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German Pages [258] Year 2006
Böhlau
Literaturgeschichte in Studien und Quellen Band n Herausgegeben von Klaus Amann, Hubert Lengauer und Karl Wagner
PETER HANDKE POESIE DER R Ä N D E R Herausgegeben von Klaus Amann, Fabjan Hafner und Karl Wagner
Böhlau Verlag Wien • Köln • Weimar
E I N E VERÖFFENTLICHUNG DES R O B E R T
MUSIL-INSTITUTS
DER U N I V E R S I T Ä T
KLAGENFURT
Gedruckt mit Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung Coverabbildung: Foto: Johannes Puch Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-205-77379-9 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2006 by Bühlau Verlag Ges. m. b. H. und Co. K G , Wien • Köln • Weimar http://www.boehlau.at Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier Druck: D r u c k m a n a g e m e n t s.r.o.
Inhalt EINLEITUNG
Karl Wagner „Von den Rändern her". Eine Einfuhrung
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SCHREIBORTE UND PROSPEKTE
Annegret Pelz Was sich auf der Tischfläche zeigt. Handke als Szenograph
21
Herbert Gamper „Um diese Speise führte kein Weg herum." Zu Handkes quasisakraler Poetik
35
Fabjan Hafner Es ist die Muttersprache, aber die Mutter ist lange tot... Slowenisches im Werk Peter Handkes
47
Georg Pichler Inszenierung fremder Landschaften. Peter Handkes spanische Reisen
65
Arno Dusini Noch einmal füir Handke. Vom Krieg, von den Worten, vom Efeu
84
Hans Höller Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film von Krieg
99
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Inhalt I N DER N I E M A N D S B U C H T
Werner Michler Teilnahme. Epos und Gattungsproblematik bei Peter Handke . . . 1 1 7 Herwig Gottwald Von Namen, Augenblicksgöttern und Wiederholungen. Handkes Umgang mit dem Mythischen
135
Wendelin Schmidt-Dengler Laboraverimus. Vergil, der Landbau und Handkes Wederholungen
155
Juliane Vogel „Wrkung in die Ferne". Handkes Meinjabr in der Niemandsbucht und Goethes Wanderjahre Norbert Christian Wolf Der „Meister des sachlichen Sagens" und sein Schüler. Zu Handkes Auseinandersetzung mit Goethe in der Filmerzählung Falsche Bewegung
167
181
Rolf G. Renner Der Kinogeher: Peter Handke und der Film
201
Christoph Bartmann Die Mitteilung der Scheu. Peter Handke auf Bildern
215
Eustaquio Barjau Der lange Weg zur Nacht der Liebe im Werk Peter Handkes . . . . 229 L E S E N SIE GEFÄLLIGST!
Klaus Amann Poetik der Begriffsstutzigkeit
239
Peter Handke Wut und Geheimnis
253
Siglenliste Kurzbiographien
259 261
Einleitung
Karl Wagner
„Von den Rändern her". Eine Einführung Das Schreiben muß sich ereignen am Rand der Verzweiflung und am Rand der Seligkeit (aber immer nur am Rand); und die Worte dann müssen ans Wunderbare grenzen Die Geschichte des Bleistifts
Die einleitenden Bemerkungen zum T h e m a dieses Bandes, dessen Titel Peter Handkes Werk entliehen ist, sollen mit einem literarischen Text beginnen, in dem es nicht um das Werk, sondern um die Person dieses Autors geht. Der Text, datiert mit „Zürich, Januar 1969", hätte in Max Frischs zweites Tagebuch aufgenommen werden sollen, was aber unterblieb. E r ist jetzt in der Edition des Briefwechsels zwischen Max Frisch und U w e Johnson nachzulesen: Peter Handke. Er schweigt wie ein Prinz. Wie er unterdessen einen grossen Eisbecher auslöffelt, kindlich. Ohne Arroganz, wenn er sagt: Das langweilt mich. (Uebrigens langweilt es mich auch; Pläne für eine Zeitschrift.) Seine dunkle Sonnenbrille. Wenn es die Runde nicht überzeugt, was er einmal sagt, lässt er's schläfrig. Klug wie der junge Alexander. Nur in der ersten Minute sieht er wie ein Mädchen aus; das Haar. Jürgen Becker, nur wenig älter, begründet noch, warum er nicht daran glaubt. Aussage-Sätze. Später kommt Martin Walser dazu: also Eloquenz, Charme, Temperament, ein Streiter, dadurch altväterlich. Wie Handke während der Besprechung dasitzt: nicht provokant, nur abseits, sleep in, er sässe lieber im Kino, Meinungen schläfern ihn ein ...I
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Max Frisch / Uwe Johnson: Der Briefwechsel 1964-1983. Hg. v. Eberhard Falke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. ¿jöf.
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In diesem, wie ich finde, bemerkenswerten Porträt eines jungen, eben berühmt gewordenen Schriftstellers durch einen älteren, längst schon berühmten, wird die irritierte Erfahrung eines Generationsunterschieds im Durchgang durch eine bereits etablierte Ikonographie des jungen Autors („feminin", „provokant") sichtbar. (In Handkes Text über Arnold Stadler aus dem Jahre 1995 wird dieselbe Irritation als ein Problem der Lektüre artikuliert. [MuS 82-91]) Weil sich Frisch nicht mit den Übereinkünften dieser Ikonographie begnügt, verschwindet der Porträtierte auch nicht darin: „abseits", „lieber im Kino", „Meinungen schläfern ihn ein" sind Beobachtungen eines wachen Beobachters, die mir tauglich scheinen, ,von den Rändern her', eine Durchquerung des Handkeschen Werk-Kontinents zu versuchen. Um es zugespitzt zu sagen: Im Unterschied zur Praxis eines ,kommunikativen Literaturunterrichts', wo die Literatur zum Anlaß wird, Meinungen mit, am besten: ohne Literatur, auszutauschen, provoziert Handkes Schreiben dadurch, daß es von der Literatur eine Möglichkeit der Erkenntnis erwartet, die nicht schon in den vorherrschenden Meinungen enthalten ist oder diese bloß ^erarbeitet'. Die „schwache Position der Literatur" (Hans Erich Nossack) als ihre Stärke zu verstehen, scheint mir übrigens auch für eine Randdisziplin wie die Literaturwissenschaft eine Ermunterung zu sein, sich nicht in der Großmannssucht einer globalen Kulturwissenschaft zu gefallen, sondern sie als eine Reflexionsinstanz zu verstehen, die das Maß ihrer Genauigkeit an der Literatur gewinnt. So also ließe sich die eine grundlegende Konfliktlinie, die Handkes Schreiben durchzieht, bezeichnen: Literatur statt Meinung, auch in der fast manichäischen Variante: Literatur gegen Journalismus, die Unterscheidung zwischen Schrift und Rede. Um es mit einigen Formulierungen des Autors zu verdeudichen: „Dem Reden die Ironie, dem Schreiben die Leidenschaft" (FF 165) oder: „Das Schreiben hat ein Gesetz; das Reden keins" (FF 337) oder in bewußter Anlehnung an den Wortgebrauch Roland Barthes': „Wer keine Distanz kennt zwischen Reden und Schreiben, kann nicht Schreiber sein" (FF 473). Die prinzipielle Verschiedenheit von Rede und Schrift schließt die Findekunst von Wörtern aus der Kindheit und der Gemeinsprache nicht aus: „folge der Gemeinsprache - aber verlaß dich nicht auf sie" (FF 75). Das Nebenbei des Gesprochenen ist Teil einer Archäologie der Zeichen, mit denen sich das Gutheißen der Welt in der Schrift beglaubigen läßt. Fündig wird der sprachforschende Schreiber vor allem an den Rändern der Stadt, bei der stotternden Schwermut der Gestrandeten, den Betrunkenen und der unroutinierten Erfahrung der Machtlosen. In diesem topographischen wie sozialen ,terrain vague' findet der Spezialist für den Ort auch jene Schönheitsmomente, die es in einer haltbaren Gegenschrift zu dem Geschnatter und dem dröhnenden Lachen der Bewohner des Heimatlandes zu bewahren gilt.
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Auf einem alten Werbezettel des Suhrkamp-Verlags, der Peter Handkes Übersetzung von Walker Percys Der Kinogeher anzeigt, heißt es: „Peter Handke wird in den nächsten beiden Jahren weitere Romane von Walker Percy übertragen: The Last Gendeman und The Second Coming." (nicht datiert). Aus mir nicht bekannten Umständen und Gründen ist diese Ankündigung so nie verwirklicht worden. Wohl erschien 1985 unter dem Titel Der Idiot des Südens Handkes Übertragung des Last Gentleman-, jene von The Second Coming - e i n e Fortsetzung des Last Gentleman - aber erst 1989 und nun nicht mehr von Peter Handke, sondern von Sabine Hübner unter dem Titel Die Wiederkehr. Percys Roman The Second Coming nimmt den Titel eines der berühmtesten Gedichte von William Butler Yeats auf, den der aus Prag gebürtige und 1933 emigrierte Historiker und Essayist Erich von Kahler mit Derjüngste Tag übersetzt hat. Die erste, zeitdiagnostische Strophe dieses 1919 geschriebenen apokalyptischen Gedichts lautet: Turning and turning in the widening gyre The falcon cannot hear the falconer; Things fall apart; the centre cannot hold; Mere anarchy is loosed upon the world, The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere The ceremony of innocence is drowned; The best lack all conviction, while the worst Are full of passionate intensity. Erich von Kahler hat diese Strophe so übersetzt: Kreisend und kreisend in immer weiterem Bogen Entschwindet der Falke dem Ruf des Falkeniers. Alles fällt auseinander; die Mitte hält nicht mehr; Bare Anarchie bricht aus über die Welt. Blutgeblendete Strömungen sind losgelassen. Allenthalben Wird der heilige Vorgang der Unschuld überschwemmt. Den Besten erlahmt der Glaube, und die Schlimmsten Sind voll von leidenschaftlicher Heftigkeit.2
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Der Originaltext und die Übersetzung werden zitiert nach der Ausgabe: William Butler Yeats: Werke I: Ausgewählte Gedichte. Hg. v. Werner Vordtriede. Neuwied, Berlin: Luchterhand 1970, S. 148^
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Das „the centre cannot hold", schon gar nicht, was es verspricht, ist ein Gedanke, den Handke-Leser wiedererkennen werden. Im Unterschied zu Yeats widersetzt sich jedoch Handkes Schreiben dessen apokalyptischer Vision von der bevorstehenden Geburt des Antichrist, eine Vision, deren Bildlichkeit sich bei Yeats aus der Offenbarung des Johannes und William Blakes Schreckensbild des auf allen vieren vorwärtskriechenden Nebukadnezar speist. Gegenläufig zu den zeitverordnet katastrophischen Erzählmustern hat Handke eine Epik der Ereignislosigkeit als friedensstiftende Form zu entwickeln versucht. Das zugehörige Verdikt: „Sicheres Zeichen, daß einer kein Künstler ist: wenn er das Gerede von der ,Endzeit' mitmacht" (PW 89), wurde selten mit dem entsprechenden differenzierenden Notat wahrgenommen: „Was das Denken betrifft, so glaube auch ich an eine ,Endzeit'; aber nicht, was das Erzählen betrifft" (PW 12). Der Verzicht auf jenes ,sense of an ending', in dem Endzeiterwartung und narrative Finalität einander entsprechen, heißt nicht, wie für Hildesheimer, das Ende der Fiktionen, sondern den Entwurf eines anderen Erzählens mit dem Umweg über dessen Anfänge und die alten Formend Zieht man das elaborierte Repertoire an erhabener Schrecklichkeit in Betracht, so gibt Handke auch bewußt die Möglichkeiten dieser poetischen Sprechweise preis. Unter oft höhnischer Begleitmusik der Kritik hat Handke für eine vom Apokalyptischen entkoppelte Stillage des Erhabenen plädiert und sie, anknüpfend an andere Traditionen poetischen Sprechens auch realisiert und entsprechend verortet: „Die Hymne entsteht am Saum; ,hymnos', das Band, der Saum" (FF 271). Gegen die Beliebigkeit einer solchen buchstäblichen ,Saumseligkeit' hat Handke die Poesie und Poetik eines René Char, eines Philippe Jaccottet oder Francis Ponge studiert, teilweise übersetzt, vor allem aber fortgesetzt und so für sich und die deutsche Gegenwartsliteratur die genaueste und konkreteste DingSprache entwickelt. Es ist weniger ein Sprechen über den Saum oder den Rand, sondern von den Rändern her. Und zwar in doppelter Gerichtetheit: hin zur „stummen Welt", nach einem Handkeschen Lieblingszitat aus Ponge' Pour un Malherbe, „unser einziges Vaterland" .4 Damit ist jedoch die Wendung zur zivilisatorischen Stimmenvielfalt der Zentren keineswegs suspendiert: Wenn es überhaupt einen charakteristischen Erzählschluß bei Handke gibt, dann ist es der, der
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Vgl. Frank Kermode: The Sense of an Ending. Studies in the Theory of Fiction. Oxford: Oxford UP 1981. - Wolfgang Hildesheimer: Das Ende der Fiktionen. In: Ders.: Das Ende der Fiktionen. Reden aus fünfundzwanzig Jahren. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988 (= suhrkamp taschenbuch 1539), S. 229-250.
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Vgl. MuS 131 und die vielen Notate zu Ponge in FF.
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in einem Appell des „Zurück zu" ausschwingt oder erzählerisch in Gang gesetzt wird. Stellvertretend für Die Abwesenheit oder Das Spiel vom Fragen oder In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus kann der Schluß der Lehre der SainteVictoire zitiert werden: Zurück zu den heutigen Menschen; zurück in die Stadt; zurück zu den Plätzen und Brücken; zurück zu den Kais und Passagen; zurück zu den Sportplätzen und Nachrichten; zurück zu den Glocken und Geschäften; zurück zu Goldglanz und Faltenwurf. Zu Hause das Augenpaar? (LSV 139) Unter wechselnder Perspektive erscheinen die Ränder also mit je anderen Richtungsvektoren, die in die stumme Welt, in die Natur, in die Steppe, ins Hochland der unterschiedlichsten Länder (Sloweniens, Mexikos, Spaniens, Schottlands etwa) weisen oder in den Krach der Städte, in die Zentren hybrider und dissonanter Zeichenwelten. In diesem Sinne sind die Ränder bei Handke keine Grenzen, sondern Ubergänge, für die sich dieser Schwellenkundige eine hochentwickelte Wahrnehmung der Unterschiede, Staffelungen und Entsprechungen erarbeitet hat. Nur temporär, für die Dauer eines Schreibjahres, wird aus der Zone des Ubergangs eine „Niemandsbucht". Doch der Schreib-Ort am Rande der Weltstadt entfesselt die Phantasie von Reisenden in allen Weltgegenden, vorzugsweise an deren Rändern, die unterwegs sind zu dem Schreiber, der in jedem Sinn und mit allen Sinnen vor Ort ist, als fremder Gast und als Gastgeber in einem. John Berger hat zusammen mit seinem Freund, dem Fotografen Jean Mohr in einer Sequenz von mehreren Folgen - A Fortunate Man, A Seventh Man und Another Way ofTelling - den auch in Handkes Werk anhängigen Dialog zwischen Text und Bildern zu erweitern versucht. Ihr bislang letzter Versuch in diesem Forschungsfeld heißt At the Edge ofthe World. In seiner Einleitung zu den Texten und Fotografien von solchen Welträndern hat Jean Mohr diese nicht als „Enden der Welt" bezeichnet, wo man mit dem Nichts oder der Leere konfrontiert ist. Den oder besser: einen Rand der Welt zu erreichen kann vielmehr eine Errungenschaft sein, wo eine bestimmte Welt, aus der man kommt und zu der man gehört, endet oder ihr den Rücken zukehrt.' Eine solche Dialektik des Abwendens von und der erneuten Zuwendung zu der bestimmten Welt zeichnet auch Handkes WeltFahrten aus. 5
Jean Mohr: At the Edge of the World. In: Jean Mohr / John Berger: At the Edge of the World. London: Reaktion Books 1999, S. 21.
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Diese Zuwendung ist ihrerseits von hochgradiger Ambivalenz: Sie kann rettende Ankunft sein nach dem Ausgesetztsein in der „stummen Welt"; sie kann aber auch zur schroffsten Fremdheitserfahrung werden. Fast immer sind solche Abstürze in Handkes Werk mit einer spezifischen Erfahrung des Ubergangs verbunden: dem Grenzübertritt nach Osterreich, oder, wie im Nachmittag eines Schriftstellers, dem Verlassen des Stadtrands und dem Gang durch das Zentrum Salzburgs, der zu einem alptraumhaften Spießrutenlauf wird. Ein Notat seines Salzburger Journals Am Felsfenster morgens, das einen imaginierten Dialog mit Walker Percy festhält, lautet: „Gerade sagte ich, in Gedanken, zu Walker Percy, der mich, ebenso in Gedanken, mahnte, ,in der Mitte' zu bleiben: ,You know, for an Austrian writer writing means BORDERLINE'" (FF 478). Das durch Kapitälchen hervorgehobene „Borderline" setzt eine andere Vorstellung von den Rändern und deren Beziehung zu einer „Mitte" frei, die Handkes Werk zu erkunden sucht: Grenze - englisch „border" - im Sinne von Staats- oder Sprachgrenze, aber auch des Grenzfalls, des sogenannten „borderline case", dessen psychopathologische Symptome an der Grenze zwischen Neurose und Psychose liegen. Die Uberblendung dieser Bedeutungskomplexe, die für das Schreiben eines österreichischen Schriftstellers konstitutiv sei, hat in Handkes Werk vielschichtige Konfigurationen angenommen. Deren Labilität und Transformation wird durch die Panik der Abgrenzung und das Bedürfnis nach Durchlässigkeit bestimmt, wobei Durchlässigkeit und Abgrenzung ihrerseits bedrohliche Kipp-Phänomene darstellen können. In der Wiederholung vollzieht sich der Eintritt des Lesers in die erzählte Welt in Analogie zum Grenzübertritt des Protagonisten, dessen Identität durch den jugoslawischen Grenzsoldaten nicht bloß festgestellt, sondern durch dessen Namenforschung als Existenz-Bestimmung expliziert wird. Als ich nicht verstand, sagte er [der Grenzsoldat] deutsch, Kobal sei doch ein slawischer Name, „kobal" heiße der Raum zwischen den gegrätschten Beinen, der „Schritt"; und so auch ein Mensch, der mit gespreizten Beinen dastehe. [...] Der ältere Beamte neben ihm, im Zivil, weißhaarig, randlose runde Gelehrtenbrille, erklärte mit einem Lächeln, das zugehörige Tätigkeitswort bedeute „klettern" oder „reiten", so daß meine Vorname Filip, der Pferdeliebe, zu Kobal passe; ich möge meinem Namen insgesamt einmal Ehre machen." (W gf) Der solcherart dem Leser und mit sich selbst bekannt gemachte Protagonist erfährt an späterer Stelle, im Rückblick auf eine mit dem Vater unternommene Wanderung auf die Petzen, einen entscheidenden Zusatz:
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Auf der Kammlinie, hinter der Jugoslawien anfing, stellte sich der Väter einmal gegrätscht auf, den einen Fuß hier, den anderen dort, und hielt mir eine seiner kurzen Reden: „Sieh her, was unser Name bedeutet: nicht der Breitbeinige, sondern die Grenznatur. Dein Bruder der Mittemensch - und wir zwei die Grenznaturen. Ein Kobal, das ist sowohl der, der auf allen vieren kriecht, als auch der leichtfüßige Kletterer. Eine Grenznatur, das ist eine Randexistenz, doch keine Randfigur!" (W 234Q Das Zwiefältige dieser verschränkten Namensetymologie und Familiengenealogie berührt neben dem Topographischen auch die Sozial- und Evolutionsgeschichte. Die Koppelung von Kriechen und aufrechtem Gang - das nebenbei bemerkt den Protagonisten der Langsamen Heimkehr, der - auch in Anspielung auf ein Bild Cezannes - als „Mann mit den verschränkten Armen" ( L H 124) vorgestellt wird, als anthropologisches Komplement zu Kobal erscheinen lässt - die Verbindung von Kriechen und Gehen verweist nämlich auch auf Kobals Ahnenreihe, die sich aus Geknechteten und Ausgebeuteten zusammensetzt. In dieser Familienkette von sozialen Randexistenzen figuriert der bauernaufständische und „vor einem Vierteljahrtausend" (W 10) hingerichtete Vorfahr als Figur des Widerstands, der im verschollenen Bruder, dem Landwirtschaftsschüler, und im gegenwärtigen Protagonisten, der nach ihm sucht und über ihn schreibt, gewissermaßen die sublimierte Fortsetzung findet: in einem, nietzscheanisch gesprochen, Bauernaufstand des Geistes. Die geschichtlich Namenlosen werden in einem Akt der literarischen Gerechtigkeit in die Mitte gerückt, als Helden einer Erzählung, die auf das Epos aus ist. Kobals Grenznatur manifestiert sich nicht zuletzt in ihrer Gespaltenheit, die in den Wahnsinn zu zerfallen droht. Eine solche Bedrohung wird auch injaccottets wichtigem poetologischem Text Der Spaziergang unter den Bäumen (i957/dt.i98i), den Handke gut kennt, formuliert: „Ich ging sogar so weit, mir zu sagen, daß die nichts als redliche und aufmerksame Betrachtung des Wirklichen unweigerlich in den Wahnsinn fuhren müsse; daß nur eine gewisse Geschicklichkeit, eine Art Selbstbetrug uns davor bewahrten."6 Kobal bekommt es auf seiner weglosen Gebirgsüberquerung im Karst mit der „Bangigkeit" zu tun, der Angst vor einem Monstrum - welches ich selber war. Verschwunden jeder Anhaltspunkt einer Welt; an ihrer Stelle die Fahlheit, durch welche, gehetzt vom jäh 6
Philippe Jaccottet. Der Spaziergang unter den Bäumen. Übers, v. Friedhelm Kemp. Zürich, Köln: Benziger 1981, S. 114.
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aufgeschossenen Bluthund im Innern, blindlings das Ungeheuer mit Namen „Allein" irrte. (W 241) Die Erinnerung an frühere Erfahrungen eines solchen Grauens, die sich durch das Erscheinen des Ich, seines Schreibnamens, in ein Staunen verwandeln ließen, läßt sich nicht mehr wiederholen. Nur durch einen Ruck, „der zugleich die Besinnung war" (W 241), gewinnt Kobal seine Gefaßtheit wieder. Doch die Zweifel an seiner „Expedition", mit der er sich das Recht zur Benennung der ihm vorher unbekannten, erst jetzt erlebten Dinge erwirbt, kehren wieder: „Verdammte Grenznatur!? Gibt es in der anderen Sprache nicht jenes eine Wort für den, den es ,endlos auf der Welt hin und her schiebt', sowie die entsprechende Sentenz: ,Die fremden Türen werden dir gegen die Fersen schlagen'?" (W 253). Ahnliche Zustände der (Selbst-)Zerfallenheit in der Weltabgeschiedenheit ließen sich leicht beibringen: aus der Abwesenheit oder aus In einer dunklen Nacht, wo der flüchtige Held aus Der Chinese des Schmerzes, Andreas Loser, der sich durch „Lauschen und Hören" „ein Weiterkommen" versprochen hatte, „gerade von der ewigen Steppentalstille" (DN 238) der „Sabana de la Sonora" taub geworden ist. Die Wiederholung bereitet nach solchem Ausgesetztsein an den Rändern eine Heimkehr nach Osterreich vor, die „Geborgenheit" (W 323) verheißt: „Das Wiedersehen mit Osterreich machte mich froh" (W 323). Doch selbst das Gelöbnis, „freundlich zu sein, so wie es sein Teil war, ohne Anspruch, ohne Erwartung, als jemand, der auch in seinem Geburtsland nur zu Gast war" (W 323), schlägt im Getriebe der Kleinstadt-Gesellschaft um in „Haß" und „Ekel" (W 324). Erst an der Grenze dieser wahnsinnigen Normalität ist Besänftigung zu erhoffen: „In mir war geradezu ein Lechzen nach dem einen, ja, christlichen Blick, den ich hätte erwidern können. Idioten, Krüppel, Wahnsinnige, belebt diesen Geisterzug, nur ihr seid die Sänger der Heimat" (W 326). Die bitterste Variante dieses Motivkomplexes bei Handke ist in den Salzburger Aufzeichnungen nachzulesen, wo es heißt: „In der Heimat: Welch Schande, nicht schon längst tot zu sein, und nicht schon längst wahnsinnig; welch Schande" (FF 490). In der Wiederholung gibt es eine temporäre Enklave, wo „Zugänglichkeit und Zutrauen" (W 326) möglich scheinen: am Stadtrand, in einer Spelunke, wo sich die „Verkommenen und Entgleisten" (W 326) treffen. Dieser charakteristische Handkesche Chronotopos oder das Elternhaus, in dem der Moment der glücklichen Heimkehr doch noch möglich wird, scheinen die zentrifugale Bewegung des Textes an den Rändern topographisch zu fixieren. Doch der Text zielt auf eine Mitte, die keinen Ort hat, weil er selbst als Erzählung diese Mitte ist. Diese Beheimatung des Autors in der Schrift erfolgt durch eine Uberblendung des Erzählers und des Autors. Der Akt
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des Schreibens wird im Hier und Jetzt des Textes gezeigt: Das Ende der Wiederholung fällt so mit dem Ende der Niederschrift zusammen; daß dieses Ende eine Version des Musenanrufs und damit ein Anfang ist, bekräftigt diese Mitte und den Autor „in der Mitte [s]eines Lebens": Ich dagegen sehe mich, mag ich auch heute noch sterben, am Ende dieser Erzählung nun in der Mitte meines Lebens, betrachte die Frühlingssonne auf dem leeren Papier, denke zurück an den Herbst und den Winter und schreibe: Erzählung, nichts Weldicheres als du, nichts Gerechteres, mein Allerheiligstes. (W 332t) Es ist schon angeklungen, daß Handkes literarische Ortssuche einer Topographie der Ränder verpflichtet ist. Die „Zwickelwelt", das „terrain vague", der Stadtrand, die Busbahnhöfe oder die Vororte bestimmen seine, das Spektakuläre und Pittoreske meidenden Textlandschaften. Handke hat dafür auch Gewährsleute gefunden - sein entdeckerisches Lesen wäre allein schon Grund genug, ihn zu lesen und übersetzt: von Walker Percys Moviegoer bis zu Emmanuel Boves wunderbarem Becon-les-Bruye'res, in dem es keinen Helden gibt, sondern an dessen Stelle den Ort, die Pariser Vorstadt. Und ist es nicht bemerkenswert, daß Handke dieses Verhältnis von Ubersetzen und Schreiben in einer räumlichen Relation ausdrückt? Es heißt nämlich bei ihm: „Übersetzen: im Zentrum des Geschehens; Schreiben: am Rand, mit dem fortwährenden Versuch, sich einem Zentrum zu nähern, das ungewiß bleibt - bleiben muß?" (LIS 99). Bemerkenswerter ist nur noch, daß sich diese Verschränkung von Zentrum und Rand potenzieren läßt: Die Ubersetzung des eigenen Werks durch einen anderen ermöglicht, wie im Falle von Ralph Manheims Übersetzungen ins Englische, die gelassene Selbstdistanzierung und zugleich die Bestärkung des eigenen Schreibens. Im Umweg über die Spracharbeit des Ubersetzers, also die Fremdsprache, wird die eigene neu zugänglich und fortsetzbar. Jedenfalls werden die englischen Sätze meines Ubersetzers Ralph Manheim mir für meine deutsche Prosa künftig noch stärker Leitsätze sein!" (MuS 32) gelobt Handke im Nachruf auf den 'loten.? Obwohl Handkes literarische Erkundung der Vorstädte natürlich nicht mit empirischer Sozialforschung zu verwechseln ist, scheint sie mir doch als U m schreibimg einer gegenwärtigen Lebenswelt diese genauer zu umreißen als die in der deutschsprachigen Literatur stündlich steigende Zahl der Beschreibungen
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Das schließt Unzufriedenheit mit einzelnen Entscheidungen auch dieses Übersetzers nicht aus; vgl. Peter Stephan Jungk: Aus meinen Tagebüchern. In: Salz 28/I, Heft 109: Peter Handke und Salzburg. Oktober 2002, S. 10.
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Manhattans (womit im Einzelfall deren Qualität nicht geschmälert werden soll). Im Unterschied zum Perfektionierungsparadigma der Virtuosität setzt Handke auf dessen Durchbrechung und den Versuch, neu zu spuren. Deshalb wird in der Spielart interner Dialogizität in seinem bislang letzten Buch, Der Bildverlust, der zeitweilige Abschied von den Stadträndern geprobt. Von der Protagonistin, die mit dem Autor einen Erzählpakt geschlossen hat, heißt es nämlich: In Wirklichkeit ist diese treulose Person zuletzt sogar froh gewesen, für eine Zeit loszukommen von ihrem „auf Dauer doch ausgelaugten Land", „dem von Schalheit bedrohten Stadtrandleben - Verrandstädtern entsprechend dem Verbauern", „dem oft nur noch in Zahlen und als ZählentickendenLeben dort [...]" (B 83) „Things fall apart, the centre cannot hold": Den ersten Teil dieser Gedichtzeile von Yeats hat der afrikanische Autor Chinua Achebe zum englischen Titel seines ersten, 1958 erschienenen Romans gemacht (dem die erste Strophe des Gedichts als Motto voransteht).8 Er erzählt von der zerstörerischen, anarchischen Energie der eurozentrischen Ordnung, die die nigerianische Stammeskultur verwüstet. Handke, der im Zerfall Jugoslawiens die Zerstörung einer vom „Geldeuropa" unterschiedenen Vorstellung von Europa sieht, hat in seinen letzten Werken im Gegensatz zu einer bewußtlos-automatisierten Rede vom „clash of civilisations" Berührungsbilder zwischen den Kulturen entworfen. In genauer Kenntnis von Goethes West-östlichem Divan, dessen berühmtes Symbol, der Gingko biloba, in Unter Tränenfragendaufgegriffen wird, entwirft der Bildverlust im west-östlichen Uberblendungsbild des Neuen Bazars in der spanischen Sierra de Gredos, abseits der Machtzentren, einen ,Dialog der Ränder'. Die noch kaum entzifferten Spuren jüdischer, arabischer und fern-östlicher Texte der Mystik, bis hin zu den japanischen No-Spielen, dem georgischen Epos aus dem 12. Jahrhundert oder den gnomischen Voces / Stimmen des Argentiniers Antonio Porchia, die Handkes Lektüre und Werk vor allem der letzten Jahre prägen, bewegen sich an den Rändern des dominanten ,Diskurses' über diese Kulturen. Die zunehmende Vorliebe für spanische Schauplätze hat so gesehen auch einen historischen Grund, handelt es sich doch um einen Schauplatz von stattgehabter Begegnung. Ohne die Tradition der islamischen Mystik wäre etwa San Juans de la Cruz ingeniöse, den Rand des Sagbaren erweiternde Lyrik nicht denkbar, deren Welthaltigkeit - entgegen dem Trivialvorbehalt gegen die Mystik - Handkes In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus nicht nur den Titel verdankt. 8
Chinua Achebe: Things Fall Apart. London: Heinemann 1986.
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Im Unterschied zu den panisch-kleinmütigen Grenzziehungen zwischen Rationalität und Irrationalismus sucht Handkes Schreiben auch in dieser Hinsicht das Risiko, diese Ränder zu erforschen. Und bevor noch der Vorwurf der Gegenaufklärung aufkommt, sei er mit einem Schutzheiligen der Ränder und Schwellen entkräftet, mit Ludwig Hohl: Die Mitte hat keine Kraft, sich zu erneuern; das menschliche Entdecken schreitet nicht so vor, daß man vom Allgemeinen, dem von allen Gesehenen, „Wichtigen" aus endlich zu den Randbereichen, den Nuancen gelangte, wo dann allmählich Verblassen und Auslöschen einträte; sondern umgekehrt: zuerst wird ein Neues gesehen in den Randbezirken, an den zerfasernden Orten der Nebenerscheinungen (einem niedlichen Dingelchen etwa, wie das Meer sie anschwemmt, kaum zu etwas gut, als daß die Kindlein damit spielen, Bernstein, von den Griechen Elektron genannt), des Subtilen, der unmerklichen Spannungen, des fast Unsichtbaren ..., dort, wo der allgemeinen Meinung nach nur die „unpraktischen" und nebenhinausgeratenen Fachleute (wie z. B. Thaies, als er sich mit der erwähnten farbigen Versteinerung abgab) sich beschäftigen können. Und dann ... langsamer oder rascher, oft unmerklich und bisweilen auch in einem gewaltigen Ruck, schieben sich diese Nuancen-Entdeckungen in den Tag hinein, mehr und mehr der Mitte zu, beherrschen endlich die Welt.'
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Ludwig Hohl: Von den hereinbrechenden Rändern. Nachnotizen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 92f.
Annegret Pelz
Was sich auf der Tischfläche zeigt. Handke als Szenograph Ausgebildeter Empfänger und Registrierer von Form-Atomen Die Geschichte des Bleistifts
Wenn Autoren ihre Tische ins Auge fassen, reißt der Textfaden und ein Raum für das Nachdenken über das Schreiben, die Sinnlichkeit und die spezifische Poetik eines Textes öffnet sich. Mit der Aufmerksamkeit auf das Tischszenario beginnt in der modernen Literatur die detaillierte Inspektion literarischer Verfahrensweisen, das Abirren vom laufenden Text kennzeichnet den Umschlagpunkt vom Schreiben zum reflektierenden Schreiben. Sobald das Tisch-Zeichen erscheint, gibt es Hinweise auf die spezifische Konstruktion und Zeichenhafügkeit eines Textes. Auch bei Handke, dem Methodiker der Verknüpfung, markieren die vielen, scheinbar alltäglichen Tischszenen im Text, in den Bühnenstücken und in der Selbstinszenierung als Autor die Operationsfelder des textuellen Zusammenhangs. Sie sind die Referenzpunkte der Frage nach dem,richtigen Sehen', sie sind Zentrum der Versuche, die Eigenart seiner epischen Prosa poetologisch zu begründen, und sie sind der performative Grund, auf dem die jeweiligen Schreiber ihre Ordnungsarbeit an den Texten und Gedanken vornehmen. Die Fotografin Herlinde Koelbl, die sich mit der Kamera auf die Suche nach der sichtbaren Seite des Schreibhandwerks begeben hat, zeigt in ihrem HandkeKapitel leere Tische am Fenster mit Ausblick, einen Eßtisch, einen Gartentisch, einen Baumstamm und Nahaufnahmen von der Schreibhand über dem Manuskript.1 Einzelne Textbände Handkes, wie Langsam im Schatten, zeigen den Autor auf dem Titelbild am Tisch sitzend, so daß man den Eindruck gewinnt, in diesem Band mit dem Untertitel „Gesammelte Verzettelungen" bilde der Tisch den Referenzraum, in dem das disparate Material ohne übergreifendes Thema informell zusammenkommt. Aber nicht nur als Sammlungsort und Rahmen, auch als Ort zur Sicherung und Archivierung von Gedanken erscheint das Möbel im Text. In i
Herlinde Koelbl: Im Schreiben zu Haus. Wie Schriftsteller zu Werke gehen. Fotografien und Gespräche. München: Knesebeck 1998, S. 10-16.
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der Erzählung Nachmittag eines Schriftstellers steht der Schriftsteller von seinem Tisch auf, um nach draußen zu gehen, kehrt aber an der Gartentür plötzlich um, stürmt „hinauf in das Schreibzimmer", um dort noch „ein Wort durch ein anderes" (NSch 13,14) zu ersetzen. In dem Erstlingswerk Die Hornissen dienen die Möbelstücke „Tisch. Fenster. Stuhl. Fenster, Tisch, Stuhl. Stuhl Tisch Fenster. Fenster: Fenster: Fenster!" (H 40) der Explikation asyndetisch geordneter Schreibweisen, in Langsame Heimkehr findet Sorger „beim Gewahrwerden der zerkratzten Tischplatte" und beim Ausbreiten der Aufzeichnungen auf der Tischfläche „gleichsam zu einer geologischen Karte" zu einem ihm gemäßen raumzeitlichen episodischen Gesetz.2 In dem Versuch über die Jukebox positioniert sich der Schreiber am Hotelzimmerfenster an der Schwelle von zweierlei Schreibbewegungen - der sammelnden Bewegung beim „Am-Schreibtisch-Sitzen" und dem „Sitzengehen", das sich den Dingen überläßt (VJ 99). In dem Band Am Felsfenster morgens, der in einer „Zeit der Seßhaftigkeit und des Wohnens" entstanden ist, ist die Rede davon, daß die „Dinge auf dem Schreibtisch, [...] den Sitzenden immer neu zur Ordnung rufen [...] indem sie ihn schön [d. h. in einem guten Sinne] ablenken" (FF 16). In dem Stück Kaspar ist der Tisch der exemplarische Gegenstand, an dem die Ich- und Sprachwerdung Kaspars scheitert. In dem Journal Das Gewicht der Welt wiederum ist es ein Zeichen der Intensität und Fast-Gleichzeitigkeit von Erlebnis und Aufzeichnimg, daß die Einträge in nahezu allen Lebenslagen - und das heißt eben gerade nicht am Schreibtisch - entstanden sind. In Abschied eines Träumers vom Neunten Land zitiert der Schreiber als Beleg dafür, daß er sich in Slowenien immer als „Gast der Wirklichkeit" gefühlt habe, aus Hofmannsthals Briefefn] eines Zurückgekehrten die Stelle, in der es heißt, „kein Tisch steht mehr da als Tisch; sämtliche Dinge in dem Gebiet Deutschland erscheinen dem Zurückgekehrten als gegenstandslos'" (AT 10).3 Und auch als Fluchtpunkt von Handkes politischen Interventionen taucht der Schreibtisch auf, wenn dieser, wie kürzlich am Rande des Milosevic-Prozesses vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, sich in einem Interview gegenüber den „Schreibtischtätern" als Autor in Stellung bringt: „Keine Frage", heißt es da, „die Untaten auf dem Balkan, begannen so oder so, im Inland und an den Schreibtischen (Schreib-?) im Ausland", und das Interview enthält wie viele Interviewsituationen mit Handke die Bemerkung, die letzten redaktionellen An-
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Zur Formenlehre und Topographie von „Langsame Heimkehr" vgl. Christoph Bartmann: Suche nach dem Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß. Wien: Braunmüller 1984, S. 220ff.
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Hugo v. Hofmannsthal: Die Briefe des Zurückgekehrten. In: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Frankfurt/M.: Fischer 1979, S. 544-571, Zit. S. 565.
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derungen seien „bei von Handke gesammelten und zubereiteten Steinpilzen" besprochen worden* Tischszenen sind also nicht nur zahlreich in Handkes Texten, sie haben darin höchst unterschiedliche Aufgaben - als bürokratische und repräsentative Orte, als sinnliche Orte informeller Gespräche und gastlicher Szenarien, als Kennzeichen der Selbstpositionierung des Schreibenden, als paradigmatisches Dingexempel und als Tableau für die poetologische Sammlung und Ordnungsarbeit an den Gedanken, am Text und an der Organisation des Raumes. Drei dieser Tisch-Szenen sollen hier nun exemplarisch aufgesucht werden. Zum einen die szenische Spielfolge La Cuisine, die in der Inszenierung von Mladen Materie in Koproduktion mit dem Théâtre Tattoo als französisches Gastspiel im Jahr 2002 bei den Wiener Festwochen zu sehen war.s Sodann Die Geschichte des Bleistifts, die schon im Titel ein intensives Verhältnis zu den Schreibwerkzeugen bekundet und schließlich die in Mein Jahr in der Niemandsbucht umfassend aufgeblätterte Topographie des Schreibens. Mit der Wahrnehmung der Texte von den scheinbar randständigen Tischszenen her begibt sich die Lektüre Roland Barthes zufolge „auf die materiellste, [...] die minimalste Ebene [...], die möglich ist".6 Bei Barthes, der die Figur des modernen, an der Form arbeitenden Schreibers mit der Vorstellung von handwerklicher Arbeit am Pult - wie an einer Werkbank - verbindet, kommt diese Sichtweise einer antimythologischen Tat gleich, die dazu beiträgt, die schwer mit Sinn beladene Schreibhandlung umzustürzen in eine verweltlichte, fast schon alltäglich gewordene Handlung. Die Texte Handkes, der sich zuallererst als ein „Orts-Schriftsteller" bezeichnet und der davon ausgeht, daß die Orte, Räume und Begrenzungen und nicht die Ereignisse und Geschichten die Erlebnisse hervorbringen,7 sollen hier nach den Gründen für die 4
Peter Handke: „Und wer nimmt mir mein Vorurteil?" In: Süddeutsche Zeitung. Magazin 4, Oktober 2002, S. 8-32, Zit. S. 32 und Inhaltsverzeichnis. Vgl. im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung (5-/6. Oktober, S. 13) den Beitrag von Timothy Garton Ash: Wie gerne hätten wir es schwarz und weiß.
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La Cuisine de Peter Handke et Mladen Materie. Un spectacle de Mladen Materie et du Théâtre Tattoo. Avec: Damien Bernard, Paul Chiributa, Thierry Dussout, Loreen Farnier, Emmanuelle Hiron, Cathy Pollini, Haris Resic, Sodateth San, Tihomir Vujicic, Josiane Wilson et les enfants Hugo Lehmann et Arthur Mialet. Aufführungen zuvor u. a.: Pariser Herbstfestival und Ruhrfestspiele 2001; deutschsprachige Erstaufführung, Theater der Stadt Bonn, Regie und Choreographie Pavel Mikulästik, Oktober 2002.
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Roland Barthes: Ein fast manisches Verhältnis zu den Schreibwerkzeugen. In: Die Körnung der Stimme. Interviews 1962-1980. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 197-202, Zit. S. 197. Peter Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper. Zürich: Ammann Verlag 1987, S. 19.
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Nobilitierung der Tischszene - im Grunde ja eine Normalsache beim Schreiben - zum bevorzugten poetologischen Reflexions- und Wahrnehmungsmedium befragt werden.
L A C U I S I N E - W A R U M EINE K Ü C H E ?
In dem von Mladen Materie und dem Toulouser Théâtre Tattoo in Gemeinschaftsarbeit mit Handke eingerichteten Tanzstück La Cuisine ist die Küche nicht mehr als ein Durchgangsort, in dem einzig der Tisch in der Mitte einen Haltepunkt ausbildet. Um diesen Küchentisch herum spielen die Tänzer ihre flüchtig choreographierten Alltagsszenen. Sie kommen ohne Worte aus, denn allein der Umgang mit den Dingen und das Verhalten am Tisch gibt Auskunft über die Rituale des Zusammenseins, die Beziehungen zwischen Mann und Frau und über den Rhythmus des Alltagslebens. In diesem Szenario der Andeutungen genügt es, als einziges Requisit auf der Bühne den Tisch zu tauschen, um die Szene zu wechseln: von einem (westlichen) Alltagsszenario zu einem anderen Tisch, über den der Krieg in den Alltag einbricht, zuerst medial, als die Tischgesellschaft in den Nebenraum an den Fernseher gerufen wird, dann real, als die Soldaten und mit ihnen der Krieg in diese andere Küche eindringen. In einer weiteren Szene bleibt der Bühnenraum leer und verräumlicht sich, ohne den Tisch als strukturierendes Zentrum durch die ungeordnet raumfüllenden Bewegungen der Tänzer. Dann wieder wird der leere Bühnenraum abseits der Festtafel zum dezentrierten Nebenschauplatz, an dem sich die Liebenden treffen - ein Raum zur Entspannung und zum Abstand-Nehmen von der Gesellschaft. Der im Jahr 2000 ursprünglich auf Französisch geschriebene Theatertext La Cuisine wurde ein Jahr später von Handke unter dem Titel Warum eine Küche? ins Deutsche übersetzt.8 In der deutschsprachigen Ubersetzung dieser Sammlung von Assoziationen, thematischen Bruchstücken, Liedern und Dialogen ist der im Französischen selbstverständliche Ort also in Frage gestellt - Warum eine Küche? Die wiederholt gestellte Frage „warum eine Küche?" oder genauer, warum keine bestimmte Küche - die der Kindheit beispielsweise - , sondern vielmehr eine ortlose Küche, die allen zum Dialog offensteht, bestimmt die Erzählpassagen des Stückes: „Was siehst Du bei dem Wort Küche, cuisine, cocina, kuhinja, kitchen?" wird 8
Peter Handke: Warum eine Küche? Texte für das Schauspiel La Cuisine von Mladen Materie (Mai - Dezember 2000). Vom Autor übersetzt. Frankfurt/M.: Suhrkamp Theatertext 2001 (Wien: Edition Korrespondenzen 2003).
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gefragt und geantwortet: - „Ich, ich sehe die Küche in einem Leuchtturm, welche zugleich Laboratorium, Bibliothek und Liebeszimmer war" [ . . . ] - »Ich sehe einen Zwischenraum, eine Passage, ein Ort zum Durchatmen, den Isthmus, ja, den Isthmus des episodischen Friedens, wo ich seinerzeit den Schwung nahm für die Hohe See" usw. (WK 18) Gegen alle äußeren zeitlich und räumlich bedingten Verwandlungen und Katastrophen bleibt die Küche der herausgehobene und zugleich kontinuierliche Ort „seelenruhige[n] Weitermachen[s]" (NB 12). Die Küche gewährt individuelle Erinnerungen an stumme, vorsprachliche Gesten und Bilder und an ein kindliches Sprechen, das die Anschauung vor dem Begriff lernt - sie ist der Raum, in dem sich das Sprechen und die Wahrnehmung den Dingen gegenüber erkenntlich zeigt.? Seine großen Augenblicke, heißt es im Text, hat das Küchen-Spektakel in der Wertlosigkeit und in der Stillebenhaftigkeit, die die reine Anwesenheit sinnlicher Dinge umgibt. Ort des episodischen Friedens und des Innehaltens ist die Küche also insofern, als sie von dem erfüllt ist, was noch nicht vollständig von der „Falltür der Scription", der „Totenwäsche" beim Verschriftlichen, wie es bei Roland Barthes heißt, erfaßt ist.10 Bei Handke kommt der uncodierte Anspielungsreichtum der Küche dem Ideal eines Schreibens nah, das weder filmisch noch literarisch belangbar ist.11 La Cuisine bezieht sich auf Heraklit, den Vertreter des Dunklen und den Widersacher alles Beharrlich-Identischen, der das im Feuer symbolisierte permanente Gesetz des Wechsels, das Werden und Vergehen, zum Wesen der Dinge erklärt. Geäußert wird außerdem der Wunsch nach einem Dialog mit „Experten" der „Überbleibsel" (WK 10), von denen Jeannette Lander mit ihrer Erzählung „Überbleibsel: eine kleine Erotik der Küche" eine sein könnte.12 Statt Schreibarbeit zu erfordern, ruft die Küche nach Unterbrechung des Schreibens, es wird rhythmisch gesprochen in Form von Litaneien und erzählt in variablen Dialogformen (Dialog, Trialog, Tetralog, Pentalog etc.), das um den Tisch versammelte Nichtfestgeschriebene, Umweghafte, Abschweifende des gesprochenen und gesungenen Wortes ist hier das Besondere.'3
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Vgl. in „Mein Jahr in der Niemandsbucht" die Küchenszene mit dem Nachbarskind Vladimir ( N B 860). Das Kind gerät auf Nachfrage des Schreibers ins Erzählen, spricht Wort für Wort, behält die Dinge vor Augen, es lernt die Anschauung vor dem Begriff.
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Barthes (Anm. 15), S. 9.
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In einer Gasthausszene in „Die Geschichte des Bleistifts" ist von der beredten Stille zwischen den Leuten, die „in den Gastgärten an den Tischen sitzen" die Rede (GB 21 j).
12 Jeannette Lander: Überbleibsel: eine kleine Erotik der Küche. Berlin: Aufbau 1995. 13
Z u Mündlichkeit und Schriftlichkeit vgl. außerdem: Peter Handke: Mündliches und Schriftliches. Z u Büchern, Bildern und Filmen 1992-2002. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.
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In Warum eine Küche? ist die Küche ein Ort der ziellosen Suche: „Oft, wenn ich in der Küche bin", heißt es im ersten Satz, „merke ich, daß ich etwas suche, nur weiß ich nicht, was." (WK 9). Jochen Hörisch, der beobachtet hat, daß sich das Mahl-Motiv in den Handke-Texten seit 1979 - seit Langsame Heimkehr - unübersehbar geltend macht, spricht von der Suche nach „Zentren des Sinns" für eine Literatur, die den phantasmagorischen Paradigmata zentrischen Sinns entsagt hat, und die noch nicht vom Sinn besetzte Orte ausfindig machen will.1^ Diese ziellose Suche jenseits der Schreibblätter kommt in Mein Jahr in der Niemandsbucht über der Figur des Pilzsuchers mit dem umweghaften Schreiben zusammen. Der Pilzsucher sucht in „Konkurrenz zu dem Sitzen und Aufschreiben" (NB 865), die Aktivitäten dieser modernen Sucherfigur gehören zu den Kindheitslüsten, ihre Art des Findens ist auf ein heterotopes und heterochromes Abseits gerichtet, auf so etwas wie einen Nullpunkt der Suche. Die Handkesche Figur des Pilzsuchers ist ein ,Anderssucher", der ohne Fund und ohne Ziel suchen möchte, sein Leitspruch ist es, nichts zu finden, sein Sammeln ist auf leergeräumte Waldstellen gerichtet (NB 892t). „Aber wozu führte solch erneutes Suchen", wird gefragt - „außer vielleicht zu einer kleinen Mahlzeit?" (NB 892). Am Ende von Mein Jahr in der Niemandsbucht legt der Sucher den frisch gesammelten Pilz auf den Tisch und überantwortet ihn so den Eingriffen des Kochs. Für kurze Zeit belebt die Aussicht auf Kochen und gastliche Szenarien die beim Schreiben „seit langem verwaiste Küche" (NB 882), und so wird diese und das Haus insgesamt wieder zu einem neu bewohnten Ort. In fesdicher Erwartung der Freunde heißt es: Ich rieb den langen Eßtisch mit Sandpapier ab, und rieb und schmirgelte und wusch ihn, mit der Nase dichtest daran, bis ich in dem Geruch der nassen Bretter war, dem sonntäglichsten der Gerüche, und schaute dann dem Trocknen zu, bis diese Tischfläche dastand für das ganze Haus. Danach aber konnte die weitere Luft nur noch von der Sprache kommen, und so [...] setzte ich mich in die Gartenkammer zum Schreiben. (NB iooöf) Die erwartete Zusammenkunft von Sinnlichkeit und Schreiben findet am Ende nicht am hölzernen Eßtisch, sondern in der,freien Luft' des Textes statt. Dorthin und zum Schreiben findet das Ich im Durchgang durch die Dingwahrnehmung,
14 Jochen Hörisch: Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 275.
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die festtägliche Stimmung und die Idee des Gastmahls unter Freunden. In diesem System der gesteigerten sinnlichen Aufmerksamkeit ist der Tisch der gegenständliche Mittler zwischen dem Wald, der Küche und dem Schreiben.
TISCH MIT BLEISTIFT
Der Stoßseufzer: „Hilf mir, Mond, beim Tischgespräch!" (GB 5) gibt zu Beginn von Die Geschichte des Bleistifts der Hoffnung Ausdruck, ein endlich gelingendes Gespräch möge die Wut lindern. In der ersten Passage dieser Zitat- und Aphorismensammlung über das Schreiben ist von der Sehnsucht nach einem umkodierten, nicht bereits überschriebenen Freiraum die Rede, die in den Ausruf gipfelt: „Es muß ein neues Zeitalter anfangen!" (GB 6). Gefordert wird die ,Sprengung' festgeschriebener Sinnzusammenhänge, die - gleich den in das Holz eines Altars gesperrten und durch ihre Gestaltung den „Eindruck der Zerstörtheit" (GB 6) vermittelnden Figuren - auf ihren Retter warten. Ein assoziativ gefügtes Goethe-Zitat über das Material der Kunst und das Real-Nehmen des Schauplatzes eröffnet sodann die Suche nach einem möglichen Angelpunkt der selbstlosen Beschreibung und der szenischen Wahrnehmimg der Dinge: Wenn man hier nicht phantastisch verfährt, sondern die Gegend real nimmt, wie sie daliegt, so ist sie doch immer der entscheidende Schauplatz, der die größten Taten bedingt, und so habe ich immer bisher den geologischen und landschaftlichen Blick benutzt, um Einbildungskraft und Empfindung zu unterdrücken und mir ein freies, klares Anschauen der Lokalität zu erhalten. Da schließt sich denn auf eine wunderbare Weise die Geschichte lebendig an, und man begreift nicht, wie einem geschieht [...] (GB 9) Dieser Suche nach einer Lokalität, die gegenwärtig der Forderung nach freier, klarer Anschauung entsprechen könnte, ist Die Geschichte des Bleistifts gewidmet. Wo läßt sich in einer Situation, in der die „Natur als Schauplatz, für EntwurfsGeschichten" (GB 194) verschwunden und die Welt, so der „Pfadfinder" (GB 5) gleich im ersten Satz, geographisch erforscht ist, eine Geschichte ansiedeln? Welcher Schauplatz erlaubt es heute, die Gegend real zu nehmen, wenn, wie es heißt, der landschaftliche und der geologische Blick verstellt sind? Welcher Ort ließe den Wunsch nach der poetisch genauen Beschreibimg eines Sachverständigen' zu und entspräche gleichzeitig dem „Bedürfnis, eine lange, zusammenhängende Geschichte zu schreiben" (GB 15)?
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Zugang zu diesem anderen poetischen Schauplatz öffnet sich in Die Geschichte des Bleistifts über die Transformation des Mythos vom Künstler als einem Handwerker auf ein neues Tableau, in dem der Künstler als „Handwerker, zugleich doch auch das Material zu diesem Handwerk" (GB 17) erschafft. Durch die Transformation der Erzählung auf ein modernes Tableau also, auf dem sich - wie auf dem berühmten Seziertisch von Lautréamont - Regenschirm und Nähmaschine in einem absurden, das heißt bodenlosen Zustand begegnen und zugleich auf ein Produktionstableau, das jenseits der von Handke geschmähten - montierenden und systematisch angelernten „Zweit-" bzw. reflektierenden ,„Dach und Fach'Sprache" (GB 18) - poetische Bewegungen zuläßt, die eben jene Abstraktheit durch höchste Erzählkonzentration unmöglich macht. In Die Geschichte des Bleistifts wird der gesuchte - weder geographische noch natürliche, sondern erschriebene Raum - „,meine Art Heimat'" (GB 22) genannt. Dabei handelt es sich weniger um einen konkreten Ort, auf den eine Pfeilspitze weist, als vielmehr um eine verräumlichte Szenerie, die wartendes Schauen und szenische Wahrnehmung gleichermaßen gestattet, was Handkes Verständnis von Epik entspricht. Diese Szenerie soll der Lust an poetischer Genauigkeit entgegenkommen und sie soll die Dinge poetisch verfügbar machen - durch ein „Denken als Platzanweisung" und durch einen „Platzanweiserschriftsteller" (GB 27). In diesem Szenario kommt den vielfältigen Tischszenen in Die Geschichte des Bleistifts ihre die Phantasie strukturierende poetologische Funktion zu. Von den Tischen, an denen das Ich jeweils gerade sitzt - dem Holztisch, der Tischfläche, auf der der Regen spielt, dem Marmortischchen, dem Gasthaustisch, den weißen Tischtüchern, dem Tisch mit Weinflasche, dem Tisch im Zug, dem Klapptisch - , heißt es, sie seien alle „als Schreibtisch [zu] achten", denn „der Schreibtisch geht vor" (GB 50). Nicht als Werkzeug, denn das ist der Bleistift, sondern als Bildraum und Tableau entwickelt die jeweilige Tischszene die Qualität jener „FormAtome", als deren ausgebildeter Empfänger und Registrierer sich der Schreiber versteht. An Stelle der Landschaft und der Großstadt - zwei Wahrnehmungsmodelle, bei deren Anblick den Schreiber „eine Art Museumsmißmut" (GB 33) ergreift - tritt in dem gegenwärtigen Schreib-Projekt die Räumlichkeit der alltäglichen Umgebung und mit ihr die Tischszene als realer Angelpunkt der Intuition auf eine zweite Stufe der Verräumlichung. Diese andere Wirklichkeit, Gegenwärtigkeit, trennende Kraft und Rahmung der Tischszene bedingt und ermöglicht ein Schreiben an der Schwelle des Absurden und der sinnlichen Erzählkonzentration gleichermaßen.
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NIEMANDSBUCHT
Die Verwandlung in Mein Jahr in der Niemandsbucht zielt auf ein Aufhören und Abbrechen des Spiels im Bereich der Selbstverständlichkeiten. Diesmal, so heißt es, sollen sich die Ereignisse nicht durch Ortswechsel, Reisen, Ich-Zentrierung, nicht durch dramatisches und auch nicht durch politisches Eingreifen einstellen - all das sind Synonyme für etwas, das sich verbraucht hat - sondern durch Worte. Zeichen dafür, daß die neuerliche Verwandlung überdies ortsansässig betrieben werden soll, ist der leere und eingefallene Rucksack, der - in Sicht- und Reichweite des Schreibtisches - nicht angerührt werden soll. Die neue Form des Unterwegsseins soll keinen herkömmlichen räumlichen Bezug haben, die Uberlegungen zur Veränderung beziehen sich nicht auf den Ort und die nähere Umgebung, sondern auf das neue Schreibprojekt, das von dem Wunsch geleitet ist, mit dem Schreiben „woanders" (NB 14) anzusetzen. Das Projekt soll außerdem den Charakter einer „Art Sternfahrt" haben, es soll eine Geschichte der Gegend hier und der fernen Freunde sein, die an dem Schreibplatz, dem Treff- und Sammelpunkt ihrer Nachrichten, zusammenkommen. An die Stelle des Unterwegsseins tritt die Arbeit in Form eines Mitschwingens aus der Entfernung: „Was für eine Freude ist es mir jedenfalls, während ich hier an wieder einem neuen Morgen am Tisch sitze, [...] zugleich mit meinem Freund, [...] unterwegs im nördlichen Japan zu sein." (NB 26) Der Erzähler nennt die neue Wirklichkeit, auf deren Suche er sich schreibend begibt, seine ,J\reue Welt", und er läßt sich von dieser, wie er sagt, als ein „Partikel [seines] Wahrnehmens" fast täglich mit ihrem „Raumflug" (NB 36) streifen. Diese Neue Welt ist zwar „untrüglich vorhanden" (NB 37), doch zeigt sie sich nur, indem sie den Erzähler „anweht". Sie ist eine noch von niemand betretene, abseits gelegene „Pionierswelt", ein nur erzählerisch zu erschließendes „Niemandsland" (NB 37), das sich nur momenthaft auftut. Um diese Topographie beweglich zu halten, will der Erzähler Ich-Zentrierung meiden und Chronistenabstand wahren, er will den Platz einer Randfigur einnehmen, seine Absicht ist es, nicht als Träumer und auch nicht als Phantast, sondern als Handarbeiter und Ingenieur durch reines Zuschauen etwas in Gang zu setzen. Seine Arbeit soll im Suchen, Entdecken und Sichten bestehen, und er findet im Tisch das geeignete Medium seiner mikro- und makroskopischen Einzelbeobachtungen. An diesem Ort läßt sich der schöpferische Zuschauer in Mein Jahr in der Niemandsbucht präzise lokalisieren. Das Textgeschehen wird von hier aus als eine sukzessive Verwandlung der Schreiborte lesbar, die als Konstitutionsgrund der Geschichte in Frage kommen. Die einzelnen Tischszenen markieren im Text die Anhaltspunkte und das formale
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Element, an das sich die Existenz des Schreibers knüpft - an der Sequenz der Szenen wird die Arbeit an der Form en miniature ersichdich. Ein erstes beglückendes Zeichen der Verwandlung und der Befreiung aus den eigenen „Formgrübeleien" ist die Erinnerung an einen in einer früheren Periode des Schreibens nach draußen an den Straßenrand gestellten Schreibtisch. Die Sehnsucht des Erzählers, „einmal in [seinem] Leben ein Buch von Anfang bis Ende ganz im Freien" (NB 121) und unter dem Eindruck der alltäglichen Tagesereignisse zu schreiben, resultiert aus dieser Zeit. Den Durchbruch zur Verwirklichung dieses Traumes kennzeichnet - viele in Erwartung einer adäquaten Schreibsprache am Tisch verbrachte Schreibtage weiter - der Satz: „Und seit einiger Zeit, in meiner Vorstellung [...] fühle ich ihn freiwerden, bereit, aufzusteigen und sich zu beflügeln, für den Tag, den Tisch und das Tun. Er ist, wie ich spüre, schon gar kein Traum mehr." (NB 226) Die Geschichte der ersten Verwandlung, die auch von dem Verlust und dem Wiederfinden äußerer Räume handelt, verlegt den Durchbruch zum Schreiben an einen spanischen Hotelzimmertisch. Darin sitzt der Erzähler, der ein Buch ohne Handlung, Verwicklung und Konflikt aus dem Nichts schöpfen will, an seinem Tisch und wartet. Seine Geschichte tritt auf der Stelle, der Tisch ist ein ereignisarmes Terrain, nichts geschieht: „Stunde um Stunde saß ich reglos" (NB 389), heißt es. Aber selbst auf diesem Höhepunkt der Schreibkrise vermag der Erzähler eine ,,letzte[...] noch brauchbare[...] Regel" aus seinem Tisch zu ziehen, wenn er sagt: „Auch wenn ich keine Zeile aus mir herausbrachte, gab nur dieses Am-Tisch-Bleiben ein klein wenig Sicherheit." (NB 386) So führt das Sitzen in der Ausschließlichkeit der spanischen Enklave zwar nicht zum Schreiben, wohl aber zur Freundschaft mit sich selber. Der Erzähler macht hier - „beflügelt von Liebe für [sein] Geschick" (NB 392) - die Erfahrung seines Talents, die nach Maurice Blanchot entscheidend mit dem Sitzen am Tisch verbunden ist. Das spanische Schreibszenario liest sich wie die diegetische Transposition des BlanchotSatzes: „Solange der Schriftsteller sich nicht an den Tisch gesetzt hat, hat er das Werk nicht geschrieben, solange ist er nicht Schriftsteller und weiß nicht, ob er die Befähigung hat, es zu werden. Talent hat er erst, nachdem er geschrieben hat, doch er bedarf des Talents, um zu schreiben."'5 Das vierte „Mein Jahr in der Niemandsbucht" überschriebene Kapitel beginnt mit der Umwandlung des Anschauungsraums der ,Bucht' in einen Erlebnisraum aus allernächster Nähe. Dabei verringert sich der Abstand des Erzählers, der bis15 Maurice Blanchot: Die Literatur und das Recht auf den Tod. In: Ders.: Von Kafka zu Kafka. Frankfurt/M.: Fischer 1993 (= Fischer Taschenbuch 6887), S. 1 1 - 5 3 , Zit. S. 13.
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lang - wenn er von seinem Tisch am Fenster aufschaute - die Bucht als gerahmtes Sehfeld („Poussin-Aue") und Ort seiner Erzählung vor Augen hatte. Die Bildhaftigkeit des Landschaftsausschnittes „dort da" hatte sich ihm solange als ästhetischer Raum erschlossen, wie dieser „hier drinnen am Tisch sitz[t] und da bleib[t]" (NB 233). Mit der sich jetzt vollziehenden Verwandlung des Erzählerstandpunktes gerät auch die Schreibstelle in Bewegung, sie verlagert sich an die Schwelle des Bildrahmens: Und als meine Schreibstelle dachte ich mir ein Zimmer in der ersten Etage des „Hotel des voyageurs" [...]. Ich säße dort nah an einem Fensterausblick [...], mit nichts als Bleistift und Papier, brauchte auch keinen Tisch, wünschte mir zur Unterlage statt dessen ein Fensterbrett [...]. An dem Fenster im Hotel der Reisenden nun wären mein Zuschauen, mein Mitgehen und mein Schreiben eins. Meine Hand sollte geführt werden von nichts als dem Geschehen draußen, und geriete ihr dabei ein Bild, ein Gedanke oder Tagtraum dazwischen, so wäre das für die Aufzeichnungen willkommen, unter der Bedingung, es entstünde oder oszilliere allein aus dem Augenmerk für die Außenwelt und gebe gleich wieder Raum für diese und deren Jahresprotokoll. (NB 692Q Der Erzähler, der nun von sich als „ich, der Schreiber" (NB 699) spricht, beginnt hier mit der Reformulierung seiner Schreibweise im Akt der bewußten Entleerung von allen konventionellen und symbolischen Einteilungen. Er will an reine Augenzeugenschaft und durch das anhaltende Vergnügen des Wahrnehmens durch hinschauen, registrieren und festhalten - einen, wie es heißt, guten epischen Weg beschreiten, er will wieder an die Leibhaftigkeit der Welt und der Orte ohne zusätzliche Handlung und ohne symbolische Uberlagerung glauben. Der Plan vom bloßen Mitschreiben - der Darstellung ohne Abbildung - erweist sich jedoch ebenso wie das tischbreite Fensterbrett bald als fixe Idee, da der Traum vom epischen Schreiben das Projekt durchkreuzt. Die Lösung der Darstellungskrise kommt schließlich von dem Begriff des Wohnens und der darin enthaltenen Zwiespältigkeit von abstrakter Anfangsleere und gewohntem, alltäglichem Umraum, zu dem die Bucht jetzt wird. Die Erzählung nähert sich dem Jetztzeitpunkt des Schreibens, wenn der Schreiber die Fetische, d. h. alle Naturprodukte von seinem Tisch entfernt und diese durch eine fast tischlange Reihe altgedienter Bleistifte ersetzt. In verschiedenen „Bildspr[ü]ng[en]" (NB 752) springt die Aufmerksamkeit ab jetzt zwischen dem Schreibtisch und dem Schreibfeld - der Bucht - hin und her, wobei die Nachträglichkeit der Aufzeichnung und die wiederholte Uberprüfung nach der Nieder-
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schrift, das Hin und Her zwischen literarischem Raum und der Realitätsprüfungen in der Banlieue, die Aufmerksamkeit steigert. Der richtige Schreibplatz ist jedoch erst mit dem Umzug ins Waldinnere gefunden, an den Wegrand, ans Wasser, an einen verwitterten Tisch und an einen namenlosen Teich, der auf keiner Karte der Gegend eingezeichnet ist: Da - d. h. im „Ohrensessel" - , ein beim „Zersägen einer Mammuteiche liegengebliebene [r] Klotz" (NB 824), und an dem „Bombentrichterweiher" (NB 998) heißt es, saß ich dann gelehnt [...] und begann, die Bleistifte gereiht, den Radierer daneben, auf der Stelle zu schreiben, kinderleicht, ohne die übliche Anfangsangst. Ich bildete mir ein, die Sätze folgten dem Wasserziehen zu meinen Schuhspitzen, dem Strömen der Luft rundum in den Bäumen, dem freien Himmel [....] Anders als früher oft kam ich auch nicht mehr ins Stocken [...] in die Luft auflösten sich meine Bedenken, in der Geschichte von der Bucht und von meinen fernen Freunden ereigne sich so wenig, die Handlung komme nicht von der Stelle, die Sätze seien für ein Buch von heute zu lang. (NB 825t) Der schließlich gewählte Schreibplatz im Wald läßt sich mit der Selbst-Positionierung großer Reisender und Naturforscher vergleichen - Leo Frobenius und Alexander von Humboldt beispielsweise, die sich gerne in der Fremde am Schreibtisch und im Urwald abbilden ließen. Doch Handkes in den Wald verlagertes Tisch- und Schreibszenario will durch die Verwandlung eines fiir das Auge und den Erzähler malerisch vorstrukturierten ästhetischen Raumes in ein wortloses Bilderdenken die Perspektivierung von ,Ansichten' hintergehen.16
SzENOGRAPHISCHER P U N K T
Gegen Ende von Mein Jahr in der Niemandsbucbt wird der Schreiber von seinem Verleger darauf aufmerksam gemacht, daß es auf einem Buchumschlag negativ und abschreckend wirke, die Haupthandlung in einer „abgelegenen Vorstadt anzusiedeln, eine Geschichte von heute", sagt dieser, „habe in den Zentren zu spielen" (NB 982). Gegenüber dieser Forderung nach universell bedeutungsvollen Räumen insistiert der Schreiber auf dezentrierten, nicht-signifizierten Suchfeldern und richtet zudem sein Augenmerk nicht nur auf räumliche, sondern auch 16 Zum Bilder-Denken Handkes vgl. Anne-Kathrin Reulecke: Geschriebene Bilder. Zum Kunstund Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur. München: Fink 2002, S. 49-83.
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auf Zeitschwellen: „Worauf ich in diesem Jahr hier noch besonders merkte, das waren die Zeitschwellen - weniger die gewohnte Aufeinanderfolge [...] als bis dahin unbemerkte." (NB 983) In dieser Topographie raum-zeitlicher Schwellen werden die von Handke mit besonderer Aufmerksamkeit bedachten Tischszenen zum wesentlichen Bestandteil einer bewußt artifiziellen Inszenierung. Sie machen im Moment ihres Auftauchens im Text die zweifelsfreie Unterscheidung von räumlichem und zeitlichem Geschehen unmöglich. Beispielsweise, wenn der Schreiber „wie fast jeden Tag einmal" (NB 1009) an seiner Aufgabe zweifelt und befürchtet, er könne versagt haben und alles sei verloren, auch im realen Format der Tischfläche keine Anhaltspunkte mehr finden kann: ,„Mein Tisch hier ist zu klein für ein Epos', und weiter: ,Nein, zu groß!'" (NB 1009) Als Ausgangspunkt der Bewegungen im dicht geknüpften Netz inter- und intratextueller Bezüge bleibt der Tisch jedoch ein verläßliches Tableau. Fensterblicke, bei denen das Schreiben harmonisch übergeht in ein Hinausschauen rufen Franz Kafkas Zerstreutes Hinausschaun auf; legt der Erzähler seinen Kopf auf den Schreibtisch und schläft mit von sich gestreckten Armen ein, schaut ihm im Traum Edgar Allan Poes Rabe vom Fenstersims aus freundlich und neugierig zu (NB 692, 1010) und der Tisch wird wie in La Table von Francis Ponge zur Stütze und Trösterin.Auch der Name Marina Zwetajewa, die ein elf Strophen langes Dankgedicht an ihren Schreibtisch, das ,treueste Ding' verfaßte, wird in Mein Jahr in der Niemandsbucht mehrfach genannt. Und nicht zuletzt ist Johann Wolfgang Goethe, der in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter! den Umschlagpunkt von geselligem Gespräch und Verschriftlichung an einem Schreibmöbel ,von Roentgens bester Arbeit' exemplifiziert - einer der Referenztexte von Mein Jahr in der Niemandsbucht. Bei Handke - läßt sich resümieren - verweist die gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber Tischen und Tischszenen auf die Stelle, an der sich zwei Weisen des literarischen Umgangs mit dem Raum kreuzen: die Synekdoche, die verdichtet, das Detail vergrößert und das Möbelstück die Rolle des „Mehr" eines ganzen Raumes spielen läßt, und das Asyndeton, das unterbricht, das durch Weglassung ein „Weniger" und damit Lücken im räumlichen Kontinuum schafft, von denen es nur ausgewählte Fragmente zurückbehält. Beide stilistischen Verfahren, die die Beziehimg zwischen einem Ort und dem von einem Text erzeugten Nicht-Ort regeln, kommen beim Schreiben auf dem Tisch zusammen. Der Tisch ist das Zei17
Handke, der seinen Texten leitmotivisch Ponge-Zitate voranstellt und der 1995 Francis Ponges „Das Notizbuch vom Kiefernwald" übersetzte, dürfte auch dessen experimenteller TischText „La Table" (1991) nicht unbekannt sein.
