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German Pages XII, 542 [544] Year 2020
Rolf G. Renner
Peter Handke Erzählwelten – Bilderordnungen
Peter Handke
Rolf G. Renner
Peter Handke Erzählwelten – Bilderordnungen
Rolf G. Renner Universität Freiburg Freiburg im Breisgau, Baden-Württemberg, Deutschland
ISBN 978-3-476-04906-3 ISBN 978-3-476-04907-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: © Elisabeth Renner Planung/Lektorat: Ute Hechtfischer J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
„Ich mache, was ich bin: = Schreiben“ (AF 189) „Wort und Bild sind Korrelate, die sich immerfort suchen“ (J.W. Goethe) „Literatur: Es genügt nicht das Bild – es muß jenes eine (1) Wort dazukommen, welches das Bild erst zum Bild-Pfeil macht“ (AF 431)
für Lisaweta
Inhaltsverzeichnis
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Erzählwelten/Bilderordnungen: Zur Einführung in den Text. . . . . . 1
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Literarische Selbstbehauptung und Formexperiment: die erzählerischen Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.1 Die Hornissen (1966). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2 Der Hausierer (1967). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.3 Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1969). . . . . . . . . . . . . . . 35
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Experiment und Entwurf: Die Stücke, Prosaarbeiten und Hörspiele bis ins Jahr 1973. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.1 Publikumsbeschimpfung (1966). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.2 Sprechstücke (1969–1972). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.3 Kaspar (1967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.4 Die Unvernünftigen sterben aus (1973). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.5 Begrüßung des Aufsichtsrats (1967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3.6 Wind und Meer. Vier Hörspiele (1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3.7 Vorschein der Postmoderne: Die offenen Geheimnisse der Technokratie (1974). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
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Wiederentdeckung der Subjektivität: Entwicklungslinien der Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.1 Leben ohne Poesie. Gedichte (1969–2007). . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.2 Gedicht an die Dauer (1986). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
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Rückkehr zum Erzählen und neue Subjektivität. . . . . . . . . . . . . . . . . 85 5.1 Suchbewegungen: Der kurze Brief zum langen Abschied (1972). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 5.2 Die Macht der anderen: Wunschloses Unglück (1972) . . . . . . . . . 95 5.3 Der einzige und sein Eigentum: Die Stunde der wahren Empfindung (1975). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5.4 Ein Weg zum Selbst: Die linkshändige Frau (1976). . . . . . . . . . . 111
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Heimkehr zu den Anfängen des Ich und das Versprechen der Bilder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 6.1 Erfahrungsräume: Langsame Heimkehr (1979). . . . . . . . . . . . . . . 117 6.2 Der Weg ins Bild: Die Lehre der Sainte-Victoire (1980). . . . . . . . 126 6.3 Zeichen der anderen Welt: Kindergeschichte (1981). . . . . . . . . . . 136 6.4 Konstruktion von Herkunft: Über die Dörfer (1981) . . . . . . . . . . 143
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Neubegründung des Erzählens in der Rückbindung an die Tradition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 7.1 Die doppelte Heimat: Der Chinese des Schmerzes (1983) . . . . . . 149 7.2 Wiederfindung in der Urschrift der Poesie: Die Wiederholung (1986). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 7.3 Formen poetischer Initiation: Die Abwesenheit (1987). . . . . . . . . 170 7.4 Die Sprachwerdung der Welt: In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (1997). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 7.5 Vom Eros des Erzählens: Don Juan (erzählt von ihm selbst) (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 7.6 Bild, Schrift und Erzählen: Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos (2002). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
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Selbstreflexion und poetologische Skizzen: Die Journale, Skizzen und Aufzeichnungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 8.1 Poetologische Notate: Das Gewicht der Welt. Ein Journal. (November 1975–März 1977) (1977), Die Geschichte des Bleistifts (1982) und Phantasien der Wiederholung (1983). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 8.2 Schreiben, Sehen, Zeichnen: das Notizbuch, 31. August 1978–18. Oktober 1978 (2015). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 8.3 Sehen bei Nacht und bei Tag: Am Felsfenster morgens. Und andere Ortszeiten 1982–1987 (1998). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 8.4 Visuelle und reflexive Miniaturen: Noch einmal für Thukydides (1990). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 8.5 Fragmente von Autorschaft: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990 (2005). . . . . . . . . . 241 8.6 Halbschlafbilder: Ein Jahr aus der Nacht gesprochen (2010). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 8.7 Ganz andere Spiegelbilder: Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007–2015 (2016). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
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Anverwandlung des Eigenen im Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 9.1 Die doppelte Geschichte des Erzählers: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten (1994). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 9.2 Rekonstruktion von Leben: Die Morawische Nacht. Erzählung (2009). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
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10 Das Experiment der erinnernden Beschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . 299 10.1 Auf dem Weg zum Schreiben: Nachmittag eines Schriftstellers (1987). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 10.2 Das Erzählen der Inbilder: Versuch über die Müdigkeit (1989). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 10.3 Zeichen der Technik und Zeichen der Landschaft: Versuch über die Jukebox (1990). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 10.4 Schreibversuche: Versuch über den geglückten Tag (1991). . . . . . 312 10.5 Der Weltkreis des Erzählens: Versuch über den Stillen Ort (2012). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 10.6 Suche nach dem Eigenen im Anderen: Versuch über den Pilznarren (2013). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 11 Das Grundandere der Poesie: Handkes doppelter Diskurs über Serbien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 11.1 Der Kontext der ‚Nachkriegsliteratur‘ und das ‚Ende der Nachkriegszeit‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 11.2 Die Diskursregel der Mediengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 11.3 Der Mediendiskurs über Handke und Serbien. . . . . . . . . . . . . . . . 335 11.4 Die „bösen Fakten“: Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996), Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996), Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April (1999), Rund um das Große Tribunal (2003), Die Geschichte des Dragoljub Milanović (2011) . . . . . . . . . . . . . 337 11.5 Die Herausforderung der Politik und das Versprechen der Poesie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 11.6 Orte des Widerstands und der Phantasie: Die Tablas von Daimiel. Ein Umwegzeugenbericht zum Prozeß gegen Slobodan Milošević (2005), Die Kuckucke von Velika Hoća. Eine Nachschrift (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 12 Zwischen Drama und Epik: Die Stücke nach 1989. . . . . . . . . . . . . . . 355 12.1 „Zum Dreinschlagen fremd“: Das Spiel vom Fragen Oder die Reise zum Sonoren Land (1989). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 12.2 Theatralische Experimente: Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) und Spuren der Verirrten (2006). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 12.3 Unter dem Gesetz der Geschichte: Zurüstungen für die Unsterblichkeit. Ein Königsdrama (1997). . . . . . . . . . . . . . . . 367 12.4 Nema problema. Nema Jugoslavije: Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999). . . . . . . . . . 372
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12.5 „Endstation des Theaters“: „Warum eine Küche?“ (2003), Untertagblues. Ein Stationendrama (2003), Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts. Ein Monolog (2008/9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 12.6 Heimkehr zu den Ahnen: Immer noch Sturm (2010). . . . . . . . . . . 385 12.7 Sozialisationsspiele: Die schönen Tage von Aranjuez. Ein Sommerdialog (2012) und Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten (2015). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 13 Die Konkurrenz von Wort und Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 13.1 Vom Text zum Film: Handke als Kinogänger, Autor und Regisseur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 13.2 Experimente der Wahrnehmung: Chronik der laufenden Ereignisse (1971) und Falsche Bewegung (1975). . . . . . . . . . . . . 407 13.3 Semiotik der Wahrnehmung: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 13.4 Geschlechterrollen und Wahrnehmungsmuster: Die linkshändige Frau (1978) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 13.5 Textuelle und visuelle Konstruktion von Identität: Der Himmel über Berlin (1987). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 13.6 Visuelle Einschreibungen des Eigenen: Mal des Todes (1986), Die Abwesenheit (1992), Die schönen Tage von Aranjuez (2017). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 14 Dialektik der Geschichte und Revokation der Moderne. . . . . . . . . . . 439 14.1 Das Märchen der anderen Welt: Kali. Eine Vorwintergeschichte (2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 14.2 Der Widerruf der Moderne: Der Große Fall (2011) . . . . . . . . . . . 448 14.3 Radikalisierung des Erzählens: Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere (2017). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 14.4 Neuerzählen der Welt: Das zweite Schwert (2020). . . . . . . . . . . . 477 15 Grundlinien der Handke-Rezeption in Literaturkritik und Wissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Bibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
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Erzählwelten/Bilderordnungen: Zur Einführung in den Text
Das Erzählen und die Bilder werden in Handkes Werk von Anfang an thematisch, seit den achtziger Jahren erhalten sie in seinem Werk jedoch ein neues Gewicht. Die Frage des Bildes rückt seit der Lehre der Sainte-Victoire, die des Erzählens seit dem Chinesen des Schmerzes ins Zentrum eines zunehmend autoreflexiven Schreibens. Zumindest seit der sogenannten Tetralogie, den Texten Langsame Heimkehr, Lehre der Sainte-Victoire, Kindergeschichte und Über die Dörfer lässt sich beobachten, dass das bloße Erzählen des Wirklichen in dem Maß zurücktritt, in dem sich eine eigene Wirklichkeit des Erzählens zu etablieren beginnt. Diese entwirft Bilder und Texte, die sich vom Paradigma der Abbildung lösen. Es entstehen Erzählwelten oder Erzählwirklichkeiten, die sich als Elemente eines Metatextes erkennen lassen, der immer wieder vom Erzählen selbst handelt. Dies ist auch deshalb möglich, weil die Abfolge von Handkes Texten nicht auf eine ständige Innovation von Themen, Schreibstrategien und Bildern aus ist, sondern dem Prinzip einer kreativen Schematisierung folgt, die mit einem begrenzten Bestand an erzählerischen Versatzstücken immer wieder neue Geschichten und Erzählsituationen hervorbringt. Dabei werden unterschiedliche Aspekte eines vergleichsweise geschlossenen Feldes thematischer Variationen des Erzählens deutlich. In dem als ‚Märchen‘ apostrophierten Text von Kali werden der Ursprung der Zeiten, des Märchens und das Erzählen eins (K 159). Der Text von In einer dunklen Nacht erweist sich als Teil eines übergreifenden Erzählspiels, an dem mehrere Personen beteiligt sind und in dessen Verlauf die Trennmarke zwischen dem Autor und dem Erzähler immer wieder systematisch überschritten wird (IN 51). Das Märchen von der Sprachunmittelbarkeit der Welt scheint dort Wirklichkeit geworden zu sein, weil selbst das Naturphänomen des Schneiens allein durch Sprechen hervorgerufen werden kann. Im Bildverlust stiften das Erzählen und die Sprache eine körperliche Beziehung zwischen der Wanderin und ihrem Erzähler, während gleichzeitig die Trennlinie zwischen der Geschichte, dem Handeln der Figuren und dem Erzählen selbst schwindet. Zum Bild für dessen Weiterwirken jenseits der durch © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_1
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eine Geschichte verbürgten Koordinaten von Raum und Zeit wird ein Gefährt, das anhält, aber im Stehen noch nachschwankt. Diese Bewegung, die „nicht sobald aufgehört haben“ wird, ist die Metapher des Erzählens selbst (BV 759). Übereinstimmend damit kann in der Obstdiebin die Arbeit des Lesens Erfahrungen mobilisieren und dauerhaft zugänglich machen, die das bloße Erleben überschreiten. Sie ermöglicht eine Wahrnehmung, die alles, was sich als Wirklichkeit zeigt, durch Phantasie und Sprache verwandeln kann. Spätestens seit dem Jahr in der Niemandsbucht wird deutlich, dass Handkes Erzählen fiktionale und autofiktionale Entwürfe miteinander verknüpft, um sie in ein transtextuelles Bezugssystem einzufügen. Es ist ebenfalls an jeder Stelle autoreflexiv und stellt poetologische neben autoanalytische Überlegungen. Die dabei entstehenden Textsegmente lassen sich auch als Einzelbeobachtungen oder spontane Reflexionen lesen und sind auf die Linearität des Erzählens nicht angewiesen. Zugleich entwerfen diese Texte Bilderordnungen, die auf unterschiedliche Weise nicht nur das Erzählen, sondern auch dessen Selbstreflexivität organisieren. Zunächst begründet sich die visuelle Evidenz von Handkes Erzählen daraus, dass er der Anschauung und dem Sehen zentrale Bedeutung für das Schreiben beimisst. „Wie schwer ist das Sehen. Und es gibt keine Schule dafür; jeder kann es nur selbst lernen, Tag für Tag neu. Aber dann, in der Betrachtung, hat selbst das Schwarz der toten Blätter jetzt ein Leuchten“, heißt es im Felsfenster morgens (AF 539). Schreiben beginnt als Beschreiben und entwickelt aus diesem bereits ein Arsenal feststehender Bilder, das alle Texte, wenn auch in unterschiedlicher Weise, organisiert. Nicht selten handelt es sich dabei um fast standardisierte Natur- und Zivilisationsbilder (IN 209): Die Unorte der Vorstadt, der Wechsel der Jahreszeiten, der beginnende Schneefall oder Regentropfen, die in den Staub fallen, um nur einige zu nennen (IN 78). Daneben stehen textunabhängige Bilder, es sind Tafelbilder der malerischen Tradition oder Filmbilder, die ekphrastisch wiedergegeben, nacherzählt oder umerzählt werden. Beispiele geben Cézannes Montagne Sainte-Victoire und Homme aux bras croisés (LSV 36) in der Lehre der Sainte-Victoire ebenso wie die dort präsentierte Reflexion über die Landschaftsmalerei von Ruisdael (LSV 18, 118 f.) über Courbet (LSV 31–33) bis zu Edward Hopper (LSV 19 f.). Zu nennen sind schließlich auch Ruisdaels Großer Wald in der Geschichte des Bleistifts (GB 214), Breughels Der düstere Tag in der Niemandsbucht (MJN 629), Vermeers Ansicht von Delft in den Serbientexten (TD 22), Poussins Darstellung der Sakramente im Versuch über die Müdigkeit (VM 57) oder von Ruth et Booz in der Obstdiebin (OD 466). Ebenfalls in diesen Kontext gehören Handkes eigene Bilder und Skizzen, die insbesondere die Notizbücher bestimmen (NB 34 f.). Eine Funktionalisierung dieser Bilder im Erzählen wird nicht selten dadurch erreicht, dass sie durch persönliche Bildwelten organisiert oder vernetzt werden, die entwicklungsgeschichtlich und psychologisch zu dechiffrieren sind. Es sind Bilder, die Handke auf seinen Reisen und in seinem engeren Umfeld wahrnimmt und die er häufig durch eine mehrfache Überschreibung verdichtet. Bedeutung gewinnen darüber hinaus aber vor allem die sogenannten „Inbilder“.
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Sie zentrieren seine Texte seit der Kindergeschichte (KG 28; Bürger 1983, 501), im Nachmittag eines Schriftstellers bezieht er sich ausdrücklich auf sie (NS 79) und in der Niemandsbucht wird er sie als „Kindheitsinbilder“ bezeichnen (MJN 771). Diese bildgesteuerten Rückgriffe des Erzählens auf das unverwechselbar Eigene wie auf das Vergangene entwerfen zugleich die Grundlinien eines poetologischen Programms, das eine intermediale Spur aufweist, die medialen Grenzen aber immer auch überschreitet. Das Erzählen zielt darauf, die „Systematik des Sehens“ zu überwinden und ein „phantasierendes Sehen“ zu erreichen, wie es das Notizbuch von 1978 schon vier Jahre vor der Lehre der Sainte-Victoire formuliert (NB 44). Gleichzeitig dokumentiert dieses Notizbuch, dass den Inbildern des Autors auch Zeichnungen an die Seite treten, in denen sich genaue Beobachtung und Phantasie ergänzen. Seine genauen Detailstudien, die oft in wenigen Strichen selbst das „Flirren und Zittern des Laubs“ spürbar werden lassen (Geimer 2019), gehen zumeist mit einer auffälligen Verkleinerung einher. Sie erweckt den Eindruck als befreiten sich die gezeichneten Motive „von den Gesetzen der Wirklichkeit, um in ein anderes Universum überzuwechseln“ (Agamben 2019, 14). Eine damit vergleichbare Transformation bestimmt auch den sprachlichen Zugriff auf die Wirklichkeit. Wer „Heraus aus der Sprache“ finden, sein Inbild erreichen und am Ende in Bildern schreiben will, nichts anderes meint die Betrachtung über das „Innewerden“ (PW 40; GB 94, 114), muss „ins Innere der Sprache gehen“, wo „Welt und Ich eins“ sind (GB 182). Mit dieser Überlegung verknüpft ist in Handkes Texten nicht nur die Frage nach der Beziehung von Sprache und Text, von Erzählen und Lesen, sondern auch die nach der ästhetischen Besonderheit und poetologischen Bedeutung der Medien von Text und Bild, deren Wechselbezug je erneut inszeniert wird. Es zeigt sich, dass dem Film dabei eine besondere Bedeutung zukommt. Die Texte verweisen immer wieder auf ihn, zugleich prägt er ihre Erzählweise. Zum einen, weil er Bild- und Erzählstrategien gleichermaßen organisiert und aufeinander bezieht. Zum andern, weil er die Bedeutung von Bild und Wort im Kontext der gegenwärtigen Gesellschaft markiert. Das Nachdenken darüber gewinnt nicht nur zentrale Bedeutung für Handkes Zusammenarbeit mit Wim Wenders und seine eigene Zuwendung zum Film, sondern es bestimmt auch die zentrale Thematik des Bildverlusts, der hier als ein Schlüsseltext angesehen werden muss. Dass die Filmbilder das Imaginäre und das Reale, innere und äußere Bilder miteinander verschränken, wird in diesem und anderen Texten des Autors immer wieder nachgezeichnet. Obwohl der Bildverlust ausdrücklich die zerstörerische Macht der technischen Bilder beschreibt, entwirft er gleichwohl eine Bestimmung der Eigenart von Bildern, die auch für das Filmbild und seine Inszenierung einer Verschränkung von bewusster und unbewusster Wahrnehmung angemessen erscheint: „Im Bild erschienen Außen und Innen fusioniert zu etwas Drittem […]“ (BV 745; vgl. auch GU 85). In Übereinstimmung mit Wenders Äußerung anlässlich des Himmels über Berlin „Das Wort wird bleiben“ (Wenders 1992, 197), wendet sich Handkes Versuch über den geglückten Tag zwar ebenfalls gegen den Illusionismus moderner Filmbilder, indem er den Autonomieanspruch der visuellen Wahrnehmung mit
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der Formel „Schauen und weiterschauen mit den Augen des richtigen Wortes“ (VT 83) zurückweist. Doch in Am Felsfenster morgens werden Wort und Bild schließlich als untrennbares Korrelat bestimmt: „Am Anfang war das Wort? Am Anfang war das Bild? Das Bild gibt das Wort“ (FF 493). Damit übereinstimmend macht der Text des Bildverlusts eine produktive Wechselbeziehung von Text und Bild zur Voraussetzung des Schreibens. Allerdings wird in diesem Text ein Funktionswandel innerhalb der Bilderordnungen markiert, den es zu überwinden gilt. ‚Bildverlust‘ heißt in ihm keineswegs, dass es keine Bilder mehr gibt. Der Terminus weist zwar auf den psychologisch folgenreichen Sachverhalt, dass die lebensleitenden Bilder, Erinnerungsbilder und Inbilder in der modernen Gesellschaft „keine Wirkung mehr“ haben, weil sie unter dem Einfluss der von außen kommenden „gemachten und gelenkten […] und nach Belieben lenkbaren Bilder“ ihre Kraft zu verlieren drohen (BV 743). Doch gleichzeitig richtet gerade dieser Text den Blick auf einen intermedialen Zusammenhang zwischen Wort und Bild, der von dieser historischen und gesellschaftlichen Entwicklung nicht berührt wird. Schon sehr früh äußert die Protagonistin mit Blick auf ihre Erinnerungen und das Erzählprojekt ihres Erzählers: „auch einzelne Wörter können aus der Zeit- und Raumferne als Bilder ankommen. Und vielleicht kein durchschlagenderes und innigeres Bild als so ein reines Wortbild“ (BV 213). Diese Spannung zwischen dem Beschreiben und dem Erzählen, der Praxis und der Poetologie des Erzählens, schließlich zwischen Wort und Bild verfolgt die hier vorgelegte Betrachtung des Werks von Peter Handke. Sie versucht herauszuarbeiten, wie sich zentrale werkgeschichtliche Entwicklungslinien und Wendepunkte in den Texten spiegeln. Doch gleichzeitig werden diese Texte auch in ihrer Ganzheit betrachtet, um ihre interne Funktionsregel, den Ablauf des Erzählens selbst in seiner je neuen Konfiguration angemessen erfassen zu können. Vorüberlegungen und Gang der Untersuchung Die Einleitung zu diesem Band orientiert sich an der Abfolge der folgenden Einzelanalysen. In Handkes Werk lässt sich ein Spiel von Kontinuität und Variation beobachten. Innerhalb des Metatextes, dem alle Texte angehören und an dem sie in unterschiedlicher Weise mitwirken, ist sein Schreiben jedoch durch signifikante Wendungen gekennzeichnet, die keine eindeutige Zuschreibung dieses Autors zu einer einzigen literarischen Richtung zulassen. Er benutzt, häufig zeitversetzt und in bewusster Abgrenzung von jeweils herrschenden Trends, unterschiedliche Register der Literatur des 20. Jahrhunderts. In einer ersten Phase seines Schreibens stellt er der politisch engagierten und realistisch orientierten Literatur der sechziger und siebziger Jahre experimentelle Texte gegenüber. Sie folgen Grundsätzen der Avantgarde und setzen, beeinflusst von Linguistik und Strukturalismus, auf eine permanente ästhetische Innovation. In einer zweiten Phase wendet sich Handke der literarischen Tradition zu und folgt in den siebziger Jahren der Haltung der sogenannten ‚Neuen Innerlichkeit‘. Er wiederholt damit eine Schreibhaltung, die auch die sogenannte ‚klassische Moderne‘ bestimmt: In kritischem Bezug auf die literarische Tradition versucht
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er, Welt wieder vom Standpunkt des Subjekts aus erzählbar zu machen. Die dritte Entwicklungsphase seines Werks, die mit der sogenannten Tetralogie im Jahr 1979 einsetzt, verbindet autobiographische Selbstreflexion mit einer philosophisch begründeten poetologischen Reflexion. In der darauffolgenden vierten Phase wird die existentialontologische Prägung des Erzählens noch schärfer konturiert. Die ästhetischen Entwürfe dieser letzten beiden Phasen überschreiten entschieden die Orientierungen der Moderne. Einerseits beschreiben sie – unter dem Einfluss des Poststrukturalismus und der Philosophie Heideggers – eine der Verfügung des Subjekts entzogene Wirklichkeit. Sie zeigen Sprache und Natur als dem Menschen vorgängige Ordnungen. Andererseits zielen sie auf eine Rekonstruktion. Über ihre philosophische Konturierung hinaus setzen diese Texte erneut auf die ästhetische Evidenz des Erzählens. Damit folgen sie einer Tendenz der Remimetisierung, die kennzeichnend für eine Richtung postmodernen Schreibens ist. Denn dieser Gestus der Rekonstruktion traditioneller Erzählformen ist ohne die vorangehende Infragestellung sprachlicher Repräsentation, ohne die Subversion der Kategorien von Subjekt, Autor und Werk nicht denkbar. In der fünften Phase der Werkentwicklung werden diese Linien weitergezogen, begründen jedoch eine neue Konstellation. Zum einen führt die Orientierung an der literarischen Tradition dazu, dass Handkes Erzählen auf traditionelle Muster zurückgreift. Kali, Don Juan oder Die Abwesenheit weisen märchenhafte Züge auf, während im Bildverlust, in der Morawischen Nacht und In einer dunklen Nacht Erzählstrategien des mittelalterlichen Epos bestimmend werden. Zum andern gewinnt die autoanalytische Einschrift sowohl in den Erzähltexten als auch in den Stücken noch schärfere Kontur. Das Jahr in der Niemandsbucht kombiniert das wirkliche Leben des Autors mit der Geschichte und den Namen seiner Erzählfiguren im Modus einer Überschreibung. In Immer noch Sturm überlagert eine erfundene Familiengeschichte die wirkliche des Autors. Eine vergleichbare Doppelstrategie des Schreibens prägt auch die Journale und die sogenannten Versuche. Diese Texte erweisen sich zugleich als fast experimentelle Kombinationen von Reflexion und bildkräftiger Darstellung. Die Beziehung von Anschauung und Erzählung, Bild und Wort prägt sie im Innersten und wird zugleich immer wieder thematisch. Dabei zeichnen sie auch die Faszination des Autors vom Medium des Films nach. In der sechsten Phase von Handkes Werk bringt sich eine neue, zwar teilweise verdeckt operierende, aber durchaus zielgerichtete Auseinandersetzung mit der modernen Lebenswelt und den politischen Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft zum Ausdruck. Schon der Bildverlust hatte historische Dissonanzen markiert und Gesellschaften unterschiedlicher Entwicklungsstufen einander konfrontiert. Im Großen Fall dagegen erscheinen die Konturen einer zukünftigen gesellschaftlichen Wirklichkeit und deren Konflikte in pointierter Form. Die Lebenswelten, die Kali und die Obstdiebin etablieren, sind allererst Gegenentwürfe zur herrschenden gesellschaftlichen Wirklichkeit. Ihr utopisches Potential besteht gerade in der Revokation traditioneller Entwürfe gesellschaftlicher Utopien. Dem allem geht eine langsame Ausdifferenzierung voraus, die das werkbestimmende Wechselspiel von Konstanz und Variation leitender Themen und Schreibstrategien mitbestimmt.
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Das zweite Kapitel dieses Bandes behandelt Handkes Angriff auf die sogenannte ‚Beschreibungsliteratur‘. Er richtet sich sowohl gegen den unmittelbar nach Kriegsende einsetzenden magisch und metaphysisch überhöhten Realismus von Böll, Andersch und Kolbenhoff, als auch gegen Dieter Wellershoffs Konzept des ‚Neuen Realismus‘. Gegenüber dieser „Manier des Realismus“ (E 20) will Handke zeigen, „daß die Literatur mit der Sprache gemacht wird, und nicht mit den Dingen, die mit der Sprache beschrieben werden“ (E 29 f.). Seine Forderungen folgen dabei auch Leitvorstellung der Wiener Gruppe, welche die Fabel als verbraucht ansieht. Zudem wendet sich der Autor gegen jedes politische Engagement der Literatur. Diese Abwehr trifft auch Sartre und Brecht, den noch die Journale in einer später gestrichenen Formulierung als Zerstörer der „freien Literatur“ bezeichnen (GW 110). Ihm gegenüber beruft sich Handke auf die poetische wie bewusstseinsverändernde Kraft der verwirrten Sätze Horváthscher Figuren, auf die „begriffsauflösende“ und „zukunftsmächtige Kraft des poetischen Denkens“ (W 76), das nicht auf die Klarheit des Begriffs, sondern auf die „Verstörung“ setzt. Diesen Überlegungen folgen die erzählerischen Anfänge Handkes. Der als Roman bezeichnete Text der Hornissen entwickelt aus einer experimentellen Situation minutiöse Detail- und Situationsbeschreibungen. Ein blinder Erzähler rekonstruiert Vergessenes, dabei überblenden sich für ihn erzählte, erinnerte und phantasierte Bilder, sie zerschneiden und zerstückeln „die weiße und leere Ebene des Gehirns“. Ein psychologisch eindringliches Bild dafür ist der „Mann mit dem Seesack“, der durch ein von kochendem Wasser überschwemmtes Dorf geht und dessen verbrühte Augen „hinter den Blicken schutzlos geworden“ sind (HO 15, 132). Formalistischer ist der Hausierer. Kursiv gesetzte Kapitelvorreden zitieren dort Versatzstücke von Kriminalgeschichten und werden in der Folge variiert. Diese „satzweise Zusammenstellung der wahren Geschichte“ (H 40) lässt keinen zusammenhängenden Text entstehen; selbst die immanente Ordnung des Textes erweist sich als ein verwirrendes Spiel mit Erzählmustern. Folgt man diesem regellosen Spiel ganz unterschiedlicher Sätze, so lässt sich erkennen, dass nicht einmal der Protagonist des Textes klar konturiert ist. Er ist ein shifter, eine Bezugsgröße, die sich in wechselnden Zusammenhängen verändert. Die Angst des Tormanns beim Elfmeter überformt das Sprachexperiment noch entschiedener psychologisch. Ein Mord, den der Protagonist Bloch zu Beginn des Textes begeht, bestimmt in der Folge seine Wahrnehmung; die Kriminalhandlung wird mit einem Psychogramm verschränkt. Handke zeigt damit, „wie sich jemandem die Gegenstände, die er wahrnimmt, in Folge eines Ereignisses […] immer mehr versprachlichen, und, indem die Bilder versprachlicht werden, auch zu Geboten und Verboten werden“ (Arnold TK 1, 3). Am Ende entfalten Blochs Wahrnehmungen, die einem Beziehungszwang unterstehen, eine hieroglyphische Bilderschrift, die ebenso schwer zu dechiffrieren ist wie die asymmetrische Kommunikation des Fußballspiels, weil dort jeder Spieler sein Handeln darauf gründet, dass er die verdeckten Absichten des anderen zu ergründen versucht.
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Das dritte Kapitel zeigt, wie die Stücke, Prosaarbeiten und Hörspiele bis ins Jahr 1974 diese Linie experimentellen Schreibens weiterfolgen. Vor allem das Stück Kaspar bestätigt dies. Es ist Sprachexperiment, Geschichte einer Psychogenese und historische Parabel zugleich. Kaspars erster Satz weist auf den historischen Kaspar Hauser: „Ich möchte ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist“. Er wird zum Ausgangspunkt einer Sozialisationsgeschichte, die zeigen soll, „wie jemand durch Sprechen zum Sprechen gebracht werden kann“; das Stück zeigt eine „Sprechfolterung“ (ST1 103). Ihre Instanzen sind die „Einsager“, die Kaspar seinen ersten Satz austreiben und ihn dann erneut zum Sprechen bringen. Dabei wird deutlich, dass die Versuche individueller sprachlicher Artikulation, die Sozialisation durch Sprache und die Sprachfolterung ineinander übergehen. Einerseits wird dem zum Sprechen Gebrachten klar, dass er „in die Falle gegangen“ ist (ST1 194), andererseits wehrt er sich mit vermeintlich sinnlosen Sätzen gegen seine Konditionierung und am Ende behauptet er sich mit der Formel „Ziegen und Affen“ als einsamer Sprecher (ST1 197 f.). Seine Gegen-Sätze, literarische Zitate aus Horváths Glaube Liebe Hoffnung und aus Shakespeares Othello widersetzen sich der machtbesetzten Diskursordnung der Einsager. Parallel dazu demonstrieren die in den Jahren 1964 bis 1971 geschriebenen Sprechstücke und das Stück Die Unvernünftigen sterben aus die Rolle von kommunikativer Sprache, Sprachformel und sprachlosen Gesten in vorgegebenen Situationen. Sie entfalten eine „Welt in den Worten selber“ (ST1 201) und setzen keine theatralische Wirkung frei. In Übereinstimmung damit ist die Publikumsbeschimpfung einerseits ein Stück, andererseits ein Essay, der die Wirkungsgesetze des Theaters, die Erwartungen und Reaktionen des Publikums behandelt. Ihr einleitender Satz „Dieses Stück ist eine Vorrede“ (ST1 19), verbindet sie mit den Sprechstücken, die als Schauspiele ohne Bilder zugleich Wortspiele ohne Handlung sind (ST1 21). Die Sätze der Schauspieler und die eingeschobenen Kommentare ironisieren das konventionelle Theater und dessen Inszenierung von ‚Sinn‘, ‚Zeit‘ und gespielter Wirklichkeit. Allerdings zeigt sich, dass der Theaterbetrieb die Provokation von Handkes Anti-Theater mühelos absorbierte. Die Stücke nach 1989 stellen dies bereits in Rechnung, wenn sie die frühen Ansätze in unterschiedlicher Weise radikalisieren. Das vierte Kapitel zeigt, dass Handkes Lyrik mit Ausnahme des Gedichts an die Dauer aus dem Jahr 1986 zunächst ebenfalls seinen experimentellen Ansätzen folgt. Der programmatische Titel des ersten Lyrikbandes Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt suggeriert eine Beziehung zwischen der Wahrnehmung von Wirklichkeit und subjektiven Empfindungen, welche die dort versammelten Texte nicht bestätigen wollen und wohl auch nicht können. Vielmehr führen sie die Funktionsregel grammatischer Modelle oder eingeschliffener Redeweisen und Redewendungen vor, wie beispielhaft Der Rand der Wörter 1 (IAI 31) oder die Wortfamilie (IAI 99–103) belegen. Viele Texte zeigen, dass die Macht des Vorgegebenen und Überlieferten auch eine kreative Gegenbewegung herausfordert. Darüber hinaus kommt es durch einen Rückgriff auf traditionelle Formen zumindest ansatzweise zur Konturierung eines lyrischen Ichs. Der Essay Was ich
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nicht bin, nicht habe, nicht will, nicht möchte – und was ich möchte, was ich habe und was ich bin (IAI 23–26) trägt nicht ohne Grund den eingeklammerten Untertitel Satzbiographie. Er zeigt, wie sich unter der Decke der gewöhnlichen Sätze, Namen und Bezeichnungen das Bewusstsein einstellt, ein unverwechselbares Ich zu sein. Das fünfte Kapitel wendet sich einer ersten Rückkehr Handkes zum traditionellen Erzählen zu. In ihr verbindet sich die bewusste Orientierung an der literarischen Tradition mit einer Konzentration auf die subjektive Wahrnehmung und intensiver Selbstreflexion. Diese in der Rezeption als ‚neue Innerlichkeit‘ apostrophierte Schreibweise wird im Kurzen Brief zum langen Abschied vorbereitet. Dessen Protagonist erfährt während einer Fahrt vom Osten in den Westen der USA den fremden Kontinent als einen Ort der Entfremdung und zugleich als eine Traumwelt, die ihm die Möglichkeit eröffnet, sich selbst ganz neu zu entdecken. Allerdings zeigen die allein perspektivisch und aus dem Zivilisationsraum heraus wahrgenommenen Naturansichten dem Erzähler zunächst nur seine „leidende Erinnerung“. Den in ihr wiederkehrenden Ängsten seiner Kindheit setzt er eine neue Zeichenordnung entgegen (KB 105). Plötzliche Epiphanien verwandeln seine leidende in eine „tätige“ Erinnerung. Die Natur zeigt ihm zudem, wie aus „Verwechslungen und Sinnestäuschungen Metaphern“ entstehen. Am Ende können ihn Erinnerung, Erfahrung und ästhetische Anschauung zur Haltung des „systematischen“ Erlebens führen (KB 124). Dieser Reise ins „Bewusstseinsland“ stellt Wunschloses Unglück einen Weg zurück gegenüber. Die Geschichte seiner Mutter, die der Autor nach ihrem Selbstmord schreibt, führt ihn auch in seine eigene Vergangenheit. Das Schreiben bewahrt die „Momente der äußersten Sprachlosigkeit und das Bedürfnis, sie zu formulieren“ (WU 11). Dabei lässt sich die Mutter an keiner Stelle als „Kunstfigur“ (WU 47) darstellen. In ihrer Lebensbeschreibung erscheinen selbst die kindlichen Sprachspiele als repressive Sozialisationsspiele, als Anpassung an Besitz- und Herrschaftsverhältnisse oder gar an die „Gemeinschaftserlebnisse“, welche die Nationalsozialisten inszenieren. Selbst die Begegnung mit der Literatur führt unter diesen Umständen nur zum Erwachen eines verkümmerten Ich, das weder physisch noch psychisch in der Lage ist, neu zu beginnen. Die Formel „Selten wunschlos und irgendwie glücklich, meistens wunschlos und ein bißchen unglücklich“ (WU 19) negiert nicht zufällig eine gängige Sprachformel. Am Ende ist der Tod der einzige Wunsch, den sich die Mutter selbst erfüllen kann. Beim Nachzeichnen dieser Entwicklung verändert sich der Erzähler selbst und verliert seine Distanz. Sein letzter Satz „Später werde ich über das alles Genaueres schreiben“ (WU 105) wird zum Programm eines zukünftigen Erzählens, das Erinnerung und poetische Phantasie miteinander vermitteln soll. Von Selbstverlust und Selbstfindung handelt auch die Stunde der wahren Empfindung. Der Protagonist Gregor Keuschnig träumt zu Beginn des Textes, dass er ein Mörder geworden ist und „sein gewohntes Leben nur der Form nach“ weiterführt (SE 7). Eine dadurch ausgelöste Fragmentierung des Bewusstseins, ein Beziehungswahn und unvermittelt auftretende sexuelle Aggressivität sind Zeichen seiner psychischen Regression. Das als Motto verwendete Wort von Horkheimer
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„Sind Gewalt und Sinnlosigkeit nicht zuletzt ein und dasselbe?“, weist auf seinen unbewussten Wunsch nach Rückkehr in einen Zustand vor Kulturisation und Sozialisation. Was als psychopathologische Fallstudie erscheint, entfaltet zugleich eine poetologische Perspektive. Denn Keuschnig will eine Sprache überwinden, die nur zeigt, „wie man Leben vortäuscht“. Er sucht nach einer neuen Form von Wahrnehmung und einem anderen Beschreibungssystem, einer „nouvelle formule“, die das Individuelle im Gleichen löscht und gerade dadurch die Phantasie freisetzt. (SE 8 f.). Seine Überantwortung an den zufälligen Blick ist ein „Romantisieren“ im Sinn von Novalis, verlangt aber nach dem Rückzug in eine Innenwelt (SE 166). Eine Lösung aus vorgegebenen Zusammenhängen zeigt auch die Linkshändige Frau. Ihr Widerstand gegen das von männlichen Wünschen bestimmte Spiel von Verführung und Liebe wird szenisch, bildhaft und distanziert dargestellt. Dabei verfährt das Erzählen phänomenologisch, es entfaltet eine Abfolge von Bildern, verzichtet auf psychologische Begründungen. Goethes von Handke an anderer Stelle zitierter Satz „Auf ihrem höchsten Gipfel wird die Poesie ganz äußerlich sein“ wird gerade so eingelöst (PW 45). Der Wandel des Bewusstseins der „Frau“, wie Marianne genannt wird, ist durch Bilder oder andere Texte skizziert. Ihr Wünschen findet im Wunschtext ihres Kindes, der Phantasie vom spannungsund beziehungslosen Leben auf einer Insel, sein Bild. Dadurch ergibt sich eine utopische Konfiguration im vollen Wortsinn. Am Schluss des Textes verwandelt der Blick der Protagonistin durch ein Fenster starre Natur in bewegte, sie selbst erscheint durch eine spiegelnde Scheibe in ein Naturbild einbezogen. Auch bei ihr entsteht aus der unbedingten Konzentration auf sich selbst eine produktive Kraft. Am Ende sieht sie aus dem Fenster und beginnt zu zeichnen. Ihr Doppelblick auf den eigenen Körper und die Natur, nach innen und nach außen, wird zur Metapher für Handkes Schreiben dieser Zeit. Das sechste Kapitel behandelt die Texte der sogenannten Tetralogie. Mit ihnen versucht der Autor, die „fixen Ideen einzelner als den Mythos vieler“ zu übersetzen (GW 242). In der Langsamen Heimkehr verweisen Naturbilder auf psychische Prozesse und Projektionen. Die Lehre der Sainte-Victoire fügt dem eine autobiographisch geprägte Mythisierung von Autorschaft hinzu. Parallel dazu rekonstruiert Handke in der Kindergeschichte beim Blick auf seine Tochter Amina Entwicklungsstufen der eigenen Sozialisation. Dabei macht er die Verwandtschaft zwischen kindlicher und ästhetischer Phantasie deutlich. Im dramatischen Gedicht Über die Dörfer denkt er sich zu seiner wirklichen Heimat und in den Erfahrungsraum der Familie zurück. In seiner Rede zur Verleihung des Nobelpreises 2019 wird die Bedeutung dieser Rückwende noch einmal betont und als Voraussetzung des eigenen Schreibens kenntlich gemacht. Innerhalb der Tetralogie bildet die Lehre der Sainte-Victoire Zentrum und Paradigma der autobiographisch geprägten poetologischen Reflexion. Der Erdforscher Sorger aus der Langsamen Heimkehr hat sich in den Autor der Lehre verwandelt und lebt in „vielen Blicken“ in diesem weiter (LSV 80). Handkes Rückbesinnung auf die ästhetische und philosophische Tradition Europas, die sich in der Lehre vollendet, wird so ins Bild gesetzt. Dabei verbindet die narzisstische
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Konzentration auf das eigene Ich eine ästhetische mit einer philosophischen Orientierung. Seine Suche nach einem „Lehrmeister“ (LSV 27) führt den Erzähler wie den Autor der Lehre zu Cézanne, auf die Tradition der Landschaftsmalerei. Seine Bildbeschreibungen entwerfen „Sehtafeln“, um ein „wiederkehrendes Phantasie- und Lebensbild“ zu erfassen (LSV 18). Er betont die innere Beziehung von Text und Bild, indem er die Landschaften als Zeichensysteme betrachtet, die wie eine Schrift lesbar sind. Damit verbindet sich eine philosophische Überlegung. Die Deutung Cézannes folgt eben dem „Eindringen in die Gefahr der äußersten Beziehung zu den einfachen Dingen“ (Laemmle 1981, 426–428), das Heidegger bei diesem entdeckt. Aus der Erkenntnis des Zusammenhangs, den die Bilder herstellen, begründet sich der Wunsch nach einem „Freiphantasieren“ der Landschaften, das sich an das Erzählen vermittelt (LSV 79). Dieses ist kein voraussetzungsloses Erfinden, sondern ein ‚Entbergen‘ im philosophischen Sinn. Es bestätigt eine grundsätzliche Verschränkung von Dichten und Denken. Cézannes Verfahren der „réalisation“ entspricht für den Autor seinem eigenen Versuch, den ästhetischen Text in eine Theorie im ursprünglichen Sinn der griechischen Naturphilosophie zu verwandeln. Zugleich soll diese Form der Imagination ästhetische „Phantasiebilder“ mit lebensgeschichtlichen Erinnerungen verbinden. Das produktive Verwechseln wie das Benennen stiften eine Einheit zwischen der „ältesten Vergangenheit und der Gegenwart“ des Erzählers (LSV 11). Diese mythische Genealogie von Autorschaft macht das erzählende Ich frei für Erinnerungen. Am Massiv der Sainte-Victoire kann der Erzähler jetzt entdecken, was ihm zuerst die Bilder Cézannes zeigen. Im Anschluss daran gelingt ihm eine vergleichbare Wahrnehmung im Morzger Wäldchen bei Salzburg. Als Urlandschaft und Bezirk der Kindheit verknüpft es in seiner Phantasie geographische Erfahrungsräume, lebensgeschichtliche Bilder und Erinnerungszeichen. Es ist kein Zufall, dass sich diese existentiell überhöhte ästhetische Erfahrung mit einer familialen Phantasie verbindet. Das Augenpaar, das der Erzähler am Ende der Lehre der Sainte-Victoire phantasiert, ist ihr Zeichen, es weist unmittelbar auf die Kindergeschichte. Das dramatische Gedicht Über die Dörfer führt diese familiale Recodierung des Ästhetischen später weiter. Das siebte Kapitel zeigt, wie sich die für die Tetralogie bestimmende Konvergenz von ästhetischem und philosophischem Entwurf im Chinesen des Schmerzes und der Wiederholung fortsetzt. In diesen Texten versucht ein dissoziiertes Ich, durch das Erzählen neue Sicherheit zu finden. Diesen Versuch einer Wiederfindung der identitätsstiftenden Kraft von Sprache und Poesie kann man mit Blick auf die Philosophie Heideggers Handkes ‚Kehre‘ nennen. So wie der Philosoph nach Orten des „Wohnens“ und „Bauens“ sucht, um vom Ursprung des Menschen reden zu können (Heidegger VO 25), legt der Protagonist Loser die Schwellen antiker Bauwerke frei, um diese zu rekonstruieren. Seine Archäologie wird zum Bild für eine ästhetische Rekonstruktion des Verlorenen. In Übereinstimmung mit einem Satz aus den Journalen Handkes zeigt sich ihm die Schwelle jetzt als „Schrift und Bild“ (PW 78). Sie weist auf die Architektonik der Welt im
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Verständnis Heideggers und ist zugleich Zeichen der geschichtlichen Vergangenheit wie einer existentiellen Situation. Beide hat das Schreiben zu rekonstruieren. Anders aber als bei Heidegger ist bei Handke die ontologische Dimension, die er zugleich in eine poetologische umsetzt, im Text an jeder Stelle durch eine psychologische vorbereitet. Vergils Formel der „Tilia Levis“, der leichten Linde, verwandelt Loser in den Namen einer Fremden, die er am Flughafen erwartet. Ästhetische und erotische Phantasie, bewusste Orientierung und unbewusstes Wünschen fallen so zusammen. Am Ende wird Loser zu einem neuen Leben fähig, das sich aus der Nachfolge Vergils begründet und ihn auch zu einem Erzähler macht. Er wird ein „Meister der Wiederholung“ (GB 20, 209). Der Text der Wiederholung folgt dieser existentialontologischen Orientierung. Sein Titel, der sich auf Heideggers Sein und Zeit bezieht (SuZ 385; Heidegger UN 131), weist erstens auf die Aufnahme von Themen und Motiven vorangehender Texte Handkes. Zweitens folgt er deren autobiographischer Spur. Deutlicher als früher gewinnen dabei die Medien der Sozialisation, Schrift und Sprache, Bedeutung. Dies führt drittens dazu, dass auch der Protagonist Kobal erfahren muss, dass jeder Schritt in die Sprache notwendig ein Aneignen von Vorgegebenem ist, ein „Hören“ und „Entsprechen“ im existentialontologischen Sinn (W 257; Heidegger UN 33). Er sucht sich einen Schriftmaler als Lehrmeister und in der Folge überblenden sich für ihn Landschaftsbilder und Schriftbilder. Beide werden zu Zeichen einer vorgängigen Ordnung, die es zu entziffern und dem Raum der Phantasie als „Luftschrift“ anzuverwandeln gilt. Das Zurücktreten hinter die Dinge und Bilder, der Verzicht auf beschreibende und ordnende Kategorien machen Kobal allerdings zugleich die Zwänge der Sozialisation bewusst. Bei der Rückkehr in das slowenische Land, den Raum der eigenen Herkunft, erscheint ihm die Sprache seiner Kindheit, die er wieder erlernen muss, als Medium der Befreiung wie der Begrenzung zugleich. Die Freiheit des Ursprungs scheint allein jenseits der Geschichte möglich; der Neuanfang hatte zu seiner Voraussetzung eine Katastrophe, deren Zeichen in der Schrift bewahrt sind. Zugleich wird das wahre Ziel der Suche nach dem Bruder deutlich. Nicht diesen zu finden beabsichtigt Kobal, sondern von ihm zu erzählen. Doch dieses Erzählen darf nicht zu einer Schrift erstarren, welche die Gewalt der Sozialisation allein überliefert. Es muss vielmehr, so die Schlussphantasie des Textes, „weitergehen“, indem es sich vom Begriff fernhält. Das zentrale Thema des Erzählens, das die späteren Texte Handkes durchgehend zentriert, ist hier bereits als eine entscheidende Leitlinie vorgezeichnet, die autoanalytische und poetologische Reflexion miteinander verbindet. Die darauffolgenden Texte Handkes setzen dieses Programm fort und verdichten es in immer neuen Variationen. Der als ‚Märchen‘ bezeichnete Text der Abwesenheit stellt mit einer eng begrenzten Figurenkonstellation ästhetisch eindringliche und existentiell zu deutende Situationen vor. Im Modus des märchenhaften Erzählens werden dabei einige typische Strategien und Orientierungen von Handkes Poetologie noch schärfer konturiert als in seinen anderen Texten. Dies gilt insbesondere für den Wechsel zwischen dem beschreibenden Erzählen und der Präsentation von Orten
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und Szenen, die der Realität entzogen scheinen. Dabei lassen sich einige Leitworte durchaus doppelt lesen. Über die bloße Denotation hinaus erhalten sie eine philosophische Bedeutung, die einen Rückbezug auf die existentialphilosophische Kontur des Chinesen des Schmerzes eröffnet. Poetologisch zielt dieser Text auf eine Darstellung von erfüllten Augenblicken, denen der Akt des Erzählens Dauer verleihen soll. Doch alles, was dieser erreichen kann, ist die Stiftung einer „Dauer im Wechsel“ im Goetheschen Sinn. Daraus ergibt sich eine Kontrastierung von Eigenwelt, Eigenzeit und historischer Zeit, wie sie auch das philosophische Nachdenken über den „Eigensinn des Ästhetischen“ (Adorno) präludiert und begleitet. Die poetologische Auflösung dieser Spannung erfolgt hier wie in anderen Texten durch eine Bewegung der Figuren im Raum. Sie begründet den Rhythmus des Erzählens, der wie in anderen Texten Handkes auch neue Wahrnehmungen und Erfahrungen ermöglicht (Carstensen 2013, 189; Honold 2017, 11, 492). Der Text In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem Haus nimmt Elemente auf, die auch die Niemandsbucht bestimmen: Die Konzentration auf die visuelle Anschauung, das Erzählmuster einer kreisenden Bewegung durch den Raum, die imaginäre und wirkliche Orte gleichermaßen berührt. Daneben steht ein klarer intertextueller Bezug auf Chrétien des Troyesʼ Lancelot und eine Chronotopie, die sich der aventiure ebenso zurechnen lässt wie dem Erzählen in Cervantes Don Quijote. Auch hier ist der Rückgriff auf das mittelalterliche Epos und das Märchen kein Eskapismus, sondern ein Verfahren, um den Blick auf das Gegenwärtige zu schärfen. Die Erinnerung an die traditionellen Texte und die gegenwärtige Wahrnehmung konturieren sich gegenseitig in der Überlagerung. Zudem folgt die auffällige Kadrierung der erzählten Bilder Handkes Poetologie des epischen Erzählens, die immer wieder visuelle Schemata entstehen lässt. Dadurch wird die Steppenwanderung des Apothekers zu einem Erzähl- und einem Wahrnehmungsexperiment zugleich. Weil die Bewegung des Protagonisten im Raum, die auch eine Suche nach der verlorenen Sprache ist (IN 86), von einem unbestimmten „Begehren“ getragen wird (IN 87), zeigt sich dem traditionellen Erzählschema noch eine ganz andere Geschichte eingeschrieben. Sie stellt die Konstitution des Ich durch Sprache und die damit zusammenhängende Objektkonstitution nach, wie sie bei Jacques Lacan beschrieben ist (Lacan Schrr I, 61–70). Am Ende entzieht sich Handke in diesem Text den vorgegebenen traditionellen Erzählmustern, die er benutzt. Wenn der Protagonist der Erzählung am Schluss selbst zu einem Erzähler wird, emanzipiert er sich auch jenseits der berichteten Geschichten. Seine Selbstsetzung gewinnt zudem gerade dadurch Kontur, dass an anderen Stellen dieses Textes „die Geschichte“ als eine autonome Ordnung erscheint, der keine der handelnden Personen, nicht einmal der Apotheker selbst, entkommen kann. Das letztlich fatalistische Geschichtsbild, das die Texte von Kali, dem Großen Fall und der Obstdiebin bestimmen wird, ist hier bereits angedeutet. Einen vergleichbaren Umgang mit einem traditionellen Thema kennzeichnet auch Don Juan (erzählt von ihm selbst), der auf eine formale Depotenzierung aller Vorgaben aus der Tradition dieses Stoffes zielt. Erstens, weil Handkes Geschichte
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des Don Juan märchenhafte Züge erhält, zweitens, weil die Liebesthematik zunehmend ihrer sexuellen Bezüge beraubt wird, dritten schließlich, weil auch diese Geschichte am Ende in eine Reflexion über das Erzählen selbst mündet. Don Juan dringt in den Garten des Erzählers ein, weil er vor einem Paar flüchtet, dem er beim Sexualakt zuschaute. Dies geschah keineswegs aus sexuellem Interesse, sondern vielmehr deshalb, weil er darauf wartete, ob sich in dieser Beziehung ein Anderes, Neues, zeigen würde (DJ 33). Damit orientiert sich Handke nicht allein an Juan de la Cruz' Llama de Amor viva und Nietzsche, sondern er greift auch auf eine Leitvorstellung seiner früheren Texte zurück: Don Juan erfährt das „andere Zeitsystem“ (DJ 77). Seine Geschichten mit sieben Frauen geschehen niemals in der „gewohnten Zeit“, sondern in Wahrheit „in keiner Zeit“ (DJ 102 f.). Diese Vorstellung ist unmittelbar mit einer märchenhaften Phantasie von der Macht des Erzählens verknüpft. Der Liebhaber verwandelt sich in einen Erzähler, diese Veränderung ist biblisch codiert, denn sie vollzieht sich zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. Zudem verbindet sich das Sprachwunder mit einem märchenhaften Naturwunder (DJ 24). Die Phantasie scheint sich zu erfüllen, dass das Erzählen selbst zu einem „Zeugen im Geist“ werden könne, wie es einst Thomas Mann als Leser Platons phantasierte (TMW 8, 493; Reed 1984, 103). Dahinter verbirgt sich ein poetologisches Programm, das auf die Darstellung der Unmittelbarkeit des Augenblicks anstelle linearer Zusammenhänge zielt. Im Text des Don Juan wird sie durch die Abgrenzung des unverstellten Blicks von den medialen Vermittlungsformen der Sprache und der Schrift zum Ausdruck gebracht. Der letzte Satz des Buches „Don Juans Geschichte kann kein Ende haben, und das ist, sage und schreibe, die endgültige und wahre Geschichte Don Juans“ (DJ 159) fordert dazu auf, die konventionellen Liebesgeschichten zu verlassen und zu einer anderen Form des Erzählens zu finden, das seine Überzeugungskraft aus sich selbst gewinnt. Nicht anders als im Text der Niemandsbucht, der immer wieder die Grenze zwischen Autobiographie und Autofiktion überschreitet (Wagner-Egelhaaf 2016, 15–21; Röhnert 2014), sind auch im Bildverlust sowohl einzelne Bilder als auch ganze Erzählpassagen multipel lesbar, weil man sie unterschiedlichen Kontexten zuordnen kann, die sich überlagern. Die erzählte Geschichte, die auf den ersten Blick einer linearen Ordnung folgt, wird immer wieder von eingeschobenen Erzählungen, Vor- oder Rückverweisen durchbrochen. An ihren Berührungsstellen kommt es zu komplexen metonymischen Verschränkungen, deren Nähe zur metonymischen Metaphorik Prousts unverkennbar ist (Keller 1991, 248). Bei der Beschreibung des geographischen Raums der Sierra de Gredos mischen sich verifizierbare Ortsangaben mit phantastischen Namen wie „Nuevo Bazar“, oder von solchen, die Nähe und Ferne, Vertrautes und Fremdes verschränken, wie Spanien, Serbien und Alaska (Luckscheiter 2012, 143). Zudem ist der Text, der in einer nahen Zukunft spielt, von Anfang an mit Bildern der Gegenwart ebenso verknüpft wie mit Erinnerungen an die Vergangenheit. Gleichzeitig bezieht er sich immer wieder auf einen anderen Text, auf den Don Quijote des Cervantes. Dies zeigen zum einen seine komplexe Erzählstruktur (Pichler 2013, 35), zum anderen die Erinnerungen an Cervantes’ Landschaftsbeschreibungen (MJN 925).
