lockt ihn fort von der Universität (die Überheblichkeit des Baccalaureus im zweiten Teil entblößt den fal­ schen Gehalt der Strategie). Allein und für sich hört man ihn anders: Er verwirft das Verlangen Faustens und dessen Geringschätzung des Wissens, die ihn, zur Freude des Teufels, von seiner Natur entfernt: »Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, / Des Menschen allerhöchste Kraft, / Laß nur in Blend- und Zauberwerken / Dich von

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dem Lügengeist bestärken, / So hab’ ich dich schon unbedingt – « (V. 1851–1855). Der Erkennende, zuerst, und dann der Liebende agieren, scheiternd, in einer »barbari­ schen Komposition« (Goethe an Schiller am 27. 6. 1797).265 Im zweiten Teil hingegen wird das Wissen der Gelehrten (oder ihre Erzeugnisse) mit dem Geschehen vermittelt. Das ist neu, und auch, daß es um die Aneignung von Traditionen geht. Man kann das an Wagner sehen. Der zweite Teil der Tragödie beginnt in ›Anmuti­ ger Gegend‹. Faust schläft und erwacht. Er ist – naturaliter, im Schlaf – von der Kata­ strophe im ersten Teil genesen und tritt nun mit Mephistopheles am kaiserlichen Hof auf: Mephistopheles verständigt sich mit dem Erzbischof über Wissen und Magie, man evoziert für die Gesellschaft Helena und Paris im Bild. In die Gegenwart zwingen lassen sich die beiden nicht. Faust hat das vergeblich versucht und kehrt – zu Beginn des zweiten Aktes – in sein altes Studierzimmer zurück. Während er sich erneut im Schlaf erholt, disputiert der als Gelehrte verkleidete Mephistopheles Metaphysik mit dem Baccalaureus (dem Schüler aus ›Faust I‹). Doch nicht diese Gespräche (weder das zwischen dem Erzbischof und Mephistopheles, noch das mit dem Baccalaureus) bringen das Geschehen voran (sie reflektieren es allenfalls und stehen noch auf alter Stufe), sondern die Wissenschaft Wagners, der inzwischen ein Meister seines Faches ist und gerade den Homunculus schafft, einen künstlichen Menschen als Geist, der seinen Körper suchen wird. Wagner arbeitet (würde man heute sagen) am institutionellen Rand seiner Wissenschaft; doch ihre Anerkennung ermächtigt ihn, die Zunft zu integrieren: »Er [Wagner] ist’s allein, der sie [die gelehrte Welt] zusam­ menhält« (V. 6645). Ist die Wissenschaft säkular (Mephistopheles: »Daran erkenn ich den gelehrten Herrn! / Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern«, V. 4917f), so ist Wagner ihr Genie, weil er sie anzuwenden weiß. Magie heißt die Kunst, die Natur­ kräfte zu nutzen. Und indem sein Wissen, sein Produkt, Homunculus, und schließ­ lich dessen Wissen das poetische Geschehen vorantreiben, erweist sich die Poesie als angewandtes Wissen, als Mittel, die in der Wissenschaft gelegenen Möglichkeiten zu realisieren, an die der Spott des Mephistopheles erinnert: »Wenn sie den Stein der Weisen hätten / Der Weise mangelte dem Stein.« (V. 5063f). Homunculus verfügt über ein enzyklopädisches Geschichtswissen (besonders deutlich wird das in Goethes Entwurf von 1826 der ›Antecedenzien von Helena‹266), ein Wissen, das in der Tat sein Leben sucht. Faust und Mephistopheles erfahren aus seinem Mund von der Klassi­ schen Walpurgisnacht und machen sich mit ihm dorthin auf, um selbdritt, jeder auf seine Weise, die chtonische antike Welt zu erleben.

Wissenskontroversen werden ästhetisch (und nicht ohne äußere Willkür) entschieden Die Formel des angewandten und aufgehobenen Wissens ergibt sich aus den selbst­ reflexiven Teilen des Werkes. Sie läßt sich auf den Schaffensprozeß und dessen gehemmte Dialektik von Traditionen, Konstruktion und Komposition anwenden.



Wissenskontroversen werden ästhetisch (und nicht ohne äußere Willkür) entschieden 

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Denn wenn die Anwendung des Wissens den inszenierten Schaffensprozeß prägt, so ist damit – cum grano salis – auch der reale Schaffensprozeß gemeint. Goethes Umgang mit den Philologen und was er von ihnen lernt zeigen das, oder wenn im Drama selbst mit den Traditionen gerungen wird. Für die Nützlichkeit der Philolo­ gie soll mir nun die zeitgenössische Debatte zwischen Georg Friedrich Creuzer und Gottfried Hermann zum Beispiel dienen. Um die Gestaltung im Text zu interpretie­ ren, nehme ich einzelne Verse aus der Szene ›Vor dem Palaste des Menelas zu Sparta‹ (dem Beginn von Akt III). Folgendes sei schon vorweggenommen: Die Anwendung des Wissens hat zum Ziel die poetische Gestaltung (von Figuren, Handlung usw.). Doch werden in den nun folgenden Beispielen Wissenskontroversen nicht in einer Debatte entschieden, oder heterogene Traditionen in der Reflexion miteinander ver­ söhnt, sondern die Gestaltung ist ein Akt der Natur: wie Tod, Schlaf, Ohnmacht und jeweils die Erneuerung. Um den Sinn dieser Akte zu verstehen (denn eine Bewegung ist kein Denkvorgang), muß man auf Goethes Naturvorstellungen zurückgreifen: Die Akte symbolisieren lange Prozesse. »Nie war Natur und ihr lebendiges Fließen / Auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen« (V. 7861f), sagt Thales zu Anaxagoras. Der Streit zwischen Creuzer und Hermann beeinflußte die ›Klassische Walpurgis­ nacht‹ und den Übergang zum Helena-Akt. Faust, Mephistopheles und Homun­culus gehen auf den Pharsallischen Feldern jeder seines Weges und begegnen antiken Fabelwesen, die alle nicht dem Olymp, und dennoch halbwegs verschiedenen Welten angehören; Goethe kennt sie unter anderem aus Hederichs ›Gründlichem Mytholo­ gischen Lexicon‹.267 Mephistopheles trifft Sphinxe, Greifen und Lamien (sie sollen Kinder- und Menschenfleisch fressen) und wählt, um sich dieser Welt anzupassen, die Gestalt der Phorkyaden, dreier häßlicher Jungfrauen, die am Rande der Erde wohnen. Homunculus zieht es zu den Nymphen, den sterblichen Erdgöttern, und zerschellt endlich, im Ägäischen Fest, am Muschelwagen Galateas, der schönsten Nymphe, umgeben von Nereiden, Tritonen und Doriden, lauter Meerwesen. Faust schließlich wird von mythologischen Gestalten geleitet, die ihrem Wesen nach zu den oberen, den olympischen Göttern hinführen können, von Chiron dem Kentauren, dem »UrHofmeister« (Goethe 1826268), Erzieher von Herakles, Achill und den Argonauten, und dann wird Faust von Manto der Seherin geleitet, die den Weg in den Hades weiß, wo Faust Helena von Proserpina erbitten möchte. Gleich zu Beginn des dritten Aktes tritt Helena selbst auf. Creuzers und Hermanns Frage betraf diese Gestalten und lautete: Wie systema­ tisch ist die Welt der griechischen Götter? 1810–1812 war Creuzers ›Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen‹269 erschienen, Goethe lernte den Heidelberger Professor durch die Vermittlung von Sulpiz Boisserée 1815 kennen; Gottfried Hermann aus Leipzig war ihm längst vertraut, er ließ sich von ihm in Metrik belehren und lernte mit dem Philologen Euripides schätzen.270 1817 entgegnete Hermann Creuzer mit einem Buch über die ›Älteste Mythologie der Griechen‹ und ließ sich auf einen Briefwechsel mit dem Kontrahenten ein, der 1818 veröffentlicht wurde;271 darauf wollte Goethe in seiner Zeitschrift ›Über Kunst und Alterthum‹ hin­

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weisen, »daß unsere Leser […] dieser unschätzbaren Gedanken gleichfalls theilhaft würden.«272 Hermann sah in den göttlichen griechischen Wesen, ob hoch oder niedrig, Per­ sonifikationen von Naturphänomenen, die durch Benennung entstanden sind. Einer Systematik der Götterwelt steht das entgegen, da diese nicht ordentlicher sein könne als die Natur, deren Vielfalt sich durchsetze. Goethe gefiel das, und das Gewimmel in seiner Klassischen Walpurgisnacht hat manches davon. Friedrich Creuzer war einer der Begründer der Religionsanthropologie. Seine Studien zielen auf eine Systematik der Götterwelten, die überall gelte, und die überall ähnlich entwickelt werde. Auch die griechische Mythologie sei sukzessive ausgebaut worden: die Entdeckung habe bei den chthonischen Wesen begonnen und sei bei den Olympiern zu einem Ende gekommen. Den systematischen Zusammenhang haben die Griechen bewahrt, indem das Chthonische das Höhere im Kult repräsentieren konnte. Die Orphiker hatten dieses als Geheimwissen vor Homer entwickelt, das der in seinen Epen zum Ausdruck brachte. Die Geschichte orphischen Wissens wird als eine Geschichte des Kults, als ein Ringen um die rechte Repräsentation gedeutet. Sie führte von apollinischen zu dionysischen Lehren und schließlich zu einem heiteren griechischen Ausgleich (in der neuorphischen Schule sei »mit den alten Lichttheorien Oberasiens die reformirte Dionysuslehre in ein großes System von Theologie verbunden [worden], ein System das wohl alles priesterliche Wissen in sich vereinigte, das damals unter die Griechen gekommen war.«273 Goethe nimmt Creuzers Geschichte des Wissens und inszeniert sie, die Kultge­ schichte, in seinem Drama – von der Klassischen Walpurgisnacht bis zum HelenaAkt – als Naturvorgang des Gegenstands. Wie die Götter entdeckt wurden, wird nun gedeutet, als wären sie so entstanden. Er stellt die chthonische und die olympische Welt nacheinander und bringt sie in ein zeitliches Verhältnis. Doch was soll sie jetzt noch verbinden? Die Sphinxe geben Faust daher den Bescheid, als er nach Helena fragt: »Wir reichen nicht hinauf zu ihren Tagen / Die letztesten hat Herkules erschla­ gen« (V. 7197f). Goethe dramatisiert die Sukzession daher als Tod und Wiedergeburt. Das ist der Übergang vom zweiten zum dritten Akt: das Höhere wird aus dem Niedri­ gen geboren und hat – wie nach der Abnabelung – auch keine systematische Bindung daran. Statt des Erkenntnisprozesses (wie ihn Creuzer schildert) und statt der hetero­ genen Personifizierung (auf die Hermann die Mythologie beschränkt wissen will) gibt Goethe einen Naturvorgang, der keinem der Gelehrten ernstlich half. Am 1. 10. 1817 schreibt er an Creuzer: »wenn aber Sie und Hermann streiten, was macht unser einer als Zuschauer für eine Figur!«274 Die Erfindungen Homers und ihn selbst möchte Goethe von der Natur bekom­ men haben; er schreibt Creuzer im selben Brief: »Einen alten Volksglauben setzen wir gern voraus, doch ist uns die reine charakteristische Personifikation ohne Hin­ terhalt und Allegorie alles wert; […] Gehts nun aber gar noch weiter, und deutet man uns aus dem hellenischen Gott-Menschenkreise nach allen Regionen der Erde, um das Ähnliche dort aufzuweisen, in Worten und Bildern, hier die Frost-Riesen, dort die



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Feuer-Brahmen; so wird es uns gar zu weh, und wir flüchten wieder nach Ionien, wo dämonische liebende Quellgötter sich begatten und den Homer erzeugen.«275 Helena gehört auch zu Homers Geschöpfen. Die Sukzession der Akte soll ihre natürliche Her­ kunft zeigen. Ihre Eigenart wird in der Szene ›Vor dem Palaste des Menelas zu Sparta‹ erörtert. Helenas eigene Natur, so heißt es, ist ihre Schönheit, aus der ihre Geschichte entspringt. Was sie erlebt, erlebt sie, weil sie schön ist. Man könnte die über sie ver­ breiteten Geschichten in den Gang ihres Lebens integrieren, wie das Goethe in dem Paralipomenon 163 (Frühjahr 1825) schematisiert, worin er die Liebhaber auflistet, den Zuständen in der Entwicklung Helenas zugeordnet: »Kind / Theseus, Gefreyt / Patroklus, Verhey[ratet] / Menelaus, Str.W. [Strohwitwe] / Paris, 1 Witwe / Deiphobus, 2 Witw[e] / Menelaus, Geist / Achilles. […]«276 Daran soll sich – so der Plan – Helena erinnern. Doch im Drama führt die Erinnerung nicht zu einer bestärkten Identität, sondern beunruhigt die Heldin aufs äußerste. Die Widersprüche in ihrer Geschichte ängstigen Helena mehr als der andern zuge­ fügte Schmerz. Ihre Reflexionen zielen auf ihre Identität. Das ist ästhetisch bedeut­ sam: Im Stück soll geleistet werden, was sonst in der symbolischen Reformulierung des Geschehens durch den Dichter erfolgt. Beginnt Goethe das 1800 geplante Satyr­ spiel mit »Vom Strande komm ich, wo wir erst gelandet sind«277 (jetzt die zweite Zeile: V. 8489), so lautet die im Trimeter antikisierende Zeile nun: »Bewundert viel und viel gescholten, Helena«. Helena stellt sich wie bei Euripides im Prolog vor. Sie ist sich der Geschichten bewußt, die ihre Natur (ihre Schönheit) hervorgebracht hat. Die Viel­ falt des Bildes allein bereitet keine Schwierigkeiten. Nur wenn Traditionen bedacht werden, die sich ausschließen, kann das Helena verunsichern: Die Verunsicherung stellt sich ein, wenn der Gegensatz, im Chiasmus vorerst überbrückt, bewußt wird. Daraufhin gestaltet Goethe die Erinnerungsszene (V. 8834–8881). Er nennt zwei Geschichten, die zwei verschiedene Helenen kennen: Eine, die man loben kann, und eine, die man tadelt, weil sie mit ihrer Schönheit Leiden verursacht. Zuerst lassen Helena und Phorkyas im Dialog, der mit Helenas Ohnmacht endet, ihre Liebeshändel Revue passieren. Dann kommen sie auf den Trojanischen Krieg zu sprechen und nun gibt Goethe der Geschichte der Helena, die sich Paris hingibt und den Krieg auslöst, die Fabel des Euripides an die Seite, Hera hätte aus Rache dem Paris ein Phantom in die Arme gelegt und die wahre Helena nach Ägypten gebracht.278 Nach dieser Version wäre ihre Schönheit ohne böse Folgen und Leiden geblieben. Goethes Helena ver­ sucht mit beiden Traditionen zu leben, doch scheitert sie, sobald ihr Gegenspieler die Geschichten reflexiv auseinanderhält. Das Ende der kurzen Szene läßt sich so lesen. Helena beharrt auf der Sage von der Lust (bewundert), die Leid bringt (gescholten): »Gedenke nicht der Freuden! allzu­ herben Leids / Unendlichkeit ergoß sich über Brust und Haupt« (V. 8870f). Phorkyas wendet ein: Du braucht nicht so zu klagen, du warst gar nicht nur in Troja, du hattest ja auch das andere, sorgenfreie Leben in Ägypten: »Doch sagt man, du erschienst ein doppelhaft Gebild, / In Ilios gesehen und in Ägypten auch« (V. 8872f). Daraufhin klagt Helena, Phorkyas soll nicht alles noch komplizierter machen: »Verwirre wüsten

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Sinnes Aberwitz nicht gar« (V. 8874). Die Verbindung der doppelten Geschichte sei mühsam genug, sie auch noch auseinanderhalten, das könne sie nicht. Auch in Ägypten, muß man lesen, habe sie die Leiden Trojas miterlebt. »Selbst jetzo, welche denn ich sei, ich weiß es nicht« (V. 8875). Die Trennung der Geschichten (zugunsten des Phantoms, das sich mit dem toten Achill verbindet – eine völlig ausgefallene, grundgelehrte Einzelheit279) untergräbt ihre Existenz endgültig. Helena schwindet hin. Nur die Natur heilt den bewußt gemachten Gegensatz der Traditionen. In der Ohnmacht erholt sich Helena: sie ist wieder handlungsfähig, als hätte sie die eine mit der anderen Tradition gedanklich vermitteln können. Helenas Traditionen werden in einem Akt der Natur aufgehoben, ohne in ihrer Bedeutung vernichtet zu werden. Sie ist nun bereit, Faust zu begegnen, und denkt wieder ganz situationsbezogen. Die geplante Opferung hatte, von Menelas aus, denselben Sinn: sie – dieses Mal kraft ihres Todes – frei zu geben. Goethe schafft in ›Faust II‹ eine Welt, deren Übergänge nach den Regeln der Meta­ morphose, der Konzentration, der Steigerung, der Erneuerung, der Wiedergeburt nach Tod, Schlaf oder Ohnmacht sich ereignen. Das fordert seine Natur-Konstruktion. Die offene Form der künstlerischen Durchführung (die Komposition) steht in einem Verhältnis zur geschlossenen Form der gedanklichen Einheit (zur Konstruktion): Was immer ihm begegnet, wird in Bezug gesetzt zur Einheit, die schon vorhanden ist. Die Traditionen entwickeln nicht aus sich eine dramatische Notwendigkeit, sondern wenn sie, domptiert, der pax universalis sich unterordnen. Die Konstruktion ist, so zerstückelt das Drama fortschreitet, immer wieder vorhanden. Sie ergibt sich nicht aus den Traditionen, sondern gegen sie. Sowohl der Streit von Creuzer und Hermann (da kam die Tradition unmittelbar von außen) als auch die Suche Helenas nach ihrer historisch gegründeten Identität, die innerhalb des Dramas notwendig ist, zeigen es; entsprechende Reflexionen findet man auf dem Weg vom gelehrten Wagner bis zum im Leben sich aufgebenden Homunculus.

Kommentare zum Schaffensprozeß Die szenischen Aktualisierungen der Traditionen können eine Welt als Ganzes, die immer wieder – zugunsten jenes großen Friedens – ihre Grenzen für das Drama erneuert, nicht symbolisieren. Wohl aber die Negation im Schaffensprozeß selbst. Was mit der jeweiligen Aufhebung von Traditionen vermittelt wird, ist ihr überall stö­ render Charakter, ihre unnatürliche Heterogenität. Wie im ganzen Stück, schlagen sich auch in der letzten Szene ›Bergschluchten‹ Versatzstücke des Wissens ganz kom­ posit nieder. Katholisches mischt sich mit Neuplatonischem, Kunstgeschichtlichem und Meteorologischem – jede Tradition ein Dämon für sich. Das neue Resümee ist eine szenische Darstellung: Sie resümiert, indem sie das eigene kulturgeschichtliche Material bewältigt und die Macht der Konstruktion zeigt; weil die Konstruktion die Komposition bricht, ist die Gültigkeit der Komposition auf die Szene beschränkt. Der



Kommentare zum Schaffensprozeß 

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Schluß der Tragödie ist keine Allegorie des Bisherigen, als böte er für das Schema ein Bild280 – sondern in ihm soll die Natur weiterwirken, wie Goethe sie sich zurechtge­ legt hat. Die Literaturwissenschaft unterscheidet zwischen Kommentar und Gesamt­ interpretation. In dieser schlichten Gegenüberstellung wird übersehen, daß die Inter­ pretation als Bedingung des Kommentars gelten muß. Eine von Friedrich Schlegels ›Cyklisation‹281 ausgehende, ›kunstmäßig‹ gehandhabte Philologie ist sich dessen bewußt. Dabei geht es nicht um den hermeneutischen Zirkel zwischen Vorverständ­ nis und neuer Einsicht, sondern um die Verfeinerung der Begriffe und Konzepte, die das Verstehen leiten. Doch dachte die engere, disziplinär erfolgreiche (deutsche) Phi­ lologie282 Anfang des 19. Jahrhunderts, die Freiheit im Einzelnen sei größer, nicht alle Einzelheiten müßten in Verbindung zum Gesamten stehen. In einer Verbindung, der diese Totalisierung der Begriffe dient. Goethe zielt im ›Faust‹ zwar weniger auf das Ganze, das eine Interpretation voraussetze, sondern schreibt in Stücken – für den Kommentar gewissermaßen, dennoch genügt der philologische Kommentar nicht, wenn er naiv nach den Traditionen sucht, die von Szene zu Szene benutzt wurden.283 Denn nichts an den Traditionen ist mehr so, wie es war, als Goethe es auflas.284 Die Nähe zur Philologie der Poesie der Romantiker wie Schlegel ist groß. Schon vor dem Schreiben verändert Goethe das Material nach seinem Naturgesetz. Die Traditionen kontrollieren sich gegenseitig und sollen einander vor dem Exzeß historistischer Unordnung bewahren. Sobald die Traditionen in der Szene aufeinandertreffen und sich weiterhin gegenseitig beschwichtigen, werden Logik der Entstehung und Sinn der Szene eins. Der Ehrgeiz der Interpreten, gerade jener aus der Schule der Intertextualität, die rechten Vorbilder des Texts aufzuspüren, ist müßig, denn sie täuschen sich meist über die gar nicht so feinen Veränderungen. Die Mater Gloriosa hat manches von der Gottesmutter, aber die Attribute, die etwa die Lauretanische Litanei Maria gibt, sind wie in einer Fälschung makellos schematisiert (»Jungfrau, Mutter, Königin«, V. 12102) und übertrieben (»Göttin«, V. 12103). Dem Katholiken285 fehlt aber vor allem das Gericht, was indes durch die Apokatastasis-Lehre des Kirchenvaters Origines leicht zu erklären wäre: am Ende aller Zeiten setze ein langer Reinigungsprozeß ein, der allen offensteht. Die Büßerinnen, Gretchen eingeschlossen, und natürlich Faust profitie­ ren davon. Scheinbar paßt dazu die der Wolkenlehre Luke Howards entlehnte Sphä­ ren-Hierarchie (»Stratus verwandelte sich in Kumulus, Kumulus in Zirrus«286), doch bindet sie, wie die Szenenangabe, das Geschehen auf die Erde. Und warum fehlt, Ori­ gines zum Trotz, der Teufel im Himmel? Wer nur auf die Traditionen und Einflüsse schielt, muß den Text als ein Palimpsest deuten, und kann nur wie ein hilfloser Struk­ turalist auf Äquivalenzen hinweisen (deren Relevanz er nicht zu begründen vermag), wenn man ihn fragt, warum Goethe gerade diese Traditionen wählt und wie sie wohl zusammenhängen mögen. Die Figuren formen sich im Vergleich mit anderen (wie sorgfältig ist ausgeführt, wer wen und wann erblickt!). Gruppen entstehen, die wiederum sich zueinander

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 Wissensvorstellungen in Goethes ›Faust II ‹

stellen. Dann geraten alle in eine Choreographie von Bewegungen, die insgesamt nach oben führen. Aus der Eklektik der Szene folgt ihr monologischer und chori­ scher Charakter, der dem lebendigen Gespräch entgegensteht. Das ungehindert har­ monisierende Prinzip gefährdet im Erfolg sich selbst: die Komposition ist äußerst künstlich. Aus dem leicht gestuften Gewimmel der Anachoreten in der Thebais, die Goethe als Reproduktionsstich eines Freskos aus dem Kreuzgang des Campo Santo in Pisa kennt, ist ein wohl geordnetes Schema dreier Patres geworden. Sie eröffnen die Szene: Über Pater Profundus sitzt Pater Seraphicus, zwischen ihnen schwebt, unentschieden, Pater Ecstaticus auf und ab. Sie vertreten unterschiedliche Formen der Reinheit. Der gedanklichen Einsicht des untersten, daß das Subjektive zu über­ winden sei, steht beim oberen schon der Blick auf die ätherischen seligen Knaben gegenüber; die kommen den Engeln (die sich wiederum teilen in jüngere und vollen­ detere) recht, denn wer könnte besser die Entelechie Faustens nach oben bringen. Die eine Büßerin (»sonst Gretchen genannt«287) erhält ihn zur Obhut, doch zuvor muß sich ihre eigene Gruppe formiert haben, mit der Mater Gloriosa im Mittelpunkt. Die Figuren, aneinander schematisiert, geraten in eine Bewegung, die selbst in einer Kon­ kurrenz von Traditionen (Origines und Howard) sich bildet. Goethe schiebt seine Fortifikationen in die Welt und will – statt des Gesamtauf­ baus – sein Naturgesetz befolgen. Nicht mehr unbedingt die Natur läßt er alles umfan­ gen, sondern alles, auch die Natur, kommentiert sich gegenseitig, und die Traditio­ nen fallen einander in die Arme. Die Verse »Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis« (V. 12104f), die man bisher auf eine Transzendenz hin gelesen hat, die unerreichbar sei, meinen: Das Vergängliche erläutert als Gleichnis das Vergängliche. Wenn eine Figur auf die andere antwortet, die sie schon enthält, und wenn sich die Bewegungen ebenso kennen, dann ermattet von mal zu mal jedes Charakteristi­ sche. Am Ende sprechen in den ›Bergschluchten‹ alle gleich. Das ist nicht ohne ästhe­ tisches Risiko. Denn wo bleibt das Salz, das vor dem Kitsch bewahrt? Was bricht die Langeweile hinter sicheren Mauern? Die Ruhe wäre der Tod der auf Ruhe hintreiben­ den Natur. Nur Gretchens erotisch gefärbte Freude darüber, daß Faustens »Jugend­ kraft« (V. 12091), die ungebärdige, sich in seinem Unsterblichen rege, verspricht, daß das Spiel dort weitergeht, wo es begonnen hat: in ›Anmutiger Gegend‹, aber mit neuem, aus den (wissenschaftsgeschichtlich vermittelten) Traditionen gewonnenem Material.

5 E  penzwang. Philologische Argumente am Beispiel des ›Kalevala‹ Ästhetik des Heroismus Martin Buber zitiert in seinem Nachwort zum ›Kalevala‹ (1914, in der Übersetzung von Anton Schiefner) aus dem Tagebuch des Elias Lönnrot (1802–1884). Lönnrot, Philologe und Kreisarzt, notierte, er fühle sich »wie ein zweiter Orpheus oder, um es vaterländischer zu sagen, wie ein neuer Väinämöinen«288. Die Antike gibt Lönnrot den Maßstab; das finnische Epos, das er aus ostkarelischen Liedern, gesammelt auf elf Reisen, konstruiert hat, gibt ihm die Sprache. Väinämöinen ist der Held des Epos – als Sänger. Buber achtet mit dem Blick des Modernen gerade darauf. »In ihm [dem epischen Lied] feiert der Gesang sich selber, in dem er seine Macht erzählt«289, das ›Kalevala‹ sei ein »Epos des schöpferischen Wortes«290. Modern ist die ästhetische Reflexion, modern aber auch die mythologische Auslegung des Schönen, um das fremde Artefakt religionswissenschaftlich und psychoanalytisch zu bändigen. So möchte Buber die heteronome, komposite epische Struktur, deren Einheit ein Ein­ zelner, nämlich Lönnrot, hergestellt hat, mit dem Anspruch versöhnen, hier singe ein Volk. Gerade in der individuellen Prägung, so die mythologische Ästhetik der Zeit, gewinne das Volk sein ›Werk‹. Der Kompositeur gerät zum Heros, der in sich das Ganze finde, wenn er das Mannigfaltige gestalte. Lönnrot als Held unterscheide sich vom Dichter, der zu selbständig sei, auch vom Gelehrten, dessen Distanz ihn behindere, und vom Sänger ebenfalls, der zu wenig wisse. Was ihn auszeichne sei der ›Glaube‹, also eine Art Überwältigung, der man sich hingibt, wider besseres Wissen. Zur Moderne gehört die Kreativität im Falschen.291 Buber sieht diese Konstella­ tion schon früh am Werk: »Lönnrot hatte einen Glauben, dem seine Kräfte dienten und der sie fruchtbar machte: den Glauben an das ursprüngliche Epos, das eine Einheit war wie der Mythos, den es sang, und das dann in all die Lieder zerfiel – die Lieder, die nun selbständig weiter wuchsen, wucherten, sich wandelten, bis sie in seine Hand kamen, der nun versuchen wollte, die alte Dichtung wiederherzustellen, erweitert um all das, um das sie an Wesentlichem, Lebenaussprechendem, schicksal­ gestaltendem die singenden Geschlechter erweitert hatten. Ein Trugglaube, von der Forschung unserer Zeit aus gesehen; aber im Reich des Wirkens gilt nur die Kraft des Glaubens, nicht seine Probabilität.«292 Die Dinge liegen kompliziert. Buber schließt hier an Jacob Grimms Überzeugung eines archaischen, später zerbrochenen Epos an,293 die Lönnrot nicht teilte, der im ›Kalevala‹ frühere Kriege aufgezeichnet und überformt sah: Historie also.294 Buber überbietet beide, denn das Ursprüngliche sei weder historisch noch verfertigt (schriftlich oder mündlich), sondern eine Kraft, die im Gesang liege, den man – heroisch – bemeistern müsse, um ihn zu repräsentieren. Gesang sei »Ursprache«, die im Epos (im ›Reden‹) reflektiert werde. Dorthin sei der

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 Epenzwang. Philologische Argumente am Beispiel des ›Kalevala‹

Sammler, dessen geschichtsphilosophische Verspätung Buber kennt, gelangt: als Teil jener Gewalt konnte Lönnrot »sie in ein neues Leben einsetzen«295. Bemerkenswert bleibt, trotz des Glaubens, Bubers Einsicht in die ästhetische Reflexion des Epos. Die Einsicht gehört einer wissenschaftsgeschichtlich moderneren Position an: Davon ist heute auszugehen. Die Frage dieses Kapitels zielt auf ein Epos, geschaffen im philologischen Jahrhundert, und lautet: Liegt Lönnrots Konstruktion eine klandestine Ästhetik zugrunde, als philologisches Argument, und wie setzt sie sich mit den anderen – mythologischen, faktischen, aktualisierenden – Diskursen auseinander? Wie erfolgreich ist sie in der Gestaltung des ›Kalevala‹? Die Antwort wird dort zu suchen sein, wo Lönnrot das Epos über sich selbst (also über das Singen) spre­ chen läßt, und zwar funktional, das heißt mit Folgen für die Komposition des Epos.

Antike/Moderne Friedrich August Wolf zerstörte in seinen ›Prolegomena ad Homerum‹ 1795 die Vor­ stellung, ein Einziger habe die Epen ›Ilias‹ und ›Odyssee‹ verfaßt.296 Bis in das 20. Jahr­ hundert reichte seine Wirkung. Doch Wolfs Theorie, daß Lieder, die in der Sänger­ überlieferung entstanden und in eben dieser Überlieferung sich einander anglichen, durch Aristarch, den alexandrinischen Grammatiker, ediert und redigiert wurden, ist nur dem Anschein nach kritisch. Der analytische Ansatz schiebt Unebenheiten der Texte, wie sie die Grammatiker – gegen die (allegorisch) glättende Diaskeuase schon vor den Rhapsoden – freilegten, auf die Überlieferung der Texte und deutet die Überlieferung als Genese. Dann war das nicht Authentische das Jüngere und gehörte dennoch dazu. Das Augenmerk gilt nun der den Autor übersteigenden, umfassen­ deren Kraft, die dem Volk eigen sei und – durch die Aöden, Diaskeuasten, Rhapso­ den und Philologen hindurch – die Epen schuf. Angesichts dieser Kraft werden die Ungereimtheiten sekundär, denn sie charakterisieren ja gerade die Kraft. Wolf konnte so die griechische Kultur als totale progressive Einheit deuten.297 In seiner Umkeh­ rung entfaltete der Gedanke im 19. Jahrhundert die ihm eigene nationale Wirkung: Ein Epos, wie heterogen auch immer es aussah, konnte zum Zeugnis für die Existenz eines Volkes werden; aus dem Wunsch, Nationen zu bilden, wuchs geradezu der Zwang zu Epen. Zwangsepen entstanden, Artefakte.298 Die Lage war, im Blick auf die Geschichte der Ästhetik, paradox. Denn was – als philologisches Modell – von Deutschland aus in andere Länder getragen wurde, nahm den genuinen Zweifel mit, ob ein Epos heute überhaupt noch möglich sei (darauf antwortete auch Buber). Die Epenfrage war an den Konflikt zwischen Antike und Moderne gebunden, einer Moderne, die die Weltenfülle von Göttern und Helden nicht mehr kannte und statt dessen vom Subjekt und dessen Innerlichkeit ausging. Die gedanklichen Manöver, die zur Antike eine Brücke schlagen sollten, konzentrier­ ten sich auf die ›Bildung‹; selbst angesichts der Enge der bürgerlichen Welt in Goethes Kunstepos ›Herrmann und Dorothea‹ (1797) genügte es, diese Welt als die neue

Hysteresis 

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›Natur‹ zu bestimmen, um dann ausspielen zu können, was die Deutschen mit den Griechen gemeinsam hätten, nämlich die Begabung, eine Fülle zu bändigen.299 Wolf, der Goethe die Veröffentlichung seiner Vorlesungen im Jahr 1807 widmet (›Darstel­ lung der Althertums-Wissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert‹300), spricht im Geist der klassischen Ästhetik über die Griechen, die das erste Volk überhaupt gewesen seien, »bei welchem der Trieb sich auf mannichfaltige Art auszubilden aus den innersten Bedürfnissen des Geistes und Gemüthes hervorging, und aus leiden­ schaftlicher von einem Objecte zum andern forteilender Neigung ein schön geord­ neter Kreis von Künsten und Kenntnissen entstand, die das Leben des Menschen zur eigennutzlosen Beschäftigung seiner höhern Kräfte erhoben.«301 Goethe versetzt sich als deutscher Dichter in die quasi griechische Genese der antiken Epen: »Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön.«302 Das Wort ›schön‹ impliziert ein ­gleiches ästhetisches, bildendes Vermögen, das die Brücke schlagen soll: Wer sich bildet, habe Anteil an der großen Natur Homers. So die deutsche Implikation.