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chen aller Abwege von der Schreibebene des Textes hin zu der sinnlichen Erkenntnis, und er markiert umgekehrt den Punkt, an dem sich die Szenerie der äußeren Handlungen und Bilder in das Innere des Textes verlagert. Dieses grenzphänomenale Ding-Zeichen fiiir den Ort des Ubergangs von sinnlicher Präsenz und Schrift läßt sich in den Begriffen der antiken Theatertheorie als szenographischer Punkt bezeichnen, an dem sich der ,Akt' des Schreibens mit dem Begriff des ,In-Szene-Setzens' verbindet.18 Handke verlangt von den Schreibräumen, die er aufsucht, daß sie leer sind: „Schreiben: Ich setze die Wörter ein, wo ein leerer Platz ist: leer und Platz" (FF 210) heißt es in Am Felsfenster morgens. Im Akt des Schreibens, um dessen In-Szene-Setzung es geht, tritt momenthaft und in spezifischer Weise das von Handke aufgesuchte „plötzliche Nichtmehrwissen des Dichters" (LIS 136-146) zutage. Weil sich dieser Moment nur im Schreiben und, wie Blanchot sagt, nur beim Sitzen am Tisch zeigt - nicht vorher, denn dort liegt das Schattenreich der ungeschriebenen Wünsche und Entwürfe, und auch nicht nachher, denn dann beginnt das ,désoeuvrement', die Enteignung des Textes durch die Leser - ist der Tisch der Ort, an dem die Autoren für einen Moment in die Nähe dieses Umspringpunktes geraten. Und das ist letztlich der Grund, warum sich, wie überhaupt die Autoren der Moderne, auch die Schreiber bei Handke so gerne an ihren Tischen aufhalten.
18 Vgl. Gerhard Neumann u. a. (Hg.): Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft. Freiburgi. Br.: Rombach 2000.
Herbert Gamper
„Um diese Speise führte kein Weg herum." Zu Handkes quasisakraler Poetik1
Die Geschichten von sieben Personen, mehr oder minder Ausfächerungen des Autors, werden im zweiten Teil von Mein Jahr in der Niemandsbucht erzählt: Aneinanderreihung von Impressionen und Handlungssplittern am Faden eines grammatischen Subjekts, ohne daß daraus jeweils eine das Gerippe der Sätze nach außen umwachsende, nach innen im Unaussprechlichen verwurzelte, das heißt lebendige Gestalt würde. Die Geschichte des Priesters macht davon eine weitgehende Ausnahme. In den Ablauf eines Amtstags, vom frühen Morgen bis in die Nacht, ist in Umrissen die Lebensgeschichte eingefugt. Deren Hauptmotiv, das der Berufung, wirkt sich in der Darstellung des Alltags selber aus, und zwar in untergründiger Spannung zu nicht gleich wieder überdeckten Wahrnehmungen von allgemeingeschichtlicher Bedeutung. Ich nehme an, Handke hat in dieser Gestalt mittelbar grundlegende Aspekte seiner Schriftstellerexistenz reflektiert: Legitimation, Auserwähltheit bei gleichzeitiger sozialer Marginalisierung. Den Auftakt zu der Geschichte macht ein Traum, den der Priester geträumt haben soll, in der Nacht vor dem Tag im Spätherbst, durch den wir ihn begleiten. In diesem Traum sei er kein Priester mehr gewesen, „sondern ein Niemand, eine Kreatur, nackt er selbst": Er stand da in einem grellen künstlichen Licht allein vor dem Altar seiner Pfarrkirche, und unversehens kam aus der Sakristei ein jüngst, nach einem elendigen, mehrtagelangen Todeskampf verstorbener Dörfler gestürzt, in Uberlebensgröße, und befahl ihn auf die Knie, zum Empfang der Kommunionshostie. Es gehörte zu dem Traum, daß er seit seiner Kindheit nicht mehr gekniet, geschweige denn den „Leib des Herrn" zu sich genommen hatte, und schon darum wurde ihm der Aui
Leider war mir bei der Niederschrift dieses Beitrages die Dissertation von Harald Baloch: Untersuchungen zu Religion und Ritus in Werken Peter Handkes bis 1983 (Graz 1989) nicht zugänglich. Auch hatte ich keine Kenntnis von seinem Aufsatz: Sine fine dicentes. In: ide Informationen zur Deutschdidaktik. Hg. von Fabjan Hafner, Arno Rußegger und Werner Wintersteiner. StudienVerlag: Innsbruck-Wien-München-Bozen 25 (2001) H. 4, S. 54-61.
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genblick zu einem besonderen. Darüber hinaus war die Stimme des Verreckten und, im Priestergewand, zum Spender des Sakraments Gewordenen, auf eine Weise gebieterisch, wie er das bisher noch von keinem Erdenwesen gehört hatte. Was sie im Traum zu ihm sagte, setzte sie zugleich fest, für alle Zeit: Um diese Speise führte kein Weg herum; sie zu sich zu nehmen, war die Notwendigkeit; ohne sie bist du im Unheil! Und obwohl ihn bei jener Stimme zum ersten Mal seit überlangem der Schauder durchfahren hatte, war das nicht bloß ein Schreckenstraum; er wachte davon nicht auf, sondern schlief weiter, anfangs unter Zittern und Beben, dann friedlich, und schließlich selig. (NB óijf) Die exponierte Stellung des Traums, eine Art Ouvertüre, legt nahe, ihn als Konzentrat der Geschichte des Priesters aufzufassen und also in entscheidender Weise Handkes Autorschaft betreffend. Der Schauder, der den Träumer bei jener Stimme „zum ersten Mal seit überlangem" (NB 614) durchfahren hatte, dürfte von der gleichen Art sein wie der „längstvergessene [...] Schauder" (NSch 91), dem der Schriftsteller am Ende seines Nachmittags und Abends nahe ist. Nova in Uber die Dörfer spricht von einem „göttlichen Schauder•" (UD 118), und sie fährt fort: „Es gibt den göttlichen Eingriff [...] Es ist der Augenblick, mit dem das Drohschwarz zur Liebesfarbe wird,2 und mit dem ihr sagen könnt und weitersagen wollt: Ich bin es." (ÜD 118) Seit seiner Kindheit habe - im Traum - der Priester den ,Leib des Herrn' nicht mehr zu sich genommen. Der Traum reaktiviert kindliches Erleben; die Ubergröße des verstorbenen Dörflers ist dafür ein Indiz. Es kann also angenommen werden, es handle sich bei dem Versäumnis, das die Stimme anmahnt, um den Verlust der hingegebenen, selbstverständlichen Frömmigkeit des „Kind [es] von Siebenbrunn", dem während des Gottesdienstes „regelmäßig, spätestens mit dem ,Kyrie eleison!', anders wurde" (NB 621). Die Annahme kann eine Stütze finden in der als erlebte Rede gestellten, auf 1. Joh. 1,4 Bezug nehmenden Frage, ob er, der Priester, sich die Freude des Kindes erhalten habe, und der Antwort: „,Nicht wirklich [...] oder zumindest nicht immer.'" (NB 62 3). Den Hinweis auf den „Beginn des Johannesbriefs" (NB 622f) gibt der Erzähler, und es dürfte kein Zufall sein, daß dort die Freude auch eine Funktion des Schreibens ist: „Und solches schreiben wir auf, daß unsere Freude vollkommen sei." (NB 623) Weiter fragt sich der Priester oder fragt sich der Erzähler: „Gab es das Kind von Siebenbrunn noch? Wo war es? Was war aus ihm geworden?" (NB 623). Die 2
Dem entspricht die sich wandelnde Reaktion des Priesters: „anfangs unter Zittern und Beben, dann friedlich, und schließlich selig" (NB 614).
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Antwort, nun eher des Erzählers: „Nein, es konnte aus ihm nichts werden als das, was es anfänglich schon war!" (NB 623), die Antwort erinnert an Zarathustras Zuspruch: „Werde, der du bist!"? oder die Anrede Gottes an den sterbenden Menschen im Gedicht von Karl Kraus: „Ursprung ist das Ziel".4 Solcher Ursprung ist bei Handke repräsentiert durch eine idealisierte Kindheit bzw. Kindheit schlechthin oder Kindlichkeit, wohl nicht ohne Erinnerung an Matth. 18,3: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen." Jedes Schreiben ist doch eine Probe auf meine Kindlichkeit", notierte Handke (FF 444). Demgemäß ist das wie aus einer Legende herüberglänzende „Kind von Siebenbrunn" auch der ideale Erzähler: „ein kleiner Glaubensverkünder, oder einer, der den Glauben jedem Zuhörer beschwingt vorerzählte" (NB óipf). Wesentliche Quelle seines Glaubens und also seines Erzählens waren die Bilder in seiner Kirche, und das dort Dargestellte „galt ihm als Tatsache: So war es gewesen,5 das war die einzig erzählenswerte Geschichte" (NB 621). Ebendies gilt für den Erzähler Handke mit Bezug auf die Bilder der Phantasie, denen ein subjektunabhängiger Status und also nicht weiter zu hinterfragende Gültigkeit zugeeignet ist, im Gegensatz zum subjektbezogenen Beobachten (VJ 102Ì), welches die bevorzugte Haltung Thomas Bernhards war: „Die Phantasie ist mein Glaube" (VT 55) und: „Ich glaube, nein, ich weiß es, kraft der Phantasie" (VT 67). Das allein ist des Erzählens wert. Anders als Begriffe vergegenwärtigen die Bilder der Phantasie - so der Anspruch - Sachverhalte, Dinge, Personen als das, was sie sind. Ebendies wird kindlichem Schreiben im Sinn des zitierten Satzes aus Am Felsfenster morgens zugetraut. In den Bildern der Phantasie, als assoziiert mit dem, was C.G. Jung das prähistorische Kindheitsglück nannte, sei die Subjekt-Objekt-Trennung aufgehoben; sie werden als zeidos und ungeschichdich angenommen bzw. als zugehörig einer andern Zeit, einer andern Geschichte, beide als aufgehoben in einer in sich bewegten Gegenwart erfahren. Solche Erfahrung gleicht derjenigen des mystischen Augenblicks und ist eine von Totalität. Sorger, übernächtig, erlebt zwischen Traum und Wachen, und also mit ungewöhnlicher Luzidität, in einem New Yorker Coffee Shop einen Augenblick dieser Art (LH 177), ein anderer ist im Ver-
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Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. Bd. 2. München: Hanser 1955, S. 479.
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Karl Kraus: Der sterbende Mensch. In: Worte in Versen. München: Kösel 1974, S. 59.
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„So war es. So hat es sich gezeigt. So ist es." Das hält in Die Fahrt im Einbaum der Grieche, eine andere Variante figürlicher Reflexion des Schriftstellers, den drei Internationalen entgegen (FE 80).
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such über die Müdigkeit abstrakt so beschrieben: „Diese Zeit ist zugleich der Raum, dieser Zeitraum ist zugleich die Geschichte. Was ist, wird zugleich." (VM 68) Als „gesetzgebend" erfährt Sorger diesen Augenblick. In der Rede zum Kafka-Preis, gehalten 1979, im Jahr des Erscheinens von Langsame Heimkehr, erklärte Handke solche Augenblicke zu Bausteinen einer zu realisierenden Poetik: Was ihm als „die notwendige Literatur" vorschwebe, sei, „die flüchtigen Augenblicke eines je als Gesetz erfahrenen A N D E R E N Lebens zu einem nachdrücklichen Seinsentwurf ineinanderzuphantasieren" (EF 158). Die Erfahrung des Augenblicks ist eine von Form und Formen (LH 177), im Gegensatz zur „Formlosigkeit" (LH 178) der gewöhnlichen Geschichte. Und während diese Perpetuierung von Schuld bedeutet, gewährt das Aufgehen im Augenblick Entsühnung. In dieser Hinsicht ebenso wie der Verwandlung dieser Zeit, dieser Geschichte, dieses Lebens in die andere Zeit, die andere Geschichte, das ANDERE Leben, muß der Augenblick als Äquivalent der Eucharistie gelten.6 Kurz vor der Abreise nach Europa nimmt Sorger an einer Meßfeier teil: „Ein Schwanken ging durch die Welt, als das Brot in den göttlichen Leib und, ,simili modo', der Wein in das göttliche Blut verwandelt wurde." Und weiter heißt es: „,In ähnlicher Weise' ging das Volk zur Kommunion. In ähnlicher Weise stolperte ,ich, Sorger' wieder als Ministrant über den Teppichrand. Entschlossen kniete der Erwachsene nieder." (LH 206). Die Ansammlung der Gläubigen wird in der Kommunion zum „Volk", zur mystischen Gemeinschaft als ,Volk Gottes', entsprechend dem Vorgang im Coffee Shop: „Ein gemeinsamer Atem erfaßte die Anwesenden. Das Licht wurde Stoff, und die Gegenwart wurde Geschichte" (LH 176), das heißt „Zeitraum" (VM 68). Sorger bzw. „ich, Sorger" was wohl heißen soll, der Erzähler beziehe sich mit ein, verwandelte mich, verwandelte sich, der Erwachsene bleibend, in das Kind, in den wieder Kind gewordenen Erwachsenen - was im übrigen die Situation des Priesters gegenüber dem übergroßen, zum Spender des Sakraments gewordenen Dörfler ist, und ohne ein Schaudern scheint es auch für den stolpernden, also wie das Kind von Siebenbrunn in der Nähe des „sogenannten ,Allerheiligsten"' (LSV 66) ungeschickten Sorger in der wieder gegenwärtigen tatsächlichen Kindheit nicht abgegangen zu sein. In ähnlicher Weise wie Brot und Wein verwandelt sich alles - in das als gesetzgebend erfahrene A N D E R E Leben, in dem das Heil ist - und bleibt doch, was es ist. Anders gesagt, es verwandelt sich in das, was es ist, gemäß dem Theo6
Indirekte Bestätigung durch das Kind von Siebenbrunn, dem „regelmäßig, spätestens mit dem ,Kyrie eleison!', anders wurde" (NB 621).
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logumenon, daß im Stand der Erlösung alles sei, wie es ist und gleichwohl alles ganz anders.7 So erlebt der Chinese des Schmerzes sein neu gewonnenes Einsmit-der-Welt-Sein, Merkmal des prähistorischen Kindheitsglücks und dementsprechend, wie bei Sorger, begleitet von Allmachtphantasie: E r erlebt den Augenblick, für den das einzige Wort „Da!" (CS 192) genügte, als Entsprechung zur Brot- und Weinverwandlung und zugleich zur Auferstehung, die in jener rituell bekräftigt wird. Es ist Ostermorgen: Endlich erdröhnte in der Ferne die Domglocke. Dort vollzog sich jetzt das Ritual der Wandlung: des Brotes in den ,Leib', des Weins in das ,Blut'. Die Glocke wummerte zweimal hintereinander, jedesmal nur ganz kurz. Aber das war, als finge ein stehengebliebenes Herz wieder zu schlagen an. Ein Pferd hob den Kopf und zeigte sein großes Auge, mit sehr hellen, starr abstehenden Wimpern. Die Möwen bekamen ihre spitzesten und krummsten Schnäbel. (CS 192t) Nicht nur Losers Herz, auch das der Dinge und Wesen der Welt fing - für ihn gleichsam wieder zu schlagen an; sie zeigten sich ihm überdeutlich als das, was sie sind, wie im eigenen Licht. Loser hat die Art des Schauens zurückgewonnen, nach der er sich sehnte, in der „Gewahrwerden und Vorstellungskraft" (= Phantasie) eine Einheit sind (CS 179). Mit Bezug auf eine analoge Erfahrung Sorgers ließe sich sagen: Es hat sich ihm der Raum wieder geöffnet, er hat die Sprache zurückgewonnen. Kommunion und Auferstehung sind, ihres spezifischen Inhalts entleert, Gleichnis dieses - nie dauerhaften und immer wieder zu erneuernden Durchbruchs aus einem als Verdammnis empfundenen Zustand in einen solchen individuellen Heils. Ich resümiere in Stichworten die Momente solchen Heils: Kindlichkeit, Einheit von Ich und Welt, Geschichtslosigkeit bzw. Aufgehobenheit von Geschichdichkeit im Zeit-Raum als reiner Gegenwart. Das Heil, von dem im Traum des Priesters die Stimme spricht, ist das gleiche für alle, es ist als geoffenbartes bekannt und braucht nur im Glauben ergriffen zu werden. Dasjenige von Handkes poetischem Entwurf ist - für ihn - verbürgt durch eine persönliche Erfahrung mit Evidenzcharakter. Deren Verbindlichkeit für andere hängt davon ab, ob die andere Wirklichkeit, die darin aufscheint, als überpersönliche sich beglaubigen, die kontingente Person demnach als ,der Schriftsteller' gelten kann, analog dem Priester: Der Dichter als inspiriert von den Göttern, teilhabend an der als göttliche Kraft (natura naturans) begriffenen Natur, 7
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie (= Gesammelte Schriften 7), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, S. 16.
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Mikrokosmos als Spiegel der Welt. Handke würde mit Sicherheit jede derartige Prämisse, als geschichtlich bestimmte, zurückweisen; jede wäre unvereinbar mit der ,Leere', die er als den Urgrund seines Schaffens behauptet. Dennoch, indem die Leere keinen Zusammenhang zu stiften vermag, sah er sich zuweilen veranlaßt, nach Versatzstücken aus dem philosophischen Fundus zu greifen. Da wird zum Beispiel, per negationem, indem der verstockte Hans sie leugnet, eine „Weltvernunft" (UD 106) postuliert, bei Novalis in der Zusammensetzung „Weltvernunftwesen" nachgewiesen, womit das hypothetische Subjekt des nicht minder hypothetischen „Weltplans" gemeint war.8 Und wie weit darf man Novas „göttlichen Eingriff1 (UD 118) beim Wort nehmen? Wie ist dergleichen zu vereinbaren mit der Leere? Für Novalis, an den sonst manches an Handkes poetischem Entwurf erinnern könnte,9 ist Phantasie (soweit gleichbedeutend mit Einbildungskraft) ein divinatorisches Erkenntnisvermögen - aufgrund der Analogie von subjektiver und objektiver Vernunft, Geist und Natur: Bedingung einer pansymbolischen Schreibweise. In Handkes Texten gibt es zwar Allegorisches, und es gibt vor allem unbestimmt Zeichenhaftes, Signifikanten ohne Signifikat, doch keine Symbole als erscheinende Synthese von Besonderem und Allgemeinem.10 Vielmehr sind „Fälschung", „Schein", „Illusion" positive Kennzeichnungen der ,Augenblicks'Erfahrung und ihrer sprachlichen Realisation. Sorger bezeichnet sich als „Fälscher" (LH 201), spricht sogar von Fälschung als einer „Heilsidee" (ebd.), einem „,Evangelium der Fälschung'" (ebd.). Nova empfiehlt die Philosophie des Als-Ob:
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Novalis: Schriften 2. Hg. v. Richard Samuel u. a. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, S. 643.
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Idealisierung der Kindheit als dem Ursprung nah; Einheit von Innen und Außen in der Erfahrung des .Augenblicks'; der Traum als nicht nur subjektive Offenbarung (vgl. V J 28); die Vorstellung des die Dinge aus ihrem Bann, ihrer Erstarrung lösenden Zauberworts (vgl. das „richtige Wort", V T 83). Doch bei Novalis ist alles Vordeutung, Verheißung; Erfüllung und Vollendung wird erst mit der Wiederkehr des Goldenen Zeitalters als der vollständigen Poetisierung des Lebens sein. Die höchste Kunstform, als diesen Endzustand antizipierend, ist darum das Märchen, das Kunstmärchen - ein Genre zwar, dem mehrere Texte Handkes partiell nahestehen: Die Abwesenheit trägt ja sogar die Gattungsbezeichnung „Ein Märchen". Dem Ich-Erzähler von Die Lehre der Sainte-Victoire erscheinen die einfachen Gegenstände in den Stilleben Cezannes „wie Märchendinge, die gleich zu leben anfangen werden" (LSV 63). Das ist für Handke jederzeit möglich, kraft der mit dem „Gewahrwerden" (CS 179) verbundenen Phantasie. Die Welt ist (angeblich) bereits vollkommen - zahlreichen gegenteiligen Wahrnehmungen, die alle der „Geschichte" anzulasten sind, von der nur zu abstrahieren sei, zum Trotz.
10 Im Film von Peter Hamm (2002) wird eben dies von Handke selber als Problem bei der Niederschrift von Langsame Heimkehr namhaft gemacht.
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„Zu tun als ob, ist eine Kraft" (ÜD 115), und plädiert für die „Illusion" als „Kraft der Vision" (ebd.), die vermutlich identisch ist mit der „Kraft zur Verklärung" (ÜD 67), die Sophie ihrem Bruder Gregor zuspricht, der „beseelt" sei „mit dem guten Willen zum Scheine" (ÜD 67). Nietzsches Artisten-Metaphysik spricht aus solchen Formulierungen: Die Herstellung des schönen Scheins ersetzt die Frage nach der tödlichen bzw. nach dem Tod Gottes nicht mehr verbindlichen Wahrheit. Dem könnte aber Handke - so mein Eindruck aus der Lektüre - gleichfalls nicht oder nicht ohne Einschränkung zustimmen. Seine Rede diesbezüglich ist zweideutig und widersprüchlich oder ausweichend wie in der Anweisung Novas: „Und laßt ab von dem Gegrübel, ob Gott oder Nicht-Gott: das eine macht sterbensschwindlig, das andre tötet die Phantasie, und ohne Phantasie wird kein Material Form: diese ist der Gott, der für alle gilt." (ÜD 117) Damit die im Phantasieren erzeugte Form mehr sei als kunstgewerbliche Spielerei in der Art des als Allegorie des Formprozesses dienenden Mantels aus der Lehre der Sainte-Victoire, nämlich Ausdruck einer das Individuelle transzendierenden Gesetzmäßigkeit, muß ein „Gott" statuiert werden, was aber „sterbensschwindlig" mache, und das dürfte auch nicht die rechte Voraussetzung zum Phantasieren sein. Ein unauflösliches Dilemma, sollte man meinen. Aber die „Form", deren Zustandekommen es streng genommen nicht zuließe, wird fertig aus dem Hut gezaubert und gleich selber zum „Gott" erklärt. Als solcher, selbstherrlich geworden, ist sie vom Anspruch der Wahrheit entbunden. Erlösung durch diesen „Gott" wäre Selbsterrettung nach dem Vorbild des Lügenbarons, der am eignen Schopf sich aus dem Sumpf zieht, und die - relative - Verbindlichkeit für andere würde darin bestehen, daß ihnen, „Schöpfer" allesamt (ÜD 120), das Verfahren zur Nachahmung empfohlen wird. Handke hat aber schreibend die Errettung der Welt im Sinn und unterstellt, sie würde in eins mit der artistischen Selbsterrettung geleistet. Im Gespräch mit Joze Horvat meinte er, „vernünftige Erlösung" müßte von denen kommen, „die eine große rhetorische Gabe haben und" - jetzt kommt der allegorische Mantel in den Blick - „zugleich die Wörter an den richtigen Platz setzen" ( N N L 91). Im Versuch über die Müdigkeit rafft sich der Erzähler auf, die sadistische Tierquälerei in Spanien zu beschreiben - als Exempel dafür, daß „dergleichen Schrecknisse" (VM 65) nicht geeignet seien, „das epische Atmen" (VM 66) auszulösen. Er korrigiert sich aber mit der an sich selbst gerichteten Frage, ob er denn nicht erkenne, daß es „nicht bloße Schrecknisse waren, und zwar daran, wie du, obwohl du sie nur registrieren wolltest, dabei wider Willen fast ins Erzählen gerietst [...]?" (VM 66). Damit ist der Vorgang schon beinahe gerechtfertigt; der Erzähler ist (fast) gerettet.
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Einer Aussage Cézannes: „Man muß sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet" ( L S V 63), hält Handke entgegen (obschon er dann von den „Märchendingen" der Stilleben sagt, sie sähen aus, als seien sie „die letzten", L S V 63): Ist alles verschwunden? Konnte ich damals im Jeu de Paume nicht spüren, daß Cézannes gewaltiger, in der Menschheitsgeschichte nur einmal möglicher DingBild-Schrift-Strich-Tanz unsereinem machtvoll und dauernd das Reich der Welt offenhält? Habe ich die Kiefern und Felsen nicht als das Bild der Bilder erlebt, vor dem sich immer noch „das gute Ich" aufrichten konnte? Wie auch vor anderen im Umkreis? Und wie auch an anderen Orten? Habe ich nicht schon die Stilleben an der Wand gegenüber als gut umsorgte „Kinder" gesehen? (LSV 63). Das Zitat vernebelt die Unterscheidung von Kunst und Welt, Schein und Sein. Man bezieht unweigerlich die rhetorische Frage: „Habe ich die Kiefern und Felsen nicht als das Bild der Bilder erlebt?" auf das Bild Cézannes, Rochers près des grottes au-dessus de Château-Noir, von dem vorher ( L S V 60) die Rede gewesen war, ebenso die ergänzenden Ausrufe in Frageform - „Wie auch vor anderen im Umkreis? Und wie auch an anderen Orten?" - auf Bilder Cézannes im Jeu de Paume und anderswo, und das um so eher, als gleich anschließend von „Stilleben an der Wand" gesprochen wird (von denen übrigens kaum jemand zweifeln dürfte, daß sie gut umsorgt sind - im Gegensatz zu den Weltdingen, die Cézanne ja gemeint hatte). Es muß sich aber bei den Kiefern und Felsen zugleich um auf Wanderungen in der Gegend der Sainte-Victoire und anderswo wahrgenommene handeln, wahrgenommen mit dem an Cézanne geschulten Blick: Die bemühte Probe aufs Exempel gibt dann die angehängte Beschreibung des Morzger Waldes. Dem Ursprung dieses Blicks, dem „Bild der Bilder", kommt so der initiale Stellenwert des „flüchtigen Augenblicks" aus Langsame Heimkehr und der Kafka-Rede zu; er vermag das Vorgefundene gesetzmäßig umzuphantasieren (fïreizuphantasieren), es,simili modo' zu verwandeln. Als sein frühestes „Bild der Bilder" nennt der Autor wenige Seiten später den vergoldeten Tabernakel in der Pfarrkirche seines Herkunftsortes, das „sogenannte ,Allerheiligste'" bergend, das ihm seinerzeit das „Allerwirklichste" war ( L S V 66). Es sind aber die erwähnten Orte auch solche, die, wie Peter Strasser schrieb, „das Mal des Weltentzugs tragen: Orte wie schöngeglättete Panik, als Folge eines sprachlichen Selbstabschlusses, der dem monadisch Phantasierenden aber als Freilauf in die Welt anmutet" 11 - „das Reich der Welt offenhält" ( L S V 63).
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Peter Strasser: Der Freudenstoff. Zu Handke eine Philosophie. Salzburg/Wien: Residenz 1990, S. 36.
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Eine Widerlegung von Cezannes klarsichtiger Befürchtung ist die Folge rhetorischer Fragen keinesfalls. Ausgerechnet die Kiefern um die Sainte-Victoire fielen einer Feuersbrunst zum Opfer. Handke hat die Verwüstung beschrieben in der wenige Seiten umfassenden Epopöe vom Verschwinden der Wege oder Eine andere Lehre der Sainte-Victoire. Am Ende dieses Textes, in dem eben noch der Verlust und die Zerstörung dieser Wege beklagt wurde, bekennt der Verfasser einen „Zusatz von Einverständnis". ( N T 38) Im Gedicht an die Dauer ist die Vermutung geäußert, eine Quelle im Pariser Vorort-Wald werde „vielleicht bald für immer unter Beton sein - , / aber das tut nichts zur Sache: / Hier ist er ja, der Dauerort, / wo ich damals wie jetzt meinen Bogen / beschreibe" (GD 45t). „Meinen Bogen beschreibe": Das ist doppelsinnig wie anders die Rede vom „Bild der Bilder": als Spaziergänger, als Schriftsteller. Dieser ,rettet' die Quelle, die jener aus dem Beton freiphantasiert, in die Schrift. Erst als verschwundene, als abwesende, das heißt als phantasierte, hat sie teil am „Allerwirklichsten", als in der Phantasie, in der Schrift, auferstandene.12 Das Reich der Phantasie, läßt sich auch sagen, ist das der Abwesenheit oder des Todes; die andere, die wahre Gegenwart ist die der Toten, der „Vorfahren", mit denen Sorger im New Yorker Coffee Shop, der Ich-Erzähler in Die Wiederholung, sich verbunden weiß. Uber Christian Wagner schrieb Handke, seine Sprache, in der er sich wiederfand, hätte er „erst erlangt durch den Verlust seiner Familie - in den Blumen und Faltern erschien ihm der Geist der Toten, sich auf ihn übertragend als Sprache: Wagner bekam eine Stimme, wurde eine Stimme" (EF 130). Die Geburt des Dichters aus dem Geist der Toten. Vielleicht ist ebendies darin mitbedeutet, daß ein Toter dem Priester im Traum das Sakrament spendet. Zum für mich Eindrücklichsten, was Handke geschrieben hat - hier bewährt sich das sonst häufig obsolete Imaginationsmodell - , gehört in Die Wiederholung das Bild der Wiese hinter dem Vaterhaus, wo die Wäsche gebleicht wurde. Die ganze Familie war da, nein: ist da festlich versammelt, und zwar als abwesend, für alle Zeiten. Aus dem Abstand eines Vierteljahrhunderts oder eines Tags (W 9) schreibt der Ich-Erzähler: In meinem Gedächtnis sitzt da keine Menschengruppe in der Sonne, es liegen nur die üblichen blendweißen Tücher auf der Grasfläche, besprengt aus einer Gießkanne, von der mit dieser Arbeit betrauten Person. Das Geräusch des Wassers ist 12
Das hat freilich in anderen Fällen keine Gültigkeit, so im Fall der beabsichtigten gänzlichen Vandalisierung des Griffener Sees, gegen die Handke sich zur Wehr setzte (vgl. Hans Widrich: In Griffen, um Griffen und um Griffen herum. In: ide, Anm. 1, S. 45-48).
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Herbert Gamper ein hartes Prasseln; die kleinen Tümpel in den Tüchern verdunsten schnell; und die Grasfläche ist eine schiefe Ebene, von der alles andere, auch ich, verschwunden, weggerutscht, weggekippt ist. ( W 94)
In Die Abwesenheit durchirren als Spukgestalten die vier Reisenden, zwischen ihnen, unsichtbar, der Niemand, der Erzähler, die Karstlandschaft als die einst belebte, seit langem schon ausgestorbene Erde - nicht ganz unähnlich der von Ulrich Horstmann in seiner „Philosophie des Abschieds"'3 oder der „Menschenflucht"1'* heraufbeschworenen. Andererseits wieder behauptet Handke die Identität der im platonischen Sinn idealen mit der empirisch wahrgenommenen Seinsweise. Für den Ich-Erzähler im Versuch über die Müdigkeit sind Erscheinung und „Ding ,an sich'" oder „Idee" (VM 67) sowie Sein und Sollen, ein und dasselbe. Was dem Müden so vorkommt, formuliert er, einmal mehr, als „Gesetz": „So wie das Ding im Augenblick sich zeigt, so ist es nicht bloß, so soll es sein." (VM 68) „Daß die wirkliche Welt ist, wie sie sein soll", das ist für Hegel - er spricht von „göttlicher Vernunft" - die „Einsicht", zu der Philosophie führen solle. 1 ' Solche Nachbarschaft Handkes mit dem preußischen Staatsphilosophen ist Folge der in Handkes Texten nicht vereinzelten Verabsolutierung der Halluzination eines der „flüchtigen Augenblicke" nicht nur als „Gesetz" poetischen Phantasierens (das seine Rechtfertigung finden kann in der realisierten Form, als verklärte Erinnerung oder - obzwar nicht für Handke - als Utopie), sondern als behauptete tatsächliche Beschaffenheit der Welt. Das ist unbegreiflich genug, und nun gar, wenn man in Phantasien der Wiederholung liest: „Statt,Gnade' kann man vielleicht sagen ,Biologischer Schub' oder ,Adrenalinstoß' - aber das sind zumindest längere Wörter". (PW 17) Sonst scheint nichts Entscheidendes dagegen zu sprechen. Was aber sind jene Augenblicke Sorgers, Losers, des Ich-Erzählers im Versuch über die Müdigkeit - anderes als widerfahrene Gnaden? Vielleicht biologische Schübe - doch wozu dann das Ostergeläut? Im Beispiel aus dem Versuch über die Müdigkeit wird das behauptete „Gesetz" abgeleitet aus dem „Beieinander" weniger, als indifferent wahrgenommener Vor-
13 Ulrich Horstmann: Die Menschenleere ist ausdenkbar. Plädoyer für eine Philosophie des Abschieds. In: Oskar Schatz (Hg.): Die Lust am Untergang. Wien u. a.: Wiener Journal u. a. 1985, S. 147. 14 Ebd., S. 151. 15 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, Bd. 12, S. 53.
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gänge und Dinge: „und nichts ist wertvoller als das andre" (VM 69). Und doch soll darin „das Ganze" (VM 69) sich zeigen, also, Hegel zufolge, die Wahrheit (die aber anderwärts dem schönen Schein geopfert wurde). Da den kontingenten Wahrnehmungen auch nicht der Charakter von Symbolen zukommt, müßte eher von „Flucht vor dem Ganzen in die Einzelheiten" gesprochen werden, vom Verdecken der „Wahrheit mit der Wirklichkeit". 16 Der indifferenten Reihung entspricht das Ideal des als episch deklarierten Schreibens: Und, und, und. In Sorgers Vision des Augenblicks war solche Reihung im Zeitraum, der im Versuch über die Müdigkeit nur noch abstrakt behauptet wird, aufgehoben. In ihrer Verabsolutierung, verbunden mit Verklärung, wird die Verwandlung ins „ A N D E R E Leben" (EF 158) nivelliert und banalisiert zu unterschiedsloser Affirmation von allem und jedem: natürlichen und sozialen Gegebenheiten, Natur- und Zivilisationsobjekten1?, Affirmation, die sich nur im Vorzeichen unterscheidet von Thomas Bernhards vielstrapaziertem „Es ist alles egal".'8 Handke kreierte das Unwort „Daseinsbedingungsbejahung" (CS 173). Da ist es folgerichtig, daß gar die Vergottung eines gewöhnlichen Tages erwogen wird, was immer das heiße (am Ende, indem der geglückte Tag erschrieben, „gemacht" sei (VT 91), entgegen der Intention Selbstvergottung): „,Der ist, und der war, und der sein wird': Warum läßt sich das nicht, wie seinerzeit von ,dem Gott', von meinem heutigen Tag sagen?" ( V T 71) Die Wahrheit solcher der Form nach kategorischer Aussagen, zum Teil beziehungslos koexistent mit abweichenden, unvereinbaren, scheint die subjektive einer situations- bzw. kontextbedingten und -gebundenen sprachlichen Gebärde zu sein, nicht die eines gegenstandsbezogenen Urteils, das als solches bestehen könnte. Ihre Wahrheit ist die auch in Sprüngen sich vollziehende existentielle Bewegung des Phantasierens oder Schreibens ums Leben, gegen übermächtige Bedrohung, Vernichtungsdrohung. Das ist es, von artistischer Genugtuung, also der Bewunderung für die aufschließende Kraft mancher Beschreibungen einmal abgesehen, woran ich als Leser doch Anteil nehme: am Prozeß eher, und nicht so sehr am Ergebnis als dessen verhärteter Spur. Das heißt aber auch, daß ich die priesterliche Gebärde nicht zum Nennwert nehmen kann.
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Bela Baläzs: Der Film des Kleinbürgers. In: Die Weltbühne X X V I , 2. Halbjahr, S. 235.
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Das wäre zu Peter Strasser anzumerken, der von Handkes „Naturdichtung" spricht (Strasser: Anm. 10, S. 19) und die gezielte, programmatische Gleichsetzung von Natur und Zivilisationsprodukten - wobei am penetrantesten die Apotheosen von Autoglitzerblech und -„brausen", Flugzeugen, Radiogedudel sind
ignoriert.
18 Thomas Bernhard: Der Keller. Salzburg/Wien: Residenz 1976, S. 165fr.
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Herbert Gamper
Die Geschichte des Priesters hatte zuerst mich angesprochen, weil sie indirekt der Prophetie Cezannes, die Handke wider besseres Wissen meint bestreiten zu können, recht gibt: weil in ihr weder willentliche Wertblindheit noch ästhetische Selbstgenügsamkeit in einem geschichtsfreien Raum zelebriert sind. Der Erzähler gibt indirekt, und zwar nicht nur beiläufig, mit der Gestalt des Priesters sich Rechenschaft, daß mit der - für einmal nicht geleugneten - Verödung der Welt, und zwar geschichtlich bedingt, auch die Stellung des Künstlers als „Gesellschaftsmensch" (NSch 73) prekär und er sich selbst, in der Eigenschaft als Schriftsteller, dadurch zweifelhaft geworden ist. So daß es einer erneuten „Erscheinung" bedarf, ihm das Weitermachen zu ermöglichen. Zwar ist es kein Spießrutenlaufen, wenn der Priester auf die Straße geht, wie im Fall des Schriftstellers in der Salzburger Einkaufsgasse (NSch 4iff). Aber man will fast überall von ihm in seiner Eigenschaft als Mann der Kirche nichts mehr wissen. Als solcher ist er ein Exponent der absterbenden oder schon abgestorbenen, in diesem Modell-Fall bäuerlichen Kultur: nicht mehr bestellte Äcker, verlassene und zerfallende Bauernhäuser (NB 63 if), das aufgelassene Gasthaus (NB 638): Dörfer - „gab es noch irgendwo solche?" (NB 634);,glitte des Dorfes - die gab es hier noch" (NB 638). Am Abend sitzt der Priester „noch einmal wie in einer alten Zeit" (NB 646) mit den Kleinhäuslern, welche die Totenmesse für den gewesenen Nachbarn bei ihm bestellten, auf der langen Bank an der Hauswand. Noch, denkt er, hat er nicht aufgegeben, „heute noch nicht!" (NB 647).
Fabjan Hafner
Es ist die Muttersprache, aber die Mutter ist lange tot... Slowenisches im Werk von Peter Handke Wenn man im Werk Peter Handkes die Kategorien ,Sprachen', ,Orte' und ,Personen' mit den Begriffen,Kindheit',,Krieg' und,Kirche' in Beziehung setzt, wird jener Hintergrund sichtbar, der den Bogen füllt, den die Wiederholung des Mottos von Handkes Ersding Die Hornissen in seinem jüngsten, umfangreichsten Prosawerk Der Bildverlust spannt. Der Wortlaut - „DU WIRST G E H E N / Z U R Ü C K K E H R E N N I C H T STERBEN IM KRIEG" (H 5) kehrt unverändert wieder, nur die graphische Anordnung ist eine andere, zweispaltige, wobei in der zweiten Spalte das „nicht" für sich allein steht und somit auch die neue Herkunftsbezeichnung - „(Lateinisches Orakel)" (B 5) - rechtfertigt. Doch läßt sich diese Feststellung als Wunsch auf keinen der Protagonisten in einem der beiden Romane münzen. Das Geschehen kreist um eine leere Mitte, in der sich die abwesenden Anderen befinden. Der polyglotte Prager Dichter Rilke spricht, im Welschschweizer Muzot lebend, von der „l'offrande ineffable de l'absence féconde ... (Verzeihen Sie, daß ich das französisch formuliere, ich finde keine entsprechenden Ausdrücke ...") I Das „unaussprechliche Opfer fruchtbarer Abwesenheit", wie im Schluß-Gedicht der „Vergers", auf deutsch „Obstgärten", trifft auch auf Handke zu: TOUS mes adieux sont faits. Tant de départs m'ont lentement formé dès mon enfance. Mais je reviens encor, je recommence, cefrancretour libère mon regard. Ce qui me reste, c'est de le remplir, et ma joie toujours impénitente 1
Rainer Maria Rilke: An Katharina Kippenberg, 9. 2. 1926. In: Ders.: Mitten im Lesen schreib ich Dir. Ausgewählte Briefe. Hg. v. Rätus Luck. Frankfurt: Suhrkamp 1998 (= Bibliothek Suhrkamp. 1291), S. 125. Ubersetzung S. 321.
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d'avoir aimé des choses ressemblantes à ces absences qui nous font agir.2 Denn für Handke ist nicht nur „,Glänzen durch Abwesenheit': [ein] schöner Ausdruck" (PW 29), er nennt auch sein „Geliebtes: Großes Abwesendes" (FF 95). Die Abwesenden sind die Vorfahren: die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Brüder der Mutter, vor allem der ältere, Gregor; die Großeltern mütterlicherseits, besonders der Großvater, ebenfalls mit Namen Gregor; und schließlich die Mutter selbst: sie alle waren Slowenen.} Der leibliche Vater und der Stiefvater, beide aus dem Osten Deutschlands stammend, überleben den Krieg, ihre Geschichte wird nicht erzählt. Denn „was man Weltgeschichte nennt, sollte möglichst draußen bleiben" (NB 734), wenn „jemand ohne Geschichte aus einer Familie ohne Geschichte" ( G W 182) erzählt. Dieser Mangel meint nicht nur die nicht erzählten Biographien, sondern umfaßt ausdrücklich auch die Abwesenheit der Historie. Die Slowenen erscheinen somit zuerst im familiären Zusammenhang als geschichtslose Entität, und zwar in einem Gespräch mit Peter und Lojze Wieser: ,„Was mich überhaupt auf den Weg bringt, das zu schreiben, ist ja, daß ich aus einer Familie komme, die überhaupt keine Geschichte hat.' [Gegenfrage] ,Das heißt, eine Familie ohne Geschichte aus einem Volk ohne Geschichte?' Handke: J a so, das reizt mich sehr.'" ( N N L iojf.) In einer Notiz aus demselben Jahr 1983 sieht Handke nicht nur die zeitliche, sondern auch die räumliche Unbestimmtheit der Slowenen als Vorzug: „Ist es nicht auch eine Stärke der Slowenen, keinen Staat zu bilden, kein Staatsvolk sein zu wollen" (FF 114). In der satirischen „Kurzen Geschichte der Slowenen" von Francek Rudolf, 1990 an der Schwelle der slowenischen Unabhängigkeit erschienen, wird als Einleitungsthese, aHerdings durchaus ironisch, dieselbe Auffassung vertreten: „Es gibt Völker, die verdienen einfach keine Geschichte. Eines dieser Völker sind auch die Slowenen. Von Jahrhundert zu Jahrhundert mühen sie sich ab, der Geschichte zu entkommen."« So war in den Hornissen „die Rede allein vom ländlichen Leben nach dem Krieg, und die Figuren waren slawische Kleinbauern, 2
Rainer Maria Rilke: Werke. Bd. II. 2. Gedichte und Übertragungen, Frankfurt am Main: Insel 1980, S. 307. „All meine Abschiede sind genommen. So viele Aufbrüche / haben mich langsam geformt seit meiner Kinderzeit. / Doch kehre ich noch immer wieder, beginne neu, / diese freimütige Wiederkehr befreit meinen Blick. // Was mir bleibt, ist ihn zu füllen / und meine allzeit unbeirrte Freude, / Dinge geliebt zu haben, die den Abwesenheiten / gleichen, die uns zum Handeln treiben." (Ü. d. V )
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„Alle Vorfahren meiner Mutter dagegen waren Slowenen." ( L S V 69)
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Francek Rudolf: Kratka zgodovina Slovencev. Legenda o strukturi. Ljubljana: Mladinska knjiga
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viele von deren Söhnen getötet für ein Deutschland, mit dem sie nie etwas im Sinn gehabt hatten." (NB 140) Daher formuliert er als Idee eines Epos: „Wann gelingt es endlich einem Toten, tatsächlich zurückzukommen, wieder da zu sein? Das muß doch möglich sein!" (GW 105) Kraft der Erzählung sollte der Lauf der Geschichte zu revidieren sein, lautet doch der Auftrag an die Nachfahren: „Ihr sollt den Unzeittod und die Vernichtung der edlen Brüder eurer wahllosen Mütter dereinst rächen" (ZU 10). Denn erst dann bekommt der Autor als Leser ein „Kindheitsgefiihl: als ob nun endlich alle Vermißten zu Hause wären" (AW 84). Der verschollene Onkel war in Abwesenheit, vertreten durch seine Schwester, Handkes Taufpate gewesen und fiel noch binnen Monatsfrist auf der Krim.' Die beiden Gregors schärfen den „Sinn für die Gleichzeitigkeit von Anwesendem und Abwesendem" (W 256Q und schüren die „Wißbegier, mich selbst zu verstehen anhand der Geschichte meiner Vorfahren" (A 24) bei jemandem, der von sich weiß: „Ich lebe von der Frucht meiner Kindheitswunden" (Th 467), die ihm der Krieg und seine Folgen beigebracht haben. Das Bewußtsein, den Fährnissen der Zeitläufte schutzlos ausgeliefert zu sein, daß Nachkrieg und Vorkrieg sich nur durch den Blick unterscheiden, nährt seine Friedenssehnsucht, sein „Bedürfnis nach Heil" (LH 9). Das „Sichwiederholen meiner ersten Kriegserinnerung, oder meiner ersten Erinnerung überhaupt?"6 ( U T 64t) drängt bis auf den heutigen Tag zur Parteinahme, denn „derart mitten im Krieg, derart mitten im Gebiet des blindlings schlagwetternden Zufalls, hatte ich mich höchstens einst in den Kindheitsträumen erlebt." (UT137) In der kindlichen Schreckenssicht der Dinge sind Nahes und Fernes ununterscheidbar, das „Gedröhn einer Hornisse, mit der gleich ein ganzes Bomberge1990, S. 5. Im Original: „So narodi, ki si zgodovine preprosto ne zasluzijo. Eden izmed takih narodov so tudi Slovenci. Iz stoletja v stoletje se trudijo, da bi ubezali zgodovini." 5
Vgl. Georg Pichler: Die Beschreibung des Glücks. Peter Handke. Eine Biographie. Wien: Ueberreuter 2002, S. 16.
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„und beim Anblick der im schlammigen Hof verstreuten scheckigen Perlhuhnfedern das Sichwiederholen meiner ersten Kriegserinnerung, oder meiner ersten Erinnerung überhaupt?: ,ich' als kaum 2 1/2 -Jähriger [...] im H o f vor dem Bauernhaus der Großeltern, damals, sagen wir, im April 1945, und dort in dem Hof allein, spielend, und unversehens ein Dröhnen in den Lüften, und ein Riesenschatten momendang, und jemand, der aus dem Anwesen gerannt kommt und mit mir dorthin zurückrennt, und danach - wieder Stille und Sonne, besondere Stille und besondere Sonne" ( U T 64O - „So weit ich mich zurückerinnern kann, bin ich wie geboren für Entsetzen und Erschrecken gewesen. Holzscheite lagen weit verstreut, still von der Sonne beschienen, draußen im Hof, nachdem ich vor den amerikanischen Bombern ins Haus getragen worden war." (KB 9)
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schwader aus dem Himmeldunst schießt." (W 289) Die Gefahr ist immer nah: „Unter den Dachziegeln eines jeden Hauses brüteten die Hornissenlarven und der Krieg." (FE 30) Selbst die Andacht ist nicht angstfrei: „Uber das Altarsticktuch ist durchsichtiges Plastik gebreitet, und darauf krabbelt eine sterbende Hornisse. Auf vielen Steinen steht eine fremde Sprache" (UD 82), die slowenische nämlich. Das Nebeneinander von Idylle und Schrecken prägt Handkes Sicht, auch wenn er in jüngster Zeit die sarkastische Äußerung eines „slowenische[n] Bekannte[n] [zitiert]: ,Du mußt jetzt unbedingt mein Vipavatal besuchen: die Nachtigallen (slavcki) und die Bomber, die nachts südwärts fliegen!'" (UT156) Doch in diese Gegenwart des Schreckens ist auch eine Sehnsucht eingeschrieben, nach etwas schmerzlich Vermißtem, Abwesendem. So muß um der Sehnsucht willen der Schrecken weiter ertragen werden. „Es darf nicht sein, daß der Stoff der Kindheit verbraucht wird!" (A 218) Die frühen Orts- und Sprachwechsel haben Handke entwurzelt, als Abkömmling von Slowenen und Deutschen fühlte er sich in Kärnten doppelt „unzuhause"?. Was für die Protagonisten der Hornissen gilt: „Ob wir wüßten, was wir seien? fragte er. Schurken und Bösewichter! gab er sich selber die Antwort, Tagediebe, Strauchräuber und Wegelagerer! Nachtmahre! widersprach er sich: Mischlinge, Bastarde!" (H 13 if), trifft auch auf ihren Autor zu: „Meine Mutter, mein Großvater und meine Großmutter waren reine Kärntner Slowenen; ich selbst würde so etwas auch gerne von mir sagen können, aber ich kann es nicht, denn mein Vater war Deutscher, und so kann ich nur sagen, daß ich eine Art,Bastard' bin." (NNL 47) Das Identitätsstiftende der Kindheitssprache ist dadurch ebenfalls gefährdet: „,Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit'? Nein, die Sprache. O Sprache." (UT 23) Denn die Prägung ist und bleibt unauslöschlich: „Eigentlich kann und soll ich bis ans Ende nur die Wörter der (meiner) Kindheit gebrauchen - freilich nicht deren Sätze und auch nur die Wörter der Kindheitslandschaft" (GB 164)8. Der Grund dafür wird bei aller Suche, Sucht, Sehnsucht nach Zusammenhang überdeutlich: „der Schwindel, das waren die Verknüpfungen" (B 620). Daß es sich bei dieser ersten Sprache um das Slowenische handelt, stellt Handke selbst außer Zweifel: „die Gegenwart reicht auf einmal zurück bis in die Kindheit. Das ist keine Erinnerung, sondern die Kindheit gehört zur Gegenwart dazu. [...] Durch die slowenischen Wörter gehört die Kindheit jetzt wieder zu mir." (NNL 108) Diese Kindheit war bei aller Kargheit bestimmt durch ländlichen Bilderreichtum, und „Handkes erste Bilder wurden in sloweni7 8
Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübinger: Niemeyer 15 1979, S. 189. Vgl. „Bleib den Wörtern deiner Kindheit treu; jedes andere Wort wäre falsch". (PW 34)
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sehe Worte gefaßt. Die Wörter seiner Kindheit waren slowenische Wörter, deshalb kann er die Kindlichkeit [...] nicht aus seinem Schriftstellerdeutsch schöpfen, sondern muß sie durch die Rückkehr ins Slowenische zurückholen."? Was die tatsächliche Präsenz und "Vitalität des Slowenischen in seiner engeren Unterkärntner Herkunftsgegend anging, gab sich Handke schon 1979, als er sich im Zuge seiner (langsamen?) Heimkehr nach Osterreich daran machte, die sprachlichen Voraussetzungen für sein Wiedereintauchen in die Kindheit zu erwerben, keinen Illusionen hin: „schon zu meiner Zeit (vor jetzt 20 Jahren) gab es in Griffen kaum mehr Slowenen". 10 Zwar wird „im sogenannten gemischtsprachigen Gebiet; auch in der Familie, vor allem im Haus, [...] slowenisch gesprochen, wobei deutsch und slowenisch sich oft von Satz zu Satz abwechseln (manchmal mitten im Satz)" (ASFG 9), doch dem Slowenischen fehlt die Öffentlichkeit, auch in Handkes Erinnerung firmiert es „als Haus- und Kirchensprache der Großeltern" 11 . Im von Abwehr- und Partisanenkampf geprägten Südkärnten machte sich jeder, der sich in der Öffentlichkeit des Slowenischen bediente oder sich gar zum Slowenentum bekannte, verdächtig, „weil kaum jemand außerhalb jenes Landes [= Slowenien] das Idiom kannte und wenn, so dessen Kenntnis wie eine Schuld oder Schande möglichst geheimhielt". (B 118) Damit einhergehend „ist dieses Geseufze vielleicht nur eine Familien- oder Stammesgewohnheit, ,typisch-wendisch-orientalisch', überkommen auf die Heutigen von Ur-Urahnen her" (B 504), ebenso die „sippen- oder dorf- oder ,volksgruppen'typische [...] Schreckhaftigkeit" (B 692). Die Voraussetzungen, um Peter Handke auch nur zum Sprach-Slowenen zu stilisieren, fehlen völlig. War dem Kind nach vier Jahren in Berlin sogar die Kärntner Variante des Deutschen, der breite Unterkärntner Dialekt, beinahe unverständlich, war „die slowenische Sprache, die ich damals, als 6-jähriger schon nicht mehr so recht verstanden habe, für mich [...] eine orakelhafte Sprache, die mich aber gerade durch das Orakelhafte im Innersten berührt hat".12 Durch seine Nähe zum Un- und Vorbewußten erfüllt das Slowenische in vielerlei Hinsicht die Kriterien, die Jacques Derrida für eine vorerste Sprache aufgestellt hat:
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Joze Snoj: Handkejev paradoks. Celovec: Drava 1991, S. 107. Ü. d. Verf.
10 Peter Handke an Franc Kattnig, 2. 10. 1979. Fotokopie im Besitz des Verfassers. 11 Peter Handke: Anmerkung. In: Florjan Lipus: Der Zögling Tjaz. Salzburg und Wien: Residenz 1981, S. 246. (Im Nachdruck getilgt, vgl. LIS 105). 12 Peter Handke, zitiert nach: Erich Prunc: Herbstdisteln. Slowenische Literatur in Kärnten. [Drehbuch zum gleichnamigen Dokumentarfilm 1982]. Manuskript, S. 5f.
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Es gibt, wenn Sie so wollen, nur Ankunftssprachen; [...] Einzig von diesen jAiikiinften' her, von diesen einzigen Ankünften her, entspringt das Begehren (noch bevor es ein Ich gibt, das es vorwärts tragen könnte, getragen wie es ist, dieses letztere, von der Ankunft selbst) als Begehren nach Rekonstruktion, nach Restauration, aber in Wirklichkeit als Begehren nach dem Erfinden einer ersten Sprache ¡première langue], die vielmehr eine vorerste Sprache [avant-première langue] wäre, dazu ausersehen, dieses Gedächtnis zu übersetzen; das Gedächtnis dessen, was eben nicht stattgefunden hat, dessen was untersagt worden ist und gerade deshalb eine Spur zurückgelassen hat, ein Gespenst, einen Phantomkörper, ein empfindliches, aber kaum lesbares Phantomglied, Spuren, Male, Narben. [...] Eine solche, eine vorerste Sprache [avant-première langue], erfunden für die Genealogie dessen, was nie stattgefunden hat und für ein Ereignis, das abwesend war und nur negative Spuren von sich selbst in dem, was Geschichte macht, zurückgelassen hat, existiert nicht. [...] Sie ist noch nicht einmal die verlorene Ursprungssprache. Sie kann nur die Ankunftssprache oder besser die kommende Sprache, eine versprochene Sprache sein [...].13 Eine Zeit lang war das Slowenische wohl auch für Handke eine vergehende, verkommende, gestrige Sprache, für den Dialektverächter 1 ^ sprachen die Vorfahren in einem „fremden, ungefügen Dialekt" ( H 21), einer „fremden, unverständlichen Mundart" ( H 34). Das Belegwort „Hasch (der in der fremden Mundart eine für das Vieh gut freßbare Wasserpflanze bedeutet)" ( H 23t) bezeichnet zwar in der Tat „Schilfkolben [bzw.] Schilfblütenkolben, die [von Faßbindern als] Dichtungsmaterial" 1 ' verwendet werden. So sehr man die Laute auch verschiebt, auf eine slawische oder gar slowenische Grundform läßt sich,Hasch' nicht zurückführen. Aber für Handke hat es den Stellenwert einer Proustschen Madeleine: „Im Kleinen hat man damals die Schöpfung erlebt, im Hören, im Riechen - wie beim jun-
13 Jacques Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen oder die Prothese des Ursprungs. In: Anselm Haverkamp (Hg.): Die Sprache der Anderen. Ubersetzungspolitik zwischen den Kulturen. Mit Beiträgen von Jacques Derrida, David Wills, Gayatri Spivak, Wolf Lepienies, Samuel Weber, Cornelia Vismann. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1997 (= Fischer Taschenbuch 12783), S. 34f. Vgl. „Auch meine Anfangssprache soll das Slowenisch gewesen sein. [...] Ich erinnere mich nicht und habe die Sprache fast vergessen." (LSV 69t). 14 „(meine Abneigung gegen jeden Dialekt!)" ( G W 42) - „Wo Geist ist, dürfte kein Dialekt mehr sein" (GB 156) - „Ihr setzt euern Dialekt ein wie Ellbogen. Ja, die meisten hierzulande suhlen sich im Dialekt, und dieser hat dann nichts von einer Sprache mehr; es sind nur noch Laute, bestenfalls; und die Suhlgeräusche beleidigen die jenseits der Umzäunung" (GB 172). 15 Johann Strutz, E-Mail an den Verfasser, 26. April 2001.
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gen Schilf, das Hasch geheißen hat; wenn man es gebrochen hat - dieser Geruch wird mir nie verloren gehen!" 16 Der anderen Sprache werden Eigenschaften zugeschrieben: „In der fremden Mundart wird sowohl füir einen, der blind ist, als auch für einen, der den anderen nicht sichtbar ist, dasselbe Wort verwendet." (H 274) Aus ebensolchen Unterschieden in der Weltwahrnehmung wird sich zwei Jahrzehnte später die Faszination, die vom „das Epos der slowenischen Wörter" (FF 301) ausgeht, nähren. Doch vorerst kapituliert der Erzähler vor dem Anderssein der Abwesenden: „Er kommt in der fremden Sprache nicht mehr zurecht. Wie seinen Schatten verfolgt er die Worte, die durch ihn gehen, ohne eins zu begreifen; er sucht sie zu bändigen, in dem er sie harmlos vor sich hin spricht und die Laute auf ihre Vertrautheit überprüft; sie tönen ihm jedoch so sinnlos im Kopf, daß er es aufgibt" (H 246^. Als sinnloses Wortgeklingel mögen auch die inbrünstig geleierten Litaneien vielerorts aufgefaßt werden, und viele haben die erste der „Regeln für die Schauspieler", die Handke seiner Publikumsbeschimpfung vorangestellt hat - „Die Litaneien in den katholischen Kirchen anhören" (STi 13) - als ironische Abrechnung mit seiner katholischen Prägung gelesen. Doch offenbar ist gerade dieser Einfluß ein entscheidender und besonders nachhaltiger: „Bin ich nicht von dem romanischen Kirchenschiff meines Heimatdorfs beeinflußt? (Das wäre Psycho-Analyse)" (PW 51). Handke führt aus, warum die an der Peripherie allein stehende Kirche von Stift Griffen zum Gegenort, zum obrigkeitsbestimmten Zentrum der Gemeinde werden konnte: „Dann gab's den anderen Ort, der im Westen lag von meinem Ort, der hat die Kirche verkörpert. Und die Kirche, die Messe war slowenisch. Und das war es, was mich beeinflußt hat: slowenische Litaneien, slowenische Maiandachten, sogar der slowenische R o s e n k r a n z . " U m so befreiender die Form der kollektiven Andacht wirkt, desto gewaltsamer wird weltliche Instanz wahrgenommen: „Weil das Herz weit wurde, wo der Staat aufhörte, wo der Zwang aufhörte, wo zugleich aber auch - und das muß man deutlich sagen - das Unbewußte sich weiten konnte."18 Die Nähe zum Unbewußten manifestiert sich in seiner musikalischen Qualität, etwa „beim Beten, auf slowenisch, der langen 16 Peter Handke: „Es gibt eine Geographie des Menschen". [Interview.] In: Michael Maier, Janko Ferk (Hg.): Die Geographie des Menschen. Gespräche mit Peter Handke, Reiner Kunze, Carl Friedrich von Weizsäcker und Leonardo Boff. Wien: Edition Atelier 1993, S. 7-29, hier S. 14. 17 Handke (Anm. 12), S. 4. Vgl. „Für mich war es auch so evident, das Slowenische, schon in den Litaneien, wie ich es ja in der Wiederholung erzählt habe, in den Litaneien, in der Art der Religiosität, und auch des Daseins, und des Tonfalls und des Schauens. Das war mir nah. Bis ins Innerste bin ich davon immer noch berührt, und da gehör ich hin." ( N N L 98) 18 Ebd., S. 5.
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Allerheiligenlitanei, eher einem Anrufen, nah am Singen, und endlich, ganz mählich, xind bloß hauchzart, darin übergehend." (NB 643) Der Meßgang wird nicht als nostalgisch, rückwärtsgewandete Wiederholung empfunden, sondern als identitätsprägendes Hier und Jetzt: „Keine Kindheit brachte er mir zurück, sondern der Mensch wurde ich mit ihm, der ich bin, oft zittrig, doch nicht wehrlos. [...] Daß ich das Slawische1? meiner Vorfahren zugleich als eine Messe zu Ohren bekam, gehörte dazu, und unbedingt." (NB 967) Schließlich hält der Stift Griffener Kreuzweg, auf Slowenisch verlesen, selbst wenn das Zentrum - der Name Jesu ausgespart bleibt, den Brüdern Benedikt in den Hornissen die anfliegenden Bomber vom Leib: „Hast du's gehört? fragte ich. Das ist jetzt vorbei, sagte er. Ich hab's gehört, sagte ich. Die kommen nicht bis hierher, sagt er. Die sparen sich für die größeren Städte. Ich hab's gehört, sagte ich." (H 113) 20 So wird das Slowenische zum Bann und Gegenzauber, später auch zum Schibboleth. Nicht nur für den anderen Ort steht es, auch für die andere Zeit:,„Slowenisch ist mein Sonntagsgewand' (Florjan Lipus; und ein wenig geht es sogar mir so)" (FF 506), und es ist auch klar warum, handelt es sich doch um „das Feiertagsgewand eines aus dem und dem Krieg nicht zurückgekommenen Sohns" (B 341). Mit Kierkegaards Auffassung, daß die ,Wiederholung' im Gegensatz zu Erinnerung glücklich mache,21 stimmt Handkes Ansatz, geboren aus der „Sehnsucht, die Toten zu erwecken" (FF 28) und „den Toten Ehre machen!" (FF 218) auffällig überein. Wie der Bruder Filip in der Fiktion „immer abwesend begleitet" ( N N L 88), sind Handke, dessen Schreibimpuls „vom Unbestattbaren her" 22 bestimmt ist, die Toten in Naturbildern gegenwärtig: „die in der Taiga Verscharrten leuchteten mir dann auch schon vor in Gestalt eines Knospenauges an einer der Winterlinden oben auf dem Bahnsteig" (NB 695), und auch hier wird der Konnex von 19 Nie legt sich Handke auf das nur Slowenische fest, er sieht es vorzugsweise in einem größeren, beinahe panslawisch anmutenden Zusammenhang. 20 Je k smerti obsojen: fing ich an meinem Standort die fremde Mundart zu lesen an; useme te krish na suoie rame: fuhr mein Bruder vor der zweiten Station zu sprechen fort; pade prauish pod krisham: fuhr ich fort; srezha svoie shalostno mater: fuhr er fort; pomagh krish nositi: fuhr ich fort; poda petni pert: fuhr er fort; pade drugesh pod krisham? fragte ich; troshta te Jerusalemske shene? fragte er zurück; pade trekish pod krisham: war ich fortgefahren; je do nasiga sliezhen inu jemo so te grenki shauz pitd dali: war er fortgefahren; po na krish perbit: fuhr ich fort; je pouishan inu umerie na krishu: fuhr er fort; je od krisha dou uset inu na roke Marie poloshen: fuhr ich fort; bo u grob poloshen, las er zu Ende. (H ii2f). 21 Vgl. Sören Kierkegaard: Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie von Constantin Constatius. Frankfurt/M: Syndikat/EVA 1984, S. 7. 22 Paul Celan: E r z f l i t t e r , tief im. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000. Zweiter Band. Gedichte II. (= suhrkamp taschenbuch 3203), S. 227.
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Abwesenheit und Slowenischem hervorgehoben: „Odsotnost, Abwesenheit (slowenisch), sei für ihn, den Freund aus Ljubljana: ,srecanje z ravnino jeseni': = Begegnung mit der Ebene im Herbst; und sein slow. Nachbar antwortete: ^Abwesenheit ist die Existenz der Träume in der schweigenden Weite' (,v molceci daljavi')"(FF 442). T. S. Eliot vereint Vorfahrenbezug mit religiöser und nationaler Begrifflichkeit, die der Sicht Handkes sehr nahe kommt: „We are born with the dead; / See, they return, and bring us with them. / [ . . . ] / A people without history / Is not redeemed from time, for history is a pattern / Of timeless moments."23 Früh identifiziert sich der Autor mit dem toten Ahnen: „ich war vielmehr Onkel Gregor, ich meine damit: alles, was ihm widerfuhr, das erlebte ich an mir, ganz unbeschreiblich war das."24 Des Traumatisierenden einer solchen Fixierung ist er sich durchaus bewußt: „Die Wiederholung: sich von den Vorfahren befreien; aufhören, sich für ihren Gefangenen zu halten, oder auch für ihren glücklichen Erben; ohne sie dabei aber zu verraten" (FF 231). Noch kritischer ist die Sicht der halbslawischen Protagonistin des Bildverlusts angesichts einer vergleichbaren Situation: „Die Kräfte, die sie [...] weniger aus einem geglückten ganzen Leben eines Ahnen (es gab freilich nicht einen einzigen dieser Art) als aus dem Unglück und dem einsamen Sterben (das galt für alle ihre Vorgänger) bezogen hatte, erschienen ihr inzwischen erschwindelt." (B 10) In seiner Herkunftsgegend hingegen verdeudicht Handke, der einmal meinte, ,,[e]ine Volksdichtung erkenne ich nur in manchen Ortsnamen" (GB 71), die eigenen Ursprünge durch das Mit- und Durcheinander von Slowenisch und Deutsch. In den Hornissen findet sich nach den „Hasch"-Stellen und vor dem vielzitierten Stift Griffener Kreuzweg (H 1 i2f) ein Katalog fiktiver Ortsnamen, von denen sich etliche nur slowenisch semantisieren lassen, wobei die beiden Stellen sogar in einigen Vokabeln übereinstimmen. Besonders schillernd ist etwa „Gruden" 2 ? -
23 T. S. Eliot: Gesammelte Gedichte. 1909-1962. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Eva Hesse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988 (= suhrkamp taschenbuch 1567), S. 334. Die ausgesparte Stelle enthält bezeichnenderweise Naturbilder. 24 Brief an die Mutter, 13. 1. 1963. Nach Adolf Haslinger: Peter Handke. Jugend eines Schriftstellers. Salzburg und Wien: Residenz 1992, S. 69. 25
„Sie ziehen von dort in östlicher Richtung zu der Ortschaft Tschau, biegen ab nach Nordosten, ziehen über die Schneisen auf den Berg Wall, stoßen in die gleiche Richtung auf die Ortschaft Gruden hinab, lassen unbehelligt die Ortschaft Schlanz, die Ortschaft Ritsch, die Ortschaft Polosch, die Ortschaft Tschernoglau, die Ortschaft Dürn, die Ortschaft Nütz, die Ortschaft Schanz, und die Ortschaften Zwanzig, Dreißig und Mohr, biegen überraschend nach Norden und ziehen weiter in diese Richtung über die Ortschaft Schlamm, über die Ortschaft Pruch, über die Ortschaft Schleck, über die Ortschaften Sriedma, Sjutra, Trekisch, Krisch, und ziehen fort über die
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deutbar als Zusammenziehung aus dem Namen des Geburtsortes ,Griffen' und dem der Nachbarpfarre ,Rüden' - bezeichnet das Wort „gruden" im Slowenischen Handkes Geburtsmonat Dezember. Das es darüber hinaus um Ursprungszeit, -ort und -person geht, belegen „grada" - „die (Erd-)Scholle" und „grudi" „die Brust." Diese Klärung erfolgt freilich retrospektiv, als Eigenheit des Slowenischen vermerkt die Wiederholung „auffallend viele Bezeichnungen für Stätten, wo einmal etwas gewesen und jetzt nichts mehr war" (W 209). So wird auch die Zugehörigkeit erst durch Abwesenheit und Wiederholung faßbar; „Ich habe keinen Heimatbegriff. Ich habe nie eine Heimat gehabt in dem Sinn - erst im nachhinein habe ich gewußt: Das war Heimat." 26 Uber dieser engeren Heimat blaut „ein schmaler Himmel, der sich nach Süden erweitert" (W 11). Dort findet er in Slowenien eine zweite, weitere Heimat, freilich nur auf Zeit. Nach der slowenischen Unabhängigkeitserklärung empfindet er, „als ob ich sozusagen meine Heimat verloren hätte, indem da ein Staat wurde, wo eigentlich nur ein Volk und eine Landschaft war" ( N N L 75). Bei allem aus Trauer und Empörung geborenen Engagement für ein gemeinsames Jugoslawien, läßt sich die Zugehörigkeit nicht übertragen: „durch Serbien reisend, hatte ich dagegen keinerlei Heimat zu verlieren." (ARN 140) Die Möglichkeit einer derartigen Motivation wird sogar völlig in Abrede gestellt: „Serbien war und ist für mich ein fremdes Land. Ich bin ganz und gar nicht dorthin gegangen, um wieder eine Heimat zu finden."27 Also gilt wohl, auch wenn die Stelle aus dem Jahr 1989 in Klammern steht, weiterhin: „(wenn ich mich nach einer Heimat sehne, dann nur nach einer slowenischen. Seltsam.)"28 Die Erklärung ist einfach und liegt nahe: „In Slowenien und Südkärnten, da sehe ich die unscheinbaren Orte gut [...] in Slowenien und Kärnten haben sie für mich Bedeutung, die unscheinbaren, die nicht pittoresken Orte, von denen die Menschen am meisten leben."2? Dabei ist Handke nicht grundsätzlich
Ortschaft: Anhöh und über die Ortschaft Übersee zur Ortschaft Öd" (II 73f) - „über die Ortschaft Gariusch" (H 74) - „oder gar von der Stadt Krisch" (H 103) Das Niederdeutsche „Grude, die; -, -n [aus dem Niederd. < mniederd. grude = Asche]: 1 . als Rückstand bei der Schwelung von Braunkohle gewonnener Koks. z. (ugs.) kurz für Grudeherd, Grudeofen". In: Duden Universalwörterbuch (CD) Version 2.0 - scheint mir als Erklärungsmöglichkeit allzu weit hergeholt. 26 Handke (Anm. 16), S. 10. 27 Peter Handke im Interview mit Wolfgang Reiter und Christian Seiler. In: profil (Wien), 1 8 . 3 . 1996, S. 81. 28 Peter Handke an Helga Mracnikar, 16. 2. 1989. Fotokopie im Besitz des Verfassers. 29 Handke (Anm. 16), S. 16. Vgl. auch „Ich glaube an jene Orte, ohne Klang und ohne Namen, bezeichnet vielleicht allein dadurch, daß dort nichts ist, während überall ringsherum etwas ist. Ich glaube an die Kraft jener Orte, weil dort nichts mehr und noch nichts geschieht." (A 82).
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gegen jeglichen slowenischen Staat, doch gelten ließe er nur einen nach dem M u ster „der berühmten ,Republik Kobarid' [...], wo ein einzelnes Dorf sich mitten im Krieg als Republik gegen den Faschismus ausgerufen habe und es eine Zeitlang auch geblieben sei". ( W 74) Wobei diese Festlegung keine lokale oder regionale ist: „In Slowenien bin ich gebettet, wo auch immer ich liege, im Bett der Vorfahren. Ita est" (FF 393). Sein Osterreichbild hingegen bekommt Sprünge, „wenn im slowenischen Kärnten zweisprachige Ortstafeln umgeworfen werden" ( E F 58). Da überrascht es auch nicht, wenn Handke gerade seine politischen Parteinahmen als Herzensangelegenheiten ansieht: „Im Grund war es ein-, zwei-, dreimal in meinem Leben, wo ich mich unmittelbar gemeldet habe, das war, als die Russen in die Tschechoslowakei einmarschiert sind, achtundsechzig, und Waldheim, in Österreich, [...] Und dann über Slowenien, [...] Sonst hab ich eigentlich nie, nie wirklich aus dem Herzen was geschrieben, [...]." ( N N L 93) Der Verächter von Geschichte weiß sich von ihr gezeichnet, während ihn seine Parteinahme für die Verachteten erhebt: Ich hab in meinem Leben außer dem, was ich über den Nationalsozialismus gelauscht, gesehen und gelesen habe, im Grund kein historisches, mich bestimmendes Ereignis gehabt - es sei denn, wenn Sie das akzeptieren, die Zweisprachigkeit in dem Süd-Kärnten, wo ich aufgewachsen bin, wo ich gemerkt hab, daß da die Gruppe, die die eine Sprache spricht, also das Deutsche, die Gruppe, welche eine andere Sprache, das Slowenische, spricht, unterdrückt und als weniger hochwertig ansieht. Das ist schon ein bestimmendes Erleben, das mich aber nicht verkleinert, in dem Fall. Das ist mir höchstens ein Beweggrund auch, mich auf den Weg zu machen mit dem Schreiben. Das verstärkt sozusagen das Pathos - oder das bestärkt das Pathos und gibt dem auch seine sachliche Nahrung. (ZW 1 i6f) Vor diesem Hintergrund nimmt es auch nicht wunder, daß Handke die eigene Nationalität als „österreichisch-slawisch"^ 0 definiert. Es ist nur konsequent, für jemanden, der „einen deutschen Soldaten als Vater hat, sich dann irgend einmal entschieden hat für das Slowenentum, für das Slowenische als seine Seele. Ist ja seltsam, wie kommt das, daß ich mich sozusagen gegen meinen Vater entschieden habe, für meine Mutter" ( N N L 98). Das erklärte Ziel dabei ist, „ausscheren aus dieser Jahrhundertgeschichte, aus dieser Unheilskette, ausscheren zu einer anderen Geschichte" (ARN 157). Daher können die Protagonisten von Uber die Dörfer sich
30 Peter Handke: Nachbemerkung des Übersetzers. In: Adonis und Dimitri T. Analis: Unter dem Licht der Zeit. Briefwechsel. Aus dem Französischen und mit einer Nachbemerkung von Peter Handke. Salzburgund Wien: Jung und Jung 2001, S. 81-83, Wer S. 81.