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Dass die eigentliche Beziehung auf diesen Autor jedoch jenseits der Zitate und formalen Ähnlichkeiten grundsätzlicher ist, belegt der Schluss des Textes (BV 709). Dort wird nicht nur die grundsätzliche Frage danach aufgeworfen, wer in diesem Roman eigentlich erzählt, vielmehr rückt jetzt neben die Reflexion über das Medium des Bildes, die weite Strecken des Textes bestimmt, ein Nachdenken über das Medium der Schrift. Mit der zentralen Frage, wie Wirklichkeit durch die Zeichen der Sprache wiedergegeben werden kann, sieht sich der moderne Autor wie sein Vorläufer auf die Notwendigkeit verwiesen, „mit den Zeichen und den Ähnlichkeiten“ (Foucault 1971, 79, 81) zu spielen. Auch damit wiederholt sich eine Konstellation des frühen Werks, zugleich wird sie zum Kern einer übergreifenden Poetologie des Erzählens. Das achte Kapitel zeigt, dass eine vergleichbare poetologische Ausdifferenzierung parallel zu den Erzählungen auch in den sogenannten Journalen stattfindet, die zwischen 1977 und 1982 erscheinen. Sie gehen aus Tagebuchaufzeichnungen hervor und sind wie die unter dem Titel Langsam im Schatten erscheinenden Essays der Gesammelten Verzettelungen 1980–1992 den fiktionalen Texten strukturell und inhaltlich vergleichbar. Das Gewicht der Welt versucht, die „ewige Entzweitheit zwischen einem und der Welt“ (GW 105) zu überwinden und setzt ganz auf die Kraft des „Ich-Gefühls“ (GW 47), auf die narzisstische Selbstversenkung und den Ver such, auf die Momente hinzudenken, in denen die „Welt spruchreif wird“ (GW 171). Die Phantasien der Wiederholung beziehen poetologische und ontologische Orientierungen aufeinander. Ihr Titel verweist auf Sartre, und sie bestimmen das Schreiben als eine existentielle Erfahrung (PW 51). An die Stelle einer Selbstsetzung rückt jetzt das Gesetz der Nachfolge, die „Freude des Wiederholens“, die sich auf die literarische und philosophische Tradition richtet. Die Geschichte des Bleistifts verwandelt das poetologische Programm der Nachfolge in eine mythisch überhöhte Idee von Autorschaft, die ebenfalls ganz auf die Meisterschaft der „Wiederholung“ setzt (GB 315). Zugleich entwerfen die Journale Versatzstücke künftiger Texte. Ihre Naturbeschreibungen, die an Umfang und Intensität zunehmen, verknüpfen ästhetische Bilder und authentische Erfahrungen. Der Wunsch, das autonome Zeichensystem der Natur zu erfassen, nicht die ungebundene Phantasie leitet hier das Schreiben (GB 76). Dieses wird zu einem „Nachsprechen der Welt“ (GB 233), der Blick auf das „persönliche Epos“ (GW 315) der Journale ruft den Wunsch hervor, nur noch vom „Schnee in den Rocky Mountains“ zu schreiben (GW 321). Das 2015 veröffentlichte Notizbuch, das einen Einblick in die Beziehung von Handkes Notizbüchern im engeren Sinn zu den autoreflexiven Aufzeichnungen der Journale gibt, erhält seine Bedeutung für das Erzählen in den fiktionalen Texten dadurch, dass es die Opposition von Natur und Zivilisation, die nicht nur in der Langsamen Heimkehr eine Leitlinie bildet, entschieden differenziert. Einerseits fühlt sich der Aufzeichner selbst als „Zivilisationsdämon“ (NB 35), andererseits erhalten Natur und Landschaft für ihn deshalb eine besondere Funktion. Sie markieren einen Schutzbereich: Die Phantasie vom Aufgehen in der Natur ist mit
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dem Bild einer Muschel verknüpft, das in der Druckfassung der Langsamen Heimkehr als Graphik auf dem Cover erscheint (NB 34). Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987) dokumentiert paradigmatisch die Bedeutung von visueller Wahrnehmung, welche die Journale bestimmt. Handke bezeichnet die hier vorgelegten Notate lediglich als „Reflexe, unwillkürliche, gleichwohl bedeutsame“ (AF 7). Ausdrücklich weist er die Bezeichnung ‚Tagebuch‘ zurück und spricht von einem Buch, das durch die „Einheit zwischen Reflex, Reflexion und Gegenstand“ gekennzeichnet ist, also von vornherein das Sehen und das Denken aneinander vermitteln will (AF 97). Das Cover der Erstausgabe kombiniert eine ornamentale Konfiguration mit einem Pfeil und lässt sich damit auf eine Definition von Literatur beziehen, die eine Wechselbeziehung zwischen dem Visuellen und dem Reflexiven, zwischen Bild und Wort entwirft: „Literatur: Es genügt nicht das Bild – es muß jenes eine (1) Wort dazukommen, welches das Bild erst zum Bild-Pfeil macht“ (AF 431), vermerkt ein Notat. Psychologisch spiegeln diese Aufzeichnungen eine zugleich bewusste und unbewusste Fixierung auf das Thema der Herkunft, wie sie sich bereits in Über die Dörfer am Ende der Tetralogie angedeutet hatte. Es ist eine Linie, die in Immer noch Sturm ihren bis jetzt deutlichsten Ausdruck findet, gleichermaßen aber auch Texte wie die Morawische Nacht bestimmt. Sinnfällig ausgedrückt wird diese Rückwende zunächst dadurch, dass das „Felsfenster“ auch ein Zeitfenster ist, das Ausblicke in ganz andere „Ortszeiten“ eröffnet, unter denen die wichtigste die Kinderzeit ist. Ausdrücklich allerdings wird die mit dem Namen Thukydides geweckte Erwartung einer Darstellung historischer Ereignisse oder geschichtlicher Abläufe vermieden. Der geheime Kern der Texte ist vielmehr ihr Versuch, eine andere Geschichte zu schreiben, die sich allein auf Anschauung gründet. Es ist eine Abfolge von Bildern, die keine Kausalitäten erzeugt. Sie konterkariert systematisch das Gesetz der allgemeinen Geschichte und der im Kontext von Geschichte sich ereignenden Vorgänge. Das Journal Gestern unterwegs versammelt Aufzeichnungen vom November 1987 bis zum Juli 1990. Der ständige Ortswechsel, der in dieser Zeit stattfand, hat zur Folge, dass in diesem Text das pure „Mit-Schreiben“ immer wieder von einem „nachträglichen, leicht zeitversetzten Notieren“ (GU 5) abgelöst wird. Eine Grundfigur bildet auch hier das Wechselspiel zwischen Erinnerung und Gegenwart, das ein Nachdenken über die eigene produktive Tätigkeit mit Blick auf die Jugendgeschichte begründet. Dabei verzeichnet der Text sowohl die traumatischen Erfahrungen des Autors im Internat (GU 57, 208, 326), als auch seine Befreiung durch eine Orientierung an der Antike, die – so eine Leitvorstellung des eigenen Schreibens – „voll klarer Zwischenräume“ war (GU 56). Anders ist dies in Ein Jahr aus der Nacht gesprochen, wo der Autor ausschließlich Sätze und Szenen niederschreibt, die unmittelbar dem Schlaf zugeordnet werden. In einem Gespräch bemerkt er über diese Aufzeichnungen: „Irgendwie habe ich innerlich aufgehorcht, ich wurde wach, manchmal mitten in der Nacht, manchmal am frühen Morgen. Ich habe mir die Sätze, die Bilder durch den Kopf gehen lassen und sie dann aufgeschrieben“ (Greiner 2010). Einen unverstellten Blick auf den
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Autor ermöglichen sie jedoch nicht. Als Traumerzählungen im wortwörtlichen Sinn lassen sie zwar einerseits die Rolle des Traums für Handkes Schreiben deutlich werden. Andererseits verzeichnen diese Notate naturgemäß Umwandlungen des latenten Trauminhalts in den manifesten Traum. Als solche sind sie grundsätzlich auf Mitteilung und Erzählung aus, sie sind somit auf die Einhaltung diskursiver Regeln angewiesen. Gegenüber der Programmatik und der Verdichtung lebens- und werkgeschichtlicher Reflexionen in Gestern unterwegs erscheint die Sammlung der Notate des bisher letzten Journals mit dem Titel Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie deutlich weniger strukturiert. Zudem handelt es sich um eine Abfolge ganz unterschiedlicher Textformen und segmentierter Texte. Gemäß der gewählten Devise „das Denken ist nicht in den Haupt-, sondern in den Zeitwörtern“ (VB 317) sucht der Aufzeichner immer wieder nach verbalen Umschreibungen, etwa nach Verben zur Liebe (VB 367) oder zur Poesie (VB 257). Daneben stehen Sentenzen des Verfassers, Redeversatzstücke und Zitate von anderen Autoren. Viele von ihnen sind zudem auf eine Interpretation oder Umdeutung angelegt (VB 110, 276) und eröffnen durch die Thematik des Schreibens und Lesens werkgeschichtliche Perspektiven. Bemerkenswert ist dabei, wie sich dieses Journal immer wieder auf Goethe bezieht. Ihn beschreibt der Aufzeichner als „eine Art Vaterlose[n], hochfahrend-hoffärtig“ (VB 404). Es ist eine Formel, die durchaus dem eigenen Selbstbild korrespondiert, das jetzt durch den Bezug auf einen anderen zugleich legitimiert und konturiert wird. Darüber hinaus erschließt diese Konstellation ein weiteres zentrales Phantasma des eigenen Lebens, das als „Mein“ Mythos bezeichnet wird. Es ist eine durchaus irritierende Identifikation mit Christus, die einer Umdeutung der Isaak-Geschichte folgt (VB 172, 383). Insgesamt wird damit der Rückbezug auf Christus als Gottessohn fortgesetzt, der schon Gestern unterwegs bestimmt (GU 390, 514). Das neunte Kapitel behandelt am Beispiel von Mein Jahr in der Niemandsbucht und Die Morawische Nacht die für Handkes Werk konstitutive zentrale Verknüpfung von fiktionalem und autofiktionalem Schreiben. Für den Text der Niemandsbucht ist die Spannung zwischen diesen Registern grundlegend. Mit beiden ist er auf mehrfache und komplexe Weise verknüpft. Zum einen, weil er eine Lebensphase des Autors autobiographisch rekonstruiert und zugleich Perspektiven auf das fiktionale Werk eröffnet. Zum andern dadurch, dass das Ich, das in der Niemandsbucht spricht, sowohl Züge des Autors als auch solche seiner Figuren trägt. Das dort sprechende Ich lässt sich mit dem Ich-Erzähler von Prousts Recherche vergleichen, der ebenfalls mit seinem Autor verschränkt ist. „Der Ich sagt, der Ich aber nicht immer bin“, paraphrasiert Proust diesen Sachverhalt (Proust 1963, 61; Keller 1991, 207 f.). Weil Handkes Ich-Erzähler Keuschnig allerdings den Namen der Figur eines anderen Textes trägt, erhält die Beziehung zwischen Fiktion und Realität, fiktionalem und faktualem Erzählen, Autor und Figur eine weitere Dimension. Indem sie sich auf die Werkgeschichte des Autors beziehen
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lässt, verschränkt sie seine biographische mit seiner intellektuellen Entwicklung. Die Grenzziehung zwischen dem Autor Handke, dem Erzähler in der Niemandsbucht und den Figuren des Handkeschen Werkes, die in der Niemandsbucht in veränderter Gestalt auftreten, wird im Erzählen immer wieder spielerisch überschritten. Der Text der Morawischen Nacht eröffnet Rückbezüge sowohl auf das Jahr in der Niemandsbucht als auch auf den Bildverlust. Gleichzeitig kontextualisiert er Bilder, die Handkes vorangehende Texte über Serbien durchziehen. Sowohl das Konzept einer Autofiktion im ersten Text als auch die erzähltheoretische Reflexion aus dem zweiten Text werden jetzt zusammengeführt und auf eine neue und fast aleatorische Weise miteinander verknüpft. Der Schluss der Erzählung lässt alles, was vorher erzählt wurde, wie eine phantasmatische Konfiguration erscheinen, die allein aus der das Erzählen bestimmenden Imagination hervorgeht. Als Vorausdeutung auf dieses Ende, an dem sich die Koordinaten von Raum und Zeit auflösen, erscheint eine Passage, in welcher der Erzähler mitteilt, dass die Reise des früheren Autors „in keiner Zeit“ stattgefunden habe. Erklärend fügt er hinzu, dass das, was in dieser Reisegeschichte eigentlich zähle, „alle Zeiten“ sind, „miteinander, durcheinander, gegeneinander – parallele, gegenläufige, einander zuwiderlaufende, durchkreuzende“ (MN 45). In einer Reflexion über das Erzählen selbst werden dem poetologischen Begriff der ‚Erzählzeit‘ die auch im Don Juan verhandelten Begriffe von „Zählzeit“ und „Erzählzwangzeit“ an die Seite gestellt (DJ 156). In Handkes immanenter Poetologie umschreiben sie unterschiedliche Strategien, um lebensgeschichtliche Abläufe so wiederzugeben und zu verknüpfen, dass sie einander erläutern und korrigieren. Das zehnte Kapitel beschreibt die zwischen 1989 und 2013 entstehenden Versuche, deren zweiter, der Versuch über die Jukebox in der Erstausgabe noch den Untertitel einer „Erzählung“ trägt und deren letzter, der Versuch über den Pilznarren, zuerst als „Eine Geschichte“ für sich bezeichnet wird. Sie lassen sich allesamt als Textsorte nicht eindeutig klassifizieren. Zudem greifen sie Überlegungen auf, die bereits im Nachmittag eines Schriftstellers vorgezeichnet sind. Schon bevor Handke in der Niemandsbucht die doppelte Geschichte seines Lebens und Schreibens erzählt, begründen einige der Versuche eine Zwischenform zwischen Autoreflexion, Autoanalyse und fiktionalem Entwurf. Dabei praktizieren sie eine Form der uneigentlichen Rede, indem sie aus unmittelbaren Beschreibungen weiterführende und assoziative Reflexionen entwickeln. So ist die Jukebox, von welcher der zweite Text handelt, nicht nur ein nostalgisch betrachtetes Objekt der Zivilisationsgeschichte, sondern sie stellt zugleich die leitende Metapher für das Konstruktionsgesetz der Versuche insgesamt dar. Sie repräsentiert nichts anderes als ein Archiv medial transformierter Erinnerungen, dessen Songs die Leitmotive für Erfahrungen in der Vergangenheit und ihre Mobilisierung in Gemütszuständen der Gegenwart liefern (Honold 2017, 317). Auch die Versuche über die Müdigkeit, über den Geglückten Tag oder den Stillen Ort, deren Beobachtungen soziale Kontexte visualisieren, beziehen diese zugleich auf eigene Erfahrungen, insbesondere auf Erinnerungen. Dieser intermedialen
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Konfiguration treten andere medial vermittelte Erinnerungen, insbesondere Filmsequenzen an die Seite. Dem Versuch über den Pilznarren kommt in dieser Reihe besondere Bedeutung zu, weil er wie das Jahr in der Niemandsbucht und die Morawische Nacht einer autofiktionalen Linie folgt. Die Geschichte des Pilznarren ist die eines Doppelgängers des Autors. Sie spiegelt dessen Erinnerungen an die eigene Herkunft und Entwicklung zum Teil in spielerischer Ironie, aber auch durch indirekte Verweise. Weil sie in der Kindheit beginnt, auf Slowenien verweist und den Pilznarren am Ende zum Strafverteidiger bei einem internationalen Gerichtshof werden lässt, trägt sie Züge einer Selbstbeschreibung des Autors. Das elfte Kapitel skizziert Handkes Auseinandersetzung mit Serbien im Gefolge der Auflösung des früheren Jugoslawien. Sie markiert einen Wendepunkt, der Leben und Werk des Autors fundamental verändert (MJN 158). Als dieser ins Zentrum einer öffentlichen Kritik rückt, die er zwar durchaus provoziert, aber wohl so nicht wirklich erwartet hatte, schien sich die Grundfigur seiner Rolle als Schriftsteller im öffentlichen Diskurs nach 1966 zu wiederholen. Dies führte einerseits zu einer immer schärferen Konturierung der eigenen Haltung, andererseits auch zu Selbstkritik und Selbstzweifeln, die sich in den erzählenden wie den dramatischen Texten niederschlugen. Die Morawische Nacht, Immer noch Sturm oder die Fahrt im Einbaum geben dafür Beispiele. An die Fokussierung auf die soziale Wirklichkeit, die sich in Wunschloses Unglück spiegelt, schließt sich jetzt eine Auseinandersetzung mit der politischen Realität an. Sie konturiert die in früheren Texten immer wieder behandelte Spannung zwischen der realen und der poetischen Welt, steht aber in einem komplexeren Zusammenhang. Zum einen, weil die Meinung über die angemessene Haltung des Westens gegenüber Serbien, die sich nach 1996 durchzusetzen begann, nur auf der Grundlage eines Diskurswechsels der deutschen Literaten und Intellektuellen möglich war, der sich erst mit dem Jahr 1989 vollenden sollte. Zum andern weil die Herausbildung des öffentlichen Diskurses in der entwickelten Mediengesellschaft einer Eigengesetzlichkeit unterstand. Es erscheint wie eine Ironie der Geschichte, dass gerade dieser Sachverhalt auch die erneute öffentliche Diskussion über Handkes Haltung zu Serbien anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2019 bestimmte. Diese radikalisierte die Kritik und nahm durchaus Formen einer „Hetzjagd“ (Melle 2019) an. Die nach der ersten Diskussionswelle formulierte Selbstkritik der Medien schien vergessen, teils fragwürdige und teils absurde Faktenverknüpfungen fanden jetzt ebenso statt wie nachweisbare Fehllektüren der Texte Handkes (Stokowski 2019; Bremer 2019), problembewusste Stellungnahmen waren die Ausnahme (Assheuer 2019; Müller 2019). Mit Blick auf den Jugoslawienkrieg lenkt Handke bereits im Eingang zur Winterlichen Reise das Augenmerk nicht nur auf die Besonderheiten des medial vermittelten öffentlichen Diskurses. Er thematisiert dort auch grundsätzlich und kritisch den Wahrheitsgehalt von Information im Medienzeitalter (WR 56). Darüber hinaus hat seine Auseinandersetzung mit Serbien auch poetologische Konsequenzen, weil sie zwei immer schon bestimmende Leitlinien des eigenen Schreibens aufnimmt und verstärkt (WR 69). Zum einen führt die autofiktionale
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Rekodierung zur Geschichte seiner Familie zurück, die der slowenischen Minderheit in Kärnten angehört. In ihr findet der Autor Koordinaten des eigenen Lebens, die bereits die Wiederholung prägten, jetzt aber auf den aktuellen Konflikt des Westens mit Serbien bezogen werden können. Zum anderen spitzt sich die grundlegende Dissonanz zwischen der poetischen Weltsicht und dem Schreiben, dem medial vermittelten Bild der Wirklichkeit und der erfahrenen Geschichte zu. Ein Beispiel dafür gibt der Text Rund um das große Tribunal, in dem Vermeers Ansicht von Delft zum Gegenentwurf eines vorherrschenden politischen Systems wird, das seine Handlungen juristisch und durch den Rückgriff auf moderne Kommunikationsmedien unhinterfragbar zu machen versucht (RT 21, 35). Die in der Auseinandersetzung mit dem Serbienkrieg und seiner juristischen Aufarbeitung durch den Internationalen Gerichtshof entwickelten Bilder und Leitworte organisieren in der Folge auch die Stücke und Texte Handkes. Thematisch erkennbar sind sie in der Fahrt im Einbaum und der Morawischen Nacht. Als Verweise und Zitate durchziehen sie zugleich alle späteren Texte bis zur Obstdiebin. Insbesondere der Bildverlust beschreibt gesellschaftliche Konstellationen, die an den Balkan vor, während und nach dem Krieg erinnern. Eng verknüpft sind diese Verweise auf Serbien zudem mit dem allgemeinen Thema der Geschichte, das nicht nur in den Texten und Verfilmungen der Abwesenheit und der Schönen Tage von Aranjuez, sondern insbesondere in den zivilisationskritischen Texten von Kali und dem Großen Fall eine zentrale Rolle gewinnt. Der Essay Noch einmal für Thukydides erweist sich als Leittext zur Erschließung dieses Wechselbezugs. Das zwölfte Kapitel beschreibt, wie Handke in seinen Stücken nach 1989 auf Ansätze zurückgreift, die bereits seine ersten dramatischen Entwürfe bestimmten, und sie zugleich radikalisiert. Dabei kommt es beim Rekurs auf das Thema ‚Jugo slawien‘ zu einer deutlicheren politischen Konturierung. Mit der Stunde da wir nichts voneinander wussten folgt der Autor zunächst dem experimentellen Ansatz von Das Mündel will Vormund sein und der Sprechstücke, die „als Schauspiele ohne Bilder“ operierten (ST1 21). Die Akteure auf der Bühne stellen bei ihrem „Sich-Einspielen“ (DS 9) keine „Rollen“ dar, sondern bleiben tanzende, flüchtige, wechselnde Körpergestalten. Die Reduzierung des Figurenhandelns auf Gesten und Bewegungen, die auch die Spuren der Verirrten bestimmt, wo sich die Bühne in einen bloßen Schau-Platz verwandelt, setzt diese Darstellungsweise fort. Eine vergleichbare experimentelle Strategie bestimmt die Texte, die Handke für das Schauspiel La cuisine von Mladen Materić schreibt. Sie setzt sich im Untertagblues und schließlich in Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts fort. Dagegen nimmt Das Spiel vom Fragen die mythischen Konstellationen von Über die Dörfer auf. In Bis daß der Tod euch scheidet war das Wort ‚Sturm‘, das einen Bezug auf Shakespeare eröffnet, bereits Metapher für eine problematische Beziehung zwischen Mann und Frau. In Immer noch Sturm metaphorisiert es die Beziehungen von drei Generationen einer Familie und die besondere historische Konstellation, welche diese prägte (BTS 27). Weil dieses Stück auch einen Blick auf die wirkliche Familiengeschichte des Autors Handke eröffnet, wird
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es zum Paradigma für das Zusammenspiel von Autofiktion und Fiktion, das die späteren Stücke und Texte des Autors immer stärker prägt. Alles, was geschieht, ist durch den radikal subjektiven Blick eines ‚Ich‘ vermittelt, das als Figur neben den Familienmitgliedern auftritt. Das Drama seines Innern spiegelt sich in einem Szenen- und Schauplatzwechsel im Äußeren. Auch in den Zurüstungen für die Unsterblichkeit geht es auf der Bühne um ein Drama des Innern. Gleichzeitig wird eine historische Konstellation gezeigt, in der die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit in der Abfolge von Krieg und Frieden eine zentrale Rolle einnimmt (ZU 92). Die im Jahr 1999 aufgeführte Fahrt im Einbaum nimmt unter diesem Blickwinkel auf Handkes Texte über Serbien ebenso Bezug wie auf die öffentliche Auseinandersetzung über diese. Das Sprechstück, das sich als ein neuerlicher „Nachtrag“ zum Balkankrieg ansehen lässt, verbindet Grundmuster und Bilder von Handkes Poetologie mit den leitenden Formeln des medial gesteuerten Diskurses über den Krieg in Jugoslawien. Seine Absicht, das Publikum zu einer Reaktion herauszufordern, ist innerhalb des Stücks durch eine Interaktion von Akteuren und Beobachtern schon vorgezeichnet. Dadurch kommt es zu einem doppelten Spiel mit der Identität des Ich und den Gattungsformen eines Theaters, das auf konturierte Instanzen angewiesen ist. In den beiden Stücken Die schönen Tage von Aranjuez und Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße setzt sich diese Konstellation fort. Der erste Text durchkreuzt bereits mit der Benennung als „Sommerdialog“ die Eindeutigkeit der Bestimmung als Theaterstück, der zweite geht unter dem Titel Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten ähnlich spielerisch mit formalen Vorgaben um. Die Klassifikation als Schauspiel nimmt er in wörtlicher Form auf. Wie schon in Spuren der Verirrten wird der Schauplatz der Bühne zu einem Mitakteur, zumal er einen wirklichen Ort und phantasmatische Projektionen des Ich zugleich sichtbar macht (SV 14). Dabei werden in diesem Formenspiel Splitter von autobiographischen Referenzen wie in einem „bricolage“ (Derrida 1967, 418) zusammengefügt. Das dreizehnte Kapitel beschreibt, wie der Einfluss der Medien von Film und Bild Handkes Schreiben auf unterschiedliche Weise prägt. Es zeigt auch, wie die produktive Auseinandersetzung mit dem Film in Handkes Verfilmungen eigener Texte und in der Zusammenarbeit mit Wim Wenders eine zentrale Rolle gewinnt, die sich wiederum den Texten mitteilt. Die ersten Filmprojekte folgen dabei dem Ansatz der frühen Stücke und Texte des Autors. Die Chronik der laufenden Ereignisse und Falsche Bewegung lassen sich als Experimente mit den Darstellungsformen dieses Mediums und den Gesetzen der visuellen Wahrnehmung ansehen. Die Chronik behandelt die Konkurrenz von Film- und Fernsehbildern, zugleich ist sie eine „Chronik der Fernsehbilder, die in der Bundesrepublik in den Jahren 1968 und 1969 […] gezeigt wurden“ (CLE 128 f.). Den Text von Falsche Bewegung hat man als „Prosaauflösung“ eines Drehbuchs (Durzak 1982, 141) angesehen, der gleichnamige Film zielt sowohl auf eine Demonstration des Bilder-Sehens als auch auf die Erschließung der besonderen Beziehung zwischen Bild und
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Schrift (FB 16, 18). Das innere Gesetz der Fernsehwirklichkeit bestimmt auch das Schreiben des Protagonisten. Umgekehrt benutzt der Film die literarische Vorlage von Goethes Wilhelm Meister, die er nacherzählt, umerzählt und als Blaupause einer neuen Geschichte benutzt (FB 77 f.; Pütz 1975, 69). Im gleichen Zug schreibt Handke der Geschichte Wilhelms Bilder seines eigenen Lebens und Signifikanten seiner eigenen Texte ein. Wim Wenders’ Verfilmung der Angst des Tormanns beim Elfmeter setzt zentrale Motive und visuelle Konstellationen der Texte Handkes in eine eigene kinematographische Sprache um. Vor allem die im Stück des Autors vorgezeichnete Reduktion von Sprache und Handlung und die Konfrontation assoziativer Wahrnehmung mit denotativer Sprache setzt er durch Aufblenden oder Kamerabewegungen ins Bild, die über weite Strecken den Blick des Filmbetrachters mit dem des Protagonisten gleichschalten. Diese Blicksteuerung korrespondiert mit der vom Filmbetrachter geforderten Reaktion auf die im Film präsentierte Sprache. Der Zuschauer wird wie in den Stücken Handkes zum Mitakteur. Blochs Schwierigkeiten bei der Entzifferung unterschiedlicher Zeichen wiederholen sich für den Filmzuschauer. In Handkes Verfilmung der Linkshändigen Frau tritt Sprache dagegen zunächst in auffälliger Weise zurück, während die Bilder häufig mehrfach kodiert sind. Zudem bilden immer wieder Bilder ohne Sprache einen Kontrast zu den Reden, in denen zumeist Männer dominieren. Die Selbstfindung der Frau wird nicht im sprachlichen Diskurs entwickelt, sondern durch eine Reihe von Körperbildern visualisiert. Dadurch entsteht eine auffällige Spannung zwischen der denotativen Sprache und den Bildern, sie zielt auf eine Überformung des bloß Sichtbaren durch die unbewusste Wahrnehmung. Diese Form der Psychologisierung begreift Handke selbst als eine mythisierende Transformation des Filmbilds (Schober 1977, 180). Sie schafft den Gegenmythos zu einer „entsemiotisierten Welt“ (Grossklaus 1979, 58; Schober 1977, 180). Wim Wenders’ in Zusammenarbeit mit Handke entstandener Film des Himmel über Berlin behandelt die für den Regisseur wie den Autor zentrale Frage nach der Beziehung von Sprache und Schrift mit kinematographischen Strategien. Flächige Bilder werden bewusst den perspektivischen Blicken von oben aus der Engelswelt entgegengesetzt. Die Intermedialität, die der Film durch die enge Bindung von Wort und Bild herstellt, wird zugleich als Intertextualität entfaltet. Der Schauplatz Berlin verwandelt sich dadurch in einen Geschichtsraum. In ihm vollziehen sich Ereignisse wie Menschwerdung und Sprachfindung. Dies führt zu einem Funktionswandel und zu einer Autonomisierung der visuellen und der schriftlichen Zeichen im Film. Bild und Schrift verfahren dort nicht mimetisch, sondern sie organisieren bewusste und unbewusste Wahrnehmungen, die Erinnerungen und Phantasien freisetzen. Die zentrale Thematik des Romans vom Bildverlust wird auf diese Weise im Film vorgezeichnet. Die letzten drei Verfilmungen weisen eine große Nähe zu den jeweiligen Textvorlagen auf. Wenders’ Umsetzung der Schönen Tage von Aranjuez greift ebenso auf ein aus Handkes Erzählungen bekanntes Arsenal an Motiven und Bildern zurück. Auf dieses bezieht sich auch Handkes filmische Adaption der Abwesenheit
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und von Mal des Todes. Deshalb sind diese Filme nicht allein durch die Linearität ihrer Handlung bestimmt, sondern ebenso durch eine aleatorische Bildverwendung, die intertextuelle und intermediale Perspektiven zugleich eröffnet. Dies gilt auch für ihre Naturbilder und Landschaftsdarstellungen. Viel deutlicher als in den Bildsequenzen kann auf der Tonspur von Mal des Todes zudem Handkes obsessive Wendung gegen alle Formen von Zivilisationsgeräusch deutlich gemacht werden. Diese signalisieren immer wieder den Einbruch der geschichtlichen Welt und ihrer Formen der Gewalt. Mal des Todes schildert in langen Einstellungen, die eine fast kaleidoskopische Bilderfolge zeigen, eine Begegnung von Mann und Frau, die sich, ohne die Identität der beiden zu konturieren, auf die Visualisierung und Kommentierung des sexuellen Begehrens konzentriert. In der Abwesenheit herrscht eine Technik der Distanzierung vor, die sich dem epischen Erzählen des mittelalterlichen Epos ebenso vergleichen lässt wie vielen Filmanfängen im modernen Westernfilm, die beide gleichermaßen die Bewegung des Protagonisten im Raum durch eine distanzierende Totale fokussieren. Wim Wendersʼ Verfilmung der Schönen Tage von Aranjuez verdichtet und ergänzt die dialogische Struktur der Vorlage durch einen Bezugsrahmen, der mit kinematographischen Mitteln geschaffen wird. Dieser verleiht den Filmbildern sowohl eine Fokalisierung als auch eine strenge Rhythmisierung. Neben die Umschreibung anderer Texte, die Einschreibung des Eigenen in das Andere und die intermediale Transformation tritt hier wie in den anderen Verfilmungen das Prinzip einer Variation, das wie in den Texten ein sich autonomisierendes Feld von Zeichen hervorbringt. Es wird deutlich, dass Handke als Regisseur und Berater auch im Medium des Films seine Strategien des Erzählens durch eine Vernetzung von Wort und Bild wie auch seine Vorstellungen von Autorschaft durch Visualisierung bekräftigen will. Das vierzehnte Kapitel befasst sich mit den bisher letzten Erzählungen Handkes. Sie verbinden den Rückgriff auf traditionelle Formen des Erzählens mit einer Zeitkritik, die schärfer als in vorangegangenen Texte die politische Realität der modernen Mediengesellschaft ins Auge fasst. Weil sie von einem durchweg fatalistischen Bild der allgemeinen Geschichte geprägt sind, lesen sich diese Erzählungen stellenweise wie Revokationen des modernen Vertrauens auf den gesellschaftlichen und technischen Fortschritt, sie beschreiben eine Situation nach dem Enden der ‚grands récits‘ (Lyotard 1984, 187, 191). In Kali. Eine Vorwintergeschichte folgt Handke zunächst der Formel Walter Benjamins, dass der „erste wahre Erzähler“ der „von Märchen“ sei (Benjamin 2007, 121). Zugleich weist diese Geschichte Elemente der Mystik, des Epos, des Initiationsromans und des Roadmovies auf (Breitenstein 2007; Grossklaus 1979, 58). Viele der märchenhaften und mythischen Motive korrespondieren dem „mythe personnel“ (Mauron 1962, 284, 286), den der Autor seinen Texten einschreibt. Zugleich gehören sie seiner textübergreifenden Behandlung der Themen von Wahrnehmung, Erfahrung und Erinnerung, von Schrift und Bild an. Dabei zeigt sich, dass der Autor den psychologischen Wendepunkt der Handlung, die
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Liebesbegegnung zwischen der Protagonistin und einem Mann, zu einer Wendemarke des Erzählens selbst macht, indem er dessen Status verändert. Während der Text bis dahin nur von einer geheimen Spannung geprägt ist, die sich zwischen seinen realistischen und phantastischen Elementen, der Beschreibung der Natur und der geheimnisvollen Figur der Frau eröffnete, verbindet er in der Folge die Zeichenordnung der Utopie mit der des Märchens und des höfischen Epos. Einerseits zitiert er bekannte Bilder und Versatzstücke dieser Textgattungen, andererseits ersetzt er die Beschreibung von Handlung durch eine Abfolge von Zeichen, die alles Geschehen in Bildern verdichtet. Die Erzählung wandelt sich in eine symbolische Ordnung, die eine eigene Logik entfaltet und an jeder Stelle die bloße Abbildung von Wirklichkeit überschreitet. Dieser doppelten Erzählordnung vergleichbar führt im Großen Fall das für Handkes Schreiben charakteristische narrative Wechselspiel von Zitat und Selbstzitat zu einer Hybridisierung des Erzählens. Einerseits werden die intertextuellen Bezüge auf andere Autoren wie auf das eigene Werk radikal transformiert und aleatorisch verwendet, andererseits begründet sich auf diesem Weg eine neue Perspektive im Werk Handkes. Das erzählerische Spiel der Referenzen lenkt den Blick auf die Zeichen einer Katastrophe. Ein poetologisches Programm, das sich am späten Goethe und an Heideggers Einschätzung der technischen Zivilisation orientiert, verleihen ihm dabei Kontur (Heidegger UN 28). Die „Endzeit“, die der Protagonist erfährt und die seine Wahrnehmungen prägt, schildert eine gesellschaftliche, historische und mentale Konstellation, welche die Signatur der medial vermittelten modernen Welt trägt. Diese markiert zugleich die Bedingungen des Erzählens, die der Autor in seinem Text reflektiert. Es ist deshalb kein Zufall, dass der Text mit einem Bild endet, das sich als Widerlegung früherer Hoffnungsnamen ansehen lässt. Im Chinesen des Schmerzes waren die Namen „Feuerland oder Montana“ noch eine Formel für die Phantasie eines Neubeginns innerhalb der Geschichte (CS 203). Am Schluss des Großen Falls jedoch wird deutlich, dass das Naturland der ‚Great Falls‘ in Montana auch ein katastrophisches Zeichen ist. Das Naturland ist zugleich der Standort atomarer Vergeltungswaffen. Die Zeichen einer Endzeit sind dieser Geschichte deshalb von Anfang an eingeschrieben, die „Zwischenräume“ sind nicht mehr lebbar (MJN 36 f.; Huber 2005, 116–119; Gamper 1987). Sie sind nichts anderes als eine ästhetische Konfiguration, die mit dem Erzählen endet und dieses nicht überdauert. Der Text der Obstdiebin schließt in mehrfacher Hinsicht unmittelbar an das Jahr in der Niemandsbucht, den Bildverlust und die Morawische Nacht an. Schon der Untertitel, der eine einfache Fahrt ins Landesinnere anspricht, macht klar, dass es wie in diesen Texten um die Beschreibung einer Bewegung im Raum geht, dabei wird die Topologie der Niemandsbucht explizit aufgenommen. Sie skizziert nicht nur die Reise des Ich-Erzählers und der als Obstdiebin Charakterisierten, sondern sie eröffnet auch Zeit-Räume, die sich in unterschiedlicher Weise betrachten lassen: Als Orte der Vergangenheit und der Erinnerung oder als Zeichen neuer und anderer Erfahrungen. Das Außenseitertum der Frau, die sich dem rechtlichen und sozialen Regelsystem entzieht, befähigt sie zu einem besonderen Blick auf die Wirklichkeit, der
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eine ästhetische Dimension entfaltet, weil er sich auf die ‚Zwischenräume‘ richtet, die ihr anders als dem Protagonisten des Großen Falls noch zugänglich sind (OD 171). Ihr Blick entschlüsselt ein System von trigonometrischen Punkten, das sich wie ein Raster über die Landschaft legt und von Anfang an ihren unverstellten Blick transformiert. Ihr „Ortwerden“ (OD 173), von dem der Text handelt, ist eine Metapher, die eine existentielle Disposition zum Ausdruck bringt und eine ontologische Bedeutungsebene eröffnet. Insofern schließt sich dieser Text ebenfalls an die ontologische ‚Kehre‘ im Werk Handkes an. Im Hintergrund der Wahrnehmungen von Natur, die den Weg der Protagonistin begleiten, stehen zudem Zeichen des Kriegs und der Gewalt. Damit ist auch dieser Text durch die dissonante Grundfigur bestimmt, die in Handkes Schreiben immer deutlicher hervortritt. Der phantasmatische Blick der Obstdiebin, der auch frühere Schlachtfelder erfasst (OD 75, 550), visualisiert die Vorstellung einer über alle Zeiten fortdauernden Geschichte der Gewalt (OD 256). Zur Gegenfigur dieser geschichtlichen Konstellation wird auch in diesem Text das Erzählen selbst. Dieses beschränkt sich allerdings an keiner Stelle auf die Schilderung von Geschichten, vielmehr präsentiert es eine Bilder- und Szenenfolge, deren Écriture zu entziffern dem Leser je erneut aufgegeben ist. Diese Arbeit des Lesens soll eine Wahrnehmung freisetzen, die das bloß Wirkliche durch Phantasie und Sprache verwandelt. Damit kehrt Handke nach dem Durchgang durch unterschiedliche Register des Schreibens und der Erfahrung unter veränderten Bedingungen zu dem Anfang zurück, an dem durch die Macht der Poesie alles möglich schien. Jetzt ist diese Phantasie zu einem Schreibprogramm geworden, das andauert und Dauer versprechen kann. In dem bisher letzten Text Das zweite Schwert wird diese Konzentration auf das Schreiben noch einmal aufgenommen und verdichtet. Dabei schließt sich Handke nicht nur an Thematik und Erzählstrategien seiner späten Texte an. Er bezieht sich implizit auch auf die öffentlichen Diskussionen über seine politische Haltung aus Anlass der Verleihung des Nobelpreises 2019. Zugleich präsentiert dieser Text einen Gegenentwurf zum öffentlichen Diskurs, indem er sich radikal allein am Vermögen des Ästhetischen und der Aufgabe des Erzählens orientiert. Diese Monographie behandelt die gedruckt vorliegenden Texte Peter Handkes, die in Marbach und Wien liegenden Quellen sind einer weiteren Untersuchung vorbehalten. Der Text der Darstellung greift in den Abschnitten 2. – 7. teilweise auf meine frühere Publikation über Peter Handke (Sammlung Metzler 218, Stuttgart 1985) zurück. Diese Passagen wurden jedoch aktualisiert, vollständig überarbeitet und ergänzt.
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Literarische Selbstbehauptung und Formexperiment: die erzählerischen Anfänge
2.1 Die Hornissen (1966) Seine vehemente Attacke gegen die sogenannte ‚Beschreibungsliteratur‘ beim Treffen der Gruppe 47 in Princeton zog Peter Handke wenig später den Vorwurf zu, er selbst folge in seinem ersten Roman dem Verfahren bloßer Beschreibung. In der Tat erweist sich der Text der Hornissen als eine Kette minutiöser Detailund Situationsbeschreibungen, deren sachlicher und inhaltlicher Zusammenhang zunächst nicht zu erkennen ist. Insbesondere die Abschnitte „Der Schlüssel“ (HO 117–119) und „Die Liturgie“ (HO 97–102) scheinen die Meinung zu bestärken, dass hier mimetische Abbildungen der Wirklichkeit vorgelegt werden. Andererseits macht der Text deutlich, dass seine Beschreibungen zugleich auf Anderes, Nichtausgeführtes zielen (HO 45), die Versatzstücke des Erzählens sind „nur Beispiele“ (HO 39). Der Abschnitt, der mit „Jedesmal wenn“ beginnt, zeigt zudem, wie sich Erinnerungen von den ursprünglichen Erfahrungen abzulösen beginnen und auf unbewusste Reaktionen bezogen werden (HO 156). Erst das Ende des Romans führt beide Bewegungen wieder zusammen, es bezieht die experimentelle Verknüpfung von Erinnern, Beschreiben und Erzählen auf einen Handlungskern. Die Kapitel „Die Hornissen“, „Die Entstehung der Geschichte“ und „Das Aussetzen der Erinnerung“ weisen darauf hin, dass es in diesem Text allererst um das Erzählen selbst geht, um einen „Grenzfall“, in dem „Erfindung und Imagination“ zum Gegenstand des Buches werden (Heintz 1970, 88). Zunächst fällt allerdings auf, dass dieser Geschichte alles fehlt, was eine Geschichte ausmacht. Robbe-Grillets Diktum vom Ende des veralteten Begriffs „Geschichte“ scheint auf diesen Roman anwendbar (Heintz 1970, 102): Er verfügt weder über räumliche noch über zeitliche Kontinuität, selbst eine organisierende Erzählinstanz ist kaum greifbar, vielmehr findet an exponierten Stellen ein ständiger Wechsel zwischen Ich- und Er-Perspektive statt (z. B. HO 18, 246); überdies ist das Erzählen von reflexiven Einschüben begleitet, die gegen Ende des Textes zunehmen (HO 15). © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_2
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2 Literarische Selbstbehauptung und Formexperiment
Für diese Schreibweise liefert der Schluss des Textes eine rationalisierende Erklärung: Der Roman schildert den Modus eines Erzählens, das unter besonderen Bedingungen stattfindet. Ein blinder Erzähler rekonstruiert Vergessenes. Er erzählt ein Buch nach, das von zwei Brüdern handelt, von denen der eine später erblindet (HO 243), alles spricht dafür, dass er damit eine Geschichte wiedergibt, in der er selbst vorkommt. Doch seine Erinnerung an das Buch erweist sich als rudimentär und brüchig. Die Leerstellen, die sie aufweist, werden durch authentische Erinnerungen oder aktuelle Phantasien des Blinden gefüllt, die wiederum ihrerseits aus erinnerten Wahrnehmungen hervorgehen. Gerade so beschreibt der Roman neben der besonderen Erzählsituation auch ganz grundsätzlich die Entstehung von erzählter Wirklichkeit, die an keiner Stelle allein Abbildung von Realität, an keiner nur Erfindung, sondern stets eine Superposition beider ist. Diese komplexe Erzählstruktur zeigt nicht nur, wie und unter welchen Voraussetzungen eine Geschichte erzählt wird, sie legt auch klar, dass im Erzählen simuliert werden kann, dass es überhaupt eine erzählbare Geschichte gibt. In dieser Hinsicht ist der Roman der Hornissen Handkes früher Sprachreflexion zuzurechnen. Denn er handelt in einem allgemeinen Sinn vom „Primat der sprachlichen Wirklichkeitskonstitution“ (Heintz 1970, 94), bezieht sich somit auf ein Problem, das Handke im elften Stück der Innenwelt der Außenwelt ebenso thematisieren wird (IAI 40–42) wie im Kaspar oder der Stunde der wahren Empfindung. Das Blindsein des Erzählers erscheint als eine Fiktion, die es ermöglicht, auf die sprachliche Vermitteltheit der Welt hinzuweisen (Heintz 1970, 105). Zudem wird das Bruchstückhafte der Erinnerung (HO 24) durch seine sprachliche Transformation zu einem Ganzen gefügt (HO 31). Zu dieser Zusammenfügung bedarf es keines klar konturierten Erzählers. Der Abschnitt über das Wort „sich verstecken“ belegt vielmehr, dass der Autor alles daransetzt, den Leser über dessen Identität im Unklaren zu lassen (Mixner 1977, 14; HO 178 f.). Überdies verwischt die besondere Erzählsituation des Textes systematisch die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Das Ineinandergreifen von Erinnerungen an Erlebtes und Gelesenes ist bestärkt durch authentische Wahrnehmungen, empirische und literarische Wirklichkeit können gleichermaßen „Quelle und Bezugspunkt von Erlebnissen“ werden (Heintz 1970, 92). Handke beschreibt diese Erzählweise ausführlich in einem Gespräch: Der Ausgangspunkt der Geschichte ist der, daß einer, der blind im Bett liegt, sich vorstellt, wie er damals blind geworden ist, wie das damals war. Diese Vorstellung wird ja wieder gebrochen durch das Buch, das er einmal gelesen hat. So erscheint ihm seine Vorstellung eben literarisch, als ob er sie lesen würde, und was er erlebt hat, erscheint dadurch irgendwie in Erzählform. (Bloch/Schneller 1971, 172; Mixner 1977, 19)
Diese Erzählsituation ist Voraussetzung dafür, dass das „Verwechseln oder Einswerden von Wortwirklichkeit und wirklicher Wirklichkeit“ (Mixner 1977, 7) dem Roman selbst eine phantastische Labilität verleiht: An jeder Stelle hebt er die Grenze zwischen dem Erfundenen und dem Authentischen auf. Es spricht einiges dafür, dass das Buch, an das sich der Blinde erinnert, der Text der Hornissen
2.1 Die Hornissen (1966)
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ist (Mixner 1977, 7, 18), andererseits trägt der Blinde Züge des Verfassers. Den inneren Kern des Textes bildet eine Konstellation, die Handke in seiner autobiographischen Skizze 1957 schildert. Die berichteten Erlebnisse des Blinden weisen auf authentische, „oft rein magische Erlebnisse von Angst“ (Mixner 1977, 19; E 13 ff.), die der Autor schreibend bewältigen will. Einige Jahre nach Erscheinen des Romans Die Hornissen beschreibt Handke eine Ausgangssituation, die in kaum veränderter Form in den Roman Eingang gefunden hat. Manchmal ist es so, daß ich vor lauter Angst und Mißbehagen tatsächlich nicht mehr beobachten kann und alles ein Zirkelschluß wird. Ich weiß aber nicht, mit welchen Kindheitserlebnissen das zusammenhängen könnte, ich habe schon oft darüber nachgedacht, vielleicht habe ich das alles vergessen, es muß so eine Art Urschock gegeben haben. Manchmal meine ich, es waren diese fürchterlichen Angstzustände als Kind, wenn die Eltern nicht zu Hause waren und dann zurückkamen und sich schreiend im Zimmer prügelten und ich mich unter der Decke versteckte. Aber es nützt mir nichts, wenn ich denke, das sei eine mögliche Erklärung. (Mixner 1977, 16; Linder 1974, 36 ff.; vgl. dazu HO 25)
Offensichtlich ist das Verwischen der Grenze zwischen dem Erlebten, dem Gedachten und dem Erzählten eine Voraussetzung des Erzählens. Darauf weist die zentrale Metapher des dünnen Eises, in das einzubrechen droht, wer beim Überschreiten eines Schneefeldes aus dem geordneten Ablauf der Bewegungen gerät (HO 246 f.). Diese Metaphorik des Einbrechens, die auf die Einbruchsstellen des Wirklichen im Text weist, korrigiert den ersten Eindruck, dass es sich bei den Hornissen um ein bloßes „Sprachspiel“ handle. Die „radikale Verfremdung“ des ästhetischen Diskurses weist über das ästhetische Experiment hinaus auf eine autobiographische Inschrift, die zu dechiffrieren dem Leser aufgegeben ist. Sie handelt nicht nur von den Bedingungen des Erzählens und der durchs Erzählen geschaffenen Wirklichkeit und ihrer Gesetze, sie demonstriert vor allem den Anteil des Erzählens bei der psychogenetischen Begründung von Identität. Damit nimmt dieser Roman schon eine Perspektive Handkeschen Schreibens vorweg, die erst in seinen späten Romanen in vollem Umfang offen erkennbar und eingelöst wird. Allererst hier beweist sich, dass bereits die frühen Texte in ihrem „freiwilligen Reduktionismus“ den „imaginären Übergang in einen postreflexiven Zustand“ (Bartmann 1984, 47) entwerfen, sie sind „Ausdruck einer noch nicht zur vollen Entfaltung gekommenen literarischen Produktivität“ (Bartmann 1984, 36). Es gehört zur Eigenart dieser ersten Entwürfe, dass sie die formalen Probleme des Schreibens in den Vordergrund rücken, bevor sie die existentielle Textur des Experimentellen erkennen lassen. Darauf deutet der lapidare Satz des Romans „Dies alles sind nur Beispiele“ (HO 39). Ihm gegenüber steht eine Passage der Sprachreflexion, in welcher der Erzähler, zur Rede gezwungen, eine Erfahrung macht, die sich der des Lord Chandos bei Hofmannsthal vergleichen lässt, er ist nicht in der Lage, über die angemessenen Worte zu verfügen (HO 17 f.). Auffällig häufig handelt der Text der Hornissen vom „Erzählen“ (HO 36 ff., 109, 135) und vom Benennen (HO 35, 42, 73 ff.). Dabei zeigt sich, dass die in
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2 Literarische Selbstbehauptung und Formexperiment
einem Rebus von Erzählperspektiven versteckten Erzählsituationen schließlich eine Theorie des Erzählens entwerfen, die mit der Konstitution des Ich eng verknüpft ist. Das Ende des Romans klärt darüber auf, dass Schreiben aus Erinnerung hervorgeht, macht aber ebenso deutlich, dass sich diese nicht nur auf Authentisches bezieht. Zwar orientiert sich auch der Blinde an Erinnerungsmarken – das Geräusch des abfahrenden Omnibus versetzt den Erzähler in erlebte Situationen zurück (HO 243) – doch seine Erinnerungen erhalten ihr Gewicht erst durch die Phantasien, die sie freisetzen. Sie bedürfen des Authentischen nicht in jedem Fall, obwohl sie häufig allein aus ihm entstehen. Am deutlichsten belegt diesen Sachverhalt der Abschnitt „Die Entstehung einer Episode beim Frühstück“. Er erzählt davon, wie aus bloßen Wahrnehmungen, dem Hören von Geräusch, Imaginationen hervorgehen, Bilder, die der Hörende den Geräuschen zuteilt (HO 74). Hier wiederholt der Text genau die in Prousts Recherche geschilderte Wahrnehmung des Noah, der sich in der geschlossenen Arche die Außenwelt imaginiert (Proust 1924, 11). Darüber hinaus wird klargelegt, dass mit diesen Bildern ausgearbeitete Szenen entworfen werden können, Situationen, die sich der hörende Blinde zu den wahrgenommenen Geräuschen und vorgestellten Bildern denkt (HO 76 f.). Diesen geht nicht anders als den übrigen Imaginationen das einfache „Benennen“ voraus, das sich als Urform der Phantasie erweist (HO 35, 42 f.). Dagegen bezeugt der Abschnitt „Der Traum“, wie sich die Facetten einer Geschichte auch aus einer Innenperspektive, aus unbewussten und erdachten Wahrnehmungen zusammensetzen können. Der Träumer, der sich eine Situation erträumt, die unmittelbar mit der erzählten Brudergeschichte zusammenhängt, bemerkt: Was ich aber jetzt sah, war nicht mehr außer mir, und es war nicht mehr so, daß ich nicht wissen konnte, ob es wirklich so sei, oder ob ich nur schliefe; […] was ich sah, erblickte ich nicht über die Augen, noch beurteilte es dann das Gehirn und gab ihm die gelernten Namen, noch war es den Nerven angenehm oder unangenehm, woraus vielleicht ein Gefühl entsteht: was ich sah, sah ich nicht durch das Auge, sondern durch das Zucken der leblosen Dinge selbst, die ich nicht mehr als anders und von mir entfernt spürte, weil sie, allein dadurch, daß ich sie sah, mir die Adern aufrissen, als könnte dieses Leblose, sozusagen indem es nicht mehr augenscheinlich war, für den, der es ohne die Augen anschaute, vor Schmerzen zucken und diesen fremden Schmerz dem Schauenden mitteilen. (HO 197)
Diese Zuspitzung der Erzählproblematik ist kein Zufall. Sie weist darauf, dass das Erzählen in mehrfacher Hinsicht eine Rekonstruktion zur Voraussetzung hat. Es rekonstruiert den Akt sprachlicher Benennung, Zusammenfügung und Transformation von Wirklichkeit, indem es den Weg vom Wahrnehmen zum Benennen und vom Benennen zum Imaginieren beschreibt und dabei zeigt, dass alles Erfinden auf Vorgegebenes rückbezogen ist, sei dieses erfahren oder erfunden. Zugleich wiederholt das Erzählen die Konstitution des authentischen Ich, die sich der Gründung des erzählenden Ich durchaus vergleichen lässt, mit dessen Hilfe es seine Identität spiegelt und beweist. Die Wechselbeziehung zwischen dem im Erzählen imaginierten und dem authentischen Ich stellt dabei eine begründende
2.1 Die Hornissen (1966)
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Konstellation aus der Geschichte der psychischen Ontogenese nach. Denn von Anfang an entsteht das erzählte wie das authentische Ich aus dem anderen; schon in der Eingangsszene heißt es, dass der Erzähler hinter einer Scheibe seinen Bruder sehe „und weil ich ihn kannte, erkannte ich ihn“ (HO 12). Dieses stumme Aufeinanderblicken erscheint wie das Wahrnehmen des eigenen Spiegelbildes: „Er machte mir kein Zeichen. Auch ich machte ihm kein Zeichen. Gleichwohl wußten wir voneinander, daß einer den anderen sah. Ich schaute stumm auf den Kopf vor dem Feld, das diesem so nah war, wie wenn ich ihn durch ein Fernrohr anschaute“ (HO 13). Die erzählte Episode der stummen Blicke schildert eine imaginäre Ich-Konstitution, wie sie dem vorsprachlichen Zustand angehört. Von hier erhält die schon erwähnte Szene ihren Sinn, in welcher der Erzähler wenig später, als es gilt, der Schwester die Nachricht über den Bruder zu überbringen, nicht mehr über die Sprache verfügt, die unmittelbar mit der Realitätsprüfung verbunden ist und vom Verlust des imaginären brüderlichen Spiegelbildes zu berichten hätte (HO 17; Lacan Schrr I, 61–70). Dagegen bewahrt sich die Erinnerung an die imaginäre Konstitution des Ich und die Gewalt der dabei freigesetzten Phantasien noch in den Bildern der Wahrnehmung, die, da sie nur von Blicken berichten und nur ein schauendes Ich, aber kein menschliches Gegenüber fokussieren, die Grenze zwischen innen und außen zum Verschwinden bringen. Dem Betrachter, der aus dem Fenster sieht und die erschaute Landschaft mit einer erzählten vergleicht, geraten die Ebenen durch einen Schwindel in dem schon leeren Blick durcheinander: die weiße Ebene des Himmels schiebt sich durch die braune und gelbe Ebene des Feldes; die weiße Ebene des Feldes und die vergilbende gelbe Ebene des Himmels schiebt sich durch die weißen Ebenen der Dachpappenschichten, auf denen vor kurzem durch die Wärme eines Körpers (keiner Katze) der Schnee noch vergangen ist, und die weiße Ebene der Dachpappen, die weiße Ebene des Himmels und die weiße Ebene des Feldes, zerstochen nur von den Stichen der Pappeln, schieben sich scharf durch die weiße und leere Ebene der Augen und zerschneiden und zerstückeln die weiße und leere Ebene des Gehirns. (HO 14 f.)
Überall da, wo es keine Sprache gibt, kommt es zu solchen Inversionen, verwandeln sich wahrgenommene Bilder in intrapsychische Projektionen. Zugleich erweist sich die erzählte Gewalt der ins Bewusstsein dringenden Bilder als Metapher für ein Erzählen, das keines Erzählers als organisierender Instanz bedarf. Ohne Frage wiederholt diese Überblendung der wahrgenommenen Bilder, die schließlich „die weiße und leere Ebene des Gehirns“ zerschneidet und zerstückelt, die imaginäre Konstitution des Selbst, die auf dem Gesetz einer Vexation beruht. Es ist bemerkenswert, dass dieser Blick durch das Fenster, der eine Konstellation der romantischen Malerei zitiert, eine psychologisierende Zuspitzung erfährt, die auch Heinrich von Kleist beim Betrachten von Caspar David Friedrichs Mönch am Meer beschreibt. Als seien ihm die Augenlider weggeschnitten, dringen diesem Bildbetrachter die Konstruktionslinien des Bildes ins Auge und bestimmen als Konturen des Erhabenen und des Ungeheuren, seine unbewusste Wahrnehmung (Kleist 1961, Bd. 2, 327 f.).
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2 Literarische Selbstbehauptung und Formexperiment
Eine Parallele zu dieser psychischen Konstellation bei Kleist liefert auch Handkes Text. Aus der Imagination eines Bahnhofes, die den Wahrnehmungen des Erzählers entspringt, entsteht die Phantasie eines Mannes (HO 80 ff.), der später als „Mann mit dem Seesack“ (HO 131, 133) durch das von kochendem Wasser überschwemmte Dorf geht, und der eine der vielen phantastischen familialen Bilder darstellt, die sich auf die Brüder von Handkes Mutter beziehen. Auch hier wird eine Figur beschrieben, deren Augen den andringenden Bildern schutzlos ausgesetzt sind. Die Augen des Mannes sind gleichfalls gesotten und rund und starr aus den Höhlen gestiegen. […] Die verbrühten Augen sind auch hinter den Blicken schutzlos geworden: die Bilder, die das Gedächtnis hinter der Netzhaut als Schutzwall erzeugt hat, sind von den Flammen zu einer Blendung zerschmolzen; während der Wanderer geht, fällt ungehindert das Feuer in sein Gehirn. (HO 132 f.)
Das Motiv der Blendung verknüpft Bruderbild und Erzähler. Die Phantasiebilder, die der Erzähler wahrnimmt und mitteilt, sind wiederum imaginär, auch sie beruhen auf einer Aufhebung der Grenze zwischen innen und außen. So allererst konstituiert sich die Wirklichkeit in der Sprache und im Erzählen. Nur wer blind ist, kann sehen und erzählen, nur er bildet Wirklichkeit voraussetzungslos ab. Nur wenn der Bruder als geblendet phantasiert wird, kann der Erzähler seine Phantasmen auf ihn projizieren und sich zugleich selbst sehen. So ist die doppelte Blendung von Bruder und Erzähler Bild für eine Beziehung der beiden, die allein im Erzählen herbeiphantasiert ist, ohne dass die Figuren Kontur gewinnen. Verbindlichkeit erreicht das Erzählen nur da, wo es voraussetzungslose Bilder ineinander spiegelt; deshalb muss es, um als wahr zu gelten und zu wirken, die Zufälligkeit einer bestimmten Subjektsperspektive tilgen und Wahrnehmungen beschreiben, die nicht durch ein bestimmtes Gedächtnis gefiltert sind. Weil das Erzählen einen Erzähler erfindet, der nicht sieht, was er berichtet, und deshalb – so will es die paradoxe Formulierung des Romans – sehen kann, „was er sehen will“ (HO 244), stiftet es eine Perspektive. Darauf deutet der Satz „Niemand kann ihn von draußen sehen, weil er blind ist; wenn ein Geblendeter vor dem Spiegel steht, so steht niemand vor dem Spiegel“ (HO 244). Ausgerechnet dadurch, dass er so wenig Wert auf eine klar gezeichnete Identität des Erzählers legt, kann der Text der Hornissen eine Begründung von Identität im Erzählen leisten. Was der Blinde erinnert, ist mehr als er unmittelbar erfahren kann, ist Erlebtes und Erzähltes zugleich, Ergebnis der primären und der sekundären Sozialisation. Gleichzeitig erweist sich die Macht der Ersteren als prägendes Muster, das alle Stufen der Kulturisation überformt. Es wird deutlich, dass alles Wahrnehmen und Erkennen-Wollen den Blick auf sich selbst zur Voraussetzung hat. Der ersten imaginären Konstitution des Ich im Fensterblick nach draußen auf das Spiegelbild des Bruders korrespondiert der Blick eines möglichen Betrachters von draußen in das Zimmer des Blinden. Das Fenster seines Zimmers spiegelt von außen, was außen ist; wer hineinschauen (hereinschauen) will, muß, indem er nah an die Scheibe tritt, durch sein eigenes Gesicht
2.2 Der Hausierer (1967)
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hindurchschaun, damit er den Blinden drin sehen kann. Er darf dabei nicht die offene Kalkgrube unter dem Fenster vergessen. […] Zum andern ist der Unsichtbare nicht blind; was er sehen will, das sieht er; wenn er will, hat er ein zweites Gesicht, aus dem ihm auch das fernab Liegende ersichtlich wird. (HO 244)
Dass der Blick auf sich selbst mit dem auf den andern symmetrisch ist, und dass alle Blicke von außen nach innen und von innen nach außen durch das eigene Spiegelbild führen und von diesem überformt sind, bestätigt sich auch hier. Es ist eine unbewusste Abwehr dieser Erkenntnis, dass Handke die Frage der Ich-Konstitution, die seinen Text bestimmt, zunächst als Thema des Erzählens abhandelt und dass er das Erzählen selbst als eine nur vorübergehende Balance zwischen dem Wirklichen und dem bloß Erdachten schildert. Die Phantasien, die im Erzählen möglich sind und die den Bruder über das Schneefeld gehen lassen, werden durch die Rede zerstört, so wie alle symbiotischen imaginären Beziehungen im Zeichen der Rede zerbrechen. Jeder, der angerufen wird, sinkt ein und verliert die Balance, denn: „Unter der Eisschicht ist der Schnee aus dichtem Staub“ (HO 247). Die Ambivalenz, die im Erzählen aufscheint, indem sie die Identität der Figur als nur vorübergehend durch das Erzählen begründet schildert, lässt den Text über eine bloße Sprachreflexion hinausgehen. Gerade durch sie weist er auf das lebensgeschichtlich bedeutsame Ineinanderwirken von authentischer Erinnerung und ästhetischer Phantasie. Er beschreibt die Entstehung des Erzählens aus einem autobiographisch zentrierten Verknüpfen von Erinnertem, Erlebtem und Gelesenem. Schließlich zeigt der Roman der Hornissen neben der zerstörenden Macht der Reden der anderen auch die Instanzen der familialen Sozialisation, die sich allesamt durch das Erzählen und Reden legitimieren. Im Abschnitt „Das Gesicht des Vaters“ ordnet sich nicht nur das Erzählen des Erzählers, der Vater selbst erweist sich als ein Erzähler (HO 87), so wie die Schwester eine Instanz wird, indem sie vom Tod der Mutter erzählt (HO 112–114). Auf diese Verflechtung kommt es an. Die Lokalisierung des Erzählens im Bereich des Familialen bindet nicht nur die erzählten Bilder an die „Grenze der Erfahrung“ (HO 84), sie belegt auch, dass die Macht des Unbewussten wie des Imaginären zugleich Voraussetzung und Muster ästhetischer Imagination ist.
2.2 Der Hausierer (1967) Bereits sein formaler Aufbau lässt die Darstellungsabsicht des Hausierer-Romans erkennen, sein Baugesetz hat Handke in dem programmatischen Aufsatz Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms erläutert. Dort hebt er darauf ab, dass er in diesem Text die Erzählschablone des Kriminalromans zitieren will. Deshalb beginnt jedes Kapitel mit einer kursiv gesetzten Vorrede, die unterschiedliche Versatzstücke von Kriminalhandlungen zusammenfasst, beschreibt und darüber
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2 Literarische Selbstbehauptung und Formexperiment
hinaus interpretierende Lesehilfen für die Lektüre von Kriminalromanen gibt, die sich an filmischen Präsentationsstrategien orientieren: Die erste Person, die auftritt, wird nur flüchtig beschrieben, aber nicht mit dem Namen genannt. Wird sie von hinten beschrieben, so geht die Beschreibung in der Regel vom künftigen Mörder aus und die von hinten beschriebene Person ist der künftige Tote. Ein von vorn Beschriebener kann sowohl künftiger Toter als auch künftiger Mörder als auch Zeuge sein. […] Wird von einer Person aus beschrieben, die nicht zu einer Gesellschaft gehört, aber sich in einer solchen Lage zur Gesellschaft befindet, daß auch jeder aus der Gesellschaft später die Person beschreiben könnte, so ist sie der künftige Zeuge. Auch eine Person, die zwar der sichtbaren Form nach zur Gesellschaft gehört, in Wahrheit aber nur als Fremder hineingeraten ist, ist der künftige Zeuge. (H 18 f.)
Bei alledem bleibt die „satzweise Zusammenstellung der wahren Geschichte“ (H 40) ein Katalog von möglichen Sätzen, an keiner Stelle wird aus diesen ein zusammenhängender Text. Auf die inhaltlichen und strukturellen Muster folgen in der Regel normal gedruckte Einzelsätze, die sich möglichen Ausfaltungen dieser vorangestellten Versatzstücke zuordnen lassen. So löst schon die äußere Form der Darstellung Handkes Absicht ein, in der Trennung von Erzähltext und Reflexion des Beschreibungsmusters neue Möglichkeiten zu zeigen, um „zu lesen, zu spielen, zu überlegen: zu leben“ (Mixner 1977, 38). Die Mitteilung von „satzreflexionen“ und „satzreflexen“, auf die der Autor in einer Selbstinterpretation abhebt, versucht zugleich, leitmotivisch eingesetzte Gefühlszustände aus den Hornissen, die „Angst“, den „Schrecken“ und den „Schmerz“ als Erfahrungen zu vermitteln, ohne sie einem bestimmten Subjekt zuzuschreiben (Mixner 1977, 39). Damit folgt der Text einer doppelten Codierung, wie sie schon den Roman der Hornissen prägt. Die dadurch begründete „Spiegelung von Bewußtseinsräumen“, die Angst und Phobien hervorruft (Lotz 1097; ÜD 46; Mixner 1977, 39 f.), wird wie dort auch zum Ausgangspunkt eines kritischen und eines produktiven Vermögens zugleich. Das Schreiben selbst weist auf den Ordnungszwang der herrschenden Schreibweisen, denen sich jeder entziehen muss, der neu schreiben will. Wie alle andern Geschichten beginnt auch die Mordgeschichte mit den bestimmenden Artikeln. Im Gegensatz aber zu den andern Geschichten spielt sie mit den nun bestimmten Dingen und Personen; denn sie bestimmt ihre Gegenstände so, daß deren Verhältnis zueinander unbekannt und rätselhaft bleiben muß. Die Mordgeschichte verschweigt die wahre Beziehung der Gegenstände zueinander. Sie besteht in einem Spiel mit möglichen Beziehungen der Gegenstände zueinander. Sie besteht in einem Versteckspiel der Sätze. […] Ihr Standpunkt der Beschreibung ist der eines Fremden. (H 7)
Weil der Roman die geläufigen Erzählschemata zerschlägt und spielerisch neu zusammenfügt, fordert er auch den Leser heraus, seine eigene Geschichte zu erzählen. Die Entstehung des Erzählens wird simuliert durch das Benutzen von Erzähltem. Darüber hinaus hat auch hier das Erzählen eine autobiographische Inschrift. Wie in den Hornissen erweisen sich die Leitmotive des Textes als „aufgehobene Erinnerungen“, sie zeigen als durchgängige Schreibmotivation
2.2 Der Hausierer (1967)
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Handkes seinen Versuch, den Schrecken zu zitieren, um ihn abwenden zu können (Nägele/Voris 1978, 34). Ein zweiter Blick auf den Text belegt allerdings, dass seine vermeintlich klare strukturelle Gliederung in zwei Bereiche unterschiedlichen Erzählens nicht konstant ist, sondern einem verwirrenden Spiel mit Erzählmustern angehört. Im kursiv gesetzten Teil der Kapitelvorreden stehen mitunter irritierende Sätze. Die Genauigkeit ihrer Definitionen befindet sich in Widerspruch zu der Unsicherheit, die sie hervorrufen, denn niemand kennt die „andere Geschichte“, deren Fortsetzung die Kriminalgeschichte ist. Zum Teil nehmen die Sätze der Vorrede die Form von Sprachspielen an, die dialektische Denkfiguren entfalten, deren Nähe zu Kafka unverkennbar ist: „Durch den Mord wurde die Ordnung zum Teil einer Geschichte der Unordnung“ (H 39). Zugleich werden Modellsätze, analytische Aussagen und die Beschreibung authentischer Texte übergangslos nebeneinandergestellt. Ähnlich verwirrend sind die Folgeteile gebaut. Dort stehen beschreibende Sätze neben wertenden, ganze Textversatzstücke neben Zitaten, die ohne Zweifel wirklichen Kriminalromanen entstammen, und Nonsenssätzen: „Niemand spielte mit Knallfröschen“ (H 37). Überdies rücken in den erzählenden Teil immer wieder kursiv gesetzte Passagen ein, die sich auf die Vorreden beziehen (H 34, 35 f., 46). Dabei ist das scheinbar regellose Spiel durch wiederkehrende Bilder und Worte strukturiert. Durch sie wird der Leser je erneut versucht, einer Spur zu folgen, wie er es beim gewöhnlichen Lesen von Kriminalromanen unternimmt. Das dem Text vorangestellte Chandler-Zitat „Es gibt nichts, was leerer aussieht als ein leeres Schwimmbecken“ und die Schilderung unverdächtiger Details am Ende des Abschnittes „Die Entlarvung“ legen dies klar (H 109). Zitiert werden die unterschiedlichen Sprachbereiche durch den Hausierer, der im Roman die Rolle eines Zuschauers einnimmt. Auch als unbeteiligter Beobachter präsentiert er allerdings mehr als das objektivierte Bewusstsein des Erzählers (Scharang ÜH 50), er weist auf das Verfahren und die Leistung des Erzählens selbst und unterstreicht den Gestus der Demonstration, der auch in diesem Text das Thema der Sprache mit dem der Identität verknüpft (Bartmann 1984, 6). Die Modellhaftigkeit des Romans weist nicht nur auf die internen Regeln der Sprache, sondern über den Text hinaus auf die Ohnmacht des Subjekts gegenüber der Macht der vorgängigen Reden und der Ordnung „der literarischen Diskurse“ (Bartmann 1984, 33). Bereits hier wird deutlich, dass die Demonstration bei Handke nicht nur zu einer sprachlichen und formalen Dekonstruktion vorgegebener Schreibweisen und leitender Vorstellungen führt, sondern schon die Wende zu einer „Konstruktion“ vorbereitet, in der das der Sprache und den Reden Vorgängige selbst erscheint. Allerdings gelangen die frühen Texte Handkes weder zu einer textimmanenten Konstruktion des Ich noch des Selbst. Das im Erzählen begründete Ich bleibt vielmehr noch eine ‚Metafiktion‘, ein ‚shifter‘, keine feste Größe mithin, sondern eine Bezugsgröße, die mit den Zusammenhängen wechselt, in die sie eingerückt wird. Mitunter weist das erzählte Ich sogar auf einen ‚ordo inversus‘, eine „Verkehrung des Subjekts der Reflexion zum Objekt der Reflexion eines Anderen“ (Bartmann 1984, 53). Das Ich „ist nur eine Puppe, die der Autor in rapidem Wechsel unablässig mit neuen Kleidern behängt“ (Scharang ÜH 40). Ohne den Begriff
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davon zu haben, weist der Text damit auf eine autoanalytische Erkenntnis, die sein Autor später, im Gewicht der Welt ausformuliert. Dort handelt er davon, dass er die „vielen gestaltlosen Verpuppungen“ in seinem Inneren „in etwas wesentlich anderes zu verwandeln“ hätte und dass das Schreiben nichts anderes sei, als „eine Erweckung der gestaltlos verpuppten abertausend Erlebnisse zu völlig neuen Gestalten“, die durch das Gefühl „immer noch eine Verbindung mit den ursprünglichen Erlebnissen behielten“ (GW 31). Damit entwirft das Journal im Feld des Literarischen eine Beziehung zwischen den Bildern der Phantasie und den Figuren von Texten, wie sie die Psychoanalyse als Verbindung zwischen dem Selbst und der Welt der Objekte entwickelt und als intermediäre Objekte oder Übergangsobjekte bezeichnet, die entscheidende Bedeutung für die Herausbildung des Selbst haben (Lacan Schrr I, 61–70). Und auch hier entfaltet die Zentrierung einer strukturellen Konstellation durch im Unbewussten verankerte Reaktionen eine spezifisch ästhetische Dimension. Die Labilität des geschilderten Subjekts, dessen Umriss im Hausierer-Roman so wenig deutlich wird wie die Kontur des Protagonisten in den Hornissen, erfordert als Gegenkraft eine „‚phänomenologische‘ Schreibweise“ (Bartmann 1984, 21), deren Bedeutung sich erst in den späteren Texten Handkes entfaltet. Abgesehen davon ist es eine Leistung des Hausierers wie schon der Hornissen, dass gerade das Rudimentäre und Fragmentarische ein Interesse am Lesen wachhält. Ohne Zweifel erzeugt der Text, der die Stringenz des Kriminalromans zerschlägt, eine Spurensuche des Lesers, gerade die pointillistische Skizze fordert die Suche nach Zusammenhängen heraus. Dabei weisen die Ordnung des Kriminalschemas und die erzählte strukturelle Dichotomie von Ordnung und Unordnung auch auf die Rolle der Sprache als Element von Psychogenese und Sozialisation: Sie ist ein ordnendes Element im Chaos der zufälligen Eindrücke und zugleich ein Medium von Herrschaft, sie orientiert und konditioniert zugleich. Der Text des Hausierer-Romans handelt nicht nur insgesamt von der Macht der fremden Reden und den diese kopierenden Methoden des Schreibens. Er macht zugleich den Prozess des Lesens bewusst. Das Kriminalschema wird zum Paradigma von Literatur überhaupt, auch weil es ein imaginatives Wiedererkennen hervorruft; gerade die randscharf markierte Grenze zwischen Text und Kommentar weist auf die grundlegende Verschränkung von „Innenwelt“ und „Außenwelt“, auf der jede Wirkung von Texten beruht. So markieren die Versatzstücke der Text- und Sprachelemente nicht allein Bruchstellen, vielmehr fordern sie ein Weiterphantasieren und produktives Lesen heraus. Die erzählte Methode der Dechiffrierung und die durch die Erzählordnung hervorgerufenen Reaktionen des Lesers sind zentriert durch das Vermögen der Phantasie, dem alles Erzählen und Lesen untersteht. Insofern zieht der Hausierer eine Linie aus, die in den Hornissen bereits entworfen ist. Allerdings zielt auch die Phantasie auf eine Stiftung von Zusammenhängen, die wiederum feste Deutungs- und Schreibschemata hervorbringen. Doch dieser Verfestigung widerstrebt der Hausierer-Text an jeder Stelle. Er bindet die Phantasie an ein Spiel von aleatorischen Wortverwendungen, die einem voraussetzungslosen Spiel gleicht. Insofern bestätigt der Roman die grundsätzliche Fremdheit der Literatur gegenüber dem bloß Rationalen und Diskursiven, auf der die beiden Aufsätze Ich
2.3 Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1969)
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bin ein Bewohner des Elfenbeinturms und Die Literatur ist romantisch so heftig insistieren. Die Verknüpfung von Analyse und Phantasie, von Dekonstruktion und Motivation, die der Text auf diese Weise herstellt, erweist sich allerdings als invers. In dieser Hinsicht ist der Roman in der Tat dem Thema von Antonionis Film Blow up verwandt, dem er zeitlich vorangeht (Scharang ÜH 48). Die Annäherung ans Detail und dessen unendliche Vergrößerung isoliert dieses vom Gesamtzusammenhang, vom Gesamtbild und entwirft einen neuen Zusammenhang, der sich im ursprünglichen Bild nicht wiederfinden lässt. Auch für das Schreiben gilt: Die unendliche Vergrößerung gelingt nur bei abnehmender Tiefenschärfe; was man genauer zu sehen vermeint, ist schon unter einer Rasterung verdeckt, welche die bloßen Konturen verwischt und Phantasie erfordert, um ein Abbild entstehen zu lassen. So erweist sich die Erzählweise des Hausierer-Romans in mehrfacher Hinsicht als anspruchsvoll. Sie setzt nicht nur einen Leser voraus, der in der Lage ist, das Buch zu Ende zu lesen, sondern sie verlangt einen Rezipienten, der die Versatzstücke, die der Text anbietet, auf andere Texte rückbeziehen kann. Die Geschichte, die das Schema der Kriminalgeschichten benutzt, bedarf des versierten Kenners von Kriminalgeschichten; die erzählten Erinnerungen des Autors an Kriminalromane zielen auf das literarische Erinnerungsvermögen eines idealen Lesers. Anders als die Hornissen braucht der Hausierer-Text den kommunikativen Akt der Rezeption, er ist bereits auf diesen hin angelegt, obwohl er vorgibt, die Voraussetzungen konventioneller literarischer Kommunikation zwischen Autor und Leser zu zerstören. Die Auslöschung der Bedeutung des Erzählersubjekts benötigt die deutende Subjektivität. Damit ist diesem zweiten Roman, der ebenfalls Handkes früher Phase der Sprachreflexion zuzurechnen ist, ein Widerspruch eingeschrieben, der insgesamt die ersten Texte und Stücke Handkes prägt: Sie versuchen, sich von den literarischen Traditionen abzusetzen und zitieren diese zugleich. Besonders deutlich wird dieser Sachverhalt, wenn man sich den sogenannten „Sprechstücken“, vor allem dem Kaspar und der Publikumsbeschimpfung zuwendet.