Hysteresis Wolfs ›Homer‹ geht als Bauanleitung für Epen auf Reisen, und Goethes ›Herrmann und Dorothea‹ gleichfalls. Die Verdoppelung wird zum notwendigen Muster. Ein im 19. Jahrhundert redigiertes Epos ist unweigerlich ein Werk seiner Zeit. Doch hat das Kunstepos anderswo kein altes Gegenstück, an dem es seine Modernität zeigen und entfalten könnte. Andere Länder – wo das Doppelmodell von Wolf und Goethe zu wirken beginnt – besitzen in jenem Sinn kein eigenes, fremdes Altertum; die nach­ gerade dogmatische Idee, man sei den Griechen nahe, bleibt den Deutschen vorbe­ halten. So trachtet man anderswo, ein Zweifaches zu leisten: das Epos als moderne Konstruktion zu verbergen, und moderne epische Werke in Fernbeziehung zur gleich­ zeitig ent­stehenden Archaik zu schreiben. Sozialgeschichtlich in ähnlicher Lage wie die deutschen Dichter, versetzen auch Autoren andernorts den Sinn des Epos, daß sich (wie Zeus in der ›Ilias‹) eine höhere Ordnung durchsetze, in kleinere, seien es bäuer­liche oder seien es bürgerliche, Verhältnisse. Die Reflexion, die jedes Kunstwerk begleitet, wird danach trachten, zu verbergen, daß das Heldenepos ein Artefakt sei und dessen modernen Verfahren einen archaischen Touch geben: Der zeitgenössi­ sche Epenautor betrachtet sich als späten Sänger, als Homeriden, als alexandrini­ schen Dichterphilologen. Demgegenüber knüpfen an Goethe jene Dichter an, die erklärtermaßen und im Rahmen des eigenen Landes modern, und das heißt: romantisch sind. In Finnland, das hier als Beispiel dient, konstruierte eben Lönnrot aus aufgezeichneten Liedern das ›Kalevala‹, und sein Freund Johan Ludvig Runeberg, ein Hellenist, schrieb epische Gedichte und Idyllen (wie etwa 1836 ›Hanna‹) im Einfluß von Voß und Goethes bürgerlichem Epos.303 Übertragen wird letztlich der Gedanke der Bildung, die

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 Epenzwang. Philologische Argumente am Beispiel des ›Kalevala‹

als Kulturtechnik – jenseits geschichtsphilosophischer Emphase, fern vom deutschen ›Hellas‹ – beide Projekte, das antike wie das moderne, und dies überall, ermögliche. Die Übertragung ist die Tat der romantischen Idee, daß jedes Volk seine eigene Gestalt besitze. Die individuelle Bildung gilt als Vermögen eines Volkes, und die Schönheit der Werke, namentlich der Märchen, Volkslieder und Epen, leitet sich von dessen Eigenheit ab – die Poesie als »die Blume der Eigenheit eines Volks«304 (Herder). Avanciert war die Vorstellung, daß diese Eigenheit an die Sprache gebun­ den sei; Friedrich Schlegel spricht vom Recht einer Nation, eine »eigentümliche Lite­ ratur, d. h. eine eigene Sprachbildung zu besitzen.«305 Dabei erweist sich im Transfer eine Zeitverschiebung als signifikant, denn vor den Philologen bereiten die Dichter den Boden. Die Akademie im finnischen Turku, lange geleitet von dem aufgeklärten klassischen Philologen Henrik Gabriel Porthan (der auf einer Deutschlandreise 1779 den Historiker Schlözer kennenlernte und vertraut war mit Herders Denken), wandte sich nach dem Tod Porthans (1804) und dem Ende der schwedischen Ära (zugunsten einer Autonomie Finnlands unter dem russischen Zaren Alexander I.) entschieden der Romantik zu und erhielt den volkskundlichen Akzent durch Arnims und Bren­ tanos ›Des Knaben Wunderhorn‹ wie auch Grimms ›Kinder- und Hausmärchen‹. Der Dichter und Amateurgelehrte Carl Axel Gottlund, der zudem in Uppsala die schwe­ dische Romantik kennenlernte, formulierte 1817 erstmals den Gedanken, daß ein Gedicht ähnlich den Epen Homers, Ossians Liedern oder dem Nibelungenlied aus Finnlands eigenen Volksliedern geformt werden könnte. Das nahm Lönnrot auf, der in Turku studierte und 1828 seine Reisen begann, nicht in Sammlerleidenschaft, sondern in »romantisch unbestimmter Sehnsucht, auf den Spuren alten Volksgutes in unbekannte Landstriche vorzudringen«306, noch bevor er von Wolfs Theorien erfuhr, die dann seine Editionen des ›Kalevala‹ nach 1833 entschieden prägen sollten.307 Angesichts dieser Hysteresis liegt, auf den Transfer philologischer Fächer bezogen, eine Überlegung nahe: Mit der Literatur wandere – wie in einer Flaschen­ post – ihr philologischer Kern schon ein und bereite den disziplinären Austausch vor. Das gilt auch und gerade für philologisch konstruierte Werke (wie Homers Epen oder Lieder- und Sagensammlungen, aber auch für Gedichte, sagen wir von Rilke oder Hof­ mannsthal308); an diesem Kern haftet ein historischer Index, der nach Maßgabe der philologisch-poetischen Tradition zu einem fachhistorischen wird. Dieser Kern ist Teil der ästhetischen Rationalität der Werke und insofern dem Verstehen zugänglich:309 Mit der ›Ilias‹ liest man auch die homerische Frage und wird empfänglich für Argu­ mente des Textes und der Zeitgenossen. Den Philologien bereiten somit die Dichter, meist von Dichtern gelesen, den Boden; selten fassen Gedanken einer Philologie bei ihren Homologen Fuß. Die Kreuzung folgt – oft eben literarisch oder über das Theater vermittelt – dem persönlichen Interesse und ist insofern unberechenbar.



Vier Argumente 

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Vier Argumente Philologische Antworten gehorchen jeweils einer anderen Logik der Interpretation. Welche Optionen eröffnet die homerische Frage und wie werden diese in der moder­ nen Konstruktion eines Epos benutzt? Auf die Optionen, die sogleich kurz skizziert werden, läßt sich auch der klassische Gegensatz in der Interpretation der Epen Homers, der zwischen Analytikern, die Widersprüche auf die Genese zurückführen, und Unitariern, die von der Einheit der Werke ausgehen und die Wider­sprüche ent­ weder in der Interpretation aufzuheben trachten oder angesichts der (oralen) Kom­ munikationssituation als ebenso verständlich wie zu vernachlässigen ansehen. Neuere Auffassungen, wie sie eine kritische Hermeneutik in der Klassischen Philo­ logie vertritt,310 gehen davon aus, daß die – analytisch – ausgemachten Ungereimt­ heiten von den Dichtern (die beiden Epen werden in dieser Sicht zwei Dichtern zuge­ schrieben) als Kommentare angesichts der genauen Kenntnis, die das Publikum von den Gesängen hat, und gegen die Erwartung zu deuten sind: Der Sinn liege gerade im Widerspruch – er ist zu deuten.311 Diese Annahme ist insofern konservativ, als sie sich der Bereitwilligkeit der Konjekturalkritik, den Text zugunsten äußerer Kräfte (Kultur, Volksseele, Mythos) aufzugeben, entgegenstellt und von einem Artefakt ausgeht, von etwas in genau dieser Form Gestaltetem und Überliefertem. Meine These lautet, daß Lönnrot sich dieser Sicht in seiner poetischen Praxis anschließt: also durch ästhe­ tische Eingriffe Erwartungen korrigiert, die die Philologie befestigt hat, und dann diese Eingriffe in der (neuen) Struktur seines Epos manifest reflektiert, davon jedoch mittels eines angeblich im Mythos des Volks sprechenden Sängers ablenkt.312 Vier philologische Argumente lassen sich in diesem Zusammenhang unterscheiden:313 A. Die kritische Hermeneutik rekonstruiert den Sinn eines Werks – sie unterscheidet nach (textuell) ›notwendig‹ und ›arbiträr‹ (von Friedrich Schleiermacher ausge­ hend); B. Eine ›Tiefenphilologie‹ strebt nach der Wahrheit jenseits des Artefakts, wie sie der Mythos, die Struktur, der Diskurs versprechen: sie unterscheidet nach ›echt‹ und ›unecht‹ (Hans-Georg Gadamer); C. Die Literaturkritik des Geschmacks unterscheidet nach ›gut‹ und ›schlecht‹ und nähert sich, indem sie kulturelle Werte zugrundelegt, tiefenphilologischen Posi­ tionen; D. Eine Philologie der Vermittlung unterscheidet nach ›antiquarisch‹ und ›aktuell‹ und setzt die Lust bzw. das Interesse an die Stelle der historischen Rekonstruktion (Hans Ulrich Gumbrecht).314 Diese vier Argumente gehen allesamt über jene faktischen Verfahren hinaus, mit denen das Philologische gemeinhin assoziiert wird, als verbleibe der Philologe stets innerhalb der einfachen Logik und Dynamik der Fakten. Faktisch, doch auf systema­ tische Kräfte bezogen, agieren die Tiefenphilologie, die Literaturkritik und die Ver­

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 Epenzwang. Philologische Argumente am Beispiel des ›Kalevala‹

mittlung. Sie sind reflexiv einer ›engen‹ Philologie (Wilfried Barner)315 überlegen. Ihre Schwäche besteht jedoch darin, die Positionen, auf die sie sich berufen, nicht weiter rechtfertigen zu können, am wenigsten von ihren Textgegenständen her. Allein durch den Eingriff des Dichters in die strukturellen Vorgaben stellt sich der Sinn ein – und damit die Möglichkeit eines auf das Subjektive gegründeten Wahrheitsanspruchs. Es gilt, die Individualität des Artefakts zu verstehen. Die in einer solchen idealen Tafel genannten Argumentationsformen treten selten säuberlich für sich auf, da sie zueinander in funktionalen Beziehungen stehen können: Der strategisch-normative, politische Wille Nationen zu bauen, manipuliert gern die Sinnfrage. Die tiefenphilologischen Argumente, die auch der ›analytischen‹ Homerphilologie zugrunde liegen, behindern aufgrund der Werte, die sie verteidigen, den kontrollierten Gebrauch, den die (›unitarisch‹ gesonnene) Texthermeneutik von den analytischen Befunden machen könnte.316 Nicht jede Art von Unitarismus eignet sich dafür, denn eine am schönen Geschmack orientierte Lektüre (auch sie ist nicht weniger an die nationale Kultur gebunden317) vermag ihrerseits die Kritik innerhalb der Epen nicht zu würdigen.

Zur Machart des ›Kalevala‹ In fünf Stufen entsteht das ›Kalevala‹. Lönnrot beginnt 1832/3 damit, Lieder the­ matisch zu bündeln: ein Lemminkäinen-Zyklus (825 Verse) entsteht, ein Hochzeits­ liederzyklus (knapp 500 Verse) und dann vor allem der Zyklus ›Väinämöinen‹, der aus 1721 Versen (in zwei Teilen) und einem 147 Verse umfassenden losen Zusatz am Ende besteht. Dieser Zusatz enthält Lieder, die später die ästhetische Reflexion prägen werden: Lieder über Väinämöinens Birken-Kantele und seinen Abschied. Diese Liederzyklen stellt Lönnrot noch im selben Jahr zu dem ›Runokokous Väinämöisestä‹ (›Liedersammlung von Väinämöinen‹) zusammen, dem sog. ›Urkale­ vala‹, das erst nach Lönnrots Tod veröffentlicht wurde. Aus einem Briefkonzept Lönn­ rots geht hervor, daß hier der Gedanke an Wolfs ›Homer‹, also an einen halben Philo­ logen am Schreibtisch, erstmals die Genese prägt; später, 1849, betont er noch: »Wenn die­jenigen, die über die Entstehung der homerischen Lieder geschrieben haben, bei der Frage, wie das Lied sich zur Tradition verhält, dieselbe Erfahrung gemacht hätten wie ich bei den finnischen Liedern, so hätte meines Erachtens nie Streit über die Ent­stehungweise entstehen können. Sie hätten dann allmählich begriffen, daß ein Dichter aus der Zeit der jeweiligen Ereignisse erst diese kurzen Episoden besungen, und daß dann die Tradition sie erweitert und in vielen Varianten vorgetragen hätte. Derjenige, der dann die Varianten gesammelt hat, hatte ungefähr dieselbe Aufgabe wie ich beim Ordnen und Zusammenfügen der Kalevala-Lieder, was hoffentlich niemand in der Weise falsch deuten möge, ich wollte meine eigene Fähigkeit oder auch nur das behandelte Thema mit ihm [Homer] gleichstellen.«318 Auf der fünften Reise im Jahr 1834 singt ihm Arhippa Perttunen fast 60 Lieder vor (Perttunen tritt zu



Zur Machart des ›Kalevala‹ 

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Ontrei Malinen und Vaassila Kielöväinen, den drei Großsängern, die »grundlegend für die verschiedenen Stufen der Epenschöpfung«319 wurden), Lönnrot erweitert das ›Urkalevala‹ und publiziert erstmals 1835 das ›Alte Kalevala‹, das Grimm kennt, als er 1845 die große Rede in der Preußischen Akademie zu Berlin ›Über das finnische Epos‹ hält. Grimms Gedanken des nachträglich wiederherzustellenden frühzeitlichen Epos und dessen mythologischen Gehalts (die drei Helden als Enkel des Gottes Ukko) mögen die Einschätzung Lönnrots affiziert haben, doch seine philologische Praxis orientiert sich nicht am Grimmschen Gegensatz von ›echt‹ und ›unecht‹, sondern an einem anderen Begriff: dem Begriff der ›Wichtigkeit‹. Die neue Bearbeitung im Jahr 1849 trägt den schlichten Namen ›Kalevala‹; dreizehn Jahre später veröffentlicht Lönnrot eine gekürzte Fassung, die gegenüber den 22796 Versen des ›Kalevala‹ nur 9732 Verse enthält und auch spätere Kurzausgaben zu legitimieren scheint, denn auf Lönnrots Schriftlichkeit komme es zuletzt nicht an.320 Das ›Kalevala‹ entsteht, indem Verse der Sammler, die Lönnrot inzwischen helfen (etwa David Emanuel Daniel Europaeus, 1820–1884), eingearbeitet werden. Dabei gelte es, »den Gesang nicht formlos [zu] machen, indem alles aufgenommen wird, was die Varianten enthalten, und jedoch nichts Wichtiges aus[zu]lassen«321. Das Kriterium ›wichtig‹ vermengt, blickt man auf die Tafel philologischer Argumente, das Text- und das Diskursargument, schließt indes ›Schönheit‹ und ›Aktualität‹ aus; textuell ist das Argument, wenn es den narrativen Zusammenhang im Auge behält, mythologisch in dem beinahe faktischen Sinn, daß von der Rede des Volkes nichts verloren gehen dürfe. Die autoreflexive Vorstellung, man agiere wie ein Sänger, sug­ geriert die Bubersche Kraft – eine Fiktion, die wohl Mut macht und auch die klande­ stin gehaltene Sinnproduktion übertönt, über die sie wenig Auskunft gibt. Doch: ›The proof of the pudding is in the eating‹. Als locus classicus für die Machart des ›Kalevala‹ gilt der Bericht August Ahl­ qvists darüber, wie Lönnrot die Gesänge auflöst und so zusammenstellt, daß kaum ein Verszusammenhang erhalten bleibt (vgl. Wilhelm von Humboldts ästhetisch begründetes, philologisches Verfahren der ›Zerlegung‹322). Der Bericht gibt Auskunft über die Verfahren der Exhaustion (darauf baut später Andreas Heusler seine Liederund Epentheorie323) und der Identifikation, nicht aber über die (Neu-)Konstruktion epischer Bögen, geschweige denn über eine dem allem zugrunde liegende ästhetische Entscheidung: »Die Herstellung des Kalevala geht so vor sich: Er [Lönnrot] hat eine Tafel vor sich, auf der die Gesänge des Kalevala [d. h. des ›Alten Kalevala‹ von 1835] und ihr Inhalt nacheinander geordnet stehen. Er liest in dem Buche des Sammlers ein so großes Stück, wie er als zusammengehörig überschaut, und wenn er sich nicht erinnert, zu welcher Stelle es gehört, sieht er auf der Tafel nach, sucht da das Motiv­ gerüst der Gesänge und findet das Motiv, zu dem die betreffenden Worte gehören. Auf der Tafel stehen auch die Seitenzahlen, und nach der jeweiligen Zahl öffnet er das durchschossene [Alte] Kalevala, findet die gesuchte Stelle und schreibt auf das eingeschossene Blatt gegenüber die betreffenden Verse. Je länger und klarer das [neu einzuordnende] Lied ist, desto schneller läuft diese Arbeit, je kürzer, desto öfter muß

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 Epenzwang. Philologische Argumente am Beispiel des ›Kalevala‹

er an der Tafel und im Buch suchen. Er selbst sagte, daß er etwa sechs Blätter am Tage schaffe; aber anderen würde die Arbeit viel schwerer fallen; denn Lönnrot kann fast jedes Wort des Kalevala auswendig.«324

Interpretationskonflikte/Sinn Jedes Kunstwerk enthält eine begrenze Anzahl von Problemen, deren Auslegung über den Sinn entscheidet und die daher im Zentrum der Interpretationskonflikte stehen. Der Streit der Interpreten des ›Kalevala‹, der gleich nach Erscheinen schon ausbricht, geht aus von dem Verhältnis zwischen Sampo-Zyklus und Wettwerbung, das Lönnrot schon 1833 entscheidet.325 Das Kriterium für diese Entscheidung ist bislang kaum beachtet und geschichtsphilosophisch-ästhetischer Natur. Lönnrot schafft ein archa­ isches Altertum und gibt es – am Ende – doch preis, im Wechselspiel von mythologi­ scher Fiktion und sinnstrebiger Praxis. An den Anfang der fünfzig Gesänge stellt Lönnrot eine Kosmogenese, aus der Väinämöinen, der Sohn der Wassermutter, hervorgeht, um die Erde zum Erblühen zu bringen und selbst an Wissen zu wachsen. Aus dem Konflikt um dieses Wissen soll nun das konkrete Geschehen des Epos hervorgehen. Joukahainen, ein Lappenjunge aus dem Norden, mißt sich im Sängerwettstreit mit Väinämöinen (3. Gesang): sein Wissen ist faktisch: Der Junge weiß, wie die Tiere leben, wo Orte liegen, wie Eisen gemacht wird. Natürlich unterliegt er, denn Väinämöinens Kompetenz ist nicht anti­ quarisch, sondern performativ; sein Wissen ist noch aktuelles Gedächtnis der Welt­ genese. Väinämöinen ist Teil der Kraft, die er nun singend beherrscht – er tut, was er weiß. Der Unterschied zwischen den beiden ist geschichtsphilosophisch gedeutet, denn man lebt am Ende der Tage: Selber fing er an zu singen, setzte selber an zu sprechen. Er sang keine Kinderlieder, Kinderlieder, Weiberwitze, Sondern Sang des Manns im Barte, den nicht alle Kinder können, Auch die Jungen nicht zur Hälfte, Freiersleute nicht ein Drittel Jetzt in diesen trüben Tagen, an dem schlimmen Schluß der Zeiten. Väinämöinen sang, der alte, Seen wogten, Erde wankte, Selbst die Kupferberge bebten, starke Felsenplatten sprangen, Felsen flogen auseinander, Klippen klafften an den Ufern. (III/285–300) Und kurz darauf: Joukahainen selber sang er in das Moor bis zu der Mitte, In die Heide bis zur Hüfte, in die Wiese bis zur Achsel. (III/327–330)

Interpretationskonflikte/Sinn 

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Der Lappe, dem es nun ans Leben geht, verspricht ihm seine Schwester; zu der Verbindung kommt es zwar nicht, doch der Gedanke einer Frau für Väinämöinen ist in der Welt, und so wird der Held des ›Kalevala‹ nach Pohjola, den Norden, ziehen und bei Louhi, der Nordlandherrin, um deren Tochter freien; dort wird ihm zur Bedin­ gung gestellt, den Sampo, die Wohlstandsmaschine, die Gerste, Salz und Gold pro­ duziert, zu schmieden; diese Kunst beherrscht er nicht, und so holt er seinen Bruder Ilmarinen, der den Sampo schmiedet und damit auf die Tochter ein Recht sich erwirbt (7.–10. Gesang). Ein Dritter noch wirbt um sie: Lemminkäinen, doch beim Versuch, die dritte und letzte der ihm gestellten Aufgaben zu lösen, kommt er ums Leben, vor­läufig wenigstens, denn dieser Erzählstrang wird später wieder – buchstäblich – belebt (11.–15., 26.–30. Gesang; der Kullervo-Zyklus vom 31.–36. Gesang gibt die Gründe für den – fürs Weitere nötigen – Tod der Frau Ilmarinens). Inzwischen möchte jedoch auch Väinämöinen nicht zurückstehen, es kommt zu der sogenannten ›Wettwerbung‹ mit seinem Bruder, die in der Hochzeit Ilmarinens ihren glücklichen Abschluß findet (16.–25. Gesang). Auf Dauer mißfällt den Helden im Süden, daß der Sampowohlstand ungeteilt im Norden sich ausbreitet. Der Rest des ›Kalevala‹ gilt daher dem SampoRaub (37.–49. Gesang). Auf der Fahrt nach Pohjola schafft Väinämöinen sich aus dem Kieferknochen eines Hechts eine Kantele, dank deren einschläfernder Wirkung der Raub gelingt; allerdings geht in der nachfolgenden Seeschlacht der Sampo in Stücke und Väinämöinen, der dabei auch noch die Kantele verliert, muß sich aus einer Birke eine neue basteln (44. Gesang). Am Ende bricht die neue, christliche Zeit an: im 50. Gesang gebiert die Jungfrau Marjatta aus einer geschluckten Preiselbeere einen Knaben, der zum König von Karelien wird. Väinämöinen zieht sich – so Lönnrot in seinem Resümee – gekränkt »dorthin [zurück], wo sich Himmel und Erde berühren und wo er immer noch weilen mag«326: Doch zurück ließ er das Kannel [Kantele], ließ das schöne Spiel in Suomi, Freude immerdar dem Volke, große Lieder seinen Söhnen. (L/509–512) Das Verschmelzen von Sampo-Zyklus und Wettwerbung gilt als wesentliche Tat Lönnrots: betrachtet er in der ersten Liederzusammenstellung den Sampo-Zyklus als Einheit, in der Schmiedung und Raub des Sampo unmittelbar aufeinander folgen, der dann die Brautwerbung folgt, so trennt Lönnrot danach Schmiedung und Raub und schiebt die Heirat (seit der ›Urkalevala‹) dazwischen. Zugrunde liegt eine Ereig­ nislogik, die von der Erzähllogik zu unterscheiden ist: Die Schmiedung ermöglicht den Sampo-Raub und die Wettwerbung gleichermaßen (denn durch die Schmie­ dung erhält Ilmarinen ein Anrecht auf die Braut), während nach dem Raub eine Wettwerbung keinen Sinn hätte – der Sampo ist das Pfand dafür, daß Ilmarinen im Rennen bleibt. Für die Sänger galt indes eine Erzähllogik, die (ähnlich wie die ›Ilias‹ vom Zorn des Achill ausgeht) mit dem Raub beginnt. Hans Fromm weist darauf hin: »Die liedhafte Gestaltung der Samposchmiedung steht nicht am Beginn der ganzen Sage. Einleuchtend ist, daß der Raub den Anfang setzte.«327 Lönnrot nutzt nun diese

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 Epenzwang. Philologische Argumente am Beispiel des ›Kalevala‹

­ oppelung von Ereignis- und Erzähllogik – er erzählt, wie alles geworden ist, führt D also linear vor, was die analytische Erzählweise voraussetzt und nach sich zieht.328 Für die Interpretation, die dies auch als Kommentar zu Homer bedenken muß, hat das erhebliche Folgen. Denn der epische Standpunkt inmitten des Geschehens (vom Raub aus) läßt dessen ganze Welt gelten, während die Linearität auf einen Bruch hinführt, den Bruch zwischen gestern und heute, zwischen archaischer Antike und christlicher Moderne. Sorgfältig hat Lönnrot daher mit den Jahren christliche und historische Ele­ mente aus den alten Liedern eskamotiert und dem Finnischen eine archaisierende Vergangenheitspatina gegeben, die das Verstehen erschwerte.329 Lönnrot nutzt – um seine Sicht zu unterstreichen – klug die Reflexionsinstanz, die ihm der Stoff liefert: den Sänger-Mythos. Die magische Macht Väinämöinens scheint bis kurz vor dem Ende auch dem Sänger des Epos verliehen, doch durch die ans Ende gesetzte Verabschiedung des Heros schafft Lönnrot eine Leerstelle, in die er selbst sich setzen kann. Ein neuer, anderer ›Orpheus‹ mit Odysseus als Vorbild. Lönnrots Hauptleistung stellt die Verbindung zwischen dem 3. (Sängerstreit), 41. (Schaffung der Kantele) und 50. Gesang dar, weniger die von Sampo-Zyklus und Wettwerbung, die in den ästhetisch-geschichtsphilosophischen Bogen eingebunden ist, mithin ver­ mindert zum Spielmaterial eines Modernen: »ließ das schöne Spiel in Suomi«. Mit dem Bruch beginne eine neue, säkulare Tradition: Lönnrot gibt sich als Johannes der gebildeten Dichter nach ihm. Das ist der Sinn der Demutsformel zuletzt, die die literarische (romantische) Tradition seiner philologischen Praxis unterschlägt; wie Homers Phemios gibt er sich als ›Autodidaktos‹: Nie war ich in einer Lehre, nie bei sangesmächtgen Meistern, Fand nicht Worte in der Fremde, in der Ferne keine Formeln. (L/597–600) Und über sich als Vorboten: Aber sei dem, wie ihm wolle: eine Spur lief ich den Sängern […] Sängern, welche weiter greifen, Dichtern, reicher ausgerüstet. (L/611–618) Diese Dichter würden, in der Tradition Wolfs, Epen als moderne Artefakte schaffen, jenseits des Diskurses, der von einer transsubjektiven Kraft träumt. Die klandestine Form, die Lönnrot in diesem Sinn textlich konstruiert hat und die ihn selbst auch zu belehren vermag, wird freilich erst einer Philologie zugänglich, die an ihre hermeneu­ tische Tradition seit August Boeckh und Friedrich Schleiermacher wieder anknüpft.

6 V  om Stillstellen der Traditionen. Hofmannsthals Begriff der ›Cultur‹ im Blick auf Goethe und die Universität Schon als junger Mann trat Hofmannsthal in Wien wie der alte Goethe auf, und bis zuletzt blieb Goethe die Norm, die er unter neuen historischen Bedingungen zu aktua­ lisieren suchte – weniger das Vorbild, das es nachzuahmen gälte. Man kann Dichter für ihre Nachfolger zur Verantwortung ziehen und gleichzeitig die Nachfolger fragen, warum sie sich dem Zwang, den die älteren ausüben, nicht entziehen. Karl Kraus spottet noch 1923 über die Symbiose von Goethe und Hofmannsthal, genauer: über beider Schwäche, doch im Spott geht Hofmannsthals historische Situation, seine Lösungen und sein Scheitern, das gerade die schönsten Gedichte hervorbrachte, verloren: Goethe und Hofmannsthal Will Hofmannsthal Goethes Entwicklung begleiten, so wirkt es noch in die fernsten Zeiten. Was immer auch dieser jenem leiht, es reicht für beider Unsterblichkeit. Müssen die, die späterhin beide lesen, denn wissen, welcher der Ältre gewesen? Die hundert Jahre, welche dazwischen, werden weitere hundert wieder verwischen. Nach tausend aber ist’s schon egal, ob Goethe oder Hofmannsthal.330 In vier Schritten möchte ich die von Kraus insinuierte Symbiose entflechten, um schärfer, als das in dem polemischen Gedicht geschieht, Hofmannsthals historische Situation zu erkennen – und den Preis, den er zahlt, um sich an Goethe zu binden. Der Preis läßt sich als Kompromiß gegenüber dem eigenen Sinn für die Philologie beziffern. Ich gehe von seinem poetischen Reflexionssystem aus, das seine Werke hervorbringt, skizziere in einem zweiten Schritt die Situation, auf die er antwortet: sie besteht in einer nicht mehr zu kontrollierenden Entropie von Traditionen und Wissen in Zeiten des Historismus. Drittens möchte ich Hofmannsthals Rekurs auf Goethe analysieren und zeigen, daß das poetische System, mit dem er als Kulturdich­ ter antwortet, Goethes Norm verwirklichen soll, Geschichte und Traditionen wie die Natur zu bändigen und eine neue Kultur für Gebildete zu schaffen. Das geht in der Moderne, in der das Publikum einen Wert für sich darstellt, nur mehr, wenn man mit den Lesern, Theaterbesuchern und Gelehrten übereinstimmt. Ihre Urteile, ihre Werte nimmt Hofmannsthal in seine Werke auf und spricht ihnen nach dem Mund, um Goethes naturtheologisches Ideal in Zeiten unkontrollierbarer Traditionen zu ver­

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wirklichen. Mit diesem vierten Punkt: den Kompromissen möchte ich meine Über­ legungen abschließen.331

Das ›System Hofmannsthal‹ Hofmannsthals poetisches System setzt drei Arten der Rationalität in ein Verhältnis zu einander: die ›Poetologie‹, die ›Produktionslogik‹ und die ›Selbstdeutung‹. Ich möchte diese Begriffe bestimmen und dann anhand eines Briefes von Hofmannsthal erläutern. Die Poetologie Hofmannsthals ist die kluge Kritik seiner Werke: Die Poetologie denkt über die Bedingungen der Möglichkeit der Werke nach. Ihr Axiom ist bei Hof­ mannsthal jene Aporie, daß das Ganze nicht zu haben sei und der Dichter Begrenzun­ gen wählen müsse. Das Ganze ist, verknappt für die von Nietzsche geprägte Moderne um 1905 gesagt, das ›Leben‹ und das ›Werden‹. Doch läßt es sich – so Hofmanns­ thal – nicht erkennen, allenfalls indirekt, über die Bande gespielt, innerhalb (selbst gesetzter) Grenzen. Hofmannsthal anerkennt diese Grenzen: Grenzen, wie sie die Gattungen schaffen, ebenso die Ansprüche der Gelehrsamkeit oder das heterogene Publikum, auf das sich der Dichter individuell einstellen soll. Seine romanistische Habilitationsschrift ›Studie über die Entwickelung des Dichters Victor Hugo‹ (1901)332 vertritt eine dieser Gattungen. Da innerhalb der Wissenschaft nur eine sekundäre Wahrheit möglich sei, kann Hofmannsthal dieser Poetologie ohne Umschweife, fast grob Ausdruck geben; doch direkt expliziert, bleibt – in einer akademischen Qualifika­tionsschrift – ihre Wahrheit indirekt und mittelbar. Die Hugo-Studie ist eine zentrale Quelle für Hofmannsthals theoretisch-ästhetischen Standpunkt. Die Produktionslogik hat es mit der harten Wirklichkeit des kulturellen, zersplit­ terten, eklektischen Materials zu tun, aus dem Hofmannsthal seine Werke bauen muß. Deutlich wird, daß Hofmannsthal sich in der ihm nützlichen Aporie seiner Poe­ tologie täuscht. Sein Totalisierungswille benötigt zwar die Konstruktion des ›Lebens‹, seine Kreativität hört indes von da keine Anweisungen. Es sind vielmehr die aparten Einzelheiten, die ihn anregen. Hofmannsthal schreibt (vermutlich im Dezember 1921) an Marie Luise Borchardt über seine Zeitschrift ›Neue deutsche Beiträge‹: »Es sollen Dinge darin stehen, die einen nachdenken machen u. die einen lachen machen, sonderbare und bedeutende Tatsachen, Witze, Anekdoten – die Beschrei­ bung einer wunderbaren Pflanze die einmal in solcher Vollkommenheit da war, oder eines bestimmten Wetters an einem bestimmten Vormittag, neben einer Anekdote über die heilige Teresa […] richtige Curiositäten – aber doch darf es kein Curiosi­ tätenkramladen sein […], es muss ein Etwas – wie nenne ich es? – Geist – Welt – Grösse – beständig hindurchwehen […]. So hab ich mir ja dies ›Redigieren‹ immer geträumt – dass man miteinander Blumen und schöne Steine sammelt, Meteoriten auch, wenns kommt – nicht dass man da sitzt und schreibt: hochverehrte Frau Huch,