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als stolze Muttersöhne gebärden: „Wir sind die Vaterlosen, die Freigesprochenen, die Heimadedigen, die Ortsentklammerten, die schönen Fremden, die großen Unbekannten, die sinnreich Langsamen [...]". (UD 43) In einem späteren Drama können - man beachte den Plural in beiden Fällen! - hellsichtige Mütter der Abwesenheit der gewalttätigen Väter durchaus Positives abgewinnen: Jedenfalls sind unsere Söhne vaterlos. Und werden ohne Väter bleiben. Gut so, scheint mir. Gut füir die heutige Zeit, gut für den Frieden jetzt, gut für die Zukunft." (ZU 17) Im Wunschlosen Unglück, bewährt sich auf der Flucht aus Ostdeutschland „als Losungswort die slowenische Antwort der Mutter" ( W U 46), 31 „dem mir quereingewachsenen Flüchtlings- und Illegalitätsgefuhl" (NB 980) ist weit schwerer zu entkommen. So imaginiert der Autor, daß irgendeinmal meine Vorfahren dort [in Slowenien] gelebt haben, die ich nicht weit zuriickverfolgen kann, weil mein Großvater unehelich und ein Knecht war. So stelle ich mir vor, daß da irgendeinmal die Vorfahren heraufgekrochen sind nach Kärnten, oder geflüchtet, das weiß ich nicht genau.'2 Erweist sich auf diesem Umweg das unausrottbare Vorurteil, Handkes Vorfahren seien aus Slowenien zugewandert," wenigstens auf einer anderen Ebene als wahrhaftig? Das slowenische Selbstgefühl und -bewußtsein war allerdings ein aus dem Süden, aus Maribor importiertes und wurde dementsprechend scheel angesehen: als mein Onkel ein bewußter Slowene geworden ist und als überzeugter Slowene nach Kärnten heimkam. Er wurde dann gegenüber der Familie zum Agitator. Die Schwester meiner Mutter sagte, ihr Bruder habe, indem er als nationaler Slowene zurückkam, den Krieg in die Familie getragen.^ Gregor und Johann Siutz fielen 1943 als Angehörige der Wehrmacht. Der einzige Uberlebende der drei Brüder, Georg, hatte einen Obstgarten samt villenartigem Haus gekauft, dessen enteignete Vorbesitzer Juden gewesen waren. „Er, der davon nicht gewußt hatte, mußte nach dem Krieg dafür Entschädigung zahlen. Dadurch wurde er nach dem Krieg eine Art Antisemit."^ Er „war Gemeinderat 31 Vgl. „ihr Slowenisch half auch uns allen, nach dem Krieg, in dem russisch besetzten Berlin." (LSV 69). 32 Handke (Anm. 16), S. 11. 33 Zuletzt nachzulesen in der Süddeutschen Zeitung (Magazin) vom 4. 10. 2002. 34 Handke (Anm. 27), S. 81. 35 Ebd.
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der national orientierten Freiheitlichen Partei in Griffen, obwohl sein Vater und seine Schwester Maria [...] sich zur Volksgruppe der Slowenen deklarierten wurde also ,als Slowene zum Deutschnationalen'".36 Durch Wohlstand und die Abkehr von seinen slawischen Ursprüngen kann er sogar zum Sprachrohr Gleichgesinnter werden: Im Gegensatz zu seinem ein Lebtag lang sprachlosen, allem abgeschworenen Vater hat er [...] wenigstens eine Art Sprache gefunden, wenn er diese auch nur benutzt, als Gemeinderat eine von großer Zukunft mittels großer Vergangenheit schwärmende weltvergessene kleine Partei zu vertreten. (WU 17) Der letzte Slowene im Haus vulgo Wunder in Altenmarkt/Stara vas war Gregor Siutz (1886-1975), ,,[d]er Großvater oder Ahnherr" (ZU 6). Handke nannte ihn, nach der dialektalen Koseform für Vater - „Atej" - „Ote", wiederzugeben mit ,Vati' oder ,Papa'. Die knappe Beschreibung einer Episode aus dem Leben seines Großvaters brachte Peter Handke die fragwürdige Ehre des Abdrucks eines Textauszugs im Ruf der Heimat, der Postille des Kärntner Heimatdienstes, ein: Peter H a n d k e , Neoslowene und österreichischer Dichter, schreibt im „profil" am 13. Oktober 1980: ..Mein Großvater hatte 1020 für den Anschluß des südösterreichischen Gebietes an das neugegründete Jugoslawien gestimmt und wurde dafür von den Deutschsprachigen mit dem Erschlagen bedroht..." Ist Handke nun unter die Märchenerzähler gegangen? Denn es dürfte auch ihm bekannt sein, daß nach der Abstimmung 1920 kein einziger Slowene, der für Jugoslawien gestimmt hatte, bedroht, geschweige denn erschlagen wurde. Was sollen solche Schauermärchen heute?" Das Skandalon aus ,heimattreuer' Deutschkärntner Sicht sind nicht nur der Publikationsort Wien, das linksliberale Magazin profil, sondern vor allem die zeitliche Nähe zum 60-jährigen Abstimmungsjubiläum. Doch das profil hatte nur aus Handkes damals neuestem Buch, aus der Lehre der Sainte- Victore (LSV 69), zitiert. Der Unterschied zwischen poetischem und politischem Diskurs wird eklatant deutlich: Persönliche Erinnerung soll durch pauschale Abrede entkräftet werden. Die historische Unrichtigkeit Jugoslawien' bei Handke wird im übrigen vom Ruf der Heimat kommentarlos übernommen, dankbar für die Möglichkeit der Rück36 Pichler (Anm. 5), S. 16. 37 Der Ruf der Heimat (Klagenfurt), 56 (1980), S. 10.
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projektion von späteren Ereignissen aus der kommunistischen Ära, insbesondere aus dem Zweiten Weltkrieg und danach, auf das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS), das sich erst seit 1929 Jugoslawien' nannte. Rettung oder zumindest Befriedung kommt wieder von weiblicher Seite: „(Die Großmutter warf sich dazwischen; Ort der Handlung: ,Die Ackerwende'; slowenisch: ,ozara'.)" ( L S V 69)38 Das Verschweigen von Greuel - wie der versuchten Tötung des Großvaters - , die Vergegenwärtigung durch Aussparung und Verschweigung - ist bezeichnend für Handkes Umgang mit belasteten Begriffen. Gerade am U n rechtsort gehen ihm die Augen auf: „Diesen Ort, der für mich keinen Namen hatte und dadurch auch kein Bild war, den habe ich im Grund erst entdeckt durch das slowenische Wort „ozara" oder „ozare" im Plural. So ist für mich ein Ort entstanden. Durch das deutsche Wort „Ackerwende" hätte ich da nichts gesehen. [...] So war das damals in dem Jahr, als ich versucht habe, das Slowenische ein bißchen zu lernen, weil es schön ist, die Orte der Landschaft bezeichnet zu finden, die für mich früher keine Orte waren."39 Handkes Sicht des Pro-SHS-Votums wandelt sich im Lauf der Jahre: immer als seine Entscheidung für das Slawische betrachtet hätte, gegen das 1918 kleindeutsch geschrumpfte Osterreich - und ich mich inzwischen aber fragte, ob sein Entschluß nicht vielleicht eher, nach dem Ende des Habsburg-Imperiums, mit der Ausrufung der Republik, aus einer Sehnsucht oder dem Bedürfnis wenn schon nicht nach einem Kaiser, so doch zumindest nach einem König gekommen sei, wie ihn die junge südslawische Nation an ihrer Spitze hatte!? (ARN 106) Der Großvater selbst ist ihm diese Antwort schuldig geblieben: „Später hat er zu den öffentlichen Ereignissen fast nur noch geschwiegen." ( L S V 69) Aber auch wenn die Antworten ausbleiben, dauert die Zwiesprache mit den slowenischen Vorfahren an: Ich denk mir oft, was würde mein Großvater dazu sagen. [...] Oder der Bruder meiner Mutter, von dem ich in der Wiederholung erzählt hab, der Gregor, der ja ein leidenschaftlicher Anhänger der slowenischen Sprache und auch des Slowenen-
38 Die geläufigeren Übersetzungen von „ozara" - , G e w e n d e ' oder „Gewann, das; -[e]s, -e, (seltener:) Gewanne, das; -s, - [mhd. gewande, eigtl. = Ackergrenze, an der der Pflug gewendet wird] (bes. südd.): in mehreren Streifen aufgeteilter, allen Bauern eines Dorfes zustehender Teil der Flur" bezeichnen deudicher einen aus dem Besitz des einzelnen herausfallenden Randbereich. 39 Handke (Anm. 26), S. 1 5 t
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tums war. Ich weiß nicht, aber von einem Staat, glaube ich, hat er nie etwas gedacht [...] Ich stell mir vor, daß über das, was ich in einem Artikel, den ich geschrieben habe - das ist ja das einzige, was ich wirklich geschrieben habe zu Jugoslawien und Slowenien [...], daß da der Bruder meiner Mutter vielleicht zornig gewesen wäre mit mir. (NNL 94O Nach dem Verlust der Inbilder, verschuldet auch und gerade durch die Gewalt auf dem Balkan und die Art ihrer Vermittlung und Darstellung, ist eine verstärkte Hinwendung zu musikalischen Prinzipien zu bemerken. Im Bildverlust heißt es zunächst unvermittelt, keiner Erzählinstanz zuzuordnen: „Mein Großvater sang aus der Ferne." (B 593) Dann ist es vielleicht gar nicht der nur eigene: „ja, der Großvater dort drüben singt, und ich höre das Lied zwar nicht, aber ich erkenne es, ich kenne es und singe hier mit." (B 623) Schließlich - und endlich - wird auch die Nachfahrin zur seiner Nachfolgerin: „Sie sang es nicht schallend, wie einst ihr Sänger-Großvater, sondern fast unhörbar und für meine überempfindlichen Ohren zeitweise leicht falsch, aber vielleicht gehörte sich auch das so. Und ihr Singen erschien, anfangs, auch einem Kinderweinen nachgebildet." (B 753) Die im Text folgende Liedlitanei hat man sich als Singsang vorzustellen. Hier hält es Handke mit Kunderas Definition: „LITANEI. Wiederholung: Prinzip der musikalischen Komposition: Zu Musik gewordene Rede. Ich möchte, daß der Roman sich in seinen reflektierenden Stellen ab und zu in Gesang verwandelt."«0 Das Verbindende des Gesanges stiftet und erzeugt ein Inbild, wie das „Doppelbild von sich und seinem Großvater, was dann auch Dritten auffiel" (NB 413), oder wie es anrührender kaum zu sagen ist: „Ein Liebespaar ging in der Landschaft, Enkel und Großvater, weit weg" (PW 99). Dem Paar am gemäßesten ist die Zweizahl, die das Sorbische und das Arabische - zum Unwillen etlicher Rezensenten ist die Heldin des Bildverlustes eine solch wilde Mischung - mit dem Slowenischen gemeinsam hat, und das Ziel ist auch schon vorgegeben, „schon fahren sie zwei, im Dual ,mi dva' oder so ähnlich [...] heimwärts" (B 704)4". Wohl wegen der großen phonetischen Nähe von ,Sorbisch' zu ,Serbisch' verwendet Handke im Bildverlust vorzugsweise das ältere ,Wendisch', das an ,Win-
40 Milan Kundera: Die Kunst des Romans. Essay; Aus dem Französischen von Brigitte Weidmann. München u. a.: Hanser 1987, S. 143. 41
„gab es im Arabischen, so wie im Slawischen, die Zweizahl, den Dual, zwischen Ein- und Mehrzahl?" (B 702) „doch, es gab im Arabischen die Zweizahl, den Dual!" (B 749). Vgl. http://www. loooand 1 .de/deutsch/kultur/sprache.htm
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disch', das ursprüngliche deutsche Wort für ,Slowenisch' anklingt. Deutlich und eindeutig sind die slowenischen Einsprengsel im Text: gefahren wird auf „der Landstraße, der cesta (B 181) und „die Erdäpfel, die krompire" (B 393) wachsen. Und am ausführlichsten: „ein gegendübliches Sprichwort, durch ihre ausgewanderten Vorfahren bis auf sie jetzt gedrungen, [...] ,in der die fremden Türen einem hinten gegen die Fersen schlagen'."42 (B 565) Das Slowenische mag sowohl in den Hornissen als auch im Bildverlust (und in den meisten dazwischen liegenden Texten auch) ein Randphänomen sein, aber es ist, wie die Sickerflüsse im Karst, auch dann Untergrund und Basis, wenn es an der Oberfläche nicht sichtbar wird. Das erratische,fremdsprachige,für das Strukturprinzip des Gesamtwerks so aufschlußreiche „Grandissimifiumicorron [!] sotto terra " - gewaltige Strömefließenunter der Erde - in Thomas Bernhards Amras,n klingt nach in: „flössen da der Globasnitzbach wie der Rinkenbach auf der ganzen Erde, ebenso wie darüber weit mehr als ein Kärntner Himmel blaute" (NB 406). Der Blick vom Rand aus leicht erhöhter Position mag seinen Ursprung haben im „höchstgelegene[n] und zugleich letzte[n] Häuschen der Ortschaft" (B 458). Er wurde so oft anderorts wiederholt, daß seine Übertragbarkeit außer Frage stehen sollte. Die zentralen Frauengestalten im Werk prägt „das mythische Bild der Frau im Geist des Mannes. Es ist der Idee des ,ganz Anderen' eingraviert, wie das des Kindes"44. Abseits des Vorgefaßten und Begrifflichen, an der Schwelle zum Ursprünglichen, ereignen sich die Epiphanien: „Mit den Bildern tauchte ich ein in die Mutterwelt." (B 745) Oder abstrakter gefaßt: „Die Imagination der Kindheitslandschaft bezeichnet eine Bewegung vom sprachlichen Ausdruck zurück ins Bild der Anschauung."45,Epiphanias' oder,Erscheinung des Herrn'46 sind indes 42
„tuja vrata naju bodo po petah tolkla. in der Fremde wird man uns zur Türe hinausjagen." In: Maximilian Pletersnik (Hg.): Slovensko-nemski'slovar izdan na troske rajnega Antona Alojzija Wolfa. Uredil M . Pletersnik. Bd. 2. P - z. Ljubljana: Katoliska tiskarna 1895, S. 29. Man beachte den Dual im Slowenischen, den Plural in Pletersniks Übersetzung und den Singular in Handkes ausgangstextnäherer Version. Vgl. „Gibt es in der anderen Sprache nicht jenes eine Wort für den, den es „endlos in der Welt hin und her schiebt" sowie die entsprechende Sentenz: „Die fremden Türen werden dir gegen die Fersen schlagen"? (W 253) und ( N N L 23).
43 Thomas Bernhard: Amras. In: Ders.: Die Erzählungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 63. Für den Hinweis auf die für das Bernhardsche Opus strukturbildende Funktion dieses fremdsprachigen Einsprengsels bin ich Wendelin Schmidt-Dengler zu Dank verpflichtet. 44 Klaus Bonn: Die Idee der Wiederholung in den Schriften Peter Handkes. Würzburg: Königshausen und Neumann 1994 (= Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft. Bd. 124.), S. 45. 45 Ebd., S. 132. 46 Erscheinung des Herrn / Dreikönigsfest (6. Jänner). Vgl. http://www.kathpress.co.at/info/glaube/ftag_epiphanie.htm
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andere Namen für das am 6. Jänner gefeierte Dreikönigsfest. Das Fries der drei Könige im Arkadenhof des Stiftes Griffen verweist, Kunsthistoriker bestätigen das, auf die abwesende Mutter (Maria) mit dem Kinde. Mitten ins Kompositum pflanzt der Autor ein bohrendes Fragezeichen: „meine [...] Mutter?spräche" ( U T 49) und meint das Idiom der deutschsprachigen Presse. Also trifft das Wort ,vom deutschen Schriftstellertum des slowenischen Dichters'47, Copyright by Joze Snoj, doch zu? Sprachlich läßt sich das Paradox nicht besser fassen als: Klammer auf: Ich kann nicht slowenisch schreiben. Es ist die Muttersprache, aber die Mutter ist tot. Drei Punkte. Klammer zu. Oder in Peter Handkes slowenischem Original: „(Ne znam pisati v slovenscini. Je materin jezik, ampak mati je umrla.. .)."48
47 Joze Snoj, Handkejev paradoks. Celovec: Drava 1991. 48 Peter Handke an Gustav Janus, 18. 2. 1991. Bestand des Kärntner Literaturarchivs, Sig. 8/B1/10.
Georg Pichler
Inszenierung fremder Landschaften. Peter Handkes spanische Reisen
Es begann am 30. März 1988 im spanischen Galizien im Nordwesten der Halbinsel mit der „Vermählung der Flußwellen mit den Meereswellen" ( N T 55) und endet - vorläufig - in einer unbestimmten Zukunft, in einem kleinen, ehemals bedeutenden Dorf am Südrand der Mancha mit der nicht nur körperlichen Verschmelzung einer Romanfigur mit ihrem fiktiven Autor. Zwischen diesem ersten, kaum drei Seiten langen Text aus dem Prosaband Noch einmalfiir Thukydides und dem bislang letzten, größten Roman Peter Handkes, Der Bildverhist oder Durch die Sierra de Gredos, sind rund zehn Bücher erschienen, die in mehr oder weniger expliziter Form mit Spanien verbunden sind. Unter den deutschsprachigen Autoren haben nur sehr wenige das Land in ihren Werken derart intensiv verarbeitet. Und auch Handke hat sich in derselben Ausführlichkeit nur mit einem Land beschäftigt, in dem er nicht seinen Wohnsitz hatte: das ehemalige Jugoslawien und insbesondere Slowenien. Wenn hier von Peter Handkes spanischen Reisen die Rede sein wird, so soll es dabei weniger um die physische Präsenz des Autors auf der Iberischen Halbinsel als vielmehr um die Darstellung Spaniens in seinen Texten gehen; auch wenn es aufgrund von Handkes autobiographisch inspiriertem Schreiben nicht immer möglich ist, zwischen beidem zu trennen, da die Texte gleichsam den Spuren ihres Autors zu folgen scheinen. Beschäftigt man sich nun als Leser wiederum mit den Werken Handkes in chronologischer Reihenfolge, so kann man einen behutsamen Prozeß der Annäherung an ein dem Autor anfangs weitgehend unbekanntes Land beobachten. Während in den ersten Texten - in den kurzen Prosastücken des Bandes Noch einmal fiir Thukydides1 und dem Versuch über die Müdigkeit - Spanien eher zufällig den Hintergrund fiir eine andere Geschichte abgibt, wird die Stadt Soria im Versuch über die Jukebox zu einem der Erzählvorwürfe. Nicht nur „sollte Soria als Soria vorkommen" (VJ 73), der Protagonist hat die Absicht, „so viel wie möglich i
Letzte Bilder? ( N T 53-58), Noch einmal eine Geschichte vom Schmelzen ( N T 65-70), Die Stunde zwischen Schwalbe und Fledermaus (NT 71-76).
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[aufzunehmen] von den Morgen und Abenden dieser so übersichtlichen kleinen Stadt": „keine Passage, kein Friedhof, keine Bar, kein Sportplatz, durften in ihrer jeweiligen Eigenheit unwahrgenommen werden." (VJ 44O Diese, im Werk Handkes sonst wohl nirgendwo derart ausdrücklich formulierte Absichtserklärung einer topographischen Phänomenologie stellt den ersten Aneignungsversuch einer ihm fremden Realität dar. Hand in Hand damit geht die Beschäftigung mit dem Spanischen als einer ihm fremden Sprache, weniger im Gespräch als vielmehr durch Texte: Wörterbücher, Schilder, Aufschriften und das Buchstabieren der „Schriften der Teresa von Avila" (VJ 99). Auf dieselbe Weise hatte sich einst der junge Filip Kobal der Sprache seiner Vorfahren in der Wiederholung genähert. In den späteren, weitaus stärkerfiktionalisiertenTexten wird der Umgang mit dem Land und der Sprache freier. An den immer wieder vorkommenden Sprachspielen und originalsprachlichen Einsprengseln in diesen Texten ist Handkes zunehmende Beherrschung des Spanischen ablesbar, den ins Detail gehenden Landschaftsbeschreibungen und präzisen topographischen und kulturspezifischen Hinweisen merkt man eine umfassende Kenntnis der Halbinsel an. Vor allem in den letzten beiden Romanen (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus und Der Bildverlust) spielt Handke mit der Identität von Orten und versetzt sie aus anderen Ländern in sein immer fantastischere Züge annehmendes Spanien. Auch das Verhältnis zur Fremdsprache ändert sich: Neben das Spanische treten im Bildverlust das Slowenische und, als neues, vom Autor wiederum sich langsam erlesenes Idiom, das Arabische. Wie das Werk Handkes generell an der Peripherie angesiedelt ist, so ist auch seine spanische Geographie eine des Abseits. Großstädte kommen nur am Rand vor, das Meer, das eine Konstante im Bewußtsein des Landes bildet, wird kaum erwähnt, dafür bewegen sich die Protagonisten durch kleine Provinzstädte, abgelegene Dörfer und menschenleere Landschaften. Mit nur wenigen Ausnahmen sind fast alle Texte im zentralen iberischen Tafelland, der kastilischen Meseta, angesiedelt. Hinzu kommen „die spanische (katalanische) Enklave Llivia im Hochland der östlichen französischen Pyrenäen" (NB 372), in die sich der Ich-Erzähler aus der Niemandsbucht zurückzieht, um hier zu arbeiten; und die nordandalusische Provinzstadt Linares, in der ein anderer, dem realen Autor nah verwandter IchErzähler im März des Jahres 1989 an seinem Versuch über die Müdigkeit arbeitet. Andere Orte, andere Landschaften werden beiläufig erwähnt, haben jedoch nur untergeordnete Bedeutung: vor allem Galizien im Nordwesten des Landes und Katalonien im Nordosten. Handkes spanisches Kerngebiet erstreckt sich ziemlich genau auf die geographische Mitte der Iberischen Halbinsel mit der Kleinstadt Toro nahe Portugal, im Westen, der Sierra de Calatrava an der Grenze zwi-
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sehen Andalusien und der Mancha im Süden, Zaragoza im Osten und Burgos im Norden - Landstriche also, die weit abseits der Hauptrouten des Massentourismus liegen. Innerhalb dieses Gebiets weichen die Texte den größeren, historisch bedeutungsvollen Städten gezielt aus. Handkes Kleinstadtwelten und Landschaften sind somit ziemlich das Gegenteil des weithin verbreiteten Spanienbildes: Statt Sonne gibt es Schnee, statt Sandstränden verdorrte Grassteppen. Eben darum geht es aber im ganzen Werk Handkes: Die eigentliche Welt in der kleinen Welt zu entdecken, jenseits der großen Gesten, im Ineinander von Gegenwart und Vergangenheit, Menschenwerk und Natur. Die geeigneten Orte dafür sind nun im Zeitalter der Raumüberbrückung jene Orte im Abseits, wo diese unbewußte gegenseitige Durchdringung verschiedenster Schichten weitaus offensichtlicher ist als in den Zentren. Einer der Angelpunkte in Handkes Spanientexten ist der Ort 2 als Bewahrer eines tiefgründigen Geheimnisses in dem Sinn, den ihm Aleida Assmann verleiht: Nachdem die Räume in der Horizontalen entdeckt und erschlossen sind, gilt es, ihre symbolische Tiefe in der Vertikalen noch zu entdecken. Räume im Sinne von „bekannten Ländern und Gegenden" sind erforscht, durchmessen, kolonisiert, annektiert, vernetzt; Orte dagegen, wo man „auf jedem Platz, in jedem Moment" in die Tiefe gehen kann, bewahren offensichdich noch ein Geheimnis. Während „Raum" zu einer neutralisierten, entsemiotisierten Kategorie der Fungibilität und Disponibilität geworden ist, richtet sich die Aufmerksamkeit auf den „Ort" mit seiner geheimnisvollen, unspezifischen Bedeutsamkeit.'
Wie sehen nun Handkes spanische Orte aus, wie nähert er sich ihnen, wie verarbeitet er sie? Der wohl am ausführlichsten und detailreichsten beschriebene Ort ist Soria, die Stadt, in der Handkes bewußte Annäherung an Spanien ihren Ausgang nahm. Bezeichnend ist die Begründung des Erzählers, warum sein namenloser Protagonist gerade diese „über tausend Meter hoch gelegen[ej" Provinzkapitale gewählt hat: Während eines Flugs über Spanien sei er auf einen Revuebericht über diese abgelegene Stadt im kastilischen Hochland gestoßen. So2
Für Handke heißt „Ort" nicht nur „sich zurücklehnen können", er ist auch und vor allem ein produktiver Schreibraum: „Als ich erstmals in meinem Leben einen Ort ausfindig machte - die unterirdischen ehemaligen Bunker, versteckt im hohen Gras und Gebüsch, an der Mur südlich von Graz im Mai 1963
entstand meine erste Erzählung", notiert Handke am 18. Aug. 1984
in sein Journal (FF 202, 205). 3
Aleida Assmann: Das Gedächtnis der Orte. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), S. 1 7 - 3 5 , hier S. 19L
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ria, durch seine Lage, fernab der Verkehrswege, seit geradezu einem Jahrtausend fast außerhalb der Geschichte, sei der stillste und verschwiegenste Ort der ganzen Halbinsel. Weiters wären in der Stadt romanische Bauwerke und Plastiken zu finden - Handkes Vorliebe für diesen Stil ist bekannt* - , ein Dichter namens Antonio Machado, der für den Autor später eine gewisse Rolle spielen sollte,? habe „die Gegend in vielen Einzeldingen mit seinen Versen erscheinen [lassen] [...]", und es gebe „weite Wege hinaus in das Unberührte" (VJ iof). An diesem abgelegenen, ,,Anfang Dezember" (VJ 10) kalten und unfreundlichen Ort macht sich der Protagonist nach anfänglichem Zögern und ersten Schwierigkeiten, ein Hotel zu finden, daran, über einen Gegenstand zu schreiben, den es in dem Land kaum, in Soria gar nicht gibt: die Jukebox. Doch nicht nur das Ambiente scheint abweisend und für seine Nachforschungen denkbar ungeeignet, auch die sprachliche Umgebung ist nicht dazu angetan, sich aufgehoben zu fühlen. Als der Protagonist einen englischen Fernlaster sieht, wird ihm angesichts der Aufschrift „für den Moment geradezu heimisch zumute" (VJ 20). Und wie schon bei einem anderen Aufenthalt in Spanien sucht er „seine Zuflucht manchmal in dem einen chinesischen Restaurant [...], wo er zwar von der Sprache noch viel weniger mitbekam, jedoch sich vor dem ausschließlichen, geballten Spanischen in Sicherheit fühlte" (VJ 2of, vgl. i38f). Dennoch macht sich der Protagonist gerade hier, in dieser offensichdichen Antiidylle, ans Schreiben, aus einer „Art Schuldigkeit" (VJ 21) dem Ort gegenüber, aber auch aufgrund eines Zwangs, sich ein jedes Mal regelrecht aussetzen zu müssen, in eine gerade noch zu bewältigende Unwirtlichkeit, in eine auch die tagtäglichen Lebensumstände bedrohende Grenzsituation, mit der Verschärfung, es habe, neben der Sache des Schreibens, zusätzlich eine zweite angegangen zu werden: eine Art Erkundung oder Vermessung des jeweiligen fremden Ortes und ein Sicheinlassen, allein, ohne Lehrer, auf eine Sprache, die zunächst möglichst unbekannt sein mußte. (VJ 24)
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„Romanik: der helle Schlaf der Könige (, War nicht das 12. Jahrhundert einer unserer höchsten Augenblicke?", so auch Carl Jakob Burckhardt; an Hofmannsthal)" (FF 528) Ebenso meinte er auch - wohl nicht ganz im Ernst - in einem Interview für die spanische Tageszeitung El Pais, er wolle „alle Orte mit romanischer Kunst" in Europa aufsuchen. Isabel Garcia Wetzler: Peter Handke, En la carretera. In: El Pais, 3. 9. 1989.
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Vgl. dazu den Schluß des Stücks Die Fahrt im Einbaum bzw. das Kapitel über Antonio Machado in: Eustaquio Barjau: Wie ein Ubersetzer Schauspieler wurde (und wie es ihm dabei erging). In: manuskripte 138 (1997), S. 99-109, hier S. 108.
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Was er aber in Soria findet - und erwähnenswert findet - , steht kaum in einem Reiseführer: „weit über hundert Bars, abseits in Querpassagen, oft ohne Lokalschilder" (VJ 133) samt ihren Wandkalendern, Verlautbarungen von Jagdzeiten und Spielautomaten, „Hinterzimmer-Restaurants" (V[ 46), die beiden Kinos der Stadt mit ihren seltsamen Luken, in denen die Eintrittskarten verkauft werden, „ganze Jahrgänge von Taschentüchern und Präservativen" (Vf 122) an der Promenade Antonio Machado, einen „leuchtroten" (VJ 126) Hagebuttenbusch, aus dem ein Elsternpaar aufschwirrt, jede Menge Platanen und das Muster der Gehsteigkacheln, das „ineinander verhakte, an den Kanten abgerundete Quadrate" (VJ 3 6f) bilden, während das Gehsteigkachelmuster in der Weinstadt Logroño „Traubenbüschel und Weinblätter" (VJ 49), in der Flußstadt Zaragoza „sich bauchende Schlangenlinien" (VJ 50) und in der Festungsstadt Burgos Zinnen (VJ 36) darstellt. Einzig ein historisches Bauwerk der Stadt verdient es, neben diesen Alltagsbeobachtungen beschrieben zu werden: die Fassade der romanischen Kirche Santo Domingo, „die beim Hinschauen mit ihrem bloßen Dasein zugleich tätig war" (VJ 61). Sie wird zu einem Fixpunkt auf den täglichen Spaziergängen des Protagonisten, ihre oft verwitterten, aber immer noch erkennbar fein gearbeiteten Figurenensembles werden ihm zur Inspirationsquelle für seine Schreibarbeit. Die mit der Aussparung beinahe aller touristischen Identitätsmerkmale der Stadt einhergehende Wiedergabe scheinbar unbedeutender Beobachtungen, die den Erzähler sich fragen läßt, „ob das ihm zunächst als göttlich erschienene Erzählen nicht ein Trug gewesen sei" (VJ 74), hat einige Rezensenten des Textes vor den Kopf gestoßen, die sich über Handkes düsteren Text ohne modernes, lebensfrohes Flair mokierten6 oder versuchten, den realen Autor anhand seiner menschenscheuen Figur zu einem pathologischen Fall zu erklären.? Dieses Mißver-
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„Aber eine belebte Fußgängerzone mit der unvermeidlichen Benetton-Boutique paßt nicht in das Ambiente des unbehausten Wanderers zwischen den Welten. Handkes Soria ist ein fremder, dunkler Ort, so recht zur Kontemplation geeignet." Ilse Auer: Spielmaschinen mit Friichtedesign. Ein literarischer Reisebericht über Handkes „Versuch über die Jukebox". In: zitty (Berlin) 26 (1990), S. 224.
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„Ohne Zweifel ist Spanien in den Werken Handkes innere Landschaft. Trotz der beobachteten Einzelheiten, die sogar echtes Lokalkolorit haben, ist hier Spanien Projektion, Anzeichen dafür, daß die Lösung eines Problems, nämlich des Problems des Verhältnisses zur Welt mit den Menschen in ihr und deren Annahme als Ort und Heim des Lebens, gesucht wird; aber diese Lösung, die einsam und in Vereinzelung, ohne Gespräch, ohne Kontakt mit den Menschen und nur als schriftstellerisches, poetisches Werk erreicht wird, wirkt belastet und gefährdet - soll man sagen, wie der Autor und Mensch Handke selbst?" Wolfram Krömer: Der Hauslose in unwirtlicher Grenzsituation oder Spanien als Ort der Weltwerdung in Handkes Vernich über die
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ständnis beruht wohl in erster Linie darauf, daß diese Leser sich von Handke ein literarisches Porträt der Stadt mit ,,echte[m] Lokalkolorit" 8 erwartet hatten, während es sich tatsächlich um eine äußerst diffizile Übertragung des Ortes in Literatur handelt, bei der der poetische Blick des Autors im Mittelpunkt steht, nicht aber die vorgefundene Realität. Wie frei und zugleich literarisch produktiv Handke mit real existierenden Orten umgeht, zeigt sich in den Romanen eher als in den stark autobiographischen Versuchen. In ihnen nimmt der Autor von einer topographischen Erfassung von Orten Abstand, wandelt vielmehr auf seinen Reisen gefundene Vorlagen in literarisches Rohmaterial um und siedelt dieses in einem anderen Kontext an, in dem es seinen Bezug zum realen Ort verloren und gegen einen neuen Bezug innerhalb der Fiktion eingetauscht hat. Genaue landschaftliche Beschreibungen und die explizite Angabe von Ortsnamen gehen in den Romanen einher mit einem Verwischen von Spuren, statt auf die - wie auch immer definierte - Realität wird nun auf das Bezugsgeflecht des Textes verwiesen. Im Bildverlust hatte die Bankfrau aus „einer nordwestlichen Hafenstadt" (B 8) dem von ihr beauftragten Autor untersagt, in dem Buch über sie selbst Namen zu verwenden. Wenn es anders nicht ging, sollte er ihretwegen Ortsbezeichnungen einsetzen. Von diesen mußte aber von vornherein klar sein, daß es in der Regel die falschen - geänderte oder erfundene - wären. Stellenweise stand es dem Autor [...] auch frei, einen richtigen Namen mitspielen zu lassen; der Kreis der Leser hätte, so oder so, allein der großen Geschichte zu folgen und sollte, kraft der Geschichte wie auch des Erzählens, so frei sein, jeden anfänglichen Gedanken an eine Fährtensuche oder ein Nachschnüffeln schon mit dem ersten Umblättern zu vergessen. Womöglich sogar schon mit dem ersten Satz ihres Buches hatten solche Gedanken oder Hintergedanken das Feld zu räumen für nichts als das reine Lesen. (B 8f) Widersetzt man sich dem Wunsch der Auftraggeberin und schnüffelt ihren Fährten ein wenig nach, so stellt sich heraus, daß der Roman ein hintergründiges Vexierspiel mit geographischer Realität und Fiktion ist. Im Verlauf ihrer Reise durch
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Jukebox (Mit einem Nachwort zu Der Bildverlust). In: Ders. (Hg.): Spanien und Österreich im 20. Jahrhundert. Direkte und indirekte Kontakte. Akten des Neunten Spanisch-Österreichischen Symposions, Wien, 22.-29. September 2001. Anif/Salzburg: Mueller-Speiser 2002, S. 321-336, hierS. 33of. Ebd.
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Spanien, die die Heldin des Buchs vom Flughafen der kastilischen Provinzhauptstadt Valladoüd über die nördliche Meseta und die Sierra de Gredos in den Süden der Mancha führt, durchquert sie eine Reihe von existierenden, erfundenen und aus verschiedenen realen Orten und Landschaften zusammengesetzten Lokalitäten. Bereits ihre geplante Reiseroute macht deutlich, daß im Roman eine eigenmächtige Geographie herrscht: Kaum am Flughafen angekommen, fährt sie mit dem für sie bereit stehenden Landrover „von den Santanawerken aus Linares"? an Valladoüd vorbei „genau südwestwärts, Richtung Salamanca, Piedrahita, Milesevo, Sopochana, Nuevo Bazar, Sierra de Gredos" (B 134). Während Salamanca, Piedrahita und die Sierra de Gredos tatsächlich auf dieser Route hegen - die die Heldin dann aber nicht einschlagen wird - , befinden sich Milesevo und eine Schwesterstadt von Nuevo Bazar ein paar tausend Kilometer entfernt am Balkan. Weiter geht die Fahrt, vorbei an realen Städten und Landschaften, von fiktiver Station zu fiktiver Station. So läßt die Heldin das Städtchen Simancas links liegen, in dem eines der wenigen tatsächlich existierenden geschichtsträchtigen Gebäude des ganzen Romans Erwähnung findet, nämlich das bedeutende historische Archiv - bezeichnenderweise ein, in den Worten von Michel Butor, Ort der schlafenden Texte und der eigentliche „Sitz der Obrigkeit" 10 . Vorbei fährt die Protagonistin auch an Tordesillas, „mit der Königin Johanna der Wahnsinnigen dort in ihrem Turm" (B 146), doch hält sie vor einem unversehens aus der Nacht auftauchenden schloßartigen Gebäude, das zwar auf keiner Spanienkarte verzeichnet ist, dafür aber den von ihr verliehenen Namen „balkanische [r] H o f ' (B 188) trägt. Tags darauf geht es weiter durch das „beständig sich gleichende[...] nackte[...] und krümelige[...] Tafelland" (B 196), an den „tausend Feldern der Meseta" (B 197) vorbei. Für eine Strecke, die man mit dem Auto bequem in zwei Stunden zurücklegen kann, benötigt die schnell fahrende Bankfrau fast einen ganzen Tag, bevor sie den Ort erreicht, mit dessen Beschreibung Handke wohl eine der gelungensten surrealistischen Szenen seines Werks geschaffen hat: Nuevo Bazar, eine explosive „Mischung aus Andorra, Palermo und Tirana" (B 230), ein anspielungsreiches Symbol für die Gewalt der Zeit. Dieser Ort, ein in die Zukunft verlagertes Zerrbild der Gegenwart, in dem die Protagonistin ihre zweite Nacht verbringt, ist wiederum auf keiner Landkarte zu finden,
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Ein Verweis auf den Versuch über die Müdigkeit (VM 73), wo vom „Landrover-Werk von Linares" die Rede ist.
10 Michel Butor: Die Stadt als Text. A. d. Franz. von Helmut Scheffel. Graz: Droschl 1992 (= Essay 7).
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wohl aber ein serbischer Namensvetter: Novi Pazar, was der Charakterisierung der Stadt eine eindeutige politische Konnotation verleiht.11 Die tags darauf mit einem Bus durchfahrene Gegend, ein „der Sierra vorgelagertes Sand- und Staubwolkengebiet" (B 326) namens Polvereda", ist ebenso der Fantasie des Autors entsprungen, auch wenn zwei Bergpässe, der „Puerto de Menga" (B 3 1 1 ) in der Sierra de Paramera und der ,„Puerto de Pena Negra (= Schwarzfelsenpaß), 1900 m"' (B 350), und zahlreiche Elemente der beschriebenen Landschaft tatsächlich existieren. Versucht man aber der Reiseroute zu folgen, stellt man fest, daß sie der herkömmlichen orographischen Logik entbehrt: Der Bus müßte ein umständliches Zickzack durch die Vorgebirge der Sierra fahren, um die beiden Pässe miteinander zu verbinden. Der spielerische Umgang mit Realität und Fantasie wird am ehesten deutlich in dem vom realen Autor Peter Handke erfundenen, wenn auch topographisch in einer genau beschriebenen und tatsächlich existierenden Umgebung angesiedelten Ort Pedrada. Pedrada sei, so nun der fiktive Autor, eine der wenigen Siedlungen der Gegend, „die direkt am Fluß liegen" (B 374), nämlich dort, wo „aus den vielen Quellbächen des rio Tormes der einzige Fluß wurde" (B 377). Das „altvertraute Hotel gleich am Ortseingang" (B 377), der Gasthof mit dem Namen „,E1 Milano Real', ,De[r] Königliche [...] Milan' (genannt nach dem häufigsten Raubvogel der Sierra)", sei seit dem letzten Besuch der Protagonistin verschwunden. Statt seiner befinde sich an der Stelle „eine Art Zeltdorf', „Zum Königlichen Milan Römisch Zwei" (B 381), das fast allen Figuren des Romans als Unterkunft dienen wird. Handke nimmt hier zwei Dinge aus der Realität und fügt sie zu einem etwas surreal anmutenden Dritten zusammen: Einerseits gibt es ganz in der Nähe der beschriebenen Gegend, wenn auch nicht am Fluß, sondern an der das Hochtal der Sierra querenden Hauptstraße, ein Hotel namens „El Milano Real", andererseits befindet sich an der von ihm bezeichneten Stelle ein Campingplatz. Die Kombination aus beidem ist eben diese eine fast kathartische Wirkung ausübende Zeltsiedlung, die für die Heldin des Romans die letzte der vielen Schwellen vor dem Aufbruch in die Sierra ist. 11
Das geographische Verwirrspiel Handkes hat einige Rezensenten vor den Kopf gestoßen. Helmut Böttiger meint etwa, der Ort entspreche geographisch Madrid (Helmut Böttiger: Erzählen als Rettung. In: Der Tagesspiegel, 20. 1. 2002), einzig Ulrich Weinzierl merkt in seiner Rezension an, daß „ein Nuevo Bazar [...] eher in Serbien bekannt [sei], dort unter dem Originalnamen Novi Pazar". (Ulrich Weinzierl: Vom Bildverlust zum Sprachkonkurs. In: Die Welt, 19. 1. 2002).
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Spanisch müßte es „polvareda" heißen. Generell entspricht Handkes Schreibweise spanischer Namen und Wörter nicht immer der in Spanien üblichen.
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Die an sich, von wenigen Stellen abgesehen, eher unspektakuläre und, im Vergleich etwa zu den Alpen, sehr kleine Sierra de Gredos erhält in Handkes Roman beinahe mythische Ausmaße. Einerseits wird die Topographie durch die Fülle der von Handke immer wieder bewußt als verfremdende Chiffren eingesetzten spanischen Namen von Ortschaften, Bächen, Flüssen, Berggipfeln, Pässen und Ruinen derart detailliert wiedergegeben, daß sie weiträumiger erscheint, als sie tatsächlich ist. Andererseits nehmen in ihr - wie auch in anderen Texten Handkes, etwa in der Wiederholung13 - auf der Ebene der Figuren Raum und Zeit neue, unbekannte, nicht mit herkömmlichen Mitteln zu messende Formen an: Die Zeit spielte in jenen Abläufen keine Rolle mehr, oder jedenfalls nicht die gewohnte. Gleich wie die üblichen Orts- und Raummaße zwar noch weiter bestanden, aber für die Geschehnisse kaum noch etwas besagten, so waren auch die Stunden, die Minuten, die Sekunden und dergleichen wenn nicht außer Kraft gesetzte, so doch für die Periode jetzt eher zu vernachlässigende, und sooft sie sich zwischendurch trotzdem wieder in die Geschichte einmischten, störende, unnötig entzaubernde Einheiten. [...] Vorherrschend während der Hondareda-Episode waren ganz andere Zeiteinheiten, gleichsam taktlose, kräftig verdichtete, zusammengeballte und dabei ausgedehnte, nach vor und zurück ausschwingende, und darum aber auch ohne den Ticktack-Takt in einem gar nicht geringeren Gleichmaß, fort und fort. (B 537)
Die objektive Zeit verwischt hier und wird zu einem subjektiven Zeitempfinden. Ahnliches geschieht mit dem Raum: Eine objektive Raumbeschreibung weicht einer subjektiven Raumwahrnehmung, die es Handke gestattet, eine vielbesuchte Bergattraktion, nämlich den so genannten Circo de Gredos, zu einem vieldeutigen Raum der Utopie - des Nicht-Ortes, oder vielleicht doch: des Gegen-Ortes - umzugestalten. In die tatsächlich beeindruckende Senke zwischen den höchsten Gipfeln des spanischen Zentralmassivs fantasiert er eine weltfern lebende Gesellschaft mit eigenen Normen und Gesetzen, die jedoch von eben der Außenwelt bedroht wird, aus der sie hierher geflohen ist. In dieser gefährdeten Scheinidylle ist die Naturwahrnehmung rein und unverstellt. Ausdruck gegeben wird ihr in einem ungebrochenen sprachlichen „Rhythmus der Erscheinungen" (B 593), in einer - zumindest an ihrem Anfang - Abfolge kurzer Hauptsätze, die fast nur aus Haupt-, Zeit- und Eigenschaftswörtern bestehen: 13
„Wie in Jugoslawien ein anderes Raummaß zu gelten schien als jenseits der nördlichen Berge, daheim im Binnenland, so auch ein anderes Zeitmaß." (W 127)
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Ein Wìldtaubenschwarm knatterte. Eine Rebhuhnfamilie lief, huschte, flitzte. Eine Schneeflocke fiel. Der Himmel war blau. Ein Felsen war ein Dinosaurier-Ei. Ein Windstoß fauchte. Eine Staubwolke war gelb. Ein alter Mann hatte Sommersprossen. Das Muster im trockenen Schlamm war fünf- bis sechseckig. Mein Großvater sang aus der Ferne. Ein Feuerstein roch brenzlig. (B 593)
Natur als die Summe aller Erscheinungen, wahrnehmendes Subjekt und Sprache stehen hier in einem direkten, unreflektierten Zusammenhang; die Sprachskepsis ist unvermutet einem - scheinbaren - Glauben an die Repräsentationsfahigkeit der Sprache gewichen. Und wie es bereits in der Wiederholung Filip Kobal an seinem ersten Tag im fremden Land Jugoslawien geschah (W H4f), erscheint auch der Heldin im Bildverlust die Landschaft mit all ihren Einzelheiten plötzlich als Schrift, und zwar als „eine arabische [...]- die sie auch unwillkürlich von rechts nach links ,las"' (B 593).'4 Es ist generell das Unspektakuläre der Landschaft, das Handke für seine Texte sucht. In einem Interview mit Thomas Steinfeld meinte er, er wollte für seinen Roman „eine hinterwäldlerische Landschaft wie die Sierra de Gredos". 1 ' Diese Landschaft ermöglicht ihm, sie umzudeuten, für seinen Zweck zu verwenden. „Die völlig unberührte Landschaft ist so eintönig, daß ihre Wildheit jeden signifikanten Wert verloren hat. Sie verschließt sich dem Menschen, vergeht unter seinem Blick, statt ihn herauszufordern", schreibt Claude Lévi-Strauss in den Traurigen Tropen16 über den brasilianischen Urwald. Auf Handke übertragen heißt dies, daß gerade dadurch, daß die Landschaft von sich aus unbedeutend ist und sich einem ordnenden Blick verschließt, ihr der Autor seine eigenen Bedeutungen unterlegen kann. Und wenn Handke seine Figur leicht rhetorisch darüber nachdenken läßt, was sie hier suche, „in dem jenseits der Tafellandgrenzen völlig unbekannten, auch im eigenen Land mit zunehmender Entfernung mehr und
14 Zur Kritik an Handkes Überlappung von Landschaft und Schrift vgl. Uwe C. Steiner: Das Glück der Schrift. Das graphisch-graphematische Gedächtnis in Peter Handkes Texten: Goethe, Keller, Kleist {Langsame Heimkehr, Versuch über die Jukebox, Vernich über den geglückten Tag). In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturgeschichte und Geistesgeschichte 70 (1996), S. 256-289; ebenso: Franz Josef Czemin: „Die Wiederholung" und „Am Felsfenster morgens". Zum Verhältnis von Erzählung und Weltanschauung bei Peter Handke. In: text+kritik 24, 6 i999, S. 36-50. 15 Thomas Steinfeld: Ich erzähle von einem Leben, das über mich hinausgeht. In: Süddeutsche Zeitung, 30. 1. 2002. 16 Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. A. d. Franz. von Eva Moldenhauer. Frankfurt/M.: Suhrkamp '1989 (= suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 240), S. 264.
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mehr einzig vom Hörensagen gewußten, gerade eben für die Bewohner der Region und vielleicht noch die von Madrid ein Ziel bildenden, Gebirgszug" (B 359), so besteht eben darin einer von Handkes Kunstgriffen im Bildverlust: Neben der urtümlichen, unverbauten Landschaft sucht er auch das Unbekannte an ihr, das ihm in seinen Texten weitaus größere poetische Freiheiten der Landschaftsgestaltung im Roman läßt als bekannte, konnotationsreiche Räume. Durch diese Freiheit kann sich der Autor gleichsam zum Verfügungsberechtigten über die Landschaft aufschwingen, er kann aus ihr nehmen, was ihm nötig erscheint, kann sie umgestalten, hinzufügen und wegnehmen, sie in seinem Text vergrößern und verkleinern. Dies ist ein poetologisches Prinzip Handkes; denn was für seine literarischen Räume gilt, hat auch für die von ihm aufgenommenen Objekte Gültigkeit: Der Autor verfügt über Vorgefundenes, verwendet es für seinen Text und erweitert oder kürzt es nach Belieben. So etwa erklärt er seine Heldin zur Autorin eines auf den ersten Blick leicht skurril anmutenden Reiseführers mit dem Titel „Handbuch der Gefahren der Sierra de Gredos", in dem es unter anderem Kapitel zu folgenden Gefahren gibt: „Sturzbäche und Schwellfluten; Gewitterstürme; Freigrasende Gebirgsrinder; Schlangen; Wilde Tiere; Gefährliche Pflanzen; Waldbrände; Verirren (das längste Kapitel); Eis- und Schneestürme; Lawinen; Die Messerfelsen; Die giftigen Wasserfälle" (B 125). Dieses Handbuch ist nicht erfunden, denn die Aufzählung folgt dem Inhaltsverzeichnis eines zweisprachig auf Spanisch und Englisch erschienenen Führers der Gefahrender Sierra de Gredos, fügt aber selbst auch Kapitelüberschriften ein, die, wie etwa die über Schlangen oder das Verirren, in engem Zusammenhang mit dem Roman stehen. Handkes Naturräume sind nie reine Natur, sondern an den Schnittstellen zwischen Natur- und Kulturlandschaften angesiedelt. Gerade an den Rändern beider Landschaften, an den Übergängen zwischen ihnen, bewegen sich seine Figuren. Nie gibt sich der Autor der Illusion einer unberührten Natur hin; und sind seine Räume menschenleer, so findet man in ihnen früher oder später Spuren und Zeichen einer einstigen Besiedlung. Der Apotheker von Taxham stößt etwa im Roman In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus bei seiner Wanderung durch die unendlich weit und unbewohnt scheinende „Hochlandsteppe" (DN 230) unentwegt auf Zivilisationszeichen: Autos, „Quersteppeneinradfahrer" (DN 234), „Steppenmeilenstein [,] Wegweiser" (DN 236) oder „Ortsschilder" (DN 247). In seinem Gespräch mit Herbert Gamper erwähnt Handke die zu sei17 Miguel A. Vidalas, José L. Rodríguez: Gredos. Guía de Peligros. A Guide of the Dangers. Ávila: Fondo Natural 1994.
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nem Schaffen notwendige Leere, die „nie in der menschenleeren Natur mir aufgegangen [ist], sondern immer am Rand, zum Beispiel in der Nähe der Menschen. Also es war immer am Rand, zum Beispiel am Stadtrand, zum Beispiel an der Grenze zwischen Wald und Steppe, es ist ja seltsam: immer an Grenzen, oder besser gesagt, auf Schwellen" (ZW 113). Gerade durch dieses Zusammenspiel verstärkt sich aber die Wahrnehmung der Natur an sich, denn, wie Martin Seel in seiner Ästhetik der Natur meint: „je stärker die Natur von menschlichen Eingriffen durchwachsen oder aus ihr hervorgegangen ist, desto wichtiger wird das, was an ihr Natur und nicht Veranstaltung ist."'8 Inbegriff dieses Durchwachsenseins sind die Zwickelwelten aus der Dunklen Nacht, auf die der Apotheker von Taxham in vielen Formen stößt, so etwa, wenn ihm eine kleine Grünfläche zwischen den Fahrstreifen einer Vorstadtautobahn in der Stadt Zaragoza bedeutungsvoller wird als die Stadt selbst (DN 270). Handkes Landschaften sind meist bipolare Räume. Nicht nur weil in den geschilderten Landschaftsbildern das „Befremdliche" der Natur „fast jederzeit innerhalb der ,vertraut gewordenen und eingebürgerten Landschaft' hervortreten kann" 1 ', sondern auch, da es sich bei ihnen stets um ein Zusammenspiel von „glücklichen" Räumen und „Räumefn] der Feindseligkeit"20 handelt, um hier die Terminologie von Gaston Bachelard zu verwenden. In der Lehre der Sainte-Victoire ist es der aufgestaute Haß einer Dogge, der dem Ich-Erzähler den Blick auf die bis dahin intensiv wahrgenommene Natur raubt: „Der Feind zuckte in mir und stank dann schon. In der Natur nichts Erkennbares, vor allem nichts Benennbares mehr." (LSV 49) Im Chinesen des Schmerzes trifft der ebenfalls durch die Natur schreitende Andreas Loser auf einen eine Felswand verunzierenden Hakenkreuzsprayer, wiederum seinen „Feind" (CS 102), den er mit einem Steinwurf tötet. Und auch in den in Spanien angesiedelten Romanen lauern überall in der Landschaft Gefahren. Der Apotheker von Taxham ist selbst in der Abgeschiedenheit der Steppe nicht vor einem neuerlichen Schlag auf den Kopf sicher, die abweisend-anziehende Landschaft, in die er sich, als Nachkomme der Heiligen, zu seiner Selbst- und Sprachwiederfindung freiwillig zurückzieht oder vorwagt, wird ihm schließlich „todunheimlich[...]" (DN 252). Für die Heldin des Bildverlusts ist die Sierra de Gredos, die einmal als ,,gebenedeit[e]", dann wieder als „ver-
18 Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996. (= suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1231), S. 131. 19 Ebd., S. 231. 20 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. A. d. Franz. von Kurt Leonhard. Frankfurt/M.: Fischer 1992. (= Fischer Wissenschaft 7396), S. 25.
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maledeite" (B 370) Sierra tituliert wird, „das Gebirge, das Gefahr bedeutet - nicht bloß leibliche Gefahr - Gefahr überhaupt" (B 153). Doch während ihr die Sierra bei ihren Aufenthalten „nur in kargen Momenten ein friedliches, in der Regel dagegen ein feindseliges, ein drohendes [...], das Gesicht des Todes gezeigt hatte" (B 177), werden in ihren inneren Bildern „die Sierra de Gredos und der Frieden, oder die Friedfertigkeit" (B 178) eins. Die Dichotomie zwischen feindlichem Äußeren und friedlichem oder eher Frieden suchendem Inneren zeigt sich hier ebenso deutlich wie in der Metapher des erfundenen Zeltdorfs Pedrada. An dieser Stätte der Begegnung, an der die Figuren des Romans zusammenfinden und sich gegenseitig ihr Leben erzählen, dort, wo es - wie sonst kaum wo im Werk Peter Handkes - zu einem Dialog kommt,21 muß man gleichzeitig immer auch gewahr sein, von einem böswillig aus dem Hinterhalt geworfenen Stein getroffen zu werden - daher auch der Name des Ortes, Pedrada, was Steinwurf bedeutet. Im Glücksfall gelingt den Figuren das - zeitweilige - Aufgehen in die Umgebung: „Innen und Außen durchdrangen einander, wurden, eins am anderen, ganz. Erzählen und Steppe wurden eins", heißt es in der Dunklen Nacht (DN 246).22 Dazu bedarf es aber einer langen Phase der Vorbereitung und einer langsamen Annäherung an Orte, an denen sich Wandlungen in den Protagonisten vollziehen können. Diese Orte sind stets weltabgeschiedene, fast menschenleere Landschaften, sei es der Karst in der Wiederholung, das ovale Hochland in der Abwesenheit, die Steppe in der Dunklen Nacht oder die Sierra de Gredos im Bildverlust, eben die „leeren Orte", von denen der Alte im Drehbuch zum Film Die Abwesenheit sagt, sie seien „weit weg von hier, zu erreichen nur unter Mühsal, Verdruß,
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„Was mich episch auf die Sprünge gebracht hat, war der Gedanke, Leute von ganz woanders an dieser Stelle zusammenzubringen - und plötzlich können diese Menschen miteinander reden", meint der Autor im oben (Anm. 15) zitierten Interview mit Thomas Steinfeld.
2 2 Insofern verkennt Ina Hartwig in ihrem Aufsatz das Spannungsverhältnis zwischen Harmonie und Haß, wenn sie Handke unterstellt, „daß die Empfindung des Hasses als integraler Bestandteil der Handkeschen Landschaftspoetik aufgefaßt werden muß", und in Bezug auf die Serbientexte zu dem Schluß gelangt, daß Handke „Serbien vom Haß freihält, indem er den Haß auf Seiten der Medien ansiedelt", und so mit seiner Landschaftspoetik bricht, „derzufolge es naheliegend gewesen wäre, der serbischen Landschaft das Kriegsrecht gewissermaßen zuzubilligen". Auch wenn es Landschaften gibt, die für die Protagonisten bedrohlich sein können, so sind Gefahr und Haß bei Handke stets von außen in die Landschaft hineingetragene Elemente, wohnen ihr nicht inne und können zeitweilig durch das meist nach Harmonie strebende Bewußtsein der Protagonisten überwunden werden. Und es ist eben diese karthartische Funktion der bedrohlichen Landschaft, die für Handkes Poetik bezeichnend ist. Ina Hartwig: Politik und Landschaft. Uber die Veränderung eines Motivs bei Peter Handke. In: Frankfurter Rundschau, 25.4. 1998.
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Entbehrung und Gefahr, die schweben mir vor als letzte Pilgerstätten" (ASFG 52). Zu ihnen hin führt eine Reise zurück in so etwas wie Ursprünglichkeit, nicht nur in immer einfachere Landschaften, sondern auch mit immer simpleren Fortbewegungsmitteln. Aus dem Flugzeug steigt die Heldin des Bildverlusts ins Auto um, dann in einen Bus, später in einen zweiten, viel älteren und primitiveren, bis sie in der Sierra erst auf einem „sattellosen Sierrapferd" (B 499) reitet und schließlich zu Fuß geht. Diese Regression - nicht umsonst geht der Apotheker von Taxham zeitweilig „rückwärts" (DN 231) durch die Steppe - , ist mit einer Intensivierung des Landschaftserlebnisses verbunden und findet sich in den letzten Romanen Handkes in vielerlei Abwandlungen. Begleitet wird sie stets von einer mehr oder weniger enthusiastischen Apotheose des Gehens als eigentlicher menschlicher Existenzform. Das Gehen, das kein zielbewußtes Voranschreiten, kein ,,simple[s] Hintersichbringen einer Strecke" (W 281), sondern stets ein ,^Müßiggang" (B 501) zu sein hat, wird zum Schutz vor den Gefahren der Welt,23 zum Synonym für das Denken - „Nur was der Geher denkt, gilt." (A 116) - und zur Voraussetzung für das Schreiben: „Das Gehen, selbst das Gehen im Herzland, wird eines Tages nicht mehr sein können, oder auch nicht mehr wirken. Doch dann wird die Erzählung da sein und das Gehen wiederholen!" (W 298) Mit dieser Apologie der Langsamkeit in Form des Gehens in der Zeit der rasanten Raumüberwindung, die für Handke seit der Langsamen Heimkehr zu seinem „Lebens- und Schreibensprinzip" 24 geworden ist, stellt sich der Autor in die lange Reihe der zu Fuß gehenden Autoren, deren bekanntester deutschsprachiger Ahnherr wohl Johann Gottfried Seume ist. „Wer geht", schrieb dieser im Jahr 1805, „sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. [...] Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste im Manne, und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge."25 Doch 2 3 „Durch das Gehen, durch ihre Weise des Gehens schützte sie sich; machte sie sich unangreifbar." (B 501). 24 „Ais ich 36 Jahre alt war, hatte ich die Erleuchtung der Langsamkeit. Die Langsamkeit ist für mich seither ein Lebens- und Schreibensprinzip. Leben und Schreiben sind immer miteinander verbunden und keineswegs dieser dumme Antagonismus, den man irgendwann Anfang des 20. oder Ende des 19. Jahrhunderts einmal erfunden hat. [...] Vielleicht sagt man statt Langsamkeit noch treffender Bedachtsamkeit. Nie, nie schnell werden, nie suggerieren, immer Abstand haken zu den Dingen und scheu sein!" Lothar Schmidt-Mühlisch: Peter Handke: Ich denke wieder an ein ganz stummes Stück. In: Die Welt, 9. 10. 1987. Zit. nach: Georg Pichler: Die Beschreibung des Glücks. Peter Handke: Eine Biographie. Wien: Ueberreuter 2002, S. 129. 25 Johann Gottfried Seume: Mein Sommer 1805. In: J.G.S.: Werke in zwei Bänden. Hg. von Jörg Drews unter Mitarbeit von Sabine Kyora. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, Bd 1, S. 541-736, hier S. 545.
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sind Handkes Figuren weniger direkte Nachkommen des aufgeklärten, die Welt durcheilenden Sachsen als vielmehr des Rousseauschen Promeneurs, der zweckfrei und assoziationsreich durch die Landschaft wandelt. Seumes Reiseziel war der Gipfel des Ätna, Handkes Figuren suchen lieber die Ebenen und Hügelländer: „Die Berggipfel sind nichts für unsereinen" (A 58), sagt der Alte in der Abwesenheit, und auch die Heldin im Bildverlust meint, ,„die höchsten Gipfel sind eher nichts für mich'" (B 507). Berggipfel, Gebirgskämme und Pässe sind bestenfalls Schwellen, die Handkes Protagonisten überwinden müssen, um in der Weite der Landschaft, an den „Grenzen der Welt" (DN 266) zu sich zu finden. Das Wittgensteinsche Diktum, daß „im Rennen der Philosophie gewinnt, wer am langsamsten laufen kann. Oder: der, der das Ziel zuletzt erreicht"/6 trifft durchaus auf Handkes Texte zu. Handkes Werk charakterisiert sich durch ein dichtes Bezugsgeflecht zwischen den einzelnen Texten, die ihre volle Gültigkeit erst dann erlangen, wenn man sie im Zusammenhang mit ihren intertextuellen Referenzstellen liest. So kann man die in Spanien angesiedelten Essays, Romane und Theaterstücke wohl auch nur vor dem Hintergrund von Handkes intensiver Beschäftigung mit einem anderen Land lesen, von dem bereits mehrmals die Rede war: dem ehemaligen Jugoslawien. Beide Länder (bzw. im Fall Jugoslawiens die Nachfolgestaaten), beide Landschaften durchdringen sich. Im Bildverlust läßt Handke nicht nur serbische Ortsnamen neben spanischen auftauchen, im bereits erwähnten Interview mit Thomas Steinfeld meint er auch, er habe in dem Roman „diese Gegend auch ein bißchen gemischt mit dem jugoslawischen Karst, in dieser Geschichte wie auch schon vorher, im ^Apotheker von Taxham', der ja viel im Kosovo spielt".2' Der Grund für diese Mischung ist im Stück Die Fahrt im Einbaum zu finden. In ihm läßt Handke Luis Machado, den fiktiven Enkel des spanischen Lyrikers Antonio Machado, sagen, die balkanische Landschaft sei ihm „eine neue Version meiner steinigen leeren, meerfernen Meseta [...], anders nur die Farben: blaustichiger Kalk anstelle des gelbbraunen Granits" (A43f). Die Gründe für diesen Landschaftswechsel sind wohl nicht nur geographischer Natur - immerhin ist Spanien von Handkes Pariser Wohnort aus viel leichter zu erreichen als der Balkan. Nach seiner Enttäuschung über die politische Entwicklung in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien scheint sich Handke
26 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß. Hg. von Georg Henrik von Wright. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987. (= Bibliothek Suhrkamp 535), S. 71. 27 Steinfeld (Anm. 15).
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ein neues Land gesucht zu haben, eine neue „Schreib-Heimat",28 die für ihn emotional weitaus weniger besetzt ist als das Land eines Teils seiner Vorfahren, die aber immer wieder über die Landschaft mit seiner alten Schreib-Heimat verschmilzt.
28 Fabjan Hafner: Expeditionen ins Neunte Land. In: Gerhard Fuchs, Gerhard Melzer (Hg.): Die Langsamkeit der Welt. Graz, Wien: Droschl 1993 (= Dossier Extra), S. 215-227, hier S. 216.
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Noch einmal für Handke Vom Krieg, von den Worten, vom Efeu Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der "Iotschlägerreihe Tat - Beobachtung, Tat - Beobachtung, indem eine höhere Art der Beobachtung geschaffen wird, eine höhere, keine schärfere, und je höher sie ist, je unerreichbarer von der „Reihe" aus, desto unabhängiger wird sie, desto mehr eigenen Gesetzen der Bewegung folgend, desto unberechenbarer, freudiger, steigender ihr Weg. Franz Kafta, Tagebücher, 27. 1. 1922
Zwischen den zwischen 1991 und 2002 publizierten Texten Peter Handkes zu Jugoslawien 1 erschien 1995 Noch einmal für Thukydides, die „ergänzte Ausgabe" des gleichnamigen, schon 1990 vorgelegten kleinen Buchs, dessen erstes von elf Stücken Für Thukydides heißt und das dem unmittelbar daran anschließenden zweiten Stück Epopöe des Wetterleuchtens oder Noch einmalfür Thukydides seinen Titel entlehnt. Die ergänzte Buchausgabe ist um fünf Stücke erweitert: darunter zwei Stücke, die sich explizit auf Jugoslawien beziehen; eines, das - fragend - ein 1
Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine Wirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerung an Slowenien (1991^ erschien, wie später - nach ihrer Erstveröffentlichung in der Süddeutschen Zeitung - auch die Texte Eine winterliche Reise zu dm Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit fiir Serbien (1996) und Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996), als Buch, wie auch alle weiteren Titel im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main. Als Hardcover mit Schutzumschlag liegt vor Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zweijugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999 (2000), nachdem Teile davon ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung erstabgedruckt worden waren. Auch der in der Süddeutschen Zeitung (Magazin 40 vom 4. 10. 2002) veröffentlichte Bericht der Reisen zum Internationalen Gerichtshof nach Den Haag „Und wer nimmt mir mein Vorurteil?" ist inzwischen (2003) als erweiterte Buchausgabe unter dem Titel Rund um das große Tribunal erschienen. An Sekundärliteratur zu diesem Text im engeren Sinn zu nennen sind Frauke Meyer-Gosau: Kinderland ist abgebrannt. Vom Krieg der Bilder in Peter Handkes Schriften zum jugoslawischen Krieg. In: Peter Handke. text + kritik 24. Sechste Auflage: Neufassung. München: text + kririk 1999, S. 3-20 sowie Richard Wagner: „An diesem weltfernen Ort". Zu Peter Handkes Serbien-Betrachtungen. In: Ebd., S. 21-27.
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Zentralwort der zuletzt im Roman Der Bildverlust oder durch die Sierra de Gredos ausgearbeiteten Poetik Handkes aufgreift; ein Stück, das in das mit dem Namen Thukydides verbundene Griechenland fuhrt; sowie schließlich ein Stück, das wie der soeben genannte Roman - Spanien zum Ort epischen Geschehens macht.2 Es sind aber vor allem die von den editorischen Eckdaten 1990 und 1995 umklammerten zeitgeschichtlichen Ereignisse, die den in Noch einmalfür Thukydides versammelten Texten besondere Bedeutung verleihen. Nicht nur, daß Ergänzung wie buchstabengetreues Festhalten an den ursprünglichen Stücken angesichts der Kriegsereignisse hellhörig machen müssen, etwa für den Hinweis auf eine Legende über den Eintritt Dantes ins „Inferno" ( N T 11), auf das Schreien „deportierter Kinder" („... schrien zum Himmel, fast ein halbes Jahrhundert nach ihrem Abtransport, jetzt erst recht" [NT 87]), hellhörig im weiteren für Formulierungen wie die vom „unendliche [n], panzergleiche [n] Rollen" der Autos aus der „Stadttiefe" von Patras ( N T 44) oder auf jene „seltsame [...] Inschrift ,Dem Sieg geweiht - vom Krieg zerstört - zum Frieden mahnend'" am Münchner Siegestor ( N T 92). Auch die intertextuelle Bezugnahme auf den vorchristlichen Geschichtsschreiber Thukydides rückt in ein schärferes Licht. Nimmt man sie ernst, müßte man davon reden, daß Thukydides keine andere Geschichtsschreibung als die eines Krieges hinterlassen hat, ein Werk, das in der griechischen Literatur „keine Vorstufen und [...] auch keine Weiterbildungen"} gefunden hat, das allerdings nicht unwesentlich von den Homerischen Epen einerseits, andererseits aber von jener ionischen Geschichtsschreibung gelernt hat, die unter dem Vorzeichen ausgedehnter Reisemöglichkeiten und -berichte Parameter wie „Geographie und Ethnographie"^ in ihren Blickwinkel miteinbezogen hat. Man müßte auch in Erinnerung rufen, daß die Bezugnahme auf den zuletzt in Verbannung lebenden Militär Thukydides eine unvollendete Geschichte des Krieges ins Spiel bringt, eine Geschichte, die entgegen dem geläufigen Titel Der Peloponnesische Krieg mit dem Satz „Der Krieg der Peloponnesier und Athener [Hervorhebung A.D.]" beginnt und in den Handkeschen Epopöen keine andere wörtliche Entsprechung findet als die wiederkehrende und signifikant abgewandelte chronikale Satzformel des
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Die 1997 erschienene Taschenbuchausgabe (dtv 12361) wurde durch einen weiteren Text ergänzt: „Der Donnerblues von Brazzano in Friaul". „Unaufhörliches Donnern gerade, heute, am 16. Juni 1988, oben in den friulanischen Ebenenwolken [...] jetzt jähes Bombengeschwader" (S. 65).
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Vgl. Helmuth Vretska: Nachwort. In: Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Ubersetzt und hg. von Helmuth Vretska und Werner Rinner. Stuttgart: Reclam 2000 (= Universal Bibliothek 1808), S. 777-812, hier S. 791.
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Ebd., S. 789.
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anfänglichen ,Am Soundsovielten des Monats des soundsovielten Jahres' sowie des dieses Datum noch einmal aufrufenden Schlusses ,Das waren die Ereignisse des Soundsovielten'. Und man müßte zuallererst von dem Geschichtskonzept sprechen, das Thukydides in „schichtenweiser Abfassung des Werkes" 5 über Jahre und Jahrzehnte hinweg entwickelt hat, auf einem Weg vom „Faktenhistoriker"6 bzw. „Tatsachenhistoriker" zu einem „Geschichtsdenker", der sich dennoch der „Vielfalt der Ereignisse" nicht begibt? - als, wie es im sogenannten „Methodenkapitel" des Thukydides heißt, „Besitz für immer, nicht als Glanzstück für einmaliges Hören". 8 Zu dieser Form von Geschichte gehört in erster Linie die für alle spätere Geschichtsschreibung wegweisende Erkenntnis der „Unterscheidung von vordergründigen Anlässen und dem einzig wahren Motiv in der Frage der Kriegsursache", welch letztere Thukydides übrigens in der „Furcht Spartas vor der wachsenden Macht Athens"? sieht; dazu gehört die Behandlung der Archäologie, der „Vorgeschichte"10 als dem „Paradigma eines Kriegsausbruchs", das, wie K. Reinhardt formuliert hat, „nicht auszulernen ist"; 11 dazu gehört aber auch die „Vorsicht gegenüber der Tradition, wenn zwischen widersprüchlich Überliefertem zu entscheiden ist: Der Historiker muß das Uberlieferte berichten, aber nicht glauben";12 und die Forderung: „Die Taten freilich, die in diesem Krieg vollbracht wurden, glaubte ich nicht nach dem Bericht des ersten Besten aufschreiben zu dürfen, auch nicht nach meinem Dafürhalten, sondern ich habe Selbsterlebtes und von anderer Seite Berichtetes mit größtmöglicher Genauigkeit in jedem einzelnen Fall erforscht". "3 Dazu gehört des weiteren der Sachverhalt, daß Thukydides zwar Metaphysisches, etwa göttliches Wirken, aus der eigenen Darstellung der Ereignisse ausschließt, es als motivierende Denkfigur aber in die Erklärung der Kriegsereignisse miteinbezieht. Und dazu gehört schließlich das der modernen Geschichtsschreibung vielleicht am fremdesten erscheinende Faktum, daß Thukydides in den rund 40 Reden der gegnerischen Parteien den Krieg „gedanklich durchleuchten"1'» läßt, und zwar dergestalt, „wie seiner Meinung nach
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Ebd., S. 786.
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Ebd., S. 798.
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Ebd., S. 787.