2.3 Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1969) In einem vordergründigen Sinn knüpft der Text des Tormanns an die zwei Jahre zuvor im Kaspar aufgeworfene Sprachproblematik an. In einem Brief an die Herausgeber von „Text und Kritik“, die einen Vorabdruck des Tormanns besorgten, führt der Autor aus: […] das Prinzip war, zu zeigen, wie sich jemandem die Gegenstände, die er wahrnimmt, in Folge eines Ereignisses (eines Mordes) immer mehr versprachlichen und, indem die Bilder versprachlicht werden, auch zu Geboten und Verboten werden. […] Der Schizophrene nimmt also die Gegenstände als Anspielung auf sich, als ‚Wortspiele‘ wahr, metaphorisch. Das ist das Prinzip der Erzählung, nur daß eben dieses Verfahren nicht auf einen Schizophrenen angewendet wird (sofern es überhaupt Schizophrene gibt), sondern auf einen ‚normalen‘ Helden, einen Fußballtormann. Dieser Vorgang, Gegenstände als Normen zu sehen, soll eben nicht als krankhaft verharmlost, sondern als lebensüblich vorgestellt werden. (TK1 3)
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Anders als in seinen beiden ersten Romanen nähert sich Handke mit der Wiedergabe von Blochs Geschichte insofern an konventionelle Formen des Erzählens an (Nägele/Voris 1978, 45), als er eine klar umrissene Figur entwirft und eine geschlossene Erzählperspektive durchhält (Mixner 1977, 125). Zudem wirkt der Stil dieser Er-Erzählung auffällig distanziert. Es hat seinen Grund, dass Handke betont, er habe den Stil der Geschichtsschreibung von Sallust aufnehmen wollen: „Ich hatte mir […] vorgenommen, einen Schreibstil zu verwenden, wie ihn Sallust für seine Geschichtsschreibung verwendet hat, einen Geschichtsschreiberstil auf einen einzelnen Menschen angewandt. Die Sätze, die entstanden sind, wirken zwar ganz künstlich und ganz grammatikalisch, erzählen aber dennoch eine Geschichte“ (Mixner 1977, 125; Bloch/Schneller 1971, 174). Damit macht das Erzählen deutlich, dass der Mord, von dem die Handlung berichtet, schon das Ergebnis einer bestimmten Reaktion auf Wirklichkeit ist. Diese besondere Verarbeitung von Wahrnehmungen gibt der Figur Bloch ihr unverwechselbares psychisches Profil. Das zeigt sich schon zu Beginn des Textes. Einerseits sind viele Handlungen des Protagonisten im Zusammenhang des Kriminalschemas erklärbar, andererseits düpiert Bloch ständig die Erwartungen, die durch dieses Erzählschema aufgebaut werden (Pütz 1982, 32). Die Reaktion Blochs, der in einer sprachlosen Szene, aus einer Geste seines Poliers, zu erkennen glaubt, dass er entlassen sei, und der schließlich fast übergangslos vom Liebhaber zum Mörder wird, zeigt zwar in einem vordergründigen Maß Vorgeschichte, Bedingungen und Folgen eines Mordes. Doch im Verlauf der Handlung verhält sich der Protagonist nach seiner Tat nur bedingt situationsangemessen. Er flüchtet zwar in einen südlichen Grenzort des Landes, doch er macht kaum Anstalten, sich den Ermittlungen zu entziehen; vielmehr verfolgt er apathisch die Versuche, ihm auf die Spur zu kommen und liest mit Interesse, wie sich ihm die polizeilichen Ermittlungen nähern. Nicht zuletzt von hier aus wird deutlich, dass sich auch in diesem Text zwei Erzählebenen überblenden. Dabei bricht die erste, die Kriminalhandlung, vor dem Ende völlig ab, wenn sie ihre Funktion als Demonstrationsform erfüllt hat (Pütz 1982, 42). Die zweite Erzählebene befasst sich mit dem Psychogramm Josef Blochs und mit seinen Reaktionen auf sprachliche und nicht-sprachliche Zeichen, mit der besonderen Form seiner Wahrnehmung von Wirklichkeit. Das Verhalten der Hauptfigur nach der Tat entfaltet die bestimmenden Momente einer psychischen Vorgeschichte des Mordes. In mancher Hinsicht können sich die Wahrnehmungen und Reaktionen Blochs auf das Krankheitsbild der Schizophrenie beziehen lassen, zumindest sind sie einer Psychopathologie zuzurechnen, die der Vorgeschichte der Schizophrenie angehört. Nicht ohne Grund hat man deshalb Handkes Faszination von Conrads Buch über die Schizophrenie hervorgehoben und den Niederschlag dieser Lektüre im Tormann-Text gesucht (Mixner 1977, 124, 126). So klar es gleichwohl ist, dass Handke keine psychopathologische Fallstudie liefern wollte, so deutlich ist andererseits, dass sich die Handlungen und das Verhalten Blochs im Schema der Psychopathographie beschreiben lassen. Zugleich können sie auf eine Wahrnehmungs- und Zeichentheorie bezogen werden, die
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den bewussten und unbewussten Handlungen der Figur unterlegt ist. Dafür, dass die psychopathographische Darstellungsebene nur Muster einer übergreifenden zeichentheoretischen Aussage ist, spricht der Sachverhalt, dass sich der Erzähler selbst im Verlauf des Erzählens verändert. In die Schilderung von Blochs Wahrnehmungen rückt er schließlich eine Kette von Hieroglyphen ein, eine Bildersprache. Was Bloch sieht, erzählt der Erzähler nicht, sondern er bildet es unter Rückgriff auf Pictogramme bloß ab (T 105). Er selbst untersteht der Wirkung von Gesten, Zeichen und Wahrnehmungen, wie sie Blochs psychische Reaktion bestimmen. Demonstriert wird diese im Erzählen reproduzierte Theorie von Wahrnehmung und Beschreibung am Beispiel der Hauptfigur und ihrer ursprünglich kriminalistisch motivierten Flucht vor den Ermittlungen der Polizei. Schon der Mord, den Bloch begeht, wird offenkundig dadurch ausgelöst, dass die Kassiererin, von deren wortloser Gestik sich der Protagonist ursprünglich angezogen fühlt (T 7), in zunehmendem Maß versucht, durch Sprechen und Fragen in dessen Erfahrungs- und Vorstellungswelt einzudringen (Mixner 1977, 134 f.). Nach einiger Zeit merkte Bloch, daß sie von Dingen, von denen er ihr gerade erst erzählt hatte, schon wie von ihren eigenen Dingen redete, während er dagegen, wenn er etwas erwähnte, von dem sie gerade gesprochen hatte, sie entweder immer nur vorsichtig zitierte oder aber, sobald er mit eigenen Worten davon sprach, jedesmal ein befremdendes und distanzierendes ‚Dieser‘ oder ‚Diese‘ davor setzte, als fürchte er, ihre Angelegenheiten zu den seinen zu machen. […] Einige Male freilich, zwischendurch, wurde ihm kurz das Gespräch so selbstverständlich wie ihr: er fragte sie, und sie antwortete; sie fragte, und er gab eine selbstverständliche Antwort. […] Aber dann störte ihn alles immer mehr. Er wollte ihr antworten, brach aber ab, weil er das, was er vorhatte zu sagen, als bekannt annahm. (T 20 f.)
Die psychologische Entfaltung und Zuspitzung der Sprachproblematik am Beispiel der Figur von Josef Bloch grenzt den Tormann-Text von den vorangehenden Romanen ab. Denn sie weist nicht einfach auf die unbewusste Einschrift aller sprachlichen Akte, sondern sie entwickelt ein klares Psychogramm, welches das Verhalten der Protagonisten erklären kann. Während in den Hornissen und im Hausierer die Sprache vor allem als eine Ordnungsmacht erscheint, deren Gewalt sich im Feld des literarischen Texts und der durch diese mobilisierten Phantasien bestätigt, handelt der Kaspar schon in einer charakteristischen Wendung von der Sprache als einem Sozialisationsfaktor. Sprache im Kaspar ist in erster Linie das Zugesprochene, ein Ergebnis von Kulturisation, die allemal eine Unterwerfung unter die Macht der Autoritäten darstellt. Im Tormann dagegen treten die poetologische Frage nach dem Verhältnis von literarischer Sprache und Wirklichkeit und die ideologiekritische nach der Beziehung zwischen Sprache und gesellschaftlicher Wirklichkeit zurück. An ihre Stelle rückt eine generelle Abhandlung der Zusammenhänge zwischen Sprachinhalten und Erfahrungen einerseits, der Sprache und den Zeichen andererseits. In einem grundsätzlichen Sinne ist damit die linguistische Frage nach der Relation von ‚signifiant‘ und ‚signifié‘ dargestellt. Spätestens mit diesem Text
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wird deutlich, dass sich Handkes Schreiben in dem Maß, wie es sich von der literarischen Tradition ablöst, außerliterarischen Axiomen und Theorien verpflichtet. Es ist daher sinnvoll, diese frühen Texte auch im Hinblick auf die Sprachtheorien von Saussure, Wittgenstein und Whorf zu lesen, wenngleich damit ihre besondere Bedeutung nicht völlig erfasst werden kann. Die Frage nach dem Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem wird im Tormann zunächst nur negativ entwickelt. Das Verhalten von Bloch ist nicht nur bedingt durch die Macht der symbolischen Ordnung der Sprache, die für den Protagonisten zur Obsession wird. In seiner Geschichte zeigt sich auch, was geschieht, wenn sich der einzelne der verbindlichen Signifikanz der symbolischen Ordnung zu entziehen versucht. Dadurch kommen im Fall des Josef Bloch Zeichentheorie und Pathogramm zur Deckung. Sein Verhalten erscheint als Regression, seine Beziehungen zu seiner Umgebung fallen in den Status des Imaginären zurück. Dies zeigt sich in mehrfacher Hinsicht. Ganz allgemein lässt sich sehen, dass Blochs Reaktionen auf andere und seine Umgebung offenbar einer eigenen Logik folgen, sein Beziehungswahn trägt durchaus pathologische Züge, denn er bringt ungewöhnliche Verknüpfungen hervor. Überhaupt kam alles ihm ähnlich vor; alle Gegenstände erinnerten ihn aneinander. Was war mit dem wiederholten Vorkommen des Blitzableiters gemeint? Was sollte er an dem Blitzableiter ablesen? ‚Blitzableiter‘? Das war wohl wieder ein Wortspiel? Hieß es, dass ihm nichts passieren konnte? (T 98)
Dabei zeigt sich, dass die Wahrnehmungen der Figur und die Perspektive des Erzählers streckenweise symmetrisch sind. Die Erzählweise der harten und übergangslosen Fügungen (Heintz 1970, 115) spiegelt den Sachverhalt, dass Blochs Wahrnehmung strukturell durch eine Nicht-Zuordnung von Zusammenhängen und eine Zuordnung von Nicht-Zusammengehörigem gekennzeichnet ist (Rossbacher 1975, 97), die sich dem Modus kindlicher Wahrnehmung von Wirklichkeit vergleichen lässt. Da aber, wo Bloch von diesem Wahrnehmungsmuster abweicht, zeigt sich, dass er auf das Verknüpfen und Fügen von beobachteten und berichteten Zusammenhängen fixiert ist. Was er selbst beständig erlebt, erkennt er beim Lesen der Zeitung als Bruch in der Beschreibung von Wirklichkeit (Heintz 1970, 115). Dann, plötzlich, fand er sich dabei, wie er las. Ein Augenzeuge berichtete über einen Mord an einem Zuhälter, den man aus kurzer Entfernung ins Auge geschossen hatte. ‚Hinten aus seinem Kopf flog eine Fledermaus heraus und klatschte gegen die Tapete. Mein Herz übersprang einen Schlag.‘ Als, ohne daß ein Absatz gemacht wurde, die Sätze unvermittelt von etwas ganz anderem, von einer andern Person, handelten, schrak er auf. ‚Da hätte man doch einen Absatz machen müssen!‘ dachte Bloch, der nach dem kurzen Aufschrecken wütend geworden war. (T 17 f.)
Zunehmend wird deutlich, dass Bloch offenbar ein eigenes Register für die Interpretation von Wirklichkeit entwickelt. Während sich die daraus hervorgehenden
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Codierungen der Wahrnehmung auch als gewalttätig erweisen können – die Geschichte des toten Schülers und der Bericht über den Zigeuner belegen dies (Nägele/Voris 1978, 47) – folgt für Bloch daraus vor allem eine gründliche Desorientierung, die sich als psychopathographisches Phänomen beschreiben lässt (Heintz 1970, 116). Blochs codierte Wahrnehmung zerlegt alle Beobachtungen in Einzelbeobachtungen. Die Kellnerin ging hinter die Theke. Bloch legte die Hände auf den Tisch. Die Kellnerin bückte sich und öffnete die Flasche. Bloch schob den Aschenbecher weg. Die Kellnerin nahm im Vorbeigehen von einem anderen Tisch einen Bierdeckel. Bloch rückte mit dem Stuhl zurück. Die Kellnerin nahm das Glas von der Flasche, auf die sie es gestülpt hatte, legte den Bierdeckel auf den Tisch, stellte das Glas auf den Deckel, kippte die Flasche in das Glas, stellte die Flasche auf den Tisch und ging weg. Es fing schon wieder an! Bloch wußte nicht mehr, was er tun sollte. (T 33)
In ähnlicher Weise verliert Bloch beim Sehen und Beobachten Zusammenhänge aus den Augen, die gewöhnlich in die Wahrnehmungen mit eingehen. Statt eines Hundes beobachtet er einen Mann, auf den dieser Hund zuläuft (T 86 f.). Dass ihm „alles zum Indiz“ wird (Scharang ÜH 67), hat zur Voraussetzung, dass sich seine Perspektive auf die Wirklichkeit verengt und sich schließlich die Wahrnehmungen für ihn zu verselbständigen beginnen. Solche perspektivischen Verengungen des Blicks werden deutlich, als Bloch ein Café besucht (T 75). Im Café sah er links und rechts Ausschnitte der Wände, […]. Er erblickte einen anderen Ausschnitt mit der Musikbox, durch die langsam ein Lichtpunkt wanderte, der dann bei der gewählten Nummer stehenblieb, […]; dann wieder einen anderen Ausschnitt mit dem Wirt hinter der Theke, der für die Kellnerin, die danebenstand, eine Flasche öffnete, […]. Innerhalb der Ausschnitte sah er die Einzelheiten aufdringlich deutlich: als ob die Teile, die er sah, für das Ganze standen. Wieder kamen ihm die Einzelheiten wie Namensschilder vor. ‚Leuchtschriften‘, dachte er. (T 75 f.)
So geht aus dem perspektivischen Sehen eine asymmetrische Wahrnehmungsweise hervor. Sie führt, wie in den Hornissen und im Hausierer wieder zu einem ‚ordo inversus‘; nicht das betrachtende Subjekt ordnet seine Wahrnehmungen, sondern die Bilder drängen sich ihm als eine Ordnung auf, die den Betrachter beherrscht. Als Bloch querfeldein bis zur Schneise des Niemandslands an der Grenze geht, heißt es: „Die Landschaft, obwohl sie eben war, wölbte sich so nah an ihn heran, daß sie ihn zu verdrängen schien“ (T 43; Heintz 1970, 109). Und ausgerechnet bei einem anderen Spaziergang in die Natur verselbständigen sich die wahrgenommenen Bilder zu einem Zeichensystem, das bewusstseinsunabhängig scheint. Buchstäblich war alles, was er sah, auffällig. Die Bilder kamen einem nicht natürlich vor, sondern so, als seien sie extra für einen gemacht worden. Sie dienten zu etwas. Wenn man sie ansah, sprangen sie einem buchstäblich in die Augen. ‚Wie Rufzeichen‘, dachte Bloch. Wie Befehle! Wenn er die Augen zumachte und nach einiger Zeit wieder hinschaute, kam einem buchstäblich alles verändert vor. Die Ausschnitte, die man sah, schienen an den Rändern zu flimmern und zu zittern. (T 87)
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Diese Verselbständigung der Bilder, die einer Ablösung der Zeichen vom Bezeichneten entspricht (Heintz 1970, 116) und die in zunehmendem Maß Wahrnehmung und Sprache Blochs zu bestimmen beginnt, führt zu einem durchgreifenden Gefühl der Dissoziation, aber auch zu einer Entfremdung Blochs von den anderen. Die Fremdheit, die er schon zu Beginn der Handlung gegenüber einem Bekannten empfindet, den er zufällig trifft (T 15; Heintz 1970, 112), schlägt in der Tötungsszene in eine Selbstentfremdung um (Heintz 1970, 110). Auch dieser Umschlag folgt einem regressiven Muster, denn Bloch, der Täter, empfindet Angst. Daraus begründet sich seine als existentiell erfahrene Verstörtheit; weil in dieser Situation jede sinnliche Wahrnehmung widersprüchlich erscheint, empfindet das Ich schließlich eine fast kreatürliche Angst (Scharang ÜH 68). Später bestätigt sich, dass diese Dissoziation als eine Verkehrung von innen und außen wahrgenommen wird, welche die Grenze zwischen Ich und Außenwelt, dem Ich und den anderen beseitigt. Daraus erwächst ein nicht mehr zu kontrollierendes Körpergefühl, das Bewusstsein und Denken zu bestimmen scheint. Er nahm sich selber wahr, als sei er plötzlich ausgeartet. Er traf nicht mehr zu; war, mochte er auch noch so still liegen, ein einziges Getue und Gewürge; so überdeutlich und grell lag er da, daß er auf kein einziges Bild ausweichen konnte, mit dem er vergleichbar wäre. Er war, wie er da war, etwas Geiles, Obszönes, Unangebrachtes, durch und durch Anstoßerregendes; verscharren! dachte Bloch, verbieten, entfernen! Er glaubte sich selber unangenehm zu betasten, merkte dann aber, daß nur sein Bewußtsein von sich so heftig war, daß er es als Tastsinn auf der ganzen Körperoberfläche spürte; als ob das Bewußtsein, als ob die Gedanken handgreiflich, ausfällig, tätlich gegen ihn selber geworden seien. (T 70 f.)
Schon vorher entfernt sich Bloch im Zustand der Trunkenheit von seiner Umgebung. „Alle Gegenstände schienen außer seiner Reichweite zu sein. Er war so entfernt von den Vorgängen, dass er selber in dem, was er sah oder hörte, gar nicht mehr vorkam“ (T 69). Blochs Dissoziation bildet sich auch auf der Ebene der Grammatik ab. Das Durchschneiden der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem führt zu einer Dominanz der Ketten der Signifikanten, die Bloch dazu zwingt, jede eigene Beobachtung einem Beschreibungssystem zuzuordnen, das er zunehmend als fremd erfährt. Dies belegt sein unbewusster Zwang, beständig Vergleiche anzustellen und alle Beobachtungen unter der Rubrik des „als ob“ zu ordnen (TK4 46); darauf weisen auch sein Spiel mit Bedeutungen und der Begründungs- und Beziehungswahn, den er von Anfang an hat, und den er schließlich am Ende des Textes zumindest ablegen will, „diese ‚so daß‘, ‚weil‘ und ‚damit‘ waren wie Vorschriften; er beschloß, sie zu vermeiden, um sie nicht –“ (T 109). Diese Entfremdung, der Bloch schließlich entkommen will, zeigt sich schon vorher am Beispiel des Steuerbeamten, der nicht mehr Gegenstände, sondern allein deren Preis, ihren Warenwert wahrnimmt und klassifiziert (Mixner 1977, 136; T 53). Doch die Geschichte Blochs ist weder nur das Pathogramm einer gestörten Wahrnehmung, noch ist sie allein eine erzählte Wahrnehmungstheorie. Ihre geheime Inschrift, die sie unmittelbar auf die vorangehenden Erzähltexte
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rückbezieht und zugleich deren Problematik differenziert, zeigt mehr als die beschränkende und zerstörende Macht der Versprachlichung von Wirklichkeit. So wie die Verfremdung im Pathogramm die „normale“ Versprachlichung der Welt und ihre Auswirkungen auf die Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit verzerrt abbildet und übersteigert, so legt sie andererseits klar, dass alle Wahrnehmungen bestimmten Mustern folgen, die Roland Barthes als ‚Mythen des Alltags‘ bestimmt hat (Scharang ÜH 75 ff.). Darüber hinaus wird deutlich, dass aus den Verzerrungen, die solchen Wahrnehmungsmustern entspringen, nicht nur eine verstellende, sondern mitunter auch eine produktive Kraft erwächst. Schon immer gehen diese sekundären Mythen des Alltags auf eine Strukturierung der Erfahrung durch das Unbewusste zurück. Obwohl der Text des Tormann an einer bestimmten Subjektsperspektive festhält, zeigt er, dass ein Ende der asymmetrischen Wahrnehmung allein dann möglich ist, wenn die Subjektsperspektive an Bedeutung verliert. Die Kraft der Bilder entfaltet sich nur, wenn sie nicht von vornherein durch psychogenetisch begründete Phantasmen verstellt oder durch das Bewusstsein korrigiert werden. So lassen sich Blochs Wahrnehmungen denen vergleichen, die in den Hornissen und im Hausierer geschildert werden. Ausgerechnet in der herausgehobenen Szene, in der Bloch den toten Schüler entdeckt, heißt es in offenkundigem Rückbezug auf diese Texte, „sein ganzes Bewußtsein schien ein blinder Fleck zu sein“ (T 62). Und auch hier wird eine für Bloch bedeutsame Wahrnehmung dadurch charakterisiert, dass er den herandrängenden Bildern nicht einmal körperlichen Widerstand entgegensetzt. Auch hierfür gibt es eine visuelle Wahrnehmung, die auf die Hornissen zurückweist: Die kleinen Vorgänge auf der Wasseroberfläche kamen einem so wichtig vor, daß man, wenn sie sich wiederholten, gleichzeitig ihnen dabei zuschaute und sich schon an sie erinnerte. Und die Blätter bewegten sich so langsam auf dem Wasser, daß man ohne Wimpernzucken zuschauen wollte, bis die Augen brannten, aus Angst, man könnte mit dem Wimpernzucken die Bewegung der Wimpern vielleicht mit der Bewegung der Blätter verwechseln. (T 62)
Diese erzählte Form der Wahrnehmung erweist sich als ein Muster für Blochs weitere Entwicklung. Seine Dissoziation löst sich in dem Maß auf, wie Wahrnehmungen und Wahrnehmungszeichen übereinstimmen. Es ist bemerkenswert, dass diese Symmetrie an einer Stelle im Text entwickelt wird, an der Erzähler- und Figurenperspektive zur Deckung kommen. Dieser Passus ist zugleich eine erzählte Zeichentheorie. Die Wahrnehmungen Blochs, der aus dem Fenster schaut, sind ein Schauen und Lesen zugleich, sie lassen sich deshalb in einer hieroglyphischen Bilderschrift festhalten (T 105); der Darstellungsmodus des Textes und die ihn begründende Zeichentheorie fallen in eins. Auch in Wittgensteins Tractatus ist die Hieroglyphe eine Sprache, „ohne das Wesentliche der Abbildung zu verlieren“ (WTL 35/4.016). Diesen Sachverhalt erfasst das Erzählen des Erzählers, der die reaktive Wahrnehmung Blochs wiedergibt. Jetzt werden die vorangegangenen Leseversuche eingelöst, die Bloch schon immer unternahm und die ihm nur beim Kinogehen und Zeitunglesen gelingen wollten.
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Der Evidenz der Bilderschrift vergleichbar ist allein der enge Zeichenbereich des Fußballfeldes, das die Wahrnehmungen und Reaktionen des Tormanns bestimmt. Auch diese erscheinen sinnlos aus der Außenperspektive, sind einem Betrachter, der nur ihn und nicht das Spielgeschehen beobachtet, nicht ohne Weiteres verständlich. Sie werden aber erklärbar und zwingend durch Einbeziehung ihrer Voraussetzungen und des umgreifenden Bedeutungszusammenhangs. Das Tormann-Sein wird deshalb noch für Bloch eine konkrete Utopie des Bei-Sich-Selbst-Seins, der festen Ordnung der Signifikanten und einer klaren Zuordnung der Signifikanten und der Signifikate, während das soziale Leben gerade durch ein asymmetrisches Signifikantennetz bestimmt ist. Der Schluss des Tormann-Textes ist sehr häufig als ein Muster gelingender Kommunikation gelesen worden, er verrät aber eher die Bedingungen und die Signatur, denen die moderne Subjektivität untersteht. Behaupten kann sich das Ich allein noch dann, wenn es sich in ein vorgegebenes Bezugsfeld einfügt. Alle davon abweichenden Äußerungen von Individualität werden durch die gesellschaftlichen und kulturalen Einschreibsysteme zerschlagen. Auch insofern hat Josef Bloch das Ergebnis von Kaspars Lernprozess bereits internalisiert. Unter diesem Blickwinkel wiederholt der Schluss der Erzählung nur deren widersprüchliche Anlage. Einerseits will Handke die obsessive Versprachlichung der Wirklichkeit durch Bloch als nicht krankhaft darstellen, andererseits bedarf es eines Mordes, um Blochs weitere Entwicklung klarzulegen (Scharang ÜH 77). Überdies zeigt sich ein Widerspruch im Inhalt des Textes. Der gehaltene „Elfmeter“ könnte darauf hinweisen, dass Torschütze und Torwart analog denken und sich in der Aporie ihrer unterschiedlichen Entscheidungssituationen gleichermaßen auf eine passive Lösung verlassen, auf den Schuss in die Mitte des Tores und auf das Stehenbleiben. Doch auch hier kommt es zu einer Inversion, denn die gleichen Schlussfolgerungen, die der Schlüssigkeit des herrschenden Signifikantensystems entsprechen, führen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Der Torwart erfüllt seine Aufgabe, der Schütze versagt. So ist das, was als Verständigung erscheint, in Wahrheit Zeichen eines Verfehlens, Bild dafür, dass Kommunikation stets nur asymmetrisch erfolgen kann. Dieses Schlussbild, das zeigt, wie sich innerhalb eines logisch entwickelten Modells von Kommunikation unterschiedliche Phantasmen überkreuzen, erhält deshalb besonderes Gewicht, weil es in einer Passage des Textes steht, in der sich der Erzählgestus grundsätzlich ändert. Am Ende der Erzählung wird Bloch selbst zum Erzähler (Dixon 1972, 38, 56). In dem Maß, wie er die Situation von Schütze und Torwart theoretisch entwickeln und erzählen kann, teilt er sich zum ersten Mal unter den Vorgaben eines bestimmten Ausdruckssystems mit. Identität begründet sich, so die dialektische Denkfigur, durchs Erzählen, doch sinnvoll ist dieses nur unter den Normen eines Systems oder eines Spiels. Durch diese Engführung von Thema, Theorie und Erzählung wird nicht nur deutlich, dass das Erzählen einer Geschichte und der Entwurf einer Theorie identisch werden können. Es zeigt sich auch, dass die Ordnung des literarischen Diskurses ein Moment der Befreiung mit sich bringt. Allerdings ist dieses nur vermittelt und punktuell; auch hier gilt es, über eine dünne Eisschicht zu gehen, die jederzeit einbrechen kann.
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Denn Blochs erzählte Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Zeichentheorie weist auf eine grundsätzliche Aporie des Erzählens, das seinerseits ein Verfahren asymmetrischer Kommunikation ist. Allein in dieser noch kann sich die Beziehung zwischen Erzähler und Leser begründen. Es gehört ohne Zweifel zur besonderen Leistung dieses Textes, dass er die Zuspitzung der Theorie in ein Verfahren des Theorien-Erzählens einmünden lässt, das die Abstraktheit der frühen Romane aufhebt und wieder zum Erzählen befreit.
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Experiment und Entwurf: Die Stücke, Prosaarbeiten und Hörspiele bis ins Jahr 1973
3.1 Publikumsbeschimpfung (1966) Dieses Stück auf die Bühne zu bringen, war von Anfang an schwierig. Denn anders als es der Titel vermuten lässt, und im Gegensatz zu seiner vorherrschenden Aufführungspraxis, handelt es sich nicht allein um eine bühnenwirksame „Beschimpfung“ sondern vielmehr um einen Essay über die Wirkungsgesetze des Theaters und die Erwartungen und Reaktionen eines Publikums, das eine „Mustervorstellung von der Welt des Theaters“ (ST1 25) im Sinn hat. Folgerichtig weist der einleitende Satz „Dieses Stück ist eine Vorrede“ nur daraufhin, dass das Stück bewusst machen soll, was selbstverständliches Gesetz des Theaters und was die uneingestandenen Reglements des Theater- und Kulturbetriebs sind (ST1 19). Die beabsichtigte Typisierung dieser Beobachtungen und Beschreibungen führt im Verlauf des Stückes zu widersprüchlichen Ergebnissen. Einerseits klassifiziert sie die Wirkungsgesetze des Theaters, andererseits versucht sie, diese zu zerstören. „Die Rampe ist keine Grenze“ (ST1 22) ist ein Satz, der einerseits die Konstellation des Aristotelischen Theaters zitiert, andererseits aber versucht, die dort gesetzte Grenze zwischen Zuschauer und Bühne aufzuheben und jede Illusionierung zu beseitigen. Die Formel „Das ist kein Spiel“ (ST1 20 f.) trifft diesen Sachverhalt. Sie verbindet die Publikumsbeschimpfung mit dem methodischen Ansatz der frühen Sprechstücke, die als „Schauspiele ohne Bilder“ zugleich „Wortspiele“ (ST1 21) sind, die keine Handlung entwerfen oder abbilden. In einer „Bemerkung“ zu seinen Sprechstücken führt Handke aus: Sie zeigen auf die Welt nicht in der Form von Bildern, sondern in der Form von Worten, und die Worte der Sprechstücke zeigen nicht auf die Welt als etwas außerhalb der Worte Liegendes, sondern auf die Welt in den Worten selber. […] Es kann in den Sprechstücken keine Handlung geben, weil jede Handlung auf der Bühne nur das Bild von einer anderen Handlung wäre: die Sprechstücke beschränken sich, indem sie ihrer naturgegebenen Form gehorchen, auf Worte und geben keine Bilder, auch nicht Bilder in der Form von Worten […] und keine natürlichen Äußerungen. (ST1 201) © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_3
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3 Experiment und Entwurf: Stücke, Prosaarbeiten und Hörspiele
Das Wortspiel bestimmt auch Inhalt und Struktur des Textes der Publikumsbeschimpfung, den man mit guten Gründen eher als das Libretto für eine Aufführung, denn als ein in sich geschlossenes Stück angesehen hat (Durzak 1982, 92; ÜD 113). Zugleich schwindet in diesem die Grenze zwischen der einzigen vorangestellten Bühnenanweisung, dem Redetext der Schauspieler und den in diesen Text eingeschobenen Selbstkommentaren (ST1 13–17). Dies bestätigen die vor dem Text verzeichneten „Regeln für die Schauspieler“ (ST1 13 f.). Dem methodischen Konzept der Sprechstücke kommt die Publikumsbeschimpfung paradoxerweise dann am nächsten, wenn man sie als Text liest. Allein dann wird ihr Spielcharakter offenkundig, der aus einzelnen Sätzen Situationen und Bilder entwickelt, die sich der Darstellbarkeit entziehen und die ihre Eigenart als Satzfolge, nicht aber als Beschreibung von Wirklichkeit entfalten. Die spielerisch und situativ inszenierten Satzfolgen, die Wortkaskaden der Schauspieler verselbständigen sich allerdings mitunter. Dies geht soweit, dass zur Beschreibung ein und derselben Situation einander widersprechende Sätze in den Text eingerückt werden: „Hier wird ihnen mitgespielt. Das ist ein Wortspiel“ (ST1 21) – „Hier wird nicht gehandelt, hier werden sie behandelt. Das ist kein Wortspiel“ (ST1 24). Kennzeichen der vermeintlich sich widersprechenden Sätze ist, dass sie einem Gestus der Bewusstmachung folgen. Die traditionelle Form des aristotelischen Theaters wird nicht nur zitiert und ironisiert (ST1 20), es wird auch immer wieder darauf abgehoben, dass das konventionelle Theater „Sinn“ spiele, Bedeutungen entwerfe, „Zeit“ spiele, eine gespielte Wirklichkeit entwerfe (ST1 38 f.). Dem setzt die Publikumsbeschimpfung in ironischer Aufnahme des Gesetzes der Einheit von Ort, Zeit und Handlung allein ihre eigene Aufführungszeit, die Sprechzeit der Schauspieler, die inszenierte Anwesenheit des Publikums und die von ihm geschaffene kommunikative Situation entgegen. Darin liegt zugleich die Ambivalenz des Konzepts der Publikumsbeschimpfung. Denn vor allem die ersten Inszenierungen des Stücks waren deshalb so erfolgreich, weil sie das Antitheater Handkes völlig dem Gesetz des theatralischen Effekts unterordneten, sie führten nicht nur ein Stück über das Theater auf, sondern waren selbst schon wieder Theater in einem konventionellen Sinn: Eine Darstellung von Situationen, Reden und Personen. Die Begeisterung des Publikums über diese Aufführungen zeigte allerdings auch, dass die Provokation gegen den Theaterbetrieb von diesem selbst bereits absorbiert wurde. Das Problem, das diese Aufführungspraxis deutlich macht, ist grundsätzlicher Art. Jede Inszenierung dieses Stückes muss, wenn die Provokation schon erwartet wird, Publikum und Kritik von vornherein auf das zu erwartende Ereignis einstimmen. Sie muss eine Aufführung werden und entschärft die Provokation durch ihre Aufführung. Dadurch wird die eigentliche Publikumsbeschimpfung, die den geringsten Teil dieses Stückes ausmacht, zum bloßen Gag, der sein kritisches Potential nicht nur durch die Ausgewogenheit der Beschimpfungen in jede Richtung, sondern schon grundsätzlich und von vornherein verwirkt hat
3.2 Sprechstücke (1969–1972)
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(ST1 44–47). So begründet sich in der Tat aus dem Antitheater ein neues Theater, das alte Traditionen nicht wirklich annullieren kann. Die Befreiung des Publikums von der Tradition bleibt aus, weil das Stück dem verhaftet bleibt, wogegen es rebelliert, das Spiel gegen die dramatischen Mittel ist an keiner Stelle eines ohne diese, es entzieht sich nirgends in vollem Umfang den Voraussetzungen des Theaters (Pütz 1978, 4).
3.2 Sprechstücke (1969–1972) Die übrigen Sprechstücke, die in den Jahren 1964–1971 entstehen, behandeln durchweg nur Teilaspekte der Problemfelder, welche die Publikumsbeschimpfung, der Kaspar und schließlich das letzte Stück Die Unvernünftigen sterben aus als theatralische Situationen oder als Handlung entfalten. Sie thematisieren durchweg den Gebrauch von Sprache und die Rolle sprachloser Gesten innerhalb vorgegebener kommunikativer Situationen. Ihre innovative Bedeutung ergibt sich gerade aus diesem reduktiven Verfahren. Andererseits werden auch die selbstauferlegten Grenzen dieses Konzepts deutlich, weil die Sprechstücke per definitionem auf die Vermittlung von Bedeutungen verzichten. Sie behandeln die Sprache nicht als eine Realität für sich, die Verhalten determiniert, vielmehr beschränken sie sich darauf, die Eigenart sprachlicher Äußerungen vorzustellen und auf der Bühne bewusst zu machen; insofern setzen auch die Sprechstücke eine theatralische Wirkung frei. Sie zeigen zwar nur „auf die Welt in den Worten selber“, aber sie sind theatralisch insofern, als sie sich natürlicher Formen der Äußerung in der Wirklichkeit bedienen. Sie bedienen sich nur solcher Formen, die auch in der Wirklichkeit naturgemäß Äußerungen sein müssen, das heißt, sie bedienen sich der Sprachformen, die in der Wirklichkeit mündlich geäußert werden. Die Sprechstücke bedienen sich der natürlichen Äußerungsform der Beschimpfung, der Selbstbezichtigung, der Beichte, der Aussage, der Frage, der Rechtfertigung, der Ausrede, der Weissagung, der Hilferufe. (ST1 201)
Mit diesem Anspruch greifen die Weissagung, die Selbstbezichtigung und die Hilferufe auf das in der Publikumsbeschimpfung entwickelte Modell zurück. Doch anders als diese machen sie nicht die besonderen Gegebenheiten der theatralischen Situation, der Aufführungspraxis und der Publikumsreaktionen bewusst, sondern die Rolle der Sprachmodelle. Sie sind Sprachspiele im engeren Sinn, und sie haben, wie etwa die Weissagung, keine andere Absicht, als „einen größtmöglichen akustischen Reiz“ (ST1 204) hervorzubringen; in diesem wörtlichen Sinn begreift Handke das Wort des russischen Symbolisten Osip Mandelstam, das er seinem Stück vorausstellt: „Kein Wort ist besser als das andre / die Erde dröhnt von Metaphern…“ (ST1 51). Nach Handkes eigener Deutung ist die Weissagung von den „drei Sprechstücken das rein formalistische“ (ST1 204). Die Kette von Tautologien, die sie entwirft, hat kein anderes Ziel als das Verfahren und die Eigenart der Metapher
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3 Experiment und Entwurf: Stücke, Prosaarbeiten und Hörspiele
vorzustellen. Allerdings lässt dieses Sprechstück eine markante Bruchstelle erkennen. Denn die beiden Sätze „Die Wirklichkeit wird Wirklichkeit werden“ und „Die Wahrheit wird Wahrheit werden“ (ST1 62) sind keine einfachen Spielsätze. Vielmehr weisen diese beiden scheinbaren Tautologien auf eine Differenz von Wort und Wirklichkeit, aus der sich erst die Vergleiche begründen. Sie deuten auf die Schutz- und Verstellungsfunktion von Sprache, die im Kaspar in ein Sozialisationsmodell eingefügt ist und als Strategie der Sozialisation erkennbar wird. Damit berühren sie eine Überlegung, die Handke in seinem Aufsatz über Theater und Film: das Elend des Vergleichens vorgebracht hat: Es zeigt sich also, daß Vergleiche vor allem dazu dienen, den verglichenen Gegenstand mit einem Satz wegzureden: jede weitere Beschäftigung mit ihm erübrigt sich […] – nichts mehr ist vergleichsunmöglich – nichts mehr bleibt außerhalb des Bewußtseins, nur weil es unverständlich, fremdartig, schwierig ist, gerade weil es unverständlich, fremdartig, schwierig ist, bleibt nichts anderes übrig, als zu vergleichen: das Vergleichen schützt vor der Beschäftigung mit dem Gegenstand. (E 66 f.)
Auch die Selbstbezichtigung ist „ein Stück ohne Fabel“ (ST1 205), sie ist, wie Handke ausführt, auch eine Geschichte ohne handelnde Figur. „Das ‚Ich‘ der Selbstbezichtigung ist nicht das ‚Ich‘ einer Erzählung, sondern nur das ‚Ich‘ der Grammatik. Es ist kein persönliches Ich, sondern ein unpersönliches. Die Geschichte der Selbstbezichtigung zeigt nicht eine besondere Geschichte“ (ST1 205). Durch diesen grammatischen Reduktionismus versucht das Stück deutlich zu machen, dass sich jede individuelle Äußerung dadurch verändert, dass sie den Regeln der Grammatik unterworfen wird. Die vermeintlich persönliche Aussage, die in die Form des katholischen Beichtspiegels gebracht wird, sagt in Wahrheit nichts aus über eine bestimmte Person, es ist allein das Subjekt der Sätze, das auf der Bühne vorgestellt werden soll. Weil die Selbstbezichtigung „nicht die eines bestimmten Wesens ist, geht sie bei jeder Aufführung neu vor sich, immer ist sie die Selbstbezichtigung derer, die gerade anwesend sind, wer diese auch als Einzelmenschen sein mögen. Das Stück ist kein mittelbares, vermitteltes, sondern unmittelbares Theater“ (ST1 206). Der Anspruch auf Herstellung eines unmittelbaren Eindrucks auf der Bühne verbindet dieses Stück mit der Publikumsbeschimpfung, er ist hier allerdings ungleich leichter zu verwirklichen, weil weder die Sprechsituation noch der Sprecher selbst Kontur gewinnen. Darüber hinaus wird schon die Problematik des Kaspar vorgezeichnet. Denn die Selbstbezichtigung ist auch die modellhafte Beschreibung einer Sozialisationsgeschichte, sie thematisiert diese aber nicht nur als sprachliche Formung des Ich, als ein Aufnehmen der „gelernten Zeichen“ (ST1 69). Vielmehr zeigt sie, dass die sprachliche Adaption von Wirklichkeit nicht allein zum Erlernen und zur Internalisierung gesellschaftlicher Normen führt, sondern ihrerseits Normverstöße präformieren und provozieren kann. In einer langen Aufzählung, in der das sprechende „Ich“ seine Verfehlungen eingesteht, werden solche Verstöße benannt, dabei erweist sich, dass sie durchweg gegen Verbote, Gebote
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und herrschende Diskurse der Sozialisation gerichtet sind. Allerdings wird die Bedeutung dieser Sätze dadurch nivelliert, dass sie von unterschiedlicher Tragweite sind. Dafür lassen sich einige Beispiele geben. Auf den Satz „Ich habe mit meiner Vernunft nicht die in das Weltall und in meine Natur gelegten Gesetze erkennen wollen. Ich bin schon in Bosheit empfangen worden. Ich bin schon in Bosheit gezeugt worden“ (ST1 82 f.) folgt nicht viel später das Bekenntnis „Ich bin bei Rotlicht über Kreuzungen gegangen. Ich bin auf Autobahnen gegangen. Ich bin auf dem Bahnkörper gegangen. Ich bin nicht auf dem Gehsteig gegangen“ (ST1 86). Doch während im Kaspar der sprechende Protagonist der Sprache der anderen nicht standhalten kann und sich nur durch eine willentliche Zerstörung der eingeübten und herrschenden Diskurse zu behaupten weiß, bleibt das „Ich“ der Selbstbezichtigung bestehen, indem es das Spiel, in das es einbezogen ist, zu seinem eigenen Spiel erklärt. Das scheinbar verfestigte Sprachmodell erweist sich nicht nur als Versuch, mit den Regeln der Sprache wie mit den herrschenden Diskursen zu spielen. Es ist schon, entgegen dem ursprünglichen Ansatz, eine Form der grammatischen Simulation von Identität. Allererst im Sprechen konstituiert sich das Ich und erhebt den Anspruch, Wirklichkeit spielerisch zu beherrschen. „Ich bin ins Theater gegangen. Ich habe dieses Stück gehört. Ich habe dieses Stück gesprochen. Ich habe dieses Stück geschrieben“ (ST1 88). So wendet sich auch dieses Sprechstück bereits vom rein formalistischen Entwurf ab; im Rahmen des Sprachspiels konstituiert sich eine zugleich imaginäre und poetische Wirklichkeit aus dem Verfügungsanspruch des grammatischen Subjekts. Demgegenüber verliert das Stück Hilferufe durch seinen ausschließlich experimentellen Charakter an Bedeutung. Lieferte seine Regieanweisung nicht zugleich eine Interpretation, so bliebe das Publikum vermutlich ratlos: „die aufgabe der sprecher ist es, den weg über viele sätze und wörter zu dem gesuchten wort HILFE zu zeigen“ (ST1 91). Die mit „Nein“ voneinander abgetrennten Sätze, deren erster einer päpstlichen Enzyklika entstammt, verkürzen sich im Fortgang des Stückes schließlich auf Versatzstücke von Nachrichten und formelhaften Berichten, um dann in eine Serie von Aufrufen zu münden, bis schließlich „das wort HILFE in einem letzten ansturm gefunden ist: dann herrscht eitel freude und sonnenschein unter den sprechern“ (ST1 91). Es zeigt sich allerdings, dass die Regieanweisung, die sich als eine existentielle Deutung des Stückes missverstehen ließe, selbst ein Sprachspiel ist, das keinerlei Verweisungscharakter hat. Die Sprecher spielen d a s bedürfnis nach hilfe, losgelöst von einer bestimmten, wirklichen lage, akustisch den zuhörern vor. die sätze und wörter werden dabei nicht in ihrer üblichen bedeutung gesprochen, sondern mit der bedeutung des suchens nach hilfe, während die sprecher nach dem w o r t h i l f e suchen, brauchen sie h i l f e; wenn sie dann aber endlich das w o r t hilfe gefunden haben, haben sie keine h i l f e mehr nötig. […] das wort HILFE hat seine Bedeutung verloren. (ST1 91)
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Den Stoff des 1969 uraufgeführten Stückes Das Mündel will Vormund sein hat Handke bereits 1965 in dem Text Augenzeugenbericht (BA 94 f.) vorgelegt. Dort berichtet ein Augenzeuge, der erst nach geschehener Tat „entrüstet Einhalt“ gebietet, wie ein geistig zurückgebliebener Halbwüchsiger seinen Vormund mit der Rübenhackmaschine tötet. Die Distanz vom Geschehen, die den Erzählgestus des Prosatextes kennzeichnet, der mit mitleidloser Genauigkeit die Vorgeschichte eines Mordes und diesen selbst schildert, wird im Theaterstück durch die Sprachlosigkeit des Geschehens erreicht und wiederholt. Seine Konzentration auf das Gestische schafft eine Kette von Ritualen, in denen die Macht des Vormunds deutlich wird, ohne dass sie ausgesprochen werden muss. Zumeist werden Szenen vorgeführt, in denen das Mündel die Handlungen des Vormunds nachzuahmen versucht, doch ohne Zweifel will das Mündel auch selbst die Initiative ergreifen. Das Mündel: steht auf; steht da. Der Vormund läuft: das Mündel fängt zu gehen an. Der Vormund springt: das Mündel fängt … Der Vormund steigt auf einen Stuhl und steht jetzt auf dem Stuhl: das Mündel springt nicht, sondern bleibt stehen; steht. Der Vormund steigt auf den Tisch: das Mündel steigt auf den Stuhl. Der Vormund stellt sich den anderen Stuhl auf den Tisch und steigt auf den Stuhl auf dem Tisch: das Mündel, wie könnte es anders sein, steigt auf den Tisch. Der Vormund hängt sich an einen Strick in der Luft und hängt: das Mündel steigt auf den Stuhl auf dem Tisch. Der Vormund hängt still: wenig baumelnd, und das Mündel steht still hoch auf dem Stuhl, auch für sich. (ST2 23 f.)
Alles, was geschieht, wird aus der Perspektive eines Zuschauers berichtet, die Regieanweisungen lassen sich als Beschreibung eines soeben beobachteten Theaterstücks ansehen (Mixner 1977, 96). Einige Sätze machen dies bereits deutlich: „Wir sehen, daß das Mündel mit dem Rücken am Prospekt der Hauswand lehnt“ (ST2 11); „Wir kennen die Geräusche“ (ST2 26); „Wir erschrecken“ (ST2 32) heißt es beispielsweise im Text. Überdies wirkt die Form der Darstellung selbst verfremdend. Vieles von dem, auf das sie hinweist, ist subjektiver Eindruck, nicht objektivierbare Form der Aufführung. So kann man lesen: „Das Mündel beißt in den Apfel, so, als ob niemand zuschauen würde. […] / Über dem ganzen Bild liegt etwas, was man, mit einem Bild, als tiefer Frieden bezeichnen könnte. […]/(Wenn wir zuschauen, werden Äpfel oft sehr affektiert gegessen.)“ (ST2 11), oder an anderer Stelle: „Das Ansehen des Mündels durch den Vormund zieht sich hin“ (ST2 13). Dazu kommt, dass einige Passagen des Theatertextes im Druck den Formen konkreter Poesie angenähert werden, als Druckbild erscheint, was als szenischer Eindruck auf der Bühne entstehen soll:
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K+M+B K+M+B K+M+B K+M+B . . . […] Sie sitzen, jeder für sich. „ „ „ „ „ „ „ „
„ „ „ „
„ „ „ „
„ „ „ „
(ST2 30f., 20; 28).
Mitunter auch gibt es Anklänge an die tautologischen Wortspiele der Weissagung: „Die Geräusche entstehen, die entstehen, wenn Wasser erhitzt wird“ (ST2 28). Doch zugleich sprengt dieses Stück den engen Zirkel der Sprach- und Formspiele. Mit dem Passus „im Finstern beginnt jetzt eine neue Szene […]“ (ST2 14) bereitet sich eine allmähliche Einbeziehung des Zuschauers vor. Während bis dahin die klaren und genau umrissenen Bühnenbilder und Szenen unmittelbar vorführen sollen, was sie meinen, regt eine Szene im Dunkeln durch ein Atemgeräusch, aber auch durch Begleitmusik die Phantasie der Zuschauer an (ST2 14 f.). Zudem wird die auf der Bühne vorgestellte Situation mit einer Filmszene verglichen, die Leser wie Zuschauer dazu bringen soll, sich auf eine Mordgeschichte einzustellen und sich schließlich die nicht auf der Bühne vorgeführte Ermordung des Vormunds (ST2 36) vorzustellen. Damit benutzt dieses Stück eine Technik, die in der Publikumsbeschimpfung scheinbar gegen die Zuschauer gerichtet ist, um diese ins Spiel des Spiels miteinzubeziehen. Ihre Erwartungen werden nicht als Sehgewohnheiten behandelt, welche die unverstellte Wahrnehmung konditionieren, sondern sie erscheinen als die Grundlage produktiver Phantasie. Das Stück zeigt keine Manipulation des Zuschauers durch das Theater, sondern die Begründung der Wirklichkeit des Theaters durch den Zuschauer (vgl. dazu Mixner 1977, 100). Von den späteren Sprechstücken weist am ehesten Quodlibet sowohl auf die früheren Sprachspiele als auch auf diese Einbeziehung des Rezipienten in das Theatergeschehen zurück. Auch dieses Stück ist nicht nur ein Spiel mit der Sprache, sondern zugleich ein Spiel mit den Hörern, es zielt auf die Bewusstmachung des Sachverhalts, dass auch alle akustischen Wahrnehmungen von Sprache bereits durch bestimmte Sprechsituationen und Diskurse vorgeformt sind. Das Stück zeigt, „wie man im Theater sofort inhaltlich reagiert auf Formen“
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(Scharang ÜH 158; Mixner 1977, 100). Damit wird zugleich die Rolle des Unbewussten für die bewusste Wahrnehmung von Sprache zum Thema. Die Entstehung von Metapher, Metonymie und Vergleich wird nicht demonstriert, sondern inszeniert. In dieser dramaturgischen Entfaltung von Bedeutung (Mixner 1977, 96) sprechen die „Figuren des Welttheaters“ (ST2 41) teils beliebige Sätze, teils solche, „von denen die Zuschauer nur glauben, daß sie sie verstehen“ (ST2 42). Dem inszenierten produktiven Missverstehen der Zuschauer, das Assoziationen in Gang setzt, korrespondiert die Kommunikation der Schauspieler miteinander, „sie gebrauchen ein falsches Wort für das richtige in der Annahme, daß sie einander schon richtig verstehen“ (ST2 49). Jacques Lacans Annahme, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei, kann diese Form der Verständigung erklären; später werden die Notizen zum Ritt über den Bodensee bestätigen, dass Handke diesen Überlegungen nahesteht (Nägele/Voris 1978, 88). In diesem Zusammenhang erhalten die Hinweise zur „Aufführung von ‚Quodlibet‘“ ihre Bedeutung. Sie sind nicht nur wie die Regieanweisungen der anderen Sprechstücke auch eine Interpretation des Aufzuführenden, sondern sie unterstreichen zugleich den inszenatorischen Charakter des Stückes, das Redeformen und Bühnensituationen an jeder Stelle aufeinander bezieht: Die Redefiguren, welche die Figuren bilden, bestimmen die Bewegungsfiguren, nicht umgekehrt. Es sollte also nicht von vornherein ein Ornament oder Arrangement auskalkuliert werden; vielmehr sollte in Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Schauspielern erforscht werden, welches Bewegungs- oder Stand-Bild durch eine bestimmte Sprechsituation auch in der Wirklichkeit hervorgerufen wird […]. Es wäre die Arbeit der Schauspieler und des Regisseurs, zu den im Text des Stücks phasenhaft beschriebenen Sprechfiguren als Entsprechungen in der Wirklichkeit vorhandene optische Figuren aufzufinden und die jeweils sinnlichste optische Figur die jeweilige Sprechfigur verdeutlichen zu lassen, wodurch umgekehrt von selbst auch die optischen Figuren der Wirklichkeit deutlich würden. (ST2 157)
Von hier begründet sich das Verfahren, typisierte Redefiguren und geometrisch arrangierte Redesituationen zugleich darzustellen. So gewinnt dieses Stück Modellcharakter in einem wortwörtlichen Sinn. Was er selbst als Stückeschreiber versucht, findet der Autor später als Kinogänger durch Sprache und Gesten der großen Schauspieler eingelöst. Dafür verwendet er den Begriff „Schrift“, der für ihn nicht auf eine literale Abbildung von Wirklichkeit, sondern auf eine transmediale Strategie zielt. In einer Notiz im Gewicht der Welt heißt es über die Schauspieler: „ihre Schrift ist selbstverständlich (wie Henry Fondas Bewegungen, die mir als Lettern erschienen)“ (GW 325). Die Verbindung zu den Stücken vom Mündel und zum nachfolgenden Ritt über den Bodensee ergibt sich dadurch, dass „alle Figuren sich mehr und mehr mit sich selber beschäftigen“ (ST2 52) und immer weniger von sich und miteinander reden. An die Stelle der gesellschaftlichen Konvention des Redens, die auf dem Verstehen wie dem Missverstehen, dem Zitat, dem Reizwort und der leeren Formel aufbaut, tritt die sprachlose Gestik, die sich schließlich völlig aufs Obszöne
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konzentriert und gerade so das im kulturalen Diskurs Vermittelte und Verdeckte freilegt. Der Ritt über den Bodensee folgt einerseits der Technik der reinen Sprachspiele, andererseits nimmt er das Spiel der Gestik auf, wie es in Das Mündel will Vormund sein vorgeführt wird. Die Tatsache, dass die Personen des Stücks zugleich seine Darsteller sind, dass die Figuren sich mitunter gegenseitig spielen (ST2 94) und die Requisiten so wirken sollen, „daß es schwer vorstellbar ist, sie woanders stehen zu sehen; sie könnten es nicht einmal ertragen, auch nur ein bißchen verrückt zu werden“ (ST2 63) weist darauf hin. Sprachspiel und Gestik werden nunmehr noch expliziter als in den vorangegangenen Stücken als Rituale gesellschaftlicher Kommunikation vorgestellt, die das menschliche Handeln gerade deshalb bestimmen, weil sie an keiner Stelle mehr in Frage gestellt werden. „Man hat angefangen, miteinander zu verkehren, und es hat sich eingespielt […]: eine Ordnung ergab sich, und um weiter miteinander verkehren zu können, machte man diese Ordnung ausdrücklich: man formulierte sie. Und als man sie formuliert hatte, mußte man sich daran halten, weil man sie schließlich formuliert hatte!“ (ST2 116). In der Vorrede zum Ritt über den Bodensee, in der Handke den Kaspar und den Ritt eng miteinander verbindet, führt er aus, es gehe ihm darum, die in dieser Gesellschaft vorherrschenden menschlichen Umgangsformen darzustellen durch genaues Beobachten 1) der anscheinend im freien Spiel der Kräfte formlos funktionierenden täglichen Lebensäußerungen bei Liebe, Arbeit, Kauf und Verkauf, und 2) ihrer üblichen Darstellungsformen im Theater. (ST2 57)
Während Quodlibet und Mündel die Theaterformen so von den Geschichten isolierten, „daß die Formen zu POSEN wurden und identisch werden konnten mit Posen im täglichen Leben“ (ST2 57), zielt der Ritt auf die „Darstellung der gesellschaftlichen Entsprechungen“ von Theaterformen (ST2 58 f.). Die Vorrede lässt keinen Zweifel daran, dass diese Darstellungsabsicht durch authentische Wahrnehmungen des Autors beeinflusst ist, der sich sowohl im alltäglichen Handeln, Sprachhandeln und ihrem Zusammenwirken mit Gesten, aber auch als Leser anderer Texte des Eingeübten und Zwanghaften seines eigenen Lebens bewusst wird (ST2 58). Aus der Methode der Selbstbeobachtung entwickelt er Formen der Wahrnehmung, wie sie auch dem „Krankheitsbild“ des Josef Bloch zugeschrieben wurden. Eben dies verleiht der dargestellten Wirklichkeit eine ambivalente Bedeutung. Denn das Stück zielt darauf, bewusst zu machen, dass die Voraussetzung, die das vermeintlich feste System der sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen bildet, in Wahrheit abgründig ist (Pütz 1982, 26). Im Durchspielen, Vorführen und Misslingen gewöhnlicher kommunikativer Akte (ST2 117–125), die mitunter als Spiel im Spiel inszeniert werden (ST2 85 f., 94), wird eine Differenz zwischen Sprache und Erfahrung deutlich; die Sprache ist die dünne Eisdecke der Kulturisation über den unbewussten Wahrnehmungen, Wünschen und Verhaltensweisen. Auch dafür ist eine Szene aufschlussreich.
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Stroheim sagt zu Elisabeth Bergner: „Hören Sie nicht auf zu sprechen, ich habe Angst, einzubrechen, wenn Sie aufhören zu reden. Im Augenblick ist meine Zärtlichkeit für Sie so heftig, daß ich Sie schlagen möchte“ (ST2 131). Das Motto „Träumt ihr oder redet ihr?“ deutet allerdings nicht darauf, dass der Wirklichkeitsbezug des Sprechens in Frage gestellt wird. Gleichwohl erscheint das Stück mitunter als ein „Traumspiel“ (Mixner 1977, 106), bei dem nicht klar ist, ob es die Wirklichkeit oder bloß Konstellationen des Bewussten wie des Unbewussten abbildet. Schon der erste Dialog zwischen Jannings und George gibt dafür ein Beispiel (ST2 68), überdies betont die Bühnenbeleuchtung den Wechsel von Nacht und Morgen (ST2 63, 136). Häufig stehen diese Irritationen der Schauspieler in Zusammenhang mit Hinweisen auf das Traumthema, auch sind im Textkorpus Regieanweisungen und Redetext der Schauspieler nicht immer klar voneinander zu trennen. Das Stück erscheint wie eine mit Monologen und Dialogen durchsetzte „Erzählung“ (Mixner 1977, 106). Das Verhältnis der Vorarbeiten, die als Notizen zu Der Ritt über den Bodensee abgedruckt sind, zum Stück selbst bestätigt, dass das Experimentelle des Textes aus genauen Wahrnehmungen hervorgeht. Es sind Verzeichnisse von Beobachtungen, die sich denen vergleichen lassen, die Handke später im Gewicht der Welt, in der Geschichte des Bleistifts und den Phantasien der Wiederholung vorlegen wird. Damit zeigt sich schon früh am Beispiel eines dramatischen Textes eine Eigenart des Handkeschen Schreibens, die ursprünglich kaum beachtet wurde: Die Geschichten, welche die Texte vorstellen, sind zugleich Modellkonstruktionen und Raster, die einen Zusammenhang für authentische Beobachtungen und Reflexionen entwerfen. Fasst man die Eigenart dieser Transformation ins Auge, so wird zudem deutlich, dass der Ritt schon sehr entschieden auf theatralische Situationen hinarbeitet. Eine zweite Notiz lautet: „Eine Treppe, die den Gehrhythmus hemmt; eine Stapfe bricht ein“ (ST2 161). Im Stück wird diese Beobachtung in eine Spielszene verwandelt, welche die Beziehung von Sprache und Wirklichkeit im theatralischen Gag sinnfällig macht und zugleich in Frage stellt. Während Henny Porten langsam die Treppe auf der Bühne hinabschreitet, zählen George und Jannings. Als sie bei „sieben“ angelangt sind, hat Porten erst die sechste Stufe erreicht, sie „hält jetzt inne, als sollte sie abstürzen, läuft dann die Stufen zurück hinauf“. Beim zweiten Hinabschreiten zählen die beiden Schauspieler wiederum bis „sieben“ und irritieren Henny. „Es gab aber noch eine achte Stufe, und Henny Porten, die auf ebener Erde weitergehen wollte, stürzt taumelnd ab, strauchelt in den Raum hinein, ringt um Luft und läuft schnell wieder die Treppe hinauf, als sei sie zurückgestoßen worden“ (ST2 81). Beim dritten Versuch schließlich stützt Stroheim die Porten, George und Jannings aber zählen nunmehr weiter und bringen Stroheim und Porten wieder aus dem Konzept, „aber bei ‚neun‘ steigen sie noch eine Stufe herunter, die es nicht mehr gibt. Sie prallen heftig auf, gehen in die Knie, torkeln“ (ST2 82). So zeigen das Ineinanderwirken von Sprechen und Handeln wie die sprachliche Beeinflussung der Figuren in der theatralischen Szene, dass Sprache nicht nur eine schützende Decke über dem Unbewussten sein kann, sondern häufig auch dessen
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Einbruchsstelle in die bewusste Wahrnehmung. Das Unbewusste und die Sprache erweisen sich als symmetrisch. Genau auf diese dialektische Wechselbeziehung nehmen zwei Notizen zum Stück Bezug: „Jemand SPRICHT, und alles renkt sich wieder ein“ (ST2 177) und: „Zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem setzt die Traumdeutung ein“ (ST2 173).
3.3 Kaspar (1967) Es spricht einiges für die Annahme, dass Handkes Kaspar die Problematisierung des Theaters zur Voraussetzung hat, welche die Publikumsbeschimpfung und die anderen Sprechstücke praktisch umsetzen. Dabei greift er wieder auf eine traditionelle Theaterform zurück. Kaspar ist allerdings eine Theaterfigur, die erst im Verlauf des Stücks aufgebaut wird (Pütz 1982, 18) und deren Geschichte modellhaft die Problematik sozialer und linguistischer Erziehung vorstellt. Deshalb tritt an die Stelle einer Bewusstmachung der Beziehung zwischen Akteur und Publikum die Interaktion zwischen Kaspar und den „Einsagern“, die seine sprachliche Erziehung durchführen. Der Inhalt des Kaspar-Stücks greift auf ein historisch begründetes Ereignis zurück und hat gleichzeitig eine parabolische Struktur (Mixner 1977, 57). In vielen Motiven und Details bezieht es sich auf Anselm von Feuerbachs Studie über den historischen Kaspar Hauser, auf die authentische Geschichte des Nürnberger Findlings, die nicht nur zu politischen Spekulationen, sondern vor allem auch zu philosophischen und sprachphilosophischen Überlegungen Anlass gegeben hat. Kaspars erster Satz, mit dem er die Bühne betritt, ist eine Äußerung des historischen Kaspar Hauser. Die Formel „Ich möchte ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist“ steht am Beginn einer Erziehungsgeschichte, die der Autor aber nicht auf die Authentizität des historischen Falls bezogen wissen will, sondern als Paradigma dafür, „was MÖGLICH IST mit jemandem […] wie jemand durch Sprechen zum Sprechen gebracht werden kann. Das Stück könnte auch ‚Sprechfolterung‘ heißen“ (ST1 103). Die auf der Bühne vorgestellte Handlung besteht zunächst darin, dass Kaspar sein eigener und erster Satz von den „Einsagern“ ausgetrieben wird, bevor er ihn verstehen lernt. Zudem wird er ganz allgemein über die Möglichkeiten von Sätzen belehrt. Dies führt dazu, dass er, obwohl er sich gegen die zugesprochenen Sätze zu wehren versucht, nicht mehr in der Lage ist, seinen eigenen Satz zu behaupten. Im Verlauf der siebzehnten Szene, in der ihm dieser „ausgetrieben“ wird, erfährt Kaspar zugleich die Macht der Einsager als Ordnungsmacht. Dabei wird eine Ambivalenz deutlich. Einerseits scheint ihm das aufgezwungene Sprechen Verfügungsmacht über die Wirklichkeit zu geben: „Seit ich sprechen kann, kann ich mich ordnungsgemäß nach dem Schuhband bücken. Seit ich sprechen kann, kann ich alles in Ordnung bringen“ (ST1 126). Andererseits unterdrücken die Einsager Kaspars unmittelbare Regungen durch eine Summierung von Befehlen: „Stellen. Ordnen. Legen. Setzen. Legen. Stellen. Ordnen. Setzen“ (ST1 120).
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Die Äußerungen der Einsager kreisen dabei ausschließlich um den Begriff der Ordnung (Pütz 1982, 21). Die Szenen 19 und 20 scheinen zu bestätigen, dass der Neuaufbau des Sprechens unter dem Einfluss der Einsager nichts anderes als eine Anpassung ist, die einer Entindividualisierung gleichkommt. Seit du einen ordentlichen Satz sprechen kannst, beginnst du alles, was du wahrnimmst, mit diesem ordentlichen Satz zu vergleichen, so daß der Satz ein Beispiel wird. […] Du selber bist in Ordnung, wenn du von dir selber keine Geschichte mehr zu erzählen brauchst: du bist in Ordnung, wenn sich deine Geschichte von keiner andern Geschichte mehr unterscheidet: wenn kein Satz über dich mehr einen Gegensatz hervorruft. (ST1 127 f.)