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wollen Sie mir gütigst einen Essay aus Ihrer religiös-erotisch massgebenden Feder überlassen … – «.333 Im Zentrum des Schaffensprozesses sitzt nicht das Leben, sondern kulturelles Material, dessen geistige Identität der Dichter selbst schaffen muß. Die Kreativität, die von der Poetologie zu meistern ist, entstammt nicht dem Numinosen, sondern entsteht in der Arbeit an dem konkreten Aufbau der Werke, ihrer Syntax im weiten Sinn. Das meine ich mit ›Produktionslogik‹. Selten führt die Syntax zur Evokation des Ganzen, von dem Hofmannsthal ausgeht. Selten gelingt dieser Weg. Daher baut er eine dritte Form der Rationalität in seine Werke ein: die Selbstdeutung. Die Selbstdeutung will die ästhetische Ganzheit und behauptet ihr Gelingen: Mit ihrer Hilfe bereitet Hofmannsthal den Leser auf die ›richtige‹ Lektüre vor und spricht von der ›Atmosphäre‹, vom ›Höheren‹, von ›Faust II, Akt V‹, vom ›Hauch‹, vom ›Geist‹, der in den Texten vorwalte, oder – in dem Brief an Marie Luise Borchardt – vom »Etwas – wie nenne ich es? – Geist – Welt – Grösse«, das ›beständig‹ durch die Einzelheiten ›hindurchwehe‹. Hofmannsthals Essay zu Goethes ›West-östlichem Divan‹334 ist für die Selbst­ deutung ein Muster: Er läßt sie seinem Goethe angedeihen. Der Essay erscheint im ›Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft‹ 1919, unmittelbar im Anschluß an den Aufsatz von Konrad Burdach ›Zum Gedächtnis des West-östlichen Divans‹.335 Hofmannsthal setzt mit einem etwas veränderten Zitat aus Goethes ›Notizen und Abhandlungen‹ ein. Goethe schreibt: »Der höchste Charakter orientalischer Dichtkunst ist, was wir Deutsche Geist nennen, das Vorwaltende des oberen Leitenden«336. Geist meint hier den Akt gesetzmäßiger, in Goethes Sinn: formaler Durchdringung. In Hofmannsthals Aktualisierung wird der Begriff des ›oberen Leitenden‹ nicht sofort als etwas Geform­ tes (›Geist‹) bestimmt, sondern davon abgerückt. Hofmannsthal setzt, Goethe neu formulierend, das Wort frei: »Dieses Buch ist völlig Geist; es ist ein Vorwalten dessen, was Goethe das ›obere Leitende‹ genannt hat.«337 Diese Freisetzung ist ein bewußter Akt, denn wenig später wird die Undefinierbarkeit selbst zur Bestimmung des ›oberen Leitenden‹. Nur ein »erhöhte[r] innere[r] Zustand[]«338 kann jene Reinheit des Gegen­ stands begreifen. Das ist die angemessene Rezeption jenseits des Empirischen. Die Undefinierbarkeit erhält schließlich einen Grund: es handle sich um das ›Leben‹, dessen Verfassung das Werden sei: »daß das Leben ein unaufhörliches Wieder­ anfangen ist und ein unaufhörliches Wiederzurückkommen.«339 Was sich ständig verändert, bleibt ungreifbar. Die Gedichte des ›Divan‹ können, so Hofmannsthal am Schluß, dieses ›Leben‹ und sein Werden nur mehr aktualisieren. Ein Brief Hofmannsthals mag als Exempel für sein poetisches System dienen. Am Weihnachtstag 1913 formuliert Hofmannsthal eine Absage. Er nimmt sein Ver­ sprechen Georg Witkowski gegenüber, dem Herausgeber der Pandora-Ausgabe von ›Goethes sämtlichen Werken‹ (mit dem ihn sonst wenig verbindet),340 zurück, die Einleitung zum Band mit Goethes Altersgedichten zu schreiben. Man kann in seinem Brief die drei Arten von Rationalität studieren:

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»verehrter Herr Professor, / daß ich zu diesem Brief, den zu schreiben mir nicht leicht fällt, den Christtag benutze, der sonst meinen Kindern und dem schönen freundlichen Fest allein gehört – wird Ihnen zeigen, wie die ganze Sache auf mich drückt: ich kann sie nicht weiter in die Feiertage hineinschleppen – es muß ein Ende gemacht und gesagt sein: ich bin nicht imstande, die Einleitung zu den ›Altersgedich­ ten‹ zu schreiben und wenn Sie mir, wie ich annehme, die Frist hiezu nicht sehr weit, auf Monate hinaus, erstrecken können, so muß ich Sie, so peinlich mir es ist, bitten, mich eines Versprechens, das ich in den letzten Wochen als ein leichtfertig gegebenes erkenne, zu entbinden. Ich beschäftige mich seit vielen Wochen, trotz andauernden Unwohlseins, mit der Materie und muß nun endlich gestehen: ich vermag sie nicht zu bewältigen. [Hofmannsthal gibt nun Gründe und beginnt mit dem heterogenen Material, von dem er für die Produktion seines Essays ausgehen muß:] Diese unge­ heuere Masse von Gedichten, tausendfache gnomische Weisheit, [dann die Poesie des gelungenen Ganzen: die Selbstdeutung] unendliche Betätigung von Geist und Gefühl nach allen Seiten, die [jetzt wird die Selbstdeutung in einzelnen Attributen variiert:] zartesten Bildchen, wie gehaucht, die tiefsten Gedankengedichte, unausschöpfbar, da­zwischen drin ein Gedicht wie die ›Marienbader Elegie‹, mit dem ich mehr als einmal im Leben für Tage und Tage wahrhaft gelebt habe – dies alles blickt mich an – [zuletzt die Poetologie und ihre Aporie:] es ist ein Teil meines besten Be­sitzes – aber [Hofmanns­thal selbst hebt das hervor] ich habe nichts darüber zu sagen – ja ich vermag nichts darüber zu sagen, ich mag mich drehen und wenden, mich drücken und pressen wie ich will.«341 Als junger Dichter, als ›Loris‹, schrieb Hofmannsthal früher in der trügerischen Sicherheit, er könne seine aparten, vielfältigen Lektüren atmosphärisch in schönen Gedichten ausdrücken. Diese Sicherheit ist ihm nach dem Ersten Weltkrieg abhan­ den gekommen – und er weiß es. An ihre Stelle tritt die Reflexion. Sie soll die alte, verlorene Lyrik ersetzen. Den Ausweg, den die geistesgeschichtliche Literaturwissen­ schaft seiner Zeit nimmt,342 um diese Reflexion fortzusetzen, mag er nicht, etwa das Wuchern von begrifflichen Gegensätzen in Houston Stewart Chamberlains ›Goethe‹ (1912), das dort das Kapitel ›Goethe der Weise‹ prägt.343 Hofmannsthal setzt den Brief an Witkowski fort: »Die Fähigkeit [als Loris], mich journalistisch, oder sagen wir impressionistisch über eine solche Materie zu äußern, ist mir mit reifenden Jahren völlig abhanden gekommen – soll ich etwas sagen, so muß ich vorher in mir das Gefühl haben, die Materie bewältigt zu haben – zu diesem komme ich hier nicht, der Gegenstand ist bei weitem zu ungeheuer, es ist Goethes Greisengesicht, Goethes ganzer Geist – was kann man dazu sagen? Was sich allenfalls sagen ließe hat ein mir nicht liebes, aber höchst bedeutendes Buch, Chamberlains ›Goethe‹, in dem Capitel über Goethes Weisheit vor­ weggenommen – läßt man sich hier ein, so führt alles in die tiefsten Denkprobleme [die Reflexion], nur mit dem äußersten Aufschwung der Synthese kann man etwas giltiges, umspannendes zu geben meinen – das aphoristische, aufblitzende hätte eine glückliche Jahreszeit, eine besonders günstige eigene Verfassung mir gewähren



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können – von beiden bin ich weit entfernt«. Die Lyrik oder ein Spruch in stilvoller Prosa wären die Lösung. Nur in den Gattungen, die das Ganze begrenzen, sieht er die Möglichkeit, eben dieses zu spiegeln. Er ist bereit, die gleichfalls versprochene Einleitung ›Goethes Opern und Singspiele‹344 zu schreiben, weil da die Gattung regiert. So schließt er den Brief an Witkowski: »Was die Einleitung zu den Opern u Singspielen anlangt, so steht es damit ganz anders: hier sehe ich wie und wo, das Kunstmäßige dieser bestimmten Dichtungs­ form gestattet manches zu äußern, ich habe mir dazu viel notiert und werde sehr wohl im Stande sein, diese Vorrede im Lauf des Februar abzuliefern.« In Hofmannsthals System steht der poetologischen Klugheit die Versuchung gegenüber, den Stil fahren zu lassen, um gleich dem Ganzen ins Auge zu sehen. Das entspricht Hofmannsthals paradoxer Lage: Weil er vom Leben Zeugnis geben will, bietet er seine ganze Kraft auf und schreibt seine Werke gegen die Grenzen, die er sich selbst gesetzt hat. Dann findet er schwächere Formen, die er gegen den strengen Stil ausspielt: statt der Artistenphilologie die Geistesgeschichte (daher dann doch Cham­ berlain), oder er läßt das Drama, wenn es nicht genügt, in Musik betten (daher die Zusammenarbeit mit Richard Strauß), oder berechnet es (mit Max Reinhardt) auf ein großes Publikum und erläßt – wie in ›Ödipus und die Sphinx‹ etwa – seiner Sprache die Kontrolle, die sie übt, solange Figuren miteinander argumentieren. Hinsichtlich der Gelehrsamkeit gerät Hofmannsthal in denselben Konflikt mit sich selbst. Zum einen dient die wissenschaftliche Abhandlung ihm als eine Gattung, deren Grenzen es möglich machen, den Blick auf das Ganze zu kontrollieren – davon zeugt seine Hugo-Studie. Zum anderen werden die Gelehrten zu einem diesen Willen – freilich in unterschiedlichen Maßen – entgrenzendem Publikum. Für Witkowski (und für die Leser von dessen Ausgabe) schreibt Hofmannsthal 1913/14 dann seine Einleitung zu dem Band mit Goethes Singspielen und Opern. Deut­ lich wird hier die geschilderte Versuchung: Die Selbstdeutung, die das Ganze direkt evozieren will, führt geradewegs in den Kontrollverlust, der auf die Klugheit und die Grenzen der realen Produktionssituation verzichtet. Damit läßt Hofmannsthal auch den historischen Goethe hinter sich. Diese Beobachtung möchte ich genauer aus­ führen. Die Einleitung in Witkowskis Band spricht von der Musik bei Goethe, doch Hof­ mannsthals ›Musik‹-Interpretation hält sich nicht an die Rolle der Musik, die Goethe ihr in seinen Werken gibt: da befreit die Musik den Menschen von sich selbst und löst ihn aus seiner tragischen Situation. Man denke an ›Egmont‹. Sie »versetzt ihn in jene hellere, leidenschaftslosere Welt, von der Goethe in bezug auf Faust II spricht«345, wie Wilhelm Emrich sagt. Der Durchbruch geht nicht auf Kosten des Irdischen, sondern das Höhere zeigt sich im Durchbruch einer ›sinnlichen Totalität‹. Goethe löscht also mit der Musik nicht den Einzelnen aus, sondern stellt ihn auf einer anderen Ebene wieder her. Wagners und Schopenhauers Verknüpfung von Musik und Tod ist noch fern. Deshalb ist für Goethe die Musik das Medium der Veränderung und nicht ihr Gehalt.

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Hofmannsthal hingegen nimmt hier die Musik, die Leitkunst seiner Zeit, als Generalmetapher für Goethes Werke. Sie sei der Sinn dieser Welt, obwohl die Musik bei Goethe tatsächlich nur ein Element darin ist. In der ›Einleitung‹ wählt er Goethes Wort »Musik füllt den Augenblick am entschiedensten«346 zum Motto und charakte­ risiert damit den Augenblick seiner Lektüre. »Der Leser fühlt sich tausendfach sanft berührt und bewegt, niemals aufgeregt: ihm ist zumute, als strömte eine Symphonie dahin, die seine Seele ganz erfüllt, worin sich gar manches lieblich verkettet, sich aneinander läutert und erhöht, um sich schließlich in einer innigen letzten Verschlin­ gung sanft aufzulösen.«347 Natürlich fehlt diesem Eindruck die materiale Grundlage, das verbindende Moment der realen Musik. Doch seien die Figuren umfassend stili­ siert, und von ihnen lasse sich auf das durch Musik geschaffene Ganze schließen: auf das Fest und (als das vollkommene Fest) die Oper im Innern Goethes. Darum geht es auch hin, wenn Hofmannsthal weniger von den Werken Goethes spricht, die Witkow­ ski in den Band aufgenommen hat, sondern von anderen, vom ›Wilhelm Meister‹, von ›Faust II‹ oder vom ›Märchen‹, das, so Hofmannsthals Kritik, mit ein wenig editori­ scher Kühnheit durchaus aufgenommen hätte werden können. Hofmannsthal aktua­ lisiert Goethes Werke, indem er – die Wirkung bei sich selbst beschreibend – ›Goethe‹ mit einem modernen Prinzip (der ›Musik‹) identifiziert, innerhalb dessen die her­ kömmlichen Gattungs- und Werkgrenzen sich ›sanft auflösen‹. Die Klugheit weicht der emphatischen Selbstdeutung.

Historismus Hofmannsthal antwortet mit seinem poetischen System auf eine Entropie von Tradi­ tionen, der er nicht naiv gegenübersteht. Er kennt seit seinem Studium der Romani­ stik in Wien den Historismus und seine Krise, natürlich auch die Werke von Wilhelm Dilthey, dessen Wissenschaftstheorie aus dieser Krise führen wollte. Der Historis­ mus erschwert es, Wissen zu aktualisieren bzw. von der jeweiligen Gegenwart aus zu meistern, denn jede Epoche habe ihren Sinn in sich und sei gleichwertig, jeweils – mit einem Wort von Leopold Ranke – unmittelbar zu Gott. Wie sollte es da für den Betrachter eine die historischen Epochen übergreifende Ordnung geben? Dilthey suchte in der Krise des Historismus nach Auswegen und begründete in seiner ›Ein­ leitung in die Geisteswissenschaften‹ (1883)348 eine Kritik der Geschichte. Hofmanns­ thal hat die Schriften Diltheys schon früh gelesen. 1893 notiert er: »Wilhelm Dilthey Philos. Aufsätze Tübingen 1887«349, und in seinem Exemplar von Diltheys später Sammlung literaturwissenschaftlicher Beiträge ›Das Erlebnis und die Dichtung‹ (1906, Hofmannsthal besaß die zweite, erweiterte Auflage von 1907) datiert er die Lektüren der einzelnen Kapitel über Lessing (»26. II. 1913«), Hölderlin (»20 II 1915«) und Goethe (»Aussee 3 VIII 1909 (nicht zum ersten Mal)«350). 1911 widmet er Dilthey einen in euphorischem Tempo gehaltenen Nekrolog, wie er ihn kaum einem anderen gegönnt hat.351

Historismus 

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Dilthey und Hofmannsthal möchten, auf unterschiedliche Weise, dem histori­ schen Material die Kohärenz geben, die der Historismus unfreiwillig zerstört, indem er zu Trägern des historischen Geschehens Epochen, Institutionen oder Personen macht: individuelle Einheiten, die aus ihren eigenen Motiven und Begriffen heraus gedeutet werden. Deutungen waren Erklärungen nach den zeitlichen dynamischen Zusammenhängen dieser Einheiten. Indem der Historismus das feste Individuelle in seine historischen Voraussetzungen bettete, löste er dieses Einzelne wieder auf. So zerstörte die eine Kategorie ›Entwicklung‹ die andere ›Individualität‹, und aus Kul­ turen und Personen wurden Aggregate von Daten, die kaum mehr zu ordnen waren. Das bescherte dem Historismus auch eine der heute noch gängigen negativen Cha­ rakterisierungen:352 er sammle reine Tatsachen und könne weder erklären, wie sie zusammenhingen, noch, wann das Sammeln der Tatsachen ein Ende finden soll, noch, was sie den Heutigen bedeuten. Jede der Einheiten könne wieder auf neue und feinere historische Entwicklungen bezogen werden: ein prinzipiell unabschließbarer Auflösungsvorgang. Durch eine psychologische Theorie der Phantasie versucht Dilthey in seinem Buch ›Das Erlebnis und die Dichtung‹ die Gabe der Dichter zu erklären, in diesem Chaos von Einflüssen neue, individuelle, geschlossene Einheiten zu schaffen. Dem prägnanten Erlebnis wird das zugetraut, doch gelingt es Dilthey in seinen konkre­ ten, historischen Analysen nicht, diesen theoretischen Gedanken einzulösen. An die Stelle des Erlebnisses tritt meist ein anderer, für den Zweck privilegierter Einfluß von außen, der die anderen Einflüsse ordne. Hofmannsthal möchte Dilthey an seiner eigenen Lösung des Problems teilhaben lassen: an der Spaltung der Welt in eine komplexe historische Wirklichkeit und eine ›höhere‹ Sphäre, der Hofmannsthal eine regelrechte Poesie des Gelingens widmet. Er besteht darauf, so die Einheit des Empi­ rischen gefunden zu haben. In seinem Nekrolog von 1911 preist er den Gegenstandsbereich, den Dilthey in fast unbegrenzter Ausdehnung und hoher Komplexität beherrscht habe; gerade die dichte Beschreibung der einzelnen historischen Entwicklungen habe Dilthey zu einer Sicherheit des Ganzen verholfen, aus dem sich Individuelles in allen Höhen der Abstraktion mühelos ergebe. Dilthey sei in der Lage, »auf und ab steigen vom Geist des Individuums zum Geist der Zeiten, vom Geist des Volkes zum Geist des Einzel­ nen«353. Doch ein zweites sei erforderlich, um die Masse des Wissens nach Individua­ litäten gestalten zu können: die Lust des Betrachters, seine Freude, seine jugendliche Leidenschaft, die dem Gegenstand den lebendigen Zusammenhalt gebe. Wie es zu seiner poetischen (und auch brieflichen) Praxis gehört, schenkt Hofmannsthal auch hier dem Gelobten, was ihm fehlt, um sein Lob zu verdienen. Verliert sich in Diltheys Darstellungen die individuelle Gestalt angesichts der vielfältigen historischen ›Wir­ kungszusammenhänge‹,354 so suppliert Hofmannsthal eine hermeneutische Kraft, durch die Dilthey zusammenhalte, was sein historisches Wissen aufsprengen muß. Die nötige Verbindung von Wissen und Leben betrachtet er als sein Geschäft – als einen poetischen Vorgang. Er schreibt Dilthey Attribute aus dem eigenen Reich der

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Dichtung zu; es sind die höchsten, die ihm zu Gebote stehen: Nicht Goethe allein, nicht Faust, nicht ›Faust II‹, erst der fünfte Akt von ›Faust II‹ will ihm das rechte Bild geben: »Dies war die Stimmung um ihn: Faust II, Akt V. Nie war die Atmosphäre eines Lebenden verwandter mit der Atmosphäre einer Dichtung.«355 Oder: »Ein deutscher Professor, wie Doktor Faust.«356 Und er adaptiert am Ende Napoleons Wort zu Goethe: »welch ein Mann!«357 Dilthey hat die Hierarchie von sekundärer Wissenschaft und ›wahrer‹ Poesie, die am Leben teilhabe, akzeptiert. Am 1. März 1907 schreibt er Hofmannsthal über dessen ›Kleine Dramen‹: »Ich habe viel nachgedacht über diese an Goethes Jugenddichtun­ gen anknüpfende dramatische Form, der Sie nun ein neues, aus Ihrem eigensten Wesen stammendes Leben gegeben haben. Eine Form, die direkter als jede andere Sinn, Wert, Bedeutung des Lebens auszusprechen möglich macht und doch dabei rein poetisch bleibt.«358 Das ist eine Formel nach Goethes klassischer Ästhetik: Am Leben haben Werke teil, wenn sie mit Stil dessen Sinn ausdrücken. Hofmannsthal hat sich die Formel zu eigen gemacht. Doch innerhalb des modernen Denkens ist daraus eine Aporie geworden: für das monumentale, heroische ›Leben‹ finde sich kein angemes­ sener Stil mehr. Nur wenn man schweige, könne man darüber angemessen ­sprechen. Hofmannsthal schlägt indes ständig wechselnde Formeln vor, in deren Wechsel (und nicht in den Formeln selbst) sich das Leben: das Werden zeige.359 So begründet der Dichter seine Macht über die Ausleger. Er bestimmt jeweils und überraschend die in der Forschung geltenden Gegensätze (etwa, von seinem das eigene Werk deutenden ›Ad me ipsum‹ her den von ›Praeexistenz‹ und ›Existenz‹), an die sich die Gelehrten aus Demut haben halten müssen, solange sie nicht die Rolle dieser Selbstdeutung in Hofmannsthals Kritik der Geschichte analysieren.

Goethes Norm360 Es mag überraschen, daß ich die Rede auf die Ausleger Hofmannsthals bringe. Das geschieht mit Bedacht. Denn Hofmannsthal entfaltet seine Moderne – sein poetisches System als Antwort auf den Historismus – nach Goethes Normen, doch kann er diese Normen nur retten, indem er das Publikum in sein Kalkül einbezieht. Hofmannsthals Moderne ist eine Moderne mit Publikum. Zu diesem Publikum gehören notwendig die Gelehrten, mit denen er Zeit seines Lebens zu tun hat, und schließlich dann auch die Hofmannsthalforscher nach seinem Tod. In diesem auf Wirkung gegründeten Prozeß verliert sich der historische Goethe. Hofmannsthal geht von seiner höchsten Norm aus: der Ganzheit. Wendet Hof­ mannsthal diese Norm auf die ihn umgebende Tradition an, so muß er aus Geschichte Kultur schaffen, also die Historie mit der eigenen Gegenwart vermitteln. Goethe ist dabei allgegenwärtig. »Goethe kann als Grundlage der Bildung eine ganze Kultur ersetzen.«361, notiert er im ›Buch der Freunde‹. Doch wenn Goethe eine Kultur erset­ zen kann, dann muß man sich in Zeiten, da die Kultur grundsätzlich in Frage gestellt



Goethes Norm 

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wird, einen anderen, neuen ›Goethe‹ zurechtlegen, in den dann eingebaut werden kann, was vom historischen Goethe überliefert ist. Da Hofmannsthal das Ziel einer kulturellen Ganzheit nicht aus den Augen verliert, muß er einen Goethe konstruie­ ren, der sich selbst mit der Gegenwart vermitteln kann, selbst einen ›höheren‹ Goethe anbietet. Auch da soll ihm Goethe behilflich sein: Er wählt aus Goethes Werken solche aus, die für diesen Zweck gut geeignet sind. Das sind Texte, die ihr eigenes Vor­ gehen oder die eigenen Voraussetzungen reflektieren und für die Nachgeborenen die Anweisungen zur Deutung schon in sich enthalten, Texte also, die der totalisierenden Konstruktion in Hofmannsthals eigener philologischer ›Studie über die Entwickelung des Dichters Victor Hugo‹362 (1901) ähneln. Er will dort die ›literarische Person‹ Hugos konstruieren, die er aus der »Einheitlichkeit und tiefen Harmonie« von Individuum, Werk, Wirkung und Nachwirkung erschafft.363 Goethes wissenschaftliche Schriften bekommen eine enorme Bedeutung. Schon der Vortrag über ›Die natürliche Tochter‹ vor dem Wiener Goethe-Verein 1902 endete mit der morphologischen, also: naturwissenschaftlichen Grundlegung ästhetischer Bemeisterung von Kultur.364 Gerade die Farbenlehre und die wissenschaftstheore­ tischen Überlegungen in der Geschichte der Farbenlehre ziehen Hofmannsthal an. Nicht im Dramatischen, sondern in der Farbenlehre habe Goethe »das mächtige Organ unerbittlich aufs Ganze zu gehen«365 gehabt. Diese Präferenz erstaunt zunächst, da die Historie und nicht die Natur Hofmannsthal umgibt und er inmitten von historisti­ scher Architektur, Malerei, Literatur und Musik seine eigene poetische, imaginäre und halberträumte Welt aufbaut. Nicht die Natur gibt ihm die Bausteine, sondern es sind die – in diesem Sinne – künstlichen geschichtlichen Elemente, mit denen er sich in Verbindung setzen will. Die Präferenz für Goethes Farbenlehre hat indes in der Überzeugung Hofmannsthals ihren Grund, daß er erst dann sein Ziel erreicht hat, wenn die Geschichte in ›Natur‹ verwandelt ist. In Goethes Naturlehre findet er Früh­ formen des eigenen Plans. Geschichte, in diesem Sinn angeeignet, ist seine Kultur, und Goethe, Teil dieser Geschichte, hat selbst das Rezept dafür gegeben. Man müsse von heute aus die Traditionen verstehen: »Jedes gute Buch, und besonders die der Alten, versteht und genießt niemand, als wer sie supplieren kann. Wer etwas weiß, findet unendlich mehr in ihnen, als derjenige, der erst lernen will.«366 Was geschieht mit dieser Norm unter den Bedingungen der Moderne? Hofmanns­ thal bewegt sich mit seinem ›Buch der Freunde‹, einer Sammlung von Sprüchen in Prosa, die zwischen 1919 und 1921 entstanden war, in der Tradition von Goethes ›Maximen und Reflexionen‹ und erneuert die Gattung der genormten Gedanken, des Wissens, das einer Konstruktion folgt, nach der Zerstörung seiner Welt. Er gibt der Wirkung eine Bedeutung, die sie bei Goethe nicht hatte. Gleichwohl steht Goethe in Hofmannsthals ›Buch der Freunde‹ im Mittelpunkt. Auf das Publikum zu achten, gehört zu Hofmannsthals Moderne. Man denke nur an die Zusammenarbeit mit Max Reinhardt. Wirkung ist einer der Gesichtspunkte, nach denen Hofmannsthal in seiner Ausgabe von ›Goethes Sprüchen in Prosa‹367 anstreicht, und er deutet die Wirkung ästhetisch, als Merkmal von Stil und Sprache.

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 Vom Stillstellen der Traditionen. Hofmannsthals Begriff der ›Cultur‹

Er streicht den Aphorismus aus Goethes Nachlaß an, wider den Sinn: »Die unge­ heuerste Cultur die der Mensch sich geben kann ist die Überzeugung daß die andern nicht nach ihm fragen«368, oder, diesmal mit dem Sinn: »Die Gewalt einer Sprache ist nicht, daß sie das Fremde abweist, sondern daß sie es verschlingt.«369 Eben wie in seiner Habilitationsschrift über Victor Hugo, wo Hofmannsthal die ›Wirkung‹ als Element seiner Poetologie vorstellt, die erst dann die Einheit eines Werkes anerkennt, wenn Verfasser und Leser sich mit dem Werk zu einem organischen Ganzen, der ›literarischen Person‹, wie Hofmannsthal sagt, verschmolzen haben. So läßt sich der Satz aus seiner eigenen Feder verstehen, den er zwischen die Verlagsanzeigen in Goethes ›Sprüchen in Prosa‹ notiert: »Ein bedeutender Mensch ist in dem Masse gefährlich, als er sich wenig mitteilt.«370 Hat sich Hofmannsthal über die Wirkung mit seinen Lesern verbündet, kann er sie auch vertreten. Hofmannsthal möchte der Repräsentant einer Kultur sein, einer neuen Kultur, seiner Kultur. An die Stelle der einzelnen Aphorismen Goethes, die dieser nie zu einem Buch versammelte (Eckermann hat 1840 erstmals die bis dahin auf mehrere Bände verteilten Sprüche zusammengefaßt),371 tritt Hofmannsthals Anthologie, die sich als Ganzes präsentiert, um im totalisierenden Leser die alte ›Kultur­kraft‹ wiederzugewinnen. Hofmannsthal muß nun Goethes Sprüche neu deuten, um sie loben zu können, gerade wie in der Vorrede zu Goethes Singspielen und Opern, die ein monumentales Musikverständnis dem Begriff von Musik als Metier aufpflanzt. Auf Seite 103 seiner Ausgabe von ›Maximen und Reflexionen‹ streicht Hofmannsthal Goethes Aphorismus an, der den modernen Sinn in sich trägt, während er eine herkömmliche Lesart her­ vorkehrt: »In dem Erfolg der Literaturen wird das frühere Wirksame verdunkelt und das daraus entsprungene Gewirkte nimmt überhand: deswegen man wohltut, von Zeit zu Zeit wieder zurückzublicken. Was an uns Original ist wird am besten erhalten und belobt, wenn wir unsre Altvordern nicht aus den Augen verlieren.«372 Goethe unterscheidet hier zwischen Antike und moderneren »Literaturen«, also der Weltliteratur; das Paradox, daß man das Eigene (›Originale‹) am Vorbild ablesen könne, löst sich, wenn das Antike das Eigentliche ist, das von der Literaturgeschichte (dem »Gewirkten«) verborgen werde. Hofmannsthal lebt in einem historistischen Bewußtsein, das die Privilegierung einer bestimmten Epoche ausschließt. Er muß daher den Aphorismus neu lesen können. Das ›Wirksame‹ wird ein Ursprung, auf den man sich besinne, um das Eigene zu erkennen: Die Alten waren darin nicht anders, sondern nur besser.373 Diese Lesart paßt nun zu einer monumentalen, auf den Ursprung bedachten Moderne. Die Absicht, mit dem Leser eins zu werden, prägt nicht nur das ›Buch der Freunde‹, sondern auch das ›Deutsche Lesebuch‹ (1922/1926), das vorzüglich refle­ xive Texte versammelt, also solche, die die Welt – für Hofmannsthal – gemeistert haben, damit die Leser in philosophischer Stimmung ihre Ganzheit schaffen. Wie das ›Buch der Freunde‹ kreist das ›Deutsche Lesebuch‹ um Goethe. Von Goethe stammen drei wissenschaftliche Texte, ein Brief von Zelter an Goethe wird eingerückt, ebenfalls



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findet sich ein an Goethe gerichteter Brief der Mutter, Eckermann berichtet über ihn, Solger schreibt über die Wahlverwandtschaften, und die Beschwörungen historischer Größen (Jacob Burckhardt über Alexander, Varnhagen über Napoleon, Nietzsche über Heraklit) nennen die Bedingungen für ›Goethe‹ als Heros. Aus Solgers Aufsatz über ›Die Wahlverwandtschaften‹, der ins ›Deutsche Lese­ buch‹ aufgenommen wird, zitiert Hofmannsthal im ›Buch der Freunde‹: »Es ist heut­ zutage fast kein anderes Mittel da, auf Menschen zu wirken und im höheren Sinn in der Welt gesellig zu leben, als eben das Privatgespräch und die Reflexion darin.«374 Hofmannsthal türmt Gedanken über Gedanken und macht den Erfolg des ›Deutschen Lesebuchs‹ von jenem ›höheren Menschen‹ abhängig, der das »Geheimnis« des Autors375 zur Schöpfung weitertreibt. Diesen Menschen meint er zu kennen und stellt ihn in der Vorrede zum Schluß vor: Es ist der Leser, der nun nicht das Vorbereitete durch pures wissenschaftliches (hier also: historisches) Nachdenken verderben soll (»Am wenigsten nun wünschen wir uns den Leser, der alles historisch nimmt.«376), sondern den ausgebreiteten Reichtum gestalten soll: »Denn ein Buch ist zur grösse­ ren Hälfte des Lesers Werk, wie ein Theater des Zuschauers.«377 Ich erinnere an Hofmannsthals poetisches System: an die Poetologie des Ganzen, an die konkrete Arbeit mit den einzelnen Traditionen und an die Selbstdeutung, die das gelungene Ganze behauptet. Hier spielt nur mehr die Selbstdeutung eine Rolle. Dem Leser wird zu erfüllen überantwortet, was Hofmannsthal – als Sammler von Texten – nicht konkret schaffen kann, sondern – in seiner Poesie des Gelingens – fordert. Indem das Geheimnis dem (höheren) Leser anvertraut ist, hat Hofmanns­thal auf die Möglichkeit verzichtet, es in einer Gesetzmäßigkeit zu halten. Nun will er nur mehr der Vermittler im Mysterium von Leser und Tradition sein, das seine Ganzheit der Stimmung verdankt. Aus dem Stil, der ursprünglich der Begrenzung diente, wird ein Stimmungsstil, der nun das wahre und vermittelnde Höhere in der Natur des Menschen evoziere, ein Höheres, das die konkrete Form einer gesetzmäßigen Gestalt (Goethe) nicht mehr haben darf. Der ›große‹ Leser wird so die kluge Auswahl einzel­ ner Texte, den Stilzug der Gattung Anthologie, zerstören. Je offener die Leserschaft ist, umso vager muß die Stimmung werden und umso mehr verschwindet Goethe selbst, samt seinen Texten.