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Thukydides (Anm. 3), S. 24.
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Vretska (Anm. 3), S. 792.
10 Ebd. 11 Ebd., S. 799. 12 Ebd., S. 790. 13 Thukydides (Anm. 3), S. 23. 14 Ebd., S. 797.
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die Redner entsprechend der jeweiligen Situation hätten reden müssen", 15 eine Entscheidung, die das Reden über den Krieg mit dem Reden im Krieg konstelliert und deren dramaturgisches Gewicht aus der Tatsache resultiert, daß Thukydides für diese Entscheidung sogar das Prinzip der „Genauigkeit"' 6 suspendiert. Die Skizze all dieser Implikationen mag andeuten, welcher Art die Spannung ist, unter der die scheinbar kleinen, „schwebend, hell, luftig" geschriebenen Epopöen hinsichtlich des Sprechens über den Krieg stehen; sie legt aber auch mit Nachdruck nahe, Noch einmal für Thukydides als einen Schlüssel zum Verständnis von Handkes zwischen intervenierender Zeitungs- und dokumentierender Buchform changierenden Texten zu Jugoslawien zu lesen. Ich kann hier den Abschied des Träumers vom Neunten Land bloß streifen. Vom ersten Satz an stellt Handke die Frage nach der Notwendigkeit der Staatsbildung und deren Form, ein „eigenmächtige[s] Abstimmen und Befinden über einen Austritt aus einem doch von den jugoslawischen Völkern gemeinsam beschlossenen Bundesstaat" (ARN 22): Ich frage, ist es möglich, nein, notwendig, fiir ein Land und ein Volk, heutzutage, unvermittelt, sich zum Staatsgebilde zu erklären [...], wenn es dazu nicht aus eigenem gekommen ist, sondern ausschließlich als Reaktion gegen etwas, und dazu etwas von außen, und dazu noch etwas zwar manchmal Ärgerliches oder Lästiges, nicht tatsächlich Bedrängendes oder gar Himmelschreiendes? (Das letztere, ob erfahren oder erlitten durch die Herrschaft erst von Österreichern, dann Deutschen, war es ja, was dem Staat Jugoslawien sein Pathos und seine Legitimität gab, auch jetzt weiterhin geben sollte.) (ARN 25) Der Text, „Abschied" von einer „Wirklichkeit, die vergangen ist", ist zugleich Erinnerung an eine kommunikative Erzählbarkeit, die durch das die Staatsgründung legitimierende, von den europäischen Zeitungen durch ihre Rede über den Balkan mitangeheizte und heute schon fast vergessene „Gespenstergerede" (ARN 18) von „Mitteleuropa" verloren gegangen sei, eine Rede, die Handke bezeichnenderweise mit Briefen Hofmannsthals konfrontiert (ARN 10). Die Erregung, die dieser Text vor allem in Slowenien ausgelöst hat, ist indes gering zu nennen im Vergleich zu der medialen Entrüstung, die Gerechtigkeitfür Serbien oder Winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina 1996 nicht nur quer durch das „mitteleuropäische" Europa provoziert hat und deren Titel in nahezu kollek15 Ebd., S. 795. 16 Ebd.
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tivem Reflex als,Freispruch für Serbien' gelesen wurde. Der Prolog des vierteiligen Textes hatte einen solchen Reflex bereits in eigener Sache reflektiert: Was, willst du etwa die serbischen Untaten, in Bosnien, in der Krajina, in Slawonien, entwirklichen helfen durch eine von der ersten Realität absehende Medienkritik? - Gemach. Geduld. Gerechtigkeit. Das Problem, nur meines?, ist verwickelt mit mehreren Realitätsgraden oder -stufen; und ich ziele, indem ich es klären will, auf etwas durchaus ganz Wirkliches, worin alle die durcheinanderwirbelnden Realitätsweisen etwas wie einen Zusammenhang ahnen ließen. Denn was weiß man, wo eine Beteiligung beinah immer nur eine (Fern-)Sehbeteiligung ist? Was weiß man, wo man vor lauter Vernetzung und Online nur Wissensbesitz hat, ohne jenes tatsächliche Wissen, welches allein durch Lernen, Schauen und Lernen, entstehen kann? Was weiß der, der statt der Sache einzig deren Bild zu Gesicht bekommt, oder, wie in den Fernsehnachrichten, ein Kürzel von einem Bild, oder, wie in der Netzwelt, ein Kürzel von einem Kürzel? (ARN 55Q In so polemischer wie am winzigen Detail festhaltender Weise legt Handke die im ursprünglichen Sinn des Wortes polemische Rhetorik der medialen Vermittlung der Kriegsereignisse bloß; die aus der europäischen Geschichte gezogenen Wahrnehmungsstereotypen, deren Mörderisches sich im Schlagwort verlängert in der Aussparung aller Vorgeschichte; die „Blick- und Berichtsblickwinkel" (ARN 67), Ungereimtheiten: „Beinah alle Bilder und Berichte der letzten vier Jahre kamen ja von der einen Seite der Fronten oder Grenzen, und wenn sie zwischendurch auch einmal von der anderen kamen, erschienen sie mir, mit der Zeit mehr und mehr, als bloße Spiegelungen der üblichen, eingespielten Blickseiten als I^rspiegelungen in unseren Sehzellen selber, und jedenfalls nicht als Augenzeugenschaft" (ARN 39) - Anlaß zu Handkes Reise nach und durch Serbien, nach deren zweiteiliger Schilderung eine schon im Prolog gestellte Frage noch einmal epilogisch zugespitzt wird: „Du willst doch nicht auch noch das Massaker von Srebrenica in Frage stellen?" sagte dazu S. nach meiner Rückkehr. „Nein", sagte ich. „Aber ich möchte dazu fragen, wie ein solches Massaker denn zu erklären ist, begangen, so heißt es, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, und dazu nach über drei Jahren Krieg, wo, sagt man, inzwischen sämtliche Parteien, selbst die Hunde des Krieges, tötensmüde geworden waren, und noch dazu, wie es heißt, als ein organisiertes, systematisches, lang vorgeplantes Hinrichten." Warum solch ein Tausendfachschlachten? Was war der Beweggrund? Wozu? Und warum statt einer Ursachen-Ausforschung („Psychopa-
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then" genügt nicht) wieder nichts als der nackte, geile, marktbestimmte Faktenund Scheinfakten-Verkauf? (ARN 147) Und weiter dachte ich (oder dachte es) dort, und ich denke es hier ausdrücklich, förmlich, wörtlich, daß mir allzu viele der Berichterstatter zu dem Bosnien und dem Krieg dort als vergleichbare Leute erscheinen, und nicht bloß hochmütige Chronisten sind, sondern falsche. Nichts gegen so manchen - mehr als aufdeckerischen - ewideckerischen Journalisten, vor Ort (oder besser noch: in den Ort und die Menschen des Orts verwickelt), hoch diese anderen Feldforscher! Aber doch einiges gegen die Rotten der Fernfuchder, welche ihren Schreiberberuf mit dem eines Richters oder gar mit der Rolle eines Demagogen verwechseln und, über die Jahre immer in dieselbe Wortund Bildkerbe dreschend, von ihrem Auslandshochsitz aus auf ihre Weise genauso arge Kriegshunde sind wie jene im Kampfgebiet. (ARN 148^ Es ist dies eine Form fundamentaler Medienkritik, die den eigenen Standpunkt und das meint in ganz entscheidender Weise auch jene Wahrnehmungsformen, die Handke mit den Epopöen exponiert und in den beiden Teilen der Reisebeschreibung tendenziell fortgeführt hatte - 1 ? in ebenso fundamentaler Weise mit Selbstzweifel bedenkt: Aber ist es, zuletzt, nicht unverantwortlich, dachte ich dort an der Drina und denke es hier weiter, mit den kleinen Leiden in Serbien daherzukommen, dem bißchen Frieden dort, dem bißchen Einsamkeit, mit Nebensächlichkeiten wie Schneeflocken, Mützen, Butterrahmkäse, während jenseits der Grenze das große Leid herrscht, das von Sarajewo, von Tuzla, von Srebrenica, von Bihac, an dem gemessen die serbischen Wehwehchen nichts sind? Ja, so habe auch ich mich oft Satz für Satz gefragt, ob ein derartiges Aufschreiben nicht obszön ist, sogar verpönt, verboten gehört - wodurch die Schreibreise eine noch anders abenteuerliche, gefährliche, oft sehr bedrückende (glaubt mir) wurde, und ich erfuhr, was „Zwischen Scylla und Charybdis" heißt. Half, der vom kleinen Mangel erzählte (Zahnlücken), nicht, den großen zu verwässern, zu vertuschen, zu vernebeln? Zuletzt freilich dachte ich jedesmal: Aber darum geht es nicht. Meine Arbeit ist eine andere. Die bösen Fakten festhalten, schon recht. Für einen Frieden jedoch braucht es noch anderes, was nicht weniger ist als die Fakten. (ARN 158t) 17 Vgl. Peter Handke: Vorwort zu den Übersetzungen von ,Eine winterliche Reise' (1996). In: Thomas Deichmann (Hg.): Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999 (= st 2906), S. 174.
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Durch die feindseligen Reaktionen auf diesen Reisebericht sah sich Handke unter anderem in einem Interview zur Aussage veranlaßt: Was nicht sein darf, ist, daß ich den in Jugoslawien stattfindenden Schmerz aus den Augen verliere. Das war beim Schreiben das mich Leitende. Wie ich mit meinem weiteren Leben als Schreiber umgehen werde, weiß ich nicht. Mein Schreiber-Leben hat einen Sprung wie bei einem Gefäß oder einen Sprung wie bic Rhodus hic salta, da bin ich mir selbst noch nicht sicher. Etwas wird dazukommen müssen, etwas, was ich immer abgelehnt habe: Historie. Geschichte. Oder es wird überhaupt nichts mehr sein.18 Der letzte Teil dieser Aussage relativiert und befestigt zugleich sich im Licht der Neuausgabe des Epopöen-Buches, so wie dies denn auch in der Voranstellung der beiden Motti im Sommerlichen Nachtrag zu einer winterlichen Reise geschieht, des einen, der Geschichtsschreibung endehnten „Zu bedenken, ob es erlaubt sei, die Geschichte, im Speziellen die seiner eigenen Zeit, zu schreiben und zu lesen" (aus den Mémoires des Duc de Saint Simon), und des zweiten, epischen, „Es war im Sommer, und die Morgenstunde war schön, und die Bäume waren grün, und die Wiesen waren bedeckt mit Gras und Blumen" (aus Lancelot und Ginover) (beide A R N 165). Die Ansicht, zur Winterlichen Reise sei im Sommerlichen Nachtrag „nichts dazugekommen", kann ich nicht teilen. 1 ' Der Nachtrag ist auch als Ausdruck dieses „Sprungs" lesbar, eines Sprungs, der die epische Autonomie der Handkeschen Erzählweise von außen aufbricht. Man fährt von Belgrad an die Grenze zu Bosnien: Und spätestens hier hörten wir drei Männer im Auto auf, unsere serbische Wintergeschichte frühsommerlich zu wiederholen; hörten überhaupt auf, die Personen einer bereits geschehenen und aufgeschriebenen Geschichte zu sein (was doch Erholung, Lust und vor allem Schutz sein konnte); und spätestens nach dem folgenden Abend, der Nacht und dem folgenden Tag in Visegrad schien es dann nötig, oder nützlich, zu unserer Wintergeschichte diesen Nachtrag oder Zusatz zu machen. (ARN 188)
18 „Nackter, blinder, blöder Wahnsinn". Peter Handke im Gespräch mit Wolfgang Reiter und Christian Seiler. In: Deichmann (Anm. 17), S. 147-156, hier S. 155. 19 Vgl. Karl Wagner: Die Geschichte der Verwandlung als Verwandlung der Geschichte. Handkes ,Niemandsbucht'. In: „Moderne", „Spätmoderne" und „Postmoderne" in der österreichischen Literatur. Beiträge des 12. Österreichisch-Polnischen Germanistentreffens, Graz 1996. Wien 1998 (Zirkular. Sondernummer 51), S. 205-217, hier S. 217.
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Der nächtliche Blick aus dem Hotelfenster auf eine der Brücken, [...] das Durchkreuztwerden dieses Bilds jetzt von dem Bedenken der Berichte über Tötungen in der hiesigen Muslimgemeinde vor ziemlich genau vier Jahren: Viele von den Opfern, so Augenzeugen (gerade aus dem Hotelzimmer wie dem meinen hier [...] (ARN 196) wieder die Frage nach den „über die Meere angereisten, eingeflogenen Aussagesammlern", denen es [...] beinah durch die Bank nur und ausschließlich um ihre Story, ihren Scoop, ihr Beutemachen, ihr Verkaufbares ging (was fürs erste ja auch gar nicht zu verachten war) [...] doch kaum je um einen Zusammenhang, eine weiterführende, auf ein Problem sich einlassende Erklärungs- und Aufklärungsarbeit, und schon gar nicht, jedenfalls bereits längst nicht mehr, auch nicht in den einst ernsthaften „Weltblättern", um die für Bosnien und Jugoslawien besonders bezeichnende Vor-Geschichte, Vorgeschichte um Vorgeschichte - ein Problem-Darstellen, welches in einem grundanderen Sinn zu Herzen ginge als etwa der miesliterarische Schlußabsatz [...] des [...] Manhattan-Journalisten, worin er eine aus ihrer Stadt geflüchtete Zeugin, nächtens dabeigewesen beim Hinabgestoßenwerden von Mutter und Schwester von der Brücke, Tennessee-Williams-haft sagen läßt: „The bridge. The bridge. The bridge ..." (ARN i 9 8f) die Schilderung des realen Friedhofs und die „Einsicht", „daß die Beweinten eben nicht ganz lang schon tot und dahin waren, sondern für die Angehörigen und Betroffenen gerade erst starben, Augenblick für Augenblick, jetzt, und jetzt, und jetzt, und so weiter" ( A R N 215). 2 0 Angesichts der „Zerschossenheit und Ausgeräuchertheit" ( A R N 225) Srebrenicas „ein Problem des Weitererzählens" noch im nachhinein, [...] der Bilderbeschreibung, des Schilderns, der Bilderfolge: als werde an Orten wie S. nacherlebbar so etwas wie das islamische oder überhaupt orientalische Ver-
20 Die Stelle läßt sich als Reflex auf eine auffällige Differenz zwischen den beiden ersten Ausgaben von Noch einmal für Thukydides lesen. Handke korrigiert - es ist, soweit ich sehe, übrigens die einzige Korrektur - in der zweiten Ausgabe den Schluß von „Die Kopfbedeckungen von Skopje" von „Undsoweiter" in „Undsoweiter. All das schöne Undsoweiter. All das schöne Undsoweiter." ( N T 39)
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bot der Bilder, oder zumindest ein von gewissen Erscheinungen ausgehender Bilder-Verweis, ein Abweisen, jedenfalls der großen, der ausgemalten, der zu Ende geschilderten, der monumentalen und panoramischen Bilder, ein Abweisen, das dafür aber Raum gäbe oder ließe für noch und noch Miniaturen, als Bilder kaum mehr zu entziffernden, auch kaum mehr etwas bedeutenden - ein solches Kleinstbild zusätzlich verknüpft mit dem andern zu einer bloßen, bloßen?, im ganzen vielleicht doch das eine und andere besagenden ,Arabeske". Ja, Arabeske. (ARN 223!) Der „Weltbrand in einem schmalen Talschluß" (ARN 238); die Gedächtnislosigkeit des Ortes; seine Perspektiven- und Leblosigkeit; die unsichtbaren und dennoch anwesenden Sterbenden, Toten; die Lebenden als Uberlebende, als Opfer (ARN 237): Aus diesen Bildern erklären sich die makabren, von Gewaltsprüchen durchzogenen sprachlichen Delirien der sich wieder entfernenden Besucher. Und danach, so kommt es mir zumindest in den Sinn, ziemliches Schweigen bis in den Krach von Belgrad hinein, und dann auch noch während der Tage darüber hinaus, südwärts im Kosovo (darüber hier jedoch nichts - obwohl ohne die Tage dort das bisher Erzählte und Gefragte sich wohl anders dargestellt hätte). Und es war, als träten wir da noch einmal in eine andere Geschichte ein - eine, in der wir nichts mehr zu sagen hätten, weder ich, der Ausländer, noch aber auch die zwei serbischen Gefährten. (ARN 245) Auch die Aufzeichnungen von den zwei Jugoslawiendurchquerungen 1999 zum Zeitpunkt der Nato-Bombardierungen, Unter Tränen fragend, welcher Titel auf die 1989 unter dem Titel Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum Sonoren Land, schon 1994 aber unter dem Titel Die Kunst des Fragens wiederaufgelegten dramatischen Aitiologie des Fragens zurückfuhrt (neben dem Buch Haß spricht21 von Judith Butler übrigens einer der grundlegenden Beiträge zur Sprechakttheorie der letzten Jahre) - auch diese Aufzeichnungen kann ich hier nur streifen. Die Tatsache, daß sich nunmehr die schon zuvor ihrer Kriegsrhetorik wegen inkriminierten Medien auf Seiten der bombardierenden Nato befanden und insofern nicht mehr in die jugoslawischen Geschehnisse hineinsprachen, sondern sich vollkommen offensichtlich in eigener Sache wiederfanden, erzwingt in noch stärkerem Ausmaß die Fokussierung auf mediale Wahrnehmungsweisen. Handke läßt sie in
21 Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Aus dem Englischen von Katharina Menke und Markus Krist. Berlin: Berlin Verlag 1997.
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einem den Zusammenhang von Krieg und medialer Wahrnehmungsweise in sich selbst zerstörenden „Bild" gipfeln [...] vielleicht das Bild dieser Kriegsreise (es gibt also noch Bilder? der Bildverlust ist noch nicht vollständig?) [...] in einem einzelnen Baum neben der zertrümmerten TV-Anstalt die von der Bombe ins Freie geschleuderten Film- und Ton-Kassettenbänder, da wie absichtliche Girlanden von den untersten Asten bis in die grünende Krone verflochten, und so glitzernd, schwingend, silberhell blinkend in dieser Morgensonne des 28. April 1999; gleich nebenan das nur beschädigte ebenerdige Beograder Kindertheater. (UT 15 if) Und zuletzt, wiederum nur stichworthaft, der Bericht der Besuche im internationalen Gerichtshof von Den Haag Wer nimmt mir mein Vorurteil?, ein Text, der schon eingangs an Kafka erinnernd, wie übrigens schon ein entsprechender Satz in den Zurüstungen22 - eine Beschreibung des modernen Prozesses als Teil einer internationalen Rechtssprechung versucht, fragend nach der Souveränität von Staaten, nach Völkerrecht und Gewaltentrennung, nach dem medialen Setting der Gerichtssaalszenerie, der Bildregie und ihrer Reproduktion auf den Bildschirmen, den unterschiedlich großen und unterschiedlich eingesetzten Nahaufnahmen der Beteiligten, den Hinterglasbildern, den Simultanübersetzungen, vor allem aber nach den Wahrnehmungsweisen der eigenen Zeugenschaft und, in deren Abhängigkeit, nach den Zeugen, Angeklagten, Anwälten und (kunstsinnigen) Richtern. „Wann immer ich mir als Autor vorgestellt habe, was man gegen meinen Text sagen könnte: Es kam immer schlimmer"21: Die Reaktionen, die Handke mit seinen Reiseberichten ausgelöst hat, sind - das sollen die bisherigen Zitate belegen nicht allein aus den Texten Handkes zu erklären. Wie eine diesbezügliche Sammlung zeigt, in die nach Aussage ihres Herausgebers keine ,,einfache[n] Polemiken oder Glossen gegen Handke"2"* aufgenommen sind, führte die Sprache der Medien zu einer Polemisierung adpersonam: „beachtlicher Killerinstinkt" (25), „monomaner Terrorist" (44), „Wahn von Krieg und Blut und Boden" (73), „Der
2 2 „Stammt denn nicht von ihm, von Franz Kafka, jener Satz, aus dem Roman ,Der Prozeß': ,Alle Angeklagten sind schön?'" (Peter Handke: „Und wer nimmt mir mein Vorurteil?" [Anm. 1], S. 8). Dazu im „Königsdrama" ( Z U 97): „Wir Desperados sind alle schön, weit schöner noch als je ein Angeklagter." 23
Deichmann (Anm. 18), S. 154.
24 Ebd., worauf sich auch die unmittelbar folgenden Seiten-Zahlen beziehen.
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Rächer von Chaville" (75), „vom Teufel geritten" (91),, „Gegenschlag" (93), „poetischer Aggressor" (118), „con brio angreifen" (122), das Buch „schlägt wie eine Bombe ein" (122), „aggressives Ver- und Wegschweigen" (182) sind nur einige der Versatzstücke aus dem Vokabular, das den Krieg in die Sprache über den Krieg erweitert (Handke an einer Stelle: „,Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit'? Nein, die Sprache. O Sprache." [UT 23]). Vor allem über die Winterliche Reise brach eine journalistische Diskursmaschine herein, die den Autor mit allen Mitteln zu disziplinieren unternahm.25 Lothar Baier hat die Unverhältnismäßigkeit dieser Diskussion als „unterschwelligen Haß auf die Literatur" zu erklären versucht, „der sich auf den Literaturseiten ganz verschiedener Zeitungen angesammelt hat".26 Diese Erklärung mag einen maßgeblichen Faktor benennen, sie greift aber insofern zu kurz, als sie über das literarische Feld nicht hinausführt und in dieser Einengung die Interessenskämpfe übergeordneter Diskursformationen verdeckt. Ich denke, daß man Handkes Eingriffe durch drei Fragestellungen kennzeichnen kann: 1. Die Frage, wie Europa auf produktive Weise mit seiner interethnischen Situation gerade auch an den,Rändern', von denen es zu lernen hätte, umzugehen bereit ist. 2. Die Frage, ob Krieg als Mittel zur Durchsetzung eines ,europäischen Modells' denkbar sei. 3. Die Frage nach der gegenseitigen Bedingtheit von Sprache und Frieden. Die Reaktionen auf Handkes Texte zeigen, daß Handke mit diesen Fragen tatsächlich an die Grundfesten .europäischen' oder .westlichen' Selbstverständnisses gerührt hatte. Wie sonst die kaum überbietbaren und alle Handkeschen Positionen und Positionierungen wegwischenden Vorwürfe des Antisemitismus, Stalinismus oder Rechtsextremismus? Sie wurden mit anderen, geringeren, jenen nicht selten zuarbeitenden Vorwürfen aber nicht nur von Journalisten vorgebracht, diese Vorwürfe kamen auch aus anderen Feldern der Öffentlichkeit, Feldern, die sich der Medien - wie umgekehrt: derer sich diese - bedienten: Von Philosophen (Kant dachte noch in seiner Friedensschrift, daß „diese Klasse ihrer Natur nach der Rottierung und Klubenverbündung unfähig" sei, „wegen der Nachrede einer Propaganda verdachtlos")27, von Politikern, Historikern, Schriftstellern, und Feuilletonisten. Eine Analyse dieses Diskurses könnte deutlich machen, wie nirgendwo beglaubwürdigte, indes wie sich von
25 Thomas Deichmann und Sabine Reul sprechen nicht gerade glücklich von „sanftem Totalitarismus" (Deichmann [Anm. 18], S. 184). 26 Ebd., S. 38. 27 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977 (= stw 192), S. 1 9 1 - 2 5 1 , hier S. 228.
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selbst verstehend gebrauchte Dichotomien gegen den Angegriffenen gekehrt wurden, wie - um noch einmal ein Wort Kafkas aufzunehmen - „jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister" zu einem „Spieß" wird, „gekehrt gegen den Sprecher"28: Krieg / Frieden; Zivilisation / Barbarei; Böses / Gutes; Opfer / Täter; Historie / Literatur; Nebensächlich / Wesentlich; Wort / Handlung; Frage / Antwort etc.29 Der in der Sprache seiner Gegner „von seinen politischen Vorurteilen ruinierte Poet" 3° hat diese „fast lückenlose Sprache, der man nicht entkommen kann, und die äußerst tyrannisch ist",31 als sich verabsolutierende Totalisierung einer Sprechposition32 gekennzeichnet; auf die wieder und wieder gestellte und wie aus einem Handkeschen Text entnommene Frage „Aber ist es nicht eine Verharmlosung, wenn Sie statt über das ,Massaker von Srebrenica' über die b e schichte' sprechen?", antwortete der „tautologische Frage fach d e r " " Handke: Ich scheiße darauf, ob ich ein Dichter bin oder nicht. Ich bin ein sprachempfindlicher Mensch, und vielleicht bin ich ein Gerechtigkeitsidiot. Das Problem ist, daß keiner bei meinem Text bleibt, und sogar ich bin schon so blöd, daß ich davon abweiche. Nicht indem ich mit Ihnen rede, aber indem ich ab und zu so einen Blödsinn sage. Aber ich sage das gern. Mancher Blödsinn verstärkt die Wahrheit. F R A G E : Fühlen Sie sich von mir mißverstanden? P E T E R H A N D K E : Ja, Sie sehen den Text nicht als eine Möglichkeit neben tausend anderen, als einen ganz notwendigen und vielleicht sogar fruchtbaren Zwischenruf. ^
28 Franz Kafka: Tagebücher. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. 3 Bde. Frankfurt/M.: S. Fischer 1990, hier Bd. 1, S. 926. 29 Wie weit man sich in dieser Maschinerie vom Konsens der eigenen journalistischen Grundregeln zu entfernen bereit war, zeigt zuletzt - so skurril wie konsequent in der Verlängerung - ein Gespräch mit Peter Handke in der Berliner .Jungen Welt" vom 2 1 . 2. 2002, in dem sich Handke von der Eröffnungsrede Milosevics vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag „beeindruckt" zeigt: „[...] seine Worte waren wundervoll", ein Gespräch, das es nie gegeben hat, martialischer .Grubenhund' mehr denn „Zeitungsente" (vgl. Der Standard [Wien] vom 23724. Februar 2002, S. 31). 30 Deichmann (Anm. 18), S. 204. 31
Ebd., S. 191.
32 Handke: „Es scheint, als ob ein Stand sich einbildet, die Vernunft zu besitzen, als Eigentum." (Ebd., S. 197). 33
Ebd., S. 137.
34 Ebd., S. 108. Vgl. auch: „Wirkung des ,Dichterworts'? Naja." ( U T 59)
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Und an anderer Stelle: „Durch das Poetische wird ein Problem sichtbar, das vorher nicht sichtbar war. Das ist das Poetische und nicht die Erhabenheit des Wortes. Jeder poetische Text ist problematisch, ist im Grunde skandalös. Ich wäre gern noch viel skandalöser."'? Handke hat auf die Erfahrung hin, daß das, was er mit einem Wort, das in seiner positiven Bedeutung seit den späten fünfziger, sechziger, siebziger Jahren zunehmend aus dem Vokabular der Öffentlichkeit verschwand, „Friedenstext"'6 nannte, als „Kriegsprosa"'7 denunziert und jede noch so vorsichtig gestellte Frage mit einer Antwort punziert wurde, die zumeist nichts anderes im Sinn hatte als die Zerstörung der Frage, daß es kaum einen Satz gab, der aus der medial angeworfenen Diskursmaschine nicht unentstellt wieder entkam, auf verschiedenen Ebenen reagiert.' 8 Zum einen, indem er - um in der Terminologie der jüngeren Rhetorik zu sprechen'? - die medialen Kommunikationsformen wechselte und schon in den Titelverschiebungen der Texte erkennbar - gegeneinander durchlässig machte. Neben der tertiärmedialen, dem Buch, die in unserem Verständnis mit dem einen semiotischen System der Schrift auskommt und insofern eine Konzentration auf das Wort erzwingen müßte, nutzte er die sekundärmediale der Zeitungen, in denen sich ein Text nicht nur dem Kontext anderer Felder als dem der Literatur (Politik, Sport, Lokalnachrichten ...) aussetzt, sondern zusätzlich durch Fotografien, Porträts etc. konterkariert werden kann (vgl. die Naturfotografien in Wer nimmt mir mein Vorurteil?), und entschloß sich zusätzlich, seine Texte vorzulesen, Aug in Aug, nicht Auge um Auge, eine Form primärmedialer Kommunikation, die persönliche Anwesenheit voraussetzt, die zu einem Zuhören zwingt, das den Rhythmus des Sprechers zu akzeptieren hat und das Uberspringen unmöglich macht, für welches das Lesen so anfällig ist (was insgesamt im Fall Handkes ein Beharren auf Zeugenschaft signalisierte). Neben diesem Wechsel der Kom-
35 Ebd., S. 113. 36 Ebd., S. 76. 37 Norbert Mappes-Niediek: Mit dem Blick eines serbischen Papalagi. In: Freitag, Nr. 19 vom 5. Mai 2000 (http://www.freitag.de/2000/19/00191301.htm). 38 In Unter Tränen fragend etwa hat Handke Warntafeln drohender Verzerrung und Verleumdung aufgestellt: „(Achtung: Antirationale Mystik!)" (UT 30); „(Achtung: Kriegspoesie)" (UT 37); „(Achtung, antiamerikanisch!)" sowie „(Achtung, Kultursturm.)" (UT 44); „(Achtung, Mitschuld des ausländischen Proserben, daß das serbische Volk weiterhin in seiner schuldhaften Unwissenheit und Verblendung verharrt!)" (UT 59); „(Achtung, Kriegslüsternheit und antizivilisatorischer Affekt!)" (UT 60). 39 Vgl. das Kapitel „Medialrhetorik" in Joachim Knape: Was ist Rhetorik? Stuttgart: Reclam 2000 (= Universal-Bibliothek 18044), S. 90-106.
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munikationsformen, der die Grenzen der Literatur permanent verschiebt, hat Handke aber auch intratextuell die Vorgaben der Diskurslogik zu subvertieren gesucht durch Medien- oder Gattungsbrechungen in den Texten selbst: Reisebericht und Zeichnving wie im Abschied des Träumers vom Neunten Land-, Epopöe und Geschichtstext wie in Noch einmal für Thukydides, Drama und Film wie in Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg, Brechungen, die der Bildlogik der Kriegsberichterstattung das eigene wie das zitierte Uterarische Bild, den Bleistift und die Tradition des amerikanischen und europäischen Films entgegensetzen. Er hat - unter Hinweis auf die jugoslawische Geologie und Geographie, auf die jugoslawische Literatur (ARN 107) und unter Zuhilfenahme eines Textes von Robert Walser ( U T 61) - die geographischen Perspektiven Europas verschoben zum Zentrum der „Zielscheibe" ( U T 153) hin, Belgrad, und durch wiederholte Uberblendungen die Verantwortung der in der Nato zusammengeschlossenen Staaten markiert: [...] mein Gedanke unversehens: in Jugoslawien ist (war) Frieden, und der Krieg, derfinsterste,haßvollste, der verlogenste ist hier, in Frankreich, in Deutschland, in Großbritannien, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo die Völker (oder wie diese zeitgenössischen Spekulier-, Käufer- und Genießermassen nennen?) tagaus und tagein „Erzählungen", „Zeugnisse", „Informationen" in sich hineinschlingen und zugleich auf all den scheinfriedlichen Straßen und Plätzen unter dem scheinfriedlichen Himmel fortwährend so tun, als wenn nichts wäre. (UT 74) Er hat gegen die Zitate der Mediensprache und ihre Texte immer wieder Texte jugoslawischer Menschen gestellt, nicht die des Radovan Karadzic (doch: auch das einmal)^0, mündliche und schriftliche Aussagen, Literatur, ein Abschiedsschreiben etc., Texte mithin, die nicht nur geeignet sind, die Komplexität der jugoslawischen Lebenswirklichkeit zumindest andeutungsweise anschaulich zu machen, sondern vor allem auf einem beharren, dem Menschenrecht, selbst, und nicht in einem Enteignungsprozeß, gehört zu werden. Und Handke hat in seinen Texten kontinuierlich daran erinnert, wie die Rede über den Krieg, die schon die Kriegführenden entstellt, das Sprechen der Betroffenen angreift, wie diese Rede zum „Stammeln"'' 1 , zur Sprachlosigkeit wird: gesondert dann ausgeführt in Zurüstungenfiirdie Unsterblichkeit (1995, noch vor den Bombardierungen der Nato) und der späteren, 1999 veröffentlichten und wie jene im „Dunkel" endenden Fahrt im 40 Deichmann (Anm. 18), S. 155. 41 Vgl. U T 42 und 148.
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Einbaum. Beide Dramen führen weniger eine Pathologie des Krieges vor, wie sie schon Thukydides im entsprechenden Kapitel seines Buchs versucht hatte, weniger eine Pathologie auch, die vergleichbar wäre mit dem 1998 deutsch erschienenen Buch des amerikanischen Psychiaters Jonathan Shay, Achill in Vietnam42; Handke führt vielmehr, auf äußerst riskante Weise, und in sich gebrochen, eine Pathologie des Sprechens nach dem Krieg vor, das neue Kriege in sich enthält, eine Pathologie jenes in G e n e r a t i o n e n « abgelagerten und sich weiterhin ablagernden ,,Gift[s], das nie und nimmer heilsam ist: das Wörtergift" (ARN 153). Selbst einige wohlmeinende Kritiker haben geglaubt, Handkes Texte zu Jugoslawien von seinen anderen Arbeiten trennen zu können. Das geht schlicht und einfach nicht. Vom Motto der Hornissen (H 5) (deren Entstehung übrigens wiederum ein Stück in Noch einmal für Thukydides gewidmet ist) bis zum Bildverlust, der dieses Motto als „lateinisches Orakel" (diesmal im veränderten Zeilensprung: „Du wirst gehen / zurückkehren nicht / sterben / im Krieg" [B 5]) wieder aufnimmt, ist das Thema des Krieges bei Handke durchgehend gegenwärtig. Ich möchte daher auf eine Szene in dem kleinen Buch zurückkommen, von dem ich ausgegangen bin und das mir - hier - auch bemerkenswerter scheint als das Stück Epopöe vom Verschwinden der Wege oder Eine andere Lehre der Sainte-Victoire, die Schilderung jener Brandstätte, die alle bisherigen Wege für Generationen unlesbar gemacht hat; zurückkommen auch nicht auf jene Kinderschreie in Noch einmal für Thukydides, die für Handke selbst einer anderen Ordnung von Geschichtsschreibung angehören, der „ e n d g ü l t i g e n " ^ der Shoah, sondern auf die schon im Büchlein von 1990 in einem „ekstatischen Trauergesang" hörbar wer-
42 Jonathan Shay: Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust. Mit einem Vorwort von Jan Philipp Reemtsma. Aus dem Amerikanischen von Klaus Kochmann. Hamburg: Hamburger Ed. 1998. 43 Vgl. etwa: „Würde je ein Friede geschaffen und erhalten von solch blindwütigen Reflexmenschen quer durch die Generationen? Nein, der Friede ging nur so: Laßt die Toten ihre Toten begraben, und die Lebenden so wieder zurückfinden zu ihren Lebenden." ( A R N 154). Oder: „Hat es meine Generation bei den Kriegen in Jugoslawien nicht verpaßt, erwachsen zu werden? Erwachsen nicht wie die so zahlreichen selbstgerechten, fix- und fertigen, kastenhaften, meinungsschmiedhaften, irgendwie weltläufigen und dabei doch so kleingeistigen Mitglieder der Väter- und Onkelgeneration, sondern erwachsen, wie? Etwa so: Fest und doch offen, oder durchlässig, oder mit jenem Goethe-Wort: ,Bildsam', und als Leitspruch vielleicht desselben deutschen Welt-Meisters Reimpaar ,Kindlich/Unüberwindlich', mit der Variante Kindlich-
Uberwindlich.
Und mit dieser Weise Erwachsenseins, dachte ich, Sohn eines Deutschen, aus-
scheren aus dieser Jahrhundertgeschichte, aus dieser Unheilskette, ausscheren zu einer anderen Geschichte." ( A R N 157) Auch: „Die nach uns?" ( A R N 158) Vgl. weiters U T 47 und 56. 44 Deichmann (Anm. 18), S. 262.
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dende Stimme, eine „Frauenstimme", „hoch über dem anderen Treiben, ein arabisches Klageschmettern" (NT 75). Dieses Motiv zieht sich konsequent und in immer radikaleren Abwandlungen durch die Texte über Jugoslawien. In der Winterlichen Reise, bereits wieder in Slowenien, taucht ein geparkter Lastwagen auf, [...] mit einem Kennzeichen aus Skopje/Mazedonien, früher auf den slowenischen Straßen keine Seltenheit, jetzt freilich eine Einmaligkeit, dazu der Fahrer bei der Rast, draußen im Steppengras, allein weit und breit, wie aus den Jahren vor dem Krieg übriggeblieben; und hörte dann die Kassette aus seinem Transistor, eine ziemlich leise gestellte orientalische, fast schon arabische Musik, wie sie hier einst mit tausend anderen Weisen mitgespielt hatte und inzwischen sozusagen aus dem Luftraum verbannt war; und der Blick des Mannes und der meine begegneten einander, momendang, lang genug, daß das, was sich zwischen uns ereignete, mehr war als bloß ein gemeinsamer Gedanke, etwas Tieferes: ein gemeinsames G e dächtnis; und obwohl sich das Umland durch den Klang jetzt neu zu öffnen und zu strecken schien, bis in den fernsten, gleich schon griechischen Süden, verpuffte solch kontinentales Gefühl (im Gegensatz zum „ozeanischen" herzhaft) fast zugleich, und es zuckte nur ein Phantomschmerz durch die Luft, ein gewaltiger, mit Sicherheit nicht bloß persönlicher. ( A R N 138t)
Im Sommerlichen Nachtrag ist es dann die Totenklage einer Frau auf einem der Friedhöfe von Visegrad, des serbisch-othodoxen, welche „das sicher ganz gleiche, nur verschieden sich äußernde Weh woanders natürlich miteinschloß?" (ARN 207). Und unmittelbar daran anschließend das „Weinen bei den Gedenksteinen [...] jetzt vielstimmig, wenn auch jede Frauenstimme, von Stein zu Stein, voneinander abgesetzt" (ARN 208). Und in Unter Tränen fragend eine weitere Passage, die Handke - in der Buchausgabe des Textes - an die Schlußsätze des schon in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Textes angefügt hat: „Mein Vorsatz da und später, alle die Namen der von den ,Europäern' und den amerikanischen Desperados in Flammen geschossenen Menschenorte auswendig zu lernen, Batajnica, Pancevo, Surcin, Pristina ..., wie ein Gedicht - nur daß dieses Gedicht inzwischen schon viel zu lang ist zum Auswendiglernen." Dann: „Nach A. keine Gedichte mehr? - Wenn das Gedicht ,die Gliederung eines Aufschreis' ist, dann nach Auschwitz und zu Jugoslawien gerade Gedichte, nur noch Gedichte!" (UT 33!) Man hat an dieser Stelle inkriminiert, daß Handke zwar Reiseberichte, ein solches Gedicht zum Krieg indes nie geschrieben habe.45 Kann ein Gedicht geschrieben 45 Wiederum Norbert Mappes-Niediek (Anra. 3 7).
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werden, das dem jugoslawischen, europäischen Krieg gerecht wird? Ist es das, was ein Epos leisten soll, eine Epopöe nicht leisten will? Gibt es eine ,Form' für das „Gebiet des Zufalls"1*6, das der Krieg ist? Was im Gehörraum der Handkeschen Texte an schreiender Stille aufeinandertrifft, was in dieser akustischen Idiosynkrasie nebeneinandersteht, in einer Geste des Epischen, von ihm weg, zu ihm hin, ist ungeheuerlich. Diese Ungeheuerlichkeit ist nicht zu eskamotieren, sie ist auszuhalten, solange es sie gibt. Der letzte Text Handkes endet mit einem Zitat des serbischen Dichters Miodrag Pavlovic: „Kommt doch auch einmal zu uns / Unser Lied ist ein schöner Schrei''.^7
46 U T 3 1 ; der von Handke selbst ausgewiesene und leicht verändert zitierte Satz diente schon als Titel der Veröffentlichung der „Karwochenreise nach Jugoslawien, vom Dienstag, dem 3 1 . März 1999 bis Freitag, 3. April 1999" in der Süddeutschen Zeitung vom 5./Ö. Juni 1999. E r findet sich in Carl von Clausewitz: Vom Kriege. In: Kriegstheorie und Kriegsgeschichte. Carl von Clausewitz / Helmuth von Moltke. Hg. von Reinhard Stumpf. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1993 (= Bibliothek der Geschichte und Politik 23), S. 9-423, hier S. 33: „Es gibt keine menschliche Tätigkeit, welche mit dem Zufall so beständig und so allgemein in Berührung stände, als der Krieg. Mit dem Zufall aber nimmt das Ungefähr, und mit ihm das Glück einen großen Platz in ihm ein." 47 Miodrag Pavlovic: Einzug in Cremona. Gedichte. Aus dem Serbischen von Peter Urban. Mit einem Nachwort von Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 106. Vgl. insbesondere Johann Wolfgang von Goethe: Serbische Lieder. In: Ders.: Schriften zur Literatur. Zürich: Artemis 1964 (= Artemis-Gedenkausgabe der Werke. Briefe und Gespräche 14), S. 535-546.
Hans Höller
Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg I VORGESCHICHTE I . I „ E L F E N B E I N T U R M " UND „ R O M A N T I K "
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre hatte der junge Autor mit provokant anti-politischen Titeln - Die Literatur ist romantisch (1966) und Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1967) - auf seine spezifisch literarischen Fragestellungen aufmerksam machen wollen. Inzwischen sind die ironischen Titel von Handkes Literatur-Essays aus den späten sechziger Jahren längst zu ganz unironischen Schlagwörtern der publizistischen Polemik gegen den Autor geworden. Liest man diese Essays heute, wird man darin weniger ein Plädoyer für unpolitisches Schreiben finden, sondern eher eine Verweigerung der politischen Funktionalisierung der Literatur und eine Verteidigung des Ich als Voraussetzung auch der politischen Veränderung: „[...] weil ich erkannt habe, daß ich selber mich durch die Literatur ändern konnte, daß ich durch die Literatur erst bewußter leben konnte, bin ich auch überzeugt, durch meine Literatur andere ändern zu können." (IBE 20) Wenn Handke 1975 im Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold sich indirekt ein gerechteres Verständnis der politischen Dimension seiner literarischen Arbeiten wünschte, so hat dieser Wunsch für die Rezeption seiner späteren JugoslawienTexte nur an Aktualität gewonnen: „Als ob die subjektivistische Literatur, die ich mache, nicht auch als Korrektur, als ein Modell von Möglichkeit, Leben darzustellen, akzeptiert werden kann."1 - Ich möchte diese unerledigte Frage der Handke-Diskussion als Anhaltspunkt für ein Verständnis von Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999) aufgreifen und über den Stellenwert des Literarischen und die Dimension des Ich als „Korrektur" der Politik in diesem Stück sprechen. Zuerst aber einige Überlegungen zur Vorgeschichte von Handkes ,literarischer Politik'. 1
Heinz Ludwig Arnold: Gespräch mit Peter Handke [aufgenommen am 29. September 1975, Paris]. In: Text und Kritik 24/248 (1976), S. 15-37, hier S. 32.
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Hans Höller
1.2 IDIOSYNKRATISCHE ERFAHRUNG UND SPRACHE
Gegen die allzu geläufigen Ubereinkünfte der Handke-Kritik ist daran zu erinnern, daß der Autor nicht im Sprachexperiment den Ausgangspunkt seines Schreibens sah, sondern, nicht anders als Ingeborg Bachmann, in subjektiven Idiosynkrasien und Affekten. Das Verhältnis von „Politik und Physis" (Ingeborg Bachmann) artikulierte sich bei ihm vor allem in einem lebensgeschichtlich weit zurückreichenden körperlichen Ekel vor der Macht: „Seit ich mich erinnern kann, ekle ich mich vor der Macht, und dieser Ekel ist nichts Moralisches, er ist kreatürlich, eine Eigenschaft jeder einzelnen Körperzelle" (AW 74), heißt es in seiner - Ingeborg Bachmann gewidmeten - Büchner-Preis-Rede. Ein derartiges idiosynkratisches Reagieren bliebe ohnmächtig im Subjekt gefangen, käme dazu nicht eine ungewöhnliche sprachliche Bewußtheit und Ausdrucksfähigkeit als Voraussetzung literarischer Autorschaft: der kritische Sinn für Sätze, in denen Obrigkeit steckt,2 der verfremdende Blick für die Künstlichkeit der Sprache und die Einsicht in die sprachlich vermittelte Totalität des Vergesellschaftungszusammenhanges, wie ihn zum Beispiel das Kaspar-Stück (1968) mit seinen Apparaturen und,Einsagern' vorführt. In seinem späteren erzählerischen Werk wird Handke an einem Gegenentwurf zu dieser von Tauschgesetz und Verwertungslogik entfremdeten Sprachtotalität arbeiten. Seine Studien zu Flauberts Satz-Konjunktionen, zu Stifters Erzählordnung oder Cezannes,„Konstruktionen und Harmonien parallel zur Natur"'(LSV 62) sind von der Idee einer sprachlichen Synthesis geleitet, die „Form", „Muster", „Gesetz", „Schrift" eines anderen, nicht entfremdeten größeren Zusammenhangs sein kann, eine Gegen-„Schrift" auch und vor allem zur Totalität der Warenwelt und der von ihr mitbestimmten medialen Bilder und Texte. In Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) wird nach der persönlichen Berechtigung und nach den Vorbildern für diesen großen Anspruch des Künstlers gesucht, in Die Wiederholung (1986) fuhrt die Jugoslawien-Reise den Helden zu den Anhaltspunkten einer nicht von der Tauschabstraktion vermittelten Wirklichkeitserfahrung, wo die Warenzeichen verschwinden und die Dinge wieder Namen und Bilder der Kindheit wachrufen könnend
2
„Und deutlich wird, daß Sätze obrigkeitliche Sätze sind, daß die Welt der Sätze eine hierarchische Ordnung normiert." ( I B E 199-202).
3
„An dem Milchladen stand so im Gegensatz zu der Marktschreierei im Norden oder Westen nichts als das Wort für die Milch, an dem Brotladen das bloße Wort für das Brot; und die Ubersetzung der Wörter mleko und kruh war keine ins Anderssprachige, sie war eine zurück in die Bilder, in die Kindheit der Wörter, ins erste Bild von Milch und Brot." ( W 132t).
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Die im Kontext der 68er-Bewegung erarbeitete Einsicht in die Verflechtung von Warencharakter, Medienberichterstattung und Politik ging dem Erzähler genauso wenig verloren wie das Bewußtsein der nationalsozialistischen Vergangenheit als „unausweichliche" Voraussetzung des Schreibens nach 1945, selbst dort, wo er der „unausweichliche(n) Bestimmung" (vgl. L H 105) durch die deutsche Geschichte einen anderen, von der Kunst und Natur abgelesenen Zusammenhang entgegenzustellen versuchte. Die publizistische Polemik gegen den unpolitischen „Bewohner des Elfenbeinturms" und dessen romantisch elitären Literaturbegriff übersah die Negation als Herzstück dieser Poetik so lange, bis diese in den Jugoslawien-Texten plötzlich' als provokante politische Dimension des Erzählens Anstoß erregte. „Die Erzählung, die fireieste Form, mit anderen in Verbindung zu treten", schrieb Michael Scharang, der klügste kritische Weggefährte Peter Handkes seit 1968, in einer Rezension zu Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeitfür Serbien (199 6), die Erzählung „wird von denen, die auf Information gedrillt sind, als obszöne Ausschweifung empfunden. Mit Recht: Information ist, nach dem Befehl, die am stärksten verkürzte Darstellung von Wirklichkeit."4 Genau dieses Ineinander von Information und Militarisierung der Gesellschaft wird nun in Handkes Jugoslawien-Texten nicht mehr nur indirekt kritisiert durch das Formgesetz der poetischen Weltwahrnehmung, sondern in seinen politisch-medialen Funktionszusammenhängen als eine andere Form der Kriegführung mit Wörtern und Bildern enthüllt.
1 - 3 „ N I C H T S T E R B E N IM K R I E G "
Die Handke-Kritik wie die Handke-Forschung haben m. E. viel zu wenig darauf geachtet, wie sehr Handke das „Recht" des Schreibens aus dem Widerspruch zum Krieg begründet. Selbst im Zentrum der Lehre der Sainte-Vtctoire, dieser lichten Begründung einer Lehre der „Schrift" in der Nachfolge Cezannes, steht ein Kapitel, das das Kriegsgesetz als Bedrohung der Künstlerschaft erfahrbar macht. In diesem Kapitel, Der Sprung des Wolfs, verdichten sich die den gesamten ErzählText durchziehenden Vergegenwärtigungen des Krieges: angefangen mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, der im Friedensbild von Cezannes Dorflandschaft von L'Estaque mitzudenken sei - Gegenbild nicht nur zu „jenem Krieg von 1870, nicht nur für den Maler von damals, und nicht nur vor einem er4
Michael Scharang, D e r Standard, 24.1.1996.
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klärten Krieg" (LSV 13) - , bis zur Konfrontation mit dem Krieg in Gestalt des wahnsinnigen Wachhunds auf dem Gelände einer Kaserne der Fremdenlegion in der Nähe des Sainte-Victoire-Gebirges. 5 Der Hund, der von dort aus den Erzähler bedroht, hängt an einem weitläufigen Kettensystem, das „ein metallisches Klirren, wie von einem Laufenden mit gezogener Waffe", erzeugt, das Bellen des Hundes ist wie „ein Grollen", „eher ein fernes Raunen im Luftraum", „Todesund Kriegsschrei zugleich". In dem destruktiven Geräusch „verschwand die Landschaft in einem einzigen Strudel aus Bombentrichtern und Granatlöchern". (LSV 44f) „Er meinte gar nicht mich-im-besonderen", resümiert der Erzähler, er stand „auf dem Territorium der Fremdenlegion, wo nur mehr das Kriegsrecht galt, auf jeden dressiert, der, unbewaffnet und ohne Uniform, bloß war, der er war.11 (LSV 46) - „Auge", „das Wirkliche", „Gefilde", Landschaft, Raum, jedes Sein fur sich und um seiner selbst willen, das also, was Gegenstand von Cézannes künstlerischer „réalisation" war und was der heutige Autor-Erzähler „weitergeben" will als friedliches Weltgesetz und wirklichere Wirklichkeit, ist hier, auf dem Terrain des Krieges, einer äußersten De-Realisierung unterworfen und von der Auslöschimg bedroht. So unvermutet diese Kriegsdrohung in den Text der Kunstlehre einbricht, sie begegnet, genauer gelesen, im Kontext des Buchs mit den ständigen Erinnerungen an Kriege und Vernichtungsstätten nicht,unvermutet', und sie ist es schon gar nicht im Kontext von Handkes Werk. Denn ist nicht sein Werk von Beginn an eine „Schrift" gegen den Krieg? „Du wirst gehen / zurückkehren nicht sterben im Krieg", das ist das Motto schon des ersten Romans, Die Hornissen (1966), und im bisher letzten Roman, Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos (2002), wird dieses Motto wieder aufgegriffen, jetzt graphisch anders gesetzt, das „nicht" weiter abgerückt, wodurch die Zweideutigkeit des lateinischen Orakelspruchs hervorgekehrt wird. Auch in Der Bildverlust weiß sich die Heldin auf den Weg gebracht und auf dem Weg gehalten, wenn man will: weiß sich der Autor auf seinen Schreib-Weg gebracht und auf ihm seit Jahrzehnten gehalten durch ein „Recht", das sich der Kriegslogik widersetzt. In Die Wiederholung forderte die Mutter des Erzählers „das Heil" „für uns von uns selber" und sie gab sich „ihr eigenes Recht (was auch sie aus der Erfahrung der beiden Weltkriege ableitete)" (W "jzf), ein „Recht", das auch der Schriftsteller-Sohn für sich in Anspruch nimmt. Schon in
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Vgl. zur Interpretation der Stelle vor allem Georges-Arthur Goldschmidt: Peter Handke. Paris: Seuil 1988, S.130: „Ce chien est le prolongement de l'univers concentrationnaire nazi: il se trouve là sur le chemin du retour et c'est, tout à coup, la réalité" ; sowie, mit Beziehung auf G.A. Goldschmidt, Hans Höller: „Der große Wald" bei Salzburg. In: Salz 28 (2002), S. 24-29.
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Handkes erstem Buch, in Die Hornissen, ist das Schreiben auf den Krieg bezogen, vergegenwärtigt in den Bildern von Krieg, Verletzung und Gefährdung der Uberlieferung. Die Blindheit des Dichter-Bruders wird mit einem „Kriegszustand" assoziiert - und mit dem mythischen Bild vom Blinden als einem Seher: „In vielen Sagen ist gerade der Blinde ein Seher. Der Seher ist blind." (H 274) Schreiben, das geben die Schlußpassagen des ersten Romans zu verstehen, ist der Versuch, der zerbrochenen Tradition des verlorenen Buchs habhaft zu werden: „Was ihm davon gegenwärtig ist, scheint durch die Gegenwart verworfen und abgeändert" (H 271). Schreiben wird imaginiert als Bewegung auf einem brüchigen Terrain. Das letzte Bild zeigt den über ein vereistes Schneefeld gehenden Bruder. In der Deutung des Traumbilds geht es dem Erzähler um die vom Einbrechen bedrohte Bewegung, die nur gelingt, wenn er die „Ordnung der Bewegungen" findet, „die ihn herausführt. [...] Unter der Eisschicht ist der Schnee aus dichtem Staub." (H 277) In Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos ist die Heldin des Romans noch immer unterwegs auf der Suche nach dem Ausweg aus einer vom Krieg und Vernichtung ständig bedrohten Zivilisation. Noch immer das Brummen der Bombenflugzeuge über der Landschaft, das schon im Brummen der,Hornissen' als bedrohliche Erinnerung an den Krieg gegenwärtig war. Peter Handke hat auf die frühkindlichen Erinnerungen an die Bombardierung Berlins, wo er sich mit seiner Mutter gegen Ende des Krieges aufhielt, hingewiesen. Sie gehören genauso zur schreib-biographischen Vorgeschichte der JugoslawienTexte wie seine Herkunft von der Grenze, wie Ingeborg Bachmann die besondere geschichtlich-geographische Situation im Süden Kärntens bezeichnete. In dieser spezifischen Schreib-Biographie nimmt die Erzählung Die Wiederholung (1986) einen besonderen Platz ein,6 auch, weil hier die in Wunschloses Unglück (1972) noch verdrängte slowenische Herkunft der mütterlichen Familie zu einem Zentrum des Erzählens wurde. Er habe in der Wiederholung, sagte Peter Handke im Gespräch mit Joze Horvat, „Schwierigkeiten [...] mit der Figur der Mutter" gehabt: In meinem Kopf ging alles durcheinander, denn ich war mir bewußt, daß meine Mutter eine Slowenin war und ich in diesem Buch aus ihr eine Deutsche machen mußte. Aber es geschah auch etwas Umgekehrtes - über diese Figur habe ich wieder meine Mutter gefunden [...] Aber es war wirklich schwer. ( N N L 107)
Es ist nun die deutsche Mutter, die in Handkes Jugoslawien-Epos, als das man Die Wiederholunglesen kann, die aufrührerische slowenische, also anti-habsburgische 6
Vgl. den Beitrag von Fabjan Hafner in diesem Band.
Hans Höller
wie anti-deutschnationale Familientradition bewahrt und den Sohn nach Jugoslawien schickt - und nicht der slowenische Vater, der resigniert hat.
II. D A S S T Ü C K ZUM F I L M VOM K R I E G
I I . I A N D E N R Ä N D E R N DER W E L T P O L I T I K
Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg spielt an den äußersten Rändern der Weltpolitik, „fern der europäisch-amerikanischen Welt" (FE n ) , im „Speisesaal eines großen Provinzhotels irgendwo im tiefiten oder innersten Balkan" (FE 9). Dort findet zehn Jahre nach dem vorläufigen Ende des Krieges das Casting für einen Film statt, einen aus einer langen Reihe von Filmen über den Krieg in Jugoslawien. Ein Podium dient als provisorische Bühne, einer der Eßtische wird zügig abgedeckt, „wie zu einer Schreib- oder Arbeitsfläche" (FE 10), die Küche selber, durch zwei Schwingtüren in ständiger Verbindung zum Probenraum (vgl. F E 9) eine Variation von „La table et la cuisine", denn Küche und Arbeit gehören bei Handke, wie Annegret Pelz in ihrem Beitrag zeigt, zusammen. Das Filmskript stammt von einem einheimischen Autor, der aber verschwunden ist. Die beiden Regisseure, John O'Hara aus den USA und Luis Machado aus Spanien, sind durch die fehlende Autorinstanz nicht freier, weil sie, aus dem reichen Westen angereist, ohnedies die Freiheit besitzen, in ihrem „europäisch-amerikanischen Gemeinschaftsfilm vom Krieg" (FE 1 1 ) alles selbst zu bestimmen. Die Szenen, in welchen „die möglichen Akteure des Films sich vorstellen werden", sollen den beiden „bloße Einstimmungen sein" zu ihrer beider Film, sagt der einheimische „Ansager": „Es soll Ihr Film werden!" (S. 14). So könnte ein politisches Stück beginnen, das den Neo-Kolonialismus auf die Bühne bringt und die Kultur als Verlängerung europäisch-amerikanischer Geopolitik thematisiert. Das Stück enthält eine derartige Lesart, geht aber in einem solchen politischen Kalkül nicht auf. Abzulesen ist diese Differenz allein schon am Figuren-Konzept des Stücks. Der „Ansager" - eine epische Figur im Sinne Brechts, ein Gescheiterter und Verlorener im Sinne Horväths - , dirigiert den Ablauf des Geschehens und stellt die Verbindung her zwischen den einheimischen Schauspielern und den aus der Welt ökonomischer und kultureller Macht angereisten Regisseuren. Er ruft die „möglichen Akteure des Films a u f , skizziert und kommentiert in aller Kürze die Rollen und Handlungssequenzen. Manchmal aber verirrt er sich in seinem „Zettelkram", hält sich selber nicht an den Verlauf der Geschichte im sowieso „provisorischen Szenario" und fällt, wie alle andern auch,
Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg
aus seiner Rolle, wenn ihn die Sprache der Einheimischen - die „Urlaute", wie die serbische Sprache sarkastisch genannt wird - und seine Erinnerungen „wie unwillkürlich1'' treffen (FE 40) und ihn abirren lassen aus dem vorgegebenen Text.
I I . 2 A B I R R E N INS
UNGEWISSE
Das Herausfallen aus den Rollen, das Abirren und Irrewerden am vorgegebenen Text, das Verstummen oder plötzliche Hineinschreien in den Text eines anderen, dies Sprechen und sich Widersprechen hat im Stück thematische Funktion. Luis Machado, der eine der Regisseure, sieht darin, am Schluß des Stücks, den nachhaltigsten Eindruck des zuletzt von beiden abgebrochenen Filmunternehmens: „Was mir am stärksten nachgeht: daß die Leute hier mit dem, was sie geäußert haben, immer wieder etwas grundanderes sagen wollten. Ihre Gesten, ihre Augen und ihre Stimmen widersprachen ihrem Reden, fast Wort für Wort" (FE 121). Diese Widersprüchlichkeit hat im Stück vor allem die Erklärungen des Krieges und seiner Vorgeschichte erfaßt, wie sie von den Experten-Rollen - dem „Fremdenführer", dem „Chronisten", dem „Historiker" - geliefert werden. Eben hat z. B. der „Fremdenführer" den Krieg aus dem Gegensatz von kosmopolitischer Stadt und barbarischem Hinterland erklärt, als er auf einmal, nach seinem Abgang vom Podium, verirrt und verloren noch einmal in den Saal zurückkehrt und, was er gesagt hat, wieder in Frage stellt mit dem Hinweis, daß jener „erste Tote, der Hochzeiter, mit dem der Krieg dann losbrach" - „zu denen vom Land" gehörte: „Aber für das Bewerten eines Krieges - was zählt es, auf welcher Seite der erste Tote war? (Gemeinsam mit dem ANSAGER:) Oder doch? Oder gerade das? In diesem speziellen Krieg gerade das? {Irrt ab in die Küche.)" (FE 21) Es ist dieses Abirren vom vorgezeichneten Weg, das die gängigen Meinungen in Frage stellt und zu den Fragen führt, auf die es eher ankommen dürfte, und zugleich ist dieses Abirren auch ein Symptom des Raum- und Ortsverlusts, dem alle Figuren auf der Bühne verfallen scheinen: der „Dorfchronist" mit seiner Theorie vom furchtbaren Auseinanderfallen der profanen Zeit in einzelne Zeitrechnungen (FE 28) und dem „Einander-Unsichtbarwerden" der Nachbarn (FE 29), oder der „Historiker", der die Geschichte des Landes als einzige Barbarei beschreibt, um in einer abstrakten utopischen Neukonstruktion des Staats das Heil zu suchen Erklärungsansätze, die, kaum vorgeführt, schon wieder in sich zusammenfallen, durch andere abgelöst werden, Rolle waren, Pose ... Dadurch, daß die Einheimischen, die unmittelbar vom Krieg betroffen sind, aus der Sicht der westlichen Medien über sich reden müssen, bricht ständig der
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Hans Höller
Widerspruch des Ich gegen seine ihm fremde Rolle auf, gegen seine Sprachmaske und Verkleidung, wozu noch kommt, daß einzelne Gestalten in das vorgegebene Defilee der Meinungen hineinschreien, von draußen hereinstürzen wie „Ein Wald- oder Irrläufer" und „Ein Häftling oder Irrer" - oder von draußen hereingeschneit kommen wie „Ein Hereingeschneiter oder Grieche oder Ex-Journalist", wodurch man nie genau weiß, wo die Grenzen verlaufen zwischen den vorgegebenen Rollen und den dahinter stehenden Personen. Das ergibt im Stück ein gebrochenes und zugleich vielstimmiges Sprechen, weil die einzelnen Rollen in mehrere Stimmen zerfallen. Selbst ein chorisches Element fehlt nicht, da das Küchenpersonal, zwar durch eine Wand von der Vorderbühne abgetrennt, aber durch eine Schwingtüre mit dem Geschehen im Vordergrund in Verbindung steht und mit gemeinsamen Versen, Litaneien, rhythmischem Sprechen und Gesang von dort zu hören ist. Nicht zu vergessen in dieser Vielstimmigkeit des Stücks die Musik als ein anderes Medium der Dezentrierung der Meinungen und Ansichten, zuletzt als Öffnung eines unverrückbar, unveränderbar sich ausnehmenden Weltzustands O'HARA [...] besetzt, ineinander verbissen, lückenlos die Erde. Es ist die Zeit nach den letzten Tagen der Menschheit, unabsehbare Zeit. MACHADO Und das sagt ein Amerikaner? O'HARA Ja. Balkanisch-arabische Musik aus der Vorhalle. (FE 124^) Nur in der Konfrontation zwischen dem „Griechen", dem „Ex-Journalisten", dem „Hereingeschneiten", also der Rolle, die am ehesten an den Autor denken läßt, und den „Drei Internationale(n) oder Mountainbikers" stehen einander klar umrissene Positionen gegenüber: die offene Weltwahrnehmimg des Erzählens konfrontiert mit der Politik militärischer Territorialisierung, mit Vermarktung und politischer Funktionalisierung. Nicht zufällig wurden in den Rezensionen des Stücks gerade diese scharf umrissenen Positionen am häufigsten zitiert.
I I . 3 „ G R U N D T O N " : „HEULENDES E L E N D "
Den „aus dem Grundton aufsteigenden und diesen ins Spiel verwandelnden Ton" hat Handke in einem Brief an Claus Peymann als „den des Sarkasmus" bezeichnet, „eines Sarkasmus des zum Spiel, zum notwendigen Spiel, werdenden Uberund Weiterlebenswillens". „Sarkasmus", gibt er zu bedenken, komme „von sarx = griechisch ,Fleisch'": „eine Sprache, plus Erzähl-, plus Spielweise, die - und das
D i e Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom K r i e g
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wäre ein übersetzter Grundton - ständig in lebendiges Fleisch beißt, ins eigene des jeweiligen Sprechers und Spielers, aber auch ins Fleisch des Zuschauers, Zuhörers".? Das Stück zum Film vom Krieg ist eines der verzweifeltsten politischen Stücke der zeitgenössischen Literatur. Der Film kommt in diesem „Stück" nicht zustande, weil „zu viel Schmerz in der Geschichte" ist - „schneidendes Weh", vor dem der Regisseur zurückscheut. „Film und Tragödie gehen bei mir nicht zusammen", sagt O'Hara gegen Schluß (FE 123). Nach den Worten von Luis Machado - „besetzt, ineinander verbissen, lückenlos die Erde. Es ist die Zeit nach den letzten Tagen der Menschheit, unabsehbare Zeit" (FE 1240 - ist dann aus der Vorhalle des Hotels „Balkanisch-arabische Musik" zu hören. Ein Fest: „Wenn schon kein Film, dann wenigstens ein Fest. Am liebsten war ich immer mit Leuten, die ein Fest feiern." (FE 125)
I I I D R A M A T U R G I E DES UND
„UBERLEBENS-
WEITERLEBENSWILLENS"
I I I . 1 „ D I E L I T E R A T U R IST R O M A N T I S C H "
Warum dieses Stück über die Zeit „nach den letzten Tagen der Menschheit" dennoch kein Endspiel ist, warum es vielmehr dem „Uberlebens- und Weiterlebenswillen" aufhilft, möchte ich im letzten Teil meines Beitrags erklären. Luis Machados Einsicht, in einer Endzeit angekommen zu sein - „besetzt, ineinander verbissen, lückenlos die Erde"
das ist die Einsicht illusionslosen politischen
Denkens. Aber diesem Realitätssinn wird auf der Ebene des erzählerischen Theaters von Beginn an widersprochen: Luis Machado, Sohn des 1938 nach dem Spanischen Bürgerkrieg ins Exil getriebenen republikanischen spanischen Lyrikers Antonio Machado, und der US-Amerikaner John O'Hara, in dessen Namen die Hommage an John Ford hineingeschrieben ist und die Erinnerung an die Filmheldin des berühmtesten Films über den amerikanischen Bürgerkrieg, Scarlett O'Hara, durchkreuzen von Anfang an die Vorstellung einer „lückenlos" besetzten, zwischen Europa und den U S A aufgeteilten Welt, weil sie weder moralische Selbstgerechtigkeit ins Treffen fuhren noch europäisch-amerikanische Geopoli-
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Peter Handke. Brief an Claus Peymann, 28. Februar 1999. In: Programm-Heft zu Peter Handke: Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg. Hg. vom Burgtheater Wien. Programmbuch Nr. 220. Premiere: 9. Juni 1999, S-7f.
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tdk auf dem Terrain der Kunst betreiben wollen. Auch sie verlieren den Boden unter den Füßen und irren ab aus den Richtlinien ihrer „Produktionsgemeinschaften hüben und drüben" (FE 13). Sie taumeln auf die Bühne, wie andere Figuren in anderen Werken Handkes, die Welt ist ihnen zwischen Traum und Erwachen fremd geworden, mit dem „Eintritt ins Land hier" wird ihnen die Welt zur nahen Fremde - „Traumfremd. Traumnah." (FE 12) Ein politisches Stück beginnt mit der Reminiszenz an die Traumvergessenheit der Romantik und erinnert daran, daß die Literatur romantisch ist... Und so wie vor dreißigjahren, als Handke mit seinem Essay die engagierte Beschreibungsliteratur der Gruppe 47 herausforderte, stellt die heutige „Einbaum"-Erzählung auf der Bühne eine Herausforderung der politisch-medialen Definitionsmacht der Realität dar. Die Literatur ist romantisch, das war die ironische Formel für die dezentrierende Kraft des Erzählens, für, mit den Worten aus dem bisher letzten Roman, ihre ,Ausweich- und Vermeidungs- und Gegenläufigkeitsbewegungen" (B 63 5) und für ihre Fähigkeit zur Verwandlung. Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg ist ein Stück über das weiterhelfende Eingreifen, auch wenn sein Titel so provokant klingt wie der von der Literatur, die romantisch ist. Und dennoch wird weder hier noch dort der Flucht in den Mythos das Wort geredet. Der „Einbaum"-Mythos stellt keine romantische Erlösung aus der zerfallenen Gesellschaft in Aussicht, und die „Fellfrau" im Stück ist zwar eine Helferin, aber weder Urmutter noch Verkörperung regressiver Weiblichkeit. Sie gebraucht ihre Fäuste und Beine und tritt und schlägt den Mann, den Waldläufer, der, wie die anderen auch, durch den Krieg zur Berührung unfähig geworden ist, und es fliegen endlich im alles erhaltenden Kampf der Geschlechter „buchstäblich die Fetzen und die Funken " (FE 1 1 1 ) , weil es zu einer ersten wirklichen Berührung nach dem Krieg kommt. Unmittelbar danach folgt die Apotheose der Himbeere, „das Hohelied der Waldfrüchte", wie es im „Spiegel" ironisch heißt, vom Waldläufer „gesungen" - und verlacht von den Kritikern des Stücks, die wenig Sinn hatten für diese obszöne Evokation des Eros in einem Stück über den Krieg, für das Genießen, dieses Ein und Alles der Himbeere, um die sich die Männerwelt dreht: ein Prosagedicht auf die menschlichen Sinne, auf die Finger, auf die Hände, die nicht nur töten können, auf den Mund, kurz, auf den Menschen als umsichtiges, zum Genuß fähiges Wesen. Die kleine obszöne Erzählung des Waldläufers leitet über in den Tanz aller - „Er ist mit der F E L L F R A U dabei ins Tanzen geraten; die anderen tanzen, im Sitzen, mit." (FE 112) - , und man versteht O'Hara, der, wieder einmal, aus der Rolle fällt, weil dieses - letzte - sensualistische Waldlied der Romantik für ihn, im Gegensatz zu den vielen Kritikern und Kritikerinnen des Stücks, nicht Regression bedeutet - „Kein Rückfall" (FE 112).
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I I I . 2 „KÖRPERPOLITIK"
Ich habe mich durch die Zeitungsbesprechungen des Stücks durchgelesen. Kaum eine Dummheit oder schlechte Absicht, die dem Autor und seinem Stück nicht unterstellt würde. Von einer „Mixtur aus postmoderner Antimoral und reaktionärem Mystizismus", einem „gefährlichen Unfug", mit dem - „vermutlich" „auch" Handkes „Irrweg zu Milosevic" beginnt, ist in der Rezension von Thomas Assheuer in der Z E I T die Rede;8 dazu passend Titel und Untertitel von Joachim Kaisers Rezension in der FAZ, „Gerechtigkeit für den Stammtisch", „Prosit, Serbien";' „ungewollt" gebe uns Handke das „Recht", sein Stück als „gefälschte Geschichte" 10 zu entziffern; „Die Fahrt im Einbaum" ein „Dokument heilloser Sprachverwirrung und -Verhunzung, dessen Autor aufs Gräßlichste vernebelt und erkitscht";11 Handke bediene sich in diesem Stück „der Edelfederpoesie prätentiöser Feuilletons - Aber vielleicht ist diese Mimesis an den Feind ja der erste Schritt zur Versöhnung". 12 Neben solchen rüdesten Verrissen kann man in einzelnen Rezensionen ganz ungewöhnliche Einsichten zum Stück entdecken. Ein Vergnügen, dem Blick von Christine Richard in der „Berliner Zeitung"^ zu folgen, wenn sie das Stück als ein „Spiel vom Fragen und Hinterfragen" sieht, als ein „Maskenspiel", hinter dem mögliche Deutungen des Balkan-Konflikts aufblitzen, um weitergedacht zu werden. Wer auf „,Sprachsinn'" und „,Feinstgefühl'" besteht, zitiert sie den „Griechen" und denkt dabei an ihre Rezensentenkollegen, kann nur ein unrealistischer Träumer sein. Daß Handkes Theatersprache auf eine neue ,Berührung' hinziele, „nachdem die Körper einander nur aggressiv begegneten", sei „glatt" von den Kritikern überlesen worden, von den Handke-Kritikern, die vor noch gar nicht so langer Zeit seitenlange Rezensionen über „Körperpolitik" verfaßten, „über die Geschichte der Sinne, des Riechens, Schmeckens, Liebens". „In Zeiten des Kriegs", schreibt die Rezensentin im Frühjahr 1999 in der Zeit des Krieges der Nato gegen Serbien, „zählen nur Flucht-, Schutz- und Angriffsmeuten". Sonst findet sich in den Rezensionen zum Stück kaum auch nur ein Wort über die,filigrane' Gegenschrift (Karl Wagner) zur Politik des Krieges: die Küche, aus der das Licht, als „einziges" heißt es in der ersten Regieangabe, „helf und bestän8
Irrfahrt im Einbaum, 29.4.1999.
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11.6.1999.