Der Text suggeriert, dass sich der zum Sprechen Gebrachte ausweglos ins Sprechen verstrickt. Du m u ß t anfangen zu sprechen. Wenn du zu s p r e c h e n anfängst, wirst du zu d e n k e n anfangen, was du s p r i c h s t, auch wenn du etwas anderes d e n k e n w i l l s t. Sag, was du denkst. Sag, was du nicht denkst. Wenn du zu s p r e c h e n angefangen hast, wirst du d e n k e n, was du sagst. Du denkst, was du sagst, das heißt, du k a n n s t denken, was du sagst, das heißt, es ist g u t, daß du denkst, was du sagst, das heißt, du s o l l s t denken, was du sagst. (ST1 151)
Am Ende von Kaspars sprachlicher Sozialisation, die ihn mit vielen Satz- und Argumentationsmodellen vertraut macht, steht die lapidare Äußerung „Du bist aufgeknackt“ (ST1 154). Und als werde der endgültige Verlust der Individualität durch das Erlernen des Sprachsystems bezeugt – unterschiedliche eingelernte Sprachmaterialien unterstreichen dies (Mixner 1977, 62) – heißt es: „Du mußt ein Bild von dir werden“, Schein deiner selbst also (Mixner 1977, 63). In der Folge vervielfältigt sich Kaspar sogar. Sekundärkaspars treten neben ihm auf, zudem wird seine Stimme derjenigen der Einsager gleich (ST1 176). Die Sekundärkaspars begleiten Kaspars folgende „Ausbildung“, die darin besteht, im Spiel Erfahrungen zu machen, die körperlicher und sinnlicher Natur sind: Bewegungen, Schmerzen, Geräusche, Töne und Ausblicke werden erlernt. Diese Ausbildung mündet in eine erste ausführliche Selbstdarstellung Kaspars, in der er sich als erzogen und angepasst zeigt (ST1 164); später wird sie durch eine Sammlung von Vorschriften ergänzt, welche die Figur nach einer Rückbesinnung auf die eigene frühere, durch Sprach- und Begriffslosigkeit verursachte Unfähigkeit kundtut (ST1 182). Seine Äußerung „Ich bin zum Sprechen gebracht. Ich bin in die Wirklichkeit übergeführt“ (ST1 195), scheint zu bestätigen, dass die Sprache allein als Element der Konditionierung angesehen wird (vgl. Scharang ÜH 262 ff.). Der Pausentext generalisiert überdies, was Kaspar widerfährt, er setzt auch die Zuschauer einer Sprechfolterung aus. Die Betonung der Sprachproblematik hat einen formalistischen Aspekt, der Handke in die Nähe Wittgensteins bringt. Eine Äußerung der Einsager legt diesen Bezug nahe, sie hat Zitatcharakter: „Ein Tisch ist ein wahrer Tisch, wenn das Bild vom Tisch mit dem Tisch übereinstimmt: er ist noch kein wahrer Tisch, wenn zwar
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das Bild vom Tisch allein mit dem Tisch übereinstimmt, aber das Bild von Tisch u n d Stuhl zusammen nicht mit Tisch und Stuhl übereinstimmt“ (ST1 130). In der Tat entwickelt Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus einen ähnlichen Gesichtspunkt bei der Bestimmung des Zusammenhangs von Sätzen und Wirklichkeit (Wittgenstein TL 33; vgl. Savigny 1969, 15–40). Für Wittgenstein sind die einfachsten sichtbaren ontologischen Gebilde Gegenstände, für die jeweils eine Form festlegt, mit welchen anderen Gegenständen sie sich zu Sachverhalten verbinden können. Die Gesamtheit der Sachverhalte ist die Welt. Der Gedanke ist ein logisches Bild einer möglichen Sachlage, weil er eine mögliche Struktur der Wirklichkeit abbildet. Er kann wahres (existentes) oder falsches (nicht existentes) Bild sein. Die Gesamtheit der wahren Gedanken ist ein Bild der Welt, das durch Satzzeichen einen sinnlichen Ausdruck erhält. Diese Satzzeichen können Schallwellen, Schriftzeichen oder Ähnliches sein (Wittgenstein TL 20 f.). Der Satz selbst ist nichts anderes als das gedachte Satzzeichen zusammen mit dem Denken des Satzsinns. Weil der Gedanke die mögliche Struktur der Wirklichkeit abbildet, spiegelt sich diese im Satz wider. Die Sachverhalte werden durch Elementarsätze, die ihrerseits die Namen von Gegenständen sind, die komplexen Sachlagen aber durch logische Verknüpfungen von solchen abgebildet (Wittgenstein TL 49–55, 59). Eine Lektüre, die von dieser äußeren Übereinstimmung absieht, fördert jedoch eine entscheidende Differenz zu Tage. Wittgensteins Annahme, dass Sprache die Gesamtheit der sinnvollen Sätze sei, beruht auf eng umgrenzten Prämissen. Zum einen bezieht der Philosoph seine Überlegungen nur auf die Naturwissenschaft, nicht aber auf andere Wissenschaften, schon gar nicht auf die Philosophie (Wittgenstein TL 41, 115). Zum andern spitzen die Einsager Wittgensteins erkenntnistheoretischen Ansatz ideologisch zu, indem sie jede Wahrnehmung von Wirklichkeit als von den möglichen Formen sprachlicher Vermittlung abhängig darstellen. Nur deshalb können die Einsager die „in Ordnung Gebrachten“ auffordern, „nach für alle gültigen Sätzen“ zu suchen: „auch die andern sollen endlich wollen können, was sie selber jetzt wollen sollen können“ (ST1 175 f.). Bei Wittgenstein heißt es dagegen nur: „Daß die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, daß die Grenzen der Sprache (der Sprache, die allein ich verstehe) die Grenzen meiner Welt bedeuten“ (Wittgenstein TL 90). Kaspar selbst ist das Opfer einer ideologischen Engführung. Aus den Reden der Einsager begründet sich für ihn ein Phantasma der Verfügung: […] und jeden Gegenstand der mir unheimlich ist bezeichne ich als mein damit er aufhört mir unheimlich zu sein. (ST1 166)
An anderer Stelle heißt es lapidar: „alles ist mir zu Willen“ (ST1 180). Doch trotz dieser Phantasien beginnt Kaspar, sich gegen die Sprache, die Sprachtheorie und den Herrschaftsanspruch der Einsager zur Wehr zu setzen. Dies geschieht freilich nicht ausdrücklich, sondern im Verlauf einer allmählichen
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Bewusstwerdung. Kurz bevor Kaspar durch die zugesprochenen Sätze der Einsager „aufgeknackt“ ist, wird ihm seine Entwicklung selbst problematisch; er fragt nicht nur nach „vorher“ und „nachher“, er sucht auch die bedingenden Kausalitäten seines Lebens, doch seine Suche ist verwirrt. Er erkennt: Dadurch, daß ich bin, war ich gewesen. Dadurch, daß ich gewesen war, war ich. Ohne daß ich war, war ich gewesen. Ohne daß ich gewesen war, werde ich sein. Damit ich sein werde, war ich gewesen. Damit ich gewesen war, bin ich gewesen. Bevor ich gewesen bin, war ich gewesen. Bevor ich gewesen war, bin ich. (ST1 152)
Unter dem Druck der unlösbaren Frage nach der eigenen Herkunft und den Bedingungen der Sozialisation zieht sich Kaspar zwar zunächst auf den dreimal wiederholten Satz zurück „Ich bin der ich bin“. Doch in der Folge zeigt sich, dass er immer mehr Erkenntnisse über seine Psychogenese und Sozialisation erlangt, weil er sich zu erinnern beginnt. Es hat seinen Grund, dass die Einsager gerade dieses Erinnern durch Geräusche zu stören versuchen. Denn Kaspars Erinnerungen an sein früheres Verhalten ermöglichen ihm eine Analyse der sprachlichen Sozialisation, der er unterworfen wurde. Er ist jetzt in der Lage, seine Erfahrungen und Wahrnehmungen mit seinen sprachlichen Reaktionen zu vergleichen, und es wird ihm klar, dass es in diesem Vermittlungsprozess zentrale Bilder gibt. Nicht zufällig weist die Phantasie von Schnee, die sich jetzt einstellt, auch auf andere Texte Handkes; der Schnee ist offenkundig eine textstrukturierende ‚métaphore obsédante‘ (ST1 190; Mixner 1977, 70; FM 289, 428; Höller 2013, 164). Im Verlauf dieser Selbstreflexion kann der affirmative Satz „Ich bin der ich bin“ jetzt mit Erfahrungen verglichen und zugleich in Zweifel gestellt werden. Die Frage nach der eigenen Herkunft legt sich schließlich in zwei sich wiedersprechenden Sätzen auseinander: „ich habe mich selber noch erlebt: ich habe mich nie gesehen“ (ST1 196 f.). Kurz zuvor wird Kaspar bewusst, was mit ihm geschehen ist: „Schon mit meinem ersten Satz bin ich in die Falle gegangen“ (ST1 194). Dies bekommt seinen Sinn, wenn man sich klarmacht, dass sich bereits der erste Satz des Stücks „Ich möchte ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist“ nach der Vorlage der authentischen Kaspar Hauser Geschichte auf Hausers Vater bezieht, von dem er nur weiß, dass er ein Reiter war. So sind die sprachliche Ordnung, die familialen und sozialen Beziehungen unmittelbar miteinander verknüpft und auf einer unbewussten Ebene, ebenso wie auf der Ebene der Sprache und der Grammatik aufeinander bezogen. Von hier bekommt Handkes Äußerung, er habe im Kaspar einen „sprachlichen Mythos“ darstellen wollen, ihren Sinn. Offenkundig ist Kaspars Sprechfolterung als Modellfall auch ein Schaubild der Ontogenese, eine Darstellung des Aufbaus des Selbst. Der „sprachliche Mythos“ zielt nicht auf eine Mystifikation der Sprache. Wenn er von der Macht des Zugesprochenen handelt, entwirft er zugleich ein Modell, das die Sprachwerdung des Menschen zur Signatur eines ambivalenten Ereignisses der Psychogenese macht; es ist ein erzählter wissenschaftlicher Mythos, der sich mit dem wissenschaftlichen Mythos der Psychoanalyse vergleichen lässt.
3.3 Kaspar (1967)
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Dieser Sachverhalt ist für die Bewertung des Kaspartextes von Bedeutung. Es gilt zu unterscheiden zwischen den Passagen, in denen Kaspar die herrschende Ordnung und zugleich die Gesetze der Semantik, Pragmatik und Syntaktik (Weiss 1975, 449) durch Sprechen und Sprechenlernen anerzogen werden, etwa in den Sentenzen der Szene 62, und den Erinnerungen Kaspars in der gleichen Szene, die darauf weisen, dass die Ich-Konstitution das Sprechen einerseits voraussetzt, dass sie andererseits durch dieses problematisch wird, weil in der Erziehung durch Sprache die Individualität der Erzogenen vernichtet werden kann (Pütz 1982, 24). Allein die Sprache zieht Grenzen, korrigiert das kindliche vorsprachliche Weltbild, an das sich Kaspar rückblickend erinnert: Das Lärmen und das Geschrei a u ß e n hielt ich für ein Sausen und Kollern i n n e n in meinen Gedärmen: ich mußte darunter leiden daß ich nichts unterscheiden konnte […]. (ST1 178)
Zugleich bewahrt die Sprache das Bedürfnis nach dem Verlorenen, das unbewusste Wünschen, das durch leidvolle Erfahrungen erdrückt ist. Ich kam zur Welt nicht nach der Uhr sondern weil die Schmerzen beim Fallen mir halfen einen Keil zwischen mich und die Gegenstände zu schieben und mein Lallen endlich auszumerzen: so hat das Wehtun mir die Verwechslungen schließlich ausgetrieben. Ich lernte alles was leer war mit Wörtern zu füllen und lernte wer wer war und alles was schrie mit Sätzen zu stillen kein leerer Topf verwirrt mehr meinen Kopf […]. (ST1 179 f.)
Der sprachliche Mythos des Kaspar-Stücks erzählt von diesem Zusammenhang der Sprache mit dem Unbewussten. Er legt klar, dass die Sprache nicht nur Instrument der Anpassung, sondern auch letztes Residuum eines Widerstands gegen den Anpassungsdruck von Sozialisation, gegen die herrschenden Diskurse und die Diskurse der Herrschenden werden kann.
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3 Experiment und Entwurf: Stücke, Prosaarbeiten und Hörspiele
Diese Sprache des Widerstands widersteht von Anfang an den Sätzen der Einsager, sie bringt sich an drei Stellen des Textes zur Geltung. Unmittelbar nach seiner affirmativen Wendung „Ich bin, der ich bin“ und kurz bevor Kaspar „aufgeknackt“ ist, spricht er den scheinbar sinnlosen Satz: „Warum fliegen da lauter so schwarze Würmer herum?“ (ST1 152). Kaspars erinnernde Selbstreflexion wird – so scheint es hier – nur möglich, nachdem er sich mit der Äußerung „jeder Satz ist für die Katz“ vorübergehend dem Einfluss der Einsager und ihrer Verpflichtung auf eine zweckgerichtete Sprache entzogen hat (ST1 188; Mixner 1977, 70). Am Ende schließlich behauptet er sich mit der befremdlichen Wendung „Ziegen und Affen“ als einsamer Sprecher (ST1 197 f.); diese Formel ersetzt den Schluss der früheren Fassungen „Ich bin: nur zufällig: Ich“. Der erste und der letzte dieser Gegen-Sätze Kaspars gehören der poetischen Sprache an (Mixner 1977, 67), es handelt sich um Zitate aus Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ und aus Shakespeares „Othello“ (Durzak 1982, 104). Dass jeder Satz „für die Katz“ sei, ist zudem die poetische Erweiterung einer Sentenz. Hier wie dort berühren die poetischen Bilder, die sich bewussten Erfahrungen wie den zugesprochenen Erfahrungssätzen der Einsager entgegenstellen, Erinnerungen an einen Zustand, welcher der kulturalen Sozialisation und der sprachlichen Anpassung vorausgeht. Der „sprachliche Mythos“ ist zugleich der Traum vom verlorenen Unbewussten, das in Sprache nicht nur verdeckt und verstellt, sondern auch aufbewahrt und zitiert wird. Gerade deshalb schlägt der Kaspar-Text eine Brücke von der Sprachkritik der frühen Sprechstücke Handkes zu den späteren poetischen Entwürfen, welche die „begriffsauflösende“ Kraft des Poetischen, von der Handke schon in seinen programmatischen Aufsätzen handelt, bezeugen und abbilden.
3.4 Die Unvernünftigen sterben aus (1973) Das Stück Die Unvernünftigen sterben aus ist, anders als die frühen Sprechstücke, wieder einer theatralischen Darstellung von Wirklichkeit verpflichtet. Es behandelt die Geschichte des Unternehmers Quitt, der sich im Wirtschaftsleben behauptet, weil er sich nicht an die Kartellabsprache seiner Konkurrenten hält. Doch obwohl er diese aussticht, begeht er schließlich Selbstmord, indem er mit dem Kopf mehrmals gegen einen Felsquader anrennt. Die klare Handlungszeichnung und die bühnenwirksame Zuspitzung der Geschichte verleiten dazu, die Geschichte von Quitt als Lehrstück über die Themen Kapitalismus und Selbstentfremdung im kapitalistischen Wirtschaftssystem zu deuten; auch der enge Kreis von handelnden Personen unterstützt dies durchaus. Neben Quitt und seinen Konkurrenten treten seine Frau, sein Diener Hans und der Kleinaktionär Kilb auf. Zudem steht die Darstellung der Figur des Quitt in einer literarischen Tradition, weil sie nicht einfach kritisch beleuchtet wird, sondern zugleich Ansatzpunkte zur Identifikation gibt (Nägele/Voris 1978, 92). Die Sensibilität, welche die Hauptfigur zeigt, aber auch ihr Verhältnis zur Dienerfigur, die den Protagonisten einerseits verachtet,
3.4 Die Unvernünftigen sterben aus (1973)
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andererseits bewundert, stehen dabei durchaus in der Tradition der klassizistischen Tragödie. Trotz der thematischen Enge des Stücks wird durch diese ambivalente Darstellung der Hauptfigur die unmittelbar politische Aussage entschärft. Handkes Selbstäußerungen lassen erkennen, dass dies durchaus bewusst geschieht. In einem Gespräch über das Stück führt er aus: so wie früher in den Shakespeareschen Dramen die Tragödien aus der Verzweiflung der Helden über Verrat, aus gekränkter Liebe und aus Entmachtung usw. entstanden sind, könnte man das auch auf die Wirtschaft übertragen, wo eine Absprache gebrochen wird wie früher in diesen Dramen, wenn ein Verrat geschehen ist. (Durzak 1976, 320)
Dass die Geschichte Quitts auf die Darstellung eines exemplarischen Falls deutet, der über den gesellschaftlichen und historischen Rahmen, den das Stück entwirft, hinausgeht, bestätigt eine Äußerung des Protagonisten, der seinem Diener ein Gefühl schildert, das einen scheinbar beliebigen Auslöser hat: Ich sah meine Frau im Morgenmantel und ihre lackierten Zehen und fühlte mich plötzlich einsam. Es war eine so sachliche Einsamkeit, daß ich jetzt ganz selbstverständlich davon reden kann. Sie erleichterte mich, ich verkrümelte, schmolz in ihr weg. Die Einsamkeit war objektiv, eine Eigenschaft der Welt, keine Eigenheit von mir. Alles stand von mir abgewendet, in einer sanften Harmonie. (U 7)
Diese Verkoppelung einer standardisierten Alltagssituation mit der subjektiven Wahrnehmung von Wirklichkeit inszeniert, was Voraussetzung des Textes selbst ist. Ebenfalls im Interview führt Handke aus: „Es würde mich nicht interessieren, etwas rein in der Außenwelt Beobachtetes in Poesie zu bringen, sondern irgendwie müssen meine eigenen Geschichten und Verschlingungen hinzu kommen, sonst wäre es etwas Plakatives“ (Durzak 1976, 320; Mixner 1977, 90). Diese Zuspitzung des Vorgegebenen verleiht dem Text eine grundsätzliche Doppelbödigkeit. Er handelt von einer als wirklich dargestellten Situation und er reproduziert zugleich eine autobiographische Konstellation. Es spricht einiges dafür, dass in Quitts vermeintlich klar umrissene Lebenssituation ein Lebensgefühl des Autors eingeht. An seiner Geschichte wird ein Gefühlszustand demonstriert und dargestellt, so wie Quitt die eigenen Gefühle in dem Maß klar werden, wie er sich selbst einer erzählten poetischen Wirklichkeit gegenüber sieht, dem kurzen Inhaltsresümee aus Stifters Hagestolz, das ihm sein Diener vorliest. Zunächst schildert die Geschichte des Unternehmers eine Entfremdung von Bedürfnissen, sie zeigt Sachzwänge, gesellschaftliche Normen und herrschende Diskurse, denen gegenüber Quitts Beharren auf einem individuellen Lebensgefühl ihn als Fossil einer anderen Zeit erscheinen lässt; er verfolgt ein Ideal der Selbstverwirklichung, sein Handeln ist eine emphatische Ichbetonung (Gabriel 1983, 159), der die Zwänge des Kartells entgegenstehen. Daran ändert der Sachverhalt nichts, dass sowohl der Diener Hans als auch die Konkurrenten ihn gerade deshalb bewundern (U 57).
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3 Experiment und Entwurf: Stücke, Prosaarbeiten und Hörspiele Ich werde mich nicht an die Absprache halten. Ich werde ihre Preise ruinieren und sie selber dazu. Ich werde mein altmodisches Ich-Gefühl als Produktivmittel einsetzen. Ich habe noch nichts von mir gehabt, Hans. Und sie werden sich mit kalten Händen die heißen Köpfe kühlen. Und dann werden auch die Köpfe kalt werden. Es wird eine Tragödie sein. Eine Tragödie aus dem Geschäftsleben, in der ich der Überlebende sein werde. (U 54)
Quitts Versuch der Selbstverwirklichung unterliegt freilich dem gleichen Gesetz wie die Sprachwerdung Kaspars. In dem Maß, wie er ganz er selbst zu werden versucht, benutzt er die Gesetze und Normen des Wirtschaftssystems. Zugleich wird ihm bewusst, dass diese Form der Selbstverwirklichung das herrschende System stärkt; allein die Verweigerung oder der anarchische Verstoß gegen die geltende Norm können diesem entgegenarbeiten (dazu Mixner 1977, 193). Es ist deshalb folgerichtig, dass Quitts Bemühen, ein „Höchstmaß an subjektiver Autonomie“ (Mixner 1977, 197) zu erreichen, ihn zu einer Sympathie für die Sprachlosen führt (Mixner 1977, 194) und dass sein Selbstmord im Anrennen gegen einen Felsquader erfolgt, dem die Gesetze des Bestehenden eingeschrieben sind: „Unsere größte Sünde – Die Ungeduld der Begriffe“ und „Das Schlimmste ist überstanden – Die letzte Hoffnung“ (U 56). Diese Inschriften weisen nicht nur auf die Abtötung des Wunsches im Verlauf der Sozialisation, sie zeigen auch, dass die Sprache und die Begriffe einem System angehören, welches das Wünschen unterdrückt und im selben Zug vor dem Wünschen schützt. In dieser Hinsicht nimmt das Stück die Problematik auf, die im Ritt über den Bodensee entwickelt ist, zugleich verleiht es dieser eine psychologische Kontur. Sie bindet sie an das Lebensgefühl einer Figur, die in einem Erfahrungsfeld steht, das sich dem der Protagonisten im Kurzen Brief vergleichen lässt. Darüber hinaus wird die Situation einer Entfremdung skizziert, wie sie später die Stunde der wahren Empfindung erzählt. Für diese Überblendung der experimentellen Situation des Kaspar, der formalistischen der Sprechstücke und schließlich der inhaltlichen Problematik der späteren Romane ist eine Szene paradigmatisch, die zur autobiographischen Inschrift des Dramas hinführt. Die Szene steckt die Problemfelder früherer Texte ab und führt sie zugleich pointierend weiter. An ihrem Beginn steht die gestische Demonstration der Entfremdung, in der alle Beziehungen zwischen Personen auf Tauschbeziehungen, auf den Austausch von Geld bezogen sind. Allein eine Figur wehrt sich gegen die eingespielten Verhaltensweisen, die nur die bestehenden Herrschaftsverhältnisse sanktionieren und bekräftigen. Quitt versucht, Hans ein Geldstück zu geben, doch dieser zieht seine immer wieder ausgestreckte Hand stets zurück, bevor ihm Quitt das Geldstück übereignen kann. Diese Spielsituation weist einerseits auf die eingespielten gesellschaftlichen Mechanismen, andererseits auf die Rollenexistenz des Quitt. Noch in seiner Selbstbehauptung, die sein Diener Hans poetisch, weil unbedingt nennt (U 58), weiß er sich sozialen Handlungsnormen unterworfen, die das herrschende System einfordert. Daraus begründet sich nicht nur der Eindruck einer ständigen Wiederholung des Sinnlosen, sondern zugleich das Gefühl einer kreatürlichen Selbstentfremdung.
3.4 Die Unvernünftigen sterben aus (1973)
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Bewusst wird dies Quitt selbst in einem Augenblick, in dem er einen „langsamen traurigen Blues“ (U 62) zu spielen beginnt und dazu singt: Manchmal wachte ich auf in der Nacht und alles was ich für den nächsten Tag wollte kam mir so lächerlich vor Wie lächerlich das Hemd zuzuknöpfen Wie lächerlich euch in die Augen zu schauen […] Manchmal lag ich wach und alles was ich mir vorstellte macht mir alles nur noch unvorstellbarer […] Bleibt alle weg von mir Es ist die Zeit nach meinem Tod und was ich mir gerade seufzend als Leben vorstellte sind nur jene Blasen auf meinem Körper welche seufzen wenn sie platzen. (U 62 f.)
Auch im Kurzen Brief ist der Blues ein narrativer Mythos, der individuelle und kollektive Geschichte und Erfahrungen aufeinander bezieht, und zugleich ein Schema entwirft, „innerhalb dessen ein Spielraum für Improvisation besteht“ (Bartmann 1984, 88). Im Drama markiert er eine Bruchstelle, an der sich das individuelle Wünschen Quitts zur Geltung bringt; er ist aber auch ein Versuch, die Entfremdung, von der er berichtet, durch Phantasie und Imagination zu überwinden. Von Anfang an versucht Quitt, mit Hilfe seines „Bluesgefühls“ (U 14) wieder seine Träume von früher zu erreichen. Unversehens wird das gesellschaftliche Drama des kapitalistischen Unternehmers zum Psychodrama von der Unterdrückung der Phantasie im Verlauf der Sozialisation. Es kommt die Zeit der Begriffsmaschinen, und es wird nichts Unbedachtes mehr geben. Auch die Fehlleistungen aus dem Unterbewußtsein sind ja schon eine Methode des Managements. Selbst die Träume träumen sich von vornherein so, daß sie auslegbar sind. Ich träume zum Beispiel überhaupt nichts Sprachloses mehr, und die Bilder dazu laufen so logisch ab wie ein Tageslauf nach dem Terminkalender. Am Morgen wache ich auf und kann mich nicht bewegen von all den Reden, die ich im Traum geführt habe. Es gibt kein ‚Und auf einmal‘ mehr wie in den Träumen von früher. […] Oh schade… es ist die Zeit der Sachzwänge, der Prioritäten, der Dringlichkeitsstufen für die Bedürfnisse. (U 94)
Der Verlust der Phantasie führt wie in anderen Texten Handkes zu einem Rückfall ins kreatürliche Empfinden: „Jetzt bin ich nur noch schwer und wund und plump von mir selber“ (U 98). Auch diese Empfindungen des Kreatürlichen, bis hin zu Quitts „Todesgefühl“ (U 44), sein Endzeitgefühl (U 93), weisen auf die geheime Geschichte vom verlorenen Selbst, die sich in Handkes Stücken und Texten immer deutlicher zu konturieren beginnt. Wie im Kurzen Brief wird dem Protagonisten der Unvernünftigen die eigene Situation in dem Augenblick bewusst, in dem er seine eigene Erfahrung mit einer anderen historischen, aber ebenfalls literarischen vergleicht. Auch insofern ähnelt er Kaspar, dessen unbestimmtes Verlangen nach Identität damit beginnt, dass er sich zu werden wünscht, wie einmal ein anderer gewesen ist. An zwei Stellen
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3 Experiment und Entwurf: Stücke, Prosaarbeiten und Hörspiele
des Stückes lässt sich dies demonstrieren, beide gehen von Stifter-Zitaten aus. So bekommt Quitts Satz „Erst mit dem Erzählen fallen mir meine Erfahrungen ein“ (U 95) einen Doppelsinn. Er bezieht sich nicht nur auf sein eigenes Erzählen, das Erinnerungen freisetzt, sondern auch auf das Erzählen bereits literarisch geformter Erfahrungen, die als Kontrast zur eigenen Wirklichkeitserfahrung dienen. Damit vollzieht das Stück Die Unvernünftigen sterben aus eine Wende, die sich der vergleichen lässt, die sich im Erzählgestus des Wunschlosen Unglücks und des Kurzen Brief feststellen lässt. Die literarischen Muster verdecken nicht nur das Eigene und Persönliche, vielmehr wird gerade im Fremden das Eigene und Authentische erkennbar. Die scheinhafte Existenz Quitts, der Zwang zur Rollenexistenz, macht frei für eine Erfahrung des Imaginären, die sich dem Bestehenden widersetzt. Quitts Wunsch, „pathetisch“ zu sein, ist ein Versuch, sich der imaginativen Kraft der poetischen Sprache und der spielerischen Aneignung von Wirklichkeit wie der spielerischen Bewältigung von Lebenssituationen zu versichern. Doch zugleich wird Quitt das Uneinholbare und Abgelebte seines Rückbezugs klar. Bereits in Stifters Text erkennt er den Versuch, eine verlorene Lebenssituation zu rekonstruieren. Damals, im 19. Jahrhundert, auch wenn man gar keine Weltgefühle mehr hatte, gab es doch wenigstens noch eine Erinnerung daran und eine Sehnsucht. Deswegen konnte man die nachspielen und spielte sie den andern vor, wie zum Beispiel in dieser Geschichte. Und weil man sie so ernst und geduldig und gewissenhaft wie ein Restaurateur, Stifter war ja ein Restaurateur, nachspielte, stellten sich die Gefühle auch wirklich ein, vielleicht. Immerhin glaubte man, daß es das gab, was man spielte, oder daß es möglich war. (U 53)
Doch Quitt wird auch bewusst, dass er etwas zu spielen versucht, das es gar nicht mehr gibt (U 54). Die Restauration des Vergangenen gelingt nicht mehr. Schon Kilb erkennt, dass Geistesabwesenheit zu keinen Rekonstruktionen mehr führen kann, entsprechend deutet er Quitts geistesabwesenden Blick in die Natur: „[…] Naturbetrachtungen [sind] nach meiner Erfahrung schon das erste Zeichen für ein Nachlassen des Wirklichkeitssinns“ (U 15). Dieser Linie folgt später der Unternehmer v. Wullnow. Er, der von Anfang an eine gute alte Zeit ohne soziale Probleme beschwört und dabei doch nur immer wieder die bestehenden Herrschaftsverhältnisse verklärt (U 20, 34), spricht davon, dass ihn die „Wahrnehmung der Natur“ selbstbewusst gemacht habe, und er beklagt, dass das Naturgefühl heute entweder als „Rückzug in die Kinderwelt“ abgetan werde oder nur noch vermittels der „Fata Morgana der Zivilisation“ ertragen werden könne (U 72). Dabei zitiert er fast wörtlich eine Stelle aus Stifters autobiographischer Skizze in den „nachgelassenen Blättern“: Dunkle Flecken in mir als das einzig Undefinierte. Dann platzte die Blase, und die dunklen Flecken in mir entfalteten sich als die Wälder a u ß e r h a l b von mir. Da erst fing ich an, auch mich zu definieren: nicht die Zivilisation von Haus und Straße, sondern die Natur machte mich auf mich aufmerksam – indem sie mich auf sich aufmerksam machte. (U 71 f.; Stifter 1954, 601–605)
3.5 Begrüßung des Aufsichtsrats (1967)
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Der Rückgriff auf Stifter ist zugleich die Rekonstruktion einer imaginären Beziehung zur Wirklichkeit, die zwar alle Empfindungen in Raumbilder umsetzt, aber noch keine Unterscheidung zwischen innen und außen kennt. Sie zeichnet eine frühe Stufe der Psychogenese nach, wenn sie den symbiotischen Zustand skizziert, der das Ich bestimmt, bevor es zum Selbst wird, indem es in die symbolische Beziehung der Sprache eintritt. So führt Quitts literarisch und poetisch vermittelte Regression genau an den Punkt zurück, den Kaspar erreicht. Dieses Regredieren des Bewusstseins wird durch die Regieanweisung bestätigt: Im Bühnenlicht erscheinen am Ende des Stücks Gegenstände und Schlangen, Chiffren für Bilder des Bewusstseins (Mixner 1977, 198). Die Stummheit der Objekte belegt, dass die Subjekte sich dann selbst auslöschen wollen, wenn sie das erreichte Selbstbewusstsein ihre Entfremdung erkennen lässt.
3.5 Begrüßung des Aufsichtsrats (1967) Die frühen Prosaarbeiten, die in dem Sammelband Die Begrüßung des Aufsichtsrats vorliegen, dessen überarbeitete Fassung durch die 1967 entstandene Erzählung Der Einbruch eines Holzfällers in eine friedliche Familie ergänzt wurde, lesen sich wie Vorübungen zu den Romanen, mit denen sie teilweise unmittelbar, wie etwa das Prosastück Die Überschwemmung, das Teil der Hornissen wurde, oder mittelbar, wie die Stücke Der Hausierer und die Hornissen, verzahnt sind. Inhaltlich und formal zusammengehörig erscheinen diese Prosaarbeiten durch ihren Versuch, bestimmte und jeweils genau festgelegte Redeweisen, Beschreibungszusammenhänge, Erzählsituationen und Bewusstseinszustände abzubilden und klarzulegen, wie diese in der Lage sind, eine objektive Beschreibung von Wirklichkeit zu erreichen, oder in welchem Maß sie diese verfehlen. Schon der erste Text, der dem Sammelband seinen Namen gibt, entwirft eine Situation und Redeform, die konkrete Erwartungen und Assoziationen weckt, zugleich zerstört er diese systematisch. Nicht nur erweist sich die Formel, es „knistere verdächtig im Gebälk“ in der Tat als Metapher für den tatsächlichen Zustand der Gesellschaft, deren Aufsichtsrat begrüßt werden soll (BA 9). Die formelhafte Rede des unbekannten Sprechers ist zudem durchsetzt von Bemerkungen, die auf ein Unglück, auf den tödlichen Unfall eines Jungen ebenso weisen wie auf eine fast absurde Szenerie: Die Aufsichtsratsmitglieder finden sich in einem fast verfallenen einsamen Haus im Wald zusammen, das unbeheizt ist, weder über Türen noch Fenster verfügt und am Ende offenbar tatsächlich zusammenbricht und die Rede des Sprechers enden lässt. Was in dieser Geschichte durch eine Parallelität von erzählter Rede und Handlung angedeutet wird, wobei der Einsturz des Gebäudes allein durch das plötzliche Ende der Rede vermutet werden muss, erreichen andere Geschichten durch eine Perspektivierung von Wahrnehmungen. In Der Einbruch eines Holzfällers in eine friedliche Familie (BA 118–124) wird der Berichterstatter, der ein Kind ist und gleichwohl in langen hypotaktischen Fügungen die Ermordung seiner
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3 Experiment und Entwurf: Stücke, Prosaarbeiten und Hörspiele
Familie schildert, schließlich selbst das letzte Opfer des Holzfällers, dessen wütendes Treiben gegen die Familie und den Vater er offenkundig nicht ohne unbewusste Lust beobachtet hat. So endet die Geschichte auch hier mit dem Tod des Berichterstatters. In Sacramento wird der Western Ride the High Country aus der Perspektive einer erfundenen Figur erzählt, die am Ort der Handlung schließlich, wie ein Pferd angepflockt, den letzten show down erlebt (BA 82 f.). In Die Hornissen ist der halluzinatorische und von Erinnerungen an die sexuellen Gewaltausübungen des Vaters durchsetzte innere Monolog eines Kranken in die Rede einer Frau im Nebenzimmer eingeschoben; in Die Überschwemmung beschreibt der Ich-Erzähler seinem offenbar blinden Bruder eine Situation, hinter der dieser wie auch der Leser eine Katastrophe vermuten muss, ohne dass irgendetwas Verlässliches über eine wirkliche Überschwemmung berichtet wird. Ähnlich unsicher bleibt der Leser in Hinblick auf den Wahrheitsgehalt des Berichteten, das in Über den Tod eines Fremden geschildert wird. Denn das Geschehen wird doppelperspektivisch erzählt, weil der Ich-Erzähler der Geschichte allmählich über ihren Wahrheitsgehalt nachzudenken beginnt; seine reflexiven Exkurse werden als kursiv gedruckte Einschübe im erzählten Text wiedergegeben. Auch die ineinandergeschobenen zwei Ich-Perspektiven des Textes Das Feuer geben keinen Anhaltspunkt dafür, welche der dargestellten Situationen der Wirklichkeit entspricht und welche bloß phantasiert ist, ebenso wenig wird klar, ob es außerhalb des Erzählten überhaupt ein zu berichtendes Ereignis gibt. Einige Texte dieses Sammelbands weisen im Gestus der Sprachkritik und Sprachreflexion auf die Differenz von Sprache und Wirklichkeit, juristischer Formel und tatsächlichem Geschehen. Prüfungsfragen, Der Augenzeugenbericht, aber auch die verfremdende Lebensbeschreibung von Jesus Christus und schließlich der Text Das Standrecht geben dafür ein Beispiel. Die Problemstellung dieser Erzählungen hat Handke mit Blick auf den Text des Standrechts in seinem Aufsatz Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms programmatisch abgehandelt. Vor einigen Jahren fand ich in einem Strafgesetzbuch das Gesetz über das Standrecht. Darin wurde in der Form von Paragraphen festgesetzt, unter welchen Voraussetzungen das Standrecht über ein Gebiet zu verhängen sei, wie das Gericht sich zusammenzusetzen habe, wie es vorzugehen habe, welche Rechtsmittel dem Angeklagten zustünden, welche Strafe im Standrecht verhängt werde […]. Die abstrahierende Form der Darstellung eines ritualisierten Sterbens nahm mich gefangen. Die Folgerichtigkeit der Sätze, die im Grunde immer Bedingungssätze für eine konkrete zu denkende Wirklichkeit waren, das heißt, anzuwenden, wenn der in ihnen angegebene Tatbestand in der Wirklichkeit zutraf, erschien mir äußerst bedrohlich und beklemmend. Die abstrakten Sätze, die von keinem konkreten Sterben erzählten, zeigten mir trotzdem eine neue Möglichkeit, die Phänomene des Sterbens und des Todes zu sehen. Sie änderten meine früheren Denkgewohnheiten über die literarische Darstellung von Sterben und Tod, sie änderten überhaupt meine Denkgewohnheiten über Sterben und Tod. (E 22 f.)
Charakteristisch für diesen und andere Texte ist auch die Tendenz, die Grenze zwischen Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit, Erzähltem und Phantasiertem bewusst zu verwischen. Damit erzeugt die Perspektive der Figuren eine Entscheidungsunsicherheit des Lesers über den Wahrheitsgehalt des Erzählten, die sie der phantastischen Literatur annähert (Jacquemin 1975, 46).
3.5 Begrüßung des Aufsichtsrats (1967)
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In der Erzählung Der Galgenbaum wird zunächst der Western The Hanging Tree mit Gary Cooper nacherzählt, dann entfernt sich die Erzählung vom Filmablauf. Im Muster eines trivialen Handlungsschemas und wie eine Fortsetzung der ursprünglich angefangenen Geschichte wird das Geschehen schließlich ins Monströse verzerrt. Dies geschieht nicht nur in der Beschreibung des mehrfachen Aufhängens von Cooper durch die aufgebrachte Menge, sondern auch dadurch, dass das Bewusstsein einer Figur das Handlungsgesetz des Films wiederzugeben scheint. Der Rädelsführer der Lynchenden weist die am Wagen, die über die Schultern gierig den erschlaffenden Mann betrachten, an, den Wagen zurückzustoßen, ihn, obwohl er schon tot ist, noch einmal aufs Brett zu stellen und sogleich, mit dem wegzurammenden Wagen, noch einmal zu hängen; aus dem Drang, zwischen den Vorgängen eine Einheit und einen Einklang zu schaffen, ordnet er zuletzt an, den Strick von dem Ast zu lösen, den herabgeplumpsten Mann auf den Wagen zu laden und sodann den Mann samt dem Gefährt, den Strick dazu, die Böschung hinunter und über den Felskopf ins brennende Dorf zu befördern. Das geschieht auch. (BA 60)
Mit dieser Wendung weist Handkes Erzählen auf eine Nahtstelle von Fiktion und Wirklichkeit, wie sie auch das „gleitende Paradox“ (Neumann) von Kafkas Erzählen markiert. Dieser zeigt in dem Text Von den Gleichnissen, wie Fiktion die Wirklichkeit bestimmen kann; diese Parallele zwischen den Zuständen des Bewusstseins, den Phantasien des Imaginären und den Gesetzen der Fiktion wird in der Folge in Handkes Texten immer wieder variiert. Während im Galgenbaum eine erfundene Person denkt, als habe sie nur die Aufgabe, die Erzählsequenzen des Filmes zu erfüllen, unternimmt die Erzählung Die Reden und Handlungen des Vaters im Maisfeld den Versuch, beim Leser aus der erzählten „Voranzeige eines Films“, in der Bildsequenzen, Einstellungen und der Kommentar eines Sprechers aneinandergereiht werden, eine Phantasie von der wirklichen Filmhandlung entstehen zu lassen (BA 69–76). Während in diesen Texten die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, aber auch zwischen der Fiktion und der Fiktion in der Fiktion schwindet, ist in Das Umfallen der Kegel von einer bäuerlichen Kegelbahn die als authentisch berichtete Wirklichkeit selbst brüchig. Am Ende dieses Berichts über den Ausflug zweier Österreicher nach Ostberlin steht eine Traumsituation, die einem Text Kafkas entstammen könnte: Als die Straßenbahn gekommen war, waren sie, indem sie der Frau draußen noch einmal zuwinkten, schnell eingestiegen, um noch rechtzeitig den Bahnhof Friedrichstraße zu erreichen. Zu spät bemerkte der Student, daß sie gar nicht eingestiegen waren. (BA 137)
Es hat seinen Sinn, dass Handke in der Erzählung Der Prozeß (für Franz K.) Kafkas gleichnamigen Roman nacherzählt. Sein Text weist hier nicht nur darauf, wie die Nacherzählung eines Textes das Bewusstsein von Lesern und Schreibern prägt. Die erzählend wiederholte Geschichte Kafkas schildert zugleich emotionale Erfahrungen, die im Werk Handkes immer wieder beschrieben werden
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3 Experiment und Entwurf: Stücke, Prosaarbeiten und Hörspiele
(dazu Mixner 1977, 52). Der Text der Hornissen-Erzählung zeigt, dass diesen Empfindungen und Wahrnehmungen jeweils bestimmte Bilder zugeordnet werden, die Blindheit, der Schnee, der Traum, die immer wieder Texte und erzählte Zusammenhänge strukturieren. Zudem erweist sich das Leitmotiv der Hornissen als ein Phantasma, das sehr eng mit den vielen bedrohlichen Konfigurationen des Vaters und männlicher Gewalt zusammenhängt, die das Werk Handkes durchziehen. Die Szene, in welcher der Erzähler seinem Vater folgt, der sich mit bloßen Füßen eine Spur durch die Hornissen bahnt, zeigt sich als eine lebensbestimmende Phantasie von Vaterallmacht, die der Erzähler immer wieder im Schreiben zu überwinden sucht. Sie ließe sich als Motto des Schreibens betrachten, zumindest markiert sie eine Spur, der dieses folgt: „die tiefen Spuren die er machte mit den tiefen Schuhen bis wir zu ihr kamen in dem Gebüsch die tiefen Spuren die er macht durch die wir gehen während wir schauen während wir jammern während ich in die Fußstapfen meines Vaters trete“ (BA 27).
3.6 Wind und Meer. Vier Hörspiele (1970) Die Hörspiele Handkes folgen dem Gestus der Sprechstücke und greifen auf die Perspektivierung von Erzählsituationen zurück, welche die frühen Prosaarbeiten entwerfen. Dabei nehmen insbesondere das elf Minuten dauernde Hörspiel Wind und Meer und das Geräusch eines Geräuschs ihren Gattungsnamen wörtlich: Sie beschränken sich auf eine Folge genau bestimmter Geräusche und Redefetzen, die in keinem erkennbaren Zusammenhang stehen. Diese Radikalität, die für Handke zentrale Bedeutung hat, steht übrigens in Zusammenhang mit einer sprachexperimentell orientierten Wiederbelebung des Genres Hörspiel gegen Ende der sechziger Jahre (Nägele/Voris 1978, 97). Geräusch eines Geräusches ist mir persönlich fast das liebste Hörspiel, weil es den Hörer ganz frei läßt, ihm überhaupt keine Bedeutung sagt, weil es wirklich nur ganz konstruktivistisch mit Elementen von Stimmung und Traum arbeitet und weil ich mich darin völlig von diesen Hörspielen mit Sprecherstimmen befreit habe, die mir eigentlich alle Hörspiele zuwider machen. (Mixner 1977, 93)
Allerdings bewahrheitet sich auch an den Hörspielen, was für einige der Regieanweisungen in den Sprechstücken gilt: Was der Text über die einzelnen zu sendenden Geräusche bestimmt, kann zwar akustisch dargestellt, wohl aber nicht hörend erkannt werden. Insofern sind diese Hörspiele in der Tat Hör-Spiele, die Assoziationen freisetzen und Bewusstseinsreflexe auslösen, die frei, aber keineswegs vorhersehbar sind. Demgegenüber demonstriert das Hörspiel, wie aus einer Befragung, die eine Tat vermuten lässt, zu welcher der Gefragte verhört wird, ein Verhör-Spiel wird, in dessen Verlauf sich der Verhörte zur Wehr setzt, indem er das eingeübte Redemuster stört. Er verändert das Spiel von Frage und Antwort durch scheinbar zusammenhanglose Äußerungen, durch Missverstehen und schließlich durch
3.7 Die offenen Geheimnisse der Technokratie (1974)
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die einfache Wiederholung der ihm gestellten Fragen. Am Ende redet er wie der Befrager selbst. Insofern mündet dieses Stück in der Tat in ein „‚Herauskitzeln‘, ‚Ausquetschen‘, ‚Weichmachen‘, ‚Leermachen‘, schließlich (in ein) ‚Zum-Schweigen-Bringen‘“ ein (Thuswaldner 1976, 14). Mit dem Durchspielen einer vorgegebenen und standardisierten kommunikativen Situation wird diese zugleich zerstört. Das Verhör des Hörspiels, das in engem Zusammenhang mit dem Sprachexperiment des Hausierers steht, beschränkt sich allerdings nicht wie dieser auf die Darstellung vorgegebener Berichts- und Redeformen und die Demonstration der Versatzstücke von Frage und Antwort im Verhörspiel. Seine radikale Reduzierung der Formen von Rede und Antwort auf das Akustische nähert sich einer Technik an, die in Quodlibet als Verfahren eines assoziativen Nichtverstehens auf die Bühne gebracht wird. Das Hörspiel Nr. 2 praktiziert ähnliches. Es zerlegt nicht nur Kommunikation in ein Netz von Sätzen, Worten und Redefetzen, es beschreibt auch eine kommunikative Situation, in der die Zerschlagung des Zusammenhangs inhaltlich plausibel erscheint. Das Hörspiel Nr. 2 gibt den Funksprechverkehr zwischen einer Taxizentrale und ihren Fahrern und diesen untereinander wieder. Wahrgenommen wird diese Form der Kommunikation von einem Unbeteiligten, der, ohne selbst Sprecher oder Adressat der Funksprüche zu sein, nur mithört. Auch hier lässt sich hinter den ritualisierten Formen des Anrufs, der überdies in der säkularisierten Form des Blues Hey Joe und der religiösen Form des Ave Maria (Nägele/Voris 1978, 98) zitiert wird, wie auch hinter den ritualisierten Formen des Antwortens die Suche nach einem Verbrecher vermuten. Doch es wird klar, dass diese Sprecher am Ende nichts finden als ihre eigenen Sätze. Sie reagieren nur auf Kommunikationssignale und sind recht eigentlich „sprechblind“, weil ihre Wahrnehmungen, Bemerkungen und Mitteilungen nicht die Regeln und Erfordernisse des Funksprechverkehrs überschreiten dürfen (WM 60; Nägele/ Voris 1978, 99). Die Sprecher dieses Hörspiels verständigen sich nicht über Sachverhalte, sondern erfüllen nur die Anforderungen eines Sprachspiels in einer eng umgrenzten kommunikativen Situation. Vor allem deshalb erzeugt das Mithören von Sprechen und Antworten ein Gefühl der Entfremdung, weil es von Anfang an nur zu einem unvollkommenen Verstehen führt. Der Mithörer befindet sich außerhalb des Kommunikationsbereichs und seines Reglements, gerade deshalb wird ihm die Vermitteltheit der mitgehörten kommunikativen Akte bewusst. Allererst diese inhaltliche Pointierung macht die Hörspiele zu einer eigenständigen und gattungskonformen Behandlung der Sprachproblematik im frühen Werk Handkes.
3.7 Vorschein der Postmoderne: Die offenen Geheimnisse der Technokratie (1974) Unter den im Sammelband Als das Wünschen noch geholfen hat präsentierten Texten nimmt diese Beschreibung eines Ausflugs in die Wohnanlage La Défense, eine Hochhausstadt westlich von Paris, eine Sonderstellung ein. Sie rekonstruiert ähnlich wie die frühe Lyrik eine Situation der Entfremdung, bringt diese aber wie
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später Der große Fall unmittelbar mit den Bedingungen der modernen Lebenswelt in Zusammenhang (WÜ 31–54). Diese Verbindung zwischen dem frühen und dem späten Werk eröffnet eine literaturgeschichtliche Konstellation, die das Paradigma der Moderne entschieden infrage stellt, zugleich verbindet sie diese mit einer lebensgeschichtlichen Perspektive. Die Bezeichnung „Reise“ für diesen kleinen Ausflug zielt in Vorwegnahme späterer Reisen wie dem Kurzen Brief nicht allein auf eine Bewegung im Raum, sie eröffnet auch einen Blick zurück: „Bis vor wenigen Jahren habe ich fast immer nur zu Boden geschaut. Wenn ich etwas lese, was ich ganz früh geschrieben habe, habe ich das Gefühl von einem Menschen mit gesenktem Blick, so viel auf der Erde Liegendes kommt darin vor und soviel Kleines“ (WÜ 31). Gleichzeitig bemerkt der Schreiber, dass er schon früher auch unbedeutende Gegenstände auf dem Boden „als Zeichen“ für etwas nahm, das unmittelbar zu sehen er nicht in der Lage war. Im Nachhinein deutet er seinen gesenkten Blick als einen Reflex, der ihn „vor der Übermacht der verbauten Welt zurückschrecken ließ“ (WÜ 31). Nur aufblickend hätte er „die monumentalere Fremdheit der menschlichen Lebensäußerungen“ erkennen können, die sich in seiner Umgebung zum Ausdruck brachte (WÜ 31). Zum Beleg dafür wird die präsentierte Text-Bildkombination. Sie zeichnet die zentrale Rolle der visuellen Wahrnehmung und ihrer medialen Vermittlung im späteren Werk Handkes vor. Dem kurzen Text sind sechzehn recht unscharfe Bilder eingefügt, die zumeist noch eine Bildunterschrift tragen und in Nebel gehüllte Bauwerke zeigen. Der Hinweis auf die „Geheimnisse der Technokratie“ einerseits und die Bezeichnung des Ausflugs als „Reise“ andererseits verleihen der eigenen Erfahrung in Paris und schon vorher bei einem Besuch des Märkischen Viertel zu Berlin eine historische Dimension. Die Zeichen der modernen Gesellschaft und ihrer Organisation mobilisieren die Phantasie eines „verlorenen“ Wünschens. Sie erinnern an einen früheren gesellschaftlichen Zustand, der einen Kontrast zu den Zeichen der fortgeschrittenen Zivilisation bildet. Insofern erinnert die „Reise nach La Défense“ an eine Denkfigur, die schon Schillers Spaziergang bestimmte (Ritter 1974, 159–162; Schiller NA-20, 395). Die historische Bewegung, die den Menschen von der Natur in die Zivilisation führt, wird mit einem Verlust des Ursprungs, einer Abkehr von der Natur bezahlt. Übereinstimmend damit schildert Handkes Text eine „verbaute Natur“, er weist auf eine Ausgliederung des Natürlichen, die gerade durch den Versuch seiner künstlichen Rekonstruktion deutlich wird. Inmitten des Steinplateaus von La Défense hat man alle Grassorten Europas und Afrikas in kleinen Beeten angepflanzt. Die ihnen zugeordneten Namensschilder aber lassen die solcherart ausgestellten Naturzeichen wie Objekte der Warenwelt erscheinen (WÜ 36). Die Wahrnehmung der modernen Zivilisation und ihrer Zeichen wird für den Betrachter dadurch ambivalent: Sie bringt Einfühlung, nüchterne Betrachtung und Abwehr zugleich hervor. Schon der Besuch im Märkischen Viertel lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf ein Verhalten der Bewohner, das als Gegenreaktion auf eine
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Situation der Entfremdung erscheint. Bereits damals bemerkt der Reisende anarchische Kritzeleien in den Aufzügen, er nimmt eine Ritualisierung von Verhaltensweisen wahr, die alle Bewegungen und Handlungen der Menschen vorgezeichnet erscheinen lässt. Dafür macht er vor allem die planende Vernunft verantwortlich, die den Lebensraum der Menschen organisiert. Die Architektur als ihr sichtbarstes Zeichen greift offenbar rücksichtslos in diesen ein. Ein Beispiel unter anderen ist, dass die Kühl-Gefrierkombinationen in den Hochhauswohnungen von La Défense nur so Platz finden, dass sie teilweise die Fenster verstellen. Die Ordnung der technischen Zivilisation führt zu einer Zurichtung des Menschen. Doch dieser Eingriff der instrumentellen Vernunft in die alltägliche Lebenspraxis bringt zugleich eine Gegenbewegung hervor. Auffällig erscheint dem schreibenden Betrachter das Bedürfnis der Menschen, sich Leben vorspielen zu lassen, sei es durch Theatergruppen, sei es durch das Fernsehen. Er deutet dies als Versuche einer unbewussten Aufhebung der Grenze zwischen der Wirklichkeit und ihrer fast spielerischen Verwandlung. Die Suche nach der verlorenen Authentizität der eigenen Lebensäußerungen führt zu einer Rekonstruktion des Unmittelbaren im Mittelbaren der Medien von Kunst und Information. Leben wird „inszeniert“ und alltägliches Verhalten ritualisiert. Dies führt zu einer ambivalenten Erfahrung. Obwohl der Betrachter abgestoßen ist, will er den Ort der offen zutage tretenden Entfremdung nicht verlassen, er bezeichnet seine spontane Reaktion sogar als „obszöne Neugier“. Seine „Reise“ folgt dabei noch einem anderen literatur- und kulturgeschichtlichen Muster: Der Suche nach dem Fremden, welche den bürgerlichen Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts immer wieder die eigenen Anfänge bewusst machte. Handkes Reise in die fortgeschrittene Zivilisation folgt dem Schema dieser historischen Entdeckungsfahrten. Auch sie erschließt am Ende eine Vorgeschichte, doch nicht in einem zeitlichen, sondern in einem psychologischen Sinn. Die vom Betrachter berichtete Ambivalenz seiner Gefühle begründet sich daraus, dass er den Eindruck hat, sein Bewusstsein habe „endlich den äußeren Ort gefunden, der ihm im Innern entsprach“ (WÜ 35). Damit wird die historische Vorlage zugleich aufgenommen und invertiert. Die Reise in die Vorstadt führt gerade an den Punkt, an dem sich die eigene Entfremdung am deutlichsten manifestiert. Sie sucht nicht das Verlorene, Melancholie ist ihr fremd. Weil es keine unbekannten Räume mehr gibt, macht sie stattdessen das Gegebene und Gegenwärtige zum letzten Bezugspunkt des Lebens: Die „Fremdheit der menschlichen Lebensäußerung“ scheint dem Betrachter nicht hintergehbar. Damit zeichnet der Text eine poetologische Haltung vor, die sich als eine der möglichen Facetten postmodernen Schreibens ansehen lässt (Renner 1988, 369 ff.). Ausgerechnet die Entfremdung bringt eine Wahrnehmung hervor, welche die Begrenztheit der eigenen Bedingungen überwindet. Inmitten einer repressiven technischen Zivilisation entsteht ein bewusstes Spiel mit den eigenen Grenzen. Aus der geschichtlichen und zivilisatorischen Dezentrierung des Subjekts und der grundsätzlichen Infragestellung seiner Einheit begründet sich eine ästhetische
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Haltung zweiter Ordnung, eine Inszenierung, die den Zwang ins Spiel verwandelt und Erfahrung, Wahrnehmung und Phantasie miteinander vermittelt. Der Autor Handke erinnert sich, dass ihm solche Erfahrungen bisher nur durch eine momentane „Sinngebung“ möglich waren, die ihm einen „Weltzustand“ aufscheinen ließ. Er reflektiert damit ein Schreibverfahren, das in der Stunde der wahren Empfindung den Rückgriff auf eine romantische Schreibweise erkennen lässt. Nicht anders geschieht es hier. Die menschenleere Stadt erscheint plötzlich als das monumentale Bild einer unsichtbaren Ordnung, die ihre geheime Faszination auf den Betrachter gerade deshalb ausübt, weil sie menschenfern scheint. Sie repräsentiert eine Ordnung, die auf den Menschen nicht angewiesen, sondern selbstbezüglich ist. Der Blick des unbeteiligten Betrachters, der sich von oben auf den Platz vor den Häusern richtet, markiert deshalb eine ästhetische Perspektive, die einen eigentümlichen Reiz aus der Entfremdung des Menschen bezieht, die sie deutlich werden lässt. Der Betrachter ist beeindruckt von der Macht, mit der sich der planerische Entwurf der Stadt durchsetzt, der nicht allein Lebensraum umgrenzt, sondern zugleich ein Muster für menschliches Verhalten entwirft. Den Besucher der Vorstadt fasziniert, dass sich viele Menschen wie in einer geheimen Ordnung über die Plätze bewegen, um in einem bestimmten Rolltreppenschacht zu verschwinden. Er sieht, dass die durch Bewegung erzeugte Ornamentik der Masse nicht allein durch menschliche Handlungen, sondern vor allem durch den architektonischen Plan hervorgebracht ist, der vermittels der Ordnungen und Zeichen der Zivilisation deutlich gemacht und durchgesetzt wird. Erkennbar wird eine Ordnungskraft, die der Macht anhängt und im gleichen Zug einen Terror des Schönen hervorbringt. Auch dies erschließt eine Figur der Postmoderne: Der Betrachter beobachtet das Verschwinden des Menschen in der Masse mit klammheimlicher Freude. „Immer wieder näherten sich aus verschiedenen Richtungen diese Menschenzüge und verschwanden auf der Rolltreppe wie in einem Zeichentrickfilm“ bemerkt er (WÜ 36). Seine Perspektive folgt einer fatalistischen Ästhetik, die ihren Reiz daraus bezieht, dass sich in seiner Wahrnehmung alle Wirklichkeit auf Spielkonfigurationen reduziert. Gerade die distanzierte Haltung nimmt allein noch das Anschauen ernst. Doch gleichzeitig entfaltet die geheime Faszination des reisenden Autors auch eine kritische Einsicht. Aus dem ästhetischen Spiel entsteht die Klarheit des Urteils. La Défense müßte eigentlich Sperrzone sein – weil da die Geheimnisse der technokratischen Welt sich ganz unverschämt verraten. Ein Stacheldraht gehört ringsherum und Schilder ‚Fotografieren verboten‘. Aber die verantwortlichen Unmenschen in ihren menschenwürdigen Umgebungen sind sich schon zu sicher. Geil lassen sie auf den Tafeln vor den Hochhausunterschlupfen ihre Namen leuchten: Bank von Winterthur, Chase Manhattan Bank, Siemens, Esso… (WÜ 37 f.)
Vor allem diese Namen machen bewusst, dass der Besucher von La Défense schon längst gewohnt ist, die Architektur von Suburbia als eine Zeichenordnung zu lesen, die den offenen Zeichen der Macht korrespondiert. Auch dies weist auf
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den Ursprung des Denkens in der postmodernen Konstellation zurück, das allererst die manifeste Zeichenordnung der Städte ins Auge fasst, um ihr schließlich eine grundsätzlich andere Zeichenordnungen entgegenzusetzen. Die auf den Fotos abgebildete Architektur der Pariser Vorstadt markiert recht genau den Stil, von dem sich später der postmoderne absetzt. Der Architekturtheoretiker Charles Jencks bezeichnet ihn als „spätmodern“. Die Klarheit seiner geometrisierten Formensprache ist mit Elementen gekoppelt, die den Bauwerken einen repräsentativen Charakter verleihen und sie zugleich zu Symbolen der Macht und Verwirklichungen instrumenteller Vernunft machen. Auf diesen Zusammenhang von ästhetischer Ordnung und Macht zielt Handke am Ende seines Textes mit seiner provozierenden Frage „Was ist ein Architekt?“. Stellvertretend für andere Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Moderne zeigt die Architektur von La Défense, wie sich ursprünglich soziale Orientierungen der Städteplanung in ihr Gegenteil verkehren. Die Wechselwirkung zwischen den machtgestützten Zeichenordnungen der spätkapitalistischen Gesellschaft und Orientierungen der gesellschaftlichen Moderne führt am Ende zu einer Verzerrung des ursprünglichen, zugleich ästhetischen und sozialplanerischen Konzepts. Der kritische Gestus von Handkes Text, der dies ins Auge fasst, kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Grundfigur der Zivilisation auch für den Betrachter selbst längst zu einer zweiten Natur geworden ist, die sein Leben bestimmt. Die Vorstellung von einer zweiten Natürlichkeit, die Adorno im Blick auf Amerika entwickelt, ist hier anwendbar, im Kurzen Brief zum langen Abschied spielt sie eine entscheidende Rolle. Dort wird die Neue Welt Amerikas vor allem als eine Ordnung von Zeichen der Zivilisation wahrgenommen, welche die Naturbilder ablösen. In La Défense zeigt sich allerdings eine signifikante Zuspitzung dieser Konstellation. Die wirtschaftlichen Instanzen, deren Signets man hier sehen kann, sind längst zu Kryptogrammen von Herrschaft geworden. Die Zeichen der Zivilisation und die Insignien der Macht sind eins. Eine ideologische Verblendung der tatsächlichen Machtstrukturen ist in diesem Zustand zivilisatorischer Entwicklung nicht mehr notwendig, denn dieser markiert einen Ort jenseits der Ideologie und des gesellschaftlichen Scheins. Die Zeichen haben nicht allein eine eindeutige gesellschaftliche und politische Semantik, die so eindringlich ist, dass sie mitunter wie die Sachen selbst erscheinen; sie entfalten auch ein semiologisches Spiel, das selbstbezüglich ist. Die Erfassung dieser Situation ist eine besondere Leistung von Handkes Schreiben zu diesem Zeitpunkt. Die gesellschaftliche und technische Welt wird zum invertierten Spiegelbild seiner poetologischen Entwürfe. Sie bestimmt menschliches Verhalten im Rahmen von Zeichenordnungen, die nicht mehr hinterfragt werden. Handeln wird allererst zu einem Reagieren auf Zeichen, die Wahrnehmung führt nicht zu einem Dechiffrieren der Signifikate, sondern beschränkt sich auf die Beobachtung der Signifikanten. Vor allem der späte Text des Großen Falls wird diese historische Konstellation aufnehmen und zum Ausgangspunkt eines Gegenentwurfs machen. Er bestätigt die für Handkes Schreiben charakteristische Vernetzung und Überlagerung unterschiedlicher Zeichenordnungen, die gleichermaßen unsere Erfahrung prägen.
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4.1 Leben ohne Poesie. Gedichte (1969–2007) Anders als es der programmatische Titel des ersten Lyrikbandes Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt vermuten lässt, zielen die dort versammelten Texte nicht auf das Thema lyrischer Subjektivität. Vielmehr verschreiben sie sich fast durchweg einem sprachexperimentellen Verfahren, das bestimmte grammatische Modelle oder eingeschliffene Redeweisen und Redewendungen demonstrativ vorführt. Als hervorstechende Beispiele lassen sich dafür Der Rand der Wörter 1 (IAI 31), Der Rand der Wörter 2 (IAI 104), Die verkehrte Welt (IAI 32–35), die Abstraktion von dem Ball, der in den Fluß gefallen ist (IAI 40–42) oder Veränderungen im Lauf des Tages (IAI 49–52) und schließlich die Wortfamilie (IAI 99–103) anführen. Diese Dominanz des Experimentellen und Formalistischen, das einen Kritiker zu der Bemerkung bringt, Handke komme „in seinen Texten einfach nicht vor“ (Scharang ÜH 60), weist auf das Problem, dass die Formelhaftigkeit von Sprache der Artikulation von Individualität mitunter nicht genügend Raum gibt. Die lyrischen Texte, die wie die frühen Sprechstücke und die frühe Prosa immer wieder daran erinnern, dass alle Literatur schon Sekundärliteratur geworden ist (Scharang ÜH 61), zeigen allerdings nicht nur die durch Sprache vermittelten Regeln und Klischees, sondern machen diese zugleich produktiv (Scharang ÜH 58). Sie entwerfen damit den Spielraum eines poetischen Ich. In dieses Spannungsfeld ist Handkes Lyrik einzuordnen, von hier bestimmt sich ihre Eigenart. Während einige Texte des ersten Lyrikbandes nur die Macht des Vorhandenen, des Vorgegebenen und Überlieferten abbilden, zeigen andere diese als eine Kraft, die eine schöpferische Gegenbewegung herausfordert. Allein auf das Vorgegebene weisen die Gedichte, die dem Verfahren des ‚objet trouvé’, der Wiedergabe eines zufällig aufgefundenen Gegenstandes folgen. Die Deutschen Gedichte überspitzen dies, indem sie als Inhalt zusammengeklebter leerer Seiten eine Sammlung von
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_4
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Zeitungsausschnitten liefern. Aber auch in der Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt lassen sich markante Beispiele hierfür anführen, so etwa Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.01.1968 (IAI 59) und Die japanische Hitparade vom 25. Mai 1968 (IAI 78–80). Während Lesen und Schreiben (IAI 48), Die Buchstabenformen (IAI 60–62) und Legenden (IAI 81–86) das Moment der Visualisierung dadurch bestärken, dass sie zusätzlichen optischen Signalen unmittelbar Bedeutung verleihen, zielt der Text Die Farbenlehre (IAI 27–30) darauf ab, bereits durch das Druckbild auf die Bedeutung und die Eigenart sinnlicher Eindrücke und Assoziationen hinzuweisen. Andererseits zeigt sich innerhalb der frühen Lyrik eine Tendenz zur Rückbiegung auf traditionelle Formen, dabei kommt es zumindest ansatzweise zur Konturierung eines traditionellen lyrischen Ichs. Vor allem zwei Texte des ersten Sammelbandes befreien sich von den Wort- und Sprachspielen und den Methoden der konkreten Poesie. Sie entfalten assoziative Bedeutungen, indem sie eine Spannung zwischen unmittelbarer Erfahrung und der damit verbundenen Wahrnehmung deutlich machen. Der Text Was ich nicht bin, nicht habe, nicht will, nicht möchte – und was ich möchte, was ich habe und was ich bin (IAI 23–26) trägt nicht ohne Grund den eingeklammerten Untertitel Satzbiographie. Er demonstriert, wie sich unter der Decke der gewöhnlichen Sätze, Namen und Bezeichnungen das Bewusstsein einstellt, ein unverwechselbares Ich zu sein. Im Anschluss an eine Kette von formelhaften Sätzen, die sich der Abfolge eines individuellen Lebens zuordnen lassen, heißt es lapidar: „Was ich BIN: Ich bin’s!“ (IAI 26). Dieser Satz markiert eine entscheidende Wendemarke. Nach Überwindung der Schwierigkeit, „Ich“ zu sagen, gelingt eine Ordnung der Wahrnehmungsbilder; es wird möglich, subjektive Perspektiven und Wahrnehmungen erzählbar zu machen. Das programmatische Gedicht Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (IAI 127–132) behandelt diese Modellierung des Ichs, zugleich weist es auf die Eigenart und die besondere Bedeutung des poetischen Entwurfs von Wirklichkeit. Es beschreibt anfänglich Situationen und Wahrnehmungen, die bestimmte und genau benennbare Gefühlszustände hervorbringen oder sich diesen zuordnen lassen: Wir sind in Nashville in Tennessee: aber als wir das Hotelzimmer betreten und die Nummer des PLAYBOY mit dem zum Teil sichtbaren schimmernden Naseninnern der Ursula Andress angeschaut haben greift – statt der Ratlosigkeit darüber daß wir in Nashville sind – das Naseninnere der Ursula Andress um sich. (IAI 127)
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Diese Verknüpfung von Situationen und Empfindungen wird schließlich zu einer Sammlung assoziativer Bilder verkürzt, es ist nichts anderes als eine Inszenierung des lyrischen Verfahrens selbst: Nennen wir also die Schuldlosigkeit Nagelschuh die Ratlosigkeit Hotelzimmer die Ausweglosigkeit neun Uhr die Unschlüssigkeit eine stehende Rolltreppe die Scham einen vollbesetzten Lift und die Geduld eine Platzanweiserin im Kino. (IAI 130)
Gerade hier erweist sich, dass der poetische Entwurf von Wirklichkeit bereits authentische Erfahrungen einschließt. Die mitunter surrealen Momente des Erschreckens weisen auf die Angst, über die Handke in Eine Zwischenbemerkung über die Angst (WÜ 101 f.) schreibt und die auch in dem Essay Die offenen Geheimnisse der Technokratie, seiner „Reise nach La Défense“ namhaft gemacht wird (WÜ 35). Wahrnehmen, Erkennen und Erschrecken lassen eine Topik des Bewusstseins entstehen, die sich den Räumen der alltäglichen Erfahrung vergleichen lässt. Erst durch diese zugleich sinnlichen und psychischen Erfahrungen werden Innenwelt und Außenwelt symmetrisch. Wir betreten unser Bewußtsein: wie in einem Märchen ist es dort früher Morgen auf einer Wiese im Frühsommer: wenn wir neugierig sind; wie in einem Western ist es dort Mittag mit einer großen ruhigen Hand auf der Theke: wenn wir gespannt sind; wie in einem Tatsachenbericht über einen Lustmord ist es dort früher Nachmittag in einem schwülen Spätsommer in einer Scheune: wenn wir ungeduldig sind; wie in einer Rundfunknachricht überschreiten dort gegen Abend fremde Truppen die Grenze: wenn wir verwirrt sind; und wie in der tiefen Nacht wenn ein Ausgehverbot verhängt ist breitet sich dort die Stille der Straßen aus wenn wir uns vor niemandem äußern können – (IAI 131)
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Dieses Gedicht, das Wirklichkeit und Bewusstsein, Wirklichkeit und Phantasie als unmittelbar miteinander verzahnt und symmetrisch erscheinen lässt, weist zugleich darauf, dass sich bei der Berührung beider Bereiche auch schmerzhaft empfundene Irritationen einstellen können. Ein Bild dafür gibt die Schilderung einer „ältlichen Platzanweiserin“, die, wenn es hell geworden ist, „voll Scham“ ausgerechnet die Süßigkeiten zum Verkauf anbieten muss, die zuvor ein junges Mädchen auf der Leinwand offeriert hat. In späteren Texten wird sich diese Grenze zwischen innen und außen als grundsätzlich durchlässig erweisen. Die Langsame Heimkehr greift auf die Raummetaphorik der Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt zurück und entfaltet sie in einer Erzählung, welche die geographischen Räume, die Bezirke des Unbewussten und die Räume der Phantasie bruchlos ineinander übergehen lässt. Erst dort wird das Bild aus Jean Pauls Wutz eingelöst, das Handke seiner ersten Lyriksammlung als Motto voranstellt: „… da allemal deine äußere und deine innere Welt sich wie zwei Muschelschalen aneinanderlöten und dich als ihr Schaltier einfassen …“. Damit führt der Roman eine Linie fort, die sich zuerst in dem Gedicht Die neuen Erfahrungen andeutet, später dann in den lyrischen Texten des zweiten Sammelbandes Als das Wünschen noch geholfen hat fortsetzt, und schließlich in die programmatische Schilderung vom Ende des Flanierens (EF 93–97) einmündet. In Die neuen Erfahrungen (IAI 7–13) formieren die geschilderten Augenblicke und Bilder eine Abfolge von Erinnerungen, die ohne Zweifel autobiographisch ist. Das Motiv des ersten Blicks wird unterschiedlichen Lebensstufen zugeordnet. Allerdings sind in diesem Text das Persönliche und die authentischen wie die existentiellen Erfahrungszustände mitunter noch von den spielerisch verwendeten Worten und Aperçus erdrückt. Dafür gibt es ein schlagendes Beispiel: „Wann werde ich zum ersten Mal von jemandem hören, der einen Regenschirm mit in den Tod nehmen konnte?“ (IAI 11). Demgegenüber hat der autobiographische Rückblick Leben ohne Poesie (WÜ 9–23), der den Eingang zum Sammelband Als das Wünschen noch geholfen hat bildet, ein klares Zentrum: Alle Erinnerungen und Impressionen kreisen um die Frage des Schreibens; die Sprachreflexion vorangehender Texte wird nun zur Frage nach den Möglichkeiten einer Selbstbehauptung durch das Schreiben zugespitzt. Zunächst erinnert sich das lyrische Ich an seine Bedrohung durch die zugesprochene Sprache der anderen und an die Macht der vorgeformten Begriffe. Es sieht sich selbst in einen durch Macht kontrollierten Diskurs eingebunden: Die Romane sollten „gewalttätig“ sein und die Gedichte „Aktionen“ Söldner hatten sich in die Sprache verirrt und hielten jedes Wort besetzt erpreßten sich untereinander indem sie die Begriffe als Losungsworte gebrauchten und ich wurde immer sprachloser. (WÜ 13)
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Doch weil sich die fragmentierten Erinnerungen zum Bild einer Entwicklung fügen, geben sie erneut einen Antrieb zum Schreiben. Indem das Ich von sich selbst berichtet, lösen sich seine Spannungen, es wird seiner selbst gewiss: Dann mit der Schamlosigkeit des Sich-Ausdrückens ist das Vorausgedachte von Wort zu Wort gegenstandsloser geworden und wirklich mit einem Schlag wußte ich wieder was ich wollte und bekam eine Lust auf die Welt (Als Heranwachsender wenn sich ein Weltgefühl einstellte bekam ich nur Lust etwas zu SCHREIBEN jezt stellt sich meist erst mit dem Schreiben eine poetische Lust auf die Welt ein). (WÜ 21)
Der letzte Satz dieses Gedichts lautet „wie stolz bin ich auf das Schreiben gewesen!“ (W 23), er scheint zu belegen, dass für den Schreibenden eine neue Erfahrung von Wirklichkeit möglich ist. Zwar setzt der Text Blaues Gedicht (WÜ 55–69) zunächst wieder mit einer Aufzeichnung sprachloser Angstzustände ein, in denen das Ich „analphabetisch von der Entsetzlichkeit“ außer ihm ist und Erinnerung wie Zukunftsgedanken verliert (WÜ 56). Doch auch dieser Text entwirft eine Wende. Die Eindrücke in der „großen zierlichen Stadt“ (WÜ 58) befreien für kurze Zeit nicht nur zum einfachen Hinsehen, sie geben auch die Hoffnung, „glücksfähig“ und selbstbewusst in der Selbstlosigkeit zu sein (WÜ 60). Allerdings widersprechen diesem Eindruck zunächst noch die Träume (WÜ 61). Ausgerechnet sie weisen darauf, dass sich alles Gedachte wie Erdachte noch an der Wirklichkeit behaupten muss. Denn obwohl sich die Phantasien der „Peinlichkeit wahrer Geschichten“ enthalten und sich in den Zoten und sexuellen Ausdrücken „die unbeschreiblichen Einzelheiten der finsteren Neuzeit zu ihrem verlorenen Zusammenhang“ (WÜ 65) ordnen, ändert gerade das intime Erleben und Fühlen diese allein durch Sprache konstruierten Zusammenhänge: „beim Erleben erlebten wir die sexuellen Handlungen als Metaphern für etwas anderes“ (WÜ 67). Von hier bekommt die Verwechslung der Worte „Selbstgefühl“ und „Selbstgewühl“, von der Leben ohne Poesie berichtet (WÜ 21), ihren Doppelsinn. Die „wirklichen“ Bilder wiegen sich in die „anderen“ ein, und diese sind nicht mehr allein durch Sprache hervorgebracht, sondern durch Erfahrung und Erinnerung befestigt, es sind in der eigenen Vergangenheit wiederentdeckte Wunschträume: und die „anderen“ Bilder waren keine Allegorien sondern durch das Wohlgefühl befreite Augenblicke aus der Vergangenheit. (WÜ 67)
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So kann das Gedicht auf das weisen, was jenseits von ihm liegt: Zu existieren fing an mir etwas zu bedeuten – (WÜ 68)
Es gehört zur Eigenart dieser lyrischen Texte, dass sie, obwohl sie eine Folge von Erfahrungen abbilden, die eine kontinuierliche Entwicklungslinie bezeugen, immer wieder neu ansetzen und spannungsvolle Zusammenhänge und Abläufe erzählen, in denen Sinnverlust und Sinngebung, Zerfall und Neuaufbau des Ich, fast bruchlos aneinandergefügt sind (vgl. Bartmann 1984, 179, 186). Das Gedicht Die Sinnlosigkeit und das Glück (WÜ 103–119) bestätigt dies paradigmatisch. Es beschreibt das Fehlen des hier und nachfolgend immer wieder benannten „Rucks“, der die andere und erfüllte Zeit einleiten könnte, von dem das Blaue Gedicht handelt und der in der Stunde der wahren Empfindung, im Kurzen Brief und der Geschichte des Bleistifts als sinnstiftendes Ereignis dargestellt wird. Die Wiederentdeckung der Sinnlosigkeit (WÜ 107) und die Vortäuschung des Lebens, an denen das Ich dieses Textes leidet (WÜ 109), steigern sich dabei bis zu surrealen Bildern. Die Finsternis, wo die Welt war, unterscheidet sich von der Finsternis des Undefinierbaren ringsum nur noch durch das frischere Schwarz, und jetzt strömen auch schon die Wirbel herein … (WÜ 112)
Gegen die Macht dieser Bilder helfen nur noch die Träume und die Regression in kindliche Wahrnehmungszustände. Sie erweisen sich als notwendige Kraft im wiedergewonnenen Leben. Gerade der Verzicht auf das bewusste Wollen ermöglicht eine Erkenntnis, die im lyrischen Text ausgesprochen wird. Der Gegensatz zur Sinnlosigkeit ist nicht der Sinn – man braucht nur keinen Sinn mehr, sucht auch keinen philosophischen Sinn für den Unsinn: ausgezählte Wörter; die verboten gehörten, denkt man. (WÜ 115)
Diese Überlegung macht schließlich frei für die „vernünftige Zeit“, in „der man träumen kann“ (WÜ 118). Daraus auch begründet sich der Wunsch, „alt zu werden“ und zugleich den Mustern und Zwängen des Erwachsenseins entgehen zu können, sich wie ein Kind zu verhalten. Träume und Wünsche lassen auf einen Zustand hoffen, in dem alle wieder Kind sein können:
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[…] und vor einem Kind, das einen anschaut, nachdem es ein Glas umgeworfen hat, denkt man, wenn das Kind einen nicht mehr so anschauen müßte das könnte das Wahre sein. (WÜ 118 f.)