Kompromisse mit der Universität Die Universität spielt in diesem Prozeß eine große Rolle. Nicht nur weil Hofmannsthal anspruchsvoll ist und ihr Wissen nutzt, sondern weil die Integration von Wissen für die Lehre und für die öffentlichen Aufgaben zum Bildungsauftrag der Universitäten gehört. Da die Universität ihren Bildungsauftrag in den Augen Hofmannsthals nicht erfüllt, tritt er als Dichter: als Kulturdichter, der er ist, in Konkurrenz zu ihr. Das ist der Sinn seines wissenschaftskritischen Satzes: »Von Goethes Sprüchen in Prosa geht heute vielleicht mehr Lehrkraft aus als von sämtlichen deutschen Universitäten«.378

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 Vom Stillstellen der Traditionen. Hofmannsthals Begriff der ›Cultur‹

In diesem Satz lobt Hofmannsthal Goethe – wir wissen inzwischen, welchen ›Goethe‹ er im Auge hatte – und stellt ihn der Universität gegenüber. Er knüpft an eine Tradi­ tion an, in der Goethe selbst stand, als er mit den Philologen und Gelehrten seiner Zeit, mit Friedrich August Wolf, Gottfried Hermann, Friedrich Creuzer, aber auch Wilhelm von Humboldt, zusammenarbeitete. Die Konkurrenz von Poesie und Wissen­ schaft möchte Hofmannsthal für Goethe nach der »Lehrkraft« entscheiden. Dahinter verbirgt sich der Bildungsgedanke der deutschen Universität, an deren Konzeption Goethe durch das Gespräch mit Humboldt beteiligt war. Hofmannsthal kann den her­ kömmlichen Bildungsgedanken, weil er nach »Wirkung« strebt, erneuern. In der Konkurrenz mit der Universität beansprucht Hofmannsthal im Namen seiner Poesie des Gelingens den Vorrang. Doch er ist auf sie als Vermittlerin regel­ recht angewiesen. Denn wenn er seine Dichtung mit großen Worten umschreibt (mit Geist, Welt oder Musik), so benötigt er die kleinere Münze gelehrten Redens, um sich diskursiv verständlich zu machen. Das geht nicht ohne Einbußen. Hofmannsthal kennt den Preis genau, den er zu zahlen hat: die Atmosphäre des Ganzen kommt in abstrakten Begriffen und konkre­ ten Werten auf die Welt. Obwohl die vielen Germanisten, mit denen er sich umgibt, ihn unglücklich machen, fördert und propagiert er sie. Walther Brecht, Professor in Wien und München, erhält von ihm die Aufzeichnungen ›Ad me ipsum‹ zur Ver­ öffentlichung. Brecht schreibt die Stichworte aus und tut das im Rahmen seiner neoplatonischen Systematik.379 Und auch Josef Nadler versetzt Hofmannsthal in die geistes­geschichtliche Denk- und Wertewelt seiner Zeit. Mit Nadler möchte ich meinen Gedankengang beschließen. Hofmannsthal ist bewußt, welche Reduktionen mit Brecht und Nadler einher­ gehen, doch seine ästhetische Norm der Wirkung stützt die strategische Absicht, das Werk zu verbreiten. Vielen empfiehlt er Nadlers ›Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften‹380, die noch vor dem Ende des Ersten Weltkriegs in ihm »Epoche gemacht« hat. Hofmannsthal sieht deutlich, daß Nadler in seinen Urteilen die Individualität des Autors preisgibt und sie den Vorurteilen der Zeit unterwirft, die durch philosophische Begründung allgemein zu sein beanspruchen. Insofern sich Hofmannsthal als Dichterrepräsentant des Allgemeinen versteht, will er mit den »Zeiturteilen« leben und nennt seinen Freunden das Buch oder verschenkt es. Rudolf Pannwitz gehört zu den ersten;381 Burdach, Hauptmann, Strauss, Max Mell und Borchardt zählt er gegenüber August Sauer, Nadlers Lehrer in Prag, auf und versichert, »daß ich nicht ermüden werde, diesem wirklich unvergleichlichen Buch Freunde zu werben.«382 Selbstironisch schreibt er an seine Frau: »Conversation meist über Pannwitz u. Nadler, mit welchen 2 Begriffen ich alle Leute agaciere, daß sie’s kaum mehr aushalten können.«383 Nicht einmal durch Nadlers ursprünglich vorge­ sehenen Beitrag zur ›Eranos‹-Festschrift,384 der ihn wegen des Vergleichs mit Jakob Wassermann auf der Grundlage ihres Judentums empört, läßt er sich von dem Vorsatz abbringen.



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Ein Hinweis auf Nadler, den er Hans Gerhard Gräf gibt, gehört in diese Übung. Hofmannsthal kennt den Herausgeber des ›Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft‹ vor allem von dessen Dokumentation ›Goethe über seine Dichtungen‹ in 9 Bänden (1901– 1914).385 Gräf schreibt ihm am 22. 2. 1919 und skizziert eine übliche biographie philolo­ gique, die vom Historismus an der Literaturgeschichte (als unzureichender Lösung) vorbei in eine Spaltung nach Philologie und Literatur führt – ohne weitere Reflexion, so daß er den kräftigen Urteilen Nadlers leicht erliegt: »als Gymnasiast, als Student, wenn, einer Sturmflut gleich, die Fülle der Gestal­ ten u. Erscheinungen auf den staunenden Neuling hereinbricht [das ist die historisti­ sche Krise], da hatte ich das brennende Verlangen nach Literaturgeschichten, d. h. nach Ordnern des Chaos, nach Seezeichen, sozusagen, Blinkfeuern, Baken, Leucht­ tonnen, meinetwegen auch Heultonnen, die unsre Ausfahrt auf das ungeheure Meer der literarischen Erscheinungen einigermaßen leiten u. sichern. Als ich aber in den Beruf immer tiefer hineinkam, da erkannte ich bald [das Fach Philologie zieht ihn zurück], daß alle Kraft u. Zeit auf eigenes Studium der Quellen verwendet werden muß. So gehörten bei mir die Literaturgeschichten immer mehr und mehr zu den ›Ungeblätterten‹, seit Jahrzehnten (mit einziger Ausnahme vielleicht der feinsinnige Hettner), und ich griff u. greife, wenn ich etwas über die Dichtung lesen will, stets nur zu den Dichtern: Otto Ludwig, Grillparzer, Hebbel, Gottfried Keller pp. Nun aber – und dafür werde ich Ihnen allezeit danken – stoßen Sie mich mit der Nase auf Nadler! Ich eilte sofort auf die Bibliothek, natürlich war er, u. Gott sei Dank nicht ausgeliehen, u. so sitz ich seit Tagen versunken über diesem erstaunlichen Werk, schamrot, es nicht längst zu kennen, und rot vor Entzücken. Schon das Vorwort, oder vielmehr, wie er es schön nennt: ›Worte der Rechtfertigung und des Dankes‹ nahmen mich gefangen, denn Dank und Ehrfurcht [die Sekundärtugenden sind die einzige ›Methode‹ dieser Philologen im engen Sinn], wo ich sie auch finde, preise ich allezeit als die schönste Zierde des Menschen. Dann las ich mit immer steigender Freude die ersten Kapitel – ich zog die Kärtchen hervor u. dachte, mit welchem Anteil würde Goethe diese Karten studiert haben, diese Anschauung der Stromgebiete Deutschlands und der örtlichen Verteilung seiner dichtenden Geister! Dann, als die eigne Arbeit drängte, sprang ich über Jahrtausende hinweg u. schlug den 2. Band auf, aufs Geratewohl, u. traf auf Merck u. die Darmstädter Heiligen – u. siehe, auch hier die selbe gedankenreiche, belebte, kraftvolle Darstellung.«386 Gräf sieht Poesie und Philologie in der Kunst der »Darstellung« versöhnt. Er spricht über ein zentrales Problem der Philologie: das Problem der Ordnung, und er hat erkannt, daß Nadler die Darstellung, die dramatische Anordnung des Wissens, seinen Stil an die Stelle der methodischen Grundlagen (Stämme, Landschaften) setzt, von denen er ständig spricht. Doch Nadlers Stil hat einen zweiten Boden: Unter der Rhetorik der Darstellung regiert eine begriffliche und wertegebundene Kraft. Die Lite­ raturgeschichte pulsiert nach handfesten Vorurteilen, die Nadler nicht ausspricht, die indes unter der Oberfläche seiner Schreibmanier sichtbar werden. Hofmannsthal hat die Vorurteile benannt. 1928 sollte er für die ›Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur­

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 Vom Stillstellen der Traditionen. Hofmannsthals Begriff der ›Cultur‹

wissenschaft und Geistesgeschichte‹ einen Aufsatz über Nadler schreiben; zwar kam es nicht dazu, doch Notizen sind überliefert. Darunter diese: »Über Nadler […] / Aus­ einandersetzung mit dem Humanismus. / Abgrenzung gegen die Milieu-Theorie / Die Angriffspunkte: entschieden großdeutsch / antisemitisch / antihumanistisch? / nein? / Hauptpunkt: das Einzelne kommt nicht zur Geltung.«387 Entschieden großdeutsch /  antisemitisch / antihumanistisch. Man denke an Nadlers Goetheverachtung. Das Einzelne kommt (angesichts der begrifflichen Anlage) nicht zur Geltung: Hofmanns­ thal hat sich nie mit dem Hofmannsthalkapitel in Nadlers Buch, das dort sogar den Schlußstein bildet, anfreunden können. Indem Hofmannsthal sich die Deutungen der Gelehrten, mögen sie explizit oder in den Forschungen verborgen sein, gefallen läßt, entsteht eine merkwürdige Kompli­ zenschaft. Die Philologen sammeln und folgen oft konkreten Werten, die sie im Raum ihrer Wissenschaft nicht aussprechen dürfen. Nur außerhalb, in Festreden, oder privatim, in Briefen etwa, ist ihnen das erlaubt. Hofmannsthal will nicht, daß diese Werte expliziert werden. Das würde zerstören, woraus seine Poesie ihre Schönheit bezieht: die Anstrengung des Verbergens, die vagen Selbstdeutungen, in denen die Stimmung entsteht. Um aber Repräsentant einer Kultur zu sein, um weithin ›richtig‹ gelesen zu werden, benötigt der Dichter jene Auslegung durch Gelehrte. Nun: Ihre Sätze müssen konkret sein. Ideal für beide, für den Gelehrten und den Dichter, ist daher, wenn sie, jeder auf seine Weise, über denselben Gegenstand sprechen: über Hofmannsthals Dichtung. Dann drückt der Dichter die Werte unbestimmt aus, die der Gelehrte konkret meint – und der Gelehrte denkt sich ausgesprochen, was ihm ver­ boten ist zu sagen. Erst wenn der Gelehrte konkret sagt, was er denkt, verfälscht er, in den Augen des Dichters, die Poesie. Hofmannsthal hat sich stets eine Forschung gewünscht, die spricht, ohne etwas zu sagen.

7 P  ositionen auf dem Weg zu einer kritischen Hermeneutik Der Unterschied zwischen der ästhetischen Rationalität (als der selbstexplikativen Vernunft der Werke) und der philologisch-diskursiven Rekonstruktion (die selbst dem Wissenschaftsimperativ folgt) liegt in der Art, mit Regeln im Sinne von Kants Dritter Kritik umzugehen. Kunst wird von Kant entfaltet als das Vermögen, Regeln anzu­ wenden, ohne Regeln für die Verwendung der Regeln angeben zu können. Daraus ergibt sich für die Philologie als Wissenschaft die Frage, ob dieses Vermögen regel­ geleitet verstanden werden kann. Tatsächlich wurde die Disziplin, die sich mit der philologischen Seite des Verstehens individueller sprachlicher Äußerungen befaßt, von Schleier­macher als Hermeneutik auf der Grundlage von Kants Erkenntniskritik konzipiert.

Subjektivität nach Schleiermacher Die Individualität als Ziel des Verstehens bezieht Schleiermacher auf allgemeine Regeln (die ›Wissenschaften‹ Schlegels), und der Übergang von der Wissenschaft zum Verstehen gilt ihm als ›Kunst‹. Seine Hermeneutik beschreibt folgerichtig das Verhältnis einer allgemeinen, regelgeleiteten Methodik und eines individuierenden spontanen Verstehens, das nicht als Deduktion von Regeln konzipiert ist. Damit rückt der subjektive produktive Akt in den Mittelpunkt hermeneutischen Verstehens. Ver­ zichtet wird auf eine philosophisch-begriffliche, ästhetische Bestimmung des Gegen­ stands. Die Konzeption der Subjektivität (im Sinn des Handelns eines Subjekts) sorgt für unterschiedliche Positionen in der Geschichte der Hermeneutik. In dem Maß, in dem Werke sich auf Traditionen des Textverstehens beziehen, wenn sie sich selbst erläutern und in dieser Hinsicht diese Traditionen kommentieren, lassen sie sich mit der Geschichte der Hermeneutik (als ihr Material) in Verbindung bringen. Goethes Reaktion auf die Philologen Georg Friedrich Creuzer und Gottfried Hermann, die zugleich die systematischen Unterschiede zwischen diesen Philologen in Betracht zieht, ist dafür ein Beispiel.388 Insgesamt richtet sich ein solcher Ansatz gegen die Literaturtheorie. Einzelne Werke werden nicht aus einer Theorie der Werke abgeleitet (es sei denn diese Theorie bildet den Regelrahmen, den das produktive Subjekt in seiner historischen Situa­ tion gewählt hat), sondern erschließen sich einer Lektüre, deren Prinzipien immer wieder nachträglich reflektiert und insofern cyklisiert werden.389 Kompetenz steht der Theorie gegenüber. Der in einer Theorie befangene kompetente Leser verläßt an einem bestimmten Punkt seine Lektüre (und Kompetenz) zugunsten theoreti­ scher Erwägungen.390 Aus hermeneutischer Sicht behindert eine vorab entschiedene

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 Positionen auf dem Weg zu einer kritischen Hermeneutik

Theorie und Methodologie den Prozeß der Verbesserung einer Kompetenz, die allein über die jeweilige Reichweite eines theoretischen Zugangs entscheiden kann. Die Frage nach dem Schließen von Verstehensvorgängen, mit anderen Worten die Frage, wann eine Interpretation zu einem Ende kommt, rückt ins Zentrum und erlaubt, die methodischen Positionen voneinander abzuheben. Die Frage stellt sich gemäß der Unterscheidung von Kompetenz und Theorie prinzipiell jeweils anders.391 Der theoretische Zugang entscheidet gerade unter Absehung des jeweiligen Werks über das Ende einer Interpretation. Die vorgefundene Subjektivität birgt keine Ver­ unsicherung. Literaturtheorien sehen in Werken eine Realität verwirklicht, deren Prinzipien extern bestimmt sind. Die Theorien sind entweder geschlossen, etwa in ihrer soziologischen, psychoanalytischen oder auch narratologischen Ausprägung; oder sie gehen von einer Realität aus, die prinzipiell unabschließbar ist (dazu zählt die Dekonstruktion, die von einer permanenten Verunsicherung der Werke durch die Sprache ausgeht, oder die Rezeptionsästhetik, die eine unendliche Leserschar perma­ nent Werkstrukturen verschieden realisieren sieht). Werke in dieser, sei es geschlos­ senen oder unabschließbaren, Theoriekonzeption diagnostizieren bestimmte Aus­ prägungen einer entsprechend konzipierten Realität. Man kann auch von einer optimistischen und von einer pessimistischen Richtung sprechen. Einerseits kommt die Interpretation an ein Ende, sobald die Textelemente (qua individuelle Realität) sich alle subsumieren lassen (optimistische Variante). Oder eine Interpretation sieht, wie die Theorien der Unabschließbarkeit es wollen, ihr Ziel erreicht, sobald jede feste Sinnaussage unterlaufen wird (pessimistische Variante). In gewisser Hinsicht erweist sich die unabschließbare Variante ebenso als geschlossen, da sie vom Dogma der Pluralität ausgeht, das in jedem Akt der Destruktion von neuem bestätigt wird (dazu zähle ich auch analytische Definitionen der Interpretation, die gelten lassen, was bestimmten, höchst generellen Kriterien der Widerspruchsfreiheit genügt). Wer sich hermeneutisch an der Subjektivität der Werke orientiert, verhält sich indes weder optimistisch noch pessimistisch; vielmehr bewahrt die hermeneutische Lektüre (ich unterscheide die praktische ›Lektüre‹ von der an einer Theorie ausge­ richteten ›Interpretation‹) das Paradox, einen Gegenstand immer neu zu sehen und dennoch an einem Wahrheitsanspruch der Lektüren festzuhalten. Die Theorien müssen sich für eine der im Paradox enggeführten Alternativen entscheiden. Die her­ meneutische Lektüre rechnet indes mit einem unabschließbaren Erkenntnisgewinn. Vier historische Positionen möchte ich für unseren Zweck systematisch unterscheiden: A. Die rekonstruktive Hermeneutik (Friedrich Schleiermacher), die im Wechselspiel von Grammatik und Technik die Individualität bestimmt, B.  die Tiefenhermeneutik, die philosophischer (Hans-Georg Gadamer) oder ge­ ­ schichts­theoretischer Natur (Wilhelm Dilthey, Georg Simmel) ist und die Indivi­ dualität als Ausdruck eines ›höheren‹ oder synonymen ›tieferen‹ Allgemeinen versteht,



Subjektivität nach Schleiermacher  

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C. die literarische Hermeneutik (Peter Szondi), die von einer textuellen Notwen­ digkeit ausgeht, innerhalb derer das Individuelle entsteht, und zugleich mit der Histo­rizität der Erkenntnis rechnet, und D. die kritische Hermeneutik (Jean Bollack), die die Subjektivität im historischen Akt der Produktion am Werk sieht und als Bruch mit der Tradition bzw. der Sprache konzipiert, der von der Syntax bzw. der Grammatik der Werke ausgeht. Den Positionen ist gemeinsam, daß die Subjektivität in einer Notwendigkeit gründet. Worin diese Notwendigkeit besteht, unterscheidet die Positionen. Schleiermachers Satz aus den frühen Notizen zum Hermeneutik-Kolleg formuliert deutlich den gemein­ samen Grundsatz: »Zwei entgegengesetzte Maximen beim Verstehen. 1.) Ich verstehe alles bis ich auf einen Widerspruch oder Nonsens stoße 2.) Ich verstehe nichts was ich nicht als nothwendig einsehe und construiren kann. Das Verstehen nach der letzten Maxime ist eine unendliche Aufgabe.«392 Die Präferenz Schleiermacher gilt der zweiten Maxime. Schleiermachers Hermeneutik ist rekonstruktiv, insofern sie zwischen (a) der Grammatik (bzw. der spezifischen historischen langue, in der ein Text gehalten ist) und dem Denken des Autors einerseits und (b) der technischen, d. h. stilistischen bzw. (auf das Denken bezogenen) ›psychologischen‹ Spezifizierung andererseits eine Identifikation herstellen will. Nicht das Ganze eines Texts und seine Einzelheiten sind miteinander zu vermitteln, sondern ein sprachlich-denkerisches Ganzes, das jenseits des Texts angesiedelt ist, mit dem Stil des Texts. Die Maxime, man muß das Notwendige konstruieren können, stellt dabei eine Kontrolle des Betrachters dar, eine Ablehnung des später so populären hermeneutischen Zirkels, der zwischen dem VorUrteil des Betrachters und den Textbefunden hin- und herliefe. Die Notwendigkeit geht vom Gegenstand aus, den Schleiermacher freilich in dem Ineinander von sprach­ lichem und geistig-›psychologischem‹ Aspekt des Texts bestimmt. Man kann in der Maxime einer Erkenntnis der Notwendigkeit die Aufgabe sehen, die Praxis zu durch­ schauen, in der allein der Gegensatz von Sprache und Stil ausgeglichen werden kann; Schleiermacher notiert sich: »Einzig mögliche Lösung durch cursorische Lection.«393 Und er gibt der (kunstgemäßen, cursorischen) Praxis die Analyse an die Seite; man vernimmt das Echo von Schlegels Gegensatz zwischen Vermögen und wissenschaft­ lichen Tendenzen: »Die Combination beider Operationen ist in der Anwendung. In den Vorschriften muß man es trennen weil jedes seinen besonderen Mittelpunkt hat.«394 Aufgrund der dichten (kunstmäßigen und notwendigen) Praxis ist das Ver­ stehen, das als Einholen der im Kursorischen wirkenden Notwendigkeit gedacht ist, nach der zweiten Maxime unendlich.

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 Positionen auf dem Weg zu einer kritischen Hermeneutik

Zur Tiefenhermeneutik Gadamers Gadamers philosophische Hermeneutik wird meist mit der Hermeneutik insgesamt, und also auch mit der kritischen Hermeneutik identifiziert. Gadamer hat den Ruf einer Hermeneutik, die sich unter literarischen Gesichtspunkten vertreten ließe, nachhal­ tig beschädigt. Seine Strategie in ›Wahrheit und Methode‹ (1960) besteht darin, das Geschriebene – eigentlich der von der Hermeneutik bestimmte Ort, in dem sich die Subjektivität durchsetzen kann – gegenüber der Überlieferung und der Tradition abzuwerten.395 In seiner Rede von der ›schriftlichen Überlieferung‹ verkehrt Gadamer die Verhältnisse; er versteht darunter nicht die überlieferte Schrift bzw. Materialität, sondern die Sphäre des Sinns, in der das Wort seine Idealität und eigentliche Tiefe gewinnt. Diese Sphäre werde von der »Kontinuität des Gedächtnisses«396 konstitu­ iert. Die Realität eines Sinns, der sich frei macht von der »Handschrift als ein Stück von damals«397, wird innerhalb eines Verstehensmodells begründet, das sich am Gespräch orientiert. Die ›schriftliche Überlieferung‹ innerhalb einer Gedächtnistradi­ tion wird so mit dem Gesprochenen assoziiert. Wie im Gespräch könne in der Lektüre die Reduktion bzw. Entfremdung aufgehoben werden, die der schriftlich über­lieferte Text dem in ihm Gesagten zufügt. Die Übersetzung gilt als ein ab­schreckendes Muster solcher rationaler, schriftlicher »Überhellung«.398 Gadamer formuliert seine Über­ legung: »So ist fixierten Texten gegenüber die eigentliche hermeneutische Aufgabe gestellt. Schriftlichkeit ist Selbstentfremdung. Ihre Überwindung, das Lesen des Textes, ist also die höchste Aufgabe des Verstehens. Selbst den reinen Zeichen­ bestand einer Inschrift etwa vermag man nur richtig zu sehen und zu artikulieren, wenn man den Text in Sprache zurückzuverwandeln vermag. Solche Rückverwand­ lung in Sprache […] stellt aber immer zugleich ein Verhältnis zum Gemeinten, zu der Sache her, von der da die Rede ist. Hier bewegt sich der Vorgang des Verstehens ganz in der Sinnsphäre, die durch die sprachliche Überlieferung vermittelt wird.«399 Die ›Sinnsphäre‹ steht jenseits des Werks. Innerhalb der Sinnsphäre kommt es – in der Interpretation – zur Verschmelzung des Gegenstands mit dem jeweiligen Betrachter. Die Grundlage der Verschmelzung (analog zum Gespräch) gewähre letztlich eine Bil­ dungstradition, noch genauer: die in der Bildungstradition vermittelten Werte, die Werk und Leser teilen. Im Gedanken einer normativen Übereinstimmung, die von einer prägnanten schriftlichen Subjektivität eines Werks nicht gestört wird, liegt Gadamers Erfolg begründet. Für ihn besteht die Aufgabe der Hermeneutik darin, die Subjektivität der Werke als sekundär zu behandeln bzw. zu brechen (etwa in seinen Interpretationen von Rilkes Gedichten) und den »Wandel der Verhältnisse«400 für stets neue interpretative Aktualisierungen des normativen Gehalts der Tradition ver­ antwortlich zu machen.



Szondis experimentelle Auslegung Schleiermachers 

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Szondis experimentelle Auslegung Schleiermachers Im Angesicht der seinerzeit allmächtigen philosophischen Hermeneutik verteidigt Peter Szondi (1929–1971), bis heute eine Leitfigur der Literaturwissenschaften, die philologischen ›Wissenschaften‹, um die Partikularität der Werke zu behaupten. Der Einfluß der Szientifizierung in den 1960er Jahren auf Szondis Denken ist dabei nicht zu übersehen. Die Rivalität von Kompetenz und Theorie prägt daher Szondis Schrif­ ten unübersehbar. Einerseits orientiert er sich an Schleiermachers Hermeneutik und dessen Maxime der Notwendigkeit, die er zitiert.401 Das Verstehen sei an den Zwang gebunden, in dem das Individuelle entstanden sei. Diesen Zwang schaffe ein kom­ positorischer Wille, der sich innerhalb des mit der Sprache verbundenen Denkens geltend macht. »Aber selbst in der späten Akademierede [Schleiermachers] impli­ ziert die Wendung von dem ›ursprünglichen psychischen Prozeß der Erzeugung und Verknüpfung von Gedanken und Bildern‹, Gegenstand der psychologischen Aus­ legung, das objektive Moment der Sprache als Medium dieser Erzeugung und Ver­ knüpfung.«402 Doch Szondi erkennt, daß weder die Grammatik noch der freie Fluß der Gedanken jenen Zwang aus sich hervorbringen. Das Konzept der Subjektivität, als Sinneingriff des Subjekts gegen das Überkommene, sei es technisch oder psycholo­ gisch, meidet Szondi gleichwohl. Auf der Suche nach möglichen Instanzen, die inner­ halb der Sprache die Subjektivität erklären, experimentiert Szondi theoretisch. Seine ›Celan-Studien‹ geben drei Theorien jeweils eine Chance: der Kritischen Theorie und ihrer Vorstellung, daß sich die Geschichte jeweils in Form niederschlägt (›Poetry of Constancy – Poetik der Beständigkeit‹); dem Dekonstruktivismus, indem Szondi die Textualität in ihrem Fortgang, d. i. die Funktionen einzelner Stellen für die folgen­ den rekonstruiert (wie im Gedicht ›Engführung‹); der (philologischen) Biographie, indem er von den ›Realia‹ ausgeht (wie in der Interpretation von Celans Gedicht ›Du liegst im großen Gelausche‹), doch den Aufsatz an der Stelle abbricht, wo er zu Celans Benutzung der Realia im Gedicht kommen möchte. Die Vernichtung der Juden und die Treue der Erinnerung sind in allen diesen Interpretationen diskret, in der Form der Essays, gegenwärtig.403 Das Ganze Schleiermachers (Sprache und Denken) und das Besondere eines Gedichts bleiben weiterhin ohne Vermittlung, da Szondi die phi­ lologischen Wissenschaften (qua Theorien) nicht weiter cyklisiert. Die Notwendig­ keit, von der Szondi spricht, ist nicht auf ein Werk bezogen, das diese Cyklisation in der Lektüre fordern könnte. Die Interpretation kommt mehrfach, je nach Experiment unterschiedlich, zum Stillstand. Allerdings markiert der mehrfache Stillstand das Defizit, so daß jenes philologisch-hermeneutische Paradox innerhalb der Theorie­ experimente als Wunsch präsent bleibt, der sich in Szondis Stil des wissenschaft­ lichen Essays Erfüllung sucht.

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 Positionen auf dem Weg zu einer kritischen Hermeneutik

Bollack und die insistierende Lektüre Der entscheidende Schritt des Gräzisten und Übersetzers Jean Bollack404 (1923–2012), der die deutsche Tradition der Philologie in Basel bei Peter von der Mühll kennen­ lernte und dann seit 1945 in Frankreich – in der Gravitation auch der ›French Theory‹ – durchzusetzen versuchte, besteht darin, die Syntax, also die konkrete Anwendung der Grammatik, in den Mittelpunkt zu stellen. Bollack nutzt damit eine philologi­ sche ›Wissenschaft‹ des Verstehens, um die Notwendigkeit innerhalb eines Werks zu konstruieren bzw. als Argumentation zu fassen: »Man entgeht der Syntax nicht. Sicherlich kann man zufällig das Richtige treffen, indem man sie nicht beachtet, doch dann gibt es keine stimmige Argumentation, die den Sinn legitimiert.«405 Die ›Syntax‹ gewinnt weiterhin (in einer Cyklisation des Begriffs) in Bollacks Denken eine umfas­ sende Bedeutung. Das Wort bezieht insgesamt die ›Logik des Produziertseins‹ eines Werkes ein:406 Der Gedanke einer ›Logik des Produziertseins‹ stammt von Theodor W. Adorno und war ursprünglich auf Paul Valéry gemünzt; Szondi griff den Gedanken in dem Sinn auf, daß ein Werk im Umschlag der Voraussetzungen entstanden sei,407 etwa in seinem Buch über die ›Theorie des modernen Dramas‹.408 Bollack bestimmt die ›Syntax‹ – in einer Uminterpretation von Adornos Formel – als die zwingenden Verhältnisse im Werk selbst, die auch die Kompositionsgesetze einbeziehen. In der Syntax wird die Notwendigkeit greifbar, kraft derer sich eine Subjektivität konstitu­ iert, ohne daß Bollack auf eine Literaturtheorie zurückgreifen muß. Die Syntax erschließt nicht direkt den Sinn des Kunstwerks. Bollack führt daher als sein methodisches Ideal die ›insistierende Lektüre‹ ein. Das Insistieren setzt eine Unabschließbarkeit voraus. Unabschließbar ist diese Lektüre in einem doppel­ ten Sinn: Zum einen (a) aufgrund des in schwierigen Texten schwer zu fassenden Sinns. Hier besitzt die Lektüre eine Orientierung in der Vernunft des Werks, die mit den Eingriffen des Subjekts gegeben ist, weil diesen nachvollziehbare Entscheidun­ gen zugrunde liegen (ich verweise auf die Formel von der ›scriptura sui ipsius inter­ pres‹, die ich zu Beginn des Buchs erläuterte). Eine Hermeneutik, die von einem Werk ausgeht, das die Voraussetzungen des Verstehens selbst schafft, kann den Titel einer ›kritischen literarischen Hermeneutik‹ beanspruchen. Der marxistische Begriff der Kritik wird hier subsumiert. Denn zum anderen schließt Bollack im Namen des Insi­ stierens (b) an Schlegels Konzept einer Verbesserung der methodischen Vermögen an. Die Polemik, die zur Grundausstattung der Philologen seit jeher gehört, nimmt bei Bollack – in der philosophischen Reflexion seiner selbst – die Gestalt der Ideo­ logiekritik an. Die Überlieferungs- und Interpretationsgeschichte der antiken Tragö­ die etwa sei voller Korruption, der auf die Spur zu kommen bedeutet, den Weg der Tradition freizuräumen und den Blick auf das Werk zu öffnen. Die Historizität der Erkenntnis, die Gadamer zum Vorzug des Verstehens adelt, sei zu überwinden durch eine ›Erkenntnis des Unerkannten‹. Denkt man über das systematische Verhältnis von wissenschaftshistorischer Kritik und Verstehen nach, so erkennt man, daß bei Bollack ein direkter Weg von der Interpretation anderer zur eigenen Interpretation



Bollack und die insistierende Lektüre 

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nur ex negativo existiert, nämlich in der Anspannung aller polemischen Kräfte. Im Grunde lehrt die Beobachtung von Bollacks Produktivität, daß die Polemik (die sich gegen die Wissenschaft, aber auch geistesgegenwärtig auf heutige Debatten bezieht) der anhaltenden, eben: insistierenden Verfeinerung des Lektüre-Organs dient. Bol­ lacks ideologiekritischer Ansatz ist ein Weg, über sich selbst Klarheit zu gewinnen, er gehört zur Theorie der eigenen Praxis. Man wird die Fehler der anderen nicht mehr begehen. Als erster stellt sich Bollack in Bezug auf die (mit der Syntax gewähr­leistete) Notwendigkeit von Werken dem Paradox der Philologie, unabschließbar sich dem Sinn der Werke zu nähern.

8 P  eter Szondis Ethik des wissenschaftlichen Essays409 Peter Szondi hat immer wieder prägnante Zitate aus seinen Lektüren aufgeschrieben. Darunter auch den Satz von Schiller in einem Brief an Goethe: »denn leider wissen wir nur das, was wir scheiden.«410 Das Unterscheiden war Szondi wichtig, er hat daher auch seinen ›Hölderlin-Studien‹ den Satz Hölderlins »Unterschiedenes ist / gut.«411 vorangestellt. Das Unterscheiden war für ihn die Möglichkeit, seine Gegenstände zu verstehen. Zugleich wählte er Gegenstände, die das Unterscheiden selbst prakti­ zierten. Oder die auf die Bedeutung des Unterscheidens explizit pochten, wie hier etwa Schiller und Hölderlin in ihren Werken. Das Unterscheidungsvermögen Szondis galt in erster Linie den Gattungen und – im Sinn des Unterscheidens – den Verhält­ nissen von Gattungen untereinander. Daher werde ich weniger von der Zugehörig­ keit Szondis zu einer bestimmten (jüdischen) Sprachkultur handeln, sondern vom Gebrauch der Sprache nach Maßgabe jener gelehrten Gattung, die er für sich geschaf­ fen hat, nämlich vom wissenschaftlichen Essay (Szondis ›Sprachkultur‹ wäre dann individuell, und zwar als ein gattungsreflexiver Umgang mit der deutschen Sprache412 zu verstehen). Diese Gattung unterscheidet sich sowohl vom der Literatur zugeneig­ ten Essay als auch vom wissenschaftlichen Traktat,413 und inwiefern sie sich davon unterscheidet, konstituiert Szondis Besonderheit, oder, emphatischer gesagt, seine Subjektivität. Nicht eine spezifische Sprechweise des jüdischen Intellektuellen414 ist mein Anliegen, sondern Szondis Entscheidung innerhalb eines sich ihm in seiner Zeit entgegenstellenden institutionellen Gegensatzes von Literatur und Wissenschaft. Die Ausgestaltung der Gattung, womöglich auch schon die Entscheidung für die Form des wissenschaftlichen Essays, ist dabei an Szondis jüdische Erfahrung gebunden. Die Vorstellung von ›Genauigkeit‹ verändert sich gerade unter dem Einfluß des Freundes Paul Celan. Von der Ethik der wissenschaftlichen Essays Szondis spreche ich, weil Szondi die Genauigkeit seiner Betrachtungen an eine bestimmte Art von Menschlich­ keit bzw. Rationalität bindet, die sich im wissenschaftlichen Essay durchsetzen soll und die in der Treue Szondis zu Juden und deren Schwierigkeiten den Prüfstein hat. Im folgenden möchte ich zunächst diese Zusammenhänge, die ich entwickeln werde, in einer Art Resümee vorab zuspitzen und dann in der Skizze des Gangs von Szondis Leben und Werk nochmals spiegeln. Im Hauptteil des Kapitels gehe ich auf die einzelnen Faktoren, die den Zusammenhang von Subjektivität und wissenschaft­ licher Erkenntnis bestimmen, genauer ein, namentlich auf Szondis literarische Kon­ stitution seines Selbst, auf die Anstrengungen Szondis, seinen kraft einer literarisch geprägten Subjektivität möglichen Einsichten in der Gattung des wissenschaftlichen Essays eine Gültigkeit zu verleihen und schließlich auf die in der Polemik sichtbare Ethik seiner Essays. Die Polemik, die Szondi beherrscht, ist die Rückseite seiner Wis­ senschaft – sie gilt jenen, die seine solcherart bekräftigten Ansprüche zu vernebeln trachten.