10 Caroline Fetscher: Der Irrläufer. In: Der Tagesspiegel, 8.5.1999. 11
Wolfgang Höbel: Besinnungslose Kapitulation. In: Der Spiegel, 14.6.1999.
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Klaus Nüchtern: Erkenntnis durch Himbeeren. In: Falter, 14.-20.5.1999.
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11.6.1999.
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dig durch das „Bullauge" in den Raum leuchtet (FE 9); die bildhafte „Dramaturgie der Geschlechter" (Gerhard Scheit), die im ersten Bühnenbild auf die dramatische Ausdeutung wartet: ein „dicker toter Baumstamm" neben der „einzige[ri\ Zier im Saal", dem „immergriine[n] Strauch, obenaufein Kinderhandscbuh". (FE 10) Den Einbaum rechnete man gleich zum reaktionären Gerümpel. Klingt der Titel Die Fahrt im, Einbaum nicht nach Heidegger? Eine „Fährte" auf einen „Heideggerschen Holzweg"? Und entbehre der zweigliedrige Titel des Stücks nicht jeder „Dialektik" eines „inneren Zusammenhangs"?"» Der Einbaum als Bild für statisches Sein und mythische Regression?
III. 3
ÜBERSETZUNGS-WISSENSCHAFT
In der Erzählung der „Fellfrau" erweist sich der Einbaum - so viel zum statischen Natur-Sein - als ein sehr bewegliches Gefährt, das an das „Fahrzeug" des Erzählens bei Handke erinnert. '5 Er fahrt durch Tunnels, setzt über Paßhöhen und durch Furten, stellt Verbindungen her zwischen verschiedenen geographischen Räumen, statt Bild eines statischen Seins und antizivilisatorischer Regression erscheint er eher als Bild des Übersetzens in andere Räume, eines Hinüber und Herüber, ein Bild des Übersetzens selber, des Angrenzens an die anderen.16 Gefragt, wo der Einbaum jemals wieder zu finden sei, antwortet die „Fellfrau": „An der Grenze zwischen Schlafen und Wachen. Im tiefsten Dunkel. Mitten im Winter. Im Überwintern." (FE 117) Wir kennen diese Grenze „zwischen Wachen und Schlafen" vom Beginn des Stücks, wenn die zwei Regisseure in dieses Zwischenreich stolpern, wo ihnen das Bisherige fremd wird, und das Nicht-mehrVerstehen sie auf den Weg bringt zum Verstehen einer widersprüchlicheren Wirklichkeit als der gewohnten, wo das Ich nichts Festes mehr ist, jeder ein mit sich zerfallener Kaspar, der: nur: zufällig: ich: ist. „Der Weg vom Ich zum Ich ist höchst lückenhaft. Allenthalben pfeift der Wind hindurch",hatte Hans Mayer 1968 zum ersten Schluß von Handkes Kaspar geschrieben. 14 Gerhard Scheit: Ein Volksstück. Über Handkes Fahrt nach Serbien und Peymanns Fahrt nach Berlin. In: konkret, 7.7.1999, S. 4Öf. 1j
„Erzählung, geräumigstes aller Fahrzeuge, Himmelswagen" (W 333). Vgl. dazu auch den Beitrag von Werner Michler in diesem Band. 16 „an einem Fußballplatz stehen in einem fremden Land. ,Ein toller Schuß!' rufet du aus. ,Ja!' ruft jemand neben dir. Ihr schaut einander an: Es ist dein Feind aus dem Krieg. Und ab da fahrt ihr miteinander im Einbaum!" (FE 116). 17 Hans Mayer: Kaspar, der Fremde und der Zufall. Literarische Aspekte der Entfremdung. In:
Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg
in
Die Fahrt im Einbaum endet nicht, wie von der Kritik behauptet, im „deutschen Tief- und Stumpfsinn",18 sondern in einer raffinierten Bedeutungsverzweigung des zirkulierenden Einbaum-Signifikanten: in der Forderung nach einer neuen, befreienden Kunst des Übersetzens. Was Luis Machado „am stärksten nachgeht: daß die Leute hier mit dem, was sie geäußert haben, immer wieder etwas grundanderes sagen wollten. Ihre Gesten, ihre Augen und ihre Stimmen widersprachen ihrem Reden, fast Wort für Wort" (FE 121); und John O'Hara, der betont antiintellektuelle amerikanische Western-Regisseur, begründet, ,grundanders', als es sein Rollen-Klischee erwarten läßt, mit einer Nietzsche-Anspielung eine neue Ubersetzungswissenschaft: „Mir scheint, jeder hier bräuchte zeitweise einen Ubersetzer. Keinen Gott, aber einen Ubersetzer - einen Simultanübersetzer. Es gab wohl einmal die guten Ubersetzer. Aber die, sagt man, sind tot." (FE 1 2 1 ) Neue Übersetzer werden gebraucht. Ihr Übersetzen wäre die höchste Wissenschaft; die hilfreichste. Oft, im gegenseitigen Irrwitz und Haß, lacht eine Seite darüber im tiefsten Innern. Doch das Lachen dringt nicht ins Freie. Übersetzer her, für beide Seiten - vielleicht lacht es ja genauso im Innern des andern. Übersetzer her, simultan! (FE 122)
I V K L E I N E HISTORISCHE D I A L E K T I K DES E I N B A U M S I V . 1 ABFAHRT IN EINEN REGRESSIVEN G E M E I N S C H A F T S - M Y T H O S ?
Schwer nachvollziehbar, warum ein Stück, das an Nietzsche und Freud denken läßt, auf „echte Heimat" und „wahres Sein" hinauslaufen soll. Und die „gemeinschaftliche Fahrt im Einbaum"?1» Die mythische Erzählung der „Fellfrau" imaginiert zunächst die umwegige geschichtlich-geographische Herausbildung eines Landes - von Jugoslawien - bis zu seiner Präsenz in Wort, Gefühl und Erinnerung. „Ein Manifest?", fragt einer der Zuhörer, „Zerstörst du so nicht den Einbaum?" (FE 118) Und die „Fellfrau" antwortet, daß der Einbaum „unzerstörbar" sei, eine Idee, der sie, mit den Worten eines Malers, „der die Farbe aus dem Bild rinnen" ließ, alle Möglichkeiten der Realisierung zurückDers.: Das Geschehen und das Schweigen. Aspekte der Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969, S. 1 0 1 - 1 2 5 , Zit. S. io2f. 18 Gerhard Scheit (Anm. 14), S. 46. 19 Ebd., S. 46.
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gibt, 20 so daß die Fahrt im Einbaum an jenes „Wintermärchen" der Literatur erinnert, das Ingeborg Bachmann in ihrem böhmischen Manifest, Böhmen liegt am Meer, entworfen hat: die Utopie des Aneinandergrenzens einer Stadt und des Meers, der Traum von den wiederhergestellten Brücken, vom Übersetzen zu anderen Ufern und vom „guten Grund" tragfähiger sozialer Beziehungen. Als Bühnenrequisit setzt sich der Einbaum in theatralischer Sympathetik mit dem Bühnengeschehen von selber in Bewegung. Das Bühnenvolk hat eine kunstvoll kindliche Symphonie aus Waldgeräuschen erzeugt, dann „ Windstöße, Sturmstöße" und „Bushupen, Fährschifftuten - Geräusche sichtlich gemacht vom Bühnenvolk seiher" (FE 113), und Fahrt und Aufbruch des Einbaums sind akustisch vorbereitet. „Bus" und „Schiff" rufen andere utopische Fahrzeuge im Werk Handkes in Erinnerung, die Amerika-Utopie des Mississippidampfers in Der kurze Brief zum langen Abschied oder die kleinen Utopien einer schönen Gesellschafdichkeit in den öffentlichen Verkehrsmitteln, den Bussen und Bahnen, die der Autor als einstiger Fahrschüler aus eigener Erfahrung kennt. Der Autor, der vom geräumigen Erzähl-Fahrzeug in Die Wiederholung spricht,21 hat, auch das sei nicht vergessen, wenn in den Rezensionen so leichtfertig von Handkes Einfahrt in die regressive Heimatideologie die Rede ist, in Am Felsfenster morgens und andere Ortszeiten, seine Erzählwege mit anderen, widerständischen ,Fährten' in Beziehung gesetzt Die seltsamen Fußpfade zwischen den Gleisfeldern der Bahnhöfe, von Schiene zu Schiene wechselnd, an abgestellten Waggons vorbei: diese Eisenbahnerpfade sind wie die Umkehrung der Zöllner- und Grenzwächterpfade, und ich dachte wieder, gestern mich auf diesen Pfaden durchs Gelände schlängelnd, an die Eisenbahner als die fast einzigen Widerständler unter dem H-tum, als die Hingerichteten. (FF 483) Das Einsteigen aller in den Einbaum erweist sich auf der Bühne als Ding der Unmöglichkeit, der mythische ,Ein'-Baum paßt nicht für die vielen, aus der regressiven Begründung einer ,Gemeinschaft' im Stück wird es - trotz anders lautender Überzeugung der Rezensentinnen und Rezensenten - nichts. Zwar läßt die „Fellfrau" alle „Einheimischen" auf der Bühne hinlegen und fügt sie „mit den Gesten eines Wetfiingenieurs" zusammen, daß sie alle „nicht mehr voneinander zu unterscheiden" sind, so wie sie selber „auf der Stelle ununterscheidbar" wird: „der Einbaum ist 20 „Ein Maler ließ die Farbe aus dem Bild rinnen. Ein Zuschauer sagte: ,Aber so geht doch die Idee verloren!' Der Maler antwortete: ,Nein, so geht die Idee nach Hause!'" ( F E 119). 21
„Erzählung, geräumigstes aller Fahrzeuge, Himmelswagen" (W 333).
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bereit zum Stapellauf, wobei zuletzt sich am Bug noch eine Flagge oder ein Segel aufrichten" (FE i2of). Und hier, auf dem theatralischen Höhepunkt des Stücks, wo es um die Veranschaulichung der „gemeinschaftlichen Fahrt im Einbaum" geht, kommt die Dialektik ins Spiel: Das „Gefährt" setzt sich „in Bewegung. Einzig die Z W E I R E G I S S E U R E und der A N S A G E R bleiben an ihren Plätzen." - Nur, daß sich das poetisch-politische Handke-Theater nicht abfindet mit dem Ununterscheidbar-Werden-der-Einzelnen: Von oben senkt sich nun eine Riesenapparatur herab, in allen möglichen Farben bemalt, mit den Wimpeln und Sternen und Sternenbannern sämtlicher möglicher Staatengemeinschaften bestückt, lustig anzuschauen, glitzernd, einen sonoren, immer stärker raumfüllenden Ton von sich gebend. DIE ZWEI REGISSEURE Eine S.T.O.? Eine Stalinorgel? ANSAGER Eine NW.O. Eine Neue-Welt-Orgel. Im Sinken fächert die Maschine sich aneinander und öffnet lange, knallbunte Stahlfinger. Diese Finger schieben sich fastfürsorglich zwischen alle die verfugten Leiber und schieben diese sanft auseinander, jeden woandershin und zuletzt, jetzt aber unversehens brachial, jeden an einer anderen Stelle zum Saal und zur Szene hinaus. Entschwebendes Gerät dann, wieder bühnenhimmelwärts. Dann Stille. Filmlicht aus. Nur noch das Licht an der Rampe - dort die drei Zurückgebliebenen. (FE 12of)
I V . 2 M U S I K B O X IN DER S T R A F K O L O N I E
Die „Neue-Welt-Orgel" erscheint am Bühnenhimmel wie eine Art Jukebox mit Greifarmen, eigentlich „Stahlfinger[n]", Wieder-holung jenes befreienden Erlebnisses der Jukebox und der Musik der Beatles in den frühen sechziger Jahren, „,Auffahrt'P,Entgrenzung'? ,Weltwerdung'?" (VJ 88) Es ist, als wäre damals, in den sechziger Jahren, das Ende der Nachkriegszeit noch einmal - oder überhaupt erst? - erlebt worden, das Gefühl der Befreiung aus der Bedrücktheit und Verbissenheit der Kriegsgeneration, das Handke, der Beatnik der ,deutschen' Literatur der sechziger Jahre, auch in seinem literarischen Auftreten verkörperte. Die mentalitätsgeschichtliche Bedeutung dieses Generationsbruchs kann erhellt werden durch eine Studie Zur Psychologie des deutschen Volkes (1945), die Jean Amery, damals noch unter dem Namen Hans Mayer, in der Nachkriegserwartung eines überlebenden KZ-Häftlings verfaßte. Bei dem Ver-
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such zu verstehen, welche gesellschaftlich produzierten Dispositionen bei den Deutschen die bereitwillige Unterstützung von Krieg und Vernichtung ermöglicht hatten, kommt er auf das Drohende, Finster-Verbissene des deutschen Arbeitsethos zu sprechen, das der Fähigkeit zum irdischen Glücklichsein im Wege stehe. Es fehle ihnen, liest man in Amerys Versuch über das Unglück der Deutschen, „alles Leichte, Spielerische, das wundervolle ,Laisser faire' der romanischen Völker, alles Elegante, Luxuriöse". Und diese „Freudlosigkeit" und „Unfähigkeit zur Freude" sei „das Resultat des Fehlens eines vernünftigen, diesseitigen Lebenssinnes". Allein im Gesichtsausdruck wirke ein junger Engländer „im Gegensatz dazu fast immer fröhlich, zufrieden, beinahe kindlich".22 Noch im verzweifeltsten aller seiner Stücke behauptet sich Handkes Arbeit an einem vernünftigen diesseitigen Lebenssinn. Der Widerspruch zum wunschlosen Unglück, den sein ganzes Werk trägt, senkt sich im Stück zum Film vom Krieg gegen Schluß als „lustig" anzuschauende „Riesenapparatur" und „Neue-Welt-Orgel" vom Bühnenhimmel herab: heitere Selbstironie auf Handkes vielkritisierte poetische „Heilsmaschine" - und bewußteste Umfunktionierung jener anderen, kafkaschen Strafmaschine, die In der Strafkolonie den,Schuldigen' das,Urteil' mit spitzen Stahlfingern auf den Leib schrieb.23
22 Hans Mayer [Jean Améry]: Zur Psychologie des deutschen Volkes (1945). In: Jean Améry: Werke. Bd. 2 : Jenseits von Schuld und Sühne. Unmeisterliche Wanderjahre. Ortlichkeiten. Hg. v. Gerhard Scheit. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 500-534, Zit. S. 5i6ff (= Jean Améry. Werke. Hg. v. Irene Heidelberger-Leonard). 23 Den Hinweis auf Kafkas Straf-Apparatur verdanke ich einem, freilich anders akzentuierten, Diskussions-Beitrag von Herbert Gamper. Zu anderen Kafka-Konterfakturen im Werk Peter Handkes vgl. Peter Handke: Wunschloses Unglück. Mit einem Kommentar von Hans Höller. Unter Mitarbeit von Franz Stadler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 84^
Werner Michler
Teilnahme. Epos und Gattlingsproblematik bei Peter Handke Peter Handkes Mißtrauen gegenüber den literarischen Gattungen ist notorisch. Nur selten fuhren Handkes Bücher Gattungsbezeichnungen, und sie scheinen diese paratextuelle Markierung, diese Subsumtion unter eine Marke zu meiden. In Handkes frühen Reflexionen wird dieses Mißtrauen gerechtfertigt mit der Automatisierung von Weltbildern, die andere als vorstrukturierte Erfahrung nicht mehr zuließen; er zieht daraus die Konsequenz, man müsse dem „genrehaften Schauen der Leute ein Schnippchen [...] schlagen" (IBE 86f), jenem genrehaften Schauen, das schon den Schüler „an einem schönen Sommertag nicht den schönen Sommertag, sondern den Aufsatz über den schönen Sommertag" (IBE 14) erleben läßt. Poetologisch ist diese Werkphase vom formalistisch inspirierten Verfremdungsgestus beherrscht; und wenn es bei Handke eine sich durchhaltende Polemik gegen eine Gattung gibt, dann die gegen den Roman. 1 In der Geschichte des Bleistifts steht dann allerdings schon „der Himmelsschrei" „des epischen Schriftstellers" gegen das „Krachlederne der,Romane'" (GB 374); ein Jahrzehnt später noch wird von einem Ereignis gesagt, es sei „um so viel schöner, wirklicher und weiträumiger, daß sich die bloße Szenerie entfaltete, diese Stunde lang, ohne einen sie verengenden Roman." (Th 33, N T 13) Daß der Titel des zuletzt zitierten Prosastücks Epopöe vom Beladen eines Schiffes heißt, weist die Richtung, die Handkes Auseinandersetzung und Kritik der Romanform genommen hat. Handke hat auch immer wieder gerade jene Autoren des Realismus aufgesucht, die - wie Adalbert Stifter und Gustave Flaubert - die Grenzen des Romans gegen das Epos hin abgeschritten haben (NB 333). Anders aber als das Experiment mit dem Kriminalroman im Hausierer, dem dann immer wieder die Auslotung einer anderen Form hätte folgen sollen (IBE 28), ist das Epos eine zentrale Kategorie in Handkes Denken der achtziger und neunziger Jahre geworden und wohl jener Gattungsname, der in seiner Erzähl-
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In seiner programmatischen Schrift Die Literatur ist romantisch, seiner Auseinandersetzung mit der „engagierten Literatur", bezieht sich Handke ausgerechnet auf Brechts Hexameter-Fassung des Kommunistischen Manifests - also auf Brechts eigenen Beitrag zum Epos - und unterstellt Brechts Unternehmen die Entpolitisierung des Manifests (IBE 48f).
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Werner Michler
und Reflexionsprosa am häufigsten emphatisch besetzt wird. Es geht jetzt in Handkes Schreibbiographie nicht mehr wie zuvor um die Erforschung einer Form, sondern um die Bemühung um eine literarische Gattung, in der Lebens-, Anschauungs- und Schreibform zu konvergieren vermögen;2 um die Bemühung der Stabilisierung einer solchen Form und den Versuch, jetzt gewissermaßen ein solches „genrehaftes Schauen" einzuüben; um das Einverständnis mit einer Gattung und ihren Normen, unter Einbezug ihrer weltbildstiftenden Wirkungen wie allerdings bei Handke nicht anders zu erwarten, unter deren Dehnung, Extrapolation, Extremfuhrung. Gattungen zeigen einen Doppelcharakter: als beschränkende Normen und als Apparaturen zur Freisetzimg von Produktivität. So ließe sich zunächst auch der Gebrauch umschreiben, den Handke vom Epos macht: Disziplinierung, Unterwerfung unter ein,Gesetz' und Selbstermächtigung zur Produktivität endang dieses Gesetzes. So disponiert, sind Gattungen dann nicht mehr nur literarische Kategorien; sie gliedern sich ein in das Ensemble der klassifikatorischen und produktivierenden Praktiken einer Gesellschaft, an ihnen lassen sich Probleme von Repräsentation und Klassifikation, von Inklusion und Exklusion studieren; insbesondere auch Fragen der Figur der Subsumtion. Vielleicht kann ein Aspekt von Handkes Schreibprojekt - und seine Schwierigkeiten - auf dem Umweg über die Gattungsreflexion sichtbar gemacht werden. Schon Handkes Abschied von der Innovationspoetik in der Bemühimg um eine stabilisierbare „Form" wurde ihm allerdings von der literaturwissenschaftlichen wie von der journalistischen Kritik übelgenommen. Daß es nun ausgerechnet die Gattung Epos sein sollte, der „Form" „Dauer" (vgl. das Gedicht an die Dauer) zu verleihen, zog die schärfsten Angriffe nach sich, die darin einen Verstoß gegen Basisvorstellungen von ästhetischer Moderne sahen. Zunächst soll im folgenden Handkes Neukonzeption der Gattung an der Figur der Teilnahme, insbesondere von Die Wiederholung (1986) an der epischen Tradition, aufgewiesen werden (I), dann sollen einige Schwierigkeiten des Versuchs, mit einer Gattung im Reinen sein zu wollen, überlegt werden (II); geschlossen wird mit einem Ausblick auf Konsequenzen des Konzepts für die Ordnungen des Wissens und des Politischen (III).
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Zu dieser Bewegung im Werk Handkes vor der Wiederholung vgl. Christoph Bartmann: Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß. Wien: Braumüller 1984. Nach Fertigstellung dieses Beitrags erschien Heiko Christians: Der Roman vom Epos. Peter Handkes „Poetik der Verlangsamung". In: Hofmannsthal-Jahrbuch 10 (2002), S. 357-389.
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I Was sein episches Projekt betrifft, hat sich Handke in Die Wiederholung sicher am weitesten exponiert. Die Selbsteinschreibung in eine Gattungstradition wird bei Handke überdeutlich durch intertextuelle Referenzen herausgestellt: auf Vergil (W 3093, die Georgica), auf Homer (Odysseus, Filip Kobal als betrunkener Telemach, W 307), und am Ende des Textes wird noch Ovid vom Pontus zurückgerufen (W 333). Dante erscheint in der Wendung, der Erzähler sei „in der Mitte [s]eines Lebens" (W 332) angekommen, und die sich stufenförmig verjüngende Doline erinnert an Dantes kosmologische Topographie.^ Auch als Plotmodell lassen sich in der Struktur mehrfacher,Heimfahrt' die Irrfahrten des Odysseus und die Suchfahrten des Telemach nach dem Vater erkennen. Darüber hinaus sind aber die oft explizierten traditionellen Gattungsregeln befolgt: die Systemstelle der Museninvokation wird gleich doppelt realisiert, als Anrufung des Vaters (W 13Q am Beginn und der „Erzählung" selbst am Schluß des Textes; der Erzähleingang erfolgt nach der ersten Invokation „in medias res"5; die Handlung ist einsträngig, der,Vortrag des Hauptsatzes', die Themennennung im Proömium läßt sich erkennen; der mystische und mythologische Subtext6 ließe sich als zeitgemäße Form von Götterapparat und Wunderbarem verstehen. Die Prosa der Wiederholung ist streckenweise stark rhythmisiert, was sich etwa an den adoneischen Schlußklauseln vieler Absätze zeigen läßt, oftmals regelrechte halbe Hexameter: „ins I größere I Leben", „in die Er I findung" (W102); „war, was nun I stockte, der I Atem" (W103); „ihn einen I ,Anruch"' (W107), „einfach: ,Des I Morgens!'" (W 115), „unsere I langsame I Gegenwart I herrschte" (W 128). Diese daktylisch rhythmisierten Passagen finden ihre genaue Entsprechung in gegenrhythmischen (anapästischen vs. daktylischen, eingeleitet durch chorjambische) oder rhythmusbrechenden, wenn etwa im Schreckenstraum der „Geist der Er I Zählung" „böse" wird (W110): „Sie [die Erzählung, WM] schwang sich nicht
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Der unterirdische Fluß Timavus erscheint bei Vergil in Aeneis I, V. 244-246; bei Handke wieder in V J 118; ähnlich W 298. In Die Tauben von Pazin wird die dortige „Einsturzdoline" als Ort genannt, an dem „Dante das Inferno betreten haben soll" (NT 11), und so Dante, Vergil, die Doline und der unterirdische Fluß, der in Pazin in einer spektakulären Karsthöhle verschwindet, zusammengebracht. Die Formel „in medias res" auch in VJ 71. Dazu Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne: Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler 1989, zu Handkes Wiederholung S. 172-207. Zur Frage der „Wiederholung" vgl. allg. Klaus Bonn: Die Idee der Wiederholung in Peter Handkes Schaffen. Würzburg: Königshausen + Neumann 1994 (= Epistemata 124).
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mehr I I aus mir heraus, I mit einem ,Und', I einem ,Dann', I einem ,Als', I I sondern ver I folgte mich, I hetzte mich, I preßte mich, I hockte mir I I auf der Brust, I I würgte mich, I I bis ich nur noch Wörter einzig aus Midauten hervorbrachte." (W 109) Doch immerhin selbst in Daktylen wird von „der Erzählung" gesagt: „Der I Geist der Er I Zählung - wie I böse I konnteer I werden!" (W 110) Die ,Handlung' des "Textes nun weicht stark von den Vorschriften ab, wenn sie keine Haupt- und Staatsaktion, sondern eine Familienangelegenheit vorstellt, die Beschreibung der Suche nach einem verschollenen Bruder, der slowenischer Widerstandskämpfer gewesen sein soll; die angespielte nationale Thematik stellt den Text immerhin in Nähe - und in der Art der Durchführung zugleich in Distanz - zu den nationalen Epen des 19. Jahrhunderts. Doch was heißt Vorschriften? Gottscheds Regelpoetik hatte noch solche Regeln - die eben angezogenen - aufgestellt, für Verfertiger von Exemplaren dieser Dichtart." Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war es nach dem vielbeschriebenen Umbauprozeß des literarischen Produktionsregimes sowie des literarischen Feldes nicht nur mit den Regeln vorbei, sondern auch mit der Möglichkeit' eines zeitgenössischen Epos; das Epos war nun nicht mehr die schwierigste Gattung, sondern die älteste, jene der Kindheit der Zivilisationen. Wenn in der Moderne dem Epos, dessen Systemstelle der .großen Erzählung' der Roman als bürgerliche Epopöe' für die ,Prose der bürgerlichen Verhältnisse' eingenommen habe, noch zu begegnen sei, dann bei den vorzivilisatorischen Völkern, beim schottischen Ossian und seinen Nachfahren und in der Kinderzeit der Zivilisationsvölker:,wiederentdeckt', re-konstruiert werden das Nibelungenlied, das Rolandslied, der Beowulf, entdeckt werden auch jene südslawischen Guslaren des Vuk Karadzic, deren Nachfahren als plärrende nationalistische Folkloristen noch in Handkes Winterlicher Reise zu den Flüssen Donau, Save und Drina lärmen. Für die Moderne kanonisch sind jedenfalls Hegels und Lukacs' bekannte Formulierungen, die mit der Kategorie der Totalität operieren; so konnte aus dem Epos eine methodische Selbstverständigungsfiktion der Moderne werden, Chiffre für einen ,naiven' Weltzustand, Gegenbild der Verwicklungen der Moderne; mithin aus einer aktualisierbaren Gattung eine Idee, eine Gattung mit Prototypen, aber - mit Ausnahme der Ilias - mit nur wenigen Exemplaren. Das Epos, so ließe sich ein wenig forciert formulieren, spielt eine zugleich zentrale wie dubiose Rolle in der Poetik der Moderne; als abwesende, unmöglich gewordene Mitte des 7
Vgl. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Unveränd. photomechan. Nachdr. der 4., verm. Aufl. Leipzig 1751. 5., unveränd. Aufl. Darmstadt: W B G 19Ö2, S. 469-504 (2. Tl., 1. Abschn., 4. Hauptstück: „Von der Epopöe, oder dem Heldengedichte").
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epischen Gattungssystems hört es, ähnlich wie im dramatischen Sektor die Tragödie, im 19. und 20. Jahrhundert nicht auf, seine Rolle zu spielen, sei es in der literarischen Tradition, sei es in der Philologie, und spukt seitdem ruhelos durch die fernere Literaturgeschichte - vielleicht nirgends mehr so gerne aufgenommen wie bei Handke. Im besonderen Fall des Epos verbindet sich schließlich eine immer stärker spontan gewordene, unbefragte ästhetische Geschichtsphilosophie mit der weiteren Vorstellung, daß Gattungen in der Moderne Gegenstand der Subversion seien, bei gleichzeitiger Strafe entweder der Genrehaftigkeit serieller Trivialität oder aber der bewußten Unterbietung der historisch erreichten Standards. Handkes Evokation des Epos mußte hier nachgerade provokant erscheinen.8 Dabei fehlt es Handkes Eposvorstellungen gar nicht an Ideen zur zeitgemäßen' Erneuerung der Gattung: Epopöen benannte Kürzesttexte in Prosa; Epen der Wörter; Epen des Friedens? und des Alltags (Homers heutige Helden wären die Souvlaki-Verkäufer in der griechischen Bahn [NB 1063], Homer selbst vielleicht ein „kindlich-pummelige[r] Kellner [...], aus dem es unversehens hervorsummte, -schallte, -tönte, -klang" [PW 7]); Epen des Protokolls, Epen, die nur aus Klang, Rhythmen und Ikten bestehen, Epen aus Schriftresten, als Gesänge eines „uralten" Sängers, „längst schon verstummt, dessen Gesang nur noch aus seinem Hören und Sehen kommt" (A 19), wie es in dem „Märchen" Die Abwesenheit heißt - jedoch: Epen, nicht Gattungsparodie im Sinn des Russischen Formalismus, sondern vielleicht die bislang konsequenteste affirmierende Arbeit an dieser Form. Das Epos, kann zunächst festgehalten werden, fungiert bei Handke als Medium nicht eines irrationalistischen Salto mortale, sondern als Medium nachgerade cartesianischer Meditation des Narrativen überhaupt.
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Am schärfsten anläßlich der Wiederholung vielleicht bei Jürgen Egyptien: Die Heilkraft der Sprache. Peter Handkes „Die Wiederholung" im Kontext seiner Erzähltheorie. In: text + kritik 24: Peter Handke. 5. Aufl. Neufass. München: edition text + kritik 1989, S. 42-58. An Egyptiens Aufsatz zeigt sich gut, daß der postulierte Ubergang von einer - vormodemen - präskriptiven Regel-, zu einer - modernen - deskriptiven Poetik nie wirklich vollzogen wurde. Regelverstöße' sind nun Verstöße gegen einen geschichtsphilosophisch unterlegten Modernismus und werden am Ausmaß des jeweils konstatierten „Rückfalls" hinter die Standards ästhetischer Modernität gemessen. „Die prinzipielle Aporie" von Handkes Schreibprojekt sei die „Kontamination eines antimodernen Willens zum Epos mit der genuin modernen Selbstreflexion des Erzählens" (S. 56). In nachgerade Gottschedscher Manier werden am Ende des Aufsatzes Projekte von Stefan Schütz, Gerhard Köpf und Hanns-Josef Ortheil genannt, die es besser gemacht hätten (S. 5Öf).
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Wim Wenders, Peter Handke: Der Himmel über Berlin. Ein Filmbuch. Frankfurt/M.: Suhrkamp '1999, S. 57 („Gedankenstimme Homer").
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Aber auch die zweite historische Position um 1800, die,volksepische', erscheint bei Handke, im Bezug zwischen der Sozialität des Epischen und der Einsamkeit des Romanlesers und -schreibers, die in einem epischen Schreiben aufgehoben werden könnte, in der Betonung des Medialen (hier: der Schrift, nicht der Mündlichkeit), in der (slowenischen) nationalen Thematik der Wiederholung und in der im Werk mannigfach wiederkehrenden Vorstellung, das Epische verbinde sich mit dem „Volk": „Man möchte einmal wieder von einem edlen Volk hören" (PW 49), notiert Handke im Umkreis der Wiederholung, aus dem „Epos der Wörter" des slowenischen Wörterbuchs „entstand" da ,,[e]in so zärdiches wie grobianisches Volk [...] vor ihm" (W 201). Gewissermaßen entlang der,Gottsched-Linie' kann Handke zur Langsamen Heimkehr notieren: „Immer wieder: ich grüße dich, Homer!" (GB 132), freilich mit einem delikaten Verweis auf Borges' Homer; endang der anderen, volkspoetischen Linie: „Im Volk verschwinden, als Gegenteil von ,Schwund'" (FF 128). Mehrmals kommt Handke Jacob Grimms romantischer Poetik des oralen Volksepos sehr nahe, an Grimms Projekt gemahnen ja auch die arbiträren, aber zur Welt-Schöpfung geeigneten Ordnungen von Kobals Wörterbuch sowie Handkes Befassung mit dem Märchen: das „Weltstiftende am Märchen" (FF 332); auf einer Müllhalde findet der neue Keuschnig Grimms Märchen - in spanischer Ubersetzung (NB 398). Das Epos sei, so Grimm, ein „wogendes meer, das sich an den küsten bricht und bald hier bald dort schöner spiegelt"10; am Schluß der Niemandsbucht heißt es: „Das Lebensabenteuer, es zeigte sich in Gestalt einer einzeln rollenden Welle im sonst glatten Meer." (NB 1065) (Ein sehr ähnliches Bild vom Epischen benützt Walter Benjamin in seiner Rezension von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz - und am Benjamin-Motiv der Einsamkeit des Romanschreibers und -lesers arbeitet sich Handke in der Wiederholung ab.)11 Das Epos sei, so Grimm, das „Brod des Lebens" 12 und die Märchen nährende Speise, "3 der Taxhamer Apotheker der Dunklen Nacht hatte einmal „an diesem 10 Jacob Grimm: Rede auf Lachmann. Gehalten in der öffentlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 3. Juli 1851. In: Ders.: Selbstbiographie. Ausgewählte Schriften, Reden und Abhandlungen. Hgg. u. eingel. v. Ulrich Wyss. München: dtv 1984 (= dtv 2139), S. 78-92, Zit. S. 86. Vgl. auch Grimms wichtige Rezension der Ausgabe der Serbischen Volkslieder von Vuk Stefanovic Karadzic (1823), auf den Handke wiederholt hingewiesen hat. 11
Vgl. Dietrich Scheunemann: „Collecting Shells" in the Age of Technological Reproduction. On Storytelling, Writing and the Film. In: D. Scheunemann (Hg.): Orality, Literacy, and Modern Media. Drawer: Camden House 1996, S. 79-94.
12 Jacob Grimm: Gedanken über Mythos, Epos und Geschichte. Mit altdeutschen Beispielen. (1813) In: Ders.: Selbstbiographie (Anm. 10), S. 93-105, Zit. S. 104. 13 Jacob Grimm: Deutsche Sagen. Bd. 1. Vorrede. (1816) In: Ders., Wilhelm Grimm: Schriften und Reden. Ausgew. u. hgg. v. Ludwig Denecke. Stuttgart: Reclam 1985 (= RUB 5311), S. 47-55, S. 48f.
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Morgen nicht im Buch, nicht in dem mittelalterlichen Epos gelesen, und so fehlte ihm etwas wie das ¿Vlorgenbrot'" (DN 114) und liest am Ende wieder darin (gemeint ist Chrétiens de Troyes Yvain). Eine zentrale Vorstellung bei Handke, daß sich die Welt selbst als Epos ohne Worte erzähle (in der „vierten" „Verhältnisweise [ ] meines Sprach-Ichs zur Welt" „erzählt die Welt, unter Schweigen, vollkommen wortlos, sich selber"; „alles, wie es sich fur ein Epos gehört; sich selbst erzählende Welt als sich selbst erzählende Menschengeschichte, so, wie sie sein könnte" [VM 57]), ist präfiguriert in Jacob Grimms Diktum, es sei „ungereimt [...], ein Epos erfinden zu wollen, denn jedes Epos muß sich selbst dichten, von keinem Dichter geschrieben werden. Grimms These, die bereits den Zeitgenossen erklärungsbedürftig schien, ist der systematische Endpunkt der langsamen Entfernung des epischen Erzählers aus der Epospoetik (und aus der Homerischen Frage) zugunsten eines apersonalen Volksgeistes (eines ,Medienwechsels' also), ein Prozeß, der das ganze 18. Jahrhundert in Anspruch nahm;:5 sein Analogon bei Handke hat diese Delegitimierung personaler Autorschaft im planvollen Verschwindenlassen des Erzählers als verantwortlicher und ordnender Instanz.
II Die Wiederholung wiederholt, so wurde festgestellt, Wiederholungen von Nietzsche und Kierkegaard, Filip Kobal wiederholt die Lebenswege seines Bruders Gregor, der Kobal in seiner Lebensmitte wiederholt die Reise des jungen und bringt sie durch Um-Schreiben auf ihre Wahrheit; aber als Postfiguration des Danteschen Jenseitsreisenden, der als neuer Telemach unter dem Karstboden Vergils Fluß Timavus rauschen hört, wiederholt er die epische Höhenkamm-Tradition; denn: Wiederholung' ist ja selbst das intertextuelle Prinzip, das aus Tex14 Jacob Grimm: Von Übereinstimmung der alten Sagen. (1807) In: Ders., W. G.: Schriften und Reden (Anm. 13), S. 39. 15 Ein Prozeß mit den Stationen Thomas Blackwell („Enquiry into the Life and Writings of Homer", 1735), Robert Wood („An Essay on the Original Genius of Homer", 1769) und Friedrich August Wolf („Prolegomena ad Homerum", 1795); bei August Wilhelm Schlegel hat dann in seinem Aufsatz über Gottfried August Bürger (1800) schon ,,[d]ie ursprünglichsten Volksgesänge [...] das Volk gewissermaßen selbst gedichtet; wo der Dichter als Person hervortritt, da ist schon die Grenze der künsdichen Poesie." A. W. Schlegel: Uber Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters. Eine Auswahl aus den kritischen Schriften. Hgg. v. Franz Finke. Stuttgart: Reclam 1964 (= RUB 8898), S. 148-215, hier S. 189.
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ten Gattungsexemplare macht. Wie auch immer differierende , Wiederholung' als das formale Prinzip (nicht nur) literarischer Gattungsbildung verweist somit auf den methodischen Stellenwert der Handkeschen Wiederholung: Durch Wiederholung entsteht aus charakteristischen Merkmalen eine Norm. Um nicht zu sagen: ein Gesetz.,Wiederholung' also bedeutet auch Einverständnis in imitatio, Nachfolge; was aemulatio, Uberbietung, nicht ausschließt. (Auch die Querelle des anciens et des modernes des 17. Jahrhunderts war letzdich ein Streit um das Epos.) Im Fall Handkes scheint es um die ,willige Unterwerfung unter ein Gattungsgesetz' zu gehen, und diese Operation verstößt nicht nur gegen zentrale Postulate jener Innovationsästhetik, der Handke selbst einmal angehangen ist, sondern hat auch eine eigentümliche Struktur. Wohlverstandene Affirmation ist ein schwierigeres Unternehmen als Dissidenz, auch voraussetzungsreicher, wenn sie Dissidenz immer schon impliziert haben soll. Es geht also zunächst um die Selbsteinschreibung in eine in den Gattungen sowohl sedimentierte als auch darin manifeste Ordnung. An welche Instanzen kann man sich unter diesen Voraussetzungen delegieren? Im Versuch über die Jukebox „skandier [en]" (VJ 3 2) die Träume dem Erzähler „gebieterisch ein weltumspannendes Epos" (VJ 28), „Bild um Bild", „sein Gesetz als Bild" (VJ 28), wenn sich das „Tor der Erzählung" öffnet (VJ 32) - es kann aber auch verschlossen bleiben (VJ 74). Sorger hatte in der Langsamen Heimkehr das „Gesetz" via Epiphanie in Selbstaffirmation seines „gesetzgebende[n] Augenblick[s]" gefunden, besser: selbst erlassen; und dieser „gesetzgebende [ ] Augenblick" - und seine Niederschrift, sein Notat, sein Protokoll - spricht ihn los „von [s]einer Schuld, der selbstverantworteten und auch der nachgefühlten" ( L H 177). Wenn das Gesetz von der Schuld losspricht, anstatt sie aufzuweisen und Strafe zuzumessen, kann man getrost, wie es an anderer Stelle der Tetralogie Langsame Heimkehr heißt, den „Prozeß", Kafkas Process nämlich, versäumen wollen: „Vergeßt das Urteil und versäumt den Prozeß." (UD 38),Gesetz', das Kafka-Wort, soll Stifter-Wort werden; ähnlich: Verwandlung'. Das gilt auch für die Ordnungen des Wissens: „Ich, der Katalogisierer", fragt sich der Jurist Keuschnig der Niemandsbucht, Wiedergänger aus Die Stunde der wahren Empfindung, beim Studium der römischen Pandekten, „als der innere Feind meines anderen Ich, des Erzählers?" (NB 209) „Ein Gesetzeswerk, das lückenlos Schuld und Strafen katalogisiert, ordnet nicht bloß, sondern, wie ich das jetzt noch beim Lesen erfahre, fügt die Welt auch zusammen und würdigt sie." (NB 217) Allerdings geht es hier wie immer um den ,Akt' der Subsumtion, nicht um gewissermaßen geordnete Verhältnisse. Das Drama der Gattungsfindung führt der Versuch über die Jukebox vor, den Akt der Subsumtion unter ein Gesetz der Erzäh-
Teilnahme lung; der Schreibende erwägt eine genuin moderne Lösung, die Gattungsmischung, Gattungsmontage: Augenblicksbilder sollten wechseln mit weit ausholenden, dann jäh abbrechenden Erzählläufen-, auf bloße Stichworte würde eine vollständige Reportage über eine einzelne Musicbox zusammen mit einem bestimmten Ort folgen; von einem Block Notizen käme, ohne Ubergang, ein Sprung zu einem von Zitaten, welcher, wiederum übergangslos, ohne harmonisierende Verknüpfung, Platz machen sollte vielleicht allein dem litaneihaften Registrieren der Titel und Sängernamen eines besonderen Fundgegenstandes [...] Er hoffte, seinen „Vernich" ausklingen lassen zu können in eine „Ballade von der Jukebox", einen singbaren, sozusagen „runden" Liedtext auf dieses Ding, freilich nur, wenn der sich nach all den Bildsprüngen wie von selber vortrüge. Es hatte ihm dabei geschienen, solch ein Vorgehen im Schreiben sei nicht bloß dem speziellen Objekt gemäß, sondern auch der Zeit. (VJ 68-70, Hervorh. W.M.) Die herangezogene Stelle des Versuchs ist nun selbst wieder Zitat, aus Rolf Dieter Brinkmanns Vorschlägen zu einer essayistischen Schreibweise, ebenso wie Handkes zeitgleiche Bemühungen der späten sechziger Jahre aus der Kritik der Romanform entwickelt: der Essay, füir den eine zeit-adäquate Form, die heterogenstes Material zu einem Thema sammeln und miteinander verbinden kann, sich nur erst vereinzelt andeutet - collagenhaft, mit erzählerischen Einschüben, voller Erfindungen, Bild - also Oberflächenbeschreibungen,
unlinear, diskontinuierlich ... ein Raum, in dem
herumzuspazieren einfach wieder Spaß macht und das gedankliche Arrangement von der gleichen Einfallsfülle ist wie der Gegenstand der Reflexion.'6 Doch bei Handke erfolgt gleich darauf eine einwilligende Überwältigung durch epos-haftes rhythmisches Erzählen, in den Topoi des Erhabenen, mit Homerischen Epitheta: „so zwingend und machtvoll, daß alle anderen Formen auf der Stelle nichtig wurden. Nicht schrecklich erschien ihm das, sondern über die Maßen herrlich; denn im Rhythmus dieses Erzählens sprach die alleserwärmende Phantasie" (VJ 72), um dann wieder in neuen Brechungen fortzufahren. 1 7
16 Rolf Dieter Brinkmann: Der Film in Worten. [1969] In: Ders.: Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen 1965-1974. Reinbek: Rowohlt 1982, S. 223-247, Zit. S. 233. 17 Die Einschätzung Ulrich Schönherrs, es sei „gleichermaßen problematisch", Handkes Poetik
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Wenn Epik überhaupt aus dem „Erlebnis der Schuld, de[m] Schmerz eines Versäumnisses" (EF 134) entsteht, wie Handke über den schwäbischen Bauerndichter Christian Wagner schreibt, so ist es das aufzufindende,,zuzufallende' Gesetz, das „Kafka" bannt und an seine Stelle Stifters „Sanftes Gesetz" stellt. Die UrSchuld Kobals ist Einsamkeit und Abschließung: „mein einziger Weg zu einer Menschheit ist es, den Dingen des stummen Planeten, dessen Häftling ich, Erzähler sein wollend - selber schuld!, - bin, die Augen eines mich begnadigenden Worts einzusetzen." (W 112) Dieses Gesetz ist das Gesetz der Erzählung - oder des Epos als Gattung, denn es ist die allegorische Schlußinvokation der „Erzählung", ein untrügliches Gattungssignal, Siegel der Erfüllung der Gattungsnormen, Zeichen der Selbsteinschreibung in die Ordnung des Epos, wo es heißt: „Erzählung, [...] begnadige, begnade und weihe uns." (W 333) Gattungshaftes Schreiben erscheint bei Handke als Sich-in-Ordnungen-Einschreiben, also letztlich als nichts anderes, als das zu tun, was jeder Text immer schon getan hat, getan haben wird, für diesmal aber es selbst zu tun.,Wiederholen' als,Wiederfinden' ist eine Figur der renovatio; die Wiederholung bringt erst die Position zu sich selbst, „das sich Wiederholende erscheint in Farbe" (PW 47). Epos ist Chiffre des Erzählens überhaupt, auch das zeigt sich an der Invokation der „Erzählung" in der Wiederholung: die Zuschreibung, daß es „nichts Gerechteres" (W 333) als die Erzählung gebe, schließt an die Schuldthematik, deren man durch das Gesetz quitt werden kann, an; die Epik Ovids wird intertextuell an die Schuld/Gnade-Thematik angeschlossen („Verbannte aus dem Land der Erzählung, zurück mit euch vom tristen Pontus" [W 333]) und so die Verwandlung der Erneuerung gegen die Schreckensverwandlungen Kafkas gesetzt. Das in Erzählung und Notaten immer wiederkehrende alleinstehende „und ..." (W 334, GB pass., FF pass.), mit dem Invokation und Text der Wiederholung schließen, verweist neben dem Erzählanfang, besser: dem Weitererzählen, im Werkkontext auf einen Ausweg aus der in narrativer Hinsicht heiklen bzw. unergiebigen Epiphaniestruktur; es verweist aber zugleich auf eine parataktische Ordnung, die nicht nur - zunächst - unzusammenhängende Ereignisse zusammenbinden kann, ohne sie einander zu subsumieren, wechselseitig unterzuordnen. Die Unterwerfung unter die „Erzählung" selbst - und von Erich Auerbach über Theodor W. Adorno bis Emil Staiger ist die Parataxe stets ein Charakteristikum des Epos gewesen -
in der Prämoderne, Moderne oder Postmoderne zu verorten, kann durchaus geteilt werden. U. S.: Die Wiederkehr der Aura im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit: Musik, Literatur und Medien in Peter Handkes Versuch über die Jukebox. In: Modern Austrian Literature 33.2 (2000), S. 55-72, S. 62.
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als Allerhöchstes erlaubt in der ihr unterstellten Weltordnung nicht-subsumtive Verhältnisse. Dafür gibt es viele Bilder: „Gemeinschaft" erscheint nicht durch Subsumtion unter einen etwa nationalen Allgemeinbegriff „Volk", sondern,fällt' in der Juxtaposition von Fahrgemeinschaften ,zu': in Zügen, Autobussen, U-Bahnen. Hierzu mag man die Lebensreise assoziieren; „Erzählung", apostrophiert jedenfalls die Invokation am Schluß der Wiederholung, „geräumigstes aller Fahrzeuge" (W 333). Die „Erzählung" ist „Musik der Teilnahme" - und Teilnahme, Methexis, participatio, ist jenes der historischen Modelle von Subsumtion, das durch Delegation an ein Höchstes die Gattungsexemplare einander wieder gleichwertig macht, hier ist wohl auch Handkes Interesse an der neoplatonischen Tradition und der Mystik zu verorten.18 In der Geschichte der Gattungstheorien stehen solche Positionen für den Realismus, der von der (Prä-) Existenz der Gattungsbegriffe ausgeht. Dem Erzähler selbst fällt das Erzählen zu, wenn er in den Stand der Teilnahme gerät; nicht zufällig werden am Ende der Erzählung in der Doline die quasiplatonischen „Urbilder" (W 277) der Dinge aufgefunden, die dort für die Zeit nach dem Atomblitz aufbewahrt sind (W 289). Teilnahme ist die gewaltlos gedachte Version von Subsumtion; Subsumtion die Bedingung von (sozialer, ontologischer, typologischer, generischer) Teilnahme. Wenn aus dieser Sicht Handkes Frage die nach der möglichen Affirmation von Ordnung und die Frage nach Teilnahme bzw. nicht-oppressiver Subsumtion ist, dann kann nicht mehr überraschen, daß in seinen Texten politische, ästhetische und epistemologische Dimensionen ineinandergehen; und daß weiters in seinen Texten im Lauf der Werkentwicklung viele jener Lösungen erprobt werden, die die literaturwissenschafdiche Gattungsdiskussion selbst vorgeschlagen hat: das Universalienproblem der mittelalterlichen Philosophie, die Wittgensteinschen Familienähnlichkeiten, Gesetzesfragen, Institutionentheorien und Pakte (wie der autobiographische ,Erzählvertrag' im Bildverlust), Naturformen, Sprechakte. Derselbe Mechanismus von Klassifikation/Gattungszuordnung/Subsumtion steht dann wieder für alle Bereiche ein, von denen sie immer schon ein Teil war: die Zuordnung zu einem Volk etwa. Filip Kobal ist national bzw. ethnisch ,fehlzugeordnet' und aktualisiert sowie problematisiert (das geht bei Handke immer in eins) ethnische Zugehörigkeiten insgesamt. Die Aktualisierung von Volk im Kontext des Epos evoziert wohl die alte Nachbarschaft aus der Grimm-Zeit, aber bekräftigt sie nicht umstandslos (so wie die vergilianische Verwandtschaft von Epos und Landbau im Chinesen des Schmerzes und in der Wiederholung verarbeitet, nicht affirmiert wird). Die ostentative Befolgung der Gattungsregeln des Epos 18 Zur Lichtmetaphysik vgl. Wagner-Eggelhaaf (Anm. 6), S. 1 8 5 - 1 8 7 . Das Motiv erfuhr in der Tradition allerdings auch eine hierarchische Lesart.
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evoziert die Tradition der Regelpoetik, die impliziert, daß die Gattung Epos überhaupt aktualisierbar ist, und wendet sich gegen die geschichtsphilosophische Logik des Gattungssystems der Moderne. Handke benützt aber die ,Gesetzes'-Logik der Generizität zu höchst „eigen-sinnigem" Gebrauch. Denn das,Gesetz' ist hier letztlich das ,und' der Handkeschen Erzählung/Epik, notwendige, ordnungshafte Versammlung von Disparatem unter jeweils eigenem Recht und somit eine narrativ-poetische Sozialphilosophie in nuce. 1 ' Dieses Verfahren erscheint also als semantisch (riskant) hoch aufgeladene methodische Fiktion zur Plausibilisierung einer solchen Ordnung. Die in der Handke-kritischen Literatur gerne inkriminierte Rede vom ,Volk' ließe sich besser auf Deleuzes Konzeption des Minoritären zurückführen20 als auf eine einsei19 Helmut Schmiedt hat gezeigt, daß Handke in seiner Bearbeitung gesellschaftlicher Verhältnisse von sozialen Typologien, Beschreibungen repetdtiver, verfestigter struktureller Gewalt, wie im Wunschlosen Unglück, zu einer ethisch belastbaren Figuration der Spiegelungen übergegangen ist: In der Wiederholung „spiegelt sich [der eine] im anderen - diese Form der Wiederholung von Abläufen fremden Lebens hat nichts mehr von der zerstörerischen Kraft, die ähnlichen Phänomenen vom früheren Text her [WU, Anm. d. Verf.] zugeschrieben wurde." Helmut Schmiedt: Analytiker und Prophet. Die Wiederholung in Peter Handkes Prosatexten „Wunschloses Unglück" und „Die Wiederholung". In: text+kritik 24: Peter Handke, S. 82-92, Zit. S. 90. Zum Spiegelmotiv vgl. Armin A. Wallas: Das Bild der Juden, Indianer und Slowenen als utopische Chiffre im Werk Peter Handkes. In: Acta Neophilologica 26 (1993), S. 63-78. 20 Deleuze-Spuren oder deleuzianische Denkfiguren sind bei Handke häufig anzutreffen. Zum „Volk" etwa bemerken Deleuze und Guattari: „Der Künstler ist nicht mehr der in sich zurückgezogene Einzig-Eine und er hat auch aufgehört, sich ans Volk zu wenden oder das Volk als konstituierte Kraft zu beschwören. Noch nie hat er so sehr ein Volk gebraucht, und am äußersten Punkt stellt er fest, daß ihm das Volk fehlt - das Volk ist das, was am meisten fehlt. Nicht die populären oder populistischen Künstler, sondern Mallarmé konnte sagen, daß das Buch ein Volk braucht, und Kafka konnte sagen, daß die Literatur eine Angelegenheit des Volkes ist, und Klee, daß das Volk wesentlich ist - und dennoch fehlt." Gilles Deleuze, Félix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Aus d. Frz. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié. Berlin: Merve 1997 (frz. 1980), S. 472. „Das Volk", so Deleuze an anderer Stelle, „das ist immer eine schöpferische Minorität und bleibt es, selbst wenn es eine Mehrheit erringt [...]. Der Künstler kann nicht anders als an ein Volk appellieren, er braucht es im tiefsten Innern seines Unternehmens, er muß und kann es nicht schaffen", er nennt „Mallarmé, Rimbaud, Klee, Berg. Im Film StraubHuillet." Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972-1990. Aus d. Frz. v. Gustav Roßler. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993 (= es 1778), S. 249 („Kontrolle und Werden", Gespräch mit Toni N e gri, 1990). Zur Bedeutung von Straub-Huillet für Handke vgl. M u S 18-28 (hier wieder die Frontstellung gegen die ,Rhetorik' Brechts). Allg. vgl. etwa Gilles Deleuze, Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976 (= es 807) (frz. 1975), mit der Situierung einer „kleinen Literatur" im österreichischen Nationalitätenkonflikt der Jahrhundertwende; sowie die Wiederaufnahme dieser Motive in Tausend Plateaus, z. B. S. i47f (Minoritäres). Zum Komplex des Minoritären in diesem Sinn gehört die Rede vom „sehr kleine [n]
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tige Auflösung der (selbst romantischen) Dichotomie von Gemeinschaft' und ,Gesellschaft', derer sich der Autor schuldig gemacht hätte. Handkes „Volk" entsteigt den arbiträren alphabetischen Ordnungen des Wörterbuches, jener dekontextualisierenden „Sammlung von Ein- Wort-Märchen" (W 205), „dem Epos der Wörter" (W 207), die den narrativen Ordnungen der großen epischen Ursprungserzählungen, den National-Epen im Verständnis des 18. und 19. Jahrhunderts, kontrastieren und den in ihnen gegenwärtigen Konnex von Macht-, Wissens- und Redeordnungen aufheben. Bei Handke fuhrt nicht ein in territorialisierendem Interesse verfaßter linguistischer Fragebogen wie üblich zum Wörterbuch, sondern das Wörterbuch selbst wird umgekehrt dem Lesenden zum „Fragebogen[ ]": „Wie ist es mit mir? Wie ist es mit uns? Wie ist es jetzt?" (W 209) Gegen die Territorialisierung der Verwurzelten setzt Handke nicht gerade den Nomaden, aber das Gehen und die Bewegung: „Das ist das menschliche Epos, das sind die wirklichen Sachen: die Leute stehen an der Bushaltestelle - der Bus hält ein bißchen zu weit vorn - , und die Wartenden gehen ihm nach und steigen ein, Tag für Tag, im Inland und im Ausland, in diesem System und in jenem, im,Feindesland und im ,Freundes'land." (GB 218) „Der epische Blick ist der, der
Volk" (W 75), die Opposition Dialekt/Dialektfreiheit/eigene vs. fremde Sprache (,Österreicher'/Familie Kobal), die Dialektik von Territorialisierung und Deterritorialisierung in den literarischen Räumen der Erzählung, das Interesse an Spinoza (LSV), der nicht-romantische ,Vitalismus' der Verkettungen von Belebtem und Unbelebtem, die Verweigerung politisch-literarischer Taktiken der Repräsentation u. a. m. In welchem Ausmaß es sich bei all dem um theoretische Solidaritäten und in welchem Ausmaß es sich um ,bloße' Zeitgenossenschaft handelt, muß hier offenbleiben. Auch die Logik der Signifikation in der Wiederholung dürfte mindestens ebenso viel mit der Deleuzeschen Trias Zeichen-Affekt-Perzept, die auf einer (.Immanenz1-) Ebene angesiedelt sind, zu tun haben als mit Derrida, wovon etwa Les Caltvedt und jene Forschungsliteratur, die sich mit dem Schriftbegriff bei Handke befaßt, ausgehen. L. C.: Handke's Grammatology: Structuralism, Poststructuralism, Reading and Writing in Die Wiederholung. In: seminar 28.1 (1992), S. 46-54; ähnlich Tilman Küchler: Von blinden Fenstern und leeren Viehsteigen: Zu Peter Handkes Die Wiederholung. In: seminar 30.2 (1994), S. 151-168. Es muß nicht betont werden, daß dieselben Motive bei Handke und Deleuze oft in gegenteiliger Akzentuierung erscheinen. Die hier aufgewiesene Figur der Subsumtion ist undeleuzianisch; und dennoch läßt sich anmerken, daß das Handkesche epische „und ...", die reine Konjunktion, in den Reflexionen zum Stil in den „Tausend Plateaus" als potentieller „Tensor" „ U N D . . . " exponiert wird, „weniger eine Konjunktion als der atypische Ausdruck aller möglichen Konjunktionen, die er kontinuierlich variiert" (S. 139). Es wirft ein interessantes Licht auch auf Handkes „und...", daß das Deleuzesche „ U N D . . . " aus dem Stottern hergeleitet wird, man benütze die eigene Sprache wie eine Fremdsprache, wenn man „Stotterer in der Sprache und nicht bloß beim Sprechen" sei (S. 137). Dazu auch Deleuze, Unterhandlungen, S. 67-69 (zu Godard).
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in der großen Bahnhofshalle steht, unberührbar, und berührt von allem." (GB 247)
Daß dieses Unternehmen selbst heikel ist, zeigt vielleicht die Uberdeterminierung von Gesetz, Regel und Ordnung als Instanzen der,Begnadigung', die über das Nötige hinausgeht; die Formel „begnadigen/begnaden/weihen" überblendet juridischen, ästhetischen und religiösen Diskurs, der Ruf nach,Begnadigung' ruft ja nicht das Gesetz an, sondern die Ausnahme vom Gesetz. Es ist klar, daß die ein solches Verfahren beglaubigenden hypostasierten Instanzen formal sein müssen, nicht material sein dürfen, also: selbst leer. Erzählen ist bei Handke (jedenfalls in dieser Werkperiode) nicht referenzlos, aber intransitiv: „Was erzählen? Einfach nur erzählen." (W 15) 21 Planmäßig wird in dieser Konzeption von Erzählung alles eingeklammert, ausgestrichen oder konfundiert, was zum Standardrepertoire von Erzähl- und Kommunikationstheorie gehört hat, Handlung, Erzähler, Publikum; Sender, Botschaft, Empfänger; oder, nach Gérard Genette, Modus, Diskurs, Narration. Die Muse des Epos ist nicht die Muse Homers oder (wie in der klassischen Moderne) Mnemosyne, sondern der performative weltstiftende Akt des Erzählens selbst.22 Nicht ,eine' Erzählung darf also den Begründungsprozeß abschließen, sondern ,die' Erzählung, das „und ..."; das Gesetz darf keinen Sachverhalt definieren, sondern nur als Gesetz wirken - von nichts. Und noch ein zweiter Subtext läßt sich unschwer hinter diesen Komplizierungen ausmachen: daß die verwickelte Selbstermächtigung zum Schreiben selbst eine Intervention in die Sozialordnung ist, in der das Sprechen-Dürfen des Sprechers ein Effekt des sozialen Status des Sprechers ist; die Individuierung des Sprechers, die bei Handke so problematisch ist, weil sie so unablässig problematisiert wird, als ,schuldhafter' Prozeß deutet auf eine,schuldhafte' Selbstermächtigung des Autors und Keuschlersohnes Handke und der von ihm gestalteten literarischen Sprecher-Konfigurationen Keuschnig-Sorger-Kobal, die die sozialen Grenzziehungen derer, die das Sprechen-Dürfen besitzen, immer schon verletzt haben;23 aus diesen Zusammen-
21 Das gattungshaft gedachte ,Gesetz' des Epos hat in seiner allgemeinsten Formulierung die Form von Verb, Pronomen und Konjunktion, wie das in der Traumvision des ,intransitiv' gedachten Erzähltextes des Johannes-Evangeliums in der Niemandsbwht erscheint (NB 224-225). 22 Am Beispiel der Versuche vgl. zur Performativität Handkeschen Schreibens Thomas W. Kniesche: Utopie und Schreiben zu Zeiten der Postmoderne: Peter Handkes „Versuche". In: Rolf Jucker (Hg.): Zeitgenössische Utopieentwürfe in Literatur und Gesellschaft. Zur Kontroverse seit den achtziger Jahren. Amsterdam, Adanta: Rodopi 1997 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik41), S. 313-336. 23 Vgl. Pierre Bourdieu: Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Aus d. Frz. v. Hella Beister. Wien: Braumüller 1990. Zu diesem Komplex anläßlich der „Wiederho-
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hängen ist das Problem des literarischen ,speaking for Others' nicht zu lösen. Aus dieser Sicht nämlich gewännen die generischen Transformationen der Erzählung vom Roman zum Epos, die etwa die Wiederholung vornimmt, ihren politischen Sinn: Die Selbstentschuldung des illegitimen Sprechers vollzieht sich unter dem Wechsel der generischen Redeordnung, in der der private Fall der Identitätssuche mit schließlicher Einfügung in die wirklichen und damit vernünftigen Ordnungen als Paradigma des bürgerlichen Romans in eine Form transponiert wird, die - übrigens ebenfalls erst seit dem bürgerlich-individualistischen 19. Jahrhundert - der Kollektivität gewidmet ist. Diese Form wird aber so gewendet, daß ihr Gegenstand nicht durch (sei es rekonstruierte, sei es fingierte) Oralität beschworen und befestigt wird, vermittelt durch die Sprecherinstanz des Volksgeistes und seiner Philologen oder des national beauftragten literarischen Intellektuellen, sondern daß er buchstäblich, also im Schriftmedium, immer gerade erst gestiftet wird und damit in der Sphäre des Provisorischen verbleiben kann. Die Reisenden Handkes befinden sich auf einer ,Queste' und es widerfahren ihnen hierbei Abenteuer, aber sie befinden sich nicht auf einem Weg zu einem Ziel.2^ Da alle diese Interventionen in die Ordnung der Gattungen, die transformierende Wiedereinführung der zeitgenössisch „unbesetzten" Gattung Epos in das Gattungsensemble, gegen die spontane Gattungsphilosophie der Moderne ebenso gerichtet sind wie gegen die spontanen Legitimationsstrategien ontologischer und politischer Ordnungen, hat sich Handke auch konsequent den Rollenzumutungen des (slowenischen, serbischen, vom deutschen oder österreichischen zu schweigen) Nationaldichters oder Nationalintellektuellen konsequent verweigert. Handkes Wiederholung, die Abwesenheit, die Thukydides-Thcte, die Versuche, vielleicht letztlich auch die Niemandsbucht nehmen also Abschied vom Projekt, Genregrenzen aufzuheben, zu reaktivieren, zu subvertieren; es ist gerade das Befremdliche an diesen Texten, daß sie versuchen, so reflektiert und gewissermaßen so ehrlich wie möglich von einer Gattung zu sein, Gattungs-Exemplare zu sein, wenn auch einer unmöglichen'. Probierstein, wie schon für allen Modernismus seit James Joyces Ulysses, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, Hermann Brochs lung" vgl. insb. Karl Wagner: Ins Leere gehen. Handkes „Epos eines Heimatlosen": „Die Wiederholung". In: Andreas Brandtner, Werner Michler (Hg.): Zur Geschichte der österreichischslowenischen Literaturbeziehungen. Wien: Turfa + Kant 1998, S. 389-400. 24 Zu einer ähnlichen Konfiguration zwischen der traditionellen Form der Romanze in der Spannung zum realistischen Roman vgl. Fredric Jameson: Das politische Unbewußte. Literatur als Symbol sozialen Handelns. (1981) Aus d. Amerikan. v. Ursula Bauer, Gerd Burger u. Bruni Rohm. Mit einem Nachw. v. Ingrid Kerkhoff. Reinbek: Rowohlt 1988 (= re 461), S. 103fr („Magische Erzählungen. Zum dialektischen Gebrauch der Gattungskritik").
Werner Michler
Der Tod des Vergil, ist das Epos; es sind hier aber Texte, die Epen sein wollen und Wege ausloten, es trotz allem sein zu können. Sie suchen nicht die Widersprüche im Gesetz des Gesetzes der Gattung2?, sondern hadern mit dem Gesetz, ob es nicht nur selbst postuliert sei. „Einverständnis" ist der Schrecken subversionsorientierter Gattungsreflexion, die sich solches Einverständnis nicht anders als hegemonial oder oppressiv vorzustellen vermag. Daß das Verfahren des Einverständnisses selbst ein fragiles und gefährdetes ist, wissen aber Handkes Texte selbst, und in Mein Jahr in der Niemandsbucht wird vom Bedürfnis die Rede sein, Gesetz und Gesetzeszwang wieder loszuwerden, zugunsten eines „mitvibrierenden Dahinerzählen[s]" (NB 225). Die Frage nach der nicht-oppressiven Subsumtion aber bleibt.
III Gattungsordnungen sind, wie angedeutet, von Weltordnungen, insbesondere Sozial- und Wissensordnungen, nicht zu trennen, weil sie paradigmatisch sind für die gesellschaftlichen Logiken von Einschluß und Ausschluß. Handkes Neuansatz, der mit der willigen Unterwerfung unter Erzählung/Epos als gesetzgebender Instanz gegeben ist, spiegelt sich auch in seinen Interventionen in die Ordnung des Wissens, die wieder neue Nachbarschaften erzeugen. Es soll hier nur abschließend auf zwei Aspekte hingewiesen werden. 1. Der Konnex von Gattungsfragen im doppelten Sinn und der „Erzählung" im Kontext der zeitgenössischen Wissensordnungen wird in Handkes Werk nachgerade systematisch erprobt, so viele Protagonisten widmen sich einer Wissenschaft: Sorger der Geologie, die Kobal-Brüder einer sanften Agronomik, der Lehrer und Märchendichter in der Wiederholung einer idiosynkratischen Historie und Geographie (W 167), die Sorgers neuer physiognomischer Geologie sehr nahe kommt; Andreas Loser in Der Chinese des Schmerzes ist Altphilologe und Archäologe mit Hang zu einer vergilianischen Botanik, der Taxhamer Apotheker der Dunklen Nacht ist Pharmazeut, an der „Bankfachfrau" im Bildverlust erscheint eine neue Ökonomik; bei vielen von ihnen eine hermeneutisch-narrative Pilzkunde, vielleicht der Schlußstein des Gebäudes dieser nuove scienze, von dem sich allerlei erwarten läßt. Viele dieser Figuren unternehmen Neubenennungen der Dinge endang einer neuen, konnektiven, narrativen Ordnung, gewissermaßen einer Variante der Subsumtionslogik; die Welt kann dann besser aus Wörtern entstehen 25 Jacques Derrida: La loi du genre. In: J . D.: Parages. Paris: Ed. Galilée 1986, S. 249-287.
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(Kobals Wörterbuch). Schon Sorger hat „Lust, den Gattungsbezeichnungen jedes einzelnen Gebildes noch einen freundlichen Eigennamen beizugeben". (LH 75) Solche Ordnung ist aber nicht die einer wiederverzauberten Welt, sondern immer wieder gefährdet; vielmehr geht es um den Akt der Ordnungsstiftung als solchen, der als Akt dieser nicht-oppressiven Subsumtionslogik gefaßt wird. Ein solcher Forscher will „Bekanntes unbekannt machen; den Bereich des Unbekannten abschreiten und vergrößern". (W 262) Die selten ernstgenommene ontologische Relativität, mit der Handkes Protagonisten etwa in der Langsamen Heimkehr Katzen apostrophieren und Landschaften als Gesichter lesen können, hat weniger mit romantischen Mythologemen und Sentimentalitäten oder einer phantastischen Uberdehnung von Wahrnehmung zu tun als mit einer transgenerischen Operation, die ,spinozistische'26 und deleuzianische ,agencements', Gefüge, Verkettungen von Beseeltem, Belebtem und Anorganischem herstellt, ermöglicht durch Entmächtigung eines Ich durch Unterordnung unter ein konstruiertes Höheres, wie den spinozistischen Gott, die Leere, das Gesetz oder die Erzählung, das Epos. Infolge dieses Verfahrens, das nicht als bloßer Trick gelesen werden kann, zeigen sich Neuverteilungen, neu mögliche Trajektorien geläufiger ,generischer Ordnungen' als Bedingung von literarischer und ontologischer Produktivität, die „den Dingen des stummen Planeten [...] die Augen eines mich begnadigenden Worts" ( W 1 1 2 ) oder „der Gegenwart [...] die Gelenke" (Vf 103) einzusetzen vermag. 2. Viele der Thukydides-Proszstücke, die sich explizit „Epopöen" nennen, beginnen und enden mit Datum und Ort einer Wahrnehmung, einer Beobachtung. Das Verfahren erinnert an die „Protokollsätze" des Wiener Kreises, nach dem Schema „Die Person N . N . hat zur Zeit t am Ort O das und das wahrgenom-
26 ,„[D]ie Daseinsform der Ausdehnung und die Idee dieser Daseinsform', die gemäß dem Philosophen [Spinoza, W. M.], ,ein und dasselbe Ding sind, doch auf zweierlei Arten ausgedrückt werden'" (LSV 41). Bei Cézanne waren es „die Dinge; es waren die Bilder, es war die Schrift-, es war der Strich - und es war dies alles im Einklang" (LSV 62), kein wie immer „realistisches" Repräsentationsverhältnis, sondern ein „Ding-Bild-Schrift-Strich-Tanz" (LSV 63). Die „Birnen, Pfirsiche, Apfel und Zwiebeln, die Vasen, Schalen und Flaschen" an der Wand des Jeu de Paume sind „Märchendinge, die gleich zu leben anfangen werden" (LSV 63), etwas „Beispielschönes", „und doch ist es sichtlich der Moment vor dem Erdbeben: als seien diese Dinge die letzten" (LSV 63) - offensichdich hier der Nukleus der Beispiel-Dinge in der platonischen Doline der Wiederholung. - Zum Verhältnis zwischen Spinoza und den neuplatonischen Methexis-Modellen vgl. Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. Aus d. Frz. v. Ulrich Johannes Schneider. München: Fink 1993 (frz. 1968), S. 151-165.
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men".2? Handkes „epische" Protokolle - als Kommentar zur Rede von „epischer Objektivität" - protokollieren unscheinbare Ereignisse, verlaufen aber nicht parallel zu den Rückzugsmanövern eines robusten Physikalismus, sondern erzeugen im Gegenteil die Ereignisse selbst, indem sie sie als Epopöen registrieren und damit als Ereignisse konstituieren, quer zu den Wahrnehmungsordnungen des Empirismus. Seine Kraft beweist Handkes Verfahren in der politischen Praxis. Hatte Handke im Journal Phantasien der Wiederholung als Idee für „die uns heute entsprechende Epik" notiert: „Es gäbe da keine Verwicklungen mehr, nur die Beschreibung einer Mehrzahl von Passanten, und diese Beschreibung stünde für sich und leuchtete?" (PW 62), so bewährt es sich in Noch einmalfür Jugoslawien, einem für dietoz-SerieEuropa im Krieg von 1992 geschriebenen und später in die Thukydides-Stücke aufgenommenen ,,mögliche[n] kleine[n] Epos: das von den unterschiedlichen Kopfbedeckungen der vorbeigehenden Menschheit in den großen Städten, wie zum Beispiel in Skopje in Mazedonien/Jugoslawien am 10. Dezember 1987".28 Es folgt eine enumeratio ethnisch und sozial definierter Mützen, Hüte und Kappen, deren regelrecht typologisch-klassifikatorischer Furor letztlich als Bekräftigung von Diversität wirkt. Mit dieser Strategie unterläuft Handke in der objektivsten, naivsten aller Formen mühelos alle Ordnungen, insbesondere die künsdichen Logiken des Nationalen.
27 Vgl. Victor Kraft: Der Wiener Kreis. Der Ursprung des Neopositivismus. (1950) Wien, New York: Springer '1997, S. 108-113. 28 Peter Handke: Noch einmal für Jugoslawien. In: Europa im Krieg. Die Debatte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992 (= es 1809), S. 3 3 f, Zit. S. 33.