Der Hinweis auf die autonome Welt der Kinder und der Wunsch, sich wie ein Kind zu Kindern zu verhalten, greift zurück auf das Gedicht vom Leben ohne Poesie, in dem die Metaphorik des Kindseins und die Bilder der Erinnerung unmittelbar miteinander verkoppelt sind (WÜ 14). Hier wie dort deutet sich an, was später die Romane vollenden werden. Handkes Tetralogie rückt schließlich am Beispiel des Kindes Amina die wiedergefundene eigene Kindheit ins Zentrum der Autoreflexion und der erzählten Entstehungsgeschichte von Autorschaft. Ebenfalls im Zeichen der Zuwendung zum Kind vollzieht sich eine reflexive und lebensgeschichtliche Lösung früherer Probleme, dies belegt das späte Gedicht Das Ende des Flanierens (EF 93–97). Die Bilderreihe dieses Textes, die auch einer Stadtwanderung folgt, unterscheidet sich in der Schärfe der Beobachtung nicht von vorangehenden lyrischen Bilderketten. Doch jetzt erscheint das Alleinsein zuerst als überwundener Zustand: Wir tun als ob das Alleinsein ein Problem sei Vielleicht ist es eine fixe Idee – wie die Angst im Sommer zu sterben wenn man schneller verwest. (EF 93)
Durchweg setzen die Blicke nunmehr Phantasien frei, sie vermeiden die düsteren Reflexionen. Auch die immer wiederkehrenden Bilder der Irritation (WÜ 94) lösen sich in der beobachtenden Phantasie auf: Schöne Unbekannte mit dem breiten Gesicht die du drinnen im Restaurant an der Zigarette ziehst: Im Vorbeigehen auf der Straße erkenne ich dein Gesicht und es wird undeutlich – aufblühend in meiner Erinnerung. (EF 95)
Mit dem Einsetzen der Phantasie lösen sich die zwanghaften Vorstellungen, die noch frühere Texte bestimmen. Beim Betrachten einer Frau heißt es in deutlicher Anspielung auf den Tötungswunsch, den noch Die Sinnlosigkeit und das Glück verzeichnet (WÜ 104), und den spontanen Mord, von dem der Tormann berichtet: vorbei die Vorstellung der krachenden Guillotine in deinen Halswirbelknochen. (EF 93)
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Schließlich überwindet die Strophe 10 reflexiv eine Situation der Entfremdung im fremden Diskurs, die das Hörspiel Nr. 2 noch zu inszenieren versucht. He du an der Straßenecke: die Geschichte von der Einsamkeit des modernen Menschen kennen wir ja inzwischen nun verschwinde auch du Nachts von den windigen Straßenecken. (EF 95)
Mit dem Gestus dieses Hörspiels stimmt das Gedicht überein. Endgültig bestätigt es die Richtigkeit der Formel von der „begriffsauflösenden Kraft des poetischen Denkens“ (WÜ 76), die Handke 1973 in seiner Büchner-Preis-Rede verwendet. Ohne Zweifel auch überschreitet das Ende des Flanierens die Konstitution von Ich und Ich-Perspektive, wie sie sich seit der Satzbiographie durchzusetzen beginnt. Denn jetzt führt das Bewusstwerden der eigenen Voraussetzungen auch dazu, den Text, der Erinnerungen, Erfahrungen und Phantasien bewahrt, als ein Medium zu begreifen, welches die Zwischenzeit notiert. Pilger mit den schmerzblinden Augen Bevor du einschlägig bekanntgemacht bist von den uferwechselnden Flaneuren Gesammelt an der Schreibmaschine halte ich deine offiziell nicht bestätigte Zwischenzeit fest Unerschütterlich stehen meine Worte da für dich ohne mich. (EF 97)
Der lyrische Versuch, „die flüchtigen Augenblicke“ (EF 158) zu erfassen, fördert das Bewusstsein, als Schreiber einem „Volk der Leser“ verpflichtet zu sein, wie es die Kafka-Preis-Rede im Jahre 1979 selbstbewusst formuliert (EF 158). So steuern auch die lyrischen Texte auf den Entwurf der „anderen“ Zeit hin, die im Kurzen Brief zum langen Abschied und in der Stunde der wahren Empfindung zum ersten Mal zu einer poetischen und zugleich existentiellen Erfahrung wird.
4.2 Gedicht an die Dauer (1986) Mit der Goetheschen Formel „Tage währts, Jahre dauerts“ schließt sich das 1986 entstehende Gedicht an die Dauer unmittelbar an diese Thematik an. Die Versuche, eine andere Zeit und den erfüllten Augenblick zu finden, werden jetzt auf doppelte Weise näher bestimmt: Zum einen mit Blick auf die eigene Lebensgeschichte, zum anderen im Kontext der literarischen Tradition. Wiederum mit Bezug auf Goethe heißt es „Die Dauer hat mit den Jahren zu tun, / mit den Jahrzehnten, mit unserer Lebenszeit; / die Dauer, sie ist das Lebensgefühl“ (GD 12). Dabei wird die Bedeutung des eigenen Lebens zunächst mit ganz alltäglichen Verweisen erschlossen. Die Fontaine Sainte-Marie und die Porte dʼAuteuil werden ebenso erwähnt (GD 9) wie der Griffener See (GD 52) und die Stinkmorcheln
4.2 Gedicht an die Dauer (1986)
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im Gartendickicht (GD 13). Die Erinnerungen an einen Segeltörn entlang der türkischen Küste lenken diese Rückbezüge allerdings in eine andere Richtung. Zunächst scheint es, als erschließe diese Fahrt nichts anderes als eine Reihe von erfüllten Augenblicken, doch im Bewusstsein des Schreibenden werden er und die anderen „Sommernomaden der Jetztzeit“ mit dissonanten Bildern konfrontiert. Den „biblisch“ anmutenden Schauplätzen stehen ganz andere Zeichen der Zeit gegenüber, ein lykischer Sarg, der wie ein kieloben gestrandetes Steinboot aussieht und die „für uns Touristen hingeschlachteten Lämmer“ (GD 17). Den Schreibenden befällt Wehmut und Schmerz und lapidar folgert er „zwar konnte ich den Augenblick festhalten, / doch ich hatte, selbst dann, / nicht das Recht auf ihn“ (GD 19). Gleichzeitig wird ihm bewusst, dass der plötzliche Wunsch, in den heimischen Garten zurückzukehren, den die Bilder der Ferne auslösen, die Erfahrung der Dauer ebenfalls nicht ermöglicht. Es ist die Vorwegnahme einer Denkfigur des späteren Werks, wenn sich das Gedicht ausgehend von dieser Überlegung auf den an Goethe orientierten Begriff der ‚Geistesgegenwart‘ bezieht (GD 24), der die Wahrnehmung des Einzelnen als Überlagerung von Unmittelbarkeit und reflexiver Überformung bestimmt. Diese Referenz zeichnet bereits die besondere Form vor, in der das Thema des Schreibens zum Gegenstand späterer Texte Handkes wird. Die Dauer ist zwar „das Abenteuer des Jahraus – Jahrein“, aber sie ist auch entschieden „kein Abenteuer des Müßiggangs“ (GD 22), vor allem aber bedarf sie des „Festhaltens durch Schreiben“ (GD 25). Das Gedicht von der Dauer, das als „liebes Gedicht“ (GD 27) bezeichnet wird bestimmt damit als seinen eigentlichen Gegenstand eine besondere Form der Wahrnehmung alltäglicher Dinge und Beziehungen. Nicht zufällig wird die Dauer wie eine weibliche Geliebte beschrieben, der sich der Schreibende nähert, doch ausdrücklich hat dies nichts mit „Geschlechterliebe“ zu tun, vielmehr können die Erfahrungen der Dauer auch in anderen Situationen, etwa in der Begegnung mit einem Kind gemacht werden. Für ihre Erfahrung findet das Gedicht ein „besonderes Zeitwort: / Sie bestirnen dich“ (GD 31). Diese Suche nach einem Zeitwort, das Dauer ins Bild setzt und die substantivische Denotation vermeidet, wird in späteren Texten wieder aufgenommen (VB 317; BV 265). Weil das Gedicht die Erfahrung der Dauer, die offensichtlich für jeden unterschiedlich ist, für das schreibende Ich an Bilder der Vergangenheit bindet, folgt es der autobiographischen Inschrift vieler Texte Handkes. Es entwirft eine Grundfigur der Erforschung des Eigenen, die sich allen Texten unterschiedslos einschreibt: „in der Stille an diesen Seen / weiß ich, was ich tue, / und in dem ich weiß, was ich tue, / erfahre ich, wer ich bin“ (GD 38). Ausdrücklich wird eine Verbindung zwischen dem Ort der Herkunft und dem des gegenwärtigen Lebens gezogen. Die Erfahrung der Dauer ist nur möglich, wenn in der Gegenwart Vergangenes erinnert und gleichzeitig die Fähigkeit zur Transformation des Erfahrenen entwickelt wird: „an die Stelle des Geredes in mir, / der Marter aus vielen Stimmen, / tritt die Nachdenklichkeit, / eine Art erlösenden Schweigens“ (GD 45). Dabei macht es die innere Dialektik dieses Gedichtes aus, dass die Selbstfindung, die den „Ruck der Dauer“ (GD 53) ermöglicht, nur in einer dialektischen
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4 Wiederentdeckung der Subjektivität: Entwicklungslinien der Lyrik
Figur entstehen kann. Das Ich, das sich konstituiert, sagt von sich selbst: „Von der Dauer beseelt, / bin ich auch jene anderen, / welche schon vor meiner Zeit an dem / Griffener See standen […]“ (GD 52). Diese dissonante Selbsterfahrung hat ihre Entsprechung in der Dialektik des Schreibprozesses selbst. Sie bezieht sich einerseits auf das schreibende Subjekt, das konstatiert, von der Dauer nicht „entrückt“ zu werden. Vielmehr folgert es: „Sie rückt mich zurecht“ (GD 54). Doch davon unabhängig notiert der Schreibende am Ende des Gedichts: „Rucke der Dauer: / Ihr seid nun gefügt / zum Gedicht“ (GD 55). Dass diese pathetisch erscheinende Schlussformel die Abbreviatur des Handkeschen Schreibprogramms ist, die nicht nur für dieses Gedicht gilt, erschließt der Bezug auf das nachgestellte Zitat von Henri Bergson. Dort heißt es, dass kein Bild die Intuition der Dauer ersetzen kann. Stattdessen ist es möglich, dass „viele verschiedene Bilder, entnommen den Ordnungen sehr unterschiedlicher Dinge“ in „ihrer Bewegung zusammenwirken und, das Bewusstsein genau an jene Stelle lenken“, wo dann „eine gewisse Intuition fassbar wird“ (GD 57). Die Rolle der Bilderordnungen in Handkes Schreiben ist damit ebenso vorgezeichnet wie das textübergreifende Netz von Bedeutungen, dass sie in seinem Werk erzeugen.
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Rückkehr zum Erzählen und neue Subjektivität
5.1 Suchbewegungen: Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) In einem Gespräch über den Kurzen Brief äußert Handke, Amerika repräsentiere für ihn eine Welt, „die durch die Kenntnis ihrer Signale vorgegeben ist“ (Scharang ÜH 86). Dies hat für ihn in doppelter Hinsicht Bedeutung. Einerseits kennt er keinen Ort, der „die gleiche Entpersönlichung und Entfremdung“ (Scharang ÜH 87) auslösen kann, andererseits ist Amerika nicht nur ein fremdes und ganz anderes Land, es ist auch „eine Traumwelt, in der man sich selber ganz neu entdecken muß, in der man selbst ganz neu anfangen muß“ (Scharang ÜH 87). Die Schilderung dieses Neuanfangs, der sich auf einer Reise quer durch den amerikanischen Kontinent vollziehen soll, geht allerdings nicht voraussetzungslos vonstatten, sondern bedarf der Rückbezüge. Der Text des Briefs nimmt Fragestellungen vorangehender Texte wieder auf, die er weiterführt und präzisiert. Die Beschreibung der Zeichen und Signale der Neuen Welt lenkt den Blick erneut auf die Frage nach dem Einfluss der Zeichen auf die Wahrnehmung von Wirklichkeit; sie entwirft eine experimentelle Situation und reflektiert sie. Der Brief ist nicht allein Beschreibung einer Entwicklung, sondern ein Roman über die Entstehung von Wirklichkeit durch Zeichen (Nägele 1981, 390). Zudem umfasst die Welt der Zeichen im Brief nicht allein die Sprache, sondern auch die wahrgenommenen Bilder (Schiwy 1973, 31–33). Auf der Reise erinnert sich der Erzähler an seinen ersten Aufenthalt in Amerika. Damals nahm er vor allen Dingen ein Universum neuer Bilder wahr, die auf sein „menschenleeres Bewußtsein“ einwirkten (KB 81). Der zweite Amerikabesuch verknüpft dann bereits alle Wahrnehmungen mit Gefühlszuständen; der Reisende beginnt, den Zeichen durch seine Phantasie Bedeutung zu verleihen. Überdies begegnet er Personen, deren Lebenspraxis von Zeichensystemen bestimmt ist. Das Bewusstsein der Amerikaner, mit denen er in Kontakt tritt, orientiert sich an abbildbaren Mythen des Alltags, das Kind Bénédictine schafft © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_5
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sich eine selbstbezügliche Zeichenwelt, die unabhängig ist von den Reisebildern, die es wahrnimmt. Entschiedener als in vorangegangenen Texten erscheinen die erzählten Zeichensysteme deshalb nicht einfach als Fesseln der Wahrnehmung, sondern als Räume der Phantasie. Sie ermöglichen Durchblicke und Einsichten, die sich bei der bloßen Wahrnehmung alltäglicher Wirklichkeit nicht einstellen. Im gleichen Zug zitiert der Brief offen die literarische Tradition, während frühere Texte diese systematisch zu negieren versuchten. Mit der Literatur des 19. Jahrhunderts verknüpfen den Roman das Thema Amerika und das Motiv der Reise, beide sind zudem auf das Handlungsmuster einer Entwicklung bezogen. Die Rückgriffe auf die literarischen Traditionen des psychologischen, des Entwicklungs- und des europäischen Amerikaromans haben einen gemeinsamen Konvergenzpunkt: Die Fahrt durch die Neue Welt wird zur Reise in ein „Bewußtseinsland“ (Mixner 1977, 145). Allen Außenbildern korrespondieren Innenbilder, alle Erfahrungen verweisen auf Erinnerungen. Diese Doppelbewegung führt für den Erzähler zu einer Bewusstwerdung der eigenen Voraussetzungen, die ohne Zweifel auch zu einer Selbstreflexion des Autors wird. Die Bezüge zur literarischen Tradition sind zwar vielfältig, aber ihre Bedeutung ist nicht einheitlich, zudem erschöpfen sich manche im bloßen Zitat. Ohne Frage bezieht sich der Titel des Romans auf Chandlers The Long Good Bye, und in der Tat geht es um die Geschichte einer Verfolgung, die mit einer Kette von Mordanschlägen verbunden ist. Die Ehefrau Judith reist ihrem Mann, der mit seiner Freundin Claire und deren Kind unterwegs ist, nach und bedroht ihn mehrmals tödlich. Doch damit ist der Rückgriff auf Chandler erschöpft. Dagegen zeigen die dem ersten und zweiten Teil vorangestellten Motti aus dem Anton Reiser von Karl Philipp Moritz, der ständige Rückgriff auf den Grünen Heinrich von Keller, aber auch die Orientierung an Scott Fitzgeralds Great Gatsby, dass der Bezug auf den psychologischen und den Entwicklungs-Roman größeres Gewicht hat. Inhaltlich greift der Brief mit den Motiven der Reise, des Theaters und schließlich des Bildungsgesprächs, der letzten Unterhaltung des Erzählers und seiner Frau Judith mit dem Filmregisseur John Ford, auf diese Tradition zurück (Elm 1974, 354). Zugleich nimmt Handke damit ein Thema wieder auf, das er bereits in der Begrüßung des Aufsichtsrats in den Halbschlafgeschichten ironisch bearbeitet hat und auf das er gesprächsweise immer wieder zurückkommt (Durzak 1982, 106 f.). Allerdings ist die Rückbesinnung auf die Tradition gebrochen; das Konzept des Entwicklungsromans ist Handke problematisch geworden. Er versucht deshalb nicht mehr, eine Entwicklung darzustellen, sondern nur eine „Hoffnung zu beschreiben – daß man sich so nach und nach entwickeln könnte“; die Reise durch Amerika ist die „Fiktion eines Entwicklungsromans“ (Scharang ÜH 88), die Handlungen des reisenden Ich haben keinen Vektor, sondern markieren nur einen chronologischen Ablauf (Zeller 1979, 120). Unabhängig davon benutzt diese Fiktion die auf Geschichte gerichtete Hoffnung, die sich mit dem Land Amerika seit je in der literarischen Tradition verband. Unter den Stationen der Reise, von denen Handke nur einige wirklich kennt, treten die Namen hervor, die im Zuge der Westkolonisation entstehen und von den Hoffnungen der Europäer Zeugnis ablegen. Die Reise, die in Boston, dem
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Ankunftsort der Pilgerväter beginnt, führt über Providence, Phönixville, Columbus und Estacada schließlich nach Bel Air, wo sie in einem Garten John Fords endet, der mit Orangenbäumen bewachsen ist und alle Zeichen des irdischen Paradieses und des Gartens Amerika zeigt, die das europäische Amerikabild des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts bestimmen. Zudem ist auffällig, dass der Ortsname Columbus in der literarischen Tradition sowohl das Symbol für eine Fahrt in die neue Welt als auch eine Station der amerikanischen Expansion auf dem Kontinent nach Westen ist. In Sealsfields Kajütenbuch ist er einer der herausragenden Hoffnungsnamen. Ausgerechnet an diesen Roman erinnert sich der Erzähler (KB 84; Weiss 1975, 444). Einiges spricht dafür, dass John Ford, der Lehrmeister und zugleich Exponent der amerikanischen Lebensart, nach dem Vorbild des Alkalden im Kajütenbuch gestaltet ist, nach einem Patriarchen, der die Lehren der Neuen Welt verkündet. Das Motiv des Aufbruchs nach Amerika wird zudem im Brief szenisch vergegenwärtigt. Im Anschluss an ein Gespräch mit einem Liebespaar in St. Louis, dessen Zusammenleben für den Erzähler fast „die Legende von El Dorado“ (KB 114) erfüllt, hören der Erzähler und seine Begleiter, die sich auf einem Mississippidampfer befinden, dessen Signal, und mit einem Schlag kommt dem Erzähler die Geschichte Amerikas zu Bewusstsein (Nägele 1981, 395). So gewaltig war das Signal, daß ich, während es dröhnte, auseinanderschreckend sekundenlang einen Traum von einem Amerika empfand, von dem man mir bis jetzt nur erzählt hatte. Es war der Augenblick einer routiniert erzeugten Auferstehung, in dem alles ringsherum seine Beziehungslosigkeit verlor, in dem Leute und Landschaft, Lebendes und Totes an seinen Platz rückte und eine einzige, schmerzliche und theatralische Geschichte offenbarte. (KB 121 f.)
Die Passage weist auf die Hoffnungen, die sich mit der Reise durch den anderen Kontinent verbinden. Diese ist eine Sozialisationsgeschichte, die aus der Begegnung mit dem Menschen der Neuen Welt und dessen Zeichenordnung hervorgeht. Insofern löst der Text an dieser Stelle ein, was der literarische Rückbezug auf den Grünen Heinrich und den Anton Reiser verspricht. Wie im psychologischen Roman von Karl Philipp Moritz, der die Selbsterfahrung nicht nur als Weg zum Theater zeigt, sondern sie immer durch die Flucht aus der Stadt hinaus in die Natur entstehen lässt, bildet auch im Kurzen Brief die Erfahrung der Natur einen Bewusstseinswandel des Erzählers auf seiner Reise durch Amerika ab. Bei der Wahrnehmung von Natur werden ihm nicht allein gesellschaftliche, sondern vor allem lebensgeschichtliche Erfahrungen bewusst. Doch anders als für Anton Reiser kann für ihn die Natur nicht einfach Fluchtraum sein, sie markiert nicht den scharfen Gegensatz von Innerlichkeit und Öffentlichkeit, der die literarischen Naturbilder vom Anton Reiser bis hin zum Werther bestimmt. Sie ist vielmehr Teil einer lebensgeschichtlichen Verknüpfung von Innenwelt und Außenwelt, deren Intensität dem Reisenden erst unter dem Eindruck neuer Bilder und Erfahrungen bewusst wird. Deshalb bedeutet die Erfahrung von Natur für ihn nicht einfach eine Freisetzung vom gesellschaftlichen Zwang. Ohnehin ist die freie Natur in Amerika, die der Erzähler noch wahrnimmt,
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immer wieder durch die Bilder der Zivilisation verdeckt. Die Erinnerung an die Natur der Kindheit dagegen ist von vornherein gesellschaftlich und geschichtlich vermittelt. Sie bestätigt das Grundaxiom der Dialektik der Aufklärung, dass die Herrschaft des Menschen über die Natur und die Herrschaft des Menschen über den Menschen unmittelbar miteinander verbunden sind (Adorno GS-7, 173). Beide Naturbilder unterstehen einem eigenen Gesetz. Während die amerikanische Natur dem Reisenden stets nur als Perspektive aus dem Raum der Zivilisation heraus erscheint, im Blick aus dem Fenster, aus dem Auto im Durchfahren einer Landschaft, ist die erinnerte Natur der Kindheit von Anfang an fern der Idylle und schon angstbesetzt. Ich war auf dem Land aufgewachsen und konnte schwer verstehen, wie einen die Natur von etwas befreien sollte; mich hatte sie nur bedrückt, oder es war mir in ihr wenigstens unbehaglich gewesen […]. Weil das Kind sofort in die Natur gezwungen wurde, um darin zu arbeiten, entwickelte es auch nie einen Blick dafür, höchstens einen bloß kuriosen, auf Felsspalten, hohle Bäume und Erdlöcher, in denen man verschwinden konnte, überhaupt auf alle Arten von unterirdischen Höhlen […]. Wenn der Wind ein Weizenfeld bewegte, war es mir nur lästig, daß er mir die Haare in das Gesicht blies, obwohl ich mir ein Weizenfeld, das sich im Wind hin und her wälzte, später oft vorstellte, um mir auszureden, wie unbehaglich mir die Natur immer gewesen war, und doch eigentlich nur deswegen, weil ich mir in ihr nie etwas leisten konnte. (KB 50 f.)
Dass es sich bei der Flucht des Kindes in die Felsschluchten, Bäume und Erdlöcher nicht um Räume der Geborgenheit handelt, bestätigt eine Szene, in welcher der Erzähler, der sich in einer Snack-Bar der Jeffersonstreet befindet, ein „tiefschwarzes Unterholz“ phantasiert und dieses Bild sofort mit dem möglichen Tod Judiths in Zusammenhang bringt (KB 20; Durzak 1982, 114). Weder die Natur noch die Bilder der Zivilisation in der Neuen Welt, aber auch nicht die Flucht in den Traum können deshalb von den Angstzuständen befreien, welche die „leidende Erinnerung“ des Erzählers beherrschen. Schon zu Beginn, als er eine Botschaft seiner Frau erhält, die er zu Recht als einen Abschied deutet, erinnert er sich blitzhaft an Ängste seiner Jugend, an die Bedrohung durch amerikanische Bomber, an die Kinderangst im nächtlichen Wald bei der Suche nach einer vermissten Person (KB 9). Der Schrecken von Claires Kind lässt das eigene Erschrecken wieder entstehen, als dem im Waschbecken badenden Kind plötzlich der Stöpsel herausgezogen wurde (KB 88; v. Hofe/Pfaff 1980, 75). Der Text versucht zwar einerseits, diese Kindheitsmuster in Distanz zu rücken (Elm 1974, 360), andererseits zeigt sich, dass der erwachsene Reisende immer wieder manisch in die Ängste seiner Kindheit zurückfällt. Sein Telefonieren mit Österreich gibt ein Beispiel dafür: In der Neuen Welt imaginiert er sich die Bilder der Alten. Der erste vergebliche Anruf bei der Mutter führt unmittelbar zur Phantasie einer österreichischen Landschaft mit einem Marterl (KB 32), in Tucson erinnert er sich an das Aufwachen des Kindes neben der gerade gestorbenen Großmutter (KB 157), von dort aus ruft er schließlich erneut seine Mutter an und liest dann den Schluss des Grünen Heinrich, der nach Hause zu seiner Mutter
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zurückkehrt, die er im Sterben findet, und dessen Frau aus Amerika wiederkommt. Seine Reaktion auf diese Lektüre ist „hysterisches Weinen“ (KB 172). Wo die Kindheitserinnerungen nicht als Bilder oder Szenen erscheinen, ragen sie als tote Zeichen einer vergangenen Zeit in die Augenblickserfahrungen. Als der Erzähler seinen Bruder im Holzfällerdorf Estacada besuchen will, findet er dort nicht nur ein Pionierdenkmal und eine authentische Pionierszenerie, sondern vor allem wieder die Erinnerung an die Heimat. Der Bruder ist als Holzfäller geblieben, was er in der Alten Welt war, das Zeichen für diese Kontinuität ist ein Kalender, den der Erzähler noch aus seiner Jugend kennt. Der Gedanke, dass sich der Bruder immer wieder den neuen Kalender mit dem neuen Bild nach Amerika schicken lässt, ist ihm so unerträglich, dass er ihn verdrängen muss (KB 176). Weil die Bilder des Neuen an das Vergangene erinnern, kommt es immer wieder zu Zuständen der Dissoziation (KB 163–165; Nägele 1981, 405). Sie durchziehen den ganzen Text und scheinen erst in der Schlussszene aufgehoben. Diese Dissoziationen sind unbewusst mit Erinnerungen an die Mutter verbunden, die „ab und zu schwermütig ist“ (KB 13) und die in ihrem zweiten Telefongespräch mitteilt, sie gehe jetzt viel herum „und vergesse dabei ganz auf die Zeit“ (KB 170), ein Zustand, der auch dem Erzähler häufig widerfährt. Vergleichbare Irritationen bestimmen die Wahrnehmung von Zivilisation und Natur. Objekte können sich zu einer lesbaren Landschaft formen und Landschaften erscheinen als „zu Hieroglyphen verschlungen“ (KB 144; Bartmann 1984, 170). Die ambivalente psychische Bedeutung solcher Transformationen belegt eine Naturwahrnehmung aus dem Fenster des Holiday Inn in Indianapolis, vor dem der Erzähler eine Zypresse auf einem Hügel stehen sieht. Ihre Zweige sahen in der Dämmerung noch fast kahl aus. Sie schwankte leicht hin und her, in einer Bewegung, die dem eigenen Atem glich, ich vergaß sie wieder, aber während ich dann auch mich selber vergaß und nur noch hinausstarrte, rückte die Zypresse sanft schwankend mit jedem Atemzug näher und drang mir schließlich bis in die Brust hinein. Ich stand regungslos, die Ader im Kopf hörte auf zu schlagen, das Herz setzte aus. Ich atmete nicht mehr, die Haut starb ab, und mit einem willenlosen Wohlgefühl spürte ich, wie die Bewegung der Zypresse die Funktion des Atemzentrums übernahm, mich in sich mitschwanken ließ, sich von mir befreite, wie ich aufhörte, ein Widerstand zu sein, und endlich als Überzähliger aus ihrem sanften Spiel ausschied. Dann löste sich auch meine mörderhafte Ruhe, und ich fiel aufs Bett, schwach und angenehm faul. Wo ich war und wann ich woanders sein würde, alles war mir recht, die Zeit verging schnell. (KB 95)
Die Lehre der Sainte-Victoire wird später darüber Aufschluss geben, dass die Zypresse in den Texten des Autors zu einem lebensgeschichtlichen Signifikanten wird. Sie markiert eine psychische Disposition, die Handke allein durch die Fähigkeit zu ästhetischer Selbstreflexion überwinden kann. Es ist kennzeichnend für die Brüchigkeit der Bilder, die im Brief eine Entwicklung markieren, dass noch im Orangenhain John Fords Zypressen als Zeichen des Abgelebten stehen. Der Text des Kurzen Briefs gibt ein Beispiel dafür, dass die ästhetische Selbstreflexion aus einer lebensgeschichtlichen hervorgeht und zugleich eine Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition zur Voraussetzung hat. Sie macht
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deutlich, dass es den unvermittelten Bezug zur Natur nicht mehr geben kann, denn die Zeichen von Natur und Zivilisation sind in der Moderne längst miteinander verschränkt. Ein Traum des Erzählers macht dies sinnfällig: „Zeichen im Sand, die ein dummer Gärtner wie Blumen begoß, Pflanzen, die Wörter bildeten […]“ (KB 105; Nägele 1981, 411). Die Natur kann zu einem System von Zeichen werden, und die Zeichen der Zivilisation können sich in eine zweite Natur verwandeln. Unter diesen Voraussetzungen sind alle Momente der Befreiung bloß augenblicklich, es sind plötzliche Epiphanien (Bohrer 1981, 353; Durzak 1982, 115; Bartmann 1984, 169), die immer nur kurz das problematische Ich vergessen lassen. Doch alle tragen in sich bereits eine Möglichkeit, die sich schließlich entfaltet: aus der „leidenden Erinnerung“ geht eine tätige hervor. Die „tätige Erinnerung“ erhält ihre volle Bedeutung im Umfang der lebensgeschichtlichen Selbstreflexion. Zugleich wird in dieser der Modus einer ästhetischen Anschauung von Wirklichkeit vorgezeichnet, den der Verfasser für sich selbst entwirft. Er beschreibt einerseits, wie die ästhetische Anschauung aus subjektiven Wahrnehmungen hervorgeht und weist andererseits darauf hin, dass sich der Begriff des Subjekts, die Möglichkeit der Selbsterfahrung gegenüber der Tradition verändert haben. Auf einmal begriff ich, wie aus Verwechslungen und Sinnestäuschungen Metaphern entstanden. Die ganze Himmelsgegend, in der die Sonne gerade untergegangen war, blendete jetzt stärker als vorhin noch die unmittelbaren Sonnenstrahlen. Als ich zu Boden schaute, hüpften dort Irrlichter auf, und noch im Hotel griff ich in der Dunkelheit nach einigen Sachen daneben. ‚Mein ganzes Wesen verstummt und lauscht‘: so hatte man sich früher zu den Naturerscheinungen verhalten; ich aber spürte in diesen Augenblicken vor der Natur wieder unangenehm deutlich mich selber. (KB 79)
So tritt an die Stelle des traditionellen Gestus der Innerlichkeit, dem die Natur zur Projektionsfläche des Ich wird und der in der Referenz auf Hölderlin hier vorgezeichnet wird, die Erfahrung eines gefährdeten Ich, das sich auf sich selbst zurückgeworfen weiß und die eigene Individualität in Frage stellt (Hölderlin GSA3, 8). Die Angst vor der unbedingten Setzung von Individualität ruft ins Bewusstsein, dass jede Vorstellung zwangfreier Identität immer schon unerfüllbare Utopie war. Dies macht der im Text kurz danach angesprochene Bezug auf eine der literarischen Vorlagen deutlich. Im Gespräch über den Grünen Heinrich, mit dem sich der Erzähler immer wieder vergleicht, wird deutlich, dass Heinrich Lee die Utopie eines unbefangenen Lebens und Erlebens versuchte und sich so verhielt, dass ihm die Welt zur „Bescherung“ geriet. Den Erzähler dagegen wirft der Rückgriff auf die Wunschwelt der Kindheit zunächst in einen Zustand zurück, in dem Wünsche und Ängste noch unmittelbar miteinander verkoppelt sind (KB 96). Zugleich beginnt er darüber nachzudenken, warum er bereits als Kind durch diese dissonanten Vorstellungen „in einen Taumel versetzt“ wurde. Während ihm die Erinnerung an seine Kinderängste deutlich macht, dass jeder Kindertraum im Spannungsfeld von Ordnungen stand, die sich im Kontext der Sozialisation als bedrohlich erwiesen, gelingt es Claires Kind, von vornherein zu erreichen, was der tätigen Erinnerung des Erzählers nicht möglich ist. Es nimmt die Zeichen von
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Zivilisation als eine zweite Natur wahr und phantasiert sich eine geheime Ordnung in die erschauten Bilder, die nur ihm zugänglich ist und von den Erwachsenen nicht erfasst werden kann. Deshalb lässt eine Umgruppierung der Photos an der Windschutzscheibe das Kind „panisch“ aufschreien (KB 88). Dem Kind der Neuen Welt und der Neuen Zeit gelingt, was dem Erwachsenen der Alten Zeit und Welt nicht möglich ist. Weil für ihn die Hoffnung auf neue Erfahrungen durch die Erinnerungen an eine vom Zwang bedrohte Vergangenheit trügerisch wird, bedarf er einer Befreiung, die weder Vergangenheit noch Zukunft kennt. Es ist kein Zufall, dass sich die Ahnung dieses Zustands ausgerechnet in Providence einstellt. Dieses kurze Aufleuchten der richtigen Zahl aber war so stark gewesen, daß ich es empfand, als ob die Zahl auch wirklich gekommen wäre, aber nicht jetzt, sondern ZU EINER ANDEREN ZEIT. Diese andere Zeit bedeutet nicht etwa die Zukunft oder die Vergangenheit, sie war ihrem Wesen nach eine ANDERE Zeit als die, in der ich sonst lebte und in der ich vor und zurück dachte. (KB 25)
An dieser Perspektive ändert nichts, dass auch diese Erfahrung angstbesetzt ist. Noch in Indianapolis erweist sich die erinnerte Epiphanie der anderen Zeit als bedroht durch einen panischen Schrecken, der auf die schmerzhaften Kindheitserfahrungen zurückweist. Und doch erschrak ich wieder vor diesem Schritt, als mir einfiel, wie notwendig aufgelöst und leer, ohne eigene Lebensform, ich mich in der anderen Welt bewegen würde; ich empfand heftig ein allgemeines paradiesisches Lebensgefühl, ohne Verkrampfung und Angst, in dem ich selber, wie in dem Spiel der Zypresse, gar nicht mehr vorkam, und es grauste mir so sehr vor dieser leeren Welt, daß ich in einer Schrecksekunde das ungeheure Entsetzen des Kindes nacherlebte, das an einer Stelle, wo es gerade noch etwas gesehen hatte, mit einem Mal nichts mehr sah. In diesem Augenblick verlor ich für immer die Sehnsucht, mich loszusein, und bei dem Gedanken an meine oft kindischen Ängste […] fühlte ich plötzlich einen Stolz, dem ein ganz selbstverständliches Wohlgefühl folgte. (KB 101 f.)
Diese Passage legt das widersprüchliche Verhältnis klar, in dem Handkes Text zur Tradition des Entwicklungsromans steht, dessen Handlungsmuster und Themen er zitiert. Mit der literarischen Tradition werden zugleich die dieser zugrunde liegenden Erfahrungen kritisierbar. Dann erst kann sich „auf dem Umweg vermittelter poetischer Erfahrung“ (Mixner 1977, 151) das Bewusstsein von Individualität einstellen. Doch dies ist nur die eine Seite. Die Ambivalenz der geschilderten Naturerfahrung macht jedes literarisch vermittelte Erlebnis problematisch. Dass die Wahrnehmung von Natur im Brief auch als Vereinzelung dargestellt wird (KB 95), macht klar, dass sich Individualität außerhalb von Fiktion zumeist nur um den Preis einer freiwilligen Unterordnung unter vorgegebene Zwänge bewahren lässt. Darauf weist die besondere Rolle, die der Erzähler dem Filmschauspieler Hans Moser deshalb zuspricht, weil dieser in allen seinen Filmen als typisierte Nebenfigur eine Person ist, die sich selbst treu bleibt,
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indem sie ihre Individualität nur innerhalb eines eingeschränkten Bereichs zur Geltung bringt (KB 151). Die herkömmliche und im Lauf der Literaturgeschichte mehrfach vermittelte Vorstellung einer befreienden Wahrnehmung von Natur als Projektionsfläche des Gefühls erweist sich für den Erzähler des Briefs dagegen als leere Utopie. Ihm wird klar, dass die unmittelbare und allein aufs Subjekt gegründete Naturerfahrung ebenso wenig sinnvoll wäre wie die freischwebende Utopie. Die Wahrnehmung der Natur im Brief ist, eben weil sie immer als historisch und gesellschaftlich vermittelt gezeigt wird, nicht beliebig reproduzierbar; von Bénédictine wird sie durch eine Fixierung auf die Zeichen der Zivilisation abgelöst, die als Zeichenwelt und zweite Natur erfahren wird (KB 117; Nägele 1981, 396 f., 411). Diese zweite Natur erscheint zugleich als geordnete Natur. So tritt im modernen Text an die Stelle der Landschaften, die das 18. und 19. Jahrhundert erzählen, strukturgleich eine Welt der künstlichen Zeichen und Zivilisationsbilder. Ihr Zusammenhang wird allerdings erst durch die ordnende Anschauung erfasst. Dabei zeigt sich in diesem fiktiven Reise- und Entwicklungsroman, dass weder die amerikanischen Bilder noch die Erfahrungen der Amerikaner übertragbar sind. Der Reiseweg des Erzählers und die Verfolgungsjagd der Frau münden zwar in eine arkadische Idylle im Garten von John Ford (v. Hofe/Pfaff 1980, 74). Doch die Geschichten der Europäer und die Erzählungen des Amerikaners erweisen sich als invers. Wo Ford die Wir-Geschichte propagiert, die kollektiven Erfahrungen, die den Mythos des ‚american dream‘ ebenso einlösen wie die Paradiesvorstellungen des 19. Jahrhunderts, machen die beiden Reisenden deutlich, dass sie an diesen Punkt nicht mehr zurückkönnen. Wo die epische Vernunft des Regisseurs das Zusammenleben propagiert, suchen sie nach einer Möglichkeit auseinanderzugehen. Während dieser sich am kollektiven Mythos und der Ideologie des Amerikanismus orientiert, befreien sich die Reisenden von den Zwängen des Zusammenlebens. Sie erzählen ihr bisheriges Leben als Geschichte, um sich ohne Hass verlassen zu können; dabei tritt der Erzähler zugleich selbst in die erzählte Geschichte ein (KB 222). Die utopischen Projektionen, die sich für die Europäer nur noch als literarische Fiktionen erhalten können, versucht der Amerikaner Ford naiv als in der eigenen Gesellschaft verwirklicht anzusehen. Auch insofern ist er Sealsfields Alkalden vergleichbar, mit dem der Europäer Sealsfield die Hoffnungen der Alten Welt in eine Geschichte vom Neuanfang verwandelt. Dabei macht schon das Gespräch über Don Carlos mit den Schauspielern in St. Louis deutlich (KB 147–149), dass die Europäer von vornherein als Bewusstseinsgeschichte begreifen und erfahren, was die Amerikaner noch als wirkliche Geschichte erleben. Deshalb allererst ist für den Amerikaner, wie ihn der Kurze Brief vorstellt, das Erleben der Rolle eine positive Erfahrung, während sie dem Europäer nur seine Entfremdung belegt. Als private Geschichte demonstriert dies das Liebespaar, das ohne Zweifel die Kontrafaktur der Geschichte des Erzählers und seiner Frau Judith darstellt. Bei den Europäern gelingt die Einigung darüber, dass man eine missglückte Beziehung wenigstens als ein Ehespiel fortsetzen könne, in dem sich die Personen „wie in einer Choreographie aneinander vorbei“ bewegen, nicht. Dagegen kann das
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Liebespaar allein dadurch zusammenleben, dass es seine ganzen Besitztümer als Symbole für die Gemeinschaft betrachtet. „In unseren Träumen werden mit der Zeit sogar unsere Haushaltsgeräte Haushaltsgeräte der Vereinigten Staaten sein“, sagte das Liebespaar. „Dann könnten wir auch endlich beide das gleiche träumen“ (KB 120). Die inversen Handlungsmodelle, die am Ende des fiktiven Entwicklungsromans stehen, sind gleichwohl miteinander verzahnt, dies aber nicht in einem inhaltlichen, sondern in einem strukturellen Sinn. Während für die Amerikaner die Fiktionen des Films nur eine Wiederholung der Wirklichkeit sind, werden die Europäer durch ihre im Erzählen wie eine Fiktion behandelte wirkliche Geschichte frei für die Wirklichkeit der Phantasie. Damit wird das konventionelle Schema des Entwicklungsromans, der vom Feld der Phantasie in die Wirklichkeit zurückführen will, umgedreht. Ästhetische Wahrnehmung soll weder auf die Praxis zurückverweisen noch eine aufschließende Wirkung für diese haben. Sie tritt vielmehr alternativ neben eine Erfahrung, die nichts anderes als mögliche Anschauungsformen von Wirklichkeit hervorbringt. Was im Anton Reiser noch als Störung des Wirklichkeitssinnes erscheint und im Grünen Heinrich vernünftig reguliert wird, bestimmt hier die Formen des Miteinander-Lebens. ‚Geschichte‘ und ‚Handlung‘ im Brief entstehen im Durchspielen verschiedener Erfahrungen von Wirklichkeit, die allesamt als literarisierte bereits vorweggenommen sind. Wirklichkeit und Fiktion erweisen sich als austauschbar, denn beide unterstellt der Text dem Gesetz des Spiels, das sie aufeinander bezieht. Damit erschließt sich der magische Zusammenhang zwischen der Zeit und der ‚anderen Zeit‘, der den Erzähler betroffen macht. Nur so kann er die ideologische Verkennung von Wirklichkeit, welcher der Amerikaner verfällt, als produktive Möglichkeit der Anschauung von Wirklichkeit ansehen. Gerade im Verkennen der Wirklichkeit beweist sich für ihn die lebensleitende Wechselwirkung von Wahrnehmung und Erfahrung. Sowohl der kindliche Versuch, eine eigene Zeichenwelt aufzubauen, als auch die amerikanische Ideologie machen für ihn deutlich, dass die Formen der Wahrnehmung die Erfahrung von Wirklichkeit bestimmen. Aus dieser Erkenntnis folgt für ihn die Forderung nach einer Vermittlung von Erinnerung, Erfahrung und Anschauung. Sie wird möglich durch das „systematische Erleben“ (KB 124). Dieses, die Entstehung der Metapher aus der Verwechslung, der Übergang von der leidenden zur tätigen Erinnerung, sind Wahrnehmungsformen, die auf eine ästhetische Anschauung von Wirklichkeit zulaufen. Allerdings macht das Motiv der anderen Zeit auch deutlich, dass diese Anschauungsformen weder Konvention sein können, wie sie Literatur bisher vermittelt hat, noch Utopie bleiben dürfen (KB 95 f., 102; Nägele 1981, 408). Weil sich der Erzähler des Briefs der Stringenz ästhetischer Anschauung bewusst wird, muss er die ästhetische und literarische Konvention beseitigen, um die freie Anschauung zurückzugewinnen. Der Versuch, im Abstoß von den Zwängen der Praxis und zugleich von der vorgegebenen literarischen Erfahrung zur unmittelbaren Wahrnehmung zurückzufinden, macht das Zentrum eines neuen Konzepts von Innerlichkeit aus.
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Die ästhetische Wahrnehmung der Wirklichkeit durch den Erzähler ist, obwohl sie mit den vielen Plötzlichkeitszuständen verkoppelt ist, die den Roman durchziehen (KB 194), keine unerklärliche Epiphanie. Sie beruht vielmehr auf einer reflexiven Aufarbeitung des eigenen Lebens und früherer Erfahrungen. Die ästhetische Utopie, die sich inmitten der rückwärtsgewandten Idylle des Fordschen Gartens entfaltet, erwächst aus einem lebensgeschichtlichen Lernen, das erst im Bewusstseinsland Amerika reflektiert werden kann. Das systematische Erleben, das die „leidende Erinnerung“ wie das panische Entsetzen der Kinderzeit ablöst (v. Hofe/Pfaff 1980, 77), zeigt sich dabei als bedingt durch die Erfahrungen eines Leidensdrucks. Gerade das oppressive Regelsystem des Internats, das den Jugendlichen von der Außenwelt fast völlig abschnitt (KB 124; Schiwy 1973, 31–33), versetzt ihn später in die Lage, nicht nur zu erkennen und einzuordnen, was er erlebt, sondern auch zu wissen, welche Erlebnisse ihm noch fehlen. Aus der erinnerten Geschichte seines Leidens erwächst eine Geschichte des Wünschens, welche die ästhetische Anschauung bewahren kann. So führt das neue Bewusstsein des Ich zu einer Korrektur der literarischen Tradition, indem es keine Rangordnung von Phantasie und Wirklichkeit mehr zulässt, sondern zeigt, dass beide austauschbar sind, dass sich natürliche und künstliche, fiktionale Welt spiegelbildlich entsprechen. Daraus erwächst auch eine Kritik des eigenen bisherigen Schreibens (Durzak 1982, 109). Sie legt klar, dass das eigene Leben dazu neigt, ein erfundenes nachzuahmen, während das erfundene Leben auf bekannte Muster der Wirklichkeitserfahrung zurückgreift. Ein eher unbestimmtes Gefühl erinnert den Erzähler an sein früheres Schreiben. Kurz vorher hatte der erste Anruf in Österreich, bei dem das Kind der Nachbarin erzählt, die Mutter komme mit dem letzten Omnibus an (KB 32), die Erinnerung und Phantasie auslösende Situation der Hornissen vergegenwärtigt. Wenig später beginnt der Erzähler über sich nachzudenken und führt aus, schon damals habe ihn ein „Mangel an Kenntnissen und Erlebnissen“ dazu gebracht, sich „darüber hinwegzutäuschen, indem ich die wenigen Tätigkeiten, die mir möglich waren, im Beschreiben so zerlegte, als ob sie von großen Erfahrungen erzählten“ (KB 35). Beim Nachdenken über die Phantasiebilder des Grünen Heinrich, die allesamt von einem Mangel an Beobachtung und wirklicher Erfahrung zeugen, gesteht sich der Erzähler dann aber ein: „Mir fiel wieder ein, daß auch ich lange Zeit nur einen verschrobenen Sinn für die Umwelt gehabt hatte: wenn ich etwas beschreiben sollte, wußte ich nie, wie es aussah, erinnerte mich höchstens an Absonderlichkeiten, und wenn es keine gab, erfand ich sie“ (KB 65). So führt das erzählte Erinnern nicht nur zu einer Bewusstwerdung des Eigenen und des Fremden, es steckt gleichzeitig die Konturen eines neuen Schreibens ab. Hier bereits deutet sich an, dass Handkes Texte auf den Entwurf einer umfassenden Poetologie zulaufen.
5.2 Die Macht der anderen: Wunschloses Unglück (1972)
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5.2 Die Macht der anderen: Wunschloses Unglück (1972) Die Erzählung und der Roman des Jahres 1972, das Wunschlose Unglück und der Kurze Brief zum langen Abschied lassen sich als eine Wende im Werk Handkes ansehen. Die Abwendung von der Fixierung auf das Sprachexperiment bringt ein Erzählen hervor, das eine psychogenetische und autoanalytische Spur erkennen lässt, indem es Segmente von Erinnerung mit neuen poetischen Strategien verbindet. Dies gelingt auch, weil diese Texte auf die literarischen Muster der Biographie und des Entwicklungsromans zurückgreifen, die geeignet sind, von lebensgeschichtlichen Erfahrungen zu berichten. Der Kurze Brief beschreibt eine authentische Reise, der die Geschichte einer sich wandelnden Beziehung zwischen drei Erwachsenen und einem Kind eingeschrieben ist. Weil die Reise im Erfahrungsraum der Neuen Welt stattfindet, gewinnt sie auch Bedeutung durch die zugleich mythischen und utopischen Bilder, die sich mit diesem Lebensbereich verbinden. Wunschloses Unglück beschreibt dagegen einen Weg zurück. Am Beispiel der Geschichte seiner Mutter, die der Autor nach ihrem Selbstmord zu schreiben beginnt, und die sich als ein umgedrehter Entwicklungsroman (Durzak 1982, 118) lesen lässt, gerät das proletarisch-bäuerliche Österreich ins Blickfeld, das auch die Vergangenheit des Autors bestimmt. Beide Texte verfügen über eine autobiographische Zentrierung, sie führen deshalb auf andere Weise zu einer psychologischen Zuspitzung der Frage nach der Rolle von Sprache bei der Abbildung und praktischen Bemeisterung von Wirklichkeit. Grundsätzlich sind auch sie, wie die vorangehenden Texte und Stücke, durch den Versuch geprägt, individuelle Erfahrungen und persönliche Empfindungen in Sprache und zugleich in literarischen Mustern aufzubewahren, mitzuteilen oder zu verändern. Auf diese Konstellation weist schon der Beginn der Erzählung Wunschloses Unglück. Er gibt zunächst die unter der Rubrik „Vermischtes“ in der Kärntner Volkszeitung gedruckte Nachricht vom Tod der Mutter Handkes wieder und berichtet unmittelbar darauf vom durch den Freitod ausgelösten „Bedürfnis über sie zu schreiben“ (WU 7). Die erzählte Geschichte der Mutter wird zum Gegentext der unpersönlichen Notiz, sie ist ein Versuch der Vergegenwärtigung individuellen Lebens, das durch die Sprachformel verdeckt zu werden droht, und sie will deshalb auf die Hilfe der „religiösen, individualpsychologischen oder soziologischen Traumdeutungstabelle“ (WU 11) verzichten. Die persönliche Betroffenheit, die das Schreiben hervorbringt, lässt nicht allein die Sprache, sondern allererst das Schreiben und die Schreiberfahrung des Autors als Problem erkennen. Zuerst wird deutlich, dass es schwierig ist, ein individuelles Leben zu erfassen, das schon als „Fall“ bekannt ist und dessen Eigenart durch das literarische Muster der Biographie ebenso verschüttet zu werden droht, wie durch die formelhafte Zeitungsnotiz.
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5 Rückkehr zum Erzählen und neue Subjektivität Das Gefährliche bei diesen Abstraktionen und Formulierungen ist freilich, daß sie dazu neigen, sich selbständig zu machen. Sie vergessen dann die Person, von der sie ausgegangen sind – eine Kettenreaktion von Wendungen und Sätzen wie Bilder im Traum, ein Literatur-Ritual, in dem ein individuelles Leben nur noch als Anlaß funktioniert. Diese zwei Gefahren – einmal das bloße Nacherzählen, dann das schmerzlose Verschwinden einer Person in poetischen Sätzen – verlangsamen das Schreiben, weil ich fürchte, mit jedem Satz aus dem Gleichgewicht zu kommen. (WU 44 f.)
Auch hier bestätigt sich die prägende Bedeutung der Erinnerung. So wie das Erzählen Zusammenhänge stiftet, indem es zu Begründungen und Zeitangaben „die Ordentlichkeit eines üblichen Lebenslaufschemas“ (WU 48) fingiert, schafft das Sich-Erinnern das Bewusstsein abgeschlossener Lebensphasen, weil es Leerstellen systematisch verdeckt oder durch erdachte Bilder und eine sprachliche Ordnung eliminiert. Dadurch erwächst aus der mitunter durch Normierung verstellenden Macht von Sprache und Erinnerung auch eine produktive Kraft. Über die berichteten Zustände heißt es: Indem ich sie beschreibe, fange ich schon an, mich an sie zu erinnern, als an eine abgeschlossene Periode meines Lebens, und die Anstrengung, mich zu erinnern und zu formulieren, beansprucht mich so, daß mir die kurzen Tagträume der letzten Wochen schon fremd geworden sind. (WU 10)
Die Anforderungen der Biographie machen mehr als vorangegangene Texte die Spannung zwischen der Sprachformel und dem Anspruch auf unmittelbaren Ausdruck deutlich, die sich als eine Erfahrung des Schreibenden selbst einstellt; sie hat nicht allein einen sprachlichen, sondern vor allem einen psychologischen Grund. Sie ist nicht nur Ergebnis einer „Trauerarbeit“ (Nägele 1983, 397), sondern vor allem Resultat eines Verschiebungsprozesses, der das Schreiben erst hervorbringt. Die Betroffenheit über den Tod prägt auch die Schreibsituation. Das Erzählen beginnt damit, dass nach Weichen der „Anfangsvorstellungen“ das „Bewußtsein schmerzte, so leer war es darin auf einmal geworden“ (WU 10). Das Schreiben wiederholt deshalb zunächst das Entsetzen vor dem Tod. Es bewahrt zugleich die „Momente der äußersten Sprachlosigkeit und das Bedürfnis, sie zu formulieren“ (WU 11). Der Bericht über den Tod der Mutter ist ebensosehr ein Versuch, sich an eine Sache heranzuschreiben, wie eine Methode des Beiseiteschiebens und Bewältigens. Doch gerade diese erweist sich als zunehmend schwierig. Der Autor, der es gewohnt ist, sich sonst „von Satz zu Satz mehr aus dem Innenleben der beschriebenen Gestalten“ zu entfernen, erreicht gerade nicht die „übliche […] abgeklärte […] Vogelperspektive“ (WU 46), seine Mutter wird nicht „zu einer beschwingten und in sich schwingenden, mehr und mehr heiteren Kunstfigur. Sie läßt sich nicht einkapseln, bleibt unfaßlich, die Sätze stürzen in etwas Dunklem ab und liegen durcheinander auf dem Papier“ (WU 47). Vor allem wird deutlich, dass das „Namenlose“ und die „sprachlosen Schrecksekunden“ (WU 47) nicht allein der erzählten Lebensgeschichte angehören, sondern dem vergangenen Leben des Erzählers selbst. In der mitgeteilten
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Geschichte entdeckt er die Spuren einer vergessenen eigenen; in der Lebensbeschreibung der Mutter erinnert er sich auch an sein Herkommen. Damit beginnt für ihn die „langsame Heimkehr“, von der später der gleichnamige Roman wie die ganze Tetralogie erzählen. Was als eine „Sozialgeschichte des Individuums“ (Durzak 1982, 121; Mixner 1977, 185) erscheint, zeigt damit nicht nur die Macht der gesellschaftlichen Instanzen und Normen. Es legt vielmehr, nicht anders als das Drama des Kaspar, allererst klar, dass sich diese in Sprache niederschlagen und dass es vor allem Sprache ist, womit sie sich durchsetzen. Daraus ergibt sich eine weitere Verbindung zwischen der Schreibsituation des Biographen und der Lebenssituation seiner Mutter; auch sie erweist sich als doppelte Beziehung. Sie bestimmt zum einen die erzählte und die eigene Sozialisationsgeschichte, in der die Sprache als Ideologie und gesellschaftliche Zeichenpraxis wirkt (Nägele/Voris 1978, 58), und sie weist zum anderen auf die Macht der literarischen Formel, welcher der Biograph und Erzähler untersteht, sobald er zu schreiben beginnt. Die verstellende Macht der literarischen Sprachmuster erscheint jetzt symmetrisch zur ideologischen Gewalt der Sprache und Sprachspiele, die als entscheidende Sozialisationsmuster des mütterlichen und des eigenen Lebens kenntlich gemacht werden können. Die Enge, die Perspektivlosigkeit und das sprachlose Leiden in der ländlichen Lebenswelt, die der Biograph gleich zu Beginn an der Familiengeschichte seiner Mutter deutlich macht, finden ihre verkürzte Zusammenfassung in einem Kinderreim, der als Deutungsmuster erzählt wird: „Müde/Matt/Krank/Schwerkrank/Tot“ (WU 17). An anderer Stelle erweist sich das Sprachspiel der Kinder als ein Sozialisationsspiel, das die Anpassung an die gesellschaftlichen Besitzverhältnisse einübt, indem es „das Gesellschaftssystem als Stufenleiter“ beschreibt: „‚Kaiser – König – Edelmann / Bürger – Bauer – Leinenweber / Tischler – Bettler – Totengräber‘: ein Spiel, das im Übrigen nur in den kinderreichen Familien der Bauern, Tischler und Leinenweber vollständig nachgespielt werden konnte“ (WU 25). In kurzen Zügen macht der Biograph deutlich, wie diese sprachliche Einübung in das Bestehende, in der die Politik „als Merkwort oder, wenn bildhaft, dann als menschenloses Sinnbild eingetrichtert worden war“ (WU 25), die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Mutter in den „Gemeinschaftserlebnissen“ (WU 23) aufzuleben beginnt, welche die Nationalsozialisten inszenieren. Ihr neues Lebensgefühl wird, fatal genug, durch den Aufbruch in den Krieg nur bestärkt; in diese Zeit ausgerechnet fällt ihre „erste Liebe“ (WU 27). In diesen Bereich kehrt die Mutter nach Krieg, Ehe und Großstadterfahrung zurück, und es zeigt sich, dass sich dort nichts verändert hat. Auch dies lässt sich sprachlich dokumentieren. Hinter den „heimeligen“ Bezeichnungen für die Gegenstände der ländlichen Lebenswelt (WU 63 f.; Weiss 1975, 450) wird die Kontur ärmlicher und bedrückender Verhältnisse nur umso deutlicher. In einer eingeschobenen Reflexion über die „Armut“ bezieht der Erzähler die ideologische Macht der Worte zugleich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und auf ihre literarische Spiegelung. Er hebt hervor, dass die Habenichtse, die nach dem Verständnis der Gesellschaft wenigstens sauber zu sein haben, „die fortschrittlich zu ihrer Sanierung bewilligten Mittel für ihre eigene Stubenreinheit“ (WU 59)
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ausgeben, und er verbindet diese Beobachtung mit der literaturkritischen Feststellung, dass es vom Elend „sinnliche Beschreibungen, von der Armut nur noch Sinnbilder“ (WU 60) gebe, weil „an der reinlichen, doch unverändert elenden Armut […] nichts zu beschreiben“ (WU 61) sei. In seiner eigenen erschriebenen Erinnerung an die Mutter bleibt das Wort Armut kein „niedlich-putziges Memoirensignal“, gelingen keine „Erinnerungshäkeleien“, sondern der Blick wird frei auf die tatsächlichen Verhältnisse. Von Anfang an erpreßt, bei allem nur ja die Form zu wahren: schon in der Schule hieß für die Landkinder das Fach, das den Lehrern bei Mädchen das allerwichtigste war, ‚Äußere Form der schriftlichen Arbeiten‘; später wird es fortgesetzt in der Aufgabe der Frau, die Familie nach außen hin zusammenzuhalten; keine fröhliche Armut, sondern ein formvollendetes Elend; die täglich neue Anstrengung, sein Gesicht zu behalten, das dadurch allmählich seelenlos wurde. (WU 61 f.)