Subjektivität 

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Subjektivität Die Subjektivität eines Menschen konstituiert sich in der Stellungnahme, die zur Unterscheidung führt. Wenn ich Peter Szondis wissenschaftlichen Essay mit dem Judentum, das ihm selbstverständlich war, in Verbindung bringe, so habe ich es mit Stellungnahmen Szondis zu tun. Die Frage, die ich stellen möchte, lautet: Hängen diese Stellungnahmen miteinander zusammen? Zweierlei läßt sich sogleich sagen. Erstens: Die Wahl des Essays als Gattung ist im deutschen Wissenschaftsverständ­ nis prekär, und der wissenschaftliche Essay, den Szondi für sich erfindet, macht die Sache kaum besser. Szondi unterscheidet sich also. Zweitens: Die jüdische Erfahrung Szondis enthält schon eine Stellungnahme. Jean Bollack brachte sie in seiner Rede am Grab Szondis, der sich am 18. 10. 1971 das Leben genommen hatte, zum Ausdruck: »Das Schicksal, das so viele traf [also die Ermordung der europäischen Juden], blieb ihm erspart. Hat es ihn wirklich verschont – ihn, den eine mirakulöse Gunst noch mehr von seinesgleichen trennte und ihm das Erbe eines doppelten Unrechts vermachte, die Verfolgung und die Bevorzugung [durch die Rettung aus dem Lager]. Das Lager von Bergen-Belsen hielt ihn nur wenige Wochen lang gefangen, aber es hat ihm das unaussprechliche, jeder Mitteilung unzugängliche Grauen anders erleben lassen. Er war fünfzehn Jahre alt.«415 Die Treue zu dieser Erfahrung, d. h. die Erinnerung an den Lageraufenthalt und die als Schuld empfundene Befreiung (auf die Gershom Scholem hinwies), fand in der unerbittlichen Rationalität, nach der Szondi sein Leben einrichtete, den Rückhalt (ich gebe dafür gleich noch Beispiele). Genauigkeit war der Maßstab in allem. Die Genauigkeit, das heißt für Szondi die ständige Entzweiung des Selbstverständlichen, wurde ihm, wenn überhaupt etwas, zur Heimat. Sie verteidigte er polemisch. In dieser spezifischen Form der Genauigkeit verstand er sich als Jude. Für Ernst Bloch notierte Szondi 1966 den Witz: »Sie kennen sicher die Geschichte vom schiffbrüchigen Juden, der sich auf der öden Insel zwei Synagogen baut, weil er in die eine nicht gehen will.«416 Szondis Stellungnahme zum Judentum bzw. zu den geläufigen Vorstellungen eines Judentums entwickelte sich unter dem Druck Celans, der Anfang der 1960er Jahre, in der Goll-Affäre, forderte, Szondi solle sich nicht auf eine philologische Dia­ lektik (nach der Frage: Wer war zuerst?) beschränken. Statt dessen gelte es, die Indivi­ dualität einer poetischen Äußerung zu formulieren. Methodisch gesprochen forderte Celan von Szondi den Übergang von einer geschichtsphilosophischen zu einer kri­ tisch-hermeneutischen Betrachtung: 1970 wird Szondi Celan seine Abhandlung über ›Schleiermachers Hermeneutik heute‹ widmen.417 Leitbild war in den Briefen Celans an Szondi der Gedanke, daß der Jude ein »Name«418, also eine individuelle Bezeich­ nung und insofern – gegen die Sprache der Mörder – »eine Gestalt des Mensch­ lichen«419 sei (schon in der ersten Proseminararbeit über den Résistanceschriftsteller Vercors 1947, in dessen Werk vor dem Hintergrund eines ungebrochenen Patriotismus für Frankreich die Möglichkeiten jüdischen Lebens nach den Konzentrationslagern erprobt wurden, wandte sich Szondi – im Namen der Menschlichkeit, an der auch die

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Deutschen Anteil haben sollten – gegen Vercors’ Patriotismus420). In seinen ›CelanStudien‹ beginnt Szondi, Celans poetische Refaktion der deutschen Sprache nach ihrer Korruption in der NS-Zeit nachzuvollziehen, als eine Verschränkung von Würdi­ gung der Partikularität und Ent-Nationalisierung.421 Mit der Form der Entzweiung gewann Szondi eine Freiheit und Souveränität auch gegenüber der Universität, die in der akademischen Welt neu und unerhört war, gerade auch für einen Juden in der Nachkriegszeit. Bereits die Geschichte der jüdischen Gelehrten in den Philologien zwischen 1871 und 1933 zeigt, daß diese in ihrer durch den akademischen Antisemitismus bedingten institutionellen Schwäche vor den Paradoxa ihrer Wissenschaft zurückwichen, anstatt sie progressiv zu nutzen. Darin liegt meines Erachtens ein großer Unterschied zur Lage in den Naturwissen­ schaften, wo die – meist auch räumliche – Randstellung die Innovation begünstigte.422 Szondi jedoch machte, in genauem Bezug auf philologische Widersprüche, Gebrauch von seiner Subjektivität. Das schlägt sich in seinem Wissenschaftsstil nieder. Noch­ mals: Die Gattung des wissenschaftlichen Essays zeugt mehr als eine ›Sprachkultur von Juden‹ von Szondis jüdischer Erfahrung.

Außerhalb der Institution Wie angekündigt, möchte ich diese These in einer knappen biographischen Skizze nochmals spiegeln und schon etwas konkretisieren. Ins Zentrum rücke ich die Posi­ tion Szondis außerhalb der Universität. Peter Szondi ist eine Leitfigur der Literatur­ wissenschaft bis heute. Er wird 1929 in Budapest als Sohn des Psychiaters Leopold Szondi, des Begründers der sogenannten ›Schicksalsanalyse‹, geboren. Die Familie entkommt der Ermordung der ungarischen Juden durch die Nationalsozialisten nur knapp. Der Vater, die Mutter Lili, die Schwester Vera und Peter gehören zur Gruppe der von Rudolf Kasztner freigekauften 1684 ungarischen Juden.423 Aus Budapest und dann aus dem Lager Bergen-Belsen, wo die Gruppe sechs Monate in Ungewißheit warten mußte, werden die Szondis im Dezember 1944 in die Schweiz gerettet. Peter Szondi »vervollkommnet seine Deutschkenntnisse« (wie er selbst in seinem ersten CV schreibt)424 und maturiert 1948 an der Kantonsschule Trogen. Ivan Nagel und Szondi, die schon in Budapest eng befreundet waren und sich 1948 in Zürich wieder treffen, beschließen 1951, als Nagel zum Studium nach Heidelberg geht, einander auf Deutsch zu schreiben, da ihnen im Ungarischen die nötige philosophische und literarische Begrifflichkeit fehle. Das Deutsche wird für Szondi zur Sprache der Reflexion und, weil die Rationalität alles bestimmt, zur Sprache des Lebens und der wissenschaft­ lichen Arbeit, das Französische tritt später als Sprache unter Freunden hinzu, die die Reflexivität schon voraussetzen425 und insofern eine andere Freiheit des Redens ermöglichen – so lassen sich in der Nachkriegszeit Funktionen innerhalb der von Stephan Braese konstatierten Mehrsprachigkeit von Juden426 unterscheiden. Bis 1954 studiert Szondi an der Universität Zürich bei Emil Staiger, bei dem oxfordianisch-



Außerhalb der Institution 

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christlich engagierten Romanisten Theophil Spoerri, bei Max Wehrli, bei dem NS-kri­ tischen Philosophen Hans Barth, aber auch bei Paul Hindemith. Er liest drei Bücher, die ihn prägen werden: Adornos ›Philosophie der neuen Musik‹, Lukács’ ›Die Theorie des Romans‹ und Walter Benjamins ›Ursprung des deutschen Trauerspiels‹; gegen die Philosophie Martin Heideggers, die von Staiger in Zürich propagiert wird, wendet er sich entschieden, das Seinsdenken gilt ihm als unmenschlich. Die Dissertation bei Staiger über die ›Theorie des modernen Dramas‹ macht ihn berühmt; die Taschen­ buchausgabe steht 2010 in der 27. Auflage.427 1961 habilitiert er sich, mit Walther Killy und Wilhelm Emrich als Gutachter, mit dem Buch ›Versuch über das Tragische‹ an der Freien Universität Berlin. Auch wenn Szondi bald darauf an die FU berufen wird (1965) und dort ein eigenes Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft gründen kann, so verfängt der auf eine Karriere schauende Blick nicht. Das intellektuelle Zentrum Szondis und das Zentrum seiner Forschung liegen außerhalb der Universität. Das zeigt allein schon die Korrespondenz mit seinen Freunden Paul Celan und Jean und Mayotte Bollack, mit Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. Szondi zögert zunächst, in den institutionellen Raum der Wissenschaft einzutreten, denn er hat bewußt ein ›Außen‹ gewählt und in seiner Person eingerichtet. Die Literatur ist in diesem Prozeß das Modell, weil sie vormacht, wie der Mensch »seine Form finden« kann. Diesen von Kierkegaard und Rudolf Kassners Physiognomik herrührenden Gedanken mag Szondi in Zürich von seinem Lehrer Spoerri gehört haben, der 1938 ein Buch über ›Die Formwerdung des Menschen‹ veröffentlichte.428 Auch das eigene Judentum wird, wie wir gesehen haben, von dieser Formgebung erfaßt. Das ›Außen‹ ist auch gegenüber dem Judentum eingerichtet. Es soll auch hier keine Abhängigkeit oder eine einsinnige ›Heimat‹ geben. Szondis Einsamkeit war allen, die ihm begegneten, handgreiflich. Szondi objektiviert und reformuliert das Judentum, das ihm selbstverständlich ist, als Gestalt des in der zwiespältigen Ratio­ nalität möglichen Menschlichen. Wenn auch die Erfahrung der jüdischen Exklusion Szondi zur Objektivierung seines Selbst in mancher Hinsicht disponiert hat, unter­ zieht er doch das Judentum der ihm so vertrauten analytischen Entzweiung. Szondi charakterisiert im Jahr 1970 Scholem gegenüber, als es Bemühungen gab, ihn an die Hebräische Universität in Jerusalem zu berufen, die Absage an ein ›Judentum‹ als Heimat;429 Er kennzeichnet sich ein Jahr zuvor, am 3. 5. 1969 in einem Brief an Scholem, als »self displaced person«430. Man kann aus Szondi allenfalls in diesem Sinn einen Juden konstruieren, nicht jedoch, denkt man an seine Sprachentscheidun­ gen, einen ungarischen Juden, und auch nicht leicht einen jüdischen Gelehrten, denn seine Entscheidungen sind, unterschiedlich je nach historischer Situation, zunächst wissenschaftssystematisch gebunden, auch und gerade wenn sie sich gegen die Uni­ versität richten. Freilich prägt Szondis Integration von Ethik, Stil und Wissenschaft diese Kritik. Man soll auch bedenken, daß das Judentum nicht die einzige Ausschluß­ erfahrung ist. Szondi hat früh schon die Erfahrung einer Abwehr gemacht, die gerade »den vom Schicksal Begünstigen, den Besten zuteil wird«431. Und Szondi war mit dem

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eigenen Tod lebenslang vertraut, so daß sich der Tod, in dessen Nachbarschaft er lebte, schließlich seines Willens bemächtigen konnte. Es war womöglich eine Todes­ nähe abseits der Lagererfahrung. Die alles bestimmende Formgebung im ›Außen‹ zeigt sich in Szondis aristokra­ tischer Reserve, seiner Diskretion, ein locus classicus bei Freunden und Schülern. Von einem artistisch-literarischen Leben geht er auf die Universität zu. Als Walther Killy ihn im Jahr 1964 auf eine ordentliche Professur nach Göttingen berufen will, schreibt Szondi: »Sie wissen genau, dass ich auf ein germanistisches Ordinariat zu verzichten gedenke, weil ich aus verschiedenen Gründen, die zum Teil imaginär sein mögen, nicht bereit bin, diese [institutionellen] Pflichten zu übernehmen. […] Sie wissen, dass ich zu meinem Unheil – und das hat Sie und Ihre Frau, bei Kleinigkei­ ten, oft genug irritiert – von nichts so überzeugt bin wie davon, dass mir in dieser Welt nichts zukommt.«432 Das Demonstrativum ist wohl mit Absicht ambivalent und schützt den Sprecher: es kann auf die Universität, aber auch – dahinter – auf die Welt, auf beider Antisemitismus, und auf das Leben insgesamt bezogen sein. Wenn Szondi dann doch in die Universität eintritt, nimmt er ihre Prinzipien besonders ernst (er hat gewissermaßen ausdrücklich einen Vertrag geschlossen) und er verteidigt die Insti­ tution gegen ihre Vertreter. Die Routinierteren dort haben ihm das Engagement als Unfreiheit (und Dummheit) ausgelegt,433 doch achteten sie sein Instrument in diesem Streit, den wissenschaftlichen Essay. Freilich bestand der Preis, den Szondi für die Anerkennung, auch für die Aner­ kennung seines ungewöhnlichen Forschungsstils, zahlen mußte, darin, an der Universität von seinem Judentum nicht zu sprechen. Man wußte davon (Bernhard Böschenstein berichtete Szondi schon am 5. 2. 1959: »Ja, ein jüdischer Dozent wird an der hiesigen Universität gern gesehen und würde dem Geist, der bei der Gründung für richtunggebend betrachtet wurde, dienen.«434), doch betonen die damaligen deut­ schen Kollegen bis heute die Strenge, mit der Szondi sein Judentum den Deutschen gegenüber verschwieg und sehen darin Szondis Leistung.435 Tragisch im Sinn Szondis war, daß das Geforderte mit dem zusammenfiel, wozu Szondi von seinem Daimon getrieben wurde.

Das literarische Selbst Die Subjektivität, von der Szondi ausgeht, ist in der Literatur begründet. Für die Auswahl aus Valérys Reflexionen, die er 1959 unter dem Titel ›Windstriche‹ mit Freun­ den übersetzte und herausgab, wählte er nicht zuletzt den Aphorismus »La syntaxe est une faculté de l’âme«436. Der Gedanke, die Syntax sei ein Vermögen der Seele, trifft seine Person im Kern. Freilich geht es hier zunächst um Valéry und dessen Über­ legung, die Seele könne sich dichterisch ausdrücken, weil ihr die Strenge der Syntax eigen sei. Mit anderen Worten: in der Seele könnten die Verhältnisse herrschen, die die Syntax in der künstlerischen ›Welt‹ herstellt. Es sind nicht irgendwelche Verhält­



Das literarische Selbst 

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nisse. Szondi betont mit Valéry die Syntax und damit die Abfolge der Wörter im Satz, vor allem das Verhältnis von Subjekt und Objekt – eine Erkenntnissituation also. Indem Szondi diesen Aphorismus wählt und anerkennt, bezeugt er seine Begabung, ihn anzuerkennen. Damit verbindet er Valéry, um den es zunächst geht, mit seiner eigenen Erkenntniskraft, d. h. weil er in sich selbst solche Verhältnisse einrichtet, vermag er literarische Sätze und Werke wie die von Valéry zu erkennen. Beim Einrich­ ten solcher syntaktischer Verhältnisse ist die Literatur der Meister. Szondi macht es sich zur Gewohnheit, seine Sinne in der Betrachtung seiner selbst im Gegenstand zu schärfen. Gert Mattenklott hat mit gutem Recht von den »formgestauten Energien«437 Szondis gesprochen. Schließlich kann er sich selbst im Gegenstand zu verstehen geben, ohne ausdrücklich von sich zu sprechen (darauf werde ich im Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Essay noch zu sprechen kommen). Wann immer Szondi in seinen Lektüren Stellen ›treffen‹, im doppelten Sinn des Wortes von charakterisieren und verletzen, hält er sie auf einem Blatt fest, das ihm gerade zur Hand ist. Im Nachlaß haben sich Dutzende solcher Zettel erhalten. Die Zitate folgen in der Regel einer reflexiven Bewegung und stammen oftmals aus der französischen Literatur. Sie sind ein Teil von Szondis Leben. Zwei besonders spre­ chende Beispiele haben wir schon kennengelernt (Schiller, Valéry), ich möchte noch einige weitere nennen. Die Aphorismen handeln von einem Leben in der Sekundari­ tät, von der Erkenntniskraft einer (einseitigen, quasi artistischen) Zuspitzung, vom Tod, von der Untätigkeit, von der Erinnerung, vom Witz: Die Verbindung von Kunst und Leben: »[…] Mais voici l’immense difficulté. Elle est de combiner ce son juste de l’âme avec l’artifice de l’art. Il faut énormément d’art pour être véritablement soi-même et simple. Mais l’art tout seul ne saurait suffire.« (Valéry, von Jules Supervielle zitiert)438. Vom abgeleiteten Leben in der Tradition: »Eine herrliche Erscheinung ists wenn die römische Kraft mit der hellenischen Kunst bis zur Verschmelzung Eins wird. So bildete Propertius eine große Natur durch die gelehrteste Kunst; der Strom inniger Liebe quoll mächtig aus seiner treuen Brust. Er darf uns über den Verlust hellenischer Elegiker trösten, wie Lucretius über den des Empedokles.« (Schlegel, ›Gespräch über die Poesie‹)439. Das Lebensglück und die Schönheit: »La beauté n’est que la promesse du bonheur.« (Stendhal, ›De l’amour‹)440. Die Absurdität des der Kunst zugewandten Lebens: »En somme, tout ce qui vaut dans la vie est essentiellement bref. […] C’est professionnel. Vous savez bien que je travaille dans l’absurde.« (Valéry, ›L’Idée fixe‹)441. Die Produktivität eines ›unnatürlich‹, schwachsinnig zugespitzten Lebens – und die hierfür nötige Wissenschaft: »ein Schwachsinniger ist nicht eben der schlechteste Beobachter: die fixe Idee kann den Spürsinn bis zu einem hohen Grade entwickeln. Wer durch Neugier zum Beobachter wird, sieht viel: der Beobachter, den ein wissen­ schaftliches Interesse treibt, wird Achtungswertes leisten; wenn der Kummer beob­ achtet, entdeckt er manches, was andere nicht sehen: am meisten aber sieht vielleicht

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ein schwachsinniger Beobachter. Er beobachtet schärfer (wie die Sinne gewisser Tiere schärfer sind als die der Menschen), und er hat mehr Ausdauer. Nur müssen seine Beobachtungen (das versteht sich von selbst) immer erst verifiziert werden.« (Kierke­ gaard, ›Stadien auf dem Lebensweg‹)442. Die Einsamkeit und Todesnähe dieses Lebens; zweimal aus Flaubert: »[…] Mais tout cela n’est pas [fait] pour nous. Nous sommes faits pour le sentir, pour le dire et non pour l’avoir.« (Flaubert, Correspondances, parlant des églises italiennes) / »Il [Frédéric Moreau] rêvait à toutes les paroles qu’on lui avait dites, au timbre de sa voix, à la lumière des ses yeux, – et, / se considérant comme un homme mort, il ne faisait plus rien, absolument.« (Flaubert, L’éducation sentimentale)443. Den Absatz vor »se considérant« hat Szondi selbst eingefügt, wohl um den Übergang vom Leben in der Literatur (dem Gesagten) zur Totenähnlichkeit hervorzuheben. Zur Gegenwehr erfindet Szondi selbst Aphorismen, etwa diesen über den Witz: »Heidegger ist der Erfinder des Wortspiels, bei dem man nicht lachen darf.«444 Szondi hat seinen »Existenzpunkt« (ein von Szondi aufgegriffenes Wort von Valéry)445 nach außen verlegt und sucht im ästhetischen Gegenstand nach Entspre­ chungen. Von diesem Punkt her gestaltet er insgesamt sein Leben, das kein ›natürli­ ches‹ sein kann – als hätte er sich dafür entschieden wie Flaubert für seine ›Nerven­ attacke‹ in Pont l’Evêque, die Sartre in den Mittelpunkt seiner großen Studie ›L’idiot de la famille‹ stellt. Vieles läßt Szondi so aus (er wird für keinen seiner Autoren ein Spezialist, wie es etwa Böschenstein für Hölderlin oder Ulrich Fülleborn für Rilke ist): »die Reflexion [ist] die Kehrseite der Blindheit«446, schreibt er, doch ist er sich des Witzes, den er damit in Händen hält, freudig gewärtig.

Hermeneutik und wissenschaftlicher Essay Statt also ein Inneres zu verbergen, bildet Szondi eine Objektivität aus, die das Selbst ist – in der Gewißheit, auf diese Weise besser sehen zu können. Doch welche wissen­ schaftliche Validität besitzen die Einsichten eines solcherart geformten Selbst tat­ sächlich? Insofern das Selbst im Essay seinen Ausdruck findet, läßt sich die Frage auch als Frage nach dem Unterschied zwischen Essay und wissenschaftlichem Essay stellen. Heinz Schlaffer gibt im ›Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft‹ sub voce ›Essay‹ folgende Definition: Der Essay sei eine »Prosaform, in der ein Autor seine reflektierte Erfahrung in freiem, verständlichem Stil mitteilt.«447 Davon läßt sich auch für Szondi ausgehen. Die Ingredienzien, die seine wissenschaftlichen Essays konstituieren und deren Besonderheit ausmachen, beziehen sich, indem sie davon abweichen, präzise auf Schlaffers Definition. Zu den Ingredienzien zählen das Mate­ riale, das Notwendige und das Partikulare. Szondi hat sich diese Charakteristika auf verschiedenen Gebieten erarbeitet. Er wendet erstens Schleiermachers Hermeneutik mit ihrer grammatisch-materialen Seite gegen Gadamers philosophische Hermeneutik.448 Das Materiale ist meist



Hermeneutik und wissenschaftlicher Essay 

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ein prägnantes Zitat, das Szondi wie ein Fragment exploriert und aus dem er seine Darstellung entwickelt; er erblickt in den Sätzen seines literarischen Objekts eine Konzentration, die für ihn die Situation gleichsam dramatisiert. Szondi nutzt vor allem das Genre der Vorlesung, die im Rhythmus von (materialem) Text und Kom­ mentar lebt. Er hat alle seine Vorlesungen sorgfältig ausgearbeitet – sie haben in seinem Œuvre einen zentralen Stellenwert.449 Nicht nur, daß aus ihnen meist seine Aufsätze, Vorträge und Rundfunkbeiträge entstehen – mit ihrer Hilfe hat er vor allem die Universität in das Gebiet literarischer Produktion gestellt. Den Studenten, die kaum folgen konnten, teilte sich der reflexive Anspruch mit, den die Kollegs aus den klug gewählten Fragmenten entfalteten. Zweitens verbindet Szondi im Rückgriff auf die Kunsttheorie der Romantik die ent­ zweiten Gegenstände auf notwendige Weise. Die verzweifelte Struktur des Komischen bei Friedrich Schlegel, der er seinen ersten, im Jahr 1952 geschriebenen wissenschaft­ lichen Essay widmet,450 gibt die Anleitung. Zum Komischen gehört die Entzweiung, die die Reflexion bewerkstelligt. Das Ziel des Komischen bleibe zugleich die Vereini­ gung des Entzweiten, und nur wenn die Entzweiung vorläufig scheint, entgehe man der Verzweiflung. Das ist sehr persönlich gesprochen. Szondi wendet den Gedanken einer in der Reflexion aufzuhebenden Entzweiung später auf die dem Werk einge­ schriebene Notwendigkeit, nach der das Werk sich fortentwickelt. Mit einer Formel Adornos spricht Szondi von der ›Logik des Produziertseins‹451. Die Art und Weise, in der die Reflexion jener ›Verzweiflung‹ der Dissoziation zu entgehen sucht, konstitu­ iert jeweils die Individualität eines Werks. So soll sich drittens innerhalb der Logik bzw. Notwendigkeit die Individualität des Werks oder – anders gesprochen – das Werk als partikulares Subjekt behaupten. Den Rahmen gibt die auf dem Marxismus beruhende Kritische Theorie Adornos, den Szondi als seinen eigentlichen Lehrer verehrt.452 Szondi wendet Adornos Subjektdia­ lektik auf das Werk und die Gattungsgeschichte an. Wie kann in der angestrebten Eng­ führung, die in der Entzweiung vorgegeben ist, ein neuer Zwang vermieden werden? Wie läßt sich der Traum vom Individuellen, die »apriorität des individuellen« (wie Szondi Hölderlin zitiert453) verwirklichen? Zwei Antworten gibt Szondi: Zum einen hebt er das einzelne Gedicht hervor. Indem es sich gegen die Vorstufen entscheide, gebe es dem ›unterschiedenen‹ Subjekt einen klaren Ausdruck. Das ist die Aufgabe der ›Hölderlin-Studien‹ (1967). Adorno hat seinerseits mit Bedacht seinen HölderlinAufsatz ›Parataxis‹ Szondi gewidmet,454 denn er meint mit ›Parataxis‹ die Entfesse­ lung des Worts, als des Individuellen, aus der Hierarchie eines Gedankens und der Vorurteile. Und – zum anderen – auf die Gattungsgeschichte gemünzt bedeutete das für Szondi den Vorrang des Gedichts vor allen anderen Gattungen in der Moderne. Szondi weiß die Gebiete auseinanderzuhalten und bezieht sie aufeinander. Daß er das bewußt tut, gibt seinem ganzen Werk den Rückhalt. Das Materiale, Notwendige und Partikulare steht in einem präzisen Verhältnis zu Schlaffers Definition, sobald man das Adjektiv ›wissenschaftlich‹ einfügt. Ich zitiere also nochmals Schlaffer und füge das Adjektiv ein und prüfe, was man daraufhin sonst noch zu verändern hat:

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Der Essay sei eine »Prosaform, in der ein Autor seine [wissenschaftlich] reflektierte Erfahrung in freiem, verständlichem Stil mitteilt.« Beansprucht man die Wissen­ schaftlichkeit, gilt es, die eigene Erfahrung im Gegenstand zu reflektieren, und um diese gegenständliche Reflexion mit einem Wahrheitsanspruch zu versehen, kann der Stil nicht ›frei‹ sein, sondern er muß gebunden, d. h. material und notwendig, besser: innerhalb des (Zitaten-)Materials mit einer Notwendigkeit versehen sein. Für die ›erfahrungsgesättigte‹455 Reflexion kommt, in der Philologie als »Zwangswissen­ schaft«456, der strengen Gestaltung des Subjekts eine herausragende Rolle zu. Diese Gestaltung ermöglicht die im wissenschaftlichen Essay entfaltete gegenständliche Notwendigkeit, ohne jedoch zu erkennen zu geben, daß in der Vermittlung über den Gegenstand die eigene Sache verhandelt wird. Szondi verschweigt, daß er von sich ausgeht und von sich spricht. Allein, in der artistischen Form, die er seiner Erfah­ rung gegeben hat, liegt die Voraussetzung seiner Essays, die somit zwar nicht vom Subjekt des Interpreten sprechen, wohl aber indirekt auf ihn zeigen. Für Szondi gilt nicht mehr die Diagnose, die Schlaffer in seinem brillanten Artikel gibt: »Der Essay ist in der deutschen Kultur nie zu einer Selbstverständlichkeit geworden: dem stand das doppelte Ideal strenger Wissenschaftlichkeit und autonomer Dichtung im Wege.«457 Szondi überwindet diesen kulturgeschichtlichen Gegensatz im Einsatz seiner Person. Szondis Wahl der Hermeneutik als Methode ist nun selbst kein Zufall mehr, und die Widmung an Paul Celan von Szondis großem methodischen Statement über Schleier­macher458 läßt sich nachvollziehen. Die kritische Hermeneutik, wie sie von Schlegel und Schleiermacher begründet und von Szondi wieder aufgenommen wurde, ist nicht zu verwechseln mit Gadamers philosophischer Hermeneutik.459 Die Hermeneutik ist zuallererst eine transzendentalphilosophische Reflexion und sucht die Möglichkeitsbedingungen der philo­logischen Praxis zu erkunden. Insofern sie von der Praxis ausgeht, läßt sie sich von der Erfahrung leiten, der sie sich reflexiv zuwendet, um in der Reflexion das Verstehen zu kontrollieren. In diesem Sinn ist die Hermeneutik eine Theorie philologischer Praxis. Szondis Entscheidung, von einer geformten Subjektivität auszugehen, stellt einen neuen Weg dar, zu einer wissen­ schaftlichen Begründung der Hermeneutik zu gelangen. Dieser Weg ist – gegenüber Schlegel etwa – gänzlich originell, da Schlegel über eine kunstmäßige und zuletzt zur Kunst führende ›Cyklisation‹460 die Validität seiner Lektüren erreichen wollte. Szondis wissenschaftlicher Essay erweist sich als von in Stil umgesetzten herme­ neutischen Prinzipien bestimmt. Die Prinzipien zeigen sich in der Reflexion der Ver­ stehenspraxis. Zu den Prinzipien jener Apperzeption (Kant), die deutlich werden, sobald man die Voraussetzungen der Lektüre prüft, zählt vor allem das Prinzip der Notwendigkeit und das Prinzip der Subjektivität. Szondi hat immer wieder Schleier­ machers Satz zitiert: »Zwei entgegen­gesetzte Maximen beim Verstehen. 1.) Ich ver­ stehe alles bis ich auf einen Widerspruch oder Nonsens stoße. 2.) Ich verstehe nichts was ich nicht als nothwendig einsehe und construiren kann. Das Verstehen nach der letzten Maxime ist eine unendliche Aufgabe.«461 Die Präferenz von Schleiermacher wie auch von Szondi gilt der zweiten Maxime, also dem Prinzip der innerhalb der

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Werke zu konstruierenden Notwendigkeit. Aus der Notwendigkeit folgt die Annahme einer Subjektivität, die im bewußten Eingriff in die zahllosen sprachlichen und gedanklichen Möglichkeiten jene Notwendigkeit schafft. Sobald der Interpret inner­ halb der eigenen Lektürepraxis diese Notwendigkeit nachweisen kann (das ist die Aufgabe von Szondis Stil), kann auf die Legitimierung durch die eigene Erfahrung462 verzichtet werden. Der Stil des wissenschaftlichen Essays beglaubigt dann die Gegen­ standsnähe, ohne die zugrunde­liegende Methodik der Erfahrung bzw. das Subjekt der Erfahrung benennen zu müssen.