Herwig Gottwald
Von Namen, Augenblicksgöttern und Wiederholungen. Handkes Umgang mit dem Mythischen I. EINLEITUNG
Schon früh äußert Peter Handke „das Bedürfnis, als Schriftsteller Mythen zu erfinden, zu finden, die mit den alten abendländischen Mythen gar nichts mehr zu tun haben: als bräuchte ich neue Mythen, unschuldige, aus meinem täglichen Leben gewonnene: mit denen ich mich neu anfangen kann" (GW 181). Emphatisch erläutert er sein Ziel bei der Verfilmung der Linksbändigen Frau: „Ich will, daß das, was ich mache, im Grund die ganze Welt umfaßt und den Menschen ganz enthält. Es soll mythisch sein. Mythisch!"1 Als Trägermedien des Mythos erscheinen ihm dabei auch Filme, vor allem Western. „Mythisch" ist die Titelfigur des Films für den Autor durch ihre postfeministische Asexual itat, die sie in die Nähe einer griechischen Göttin rücke, sogar „heilige", zugleich befreie, und zwar „in Augenblicken und durch Zufall", „im Abenteuer der Geistigkeit".2 Undeutlich beschreibt Handke hier das „Mythische" mittels der Kategorien „Augenblick", „Abenteuer", „Isolierung", „Alltäglichkeit". Er versteht Mythos offensichtlich nicht als Geschichte oder als Stoff, sondern als ästhetische „Form": „Die naturalistischen Formen zerdenken, bis sich die didaktischen, zeigenden ergeben; die didaktischen Formen zerdenken, bis sich mythische ergeben" (GW 321). Als eine solche „mythische Form" bestimmt er die „Wiederholung": „Der Mythos besteht aus Wiederholungen: vergleichbare Geschehnisse mit verschiedenen Personen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten." (PW 83) Diese Form des Mythos will er in die Literatur „einbürgern": Meine fixen Ideen sind vielleicht Privatsache; aber was unterscheidet die fixen Ideen einzelner eigentlich von den Mythen mehrerer? - Es ist noch keine Sprache 1
Handke in: Der Spiegel 19 (2.5.1977), S. 182; vgl. dazu: Peter Handke: „Durch eine mythische Tür eintreten, wo jegliche Gesetze verschwunden sind". In: Raimund Fellinger (Hg.): Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 234-241.
2
Ebd., S. 2 3pff.
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bemüht worden, welche die fixen Ideen einzelner als den Mythos vieler übersetzt; die Einzelheiten, zu Indizien für Krankheit entwirklicht, sind noch nicht begriffen als neue Lebensart - und zudem fehlen, zum Mythos-Werden, die Abenteuergeschichten zu den täglichen fixen Ideen (also einmal a) Bemühung einer andern Sprache für diefixenIdeen, und dann b) die Erfindung von Abenteuergeschichten dazu) (GW 2 7 7 f) Später äußert er sich skeptischer über diese Möglichkeit, da ihm die Problematik von ,Privatmythen' in nachmythischer Zeit durchaus bewußt ist: Nirgendwo ist mehr ein Zeichen, auch kein schlechtes. Eine allgemeine Mythologie gibt es nicht mehr. Auch jede private wird im Lauf der Zeit zerstört. Das Ich hat keine dauerhafte Sprache mehr. (GB 117) Handke interessiert somit weniger der einzelne (literarisierte) Mythos oder das Mythologem als Teil der mythologischen Uberlieferung als vielmehr die im Mythos enthaltene Möglichkeit, daraus literarische Methoden abzuleiten: Der Mythos wird ihm zum Potential ästhetischer Formung, in der entzauberten, entmythisierten Welt auf poetische Weise quasi-mythische Bereiche wieder-„einzubürgern". Die literarische Methode der „Wiederholung" genügt für sich genommen nicht, so daß Handke seine Aufgabe folgendermaßen umschreibt: „Literatur: die noch nicht vom Sinn besetzten Orte ausfindig machen" (GW 276). In diesem Sinne sind die Erlebnisse seiner Helden „Abenteuer": Dieser Leitbegriff seines epischen Vorhabens3 („abenteuerliche gefahrvolle Arbeit" [PW 62]) ist mit „Gefahr" verbunden, die sich allerdings nicht wie im hier anzitierten archaisch-vormodernen Epos auf äußere Erlebnisse, sondern auf innere Abläufe, auf die Gefährdungen und psychischen Destabilisierungen der Protagonisten bezieht:4 Seit der Angst des Tormanns beim Elfmeter geht es in den meisten Texten um geistigseelische Orientierungsversuche, psychische Zusammenbrüche, die Auswirkungen innerer Krisen auf Wahrnehmungen und Denkprozesse, auch um die Folgen von Gewalt und Gewaltphantasien auf seelisches Gleichgewicht, Gefühlsleben
3
Um,»Abenteuer" in deren poetischer Fixierung ist Handke schon seit langem bemüht; vgl. G W 277, V T 29^ die Beschreibung des „Abenteuerlichen" „jetzt im Frieden" (PW 19) ist eines jener erzählerischen Probleme, die seine Arbeit für ihn selbst zu einer „abenteuerlichen, gefahrvollen" machen ( P W 62).
4
Vgl. dazu die folgenden Anspielungen: „[...] das Gefährliche ist mir der Tag selbst" ( V T 29); „Expedition ,Geglückter Tag'" ( V T 40); „Möchtegernhelden des Tags" ( V T 44).
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und die allgemeine Orientierung der Figuren im sozialen Raum ihrer Lebenswelt. Damit hängt die ständig thematisierte Fragilität des Erzählvorgangs zusammen, das Ringen um Erzählbarkeit, um die sprachlich-literarischen Formen, um den Prozeß des Schreibens. Die zahlreichen Anspielungen auf antike mythologische Figuren dienen Handkes Konzept der Bedeutsamkeitsaufladung scheinbar alltäglicher Lebensbereiche, damit der „Suche nach Zusammenhang" (Bartmann) eines Erzähl-Subjekts, dessen Erfahrungsraum vor den permanenten Bedrohungen durch entzaubernde, desorientierende Erlebnisse geschützt werden soll. Daß der Chinese des Schmerzes, Loser, schlafend wie Odysseus auf dem Schiff der Phaiaken zu seinem Sohn heimkehrt (CS 242), ist zwar deutlich am Schema der Odyssee orientiert, als intertextuelle „Arbeit am Mythos" im Sinne Blumenbergs auch „bedeutsam" (in Form der „Kreisschlüssigkeit"5), aber keineswegs „mythisch" (höchstens „mythos-analog" im Sinne Lugowskis6). Gerade die Heimkehr-Geschichten, die in Odysseus ihren Archetyp besitzen, sind längst „vom Sinn besetzt". Nicht hier also sollte man das Mythische bei Handke und in moderner Literatur überhaupt suchen, zumal man ihn nicht in die „pontifikale Linie" der deutschen Literatur? einordnen kann. Handkes Umgang mit dem Mythischen erschöpft sich nicht in einer Bedeutsamkeit aufbauenden Zitation bzw. Arbeit am Stofflichen, Mythologischen. Immer wieder geht es ihm auch um den Abbau von Bedeutsamkeit, macht er Mythen befragbar, etwa die Neomythen des Films (z. B. des Western im Kurzen Brief zum langen Abschied). Blumenberg hat im Gegensatz dazu die „Unbefragbarmachung" als Hauptverfahrensweise des „klassischen Mythos" herausgearbeitet.8 Ohne Mühe ließe sich alleine aus Handkes Notatbüchern eine anti-pontifikale, entmythisierende, entzaubernde Denklinie herausfiltern, mit nicht weniger Anspruch als die umgekehrte vielgescholtene neoreligiöse, die man als „Orgel- und Weihwasserprosa"? denunziert hat. Vergleicht man seine Bekenntnisse zu Mythos und mythischem Schreiben mit dem anderer moderner Autoren, die sich ganz ähnlich über den Mythos äußern, fallen allerdings Unterschiede auf, wie die folgenden Zitate von Broch - „entweder vermag Dichtung zum Mythos vorzustoßen, oder sie hat ihren Bankrott zu 5 6
Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 8off, 86ff. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman [1932]. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2 1994.
7
Bertolt Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 1 1938-1942. Hg. v. Werner Hecht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974 (= Werkausgabe, Supplementband), S. 124.
8
Blumenberg (Anm. 5), S. 143.
9
Benjamin Henrichs in: Die Zeit, 3.10.1986.
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erklären"10 - und Pavese zeigen: „Ohne Mythos [...] entsteht keine Dichtung, weil es nicht zu jenem Hinabtauchen in den Strudel des Unbestimmten kommt, das eine unerläßliche Vorbedingung für jede aus Inspiration geschaffene Dichtung ist."11 Im Vergleich dazu nehmen Handkes Reflexionen tatsächlich eine Sonderstellung ein. Sie haben offenbar mehr Relevanz für seine Schreibpraxis als diejenigen Brochs oder Paveses; zudem sind sie vor allem formalästhetisch und weniger mythostheoretisch orientiert, dabei aber auch fragmentarischer, andeutender. Zugleich wird hier der große Anspruch an Literatur offenbar, bevorzugtes Medium und Refugium des Mythischen nach der Aufklärung zu sein, diejenigen Bereiche bewahren zu können, die durch Wissenschaft und Entzauberung der Welt verloren gegangen zu sein scheinen. Handkes Bekenntnis zum Mythos muß auch vor dem Hintergrund seiner Stilisierung zu einem neuen Typ des Poeta vates, des einsamen Genie-Dichters an den Rändern der Gesellschaft, gesehen werden,12 dessen Autorität aber heute grundsätzlich gebrochen, nur noch in Resten vorhanden ist. "3 Die Spannung zwischen dem Willen zum Mythos und dem gleichzeitigen Unterlaufen dieser poetologisch-theoretischen Anstrengung durch den Aufklärungsdiskurs prägt Handkes Oeuvre insgesamt. Das Bewußtsein der Uneinholbarkeit entschwundener Denkformen im nachmythischen Zeitalter durch die verschiedenen Stufen und Schübe von Modernisierungsprozessen ist (wie im Werk von Botho Strauß) unverkennbar, wenngleich immer wieder durch remythisierende Verfahrensweisen überformt, was auch in Handkes Entzauberungsmetaphern zum Ausdruck kommt."» Hinter den Mythos-Bekenntnissen ist eine 10 Hermann Broch: Mythos und Altersstil [1947]. In: Schriften zur Literatur 2. Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975 (= Kommentierte Werkausgabe, Hg. v. Paul Michael Lützeler, Bd. 9/2), S. 212-233, Wer S. 231. 11 Cesare Pavese: La letteratura americana e altri saggi. "Iorino: Giulio Enaudi 1962. Dt. Übersetzung von Erna und Erwin Koppen: Schriften zur Literatur. Die Entdeckung Amerikas. Literatur und Gesellschaft. Der Mythos. Berlin: Volk und Welt 1980, S. 486. 12 Vgl. dazu Werner Frick: Poeta vates. Versionen eines mythischen Modells in der Lyrik der Moderne. In: Marias Martinez (Hg.): Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Paderborn/Miinchen/Wien/Zürich: F. Schöningh 1996, S. 125-162; sowie Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, bes. S. 16-22, 26-40, 43-45. 13 Vgl. Wolfgang Braungart: Literatur und Ritual. Tübingen: Niemeyer 1996, S. 205; Braungart zieht die entsprechende Linie von Klopstock über George bis Handke. 14 Vgl. Herwig Gottwald: Mythos und Mythisches in der Gegenwartsliteratur. Studien zu Christoph Ransmayr, Peter Handke, Botho Strauß, George Steiner, Patrick Roth und Robert Schneider. Stuttgart: Heinz 1996, S. 7Öf.
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Sehnsucht nach Sinn, nach Zusammenhang und Totalität, vor allem nach Bedeutsamkeit sowie nach einer theoretischen Fundierung der eigenen Dichtung erkennbar. Zugleich enthält Handkes Werk eine direkte oder indirekte Aufklärungskritik, die ein Unbehagen an bestimmten Folgen der modernen Wissenschaftskultur und ihrem philosophischen Pendant, dem Positivismus bzw. Neopositivismus, verrät, freilich in reduzierter Form. Ästhetisch geformte Bedeutsamkeiten sind bei Handke immer instabil: Was sie [die bedeutsamen Dinge] bedeutet haben, das war einmal, und es bedeutet nichts mehr. Ihr Sinn ist verlorengegangen, die Übereinkunft ist vergessen, der Zusammenhang ist gerissen, nicht einmal die Ahnung ist möglich, und schon gar nicht die Wiederkehr. [...] Dein Euphrat und dein Tigris werden nie mehr aus dem Paradies strömen. [...] In keinem deiner Bücher mehr wird einer der Odysseus, die Königin von Saba oder der Marcellus sein. [...] Auch hierzuland ist leer leer geworden, tot tot, das Vergangene unwiderruflich, und zu überliefern ist nichts mehr. (A iyof)
I I . M O D E L L E ZUR B E S C H R E I B U N G , M Y T H I S C H E R ' L I T E R A T U R
Matias Martinez faßt einschlägige Bemühungen des Warburg-Kreises der zwanziger Jahre als Versuch zusammen, die „kulturelle Eigenart künstlerischer Werke" nicht in bestimmten Themen oder Motiven zu suchen, „sondern in der spezifischen Gestaltung von Darstellungskategorien wie Raum, Zeit, Kausalität, Identität, Perspektive" 1 '. Dabei bezieht er sich u. a. auf Ernst Cassirer, vor allem aber auf Clemens Lugowski, dessen formalästhetischen Ansatz er mit Michail Bachtins Theorie des „Chronotopos" 16 vergleicht. Diese beiden literaturwissenschaftlichen Interpretationsmodelle halte ich für besonders geeignet, das Mythische als Element von Literatur überhaupt zu beschreiben. Womöglich ist das eine entscheidende Chance für die Literaturwissenschaft, dem Phänomen des Weiterwirkens mythischer Denkformen in einer nichtmythischen Kultur, in der entzauberten Moderne, auf die Spur zu kommen.
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Marias Martinez: Literarische Form als kulturelle Praxis. In: Akten des X. internationalen I V G Kongresses (Wien 2000), Bd. 9. Bern u. a.: Lang 2003, S. 281-285.
16 Michail Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik [1975]. Frankfurt/M.: Fischer 1989.
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Bereits ein kurzer, oberflächlicher Blick auf Ernst Cassirers Theorie des „mythischen Denkens" zeigt die praktische Relevanz seiner Kategorien für eine kulturwissenschafüich ausgerichtete Interpretation:1" vom „Gesetz der Konkreszenz oder Koinzidenz der Relationsglieder" des Denkens, der Basis aller Kategorien, das die Zusammenballung aller Dinge und Beziehungen zu unterschiedsloser Einheit bezeichnet, über das geschlossene (holistische) Weltbild und die mythische Sprachauffassung bis zur Raum-, Zeit- und Kausalitätsvorstellung. Nahezu alle von Cassirer erarbeiteten Strukturelemente mythischen Denkens spielen in Handkes Texten eine offensichtliche oder zumindest verdeckte Rolle. Dazu zwei Beispiele.
2 . 1 . H A N D K E S O R T E UND R Ä U M E
Cassirer betont den form- und sinngebenden Charakter des „mythischen Denkens" und beschreibt etwa den Vorgang der „Heiligung" alltäglicher („profaner") Bereiche in einer mythischen Kultur folgendermaßen: Die Absonderung, die sich im Bewußtsein des Heiligen vollzieht, ist vielmehr rein qualitativ. Jeder noch so alltägliche Daseinsinhalt kann den auszeichnenden Charakter der Heiligkeit gewinnen, sobald er nur in die spezifische mythisch-religiöse Blickrichtung fällt. 18
Auf den ersten Blick scheint es zu einer verblüffenden Aktualisierung dieser vormodernen, archaisch-mythischen Bewußtseinsstruktur bei Handke zu kommen: Bedeutsame Räume und Orte werden von seinen Figuren als quasi-mythische, anthropomorphisierte erlebt und sind auf diese Weise an Bewußtseinsvorgänge gekoppelt, die geistige Entwicklungen, Sehnsüchte, Ängste, Träume und Utopien zum Ausdruck bringen, erweisen sich somit auch als Projektionsflächen ihrer Krisen: Sorger, die Hauptfigur der Langsamen Heimkehr, erlebt seine zentrale psychische Destabilisierung und den totalen (keineswegs bloß räumlichen) Orientierungsverlust als „Raumverbot" (LH 138). Die Schwellen im Chinesen des Schmerzes sind quasi-mythisch aufgeladen, zeigen Ubergänge in andere Bereiche an, sind „ein eigener Ort, der Prüfung und des Schutzes", der „Initiationen", die heute
17
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken
18
Ebd., S. 95.
[1924]. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft ' 1 9 9 4 .
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womöglich „Kräfte im Innern" seien, damit aber dem subjektiven Empfinden anheimgefallen (vgl. das „Schwellen"-Gespräch, CS i26ff). Es scheint eine vage Verbindung dieser narratdven Raumkonzeptionen zu den heiligen Orten und Räumen des archaischen Mythos zu geben, die hier zitiert und imitiert werden. Der Anthropologe Christopher Hallpike, dessen empirische Untersuchungen über traditionale Kulturen Cassirers Systematik des mythischen Denkens weitgehend bestätigen bzw. vertiefen, hat die primitiven Raumvorstellungen als anthropomorphisiert, qualitativ, nach physiognomischen Kriterien geordnet charakterisiert. 'f So besitzen in traditionalen Gesellschaften einzelne Stellen im Dorf und im Haus herausragende Bedeutung, besonders Ubergangspunkte von einem Raum in den anderen. Das archaische (mythische) Raumsystem besteht aus symbolischen Assoziationen, alle räumlichen Ordnungen haben hier sowohl einen sozialen als auch einen kosmologischen Symbolwert. Ein Vergleich mit Handkes Räumen, besonders mit dem Schwellenmotiv, liegt nahe. Handke zitiert und imitiert offensichtlich grundlegende Strukturelemente genuin mythischer Weltauffassung.20 Eine kulturanthropologische Lesart z. ß. der Peripherie-Motivik käme zu folgenden Übereinstimmungen mit dem mythischen Denken: Die archaische „Symbolik des Mittelpunkts"21 lebt in zitierter, imitierter, aber strukturell ähnlicher Weise in Handkes Poetik der „Flaute der Mitte" und der Kräfte der Peripherie weiter (CS 149). Zugleich sind diese Räume nicht zuletzt deshalb keine echten mythischen, weil ihre subjektstabilisierenden Bedeutsamkeiten äußerst fragil und permanent von plötzlichem Zerfall bedroht sind.
2.2
NAMEN
Im mythischen Denken hat Sprache prinzipiell ein magisches Potential: Worte und Namen „bezeichnen und bedeuten nicht, sondern sie sind und wirken",22 Namen sind mit den Dingen, die sie bedeuten, verbunden („Realismus der Namen"), es gibt wie im kindlichen Denken „natürliche Beziehungen zwischen bestimmten Lauten und Wortbedeutungen".23 So sind Eigennamen „mit geheimnisvollen 19 Christoper Robert Hallpike: Die Grundlagen primitiven Denkens [The Foundations of Primitive Thought, 1979]). München: dtv 1990. 20 Vgl. Cassirer (Anm. 17), S. 127 (zur mythischen „Schwelle"). 21
Georg W. Oesterdiekhoff: Traditionales Denken und Modernisierung. Jean Piaget und die Theorie der sozialen Evolution. Opladen: Westdeutscher Verlag 1992, S. 94fr.
22 Cassirer (Anm. 17), S. 53. 23
Hallpike (Anm. 19), S. 475fr.
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Banden an die Eigenheit des Wesens geknüpft", der Name Gottes ist ein realer Teil seines Wesens, was sich z. B. im alttestamentarischen ersten Gebot widerspiegelt. Daraus resultiert die bis heute verbreitete „Scheu vor Eigennamen". 2 4 Literarische Namen im besonderen sind „ungleich enger an ihren Träger gebunden als reale Namen".25 Dennoch handelt es sich dabei nicht prinzipiell um genuin mythische Phänomene (im Sinne Cassirers), sondern um mythosanaloge Erscheinungen im Sinne Lugowskis. Mythisch dagegen ist die Einheit von Name und Figur bei den charakterisierenden Namen, die ein „Beispiel für die These Lugowskis [abgeben], daß sich mythische Gehalte auf ästhetische Strukturen zurückgezogen haben".26 Handkes charakterisierende Namen, z. B. „Loser", „Sorger", „Hinderer", „Nova", sind in diesem Sinn als mythosanalog einzustufen. Ebenfalls mythisch konnotierbar sind die häufigen Motive der Namensgebung, Namenssuche und Namensveränderung: Handkes Taufen oder Umtaufen, sein Benennen insgesamt, erscheint ebenfalls zumindest mythosanalog. In vielen Texten bleiben entweder Landschaften oder Menschen unbenannt, etwa in der Langsamen Heimkehr. Das bewußte Weglassen der Namen hat Handke selbst „das bereinigende Mythologisieren"2'' in bezug auf die menschenleere Wildnis genannt. Auch in seinem letzten Roman Der Bildverlust bedient er sich dieses Verfahrens (die Hauptfigur bleibt ebenso namenlos wie alle übrigen Figuren). Möglicherweise spielt Handke damit auf die mythischen Namenstabus an, die er imitiert, um den Texten die Aura quasi-mythischer Namenlosigkeit, mythosanaloger Ursprünglichkeit zu verleihen, sie als archaische Urszene konnotierbar zu machen. Die Wurzel der Namenstabus in traditionalen, schriftlosen Kulturen liegt in der Tabuisierung bestimmter Lebensbereiche, die nicht beim Namen genannt werden dürfen (den Namen Gottes auszusprechen ist verboten).28 Handke zitiert diese Denkstruktur z. B. im mythosanalogen Ritual der poetischen Grunderneuerung der Welt durch eine Tabula rasa und eine nachfolgende Neubenennung. Namensgebung als poe-
24 Cassirer (Anm. 17), S. 54. 25 Dieter Lamping: Der Name in der Erzählung. Zur Poetik des Personennamens. Bonn: Bouvier 1983, S. 106. 26 Ebd., S. 107. 27 Vgl.: „Ich hab ja alle Ortlichkeiten am Anfang ihrer Namen entledigt; ich hab ja nie geschrieben: ,Alaska' oder ,Yukon' [...]. Mein Problem wurden dann immer mehr die Namen, das Benennen. Also das bereinigende Mythologisieren, was ich in ,Langsame Heimkehr* ja betrieben habe, indem ich die Namen weggelassen und nur den Fluß Fluß hab sein lassen [...], wurde dann, je mehr ich mich genähert hab der sogenannten Zivilisation und der Geschichte, immer schwieriger und [...] unmöglicher, unwirklicher." ( Z W 140I) 28 Lamping (Anm. 25), S. i n f .
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tischer Akt wird in dieser Simulation eines archaischen Ursprungs als quasi-mythischer Neubeginn einer überalterten, spätzeitlichen Welt inszeniert: Täler alle, streicht eure Hymnen, vergeßt eure Namen. Wege hierher, bergt euch ins Namenlose. [...] Der Ort heiße an diesem Abend nichts mehr. Er heiße „Wildnis", und niemand sei da außer uns. Auch wir sind namenlos. [...] (Die Stille der Verwandlung). Die Namen fallen ab. Wir sind im Freien. Jetzt können wir zu diesem Fleck neu „Erde" sagen. (UD 37^ Handke inszeniert feierlich mythosanaloge Formen der Namensgebung zur Stiftung von Bedeutsamkeit: Sorger tauft den namenlosen Strom „Schönes Wasser" ( L H 75). In „magischen Namenstheorien" traditionaler Gesellschaften wohnt dem Namen eine magische Kraft inne, die auf dessen Träger wirkt und ihm einen bestimmten Charakter aufprägt. 2 ' Nach Blumenberg ist mythische Namensgebung die entscheidende Ordnungssetzung des Mythos gegen das „Chaos des Unbenannten", ein bis heute vor allem in der Wissenschaft weiterwirkendes Denkprinzip: „Die Neuzeit ist die Epoche geworden, die abschließend für alles einen Namen gefunden hatte."3° In den mythosanalogen Namenskatalogen seines jüngsten Romans zitiert Handke diese Strategie des Mythos (z. B. B 5641)3', bedient sich also - imitierend - mehrerer Verfahren mythischer Namensgebung, der Tabuisierung, der Neubenennung und der (rituellen) Bannung des Chaos.
I I I . M Y T H I S C H E BZW. M Y T H O S - A N A L O G E
DENKFIGUREN
3 . 1 VERWANDLUNG
Die alte mythische Figur der Verwandlung steht bei Handke für die grundlegende Sehnsucht seiner Figuren nach Abstreifen der alten Identität, für den Wunsch nach totaler Erneuerung und das Verlassen alter Bindungen („Suche nach Z u sammenhang").
29 Ebd., S. u y f f ; Cassirer (Anm. 17), S. 54ff. 30 Blumenberg (Anm. j), S. 45. 31
Die berühmten Namenskataloge in James Joyces Ulysses sind ebenfalls mythos-analog nach dem Vorbild der genuin mythischen Archetypen in der Bibel und den Homerischen Epen gestaltet, vgl. z. B. das Zyklopen-Kapitel (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 404-480).
Herwig Gottwald
Die Verwandlung wird notwendig, wenn etwas, das einem als wirklich galt, aufhört, wirklich zu sein; glückt die Verwandlung, so wird etwas anderes wirklich; wird nichts anderes wirklich, geht man zugrunde. (PW 50) „Verwandlung" ist dabei oft in Verbindung mit den zentralen Epiphanie-Erlebnissen der Hauptfiguren zu sehen: Damals geschah die Verwandlung. Der Mensch, der ich war, wurde groß, und zugleich verlangte es ihn auf die Knie, oder überhaupt mit dem Gesicht nach unten zu liegen, und in dem allen niemand zu sein. (LSV 21) Mythosanalog ist das hier zitierte Schema des mythischem Denken verhafteten Chronotopos im Sinne Bachtins^2 als grundlegende Erneuerung des Helden im Rahmen der spezifischen (zeitlosen),Abenteuerzeit", als „Wiedergeburt" nach dem Zusammenbruch. Nicht wenige von Handkes Romanen sind nach dem chronotopischen Schema „Krise - (plötzliche) Wiedergeburt"« gestaltet. Weder Sorgers noch Losers noch Gregor Keuschnigs plötzliche, unmotivierte Verwandlungen, Epiphanie- bzw. Erweckungserlebnisse oder Zusammenbrüche sind psychologisch begründet oder begründbar. Im Bildverlust zitiert Handke mehrfach die „mythische Abenteuerzeit" des Chronotopos antiker bzw. mittelalterlicher Romane (mehrmals hat man dabei den Eindruck, als wäre er unter dem Eindruck einer Bachtin-Lektüre gestanden): Die Wanderung der Heldin durch die Sierra de Gredos dauert Monate, obwohl sie nur wenige Tage beansprucht, sie beginnt im Januar und endet im Oktober (B 752); daher spricht die Erzählerin auch von den unterschiedlichen Zeitebenen der Handlung: Die Rückkehr in die Normalzeit wurde ihr nicht so zuwider, wie man das annehmen hätte können. Sie spürte immer noch das andere Zeitmaß ihrer Durchquerung der Sierra in sich, als eine zusätzliche Atemluft, die sie nicht so bald wieder verlassen würde. (B 736) Bachtin beschreibt übrigens auch den „Chronotopos der Schwelle", der oft mit diesem Schema verbunden ist, dem Handkes Texte häufig folgen:
32 Bachtin (Anm. 16), S. 8, 191, 200f. 33 Ebd., S. 43f.
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Die Zeit in diesem Chronotopos ist im Grunde genommen ein Augenblick, dem gleichsam keine Dauer eignet und der aus dem normalen Fluß der biographischen Zeit herausfallt.3t
3 . 2 WIEDERHOLUNG
Hierher gehören auch die zahlreichen Ahnlichkeits- und Analogie-Phantasien der Figuren, als „Wiederholung" von ihm selbst ins Zentrum seiner Poetik des Erzählens gerückt. „Wederholung" bezeichnet einerseits „Weder-Finden" (CS 70), also die Restaurierung älterer literarischer Verfahrensweisen und Sprachformen, andererseits das subjektive Stiften von Zusammenhängen durch die Kraft der Phantasie, nämlich in den einzelnen Wahrnehmungs-, Reflexions- und Erinnerungsvorgängen, vor allem durch bewußt „wiederfindende" Analogisierungs-Akte. „Wederholung" ist Handkes Metapher für eine neue Begreifbarkeit der Welt für das einzelne Subjekt, somit eine Reaktion auf moderne Wirklichkeitswahrnehmung. Zugleich steht sie für erzählerische Kohärenz, für ästhetischen Zusammenhang. Was ist daran mythisch oder zumindest mythosanalog? Einerseits der Bezug zu sprachmagischer Literatur, zu den Wederholungsformen im Ritual, andererseits die neuerlich mögliche Beziehbarkeit auf archaisch-mythische Denkstrukturen, die hier imitiert werden: „Der Mythos webt alle Erscheinungen zu einem Kosmos von Beziehungen zusammen."^ Das Cassirersche „Gesetz der Konkreszenz oder Koinzidenz der Relationsglieder" des Denkens besagt, daß im mythischen Denken „noch alles aus allem werden [kann], weil alles mit allem sich zeitlich oder räumlich berühren kann".?6 Dieses Grundgesetz des mythischen Denkens ist die Voraussetzung für den genuin mythischen Gedanken der Metamorphose: „Alles Wrkliche ist [im mythischen Denken] von einem,Zauberdunst' umgeben."'/ Handkes Analogisieren und Überformen der Räume und Landschaften mit Strukturen mythosanaloger Bedeutsamkeit, seine erzählerische Suche nach Zu-
34 Ebd., S. 198. 35 Georg W. Oesterdiekhofif: Kulturelle Bedingungen kognitiver Entwicklung. Der strukturgenetische Ansatz in der Soziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 197. 36 Cassirer (Anm. 17), S. 61. J e d e Erscheinung mag unter einem zufälligen, synkretisüschen Gesichtspunkt jeder andern zu ähneln". Oesterdiekhoff, Traditionales Denken (Anm. 21), S. 139. 37 Oesterdiekhoff, Kulturelle Bedingungen (Anm. 35), S. 192.
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sammenhang insgesamt könnte als Widerhall oder als bewußt gestaltete Imitation derartiger mythischer Denkstrukturen gedeutet werden. So rücken dem Helden der Stunde der wahren Empfindung plötzlich (!) drei unscheinbare und nicht zusammengehörige Gegenstände (ein Kastanienblatt, das Stück eines Taschenspiegels, eine Kinderzopfspange) „zusammen zu Wimderdingen" (SE 81), wodurch er eine psychische Stabilisierung erlebt, die kaum psychologisch motivierbar erscheint, wohl aber als moderne Form des „Gesetzes der Konkreszenz oder Koinzidenz der Relationsglieder" erkennbar wird: „Indem ihm die Welt geheimnisvoll wurde, öffnete sie sich und konnte zurückerobert werden." (SE 152) In der Blumenbergschen Kategorie der „Kreisschlüssigkeit" bzw. der „latenten Identität''^8 ist auch die „Wiederholung" enthalten, nämlich als literarische Verfahrensweise, die Bedeutsamkeit erzielt. Die Wiederkehr von Figuren, Namen, Erzählkonstellationen in Handkes häufigen Selbstzitaten ist in dieser Hinsicht bedeutsam, z. B. die Gregor-Keuschnig-Figuren (SE, NB) oder die Erzählstruktur des mythosanalogen Kreisschließens in seinen Romanen (CS, LH, W). Hierher gehören auch die Motive der Begegnung, der Wiederbegegnung oder des Wiedererkennens. Im Bildverlust kommt es zu scheinbar zufälligen Begegnungen der Heldin mit wichtigen Personen, zu explizit „sagen- und märchenhaften Zusammentreffen" (B 590). So trifft die Heldin z. B. in der abgelegenen Sierra de Gredos eine altbekannte Journalistin wieder (B 382). Diese unwahrscheinlichen und daher bedeutsamen Koinzidenzen entsprechen dem „Chronotopos der Begegnung" und des „Weges" bei Bachtin,ohne daß es sich dabei um ungebrochene, die erzählerische Kohärenz begründende Chronotopoi handelt, vielmehr um zitierte, imitierte, was Handkes intertextuelles Spiel mit großen Romanen, etwa dem Don Quijote (der übrigens für Bachtin und auch Lugowski eine wichtige Quelle darstellt), überhaupt auszeichnet: Der „Emperador" im Bildverlust (auf Karl V. während seiner Reise ins Kloster San Yuste nahe der Sierra de Gredos anspielend) entpuppt sich zuletzt als „nachspielender Geschichtsreisender", „vielleicht ein Privathistoriker hier aus der Provinz, im Hauptberuf Angestellter einer Sparkasse" (B 449). Handkes „Gaukelspiel mit dem Realen" (B 243) ist auch - aus entgegengesetzter Perspektive - ein Spiel mit dem Mythischen im Rahmen des Fiktionalen als Basis des Mythosanalogen im Sinne Lugowskis. Handkes Spiel mit dem Begriff „Atavismus" und seinen Konsequenzen zeigt seinen Bewußtheitsgrad in bezug auf Atavistisches an (B 475O, der kaum mit seinem Bekenntnis zum Mythischen vereinbar sein dürfte. 38 Blumenberg (Anm. 5), S. 8off. 39 Bachtin (Anm. 16), S. 22t.
Von Namen, Augenblicksgöttern und Wiederholungen IV. Z E I T E N - EPIPHANIEN - PLÖTZLICHKEIT
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AUGENBLICKSGÖTTER
Epiphanien sind mit mythischer Bedeutsamkeit aufgeladene, scheinbar außerzeitliche Zustände, durch die das betreffende Subjekt Stabilisierung, Zusammenhang erfährt. Diese ganzheitlichen, das Ich entgrenzenden Erlebnisweisen sind von Handke als Augenblicks-Ekstasen gestaltet, die gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit, äußerste Möglichkeiten des Identitäts- und Einheitsgefiihls der Figuren begründen können: Es besagte dann etwas, einfach, wenn ein Mann ging, ein Strauch sich bewegte, der Obus gelb war und zum Bahnhof abbog. [...] Ja, das war es, der Gegenwart wurden die Gelenke eingesetzt! (VJ 103) „Auffahrt',,Entgrenzung', ,Weltwerdung"' nennt der Erzähler der Jukebox sein Epiphanie-Erlebnis (VJ 88). Zeit wird dabei als Raum erfahren (VM 68, L H 51). Es war der einzige mystische Augenblick, da der Mann sich je in der Mehrzahl sah; und nur ein solcher enthält den Mythos: die ewige Erzählung. (K 69) Handkes Idealzeiten, denen er z. T. sogar eigene Bücher widmete, sind der, A u genblick", die „Stunde", der „Tag" und das J a h r " . Im Griechenland Hesiods galten bestimmte Tage als den Menschen besonders günstige Zeitabschnitte: Das Geschick oder die Tätigkeiten von Menschen an einem bestimmten Tag wurden deshalb diesem Tag zugeschrieben. Man sprach von ihm, als wäre er lebendig, ein personaler Geist. 4° Die archaische Zeit ist nicht homogen und kontinuierlich, sondern punktförmig, rein qualitativ und prinzipiell räumlich; sie stellt kein dynamisches System reversibler Korrelationen und Transformationen von Einheiten dar, sondern eine statische verräumlichte Reihe irreversibler Beziehungen zwischen fixen Punkten, die sich nur qualitativ voneinander unterscheidend1 Hermann Usener sah die Vorstellung von ,Augenblicksgöttern" als erste Stufe mythischen Empfindens an. 40 Hallpike (Anm. 19), S. 408. 41
Ebd., S. 425.
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Diese sind das „Erzeugnis einer flüchtigen und augenblicklichen seelischen Erregung": Infolge dieser Beweglichkeit und Reizbarkeit der religiösen Empfindung kann ein beliebiger Gegenstand, der für den Augenblick alle Gedanken beherrscht, ohne weiteres zu göttlichem Rang erhoben werden: Verstand und Vernunft, Reichtum, der Zufall, der entscheidende Augenblick, der Wein, die Freuden des Mahls, der Körper eines geliebten Wesens.*!2 Handkes Epiphanien als poetische Darstellungen bedeutsamer Augenblicke wirken - in dieser kulturgeschichtlichen Perspektive - wie ein später Nachhall vormoderner, quasi-mythischer Erlebnisformen. Mit der Vorliebe für Epiphanien und Augenblicke als Modi erzählerischen Gestaltens korrespondiert das damit zusammenhängende und davon abhängige Moment der Plötzlichkeit, ein - wie Bartmann zusammenfaßt - „temporaler Index ftir panische Erwartung, die das Zeitkontinuum schockhaft sprengt", andererseits auch „Glücksmomente" bezeichnet, somit als Zeitmaß der momenthaften Umstürze des Helden anzusehen ist.« Nach Karl Heinz Bohrer ist Plötzlichkeit ein Merkmal moderner, avantgardistischer Literatur, „Ausdruck und Zeichen von Diskontinuität und Nichtidentischem", eine „Absage an die Kontinuität des Zeitbewußtseins" und „zentrale Anschauungskategorie des modernen Bewußtseins", entwickelt in der Romantik, später von Nietzsche, Scheler, Carl Schmitt, Heidegger philosophisch fundiert, von Hofmannsthal, Jünger, Woolf, Joyce, Proust, Musil, Benjamin literarisch gestaltet.^ Mit der,Plötzlichkeit', der Ekstase des Augenblicks' verbunden seien Elemente der Gefahr, des Schreckens, des Schocks, der Angst, des Katastrophischen, aber auch der Erleuchtung, der erotischen Exaltation und der ästhetischen, wahrnehmungsbezogenen Utopie, der Rettung des Glücks in individuellen Momenten bei Autoren des „gesteigerten Augenblicks" wie Joyce, Proust, Musil, indem „das ,Ich' im Zustand emphatischer Wahrnehmung, einer die soziale, aber auch bloß private Wirklichkeit transzendierenden ,Ekstase' des,Glücks'" dargestellt wird.« Dabei gehe es um die Darstellung „rei42 Hermann Usener: Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung [1996]. Frankfurt/M.: Klostermann ">2000, S. 291. 43 Christoph Bartmann: Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß. Wien: Braumüller 1984, S. 7, 169^ 182. 44 Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 7, 43, 184fr. 45 Ebd., S. 186.
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ner Gegenwärtigkeit der Imagination", um einen „Prozeß der Entzeitlichung", eine „präsentische Bewußtseinsentgrenzung" im fragilen Augenblick der Epiphanie: Zeitlosigkeit im Sinne eines kontemplativen Akts absoluter, partiell unbewußter, jedenfalls nicht ich-geleiteter Vergegenwärtigung von Zuständen, Vorstellungsbildern, Wahrnehmungsgegenständen, ist [...] die gemeinsame Konstante der Augenblicks-Metapher innerhalb der Literatur der klassischen Moderne.« 6
Handke wäre in seiner Konzentration auf die immanente Erlebniswirklichkeit seiner Helden und die Gestaltung bedeutsamer Augenblicke und Plötzlichkeitsstrukturen hier einzuordnen. Während Plötzlichkeit aus Bohrers Perspektive also als typisch moderne, avantgardistischen Traditionen verpflichtete literarische Verfahrensweise erscheint, ist sie aus der Sicht Bachtins, Lugowskis, Hallpikes, Oesterdiekhoffs vormodern, archaisch, mythosanalog: Das plötzliche Gewahrwerden eines bedeutsamen Ereignisses erschien dem Menschen des alten Griechenland nicht als eigene Bewußtseinsleistung, sondern als durch dämonische oder göttliche Kräfte bewirkt.^ Mythisches Denken kennt - im Gegensatz zum modernen Denken - die Idee der Entwicklung am Leitfaden der Kausalität nicht. Im Erzählmodus der Plötzlichkeit leben archaische, mythosanaloge Denkstrukturen in literarischer Vermittlung bzw. Uberformung wieder auf: nicht-lineare Erzählstrukturen, a-kausale Zeitvorstellungen, entwicklungslose Vorgänge, das plötzliche, unvermutete Eintreten bedeutsamer Bewußtseinszustände, ebenso deren abruptes und unmotiviertes, entwicklungsfremdes Umschlagen in ihr Gegenteil. An den erzählerischen Weichstellen von Handkes Romanen kommt es häufig zu abrupten psychischen Einbrüchen, Erweckungs- oder Zusammenbruchserlebnissen, die psychologisch zu fundieren er sich kaum bemüht, obwohl er ein dezidiert subjektivistisches Literaturkonzept vertritt. Entscheidende Bewußtseinsvorgänge werden ohne befriedigende bzw. ausreichende psychologische Begründung erzählt, was auf ein akausales Zeitverständnis, auf den Einbruch mythosanaloger Kausalitätsauffassung hindeutet: Plötzliche Entzauberungen, plötzliche Liebesakte (SE 54, L H 136, CS 214Q, plötzliche Gewalttaten konturieren die Handlungsabläufe. Im Gegensatz dazu steht die Psychologisierung aller erzählten Be46 Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 176. 47 Oesterdiekhoff, Kulturelle Bedingungen (Anm. 35), S. 220.
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wußtseinsvorgänge, die psychologisierende Kausalität etwa Thomas Manns, der als mythophiler Autor gilt, obwohl er dem Mythos gerade durch die Psychologisierung die Bedeutsamkeit nimmt (etwa in den JWpfo'-Romanen).
V. KONTEXTE,
BEWERTUNGSVERSUCHE
Gerade in der bewußten Verweigerung linearer Erzählmuster, mimetisch-realistischer und psychologisierender Romankonzepte durch das Aufbrechen traditioneller poetischer Strukturen scheint es bei Handke zu einem Einbruch vormoderner, akausaler, nicht-psychologischer, mythischer Denkformen zu kommen. Zugleich ist hier aber der Zusammenprall avancierter erzählerischer Mittel, typisch moderner Verfahrensweisen mit dem mythischen Anspruch des Dichters und seinen mythosanalogen bzw. formalmythischen Erzählstrategien auffallend. Der Versuch vieler Autoren, sich des Mythischen zumindest poetologisch zu bemächtigen, ohne zugleich das Aufklärerische aufzugeben, scheint für Handke wie für verwandte Autoren (etwa Botho Strauß) charakteristisch zu sein. Dieter Lamping faßt die Imitation mythischer Namensgebungen und Namenstabus in moderner Literatur wie folgt zusammen. Diese Phänomene zeugen von der Präsenz mythischer Denkformen in einer Literatur, die selbst nicht mehr mythisch ist. Sie haben daher oft den Charakter von Zitaten: sie schaffen in der modernen Erzählliteratur eine archaische Dimension, die von mythischen Bedeutungen und Vorstellungen erfüllt ist.«8 Die grundlegende kulturelle Evolution zumindest westlicher Gesellschaften beschreibt Emile Dürkheim als zunehmende Subjektivierung des Einzelbewußtseins: Dieses habe sich allmählich aus den Bindungen an das archaische Kollektiv-Ich gelöst, z. B. mythische Seelenvorstellungen abgestreift, die Bedeutungen von den Tatsachen getrennt und dadurch zunehmend an Individualität gewonnen, eine „Religion der Persönlichkeit" erzeugt: Bei den zivilisierten Menschen [...] dringt der Egoismus bis in den Schoß der höheren Vorstellungen ein: jeder von uns hat seine Ansichten, seine Uberzeugungen, seine eigenen Gelüste, an denen er festhält. Er mischt sich sogar in den
48 Lamping (Anm. 25), S. 121.
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Altruismus ein, denn es kann vorkommen, daß wir eine eigene Art haben, altruistisch zu sein, die von unserem persönlichen Charakter und von unserem Geist abhängt, und von der abzugehen wir uns weigern.« Handke selbst, ein bekennender Subjektivist,5° deutet diese Problematik an, indem er die weitverbreitete Obsession moderner (wesdicher) Subjektivität anprangert, „Weltbilder" zu erzeugen: „Wenn einer einmal ein Weltbild hat, wird er erbarmungslos; und die Gruppe mit einem gemeinsamen Weltbild wird mörderisch." (PW 92) Zugleich sind seine Werke selbst subtiler Ausdruck modernen Strebens nach Subjektivierung, der Suche nach extremen Möglichkeiten der Innerlichkeit. Die Grenzen subjektiver Sinngebung versucht Handke immer wieder so weit wie möglich hinauszuschieben, nämlich in seiner „Suche nach Zusammenhang", der ein allein subjektiv zu erfahrender und zu legitimierender ist, auf dem (Um-Weg) über - zitierte, imitierte - Strukturelemente mythischen Denkens abläuft und entsprechende Widersprüche, Inkonsequenzen, aber auch Faszinationen durch das uns kulturell Fremde, nämlich das Archaische/Mythische, das „Atavistische" (B 475, 527), erzeugt, Faszinationen, die in ihrer Widersprüchlichkeit in Handkes Roman Der Bildverlust durchgehend reflektiert werden. Mögliche Kontexte dieses Prozesses werden in der transkulturellen Kognitionspsychologie folgendermaßen beschrieben: Indem die Bedeutungen von den Tatsachen zunehmend getrennt werden, wandern jene ins Subjekt, während die Außenwelt entwertet wird. Die Subjektivität reichert sich mit Sinn an, indem sie ihn der Umwelt entzieht.'1 Dieser Prozeß erscheint hier als Konsequenz der „Evolution von traditionaler zu moderner Mentalität". Für Oesterdiekhoff ist dabei „fraglich, ob man der Sprache eine Kompetenz aufbürden kann, die der Autorität des Heiligen funktional adäquat sein soll".?2 Womöglich liegt hier, in dieser Uberforderung von Literatur in der späten Moderne, eine der Ursachen für die weitverbreitete Ablehnung der Texte Handkes (bzw. derjenigen Botho Strauß') in einer Zeit, in der der Abbau von Bedeutsamkeiten aller Art bevorzugtes Ziel kultureller Bestrebungen zu sein
49 Emile Dürkheim: Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 239. 50 „Ich habe nur ein Thema: über mich selbst klar, klarer zu werden, mich kennenzulernen." (IBE 26). 51 Oesterdiekhoff, Kulturelle Bedingungen (Anm. 35), S. 241. 52 Ebd., S. 240.
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scheint, was in der im Kulturbetrieb allenthalben beliebten Denkfigur der Inversion, der Umkehrung abgenutzter kultureller Muster, prägnant erkennbar ist. In einer Zeit, in der alles Große, Bedeutende, Geniale der Vergangenheit als zunehmend belastend empfunden wird, in der Verehrung, Kanonisierung, Heiligung als grundsätzlich (auch politisch) verdächtig gilt, müssen Bekenntnisse wie diejenigen Handkes natürlich provokativ erscheinen: Das Wort sei gewagt: Ich bin, mich bemühend um die Formen für meine Wahrheit, auf Schönheit aus - auf die erschütternde Schönheit, auf Erschütterung durch Schönheit; ja, auf Klassisches, Universales, das, nach der Praxis der großen Maler, erst in der Natur-Betrachtung und -Versenkung Form gewinnt. (EF 157!) In der Kognitionspsychologie erscheint Bewußtseinsgeschichte auch als „eine der Instinktreduktion": Das moderne Denken [kognitionspsychologisch verstanden, Anm. d. Verf.] ist nicht mehr unmittelbar an die Dinge gebunden und gewinnt zu ihnen ein abstraktes Verhältnis; es geht nicht in ihnen auf, sondern überschießt sie mit einem ,Uberbedarf an ,Sinn'. Das Verhältnis von Welt und Ich wird dadurch hypothetischer und abstrakter.5' Diese Entwicklung schlägt sich auf spezifische Weise und besonders eindringlich in der (europäischen) Literatur seit dem 18. Jahrhundert nieder. Handkes Werk ist gerade dort von ihr geprägt, wo es „die noch nicht vom Sinn besetzten Orte ausfindig machen" möchte und dazu auch den zitierenden, imitierenden Rückgriff auf Elemente des (unwiederbringlich) verlorenen (oder überholten) mythischen Denkens benutzt, um solcherart neue (alte) Bedeutsamkeiten aufzuspüren, sie gegen die „Gleichgültigkeit der Welt" aufzubieten, die Kolakowski gleichermaßen treffend wie bestürzend beschrieben hat. 54 Möglicherweise müssen alle mythosanalogen Textstrukturen bei Handke (und verwandten Autoren der Moderne) als Schwundstufen des Mythos bewertet werden: Diese Restformen von Bedeutsamkeit sind in modernen Texten zum Teil in formalmythischen Strukturen konserviert (im Sinne Lugowskis), zum Teil in abgesunkenen, säkularisierten, ins Alltägliche transformierten Phänomenen der poe-
53 Oesterdiekhoff, Kulturelle Bedingungen (Anm. 35), S. 213. 54 Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos. München/Zürich: Piper 1973, S. Spff.
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tisierten Wirklichkeitserfahrungen wirksam (Räume, Zeiten, Gegenstände in ihrer literarischen Uberformung). In Handkes mythosanalogen Textstrukturen werden formalmythische Denkstrukturen zitiert und imitiert, die inhaltlich auf durchaus gegensätzliche Weisen bestimmbar bzw. auffüllbar werden: Die Differenzerfahrung der Moderne gegenüber dem vergangenen mythischen Lebensgefühl, bei Handke allen mythophilen Stilisierungen zum Trotz überall erkennbar, beruht auf dem (gegenüber vormodernen Gesellschaften) veränderten Erwartungshorizont in bezug auf potentielle Bedeutsamkeit bzw. glaubhaften (kohärenten, authentischen) Sinnkonstruktionen: J a , ich bin auf die menschenmögliche Ewigkeit aus', sagte sie zu dem Autor, der antwortete: ,Und ich möchte vergänglich sein', worauf von ihr ,Das ist kein Unterschied oder Widerspruch' kam. (B 456)
Handkes Bildverlust ist entgegen allen einschlägig mythophilen Anstrengungen von Mythos-Skepsis, auch in bezug auf die von der Heldin angerufene „Ewigkeit" durchdrungen: Ihre verehrten Toten [...] waren Teil der zigmilliarden seit dem Beginn der Zeiten in das Erdreich versickerten, hinweggesinterten, verkrümelten oder in sämdiche Windrichtungen verpufften Nichtmehrvorhandenen, Niewiederzurückrufbaren, von keiner Liebe mehr Wiederbelebbaren, in alle Ewigkeit unersehnbar Gewordenen. Wohl agierten sie noch, wie früher, ab und zu in den Träumen, aber bloß so im Gewimmel, unter ,ferner liefen': dieses Ab und Zu hatte, anders als früher, nicht mehr die Bedeutung von ,zu allen heiligen Zeiten'. (B 10)
So endet dieser große Roman schließlich in einer dezidierten Absage an den Mythos: ,Das Bild ließ sich sehen jenseits von Sage und Mythos. Das Bild, wie war es wunderbar mythenfrei - rein das Bild, als die Schaltstelle und als der Schaltsatz.' (B 746)
Wendelin Schmidt-Dengler
Laboraverimus Vergil, der Landbau und Handkes Wiederholungen
i. Mit seiner Kenntnis der Antike kann Handke auch Kenner überraschen. Eines der Motti zu seinem Roman Die Wiederholung stammt aus dem Werk des nur den Fachleuten bekannten Autors einer Schrift über die ,agricultura' namens Columella aus dem heutigen Spanien, der in der julisch-claudischen Zeit, also im ersten nachchristlichen Jahrhundert, seine zwölf Bücher umfassende Lehrschrift verfaßte. „Laboraverimus" heißt es da, also ein „Futurum II", ein futurum exactum, die Vorzukunft, eine Tempusform, auf die Handke auch in seinen Tagebuchaufzeichnungen Am Felsfester morgens eingeht: „,Das Land der Verheißung', ,Die weiße Stadt': Ich werde dort nie ankommen - aber sie werden mich zumindest erwartet haben: die utopische Grammatikform der Vorzukunft, oder, noch treffender, des Futurum exactum" (FF 153). „Wir werden uns gemüht haben", so in etwa läßt sich dieses Motto übersetzen, in jedem Falle eine Tempusform, der der Autor in dem Roman auch so etwas wie eine eigene Dignität zuschreibt; der Ich-Erzähler Filip Kobal berichtet von seinem Bruder: noch weiter zu wirken als solche Bilder - hinauszuweisen auch über meine Gegenwart -, schienen mir beim Lesen die Sätze in jener eigenartigen, vom Bruder oft verwendeten Zeitform, der sogenannten „Vorzukunft", für die er, weil es sie im Slowenischen nicht gab, jeweils ins Deutsche wechseln mußte: „Wir werden auf dem Grünen Weg gegangen sein. Der Grenzstein wird am Rand gestanden haben. Wenn der Buchweizen gesät ist, werde ich gearbeitet, gesungen, getanzt, und bei einer Frau gelegen haben." (W 188) An dieser Stelle wird wörtlich auf das Motto angespielt: „ich werde gearbeitet [...] haben". Die Vorzukunft also als eine Tempusform, die das Erzählen ermöglichen soll über eine Zeit, die noch nicht war, der Erzähler also nicht mehr - um einem berühmten Wort Thomas Manns die Ehre zu geben - ein „raunender Beschwö-
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rer des Imperfekts", 1 sondern vielmehr ein Erzeuger von Erzählungen in einer Welt geahnter Möglichkeiten. Daß das lateinische Futurum exactum ursprünglich nicht mehr als eine Möglichkeit bildete, die Zukunft auszudrücken, ist sprachwissenschaftlich unumstritten, uns (und Handke) interessiert in diesem Zusammenhang freilich das Tempus nur dann, wenn es auch die „Vergangenheit in der Zukunft mit Bezug auf eine andere Handlung" auszudrücken vermag. 2 Zudem scheint der Kontext der zitierten Stelle aus Columella (3,10,12)3 doch auch einigermaßen aufschlußreich; denn dieser spricht über Weinreben, bei denen es nicht darum geht, Früchte zu produzieren, sondern (ich vereinfache ein wenig) darum, auf „die Deckblätter und Schattenspender" zu achten, so daß sich daraus ergibt, daß man sich weniger um den Weinbau (vindemniae) als um den Schatten (umbrae) gemüht hat. Auf einen anderen Zusammenhang ist hier jedoch hinzuweisen, der m. E. einen guten Zugang zu den Werken Handkes von Der Chinese des Schmerzes bis zur Wiederholung und vermutlich auch darüber hinaus ermöglicht, einen Zusammenhang, der sich aus dem Bezug Columellas zu seinem berühmten Vorbild, den Georgien Vergils ergibt. Denn Columella dichtet offenkundig Vergil weiter, da dieser im vierten Buch V 1 1 5 f r von dem Garten und einem Gärtner spricht, aber dies alles mit der ,figura praeteritionis' behandelt: Uber den Garten und den Gärtner könne einmal ein anderer schreiben; übrigens ist diese Stelle bei Vergil die erste und die einzige bedeutende Stelle, da der Gärtner, der Herr des Gartens überhaupt als Figur literarisch in Erscheinung tritt. Columella wollte dies vollenden, und so hat er sich im besonderen der Hortikultur gewidmet, und Handkes Wiederholung ist auch ein Gartentext, denn da ist unerhört viel vom Obstgarten des Bruders die Rede. Wie genau übrigens Handke Columella gelesen hat, geht aus einigen Anmerkungen in Arn Felsfenster morgens hervor; auch dort wird nach dem Prinzip der ,Wiederholung' gesucht: ,ßevocari, bei Columella, heißt: zurückholen, wiederholen; Die Wiederholung oder die Revocation." (FF 232) E r stellt auch seine literaturhistorischen Kenntnisse unter Beweis, indem er von einem „Senor Columella" (FF 233) spricht und durch einzelne Zitate aus dessen Schriften besonders die liebevolle und sorgfältige Zuwendung zur Arbeit hervorhebt (vgl. F F 240, 242) und von dessen „unwillkürliche[n] Parabeln aus der Natur" (FF 247) spricht.
1
Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt/M.: S. Fischer i960, S. 9.
2
Johann Baptist Hofmann: Lateinische Syntax und Stilistik. Mit dem allgemeinen Teil der lateinischen Grammatik. Neubearb. von Anton Szantyr. München: C . H . Beck 1965, S. 323.
3
Es verdient angemerkt zu werden, daß diese Form nur an dieser Stelle bei Columella vorkommt.
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Mit dem Motto hat Handke auch einen sehr konkreten Zusammenhang aus der antiken Literatur mit einem leichten Hinweis nachvollzogen. Der Obstgarten des Bruders wird gleichsam dekodierbar durch die Aufzeichnungen, die der Bruder in slowenischer Sprache hinterlassen hat. Diese unpublizierte slowenische Schrift hinwiederum empfängt ihre Strahlkraft einerseits durch die Sprache, andererseits dadurch, daß sie gleichsam der Palimpsest eines Textes zu sein scheint, den es sehr wohl publiziert gibt, eben die Geórgica Vergils, ein Lehrgedicht, das der Literaturhistoriker Karl Büchner nicht ohne Emphase „das schönste römische Dichtwerk und zugleich das erste klassische Gedicht der Welt"4 genannt hat. Man soll sich vor solchen hymnischen Urteilen hüten, aber es lohnt sich in der Tat, auf dieses Gedicht zu verweisen, zumal es weit über den Rahmen eines Lehrgedichts hinaus auch die Frage, wie es um die Natur und die Arbeit in und mit der Natur bestellt sei, in einer gültigen Form behandelt, die von Vers zu Vers das in bestem Sinne Kalkulierte und Reflektierte des Ganzen verrät, zugleich aber auch die Probleme, die sich aus der Arbeit und der Natur ergeben, nie an die pure Form verrät. „Wort für Wort, ein paar Zeilen", liest auch Andreas Loser, der Held in Der Chinese des Schmerzes Vergils Geórgica am „Ende des Tages": ,,[W]enn ich alt geworden sein werde [Achtung: Vorzukunft! - Anm. d. Verf.] und außer sonstigem Dienst, möchte ich sie übersetzen" (CS 42) verkündet Loser, der Altphilologe, der nach einem befremdlichen Zusammenstoß im Stadtzentrum seine Tätigkeit als Lehrer aufgegeben hat: Loser stellt auch zu den Geórgica Vergils einen Zusammenhang mit den seltsamen Tieren her, zu den „kurzlebigen Tierchen", den Weberknechten, die seine Wohnung heimsuchen (CS 4if). Die Geórgica haben aber für Loser auch eine bestimmte Funktion: Sie „stellen [ihm] die Zeit zurück, oder bringen sie in einen anderen Sinn" (CS 43). Auf einer Seite berichtet der gewissenhafte Altphilologe denn auch in der Folge, was in den Geórgica zu finden sei: Das Wissen um die rechten Termine, um die „Rinderhaltung und die Pflege der Bienen" (CS 43), eine Lektüre, die sich für den Philologen leicht und zugleich überraschend auch auf seine Naturerfahrung zurückbeziehen läßt. Entscheidend aber für ihn ist weniger die Lehre, die sich aus diesen Regeln gewinnen läßt, sondern die Lehre, die er „der Begeisterung (nie einem Rausch) über die Dinge, welche immer noch geltend sind", entnehmen kann, eben „die Sonne, der Erdboden, die Flüsse, die Winde, die Bäume und die Büsche, die Nutztiere, die Früchte mit den Körben und Krügen), die Geräte und Werkzeuge"
4
Karl Büchner: Römische Literaturgeschichte. Stuttgart: Kröner 1957, S. 300.
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( C S 44). M a n merkt, wie an solchen Stellen, die sich auf das Lehrgedicht beziehen, die Erzählung unvermerkt zur Aufzählung mutiert, aber immer noch als Erzählung firmiert.
2. Es lohnt sich, die erzählenden Texte Handkes parallel zu den Aufzeichnungen in Phantasien der Wiederholung über Vergil zu lesen. H i e r sind mit einer geradezu musterschülerhaften Gewissenhaftigkeit die Leseeindrücke notiert, die die schriftstellerische Arbeit begleiten. Schon zu Beginn vernehmen wir ein eigentümlich säkulares Credo: „Kein Jesus soll mehr auftreten, aber immer wieder ein Homer." ( P W 7) D e r Parzival dürfte auch gerade gelesen werden, ab einem gewissen Zeitpunkt ist es aber Vergil, der intensive Lektüre in Anspruch zu nehmen scheint: Wie verlockend Vergil gerade die kleinen Gegenstände schildert: den Becher aus Buchenholz, ,mit feinem Stichel oben angebracht eine biegsame Rebe, welche Beerenbüschel überkleidet, die im mattfarbenen Efeu verstreut sind' (,Sizilische Musen, besingen wir das ein wenig Höhere ...': das ist es ja schon) Wir nach den Weltkriegen: die wunderbare Erfahrung, daß wir keine Herren sind (,Wächter eines armen Gartens bist du', Vergil) Das Erzählen Vergils fängt in der Regel mit einem ,schon' an: d. h., es beginnt jeweils an der Grenze, zwischen dem Tag und der Nacht, der Nacht und dem Tag, einer Jahreszeit zur andern („das hat er von Homer gelernt") ( P W 26) D e r Blick auf die Natur scheint durch die Lektüre Vergils geschärft zu sein. „Die Natur ist11 (EF 158), hatte es 1979 in der Kafka-Preisrede geheißen, eine Feststellung, der sich nur schwer widersprechen läßt. D o c h nun wird die Natur denn auch entschieden differenzierter gesehen: Die Natur sträubt sich vor der Beschreibung, auch die Zivilisation für sich; wohl aber bin ich ganz versessen auf Orte, wo Natur und Zivilisation zusammen sich unter einer Art Arkade fugen; versessen auf die überall anzutreffenden Bauelemente für die Weiße Stadt. Nicht der kleine Moränensee hier in der unberührten Natur wärmt mein Herz, sondern die Flußbrücke, an der ich vorhin lehnte, oder die niedrigen Steinmauern in der Weidelandschaft. ( P W 55)
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Die Natur für sich kann nicht Gegenstand der Beschreibung sein, sie muß von den Spuren der menschlichen Arbeit künden: Laboraverimus, und dieser Gedanke findet sich deutlich ausgesprochen bereits in den Phantasien der Wiederholung: „Ich erwarte keinen Gott, außer in der abenteuerlichen, gefahrvollen Arbeit: nicht im Abenteuer, und nicht in der Gefahr, aber in der abenteuerlichen, gefahrvollen Arbeit." (PW 62) In dem Wort ,laborare' steckt weniger das Moment der Gefahr als das der Mühsal, aber immerhin läßt sich so sehr schön die Brücke zu dem Motto der Wiederholung schlagen. Wie die Vergil-Lektüre dient auch die Balzac-Lektüre der Positionsbestimmung: „Kann nicht jemand wie ich so ausführliche und enthusiastische Beschreibungen von Menschen geben wie Balzac?" (PW 62) fragt sich der Schreibende, eine Frage, die sehr wohl rhetorisch gemeint sein dürfte. Vergil verhilft auch zu einer entschiedenen Distanzierung von Franz Kafka, dem verhaßten „Ewigen Sohn" (PW 94). Zuvor schon sagt Handke:,Jedes längere mystische Abenteuer - wie es das Schreiben ist - macht mich klarer, genauer, vernünftiger, und es zieht mich, den Leser, immer mehr von dem Geschlenkere Kafkas weg, hin zu dem hellen Tagwerk Vergils." (PW pof) Wieder stellt sich der Begriff des ,laborare' (,Tagwerk') ein, offenkundig auch als eine Uberwindung der Passivität. In seiner Begeisterung für Vergil, den er mit lehrerhafter Strenge den Autoren des 20. Jahrhunderts entgegenhält, stellt er Mandelstam Vergil gegenüber: „,Pogromartig' mußte Mandelstam den Lindenflaum in der Mailuft nennen: es war ihm nicht erlaubt, so zu leben, daß er die Dinge beim Namen nennen konnte wie Vergil, der einfach sagen konnte: ,tilia levis', die leichte Linde." (PW 98) Auch wenn der Vergleich von Mandelstam und Vergil durchaus zutreffend ist, so wird doch durch die kleine Fehlleistung der Ideologie- oder zumindest Tendenzverdacht rege: Hier wird mit Absicht die Uhr der Zeit zurückgestellt, um auch den Schrecken einer Gegenwart zu entgehen und sich einer Vergangenheit anzuvertrauen, die es allerdings an Schrecken in der voraugustäischen Zeit sehr wohl auch mit unserer Epoche aufnehmen kann. Die Linde ist nicht ihrem Wesen nach leicht, sie ist „leicht" im Vergleich zu anderen Holzsorten, und es geht darum, aus diesem Lindenholz eine für Zugtiere nicht schwere Deichsel anzufertigen (Georgica 1,173).
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Es wäre ungerecht, wegen solcher Kleinigkeiten Handke am Zeug zu flicken, da es auch der Seriosität und dem Anspruch seiner Lektüre nur zu deutlich entgegensteht, auch dem Anspruch, der in dem Roman Die Wiederholung erkennbar wird, wo es allemal um die Arbeit geht, die „convenienter naturae" vollbracht wird. Das „Werkheft" des Bruders ist offenkundig ganz nach den Georgica Vergils gebaut, auch wenn es „von einem noch nicht Zwanzigjährigen" stammt; es ist keine Mitschrift aus der Schule, sondern „der eigenständige Forschungsbericht eines jungen Gelehrten, im zweiten Teil dann übergehend in ein Bedenken des Gegenstands, eine Art Abhandlung, zuletzt ein Katalog von Regeln und Vorschlägen; insgesamt Lernheft und Lehrbuch in einem" (W 161). Die erste Seite liest sich wie eine Paraphrase des ersten und des zweiten Buches der Georgica-, da geht es um die Bodenbeschaffenheit, um die Pfropfreiser und um das Veredeln (W iöif). Die Parallelen sind schlagend und sollen hier nicht ausgebreitet werden, doch zur Illustration ein Beispiel. Bei Vergil heißt es über das Aufpfropfen: „Auch die Art des Pfropfens und Okulierens ist nicht immer gleich. Wo sich nämlich mitten aus der Rinde Augen hervordrängen und den zarten Bast durchbrechen, wird gerade im Knoten ein Spältchen gekerbt; dort bringt man das Reis des fremden Baums und lehrt es, im klebrigen Bast einzuwachsen" (Georgica II 72-77).5 Handke: „Was das Pfropfen betraf, so verwendete er dazu nur nach Osten gerichtete Zweige. Sie hatten die Form eines Bleistifts, die Schnittflächen geschrägt, damit das Regenwasser abfloß, und das Schneiden selber geschah, statt mit einem Hieb, mit einem Ziehen (um die Rinde glatt zu erhalten)." (W 162Q Entscheidender aber als solche „beiläufigen Erziehungsgleichnisse, tiefer als solch mitspielender Hintersinn, ging mir bei der Lektüre, wie seit je, das Sinnenhafte, die bloße Erwähnung von Dingen, die mir bisher als Wirrwarr begegnet waren." (W 163^ Mit diesen Worten sind wir nicht beim Lehrbuch Vergils, das sehr wohl auch ein Lernbuch gewesen sein muß, sondern auch beim Beginn von Goethes Metamorphose der Pflanzen: „Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung / Dieses Blumengewühls über dem Garten umher; / Viele Namen hörest du an, und immer verdränget / Mit barbarischem Klang einer den andern
5
Publius Vergilius Maro: Georgica. Vom Landbau. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und hg. v. Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam 1994 (= RUB 638), S. 43.
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im Ohr. / Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern; / Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz." 6 Ahnlich bringt auch Vergil in die Tätigkeit des Landbaus Ordnung: Die Furchen - versus - sind äußerer Ausdruck dieser Ordnung, wie auch die Verse des Gedichts Ausdruck dieser Ordnung sind. Im vierten Buch der Geórgica hat Vergil als erster und einziger dem Gartenbau im besonderen einen längeren Abschnitt gewidmet, dessen Ausfuhrung aber - wie bereits oben erwähnt - einem anderen Dichter überlassen. (Geórgica 4 , 1 4 7 ^ Es ist die vorangehende Stelle die einzige, die dem Garten als einem Sonderphänomen des Landbaus in der antiken Literatur gewidmet ist. Von diesem Gärtner heißt es auch: „ille etiam seras in versum distulit ulmos" - „jener hat auch noch die späten Ulmen gleichmäßig in die der Reihe gepflanzt" (4,144), ähnlich wie der Dichter auch die Worte im Vers auf die Reihe bringt. Durch den Garten wird sich der Dichter des eigenen Gewerbes inne: Mitgedacht scheint mir dieser Gedanke bei Vergil. Handke widmet sich der Geschichte des Gartens seines Bruders, er zeigt den Wandel und dessen Verfall auf und setzt dies in Analogie zu seiner eigenen Tätigkeit: Je länger ich blieb, auf und ab ging, umkehrte, stand, den Kopf wendete, desto deutlicher prägte sich die Anlage, als Nutzgarten im natürlichen Absterben begriffen, um zu einem Werk, einer die Menschenhand überliefernden und würdigenden Form, mit dem Nutzen, von einer anderen Hand in eine andere Form übertragbar zu sein, zum Beispiel in Schriftzeichenform auf die Muldenflanke dort, die gestuft war von verlassenen Viehsteigen - im Schneefall allmählich hervortretenden, weißen und weißeren Zeilen. (W 174) Das Lesen der Landschaft vollzieht sich als Lesen der Schrift, da gibt es die Zeilen, die Versus. Am Ende dieser Partie findet sich denn auch eine Versicherung; allerdings werden diese Wort weniger mit „triumphierender", sondern eher mit „versagender Stimme" vorgebracht: ,Ja, ich werde euch erzählen!" ( W 175t) M i t dem Wörterbuch und dem Werkheft will sich Filip Kobal Slowenien nähern. E r benötigt sie, um die Gestalt des Wahrgenommenen auch in der Sprache zu retten. Immer wieder wird auf dieses Wörterbuch rekurriert, die Erfah-
6
Johann Wolfgang Goethe: Goethes Werke. Band I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München: C.H. Beck, 10. überarbeitete Auflage 1974, Gedichte und Epen. Erster Band (= Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. E. Trunz), S. 199.
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rung der Landschaft ist gebunden an die philologische Sorgfalt, mit der die Dinge zu benennen sind. Im Angesicht des Gartens und seines Wandeins bekennt sich Kobal zum Erzählen, dem Erzählen, dem schließlich auch der Schlußhymnus des Buches gilt: Im Anblick des Gartens hatte sich als unabweisbare Devise das Erzählen hergestellt, und dieses Erzählen bleibt auch der Ersatz für Handlungen, die nicht mehr durchführbar sind: „Natürlich: Das Gehen, selbst das Gehen im Herzland, wird eines Tages nicht mehr sein können, oder auch nicht mehr wirken. Doch dann wird die Erzählung da sein und das Gehen wiederholen!" (W 298)
4„Ich werde mich entschlossen verirren" (PW 99) - mit dieser markanten Devise schließen die unter dem Titel Phantasien der Wiederholung herausgegebenen Notate. Die letzte Szene der Wiederholung, die im Zeichen Vergils steht, beginnt mit dem Verirren: „Eines Tages habe ich mich da verirrt - wie so oft absichtlich, aus Neugier, aus Wißbegier - in eine weglose Steppe, durchkreuzt von Gestrüpp und Steinrippen." (W 285) Ihm eröffnet sich da eine „stadiongroße[n] Dolinenschüssel, oben rundum abgeriegelt von einer dichten Urwald-Palisade, zu entdecken erst mit dem Augenblick, in dem man sich da durchgezwängt hatte." (W 286) Sie ist „zauberischer als ein olympischer Flutlichtrasen" (W 287). Hier wird das perfekte Idyll vorgestellt, Handke riskiert an dieser Stelle ein bukolisches Gleichgewicht, das in der Geschlossenheit in der Dohne von keiner wie immer gearteten Labilität bedroht werden könnte: So freundlich war der Raum, in den ich hinabblickte, und eine solche Kraft stieg aus der Tiefe empor, daß ich mir vorstellen konnte, selbst der große Atomblitz würde dieser Doline nichts anhaben; der Explosionsstoß würde über sie hinweggehen, ebenso wie die Strahlung. [Wir sind im Jahr 1986, im Jahr von Tschernobyl! - Anm. d. Verf.] Und in der Vorwegnahme sah ich dann die zu meinen Füßen, in der fruchtbaren Erdschüssel, Tätigen als die Rest-Menschheit, nach der Katastrophe, wie sie da wiederanfing zu wirtschaften. Ja, als eine Wirtschaft, eine zudem autarke, so erschien mir der in der abgestorbenen Wüste versteckte Ort, und die Erde ernährte da immer noch ihre Bewohner. (W 289I)
Diese Stelle steht wieder im Zeichen des „laboraverimus"; die Mühe wird es dereinst sein, nach der Katastrophe wieder den Zustand herzustellen. Diese Robin-
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sonade im Kollektiv ist die beste, wenn nicht die einzige Chance, die Apokalypse zu hintergehen. Aus der Mangelgegend des Karst erwächst so - und das paßt ganz in das bukolische Arrangement der Eklogen Vergils - die Rettung vor der Gefahr. Bezeichnend für die Konstanz von Motiven oder, wenn man so will, Strukturen ist das Motiv der Senke, der Doline: Schon der Garten des Bruders befindet sich in einer Mulde, durch die einst ein Bach geflossen war (W i6yf): Der Garten, der sich auch als eine „Versuchsanordnung" (W166) versteht, „liegt sozusagen auch unter dem Winde; einzig die warmen Fallwinde aus dem Süden strichen bis herunter auf den Boden" (W 168). Die Folge: Die Aste sind gleichmäßig in alle Himmelsrichtungen gebogen. Auch im Bildverlust hält sich die Hauptfigur in einer solchen Grube auf; ähnliche Funktion hat auch die aus einem etwas verfremdeten Horazzitat abgeleitete „Niemandsbucht". Und diese Höhlung, man möchte fast sagen: dieser Mutterleib, ist auch der Ort, in dem Erzählung entstehen kann: So findet denn auch der Erzähler Platz in der Doline; da gibt es eine Figur, ein Halbwüchsiger, der sich in einer Satzkaskade immer mehr zu einem Erwachsenen „aufrichtet, zu einem Mann" (man meint, ein Selbstporträt des Autors vor sich zu haben), „holt tief Luft und gewahrt die Feldhütte als die Mitte der Welt, wo in der bildstockkleinen Höhlung seit jeher der Erzähler sitzt und erzählt" (W 289). Die Schilderung der Doline ist komplementär zu der Schilderung des Obstgartens: In beiden Fällen handelt es sich um die Enklave, um die Vorformen der „Niemandsbucht"; die Schilderung des Obstgartens endet mit der Ankündigung des Erzählens, in der Doline findet sich der Erzähler „seit jeher". Beide Örtlichkeiten scheinen nach dem Muster des Vergilschen Landbaus ausgerichtet; die Kunst des Gartenbaus bringt die Natur erst zu sich selbst, erst durch die menschliche Tätigkeit bekommen die Dinge ihre Namen und erst durch die Dichtung werden die Dinge anschaulich. Dieser Dinglichkeit - und hierin dem auch öfter zitierten Rilke nicht unverwandt - gilt die Intensität des Erzählers, der sich allerdings bewußt ist, daß er die Ereignisse nicht an dem so beliebten Faden der Erzählung aneinanderreihte, sondern immer wieder in die Aufzählung verfiel (W 331). Doch zuletzt bleibt die Erzählung, die offenkundig sich nicht nach den Kriterien der Narratologie definieren lassen will, sondern gleichsam eine Kraft, die von einer einsamen „Feldhütte" (W 290, 333) auszugehen scheint, „bildstockklein" - das ist die rustikale Vision der Behausung des Erzählers, eine Kapelle beinahe, jedoch so etwas wie ein geheiligtes Zentrum, das der profanen Arbeit rundherum, dem ,laborare' das Zentrum gibt. Die Landarbeit scheint in ihren Abläufen einer Liturgie verpflichtet, einer geheiligten Ordnung, deren Gesetz durch die Erzählung weitergegeben wird. Die Erzählung kann vor allem die Bilder schaffen, und mit der Herstellung von
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Bildern, den Eidyllia, ergibt sich auch die Möglichkeit, den Gang in die Idylle als eine eskapistische Reaktion zu deuten. Gerade die Herstellung von Bildern steht einer solchen banalisierenden Ausdeutung entgegen. Die Prophylaxe gegen den Vorwurf des Eskapismus ist in den Text eingebaut: „Bild? Chimäre? Fata Morgana?" Diese Kritik erwartet sich offenkundig der Redende und entscheidet sich für das „Bild; denn es ist in Kraft" (W 290).