Die Macht der gesellschaftlichen Sprachregelungen erweist sich daran, dass die Mutter selbst, um nicht aufzufallen, eingeschliffene Wendungen benutzt, die ihre wahre Natur verstellen. „Ein maskenhaftes Gesicht […] eine verstellte Stimme, die, ängstlich um Nicht-Auffallen bemüht, nicht nur den andern Dialekt, sondern auch die fremden Redensarten nachsprach […]“ (WU 40). So führt die langsame Heimkehr der Mutter unvermittelt zu den Koordinaten ihrer Jugend zurück, und wiederum kann sie sich nicht gegen diese behaupten. Über die ländlichen Zustände der Kindheit äußerte der Erzähler: „Als Frau in diese Umstände geboren zu werden, ist von vornherein schon tödlich gewesen“ (WU 17). Jetzt heißt es noch viel grundsätzlicher: Das persönliche Schicksal, wenn es sich überhaupt jemals als etwas Eigenes entwickelt hatte, wurde bis auf Traumreste entpersönlicht und ausgezehrt in den Riten der Religion, des Brauchtums und der guten Sitten, so daß von den Individuen kaum etwas Menschliches übrig blieb; ‚Individuum‘ war auch nur bekannt als ein Schimpfwort. (WU 51)
In seinen Persönlichen Bemerkungen zum Jubiläum der Republik hat Handke ausgeführt, wie unmittelbar diese erzählten Erfahrungen nicht nur seine Familie, sondern ihn selbst betreffen und wie diese „Zeit der Unfreiheit“ noch während seines Studiums fortdauerte (EF 56 f.). Die Engführung des beschriebenen und des eigenen Lebens weist nicht nur auf Übereinstimmungen in den Lebensläufen von Mutter und Sohn, sie legt gleichzeitig werkbestimmende Obsessionen des Schreibenden frei; auch im Kurzen Brief ist die Erinnerung an die kindlichen Naturerfahrungen den erinnerten Schreckbildern des Wunschlosen Unglücks vergleichbar. Doch dort vor allem erhält das Wiedererkennen des Eigenen im Fremden, die schreibende Annäherung an die Mutter, die zugleich eine Erinnerung an die Bedingung der eigenen Jugend ist, eine Dynamik, die über den ursprünglichen Ansatz des Schreibens hinausgeht. Von Anfang an werden zwar im Traumleben die Gefühle der Mutter für den Erzähler „so körperlich […], daß [er] diese als Doppelgänger erleb[t] und mit ihnen identisch [ist]“, doch zugleich gibt es Momente, in denen „das äußerste Mitteilungsbedürfnis
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mit der äußersten Sprachlosigkeit zusammentrifft“ (WU 48). Gleichwohl drängt sich die Erinnerung an die Mutter „bei dem Gedanken an die Idiotie ihres Lebens“ geradezu körperlich auf, „sie wurde fleischlich und lebendig, und ihr Zustand war so handgreiflich erfahrbar, daß ich in manchen Augenblicken ganz daran teilnahm“ (WU 78). Damit entwirft das Schreiben eine phantastische Beziehung zur Mutter, welche die Grenze zwischen ihr und dem Schreibenden verschwinden lässt. Das Erzählen bewahrt und wiederholt zugleich den Prozess der Einschreibung des Fremden in das Eigene, der die Geschichten von Mutter und Sohn wie ihre gegenseitige Beziehung bestimmt. Eine angstbesetzte Erinnerung an die Gewalt dieser Prägung findet in den Phantasien des sich auflösenden Körpers ihr angemessenes Bild. Es ist von besonderer Bedeutung, dass diese sowohl der gelebten Entwicklung der Mutter wie der erschriebenen Entwicklung des Autors zugeordnet sind. Zu Beginn ihrer Krankheit findet der Erzähler seine Mutter auf dem Bett liegend, und er phantasiert sie als einen zerstörten Körper, bei dem alles „Innen“ nach „Außen“ getreten ist. „Wie in einem Zoo lag da die fleischgewordene animalische Verlassenheit. Es war eine Pein zu sehen, wie schamlos sie sich nach außen gestülpt hatte; alles an ihr war verrenkt, zersplittert, offen, entzündet, eine Gedärmeverschlingung“ (WU 77). Dieses Bild verdichtet die Erfahrung einer gestörten Ökonomie von Drinnen und Draußen, die von Anfang an Signatur des mütterlichen Lebens ist und „Innenwelt“ und „Außenwelt“ schon immer auf eine bestürzende Weise ineinander übergehen lässt (Nägele 1983, 396 f.). „Regen – Sonne, draußen – drinnen: die weiblichen Gefühle wurden sehr wetterabhängig, weil ‚Draußen‘ fast immer nur der Hof sein durfte und ‚Drinnen‘ ausnahmslos das eigene Haus ohne eigenes Zimmer“ (WU 19). Es ist kein Zufall, dass sich bereits diese Bedingungen der mütterlichen Sozialisationsgeschichte als Unterdrückung des eigenen Wünschens durch die Wünsche der anderen erweist. „Selten wunschlos und irgendwie glücklich, meistens wunschlos und ein bißchen unglücklich“ (WU 19). Damit erweist sich der Titel Wunschloses Unglück als literarische Negation einer gängigen Sprachformel, die einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Unterdrückung des Wunsches zuzuordnen ist, an die sich der Autor erinnert. Wunschloses Unglück heißt nicht nur Unglück ohne Wünschen, es weist vielmehr auf die Unfähigkeit, die eigenen Wünsche zu formulieren oder einzulösen. Der Tod, auf den dieses wunschlose Unglück zuläuft, ist nichts anderes als das Ende aller Wünsche und doch der einzige Wunsch, den sich die Mutter selbst erfüllen kann. Doch für den Erzähler kehren nicht nur die Erinnerungen an die „Zustände aus einer Gespenstergeschichte“ (WU 47 f.) und diese Gespenster selbst, die „Revenants der Jugend“ (Nägele 1983, 397) wieder, sondern vor allem die Phantasien einer körperlichen Dekomposition im Schreiben. Diese fassen die lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Erinnerungen zusammen und verstärken sie zugleich in der Wiederholung. Statt Distanz zu schaffen, bewahrt sein Schreiben das Entsetzen: Noch immer wache ich in der Nacht manchmal schlagartig auf, wie von innen her mit einem ganz leichten Anstupfen aus dem Schlaf gestoßen, und erlebe, wie ich bei angehaltenem Atem vor Grausen von einer Sekunde zur andern leibhaftig verfaule (WU 99)
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Sowohl das Scheitern der Mutter im Leben als auch die Schwierigkeiten des Autors beim Erzählen (Bohn 1976, 376) verzeichnen aber auch die Spur einer Entwicklung. Die Befreiungsversuche der Mutter, die aus den bäuerlichen Verhältnissen schließlich in die Ehe führen, misslingen allerdings bereits im Ansatz. An der Frau vollzieht sich ein „Naturschauspiel mit einem menschlichen Requisit, das dabei systematisch entmenscht wurde“ (WU 62). An anderer Stelle heißt es über diese Zeit: „Sie wurde ein neutrales Wesen, veräußerte sich in den täglichen Kram“ (WU 38); die Ehe selbst erweist sich als eine Fortschreibung der früheren Unterdrückung, in der die Gewalt ins Innere des Hauses verlagert ist (WU 43). Dies macht die Mutter zunächst unfähig, eigene Initiativen zu entwickeln; es wirkt sich selbst im Alltag der Hausfrau aus. Die Möglichkeit zu „immer mehr Zeit für einen selber“, welche die Maschinen im Haushalt eröffnen, bestärkt nur eine tiefe Ratlosigkeit, „man stand nur wie schrecksteif herum, schwindlig von dem langen Vorleben als bestes Stück und Heinzelmännchen“ (WU 66). Doch es gibt eine Gegenbewegung. Das Lesen, vor allem das Lesen von Literatur, eröffnet der Mutter, die ihr eigenes Leben mit dem Gelesenen zu vergleichen beginnt, die Möglichkeit, „von sich zu reden; mit jedem Buch fiel ihr mehr dazu ein“ (WU 67). Nicht nur ihre Reden, sondern vor allem ihre Briefe, die der Text in zunehmendem Umfang verzeichnet, belegen eine zunehmende Bewusstwerdung. Die Mutter entwickelt eine eigene Sprache (Durzak 1982, 122) und erkennt ihre Situation als Selbstentfremdung (WU 88), sie sieht zugleich die tiefe Fremdheit, die sie ihrem Mann gegenüber empfindet (WU 89). Allerdings führt das Bewusstsein über diese Situation nicht dazu, den Zustand, der dafür verantwortlich ist, aufzuheben. Die Biographie verzeichnet lediglich das „Erwachen eines verkümmerten Ich“ (Durzak 1982, 123), das weder physisch noch psychisch in der Lage ist, neu zu beginnen. Der Bewusstwerdung und Selbstgewissheit entgegenläuft, nur kurz unterbrochen durch einen vierwöchigen Urlaub in Jugoslawien (WU 84 f.), das Gesetz des zerbrechenden Lebens (Weiss 1975, 448). Zudem ist die Bewusstwerdung der Mutter von Anfang an nicht auf Veränderung aus. Auch ihre neuen Verhaltensweisen durchbrechen nicht grundsätzlich den gewohnten Lebenszusammenhang; alles, was wie ein emanzipatorischer Akt beginnt, endet im Althergebrachten, an keiner Stelle kommt es zu einer anarchischen Auflehnung (Mixner 1977, 187). „Sie versuchte, unordentlich zu werden, aber dazu hatten sich die täglichen Handgriffe schon zu sehr verselbständigt“ (WU 74). So verstärkt das Bewusstsein, das die Lektüre schafft, nur die Gewissheit des Verfehlten und Uneinholbaren. Die Mutter liest die Bücher „nur als Geschichten aus der Vergangenheit, niemals als Zukunftsträume; sie fand darin alles Versäumte, das sie nie mehr einholen würde“; ihr „zweiter Frühling“ ist kein Neubeginn, sondern „nur eine Verklärung dessen, was man einmal mitgemacht hatte“ (WU 68). Unter diesen Voraussetzungen erscheint der Selbstmord als ein Akt der Selbstbestimmung und zugleich als endgültige Bestätigung der Perspektivenlosigkeit dieses Lebens. Er demonstriert ein letztes Mal, dass die Bewusstwerdung der Mutter, die Erfahrung der Selbstentfremdung nicht nur zur Voraussetzung hat, sondern auch weiter präsent hält.
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Die Beschreibung dieser Entwicklung ohne Ziel verändert gleichwohl den Schreibenden, seine Distanz gegenüber dem beschriebenen Leben schwindet in zunehmendem Maß. Schließlich kommt es zu einer Wende in seiner Erzählhaltung. Im Bericht über das Leben der Mutter verwendet er nicht mehr das unpersönliche „man“, sondern fühlt sich gedrängt, „sie“ zu sagen. Unter den Zwängen des Vorgegebenen entdeckt er die Rudimente einer sich herausbildenden Individualität und zugleich die Grundlagen des eigenen Ich, die beide vermittels der distanzierten Sprachformeln nicht auszudrücken sind. Dem grammatischen Wechsel der Erzählperspektive, den das Erkennen dieses Zusammenhangs erfordert, korrespondiert der Sachverhalt, dass der Erzähler in zunehmendem Maß von sich selbst spricht; der Wende zum „sie“ korrespondiert ein auffälliges Hervortreten des „ich“. Ausgerechnet dies unterstreicht, dass der Erzähler, der bis zuletzt die Distanz wahren will, jetzt empathisch wie ein anderer fühlen kann. Sein Schreiben wird zu einem Sich-Einträumen in die Erfahrungen der Mutter. Bei ihrer Beerdigung wiederholt sich durch seinen Blick vom Grab auf die unbeweglichen Bäume hinter der Friedhofsmauer das Lebensgefühl der Toten, gleichzeitig verfestigen sich die Erinnerungen an die eigene Jugend, welche die Geschichte der Mutter durchziehen: erstmals erschien mir die Natur wirklich unbarmherzig. Das waren also die Tatsachen! Der Wald sprach für sich. Außer diesen unzähligen Baumgipfeln zählte nichts; davor ein episodisches Getümmel von Gestalten, die immer mehr aus dem Bild gerieten. Ich kam mir verhöhnt vor und wurde ganz hilflos. (WU 98)
Dieses Nachleben der Erfahrung eines anderen, das durch das Erzählen initiiert und verstärkt wird, verändert den Schreibenden selbst. Als er am Abend im Haus die Treppe hinaufgeht, wird seine Verwandlung sinnfällig: Plötzlich übersprang ich ein paar Stufen mit einem Satz. Dabei kicherte ich kindisch, mit einer fremden Stimme, als würde ich bauchreden. Die letzten Stufen lief ich. Oben schlug ich mir übermütig die Faust auf die Brust und umarmte mich. Langsam, selbstbewußt wie jemand mit einem einzigartigen Geheimnis, ging ich dann die Treppe wieder hinunter. (WU 98)
Die Gefahr, dass die Geschichte „zu sehr sich selber erzählt“ (WU 91), wird vermieden; stattdessen verliert der Erzähler immer mehr die Kontrolle über das Berichtete, im gleichen Zug gewinnt die Mutter als Person Kontur. Das Schreiben bleibt nicht bloße „Erinnerung an eine abgeschlossene Periode“ des eigenen Lebens. Vielmehr erweist sich, dass das Erinnerte fortlebt und dabei die literarischen Formen und Formeln zerschlägt, mit deren Hilfe der Autor zuvor „ein bißchen lügen“ und sich „verstellen“ konnte (WU 100). Damit bestätigt das Erinnern im Schreiben eine in der Schrift wiederholte körperliche Nähe zwischen Autor und Figur, die diese als Effekt eines schreibenden Körpers zeigt (Nägele 1983, 393). Weil dieser Sachverhalt auch ins Bewusstsein des Autors drängt, verlangt er danach, bisherige Methoden des Schreibens in Frage zu stellen. In dem Maß, wie sich das Selbstbewusstsein des Autors aus einer Erfahrung von Ver-
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schränkung und Distanz zugleich mit den anderen begründet, schwindet das Vermögen zur geschlossenen literarischen Form. Die Einheit des biographischen Musters wird in dem Augenblick, in dem sie die wirkliche Einheit des berichteten Lebens zu erfassen beginnt, durch die Macht des erinnernd Vergegenwärtigten und durch die aufbewahrten Erfahrungen zerschlagen; sie verwandelt sich in ein Verzeichnis von Erinnerungsfetzen, die sich nicht mehr miteinander verbinden lassen. Der letzte Satz „Später werde ich über das alles Genaueres schreiben“ (WU 105) weist deshalb nicht so sehr auf den Versuch, Abstand zu gewinnen, er ist vielmehr Programm eines zukünftigen Schreibens, in dem die authentische Erfahrung, die Kraft der Erinnerung und der poetische Entwurf aneinander vermittelt werden sollen. Der Schlusssatz der Erzählung verweist auf einen Prozess, der nicht endet, er ist Bestätigung für eine fortdauernde Bedeutung des Autobiographischen, das zum Zentrum des Schreibens wird. Diese autobiographische Rückbiegung, deren Macht das Schreiben an der Biographie der Mutter klarlegt, wird sich nachfolgend als Inschrift eines poetischen Verfahrens erweisen, das sich mit guten Gründen an Stifter orientiert und versucht, eine lebensgeschichtliche Erfahrung in ein poetisches Programm zu übersetzen: das Bild einer neuen Welt soll aus den Ruinen der alten entstehen (Nägele 1983, 391).
5.3 Der einzige und sein Eigentum: Die Stunde der wahren Empfindung (1975) Das Motiv des anderen Landes, das den Kurzen Brief bestimmt, ist auch für die Stunde der wahren Empfindung von Bedeutung. Diese bezieht sich nicht nur auf die literarischen Vorbilder Rilke, Kafka und Sartre, sondern immer wieder auch auf eigene Texte Handkes. Vor allem der Rückgriff auf den Tormann ist nicht zu übersehen (Nägele/Voris 1978, 61–63). Auch diese Erzählung stellt zunächst die Frage nach den Möglichkeiten der Erfassung von Wirklichkeit durch die Sprachformel. In einer Pressekonferenz bedenkt Gregor Keuschnig das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit und seine dadurch bestimmte Erfahrung: Hier wurde nichts gesagt, was nicht zum Mitschreiben bestimmt war; schon das war beruhigend! Keuschnig verstand nicht mehr, warum er so erleichtert gewesen war, als vor einigen Monaten, nach den Wahlen, statt der Wahlplakate wieder die vertrauten, lieben Reklamemotive an den Wänden erschienen. Hatten denn die Wahlplakate gedroht, daß etwas PASSIEREN würde? Warum hatte er damals die Wahlen als bloßen Spuk empfunden? Nun fühlte er sich seltsam behütet davon, daß für ihn Politik gemacht wurde. […] Ich bin definiert! dachte er – und das schmeichelte ihm. Definiert zu sein machte ihn endlich unauffällig, auch vor sich selber. (SWE 71 f.)
Damit scheint sich Keuschnig bewusst einer Situation auszuliefern, der sich der Kaspar noch zu verweigern sucht. Bei diesem wird die Determiniertheit des Subjekts durch Sprache unverhüllt zum Ausdruck gebracht und nicht nur als Verlust der eigenen Identität verstanden. Das Einnehmen einer Rolle, das im Kurzen Brief noch am Beispiel der Amerikaner, ihres Theaters und ihrer Bilder und mit Blick auf Hans
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Moser geschildert ist, wird hier als Erfahrungszustand der Figur selbst dargestellt. Wie der Reisende im Brief hat sich Keuschnig beständig mit dem Einfluss der Sprache und der kulturellen Zeichen auf seine Wahrnehmung auseinanderzusetzen, seine Aufgabe als Pressereferent ist es, gemäß den Richtlinien des österreichischen Außenministeriums den Franzosen ein Bild von Österreich zu vermitteln. Dabei kommt es zu einem Vergleich des einen Landes mit dem anderen, der Keuschnig nicht nur die Schablonenhaftigkeit der politischen Sprache bewusst macht, es befällt ihn zugleich auch ein Ekel vor den Ritualen der Lebenspraxis (Pütz 1982, 73 f.). Verstärkt wird dies dadurch, dass der Text schon zu Beginn über den Traum des Protagonisten berichtet, „ein Mörder geworden zu sein und sein gewohntes Leben nur der Form nach weiterzuführen“ (SWE 7). Damit beginnt die Geschichte einer durchgreifenden Bewusstseinsveränderung. Keuschnig will die Situation, der er sich ausgeliefert fühlt und die er als unumgänglich erkannt hat, bewusst verstärken. Er erfährt nicht nur eine Entfremdung durch Sprache, sondern er versucht umgekehrt, seine unmittelbare Erfahrung und Wahrnehmung durch Versprachlichung beliebig zu machen. Diese manische Zerstörung der individuellen Erfahrung durch Sprache wird zur Voraussetzung der Suche nach einer authentischen Situation und der wahren Empfindung. Allen Versuchen, die Wirklichkeit vermöge der Sprache ins Postkartenbild zu verwandeln, setzt Keuschnig die einfachen Wahrnehmungen entgegen, die auf dem bloßen Schauen beruhen. Die Formeln und Muster der Sprache und die Rituale des Alltags erscheinen ihm als komplementäre Bereiche; sie umschließen Erfahrungen und Wahrnehmungen, die er noch nicht aussprechen kann. Sein Gefühl der Geborgenheit während der Pressekonferenz begründet sich aus einer Wahrnehmung des ihm Entgegenstehenden; Selbstbewusstsein gründet sich auf die Erfahrung des andern. Zugleich macht der Text das Trügerische einer nur sprachlich vermittelten Selbstversicherung bewusst. Der Schriftsteller, der in mancher Hinsicht auf frühere literarische Ansätze Handkes zurückweist, indem er Rituale der Wiederholung und Systeme der Wahrnehmung beschreibt, macht seinen grundsätzlichen Zweifel an der Angemessenheit sprachlicher Formeln später ausführlich deutlich: Ich wundere mich, wie man in den Sternen Bilder sehen kann. Mir gelingt es nicht, jeweils einzelne unter den Sternen als SternBILDER zusammenzunehmen. So habe ich auch keine Idee, wie ich all die einzelnen Erscheinungen zu ErscheinungsBILDERN zusammenfassen sollte. Ist euch aufgefallen, wie oft manche Philosophen die Wörter ‚versöhnen‘, ‚bergen‘ und ‚retten‘ verwenden? VERSÖHNT werden bei ihnen die BEGRIFFE; GERETTET werden die ERSCHEINUNGEN, und zwar von den BEGRIFFEN, und GEBORGEN sind die von den Begriffen geretteten Erscheinungen dann in den IDEEN. Ich kenne wohl die Ideen, aber ich fühle mich nicht in ihnen geborgen. Ich verachte nicht die Ideen, sondern diejenigen, die sich in ihnen geborgen fühlen – vor allem, weil sie dort vor mir in Sicherheit sind. Geht es dir ähnlich, Gregor? Wachst du nie auf, und es gibt den Zusammenhang nicht mehr? (SWE 92 f.)
Für Keuschnig dagegen erwächst der Versuch, Geborgenheit in der Sprache zu finden, aus der bewussten Absicht, sich einem als fremd empfundenen Zusammenhang zu überantworten. Der Wunsch, im Fremden bei sich zu sein, zeigt sich beispielsweise bei der Schilderung eines Blumenkaufs (SWE 25 f.). Keuschnig
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erfreut sich am bloßen „Bedient-Werden“, das keinerlei persönliche, sondern nur eine geschäftsmäßig unpersönliche Haltung ist. Damit übereinstimmend erscheinen ihm alle Situationen fremd, die durch Sprache, Assoziation oder Gewohnheit Vertrautheit oder eine enge persönliche Beziehung herstellen: ihnen verweigert er sich grundsätzlich. Die einzige Person im Text, die dies erkennt, ist der Schriftsteller, dem einfache Beobachtungen dazu genügen. Ihm fällt auf, dass Keuschnig, der sich früher stets verändert hatte, nunmehr bemüht ist, „wie immer auszusehen“. Daran anschließend bemerkt er: Du hast so beflissen gleich gewirkt, daß ich erschrocken bin wie vor jemandem, der gestorben ist und von dem man plötzlich auf der Straße das Ebenbild sieht. Du warst auf eine Weise gleich, daß ich dich nur an deinem Anzug wiedererkannte. Es hat übrigens keinen Sinn, wenn du mir jetzt extra in die Augen schaust: so kannst du mich nicht mehr täuschen. […] Du willst nichts für dich tun lassen, Gregor. Nicht einmal das Salzfäßchen darf man dir reichen – als hättest du Angst, man könnte dir, indem man etwas für dich tut, so nahe kommen, daß du durchschaut wirst. Was verschweigst du? (SWE 98)
Die Beobachtung des Schriftstellers beschreibt treffend ein Verhalten Keuschnigs, das sich schon zu Beginn des Textes, beim Abendessen und schließlich bei der Schilderung des Beischlafs mit seiner Freundin vorbereitet. Was der Schriftsteller an Keuschnig kritisiert, ist bei diesem zugleich bewusstes Handeln wie unbewusstes Verhalten. So folgt die Beschreibung seiner Handlungen und Wahrnehmungen einem pathographischen Muster. Zustände der Fragmentierung des Selbst, ein Beziehungswahn, ähnlich dem des Josef Bloch, unmittelbar auftretende Aggressivität und ohne innere Beteiligung vollzogene sexuelle Handlungen weisen auf eine psychische Regression, die sich der initialen Depression vergleichen lässt, die Klaus Conrad beschreibt (Durzak 1982, 130; Conrad 1966), ohne dass es deswegen wirklich um die Beschreibung eines psychopathologischen Falls geht (Mixner 1977, 221). Die Selbstäußerungen Handkes zeigen, dass er das Verhalten Keuschnigs bewusst so darstellt. Dies macht nicht zuletzt die Ähnlichkeit der beschriebenen Konstellation mit den drei Gedichten aus dem Band Als das Wünschen noch geholfen hat (Bartmann 1984, 179) deutlich. Für Handke hat die Darstellung scheinbar unmotivierter Handlungen und unpersönlicher Sexualität einen Sinn: Beide demonstrieren einen Zustand, der sich abbilden, aber nicht systematisch verarbeiten lässt. Es ist dieses Lebensgefühl, daß es eben kein kontinuierliches Lebensgefühl mehr gibt, daß es keinen Zusammenhang geben kann, daß die Fiktionen: politische Ideologien, Religion oder Mystik usw. einem wenig Dauergefühl verleihen, und daß die Sexualität, diese aktionistische Sexualität, ein Akt dieser Verzweiflung, dieser Sinnlosigkeit ist. (TK4, 35)
Dargestellt allerdings wird dieser Zustand am Beispiel der psychischen Disposition der Hauptfigur, die im Anschluss an das Gespräch mit dem Schriftsteller deutlich wird. Keuschnig zieht sich aus, springt die Frau des Schriftstellers an und beginnt mit diesem eine Prügelei. Er erlebt sich bei „vollem Bewußtsein“ als eine
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„sich UNSTERBLICH BLAMIERENDE Kreatur“, als ein Zwischending (SWE 99 f.). Dieses Erlebnis ist nicht nur psychologisch, sondern auch erzähltheoretisch von Bedeutung. Denn es korrespondiert einem zweiten Traum Keuschnigs, in dem sich das Subjekt-Objekt-Verhältnis umkehrt, aus dem Mörder wird der Ermordete (SWE 109). Und es steht parallel zum Traum einer generellen Entfremdung (SWE 111–113), dessen Bilder und Erinnerungsfetzen nicht nur einem beliebigen Bewusstsein angehören, sondern sich ohne Zweifel auf die authentischen Erinnerungen Handkes, auf Österreich, die Mutter, die Tochter, wie auf eigene Texte, vor allem wieder die Hornissen bezieht. Es zeigt sich an dieser Stelle zugleich, dass die erzählte Geschichte selbst Einbrüche kennt und einer Traumlogik folgt. Der Traum von der Entfremdung scheint die wirkliche Lösung aller Beziehungen vorzuzeichnen. „So begann der Tag, an dem seine Frau von ihm wegging, an dem ihm sein Kind abhanden kam, an dem er zu leben aufhören wollte und an dem schließlich doch einiges anders wurde“ (SWE 113). Ähnliche Zustände folgen, kurz darauf kommt es zu einer sprachlichen Fehlleistung Keuschnigs gegenüber seiner Frau. Statt sich von ihr zu verabschieden sagt er: „Ich hoffe, daß du stirbst“ (SWE 116), wenig später heißt es „und die Wurst, die das Kind im Bett aß, hieß sicher nicht zufällig Mortadella!“ (SWE 118). Diese Stellen legen klar, dass Keuschnigs unbewusstes Verhalten seinen bewussten Handlungen den Rahmen gibt. Vergleichbar damit nimmt der Satz seiner Frau „Erwarte nicht von mir, daß ich dir den Sinn deines Lebens liefere“ (SWE 116) schon vorweg, was er ihr sagen wollte. Der Slogan von der ‚Nouvelle Formule‘, den er zufällig entdeckt, beschreibt sein eigenes Wünschen. Er wird zur Metapher für den Wunsch nach Auslöschung des handelnden Subjekts, für die Sehnsucht nach Rückkehr in einen subjektlosen, vormoralischen und vorrationalen Zustand. In diesem Sinn lässt sich das als Motto verwendete Wort von Horkheimer „Sind Gewalt und Sinnlosigkeit nicht zuletzt ein und dasselbe?“ verstehen. Keuschnigs bewusstem Programm korrespondiert der unbewusste Versuch einer Rückkehr in den kreatürlichen Zustand (Mixner 1977, 220); er ist ein fundamentaler Protest gegen den Prozess der Kulturisation und Sozialisation, und er erweist sich als Einbruch des Wünschens. Der Text macht allerdings deutlich, dass dieses auch auf Gewalt und Sexualität fixiert ist. Die Textur des Traums, mit dem die Geschichte beginnt, wird allmählich durch Erinnerungen, aber auch durch wahrgenommene Gegenstände komplettiert; ein zweiter Traum macht schließlich deutlich, dass der geträumte Mord ein Lustmord war (SWE 28, 34 f., 43, 45, 64; Kreis 1978, 168–170), der zudem eng mit der Mutter- und Elternbeziehung verkoppelt ist. Er weist in der Tat auf einen „komplizierten Seelenbruch“ (SWE 31), und er legt klar, dass es auch diese erzählte Theorie der Wahrnehmung mit dem unbewussten Wünschen und dem Körper zu tun hat. Das Moment der Dekonstruktion, das aus diesen Träumen hervorgeht, schafft eine ‚tabula rasa‘ von Bewusstseins- und Körperempfindungen (SWE 42, 62), es macht Keuschnig für eine zweite und andere Sozialisation frei (Bartmann 1984, 185). Dieses Schema von Dekonstruktion und Neuaufbau teilt der Roman zudem mit den zur gleichen Zeit entstandenen Gedichten aus dem Band Als das Wünschen noch geholfen
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hat (Bartmann 1984, 179). Der vom Druck der sozialen Einschreibsysteme befreite Keuschnig ist das „OBJEKTIVE LEBENDIGE“ des Blauen Gedichts (v. Hofe/Pfaff 1980, 83). Auch deshalb führt die Feststellung des Schriftstellers, deren Wahrheitsgehalt Keuschnig bewusst ist, entschieden über den Bereich der Sprachkritik im Text hinaus. Für die Hauptfigur stellt sie eine genaue Analyse der eigenen Lage und des eigenen Bewusstseinszustandes dar. Sie führt zu der Erkenntnis: „Es wird nie wieder wie früher sein […] und er wollte das auch nicht mehr. Es war gar nie so gewesen!“ (SWE 33). Damit wird deutlich, dass Keuschnig in Wahrheit nicht nach der bergenden Sprache, sondern nach dem durch Sozialisation Verdrängten sucht. Er will ein authentisches Erlebnis haben, das in sozial kodierten Sprachformeln nicht aufgeht. Gerade in der Auseinandersetzung mit der öffentlichen Sprache der Medien und der Kulturindustrie kommt ihm dies zu Bewusstsein, dort sieht er nur noch „Geborgte Lebensgefühle; die der Organismus an diesem Tag sofort wieder abstieß“ (SWE 66). Daraus begründen sich Schlussfolgerungen: in dieser Woche lief etwa KEY LARGO: doch er wußte auch, daß er nach dem Film mit Bogart und seiner beunruhigend feuchten Unterlippe gerade noch die Treppe ein wenig gemeinsam hinaufgehen würde, aber spätestens nach den ersten Metern draußen auf der Straße schon wieder der Kumpan von niemand und nichts mehr wäre, und sich fragen müßte, wozu er überhaupt noch weitergehe und wohin denn? Er wollte sich nichts vormachen: für ihn war die Zeit der Reprisen vorbei; für seine neue Lage gab es kein Produkt, dessen er sich, gegen Bezahlung, je nach Stimmung bedienen könnte, und keine Produktforschung und kein System würden das, was er brauchte, bis zur Produktionsreife kriegen. Was brauchte er also? Nach was war ihm? Nach nichts, antwortete er: MIR IST NACH NICHTS. Und indem er das dachte, fühlte er sich auf einmal im Recht und wollte dieses Recht auch verteidigen, gegen jeden. (SWE 67)
Die Sprache, die Keuschnig überwinden will, ist die, welche zeigt, „wie man Leben vortäuscht“. Er dagegen sucht nach einem neuen System von Wahrnehmung und Beschreibung, einer ‚Nouvelle Formule‘, die zur Aufhebung des Individuellen im Gleichen führt und gerade so die Macht des Wunsches freisetzt. In dieser Hinsicht nimmt die Stunde der wahren Empfindung wieder die Dialektik der Wahrnehmung auf, die im Kurzen Brief am Beispiel der Naturerfahrung abgehandelt wird. Nur der Entschluss zur nivellierenden Formel bricht mit dem Automatismus der bloßen Wiederholung, die allein den Schein des Neuen hervorruft. Erst der Ausbruch aus den vorgegebenen Mustern von Wahrnehmung und Beschreibung macht die Wirkung dessen möglich, was der Erzähler als das „Erlebnis“ Keuschnigs bezeichnet. Dabei gilt es sich allerdings bewusst zu machen, dass die Behandlung des erzählten Wunsches als geradezu mystische Erfahrung darstellt, was sich der begrifflichen Erfassung recht eigentlich entzieht. Der Diskurs des Textes unterliegt trotz aller Einbrüche den Mechanismen der Selbstzensur, gegen die sich sein Protagonist zur Wehr setzt. Die Ablehnung der kulturalen Diskurse bleibt eine Perspektive der Figur, sie führt nicht zu einer Hinterfragung des Diskurses, den der Text selbst benutzt (Nägele/Voris 1978, 64). So kehrt das, was der Protagonist überwinden will, in der Geschichte, die von
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ihm erzählt, wieder (Jurgensen 1979, 96). Insofern bleiben die eingeschriebenen literarischen Bezüge und Muster Modellkonstruktionen. „Dann hatte er ein Erlebnis“, heißt es im Text lapidar zur Beschreibung eines Ereignisses, das sich für die Hauptfigur wie magisch vorbereitet und einstellt (SWE 62, 65, 77). Die Schilderung dieses Erlebnisses beginnt mit einer psychologisierenden Formel, die auch in anderen Texten Handkes, etwa in der Linkshändigen Frau, das Eintauchen in den Tagtraum bezeichnet: „und Keuschnig verlor sich“ (SWE 81). Das so vorbereitete Erlebnis ist weder eine Handlung noch ein Geschehen, es entsteht aus dem bloßen Hinsehen: Im Sand zu seinen Füßen erblickte er drei Dinge: ein Kastanienblatt; ein Stück von einem Taschenspiegel; eine Kinderzopfspange. Sie hatten schon die ganze Zeit so dagelegen, doch auf einmal rückten diese Gegenstände zusammen zu Wunderdingen. – ‚Wer sagt denn, daß die Welt schon entdeckt ist?‘ – Sie war nur entdeckt, was die Geheimnistuereien betraf, mit denen die einen ihre Gewißheiten gegen andre verteidigten, und es gab jedenfalls keine künstlichen Geheimnisse mehr, mit denen er erpreßt werden konnte, weder ein Geheimnis der Heiligen Kommunion noch des Universums: jedes einzelne hohe Geheimnis war nichts andres als das Geheimnis der schwarzen Spinne, das Geheimnis des chinesischen Halstuchs – gemacht, zur Abschreckung. (SWE 81 f.)
Diesem „Erlebnis“, das sich bei einer zufälligen Wahrnehmung dieser Überreste von Natur und Zivilisation einstellt, korrespondiert, was sich als die Handlung des Textes ansehen ließe. Keuschnig wird von seiner Frau verlassen, und sein Kind wird schließlich von ihr entführt. Beide Ereignisse stehen scheinbar nur neben seinem „Erlebnis“ und sind doch in Wahrheit sowohl dessen Voraussetzungen wie auch seine Einlösung. Die Fakten der Geschichte wiederholen im Außen einen Zustand der Befreiung, den Keuschnig in seiner Phantasie erleben kann. Die bedrohliche Ambivalenz der „anderen Zeit“, die im Kurzen Brief noch erschreckt und auf die Verlassenheit des Subjekts weist und die sich in der Stunde der wahren Empfindung zur Erfahrung einer „Elementarzeit“ als einem „außermenschlichen System“ steigert (SWE 46), wird jetzt zu einem Zeichen der Hoffnung (vgl. Bartmann 1984, 184). Beim Anblick der drei Dinge empfindet Keuschnig eine hilflose Zuneigung zu allen, aus der er sich aber auch nicht helfen lassen wollte, weil sie ihm jetzt als das Vernünftige erschien. Ich habe eine Zukunft! dachte er triumphierend. Das Kastanienblatt, die Spiegelscherbe und die Zopfspange schienen noch enger zusammenzurücken – und mit ihnen rückte auch das andere zusammen […] bis es nichts anderes mehr gab. Herbeigezauberte Nähe! ‚Ich kann mich ändern‘, sagte er laut. (SWE 82 f.)
Nachdem Keuschnig seine Frau und sein Kind verloren hat, wird eine Anschauung möglich, deren Voraussetzung die Befreiung des Ich aus den Zusammenhängen war, die bisher sein Leben wie seine Wahrnehmung bestimmten. Die „gewohnten Anblicke“ werden zu natürlichen „Erscheinungen“, und der Schlüssel zu einer neuen und anderen Sicht der bekannten Wirklichkeit scheint gefunden: „Jetzt erschien ihm die Idee, die ihm gekommen war beim Anblick der drei Dinge im Sand des Carré Marigny, anwendbar. Indem ihm die Welt geheimnisvoll wurde,
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öffnete sie sich und konnte zurückerobert werden“ (SWE 152). Dies geschieht allerdings weder begrifflich noch schematisch. Die „Ideen“ lassen sich vielmehr Kants regulativen Ideen vergleichen, sie zeigen nicht die Dinge selbst, sondern einen Weg zu ihnen (Pütz 1982, 83). Natürlich weist die Darstellung dieser Form von Innerlichkeit auf eine literaturgeschichtliche Tradition, die sich am Beispiel des „Erlebnisses“ erschließen lässt: Sinn wird durch einen beliebigen Anblick, durch das bloße Zusehen verbürgt. Diese Überantwortung an den zufälligen Blick und den Zufall weist auf ästhetische Vorstellungen der Romantik zurück. Bei Novalis ist der Zufall ein Element entweder eines metaphysisch vorgegebenen oder durch die Kunst erst noch zu schaffenden Ordnungssystems (Mayer/Arnold 1971, 101, 126). Für Hardenberg ist er nicht unergründlich, sondern regelmäßig, weil er „Berührung eines höhern Wesens“ ist. Der Zufall, der sich in scheinbar unbedeutenden Erscheinungen zeigt – „Sandkörner, Vogelflug und Figuren“ – lässt sich gleichwohl geradezu experimentell benutzen; das Spiel ist nichts anderes als ein „Experiment mit dem Zufall“ (Mayer/Arnold 1971, 105). Es ist klar, dass es dabei nicht nur um einen metaphysischen Sachverhalt geht, sondern vor allem um die Rolle des anschauenden Subjekts, das mit seiner Wahrnehmung von Wirklichkeit auch die Bedeutung ästhetischer Anschauung erschließt. Bei Novalis heißt es: Alle Zufälle unsers Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen. Wer viel Geist hat, macht viel aus seinem Leben. Jede Bekanntschaft, jeder Vorfall, wäre für den durchaus Geistigen erstes Glied einer unendlichen Reihe, Anfang eines unendlichen Romans. (Novalis, Blütenstaubfragment Nr. 66)
Parallel zu dieser romantischen Auffassung erzählt Handkes Text, wie das Anschauen der drei Dinge im Sand eine geheimnisvoll gewordene Welt zur Rückeroberung frei macht. Auch dieses Hinsehen ist ein „Romantisieren“ im Sinn des Novalis, und wie bei diesem erscheint hier die unbewusste Tätigkeit des Ich als „produktive Einbildungskraft“ und Phantasie. Andererseits wendet sich der Text in einem entscheidenden Punkt von seinen romantischen Vorlagen ab. Für Novalis bedeutet das Bestehen auf dem Zufall nicht allein das „Gefühl, daß man von jedem Punkt aus zu Fuß nach Hause gehen konnte“ (SWE 152). Es verbürgt ihm auch den Glauben an eine problemlos mögliche Begründung von Kommunikation und sozialen Beziehungen. Der Heinrich von Ofterdingen liefert ein Beispiel hierfür. Vergleichbares gibt es für Handkes Keuschnig nicht. Für ihn gilt stattdessen – und das markiert die historische Differenz zwischen den beiden Texten – dass Reflexion nicht mitteilbar ist, dass das Bewusstsein der eigenen Identität nur um den Preis einer Lösung des Subjekts aus allen realen und reflexiven Zusammenhängen erreicht und bewahrt werden kann. Keuschnig will in einen Zustand zurückkehren, in dem das Selbst noch nicht von den sozialen Normen der ewigen „Reihenfolge“ (SWE 64) oder gesellschaftlicher Akte verdeckt und kontrolliert ist (Pütz 1982, 74; Kreis 1978, 187). Seine häufigen Vorstellungen, nackt zu sein, die Entkleidungsszene vor dem Schriftsteller und seiner Freundin, setzen diesen Wunsch ins Bild. Keuschnig fühlt sich
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allein da ganz als er selbst, wo ihm eine kommunikative Situation die grundsätzliche Fremdheit zwischen dem Subjekt und den andern in Erinnerung ruft. Von daher bestimmt sich seine Beziehung zur Frau, zur Geliebten und zum Kind. Dieses repräsentiert ihm im Stande der Unbewusstheit und im Zusammenhang seiner kindlichen Erfahrungswelt das Ziel der eigenen Regression: es „hat Geheimnisse“ (SWE 144). Doch die „Gestalten“ der kindlichen Erfahrungswelt sind ebenso wenig erzählbar und mitteilbar wie Keuschnigs „Erinnerungen“ und „Ideen“. Dementsprechend bedeutet ihm der Verlust des Kindes nur die Bestätigung seiner bisher nicht eingestandenen Fremdheit gegenüber anderen, die er unbewusst immer angestrebt hatte. Das Ende der letzten sozialen Verpflichtung löst ihn endgültig aus dem Zwang aller Zusammenhänge, selbst der alltäglichen Wahrnehmung. In seiner neuen selbstbezogenen Lebensform verfremdet er nicht nur die Worte, mit denen sich Erlebnisse beschreiben lassen, er beseitigt auch alle Erfahrungen, die über die Grenze des eigenen Ich hinausführen. Insofern stellt er die Situation wieder her, mit der Kaspars Geschichte begonnen hatte. Bis dahin scheint der Text der Argumentationsstruktur des Kaspar gegenläufig. Deutlich wird dies in der breit ausgeführten Schilderung der wiedergewonnenen Unmittelbarkeit und Authentizität; diese Situation erweckt gleichzeitig die Vorstellung, dass die erneut gefundene Subjektivität gleichsam von sich selbst absehen könne, dass der Gegensatz von Subjekt und Objekt, Einzelnem und Allgemeinem durch eine besondere Erfahrung eliminiert werde. Keuschnig wollte nichts mehr für sich. Die gewohnten Anblicke flimmerten vor seinen Augen, als seien sie Erscheinungen – und zwar natürliche –, und jede einzelne davon zeigte ihm eine Fülle, die unerschöpflich war. Er, der nicht mehr zählte, war in die andern gefahren, die in selbstverlorener Energie kreuz und quer gingen, und er glaubte, sie müßten den Schritt wechseln bei dem Ruck, mit dem er das für ihn nutzlose Glück auf sie übertrug. Er lebte noch irgendwie – mit ihnen. Dieser Zustand war keine Laune, keine Augenblicksstimmung mehr, die gleich wieder aufhörte, sondern eine, auch aus all den flüchtigen Augenblicksstimmungen!, gewonnene Überzeugung, mit der man arbeiten konnte. (SWE 151 f.)
Die zum Tagtraum gewordene Anschauung macht ernst mit der Aufhebung dieser Grenzen. In ihr kann der Schriftsteller, der Walter Benjamin zitiert (GB 18), seine „Ideen“ in den „Erscheinungen“ bergen und Keuschnig davon abbringen, „DAS EINE ZUVIEL“ sein zu wollen (SWE 157); zugleich allerdings bedeutet die Freiheit von der sozialen Bindung, dass sich das anschauende Subjekt in sich selbst verliert und doch an einer Praxis festzuhalten glaubt, an der es längst nicht mehr teil hat. Die Feststellung „ich verändere mich gerade“ weist auf diesen inneren Widerspruch. Keuschnig, dem alles „gereinigt“ vorkommt, hat allein auf die Illusion gesetzt, dass ihm neue Erfahrungen gelingen könnten. Er begreift nicht, dass er sich in scheinhaftem Handeln aus der Praxis in die Phantasie zurückgezogen hat und sich in Wahrheit passiv der herrschenden Ordnung unterwirft. Der Text weist durch seine Schilderung der Innenperspektive Keuschnigs diese scheinhafte Praxis
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der Imagination zu: „Bei dem Anblick des von der Tageshitze noch weichen Pflasters zu seinen Füßen erlebte er sich plötzlich als der Held einer unbekannten Geschichte…“ (SWE 166). Aber diese unbekannte Geschichte gibt es nicht. Hoffnung auf sie besteht nur in der Perspektive der dargestellten Figur. Keuschnig, der an dieser Stelle hinter Kaspars Reflexionsniveau zurückfällt, bleibt Figur in einem Text. Im letzten Abschnitt des Romans erscheint er nicht mehr als Person, deren Geschichte erzählt wird, und nicht mehr als durch die erfundene Geschichte legitimiert. Der Erzähler selbst deutet auf das Illusionäre dieses neuen Bewusstseins der Figur: Sein Abrücken von der Innenperspektive macht deutlich, dass diese nicht mehr als ein Phantasma ist. Dieses wird in dem Maß zerschlagen, wie sich der Text dem Beschreiben zuwendet. Und als Beschreibung endet Handkes Erzählen: An einem lauen Sommerabend überquerte ein Mann die Place de lʼOpéra in Paris. Er hatte beide Hände seitlich in die Hosentaschen seines sichtlich noch neuen Anzugs gesteckt und ging zielbewußt auf das Café de la Paix zu. Der Anzug war hellblau; dazu trug er weiße Socken und gelbe Schuhe, und eine locker gebundene Krawatte schwang im schnellen Gehen hin und her… (SWE 167)
Doch es kommt nicht allein auf die Kritik dieser Figurenperspektive an. Wie die partiell ironische Beschreibung des Schriftstellers, dessen Bewusstsein sich für den Erzähler nun nicht mehr von dem Keuschnigs unterscheidet, legt dieser Schluss mit dem Auseinandertreten von Figuren- und Erzählerperspektive auch einen Umbruch in Handkes Schreibweise klar. Keuschnig, der sich zum Arbeiten entschließt, trägt in vieler Hinsicht Züge von Handke selbst, sein Eintreten in eine neue Geschichte weist auf neue Formen der literarischen Produktion, die sich sein Erfinder vornimmt. So läuft der Text, der von ihm erzählt, insgesamt auf einen poetischen Neuanfang zu. Nicht zufällig wird Keuschnig am Ende als einer beschrieben, der sein Gleichgewicht sucht. Dies könnte eine neue und zustimmende Lesart der in Handkes Büchner-Preis-Rede zitierten Stelle aus Brechts Arbeitsjournal sein, in der dieser über die „Augenblicke der Verstörung“ schreibt und lapidar mit der Formel endet: „gesundheit besteht aus gleichgewicht“ (W 79; Jurgensen 1979, 93). Die Geschichte Keuschnigs bereitet den Versuch vor, zu einer Aufhebung der vom Autor schon vorher beschriebenen Spannung zwischen Außenwelt und Innenwelt zu kommen, wie sie noch traditionelle Vorstellungen von Innerlichkeit bestimmt. Das Programm, das am Ende der Stunde der wahren Empfindung erzählend skizziert wird, versucht das Erzählen in der Linkshändigen Frau von vornherein einzulösen.
5.4 Ein Weg zum Selbst: Die linkshändige Frau (1976)
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5.4 Ein Weg zum Selbst: Die linkshändige Frau (1976) Das Handlungsmuster dieser Erzählung lässt die Geschichte einer Emanzipation erwarten, und ein Teil ihres Erfolgs dürfte darauf beruhen, dass sie auch so gelesen wurde. Die Frage nach der Veränderung von Erfahrung durch eine Änderung der Wahrnehmung von Wirklichkeit wird im Bereich einer unpersönlichen Vorstadtwelt und im engen sozialen Bezugsfeld einer bürgerlichen Kleinfamilie abgehandelt. Der von einer Geschäftsreise heimkehrende Bruno inszeniert mit seiner Frau Marianne ein von männlichen Wünschen bestimmtes Spiel von Verführung und Liebe. Er verlangt, dass seine Frau das „Kleid mit dem Ausschnitt“ (LF 18) anzieht, besucht mit ihr ein Restaurant und bestellt im dazugehörigen Hotel ein Zimmer, weil er und seine Frau, wie er dem Ober erklärt, „sofort“ miteinander schlafen wollen (LF 20). Als sie am nächsten Morgen nach Hause zurückgekehrt sind, eröffnet ihm seine Frau, ihr sei eine „Art Erleuchtung“ gekommen, sie will, dass Bruno sie verlässt und zunächst einmal zur gemeinsamen Freundin Franziska zieht, deren Lehrerkollege diese gerade verlassen hat (LF 23 f.). Ohne Zweifel ist das Verhalten Brunos zwar nicht unbedingt männlich chauvinistisch, wie die Eingangsszene vermuten lassen könnte, aber doch in hohem Maß rollengebunden (Pütz 1982, 95 f.); so wie er die Liebe inszeniert, nimmt er auch im Berufsleben ganz bewusst bestimmte Haltungen ein. In seinem Büro demonstriert er sogar vor Frau und Kind, wie er Menschen einzuschüchtern versucht (LF 62 f.). Andererseits lassen auch die sparsamen Schilderungen des Frauenlebens in der Bungalowsiedlung der Vorstadt eine Rollenfixierung vermuten. Beides würde die Motivation für den Ausbruch aus einem starren und festgelegten Leben liefern. Doch es wird deutlich, dass sich der Text grundsätzlich von solchen schematischen Mustern fernhält. An keiner Stelle auch nutzt der Erzähler die Möglichkeiten der auktorialen Erzählweise, vielmehr schildert er alle Vorgänge wie auch die Verhaltensweisen der Frau, die psychische Prozesse spiegeln, in distanzierter Außensicht, oder er schiebt in den Text Parallelgeschichten ein. An zwei Episoden lässt sich zeigen, dass diese eingeschobenen Texte das Formgesetz der umgreifenden Erzählung wiederholen. In der einen Szene berichtet die Frau, die sich gegen die ständigen Erklärungen der Freundin zur Wehr setzt, von einem Interview im Fernsehen „wo der Interviewer zu einem sagte: ‚Erzählen Sie doch eine Geschichte von der Einsamkeit!‘, und wie der andre dann nur stumm dasaß“ (LF 44). Später schildert ihr der Verleger, wie er sich von einem Mädchen trennte, weil er plötzlich beim Anblick eines jungen Manns aus dem Auto die Vorstellung hatte, dass sich die Freundin vor ihm ekle (LF 53 f.). Beide Geschichten beschreiben wortlose Reaktionen, künden vom Einwirken des Unbewussten auf das Bewusste und davon, dass Reden zumeist die wahren Sachverhalte verfehlen. Sie erläutern nicht, und sie geben keine Begründungen, insofern weisen sie nicht nur auf die Haltung der Frau, sondern auch auf das Erzählen des Erzählers.
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Der Text, der von der Frau erzählt, beschreibt weder die Entstehung noch die Entwicklung von Konflikten; und was sich als Lösungsversuch ansehen lässt, setzt stets erneut beim status quo ein. Ob dieser zu Recht so ist oder möglicherweise nur einer falschen Sicht von Wirklichkeit entspringt, bleibt unklar. Die Entwicklung der zentralen Zweierbeziehung wird szenisch, bildhaft und eigentümlich von außen dargestellt. Das Erzählen verfährt phänomenologisch, es simuliert eine filmische Abfolge, und so bildet es insgesamt eine Parallele zum Verfahren der Segmentierung, das auch das Drehbuch der Falschen Bewegung bestimmt (Durzak 1982, 141). Formal folgt es dem Gesetz der Metonymie, das sich bereits im Brief als Darstellungsprinzip anzudeuten beginnt (Zeller 1979, 125; Bartmann 1984, 224 f.). Statt auf eine Referenz der Bilder untereinander setzt der Text auf die Möglichkeit konnotativer Sinnentfaltung (Bartmann 1984, 224). Die Meinung, dass alles ganz äußerlich sei und als intensives Bild auch still zu stehen scheine, wird zum Darstellungsprinzip (Schober 1977, 177 ff.). Damit versucht Handke, ein ästhetisches Programm einzulösen, das er an anderer Stelle entwickelt und auf das sich auch das der Linkshändigen Frau nachgestellte Motto aus den Wahlverwandtschaften bezieht. Gestern las ich den Satz (von Goethe): ‚Auf ihrem höchsten Gipfel wird die Poesie ganz äußerlich sein‘ – und der war wie die freundschaftliche Erleuchtung einer Schreibhaltung, die auch mir für das, was ich schreibe, als Herrlichkeit auf Erden vorschwebt. Um diese allumfassende Äußerlichkeit zu erreichen, muß der jeweilige Schriftsteller oder Poet aber ohne Markierungsrest innerlich geworden sein – das heißt, er muß die künstliche, politisch oder religiös organisierte Solidarität aufgeben und sich selber ohne Erbarmen erforschen – als ob er noch nichts über sich selbst wüßte und auch niemand anderer ihm sagen könnte, wer er sei. Ohne Ausreden innerlich geworden, wird seine Poesie ganz herzhaft äußerlich werden können, selbstverständlich, offen, solidarisch ohne Vorverständigung. (PW 45)
Dem hier benannten Prinzip des „äußerlichen Schreibens“ nähert sich der Text in mehreren Schritten und auf unterschiedlichen Ebenen. Zunächst werden die Vorgänge im Bewusstsein der „Frau“, wie Marianne im Text immer genannt wird, entweder durch Bilder oder aber durch andere Texte skizziert. Dabei wird deutlich, dass die Ausgangssituation der Trennung nicht von bestimmten Wünschen, sondern nur durch eine unbewusste Ablehnung des Bestehenden bestimmt ist. Der Text zeigt dies einerseits, indem er eine strukturelle Gleichartigkeit von bewusster Wahrnehmung und Tagtraumwelt demonstriert und diese bei der Darstellung eines Festes im Haus der Frau fast überzeichnet. Andererseits lässt er das Wünschen Mariannes im Wunschtext ihres Kindes seine erläuternden Metaphern finden. Dort wird der Zustand eines in jeder Hinsicht spannungsfreien Lebens phantasiert, das weder äußere noch soziale Bedingungen kennt. Im „schöneren Leben“ ist es „weder kalt noch heiß“ (LF 8) und von „allen Freunden gibt es jeweils vier, und die Leute, die man nicht kennt, verschwinden“ (LF 9), zudem aber würde man „auf Inseln wohnen“ (LF 9). Der Gesamtkomplex dieser Bilder, vor allem aber das letzte Motiv, erweist sich in Verbindung mit dem „Titelsong“ des Buches von der Lefthanded Woman, der als Countrysong von Jimmy Reed identifiziert wurde
5.4 Ein Weg zum Selbst: Die linkshändige Frau (1976)
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(Durzak 1982, 145), als eine utopische Vorstellung, die im vollen Wortsinn ortlos ist. Sie rückt in die Nähe des Wunsches, „niemand zu sein“, den die folgenden Raumphantasien der Lehre der Sainte-Victoire und der Langsamen Heimkehr formulieren (LSV 25; LH 200; Bartmann 1984, 225). So wenig das Wünschen der Frau zielgerichtet ist, so wenig sind es die ihm entgegenstehenden Bilder. Gleichwohl ist der Text von einer kontrastiven Metaphorik gekennzeichnet, diese erweckt den Eindruck von Gegensätzen, die unauflöslich scheinen. Die Versuchung ist groß, einem Hinweis Handkes anlässlich der Verfilmung des Buches zu folgen und sie als mythisch aufzufassen (Mixner 1977, 231). Die Metaphernreihe des Lichts und des Leuchtens, häufig mit den Augen der Frau in Verbindung gebracht (LF 21, 42, 72), weist auf ein geheimnisvolles Geschehen, das sich der Beschreibung wie der Erklärung entzieht (Pütz 1982, 90), die Bilder scheinen in der Tat eine mythische Aura zu erhalten, der gegenüber die Geschichte selbst an Bedeutung verliert (Bartmann 1984, 219). Auf jeden Fall aber wird deutlich, dass das Für-Sich-Sein der Frau nur in Opposition zu anderen möglich ist (Nägele/Voris 1978, 70). Während Bruno, um sich im Berufsleben behaupten zu können, „das Starren“ eingeübt hat und ihm andere aus Mariannes Gegenwelt darin folgen, wird die Frau nicht nur in ruhigen und statischen Bildern, sondern häufig auch im Zustand „völliger Versunkenheit“ dargestellt. Die Tatsache, dass sie sich „verschauen“ kann, ist Zeichen dafür, dass sie „ganz bei sich“ und doch „ganz außer sich“ sein kann. Die Monotonie ihrer Wahrnehmungen, die wiederum wie im Kurzen Brief allemal aus Blicken in die Natur hervorgehen, deutet auf diesen Zustand der Hauptfigur. Auch bei ihr bereitet das Ansehen der Natur den Versuch vor, zu einem Bild von sich selbst zu kommen. Dabei markieren die im Text beschriebenen Naturblicke wiederum eine Bewegung, die von der Dekonstruktion des Wahrgenommenen bis zum Aufbau einer neuen Perspektive reicht. Am Anfang erscheint der aus dem Fenster blickenden Frau eine starre, unbewegte Welt, welche die Assoziation von Tod und Fremdheit erweckt. Am Tag nachdem sie den Song von der Lefthanded Woman gehört hat, unternimmt sie eine Bergwanderung mit dem Kind (LF 102–105). Auf der Höhe angekommen, gelingt nicht nur der Frau ein verklärend anmutender Panoramablick, eine Raumphantasie mit Lichtblitzen, Wahrnehmungen aus dem Kurzen Brief und der Stunde der wahren Empfindung vergleichbar. Auch dem Kind legt sein Sich-Versenken beim Blick hinab lebensgeschichtliche Erinnerungen frei. Sein bewegungsloses Schauen ist Außensicht und Innensicht zugleich. Am Ende des Textes schließlich wandelt sich für die Frau die starre Natur in eine bewegte, und die Betrachterin selbst ist in ein Bild bewegter Natur einbezogen. Sie sitzt auf der Terrasse, und die „Fichtenkronen bewegten sich hinter ihr in der spiegelnden Fensterscheibe. Sie begann zu schaukeln; hob die Arme“ (LF 131). Zugleich zeigen die Blicke nach draußen die Grenzen dieser Erfahrungen. Es wird deutlich, dass die Projektionen von Innenwelt auf Außenwelt fehlerhaft sein können. Auch Wunschbild und kindliche Spielwelt, die sich als konkrete Utopien miteinander zu versöhnen schienen, erweisen sich nicht einfach als kongruent.