Polemik Ich schließe mit dem Beispiel einer Polemik Szondis. Sie hat alle Elemente des wissen­schaftlichen Essays, doch tritt nun dessen Ethik besonders ans Licht, denn die Polemik nährt sich von der Nichterfüllung der mit der Gattung bezweckten Gegen­ standsgenauigkeit. Die Elemente: Notwendigkeit, Materialität und Partikularität treten zusammen, um die Dinge beim Namen zu nennen. Der Zorn soll sich legitimie­ ren, ohne zum Ausdruck zu bringen, daß Szondi von sich selbst spricht. In meinem Beispiel gibt Szondi zu verstehen (wem? Den Seinen?), daß seine eigene Erfahrung im Gegenstand auf dem Spiel steht, doch sagt er es – wie auch sonst – nicht. 1967 sendet der Hessische Rundfunk eine Kritik Szondis unter dem Titel ›Deut­ sche und Juden‹463. Szondi wendet sich darin gegen einen Vortrag des damaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier (1906–1986), den dieser auf einem Brüs­ seler Kongreß gehalten hatte. Im Mittelpunkt des Kongresses stand Scholems Frage, in welcher Sprache Juden und Deutsche heute miteinander reden könnten. Szondi kontrastiert Gerstenmaiers Rede mit Karl Jaspers’ Grußbotschaft an den Kongreß. Ich zitiere ausführlich, und sogleich wird deutlich, daß Szondi das sprachliche Material dialektisch exploriert (weshalb ich zwischen den Zeilen kommentiere): »Eine erste Antwort gibt Jaspers, wenn er mit den Worten einsetzt: ›Der Mas­ senmord an sechs Millionen Juden, vollzogen im Namen des Deutschen Reiches …‹ (p.  109) Diese Worte nennen das Vergangene beim Namen. [Szondi greift Celans Namenskonzept des Jüdischen auf, der Name als Genauigkeit im Dienst des Mensch­ lichen464]. Anders verfährt Eugen Gerstenmaier. ›Nur nichts mehr hören vom ganzen Schwindel, nur nichts mehr sehen vom Grauen des Abgrunds!‹, so dächten viele Deutsche in ihrem ›instinktiven Verdrängungswillen‹ (p. 97). Aber auch er selber findet kaum andere Worte für das Geschehene [Szondi bemängelt die fehlende analy­ tische Entzweiung]: es sei die ›Erscheinung des wahrhaft Bösen in der Geschichte der Deutschen‹ (p. 99) gewesen. Es liege ihm fern, versichert er, ›mit einem Kopfsprung in die Gewässer der Metaphysik oder der theologischen Anthropologie den Teil der Mit­ verantwortung zu vernebeln, der an dieser Katastrophe dem deutschen Volk zufällt.‹ (p. 100) Läßt man einmal die Frage beiseite, warum Metaphysik zur Vernebelung bei­ tragen muß, so bleibt festzuhalten, daß es eines solchen Beitrags hier nicht mehr

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 Peter Szondis Ethik des wissenschaftlichen Essays

bedarf. [Szondi führt das, was er entzweit hat: Rede und Selbstreflexion, in die Enge, um den Gegensatz zu zeigen:] Denn Nebel herrscht, wo der im Namen des Deutschen Reiches vollzogene Massenmord auf den falschen Namen ›Katastrophe‹ hört und die Verantwortung dafür nur in Form eines ›Teils der Mitverantwortung‹ dem deutschen Volk ›zufällt‹. Man vergleiche damit die von keinem Dunst getrübte Sicht des Philo­ sophen Jaspers, der feststellt, daß ›wir […] als Staatsbürger für die Handlungen des Staates hafteten, unter dem wir als Staatsangehörige lebten‹ (p. 110f.), – ein Satz, der nicht minder für die Gegenwart gilt. Der ›Teil der Mitverantwortung‹, von dem Gerstenmaier allein wissen will, ›fällt‹ dem deutschen Volk ›zu‹. War es gar Zufall, Mißgeschick? Gerstenmaiers Wortwahl tut alles, um solche Assoziation zu bestätigen. Der Satz seiner Rede, der in der Berichterstattung über den Brüsseler Kongreß von der Presse besonders gern zitiert wurde, ohne daß sie dessen Ungeheuerlichkeit wahrge­ nommen hätte, preist ein Deutschland, ›das sich verschworen hat, daß ihm Ähnliches nie wieder passiert‹. ›Dieses Deutschland‹, fügte Gerstenmaier hinzu, nicht beden­ kend [nun kommt Szondis eigene Erfahrung ins Spiel], wie ein solcher Satz auf die Überlebenden des Dritten Reichs wirken mußte [eine radikale Selbstobjektivierung, gerade indem Szondi sich als Subjekt nicht benennt], ›dieses Deutschland ist […] das größte und stärkste.‹ (p. 98) [Und so fort; ich setze am Schluß der Polemik wieder ein:] Anmaßung ist es, wenn ein Politiker, mit dem Anspruch, nicht für seine Person, sondern für ein ganzes Land zu sprechen, Ansichten und Prognosen einzelner [die Partikularität gilt es nun zu schützen] verurteilt und den Philosophen Jaspers, der 64 Jahre seines Lebens in Deutschland verbracht hat, als ›bekannten Basler Profes­ sor‹ einführt – als habe sich hier ein Ausländer Sorgen gemacht. Die Intoleranz, die einen Andersdenkenden gleichsam mit dem stilistischen Mittel der Umschreibung aus­bürgert, ist die Kehrseite der falschen Toleranz, die den Juden nur als Deutschen, nur als ›Mitbürger‹ kennt. Ein ›Judenproblem‹ habe es erst gegeben, ›als Hitler vor den Toren der Macht stand. Unsere jüdischen Mitschüler galten uns ganz selbstver­ ständlich als Deutsche.‹« Szondi hält den Juden die Treue, sofern seine Zeitgenossen ihnen ihre Schwierigkeiten absprechen. Zuletzt wird, auf das Judentum bezogen und womöglich auch daher rührend, der ethische Sinn der von ihm geforderten Genau­ igkeit deutlich: »Die Sprache dieser künftigen Versöhnung dürfte nicht zuletzt die nüchterne Entschlossenheit vorbereiten helfen, allem Quidproquo abgewandt, Men­ schen und Dingen ihre Namen zu lassen.«

Anmerkungen 1 Vgl. Freese 1986; Haym 1856; Harnack 1913; Sweet 1978 und 1980; Borsche 1990; zur Poetik der Schriften Humboldts vgl. Müller-Vollmer 1967; Thouard 2000b. 2 Humboldt 1904; zu ›Herrmann und Dorothea‹ vgl. allgemein Lützeler 1987; Eibl 1984. Zur Ver­ bindung vgl. Osterkamp 2002. 3 Humboldt 1909. 4 Wild 1988, S. 1075. 5 Exemplarisch Victor Hehn: »Herrmann und Dorothea ist das Epos von der deutschen Bürgertugend, das Epos von der Familie und dem Privatbesitz, dieser Substanz des deutschen Geistes.« (Hehn 1898, S. 45). Lützeler 1987 gibt eine Fülle von Dokumenten (vgl. S. 86–96) und reflektiert die Traditionen von Idylle und Epos und ihren Einfluß jeweils auf ›Herrmann und Dorothea‹. 6 Goethe / Schiller 1990, Bd. 1, S. 331 (Brief vom 19. 4. 1797). 7 Goethe 1998, S. 445. 8 Goethe 1998, S. 447. 9 Hegel 1954, S. 417. 10 Scherer 1883, S. 568. 11 Vgl. Gundolf 1916, S. 500–504. 12 Vgl. Lützeler 1987, S. 106. 13 Lützeler 1987 sieht freilich im Stück die Verbindung der Widersprüche von französischer Revo­ lution und deutscher Ordnung geglückt, obwohl im Werk die deutsche Ordnung das Französische in die Erinnerung abdrängt. 14 Goethe/Schiller 1990, Bd. 1, S. 485 (Brief Goethes vom 3. 1. 1798); vgl. auch den Briefentwurf an Schiller vom 7. 7. 1796, ebd., Bd. 2, S. 245: »Außer Hero und Leander habe ich eine bürgerliche Idylle im Sinn, weil ich so etwas auch muß gemacht haben.« 15 Zum Begriff der Bildung vgl. Vierhaus 1972; Bollenbeck 1994; Voßkamp 1994. 16 Goethe/A. u. W. v. Humboldt 1909, S. 59 (Brief vom 16. 7. 1798). Das ist über die Jahre hin gemeint und auch konkret. Goethe überarbeitet die erste Fassung von ›Herrmann und Dorothea‹, die zwischen dem 11. 9. 1796 und dem 15. 3. 1797 entsteht, in den Wochen danach gemeinsam mit Humboldt; Humboldt überwacht auch die Drucklegung in Berlin von April bis Juni 1797. Das Werk erscheint im Oktober 1797. 17 Schiller/W. v. Humboldt 1830, S. 435. Vgl. Müller-Vollmer 1967, der die mangelnde Rezeption der modernen Literaturästhetik Humboldts auf den herkömmlichen Blick von Goethe und Schiller her zurückführt: »Man hat sich bisher damit begnügt, die den ästhetischen literarischen Problemen ge­ widmeten Arbeiten Humboldts als eklektische Umformulierungen der Kunstanschauungen Goethes und Schillers zu katalogisieren. […] Aus einem solchen Blickwinkel läßt sich freilich der Horizont und die Bedeutung von Humboldts Ästhetik und Literaturkritik nicht erschließen.« (S. 3) Man muß sie freilich aus der ›Eklektik‹ herausheben. – Müller-Vollmer stellt die verstreuten, indes zahlreichen literarästhetischen Arbeiten Humboldts zusammen (vgl. S. 5f). 18 Vgl. Weimar 1989; insbesondere die Seiten über Wilhelm Scherer, S. 457–478. 19 Schiller/W. v. Humboldt 1830, S. 436f. 20 Humboldt 1904, S. 226f. Zum Einfluß von Kant vgl. Cassirer 1923; Quillien 1983; Müller-Vollmer 1967. 21 Humboldt 1904, S. 115. 22 Humboldt 1904, S. 227 (Kapitel LIV). 23 Humboldt 1904, S. 129 (V). 24 Humboldt 1904, S. 138 (X). 25 Humboldt 1904, S. 139 (X). 26 Vgl. Judet de La Combe 1997; Bollack 2003.

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 Anmerkungen

27 Humboldt 1904, S. 172 (XXVII); vgl. etwa den Eintrag im Grimmschen ›Deutschen Wörterbuch‹, das ›Herrmann und Dorothea‹ dreimal in dieser Hinsicht zitiert (s. v. ›Gestalt‹ vgl. Grimm, Bd. 5 (1897), Sp. 4178–4190). 28 Humboldt 1904, S. 158 (XIX), Hervorhebungen im Original. 29 Vgl. Humboldt an Schiller vom 19. 4. 1798, in: Freese 1986, S. 255f; vgl. die Einleitung ›Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung‹ in: Schiller/W. v. Humboldt 1830, S. 1–84; Oster­ kamp 2002 erinnert daran, »daß für Humboldt die Plastik die Leitkunst bildete, während die Goethe­ schen Sammlungen die Totalität der bildenden Künste zu erfassen suchte« (S. 146); vgl. zum Einfluß Winckelmanns auf Humboldt, abgesetzt von Herder, Harnack 1913, S. 25ff; anders als Humboldt trennt sich Goethe später vom klassizistischen Kunstprogramm (vgl. Osterkamp 2002, S. 138). Vgl. Kapitel 2 dieses Buchs. 30 Vgl. Schiller/W. v. Humboldt 1830. 31 Zum Sprachdenken Humboldts vgl. insbesondere Trabant 2009. 32 »Was wird daher der Dichter thun müssen, wenn er dem allgemeinsten und reinsten Begriff der Kunst treu bleiben will? Er wird das Ganze und nicht bloss einzelne Theile schildern, den Gegenstand zeichnen, nicht die Empfindung erregen müssen.« (Humboldt 1904, S. 153 (XVI)). 33 Humboldt 1904, S. 151 (XVI). 34 Goethe/A. u. W. v. Humboldt 1909, S. 61–73. 35 Vgl. Quillien 1983, S. 10: »La construction de la linguistique ne modifie pas fondamentalement le projet, qui reste éminemment philosophique«. 36 Am 29. 12. 1797, Goethe/Schiller 1990, Bd. 1, S. 476. 37 Goethe/A. u. W. v. Humboldt 1909, S. 62. 38 Zur Naturkonstruktion vgl. Kapitel 4; zum Sprachorganismus als Grundlage des Verstehens vgl. Wyss 1979, S. 118–123; vor allem steht Humboldts ›Ankündigung einer Schrift über die Vaskische Sprache und Nation‹ (1812) im Mittelpunkt. 39 Goethe/A. u. W. v. Humboldt 1909, S. 66. 40 Kant 1974 (1924), § 6, S. 48. 41 Humboldt 1904, S. 127 (III). 42 Vgl. Kant 1974 (1924), § 46, S. 160; Müller-Vollmer 1967, S. 2, vergleicht Humboldts Abhandlung mit der modernen Autonomieästhetik, ohne Humboldts schwankende Festlegung auf Goethes ›Natur‹ zu bedenken; er setzt etwa Humboldts Satz »La domaine du poète est l’imagination« mit Baudelaires »L’imagination seule contient la poésie« gleich. 43 Goethe/A. u. W. v. Humboldt 1909, S. 66f. 44 Vgl. oben über Humboldts Verhältnis zu Schiller. 45 Humboldt 1904, S. 171f (XXVII). 46 Humboldt 1904, S. 203 (XLII). 47 Humboldt 1904, S. 203 (XLII). 48 Humboldt 1904, S. 204 (XLII). 49 Humboldt 1904, S. 208 (XLIII). 50 Humboldt 1904, S. 208 (XLIII). 51 Humboldt 1904, S. 199 (XL). 52 Humboldt 1904, S. 218 (XLVI). 53 Vgl. Bollack 1997. 54 Humboldt 1904, S. 267 (LXXVII). 55 Humboldt 1904, S. 304 (XCIV). 56 Humboldt 1904, S. 307 (XCVI). 57 Vgl. Humboldt 1904, S. 306 (XCVI). 58 Humboldt 1904, S. 307 (XCVI). 59 Humboldt 1904, S. 187, vgl. u. a. auch S. 308f (XCVII).

Anmerkungen 

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60 »Er [Herrmann] wird ihr [Dorothea] dadurch beinahe gleich, da sie ihm sonst an Gewandtheit und Anmut, an heller Einsicht und besonders an heldenmäßiger Seelenstärke merklich überlegen ist. Ein wunderbar großes Wesen, unerschütterlich fest in sich bestimmt, handelt sie immer liebevoll und liebt sie nur handelnd. Ihre Unerschrockenheit in allgemeiner und eigner Bedrängnis, selbst die gesunde körperliche Kraft, womit sie die Bürden des Lebens auf sich nimmt, könnte uns ihre zar­ tere Weiblichkeit aus den Augen rücken, mischte sich nicht, dem Jüngling gegenüber, das leise Spiel sorgloser, selbstbewußter Liebenswürdigkeit mit ein und entrisse nicht ein reizbares Gefühl, durch vermeinten Mangel an Schonung überwältigt, ihr noch zuletzt die holdesten Geständnisse.« (August Wilhelm Schlegel 1962 (1798), S. 243). 61 Vgl. Humboldt 1904, S. 307 (XCVI); Humboldt entwickelt so am Beispiel ein systematisches ­Problem der Bildungstheorie: »Wie soll sich Bildung zur Differenz von ›Mensch‹ und ›Bürger‹ s­ tellen?« (Jeismann/Lundgreen 1987, S. 74). 62 Johann Wolfgang Goethe: Herrmann und Dorothea. In: Goethe 1988b, I,4f. Hier wie folgenden gibt die römische Ziffer den Gesang, die arabische den Vers an. 63  Goethe 1988b, I,13–19. 64 Die Frage der (rettenden) Ironie im Stück spielt in der Forschungsgeschichte eine große Rolle; vgl. u. a. Seidlin 1972, S. 26f; Eibl 1984, S. 125ff, der das Zitat einer metrischen Konvention als Ironie­ signal (oder als ›Symbol-Synkretismus‹) wertet und den totalisierenden, historischen Sinn (vgl. unten zu Humboldts ›Agamemnon‹-Übersetzung) außer acht läßt. 65 Goethe 1988b, V,31f. 66 Goethe 1988b, V,63–65. 67 Goethe 1988b, V,166f. 68 Goethe 1988b, IX,299–307. 69 Kein ›Übermut‹ des Dichtens also, von dem Goethe im ›West-östlichen Divan‹ spricht. Die Radi­ kalisierung eines Prinzips und damit die Möglichkeit, in ›Herrmann und Dorothea‹ ein Experiment zu sehen, in dem die Gattungskonzentration dermaßen anwächst, daß sie umschlägt, sind in der ›Natur‹ aufgehoben. Wer die Gattung als historische, idyllisch irreale Antwort Goethes auf seine Zeit reflektiert (Schlaffer 1981; vgl. auch Eibl 1984, S. 114: »poetische Experimentalpolitik«), bedenkt zu wenig, daß es zur radikalen ästhetischen Rationalität im kleinen nicht kommt. Goethe selbst hat später sein ›Experiment‹ nie mehr wiederholt. 70 Vgl. Bourdieu 2001; König 2003a, S. IX–XXVIII; zu einer Theorie non-diskursiver Praxis vgl. König 2014a. 71 Humboldt 1909, S. 133f. Das Verhältnis von Humboldts Praxis zum künstlerischen Schaffenspro­ zeß ist unterschiedlich gedeutet worden. Während Thouard eine ›herméneutique de la traduction‹ und eine ›poétique de la traduction‹ am Werk sieht, jene die Verstehensvoraussetzung von dieser, entzieht Henri Meschonnic Humboldt der Philosophie Kants, indem er wie Heidegger eine Sprache einfügt, die spreche; Thouard faßt zusammen: »Il le soustrait à l’influence de la philosophie kanti­ enne, préférant voir dans son œuvre une pensée poétique du discours se faisant dans la langue, une pensée de l’invention continue, de la subjectivité et non des systèmes, du signe« (Thouard 2000a, S.  209). Auch für Thouard kennt Humboldt keine allgemeine Sprache: »Une langue n’est telle que parce-qu’on la parle.« (ebd., S. 199). 72 Vgl. Goethe 1986–1988, Goethes Briefe, Bd. 2, S. 260. 73 Vgl. schon die frühe Systematik ›Über Denken und Sprechen‹ von 1795/96; vgl. Kapitel 2. 74 Humboldt 1909, S. 119. 75 Vgl. Kapitel 7. 76 Humboldt 1909, S. 129. 77 Humboldt 1909, S. 131. 78 Humboldt 1909, S. 133. 79 Humboldt 1909, S. 136.

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 Anmerkungen

80 Humboldt 1909, S. 131. 81 Ein Desiderat in der Forschung bleibt die Analyse der Übersetzung unter diesem syntaktischen Gesichtspunkt. 82 Goethe/A. u. W. v. Humboldt 1909, S. 243–245. 83 Goethe/A. u. W. v. Humboldt 1909, S. 243f. 84 Vgl. Bollacher 1998, der den Streit mit Jacobi ausführt und Goethes Hinweis auf den »Grund ­meiner ganzen Existenz« (1811) nennt; vgl. Tavoillot 1995. 85 Vgl. Quillien 1983, S. 26f. 86 Vgl. Osterkamp 2002, S. 134. 87 Die philosophische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers (vgl. Kapitel 7) gründet auf der Norm (der Deutschen Klassik), zu der der Leser finden müsse; auch wo sich der postmoderne Leser von den Normen befreit, unterstellt er sich ihnen, solange er nicht das Verhältnis zur Norm reflektiert, sichtbar etwa in Hans-Ulrich Gumbrechts Wunsch nach einer Präsenz ohne Text; vgl. König 2003b. 88 Vgl. König 2001. 89 Alt 2000, Bd. 2, S. 178. 90 Goethe 1986–1988, Briefe an Goethe, Bd. 2, S. 411. 91 Humboldt spricht vom »entschiedenen Dichtergenie« (Brief an F. H. Jacobi, 15. 10. 1796; Freese 1986, S. 201), das er verehrt; Osterkamp 2002, S. 143f, zeigt, wie Humboldt das Bild des Dioskuren­ paars geprägt hat. 92 Humboldt 1903a, S. 106. 93 Vgl. Ash 1999, darin: Vom Bruch 1999; vgl. Schiewe 1995. 94 An Wolf interessiert ihn weniger die Aktualisierung der Antike, sondern die Absenz von Strate­ gie: »So wenige interessiert die Wissenschaft um der Wissenschaft willen, und es ekelt einen an, die meisten so immer auf sich, auf das Scherflein Ruhm und Gewinn, den sie ihnen bringt, zurückkom­ men sehen. Bei Ihnen dies so total anders zu finden, ist mir schon allein eine seltene, und Ihnen so nahezukommen, Ihrer wert zu werden, eine so über alles erquickende Erscheinung gewesen, daß ich Ihnen nie werde den Eindruck schildern können, den sie auf mich gemacht hat und immerfort noch macht.« (Freese 1986, S. 127). 95 Humboldt 1903b, S. 140; vgl. auch die Anträge vom 24.7.1809 (S. 148–154) und vom 20. 7. 1809 (S. 154ff). 96 Vgl. Wegmann 1994. 97 Freese 1986, Brief vom 16. 7. 1796, S. 191. 98 Osterkamp 2002, S. 148, der auch zeigt, wie die Berufung Zelters direkt auf Goethes Einfluß zu­ rückgeht. 99 Dort erwies Wolf sich freilich als wenig geeignet und legte das Amt nach sechs Wochen wieder nieder. 100 Wolf 1985; vgl. Manfred Riedel 1997. 101 Hermann Hettner sieht Humboldt indes durch Wolfs Perspektive; Humboldt sei von dem Epos so angetan gewesen, weil Goethe seine »Überzeugung von der inneren Verwandtschaft des griechischen und deutschen Volksgeistes in der herzgewinnenden Einfachheit idealster Kunstschöpfung entgegen­ trug«. (Hettner 1882, S. IX). 102 »Die um das Humanum kreisende idealistische Theorie und ihre Behauptung von einer histo­ risch ebenso einmaligen wie unübertroffenen Antike gibt dem philologischen Rückbezug auf den Text neues Ansehen.« (Wegmann 1994, S. 355). 103 »L’œuvre, dotée de sa systématicité esthétique, peut alors se confondre avec son histoire; les différents moments du beau se réalisent historiquement.« (Judet de La Combe 1998, S. 268). 104 Vgl. Goethe an Wolf am 26. 12. 1796: »immer schreckte mich der hohe Begriff von Einheit und Unteilbarkeit der Homerischen Schriften ab, nunmehr, da Sie diese herrlichen Werke einer Familie

Anmerkungen 

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zueignen, so ist die Kühnheit geringer sich in größere Gesellschaft zu wagen« (Goethe 1986 –1988, Goethes Briefe, Bd. 2, S. 252); vgl. auch die Elegie ›Herrmann und Dorothea‹, V. 37–40, u. a.: »Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön.« 105 Wolf 1985, S. 19f. 106 Michael Bernays kommentiert das ausdrücklich: »hat mich stets befremdet« (Bernays 1868, S. 25). Bernays steht auf der Seite von Wolf: »Der Dichter des achtzehnten Jahrhunderts staunte nicht ferner zu dem einen Homer empor; er erblickte einen Kreis herrlich begabter Dichtergeister, dem er sich verehrend anzuschließen wohl wagen durfte, ohne deshalb den Boden der Gegenwart zu ver­ lassen oder aus dem Bereiche des vaterländischen Lebens herauszugehen.« (Bernays 1868, S. 24f). 107 Den Bruch zwischen Antike und Moderne formuliert Humboldt in einem Brief an Goethe vom 23. 8. 1804 nochmals scharf, es handle sich um völlig unterschiedliche Ordnungen: »Wir haben immer einen Aerger, wenn man eine halbversunkene [Welt] ausgräbt. Es kann höchstens ein Gewinn für die Gelehrsamkeit auf Kosten der Phantasie sein.« (Goethe/A. u. W. v. Humboldt 1909, S. 186). Der historisch-archäologischen Wissenschaft komme zu, die Erwartungen der Phantasie, also auch der Philosophie, die ihr folgt, zu enttäuschen. Humboldt entwickelt sein Bewußtsein für die Täuschung, die notwendig wird, will man die Antike und die Moderne zusammenziehen – auf Kosten der Gelehr­ samkeit, die in seinem Denken den Werten, der Phantasie und der Philosophie entgegentritt. 108 Vgl. Barner 1993. 109 Lachmann 1820, S. XXI; vgl. Kolk 1989. 110 Zur Bedeutung dieser Unterscheidung für das ›Internationale Germanistenlexikon 1800–1950‹ vgl. König 2003a. 111 Schiller 1795 (›Elegie‹). Die zweite Fassung liegt dieser Abhandlung zugrunde; das Gedicht wird zitiert nach Schiller 1983. 112 Schiller an Wilhelm von Humboldt, 29. 11. 1795, in: Schiller 1969, S. 116. 113 Wilhelm von Humboldt an Schiller, 23. 10. 1795, in: Schiller 1964, S. 392–399; die folgenden Zitate S. 393. 114 Grimm, Bd. 18 (1960), Sp. 1965–2038. 115 Vgl. Kapitel 7. 116 Vgl. Schillers Matthisson-Rezension, in der er – den Gedanken Lessings im ›Laokoon‹ aufgrei­ fend – den Dichter vom Maler unterscheidet; jener könne nur Abläufe in der Zeit geben und müsse sich daher an bewegte Gegenstände halten: »Sein Objekt ist immer mehr das Mannigfaltige in der Zeit als das im Raume, immer mehr die bewegte als die feste und ruhende Natur« (Schiller 1958a, S. 275; vgl. hierzu auch Wolfgang Riedel 1989, S. 49f). 117 Vgl. dazu Schuster 2002; Wolfgang Riedel 1989; Frey 1995; Ziolkowski 1980; Weissenberger 1969; Beißner 1965. 118 Schiller an Wilhelm von Humboldt, 1. 2. 1796, in: Schiller 1969, S. 180. 119 Schiller an Wilhelm von Humboldt, 5. 10. 1795, in: Schiller 1969, S. 73. 120 Vgl. Goethes Resümee der gemeinsamen Gattungsreflexionen: Eine Haupteigenschaft des epi­ schen Gedichts ist, daß es immer vor und zurück geht, daher sind alle retardierende Motive episch (Goethe an Schiller, 19. 4. 1797, in: Goethe/Schiller 1990, Bd. 1, S. 331); vgl. Kapitel 1. 121 Wilhelm von Humboldt an Schiller, 23. 10. 1795, in: Schiller 1964, S. 393. 122 Schiller an Wilhelm von Humboldt, 26. 10. 1795, in: Schiller 1969, S. 84. 123 Schiller 1969, S. 84. 124 Schiller an Wilhelm von Humboldt, 26. 10. 1795, in: Schiller 1969, S. 84. Schiller schreibt in seiner Abhandlung ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹, das Genie gebe seinem Gedanken »mit einem einzigen glücklichen Pinselstrich einen ewig bestimmten, festen und dennoch ganz frei­ en Umriß. Wenn dort [beim »Schulverstand«] das Zeichen dem Bezeichneten ewig heterogen und fremd bleibt, so springt hier wie durch innere Notwendigkeit die Sprache aus dem Gedanken hervor und ist so sehr eins mit demselben, dass selbst unter der körperlichen Hülle der Geist wie entblößet

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 Anmerkungen

erscheint« (Schiller 1958b, S. 426). Zur, auch hier impliziten, Dialektik des Naiven und Sentimenta­ lischen vgl. Szondi 2011b. 125 Schiller 1943, S. 302. 126 Schiller an Wilhelm von Humboldt, 1. 2. 1796, in: Schiller 1969, S. 179 (die Zeilen werden mehr­ fach in Briefen an andere, variiert, aufgegriffen); vgl. auch: Schiller 1986, S. 185f. 127 Schiller an Wilhelm von Humboldt, 1. 2. 1796, in: Schiller 1969, S. 179. 128 Aus der Literatur über die Sprachreflexion Schillers vgl. zuletzt Bartl 2005, S. 185–237; vgl. zum Gebrauch von Gestik, Mimik, Bewegung im Raum und musikalischen Elementen den Kommentar von Helmut Koopmann und Benno von Wiese, in: Schiller 1963, S. 302f; vgl. Brand­stetter 1990. 129 Humboldt 1907, S. 174. 130 Trabant 2012, S. 59. 131 Wilhelm von Humboldt an Schiller, 23. 10. 1795, in: Schiller 1964, S. 392. 132 Schiller 1964, S. 393. 133 Schiller 1964, S. 393. 134 Humboldt 1907, S. 581–583. Humboldt ist in dem Fragment über Kant hinaus, doch von seinem späteren Gedanken, die Vorstellungen seien sprachbedingt, noch weit entfernt. 135 Humboldt 1907, S. 581. 136 Humboldt 1907, S. 581. 137 Vgl. Cassirer 2001, S. 98–106. 138 Humboldt 1907, S. 581. 139 Humboldt 1907, S. 582. 140 Wilhelm von Humboldt an Schiller, September 1800, in: Schiller 1975, S. 338. 141 Schiller 1975, S. 331. 142 Schiller 1975, S. 331. 143 Schiller 1975, S. 331. 144 Schiller 1975, S. 338. 145 Vgl. Kapitel 1. 146 Humboldt 1904, S. 158. 147 Kant 1974 (1924), § 47. 148 Vgl. Kapitel 7. 149 Vgl. Szondi 1970. 150 Boeckh 1877, S. 10. 151 Boeckh 1877, S. 76. 152 Vgl. König 2008. 153 Vgl. Barner 1981. 154 Vgl. König 2001. 155 »Die Dedukzion der cyklischen Methode liegt vielleicht im Begriff einer Wissenschaftskunst.« (Schlegel 1981b, S. 66 [II/65].) Im folgenden wird aus dieser Ausgabe zitiert; die römischen Ziffern beziehen sich auf die Arbeitshefte, die arabischen auf die jeweiligen Notate. 156 Der Begriff der ›Divination‹ wird nicht ohne Grund von der Hermeneutik Schleiermachers und der chinesischen Mantik geteilt; die nicht von Regeln ableitbare (kunstmäßige, genialische) Erkennt­ nis setzt, so Schleiermacher, eine Verdoppelung des vom Menschen Gemachten voraus: die Produk­ tion des Orakels/Texts und die Auslegung. Die Prognose als Form des Verstehens von Texten setzt wie die Interpretation voraus, daß die beiden Bewegungen nichts voneinander wissen (Lévi 1985 weist nach, daß die chinesische Kommentartradition aus der Mantik entstanden ist). Schlegels philologisie­ rende ›Lucinde‹ führt dieses Paradox vor. Zur Prognose als modernes poetisch-hermeneutisches Ver­ fahren in Rainer Maria Rilkes Roman ›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹ vgl. König 2014b. 157 Thouard 2011 würdigt als erster Wolfs Bedeutung für Friedrich Schlegel und betont den Gedan­ ken einer durch die Kritik erwiesenen Unendlichkeit des Werks. »Geschichtlichkeit« trete in Schlegels

Anmerkungen 

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Denken im Sinn des »kritischen Anwachsens des Textes aufgrund der Diaskeuase« (ebd., S. 56) auf. Thouard erweitert jedoch die Gedanken über Schlegel hinaus: Wie die Aktualisierung der Antike sei auch die Vollendung der modernen Werke Aufgabe der Kritik. Nach meinem hier entwickelten Ver­ ständnis ist die Diaskeuase (anders als bei Homer) Aufgabe des modernen Künstlers und nicht die seiner Leser. Vgl. allgemein Thouard 2002. 158 Vgl. Schlaffer 1990, S. 201. 159 Zur Genese der Arbeitshefte vgl. Eichner 1981, S. XVI–XVIII; zu den Arbeitsheften vgl. Wegmann 1994; Benne 2011. 160 Die Zuordnungen sind recht stabil; sie ergeben folgende vier Gruppen bzw. geplanten Kapitel: zunächst ein philosophisches Kapitel als begriffliche Spekulation, z. B. mit einer »Dedukzion« der Philo­logie (II/8, vgl. auch II/48); das zweite Kapitel soll eine Literaturgeschichte als »Kritik der be­ rühmtesten Schriftsteller die als φλ [Philologen] gelten können« (II/19), sein, vgl. auch II/14, II/19, II/25, II/51; ein drittes Kapitel ist kaum konturiert, doch läßt sich vermuten (vgl. II/62), daß die philologische Methode ins Zentrum rücken soll. Und viertens will Schlegel sich der Geschichte der philologischen Reflexion, besser: der Vorgeschichte seiner Reflexion widmen; er spricht von einer »Geschichte der materialen Alterthumslehre« (II/20, II/21, II/23). 161 Man neigt in der Schlegel-Forschung (namentlich in der philosophisch orientierten) dazu, die Journale als Steinbrüche für Gedanken und Begriffe zu gebrauchen und weniger auf deren Genese innerhalb der einzelnen Journale zu achten. Deubel 1973, S. 96–99, weist schon darauf hin, daß synchrone Betrachtungen an der »verwirrende[n] Vielfalt« (Polheim 1966, S. 11) und chronologische Betrachtungen an der lockeren Bindung zwischen Begriff und Bedeutung leiden. Deubel beschreibt einen Konflikt, der bis heute prägend ist und sich etwa im Widerstreit von Editoren und Philosophen erweist. Die Arbeitshefte ›Zur Philologie‹ geben Gelegenheit, statt einer philosophisch motivierten komplexen Systematisierung (wie Deubels Lösungsvorschlag lautet) eine gedankliche und begriffli­ che Dynamik zu verfolgen, deren Bewegung in den Notaten (qua ›Cyklisation‹) selbst einen systema­ tischen Status erhält. Eine Naturbewegung des Verstandes zeigt ihre Ratio. 162 Vgl. Judet de La Combe 1998; Rousseau 2001. 163 »Wolf fängt ein wenig an zu historisieren. Doch lange nicht genug.« (I/26) Die Begriffsverwen­ dung changiert im Urteil Wolfs, doch wenn Schlegel ihm später zugesteht: »Wolfs Proleg.[omena] sind einzig in ihrer Art durch historischen Geist.« (I/54), so steht im Hintergrund der Gegensatz von ›Histo­ rismus‹ (qua Geschichtsphilosophie) und ›historisch‹ (genetisch), wobei zusehends sich ersteres als Prämisse des letzteren herausschält. 164 Schlegel wird Schillers Einteilung der Gattungen nach äußeren Darstellungsformen zugunsten von Dichtungs- und Empfindungsweisen, die – wie Peter Szondi zeigt – schon in Schillers Gattungs­ poetik angelegt waren, in Schillers Sinn überwinden. Vgl. Peter Szondis Aufsatz ›Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie. Mit einem Exkurs über Schiller, Schlegel und Hölderlin‹ (1966) in: Szondi 2011d, S. 367–412; vgl. auch Behlers Argumente (in: Behler 1979, S CLXXI–CLXXIV) gegen die These vom Einfluß Schillers auf den ›Studium‹-Aufsatz. 165 Auf die Frage in I/6 nach dem »Verhältniß der Philologie zur Kritik« präzisiert Schlegel im ­nächsten Notat: »Künftig: Methodenlehre der Philologie« (I/7). 166 Vgl. Schlegel 1967a. 167 Vgl. im Einfluß Schlegels (und Kants) auch Schleiermacher in seinen Vorlesungen zur Herme­ neutik; schon im ersten Entwurf von 1805 heißt es: »Grammatisch. Das Object ist die Sprache nicht als allgemeiner Begriff auch nicht als Aggregat von empirischen Einzelheiten, sondern als individuel­ le Natur.« (Schleiermacher 2012, S. 55). ­ radition. 168 Mittelstraß 2004, S. 560; vgl. diesen Artikel auch über die von Leibniz zu Kant führende T 169 Vgl. Meier-Oeser 2004 und Hühn 2004. 170 Vgl. Wegmann 1994, S. 352f: »Was die Fachenzyklopädie an Vorstrukturierung mitbringt, ist nämlich nur die überlieferte Begriffstopik von Wissenschaft. Wie jedoch die Einheit des fachlichen