5Die Bilder geben dem Text auch seine Kohärenz und Stärke; sie überbrücken die Klüfte, die sich zwischen den einzelnen Blöcken herstellen, sie machen das „als ehe und nachdem" uninteressant. Zugleich ist in der finalen Apotheose des Erzählens auch ein kritisches Moment gespeichert, zwar sollen jene, die aus dem „Land der Erzählung" an den „tristen Pontus" (W 333) verbannt sind, wieder heimgeholt werden, und man mag sich fragen, ob damit nicht konkret auch jene gemeint sind, denen Handke wiederholt seine kritische Aufmerksamkeit zugewandt hatte: Etwa Kafka, Musil oder Thomas Bernhard, gegen jene, die als Geschichtenzerstörer auftraten oder dem Schwierigsten beim Erzählen, nämlich die Natur in eine Folge zu bringen, auswichen - ein Vorwurf, den Handke gegen Kafka erhoben hatte. Daß Handke in diesem Text die Bilder, die Naturbilder in eine Folge bringen konnte, verdankt er, so meine ich, zu einem guten Teil auch der Auseinandersetzung mit Vergil, der auch die Wirrnis der Natur durch die ordnende Hand des Ackerbauern oder Gärtners in die Reihe, in die Verse, in die Zeilen gebracht haben will. Der Rhythmus des Gehens überträgt sich auf den Erzähler, und die Erzählung bewahrt diesen Rhythmus auf, selbst wenn wir gehunfähig geworden sind. Vergil legitimiert dieses Verfahren nicht nur, er garantiert auch die Ordnung, die Ordnung des Verses, die Ordnung des Rhythmus. Zugleich wird durch die Bezugnahme auf Vergil der Verdacht jedes agrarideologischen Rückfalls vermieden, der dem berühmten Lobpreis des Landlebens entspricht, der schon für einen Horaz einer ironischen Einfassung bedurfte. Gerade aber eine solche ironische Distanzierung vermeidet Handke, ihm ist es in der Tat um die Dignität des Landbaus zu tun, er hat seine Georgica, die mit der Lehre für den Landbau auch die Gesetze für den Bau der Erzählung enthalten.
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6. Es scheint abschließend angebracht, aus den vorangehenden Beobachtungen Allgemeineres über die Bezugnahme Handkes auf Vergil und damit auch etwas über seinen Umgang mit der Antike zu sagen. Daß Handke ein überdurchschnittlicher Kenner des Lateinischen und Griechischen ist, steht außer Zweifel; schon früh hat er offenkundig im Griechischen sich als souverän erwiesen und daraus auch seine Überlegenheit ableiten dürfen: Herrschaft durch die Grammatik. Doch ab Ende der siebziger Jahre erhalten die antiken Autoren für ihn eine ganz neue Funktion; viele seiner Texte lassen sich mit diesen, wenngleich nicht mit diesen allein, auf einen Dialog ein: Horaz, Vergil, Lukrez, aber auch Homer, Hesiod, Aischylos und Sophokles. Aber der Jubel der Altphilologen, die daraus eine immanente Bestätigung ihres Bildungsideals ableiten wollen, ist verfrüht. Mit einem Vergil als „Vater des Abendlandes" (so berechtigt Theodor Haeckers Slogan auch sein mag) hat Handke nichts im Sinne. Es geht auch nicht darum, unser Ergötzen an Werken antiquarischen Inhalts zu befördern, sondern vielmehr darum, die poetischen Energien in diesen Texten zu aktiveren und für das eigene Schreiben fruchtbar zu machen. Handke ist ein Musterschüler in der konsequenten Arbeit mit der Welditeratur. Laboraverimus. Er benötigt die Texte aber nicht, um, wie es ein anderer aus Mangel an Griechischkenntnissen tut, die Erfindung der Poesie zu betreiben. Die Poesie braucht nicht neu erfunden zu werden, sie muß sich vielmehr in ihrer normativen Kraft bewähren; und in diesem Sinne sind die antiken Autoren (wie auch die anderen von Goethe über Kafka bis zu Emmanuel Bove) nicht austauschbar. Was dem Laien als Unterwerfung unter eine Autorität erscheint, ist doch eher der angestrengte Versuch, sich den Normen und damit auch den Qualitäten der großen Autoren zu stellen. Um diese Kraftprobe zu bestehen, benötigt man den Glauben an eine Zukunft, aus der man von den überstandenen Mühen erzählen kann: Laboraverimus.
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„Wirkung in die Ferne". Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht und Goethes Wanderjahre
Wo es Lehrjahre gibt, muß es auch Wanderjahre geben - auf diese einfache Formel werden die folgenden Überlegungen kaum zu bringen sein. Die Tatsache, daß Peter Handke 1973 unter dem Titel Falsche Bewegung ein Filmdrehbuch vorlegte, das sich offen als eine Aneignung von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zu erkennen gab, verpflichtete ihn zu keinem zweiten Teil. Dies um so weniger, als bereits die Wanderjahre ein problematisches Verhältnis zum ersten Teil des Bildungsromans unterhielten und weit eher aus einem Akt der Unterbrechung, Verschiebung und Entfernung, als aus einem Akt der Anknüpfung hervorgegangen waren. Als Goethe in den Wanderjahren zu seinem Helden Wilhelm zurückkehrt und seine Spur „an grauser bedeutender Stelle"1 aufnimmt, sind Handlungszüge und Personal der Lehrjahre längst entrückt, die alten persönlichen Bindungen allegorisch übersetzt und das Geschehen in eine Perspektivenvielfalt endassen, die zuallererst Wilhelm Meister an den Rand eines im episodischen und figuralen Nebeneinander entfalteten Geschehens befördert.2 Fortsetzungen des Wilhelm Meister können nur das offene Resultat eines Transformationsprozesses sein, der die Vorlage nicht nachahmt, sondern mittels einer eigenen Poetologie der Wiederaufnahme aneignet und fruchtbar macht. Wer die Lehrjahre mit Wanderjahren fortsetzen will, muß sich auch mit der transformativen bzw. dekonstruktiven Grammatik Goethescher Fortsetzungen befassen. Nur auf dieser Basis kann der Versuch unternommen werden, Handkes Erzählung Mein Jahr in der Niemandsbucht als fernen Spiegel der Goetheschen Wanderjahre zu lesen. Nur unter der Voraussetzung einer unerhörten und wiederum über Goethe vermittelten Komplexitätssteigerung im Ubergang vom ersten zum zweiten Teil stellt sich eine Beziehung dar, die per definitionem unscharf und anfechtbar ist und vom Problem
1
Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Hg. v. Gerhard Neumann und Hans Georg Dewitz. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. v. Dieter Borchmeyer. 1. Abt. Bd. 10. Frankfurt/M.: 1989 (= Bibliothek deutscher Klassiker 50), S. 263.
2
Vgl. Waltraud Maierhofer: „Wilhelm Meisters Wanderjahre" und der Roman des Nebeneinander. Bielefeld: Aisthesis 1990.
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der Fortsetzbarkeit durchdrungen. Zumal das Buch Mein Jahr in der Niemandsbucht nicht nur der Gewinnung einer neuen Erzählung, sondern vor allem auch der Verwerfung großer Erzählformen gewidmet ist.? Zumal es hier nicht nur um den Wilhelm Meister, sondern auch um die Falsche Bewegung, nicht nur um die Niemandsbucht, sondern auch um die Stunde der wahren Empfindung zu tun ist, deren Protagonist Gregor Keuschnig nun und fast zwanzig Jahre später in der Terrain vague der Pariser Vorstadt aufgesucht wird. Die im Text gestellte Frage „Brauche ich überhaupt noch einen Meister[?]" (NB 73) ist in ihrer Mehrdeutigkeit zu bedenken, das Problem der Fortsetzbarkeit aber, das Wiederspiel von Anknüpfung und Unterbrechung ins Zentrum der Poetik Peter Handkes gerückt. Nur in Formen der Diskontinuität ist Wiederkehr möglich. Hier schlägt im Wortsinn zu Buche, daß sich Handke seit langer Zeit mit den Phänomenen und den Praktiken der Wiederholung auseinandersetzt, mittels derer dasselbe nicht noch einmal, sondern in verwandelter bzw. verrückter Form zur Darstellung gebracht wird und das zu einem gegebenen und nicht verfügbaren Zeitpunkt. Die Freude an der unerwarteten und dennoch erhofften Wiederholung bildet die Grundlage eines immer wieder neu formulierten poetologischen Programms. Handkes Formel: „es kehrt eben wieder" ist ein epiphanisches „es zeigt sich" (ZW 86), das zu einer Zeit an Gewicht gewinnt, als postmoderne Schreibpraktiken die Zirkulation der Zitate feiern, ihre stete Abrufbarkeit voraussetzen und den Komplexitätsverlust ihrer narrativen Modelle freudig in Kauf nehmen. Dabei hatte bereits der Titel Falsche Bewegung die genaue Wiederholung und Gefolgschaft gegenüber Goethe verweigert. Als ein „photographisches Negativ"^ der Lehrjahre ist der Text von Peter Pütz bezeichnet worden - eine Metapher, der zufolge die Lehrverhältnisse des späten 18. Jahrhunderts vor allem einem Beleuchtungswechsel bzw. einer einfachen Inversion unterzogen werden, die ihre Wiedererkennbarkeit sicherstellt. Falsche Bewegung ist eine nachvollziehbare Wiederholung von Goethes Bildungsroman in Hinblick auf die Personen wie auf ihr Beziehungsgefiige und zugleich von jenem obligaten Zweifel am glücklichen Bildungsabschluß inspiriert, der dem Autor des späten zwanzigsten Jahrhunderts aufgetragen ist. Weder werden Dinge und Personen aus dem Bild gerückt, noch zerstreuen sich die Mitglieder des fahrenden Volkes. Die Gruppe bleibt weitgehend
3
Vgl. Karl Wagner: Die Geschichte der Verwandlung als Verwandlung der Geschichte. Handkes „Niemandsbucht". In: Zirkular Sondernummer 51 (1998): „Moderne", „Spätmoderne" und „Postmoderne" in der österreichischen Literatur. Beiträge des 12. Österreichisch-polnischen Germanistentreffens Graz 1996, S. 205-219, S. 2o6ff.
4
Peter Pütz: Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982 (- suhrkamp taschenbuch 854), S. 69.
,Wirkung in die F e r n e "
beieinander, die „Totale aller Wanderer" (FB 60) erhalten, die Motive vertraut. Nur daß aus der „richtigen" Bewegung eine falsche wird, daß das bürgerliche Bildungsprojekt im Nachkriegsdeutschland scheitert und die Breite der epischen Darstellung dem Lakonismus der Filmeinstellungen weicht.5 In der Folge jedoch löst sich die „Totale der Wanderer" auf. Wanderjahre wie Niemandsbucht unternehmen beide eine Ausmessung von Distanzen unter Dingen und Personen, die sich immer weiter voneinander entfernen. Goethes und Handkes Fortsetzungen sind - um einen Begriff Peter Sloterdijks zu verwenden - stets Sphärenerweiterungen.6 In beiden Büchern vollzieht sich eine kosmologische Expansion, welche die beschränkten Kreise der ersten Teile auf neue und weite Kreisbewegungen hin öffnet und in abstrakte Zusammenhänge einrückt. Beides Texte über „Ortsschwund" (NB 291) und Raumentzug, durchqueren sie in unberechenbaren Läufen immerfort Durchzugsgebiete, so wie sich auch die Protagonisten zumeist auf unendlichen Fahrten befinden. Wenn sich Goethes Wilhelm durch ein willkürliches Regelwerk zur Wanderschaft gezwungen sieht, so sind auch die Wanderer der Niemandsbucht dem Prinzip einer unausgesetzten Mobilität verpflichtet. Ihre Wege haben sich getrennt, ihre Namen geändert, ihre Kreise berühren sich nur flüchtig. Das perpetuum mobile der Wanderschaft wird gegenüber den ersten "Teilen in gesteigerte Bewegung gesetzt. Das durchwanderte Gelände dehnt sich bis über Grenzen der Welt aus und löscht das Zentrum, von dem aus die Bewegung ihren Anfang nimmt und in dem sie ihre Begründung findet. Das gilt auch angesichts der Tatsache, daß Handkes Erzählung aus der Perspektive eines
„Ansässige [n]"
(NB 20) geschrieben ist, der das Wandern vorüber-
gehend aufgegeben hat, der, in der Pariser Vorstadt wohnhaft geworden, nur die Freunde wandern läßt. In der Leere dieses Hauses, einem poetologisch bedeutsamen Ort ( Z W 85, vgl. auch N B 135), empfängt er die bruchstückhaften Botschaften der Wanderer. Wie bei Goethe verbinden auch hier vornehmlich Briefe und postalische Zeugnisse die Entfernten mit jenem, dem die Schreibgeschäfte übertragen sind. Im steten Wechselblick zwischen der alltäglichen Nähe des Pariser Weichbildes und den ins Weite entrückenden Horizonten der Reisenden wird der „Ansässige" zum Chronisten.'
5
Vgl. den Beitrag von Norbert Christian Wolf in diesem Band. Vgl. Pütz (Anm. 4), S. Ö5ff. Vgl. Rolf Günter Renner: Peter Handke. Stuttgart: Metzler 1985, S. m f f .
6
Vgl. Peter Sloterdijk: Sphären II. Makrosphärologie. Globen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999,
7
„Im Leben ist der mir gemäße Platz der eines Zuschauers, und im Schreiben will ich mich we-
S. 160.
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Doch ist an dieser Stelle eine gewichtige Verschiebung gegenüber den Wanderjahren zu bemerken. Zwar ist Goethes Wilhelm stets mit einer Schreibtafel ausgerüstet, doch ist er vornehmlich Sammler, Leser, Redakteur und Archivar jener Schriftstücke, die ihm von den Freunden zugespielt werden. In Goethes Roman wird - so hat die Forschung seit Volker Neuhaus immer wieder nachgewiesen8 viel eher Herausgeberschaft als Autorschaft inszeniert. Die Zirkulation bzw. Akkumulation von polyglotten Schriften tritt an die Stelle einer emphatisch inszenierten dichterischen Subjektivität. Die Arbeit des Handkeschen Chronisten in der Niemandsbucht hingegen gipfelt, wie Karl Wagner zeigen konnte, in der krisenhaften Niederschrift des ersten Satzes einer Dichtung, welche die Bildung von dichterischem Kapital, die Sammlung und Distribution nicht zuläßt, um statt dessen eine perpetuierte Krise des Anfangens in Szene zu setzen.»
DIE NEUE W E L T
Darüber hinaus geht es aber auch um die wiederholte Spiegelung des Themas Wanderschaft, das in beiden Texten sein strukturelles Potential entfaltet und bei Handke wiederum entscheidende Verschiebungen erfährt. Vor allem wird jenem großen Plan der Goetheschen Wanderer, der die Mobilität einem großangelegten ökonomischen Zweck unterstellte, alle politische und alle geographische Grundlage entzogen. Zwar konzedieren sowohl Handke als auch Goethe, daß die Weltreisen der Moderne nicht mehr ins Unbekannte und ins Abenteuer führen. „Die Erde ist längst entdeckt" (NB 35), liest man in der Niemandsbucht mit genauem Bezug auf Goethes Wanderjahre, wo es heißt: „Die Zeit ist vorüber, wo man abenteuerlich in die weite Welt rannte; durch die Bemühungen wissenschaftlicher, weislich beschreibender, künstlerisch nachbildender Weltumreiser sind wir überall bekannt genug, daß wir ungefähr wissen, was zu erwarten niger als früher in Aktion setzen und vordringlich Chronist sein, sowohl des Jahrs in der Gegend hier als auch der Freunde im weiten Umkreis hinter den Hügeln [...]." (NB 44) 8
Vgl. Volker Neuhaus: Die Archivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren. In: Euphorion 62 (1968), S. 13-27. Vgl. Barbara Thums: Wandernde Autorschaft im Zeichen der Entsagung: Goethes „Wanderjahre". In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hg. v. Heinrich Detering. Stuttgart: Metzler 2003, S. 5 0 1 - 5 2 1 . Vgl. auch Ehrhard Bahr: „Wilhelm Meisters Wanderjahre, oder die Entsagenden (1821-1829)": From Bildungsroman to Archival Novel. In: Reflection and Action. Essays on the Bildungsroman. Ed. by James Hardin. South Carolina: University Of South California Press 1991, S. 163-195.
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Wagner (Anm. 3), S. 25.
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sei." 10 Goethes Wanderer organisieren sich als Auswanderer, die sich zuletzt zu Weltbünden und feierlichen Bändern zusammenschließen, um ihre Fähigkeiten auch in Amerika unter Beweis zu stellen. So sind sie an jedem Ort am Platz, so geben sie im Namen des großen Projektes ihre Vereinzelung auf und stellen sich der Gesellschaft zur Verfugung. Handke greift die bereits bei Goethe unter Vorbehalt gegebenen Stichworte aus der Welt der Pioniere auf, um ihnen durch Wiederholung eine andere Stelle anzuweisen. Der Schatten bürgerlicher Ökonomie, die die Goetheschen Wanderschaften entzauberte, hat sich in der Niemandsbucht wieder verflüchtigt: Das Amerika, das sich hier zeigt, ist nicht der ökonomisch noch ungenutzte und der Tüchtigkeit deutscher Männer harrende Wirtschaftsraum der Zukunft, er ist viel mehr eine weitere Chiffre des epiphanischen ^ w i schen', dessen Auffindung und Erkundung in der Niemandsbucht auf vielfältige Weise unternommen wird. Handkes „Neue Welt" ist kein geographisches Amerika. „Es ist das Alltägliche, das ich als die neue Welt sehe. Es bleibt, was es war, strahlt nur von Ruhe, eine Schneise oder Startrampe zwischen der alten Welt, wo es frisch anfängt." (NB 36) Das gilt auch dann, wenn im epiphanisch verzeitlichten Interim dieser Neuen Welt jene Handwerker auftauchen, die bereits in der großen Mobilitätsrede aus dem 3. Buch der Goetheschen Wanderjahre als Klasse mobilisiert und für die Neue Welt rekrutiert worden waren. „Die neue Welt ist erschließbar", heißt es bei Handke. „Warum sonst sah ich diejenigen, die sie ans Licht brächten, weder als Träumer noch als Phantasten, sondern als Handarbeiter und Ingenieure?" (NB 37t) Auch Handkes Fremde ist kein romantischer Bildraum mit schwärmenden Taugenichtsen, sondern ein Handlungsraum der handwerklich Tätigen, deren nützliche und von Hand ausgeführte Arbeiten bereits von Goethe gewürdigt, aufgeführt und den Künsten zugeschlagen wurden.
FERNE
Wird aber die Neue Welt in ein epiphanisch gedachtes ,Zwischen' entrückt, so auch ein zweiter Raum, der aus der Topographie der Wanderjahre in die Niemandsbucht übernommen und einer unermüdlichen Reautisierung unterzogen wird: die Ferne. Ein „Mitschwingen aus der Entfernung" (NB 25f) verbindet den Ansässigen mit seinen Freunden. Ferne organisiert die Beziehungen, die von der Niemandsbucht aus geknüpft werden, Ferne ist zugleich ein Objekt des Begehrens wie die Einladung zum epiphanischen Advent, eine Chiffre geistiger Kom10 Goethe, Wanderjahre (Anm. 1), S. 671.
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munikation wie ein Medium des Erscheinens. Das Verschiebungsmuster, das die , Wiederholung' der Wanderjahre in der Niemandsbucht ordnet, zeitigt hiermit ein weiteres Beispiel. Denn Goethes Ferne war ein meßbarer, bezifferbarer Begriff, der überbrückt, beherrscht, technisch bewältigt und überwunden werden konnte. Das blaue Sfumato und ihre romantische Unschärfe klärten sich, um ein längst erkundetes und entzaubertes Territorium freizulegen. Eine mehrfach gebrauchte Formulierung der Wanderjahre: „Wirkung in die Ferne" - gleichfalls der Titel eines Goetheschen Gedichts - muß daher als eine Formel der Ernüchterung begriffen werden. „Wirkung in die Ferne" bei Goethe ist berechenbare actio in distans11 mit kommunikationstechnologischen Akzenten, sie ist Telegraphie im bewirtschafteten Raum. In der Niemandsbucht hingegen bildet die Ferne keinen meßbaren, sondern einmal mehr einen epiphanischen, d. h. radikal verzeidichten Wert.12 11
, A c ö o in distans" war ein naturwissenschaftlich-naturmystisch viel bedachter und diskutierter Begriff für Phänomene der .Femwirkung' wie Magnetismus, Gravitation, Elektrizität, auch G e dankenlesen, deren Unerklärliches in Goethes Gedicht zurückgewiesen und einer weldichen Erklärung zugeführt wird. Vgl. Eibl, Karl: Stellenkommentar zu „Wirkung in die Ferne". In: Goethe, Johann Wolfgang: Gedichte. Hg. v. Karl Eibl. Sämdiche Werke, Briefe, Tagebücher (Anm. i), i. Abt. Bd. 2, S. 956.
12
Diese intensive Reauratisierung der Ferne bei Peter Handke kann ohne den Namen Walter Benjamins nicht gedacht werden. Der ostentative Gebrauch des Begriffs in der Niemandsbucht antwortet nicht nur auf ein Lieblingswort der Wanderjahre, er evoziert auch das Phänomen der Aura, das im Text selbst nicht genannt wird. Die Einmaligkeit in der „einmaligen Erscheinung" einer Ferne, die Benjamin in seiner Definition der Aura beschwört, ihre wiederum in der Zeit und nicht nur im Raum wahrgenommene Augenblicklichkeit qualifiziert auch den Abstand zwischen Goethes und Handkes Fernebildern. Die Einmaligkeit der Aura stellt sich gegen die Praktikabilität, welche die Ferne in den Wanderjahren als einen zugänglichen, unverschleierten Ort vorstellte. Die Erscheinung der Ferne wird von Handke auch an solchen Gegenständen wahrgenommen, die nach der These Benjamins historisch zur Vernichtung der Aura aufgerufen sind. Auch der Film erzeugt den „Fernschleier" (NB 259), den Benjamin nur an der Malerei gesehen hatte. Wenn der Maler und Fernesüchtige unter den Freunden des Chronisten die Kunst der Malerei zugunsten des Films aufgibt und die Suche nach der Ferne gerade mithilfe jenes Mediums unternimmt, das nach Benjamin zur Produktion von Aura schon deswegen nicht in der Lage ist, weil es sich der technischen Reproduzierbarkeit verschrieben hat, dann in kritischer Wendung gegen den Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit. In seinen unausgesetzten Bemühungen, die „Neue Welt" gerade dort aufzusuchen, die Ferne dort zu finden, wo die Moderne alle Schauplätze der Epiphanie zerstört zu haben scheint, revidiert Handke auch das Benjaminsche Diktum. Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/M.: 7 i974, S. 18. Allerdings verwahrt sich bereits Benjamin gegen eine künsdiche Reauratisierung nicht-auratischer Medien.
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DIE WANDERER
Reminiszenzen der Wanderjahre finden sich jedoch vor allem am reisenden Personal der Niemandsbucht. Wie Goethes Wanderer werden auch jene Handkes als Angehörige gleichfalls mobilisierter Klassen bzw. in rubrizierter Form eingeführt. Wie ihre Vorgänger werden sie von einem Verallgemeinerungsprozeß erfaßt, der ihre Eigennamen wenn nicht schwinden, so doch in den Hintergrund treten läßt:13 Der Architekt, der Maler, der Sänger - Personen, die aus den Wanderjahren geläufig sind, gleichfalls der Sohn, die Freundin, der Pfarrer und der Leser. Der erste reisende Freund in der Niemandsbucht wird zugleich unter der Rubrik Architekt und der Rubrik Handwerker geführt. Er ist ein Architekt, „der sich, nach dem Handwerk, das er zuerst gelernt hat, einen ,Zimmermann' nennt" (NB 26) - und als solcher auf der Suche nach den unbebauten „Durchschlüpfen" in der zugebauten Welt. Dem „Zimmermann" jedoch unter den fernen Freunden wird dieselbe Berufsbezeichnung beigegeben wie jenem Josef II., mit dem Goethe die Wanderjahre eröffnet hatte. Dort zeigte sich zu Beginn des Textes das lebende Bild einer „Flucht nach Ägypten", dort trat Josef, der Zimmermann, auf die Szene, der selbsternannte Nachfolger des Heiligen und Stiefvaters Jesus', um gleich zu Beginn des Romans das Lob seines Handwerks zu singen. Seine aus der Kindheit herrührende Bindung an einen gemalten Bilderzyklus, sein Bilderglauben und Leben in Bildern wird in der Niemandsbucht allerdings dem Pfarrer zugeteilt: Und so erzählte jenes Kind von Siebenbrunn das jahrelang jedem weiter, auch den in der Einöde dort zufällig Daherkommenden. Es lud den anderen, den Erwachsenen, sozusagen ein in seine Kirche, vor die Bilder, und rezitierte und intonierte diese dann aus dem Hintergrund, mit einer Stimme, welche die eines unendlichen, nur eben zwischendurch lautwerdenden Selbstgesprächs war. Er glaubte vorbehaldos und heiter an diese Bilder, keine größere Heiterkeit konnte es geben, und lebte, auch den Außenstehenden faßbar, in einer fortwährenden Freude. (NB 622) Diese Aufspaltung kann als ein Indiz dafür gelten, daß, was Goethe in einen personalen Zusammenhang einbindet, nun in dissoziierter Form durch Handkes Text wandert. Wiederholung ereignet sich unter der Bedingung der Diskontinuität, der Auflösung und der Unterbrechung. Die Eigenschaften und Eigentümlichkeiten der Goetheschen Figuren tauchen in Spurenelementen an unvermuteten Stel13 Vgl. Maierhofer (Anm. 2), S. 125fr.
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len auf, als kleine, undeutliche und schwer faßliche Echos an den fernen Freunden, wie gelegentlich auch an den Orten der Niemandsbucht. Josef, dem Handwerker, wird eine Kirche geweiht (vgl. NB 557), so daß er nun sowohl als Name wie auch als Stelle in der Landschaft des Vorortes aufscheint. Andererseits verwandelt sich jene Lichtung, auf der Josef II. der Wanderjahre die schwangere Marie auffindet und heimführt, in die Lichtung der Fontaine Sainte-Marie (NB 130, 349)Auch die sogenannte „Freundin" und Mutter des Sohnes Valentin kann nur in einem Handkeschen „Blick über die Schulter" als ein Nachbild von Wilhelm Meisters Nathalie aufgefaßt werden. Unter der rubrizierenden Bezeichnung „Die Katalanin" unterhält sie jedoch eine unbestreitbare anagrammatische Verwandtschaft zu Goethes Figur der Nathalie. Mit dieser teilt sie mehr als nur die Buchstaben ihres Vornamens. Sie gleicht ihr auch darin, daß sie weder zu erreichen noch zu erfassen ist. Wie Wilhelms Braut entzieht sie sich stets durch jähes Verschwinden. Überdies formuliert Handkes Katalanin ein ähnlich undurchsichtiges Entfernungsgebot wie jenes, das auch die Beziehungen zwischen Wilhelm und Nathalie ordnet: „Wir müssen noch länger entzweit bleiben. Und noch länger. Und noch länger" (NB 260), heißt es in der Niemandsbucht. Eine solche Satzung hatte auch das Brautpaar der Lehrjahre in den Wanderjahren auseinandergehalten. Nicht nur daß Goethe die Trennung der Liebenden in einem dogmatischen Statut verankerte - in der endgültigen Fassung des Textes Wanderjahre streicht er auch jene Passage, in der Wilhelm die ihm versprochene Braut wenigstens einmal durch ein Teleskop erblickt. Andererseits trägt die Katalanin die Züge der Melusine, indem sie wie Goethes kleinstwüchsige Heldin in drastische körperliche Disproportion zu ihrem Geliebten tritt.'5 Wenn die Melusine der Wanderjahre eine Zwergin ist, die durch Zauber ein fragiles und reversibles Menschenmaß erwirbt, so wechselt auch die Katalanin ihre Größe. Sie wird zur Riesin (vgl. NB 204) oder auch zur Riesenzwergin (NB 765), eine Virtuosin des Größenwechsels, des zu klein und zu groß, mittels dessen bereits Goethe die unüberbrückbare Distanz zwischen den Geschlechtern inszeniert hatte. Zugleich besitzt sie wie auch Goethes Melusine die „sicherste Witterung [...] was das Unheil betraf' (NB 897), und wie diese tritt sie, eine Retterin in der Gefahr, im richtigen Augenblick zur Tür herein (NB 897). 14 Vgl. die Erstfassung 13. Kapitel in: Goethe, Wanderjahre (Anm. 1), S. iöif. Vgl. auch Rolf Günter Renner: Text, Bild und Gedächtnis. Goethes Erzählen im Mann vonfünfzig Jahren und in den Wanderjahren. In: Poetica 31 (1999), S. 149-174, S. 151. 15 Vgl. Gerhard Neumann: Stellenkommentar zu Goethe, Wanderjahre (Anm. 1), S. 1205.
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Im gemeinsamen Sohn Valentin hingegen sind Reminiszenzen des Goetheschen Felix eingearbeitet - Sohn des Wilhelm Meister, der sich auf seinen Vater zu und wieder von ihm weg bewegt. Bei der Gestaltung der Vater-Sohn-Passagen der Niemandsbucht wirken jene Generationskonflikte nach, welche die Novellen der Wanderjahre auf der männlichen Seite des Personals strukturieren. Auch Handkes Valentin entwickelt Geschwindigkeiten, die den Vater durch Rennen, Laufen, Flitzen, Springen und Stolpern außer Atem bringen (NB 241). Wie Goethes Felix lebt er lange Zeit von seinem Vater getrennt, fast nicht gekannt (NB 237), und wie dieser erlebt er, auch wenn man nur beiläufig darüber in Kenntnis gesetzt wird, eine „sofortige Rettung" (NB 652) aus großer Todesgefahr, die unweigerlich die „sofortige Rettung" des in den Fluß gestürzten Felix am Schluß der Wanderjahre in Erinnerung ruft. 16 Jedenfalls", so heißt es bei Handke und könnte es auch für Wilhelm Meister heißen: „gab mir jene Stunde, und die anderen, meinem Sohn fast tödlichen, die folgten, das Maß." (NB 653) Mit der Figur des Lesers aber wird eine der wichtigsten Wilhelm Meister-Charaden vorgenommen. Sein Name ist, wie man im späteren Verlauf der Erzählung erfährt, Wilhelm, sein Beruf jedoch nicht mehr, wie in der Falschen Bewegung, Schriftsteller, sondern Leser - ein Leser allerdings, der als ein nicht abgespaltenes Doppel des Chronisten die Grenzen zwischen Lesen und Schreiben, Lesen und Dichten in Frage stellt. In der pluralen Anlage des Wanderers werden diese Tätigkeiten immer weniger unterschieden. Im Namen Wilhelm finden Leser und Schriftsteller zusammen. Sie bilden eine Figur, deren zwei Seiten durch Spiegelung miteinander verbunden sind - die Rolle des Empfänglichen, Empfangenden und Empfängers, der wie der Wilhelm Meister der Wanderjahre Geschriebenes gelesen und abgeschrieben zurückerstattet - und die Rolle des Lesers, der „durch die Ferne [zum] Dichter" (NB 185) wird.
MAKARIE
Doch kann die Summe dieser Beispiele die Beziehimg der beiden Texte nicht ausreichend erhellen, die nicht nur über Zitate, sondern vor allem im Medium der Konfiguration und Konstellation miteinander kommunizieren. Ihre Verbindung reicht weit über das wohlsortierte Wort- und Motivkontingent hinaus, dessen sich
16 Vgl. Goethe, Wanderjahre (Anm. 1), S. 744: „Hier war nicht Zeit zu denken wie und warum, die Schiffer fuhren pfeilschnell dem Strudel zu und hatten im Augenblick die zu schöne Beute gefaßt."
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Handke in der Niemandsbucht bedient. Die Reminiszenzen aus dem Wilhelm Meister werden außerdem auf eine fragile Weise durch eine sphärische Figur zusammengehalten, die in den Wandet jähren aufgefunden und in die Niemandsbucht übernommen, aufgegriffen und zugleich aufgelöst wird. Jene fernen Freunde, die gleichsam die Tagesreste der Goetheschen Wanderjahre mit sich führen, bilden ein wenn auch dissoziiertes planetarisches System, welches um die leere Mitte der Pariser Vorstadt angeordnet ist. Der Ansässige, aus dessen Nähe sich die Freunde immer weiter entfernen, faßt seine Beziehungen in astronomische Metaphern. Er gibt ihnen die Form astronomischer Episoden, die eine Gleichsetzung der Reisenden mit den Sternen nahelegen. Die Freunde, die sich in sphärischen Bahnen um den Globus bewegen - „es weiß der einzelne nichts von seinem mit ihm zugleich durch die Welt ziehenden Gefährten" (NB 23) befinden sich auf einer „Art Sternfahrt" (NB 24), sofern sie als fahrende Sterne wahrgenommen werden, bzw. als Gestalten, die auf ihrer Wanderung eine „Lichtspur" (NB 126) hinterlassen. Andererseits entsprechen die sieben Freundeskapitel im Mittelteil der Niemandsbucht sowohl den sieben Planetengöttern (Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Mond, Sonne, Saturn) als auch den sieben Sternen der Pleiadengruppe. Die astronomische Struktur dieser Reisekosmologie wird auch im Spiegel des Sternbildes der Pleiaden sichtbar, von denen Handke bereits in seinem Stück Das Spiel vom Fragen gesprochen hatte: „Zugleich funkelten darüber die Pleiaden, anfangs dichtgedrängt alise sieben Sterne zu einem kleinen Haufen, aus dem dann Blick um Blick jeder einzeln hervortrat." (NB 462f) Zwar ist diese stellare Figur, die in erster Linie die narrative Dramaturgie des Mittelteils bestimmt, in Handkes Text nur zeitweilig - zwischenzeitlich - zu verifizieren. Aber auch in dieser angedeuteten Form verpflichtet sich die Struktur der Niemandsbucht jenem makrokosmischen Modell, das in Goethes Roman den Namen Makarie trägt. Die allegorische Figur der Makarie, die das astronomische Gefüge des Sonnensystems nicht nur vollständig begreift, sondern auch in einer eigenen sphärischen Bewegung nachvollzieht, garantiert auch dem Gefüge von Handkes Text eine, wenn auch auf mehrere Sterne verteilte und instabile Ordnung. Wie in den Wanderjahren wird der Zentrifuge und Desintegration der Weltordnung auch in der Niemandsbucht ein Sternbild, eine kosmozentrische Figur gegenübergestellt, deren Status heikel und unglaubwürdig ist, deren synthetische Kraft aber für ästhetische Zwecke in Anspruch genommen werden kann. 1 ' Die 17
Vgl. Franziska Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre: eine Kulturgeschichte der Moderne. Tübingen: Franke 2002, S. 344f. Schößler weist Makarie sehr einleuchtend eine nunmehr theatralische Mittelpunktstellung an.
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Gestalt der Makarie vereint in sich vormoderne Bildmacht und moderne astronomische Erkenntnis, sie versöhnt alte und neue Ordnungskräfte. Die in ihr verkörperten Anziehungskräfte sind sympathetisch und berechenbar zugleich und können auf die eine wie auf die andere Weise gegen die zentrifugalen Wanderbewegungen der Moderne aufgerufen werden. Wenn in den Wanderjahren die Figur der Makarie mit einer ,,lebendige[n] Armillarsphäre"18 verglichen wird, einem bereits zu Lebzeiten Goethes veralteten astronomischen Instrument, mit dessen Hilfe sich die Bewegung der kreisenden Gestirne berechnen, aber auch koordinieren und sinnfällig darstellen ließ, so stiftet sie auch das narrative Modell der Niemandsbucht: Auch die sieben Himmelskreise der Freundeskapitel im Mittelteil der Erzählung verbinden sich zu einer Armillarsphäre. Auf ihren Wanderschaften beschreiben die Trabanten des Chronisten kosmische Bahnen, die sich wie in einem alten Himmelsmodell zu einem Globus der Sphären zusammenfügen. Handkes Text organisiert sich gemäß einer, wenn auch brüchigen, makrokosmischen Metapher, die auch die Textreminiszenzen aus den Wanderjahren in einem bewegten, doch geordneten stellaren Raum ansiedelt. Der Begriff der Konstellation findet sich hier im Wortsinn realisiert. Aber auch auf dem Gebiet einer spekulativen Astronomie regeln nicht nur Ubernahmen und Wiederholungen, sondern auch signifikante Abweichungen das Verhältnis der beiden Texte. Einmal mehr bestimmen Diskontinutäten die Wege der Wiederholung. Insbesondere in Auseinandersetzung mit dem Sternwartenkapitel aus dem 1. Buch der Wanderjahre entwirft Handke seine auf Goethe zwar gegründete, doch auch von ihm abweichende Trabantenkosmologie. Indem er Momente der Sternwartenepisode in der Niemandsbucht aufgreift, eliminiert er den prekären Begriff des „reinen Mittelpunkts", der den Blick ins All bei Goethe auf eine wenn auch hypothetische Weise zentriert hatte. Goethes Wilhelm Meister erfährt auf der Sternwarte im Hause Makariens, daß die Gewalt des Alls nur dann zu ertragen sei, wenn sich dieses per analogiam ins Innere des Betrachters verlagere und wenn sich dieser als „reiner Mittelpunkt" eines beharrlich Bewegten wahrnehmen dürfe: „Darfst du dich in der Mitte dieser ewig lebendigen Ordnung auch nur denken, sobald sich nicht gleichfalls in dir ein beharrlich Bewegtes, um einen reinen Mittelpunkt kreisend, hervortut?"1? Handkes Text hingegen, der den astronomischen Schauplatz gleichfalls ins Innere des Betrachters verlegt, gibt den „reinen Mittelpunkt" verloren, den Wilhelm Meister in subjektiver Anstrengung als ein „beharrlich Bewegtes" in sich 18 Goethe, Wanderjahre (Anm. 1), S. 736. 19 Ebd., S. 383.
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selbst zu finden suchte. Auf Goethes Sternenschau antwortet die Niemandsbucht mit einem vollends dezentrierten Bild.20 Bezeichnenderweise ist es der Sänger und nicht der „Ansässige", der auf einer Reise ,zu den Rändern' das All in sich entdeckt. So heißt es: „Wintersternbilder, die [...] in seine Träume hineinschienen [...] zuletzt allein der Morgenstern bewegten sich universumslangsam durch sein Inneres, und durchschossen es. Eine derartige Liebkosung hatte der Sänger noch nie erfahren." (NB 467) Auf das Sternwarte-Kapitel der Wanderjahre wird aber auch dadurch angespielt, dass dieses innere Universum von einem Morgenstern durchquert wird. Handke zitiert denselben Stern herbei, der schon in Goethes Roman für die analogische Verknüpfung von Mikrokosmos und Makrokosmos gesorgt hatte: Als Wilhelm Meister in Erwartung der Venus auf der Sternwarte einschläft, erscheint ihm der begehrte Stern zunächst im Traum, d.h. im inneren Universum des Schlafenden. Bei seinem Erwachen jedoch muß er feststellen, daß das innere Ereignis durch den astronomischen Sternenlauf bereits überholt und bestätigt ist: Der erwartete und geträumte Morgenstern hat sich während seines Schlafes bereits am Himmel gezeigt. Innere und äußere Wahrnehmung werden synkopisch gegeneinander versetzt. Diese Synkope zwischen innerem und äußerem Universum [...] wiederholt sich nun in der Erzählung des Sängers aus der Niemandsbucht. Mit einer leichten, aber bedeutsamen Verschiebung geht auch hier der Morgenstern als ein Doppelstern des Innen und des Außen auf21: Er blieb stehen und paßte den Augenblick ab, da im mittlerweile freien Firmament der erste Stern aufblitzen würde. Er wußte sogar ungefähr dessen Stelle. Und wieder mußte er, wie jedes Mal bisher [...] im entscheidenden Moment geblinzelt haben. Denn die Venus glänzte jetzt in dem futteralfinsterblauen Horizont wie schon seit je. (NB458O Wieder verpasst der Betrachter den entscheidenden Moment. In der Wiederholung bei Handke jedoch, so zeigt sich, ist dieser Lapsus nicht aus dem Schlaf, sondern aus dem Blinzeln begründet. Ein Augenblicksvorgang, der unter den Wahrnehmungstechniken Peter Handkes einen privilegierten Platz behauptet, nimmt nun die Stelle der Nachtruhe ein. Im Lidschlag des Sängers öffnet sich wie zuvor 20 Vgl. Ulrich Stadler: Der technisierte Blick: optische Instrumente und der Status der Literatur. Ein kulturhistorisches Museum. Würzburg: Königshausen und Neumann 2003, S. 240-255. 21
Die Akkordierung äußerer und innerer Bilder hat in Handkes Wahrnehmungslehre stets eine zentrale Stelle eingenommen. Vgl. Renner, Handke (Anm. 5), S. 116.
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in der Neuen Welt der Niemandsbucht ein weiterer epiphanischer „Zwischenraum". Wenn dieser die Augen schließt, werden Vor-Bilder, nicht Nachbilder hervorgerufen, flimmernde, mit den Mitteln der Sinnesphysiologie aufgebaute Felder mit utopischer Zeitstruktur, dies sich mit dem Augenschein nicht synchronisieren lassen und synkopisch von diesem absetzen. 22 Zuletzt aber wird die Auswärtsbewegung der Freunde mit ähnlichen Worten beschrieben wie die am Ende der Wanderjahre angedeutete und kaum mehr einholbare Entfernung Makariens, die sich zuletzt, indem sie zugleich eine kosmische Kreis- wie auch Spiralbewegung vollzieht, dem Rand des Sonnensystems nähert: „Sie wandelt seit ihrer Kindheit um die Sonne, und zwar, wie nun entdeckt ist, in einer Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunkt entfernend und nach den äußersten Regionen hinstrebend." 2 ? Dieselbe Auswärtsbewegung, die das Projekt der Sphärenerweiterung mit offenem Ausgang fortfuhrt, bestimmt zuletzt auch die planetarischen Bahnen der Niemandsbucht. Auch Gregor Keuschnig registriert die wachsenden Distanzen und zunehmenden Entfernungen zwischen sich selbst und seinen stellaren Freunden. Von meinen anderen fernen Freunden bekam ich hier in meiner Bucht während des Jahres dann weniger solcher Augenblicke mit, sei es, weil sie gar zu weit weg gerieten, zudem an Orte, von denen ich kaum eine Vorstellung [...] hatte. (NB 908)
Der kaum vorstellbare Ort und die äußersten Regionen des Sonnensystems, von dem er kaum eine Vorstellung hat, liegen in demselben dynamisierten zentrifugalen Raum, auf den beide Texte gleichermaßen verweisen. - Wobei auch an dieser Stelle ein letzter Unterschied zu vermerken ist. Denn während Wilhelm Meister gerade bei der Betrachtung der Sterne dem optischen Hilfsmittel abschwört und das Fernrohr des Astronomen verwirft, das die Himmelskörper in eine, wie er meint, falsche Nähe zum Betrachter rückt, zoomt Handkes Gregor Keuschnig die sich entfernenden Freunde nah an sich heran und läßt eine Passage folgen, die sich nur als ein Vorwurf an den von pedantischen Zügen nicht freien Wilhelm Meister lesen läßt: Trotzdem, auch ohne einen zusammenhängenden Bilderzug, sah ich das durch die Welt Wandern jedes einzelnen Freundes weiterhin - ich brauchte nur meinen Ge22 Vgl. Renner, in diesem Band. 23 Goethe, Wanderjahre (Anm. 1), S. 736.
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danken zu ihm hinzuspitzen - in einem scharfumrissenen Licht: Das war wie der Blick durch das Teleskop im Haus auf den Mond, den vollen, wobei mir jeweils vorkam, ich sähe von dem nicht nur die grellweiße Oberfläche, sondern blickte in die Tiefe der kleinsten Krater hinein, auf den Schüsselgrund dort samt Felsbrocken und deren Schlagschatten. (NB 9o8f)
Doch schließen sich die sphärischen Bahnen in der Niemandsbucht zu keinen vollkommenen Kreisbewegungen zusammen. Die epiphanische Struktur der Handkeschen Zeitinszenierung, die auch die Motive der Wanderjahre nur in diskontinuierlichen und plötzlichen Momenten aufgreifen kann, ist mit der Regelmäßigkeit einer Armillarsphäre nicht zu vereinbaren. Ihr Bezugsfeld bleibt die Peripherie. Bei Handke ist diese Mitte schon deswegen verrückt, weil sich der Ansässige, um den die Freunde wie Sterne kreisen, an einem Nicht-Ort mit dem Namen Niemandsbucht niedergelassen hat, in der Anwesenheit als eine Abwesenheit definiert ist und die als ein Randgebiet kein kosmisches Zentrum sein kann. Diese Sphäropoiesis muss ohne Mitte auskommen. Peter Handke aber war, als er die Niemandsbucht niederschrieb, ein Mann von fünfzig Jahren.
Norbert Christian Wolf
Der,,Meister des sachlichen Sagens" und sein Schüler. Zu Handkes Auseinandersetzung mit Goethe in der Filmerzählung Falsche Bewegung
Betrachtet man die Physiognomie der Schriftstellerpersönlichkeiten Goethes und Handkes einmal von außen, dann sticht vor allem die strukturelle Parallelität ihrer dichterischen Laufbahnen ins Auge: Beide begannen spektakulär als jugendliche ,Revoluzzer' in aestheticis und entwickelten sich im weiteren Verlauf ihres Werks zu engagierten Sachwaltern der literarischen Tradition. Das von Goethe prototypisch vorgeprägte und von Handke mit verblüffender Konsequenz nachgelebte Strukturmodell schriftstellerischer Selbstbehauptung mit der ihm eingeschriebenen Entwicklung vom heterodoxen literarischen ,Propheten' zum Vertreter einer - zumindest scheinbar - orthodoxeren .etablierten Avantgarde'1 implizierte allerdings zunächst keine Parallelität in der ästhetischen Programmatik, was auf den anderen literatur- und kulturhistorischen Kontext zurückzuführen ist: Die noch nicht mit symbolischem Kapital ausgestatteten ,Propheten' im literarischen Feld definieren sich selbst bevorzugt über die mehr oder weniger aggressive Abgrenzung von den etablierten poetischen .Priestern', erweisen sich in ihrer literarisch-ästhetischen Position also vor allem als negativ bestimmt. Während der junge Goethe sich gegenüber einer (zumeist an französischen Mustern geübten) rationalistischen und klassizistischen Aufklärungsliteratur zu behaupten hatte, bezog der junge Handke sein dichterisches Selbstverständnis zunächst über die Distinktion von der arrivierten ,Beschreibungsliteratur' der in i
Die idealtypische relational-posiflonale (und nicht inhaltlich bestimmte!) Begrifflichkeit beziehe ich aus Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, bes. S. 322f u. 329. Genaueres zu Goethe habe ich skizziert in Vf.: Goethe als Gesetzgeber. Die struktur- und modellbildende Funktion einer literarischen Selbstbehauptung um 1800. In: Eckart Goebel, Eberhard Lämmert (Hg.): „Für viele stehen, indem man für sich steht". Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne. Berlin: Akademie Verlag 2004 (= LiteraturForschung), S. 23-49. Material zu Handke findet sich in der Dissertation von Christel Terhorst: Peter Handke: Die Entstehung literarischen Ruhms. Die Bedeutung der literarischen Tageskritik für die Rezeption des frühen Peter Handke. Frankfurt/M./Bern/New York/Paris: Lang 1990 (= Europäische Hochschulschriften, R. 1, Bd. 1206).
i8z
Norbert Christian Wolf
der Gruppe 41 versammelten älteren Generation. Als ingeniöses Medium literarischer Subversion profilierte er in diesem Kontext sein dekonstruktives Schreibverfahren, das die eingefahrenen Rituale der Alltagssprache und besonders der konventionalisierten literarischen Muster denunzierte und sie ihres (angeblichen) Zwangscharakters überführte: Neben den bekannten Sprechstücken und Dramen zählen dazu auch die erzählenden Texte der frühen Jahre. Die Ähnlichkeiten zwischen der literarischen Strategie des jungen Handke und der des jungen Goethe beschränken sich also fast ausschließlich auf strukturelle Momente, die den jeweiligen Poetiken äußerlich sind: insbesondere auf die von beiden gleichermaßen vehement verfolgte ,ikonoklastische' Tendenz. Im positiven Sinn erinnert die ästhetische Programmatik des jungen Handke allenfalls durch seine im berühmten Princeton-Auftritt 1966 publicityträchtig vorgetragene Berufung auf das Postulat „schöpferische[r] Potenz"2 an den fast zweihundert Jahre älteren Dichter, der ebenso jung das literarische Feld seiner Zeit betreten und dabei auch ganz ähnlichen Aufruhr erregt hatte. Das um 1770 noch revolutionäre Postulat des Schöpferischen', mit dem Goethe in seiner ersten selbständigen Veröffentlichung Von deutscher Baukunst (1772) einen radikalen Schlußstrich unter die von der Antike überkommene und noch von Lessing bemühte aristotelische Nachahmungspoetik zog,3 hat sich seitdem zu einem regelrechten,Grundgesetz' des literarischen Feldes etabliert, an dem sich jedes neue Einzelwerk bewähren muß. Genau gegen die solchermaßen von ihm selbst institutionalisierte permanente Revolution als generatives Prinzip literarischer Evolution hat sich Goethe allerdings spätestens nach seiner Rückkehr aus Italien (1788) mit zunehmender Schärfe gewendet und seine eigene ,klassische' Ästhetik als zeitenthobene Suspendierung der tendenziell selbstläuferischen Dialektik kumulativer Uberbietung profiliert. Darin besteht die literaturpolitische Funktion seiner künstlerischen Suche nach Festem, Beständigem, ja,Ewigem', das nicht dem sich stets beschleunigenden kulturellen Verzeitlichungs- und Alterungsprozeß der Moderne anheimfällt.4 2
Dies freilich negativ formuliert - als von den Vertretern der „gegenwärtigen deutschen Prosa" angeblich mißachtetes Desiderat; zit. in: Peter Handkes .Auftritt' in Princeton und Hans Mayers Entgegnung. In: text + kritik. Bd. 24: Peter Handke. München '1989, S. 17-20, hier S. 17.
3
Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter u. a. München/Wien: Hanser 1985-1998. Bd. 1.2, S. 415-423; im folgenden zitiert als MA mit Band- und Seitenangaben.
4
Vgl. zu dieser Problematik (mit kulturkonservativen Akzenten) Hermann Lübbe: Gegenwartsschrumpfung. Traditionsgeltungsschwund und avantgardistische Autorität. In: Ralph Kray, K.
Der „Meister des sachlichen Sagens" und sein Schüler
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Es überrascht deshalb kaum, daß Handke sich nach der Abkehr „von der überwiegenden Negativität bisheriger Systemattacken" 5 besonders für Goethe interessierte. Seinem nunmehrigen Programm des ,neues Sehens' stand mit Goethes ,klassischem' Werk eine schwergewichtige ästhetische Orientierungsgröße zur Verfügung, die sich zudem hervorragend als literaturpolitische Beglaubigungsinstanz eignete. Die Affinitäten beschränken sich jetzt nicht mehr auf eine strukturelle Parallelität, sondern reichen in den Kern der jeweiligen ästhetischen Konzepte selbst: Wenn Handkes Projekt des ,neuen Sehens' „unter Vermeidung jeder Apriorität vom bloßen Anblick die Erkenntnis erhofft", 6 dann erinnert das augenfällig an das Wahrnehmungskonzept des italienischen und nachitalienischen Goethe, an dessen in Italien zelebrierte ,Schule des Sehens' und die daraus hervorgegangene Konzeption des gegenständlichen Denkens'.7 Im Gefolge von Handkes 1972 vollzogener „Wende zur Sondierung des Authentischen in und durch Sprache"8 erhält Goethe für ihn sukzessive eine positive Identifikationsfunktion, die kaum überbewertet werden kann und die sich immer stärker in einer ausdrücklichen und zunehmend auch affirmativen intertextuellen Bezugnahme äußert. Dies gilt zunächst noch relativ vermittelt für den Kurzen Brief zum langen Abschied, dessen explizite Bezugstexte - (neben Fitzgeralds The Great Gatsby), Moritz' Anton Reiser und Kellers Der grüne Heinrich - beides (freilich problematische) Entwicklungsromane sind, die ihrerseits in einer engen intertextuellen Beziehung zu Wilhelm Meisters Lehrjahren (1795/96) stehen. Mit großer technischer Virtuosität bedient sich Handkes romanhafte Erzählung der klassischen, von Moritz vorbereiteten und von Goethe wirkungsmächtig etablierten Topoi des Genres, und das nicht nur thematisch (Naturbetrachtung, Theatergespräch, Bildungsdiskurs), sondern auch strukturell: so in der erzählerischen Darstellung einer „sich etappenweise vollziehende [n] Loslösung von Angst, Erschrecken und Entsetzen hin
Ludwig Pfeiffer u. Thomas Studer (Hg.): Autorität. Spektren harter Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1992, S. 78-91; ders.: Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart. Berlin u. a.: Springer 1992, S. 91-96. 5 6
Peter Pütz: Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982 (= suhrkamp taschenbuch 854), S. 65. Ebd.
7
Vgl. dazu Vf.: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771-1789. Tübingen: Niemeyer 2001 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 81), S. 443-467.
8
Anke Bosse: „Auf ihrer höchsten Stufe wird die Kunst ganz äußerlich sein". Goethe bei Handke. In: Bernhard Beutler, Anke Bosse (Hg.): Spuren, Signaturen, Spiegelungen. Zur Goethe-Rezeption in Europa. Köln/Wien/Weimar: Bühlau 2000, S. 381-397, hier S. 381.
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zu vernünftiger Distanz zu sich selbst und der Welt",» und ebenso in der vom Protagonisten vollzogenen ,„Fortbewegung' von einer ichsüchtigen europäischen Denkweise" hin zur positiv gezeichneten „langsame [n] Initiation in ein amerikanisches Wertsystem mit John Ford als Vaterfigur einer zweiten Sozialisation".10 Der erst in der ,Neuen Welt' zumindest „in Augenblicken mögliche und offenbarte Ubergang des beziehungslos Einzelnen in Zusammenhang"11 ersetzt dabei den ,„formlosen europäischen Individualismus'".12 Abgesehen von einigen versteckten Anspielungen1} verzichtet Handke in seiner „Fiktion eines Entwicklungsromans",'4 die im Unterschied zu den zitierten Bezugstexten - aber wie der Wilhelm Meisterl - vergleichsweise ,glücklich' endet, :5 noch auf jedes offensichtliche Zitat, auf jede ausdrückliche Nennung des Goetheschen ,Grundtexts', die er im Gegenteil geradezu auffällig meidet.
9
So Cornelia Fischer: Der kurze Brief zum langen Abschied. In: Walter Jens (Hg.): Rindlers Neues Literatur Lexikon. 20 Bde. u. 2 Suppl.-Bde. Bd. 7. München: Kindler 1990, S. 253^ hier S. 253.
10 Christoph Bartmann: „Der Zusammenhang ist möglich". Der kurze Brief zum langen Abschied im Kontext. In: Raimund Fellinger (Hg.): Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985 (= suhrkamp taschenbuch materialien 2004), S. 114-139, hier S. 120. n
Ebd. S. 121; vgl. auch Christoph Bartmann: Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß. Wien: Braumüller 1984, S. 101.
12 So Handke selbst in Hellmuth Karasek: Ohne zu verallgemeinern. Ein Gespräch mit Peter Handke. In: Michael Scharang (Hg.): Uber Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972 (= edition suhrkamp 518), S. 85-90, hier S. 88. 13
Es handelt sich bei den Anspielungen um die unwillkürliche Lüge des Ich-Erzählers (gegenüber dem Mädchen in Blue Jeans), er heiße „Wilhelm" (KB 40), sowie um das Gesicht der Kassiererin in einer Snackbar, das „in der Erinnerung [...] sogar zu leuchten an[fing]" und „eigensinnig [wurde] wie das Bild einer Heiligen" (KB 22). Die zuletzt genannte Stelle bezieht sich auf den ,prägnanten Moment' der Lehrjahre (4. Buch, 6. Kap.), worin die zum ersten Mal auftretende „Heilige" Natalie dem Protagonisten „vorkam, als sei ihr Haupt mit Strahlen umgeben, und über ihr ganzes Bild verbreite sich nach und nach ein glänzendes Licht" etc. (MA 5,226). Mehr dazu in Hans-Jürgen Schings: Wilhelm Meisters schöne Amazone. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 141-206, bes. S. 1 4 1 - 1 4 4 u. i86ff.
14 Handkes eigene Formel in Karasek (Anm. 12), S. 88. Vgl. dazu den Aufsatz, von Theo Elm: Die Fiktion eines Entwicklungsromans. Zur Erzählstrategie in Peter Handkes Roman Der kurze Brief zum langen Abschied. In: Poetica 6 (1974), S. 353-377, der zur Pointierung seiner These einer unüberbrückbaren Differenz zwischen dem traditionellen Entwicklungsroman und Handkes ,moderner' Adaption ersterem freilich eine Naivität zuschreibt, die ihm schon zu Beginn seiner Karriere im 18. Jahrhundert nicht eigen war. 15 Vgl. Bartmann, Zusammenhang ist möglich (Anm. 10), S. I28f; Bartmann, Suche nach Zusammenhang (Anm. 11), S. 130-136.
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Das ändert sich mit der 1973 verfaßten, 1974 von Wim Wenders verfilmten und 1975 als Buch veröffentlichten Filmerzählung Falsche Bewegung, um deren Lesefassung es im folgenden gehen soll. Im Zusammenspiel mit einem ikonischen Hinweis auf den Goethe-Kontext, der über die bildliche Anspielung auf Tischbeins bekanntes Aquarell Goethe am Fenster der römischen Wohnung am Corso erfolgt, 10 greift Handkes Figurenkonstellation mit Hilfe mehrerer Namensgleichheiten unübersehbar die erzählerische Konfiguration der Lehrjahre auf, um sie allerdings in charakteristischer Weise zu ändern. Wie Peter Pütz gezeigt hat, dient Goethes Roman dem Handkeschen Text als „Kontrastfläche, vor der sich die neuen Dinge allererst abheben und profilieren." 18 Den historischen Hintergrund bildet die Transposition des,klassischen' Plots aus einer relativ geschichtsfern anmutenden Szenerie des 18. Jahrhunderts19 in den zeitgenössischen Kontext der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Mit den in Handkes Text allenthalben konkret gemachten sozialen, ökologischen und mentalen Folgen der seit dem 19. Jahrhundert beschleunigten Modernisierung und Industrialisierung sowie des Zweiten Weltkriegs (und seiner bis dahin unvorstellbaren Greuel) hat Deutschland jede vordem vielleicht noch bestehende ,Unschuld' und Naivität verloren. Gut 25 Jahre nach Kriegsende erscheint die deutsche Wirklichkeit von unumkehrbaren geschichtlichen Umwälzungen geprägt. Dem entspricht eine verän16 Gleich nach dem ersten Schnitt der Filmerzählung figuriert folgende Einstellung: „Wilhelm von hinten. Er steht in einem der kleinen Häuser am Fenster und schaut hinaus." (FB 7) Das berühmte Aquarell Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins ist abgebildet in Sabine Schulze (Hg.): Goethe und die Kunst. Ausstellungskatalog der Schirn Kunsthalle Frankfurt und der Kunstsammlungen zu Weimar 1994. Ostfildern: Hatje 1994, S. 163. 17 Vgl. etwa Manfred Mixner: Peter Handke. Kronberg/Ts.: Athenäum 1977, S. 213-217; Rainer Nägele/Renate Voris: Peter Handke. München: edition text + kritik 1978, S. 104-106; Hans Kügler: Selbstsuche oder das immer stärker werdende Geräusch der Schreibmaschine im Schneesturm. Peter Handkes Filmerzählung „Falsche Bewegung" und ihre Verfilmung durch Wim Wenders. In: Praxis Deutsch 10 (1983) H. 57-58, S. 67-71, hier S. 67^ Jürgen G. Sang: Erwerb eines Klassikererbes? Rezeptionshaltungen bei Hacks und Handke. In: Karl Richter/Jörg Schönert (Hg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Walter Müller-Seidel zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Metzler 1983, S. 542-558, hier S. 547!?. 18 Pütz, Handke (Anm. 5), S. 69; gleichlautend in Peter Pütz: „Schläft ein Lied in allen Dingen". In: Raimund Fellinger (Hg.): Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985 (= suhrkamp taschenbuch materialien 2004), S. 177-181, hier S. 179. 19 Vgl. dazu die in erlebter Rede mitgeteilten Reflexionen der Figur des ,Lesers' in Mein Jahr in der Niemandsbucht, denen zufolge der geographisch-historische „Ort der Wahlverwandtschaften' und des ,Wilhelm Meister'" kein „Tatsachen-Deutschland" war, sondern „die so erfinderisch wie energisch freigeräumte Provinz eines einsam gewaltigen Kopfes" (NB 483).
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derte Aufmerksamkeit der Erzählinstanz gegenüber der äußeren Welt: An die Stelle von idyllischen Naturdarstellungen treten minutiöse Aufzeichnungen teils verstörender Bilder; es handelt sich weniger um kontinuierliche Sinneseindrücke eines fokal in sich konstanten Individuums als vielmehr um vereinzelte Details aus der modernen Technik, dem öffendichen Verkehr und den gesichtslosen Nachkriegsstädten, aufgenommen von einem emotionslos registrierenden Kameraauge. Statt einer optimistischen Anthropologie transportiert Handkes Bildersprache eine von Depression und dumpfer Brutalität begleitete Ausweglosigkeit. Weit davon entfernt, die Möglichkeit einer glücklichen Integration des Individuums in die moderne Gesellschaft zu suggerieren, reflektiert der Text selbst das Gegenteil. So erscheinen bereits die Lebensweisheiten, welche die Mutter dem scheidenden Wilhelm mit auf den Weg gibt, nachgerade als ironische Replik auf den berühmten ,Lehrbrief 20 des Wilhelm. Meister. Ich kann dir keine Lehren mitgeben, weil ich selber nichts gelernt habe. Höchstens könnte ich sagen: Iß einmal am Tag warm, oder: Vergiß nicht, die Zähne zu putzen. Aber eines sollst du lernen: daß du dich zu nichts zwingen lassen darfst. Sonst wirst du dir selber fremd, und auch die anderen werden nur etwas Undefiniertes bleiben. Du mußt immer wissen, was du tust, und warum du es tust, und du mußt dich bei dir selber fühlen - auch wenn du gemein wirst dabei. [...] Und laß dich nicht einschüchtern, wenn jemand dir sagt, daß du ein unnützes Leben führst, und dich auf die ernsthafte Tätigkeit eines Schreiners oder eines Arztes hinweist: weißt du, alle Menschen mit begrenzten Tätigkeiten erinnern mich an vertrocknende Schnecken in zu kurz geschnittenem Gras. Sei tätig, aber setz dir keine Grenzen. (FB14)
Die hier vermittelte ,Lehre' beschränkt sich in ihrem positiven Gehalt entweder auf Banalitäten (ein warmes Essen am Tag, Zähneputzen) oder auf die Aufforderung zur absoluten Selbständigkeit in allen Belangen des Lebens (Reflexion über die Natur und die Beweggründe des eigenen Tuns). Genauere Hinweise als die bloße Ermahnung zum konsequenten Festhalten an der einmal getroffenen Entscheidung zum Schriftstellerberuf (vgl. FB 8) vermag die Mutter nicht zu geben, zumal sie in der zeitgenössischen Gesellschaft keine Gelegenheit hatte, etwas zu lernen - wohl eine implizite Kritik am gesellschaftsfernen Charakter der ,klassi20 Vgl. M A 5, 497f. Auch der enigmatische ,Lehrbrief aus Goethes Roman ist freilich bereits ein ironisch gebrochener Text, worauf im gegenwärtigen Zusammenhang jedoch nicht weiter eingegangen werden kann.
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sehen' Sozialethik Goethes. Indem sie daraufhinweist, Wilhelm solle sich von Ermahnungen zu einem ,nützlichen Leben' und zur ,ernsthaften Tätigkeit' nicht „einschüchtern" lassen, personifiziert sich in ihr darüber hinaus die einst von Novalis formulierte romantische Kritik am eklatanten,Prosaismus' der Goetheschen Lehrjahre-,21 der Protagonist schwört dort ja schließlich seinen künstlerischen Ambitionen ab und entscheidet sich für den sozial,nützlichen' Beruf des Wundarztes. Demgegenüber erweist sich Wilhelms Mutter in Falsche Bewegung mit ihrer Kritik an „begrenzten Tätigkeiten" und ihrer Aufforderung zu kreativer ,Grenzenlosigkeit' als paradigmatische Vertreterin romantischer Prinzipien. Allenfalls die Maximen der,Selbstbestimmtheit' und der,Tätigkeit' verweisen auf Goethes ,klassische' Lebenskunstlehre, ironisieren diese jedoch gleich wieder durch den Zusatz „auch wenn du gemein wirst dabei". Die produktive ,Umkehrung' der ,klassischen' Vorlage manifestiert sich zudem in der umgekehrten Position des ,negativen Lehrbriefs' im Text: Er steht am Anfang, nicht am Ende der Geschichte, die Entwicklung geht von hier aus und mündet nicht in eine hier gebündelte ,Lehre'. Diese strukturelle Inversion konterkariert ganz offensichtlich die entelechische Entwicklungsvorstellung Goethes.22 Angesichts dieser und weiterer augenfälliger Divergenzen zwischen Wilhelm Meisters Lehrjahren und Handkes stofflicher Adaption in Falsche Bewegung meint Pütz mit guten Gründen, „auf dem Hintergrund der Entsprechungen" seien „Kontraste vielsagender als Analogien".2? Doch hat es damit keineswegs sein Bewenden. Bei genauerer Betrachtung des Subtextes der Falschen Bewegung überraschen zahlreiche bislang übersehene konzeptionelle Ubereinstimmungen mit Goethes Vorlage. Unter der Oberfläche der allenthalben betonten plakativ ,antiklassischen' Programmatik sind bereits ,klassische' Maximen und Darstellungspostulate am Werk. Sie offenbaren sich etwa in Wilhelms Verteidigung seines dichterischen Wahrnehmungskonzepts gegenüber Therese, die ihm vorgehalten hatte, „gar keine Augen für die Umgebung zu haben"; dem setzt er entgegen: „Ich möchte nichts Bestimmtes sehen, bevor ich etwas schreiben will. Ich möchte mich nur erinnern. Alles, was ich nur zufällig sehe, stört mich beim Erinnern, und zum Schreiben muß ich mich ungestört und 21
Vgl. die in M A 5, 694-696, wiedergegebenen Passagen aus Novalis' Fragmenten und Studien (1799-1800) sowie aus seinem Brief an Ludwig Tieck vom 23. 2. 1800.
22 Vgl. auch Rolf Günter Renner: Peter Handke. Stuttgart: Metzler 1985, S. 1 1 5 , wo Wilhelms „Entschluß zum Schreiben und gegen das Handeln" als „Kontrafaktur der Goetheschen Entwicklungsvorstellung" bezeichnet wird, denn „die Begegnung mit anderen Menschen ändert nicht Wilhelms Erfahrungshorizont". 23 Pütz, Handke (Anm. 5), S. 66, sowie Pütz, Schläft ein Lied (Anm. 18), S. 178.
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genau erinnern können, sonst schreibe ich nur was Zufälliges." (FB 32) Wilhelms Ablehnung von Einzelwahrnehmungen bezieht ihre innere Plausibilität aus der insistierenden Wiederholung des als defizient charakterisierten Wortes ,zufällig': Wilhelm möchte weder ,zufällig sehen', noch ,Zufälliges schreiben'. Die implizite Opposition zum ,Zufälligen' ist das ,Notwendige', womit Handke einen Schlüsselbegriff der ,klassischen' Ethik und Ästhetik Goethes umspielt, den dieser - angeregt von Spinozas „Metaphysik der Notwendigkeit, der Gesetzlichkeit"2* - als positiven Komplementärbegriff zur perhorreszierten ,Willkür'2? in Stellung gebracht hatte. Ein Beispiel dafür aus dem Zusammenhang der Lehrjahre ist am Ende des ersten Buchs die Rede des,Unbekannten' anläßlich der „Frage, welche Vorstellungsart zu unserm Besten gereicht"; er polemisiert dabei gegen die naive Schicksalsgläubigkeit Wilhelms: Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit und Zufall gebildet, die Vernunft des Menschen stellt sich zwischen beide, und weiß sie zu beherrschen, sie behandelt das Notwendige als den Grund ihres Daseins, das Zufällige weiß sie zu lenken, zu leiten und zu nutzen, und nur, indem sie fest und unerschütterlich steht, verdient der Mensch ein Gott der Erde genannt zu werden. Wehe dem, der sich von Jugend auf gewöhnt, in dem Notwendigen etwas Willkürliches finden zu wollen, der dem Zufalligen eine Art von Vernunft zuschreiben möchte, welcher zu folgen sogar eine Religion sei. Heißt das etwas weiter, als seinem eignem [sie] Verstände entsagen, und seinen Neigungen so unbedingten Raum geben? Wir bilden uns ein, fromm zu sein, indem wir ohne Überlegung hinschlendern, uns durch angenehme Zufälle determinieren lassen, und endlich dem Resultate eines solchen schwankenden Lebens den Namen einer göttlichen Führung geben. (MA 5, 70) 24 So Hans-Jürgen Schings: Natalie und die Lehre des t t t - Zur Rezeption Spinozas in „Wilhelm Meisters Lehrjahren". In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 89/90/91 (1985/86/87), S. 337-88, hier S. 62; mehr dazu ebd., S. 59-69. Vgl. Benedictus de Spinoza: Die Ethik. Lateinisch und deutsch. Revidierte Übersetzung v.Jakob Stern. Stuttgart: Reclam 1977, S. 2i6f (Ethica, Pars II, Propositio XLIV): „De natura Rationis non est res, ut contingentes, sed, ut necessarias, contemplari." „Es liegt in der Natur der Vernunft, die Dinge nicht als zufällig, sondern als notwendig zu betrachten." 25
„Willkühr" bedeutet im 18. Jahrhundert nach Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart [...]. Bd. 4. Leipzig: Breitkopf 2 1793, S. 1550: „ 1 . Das Vermögen, nach eigenem Gefallen zu handeln. [...] In engerer Bedeutung ist die Willkühr, das Vermögen, nach eigenen undeutlichen Vorstellungen zu handeln, zum Unterschiede von Wahl, welche sich auf deutliche Vorstellungen gründet; welche engere Bedeutung in dem folgenden Adjective am üblichsten ist. 2. * Die freye Wahl; im Hochdeutschen veraltet, aber noch im Oberdeutschen gangbar" etc.