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Gerade das Kind, das der Mutter zum Vorbild wird, spiegelt die Selbstbezogenheit ihres eigenen Zustands, denn es wehrt sich auffällig entschieden gegen die mütterlichen Versuche fürsorglicher Vereinnahmung. Auch darauf weist der Text. Neben die Blicke in die Natur treten die Blicke der Frau in den Spiegel. Sie belegen ihre Schwierigkeit, sich zu orientieren, und sie machen die Widersprüchlichkeit aller Selbstbefreiungsversuche deutlich, weil diese durch eine narzisstische Spur modelliert sind. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung und das Bedürfnis nach Verständigung werden im Bild der sich selbst Anschauenden zum Widerspruch. Es zeigt sich, dass es für sie weder um einen Rollenwechsel, noch um eine diskursive Selbstreflexion gehen kann. Dies wird in doppelter Hinsicht deutlich. Einmal formuliert die Frau ihre Wünsche nicht selbst, sondern sie zitiert Texte, die sich als Deutungsmuster für ihr Verhalten heranziehen lassen. In dem Buch, das sie übersetzen soll, findet sie die Passage: „Au pays de l’idéal: J’attends d’un homme qu’il m’aime pour ce que je suis et pour ce que je deviendrai“ (LF 56). Und zu einem späteren Zeitpunkt liest sie, ebenfalls wieder in der Nacht, eine korrespondierende Szene in einem zu übersetzenden Buch: „‚Und niemand hilft Ihnen?‘ fragte der Besucher. – ‚Nein‘, antwortete sie. ‚Der Mann, von dem ich träume, das wird der sein, der in mir die Frau liebt, die nicht mehr von ihm abhängig ist.‘ – ‚Und was werden Sie an ihm lieben?‘ – ‚Diese Art Liebe‘“ (LF 73). Zum andern wird die Haltung der Frau gegenüber den Personen deutlich, die ihr Verhalten erklären wollen und dann doch nur bekannte und allemal unzutreffende Geschichten heranziehen. „Meint, was ihr wollt. Je mehr ihr glaubt, über mich sagen zu können, desto freier werde ich von euch“ (LF 37). Den falschen Anspruch des Deutens vertritt vor allem Franziska, die Lehrerin, die alle Handlungen auf den Begriff bringen will, und immer schon die herrschenden Erklärungsmuster für „Beziehungsprobleme“ bereithält. Die Ablehnung ihrer Idee der Gemeinschaft durch die Frau wiederholt eine Einstellung, die der Erzähler des Kurzen Brief und seine Frau gegenüber John Ford zum Ausdruck bringen. Man hat durchaus zu Recht darauf hingewiesen, dass Franziska eine Gegenfigur ist, durch die emanzipatorische Ideen und Haltungen abqualifiziert werden. Andererseits antworten ihre Erklärungen auch auf eine herkömmliche Lesererwartung. Überdies erinnert ihr Reden an eine Schreibweise, von der sich Handke entschieden fernhalten will. Seine vehemente Attacke gegen Karin Strucks „Mutter“ legt dies klar (EF 49–55). Weil in der Geschichte der Frau reale Erfahrungen und psychische Prozesse in nebeneinanderstehenden Bildern präsentiert werden, erweist sich jede Suche nach den Gründen der Geschichte als falsch. Ihr gegenüber behält allein die Anschauung recht, die traumhaft erlebte Realität (in der Situation der Trennung), utopischen Schein (in der Begegnung mit dem Kind) und Außenwirklichkeit miteinander vermittelt. Dies begründet die Struktur des Textes und ist zugleich schon alles, was dieser zeigen will. So bildet er allererst Wahrnehmungen und Phantasien ab, die über die Situationen hinausweisen, denen sie im Erzählen zugeordnet sind. Erzählte, angeschaute und imaginierte Wirklichkeit gehen spielerisch ineinander über. Dies begründet einen neuen ästhetischen Entwurf, der des wirklichen Gegenstandes ebenso wenig bedarf wie der erzählten Individualität. Deshalb ist
5.4 Ein Weg zum Selbst: Die linkshändige Frau (1976)
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„Schauspielen“ die Metapher für den neuen Zustand, den die Frau erreichen und darstellen soll, und darum bilden der Mann, der „nicht spielen kann“ (LF 118) und der Schauspieler, der sich nicht „aufs Spiel setzen“ will, ihre „Gegenwelt“. Ihnen gegenüber behauptet sich die Frau durch eine andere Haltung gegenüber der Wirklichkeit, die sich nur als Zustand, nicht aber im Weg einer Handlung darstellen lässt. Der Frau gelingt ein Sich-Aufs-Spiel-Setzen, das zum Wirklichkeitsspiel wird und die deutende Rationalität entkräftet. Der Text lässt keinen Zweifel daran, dass es dabei nicht nur um die Figur geht, die er in seinen Mittelpunkt stellt, sondern ganz grundsätzlich um das mögliche Spiel mit der Wirklichkeit, das Ziel des Schreibens ist. Es mag zunächst befremdlich erscheinen, dass dieses Spiel mitunter durch eine Aggressivität zerstört zu werden droht, die sich gegen das Kind richtet (LF 71 f.). Doch gerade von hier wird ein entscheidender Punkt klar. Die bedingungslose Haltung der Frau beruht auf einem radikalen Rückzug aus den Formen der Sozialisation, der hinter die Stufe der Kulturisation zurückfällt. Ihr Verhalten ist rücksichtslos im wortwörtlichen Sinn, denn jeder Versuch, hinter die Ordnungen der Sozialisation und Kulturisation zurückzugehen, ist ein Wirklichkeitsspiel, das auch eine unkontrollierbare Kraft freisetzt, wie sie den ästhetischen Bildern uneingestanden innewohnt und von ihrer Oberfläche meist verdeckt wird. Denn das Ästhetische lebt auch aus dem, was der Ratio entgegengesetzt ist, dieses Formgesetz teilt es mit dem Mythos und dessen dunklem Urgrund. Wenn überhaupt, so fallen in dieser Hinsicht das äußerliche Erzählen und der Gestus einer Remythisierung in der Erzählung zusammen. Der Ablösung der Sprachspiele durch ein Wirklichkeitsspiel, das unmittelbar auf die Psychogenese und die Formen der Sozialisation weist, korrespondiert die Erzählweise. Der Satz „Du hast dich nicht verraten“, den sich die Frau nach ihrer Party im Spiegel zuspricht (LF 130), macht nicht nur deutlich, dass sie selbst sich von allen Bindungen, Erklärungen und Entschuldigungen fernhält, er weist auch auf ein Schreiben, das sich bewusst aufs Abbilden beschränkt und die Möglichkeiten des auktorialen Erzählens nicht nutzt, damit auch entschieden auf jede Psychologisierung verzichtet. Der Text der Linkshändigen Frau macht auf diese Weise nicht nur wie die Stunde der wahren Empfindung deutlich, dass die Grenze zwischen Innenwelt und Außenwelt labil ist. Er zieht auch im Erzählen die Konsequenz aus dem Sachverhalt, dass beide komplementär sind. Was sich als Zustand der Innerlichkeit erzählen ließe, schildert er in Bildern von außen. Gerade diese Vertauschung vertraut auf die Kraft der Poesie und die Eingängigkeit ihrer Bilder. Die Verschränkung von innen und außen, Innerlichkeit und äußerer Wahrnehmung, schließlich die imaginative Kraft der Subjektsperspektive werden wiederum nicht diskursiv ausgeführt, sondern in einem erzählten Bild dargestellt. Dieses Bild ist Abbild, Montage und Selbstzitat zugleich. Nach ihrer Party ist die Frau allein in der Nacht, sie schüttelt einen Würfelbecher – ohne Zweifel signalisiert dies das Eintreten in einen anderen Zustand, so wie einst die Würfel in Providence dem Reisenden im Kurzen Brief die „andere Zeit“ gezeigt hatten (KB 25). Die Frau aber beginnt zu zeichnen. Als stellte sie das „Selbstbildnis“
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Ernst Machs nach, zeigt ihr Bild zuerst ihre eigenen Füße, dann den Raum dahinter, dann das Fenster und schließlich einen Blick aus dem Fenster, der „den sich im Lauf der Nacht verändernden Sternenhimmel“ zeigt (LF 131). Zu dieser Zeichnung braucht sie Stunden, es scheint, dass sie nicht nur „jeden Gegenstand in allen Einzelheiten“, sondern auch ein Inbild zeichnet, und dass ihr Zeichnen vor allem eine innere Bewegung ausdrückt. Die Topik des Bildes macht dabei deutlich, dass die Blicke nach außen und innen miteinander verschränkt sind, der eine geht aus dem anderen hervor. Der Blick über die eigenen Füße nach draußen und zugleich nach innen lässt sich mit einem Bild vergleichen, das Handke in seiner Büchner-Preis-Rede verwendet. Dort berichtet er über seine Erinnerung an ein KZ-Photo, auf dem sich für ihn der photographierte Mensch bereits zu „einem austauschbaren Symbol verflüchtigt“ (AW 76) hat. Plötzlich aber nimmt er dessen mit den Spitzen aufeinander zeigende Füße wahr und sein Gefühl wie seine Phantasie geraten in Bewegung. Was er außen wahrnimmt, wirkt nicht nur nach innen, sondern verändert nachfolgende Wahrnehmungen. Es erzeugt eine Phantasie, aus der eine poetische Verwandlung hervorgeht. Gerade dies weist auf die Erzähltechnik der Linkshändigen Frau, welche die Rolle des Bildes als Auslöser einer poetischen Wahrnehmung der Wirklichkeit, die im späteren Werk Handkes zentrale Bedeutung gewinnt, zum ersten Mal in den Mittelpunkt einer Selbsterfahrung rückt. Jedenfalls belebt der Anblick dieser aufeinander zeigenden Füße über die Jahre hinweg meinen Abscheu und meine Wut bis in die Träume hinein und aus den Träumen wieder heraus und macht mich auch zu Wahrnehmungen fähig, für die ich durch die üblichen Begriffe, die immer die Welt der Erscheinungen auf einen Endpunkt bringen wollen, blind geblieben wäre. Ich bin überzeugt von der begriffsauflösenden und damit zukunftsmächtigen Kraft des poetischen Denkens. (WÜ 76)
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Heimkehr zu den Anfängen des Ich und das Versprechen der Bilder
6.1 Erfahrungsräume: Langsame Heimkehr (1979) Im März 1977 vermerkt Handkes Journal Das Gewicht der Welt als Programm: „Die naturalistischen Formen zerdenken, bis sich die didaktischen, zeigenden (Brecht) ergeben; die didaktischen Formen zerdenken, bis sich mythische ergeben (mein Schreiben)“ (GW 321). Es ist bisher deutlich geworden, dass sich Handkes Schreiben bereits vor der offenen Form dieses Journals, die mitunter den Zustand einer tiefgreifenden Dissoziation zum Ausdruck bringt, verändert, auch wenn an die Stelle einer einzigen und durchgängigen neuen Schreibweise zunächst unterschiedliche Entwürfe treten, die allesamt Geschichten von der Gefährdung des Ich erzählen. Dabei zeigen sich vor allem zwei Muster. Das erste demonstriert die Stunde der wahren Empfindung, in der das erzählte Ich Keuschnig in seiner Identität bedroht ist. Während sich die Figur dort allein noch imaginär als Held einer gedachten und unbekannten Geschichte ihrer selbst versichert, werden im Verlauf des Erzählens dessen Voraussetzungen in Frage gestellt. Kausale Handlung wird durch den Zufall als sinnstiftende Kraft, zielgerichtetes Handeln durch Träume und Tagträume, bewusstes Gestalten durch bloßes Abbilden von Wahrnehmungen ersetzt. An jeder Stelle korrespondiert so dem erzählten Orientierungsverlust des Protagonisten eine Eliminierung des erzählbaren Sinns. Wahrnehmungen und Erfahrungen der Figur beziehen sich auf eine nicht erzählte Geschichte, ohnehin begründen die Ängste, Dissoziationen und Verstörungen Gregor Keuschnigs den Verdacht, er sei ein Borderline-Patient (Moser 1981, 1136–1160; Jurgensen 1979, 89 ff.). Das zweite Erzählmuster entwickelt die Linkshändige Frau; dort sind alle inneren Vorgänge in Bilder der Außenwelt übersetzt, das gefährdete Ich zeigt nur seine Oberfläche. Das Journal vom Gewicht der Welt zieht die Konsequenz aus diesen einseitigen Konstellationen, die alle Texte bestimmen. Es mahnt zur Überwindung der Geschichten der Gefährdung und formuliert als Ziel, die „fixen Ideen einzelner“ in den „Mythos vieler“ zu übersetzen (GW 277 f.); eine andere Sprache und © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_6
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neue Geschichten sollen dies leisten. Die nachfolgende Tetralogie löst dieses Programm ein und führt zugleich Ansätze des vorangehenden Werks zu einem vorläufigen Ziel. Die Texte der Langsamen Heimkehr, der Lehre der Sainte-Victoire, der Kindergeschichte und des Dramatischen Gedichts Über die Dörfer präzisieren dabei den Begriff des Mythos, indem sie ihn lebensgeschichtlich und psychogenetisch auf die Biographie ihres Autors beziehen und ihn zugleich als ein allgemeines Gesetz des Psychismus beschreiben. Es ist signifikant, dass sich dabei eine bildungsgeschichtliche und eine lebensgeschichtliche Entwicklungslinie miteinander verschränken; jeder Rückbesinnung auf das eigene Ich korrespondiert eine auf die Tradition. Deshalb auch wird die Lehre der Sainte-Victoire, indem sie von der Entstehungsgeschichte der Langsamen Heimkehr erzählt, nicht nur werkgeschichtliche Dokumentation. Beide Texte sind vielmehr durch Raumbilder und erzählte Phantasieräume miteinander verschränkt, die wiederum autobiographische Durchblicke eröffnen, auch dies verbindet beide Texte mit Stifter (Gabriel 1983, 214). Schon aus diesem Grund wird Sorger mit seiner geplanten Arbeit Über Räume die „Übereinkünfte seiner Wissenschaft“ verlassen müssen, „sie konnten ihm höchstens manchmal weiterhelfen, indem sie seine Phantasie strukturierten“ (LH 107). Wiederum kann eine Notiz aus dem Gewicht der Welt belegen, dass die Langsame Heimkehr zugleich nach Europa und ins eigene Bewusstsein führt, das lebensgeschichtliche Erinnerungen bewahrt und neu durcharbeitet. Im Gewicht der Wekt vermerkt Handke: Als ich heute abend zurückkam, von Österreich und Deutschland, fühlte ich mich an der finsteren ‚Porte de la Muette‘ am Rand des Bois de Boulogne auf einmal als jemand, dessen Existenz gleichzeitig noch, als eine Art zweiter, verborgener Lebensgeschichte, in dem kleinen Heimatort in Südkärnten vor sich ging, ganz körperhaft, vor den Augen aller Dorfbewohner, und mein Körper erstreckte sich in diesem Moment auf eine schmerzhafte und zugleich fast tröstliche Weise durch Europa, in das ich mich der Länge und Breite nach verlor als Flächenmaß. (GW 27)
Auch der schlafende Sorger erfährt „nachts immer noch die Entfernung von Europa und ‚den Vorfahren‘: nicht nur als die unvorstellbare Wegstrecke zwischen sich und einem anderen Punkt, sondern auch sich selber als einen entfernten (wobei allein der Tatbestand der Entfernung schon Schuld war)“ (LH 40). Damit entwickelt die Langsame Heimkehr im Zuge der Raumphantasien ein Moment der Dekonstruktion des Ich, dem wieder ein Neuaufbau folgt. Sie wiederholt damit erneut ein Muster, das andere Texte schon vorher entwerfen. Es gilt, die tote und bedrohliche Natur, die Erinnerungen an eine frühe Geschichte in Europa bewahrt, zu überwinden. Darüber hinaus ist Valentin Sorger, der Erdforscher der Langsamen Heimkehr, der zunächst in Alaska arbeitet und dann über die Westküste der USA nach Europa zurückkehrt, als Figur zugleich Erinnerungsbild an eine künstlerische Auseinandersetzung Peter Handkes mit Cézanne, er ist dessen „Homme aux bras croisés“ (LSV 36). Zudem stellt sein Name eine Beziehung zu Heidegger her, der in Sein und Zeit die Sorge als einen existentialen Ort des „Unzuhause“ bestimmt, überdies werden zentrale Begriffe aus Heideggers Werk, wie „Anwesenheit“,
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„Offenheit“, „Räumlichkeit“ in dieser „rein philosophische[n] Erzählung“ variiert (GB 163; Laemmle 1981, 427). In seiner Abhandlung „Über Räume“ soll Sorger auch „eine sogenannte Landschaft Am kalten Feld in der Bundesrepublik“ beschreiben (LSV 92 f.). Dieses ‚Kalte Feld‘ ist nicht nur eine geologische Formation, sondern auch ein lebensgeschichtlicher Signifikant des Autors. Er weist einerseits auf die Gewalt in Deutschland (LSV 91 f.), andererseits auf die familiale Sozialisation des Verfassers. Die Bedeutung dieser Bilder von Gewalt, die sich in späteren Texten fast obsessiv wiederholen, unterstreicht die Falsche Bewegung, in der man eine parallele Stelle finden kann (Durzak 1982, 147). Dort äußert der Hausherr über Deutschland: „Die Angst gilt hier als Eitelkeit oder Schande. Deswegen ist die Einsamkeit in Deutschland maskiert mit all diesen verräterisch entseelten Gesichtern, die durch die Supermärkte, Naherholungsgebiete, Fußgängerzonen und Fitnesszentren geistern. Die toten Seelen von Deutschland…“ (FB 45). Sorgers Forschungen, die immer auch mit Erinnerungen gekoppelt sind, führen zugleich unmittelbar an die „Flurzeichen der Kinderzeit“ (LH 109). Den Zusammenhang der bedrohlichen Räume mit der familialen Sozialisation bestätigt ebenfalls die Lehre der Sainte-Victoire. Das ‚Kalte Feld‘ in Deutschland ist mit einer Erinnerung an den Stiefvater verbunden, dessen Konfigurationen fast alle Texte Handkes durchziehen und die Bilder der Kindheit zu einem bedrohlich erscheinenden Komplex verdichten. Diese Verknüpfung gilt es zu berücksichtigen, wenn man die mythisierende Schreibweise in diesen Texten Handkes beschreibt. Auch da, wo sie vermeintlich weit vom Autor wegführt, ist sie autobiographisch zentriert und liefert die geheime Inschrift für die Geschichte eines Einzelnen. Es gehört zur Eigenart von Handkes Schreibweise, dass sie diesen Bezug entschieden chiffriert. Zunächst nähert sich die Tetralogie dem „Mythos vieler“ durch die Rekonstruktion einer historischen Situation und im Verfahren einer konventionellen Beschreibung. Ausschlaggebend dafür ist, dass die in früheren Texten, vor allem dem Kurzen Brief punktuell auftretende Naturbilder durch Landschaftsbeschreibungen zentriert und zusammengefasst werden. Dabei scheint, was ursprünglich das Heraufkommen literarischer Landschaftsbeschreibungen begründet, auch im modernen Text fortzuwirken. Das Entwerfen und Erzählen von Landschaften machen die Voraussetzungen und das Grundgesetz der modernen Gesellschaft bewusst. Weil für sie die Entzweiung mit der Natur und die Herrschaft über diese eine Voraussetzung ihrer Emanzipation ist, hat die ästhetische Rekonstruktion und Vergegenwärtigung der Natur als Landschaft „die Aufgabe, den Zusammenhang des Menschen mit der ‚umruhenden‘ Natur offen zu halten und ihm Sprache und Sichtbarkeit zu verleihen“ (Ritter 1974, 161). Dass die Natur als Landschaft „Frucht und Erzeugnis des theoretischen Geistes ist“ (Ritter 1974, 146), gilt auch für die ästhetische Landschaftsdarstellung bei Handke. Auch dort wird die Natur zur Landschaft, weil alle Wahrnehmungen durch eine ordnende Phantasie zentriert werden.
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Es ist kein Zufall, dass Sorger wie der Protagonist der Falschen Bewegung in die Natur flüchtet. Doch wo bei diesem der Weg in die Einsamkeit der Zugspitze sein Gefühl der Ortlosigkeit verstärkt, das allein im „Erinnerungsvorgang“ des Schreibens überwunden werden kann (FB 77), führt für Sorger das Anschauen der Landschaft in Alaska nicht nur immer wieder zu Momenten der Ephiphanie, die früheren Naturblicken vergleichbar sind. Sorger erkennt auch die Muster einer Verschränkung von Zivilisation und Natur, die Erstere als Natur und Letztere als Landschaft erscheinen lässt. Sein fiktiver Blick aus dem Flugzeug erfasst einerseits die Geometrie und „Ruppigkeit der Urlandschaft“, andererseits denkt sich der Betrachter eine in der Natur angelegte Ansiedlung als „ideale[n] Ort, zivilisiert und zugleich elementar“ (LH 44). Von vornherein erzählt die Langsame Heimkehr damit von einem Lebensgefühl, das der Wilhelm der Falschen Bewegung erst zu schreiben sich vornimmt (FB 77, 81); von Anfang an erweist sich alles Beschreiben schon als eine Formung, durch die bewusste und unbewusste Beobachtungen, theoretische Erklärungsmuster und ästhetische Bilder zur Deckung gelangen. Einerseits führt dies zu einer Remythisierung der Wahrnehmung, die den Blick der Figur in die Landschaft bestimmt. Deutlich wird das in der ordnenden geographischen Beschreibung des Erdforschers Sorger. Dieser erinnert sich beim Vergleich der indianischen Landschaftsnamen mit denen der Zivilisation an die Naturmythologie der Antike, die unmittelbar mit dem Namengeben verknüpft ist. Von hier bezieht er mythische Bilder, die schließlich auch seine wissenschaftlichen Beobachtungen überformen. Pferdehufseen, Quelltöpfe, Trogtäler, Lavafladen oder Gletschermilch aus Gletschergärten: hier über ‚seiner‘ Landschaft verstand er solch übliche Formenbezeichnungen, welche ihm doch so oft als unzulässige Verkindlichungen erschienen waren. […] er hatte nun Lust, den Gattungsbezeichnungen jedes einzelnen Gebildes noch einen freundlichen Eigennamen beizugeben – denn die wenigen Namen auf der Landkarte stammten entweder aus der kurzen Goldsuchergeschichte der Region […] oder es gab bloße Zahlen als Namen, […] Wie Vorbilder waren da die paar indianischen Ortsbezeichnungen: die ‚großen Verrückten Berge‘ im Norden der ‚Kleinen verrückten Berge‘, oder der ‚Große Unbekannte Bach‘, der die ‚Kleine Windige Schlucht‘ durchlief und in einem namenlosen Sumpf verlorenging. (LH 72)
Andererseits rekonstruiert der Text der Langsamen Heimkehr insgesamt eine traditionelle literarische Schreibweise, die sich als ein bestimmendes Muster erweist. Seine Landschaftsbeschreibungen lassen sich auf einen Grundsatz beziehen, den Schiller in seiner Rezension von Matthissons Gedichten für den Landschaftsdichter aufstellt. „Es gibt zweierlei Wege, auf denen die unbeseelte Natur ein Symbol der menschlichen werden kann: entweder als Darstellung von Empfindungen, oder als Darstellung von Ideen“ (Schiller NA-22, 271). Da die Empfindungen nicht ihrem Inhalt, sondern allein ihrer Form nach darstellbar sind, verbindet sich damit eine weitere Forderung: „insofern also die Landschaftsmalerei oder Landschaftspoesie musikalisch wirkt, ist sie Darstellung des Empfindungsvermögens, mithin Nachahmung menschlicher Natur“ (Schiller
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NA-22, 271 f.). Diese Anforderungen erfüllt der Roman des Erdforschers Sorger. Die Abfolge der Landschaftsbilder in Alaska erscheint als eine bewusste Komposition, in der alle Bilder durch eine Perspektivfigur zentriert und einander zugeordnet sind. Zudem folgt der beschriebene Wechsel der Landschaftsformen Cézannes Gesetz der Modulation, wenn alle Erdformen um den Betrachter zu kreisen beginnen und sich dabei verändern (Cézanne 1980, 91, 130 f.). An die Stelle von Cézannes Modulation durch Farbe tritt hier eine durch Formen, es bleibt zu erinnern, dass sich bereits Schiller dieser Metaphorik bedient und in Bezug auf die Farben in der Landschaftsmalerei und Landschaftspoesie von „Harmonie“, „Ton“ und „Modulation“ spricht (Schiller NA-22, 272). Alle Wahrnehmungen, Empfindungen und Wünsche Sorgers sind auf die Betrachtung dieser Landschaften bezogen. Diese sind nicht nur Auslöser von Empfindungen, sondern zugleich Muster für eine Selbstreflexion, die auf sie gründet, denn von Anfang an sind seine Wahrnehmungen anthropomorph, sie folgen dabei einer Notiz im Gewicht der Welt: „Als ob das Sehen anthropomorph würde vom langen Aufenthalt an einem einzigen Ort – und dieser anthropomorphe Blick […] wäre eine andere mögliche Wirklichkeit […]“ (GW 100). Beim Betrachten der Naturbilder werden für Sorger unbewusste Wünsche und bewusste Reflexion eins. Jeder seiner Blicke in den Raum ist zugleich einer in die mythische Urgeschichte der Welt. Dazu bietet die Landschaft Alaskas alle Voraussetzungen. Sie erscheint Sorger als geschichtslos, bestimmt allein durch den Wandel der Erdformen, und als zivilisationsfern, im ersten Stadium der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur. Der Blick in diese unberührte Natur ruft Vereinigungsphantasien hervor und in einem äußerlichen Sinn verwandelt sich auch Sorger so wie sein Kollege Lauffer, der allmählich schon durch seine Kleidung zu einer der ortsüblichen „Landschaftsfiguren“ wird (LH 59). Die Landschaft des Nordens ermöglicht überdies nicht nur die unbewusste Identifikation und die wissenschaftliche Distanz zugleich, sie erscheint auch als ein Arsenal von Zeichen, die ein bewusstes „Lesen“ ebenso erlauben wie ein unbewusst phantasierendes Dechiffrieren. Dieses ist auf die Herausbildung des Selbst bezogen, weil es die Natur außen mit den Bildern des eigenen Bewusstseins zusammenfallen lässt. Aus der erdachten räumlichen Distanz eines Flugzeugs sieht Sorger nicht nur die unterschiedlichen Muster, die Natur und Zivilisation am Boden abbilden (LH 43 f.), er phantasiert sich auch eine überflogene Ebene „als einen vielgliedrigen Körper mit einem unverwechselbaren, einmaligen, ihm sich jetzt zuneigenden Gesicht. Dieses Gesicht erschien reich, unheimlich und überraschend: reich nicht bloß in der Vielheit der Formen, sondern auch in deren Eindruck von Unerschöpflichkeit; unheimlich in der Beinah-Namenlosigkeit der unzählbaren, immer seltsam an eine Menschenwelt erinnernden (oder sie vorwegnehmenden) und wie nach Namen schreienden Einzelformen“ (LH 71). Damit wird dem Erdforscher Sorger eine Sehweise zugeschrieben, die sich bereits in der Malerei des 19. Jahrhunderts durchzusetzen beginnt. Bei Courbet und Runge werden die Zeichen von Natur- und Menschenwelt vertauschbar. Courbets Atelier und seine parallelen Bildstudien Ursprung der Welt und Grotte einerseits, Runges Landschaft auf der Flucht und sein Zyklus der Zeiten andererseits können
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dies belegen. Diese Verknüpfung von unbewusster Wahrnehmung und künstlerischer Sehweise prägt Handkes Text in signifikanter Weise, sie verwischt auch, auffällig genug, die Grenze zwischen Bildern und Wirklichkeit. In New York geht ein Bilderlebnis des Museumsbesuchers Sorger unmittelbar in eine Wahrnehmung der Stadt über. Noch von den Werken bestärkt, vor denen er sich, als vor strengen (und auch frech knisternden) Beispielen, allmählich aufgerichtet hatte, stand er oben auf der monumentalen steinernen Innentreppe und erfaßte, gleichsam in einem einzigen machtvollen Herzsprung, die von den unten Kopf an Kopf drängenden Leuten schwärzliche Halle, und mit den Leuten drinnen zugleich, durch die haushohen Glastore, die gesamte Tiefe der auf das Gebäude (das am Parksaum lag) zuführenden felsengrauen 82. Straße, und ganz am Ende der von mehreren dicht befahrenen Avenuen geschnittenen Straße einen graublauen Schimmer von dem die Insel Manhattan begrenzenden schmalen Meeresarm, der East River heißt, und über dem Wasserstreifen einen stetig hin und her flatternden weißlichen Vogelschwarm, der jeweils im Moment des Umkehrens durchsichtig wurde. (LH 196 f.)
Umgekehrt weisen die Formen der Natur über sich hinaus, sie imaginieren einen mythischen Urzustand und liefern Sorger zugleich die Inbilder einer utopischen Weltgeschichte, von der es heißt, in ihr gebe es „nichts Gewaltsames oder auch nur Jähes“ (LH 52). Entdeckt können diese Formen werden, weil Sorger zu zeichnen beginnt. Der bestimmte Ort, der diese Entdeckung möglich macht, und den Sorger täglich zeichnet, „bildete sich erst heraus mit der andauernden Mühe des Zeichnens, und wurde dadurch beschreibbar“ (LH 52). Dies schließt sich an die zweite Überlegung an, die Schiller in seiner Besprechung von Matthissons Gedichten entwickelt. Die Darstellung der Landschaft kann in den Kreis der Menschheit gezogen werden, insofern sie zum Ausdruck von Ideen wird, die aus der „symbolisierenden Einbildungskraft“ (Schiller NA-22, 273) hervorgehen. Sowohl die Phantasien der Vereinigung als auch die Bilder des Gewaltlosen lenken die Romanfigur auf das Vermögen der eigenen Vorstellungskraft. In dieser werden die bewusste Wahrnehmung von Wirklichkeit und das unbewusste Wünschen aufeinander bezogen. Dass die Raumphantasien des Forschers häufig mit erotischen Phantasien gekoppelt sind, unterstreicht dies nur. Sorger, der im Hochgefühl seiner durch Zeichnen zustande gekommenen Euphorie des Erkennens zwei Frauen anspricht und mit ihnen so schnell und mühelos intim wird, dass es ihm nachher selbst wie ein Traum erscheint, erlebt diese Begegnung wiederum als Raumerfahrung: „Die Kälte ihrer Fingernägel. Die Klarheit ihres Leibesinnern! Er sah sich in der warmen Nacht durch die Kontinente gestreckt und die Frauen, die sich um ihn kümmerten, als das letzte Mal für unabsehbare Zeit“ (LH 114). Gerade so erfasst Sorger zusammen mit seinen eigenen lebensbestimmenden Phantasien auch das Formgesetz von Bildern. Die „Leitformen“, die er sucht, findet er in den Anschauungsformen vorrationaler Naturwissenschaft, den „Formerforschungen der Maler“ und der „Musik des Sängers“ vorgezeichnet (LH 121). Die Bedeutung dieser Leitformen ist vorgeprägt durch die vielen geometrischen Muster von Kreis, Arkade und Kuppel, die Sorgers Wahrnehmung von
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Anfang an strukturieren (Gabriel 1983, 217 ff.; Bartmann 1984, 230). Die Selbstreflexion des Protagonisten lässt sich deshalb mit Blick auf eine Kette von Bildern skizzieren. Damit nähert sich der Autor dem Vorbild Stifters, von dem in der Lehre der Sainte-Victoire zu Beginn die Rede ist. Dieser liefert die „tägliche Schrift“, die nicht nur als Text, sondern als eine Offenbarung ästhetischer Sehweisen gelesen wird. Sorger wie Lauffer stehen vor eben der Aufgabe, die auch Stifter in seinen Nachkommenschaften beschreibt: Sie versuchen, eine unendliche Natur abzubilden. Doch während Lauffer zu scheitern droht, weil er wie Stifters Maler Roderer alles ins Bild bringen will, geht Sorger den Weg Stifters, der aufhörte, ein Maler zu sein und Räume wie Landschaften erzählte (Stifter HKA-3.2, 72 f., 92). Im Verlauf einer Phantasie, in der Sorger ein Muster im getrockneten Schlamm wahrnimmt und erneut wie schon vorher vom Aufgehen in der Natur träumt, kann er den Satz sprechen: „Ich bin es, der bestimmt“ (LH 69). So zeigt noch der Wunsch nach Vereinigung die Gewalt einer Projektion, wie sie Voraussetzung aller utopischen Bilder ist. Von hier aus werden die utopischen wie die idyllischen Perspektiven auf das Dorf der Eskimos fragwürdig. Es wird klar, warum Sorger die Indianerin, als sie beim Abendessen den Erwartungen der Europäer entsprechend geschminkt ist, plötzlich wie eine „dunkle, gefährliche Maschine in strahlender Menschengestalt“ (LH 77) erscheint. An jeder Stelle rufen die Wunschbilder ihre Gegenbilder hervor, jede Balance, welche die Hauptfigur erlangt, ist wie schon in vorangegangenen Texten labil und kurzfristig. Und doch erhält sich noch nach Sorgers Rückkehr in die Zivilisation die Erinnerung an die belehrenden Bilder der Natur und den Wunsch nach der Erfahrung einer Ganzheit, welche die Grenzen des Ich überwinden kann. Das ständige Überblenden von authentischen und phantasierten Bildern erklärt, warum Sorgers Naturbilder von Alaska niemals zu den theoretisch fundierten Landschaftsbildern erstarren, wie sie bereits das 18. Jahrhundert kennt, und warum sie auch keine Bewegungslandschaften sind, in denen sich wie in den romantischen Vorlagen das betrachtende Ich verliert. Die Beschreibung von Landschaften zitiert vielmehr Erinnerungen an eine Urgeschichte der menschlichen Seele und setzt im gleichen Zug Phantasien einer anderen Geschichte frei. Erinnerungen wie Phantasien beziehen sich dabei allerst auf das beschreibende Ich selbst. Das Zurückdenken an Alaska, das Sorger noch in der Universitätsstadt am Pazifik gelingt, bewahrt zugleich die Bilder seines Wunsches. Erinnern und Wünschen begründen das Vermögen der Phantasie, aus Wahrnehmungen eine zweite Wirklichkeit zu entwerfen, in der die Konstitution des Selbst im Zentrum steht. „Jeder einzelne Augenblick meines Lebens geht mit jedem anderen zusammen – ohne Hilfsglieder. Es existiert eine Verbindung; ich muß sie nur frei phantasieren“ (LH 112 f.). Der Verlust der unmittelbaren Wahrnehmung von Natur, wie sie in Alaska möglich ist, wird von Sorger an der Westküste zwar als mythisches Gesetz des „Raumverbots“ (LH 132) erfahren, weil die Rückkehr in die Zivilisation für ihn zugleich ein Weg zurück in eine durch Gewalt und Schuld geprägte Geschichte ist. Doch noch in der Welt der städtischen Zivilisation erhält sich aus der Kraft der Erinnerung das Vermögen der Phantasie, Wirklichkeit neu als Erfahrungsraum zu entdecken. Jetzt heißt es von Sorger, „er, der die großen Räume verloren
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hatte, vertiefte sich gelehrig in die kleinsten“ (LH 137). Im begrenzten Kreis der Familie des Freundes geht Phantasie unmittelbar aus Beobachten hervor, macht die Erinnerung schon das bloße Hinsehen produktiv. Das skurrile El Dorado des Liebespaares aus dem Kurzen Brief erhält so sein Gegenbild, das die Gemeinschaft als Raum der Geborgenheit und als Freiraum der Phantasie zugleich erscheinen lässt (LH 136, 139). Das Gesicht der Frau seines Freundes verwandelt sich für Sorger in eine Landschaft; zugleich wird diese Phantasie bereits wieder zum Zentrum einer anderen. Das zur Landschaft gewordene Gesicht der Frau erscheint ihm schließlich als „Menschheitsgesicht“ (LH 139). Nirgends allerdings wird deutlicher als hier, dass die geschlossene Welt der Innerlichkeit und Erinnerung schon deshalb wieder überschritten werden muss, weil sie eine nur imaginäre Ordnung errichtet. „Deine Räume gibt es nicht. Es ist aus mit dir“ (LH 133) hört Sorger als Warnung. Deshalb schreitet seine Phantasie zum Entwurf von Ideen, die der Text „Leitformen“ nennt (LH 120). In dieser Hinsicht stellt die Erfahrung der Figur diejenige ihres Erfinders nach, auch hier wird klar, dass bei Handke Lebensprobleme der erfundenen Figuren und Darstellungsprobleme der Texte häufig symmetrisch sind (Bohn 1976, 368). Für beide gilt, dass Anschauung und Deutung in einer Wahrnehmung zusammenfallen, die jede Ähnlichkeitsbeziehung auf sachliche Identitäten zurückführt und sich somit mythisch nennen lässt (CB 45; Elm 1974, 376). Beide sind einem „wilden Denken“ (Elm 1974, 373; Lévi-Strauss 1977, 11–48) verpflichtet, das dem domestizierten entgegensteht. Schon die Erfahrung des „Raumverbots“ deutet darauf hin, dass Sorgers Landschaftsbilder eine „mythische Geographie“ entwerfen (Hoffmann 1978, 35, 203; Cassirer 1975, 27; Cassirer 1925, 110, 118, 125). Die mythische Wahrnehmung, die den modernen Text bestimmt, hängt unmittelbar mit dem Unbewussten zusammen (Hoffmann 1978, 199, 266 f.), sie repräsentiert eine verdeckte Struktur menschlichen Bewusstseins (Eliade 1973, 9 f., 153 f.). Intrapsychische Konstellationen bildet sie als raumzeitliche ab, dabei erhalten Raumbilder den Vorrang (CB 42). Die sich im Lauf der Zeit verändernden Aufzeichnungen Sorgers, die er an der Westküste wieder liest, belegen dies: in das Interesse an den langzeitlichen Naturräumen hatte sich eine Betroffenheit durch Raum-Formen eingemischt, die gleichwo (nicht allein in der Natur) sich bloß episodisch bildeten, in dem ‚ich, Sorger‘ sozusagen ‚ihr Augenblick‘ wurde, der sie zugleich zu Zeit-Erscheinungen machte. (LH 189)
So erweist sich das mythische Bewusstsein beim modernen Autor bereits als ein sekundäres, das dazu dient, intellektuell nicht lösbare Schwierigkeiten durch eine affektive Sinngebung zu überwinden. Für Sorger wird die Wildnis in Alaska zu „seinem höchstpersönlichen Raum“ (LH 11), seine Versuche der „Zusammenschau“ sind zugleich Blicke auf sich selbst. „Es beschäftigte ihn ja schon seit langem, dass offenbar das Bewusstsein selber mit der Zeit in jeder Landschaft sich seine eigenen kleinen Räume erzeugte, auch da, wo es bis zum Horizont hin keine Abgrenzungsmöglichkeiten zu geben schien“ (LH 107).
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Der mythische Raum ist nicht nur dem ästhetischen im Innersten verwandt (Cassirer 1975, 29), mythisches Denken und ästhetische Phantasie konvergieren auch darin, dass sie auf einen lebensgeschichtlichen Prozess bezogen sind. Als Denkformen, die aus dem Unbewussten hervorgehen, rekonstruieren sie zugleich weit zurückliegende Erfahrungsstufen des wahrnehmenden Ich, sie berühren auch eine „Kindheitsgeographie“ (Bartmann 1984, 231), die Entstehungsort der Phantasmen des Ursprungs ist. Sorgers Heimkehr zielt „nicht nur in eine gewisse Gegend, sondern ins Geburtshaus zurück“ (LH 140). Diesen Sachverhalt bestätigt der Text der Langsamen Heimkehr noch im Detail. An jeder Stelle wiederholen die Phantasien Sorgers Erinnerungen, die sich auf Bilder, Geräusche und Wahrnehmungen seiner frühesten Jugend beziehen (LH 143 f.). Wie eng gerade die Geräuschbilder mit Kindheitserinnerungen verbunden sind, bestätigt das Gewicht der Welt in zwei Abschnitten über Geräusche (GW 42, 187); es bleibt zu erinnern, dass auch die Hornissen solche Audiogramme erzählen. An diesen und anderen Rekonstruktionen erweist sich der besondere Charakter der Beziehung zwischen dem mythischen Denken und dem Vermögen der produktiven Phantasie. Die lebensgeschichtliche Zeitachse, der sie nachfolgen, verwandeln beide in eine Bilderfolge. Damit bewahren sie das Wünschen ebenso wie die Erinnerung an die erste und imaginäre Konstitution des Selbst, ausdrücklich heißt es im Text „Sorger hatte die Gewalt zu wünschen […]“ (LH 184 f.). Der Forscher phantasiert sich das Bild einer Frau in den Schnee, das ihm selbst so wirklich erscheint, dass es ihn erregt (LH 158). Den Ausgang der Phantasien Sorgers von entscheidenden Zeitmarken der Psychogenese beschreibt auch das Ende eines langen Traums kurz vor dem Rückflug über den Atlantik. Der Forscher träumt sich nicht nur bereits nach Europa zurück, sondern er erinnert sich beim Aufwachen an die Bilder des eigenen Ursprungs, die auf die Geschichte seines Körpers weisen. Das Kopfpolster berührte ihn wie die nackte Fußsohle eines Säuglings, und im Aufwachen wirkte ein Kind in ihm, das dann still, ohne Wimpernzucken, mit dem eigenen Atem spielend, zum Fenster hinausschaute. Alles, was er sich organisch wünschte, war organisch; und alles Anorganische anorganisch. ‚Das bin ich!‘ (LH 192 f.)
Die Fähigkeit zu solchen Rückbiegungen begründet im Text die Wahrnehmung und die Imagination von Wirklichkeit zugleich. Traum und Tagtraum sind Voraussetzungen dafür, dass Sorger, den der Erzähler ein ebenso genaues wie stimmungsvolles Landschaftspanorama beobachten lässt, eine imaginierte Wahrnehmung zu einer authentischen erklären kann. So mündet die Rekonstruktion lebensgeschichtlicher Bilder unmittelbar in eine Verdoppelung des Selbst, die das Schreiben ermöglicht. und Sorger stand in Gedanken unten am See und schaute zu dem Turmzimmer hinauf, wo er gerade stand und die dünne, kräftigende Luft einatmete. Über alle Dächer ging der Rauch wie ein Mann, und aus allen Parkbäumen staubte ein unablässiger Baumschneefall. ‚Das ist jetzt!‘ (LH 194)
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Die Erfahrung eines erfüllten Jetzt, welche die Stunde der wahren Empfindung entwickelt, wird hier verdichtet, die Verdopplung des Selbst aber hat jetzt eine Befreiung durch Sprache zur Voraussetzung. Sie erst ermöglicht Sorger die Distanz, die er später gegenüber der Lebensgeschichte des Fremden empfindet, der ihm sein Unglück erzählt und vorspielt (LH 175, 178). Sorger, der in der Erinnerung in die durch Gewalt bestimmte Bilderwelt der eigenen Geschichte zurückzusinken droht, befreit sich, indem er die Wirklichkeit mit einer mythischen Formel bewältigt: „Ich habe keinen Vater mehr“ (LH 100). Der imaginierten Verdoppelung und dem Sich-Lossprechen von der gewaltbestimmten Vaterwelt symmetrisch ist die wie ein mythisches Erlebnis erscheinende Erfahrung des „gesetzgebenden Augenblicks“ (LH 168). Auch sie geht aus Sorgers Erinnerungen hervor und leitet seine Phantasien, als er in einem Coffee Shop in den Bildern der Zivilisation die Erdformen wiederzuerkennen glaubt (LH 170 f.). Bereits zu diesem Zeitpunkt erkennt er, was ihm später zur Gewissheit wird; zum „Gesetz“ des eigenen Lebens wird die Erfahrung des gesetzgebenden Augenblicks allererst dadurch, dass sie aufgeschrieben wird (LH 169), der Weg zum eigenen Stil setzt eine Rückkehr voraus (LH 199). Allein so wird deutlich, dass die Geschichte nicht Gewalt, sondern eine „von jedermann […] fortsetzbare friedensstiftende Form“ (LH 168) ist. Das schreibende Aufbewahren trägt dazu bei, ein bisher verborgenes Gesetz zu erfüllen; schon vorher heißt es lapidar: „[…] ich bin nur, was mir gelungen ist, euch zu sagen“ (LH 140). Damit spricht die Langsame Heimkehr einen Sachverhalt offen aus, der im Schlussbild der Falschen Bewegung nur in einem Bild aufblitzt, das die Zeichen der Natur und der Zivilisation und Kulturisation ineinander spiegelt. „Eine weiße Schneewächte gegen den grauen Himmel, lange. Das Sturmgeräusch. Ein Schreibmaschinengeräusch dazwischen, das immer stärker wird“ (FB 81).
6.2 Der Weg ins Bild: Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) Vom Modus des „Sagens“, das die Langsame Heimkehr anstrebt, und von dessen Voraussetzungen handelt präziser die Lehre der Sainte-Victoire. In ihr gibt sich der nach seinem Stil suchende Wissenschaftler Sorger endgültig als sein Erfinder zu erkennen. Bereits in der Langsamen Heimkehr spricht der Erzähler die Figur Sorger mit ‚du‘ an und schreibt ihr eine Erfahrung zu, die seine eigene ist. Auf seiner „ersten wirklichen“ Reise lernt er, „was der eigene Stil ist“ (LH 199). In der Lehre der Sainte-Victoire ist dieser Stil gefunden, zugleich kann der Erzähler sagen: „der Geologe hat sich noch vor dem europäischen Boden in mich zurückverwandelt […]“ (LSV 93). Es zeigt sich, dass dieser Erdforscher, der sich dem Erzähler „anverwandelt“ hat, in „vielen Blicken“ weiterwirkt (LSV 102). Damit erhält die mythische Rekodierung der Voraussetzungen des Erzählens eine autobiographische Authentizität. Das Benennen und Namengeben, von dem der Text handelt und das dem Mythos ebenso zugeschlagen werden kann wie der kindlichen Phantasie, bezieht sich auf eine wirkliche Sozialisationsgeschichte. In der Rekonstruktion der eigenen künstlerischen Entwicklung verbinden sich die
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Jahre in Frankreich mit Erinnerungen an Kindheit und Jugend; die zweimal unternommene Reise des Erzählers zur Montagne Sainte-Victoire verbindet Bilder aus seinem Pariser Aufenthalt mit Erinnerungsbildern an Berlin, Reminiszenzen an einen Urlaub in Jugoslawien und schließlich mit den Phantasien und Wahrnehmungen des Kindes in Kärnten. Daraus entsteht die Kontinuität eines „mythe personnel“ (Mauron 1962, 32, 34). In ihm werden autobiographische Erinnerungen, unbewusste Phantasien und mimetischer Entwurf aufeinander bezogen. Das Gewicht der Welt bestätigt schon vorher diese biographische Inschrift der erzählten Mythen und die mythische Überformung der autobiographischen Erinnerungen: „Immer wieder das Bedürfnis, als Schriftsteller Mythen zu erfinden, zu finden, die mit den alten abendländischen Mythen gar nichts mehr zu tun haben: als bräuchte ich neue Mythen, unschuldige, aus meinem täglichen Leben gewonnene: mit denen ich mich neu anfangen kann“ (GW 181). Zudem sind die Bilder der primären familialen und der sekundären künstlerischen Sozialisation so eng miteinander verbunden, dass sie einen Zustand der Zerrissenheit aufheben, der im Gewicht der Welt noch als unauflöslicher Widerspruch von Ich und Welt dargestellt wird und den Handke in einem Interview als „eine Art Disharmonie von Anfang an zwischen dem Ich und der Welt, einen ontologischen Riss zwischen manchen Figuren und deren Geschichte“ bezeichnet (Schäble 1980, 427; GW 118). Deshalb weist das autobiographische Ich der Lehre der Sainte-Victoire auf die Rolle des „lebendigen Ich“, das sich gegenüber den sozialen Einschreibsystemen zur Geltung zu bringen sucht, und es markiert Schnittstellen zwischen dieser Einschrift und der Urschrift des Unbewussten. Sie weisen auf die Entstehung des Unbewussten durch das Gesetz des Symbolischen und die Sprache (Kreis 1978, 29). Doch es ist kennzeichnend für den lebens- und werkgeschichtlichen Ort des erzählten ‚mythe personnel‘ der Künstlerautobiographie, dass dieser bereits auf regressiven Entdifferenzierungen psychischer Konflikte aufbaut und einen „lebensgeschichtlichen Neubeginn“ (Loch 1976, 238, 247) entwirft. Dem Verfasser des Journals wird diese Verschränkung ausgerechnet am Mythos des Narziss bewusst. Er nähert sich dabei einer Auffassung von den Wandlungen des Narzissmus zu einer schöpferischen Kraft, die seit längerer Zeit in der Psychoanalyse Bedeutung gewonnen hat. Der Mythos von Narziß: Ob nicht vielleicht gerade das lange, forschende Anschauen des eigenen Spiegelbilds (und im weiteren Sinn: der von einem verfertigten Sachen) die Kraft und Offenheit zu langem, unverwandtem, sich vertiefendem Anschauen andrer geben kann? (GW 239)
Deshalb auch tritt hier das Unbewusste, die im fiktionalen Text wie im kulturalen Diskurs verdrängte Wahrheit des Menschen, nicht mehr als Zerstörer der konventionellen Sprache und der kulturisierten Reden auf (Kreis 1978, 68). Der Persönlichkeitsmythos, den die Lehre entwirft, bezieht sich nicht allein auf ein „Frühgeschehen aus der Ontogenese der Seele“ (Loch 1976, 90), das in Anlehnung an die Psychoanalyse von Jacques Lacan den „Versöhnungswunsch“ aus dem „Begehren des Begehrens des anderen“ hervorgehen lässt (LSV 25;
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Lacan Seminar I, 226 f.). Vielmehr liefert er auch ein Schema der Konfliktbewältigung, er ist Teil des Neuaufbaus einer Persönlichkeit. Die Superposition (Mauron 1962, 23) der Texte Handkes bestätigt, dass die Lehre der Sainte-Victoire in diesem Sinn als Zusammenfassung und Überwindung früher dargestellter psychischer Konflikte gelten kann. Es ist signifikant, dass der Text der Dichterlehre gegenüber den Bildern der primären die der sekundären Sozialisation in den Vordergrund schiebt; diese erst machen ein Dichterleben aus. Die Suche nach einem „Lehrmeister“ (LSV 33) führt zu Cézanne und wird gleichzeitig eine umfassende Auseinandersetzung mit der Landschaftsmalerei, sie weist auf eine Tradition, die von Ruisdael (LSV 119) über Courbet (LSV 31–33) bis hin zu Edward Hopper (LSV 19 f.) reicht (Abb. 6.1). Dabei ist auffällig, dass die Bildbeschreibungen dieses Textes weniger auf historische Differenzen abheben als vielmehr auf das Verbindende, auf eine Oberfläche der Bilder, die dem Erzähler als eine „Sehtafel“ dient, die zumeist ein „wiederkehrendes Phantasie- und Lebensbild erfaßt“ (LSV 18). Bereits in einer Studie über den Maler Pongratz hatte Handke darauf abgehoben, dass „die Schemata fürs Schreiben und Malen“ vergleichbar sind (EF 14; Mixner 1977,
Abb. 6.1 Paul Cézanne (1839–1906): La Montagne de Sainte-Victoire vue de Bibémus, 1897 (Baltimore Museum of Art, © Heritage Art/Heritage Images/picture alliance)
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172). Im Nachhinein wird deutlich, dass sich beim Autor daraus schon früh eine enge Verbindung von Bild und Text begründet. Der „Judenfriedhof“ am Aufstiegsweg von Mutter und Kind in der Linkshändigen Frau dürfte deshalb, um ein Beispiel zu geben, eine Reminiszenz des Autors an Ruisdaels gleichnamiges Bild sein (LF 103). Dagegen folgt seine erzählende Beschreibung der Bilder Cézannes keiner historischen Linie, vielmehr zielt sie zugleich auf eine philosophisch fundierte Erkenntnistheorie. Seine Deutung des Malers eröffnet eine Parallele zu einem kurzen Text Heideggers über diesen. Die Lehre unternimmt eben das „Eindringen in die Gefahr der äußersten Beziehung zu den einfachen Dingen“ (Laemmle 1981, 428), das der Philosoph am Maler entdeckt. Die Erkenntnis des Zusammenhangs, die in der Langsamen Heimkehr „frei phantasiert“ (LH 113) werden soll, wird jetzt zu einem „Freiphantasieren“ (LSV 100), sie ist eher ein Entbergen als ein voraussetzungsloses Erfinden. Dadurch allererst wird das Schreiben in eine Nähe zu Cézannes Malen gerückt, über das Heidegger ausführt: Im Spätwerk des Malers ist die Zwiefalt von Anwesendem und Anwesenheit einfältig geworden, ‚realisiert‘ und verwunden zugleich, verwandelt in eine geheimnisvolle Identität. Zeigt sich hier ein Pfad, der in ein Zusammengehören des Dichtens und des Denkens führt? (Heidegger EF 13; 223)
Durch diese Wendung werden die regressiven mythischen Bilder, die in der Langsamen Heimkehr in den Abschnitten „Vorzeitformen“ und „Raumverbot“ vorherrschen, nicht anders als der Mythos von Narziss in produktive Mythen verwandelt, die eine textkonstituierende Kraft haben, sie erschließen zugleich eine philosophische und eine psychologische Wahrheit. Indem sie gleichzeitig die autobiographische Inschrift von Handkes Texten freilegen, erweisen sie sich als Teil des Entwurfs einer idealen Biographie, gerade darin gründen sie auch im Unbewussten. Die kindliche Orientierung am Imaginären wird durch diese Mythen rekonstruiert und als ein produktives Vermögen wiederholt, das alle Phantasmen in Phantasie verwandelt und alle Phantasien auf Vorhandenes rückbezieht. So vermittelt auch dieser Text die Ordnung der Dinge, die Ordnung des Symbolischen und die Sprache des Unbewussten miteinander (Loch 1976, 32, 91 f.; Freud 1969, 193). Möglich wird diese Vermittlung dadurch, dass Landschaften wie in der Langsamen Heimkehr als Zeichensysteme betrachtet werden. Jetzt sind diese sogar wie eine Schrift lesbar. Ausgehend von Cézannes Rochers près des grottes au-dessus de Château Noir (LSV 76) entdeckt Handke, dass die Bilder des Malers „Ding-Bild-Schrift in einem“ sind (LSV 78). Damit greift er eine Tradition auf, die sich bereits in der Bildbetrachtung des 19. Jahrhunderts durchzusetzen beginnt. Seit dieser Zeit behandeln philosophische und literarische Kommentare Landschaften nicht mehr als Abbilder, sondern als Zeichen- und
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Chiffrensysteme für nicht Sichtbares. Die Maler selbst nehmen den Gedanken des Landschaften-Lesens auf. In einer Rezension Schillers heißt es „der tote Buchstabe der Natur wird zu einer lebendigen Geistersprache, und das äußere und das innere Auge lesen dieselbe Schrift der Erscheinungen auf ganz verschiedene Weise“ (Schiller NA-22, 273). Der Maler Runge betont nicht nur die Notwendigkeit „charakteristischer Zeichen“ zur Naturdarstellung, er sieht auch, dass sich Arabeske und Hieroglyphe zur Landschaft verwandeln und in dieser „alles Bedeutung und Sprache“ erlange (Runge 1938, 25, 38, 91). In der Moderne führt Adorno diesen Gedanken fort, wenn er am Beispiel von Malerei und Musik die Entstehung des Schriftcharakters, der Ecriture in der Kunst klarlegt (Adorno GS-16, 634). Daraus ergibt sich die Beziehung von Texten und Bildern, die Handke ins Auge fasst. Allerdings bleibt ein Unterschied fortbestehen. Während die Bilder Abbild und Schrift zugleich werden, entsteht in den Texten eine doppelte Schrift. Bild und Text aber konvergieren darin, dass sie Raumbilder und Bildkomplexe entwerfen, die das Unbewusste abbilden und zugleich auf historischen Erfahrungen beruhen (Cassirer 1975, 22; Hoffmann 1978, 200). Zudem weisen beide nicht nur auf einen Bruch zwischen Zeichen und Bezeichnetem und auf die Verselbständigung der Zeichensysteme, sie stellen diese Tranformation auch manisch immer wieder nach. Der Maler Courbet und der Dichter-Maler Stifter liefern hierfür die Beispiele. Der erzählte Persönlichkeitsmythos der Lehre der Sainte-Victoire setzt eine geglückte Herausbildung des Selbst voraus und versucht, sie durch einen Mythos von Autorschaft zu überschreiben. Gerade deshalb erfordert seine Orientierung an Vorbildern auch eine biographische Engführung. In Cézannes Entwicklung erkennt der Künstler-Erzähler den entscheidenden Wendepunkt, der mit einer neuen Arbeitstechnik, dem Malen „auf dem Motiv“ zusammenfällt (Cézanne 1980, 118). Die düster-phantastischen Landschaften, die den Erzähler ebenso beunruhigen wie die traumdrohenden Landschaften anderer Maler, und die Schreckbilder, etwa die Versuchung des Heiligen Antonius, die allesamt auf die schonungslose Enthüllung von Triebleidenschaften abzielen, verschwinden aus dem Werk Cézannes. Sie werden abgelöst durch die Darstellung des „reinen, schuldlosen Irdischen: des Apfels, des Felsens, eines menschlichen Gesichts“ (LSV 21). Dieser Wende setzt der Erzähler seine eigene lebensgeschichtlich bedeutsame und ebenfalls durch ästhetische Bilder bezeugte Entwicklung parallel. Er legt klar, dass in seinen Phantasien wie in seinen Texten an die Stelle der Zypressen, der Totenbäume der Antike, die etwa noch im Kurzen Brief auf Entfremdung und Depersonalisation weisen (Elm 1974, 363; Mixner 1977, 154), die „Pins parasol“ als neue Bilder der Geborgenheit treten (LSV 23). Begleitet ist diese Wendung wie in der Langsamen Heimkehr von einem geometrischen Symbol der Selbstversicherung. Der „Große Bogen“, so lautet die Überschrift des ersten Kapitels, meint nicht nur den Bogen der Heimkehr, den die Langsame Heimkehr beginnt, sondern auch den Torbogen, den „le grand pin“ bildet und der die Sainte-Victoire einrahmt. Diese Wendung ist zugleich ein Versuch, im Schreiben ursprünglich transzendente, bewusstseinsunabhängige Bilder im Sinne Kants wieder in transzendentale zurückzuverwandeln. Darin wird eine Entwicklung des Schreibens sichtbar, denn der
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Kurze Brief und die Stunde der wahren Empfindung sind noch von einer gegenläufigen Bewegung bestimmt (Elm 1974, 363). Auch dafür findet der Erzähler sein Vorbild in Cézanne, der sein Verfahren der „Realisation“ in Anlehnung an Kants Erkenntnistheorie entwickelt (Cézanne 1980, 12 f.); dahin gehört auch, dass sich Handke bereits in der Langsamen Heimkehr zur Selbstreflexion „Kants fundamentaler Anschauungsformen bedient: des Raumes (in Alaska und in Kalifornien) und der Zeit (in Manhattan)“ (Pütz 1982, 111). Im „Kontakt der Maleraugen mit der Natur“ entsteht aus Sinnesempfindungen (Cézanne 1980, 94, 83), aus der schöpferischen Gestaltungskraft, dem „Temperament“ Cézannes (Cézanne 1980, 81), eine gedeutete Wirklichkeit. Es ist kein Zufall, dass Cézanne diese Darstellungstechnik als eine Theorie im wortwörtlichen Sinn der griechischen Naturphilosophie ansieht, gerade dadurch wird sie der alleinigen Verfügung der Vernunft entzogen. „Alles ist, besonders in der Kunst, Theorie, entwickelt und angewandt im Kontakt mit der Natur“ heißt es in Gasquets Gesprächen mit Cézanne (Cézanne 1980, 93). Damit greift die Lehre der Sainte-Victoire auf einen Ansatz zurück, den die Langsame Heimkehr im Rückgriff auf Lukrez (LH 148; PW 74; Gabriel 1983, 218) entwickelt und den der Chinese des Schmerzes in der Orientierung an Vergils Georgika weiterführt. Während Cézanne die Rolle der Empfindungen und Wahrnehmungen hervorhebt (Cézanne 1980, 45, 83) und als ihr Medium die Farben und ihre Modulation benennt, finden die Überlegungen des autobiographischen Dichter-Künstlers eine weitere Bestärkung im Begriff der Imagination, wie er bei dem ebenfalls im Text erwähnten Philosophen Vauvenargues entwickelt wird. „J’appelle imagination le don de concevoir les choses, d’une manière figurée, et de rendre ses pensées par des images. Ainsi l’imagination parle toujours à nos sens“ (Vauvenargues 1981, 64). Doch wo der Maler vermittels der Farbtöne eine Landschaft realisieren kann (Cézanne 1980, 12, 15, 73, 94), bleiben dem Erzähler allein die Ordnung der Metaphern und die Fähigkeit, der Wirklichkeit Namen zu verleihen. So berichtet der Text von einem Benennen, aus dem er selbst hervorgeht, er entwirft den Mythos seiner Entstehung. Der Erzähler nennt eine Landschaftsformation die „Ebene des Philosophen“, er bezeichnet eine Stelle, an der er einem bedrohlichen Hund begegnet, „Saut du loup“ (LSV 62). Die Episode mit dem tollwütigen Tier liefert dabei ein Muster für das Vermögen der ästhetischen Phantasie, die ebenso entschieden wie bei Handkes Gewährsmann Lukrez in De rerum natura dem Schrecken und der Todesangst entgegentreten kann. Die Angst des Bergbesteigers vor dem Tier weicht durch ein „Phantasiebild“, das er sich zu dem Hund denkt (LSV 59), sie schwindet völlig durch einen Traum, in dem sich der Hund in ein Schwein verwandelt (LSV 61 f.), und sie führt schließlich zu einer Spielszene, in der sich der Erzähler selbst in einen Wolf verwandelt und sich wie ein Kind zuschreibt, wovor er ursprünglich Angst hatte. So bestätigt sich die Einheit von „Regel des Spiels und Spiel der Regel“, welche die Grenze zwischen Bildern und unmittelbarer Erfahrung der Wirklichkeit aufhebt (LSV 52). Das schon früh dargestellte produktive Verfahren des Verwechselns, das dem Erzähler vor dem „Omniprix“ (LSV 64 f.) widerfährt und das Benennen, die beide ebenfalls an die magische Weltordnung des Kindes erinnern, verleihen dem Bilder- und
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andschaften-Sehen eine doppelte Bedeutung. Beide stellen eine Einheit zwischen L des Erzählers „älteste[r] Vergangenheit und der Gegenwart“ her (LSV 11). Sie ermöglichen auch den Blick auf das geheime „Ding der Verborgenheit“, das als zentrales Bild die Jugenderinnerungen des Erzählers durchzieht, und befördern dessen Rekonstruktion durch die produktive Phantasie (LSV 68). Diese stellt das geheimnisvolle Ding, es ist der „Holzstoß“ des Alexius, dessen Legende das Kind kennenlernt, als ein leitendes mythisches Bild und zentrales Phantasma der Jugend dem wirklichen Hund in Puyloubier als der Inkarnation des bewusstlosen Willens zum Bösen unmittelbar gegenüber (LSV 58–61). Angesichts dieser Beziehung verwundert es nicht, dass dem Kind einst auch das Bild der Bilder, das Allerheiligste in der Kirche als ein „Allerwirklichstes“ (LSV 83) erschien. Aus solchen Transformationen begründet sich die zugleich produktive und lebenserhaltende Kraft regressiver Phantasien: Die mythischen Rekonstruktionen werden in eine phantastische Familiengeschichte des Erzählers umgeschrieben. In seiner Phantasie verknüpft sich die Geschichte des „Heiligen Alexius unter der Stiege“ mit der des georgischen Malers Pirosmani, der die letzte Zeit seines Lebens in einem Holzverschlag zubrachte, der sich nach der kindlichen Vorstellung ebenfalls „unter einer Stiege“ befand. Diese Stiege phantasiert sich das Kind ins Haus der Großeltern und sich selbst schreibt es eine Abkunft aus Georgien zu. Diese unbewusste Zusammenziehung unterschiedlicher Phantasiebilder rückt den Erzähler in die Verwandtschaft des Pirosmani und schafft die Bedingung für das „Wunschbild“ von sich selbst „als dem Schriftsteller“ (LSV 70); unmittelbar aus den Kinderphantasien begründet sich eine mythische Genealogie des Erzählers, die eine lebensbestimmende Phantasie von Autorschaft entwirft. Es zeigt sich, dass diese Phantasie einerseits aus dem Leben hervorwächst, andererseits erst für die unverstellten Erinnerungen frei macht. Erinnerungen und Phantasien werden dabei wie häufig von Farbeindrücken ausgelöst und erweisen sich als symmetrisch. Die „rötlichen Fruchtsaftflecken im hellen Wegstaub“ lassen an das „Saftrot der Maulbeeren vom Sommer 1971 in Jugoslawien“ denken; der „Augenblick der Phantasie“ vereint nicht nur „die eigenen Lebensbruchstücke in Unschuld“, sondern wirkt auch als „unbestimmte Liebe, mit der Lust, diese, in einer treuestiftenden Form!, weiterzugeben“ an das „verborgene Volk“ der Leser (LSV 72 f.). Der Maulbeerenweg, der sich perspektivisch der Erinnerung öffnet, indem er zugleich die ästhetische Phantasie freisetzt, und von dem der Erzähler das „Recht“ ableitet, eine Lehre der Sainte-Victoire zu schreiben, ist ein „Pfad“, der im Sinne Heideggers „in ein Zusammengehören des Dichtens und Denkens“ (Heidegger EF 223) führt; von hier erweist sich die Bedeutung des Mottos zu Beginn der Langsamen Heimkehr: „Dann, als ich kopfüber den Pfad hinunterstolperte, war da plötzlich eine Form…“ Der Bezug auf Alexius, der als Heiliger seine Identität zu verleugnen sucht und am Ende seines Lebens unerkannt im Vaterhaus lebt, lässt dem Erzähler ein „sanftes Gesetz“ in Natur und Geschichte zugleich erscheinen. Dieses steht in ausdrücklichem Kontrast zu den Katastrophen, in die er Stifters Erzählungen „fast regelmäßig ausarten“ sieht; die Bilder von Natur und Geschichte erscheinen ihm
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zwar als unwiderruflich, aber immerhin als „verschlungene Schriftzeichen“ lesbar (LSV 74, 78). Wie der „Strich“ des Malers Ding, Bild und Schrift aneinander vermitteln kann (LSV 79), so schreibt sich der Erzähler eine andere Geschichte zu und erkennt dabei zugleich seine wirkliche. Die Beziehung zwischen Cézannes „Homme aux bras croisés“ und der Romanfigur Sorger liefert ein Beispiel für die Bedeutung solcher Verwandlungen und Umschreibungen (LSV 36 f.). Erst der besondere Zusammenhang zwischen Umdeuten und Deuten erklärt, warum sich der Erzähler „im Bedürfnis nach Dauer, willentlich in die alltäglichen, gemachten Dinge“ (LSV 82) vertiefen kann. Die mythische Rekonstruktion einer lebensgeschichtlichen Entwicklung und die phantastische Familiengeschichte entwerfen zugleich eine Geschichte von der Entstehung künstlerischer Produktivität, indem sie die Phantasie aufs Gedächtnis verweisen. Die produktiven Entwürfe gehen unmittelbar aus der Erinnerung an die Bilder der Geborgenheit hervor, die sich aus einem lebensgeschichtlichen Urzustand herleiten (LSV 22–25). Überdies kann sich das autobiographische Ich auch hierin an Vauvenargues orientieren. „La mémoire conserve le précieux dépôt de l’imagination et de la réflexion“ (Vauvenargues 1981, 64). Eine Erinnerung, welche die Bilder der Phantasie und der Imagination erhält, hat zugleich eine Schutzfunktion. Vor dem erinnernd bewahrten Vermögen der Phantasie verliert die unmittelbare Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die problematische Wiederbegegnung des Erzählers mit seinem Vater (LSV 96 f.), an Bedeutung. Während sich Sorger in der Langsamen Heimkehr noch den Satz „Ich habe keinen Vater mehr“ phantasiert (LH 100), hat der Erzähler der Lehre der Sainte-Victoire diesen Hass überwunden. Dort heißt es selbstbewusst: „Der Verstand vergißt; die Phantasie vergißt nie“ (LSV 99). Erinnert wird hier allein noch, was der Phantasie angehört. Dies wird besonders an den Blicken auf Deutschland deutlich. Das Bild des ‚Kalten Feldes‘ und die davon ausgehenden Phantasien der Gewalt und der „Zweckformen“ (LSV 91) ändern sich im Zuge eines Freiphantasierens, das unter der Stadtlandschaft Berlins die geologische Formation eines „Urstromtales“ bloßlegt, dem sich die Zeichen der Zivilisation noch immer anpassen (LSV 94 f.). So wie der Schrecken vor dem Hund in Puyloubier traumhaft und spielerisch beseitigt werden kann und der ursprünglich drohende Vater dem Sohn seinerseits „wie jemandes Sohn“ vorkommt (LSV 97), ist der Erzähler in der Lage, auch „ein anderes Deutschland“ zu sehen: „[…] es lag, Ausdruck von Hermann Lenz gleich ‚nebendraußen‘; es schwieg humorvoll und hieß Mittelsinn; es war ‚das schweigende Leben der regelmäßigen Formen in der Stille‘; es war ‚schöne Mitte‘ und ‚Atemwende‘; es war ein Rätsel; es kehrte wieder und war wirklich“ (LSV 98). Der lebensgeschichtlichen Bedeutung dieser Phantasie korrespondiert ihre ästhetische. Überdies lässt sich aus dem bei Vauvenargues entwickelten Zusammenhang von imagination, réflexion und mémoire erklären, warum das Freiphantasieren beim autobiographischen Erzähler wie bei Cézanne nicht Erfinden, sondern „Realisieren“ heißt. So wie für Vauvenargues selbst die philosophische Wahrheit auf einem Wiederfinden und Verknüpfen des Evidenten beruht, richtet sich der Blick des Erzählers wie der des Malers auf eine verdeckte,
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gleichwohl evidente Linie. Auch dies macht der Text sinnfällig. Der erzählte Aufstieg auf das Massiv der Sainte-Victoire folgt einer geologischen Formation, die der Erzähler zuerst an Cézannes Bildern des Bergmassivs entdeckt, bevor er sie in der Natur wiedererkennt (LSV 109, 114). Sein Bericht rekonstruiert, was bei Cézanne der malerischen Realisation vorangeht. Bei diesem kann er lesen: „Um eine Landschaft richtig zu malen, muß ich auch zuerst die geologische Schichtung erkennen“ (Cézanne 1980, 16). Genauso geht es dem Erzähler. Der „Pas de l’Escalette“ wird für ihn zum geheimen Drehpunkt aller Naturwahrnehmungen im Gebirge und zugleich zum Zentrum seiner ästhetischen Phantasien. Überdies schwindet die Grenze zwischen den Bildern der Natur und denen der Sozialisation; aus dem Kreisen der Erinnerung, das bis in die eigene Kindheit zurückreicht, entstehen schließlich die Phantasmen von urzeitlichen Erdformen, sie korrespondieren den authentischen Landschaften der Langsamen Heimkehr. Zugleich sieht der Erzähler, wie sich ihm das „Reich der Wörter“ eröffnet, zusammen mit dem „Großen Geist der Form“, er denkt an keinen „Leser“ mehr (LSV 115). Um diesen wiedergefundenen Mittelpunkt gruppiert seine Phantasie Gegenstände und Formen, vor allem aber die Kreise der Erinnerung (LSV 87), auf die sich die Lehre der Sainte-Victoire gründet. Dabei vermischen sich erneut bildungs- und lebensgeschichtliche Erfahrungen. In Berlin kann der Erzähler die durch Stadtbauten überdeckte Naturlandschaft freiphantasieren, nachdem er die „Zweckformen“ des ‚Kalten Feldes‘ wahrgenommen hat (LSV 94–96); im Anschluss an das Erlebnis auf der Sainte-Victoire gelingt ihm eine vergleichbare Wahrnehmung im Morzger Wäldchen bei Salzburg. Gerade sie greift auf die Erinnerung an ein Bild zurück. Auch dafür gibt es eine Parallele. Stifter führt seinen Maler Roderer in den Nachkommenschaften aus der Natur, die er nicht in ein Bild verwandeln kann, vor eben das Gemälde, das auch Handke beschreibt. Und auch für diesen wird das Betrachten des Bildes zur Voraussetzung einer Erkenntnis. Im erinnernden Vergleichen von Bild der Natur und erlebter Natur erscheint ihm das Wäldchen seiner Kindheit sowohl als natürliche Urlandschaft wie als Urlandschaft der eigenen, in der Kindheit gründenden Phantasien. Es bleibt daran zu erinnern, dass Handke schon in dem Stück Die Unvernünftigen sterben aus versucht, aus der imaginären Wahrnehmung der „Flecken in mir“ und der „Wälder außerhalb von mir“, von der Stifter spricht, einen Zusammenhang von Naturwahrnehmung und Beobachtung des Selbst abzuleiten. Noch deutlicher als dort vereinen jetzt Phantasie und Erinnerung geographische Erfahrungsräume, Bilder der ontogenetischen Entwicklung und Erinnerungsmarken der eigenen Jugend bis hin zu der Farbentesttafel bei der Musterung. Ayers Rock, der Berg der Ureinwohner Australiens, die Römerstraßen der Provence (LSV 130 f.), der Bois de Boulogne und kindliche Spielwelten im Wäldchen verschmelzen miteinander; aus Erinnerungen hervorgehende Phantasien, unmittelbare Wahrnehmung und erzählerische Realisation werden eins. Die psychologische Bedeutung dieses Vorgangs belegt eine Notiz des Autors: „Ich sah im Traum die Landschaft, die ich beschrieben, in ihre Folge gebracht und neu zugänglich gemacht hatte, als mein sonniges Wappenschild in der sie umgebenden Finsternis liegen, und ich hob das
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Schild auf und hielt es mir vor die schmerzende Brust (den großen Wald)“ (GB 214) (Abb. 6.2). Damit steht am Ende des Textes eine Bilderfolge, die Stufen familialer und kulturaler Sozialisation ineinander spiegelt und aus ihnen den Mythos der Geburt von Autorschaft bildet. Dessen Signifikant ist der Holzstoß, der sich mit der Erinnerung an die Legende von Alexius wie auch mit den Kindheitserinnerungen an das Morzger Wäldchen verbindet, ohne die Konturen der authentischen Biographie zu verwischen (LSV 69, 139). Dazu kommt ein Weiteres. Schon jetzt wird der Mythos von Autorschaft mit dem Bild der Schwelle verbunden; dieses dürfte auf Trakls Ein Winterabend und zugleich auf Heideggers Auslegung dieses Gedichts anspielen; überdies deutet es auf den Chinesen des Schmerzes voraus, in dem es zentrale Bedeutung gewinnt (LSV 127; Trakl 1969, 102; Heidegger UN 26–28). So findet die Phantasie des Mittelgrundes hier ihr Äquivalent, denn in der Interpretation Heideggers trägt die Schwelle das „Zwischen“, sie „hält die Mitte, in der die Zwei, das Draußen und das Drinnen, einander durchgehen, aus“ (Heidegger UN 26).
Abb. 6.2 Jacob van Ruisdael (1628/29–1682): Der große Wald (um 1655/60) (Wien, Kunsthistorisches Museum, © akg-images)
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Die existentielle Bedeutung, welche die ästhetische Erfahrung in dieser Schwellensituation erlangt, wird in der Lehre der Sainte-Victoire zugleich als eine soziale entwickelt. Dabei erweist sich das Augenpaar, das der Erzähler am Ende der Lehre phantasiert (LSV 139), als eine ‚métaphore obsédante‘ (Mauron 1962, 30). Sie legt klar, dass die Künstler-Autobiographie ihre prägenden Muster aus kindlichen Erfahrungen bezieht und zugleich in der wirklichen Geschichte des autobiographischen Erzählers mit seinem Kind ihren Paralleltext findet.