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 Anmerkungen

Wissens zu denken war, darüber die gibt die Tradition des Begriffs keine eindeutige Antwort. […] Als ein Reservoir von Denkalternativen avanciert die Fachenzyklopädie zu jenem Ort, an dem die Philo­ logie das Problem der Selbstdefinition gleichsam institutionalisiert.« Auf die (implizit gegebenen) Zusammenhänge weist Henningsen 1966, S. 287, hin. 171 August Wilhelm Schlegel behauptet, anders als sein Bruder und philosophischer, in seinen ›Vor­ lesungen über Encyclopädie‹ (1803), daß hinsichtlich ihrer Klassifikation die Enzyklopädien zu ver­ stehen seien als ein »logisches Ganzes, worin alle Sätze in strenger Unterordnung unter einem Princip stehen« (Schlegel 2006, S. 6); vgl. Strobel 2010; Kilcher 2003. 172 Immanuel Kant zu Beginn seiner Abhandlung ›Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissen­ schaft‹ (Kant 1977, S. 11). 173 Indem er dafür die ›Kunst‹ nutzt, warnt er davor, auf das Metier als Wissenschaft zu verzichten; er schreibt: »Die φλ [Philologie] als Kunst ist viel zu isolirt und dominirt zu sehr über die materiale Alterthumslehre.« (I/121) Freilich hebt Schlegel, in Abgrenzung zu seinem (geschichtsphilosophi­ schen) ›Historismus‹, der – mithilfe der Kunst – das Ganze im Blick hat, die Historizität oder Ge­ schichtlichkeit der Wissenschaft hervor: »Als Wiss.[enschaft] ist sie [die nicht ihrem Potential gemäß gebrauchte Philologie] Theil der Geschichte.« (I/117) Erst der kunstgemäße Gebrauch führe über die Wissenschaftsgeschichte hinaus. 174 Mit dieser Vorstellung gehört Schlegel zum Kreis der Klassiker im Einfluß Kants, die die Dritte Kritik gemäß einer Medienpoetik geschichtsphilosophisch (Bilden vs. Zeugen qua Antike vs. Moderne qua Bild vs. Schrift) auslegen. Poet könne man nur innerhalb eines geschichtlichen, polaren Systems sein. Wie Schiller und Goethe, trotz ihres Mentors Wilhelm von Humboldt, sich darin von Kant ent­ fernen (vgl. Kapitel 1 und 2), so auch Schlegel, dessen Wortwahl (›Kunst‹, ›Kritik‹) und dessen Gesten (etwa die Suche nach Bedingungen) eine größere Nähe anzeigen, freilich ohne die Poetik zu spezifi­ zieren. Postklassisch ist die Poetik nicht anders als ›unendlich‹ und unspezifisch denkbar. 175 Schlegel wendet sich gegen Goethes und Schillers fast zeitgleiche Literaturpolitik, die systema­ tisch aufeinander bezogene Gattungen schaffen wollen: mit der ›Elegie‹, der ›Novelle‹, dem ›Mär­ chen‹ etc. Schlegels Mittel ist die Entgrenzung der systematischen Bezüge. 176 Darauf werde ich noch im Zusammenhang mit der Rolle zu sprechen kommen, die Schlegel den Gattungen gibt. 177 Schirren 2012 skizziert die Rolle der Rhetorik im Spiegel unveröffentlichter Notate aus Arbeits­ heften Schlegels der Jahre 1796/7. In Gestalt der Epideixis gelange die Rhetorik in die beiden philo­ logischen Journale. Schirren zeigt nun die Verwandlungsmöglichkeit der Rhetorik in der Romantik: Schlegels Ziel ist eine absolute Rhetorik, die den Rang der anderen totalisierbaren Vermögen besäße; dabei kommt die Rhetorik vor allem in die Nähe zur Kritik, denn der im absoluten Lob gesicherte Bildungswert der klassischen Werke wird als Bedingung der Kritik erwogen. »Die Rhetorik soll den Wirkungsaspekt eines Programms sicherstellen, das das Klassische Altertum neu, d. h. gegenwärtig erstehen lässt« (S. 27). Dann wären (es wird von Schlegel nicht ausdrücklich gesagt) der absichtslose, philologische Nachweis des Wertes eines Werks und die Rhetorik als Kunstlehre eine der zu cyklisie­ renden Wissenschaften der Philologie. Zur poststrukturalistischen Deutung rhetorischer Strategien durch Paul de Man vgl. Wellbery 1987. 178 »Hermeneutik und Kritik, beide philologische Disziplinen, beide Kunstlehren, gehören zusam­ men, weil die Ausübung einer jeden die andere voraussetzt. Jene ist im allgemeinen die Kunst, die Rede eines andern, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen, diese die Kunst, die Echtheit der Schriften und Schriftstellen richtig zu beurteilen und aus genügenden Zeugnissen und Datis zu konstatieren.« (Schleiermacher 1977, S. 71). 179 Vgl. Schleiermacher 2012, S. 75. 180 Heute würde man Hans-Ulrich Gumbrechts Präsenz-Philologie hierher setzen. Vgl. König 2003b. 181 Das mag seinen anekdotischen Grund darin haben, daß Schlegel nicht beabsichtigte, die Hefte den Freunden zu zeigen (Novalis’ teilweise wörtlichen Schlegel-Zitate, etwa im ›Allgemeinen

Anmerkungen 

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­ rouillon‹, sprechen dagegen; vgl. auch Novalis zur aktualisierenden Übersetzung als Verstehens­ B weise: Schlegel 1967b, S. 214). Doch auch sich selbst gegenüber verzichtet Schlegel auf die Explika­ tion und gewinnt eine spezifische Freiheit gegenüber sich selbst. 182 »Aber nicht minder notwendig ist es, von allem Einzelnen abstrahieren zu können, das All­ gemeine schwebend zu fassen, eine Masse zu überschauen, und das Ganze festzuhalten, selbst dem Verborgensten nachzuforschen und das Entlegenste zu verbinden […] sonst fehlt uns, was wir auch für andere Fähigkeiten haben, der Sinn für das Weltall« (Schlegel 1967d, S. 131). 183 Vgl. Schlegel 1967d, S. 126ff. 184 Neben der Entwicklung Wilhelms sei es ebenso Goethes Absicht gewesen, seine Kunstlehre in den Roman einzubinden; aber nicht als »das tote Fachwerk eines Lehrgebäudes« (Schlegel 1967d, S. 132), sondern als exemplarische Bildung: »Glücklicherweise ist es eben eins von den Büchern, welche sich selbst beurteilen« (S. 133). 185 »Man darf es nur auf die höchsten Begriffe beziehn und es nicht bloß so nehmen, wie es gewöhn­ lich auf den Standpunkt des gesellschaftlichen Lebens genommen wird: als ein Roman, wo Perso­ nen und Begebenheiten der letzte Endzweck sind. Denn dieses schlechthin neue und einzige Buch, welches man nur aus sich selbst verstehen lernen kann, nach einem aus Gewohnheit und Glauben, aus zufälligen Erfahrungen und willkürlichen Forderungen zusammengesetzten und entstandenen Gattungsbegriff beurteilen; das ist, als wenn ein Kind Mond und Gestirne mit der Hand greifen und in eine Schachtel packen will« (Schlegel 1967d, S. 133). 186 Goethe spricht von dem Leser, »den das Rechte trifft wie ein Blitz« (Schlegel 1967d, S. 134). 187 Zu den Optionen Charakterisierung und Dichtung als Wege der Kritik vgl. Schlegel 1967d, S. 140f. 188 Werke, »auf die er sich, äußerlich vielleicht durch Nationen und Jahrhunderte getrennt, unsicht­ bar dennoch bezieht« (Schlegel 1967a, S. 410). 189 »So kann […] wahre Kritik gar keine Notiz nehmen von Werken, die nichts beitragen zur Entwick­ lung der Kunst und der Wissenschaft; ja es ist sonach eine wahre Kritik auch nicht einmal möglich von dem, was nicht in Beziehung steht auf jenen Organismus der Bildung und des Genies, von dem, was fürs Ganze und im Ganzen eigentlich nicht existiert.« (Schlegel 1967a, S. 411). 190 Schlegel 1967a, S. 411. 191 Michel 1981 akzentuiert die Verbindung von Hermeneutik und Kritik und sieht in ihrem Zu­ sammenwirken das philologische Genie am Werk. Schleiermacher wird die Bereiche aufgreifen, aber ebensowenig charakterisieren wie Michel: Während für Schlegel die jeweilige interne Dialektik von ›Wissenschaft‹ und ›Kunst‹ entscheidend ist, gilt Michels Interesse dem hermeneutischen Zirkel, der auch der Kritik zugrunde liege. Michel sieht in der Cyklisation die Struktur der Arbeitshefte: Darin hat er recht, doch für ihn ist das Zyklische die ständige Wiederkehr zum selben Punkt, während Schlegel einer Intuition gerecht werden will und auf eine Annihilierung drängt. Entsprechend versteht Michel die ›Annihilierung‹ falsch (vgl. S. 52): Es handelt sich nicht, wie er meint, um eine Erweiterung auf den ›Historismus‹ (den er nicht erläutert, er gebraucht das Wort schlicht im Sinn von Historisierung) hin, eine Erweiterung, die jedem Philologen möglich sei, sondern um die radikale Besonderung, die im gelungenen Ausnahmefall den Begriff der Philologie tilgt. Die Orientierung Michels auf eine allgemeine Hermeneutik wird deutlich. 192 Vgl. oben den zweiten Weg zur ›absoluten Philologie‹. 193 Wie in Schillers und Goethes ästhetischer Reflexion Medien und in weiterer Folge Gattungen (nach der Logik, daß dem Medium der bildenden Kunst das Epos entspreche) der Präzisierung die­ nen, so tun sie das auch in Schlegels Überlegungen. Der Unterschied zu den Klassikern besteht darin, daß Schlegel die Gattungen diskutiert, um sie aufzulösen – entsprechend seines Umgangs mit den ›Wissenschaften‹. Vgl. Kapitel 1. 194 Kablitz 2013 ordnet Schlegels ›Studium‹-Aufsatz eine Ästhetik zu, die dem Poststrukturalismus nahe stehe, ja dessen Vorläufer sei; die Ästhetik beruhe auf dem Gedanken einer Freiheit kraft der

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 Anmerkungen

willkürlichen Zeichensprache. Die Tradition in der Literaturwissenschaft, das Interessante gegen das Gültige zu stellen (vgl. den Briefwechsel zwischen Staiger und Szondi im Juni und Juli 1967 in Szondi 1993, S. 219–231), bliebe gewissermaßen bei Schlegels Aufsatz stehen: Die philologische Re­flexion wird Schlegel dazu führen, das Klassische oder das Moderne gerade nicht mit einer bestimmten ­Ästhetik zu verbinden, sondern an die totalisierbaren Methoden zu heften. Die ›Lucinde‹ selbst kann, philologisierend, klassisch werden (siehe unten). 195 Vgl. Szondi 2011b, S. 62–66. 196 Schlegel 1962. 197 Schlegel 1962, S. 10. 198 Mattenklott 1977. 199 Engel 1993. 200 Vgl. auch Anm. 194. 201 Zit. nach Beese 1980, S. 171. 202 Schleiermacher 1988. 203 Vgl. Behler 1981. 204 Engel 1993, S. 382; vgl. oben den Abschnitt ›Annihilierte Werke von Goethe, Platon und ­Lessing‹. 205 Engel 1993, S. 385. 206 Schlegel 1967b, S. 183. 207 »Der modernen Dichtarten sind nur Eine oder unendl[ich] viele. Jedes Gedicht eine Gattung für sich.« (Schlegel 1981a, S. 176). 208 Schlegel 1962, S. 47. 209 Vgl. Szondi 2011b. 210 Zu den Grundfiguren der Schlegel-Forschung gehört Schlegels frühe ›klassizistische‹ Epoche der ›Graecomanie‹ – eine im Roman vorweggenommene Literaturgeschichte. 211 Schlegel 1962, S. 50. 212 »Genie ist Enthusiasmus plus Consequenz plus Talent.« (Schlegel 1963, S. 403). 213 Schlegel 1962, S. 51. 214 Schlegel 1962, S. 53. 215 Schlegel 1962, S. 58f. 216 Schlegel 1962, S. 72–74. Das Kapitel ›Eine Reflexion‹ handelt davon, wie vom Namenlosen zu sprechen sei. Man kann hinzufügen: vom Namenlosen anderer Kapitel. Ein skeptischer Ansatz, der wie jeder Skeptizismus ein Antwort geben will. Die Antwort lautet hier, daß in solcher Reflexion die Individualität des Namenlosen entstehe, die dann das Leben zeuge: »Durch diese Individualität und jene Allegorie blüht das bunte Ideal witziger Sinnlichkeit hervor aus dem Streben nach dem Unbe­ dingten.« (S. 73) Das Individuelle des Kapitels ist diese – gegenstandslose – Reflexion über das Na­ menlose und dessen Individualität: »Sich vertiefend in diese Individualität nahm die Reflexion eine so individuelle Richtung, daß sie bald anfing aufzuhören und sich selbst zu vergessen.« (S. 73) Daher der Name des Kapitels: Er ist so allgemein, daß er keine Gattung mehr bezeichnen kann und insofern sich auf dem Weg zu jener Individuation befindet, von der das Kapitel handelt. Die Gattung heißt daher auch ›Eine Reflexion‹. 217 Schlegel 1962, S. 59. 218 Schlegel 1962, S. 59. 219 Schlegel 1962, S. 18. 220 Schlegel 1962, S. 17. 221 Am Ende der Reflexion in den ›Lehrjahren‹ heißt es entsprechend: »Es war nicht ohne Grund, daß der phantastische Knabe, der mir am meisten gefiel unter den vier unsterblichen Romanen, die ich im Traum sah, mit der Maske spielt. Auch in dem was reine Darstellung und Tatsache scheint [die Liebesgeschichten der ›Lehrjahre‹], hat sich Allegorie [philologische Reflexion] eingeschlichen, und unter die schöne Wahrheit bedeutende [ebenso wichtige wie sinnstiftende] Lügen gemischt. Aber nur

Anmerkungen 

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als geistiger Hauch schwebt sie beseelend [Sinn schöpfend] über die ganze Masse, wie der Witz, der unsichtbar mit seinem Werke spielt und nur leise lächelt.« (Schlegel 1962, S. 59). 222 Zur Beziehung zwischen Schlegel und Schleiermacher vgl. Dilthey 1861; Benjamin 2008, S. 109f (dort der Brief Schlegel/Schleiermacher, der nicht in die Originalausgabe von Benjamins ›Deutsche Menschen‹ aufgenommen wurde); Beese 1980; Taylor 2012. 223 Wie er gegenüber Karoline sagt (Schleiermacher 1988, S. 184). 224 Schleiermacher 1988, S. 150 (Brief an Ernestine). 225 Schleiermacher 1988, S. 152. 226 Schleiermacher 1988, S. 152. 227 Friedrich Schlegel an Schleiermacher, wohl Anfang Juli 1800: »Aber Ironie gehört nicht hier­ her […] so würde ich die Reflexion bey einer Umarbeitung nur noch weiter und stärker entwickeln.« (Schleiermacher 1994, S. 123). 228 Schleiermacher 1988, S. 152. 229 Vgl. den 3. Brief von Ernestine (Schleiermacher 1988, S. 160–178). 230 In dem von Polheim zusammengestellten Begriffs-Repertorium zur ›Lucinde‹ (Schlegel 1999, S. 131–211) fehlt das philologische Register, das in den Arbeitsheften ›Zur Philologie‹ ausgebreitet ist, gänzlich. 231 Taylor 2012 geht auf den Konflikt der Freunde ein und rekonstruiert Schlegels Sicht: Gegen­ über einem Verstehen durch den Verstand (das wirft Schlegel im Jahr 1799 Schleiermacher vor) sei das Einander- bzw. Sich-Verstehen vorzuziehen, das durch Reflexion auf das Gesagte möglich werde. Freundschaft, Liebe und Ehe gründen allein darauf. Schlegel hofft auf ein künftiges Verstehen – seiner progressiven Philologie gemäß. Die Rezeption der Freundschaft zwischen Schlegel und Schleierma­ cher im 19. Jahrhundert sei dann von einem Ehe-Konzept bestimmt, das das Innere und Persön­liche (und damit auch den methodischen Kern des Konflikts) ausgeblendet habe. Das Nicht-Verstehen, das Schlegel zum Abschied Schleiermacher vorwirft, hat Schleiermacher womöglich schon in den ›Ver­ trauten Briefen‹, erst recht aber in der Reflexivität der Hermeneutik-Kollegs beherzigt. 232 Ich ziehe die Ausgabe Goethe 1994a heran, auf die sich auch meine Versangaben beziehen. 233 Vgl. Bohnenkamp 1994; zum Mundum »V H2« insbesondere S. 738–749 und S. 781–787. 234 Vgl. Bohnenkamp 1994, S. 389–398 und S. 282. 235 Bohnenkamp 1994, S. 783–787 (H P97 und H P98). 236 Für die wissenschaftstheoretische und –geschichtliche Begründung vgl. Bollack 1997; auf die neuere deutsche Literatur gewendet: Bollack 1998; Judet de La Combe 1997; König 2014a. 237 In: Bohnenkamp 1994, S. 784, V. 63–68. 238 Vgl. Goethe am 9.12.1797 an Schiller: »Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein? daß das höchste pathetische auch nur ästhetisches Spiel bei ihnen gewesen wäre, da bei uns die Naturwahrheit mit wirken muß um ein solches Werk hervorzubringen.« (Goethe/Schiller 1990, Bd. 1, S. 462). 239 In: Bohnenkamp 1994, S. 785, V. 79–82. 240 Schon im ›Satyros‹ von 1773 (V. 290–313); vgl. allg. Bollack 1992. Das universale Friedenspro­ jekt von Empedokles ist in dem Gedicht ›Die Katharmen‹ ausgearbeitet; vgl. Diogenes Laertius 8, 63f. 241 In: Bohnenkamp 1994, S. 785, V. 83f. 242 In: Bohnenkamp 1994, S. 785, V. 89–92. Vgl. zum entsprechenden Bildungskonzept Kapitel 1. 243 In: Bohnenkamp 1994, S. 785, V. 94. 244 Goethe 1986–1988, Goethes Briefe, Bd. 4, S. 370. 245 In: Bohnenkamp 1994, S. 784, V. 76–78. 246 Goethe 1988a, S. 498–500, V. 6–8; zum Gedicht vgl. die Kommentare von Dorothea Kuhn in: Goethe 1986, S. 481–487. 247 Dazu vor allem Bernhard Böschensteins Studie ›Goethes ›Natürliche Tochter‹ als Antwort auf die französische Revolution‹, in: Böschenstein 1990, S. 346–363.

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 Anmerkungen

248 Vgl. Dilthey 1886; Weimar 1989, S. 457–484; Höppner 1993; Wyss 1999; Scherer 2005. 249 So zitiert Erich Schmidt 1888, S. 260, aus dem Gedächtnis, was Scherer seiner Wintervorlesung 1883 vorausschickte; zur Goethe-Philologie vgl. Mandelkow 1980–1989, Bd. 1, S. 215–218. 250 Minor 1901a, S. 3; vgl. Minor 1901b. 251 Scherer 1883: Die Revue, von der Klaus Weimar (Anm. 248) spricht, pulsiert nach drei WertGegensatzpaaren (Form–Formlosigkeit, Toleranz–Intoleranz, frauenhaft–männisch) und erreicht ihre Wellenberge und Blüteperioden, wenn Kultur, Toleranz und Offenheit sich durchsetzen können. 252 Schöne 1982 (Goethes Wort Walpurgissack stammt aus einem Gespräch Goethes mit Johannes Falk im Sommer 1808; vgl. Falk 1832, S. 92); kritisch dazu: Zabka 1998. 253 In: Bohnenkamp 1994, S. 143, Z. 76 (aus: H P50, ebd., S. 139–157). 254 Emrich 1957, S. 312–325; zu Emrich vgl. Mandelkow 1996, S. 172f; Heydebrand 1996; Jäger 2000; Sprengel 2003; die Diskussion um das Verhalten Emrichs während der NS-Zeit wurde ange­ stoßen durch den Roman ›Der Urfreund‹ von Kurt Mautz (Mautz 1996, dazu Jäger 1996). 255 Emrich 1957, S. 250. 256 Emrich 1957, S. 250. 257 Emrich 1957, S. 250. 258 Vgl. zur Frage einer idiomatischen Dichtersprache König 2014a, Kapitel 3.2. 259 Szondi 2011d, S. 286, nimmt die Wendung in seiner Abhandlung ›Über philologische Erkennt­ nis‹ (1962) aus Adornos Essay ›Valérys Abweichungen‹ (Adorno 1974b). 260 Vgl. Mayer 1969; Baumgart 1978; Kluge 1982; Lubkoll 1986, S. 114–203. 261 Vgl. Burdach 1926. 262 So nach Friedrich von Blankenburgs Schreiben über Lessings verlorengegangenen ›Faust‹, Leip­ zig am 14. 5. 1784, in: Lessing 1997, S. 65; zur Frage des Verlustes vgl. Henning 1989. 263 Vgl. die aufklärerische Forschungslinie mit Geiger 1890, und Mayer 1961; zu Ludwig Geiger vgl. König 2013. 264 Keller 1992 faßt so Makrokosmos, Erdgeist und Selbstmord zusammen. 265 Goethe/Schiller 1990, Bd. 1, S. 364. 266 Vgl. in: Bohnenkamp 1994, S. 424–462 (H P123B und C): »Sein Entstehen wird mystisch ange­ deutet, von seinen Eigenschaften legt es Proben ab, besonders tritt hervor daß in ihm ein allgemei­ ner Weltkalender enthalten sey, er weis jeden Augenblick was seit Adams Bildung bey gleicher Sonn Mond Erd- und Planeten Stellung unter Menschen vorgegangen sey daher er den den Zusaenhang der Weltgeschichte gründlich ableitet und zugleich verkündet daß die gegenwärtige Nacht gerade mit der Stunde zusammentreffe wo die pharsalische Schlacht geliefert worden, wie denn auch zu gleicher Zeit das Fest der klassischen Walpurgisnacht eintrete.« (15. 12. 1826, ebd., S. 425f). 267 Goethe hat sowohl Benjamin Hederichs ›Gründliches Lexicon mythologicum‹ (Hederich 1724) als auch Hederichs ›Gründliches mythologisches Lexicon‹ (Hederich 1770) benutzt; anders als Erich Trunz (Goethe 1986, S. 632) schätzt Schöne (Goethe 1994a, Kommentare, S. 523) die Bedeutung des Buches hoch ein. 268 In: Bohnenkamp 1994, S. 429 (H P123B, Z. 134). 269 Creuzer 1810–1812; vgl. Urlichs 1876; Herbig 1949; Rehm 1952, S. 271–318; Müller-Funk 1989; Schlesier 1994, S. 21–32. 270 Vgl. Primer 1913. 271 Hermann/Creuzer 1818. 272 Im ersten Band des dritten Heftes 1817 erschien ›Geistesepochen, nach Hermanns neusten Mit­theilungen‹ (Goethe 1987, 1. Abt., 41. Bd., S. 128–131); zwei Paralipomena (ebd., S. 470–473; aus dem ersten zitiere ich, S. 471) zeigen, daß weniger Hermanns Dissertation ›De mythologie Grae­ corum antiquissima‹ Goethe vor Augen stand, als der Briefwechsel mit Creuzer (Hermann/Creuzer 1818), daraus er ursprünglich eine längere Passage aus dem fünften Brief (von G. Hermann) abdruc­ ken ­wollte. Im September und Oktober 1817 und danach immer wieder beschäftigte sich Goethe mit

Anmerkungen 

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Schriften über Mythologie von Creuzer, Hermann, Welcker, Zoega u.a; das bezeugen Tagebuchein­ tragungen und Briefe vornehmlich an Boisserée, Knebel und Creuzer selbst, ebenso welche Partei er ergriffen hat: »nur geht es leider in diesen Dingen wie nach heitern Tagen, die Meinungswolken und Grillennebel vergrauen gar bald Himmel und Horizont. Mich rührt es nicht, denn ich weiß recht gut auf welcher Seite ich stehe und welche Denkweise mir angemessen ist. Diese such ich in mir auszu­ bilden, es sei an Natur oder Kunst, andere mögen anders verfahren, streiten werd ich niemals mehr.« (Goethe an Boisserée, 17. 10. 1817, Goethe 1986–1988, Goethes Briefe, Bd. 3, S. 405). 273 Creuzer 1810–1812, Bd. 3, S. 181. 274 Goethe 1986–1988, Goethes Briefe, Bd. 3, S. 402. 275 Goethe 1986–1988, Goethes Briefe, Bd. 3, S. 402. 276 In: Bohnenkamp 1994, S. 578 (H P163). 277 In: Bohnenkamp 1994, S. 555 (III H1). 278 Im Paralipomenon 163 (vgl. Anm. 276) strich Goethe das Paar »Geist / […] Egypten« mit Blei durch; der Vergleich mit einer Bemerkung von 1804 zeigt, daß Goethe hier auch Kritik an der Ästhe­ tik von früher übt. Daher das Zögern: »So scheint auch den Griechen das Andenken seiner Helena entzückt zu haben. Und wenn gleich hie und da ein billiger Unwille über das Unsittliche ihres Wan­ dels ent­gegengesetzte Fabeln erdichtete, sie von ihrem Gemahle übel behandeln, sie sogar den Tod verworfner Verbrecher leiden ließ, so finden wir sie doch schon im Homer als behagliche Hausfrau wieder; ein Dichter, Stesichorus, wird mit Blindheit gestraft, weil er sie unwürdig dargestellt; und so verdiente nach vieljähriger Controvers Euripides gewiß den Dank aller Griechen, wenn er sie als gerecht­fertigt, ja sogar als völlig unschuldig darstellte und so die unerläßliche Forderung des gebilde­ ten ­Menschen, Schönheit und Sittlichkeit im Einklange zu sehen, befriedigte.« (Goethe 1987, 1. Abt., 48. Bd., S. 109f). Vgl. allg. Petersen 1974; Petzold 1995. 279 Vgl. Hederich 1770, Sp. 39 und Sp. 1222. 280 Vgl. Schlaffer 1981. Die letzte Szene ist kein allegorisches Gegenprogramm zum Stück bzw. des­ sen Konsequenz (im Namen der Liebe etwa), sondern in ihr setzt sich, wie vorher auch, die NaturKonstruktion Goethes durch. 281 Vgl. Kapitel 3. 282 Vgl. Kapitel 1. 283 Vgl. die oben geübte wissenschaftsgeschichtliche Kritik an Albrecht Schöne: Für die letzte Szene ›Bergschluchten‹ privilegiert er Origines’ Apokatastasis- und Howards Wolken-Lehre (vgl. Goethe 1994a, Kommentare, S. 778–795); wichtig dafür: Burdach 1932; kritisch: Vaget 1996. 284 Vgl. auch Zabka 1993. 285 Jochen Schmidt 1990 ersetzt eine Tradition durch die andere, während Schlaffer 1981, S. 163, sich gar nicht irritieren läßt: Es sei eine Sprachvariante mit dem Zweck, etwas ganz anderes anzu­ zeigen; vgl. allg. auch Chiarloni 1989. 286 Goethe 1989, S. 221. 287 Goethe 1994a, Texte, S. 463. 288 Buber 1968, S. 391. 289 Buber 1968, S. 393. 290 Buber 1968, S. 394. 291 Vgl. König 2001. 292 Buber 1968, S. 387. 293 Jacob Grimm 1865; vgl. Kunze 1957. 294 Vgl. Fromm 1967. Nach der von Lore und Hans Fromm besorgten Übersetzung (Lönnrot 1967) wird das ›Kalevala‹ im folgenden zitiert; der neueren Übersetzung von Gisbert Jänicke (Lönnrot 2004) mangelt es an interpretierender Reflexion. 295 Buber 1968, S. 390.

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 Anmerkungen

296 Vgl. Judet de La Combe 1998; Rousseau 2001; grundlegend zur Historizität des Heldenepos, mithin zu den Versuchen, das Nibelungenlied »in eine literarhistorische Positivität überzuführen«, vgl. Wyss 2001. 297 Vgl. Judet de La Combe 1998, S. 273. 298 Diese Überlegungen gehören zu meinem Buch in Arbeit: ›Wie man Nationen am Schreibtisch erfindet. Zu einer kritischen Wissenschaftsgeschichte Europäischer Philologien‹; vgl. als Grundlage Fürbeth u. a. 1999 sowie König 2009b. 299 Vgl. Kapitel 1. 300 Vgl. Wolf 1985. 301 Wolf 1985, S. 19. 302 So in der Elegie ›Herrmann und Dorothea‹, in: Goethe 1988a, S. 198–200, hier S. 199, V. 30. 303 Vgl. zum folgenden u.a. Wrede 1999; Schoolfield 1998; Honko 1984. 304 Herder 1994, S. 314. 305 Schlegel 1988, S. 132; vgl. Trabant 2006; zu Wilhelm von Humboldts Sprachdenken vgl. Kapi­ tel 2; Messling 2008; Thouard 2000b; Thouard 2004; Trabant 2009. 306 Fromm 1967, S. 348. 307 Laut Voßschmidt 1989 hat Lönnrot im Jahr 1834 Wolf gelesen; Liisa Voßschmidt verdanke ich wertvolle brieflich gegebene Hinweise. 308 Die Rolle von Dichtern für die europäische, philologische Rezeption deutschsprachiger Autoren, wie etwa von José Ortega y Gasset für Rilke in Spanien, ist – obgleich prägend – bislang nicht syste­ matisch untersucht. Ulrich Wyss spricht mit Recht von der Philologie als »Schatten der Literatur«; vgl. systematisch dazu König 2001 und König 2014a. Man wünscht sich mehr Studien wie die von Michael Hamburger zu Hölderlin (Hamburger 1966). 309 Vgl. Kapitel 2 und 8. 310 Vgl. Bollack 1997. 311 Vgl. Rousseau 2001, S. 126: »L’unité esthétique de l’›Iliade‹ n’est pas l’unité ›organique‹ dont se réclamaient aussi bien les Analystes que les Unitariens. Elle est construite, c’est un artefact, dont l’audi­toire de l’aède est à même de goûter la virtuosité et la complexité, et dont il est exercé à e­ ntendre, c’est-à-dire à déchiffrer, le discours implicite.« 312 Die Zusammenstellung des Epos bzw. der Epenfassungen wurde von einem regen Briefwechsel Lönnrots mit den Philologen seiner Zeit beeinflußt, die ihm Kritik, Verbesserungs- und Änderungs­ vorschläge oder schlicht Unterstützung bei der Redaktion zukommen ließen (zu dem finnischen wissen­schaftlichen Diskurs vgl. Kaukonen 1956, bes. S. 454–456); zuletzt entspringt die ›Kalevala‹Welt Lönnrots fiktiven Vorstellungen. 313 Vgl. auch in Kapitel 7 die Rekonstruktion von Positionen in der Geschichte der Hermeneutik hin zur kritischen Hermeneutik. 314 Vgl. Gumbrecht 2003; König 2003b. 315 Barner 1993; vgl. Kapitel 1. 316 Zum Konflikt von Analytikern und Unitariern vgl. Jean Bollacks Aufsatz ›Ulysse chez les philo­ logues‹ (1975), in: Bollack 1997, S. 29–59. 317 Vgl. die Arbeiten von Jean Bollack und Michel Espagne über den Widerstand gegen das deutsche philologische Programm in Frankreich: Bollack 1984; Espagne 1993. Vgl. Hültenschmidt 2009. 318 Lönnrots ›Anmärkningar till den nya Kalevala upplagan‹, in: ›Litteraturblad För Allmän Med­ borgerlig Bildning‹ (Helsingfors, Januar 1849), übers. von Voßschmidt 1989, S. 24, gemeinsam mit Väinö Kaukonen. 319 Fromm 1967, S. 349. 320 Vgl. Wolfgang Steinitz über seine in der DDR erschienene Ausgabe von 1968 (Buber 1968, S. 295–405). Grimms Rede in der Preußischen Akademie vgl. Jacob Grimm 1865. 321 Zitiert aus Kaukonen 1956, S. 455.