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Bemerkenswerterweise ist es hier ein (von der Turmgesellschaft: entsandter) Unbekannter, der Wilhelm - zunächst vergeblich - die Orientierung am ,Notwendigen' einzuschärfen sucht, während der Protagonist des Goetheschen Romans sich an dieser Stelle und auch noch im weiteren Verlauf seiner Geschichte durchaus „durch angenehme Zufälle determinieren" läßt. Handkes Wilhelm hingegen scheint von Beginn an nicht nur wahrnehmungstheoretisch vor einer unreflektierten Hingabe an ,angenehme Zufälle' gefeit. Daß die Parallele zwischen der Goetheschen Dichotomie von ,Willkür' und ,Notwendigkeit' und Wilhelms Ablehnung des bloß ,Zufälligen' in Handkes Falsche Bewegung selbst nicht willkürlich ist, zeigt dort Wilhelms eigentümliche Begründung, warum er noch nicht mit dem Schreiben begonnen habe: [I]n der Nacht träumte ich so viel, daß es jetzt unmöglich ist, von etwas anderem zu schreiben als von dem vielen Geträumten. Und nur Träume aufzuschreiben, das kommt mir vor, wie sich Schlagzeilen zu sich selber auszudenken, zu denen dann die Geschichte fehlt. Ich will etwas schreiben können, das ganz und gar notwendig ist, notwendig wie ein Haus oder ein Glas Wein am Abend, nein, natürlich notwendiger. [...] (FB z8f) Es ist das ,klassische' Postulat der Notwendigkeit', mit dem Handkes Wilhelm seine deutlich antiromantische Wendung gegen Träume als literarischen Gegenstand begründet. Er entspricht damit auffällig der Goetheschen Position, die sich etwa im Brief an Herder vom 27. Dezember 1788 niederschlägt: Wenn ich nur deiner Frau, wie auch der Frau von Stein, die verwünschte Aufmercksamkeit auf Träume wegnehmen könnte. Es ist doch immer das Traumreich wie ein falscher Loostopf, wo unzählige Nieten und höchstens kleine Gewinnstchen unter einander gemischt sind. Man wird selbst zum Traum, zur Niete, wenn man sich ernsdich mit diesen Phantomen beschäftigt.26 In frappierender Ubereinstimmung begründet Handkes Wilhelm seine Weigerung, Träume literarisch festzuhalten, mit der Forderung nach .Notwendigkeit': Notwendigkeit des Dargestellten und Notwendigkeit der Darstellung selbst. Die Perhorreszierung des Traums als Erkenntnismedium2 wird in der Folge 26 Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar: Böhlau 1 8 8 7 - 1 9 1 9 , IV. Abt, Bd. 9, S. 69. 27 In Der kurze Brief zum langen Abschied läßt sich analog dazu eine programmatische Abwendung
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weitergeführt: Als Therese ihren (überdies nur erfündenen) schaurig-romantischen Traum von der Unmöglichkeit des Umkehrens beim Schlittschuhlaufen „auf dem zugefrorenen Meer" erzählt, schaut Wilhelm demonstrativ weg (FB 48; vgl. FB 57);z8 er selbst erzählt seinen eigenen furchtbaren Traum vom Sterben des Alten (FB 48Q, daraufhin der Hausherr seinen beklemmend statischen Traum von der Zimmerwand mit einer Tür, der fast vollständig der „Wirklichkeit" entspreche und ihn zum Erbrechen geführt habe (FB 49). Der selbstquälerische Dichter Bernhard Landau kann sich an seinen Traum trotz großer Anstrengung vorerst nicht mehr erinnern (FB 49; vgl. FB 55 u. 60), während die „lässig" abwinkende Mignon - hier wohl im radikalen Gegensatz zu ihrem Namensvorbild bei Goethe - Träume generell „lächerlich" findet, wie der Alte berichtet (FB 49). Wilhelm stimmt dieser antiromantischen Haltung indirekt zu: „Ich glaube, für's Schreiben ist es besser, daß einem was auffällt, statt daß einem was einfällt." (FB 56) Mit seiner Wendung gegen die Introspektion als Grundlage von Dichtung, die einem ästhetischen Programm und nicht bloß einem apperzeptiven Unvermögen entspringt,2? bezieht er sich auf ein weiteres kardinales Postulat der ,klassischen' Ästhetik, die in Auseinandersetzung mit der Romantik wie mit der christlichen Mystik stets vor dem hypochondrischen Versinken' „ins Abstruse, in den Abgrund des Subjects" gewarnt hat.3° Handkes Filmerzählung verbildlicht eine solvon den meist als bedrohlich erfahrenen Traumerlebnissen beobachten (vgl. KB 26, j i f , 66, 83, 104^ 120, 124^ 154, 160, 178 u. bes. 198). Ganz anders verhält es sich dann in Die Stunde der wahren Empfindung, die - ein Jahr nach Falsche Bewegung verfaßt - bei aller aufrechterhaltenen ,Suche nach Zusammenhang' und nach einem gesetzmäßigen ,Wesen der Dinge' den Traum als Erkenntnismedium unübersehbar rehabilitiert (vgl. SE 8, 35, 45, 51, 109). Entsprechendes gilt für Die Lehre der Sainte-Victoire (LSV 22). 2 8 Programmatisch und in .klassisch' Goetheschem Duktus wendet sich auch Die Lehre der SainteVictoire gegen romantisch-metaphysische Unendlichkeitsvisionen: „Vor einem schimmernden Wiesenstück [...] stellte ich mich selber zur Rede:,Denke nicht immer Himmelsvergleiche bei der Schönheit - sondern sieh die Erde. Sprich von der Erde, oder bloß von dem Fleck hier. Nenn ihn, mit seinen Farben.' Ich ging dann bewußt langsam weiter, fast immer mit gesenktem Kopf, jede gesuchte Ferne vermeidend." (LSV 56) 29 Vgl. dagegen Pütz, Handke (Anm. 5), S. 68; Pütz, Schläft ein Lied (Anm. 18), S. 179. 30 Vgl. Maximen und Reflexionen, Hecker-Nr. 338: „Christliche Mystiker sollte es gar nicht geben, da die Religion selbst Mysterien darbietet. Auch gehen sie immer gleich ins Abstruse, in den Abgrund des Subjects." (MA 17, 778). Goethe zu Riemer, 3. (2.) Mai 1814: „Hypochondrisch sein heißt nichts anders als ins Subjekt versinken. Wenn ich die Objekte aufgebe, kann ich nicht glauben, daß sie mich für ein Objekt gelten lassen; und ich gebe sie auf, weil ich glaube, sie hielten mich für kein Objekt." Zit. nach: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn v. Biedermann ergänzt und hg. v. Wolfgang Herwig. Bd. 2: 1805-1817. Zürich: Ar-
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che,objektverlorene' Subjektivität in folgender gespenstischen Szenerie: „Sie gehen an einem einzelnen Kind mit verbundenen Augen vorbei, das mit vorgestreckten Armen suchend aus einem Wald kommt, obwohl kein anderes Kind zu sehen ist." (FB 57) Die Handlung des einsamen Kindes ist abstrus, bar jeder Notwendigkeit'. Wilhelms an der Kategorie des ,Notwendigen' ausgerichtetes Wahrnehmungskonzept bezieht seine innere Stringenz ganz offensichtlich aus der spinozistisch geprägten Ästhetik Goethes. Die versteckte Anlehnung an das,klassische' Muster hat gewichtige erkenntnistheoretische Implikationen, wie aus einem weiteren Dialog zwischen Therese und Wilhelm über verschiedene Modi der sinnlichen Erkenntnis ersichtlich wird: Als sie ihm erneut vorhält, er übersehe „,überhaupt sehr viel"', antwortet Wilhelm: ,„Das stimmt. Ich muß mich zum Beobachten meistens zwingen. Alle andern sehen an einer Sache mehr Einzelheiten als ich.'" Die Aufmerksamkeit auf das Einzelne ist offenbar nicht seine Stärke. „,Und trotzdem willst du als Schriftsteller leben?'", fragt Therese deshalb kritisch. Wilhelm berichtet daraufhin von der spezifischen Wahrnehmungsweise, über die er verfuge: Ich weiß, ich habe nicht das, was man Beobachtungsgabe nennt, aber, wie ich mir einbilde, die Fähigkeit zu einer Art von erotischem Blick. Plötzlich fällt mir etwas auf, was ich immer übersehen habe. Ich sehe es dann aber nicht nur, sondern kriege gleichzeitig auch ein Gefühl dafür. Das meine ich mit dem erotischem Blick. Was ich sehe, ist dann nicht mehr nur ein Objekt der Beobachtung, sondern auch ein ganz inniger Teil von mir selber. Früher hat man dazu, glaube ich, Wesensschau gesagt. Etwas Einzelnes wird zum Zeichen für das Ganze. Ich schreibe dann nicht etwas bloß Beobachtetes, wie die meisten das tun, sondern etwas Erlebtes. Deswegen will ich eben gerade Schriftsteller sein. (FB 58)
Wahrnehmung wird hier keineswegs bloß subjektiv „aus dem Gefühl des Wahrnehmenden begründet",31 sondern erfolgt aus einer anders gearteten, ganzheitlitemis 1969, S. 896. Einschlägig im anthropologischen wie im ästhetischen Zusammenhang ist auch Goethes Beschreibung des jungen Plessing in der Campagne in Frankreich, Duisburg N o vember 1792 (MA 14, 482-487, bes. 485O. Mehr zur Problematik bei Hans-Jürgen Schings: Agathon - Anton Reiser - Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman. In: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, N a turwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium. Tübingen: Niemeyer 1984, S. 42-68. 31
So Renner (Anm. 22), S. 114.
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chen Erkenntnisbewegung, die Subjekt und Objekt, Gefühl und Verstand idealiter gleichermaßen umfaßt. Darauf deutet schon die Bezeichnung ,erotischer Blick', mehr aber noch der mit Bedacht gewählte Begriff der „Wesensschau", der auf Piaton zurückgeht und in Spinozas Konzept der ,Scientia intuitiva' ' 2 eine neuzeitliche Aktualisierung erfuhr. 3 3 Ein „Einzelnes wird zum Zeichen für das Ganze", indem es von diesem, vom synthetisch Allgemeinen' her verstanden wird. Die ,intuitive Erkenntnis' des umfassenden Zusammenhangs sub specie aeternitatis34 bewirkt ein teilnehmendes,Erleben' des Subjekts und geht somit weit über die schlichte ,Beobachtung' eines Einzelobjekts hinaus. Genau eine solche tiefere Betrachtung und die daraus resultierende .intuitive' Erkenntnis der,Dinge an sich', ihres ,Wesens' und ihrer inneren ,Notwendigkeit', hat nun der an Spinoza geschulte ,klassische' Goethe in Abstoßung von der kritischen Subjektphilosophie Kants ironisch-unbescheiden für sich in Anspruch g e n o m m e n e s und im Wilhelm Meister der,schönen Amazone' Natalie zugeschrieben.'6 Darüber hinaus setzt sein,klassischer' Begriff des ,Styls' die Wahrnehmung nach dem Muster der ,Scientia intuitiva' gerade voraus, was auch die geplante Schriftstellerexistenz des Wilhelm der Falschen Bewegung in einem besonderen Licht erscheinen läßt: Sein ,erotischer Blick', seine Gabe zur ,Wesensschau' dient ihm ja als herausragender Beweggrund literarischen Schaffens.
32 Vgl. Spinoza (Aran. 24), S. 2o8f (Ethica, Pars II, Propositio LV, Scholium II): „hoc cognoscendi genus procedit ab adaequata idea essentiae formalis quorundam Dei attributorum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum." „Diese Gattung der Erkenntnis schreitet von der adäquaten Idee des formalen Wesens einiger Attribute Gottes fort zur adäquaten Erkenntnis des Wesens der Dinge." 3 3 Zum Kontext vgl. H. Krings/H. M . Baumgartner: Erkennen, Erkenntnis. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft I 9 7 i f f , Bd. 3, Sp. 643-662, bes. Sp. 646^ T h . Kobusch: Intuition. In: Ebd., Bd. 4, Sp. 524-540, bes. Sp. 529^ zum Kontext auch: E Kaulbach: Anschauung. In: Ebd., Bd. 1, Sp. 340-347, bes. 346; U. Dierse/R. Kuhlen: Anschauung, intellektuelle. In: Ebd., Bd. 1, Sp. 3 4 9 - 3 5 1 . Pütz bezieht den Begriff der , Wesensschau' dagegen - ebenfalls durchaus plausibel - auf Husserls Phänomenologie: vgl. Pütz, Schläft ein Lied (Anm. 18), S. 177. 34 Vgl. Spinoza (Anm. 24), S. 2 2of (Ethica, Pars II, Propositio XLIV, Corollarium II): „ D e natura Rationis est res sub quadam aeternitatis specie percipere." „Es liegt in der Natur der Vernunft, die Dinge unter einem Gesichtspunkt der Ewigkeit zu fassen." 35 Vgl. Vf., Streitbare Ästhetik (Anm. 7), S. 411—417; zusammengefaßt in Vf.: Ästhetische Objektivität. Goethes und Flauberts Konzept des Stils. In: Poetica 34 (2002), S. 1 2 5 - 1 6 9 , hier S. 129-131. 36 Vgl. Schings, Natalie (Anm. 24), S. 85-87.
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Nur in scheinbarem Widerspruch dazu steht Wilhelms emotionale Teilnahmslosigkeit und „sachliche Miene" (FB 66), woran sich Therese gegen Ende der Filmerzählung so stößt: ,„Hilf mir, Wilhelm. Oder geh weg von hier. Es ekelt mich an, daß du dich von nichts berühren läßt.'" (FB 70) Mit seiner Weigerung, sich einfühlend in die persönlichen Probleme Thereses zu versenken, legt er eine ähnlich unbeteiligte Haltung an den Tag wie in Wilhelm Meisters Lehrjahren die Erzählstimme angesichts des plötzlichen Sterbens der Mignon, deren Leichnam der erfolglose Arzt bald lapidar als „traurigen Gegenstand[...]" bezeichnet, dem er durch seine Balsamierungskünste „einige Dauer" verleihen wolle.37 Der hier zum Vorschein gebrachte provokante Anti-Sentimentalismus resultiert als ästhetische Haltung ebenfalls aus dem ethischen Gebot der Ergebung in das Notwendige, das zwar eine allumfassende ,Liebe' zu sämdichen Wesen und Gegenständen der äußeren Welt fordert (in Anlehnung an Spinozas amor dei intellectualisé, gleichzeitig aber jede affektive, latent melancholische Versenkung in ein individuelles Unglück strikt verwehrt. Dieses vom mittleren und späten Goethe als ,Entsagung' bezeichnete Prinzip, das eminente Konsequenzen auch für seine künstlerische Darstellung hat, findet eine Entsprechung im literarischen Projekt von Handkes Wilhelm: „Ich schreibe eine Geschichte von einem Mann, der ein gutmütiger Mensch und zugleich unfähig zu einer Art von Mitleid ist. Ich will beweisen, daß Gutmütigkeit und Erbarmungslosigkeit zusammengehören." (FB 72) Die scheinbar paradoxe Kombination von Liebe und fehlendem Mideid, die als Motiv die häufig inkriminierte ästhetische Kälte der Weimarer Klassik umspielt, wird erst vor der Folie von Goethes spinozistischer Anthropologie und Ästhetik verständlich. Zugleich verweist sie auf ein zentrales darstellerisches Prinzip eines anderen ausdrücklichen Bezugstextes von Falsche Bewegung: gemeint ist die bis ans äußerste getriebene impassibilité' der Erzählstimme in Flauberts L'éducation sentimentale, also des Romans, den Wilhelm neben Eichendorffs Leben eines Taugenichts mit auf seine Reise nimmt (vgl. FB 12).39
3 7 Besonders verstörend ist dabei folgende Mitteilung kurz nach Mignons Tod: „Ich will die schöne Kunst, einen Körper nicht allein zu balsamieren, sondern ihm auch ein lebendiges Ansehn zu erhalten, bei diesem geliebten Geschöpfe sogleich anwenden. Da ich ihren Tod voraus sähe [!], habe ich alle Anstalten gemacht, und mit diesem Gehülfen hier soll mir's gewiß gelingen." (MA
5. 547)38 Vgl. Spinoza (Anm. 24), S. 678-701 (Ethica, Pars V, Propositiones XXXIIIfif). 39 In Die Lehre der Sainte-Victoire wird der Erzähler konstatieren, daß er die von Cezannes objektivistischer Ästhetik der Realisation' ausgelöste „Studierlust [...] zuvor nur bei den Satzfolgen Flauberts" erlebt habe (LSV 28; vgl. auch L S V 49).
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Im Zusammenhang mit der (vorderhand),mitleidslosen' Poetdk der ,impassibilite' ist die Adaption eines weiteren kardinalen Postulats der,klassischen' Ästhetik zu verstehen, nämlich die ablehnende Haltung gegenüber der Vereinbarkeit von Poesie und Politik - ein in den siebziger Jahren heiß umkämpftes Terrain. In einem Gespräch mit dem ,Alten' berichtet Handkes Wilhelm, ihm sei ,„das Politische erst mit dem Schreiben unfaßbar geworden. Ich wollte politisch schreiben und merkte dabei, daß mir die Worte dafür fehlten. Das heißt, es gab schon Worte, aber die hatten wieder nichts mit mir zu tun.'" (FB 51) Die formelhafte Sprache der Politik bleibt dem um einen möglichst adäquaten AusdruckringendenPoeten fremd. Der Alte nimmt demgegenüber eine Haltung ein, die an zentrale Forderungen der Achtundsechziger-Literaten - etwa die berühmten Stellungnahmen zum „Tod der Literatur" im Kursbuch 1540 - erinnert: „,Das wäre doch ein Grund gewesen, politisch aktiv zu werden und mit dem Schreiben aufzuhören.'" (FB 52) Wilhelms Replik zielt dagegen auf die Autonomie des Subjekts und bezieht sich somit von Beginn an gar nicht auf eine außerliterarische Sphäre des Politischen, sondern auf die (als einzigartig behauptete) Möglichkeit der Selbsterkenntnis im Medium der Literatur: „,Aber ich hatte doch gerade mit dem Schreiben gemerkt, daß ich meine Bedürfnisse eben nicht auf politische Weise formulieren konnte. Ich fand sie bis jetzt nie von einem Politiker geweckt, immer nur von den Poeten.'" Die Antwort des Alten, der sich eben noch als engagierter Sachwalter des politischen Engagements geriert hatte, kippt nun um ins Autoritäre: „,Was kümmern denn die Welt deine höchstpersönlichen Bedürfnisse?'" (FB 52) Durch eine solche höchst provokative Engfiihrung von charakteristischen Argumentationsweisen der Achtundsechziger (gemeint ist deren Polemik gegen das als,spätbürgerlich' gebrandmarkte privatisieren') und der Kriegsgeneration (Goethes inzestbefangener Harfher ist als ,Alter' bei Handke immerhin zum Exnazi und Mörder eines Juden mutiert) erscheinen auch die antiautoritären Ideale jener desavouiert. Handke läßt seinen Protagonisten stattdessen die Rechte des „poetischen Weltgefiihl[s]" reklamieren: Durch den „,Schein der Poesie'" werde ja die „,Hoffnung'" auf eine ,Erfüllbarkeit' der Bedürfnisse genährt (FB 52). Mit diesem Plädoyer im Sinne der „begriffsauflösenden und damit zukunftsmächtigen Kraft des poetischen Denkens''^1 gerät Wil-
40 Genauere Informationen dazu und zum Kontext sowie eine Revision mancher Stereotypen bietet Hans Burkhard Schlichting: Das Ungenügen der poetischen Strategien: Literatur im,Kursbuch' 1968-1976. In: W. Martin Lüdke (Hg.): Literatur und Studentenbewegung. Eine Zwischenbilanz. Opladen: Westdeutscher Verlag 1977 (=Lesen 6), S. 33-63, hier S. 39-53. 41
So die bekannte Formulierung der Büchner-Preis-Rede Die Geborgenheit unter der Schädeldecke (1973) (AW 76); vgl. Nägele/Voris (Anm. 17), S. 106.
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heim zu einem regelrechten Verfechter der ästhetischen Erziehung' mittels ästhetischer Autonomie - also wiederum eines zentralen Projekts der,Weimarer Klassik' und Goethes, aber eben auch Handkes selbst, der im Jahr der Niederschrift von Falsche Bewegung der sinngewissen und (ihm zufolge) begriffsverliebten dialektischen Dichtung eines Bertolt Brecht „das hoffnungsbestimmte poetische Denken" entgegengesetzt hatte, „das die Welt immer wieder neu anfangen läßt, wenn ich sie in meiner Verstocktheit schon für versiegelt hielt". Mehr noch: Dieses von Brecht zu Unrecht,abgeurteilte' poetische Denken sei nichts Geringeres als „der Grund des Selbstbewußtseins, mit dem ich schreibe." (AW 80) Wie im Verlauf der vorliegenden Ausführungen deutlich geworden sein sollte, ist das ästhetische Bewußtsein von Handkes Wilhelm von Beginn an dort, wo Goethes Wilhelm erst am Ende seiner Lehrjahre anlangt. Im Medium von Wilhelms ästhetischen Reflexionen erprobt Handke gleichsam spielerisch die produktive Anverwandlung,klassischer' ästhetischer Prinzipien, die er wenige Jahre später in seiner Erzählung Die linkshändige Frau (1976) fortsetzen und in Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) zu einem Höhepunkt führen wird.42 Zugleich erweist sich das Erzählkonzept von Falsche Bewegung selbst als performative Umsetzung der von Wilhelm vertretenen ästhetischen Maximen: Die Absolutheit der Darstellung wird bewirkt durch das Fehlen einer kommentierenden Erzählstimme, durch ,dramatische' Dialoge sowie durch die akausale Folge einzelner unvermittelter und typographisch voneinander abgehobener Bildsequenzen. Die (in dieser Radikalität von Wenders' Verfilmung nicht realisierte«) filmische Bildsprache erinnert an den im Kurzen Brief zum langen Abschied etablierten sachlichen Berichtsstil mit deutlich antimetaphysischer Tendenz^ und weist durch die weitgehende Aussparung einer Innensicht der Protagonisten« auf die extern fokalisierte 42 Vgl. Bosse (Anm. 8), S. 385-397. 43 Während in der Vorlage die Handlung extrem zerstückelt und zudem nach Mixner (Anm. 17), S. 215, „ins Unwahrscheinliche, ins Akausale entrückt" erscheint, „ohne ihren Realistischen' Anschein zu verlieren", stellt Kügler (Anm. 17), S. 69, - freilich ohne eine Differenz zur diskontinuierlich-parzellierenden Erzählweise Handkes zu bemerken - zurecht fest: „Wenders Verfilmung fügt nicht Aktionen in hintereinander geschnittenen kurzen Einstellungen (z. B. Western, Krimi) zusammen, sondern erzählt in langen, den Zuschauern [sie] beruhigenden Einstellungen von Wilhelms Reise." 44 Vgl. dazu Aurel Schmidt: Zeichen und Funktionen. Uber Peter Handke und seinen neuen Roman. In: Scharang (Anm. 12), S. 101-109, bes. S. 104. 45 Auch hier verfährt Wenders konventioneller als seine Vorlage: Während Wilhelms Figurenperspektive im Text Handkes ausschließlich in Form von dialogischen Äußerungen oder von lesbaren Notizbucheintragungen objektiviert erscheint, werden die entsprechenden Passagen in Wenders' Verfilmung von Wilhelms Stimme aus dem Off gesprochen.
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Erzählperspektive der Linkshändigen Frau voraus; sie dient somit der ästhetischen Gestaltung einer unsentimentalen reinen ,Äußerlichkeit', die Handke an Goethe so schätzt, wie er in einem im Jahr der Veröffentlichung der Filmerzählung mit Dieter E. Zimmer geführten und Anfang 1976 in der Wochenzeitung Die Zeit (unter dem Titel Die Tyrannei der Systeme) auszugsweise veröffentlichten Briefwechsel über den Zusammenhang von Kunst, Politik und Privatheit hervorhebt: ,Innerlichkeit - Äußerlichkeit': Gestern las ich den Satz (von Goethe): ,Auf ihrem höchsten Gipfel wird die Poesie ganz äußerlich sein' - und der war wie eine fireundschafüiche Erleuchtung einer Schreibhaltung, die auch mir für das, was ich schreibe, als die Herrlichkeit auf Erden vorschwebt: Um diese allumfassende Äußerlichkeit zu erreichen, muß der jeweilige Schriftsteller oder Poet aber ohne Maskierungsrest innerlich geworden sein; das heißt, er muß die künsdiche, politisch oder religiös organisierte Solidarität aufgeben und sich selber ohne Erbarmen erforschen - als ob er noch nichts über sich selbst wüßte und auch niemand anderer ihm sagen könnte, wer er sei. Ohne Ausreden innerlich geworden, wird seine Poesie ganz herzhaft äußerlich werden können, selbstverständlich, offen, solidarisch ohne Vorverständigung.46 Ausdrücklich ist hier von Erbarmungslosigkeit als Voraussetzung einer selbstverständlichen', ,offenen', solidarischen' und damit „vielleicht zukunftsweisend[en]" Poesie die Rede - von einer Gesinnung also, die über den Weg einer schonungslosen Selbstobjektivierung erst die Objektivierung der äußeren Welt erlaubt. Zugleich wird deutlich, daß es nicht allein, ja nicht einmal an erster Stelle der ,Mythopoet' Goethe ist, dem Handkes ästhetische Bewunderung gilt: Sein „Held" ist Goethe vor allem als unparteiischer, ja unerbittlicher Betrachter und „Meister des sachlichen Sagens", wie das Gedicht an die Dauer (1986) panegyrisch und in programmatischer Anlehnung an Rilkes (1907 verfaßte und 1952 von Clara Rilke postum zusammengestellte und publizierte) Briefe über Cezanne formuliert.« 46 Peter Handke: Die Tyrannei der Systeme. In: Die Zeit (2. 1. 1976), S. 25^ hier S. 25; Handke zitiert (nicht ganz korrekt) aus den Betrachtungen im Sinne der Wanderer, die Goethe zwischen das II. und III. Buch von Wilhelm Meisters Wanderjahren eingeschaltet hat (MA 17, 524); vgl. auch Maximen und Reflexionen, Hecker Nr. 510 (MA 17. 813t) Mit zusätzlichen Abwandlungen, nämlich ausgeweitet auf das Gebiet der gesamten Kunst, findet sich Goethes Formulierung erneut zustimmend zitiert in P W 45 sowie Z W 208. Genaueres zum ästhetischen Programm, das Handke mit seinem abgewandelten Goethe-Zitat verbindet, erläutert Bosse (Anm. 8), S. 388fr. 47 G D 12. Als „Meister" wird Goethe (wenngleich nunmehr eher distanzierend) auch apostrophiert in Mein Jahr in der Niemandsbuckt (NB 73). Den Hinweis auf Rilke verdanke ich Wende-
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Handkes „dekonstruierende Bewegung gegenüber nicht mehr zeitgemäßen Handlungsstrukturen" mag in seiner erzählerisch-filmischen Goethe-Adaption zwar „eine Erkenntnis der Defizite in der gegenwärtigen Realität" bewirken, führt jedoch nur auf der Oberfläche der dargestellten Handlung zu einer „exakt gegenläufige[n] Gestaltung der beiden Wilhelm Meister''.^8 Ganz anders verhält es sich in der narrativen Tiefenstruktur, deren konstitutive Oppositionen die diskursive und performative Umschrift der Goetheschen Fabel steuern und dabei in maßgeblichen Punkten den Vorgaben Goethes entsprechen. Anke Bosses Beobachtung, wonach „sich bei Handke im Verhältnis von ,Transformation' gegenüber ,Partizipation' bzw.,Teilhabe an den Texten der Kultur' das Bedürfnis nach letzterer in dem Maße durchsetzt, als es der Kreation seines Mythos als Autor d i e n t " , t r i f f t bereits dort zu, wo der,wiederholende' Rückgriff auf literarische Gewährstexte und Gewährsleute vorderhand nur „als Vehikel der Parodie" fungiert, „gleichsam als fotografisches Negativ, das es umzukehren gilt"?0 - wo er also auf den ersten Blick scheinbar allein der ästhetischen Abstoßung dient. Damit ist unter der Hand auch die literaturpolitische Funktion des sich in der Filmerzählung Falsche Bewegung ankündigenden Handkeschen ,Klassizismus' berührt: Die in der weiteren Entwicklung seines Werks noch intensivierte und ausdrücklich reflektierte positive Aneignung,klassischer' Erzählmusters1 war ein seinerzeit höchst innovatives Medium ästhetischer Distinktion und künstlerischer lin Schmidt-Dengler. Vgl. Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hg. v. Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski u. August Stahl. Bd. 4: Schriften. Hg. v. Horst Nalewski. Frankfurt/M./Leipzig: Insel 1996, S. 594-636, insbesondere den Brief vom 19.10.1907, wo es unter Verweis auf die gerade entstehenden Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) zu Baudelaires Gedicht Une Charogne thematisch einschlägig heißt: „Ich mußte daran denken, daß ohne dieses Gedicht die ganze Entwicklung zum sachlichen Sagen, die wir jetzt in Cézanne zu erkennen glauben, nicht hätte anheben können; erst mußte es da sein in seiner Unerbittlichkeit. Erst mußte das künsderische Anschauen sich so weit überwunden haben, auch im Schrecklichen und scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das, mit allem anderen Seienden, gilt." (S. 624) Z u Rilkes Ästhetik der objektiven Anschauung und Realisation' vgl. Herman Meyer: Rilkes Cézanne-Erlebnis. [1952/54] In: Ders.: Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte. Stuttgart: Metzler 1963, S. 244-286 u. 403-405 (Anm.). 48 So Bosse (Anm. 8), S. 383^ 49 Ebd., S. 397; vgl. dazu S. 381, Anm. 1. Die Terminologie folgt dem Intertextualitatsmodell Renate Lachmanns. 50 So Pütz, Handke (Anm. 5), S. 69; Pütz, Schläft ein Lied (Anm. 18), S. 179. 51
Vgl. etwa Peter Handke: Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises (1979): „Das Wort sei gewagt: Ich bin, mich bemühend um die Formen für meine Wahrheit, auf Schönheit aus - auf die erschütternde Schönheit, auf Erschütterung durch Schönheit; ja auf Klassisches, Universales, das, nach der Praxis-Lehre der großen Maler, erst in der steten Natur-Betrachtung und -Ver-
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Selbstdefinition im literarischen Feld. Handke vermochte sich dadurch in den siebziger Jahren gleichermaßen abzugrenzen von der politisierenden Literatur ä la E n zensberger wie auch von d e r , N e u e n Subjektivität' ä la Peter Schneider und Karin Struck, der er zu seinem Leidwesen immer wieder vorschnell zugerechnet wurde und die er in der Figur des Dichters Bernhard Landau u m so unerbittlicher karikierte.' 2 E r widersetzte sich mithin nicht allein der „Tyrannis eines Marx", sondern mindestens ebenso der „eines Freud", die beide „dem Leben und der Literatur gegenüber als Staatsanwälte erscheinen".53 D u r c h seine Denunziation einer .servilen' Abhängigkeit der Dichtung „von den schon bekannten psychologischen, soziologischen und vor allem poetischen Definitionen des Menschen" 54 sowie durch seine gegenläufige Berufung auf eine „freie, reine oder autonome Literatur"55 be-
senkung Form gewinnt." (EF 157O Mit den ,großen Malern' und ihrer „Praxis-Lehre" ist wohl in erster Linie Paul Cézanne gemeint, wie die inhaldichen Parallelen in der zeitgleich verfaßten Lehre der Sainte-Victoire bestätigen. 52 Handke, Die Tyrannei der Systeme (Anm. 46), S. 25, polemisiert einerseits gegen die deklamatorische „Arbeiterliteratur oder sonstige sklavische Pflichtübungen" der .„Deklarierten"', wovon er allein Franz Xaver Kroetz ausnimmt, der „durchdrungen von dem" sei, „was er an sich und den andern erlebt hat. Und alles, was er schreibt, ist vom Erlebnis bekräftigt, schon lange vorher - weggelassen seine Deklarationen". Andererseits hält Handke fest: „Bei allem, was aus der sogenannten linken Bewegung neuerlich an subjektiver Literatur' kommt, habe ich das Gefühl, als hätte gerade die Bewegung, die als Fortschritt ausgegeben wird, das Ich als bloße Behauptung, als Angeberei zurückgelassen: das Ergebnis ist ein feiger, sklavischer Literatur-Ersatz im Windschatten einer Scheinsolidarität." Eine eingehendere Auseinandersetzung mit der damals aktuellen ,Neuen Innerlichkeit' findet sich in Handkes ebenfalls 1975 verfaßtem Verriß von Karin Strucks zweitem Roman Die Mutter (1975), in dem er die Gerinnung des „Höchstpersönlichein]" zum „bloßen Rollenspiel" und „Schema" geißelt: „Vor jeder Wahrnehmung" stehe auch hier „die bloße Deklamation" sowie die künstlerisch unreflektierte Übernahme der ,,literarische[n] Konvention", wodurch, „wie schon in Peter Schneiders ,Lenz', die unleugbare Lebensschwierigkeit entwirklicht" werde „zu beliebten, nur modischen Satzposen. Die scheinbare Lebens-Intensität der kurzen Hauptsätze Karin Strucks erweist sich beim Lesen Satz für Satz als bloße Schreib-Automatik". (EF 49-55, hier 49, 51 u. 54). Zu den strukturellen Implikationen von Handkes ,zweifachem Bruch' mit den etablierten Positionen des literarischen Feldes vgl. Bourdieu (Anm. 1), S. 118-134, bes. S. I27f. 53 Handke, Die Tyrannei der Systeme (Anm. 46), S. 26. Handkes Ablehnung einer literarischen Orientierung an der Psychoanalyse manifestiert sich auch in seiner Struck-Rezension (Anm. 52), S. 53f, worin er dem besprochenen Text vorhält, er bleibe, statt „poetisch konkret" zu werden, „Propaganda, bloße Umkehrung des blödsinnigen Penisneids. In Noras theatralischer Gebärde wird selbst die Natur [...] zu einer konventionellen Bücherlandschaft." 54 So ebd., S. 55, über Strucks Buch, das „pauschal propagiert, poetisch das Leben zu ändern", diesem Postulat jedoch tatsächlich „in jeder Einzelheit" zuwiderlaufe. 55 Handke, Die Tyrannei der Systeme (Anm. 46), S. 25.
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wahrte er in höherem Maß als die meisten seiner Schriftstellerkollegen künstlerische Autonomie gegenüber den Imperativen der Tagespolitik und der intellektuellen Moden, gegenüber den Verlockungen des literarischen und journalistischen Massenmarkts. Als Medium einer eminenten Kritik an den Kultur- und Gesellschaftsformen der Moderne verhieß sein zunächst noch skeptischer,Klassizismus' - trotz aller gegenläufigen, ja problematischen Momentes6 - die Möglichkeit eines befreienden Austritts aus den als Beschränkung erlebten Existenzbedingungen der eigenen Gegenwart. Insofern hat er nicht nur eine rückwärtsgewandte, sondern ebenso eine utopische Dimension, die - anders als es die geläufige Periodisierung des Handkeschen Œuvres suggerieren mag - bereits in den oben diskutierten Stellen der Filmerzählung Falsche Bewegung sowie in deren offenem Ende*? leise angedeutet wird und die in seinen folgenden Büchern weitaus augenfälliger werden sollte.
56 Vgl. etwa die kritischen Überlegungen von Karl Wagner: Peter Handkes Rückzug in den geschichtslosen Augenblick. In: Literatur und Kritik 14 (1979), S. 227-240. 57 Das ambivalente Ende von Falsche Bewegung wird in Wenders' Verfilmung vereindeutigt, indem dort anstelle des ,,anschwellende[n] Sturmgeräusch [es]" auf der winterlichen „Zugspitze im Schnee" einerseits und des damit konkurrierenden „immer stärker" werdenden „Schreibmaschinengeräusch [es]" andererseits (FB 81) die Besucherplattform des Berges in strahlendem Sonnenschein erscheint und Wilhelm sich in Selbstzweifeln übt, ob er nicht besser bei Therese geblieben wäre, statt sich als Künsder von der Gesellschaft zu isolieren.
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Der Kinogeher: Peter Handke und der Film
Wer über Handke als ,Kinogeher' spricht, könnte zunächst philologisch verfahren, die Einflüsse von Filmen auf Handkes Texte benennen, nach zitierten Filmfiguren, Filmtiteln oder Filmsequenzen fragen und ihre mögliche Funktionalisierung klären. Die immer wieder gestellte Frage nach der filmischen Schreibweise gehört ebenso dazu wie die nach der Konkurrenz von Wort und Bild und ihrer Problematisierung in Handkes Texten und Filmprojekten. Sinnvoller allerdings scheint es mir, zunächst einmal grundsätzlich Handkes Darstellungen der visuellen Wahrnehmung und sein Urteil über medial vermittelte Bilder zu beleuchten. Dabei läßt sich erkennen, daß Handkes Erzählen Positionen nachzeichnet, die sowohl für die Medienreflexion der Moderne als auch für ihre Vorgeschichte im 19. Jahrhundert kennzeichnend sind. Daraus ergibt sich für manche seiner Texte meiner Einschätzung nach eine neue Bewertung. Die für die Wahrnehmungstheorie zentrale Frage nach den Bedingungen des Sehens, insbesondere nach der Wechselwirkung von objektiven und subjektiven Faktoren, ist für Handke von Anfang an von Bedeutung. In der Meinung, daß das Auge kein völlig verläßliches Organ ist und das Sehen keineswegs nur eindeutige Wahrnehmungen vermittelt, folgt er der Sinnesphysiologie des 19. Jahrhunderts. Diese beschreibt eine Autoreferentialität der visuellen Wahrnehmung, aus der Ernst Mach und Robert Musil später bekanntlich erkenntnistheoretische und erzählerische Konsequenzen ziehen.1 Hermann von Helmholtz erkennt mit Hilfe des von ihm konstruierten Augenspiegels, daß in den zwei menschlichen Augen
1
Vgl. dazu grundsätzlich Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge, MA: M I T Press 1990. Crary verweist auf die moderne Fortschreibung des Problems in Ernst Machs Analyse der Empfindungen und seiner Abhandlung über Erkenntnis und Irrtum. In der letztgenannten Schrift hebt Mach nicht nur die traditionelle Vorstellung des Ich als einer unveränderlichen und scharf begrenzten Einheit auf, er beschreibt auch die Autoreferentialität der Wahrnehmung, die sich gerade am Zusammenwirken intellektueller und visueller Wahrnehmung erweisen läßt (Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum: Skizzen zur Psychologie der Forschung. Leipzig: Barth 1905, S. 44). In seiner Dissertation über Ernst Mach folgert Musil schließlich lapidar: „Es gibt in der Natur kein unveränderliches Ding; das Ding ist eine Abstraktion, ein Symbol für einen relativ stabilen Komplex"
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jeweils plane B i l d e r erscheinen, die erst i m C o r t e x in ein d r e i d i m e n s i o n a l e s B i l d v e r w a n d e l t w e r d e n . 2 Z u d e m m a c h t er darauf a u f m e r k s a m , daß das A u g e die W e l t o h n e h i n n u r als ein „ A g g r e g a t f a r b i g e r F l ä c h e n " w a h r n i m m t , ein Sachverhalt, der ästhetische N a c h b i l d u n g e n in d e r M a l e r e i w i e in T e x t e n e n t s c h e i d e n d b e e i n f l u ß t hat 3 u n d d e r a u c h die g a n z h e i t l i c h o r i e n t i e r t e N a t u r w i s s e n s c h a f t zu B e g i n n des 1 9 . J a h r h u n d e r t s prägt. A l e x a n d e r v o n H u m b o l d t , u m ein Beispiel zu n e n n e n , will in s e i n e m g e o g r a p h i s c h e n W e r k Kosmos i m Z u s a m m e n s p i e l v o n N a t u r b e o b a c h t u n g , R e f l e x i o n u n d E i n b i l d u n g s k r a f t die „äußerlichen E r s c h e i n u n g e n in die innerliche Vorstellung" übersetzend
(Robert Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zu Technik und Psychotechnik. Reinbek: Rowohlt 1980, S. 69; Reprint der EA von 1908). Zu Musils „Medientechnik" vgl. grundsätzlich Christoph Hofifmann: „Der Dichter am Apparat." Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899-1942. München: Fink 1997 (=MusilStudien. Begründet von Karl Dinklage. Herausgegeben von Josef Strutz in Verbindung mit der Vereinigung Robert-Musil-Archiv Klagenfurt. Band 26). 2
Hermann v. Helmholtz: Uber die Natur der menschlichen Sinnesempfindungen. In: Ders.: Wissenschaftliche Abhandlungen. Leipzig: Barth i882ff, Bd. 3, S. 541-609; Ders.: Handbuch der physiologischen Optik. Leipzig: Leopold Voss 1856-1867, Ders.: Die Tatsachen in der Wahrnehmung. Darmstadt: Wissenschafdiche Buchgesellschaft 1959 (Reprographie der Ausgabe Berlin 1879). Zur neueren physiologischen, psychologischen und physikalischen Behandlung des Problems in der klinischen Praxis vgl. Helmut Rennert: Störungen der tiefenräumlichen Wahrnehmung und Wiedergabe: Ein neuropsychiatrischer Beitrag zur perspektivischen Erfassung. In: Joachim-Hermann Scharf (Hg.): Nova Acta Leopoldina. Halle (Saale): Leopoldina 1977, N F 225, Bd. 47, S. 60-109. Resümee bei Hertha Wolf: Optische Kammern und visuelle/virtuelle Räume. In: Michael Wetzel und Hertha Wolf (Hg.): Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten. München: Fink 1994, S. 79-104, hier S. 87-95.
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Hermann von Helmholtz: Die Tatsachen in der Wahrnehmung (Anm. 2), S. 29 und ders.: Optisches über Malerei. In: Vorträge und Reden: Umarbeitung von Vorträgen, gehalten zu Berlin, Düsseldorf und Köln am Rhein 1871-1873. Braunschweig: Vieweg '1903, 2. Band, S. 93-13 5. Ebenso ders.: Neuere Fortschritte in der Theorie des Sehens. In: Ders: Abhandlungen zur Philosophie und Geometrie. Hrsg. und eingel. von Sabine S. Gehlhaar. Cuxhaven: Junghans 1987, S. 54-107.
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Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Erster / Zweiter Band. Stuttgart und Tübingen: Cotta 1845 / 1847, hier Bd. 1, S. 70. Vgl. dazu auch G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Mit den mündlichen Zusätzen. Dort § 246, Zusatz. In: Ders.: Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michael. Frankfurt: Suhrkamp 1970 ff, Bd. 9, S. 16-23. Zur Frage des Zusammenhangs mit der Einbildungskraft vgl. auch ders.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriß. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen. Dort § 455. In: Ders.: Werke, a.a.O., Bd. 10, S. 262-265.
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Als Konsequenz dieser Ausgangslage entstehen zwei unterschiedliche Diskurse, ein medientheoretischer und ein ästhetisch-philosophischer. Zum einen können wir sehen, daß sich bereits Humboldt an einer medialen Innovation orientiert. Er hebt die Bedeutung der optischen Medien hervor, die seit Daguerres Anfängen die Illusion von Authentizität durch eine immer perfektere Simulation dreidimensionaler Räume zu erzeugen suchen, indem er die Intensität der gemalten Bilder der Natur mit den technischen Simulationen des Panoramas und des Dioramas vergleicht.5 Zum andern läßt sich feststellen, daß die wissenschaftliche Erforschung der Wahrnehmung in Optik und Physiologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts auffallige Parallelen zum zeitgenössischen ästhetischen Diskurs über die Imagination entfaltet. Beide konvergieren gerade darin, daß sie eine Autonomisierung des Betrachters beschreiben.6 In der Folge etabliert sich die Annahme einer Komplementarität zwischen dem von der exakten Wissenschaft erforschten Wahrnehmungsraum und dem Raum der ästhetischen Imagination, den Maine de Biran auf einen „sens intime" zurückfuhrt.? Parallel zur Entstehung der Dior-
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Humboldt: Kosmos (Anm. 4), Zweiter Band, S. 93.
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Nach der Argumentation von Jonathan Crary (Anm. 1) verliert zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Modell der Camera Obscura als das Sehen reglementierendes Modell seine Bedeutung. Es kommt zu einer Neukonzeption des Sehens, gewissermaßen zum Einbruch des menschlichen Körpers in die Diskurse über das Sehen. Der Mensch rezipiert nicht einfach passiv, sondern sein Körper steuert die Erfahrung des Sehens mit. Diese Beurteilung der visuellen Erfahrungen rechnet das Sehen also grundsätzlich dem Betrachten des Subjekts zu (S. 90). Es ist das Verdienst von Helmholtz, daß er die Modalitäten dieser visuellen Stimulation der Wahrnehmung unter einem auch physiologischen Blickwinkel untersucht hat (Abhandlungen (Anm. 3), S. 60). Diese Differenzierung des Sehvorgangs hat auch Konsequenzen für die Bestimmung des erschauten Objekts: Der Sehvorgang ist nichts anderes als eine referentielle Illusion. Die visuellen Maschinen des 19. Jahrhunderts konstruieren virtuelle Sichten und Räumlichkeiten, mit deren Hilfe man die Transmissionsmodalitäten des Netzhautbildes und die Prädispositionen künstlich generierter Bildwelten und Intelligenzen darstellen will. Auch hier betrachtet Crary exemplarisch die Sichtapparaturen, die sich den Bildtechniken des 20. Jahrhunderts vergleichen lassen. Vgl. dazu Wolf (Anm. 2), S. 90.
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Zum „sens intime" und zur Rolle des Körpers für die Wahrnehmung vgl. Marie François Pierre Gonthier Maine de Biran: Considérations sur les principes d'une division des faits psychologiques et physiologiques. In: Œuvres de Maine de Biran, vol. 13. Ed. P. Tisserand. Paris: Presses Universitaires de France 1949, S. 180 und ders.: Influence de l'habitude sur la faculté de penser. Ed. P. Tisserand. Paris: Presses Universitaires de France 1949. Hinweis bei Crary (Anm. 1), S. 72 f. Z u Biran vgl. auch: Michel Henry: Philosophie et phénoménologie du corps: essai sur l'ontologie biranienne. Paris: Presses Universitaires de France 1965. Relevant für die zeitgenössische Diskussion sind auch: Johannes Müller: Handbuch der Physiologie des Menschen. Koblenz: Hölscher 1838 und ders.: Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes. Leipzig:
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amen und der Fotographie beurteilt die zeitgenössische französische Philosophie die bei Bacon noch abgewertete imaginatio seit Condillac neu. Nicolas Artaud und Joseph Joubert in Frankreich, Friedrich Schlegel in Deutschland fassen die Imagination nicht mehr als Spiegelung der sinnlichen Welt, sondern auch als Substitution der sinnlichen Wahrnehmung auf.8 Diese Linie zieht Baudelaire später, wie wir wissen, weiter aus. Im Salon von 1859 entwickelt er eine Semiotik des Ästhetischen, für die die ganze sichtbare Welt zu einem „Magazin der Zeichen und Bilder" wird, zu einem mentalen Wahrnehmungsraum, der eigenen Gesetzen untersteht.9 Handkes Texte nehmen diese Verknüpfungen nicht nur auf, sie zeichnen sie auch nach und entfalten ihrerseits aus dem experimentellen Umgang mit visuellen Wahrnehmungen die ästhetische Imagination. Dieser Rückgriff korrespondiert zugleich Strategien der literarischen Moderne, etwa Prousts erzählten Wahrnehmungsexperimenten, die ebenfalls auf den traditionellen Imaginationsbegriff des Cnobloch 1826 und Gustav Theodor Fechner: Elemente der Psychophysik. 2 Bde. Leipzig: Breitkopf und Härtel 1860 und schließlich Arthur Schopenhauer: Uber das Sehen und die Farben. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Paul Deussen. München: Piper 1 9 1 1 , Bd. 3, S. 1-93. 8
So formuliert Joubert im Anschluß an Artaud:, J'appelle imagination la faculté de se rendre sensible ce qui est intellectuel, d'incorporer ce qui est esprit; en un mot, de mettre au jour, sans le dénaturer, ce qui est de soi-même invisible." (Joseph Joubert: Pensées. Précédées de sa correspondance d'une notice sur sa vie, son charactère et ses trauvaux par M . Paul de Raynal. E t des jugements littéraires de M M Sainte-Beuve, Silvestre de Sacy, Saint-Marc Girardin, Geruzez et Poitou. Paris 51869, 2 vol. Bd. 2, Titre EI, XLVIII, S. 5 1 , o.V). Artaud selbst bestimmt die imagination als „faculté qui réfléchit comme une glace fidèle les impressions du monde sensible, et y voit les symbols des affectations de notre âme, qui trouve pour produire nos sentiments et nos pensées le tour le plus vif et l'image la plus transparente". (Nicolas-Louis Artaud: Essai littéraire sur le génie poétique au X I X siècle. L u à l'ouverture de l'Athénée, L e 2 Décembre 1824. Paris: Rignous 1825, S. 4). Schließlich liest man bei Schlegel: „Es gibt zwar eine Art des Denkens, die etwas produziert und daher mit dem schöpferischen Vermögen, das wir dem Ich der Natur und dem Welt-Ich zuschreiben, große Ähnlichkeit der Form hat. Das Dichten nämlich; dies erschafft gewissermaßen seinen Stoff selbst und ist eine spielende Tätigkeit. Das Denken kann aber überhaupt schon deswegen nicht das Erste im Bewußtsein sein, weil es eine in sich zurückgehende, kreislaufende Tätigkeit ist. Das Ich ist sein einziger Gegenstand." (Friedrich Schlegel: Theorie der Erinnerung und des Verstandes. Zweiter Abschnitt der Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern. Köln 1804-1805. In: Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler. Zweite Abteilung. Schriften aus dem Nachlaß. Philosophische Vorlesungen [1800-1807]. ster Teil. Mit Einleitung und Kommentar hrsg. v. J.-J. Anstett. Zwölfter Band. München, Paderborn, Wien: Schöningh 1964, S. 348-391, hier S. 371).
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Charles Baudelaire: Œuvres complètes. Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois. Paris: Gallimard (= Bibliothèque de la Pléiade) 1975, Bd. I/II, hier Bd. II, S. 627. Im folgenden: Baudelaire, PI I/II.
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19. Jahrhunderts zurückgreifen.10 Die berühmte Szene der Recherche, die Marcels ersten Schreibversuch auslöst, spielt ja mit einer Abfolge von zweidimensionalen und dreidimensionalen Bildern im perspektivisch wahrgenommenen Raum. 11 Ein Wechselspiel von Fläche und Tiefenraum, Wahrnehmungsraum und Gedächtnisraum bestimmt die nicht weniger berühmte Madeleine-Episode, überdies bezeichnet der Erzähler die Tiefe der wahren Kunst als räumlich, die Wahrheit des Verstandes aber als flächenhaft.12 Auch bei Handke führt immer wieder das Sehen aus der Bewegung zu neuen Wahrnehmungen, viele erzählte Bilder korrespondieren dabei der Simulationstechnik des Films, in der Raum und Bewegung systematisch verkoppelt sind. „Nur im Gehen öffnen sich die Räume und tanzen die Zwischenräume" (A 113) heißt es programmatisch in der Abwesenheit. Komplementär zur so bestimmten visuellen Wahrnehmung im natürlichen Raum entfaltet sich auch für Handke die Imagination im psychischen Raum, ein Beispiel gibt der blinde Erzähler der Hornissen, der Vergessenes rekonstruiert. Anders als ein Sehender kann er wahrnehmen, „was er will". Erzählte, erinnerte und phantasierte Bilder überblenden sich für ihn, zerschneiden und zerstückeln „die weiße und leere Ebene des Gehirns" und verknüpfen Erinnerung und Gegenwart. Wim Wenders Bis ans Ende der Welt schildert analog dazu eine technische Rekonstruktion des „ersten" und des „zweiten" Sehens für Blinde. Beide Darstellungen folgen dabei einem vergleichbaren Konzept, sie verbinden die Neubewertung der visuellen Wahrnehmung in der Nachfolge von Helmholtz mit einem modernitätskritischen Gestus. Zunächst bestätigen sie, daß die nur vermeintlich verläßliche visuelle Erfahrung beliebig durch poetische oder 10 Vgl. dazu Rainer Warning: Romantische Tiefenperspektivik und moderner Perspektivismus. Chateaubriand - Flaubert - Proust. In: Karl Maurer und Winfried Wehle (Hg.): Romantik. Aufbruch zur Moderne. München: Fink 1991, S. 295-324. Warning pointiert Prousts Umgang mit visueller Wahrnehmung, der auf den Erweis einer „fausseté de la perspective" hinläuft, und zeigt zugleich dessen Perspektivismus, anders als jenen Flauberts, als Ergebnis einer Hybridisierung vorangegangener Stilformen, vgl. dazu bes. S. 312 / 3 , 3 1 7 / 8 und 322-324. Zur rhetorischen Zusammenfuhrung von imagination und visueller Wahrnehmung vgl.: „Car les lois générales qui règlent la perspective dans l'imagination s'appliquent aussi bien aux ducs qu'aux autres hommes." So in: Marcel Proust: A la recherche du temps perdu. Paris: Gallimard (=Bibliothèque de la Pléiade) 1987 ff, 4 Bände, hier Bd. II, S. 532. Im folgenden: Proust, PI I - I V 11
Proust, PI I (Anm. 10), S. 177-180.
12 Reinhard Hohl: Proust in neuer Sicht. In: Neue Rundschau 88 (1977), S. 54-72, bes. S. 55, 65, 69, 70; Proust, PI IV (Anm. 10), S. 476 f. 13
Wim Wenders, The Act of Seeing. In: Ders.: The Act of Seeing. Frankfurt: Verlag der Autoren 1992, S. 28-34, hi e r S- 3zf.
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technische Simulation ersetzt werden kann. Gerade deshalb verlor bekanntlich die Camera Obscura als ein das Sehen reglementierendes Modell, das sich an der wissenschaftlichen Wahrnehmung orientiert, im 19. Jahrhundert ihre Bedeutung. Statt dessen setzte sich die Erkenntnis durch, daß der Körper die visuelle Wahrnehmung beeinflußt, verändert oder gar substituiert. In Bis ans Ende der Welt wird synchron zu den wahrgenommenen Bildern auch der „biomechanische Vorgang des Sehens" aufgezeichnet. Entsprechend verkoppeln zuerst der Tormann, dann der Kurze BriefKörpererfahrung und Wahrnehmung. Eine Zypresse scheint im letztgenannten Text Besitz vom Körper des Erzählers zu ergreifen, als dieser sie betrachtet. Doch zugleich gibt es eine Gegenbewegung, die ebenfalls aus der Psychologie des Sehens begründet ist. Die Natur zeigt, wie aus „Verwechslungen und Sinnestäuschungen Metaphern" (KB 79) entstehen. Voraussetzung dazu sind im Text wie im Film ein Wechsel von Beschleunigung und Verlangsamung und eine Fokussierung des Blicks, die auch das Kleinste bedeutsam werden läßt. Imaginäres und Imagination fallen dadurch zusammen, wie es die Filmtheorie von Kracauer über Balazs bis zu Kittler betont. Zusätzlich verbinden sich wie in der kinematographischen Sprache visuelle und akustische Elemente aufs engste. Der Glanz einer Stahltischplatte oder ein prasselnder Regen im Tormann (T 17 und 112), das Geräusch des Sturmes und einer Schreibmaschine in Falsche Bewegung (FB 81), das Gebell eines Hundes in der hehre der Sainte-Victoire (LSV 56). Einer modernitätskritischen Überlegung folgen Handke und Wenders, wenn sie das Auge nicht mehr als das Leitsymbol der Aufklärung ernst nehmen, sondern im Gegenzug ganz im Sinne der Dialektik der Aufklärung immer wieder auf die unaufgeklärte Selbstüberschätzung des Sehens in der Moderne hinweisen. In Bis ans Ende der Welt macht die Visualisierung der Träume Sehende blind, führt die technische Reproduktion der inneren Bilder zu tiefgreifenden Dissoziationen. Im Jahr in der Niemandshuch t erscheint das Filmen als Gewaltakt, im Himmel über Berlin kritisieren die Engel, die Augen der Menschen seien nur noch „gewohnt zu nehmen". Gleichwohl entsteht auch aus dieser Kritik eine produktive Spannung, die einem berühmten Muster folgt. Baudelaire erfährt beim Betrachten der Bilder von Constantin Guys „un duel entre la volonté de tout voir, de ne rien oublier, et la faculté de la mémoire qui a pris l'habitude d'absorber vivement la couleur générale et la silhouette, l'arabesque du contour".Entsprechend verdichten sich 14 Baudelaire, PI II (Anm. 9), S. 698. Übers.: „Widerstreit zwischen dem Willen, alles zu sehen, nichts zu vergessen, und dem Vermögen des Gedächtnisses, das sich gewöhnt hat, die vorherr-
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für den Protagonisten des Kurzen Briefs Erinnerung, Erfahrung und ästhetische Anschauung zum „systematischen Erleben" (KB 124), auch er folgt der bei Baudelaire vorgezeichneten Abkehr vom Mimetischen und der Autonomisierung der visuellen Zeichen, 's Bei Handke entwickelt sich auf dieser Grundlage eine durch Bilder, Embleme und visuelle Eindrücke zugleich motivierte und gesteuerte Suche nach dem verlorenen Ursprung. Sie folgt in den Hornissen einer psychologischen, im Fall der Reise nach La Défense einer modernitätskritischen, in Eine winterliche Reise einer medien- wie ideologiekritischen Spur. In den späten Romanen und Journalen wird deutlich, daß diese Suche ontologisch begründet ist, zudem weist Handke daraufhin, daß es ihm um eine Rekonstruktion „im Sinne einer neuen Moderne" gehe. Ausgerechnet diese Strategie, die auch Handkes Zusammenarbeit mit Wim Wenders kennzeichnet, findet der Autor nun in einem Text vorgezeichnet, der es ganz ausdrücklich mit dem Film zu tun hat. In dem von ihm übersetzten Kinogeher Walker Percys folgen die Filmbesuche des Protagonisten nicht nur einer „Idee der Suche", 16 die in Momentbildern zum Ausdruck k o m m t . D a s Sehen von Filmen wird auch, so lesen wir in Handkes Ubersetzung, zu einer Form der „Bezeugung". 18 Sie erfüllt den existentiellen Gestus, den Handke in Anlehnung an Heidegger ins Zentrum seines Textes der Wiederholung stellt. Bei Percy lesen wir: Was ist eine Wiederholung? Eine Wiederholung ist die Wieder-Herstellung einer vergangenen Erfahrung, zu dem Zweck, das entschwundene Segment Zeit auszusondern, dergestalt, daß sie, die entschwundene Zeit, als sie selber erfahren werden kann, ohne die übliche Verfälschung durch Ereignisse, die die Zeit verklumpen läßt wie Erdnüsse in Melasse.1'
sehende Farbe und die Silhouette, die Arabeske des Umrisses lebhaft in sich aufzunehmen" (Charles Baudelaire: Sämtliche Werke / Briefe. In acht Bänden. Herausgegeben von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. München: Heimeran 1989, Bd. 5 , S . 230). 15 Vgl. dazu Klaus Herding: Fortschritt und Niedergang in der bildenden Kunst. Nachträge zu Barrault, Baudelaire und Proudhon. In: Wolfgang Drost (Hg.): Fortschrittsglaube und Dekadenzbewußtsein im Europa des 19. Jahrhunderts. Literatur - Kunst - Kulturgeschichte. Heidelberg: Winter 1986, S. 239-258, hier S. 252. 16 Walker Percy: Der Kinogeher. Deutsch von Peter Handke. Frankfurt: Suhrkamp 1980, S. 19. 17 Ebd., S. 24^ 72f; 76. 18 Ebd., S. 67. 19 Ebd., S. 83.
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Ein inszeniertes Spiel mit Zeit wird zum Thema, es hat eine geradezu experimentell hergestellte Raum-Zeit-Konstellation zum Ziel. Die Überlegung, daß auch mediale Erfahrungen in erster Linie kognitive Bemeisterungen von Zeit und Raum und insofern wesentlich für die Selbsterfahrung des Menschen sind, ist zentraler Bestandteil der materialen Medientheorie. Die Medien bringen nach ihrer Auffassung die moderne Vorstellung des Menschen überhaupt erst hervor, indem sie psychische und physiologische Abläufe simulieren und nachstellen. Vor allem der Film setzt in der räumlichen / zeitlichen Koppelung von on-screen und ojf-screen unbewußte Vorgänge ins Bild, die filmische Technik der Rückblende funktioniert wie das Gedächtnis, der Schnitt bringt die Trennung von Realem und Imaginärem hervor und korrespondiert der Assoziation, die Großaufnahme dagegen der Wahrnehmungsselektion. Mit diesen medientheoretischen Überlegungen läßt sich Handkes Schreibweise zweifellos verbinden. Ihre erzählten Bilder und visuellen Wahrnehmungen verknüpfen Physiologie, Psychologie und Imagination, Körperbilder und sinnliche Erfahrungen. Die neue „Art des Schauens" im Chinesen des Schmerzes, die „Einheit von Gewahrwerden und Vorstellungskraft", die das griechische Wort leukein ausdrückt, ist also nicht allein historische Rückprojektion. Sie korrespondiert auch der wechselnden Interaktion von Betrachter und Objekt in unterschiedlichen Raum-Zeit-Koordinaten, die für die neuzeitliche Auffassung von visueller Wahrnehmung und das charakteristische Zusammenspiel von „visual world" und „visual field" konstitutiv ist, von dem die Medientheoretiker sprechen. Handkes späte Versuche und seine Zusammenarbeit mit Wim Wenders machen daraus ein ästhetisches Programm, das zunächst vor allem auf die Bilder zu setzen scheint. Seine Journale sind durch eine Hinwendung zu Anschauung und begriffsloser Wahrnehmung geprägt. Die im Gewicht der Welt und den Phantasien der Wiederholung geschilderten „Urerlebnisse" bestärken den Autor darin, auf ein „Heraus aus der Sprache" zu setzen und in Bildern zu schreiben. Das Märchen der Abwesenheit, das Spiel vom Fragen, Der Nachmittag eines Schriftstellers und die drei Versuche setzen dieses Programm fort. Hier nähert sich Handke ohne Frage einer Konstruktion von Bildsequenzen an, die man in einem allgemeinen Sinn als filmisch bezeichnen könnte. Wie in den nur scheinbar ikonischen Filmbildern ist dabei bereits in der Linkshändigen Frau das visuell Eindeutige semiotisiert, der Tormann benutzt Techniken der Verfremdung, die denen des Films entsprechen. Der Orientierungsverlust seines Protagonisten entsteht durch eine Überlagerung unterschiedlicher Perspektiven, Detail- und Übersichtsblicke, die wie Zoom und Schwenk, Schnitt und Montage miteinander verbunden sind. Wie im Film entsteht aus dem Zusammenspiel un-
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terschiedlicher Semiotisierangsstxategien die Simulation einer zweiten Wirklichkeit. Die Verfilmungen beider Texte führen diese Linie fort, aus den semiotisch schon zugerichteten Zeichen und Bildern, den Trivialmythen der Bewußtseinsindustrie und den Mythen des Alltags lassen sie eine Welt jenseits der Alltagswahrnehmung entstehen,20 die gleichwohl von hoher visueller Einprägungskraft ist.21 In Handkes Texten begleiten Metaphern des Lichts, des Leuchtens und der weiblichen Augen eine Folge von Blicken und Bildern, die an die Stelle einer kausalen Geschichte treten, die Protagonistin verfügt über die Fähigkeit, sich zu „verschauen" (LF 10). Am Ende des Textes verwandelt ihr Blick durch ein Fenster starre Natur in bewegte, sie selbst erscheint durch eine spiegelnde Scheibe in dieses Naturbild einbezogen. Bild und Inbild, flächige Projektion und perspektivischer Ausblick verschränken sich nicht nur wie in einer filmischen Überblendung, sie inszenieren auch die durch sie ermöglichte Verbindung von Wahrnehmung und Imagination. „Kreisende Totalen von Landschaften, die einander überblenden, die Städte bei Nacht, die Berge bei Tag, die Ebenen am Abend, von Hügeln und Hubschraubern aus. Völlige Lautlosigkeit. Blick auf Hochhäuser, Flußtäler, Bergrücken. Es entsteht der Eindruck von Geschichte" (CLE 66), heißt es in der Chronik. Allerdings bleibt sich Handke der grundsätzlichen Differenz der Medien von Schrift und Bild, Schrift und Film bewußt. Er weiß, daß Filmbilder keine unschuldigen Bilder sind, unterscheidet sehr klar zwischen der Bildersprache des Films, der auf Wunschbilder aus ist, und den Fernsehbildern, die auch „jene Schreckgespenster und Schreckbilder" zeigen, die „dem Film bei der Sendung vorausgehen und ihm folgen würden" (CLE 129). In der Chronik der laufenden Ereignisse durchbrechen Schnitt und Einstellung die Kontinuität der Geschichten,22 für das Fernsehen typische Bildfolgen werden ins Absurde verzerrt (CLE 48), in Slapstick-Einlagen transformiert (CLE 57t) und zu Kompilationen verdichtet. Visuelle Wahrnehmung und narrative Strukturen werden verknüpft und wechselseitig umcodiert. In Falsche Bewegung ist das Ende kontinuierlicher Erfahrung durch einen Bildermix dokumentiert. Wilhelm betrachtet Fotos (FB 11), zieht 20 Götz Großklaus: Osterreichische Mythen. Zu zwei Filmen von Thomas Bernhard und Peter 21
Handke. In: LiLi 28 (1979), S. 100-122. „Es soll mythisch sein, mythisch!", äußert Handke bei der Verfilmung von Die linkshändige Frau. Vgl. dazu: Siegfried Schober: „Es soll mythisch sein, mythisch!" Uber Peter Handke bei der
Verfilmung seiner „Linkshändigen Frau". In: Der Spiegel 19 (1977), S. 180. 22 Michael Scharang (Hg.): Uber Peter Handke. Frankfurt: Suhrkamp 1972, ^1977 (=es 518), S. 82.
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sich an den äußersten Ort der Natur zurück und gerät so immer mehr in Gegensatz zu den „Tatsachenmenschen" (FB 36). Solche Wahrnehmungen rufen zunehmend auch psychische Reaktionen hervor. Die Bilder des Halbschlafs (FB 38f), die Phantasie des Ubers-Eis-Gehens (FB 48), Szenen der Verlassenheit in Deutschland (FB 42,45) und einer als ambivalent erfahrenen Natur schaffen ein fragmentiertes Bewußtsein, die Kontinuität der memoria, die Tiefe haben sollte, wird durch ein planes Feld von Bildern ersetzt. Zugleich wird deutlich, daß diese Bilder ebenso wenig eindeutig sind wie die Schrift. Das physiologische Phänomen des Nachbilds, das im Film technisch reproduziert wird, macht dies deutlich. Das Bild der Ebene und des Himmels. Schrift über dem Bild: ^Manchmal starrte ich lange vor mich hin, absichtlich ohne etwas anzuschauen. Dann machte ich die Augen zu, und erst an dem Nachbild, das sich dabei ergab, merkte ich, was ich vor mir gehabt hatte. Auch während ich schreibe, schließe ich die Augen und sehe einiges ganz deudich, das ich bei offenen Augen gar nicht wahrnehmen wollte.' (FB 6if) In einer Einstellung der Chronik der laufenden Ereignisse, in der eine Spielszene durch Stimmen kommentiert wird, heißt es entsprechend: „Man schließt die Augen, damit sich inzwischen alles verändern kann, aber dann ist es zu spät, die Augen wieder aufzumachen" (CLE 103). Die bereits im 19. Jahrhundert entfaltete Verknüpfung von visueller Wahrnehmung und Phantasie, die das technische Medium des Films durch optische Täuschimg immer wieder evoziert, wird so nachgestellt. Das Nachbild im Innenraum des Bewußtseins wird zum Korrelat des visuell wahrgenommenen Außenraums. Schon 1916 vermerkt ein früher Kommentar zum Film, zum „Lichtspiel": „Tiefe und Bewegung gleichen sich darin, daß sie in der Welt des Films nicht als harte Fakten, sondern als Mischimg von Fakt und Symbol zu uns kommen."2? Solche am Film orientierten Semiotisierungsstrategien, die nicht nur eine wahrnehmungspsychologische, sondern auch eine ästhetische Dimension entfalten, weisen auf die Zusammenarbeit von Handke und Wenders im Himmel über Berlin voraus. Dort wird - im Medium des Films und in spiegelbildlicher Entsprechung zu Handkes Texten - eine zentrale Thematik des Handkeschen Er-
23 Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie [1916] und andere Schriften zum Kino. Hrsg. von Jörg Schweinitz. Wien: Synema 1996, S. 50.
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zählens aufgenommen. Auch Wenders bestimmt jetzt die Bedeutung der Medien Schrift und Bild neu, indem er sie zueinander in Beziehung setzt. Zu Beginn des Films Der Himmel über Berlin hört man die Stimme des Engels Damiel und sieht in einem Insert, wie einige Zeilen eines Gedichts von Handke geschrieben werden. Der Filmbesucher liest dort: Als das Kind Kind war, / wußte es nicht, daß es Kind war / alles war ihm beseelt, / und alle Seelen waren eins. Dieser Filmbeginn ist in doppelter Hinsicht interessant. Zum einen, weil er die besondere kinematographische Technik der weißen Aufblende benutzt, die im Unterschied zur schwarzen Aufblende vom Zuschauer wahrgenommen und seit Eisenstein als Illusionsbrechung empfunden wird.2"* Hier dient sie der Unterstreichung des Leseakts, der dem Zuschauer abverlangt und durch ein weiteres filmisches Mittel unterstützt wird. Wir hören einen Off-Ton, der dem filmisch inszenierten Lesen vorangeht. Zum anderen bricht die Präsentation der weißen Fläche, auf die geschrieben wird, von Anfang an die für den Film seit den zwanziger Jahren angestrebte Perspektivierung des Raums, der jetzt zuerst als Fläche, nicht als Tiefe erscheint. Es ist ein Verfahren, dessen sich auch Faßbinder immer wieder bedient. Sprache und Schrift, die sonst nur zwei unter vielen möglichen filmischen Zeichensystemen sind, erhalten dadurch eine herausgehobene Bedeutung. Das Wechselspiel von Aufblende, Voice-over und Schriftbild rekonstruiert den Leseakt und dessen Verknüpfung von lautlichem Zeichen, Gedänkenbild und Visualisierung des Gedankenbilds. Zugleich greift die Technik der weißen Aufblende auf das Medium der Malerei zurück. Für Kandinsky führt die Darstellung der weißen Fläche zur Selbstreflexivität der Malerei,25 Rodtschenko, der im Manifest der Konstruktivisten die „Augen für die Fläche öffnen" will, erscheint im Anschluß an Malewitsch das Quadrat auf der reinen weißen Fläche als ihre Nullform. 26 Der mediale Rückgriff nimmt also nicht allein Bezug auf die moderne
24 Sergej Eisenstein: Das dynamische Quadrat (1932). In: Ders.: Das dynamische Quadrat. Schriften zum Film. Hrsg. von Oksana Bulgakova und Dietmar Hochmuth. Leipzig: Reclam 1991, S. i57-i7