Anmerkungen 

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322 Vgl. Hurch 2003; vgl. Kapitel 2. 323 Vgl. Wyss 2000; vgl. Haug 1984, Sp. 78: »Heuslers Entwicklungsmodell setzt die Vorstellung vom Heldenlied als einer einmaligen poetischen Prägung voraus. Die Schritte der Umformung werden entsprechend als individuelle Neukonzeptionen verstanden.« 324 Zit. nach Fromm 1967, S. 352. 325 Vgl. Voßschmidt 1989, S. 28–37. 326 Lönnrot 1967, Bd. 1, S. 340. 327 Zitiert in Lönnrot 1967, Bd. 2, S. 76. 328 Bereits bei der Zusammenstellung von ›Runokokous Väinämöisestä‹ ist die Unsicherheit Lönn­ rots zu spüren, denn er denkt an die Anzahl der Zusammensteller, die ihm vorausgehen (vgl. Voß­ schmidt 1989, S. 24), und so kommt es zur redaktionellen Maxime, nur nichts ›Wichtiges‹ fortzulas­ sen. Lönnrot spricht in diesem Sinn von einem »natürlicheren Zusammenhang« der Gesänge: »Die Gesänge werden besonders am Anfang in eine ganz andere Reihenfolge als früher gesetzt, weshalb die Ganzheit einen natürlicheren Zusammenhang bekommt.« (zitiert nach Kaukonen 1956, S. 446; übers. von L. Voßschmidt) Oder: »Beim Ordnen der Gesänge des Kalevala war ich bestrebt, insbeson­ dere die Gesänge über Väinämöinen et cetera in die Reihenfolge zu bekommen, die ihr eigener Inhalt verlangt hat, so dass keine abrupte Unterbrechung in dem naturgemäßen Verlauf entstehen würde.« (zitiert nach Kaukonen 1956, S. 456; übers. von L. Voßschmidt). In der ›Natur‹ imaginiert sich Lönn­ rot als (moderner) Sänger. 329 Vgl. Voßschmidt 1989, S. 31f. 330 Kraus 1923, S. 73. 331 Vgl. ergänzend König 2001 (Kapitel 3). 332 Vgl. König 2001, S. 49–68. 333 Hofmannsthal/Borchardt 1994, S. 292f. 334 Hofmannsthal 2011c. 335 Burdach 1919. 336 Goethe 1994b, Teil 1, S. 181. 337 Hofmannsthal 2011c, S. 86. 338 Hofmannsthal 2011c, S. 86. 339 Hofmannsthal 2011c, S. 89. 340 Georg Witkowski (1863–1939), Publizist, Bibliophiler (Hg. der ›Zeitschrift für Bücherfreunde‹), Goetheforscher und Editor, hat bis 1933, als ihm wegen seiner jüdischen Herkunft die Lehrerlaubnis entzogen wurde, in Leipzig als Professor für Deutsche Sprache und Literatur gewirkt. Wie Jakob Minor bevorzugte er in der modernen Literatur den Naturalismus. Vgl. Haischer 2003. 341 Hofmannsthals Brief an Witkowski ist abgedruckt in Hirsch 1995. 342 König/Lämmert 1993. 343 Vgl. Chamberlain 1912, S. 568, mit den Gegensätzen Maß vs. Ganzes, Unterscheiden vs. Verbin­ den, Monade vs. Gemeinsamkeit, Natur vs. Gott. 344 Goethe 1923, Bd. 8, S. 195–202; jetzt Hofmannsthal 2011b. 345 Emrich 1957, S. 74. 346 Hofmannsthal 2011b, S. 249; Goethes Wort fällt in einem Brief an Zelter vom 19. 10. 1829 (­Goethe 1986–1988, Goethes Briefe, Bd. 4, S. 347). 347 Hofmannsthal 2011b, S. 249f. 348 Dilthey 1959. 349 Auszug aus Hofmannsthals Aufzeichnungen (Leselisten Hofmannsthals, im Freien Deutschen Hochstift (FDH), H VII 6). Hofmannsthal widmete Dilthey Bd. 1 der ›Kleinen Dramen‹ (1906), Anfang 1907 traf er ihn in Berlin. Dilthey schickte ihm 1907 die Rede ›Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn‹ (1886) sowie die Abhandlung ›Beiträge zum Studium der Individualität‹ (1895/96). Hof­ mannsthal hatte auch Diltheys ›Schleiermacher‹ und die ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹

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 Anmerkungen

auf einer seiner Leselisten aus der Zeit nach 1917, als er Konrad Burdachs ›Faust und Moses‹ las (FDH, H VII 10); vgl. an Burdach am 17. 2. 1918: »Die Erinnerung an diese Gestalt ist mir unschätz­ bar, und von symbolischer Bedeutung.« (Unveröff. Original, Nachlaß Burdach im Archiv der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften). 350 Dilthey 1907 (Signatur in Hofmannsthals Bibliothek: FDH 1252), darin S. 105, 330 und 159. 351 Hofmannsthal 2011d. 352 Vgl. Schlott 1999. 353 Hofmannsthal 2011d, S. 21. 354 Vgl. Dilthey 1910. 355 Hofmannsthal 2011d, S. 19f. 356 Hofmannsthal 2011d, S. 21. 357 Hofmannsthal 2011d, S. 21. 358 Unveröff. Original, von Schreiberhand, FDH. 359 Vgl. König 2001, S. 225–234. 360 Zu Hofmannsthal und Goethe vgl. in König 2001 das Kapitel ›Goethe in Hofmannsthals Kultur‹ (S. 95–171); Seng 2001. 361 Hofmannsthal 1980, S. 281. 362 Hofmannsthal 1979b. 363 Vgl. Hofmannsthal 1979b, S. 248. 364 Hofmannsthal 2009. 365 Hofmannsthal 2013, S. 365. 366 Goethe 1957, S. 75. 367 Goethe 1908; Signatur in Hofmannsthals Bibliothek: FDH 1366. 368 Goethe 1908, S. 120; nach: Goethe 1993, ein Aphorismus aus dem undatierbaren Nachlaß (1.632), S. 92. 369 Goethe 1908, S. 125. 370 Goethe 1908, o. O. 371 Vgl. Fricke 1993. 372 Goethe 1908, S. 103. 373 Anknüpfen darf er an das zweideutige »daraus«. Bezieht es sich auf das »Wirksame«, dann sind mit »Gewirkte« die »Literaturen« gemeint – und das »Wirksame« ist die Antike. Meint »daraus« aber die »Literaturen«, dann sind die Heutigen die »Gewirkten«, die »Literaturen« ihre (antiken) Vorbilder, und das »Wirksame« ihr Quell, auf den sich auch die Heutigen (ob Goethe oder Hofmannsthal) bezie­ hen müssen, um ihr Original zu finden. 374 Solgers Aufsatz aus: Goethe 1901–1914 (Signatur in Hofmannsthals Bibliothek: FDH 1351), Bd. I.2, S. 479; Zitat in: Hofmannsthal 1980, S. 283. 375 Hofmannsthal spricht in der Vorrede zum ›Deutschen Lesebuch‹ (1922) von dem »jeder liebe­ vollen Zusammenstellung eigene[n] Geheimnis« (Hofmannsthal 1979a, S. 175). 376 Hofmannsthal 1979a, S. 175. 377 Hofmannsthal 1979a, S. 175. Dieses in der Habilitationsschrift entwickelte Argument findet sich an vielen Stellen im Werk, vgl. allein im ›Buch der Freunde‹ den Satz Heimanns »Das Geistige eines Kunstwerkes besteht nicht darin, über was es spricht, sondern zu wem es spricht.« (Hofmanns­ thal 1980, S. 286). Oder: »Jedes ausgesprochene Wort supponiert den Hörer, jedes geschriebene den Leser: diesen mitzuschaffen ist der verhüllte, aber größere Teil der schriftstellerischen Leistung.« (ebd., S. 287). 378 Hofmannsthal 1980, S. 288. 379 Vgl. König 2001, S. 225–234. 380 Nadler 1912–1928. 381 Vgl. Hofmannsthal/Pannwitz 1993, S. 456.

Anmerkungen 

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382 Hofmannsthal/Nadler 1974, S. 52. 383 Hofmannsthal/Nadler 1974, S. 51. 384 Nadler 1980/81. 385 Goethe 1901–1914. 386 Unveröff. Original, Nachlaß Rudolf Hirsch, FDH. 387 Notiert in sein Exemplar von Thomas Babington Macaulays ›Critical and Historical Essays‹ (Leipzig 1850), in denen Hofmannsthal von September bis November 1928 las, zitiert nach Ham­ burger 1961, S. 41. – Die Werte bemerkt Gräf (1864–1942) nicht: Er war der Politik fern, und gerade deshalb nah. Im selben Brief an Hofmannsthal schreibt er auch: »Diese Zeilen machen gewiß nicht den Eindruck, als seien sie geschrieben, während im Nebenzimmer ein Abgeordneter zur NationalVersammlung sich einquartiert hat, u. die Weltgeschichte eingekehrt ist wieder einmal an die stille Stadt Goethes und Schillers. Vielleicht tadeln Sie es. Aber ich kann mich nicht verstellen und der ›Menschheit große Gegenstände‹ an andrer Stelle sehen, als wo meine Natur sie von jeher gesehen hat, ausschließlich im Reich des Geistes, im Land der Kunst u. der Wissenschaft.« Das kann man nicht lesen, ohne daran zu denken, daß Gräf die Nachfolge Ludwig Geigers angetreten hat, dem Erich Schmidt mit antisemitischen Angriffen das ›Goethe-Jahrbuch‹ 1913 entzog, und daß Gräf 1933 so­ gleich dem ›Opferring‹, dem ›Kampfbund für deutsche Kultur‹ und der ›Deutschen Arbeitsfront‹ bei­ getreten ist. Vgl. Otto 2003; König 2013. Nadler spricht ›gedankenreich‹ aus, woran der kultivierte Philologe politisch glaubt. 388 Vgl. Kapitel 4. 389 Vgl. Kapitel 3. 390 Die in der theoretischen Herleitung eingebettete Lektüre verlangt in der kritischen, wissen­ schaftshistorischen Rekonstruktion anderer Lektüren, nicht von der Theorie her die Lektüre zu verur­ teilen, sondern das ›principle of charity‹ bis zu dem Punkt der Abweichung gelten zu lassen. 391 Diese Problematik steht im Zentrum einer gemeinsam mit Dieter Grimm (vgl. Grimm 2009) veranstalteten Workshopreihe am Wissenschaftskolleg zu Berlin und an der Universität Osnabrück (2012–2016) zur Frage ›Wann endet eine Interpretation? Zur Vergleichbarkeit des Verstehens in den Philologien und der Rechtswissenschaft‹. Die Folgen für die rechtswissenschaftliche Einschätzung aufgrund der ›Kompetenz‹ könnte darin bestehen, daß nicht den – theoriegeleiteten – Experten das Urteil über den Kunstcharakter überlassen wird, sondern einer ästhetischen Kompetenz, die nicht an die Disziplin gebunden ist und durchaus den Richter als Leser beansprucht. Damit beziehe ich mich u. a. auf die systemtheoretische Begründung von ›Kunst‹ durch das Bundesverfassungsgericht, das wegen dieser Vorentscheidung in seinem ›Esra‹-Urteil auf eine Begründung in der Lektüre und auf eine in der Lektüre faßbare Subjektivität von Maxim Billers Roman verzichtet. Vgl. König 2010. 392 Schleiermacher 2012, S. 6. 393 Schleiermacher 2012, S. 39. 394 Schleiermacher 2012, S. 39. 395 Vgl. v. a. das Kapitel ›Sprache als Medium der hermeneutischen Erfahrung‹ in Gadamer 1990, S. 387–409. 396 Gadamer 1990, S. 394. 397 Gadamer 1990, S. 394. 398 Gadamer 1990, S. 389. Zu den philosophischen Voraussetzungen und zu den Konsequenzen für die Textauslegung in historischem Abstand vgl. Bollack 2003, S. 86–89. 399 Gadamer 1990, S. 394. 400 Gadamer 1990, S. 332. Das wird von Gadamer auch auf die Rechtswissenschaft bezogen. Die Kooperation vom Rechtshistoriker, der den historischen Sinn eines Gesetzes rekonstruieren will, ­ avigny und dem Juristen, der als Rechtsdogmatiker den historischen Sinn anwendet (das Vorbild ist S 1840–1849, der darin keinen Gegensatz sieht), lehnt Gadamer ab. Aufgrund des Wandels der Ver­ hältnisse sei der normative Gehalt eines Gesetzes jeweils von neuem zu bestimmen. Die Auslegungs­

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 Anmerkungen

geschichte ermöglicht dem Dogmatiker das Vorverständnis, das notwendig sei, um die Anpassungen vorzunehmen bzw. zu verstehen. Gadamer schreibt: »Der Historiker, der das Gesetz aus seiner histo­ rischen Ursprungssituation heraus verstehen will, kann von seiner rechtlichen Fortentwicklung gar nicht absehen. Sie gibt ihm die Fragen, die er an die historische Überlieferung stellt, an die Hand. Gilt das nicht in Wahrheit von jedem Text, daß er in dem, was er sagt, verstanden werden muß? Heißt das nicht, daß es stets einer Umsetzung bedarf? Und erfolgt diese Umsetzung nicht immer als eine Vermittlung mit der Gegenwart?« (Gadamer 1990, S. 334). 401 Vgl. den großen, Paul Celan gewidmeten Aufsatz ›Schleiermachers Hermeneutik heute‹ (1970), hier auch das Zitat der Maxime (Szondi 2011e, S. 113) und die gleichfalls 1970 notierten ›Bemerkun­ gen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik‹ (als Vorlage für ein Zürcher Symposion unter Leitung auch von Gadamer; Szondi 1975, dort S. 406). 402 Szondi 2011e, S. 126. 403 Szondi 2011a; vgl. Kapitel 8. 404 Vgl. Thouard 2012; König 2014a (Kapitel 2). 405 Bollack 2003, S. 70. 406 Zu Bollacks Gebrauch von Begriffen vgl. König 2008. 407 Adorno in seinem Aufsatz ›Valérys Abweichungen‹ (Adorno 1974b, S. 159); von Szondi zitiert in: Szondi 2011d, S. 286. 408 Man setze die Formel daher auch nicht gleich mit der Logik der Produktion, die anhand der Handschriften nachvollziehbar ist. 409 In diesem Beitrag treibe ich Gedanken aus meinem Buch König 2005 voran (das Buch enthält auch ein Kapitel und eine Chronik von Andreas Isenschmid). 410 Die (meist handschriftlichen) Notate finden sich im Nachlaß von Peter Szondi im Deutschen Litera­tur­archiv Marbach (DLA). Quellenangaben werden hier und in den folgenden Beispielen wenn möglich nach den Ausgaben in seiner Bibliothek, zu der im Nachlaß Listen überliefert sind, verifiziert (und seine eigenen Quellenangaben im Wortlaut zitiert), hier Schiller an Goethe, 23.8.1794, vermut­ lich zitiert nach: Goethe/Schiller 1944, Bd. 1, S. 23–27, hier S. 23; Bibliothek Szondi, Nr. 50. 411 Szondi 2011d, S. 263. 412 Vgl. Weinrich 1985, S. 17, sowie Linke 1996. Braese 2010, S. 11f, stellt die beiden Positionen (Sprachkultur in normativer respektive handlungsorientierter Sicht) einander gegenüber und betont den Aspekt einer Vielfalt sozialer und kultureller Praxen in der deutschen Sprachkultur. 413 Vgl. Schlaffer 2007. 414 Vgl. Barner/König 2001. 415 Jean Bollack, o. T., unveröff. Ts., 5 Bl., Nachlaß Szondi (DLA). 416 Szondi an Bloch, 21. 3. 1966, Ts., Nachlaß Szondi (DLA). 417 Szondi 2011e, S. 106. 418 Celan an Szondi, 11. 8. 1961, in: Celan/Szondi 2005, S. 39f. 419 Celan/Szondi 2005, S. 40 (11. 8. 1961). 420 Szondi, Ts., 27 Bl. u. d. T. ›Vercors. Quartalsarbeit 1947‹, Nachlaß Szondi (DLA). 421 Vgl. zur Funktion des Deutschen für die Juden als lingua franca vor der und – später – gegen die Nationalisierung bzw. Ethnifizierung des Deutschen Braese 2010, S. 16–20; König 2009a. Zur hermeneutikgeschichtlichen Rolle der ›Celan-Studien‹ vgl. Kapitel 7. 422 Vgl. meine Untersuchung der gehemmten Innovation im Werk von Ludwig Geiger (König 2013); vgl. ebenso Bollack 2001; Volkov 1987. 423 Vgl. Wenck 2000, S. 272–337. 424 Ts., Nachlaß Szondi (DLA). 425 Vgl. Celan/Szondi 2005, dort die Korrespondenz von Jean und Mayotte Bollack mit Szondi (mit einem Verzeichnis, S. 249f). 426 Vgl. Braese 2010, S. 14, und Anm. 412.

Anmerkungen 

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427 Szondi 2010. 428 Spoerri 1938; Zitat ebd., S. 153. 429 Vgl. Szondi an Scholem, 26.2.1970, in: Szondi 1993, S. 301–305. 430 Szondi 1993, S. 267. 431 Bollack (Anm. 415). 432 Szondi an Killy, 17. 5. 1964, Nachlaß Szondi (DLA). 433 Vgl. Mattenklott 1994. 434 Böschenstein an Szondi, 5. 2. 1959, Ts., Kopie, Nachlaß Szondi (DLA). 435 So Eberhard Lämmert und Gert Mattenklott in der Diskussion während der Abendveranstaltung ›Peter Szondi zum Gedenken‹ am 14. Mai 2009 in der Berliner Repräsentanz des Suhrkamp Verlags. Isenschmidt 2009 dokumentiert dagegen materialreich die Bedeutung, die das eigene Judentum für Szondi hatte; freilich legt Isenschmid eine Heimatsehnsucht Szondis zugrunde, die dessen im Inne­ ren eingerichteten dialektischen Form nicht gerecht wird. 436 Nachlaß Szondi (DLA), Valéry 1957–1960, Bd. 2, S. 687f. Szondi übersetzt »Die Syntax ist ein Vermögen der Seele.« (Valéry 1959, S. 124). 437 Mattenklott 1994. 438 Paul Valéry an André Caselli, 24.8.1928, in: André Caselli, Les Fleurs de la solitude. Poèmes précédés d’une lettre de Paul Valéry, Paris 1937, zitiert nach Supervielle 1996, S. 560. 439 Nachlaß Szondi (DLA). Szondi zitiert vermutl. nach: Schlegel 1967c, S. 295; Bibliothek Szondi, Nr. 403. 440 Stendhal 1920, S. 54. 441 Nachlaß Szondi (DLA). Szondi zitiert vermutl. nach: Paul Valéry, L’Idée fixe, in: Valéry 1957– 1960, Bd. 2, S. 210f; Bibliothek Szondi, Nr. 872. 442 Kierkegaard 1914, S. 253f. 443 Flaubert 1973, S. 227; vgl. Bibliothek Szondi, Nr. 674; Flaubert 1971, S. 122; vgl. Bibliothek Szondi, Nr. 673. 444 Aus: Szondi, Mit einer schwarzen Galle, Ts., 2 Bl., Nachlaß Szondi (DLA). 445 Vgl. König 2005, S. 9. 446 Szondi an Nagel, 14. 11. 1954, in: Szondi 1993, S. 51. 447 Schlaffer 2007, S. 522. 448 Vgl. Szondi 2011e; Kapitel 7. 449 Szondi 1973–1975. 450 Szondi 2011c. 451 Vgl. Theodor W. Adorno: »Die Fähigkeit, Kunstwerke von innen, in der Logik ihres Produziert­ seins zu sehen – eine Einheit von Vollzug und Reflexion, die sich weder hinter Naivetät verschanzt, noch ihre konkreten Bestimmungen eilfertig in den allgemeinen Begriff verflüchtigt, ist wohl die ­allein mögliche Gestalt von Ästhetik heute.« (Adorno 1974b, S. 159); vgl. Szondis Aufsatz ›Über phi­ lologische Erkenntnis‹, in Szondi 2011d, S. 263–286, hier S. 286. 452 Vgl. die Korrespondenz in Szondi 1993. Thouard 2012 hat Szondis Kritikbegriff scharfsinnig durchleuchtet. 453 Hölderlin 1951, S. 339. 454 Adorno 1974a, S. 447. 455 So Schlaffer 2007. 456 Bollack 2001, S. 181. 457 Schlaffer 2007, S. 524f. 458 Vgl. Szondi 2011e, S. 106. 459 Vgl. König 2012; vgl. auch Kapitel 7. 460 Siehe Schlegel 1981b, S. 67; vgl. ebenso Kapitel 3.

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 Anmerkungen

461 Schleiermacher 2012, S. 6; Szondi zitiert die Stelle in: Szondi 1973–1975, Bd. 5, S. 406 (sowie ebd., S. 164); und in Szondi 2011e, S. 113. 462 Vgl. Schlaffer 2007. 463 Szondi schickt das Manuskript im Oktober 1967 an Scholem, vgl. Szondi 1993, S. 238–242; 1973 wird es wieder publiziert: Szondi 1973, S. 62–67. Der Kritik liegt der Band ›Deutsche und Juden‹ aus dem Jahr 1966 zugrunde. 464 Vgl. den schon (Anm. 418) genannten Brief von Celan an Szondi (11. 8. 1961), in dem Celan das Wort vom Juden als Namen resemantisiert, indem er es mit dem Menschlichen verbindet.

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Personenregister Kursiv gedruckte Ziffern verweisen auf Nennungen im Anmerkungsteil; fett gedruckte Ziffern auf Kapitel, die der Person gewidmet sind. Adorno, Theodor W. 62, 100, 105, 109, 124, 130f Ahlqvist, August 77 Aischylos 2, 15–17 Alexander der Große 91 Alexander I., Zar 74 Alt, Peter-André 116 Ariost 6 Aristarch 21, 72 Arnim, Achim von 74 Ash, Mitchell G. 116 Barner, Wilfried 76, 117f, 130 Barth, Hans 104f Bartl, Andrea 118 Baudelaire, Charles 114 Baumgart, Wolfgang 124 Beese, Henriette 123 Behler, Ernst 50 Beißner, Friedrich 117 Benjamin, Walter 105, 123 Benne, Christian 119 Bernays, Michael 21, 117 Biller, Maxim 129 Blankenburg, Friedrich von 124 Bloch, Ernst 103 Boeckh, August 35, 55, 80 Böschenstein, Bernhard 106, 108, 123 Bohnenkamp, Anne 123 Boisserée, Sulpiz 65, 125 Bollacher, Martin 116 Bollack, Jean 97, 100f, 103, 105, 113f, 123, 126, 129–131 Bollack, Mayotte 105, 130 Bollenbeck, Georg 113 Borchardt, Marie Luise 82f Borchardt, Rudolf 92 Borsche, Tilman 113 Bourdieu, Pierre 115 Braese, Stephan 104, 130 Brandstetter, Gabriele 118 Brecht, Walther 92 Brentano, Clemens 74 Buber, Martin 71f, 77

Burckhardt, Jacob 91 Burdach, Konrad 83, 92, 124f, 128 Caesar, Julius 16 Caselli, André 131 Cassirer, Ernst 30, 113, 118 Celan, Paul 99, 102–105, 110f, 130, 132 Chamberlain, Houston Stewart 84f, 127 Chiarloni, Anna 125 Conant, James VII Creuzer, Georg Friedrich 65–68, 92, 95, 124f D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 41 Deubel, Volker 119 Diderot, Denis 41 Dilthey, Wilhelm 60, 86–88, 96, 123f, 127f Diogenes Laertius 123 Eckermann, Johann Peter 90f Eibl, Karl 113, 115 Eichner, Hans 38, 119 Empedokles 57, 107, 123 Emrich, Wilhelm 56, 59, 61f, 85, 105, 124 Engel, Manfred 49, 122 Espagne, Michel 126 Euripides 11, 65, 67, 125 Europaeus, David Emanuel Daniel 77 Falk, Johannes 124 Fichte, Johann Gottlieb 46 Flaubert, Gustave 108 Freese, Rudolf 113 Frey, Daniel 117 Fricke, Harald 128 Friedrich Wilhelm III. 20 Fromm, Hans 79, 125f Fromm, Lore 125 Fülleborn, Ulrich 108 Fürbeth, Frank 126 Gadamer, Hans-Georg XI, 75, 96, 98, 100, 108, 110, 116, 129f Geiger, Ludwig 63, 124, 129f

150 

 Personenregister

Gerstenmaier, Eugen 111f Goethe, Catharina Elisabeth 91 Goethe, Johann Wolfgang X, XI, 1–23, 27, 32–34, 37, 44–47, 49f, 52, 56–70, 72f, 81–94, 95, 102, 113–117, 120f, 123–129 Goll, Claire 103 Goll, Yvan 103 Gottlund, Carl Axel 74 Gräf, Hans Gerhard 93, 129 Grillparzer, Franz 93 Grimm, Dieter 129 Grimm, Jacob 26, 71, 74, 77, 114 Grimm, Wilhelm 26, 74, 114 Gumbrecht, Hans Ulrich 75, 116, 120 Gundolf, Friedrich 4 Hagen, Friedrich Heinrich von der 22 Haischer, Peter-Henning 127 Hamburger, Michael 126, 129 Hardenberg, Friedrich von, s. Novalis Harnack, Otto 113f Haug, Walter 127 Hauptmann, Gerhart 92 Haym, Rudolf 113 Hebbel, Friedrich 93 Hederich, Benjamin 65, 124f Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 3, 12 Hehn, Victor 113 Heidegger, Martin 105, 108, 115 Heimann, Moritz 128 Henning, Hans 124 Henningsen, Jürgen 120 Heraklit 91 Herbig, Reinhard 124 Herder, Johann Gottfried 60, 74, 114 Hermann, Gottfried 65f, 68, 91, 95, 124f Hettner, Hermann 93, 116 Heusler, Andreas 77, 127 Heydebrand, Renate von 124 Heyne, Christian Gottlob 37, 44 Hindemith, Paul 105 Hölderlin, Friedrich 86, 102, 108f, 119, 126 Höppner, Wolfgang 124 Hofmannsthal, Gertrud (Gerty) von 92 Hofmannsthal, Hugo von VII, XI, 36, 74, 81–94, 127–129 Homer 3f, 6, 10, 21, 27f, 38f, 66f, 72–76, 79f, 116f, 119, 125f Honko, Lauri 126

Howard, Luke 69f, 125 Huch, Ricarda 82 Hühn, Helmut 119 Hültenschmidt, Erika 126 Hugo, Victor 82, 85, 89f Humboldt, Alexander von 8, 19 Humboldt, Wilhelm von X, 1–23, 24–35, 77, 92, 113–117, 120, 126 Hurch, Bernhard 127 Isenschmid, Andreas 130f Jacobi, Friedrich Heinrich 116 Jäger, Lorenz 124 Jänicke, Gisbert 125 Jaspers, Karl 111f Jeismann, Karl-Ernst 115 Judet de La Combe, Pierre 113, 116, 119, 123, 126 Kablitz, Andreas 121 Kant, Immanuel X, 2, 5, 8f, 11f, 18, 21f, 25, 27, 30f, 33, 35, 40–42, 46, 52, 95, 110, 113, 115, 118–120 Kassner, Rudolf 105 Kasztner, Rudolf 104 Kaukonen, Väinö 126 Keller, Gottfried 93 Keller, Werner 124 Kielöväinen, Vaassila 77 Kierkegaard, Søren 105, 108 Kilcher, Andreas 120 Killy, Walther 105f Klopstock, Friedrich Gottlieb 3 Kluge, Ingeborg 124 Knebel, Karl Ludwig 16, 125 Körner, Josef 38 Kolk, Rainer 117 Koopmann, Helmut 118 Kraus, Karl 81 Kuhn, Dorothea 123 Kunze, Erich 125 Lachmann, Karl 22f Lämmert, Eberhard 127, 131 Leibniz, Gottfried Wilhelm IX, 119 Lessing, Gotthold Ephraim 7, 37, 40, 44f, 63, 86, 117, 124 Lévi, Jean 118 Linke, Angelika 130

Personenregister 

Lönnrot, Elias XI, 71–80, 125–127 Lubkoll, Christine 124 Ludwig, Otto 93 Lützeler, Paul Michael 4, 113 Lukács, Georg 105 Lukrez 107 Lundgreen, Peter 115 Macaulay, Thomas Babington 129 Macpherson, James 74 Malinen, Ontrei 77 Man, Paul de 120 Mandelkow, Karl Robert 60, 124 Mattenklott, Gert 49, 107, 131 Matthisson, Friedrich von 117 Mautz, Kurt 124 Mayer, Hans 63, 124 Meier-Oeser, Stephan 119 Mell, Max 92 Merck, Johann Heinrich 93 Meschonnic, Henri 115 Messling, Markus 126 Michel, Willy 121 Minor, Jakob 60, 124, 127 Mittelstraß, Jürgen 119 Moses 128 Mühll, Peter von der 100 Müller-Funk, Wolfgang 124 Müller-Vollmer, Kurt 113f Nadler, Josef 92–94, 129 Nagel, Ivan 104, 131 Napoleon Bonaparte 88, 91 Niethammer, Friedrich Immanuel 38 Nietzsche, Friedrich 82, 91 Novalis 120f Origines 69f, 125 Ortega y Gasset, José 126 Ossian, s. James Macpherson Osterkamp, Ernst 113f, 116 Otto, Regine 129 Pannwitz, Rudolf 92 Perttunen, Arhippa 76 Petersen, Uwe 125 Petzold, Ruth 125 Platon 44, 57 Polheim, Karl Konrad 119, 123

 151

Porthan, Henrik Gabriel 74 Praetorius, Johannes 60 Primer, Paul 124 Properz 107 Quillien, Jean 113f, 116 Ranke, Leopold 86 Rehm, Walther 124 Reinhardt, Max 85, 89 Riedel, Manfred 116 Riedel, Wolfgang 117 Rilke, Rainer Maria 74, 98, 108, 118, 126 Rousseau, Philippe 119, 126 Runeberg, Johan Ludvig 73 Sauer, August 92 Savigny, Friedrich Carl 129 Scherer, Wilhelm 4, 56, 59–61, 113, 124 Schiefner, Anton 71 Schiewe, Jürgen 116 Schiller, Friedrich X, 3–5, 7–9, 12, 15f, 18f, 24–35, 39, 46f, 49, 64, 102, 107, 113f, 117–121, 123, 129 Schirren, Thomas 42, 120 Schlaffer, Heinz 37, 108–110, 115, 125, 130f Schlegel, August Wilhelm 12, 16, 44, 115, 120 Schlegel, Friedrich X, 36–55, 69, 74, 95, 97, 100, 107, 109f, 118–123 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst X, 16, 35, 43f, 49, 53–55, 75, 80, 95–97, 99, 103, 108, 110, 118–121, 123, 127, 130 Schlesier, Renate 124 Schlözer, August Ludwig von 74 Schlott, Michael 128 Schmidt, Erich 124, 129 Schmidt, Jochen 125 Schöne, Albrecht 56, 59–62, 124f Scholem, Gershom 103, 105, 111, 132 Schoolfield, George C. 126 Schopenhauer, Arthur 85 Schuster, Jörg 117 Seidlin, Oskar 115 Seng, Joachim 128 Shakespeare, William 9, 16, 44 Simmel, Georg 96 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 91 Spoerri, Theophil 105 Sprengel, Peter 124

152 

 Personenregister

Staiger, Emil 49, 104f, 122 Steinitz, Wolfgang 126 Stendhal 107 Stesichoros 125 Strauss, Richard 85, 92 Strobel, Jochen 120 Supervielle, Jules 107 Sweet, Paul R. 113 Szondi, Leopold 104 Szondi, Lili 104 Szondi, Peter XI, 32, 49, 51, 97, 99f, 102–112, 118f, 122, 124, 130–132 Szondi, Vera 104 Tavoillot, Pierre-Henri 116 Taylor, Michael Thomas 123 Thouard, Denis 113, 115, 118f, 126, 130f Trabant, Jürgen 29, 114, 126 Trunz, Erich 124 Urlichs, Ludwig 124 Vaget, Hans Rudolf 125 Valéry, Paul 100, 106–108, 124, 130f Varnhagen von Ense, Karl August 91 Vercors 103f Vierhaus, Rudolf 113 Volkov, Shulamit 130

Vom Bruch, Rüdiger 116 Voß, Johann Heinrich 3, 73 Voßkamp, Wilhelm 113 Voßschmidt, Liisa 126f Wagner, Richard 85 Wassermann, Jakob 92 Wegmann, Nikolaus 116, 119 Wehrli, Max 104f Weimar, Klaus 59, 113, 124 Weinrich, Harald 130 Weissenberger, Klaus 117 Welcker, Friedrich Gottlieb 125 Wellbery, David E. 120 Wenck, Alexandra-Eileen 130 Wiese, Benno von 118 Wild, Reiner 113 Winckelmann, Johann Joachim 7, 39, 114 Witkowski, Georg 83–86, 127 Wolf, Friedrich August XI, 20f, 23, 37–39, 41, 44, 72–74, 76, 80, 92, 116–119, 126 Wrede, Johan 126 Wyss, Ulrich 114, 124, 126f Zabka, Thomas 124f Zelter, Carl Friedrich 58, 90, 116, 127 Ziolkowski, Theodore 117 Zoega, Georg 125

Publikationsnachweise Wilhelm von Humboldt 1798. Zu Goethe und zur Problematik einer dichterischen Aktualität, in: Walter Erhart (Hg.), Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung, Stuttgart, Weimar: Metzler: 2004 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23). Penser le langage. Schiller après Humboldt, in: La philologie au présent. Critique, poésie, traduction. Pour Jean Bollack, textes rassemblés par Christoph König et Denis Thouard, Lille: Septentrion, S. 109–125. Grenzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate ›Zur Philologie‹ als Form des Romans ›Lucinde‹, in: Ulrich Breuer, Remigius Bunia und Armin Erlinghagen (Hgg.), Friedrich Schlegel und die Philologie, Paderborn: Schöningh 2013 (Schlegel-Studien 7), S. 15–43. Wissensvorstellungen in Goethes ›Faust II‹, in: Euphorion 93, 1999, H. 2: Goethe-Heft, S. 227–249. ›Epenzwang‹. Philologische Argumente am Beispiel des ›Kalevala‹, in: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 2008, H. 33/34, S. 70–81. Vom Stillstellen der Traditionen. Hofmannsthals Begriff der ›Cultur‹ im Blick auf Goethe und die Universität, in: studi germanici (nuova serie) 90, 2002, H. 3, S. 475–494. Positionen auf dem Weg zu einer kritischen Hermeneutik – Schleiermacher, Gadamer, Szondi, Bollack (Erstveröffentlichung). Peter Szondis Ethik des wissenschaftlichen Essays, in: Geschichte der Germanistik. Historische Zeitschrift für die Philologien 2013, H. 43/44, S. 36–48. Die Aufsätze wurden unter dem Gesichtspunkt der stilistischen Klarheit durchgesehen und die zugehörigen bibliographischen Angaben hinsichtlich der neueren Forschung behutsam ergänzt.