6.3 Zeichen der anderen Welt: Kindergeschichte (1981) Es ist nur folgerichtig, dass Handke mit der sich anschließenden Kindergeschichte hinter die Metaphorik des Kindseins und der kindlichen Blicke auf eine authentische Geschichte zurückgreift. Sie liefert biographische Belege für einen Zustand, den die Langsame Heimkehr als erfundene Handlung und die Lehre der Sainte-Victoire als erzählende Theorie nur rekonstruieren; gerade das Authentische verbürgt nunmehr die Geschlossenheit des ‚mythe personnel‘. Eine Notiz im Gewicht der Welt macht deutlich, dass die Darstellung der Kindheit seiner Tochter Amina Handke die Möglichkeit gibt, ein zentrales Thema seines Schreibens zu verdichten und dabei nicht allein von sich zu sprechen. Nachdem ich, schon in der Kindheit, einmal mich erlebt hatte, ereignishaft und gespenstisch in der zeichenlosen Alltäglichkeit, wußte ich, daß ich für das ganze Leben eine Beschäftigung hätte (die auch das ganze Leben erfordern würde: nie würde ich mich für immer durchdacht haben). (GW 322)
Ohne Zweifel ist die Geschichte der Tochter von Anfang an auch als eine des Vaters dargestellt. Am Beispiel der Erfahrungen des Kindes erinnert sich der Autor an Phasen des eigenen Lebens und an Leben und Werk bestimmende Wünsche und Phantasien. Zugleich ist die Kindergeschichte die Darstellung einer besonderen Beziehung von Vater und Kind. Sie verfügt über ein hohes Maß an Konkretion und eröffnet zugleich eine ästhetische Reflexion. Insofern nimmt sie die frühere „Immunisierung“ von Kindheit (Durzak 1982, 164), die sich im Kurzen Brief und in der Linkshändigen Frau beobachten lässt, wieder auf und verändert sie zugleich. Der ursprünglich werkbestimmende Gegensatz von Wunschwelt und Realwelt wird nun nicht mehr allein auf den Phantasieraum des Kindes und die Phantasien seines Autor-Vaters bezogen; vielmehr entwerfen die gemeinsamen Phantasien einen beiden offenstehenden Raum der Erfahrung, der, nachdem er durch unterschiedliche Phasen wechselseitiger Abhängigkeit beeinflusst ist, schließlich alle Zeichen einer Gegengründung hat. „Hatte sich nicht, auch durch den unauflösbaren Zwiespalt zwischen der Arbeit und dem Kind, allmählich die Sicherheit eingestellt, endlich frei von dem Lügenleben der ‚modernen Zeit‘ zu zweit eine Art über den Zeitläuften stehendes Mittelalter fortzusetzen […]“ (KG 86).
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Sein authentisches Modell erhält dieser Erfahrungsraum im berichteten wirklichen Rückzug von Vater und Kind aus der „Zwangszukunft“ der neuen Gemeinschaften (KG 21; Gabriel 1983, 228 f.) und der Welt der „Realitäts-Tümler“ (KG 86) in eine abgeschlossene gemeinsame Welt. Die auf ein „Damals“ weisenden Sätze, welche die Geschichte des Kindes an jedem Punkt an nachprüfbare Daten und Orte des Erzählerlebens knüpfen (KG 24 f.), bestätigen diese Verschränkung. Sie legen klar, dass der Erzähler die Geschichte des Kindes in doppelter Hinsicht auf seine eigene bezieht: Sie wird als Erinnerung an seine Erfahrungen wie als Phantasie einer möglichen Geschichte dargestellt und aufgefasst. Das Überblenden der authentischen und der erwünschten Geschichte wiederholt dabei das Kreisen der Räume, das in der Langsamen Heimkehr Sorgers Suche nach dem eigenen Selbst begleitet. Schon dort werden dargestellte Räume und Landschaften nicht allein geologisch oder geographisch bestimmt, sondern nach ihrer psychologischen Repräsentanz. Die Kindergeschichte führt diese Linie weiter und zieht sie zugleich deutlicher aus; sie beschreibt die Bedeutung von Lebensräumen für die Herausbildung des Selbst und die Sozialisation des Kindes. Weil es auch hier nicht nur um geographisch benennbare Räume und Landschaften, sondern vorab um Sprach- und Kulturräume und um Institute der Kulturisation, um Wohngemeinschaften, Kindergärten und Schulen geht, beherrscht zunächst die Darstellung der sekundären Sozialisation des Kindes seine erzählte Geschichte. Es scheint allerdings, dass gerade in ihr authentische Erfahrungen des Erzähler-Vaters rekonstruiert werden. Die Beschreibung dieser Sozialisation ist von einer polemischen Abgrenzung gegen andere geprägt, die sich der Opposition des Autors Handke gegen den Kulturbetrieb an die Seite stellen lässt. Viele seiner ursprünglich auf das Feld des Ästhetischen bezogenen Überlegungen werden jetzt in einem anderen Zusammenhang wiederholt, dabei stellen sie zugleich eine Attacke auf die herrschenden Meinungen dar. Über ein „kindloses Leutepaar“ heißt es, „noch nie hatten in erstarrten Gesichtern solch unbarmherzige Augen gestanden und sich solch gnadenlose Lidschläge ereignet“ (KG 40); immer wieder zeigt sich, dass genaue Beobachtungen in eine grundsätzliche Polemik umschlagen. Über die überzeugt Kinderlosen heißt es: In der Regel hatten sie einen scharfen Blick und wußten auch, selber in furchtbarer Schuldlosigkeit dahinlebend, im Expertisendeutsch zu sagen, was an einem Erwachsenen-Kind-Verhältnis falsch war; manche von ihnen übten solchen Scharfsinn sogar als ihren Beruf aus. In die eigene Kindheit vernarrt und in das eigene fortgesetzte Kindsein, entpuppten sie sich in der Nähe als ausgewachsene Monstren. (KG 41 f.)
Von hier ist es nicht weit zu einem grundsätzlichen Kommentar über die Vertreter der herrschenden Meinungen: Wenn man sich auf diese geborenen Staatsanwälte einließ, zeigte sich übrigens, daß sie mit ihrer Zählweise der Welten – die „dritte“ und die „vierte“ waren dabei die „relevantesten“ – in der Regel eine geheime Schuld übertönten, ja oft sogar einen unsühnbaren Verrat: sie hatten allesamt schon viel Böses getan. (Seltsam dann die Tränen
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dieser Larven!) Solche „Wirklichkeitler“ oder „Wustmenschen“ – es wimmelte wohl seit jeher von ihnen – erschienen dem Mann als die Sinnlosen Existenzen: fern von der Schöpfung, schon lange tot, machten sie so gesund wie böse weiter, hinterließen nichts, woran man sich halten konnte, und taugten nur noch für den Krieg. (KG 87)
Gegen den normativen Anspruch der pädagogischen Diskurse und die Anforderungen der Sozialisationsinstitute erhebt sich deshalb eine Gegengründung, in der sich der Erzähler als Vater und Autor zugleich wiederzufinden hofft. Sein in hermetischer Abgeschlossenheit stattfindendes Zusammenleben mit dem Kind erweist sich als der Versuch, eine utopische Gemeinschaft zu errichten, die sich ihr eigenes Gesetz gibt; sie leitet sich allein aus dem Wunsch her. Doch bevor der Text von diesem erzählt, zeigt er die Gefahr einer Beziehung, in der vor allem väterliches Wünschen bestimmend ist. Er macht deutlich, dass dieses die Fundamente der symbiotischen Gemeinschaft zu zerstören droht. Denn die auf ein „Damals“ bezogenen Sätze, die diese Beziehung beschreiben, rekonstruieren nicht nur gemeinsame Erinnerungen, sondern auch die Einschreibung väterlicher Erfahrungen in das Leben des Kindes. Das gemeinsame „Mittelalter“, das Vater und Kind erleben, geht aus einem Verfügungsanspruch des Erwachsenen hervor. Der abstrakte väterliche Wunsch, ein Kind zu haben, mit dem die Geschichte des Kindes wie das Erzählen beginnt, ist seine Grundlage. „Ein Zukunftsgedanke des Heranwachsenden war es, später mit einem Kind zu leben. Dazu gehörte die Vorstellung von einer wortlosen Gemeinschaftlichkeit […] von Nähe und Weite in glücklicher Einheit“ (KG 7). Des Vaters Anspruch gegenüber dem Kind bestimmt noch die erste Phase ihrer gemeinsamen Geschichte. Der Satz „Das Wünschen wird möglich“ (KG 30), mit dem der Vater zuerst seine Beziehung zum Kind beschreibt, ist dem noch sprachlosen und gehunfähigen Kind zugesprochen, das, obwohl bereits als ein anderer erkannt, immer noch reine Projektionsfläche väterlicher Wünsche ist. Dieser Ursprung der Kindergeschichte bringt die Spannungen hervor, die deutlich werden, sobald das Kind selbst zu einem Sprecher wird und Sprache die Beziehung der beiden zueinander und zu ihrer Umgebung bestimmt (KG 59, 115). Noch die Vorkommnisse des „Tages der Schuld“, der aggressive väterliche Gewaltausbruch gegen das Kind während eines begrenzten häuslichen Unglücksfalls, werden ausdrücklich auf den ursprünglich imaginären Charakter der Gemeinschaft von Vater und Kind zurückgeführt, in der es noch keine gemeinsame Sprache, sondern nur Wünsche und Projektionen des Vaters gab. „Es war die Unwirklichkeit; und Unwirklichkeit heißt: Es gibt kein Du“ (KG 52). Mit solchen Eingeständnissen gewinnt das Erzählen eine autoanalytische Schärfe wie nie zuvor, es macht deutlich, dass der „Tag der Schuld“ ein entscheidender Wendepunkt in der Beziehung des Vaters zum Kind ist. Den schuldbewussten Reden des Vaters, der sich nach seinem Ausbruch körperlicher Gewaltanwendung wie ein „Verdammter“ zu seinem Kind hockt (KG 53) und es „in den bisher unaussprechlichen, auch undenkbaren ältesten Formen der Menschheit“ (KG 54) anspricht, antwortet
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ein klares, strahlendes Augenpaar, gleichsam erhöht über dem Umweltdunst, und selten hat es für einen elenden Sterblichen einen flammenderen Trost gegeben […] mit solcher Aufmerksamkeit tritt das Kind erstmals in seiner Geschichte als jemand Handelnder auf; und sein Eingriff, wie auch all die künftigen, zu verschiedenen Anlässen, ist leichthin wie eine Berührung Stirn an Stirn und zugleich so vollkommen lakonisch wie das ‚Weiterspielen‘-Zeichen eines erfahrenen Schiedsrichters. (KG 54)
Einerseits lässt sich dieser Moment der Epiphanie im Gegensatz zu vergleichbaren Ausnahmezuständen früherer Texte auf Ursachen zurückführen, die der Erzähler selbstkritisch betrachtet. „Nur in der Trauer – über ein Versäumnis oder über eine Schuld –, wo die Augen umfassend magnetisch werden, weitet sich mein Leben ins Epische“ (KG 56). Andererseits entsteht gerade aus der aktuellen Gefährdung dieser idealen Gemeinschaft ihre Remythisierung im Erzählen; die Leiderfahrung bringt unmittelbar den ästhetischen Entwurf hervor. Aus der authentischen Beziehung wird ein Muster, an dem sich der Erzähler als Vater wie als Autor orientiert. Dabei markiert das kindliche „Weltvergessen“ (KG 133), das auf Stifters Satz abhebt „[…] Kinder revolutionieren nicht und Mütter auch nicht […]“ (STW 17; 324), eine Welt eigener Gesetze, die zum Vorbild für den Erwachsenen wird. Sie suspendiert alle geltenden Normen und Verhaltensweisen so gründlich, dass der Vater mit Verwunderung bemerkt, wie seine Tochter selbst ihre kindlichen Peiniger stets als Angehörige der eigenen Welt, als „gute Boten“ (KG 60) begrüßt. Diese mythische Modellierung einer realen Beziehung hat unterschiedliche Konsequenzen. Zum einen steigert sie die authentischen Erfahrungen zu Bildern eines geschichtlichen wie eines entwicklungsgeschichtlichen Widerspruchs, vor dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Die Geschichte des Kindes korrespondiert der des ewigen Volkes. „In dem anderen Land nun wurde die Geschichte des Kindes, ohne besondere Ereignisse, zu einem kleinen Beispiel der Völker-Geschichte, auch der Völker-Kunde; und es selber wurde, ohne irgendein eigenes Zutun, der Held erschreckender, erhabener, lächerlicher und insgesamt wahrscheinlich alltäglich-ewiger Geschehnisse“ (KG 75). Der Gewalt des Prozesses der Sozialisation entspricht in der Verknüpfung der Geschichte des Kindes mit der des Volks der Juden die reale historische Gewalt. Den Augen der Kinder, die „den ewigen Geist“ überliefern, tritt das Bild des Bethlehemitischen Kindermords gegenüber (KG 126). Das unbekannte Paar von Vater und Kind, das der Erzähler auf einem Schiff beobachtet (KG 129), liefert ihm einerseits das Bild einer „archaischen Weltzugehörigkeit“ (Bürger 1983, 500), das bereits von der Aura der „Zielzeit“ (KG 129) umgeben ist. Andererseits erinnert es noch an einen unauflöslichen Widerspruch. In deutlicher Anlehnung an Ingeborg Bachmanns Fall Franza wird der Ortsname „Gallizien“, den sich der Erzähler zu Vater und Kind phantasiert, ein lebensgeschichtlicher Signifikant, der die Geschichte der Kindheit, den Heimatort in Südkärnten, und die Geschichte der Gewalt, den Ort der Vertreibung der Juden, assoziativ eins werden lässt (KG 129; Bachmann 1984, 24 ff.). Auch die ursprünglich genau markierten lebensgeschichtlichen und zeitlichen Grenzen der idealen Gemeinschaft des Vaters mit dem Kind sind durch eine
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vergleichbare Remythisierung beseitigt. Eine unendliche Wiederholbarkeit und Zeitlosigkeit werden ihrer Beziehung zugesprochen; es gibt weder eine neue Zeit, noch eine Endzeit für den, der in sie eintritt, „[…] mit jedem neuen Bewußtsein begannen die immer gleichen Möglichkeiten, und die Augen der Kinder im Gedränge […] überlieferten den ewigen Geist“ (KG 126). Die Aufhebung der Zeit, welche die authentische Beziehung von Vater und Kind geschichtslos macht, schafft die Voraussetzung für eine Erkenntnis, die schon in der Kunstlehre der Sainte-Victoire mit einem Begriff Schopenhauers als „Nunc stans“ bezeichnet wird. Dieses stehende Jetzt (LSV 9 f.) umfasst auch die erfüllten Augenblicke, von denen in der Stunde der wahren Empfindung die Rede ist. Die Erfahrung eines ewigen Jetzt wiederholt sich in einer Landschaftsschau auf dem Grand Ballon. Dabei zeigt sich, dass die Begründung eines mythischen Ich und die Bilder der ästhetischen Phantasie einander bedingen. Der Stillstand der Zeit, das mythische Ich und die mythische Gemeinschaft erfordern eine unendliche Ausdehnung des Phantasieraums, wie sie in der Weltvergessenheit der Kinder vorgezeichnet ist. Damit wird die mythische Anschauung bereits zu einer ästhetischen Erfahrung transformiert. In ihr sind die Zeit- und die Namenlosigkeit der mythischen Orte überwunden. Dem bestimmten Ort des Grand Ballon entspricht der, an dem der Erzähler zum ersten Mal das „Inbild“ des Kindes wahrnimmt, wobei er hinter dessen „babyhaften Zügen das erleuchtete allwissende Antlitz“ erkennt. Schon kurz vorher heißt es: Der „Square des Batignolles wurde im Lauf der Nachmittage ein Ortsname, der, allein als Name, dem Erwachsenen für einen ewigen Moment mit dem Kind steht“ (KG 28; Bürger 1983, 501). Auch diese Form der Wahrnehmung von Wirklichkeit, bei der Phantasie und reale Erfahrung, Bild und Inbild zur Deckung kommen, nennt der Erzähler noch Mythos, weil sie es mit dem Erzählen zu tun hat und eine Darstellungsform ist, in der das Ich sich selbst gegenübertritt. Dies wird ebenfalls auf dem Grand Ballon deutlich. Dort glaubt der Erzähler, seine Frau, das Kind und sich selbst zugleich zu sehen. Es ist eine Verdoppelung, die der an die Seite zu stellen ist, von der bereits die Langsame Heimkehr berichtet. „Es war der einzige mystische Augenblick, da der Mann sich je in der Mehrzahl sah; und nur ein solcher enthält den Mythos: die ewige Erzählung“ (KG 91). Weil der Erzähler sich, das Kind und die Frau nicht als „Familie“ wahrnimmt, sondern als „Dreiheit, die dort in einen unnahbaren Stoff gehüllt ist“ (KG 91), wird deutlich, dass er zugleich eine Situation phantasiert, die vor der psychischen Entstehung des Selbst liegt. Remythisierung und Mythos erweisen sich zugleich als Akte einer produktiven Phantasie, die an die Stelle von Geschichten eine Chiffrierung der Herausbildung des Selbst setzt. Damit zeigt sich die Phantasie als eine Macht, die sowohl zur regressiven Entdifferenzierung der Entwicklung dieses Selbst, als auch zu einem Neuaufbau der Persönlichkeit befähigt. Dieses Zurückphantasieren, das auch Remythisieren genannt werden kann, entwirft eine Form der Verständigung, die der Sprache nicht mehr bedarf. Die Beziehung zum Kind, die schon in anderen Texten durch die ‚métaphore obsédante‘ der Kinderaugen vorbereitet wird, beschreibt in der authentischen Geschichte eine Verständigung durch Blicke. Die Augen der Kinder und ihre Blicke gilt es für den Erzähler lesen zu lernen, damit er in den mythischen Raum und die ästhetische
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Erfahrung eintreten kann. Vorbereitet ist diese neue Form der Verständigung durch Regression in eine ältere Sprachschicht. Die biblische Sprache, in der ein fremder Vater sein Kind beschimpft und die offenbar der Selbstanklage des Vaters am „Tag der Schuld“ entspricht, scheint dieser Remythisierung angemessen, gerade von ihr zeigt sich das Kind betroffen (KG 133 f.). Der nächste Schritt ist eine Regression in die Formen sprachloser Mitteilung. Angesichts der mit Hakenkreuzen versehenen Vogelhäuschen ihrer heimatlichen Umgebung schlägt der Vater vor, die Symbole mit Farbe zu überdecken: An die Stelle der diskursiven Auseinandersetzung mit einer von Gewalt und Bedrohung gekennzeichneten Welt tritt die sprachlose Geste (KG 135 f.; Pütz 1982, 115). Das Löschen und Übermalen dieser Zeichen einer historischen Gewaltordnung erfordern keine Begriffe und Begründungen. In der Abkehr vom konventionalisierten Zeichen und von kommunikativer Sprache bestätigt sich die geheime Ordnung der Kinder erneut als ein Vermögen der Phantasie. Im Unterschied zu früheren Darstellungen entsteht aus ihr nunmehr eine andere Form der Verständigung, eine Privatsprache, die auch dem Vater zugänglich ist. Damit stellt sich die Gestik, welche die Verständigung zwischen Vater und Kind bestimmt, gegen die „Hundenamen“ der allgemeinen Konversation und die Drohnensprache des „Blechernen Zeitalters“ (KG 64). Im gleichen Zug wird das phantasierte Inbild der Familie gegen eine schon längst beendete Verbindung des Vaters mit seiner Frau gesetzt. Das geschichtslos erscheinende Beisammensein von Vater und Kind behauptet sich gegen die Ansprüche der „Seins-Nichte“, die für ihr Leben der Geschichte bedürfen wie jener Jude, der das Kind mit Tod und Zerstückelung bedroht (KG 92 f.). Damit entwirft die neue Gemeinschaft einen Austritt aus der Geschichte, wie ihn noch der Kurze Brief für unmöglich hält. Die sprachlose Gestik, die sich der Vater als Verständigungsform seiner Beziehung zum Kind und in den Kinderszenen wünscht, die er immer bewusster wahrzunehmen beginnt, leitet zu einer anderen Form der Kommunikation über, die zwar noch konventionelle Sprache benutzt, in Wahrheit aber schon eine neue Sprache ist. Sie bewahrt zugleich die Erinnerung an einen früheren Moment der Epiphanie, in dem der beobachtende Vater zum „Augenzeugen“ eines „mystischen Augenblicks“ wird und in dem bei Untergang der Sonne nicht nur der Himmel unwirklich beleuchtet ist, sondern auch die Uferbüsche „in einer wunderbaren Übereinstimmung mit dem kurzen Kinder-Haar im Vordergrund“ wehen (KG 33). Schon damals ist sich der Erzähler der Schwierigkeiten bewusst, diese Erfahrung mitzuteilen und „die Formenfolge eines solchen Augenblicks freizudenken“, so wie er in der Lehre der Sainte-Victoire die Zusammenhänge freizuphantasieren hatte. Jahre danach und inmitten eines Lebensbereichs, in dem sich die Zeichen der Gewalt noch immer erhalten haben, kommt es zu einem vergleichbaren Moment der Epiphanie. Doch jetzt wird das Bild dreidimensional: In dem Buschwerk öffnen und entfalten sich tiefe, schwarze Zwischenräume, in Übereinstimmung mit den im Vordergrund fliegenden Haaren, wie vor fast einem Jahrzehnt bei dem Alleingang an den fremdländischen Fluß (die Haare sind nur länger geworden, mit dunkleren Strähnen dazwischen); und durch diese Räume geht es jetzt, in einem allgemeinen wilden Wehen, bis an das Ende der Welt. (KG 136)
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Die tiefen schwarzen Zwischenräume in der Gebüschreihe, die den Hof des Wohnhauses umgibt, markieren nunmehr räumliche und zeitliche Durchblicke zugleich; sie weisen auch auf den Modus eines Erzählens, das im Abbilden Bilder, Inbilder (KG 28) und Vergangenheitsbilder aneinander zu vermitteln hat. „Nie durften solche Augenblicke vergehen, oder vergessen werden; sie verlangten einen Zusatz, in dem sie weiter schwingen könnten; eine Weise; den GESANG“ (KG 136). Von diesem Gesang spricht das Schlussmotto des Textes, das Pindars sechster olympischer Ode entstammt. Das Wort des Vaters „Komm hierher mein Kind und geh ins allgastliche Land hin, folgend meiner Stimme Rufen!“ (Pindar o. J., 46 f.) gehört in die Geschichte des Iamos, der von seinem Vater Apollon die Sehergabe erhält. Dieser Bezug ist signifikant. Er formt die authentische Geschichte zwischen Vater und Kind zur mythischen Wunschgeschichte einer Initiation um, in der geistige und leibliche Vaterschaft eins werden und sich zugleich ihre Rollen vertauschen. Die Geschichte des Vaters mit dem Kind verdichtet nicht nur frühere Konfigurationen von Kindheit. Sie zeigt auch, wie der Vater gerade in dem Augenblick, als er beginnen will, das Kind zu erziehen, von diesem Belehrung erfährt. So blieb der Meister immer noch das andere, indem es ihn lehrte, mehr Zeit für die Farben draußen zu haben; genauer die Formen zu sehen; und in der Folge tiefer – nicht bloß in Stimmungen – den Ablauf der Jahreszeiten an einem sich entrollenden Farn, einem zunehmend ledrigen Baumblatt oder den wachsenden Ringen eines Schneckenhauses zu empfinden. Von ihm erfuhr er auch das Eigentliche über das Wesen der Schönheit: ‚Das Schöne sieht man so schlecht‘ (KG 131 f.)
Nur noch als Autor, nicht aber als leiblicher Vater kann der Erzähler dieses Kind leiten. Sein erzählter Mythos der Initiation baut deshalb auf eben dem Mythos von Autorschaft, dem besonderen ‚mythe personnel‘ auf, den die Geschichte des Alexius und des Pirosmani in der Lehre der Sainte-Victoire begründen. Allein eine auf diesem Weg zugleich mythisch und ästhetisch befestigte Geschichte von Vaternachfolge kennt den Schrecken des im Verlauf der Sozialisation Zugesprochenen nicht mehr, thematisiert das Wünschen nicht mehr als Gewalt. Sie verwandelt vielmehr die Einschreibung der väterlichen Wünsche in das Leben des Kindes zum Angebot der Teilhabe an einem gemeinsamen Leben. Darauf zielt die Äußerung Handkes, die Kindergeschichte sei auf das Wort „Cantilene“ hin geschrieben, das Goethes Maximen und Reflexionen entnommen ist (GB 246; Goethe HA12, 474, Nr. 773). Die auf den Schulmappen der Kinder wahrgenommene geheime Schrift der Verheißung, die das Zentrum dieser Initiation ausmacht, erfordert einen mythischen Gesang, das Dramatische Gedicht Über die Dörfer stellt diesen vor. Dort wird der Vater endgültig zum Sprecher einer anderen Sprache, die nichts mehr mit den kulturellen Einschreibsystemen zu tun hat. Das Dramatische Gedicht berichtet vielmehr von Erfahrungen, Wünschen und Phantasien, welche die Sprache der Kulturisation zwar hervorbringen und bedingen, von dieser aber an jeder Stelle unterdrückt werden. Insofern steht dieser Text zu Recht am Ende der ästhetischen wie der verdeckten authentischen Autobiographie, welche die Tetralogie skizziert.
6.4 Konstruktion von Herkunft: Über die Dörfer (1981)
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6.4 Konstruktion von Herkunft: Über die Dörfer (1981) Die Langsame Heimkehr beschreibt eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Selbst und ist eine Hinwendung zur Psychogenese. Ihre Beschreibung der Wirklichkeit zielt auf die Abbildung psychischer Repräsentanzen. Die Lehre der Sainte-Victoire macht aus dieser Urgeschichte der Sozialisation einen Mythos von der Geburt des Künstlers; Herausbildung des Selbst und Entstehung von Autorschaft stellt sie als ein und denselben Prozess dar. Die Kindergeschichte liefert den authentischen Beleg für den Zusammenhang zwischen den Gesetzen des Psychismus und der Imagination, der diese Kongruenz ermöglicht. In der Erinnerung an die Geschichte mit dem Kind wird eigene Kinderzeit rekonstruiert. Dabei herrscht freilich noch ein Verfahren der Projektion vor, das geistige Vaterschaft an leiblicher erweist und umgekehrt. Das Dramatische Gedicht Über die Dörfer formuliert von diesen Voraussetzungen ausgehend einen Aufruf, der eine zweite Heimkehr beschwört: „Über die Dörfer“ denkt sich der Autor zu seiner wirklichen Heimat zurück und verwandelt diese schon wieder zum In-Bild (vgl. EF 61). Die Hauptfigur Gregor kehrt aus der Fremde in die Heimat zurück, um dort nach dem Tod der Mutter die Verteilung des Erbes mit den Geschwistern zu regeln. Im Verlauf dieser Auseinandersetzung versetzt sie sich nicht nur unbewusst in die Situation der auf dem Lande lebenden Geschwister, sie fällt auch in Wahrnehmungen der eigenen Kindheit zurück. Dieser Rückbezug, der durch einen äußeren Anlass verursacht wird, ist weder Nostalgie noch Regression, sondern vielmehr eine Form der Kritik; diese wiederum hat einen zeitkritischen und einen autoanalytischen Ansatz. Der erste verknüpft Über die Dörfer mit einer Tendenz der gegenwärtigen Literatur, das Thema der Heimat aufzunehmen und die Bedeutung des Herkommens für die Sozialisation zu beschreiben. Eine Notiz aus der Geschichte des Bleistifts zeigt, dass Handke diese Wendung bewusst vollzieht und dass er sie aus einer lebensgeschichtlichen Erfahrung hervorgehen sieht. „Was ist heutzutage das Drama? Dass es weder Volk noch Heimat gibt. Doch es bleibt einem auf die Dauer nichts übrig, als das eigene Land und das eigene Volk, jedenfalls in der Idee, zu lieben – das aber habe ich erst durch die Jahre in den fremden Ländern gelernt“ (GB 171). Das Freilegen des Verschütteten lenkt den Blick nicht nur auf den Ausgangspunkt der eigenen Entwicklung, sondern auch auf deren Gesetz und Eigenart. Der Autor erkennt, dass in seinem Werk wie in seinem Leben Gedächtnis, Phantasie und Imagination durch eine lebensgeschichtliche Entwicklung geprägt und aufeinander bezogen sind. Mitteilbar werden dieser Zusammenhang und die Beschreibung des Weges zurück dadurch gemacht, dass sie in einer Darstellungsform gespiegelt werden, welche die Erinnerung an tatsächliche biographische Erfahrungen zugleich präzisiert und verallgemeinert. Durch Konfiguration, Dialog, erzählende, lyrische und lied hafte Passagen hat der Text teil an allen drei literarischen Hauptgattungen (Pütz 1982, 118). Seine Figuren sind stilisiert, „keiner darf ein Charakter“ werden und gleichwohl soll „keine Person austauschbar“ sein (GB 245). Die Schauplätze
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von Großbaustelle und Dorf weisen nicht nur auf die Bereiche von Arbeit, Leben und Tod, sondern vor allem auf eine fundamentale Spannung zwischen Heil und Hoffnungslosigkeit, Verdammung und Verklärung, die den Text bestimmt und eine Antithetik geradezu mythischer Qualität an die Stelle der dramatischen Tektonik setzt (Pütz 1982, 119). Den Status eines Menschheitsgedichts und eines Epos von der Familie (GB 140) erhält das Stück durch die geheimnisvolle Kommentatorin des Geschehens, die Nova genannt wird. Sie vertritt das Gesetz der neuen Zeit, von der in anderen Texten Handkes immer schon unter dem Namen der „anderen Zeit“ die Rede ist. Dabei spricht Nova in einer poetisch überhöhten Sprache, die überdies mit literarischen Anspielungen durchsetzt ist; zudem scheint sie mitunter die kommentierende Funktion des Chors im griechischen Drama zu übernehmen. Die „Tropfen Blut im Schnee“ (ÜD 11) erinnern an Parzival, die Formel vom „Wanderer ohne Schatten“ wie auch die großen Schlussworte über die Kunst an Nietzsche, dessen Ecce homo eines der Motti entnommen ist (ÜD 98). Kern der Handlung ist ein Drama der Beziehung zwischen den Geschwistern. Doch der aktuelle Konflikt, von dem das Dramatische Gedicht handelt, die Erbangelegenheit, welche die Verwandten wieder zusammenführt, ist nur Anlass, einen latenten, gleichwohl grundsätzlichen Konflikt manifest zu machen. Er übersteigt die Bedingungen der authentischen Konstellation, hinter der Handkes eigene Geschichte zu erkennen ist. Auch diese Verwandlung belegt eine Notiz aus der Geschichte des Bleistifts. „Soll das dramatische Gedicht die Geschichte von mir und meinen Geschwistern sein? – Nein, gemessen an dem, was ich mit meinen Geschwistern erlebt habe (und sie mit mir), soll es eine Große Erfindung sein“ (GB 231). Der solcherart überhöhte Konflikt, den das Stück schildert, ist allerdings in dreifacher Hinsicht auf die vorangehenden Geschichten der Tetralogie bezogen. Zum ersten weist das Dramatische Gedicht auf den Beginn einer wirklichen Sozialisationsgeschichte; Sorgers Rückerinnerungen an Europa, die allesamt das autobiographische Schema der Tetralogie skizzieren, und die Kindergeschichte, die an der Geschichte des Kindes die eigene Sozialisationsgeschichte wiederholt und reflektiert, bereiten dies vor. Zum zweiten werden alle Erfahrungen und Wahrnehmungen auf Inbilder zurückgeführt, die den Phantasmen der Kindheit unmittelbar entspringen und der ästhetischen Imagination verwandt sind. Auch hier führt die zunehmende autobiographische Stringenz zu einer unmittelbaren Verknüpfung von primärer familialer und sekundärer künstlerischer Sozialisation. Zum dritten schließlich baut das Dramatische Gedicht von vornherein auf der Macht des Benennens, Namengebens und Erfindens auf, von deren Entstehung die Lehre der Sainte-Victoire handelt. Dabei zeigt sich, dass der Hauptort aller Träume in der Heimat des Kindes liegt, und dass seine späteren Phantasien nicht freischwebend, sondern an jeder Stelle in den ontogenetischen Prozess rückgebunden sind. Der dreifache Bezug des Dramatischen Gedichts auf den Gesamtzusammenhang der Tetralogie macht die Remythisierung eigener Erfahrung im Zug einer autobiographischen Erinnerung zugleich konzis und enthüllend. Sie bestätigt die Bedeutung des Satzes „Sich deutlich halten durch Wiederholen“ (GB 187) für
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das Schreiben des Autors. Gleichzeitig befähigt sie den heimkehrenden Gregor zu einem Freidenken und Freiphantasieren, das noch deutlicher als in der Langsamen Heimkehr und in der Lehre der Sainte-Victoire nicht nur auf geschichtliche und topographische Urbilder, sondern vorab auf das Vorhandene weist. Die Geschichte des Bleistifts macht klar, dass eine solche Rückerinnerung als Remythisierung zugleich eine Form der Phantasie darstellt, sie verzeichnet diese Erkenntnis als Zitat: „Die Phantasie ist kein Schaffen. Die Phantasie ist ein Erwärmen dessen, was schon da ist. Es gibt kein Schaffen“ (GB 185). Im Zentrum dieses entbergenden Rückbezugs stehen deshalb die lebensgeschichtlich bedeutsame Rivalität mit dem Bruder (ÜD 27 f.), die wechselnden Gefühle von Zuneigung und Distanz zu diesem (ÜD 54) und schließlich die Darstellung der besonderen Lebenssituation der Schwester, ihrer Erfahrungs- und Arbeitswelt (ÜD 56; Pütz 1982, 117). Es entspricht den im Journal vom Gewicht der Welt ausgesprochenen Grundsätzen des Erzählens, dass die Genauigkeit dieses Rückbezugs in die Form einer begriffslosen Vergegenwärtigung gebracht wird. Es scheint, dass allein die Umsetzung der dargestellten Konflikte in eine Bilderfolge Überzeugungskraft gewinnt (vgl. Batt 1975, 611); die Form des Dramatischen Gedichts benutzt die Stringenz der Bilder des Traums und setzt die Abkehr von den allgemeinen Begriffen voraus, welche die vorangehenden Texte der Tetralogie thematisieren und vorstellen. Die angemessenen Bilder für diesen Sachverhalt, der sowohl die Wahrnehmung von Wirklichkeit als auch das Gesetz ihrer ästhetischen Transformation bestimmt, formuliert die Rede des Bruders. „Und wehe dir, du sagst, wer er ist! Und wehe dir, du wagst zu schließen, wer wir sind! Ein Deutungswort – das Fest ist aus. Die Festlichkeit besteht darin, das Rätsel zu erfinden“ (ÜD 37). Fest und Festlichkeit zielen auf eine mythische Vergegenwärtigung und sind zugleich Entwürfe der Phantasie. In dieser „geschieht das natürliche mythische Denken“ (GB 203), wenn sie sich mit dem Mythos durch das bewahrende Erinnern verschränkt. „Erst, wenn das, was war, in die Phantasie gehoben, noch einmal kommt, wird es mir wirklich: Phantasie als die auslegende Wiederkehr“ (GB 202). Das Dramatische Gedicht ist höchste Steigerung dieser phantastischen Remythisierung authentischer Erfahrungen. Es nimmt die ineinander gespiegelten Deutungen von wahrgenommener und imaginativer Wirklichkeit auf, welche die vorangehenden Texte beschreiben. Fern vom diskursiven Begriff das Rätsel zu nutzen, ohne ein Autor zu sein, gelingt allerdings nur den Unbekannten und Namenlosen, für die das „Volk“ der Zimmerleute als mythisches Bild und reale Erscheinung zugleich einsteht. Das Gewicht der Welt zeigt, dass das Dramatische Gedicht von vornherein auf eine solche Darstellung des Volks abzielt und dass sie diesem eine zugleich mythische und allegorische Bedeutung zuschreibt. „Im dramatischen Gedicht muß das Volk zum Vorschein kommen. Und es müßte alles darauf hinauslaufen, sagen zu können: ‚Hör. Ich liebe dich.‘“ (GB 244). Von den andern aber heißt es lapidar: „Die Mächtigen sind heute die Entzauberten“ (ÜD 41). Die Mächtigen sind zugleich diejenigen, denen das Gesetz der Sozialisation schmerzhaft eingeschrieben wird.
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6 Heimkehr zu den Anfängen des Ich und das Versprechen der Bilder
Wer sich allein der Wirklichkeit verschrieben hat, bezahlt mit der Entfremdung von den Phantasien seiner Kindheit und den ihnen verwandten Phantasmen. Wer diesen Schritt geht, dem helfen weder Fest noch Mythos noch ästhetisches Spiel. „Sie spielen und spielen, doch kein Spiel macht sie wieder zu Kindern“ (ÜD 41). Die mythische Rekodierung des Authentischen und Biographischen, die sich dagegen erhebt, wird im Dramatischen Gedicht eindrücklich dargestellt. Sie bewahrt die Prägnanz der inneren Bilder für den, der die Bedeutung der eigenen Kindergeschichte erkennen kann. Die Bilderfolge, die ihr entspringt, zielt darauf, eine Balance zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu imaginieren. Deshalb deutet die zerstörte Idylle, von der eine alte Frau spricht, nicht nur auf die Vernichtung des Lebensraums, der die Kindheit des Autors bestimmt (ÜD 68 f.), sie weist auch auf eine Bedrohung des Raums der Phantasie, der zu dieser kindlichen Erfahrungswelt symmetrisch ist. Du bist in einem falschen Land, mein Lieber. Du bist in einem Land, das so klein ist wie bösartig; voll von Gefangenen, die in ihren Zellen vergessen werden, und noch voller von den vergeßlichen Kerkermeistern, die nach jeder Schandtat dicker im Amt sind, mit Stimmen, die tönen, als hätte man ihnen Todeslautverstärker in die Kehlen eingesetzt, mit den Arm- und Beinbewegungen von vergifteten Enterhaken, mit Augen, aus denen mit jedem Blick die Stechwespen ausschlüpfen. (ÜD 74)
Klar wird auch, dass der im Dramatischen Gedicht verkürzte und zugespitzte Konflikt Gregors mit seinen Geschwistern die frühe Spannung von Wunschwelt und Realitätserfahrung abbildet und wiederholt. Sie prägt schon die Entwicklung des schreibenden Ich, bevor dieses seine wirkliche Urgeschichte entdeckt. Von seinem Wunsch, diese Entdeckung zu bewahren, zeugt die Traumformel „Ich habe ein Stück Land gerettet“ (ÜD 61), die auf eine Betrachtung der beherrschten, zerstörten und dem Ich entfremdeten Natur antwortet. Auch hier legt der Text klar, dass Traum, unbewusste Phantasie und ästhetische Rekonstruktion von Wirklichkeit strukturgleich sind und dass sich die ästhetische Wahrnehmung auch aus einer bewussten Regression herleitet. Aus ihr beziehen die Figur Gregor wie ihr Erfinder ihre imaginative Kraft. So erhält auch hier der authentische Konflikt eine lebensgeschichtliche Bedeutung, indem er einem ‚mythe personnel‘ zugeordnet wird. Der Satz „Kehr heim in die Fremde. Nur dort bist du hier“ (ÜD 74) mahnt an die notwendige Rückkehr in den Raum der familialen Sozialisation und erinnert an den Schrecken, aus dem das Wünschen und die Sehnsucht nach dem Urzustand hervorgingen. Die Teichoskopie der alten Frau zeigt diesen Schrecken, gegen den sich die produktiven Phantasien erheben, und projiziert ihn in die Landschaft. „Endlich wird es ernst – endlich bilden diese Hügel, die Schluchten, die Felsköpfe und die Lichtungen wieder jene Landschaftsordnung, für die sie bestimmt sind: das Gelände für den Krieg“ (ÜD 75). Unmittelbar als Gegenbewegung zu dieser bedrohlichen Remythisierung entwirft Nova einen Mythos vom Vermögen der Autorschaft. Ihre Aufforderung „Erzählt einander die Lebensbilder“ (ÜD 100) nimmt eine Phantasie auf, die Gregor kurz zuvor hat, als er sich beim Blick auf die abgefallenen Blätter im Park an die „Blattmasken“ (ÜD 84) erinnert, die in seiner Heimat geschnitzt wurden.
6.4 Konstruktion von Herkunft: Über die Dörfer (1981)
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„Und während ich mich langsam da durchbewegte, stiegen aus dem Laub die Gesichter und die Geschichten von uns allen auf: es war ein Gesicht und eine Geschichte, und dieses eine Gesicht und die eine Geschichte, das weiß ich seitdem, muß das Ziel der Arbeit sein, nicht nur meiner Arbeit, sondern unser aller Arbeit“ (ÜD 85). Novas „Apotheose der Kunst“ (GB 231), die in Wahrheit eine von Autorschaft ist, beschwört zugleich die Macht der Bilder des Unbewussten, die vor allem Denken stehen: „[…] ohne das Bild eines Wegs gibt es kein Weiterdenken“ (ÜD 100). Deshalb treten im Dramatischen Gedicht an die Stelle der Natur schließlich Bilder aus der verdrängten Naturgeschichte des Menschen selbst. Die Frage „Wildnis, wo bist du?“ (ÜD 26) richtet sich auf diesen Ursprung der Ontogenese und ist alles andere als ein nostalgisches Lamento über die Zerstörung der ländlichen Welt; sie weist auf die Notwendigkeit der Suche nach einer Wildnis, von der schon Nietzsche spricht. Die Aufforderung „[…] werdet so selber die Form“ (ÜD 97) wird Leitformel einer imaginativen Erinnerung, die auf diese Zusammenhänge zielt, sie skizziert zugleich schon das Formgesetz des Dramatischen Gedichts selbst. Beide bewahren durch Phantasie, Gedächtnis und Form das „Eine Rätsel […] als das wir jeden Morgen erwachen“ (ÜD 100). Weil die Kunst einen Persönlichkeitsmythos zusammen mit der authentischen Erfahrung rekonstruieren und beide erinnernd aufbewahren kann, schreibt ihr Nova eine lebenserhaltende Kraft zu. „Eure Kunst ist für die Gesunden, und die Künstler sind die Lebensfähigen – sie bilden das Volk. Übergeht die kindfernen Zweifler“ (ÜD 98). Das Fest und das Rätsel, das jeder feiert, indem er sich auf das Gesetz seiner Herkunft besinnt, der Dichter aber, indem er es beschreibt und schreibend wiederholt, sind Metaphern für diese Rekonstruktion. So setzt das Dramatische Gedicht familiale und kulturale Sozialisation in eins und bewahrt seine Entwürfe durch mythische Rekodierung. Die Verwandlung der erinnerten authentischen Geschichte ins Dramatische Gedicht und die Transformation des Autors in eine Figur desselben und seinen Organisator zugleich beschwören und wiederholen die produktive Kraft von Phantasie und Gedächtnis. Sie machen den ‚mythe personnel‘ zugleich zum Mythos von Autorschaft. Dessen Vermögen wird dadurch bekräftigt, dass im Text unterschiedliche Sprachebenen und Erinnerungsstufen als gleich erscheinen und behandelt werden. Umgangssprache, Kulturzitate und Selbstzitate Handkes werden dem Erzählen der einen Geschichte anverwandelt. Im mythischen Entwurf fallen Fiktion und Wirklichkeit zusammen (Sebald 1975, 158). Das Freidenken des Vorhandenen gerät einerseits zu dessen Verwandlung: „kann nicht auch der Bau hier bald ein Teil dieses Erdkellersystems sein? Kann nicht der Beton zurück zu Urgestein gedacht werden? Im Bauschutt sind Quellen, und sie werden im Hang frische Seitentäler bilden“ (ÜD 23 f.). Schließlich aber kommt es andererseits zu einer Überzeichnung der Macht ästhetischer Anschauung, die sich gegen den geschichtlichen Prozess wie gegen die „Tatsachensklaven“ (ÜD 25) behaupten soll: „Das Bergblau ist – das Braun der Pistolentasche ist nicht“ (ÜD 97). Nova, die von der Gewalt der Phantasie und zugleich vom Gesetz der Form spricht, liefert damit eine Verklärung von Autorschaft, die nach mythischen Bildern verlangt. Zugleich legt sie klar, dass sich diese Bilder, abgesehen von
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6 Heimkehr zu den Anfängen des Ich und das Versprechen der Bilder
ihrem Bezug auf die Psychogenese des Autors, auch in einem allgemeinen Sinn auf die Herausbildung des Selbst beziehen lassen. Die Erkenntnis „Ich bin es“ (ÜD 10) erfordert diese doppelte Lesart. Der Hauptsatz des neuen Glaubens „Du kannst dich liebhaben“ (ÜD 103) führt über den ursprünglichen Zustand der Dissoziation wie über den späteren punktuellen Zusammenfall von Ich und Geschichte hinaus, von dem noch der Verfasser des Gewichts der Welt handelt. Im Mythos von Autorschaft, der zugleich ein allgemeiner Mythos von der Herausbildung des Selbst ist, spricht sich der Erfinder der dramatischen Figuren eine eigene Geschichte zu und bezieht die Herausbildung der Phantasie auf die des Selbst. Daraus begründet sich die Bedeutung des Eintritts in die andere und die neue Zeit, den Handkes Figuren so häufig versuchen. Diese ist die Kunst selbst, und ihre Grundformel, die auch auf dem Vermögen zur Rekonstruktion des Autobiographischen beruht, ist zugleich ein Gesetz des Psychismus. So wendet sich der Text vermöge der Phantasie dem Leben zu. An die Stelle des früher gefeierten Augenblicks und der Phantasien des stehenden Jetzt tritt die Hoffnung auf eine Bewegung, die weiterweist, indem sie zurückführt und die im Dramatischen Gedicht festgeschrieben werden soll: „Geht ewig entgegen. Geht über die Dörfer!“ (ÜD 106). Es ist kein Zufall, dass sich Handke in seiner Rede zur Verleihung des Nobelpreises 2019 ausführlich auf das Dramatische Gedicht Über die Dörfer bezieht. In einer Situation scharfer und sehr persönlicher Angriffe auf ihn als den Preisträger markiert er unbeirrt den inneren Kern seiner Herkunft wie seines Schreibens. Dabei greift seine radikale Rückbesinnung in einer charakteristischen Doppelbewegung auf Texte – auch Wunschloses Unglück nennt er – und authentische Erinnerungen an Kindheit, Familie und Heimat gleichermaßen zurück. Zugleich verknüpft seine Erinnerung kulturelle Zeichen, Verweise auf den Text des Parzival, und die Zeichen der Natur. Diese, die auch Ausgangspunkt des Schreibens sind, werden als lebensleitend bestimmt. „Die Natur ist das […] einzig stichhaltige Versprechen“ formuliert Nova, wenn sie vom Entwurf ihrer Welt spricht (ÜD 97). Es ist Ironie der Geschichte, dass das Pathos dieser Figur im Jahr 2019 der notwendige und letztmögliche Gegendiskurs zu einer öffentlichen Diskussion wird, die erneut den Krieg in die Sprache trägt, ohne auf deren Versprechen zu hören.
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Neubegründung des Erzählens in der Rückbindung an die Tradition
7.1 Die doppelte Heimat: Der Chinese des Schmerzes (1983) Die Handlung im Chinese des Schmerzes folgt einem Muster, das man aus früheren Texten des Autors kennt: Wahrnehmung und Bewusstsein einer Figur verändern sich im Gefolge einer Gewalthandlung. Loser, der Erzähler der Geschichte, der sich als Lehrer an einem Gymnasium in seiner Freizeit mit antiken Ausgrabungen befasst und Spezialist für das Auffinden von Schwellen ist, erschlägt spontan einen Mann, den er dabei überrascht, als er Hakenkreuze längs eines Bergwegs sprayt. Indessen hat dieser Text auch eine parabolische Struktur, die über bisherige Ansätze hinausführt. Der Protagonist, dessen wechselndes Verhalten in den Abschnitten „Der Betrachter wird abgelenkt“, „Der Betrachter greift ein“ und „Der Betrachter sucht einen Zeugen“ geschildert wird, ist mehr als eine handelnde Figur. Er erzählt nicht allein seine Geschichte, sondern von Anfang an vom Erzählen selbst. Dabei denkt er über die Schwierigkeiten des Anfangens nach und erkennt, dass sein Erzählen nicht voraussetzungslos ist. Dies lenkt seine Aufmerksamkeit auf ihn selbst und hat eine grundsätzliche Veränderung seiner Wahrnehmung zur Folge. Es entsteht eine Situation wie sie auch im Tormann und in der Stunde der wahren Empfindung erzählt wird. Sie erschließt eine psychologische Konstellation und eine philosophisch geprägte Selbstreflexion zugleich. Beide gehen ineinander über und sind durch keine scharfe Grenze voneinander getrennt. Der Text wird zum Ausdruck eines Wunsches, den auch die Geschichte des Bleistifts formuliert: „Zu jeder Wahrnehmung müsste noch der Gegenwartsruck treten“ (GB 142). Daraus begründet sich der Wunsch des Erzählers, sein Leer-sein zu füllen und mit dem Erzählen und Beschreiben zu beginnen. Dabei sucht er nicht nur nach Bildern, die sein eigenes Innere zum Ausdruck bringen, vielmehr fällt ihm die Aufgabe zu, im einfachen Sagen auch das erscheinen zu lassen, was er selbst nicht © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_7
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ist. Deshalb hat seine Suche nach Schwellen und Häusern nicht allein die psychologische Bedeutung der Suche nach einem verlorenen Ursprung. Auch seine Schilderungen der Landschaft zeigen nicht allein die Natur, und sein Blick auf die „Phänomene“ beschränkt sich nicht auf die sentimentalische Rekonstruktion von Natur. Vielmehr dechiffriert seine Wahrnehmung eine Verschränkung von Natur und Zivilisation, welche die betrachteten Räume als Bereiche des ‚Wohnens‘ erkennen lässt, wie sie Heidegger beschreibt. In diesen fallen Anschauung, Lebensform und Denkform in eins. Auch dies erläutern die Hinweise auf die Archäologie. Aus den Schwellen der antiken Bauwerke kann Loser Grundrisse entwickeln und zugleich die Orte des Wohnens und Bauens rekonstruieren, „mit ihnen als den Grenzlinien deutet sich die ursprüngliche Anordnung eines Baus oder auch eines ganzen Dorfes an“ (CS 25). Doch zunächst versagen dem Erzähler die Bedingungen seines Lebens und seiner Existenz den Zugang zu diesem ursprünglichen Bereich. Der Chinese des Schmerzes erzählt davon, wie Loser diese Gespaltenheit erfährt und wie er mit ihr umzugehen lernt. Der Text rückt dabei die unbewussten Bilder des Wunsches und die bewussten Versuche einer Überwindung der Entfremdung unmittelbar nebeneinander. Der Wunsch verdichtet sich zum werkbestimmenden Signifikanten der Arkade, den schon die Phantasien der Wiederholung entwerfen (PW 55), und der auf den „Himmelsschrei“ eines veränderten Wahrnehmungsbewusstseins in Über die Dörfer vorausdeutet (ÜD 100). Eine psychologische Entwicklung und eine ontologische Dimension, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, fallen in diesem Bild zusammen. Der Text erhält damit eine doppelte Struktur, neben die psychologische tritt eine ontologische Einschrift. Grundsätzlich prägt die bewusste Erfahrung einer Entfremdung den Text des Chinesen des Schmerzes. Das Schreiben geht aus ihr hervor und bildet sie ab, zugleich wird es zum Versuch, sie zu überwinden. Diese psychologisch und ontologisch gedeutete Entfremdung will der Autor Handke vermittels einer Theorie im vollen Wortsinn erfassen, er zielt auf eine Anschauung von Wirklichkeit, wie sie zuletzt der antiken Naturphilosophie möglich war. Indessen wird ihm auch bewusst, dass dies nur im Weg einer Rekonstruktion des Verlorenen möglich ist. Schillers Denkfigur, dass der in die Zivilisation gegangene Mensch die Natur wiederzugewinnen versucht, verwandelt der Text in ein Bild. Die Salzburger „Sternenfreunde“ müssen immer weiter von der Stadt entfernte Orte aufsuchen, um noch des vollen Sternenhimmels ansichtig werden zu können, dessen Kontraste mehr und mehr durch die Lichter der Zivilisation verdeckt werden (CS 71). Bereits die Journale Handkes benennen den Verlust unmittelbarer Naturwahrnehmung und versuchen, wieder zum einfachen Beschreiben von Natur zu kommen (GB 169). Die Voraussetzungen des Schreibens, die sie herausstellen, entfalten sie als literaturhistorische Reflexion. Goethes selbstverständlicher Naturbeschreibung wird der Versuch einer Rekonstruktion dieser Wahrnehmung von Natur bei Hölderlin gegenübergestellt (GB 169). Doch während die Journale noch ein bloßes Aufgehen in der Natur anstreben, zeigt der Chinese des Schmerzes,
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dass der zivilisatorische Prozess unhintergehbar ist (GB 110). Deshalb rückt er die psychologische Grenzsituation, deren Signifikant die Schwelle ist (GB 40), in den Vordergrund und macht sie im gleichen Zug zum Ausgangspunkt des Versuchs einer ästhetischen Wiederfindung des Verlorenen. An der Stelle einer verschwundenen Schwelle sieht der Archäologe Loser das griechische Wort „Galene“ in den Lehm geritzt. Es bezeichnet bei Epikur nicht nur eine still strahlende und leise bewegte Meeresfläche, sondern es ist auch Metapher des menschlichen Daseins (CS 28). Damit löst es eine Überlegung aus den Phantasien der Wiederholung ein, wo es heißt: „Warum suche ich auf den Schwellen immer die Schrift oder das Bild? Die Schwelle selbst ist ja Schrift und Bild“ (PW 78). Grundsätzlich unterscheidet sich dieser lebensgeschichtliche Signifikant der Schwelle (ÜD 22) von den einfachen Zeichen der Zivilisation, den Tafeln und Wegmarken, die Loser wie seinen Erfinder an den zugänglich gemachten und durch Wanderwege erschlossenen Landschaften stören (GB 6, 22). Allerdings gelingt die Anverwandlung von Landschaft nicht vermittels der Schrift, sondern allein durch das bloße Wahrnehmen, zu dem es zurückzufinden gilt. Dies kann auf doppelte Weise geschehen: Als Phantasie der Verwandlung oder als ein bloßes Innewerden, bei dem Außenwelt zum Spiegel von Innenwelt wird. Das erste geschieht dadurch, dass die Landschaft musikalisch auf den Betrachter wirkt, wie es bereits Schiller in seiner Rezension zu Matthissons Gedichten fordert. Die Klänge aus einer Musicbox verwandeln eine österreichische Landschaft plötzlich ins Westjordanland (CS 57). Die Notizen der Geschichte des Bleistifts bestätigen, dass solche von der Musik ausgelöste Verwandlungen für Handke immer eine Form der Mythologisierung sind. Auch dies weist auf eine Hauptlinie, die der Chinese des Schmerzes schildert: „Musik ist an sich schon Mythologisierung; sie stellt vorschnelle Harmonien her“ (GB 10). Vergleichbare Raumphantasien treten im Verlauf der Handlung immer stärker hervor. Auch Losers Blick auf die Landschaften lässt aus einem bloßen Innewerden Verwandlungsphantasien entstehen, die das wahrnehmende Subjekt umgreifen. Zunehmend entwerfen die Bilder von Natur und Zivilisation einen Zusammenhang, der sich als Welt im philosophischen Sinn verstehen lässt. Allerdings weist die Schwelle nicht allein auf eine Gespaltenheit dieser Welt; sie ist auch Zeichen für eine Dissoziation des Erzählers selbst: Es ist keine Frage, dass nunmehr die Aufgabe des Schreibens eine andere geworden ist. Unter den Bedingungen einer im Schreiben versuchten Hinwendung zu den Dingen der Natur wird die Schwelle zum Bild für die Architektonik der Welt im philosophischen Verständnis Heideggers, für den Eingang der Dinge in einen Gesamtzusammenhang. Zugleich erschließt sie das Medium dieses Eintretens: Sie wird auch zum Zeichen des Schreibens. Der mehrfach codierte Signifikant der Schwelle macht deutlich, dass dieses neben der architektonischen auch eine archäologische Dimension erschließt. So wie die Schwelle zu einem Zeichen wird, von dem aus die geschichtliche Vergangenheit rekonstruiert werden kann, so erlaubt das Schreiben den Rückbezug von der Gegenwart der Zivilisation auf die Ursprünglichkeit der Natur. Diese erzählte Hinwendung zur Natur hat indessen an jeder Stelle eine literarische Recodierung zur Voraussetzung, die eine philosophische Überlegung
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erschließt. Als Erzähler muss Handke in die Nachfolge eines anderen eintreten, der zugleich ein Naturbeobachter ist. Damit folgt er einer zentralen Überlegung der Phantasien der Wiederholung, die diesen ihren Namen gegeben hat. Denn dort erweist sich das Schreiben nicht nur als ein Innewerden, bei dem die Sprachzeichen die Bilder der Natur nachstellen; es ist vielmehr notwendig auch ein Wiederholen des in der kulturellen Tradition Vorgegebenen, eine Rückkehr zu einer bereits vorhandenen Schreibweise, die gleichzeitig die philosophische Dimension des Textes erschließt. So kommt es, dass der Erzähler Vergils Formel von der ‚leichten Linde‘ aufgreift (CS 70), die in den Aufzeichnungen seines Erfinders dem mythischen Benennen an die Seite tritt (PW 98). Dieser nennt sein Wiederholen, das ohne Zweifel ein Versuch ist, zum Schreiben Vergils zurückzufinden, eine „Wiederfindung“ (CS 70). Die Zuwendung zum „hellen Tagwerk“ Vergils (PW 91) belegt den Versuch, sich unter die „Meister der Wiederholung“ einzureihen (GB 20). Damit zieht die Geschichte des Chinesen in einem Zug zwei Linien deutlich aus. Sie handelt von der Veranlassung zum Schreiben und von dessen philosophischer Begründung. Das Leer-Sein, das Loser zu Beginn des Textes empfindet, ist ein Bild, das auch Handkes Aufzeichnungen für die eigene Schreibsituation entwerfen. Die Erfahrung der „wallenden Leere“ als Voraussetzung des Schreibens wird nun als eine existentielle Situation verstanden. Sie geht zwar von der Wahrnehmung des Einzelnen aus, zielt aber bereits auf eine Selbstaufhebung der Subjektivität. Auch damit trifft das Schreiben das philosophische Deutungsmuster, das bei Heidegger vorgezeichnet ist. Schwelle und Brücke, die bereits im ersten Teil des Romans an herausgehobener Stelle genannt werden, erinnern an Überlegungen aus einer Trakl-Interpretation Heideggers, sie lassen sich auf dessen Aufsatz über Bauen Wohnen Denken beziehen, der in der Geschichte des Bleistifts immerhin dreimal zitiert wird (GB 107 f.). Der Weg zur Philosophie Heideggers ist verkoppelt mit einem Erinnern „an lang Verschollenes“, wie es Loser später im Kreis seiner Tarockspieler durch die Erzählungen der Schwellengeschichten provoziert (CS 129). Deshalb ist das Erinnern, das zum Erzählen führt, von Anfang an mehr als das bloße Gedächtnis, es ist ein Akt der Phantasie. Dieser ist nicht frei von der unmittelbaren Erfahrung, sondern schon deren Transformation. Allerdings eröffnet dies zugleich einen anderen Aspekt von Heideggers Denken, der ebenfalls die Situation des Protagonisten im Chinesen des Schmerzes bestimmt. Das anfängliche Leer-Sein des Erzählers weist auf die in Sein und Zeit entwickelte Denkfigur eines Hinausgehaltenseins des Menschen ins Nichts, die eine Grundbefindlichkeit des Daseins ist. Schon in Heideggers Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik wird deutlich, dass dieses Hinausstehen ins Nichts das Dasein aus seinem alltäglichen Wesen des besorgenden Umgangs führt und ihm damit eine neue Dimension, nämlich die des Seienden als eines solchen und ganzen eröffnet. Diese Dimension des Seins jedoch steht nicht in der Verfügung des Menschen, sondern sie gewinnt ihre ursprüngliche Kraft aus dem Nichten des Nichts, das für Heidegger hier nur ein anderer Name für einen Grundzug des Seins ist. Eben dies eröffnet eine Parallele zu Handkes späterem Werk. Dort wird der Bereich
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des Seins zum tatsächlichen Ausgangspunkt nicht nur der Wahrnehmung und des Erzählens, sondern auch des Handelns der Protagonisten; damit tritt bei Handke eine Heidegger vergleichbare entscheidende Wende in der Auffassung von der Stellung des Subjekts ein. Sie bestimmt das Verständnis einer Geschichte, die sich längst der Verfügungsmacht des Einzelnen entzogen hat. Die Rolle des Erzählers und die Situation der Protagonisten in der erfundenen Wirklichkeit von Handkes Text leiten sich von der in Heideggers späterem Werk entfalteten Formel ab, die als Aufgabe des Menschen ein „Hören“ und „Entsprechen“ bestimmt, weil dort das Sein endgültig zum eigentlichen Subjekt geworden ist. Von dieser Auffassung her begründet sich auch der ästhetische Entwurf von Wirklichkeit. Die Verpflichtung des Dichters wie des Denkers besteht für den Philosophen allein darin, stellvertretend und führend für andere dem Sein zu entsprechen. Das Aushalten der Leere wird zum Zeichen der Ohnmacht des Subjekts, wie für das Hervortreten des Seins als der eigentlichen Macht. Unter diesen Voraussetzungen entspringt Losers Suche nach Liebe (CS 165 f.) nicht allein einem Gefühl, sondern auch dem Wunsch, ins Innere der Sprache zu gehen, von dem die Notizen Handkes immer wieder handeln. Bevor Loser als Einzelner zu einem anderen Menschen in die richtige Beziehung treten kann, muss er sich zuvor in der angemessenen Weise vom Sein ansprechen lassen. Nicht ohne Grund wird sein Name etymologisch als „Lauscher“ hergeleitet: Er tritt in Bezug zu einem Satz aus Hölderlins Hyperion, der seit dem Kurzen Brief Handkes Werk und seine autobiographischen Aufzeichnungen immer wieder durchzieht. „Mein ganzes Wesen verstummt und lauscht“ kann man dort lesen und in der Geschichte des Bleistifts heißt es: „Das verstummende Wesen hat tatsächlich mit ‚Lauschen‘ zu tun, nicht mit ‚Schauen‘. Und das Farbensehen (besser noch das Lichtsehen) entspricht dem Lauschen“ (GB 234). Damit wird das Wort „Galene“ zum Signifikanten dieser phantasierten Verschränkung von Ich und Welt im Sprechen und Hören. Es weist auf Heideggers Satz, „Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht. Das Entsprechen ist Hören“ (Heidegger UN 33). Diese Signifikantenkette, die der erste Teil des Romans aufbaut und zugleich psychologisch und theoretisch entwickelt, erweckt den Eindruck, als stünden philosophische und psychologische Argumentationsmuster symmetrisch nebeneinander. Der zweite Teil des Romans zeigt jedoch, dass die autobiographische Inschrift von Handkes Schreiben einen Begriff der Vergangenheit entwirft, der in erster Linie psychologisch geprägt ist und insofern hinter die ontologische Bestimmung des Vergangenen zurückfällt. Dies belegt die Wendemarke der erzählten Geschichte. Der Erzähler, der auf dem Weg zu seinem Tarock-Spiel den Mönchsberg besteigt, begibt sich in eine Urlandschaft, die er sich wandernd phantasiert (CS 86); die Raum- und Landschaftsbilder, die er wahrnimmt, verweisen auf intrapsychische Prozesse, die Bergbesteigung erscheint zugleich wie ein Rücksturz in die eigene Vergangenheit. Auch jetzt ist das Dechiffrieren einer geologischen Urform aus der erschauten Landschaft, sind die Phantasien von Anfang und Ende dem psychologisch motivierten Freiphantasieren der Moränenlandschaft unter Berlin vergleichbar, von welchem die Lehre der Sainte-Victoire berichtet. Und hier wie dort sind diese Phantasien unmittelbar auf autobiographische Erfahrungen
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bezogen. Gerade daraus erklärt sich Losers Reaktion auf den Hakenkreuzsprayer, der ihn unmittelbar an die faschistische Vaterwelt erinnert und das Hakenkreuz als „das Unbild der Ursache all meiner Schwermut – all der Schwermut und des Unmuts hierzuland“ erscheinen lässt (CS 97). Die spontane Ermordung des Sprayers ist unter diesen Voraussetzungen ein Versuch, die „Vergangenheit völlig vergessen“ zu machen (GW 85) und damit das andere Gedächtnis zu verlieren, das auch für den Autor Handke mit der Geschichte der Gewalt verbunden ist, weil es allein schreckhafte Erinnerungen bewahrt, ohne sie ästhetisch transformieren zu können. Deshalb steht der spontane Mord im Zeichen einer phantastischen Verwandlung der Natur, die sich aus dieser psychischen Konstellation erklären lässt. Einerseits wird der Himmel plötzlich sternenlos (CS 104), andererseits bilden die „Lichter der Ebene, zusammen mit den schnabelähnlich geöffneten Schalen der leeren Bucheneckern […] die entsprechende Weltstadt“ (CS 105). Weil sich jetzt im Blick auf die Natur die Grenze zwischen außen und innen, wirklich und nicht wirklich verwischt, fühlt sich der Erzähler zunächst dissoziiert: er glaubt sich ausgestoßen und offen für die Welt zugleich. Das Szenario der phantastischen Landschaft liefert ihm Bilder der Gefährdung wie der Sammlung des Ich. Diese Ambivalenz ist signifikant, denn Losers Rückfall in die eigene Vergangenheit und ins Unbewusste erweist sich auch als Voraussetzung für den psychischen Wiederaufbau seines Selbst. Die Erfahrung der Schuld nach der Tat führt ihn zum Bewusstsein des eigenen Ich und lässt ihn gerade so seine Zusammengehörigkeit mit anderen erkennen. Die eigene Geschichte schafft nicht nur Herausforderungen, sondern gibt in dem sich aufdrängenden Nachdenken über kollektive Schuld auch eine Orientierung. „Meine Geschichte ist mein Halt“ (CS 106 f.) kann er jetzt sagen. Gerade weil er sich dem „Volk der Täter zugehörig“ weiß, kommt er auch in einem philosophischen Sinn in der Welt und in der Schuld zugleich an. Dies erschließt noch einmal die komplexe Bedeutung, die dem Bild der Schwelle im Text zukommt. Als Signifikant in der autobiographisch zentrierten Geschichte des Erzählers deutet es auf eine ununterbrochene Geschichte der Gewalt und verlangt nach einer psychologischen Deutung; die vermeintlich unverwechselbare eigene Geschichte erweist sich bloß als Vorgeschichte einer anderen. Im Gespräch mit einem Priester erkennt Loser die endgültige Bedeutung der Schwelle, es wird ihm klar, welche Geschichte wirklich erzählt werden soll. Die Schwelle, die als Teil für das Ganze steht (CS 125), ist in psychologischer Hinsicht ein Bereich für sich, „[…] ein eigener Ort, der Prüfung oder des Schutzes“ (CS 125 f.). In philosophischer Hinsicht aber „ermittelt“ sie „als die Mitte erst Welt und Dinge zu ihrem Wesen“ (Heidegger UN 25). Auch dies bestätigt Handkes Rekurs auf Heidegger, denn für diesen ist die Schwelle „der Grundbalken, der das Tor im ganzen trägt. Er hält die Mitte, in der die zwei, das Draußen und das Drinnen, einander durchgehen, aus. Die Schwelle trägt das Zwischen“ (Heidegger UN 26). Weil die Schwelle in Übereinstimmung damit auch in Handkes Text eine philosophische Bedeutung erhält, ist der Schmerz, den sie als Ort der Prüfung hervorruft, Ausdruck einer ontologischen Bedingung. Es ist der Schmerz, den Loser aushält, und der sein Gesicht zu dem eines Chinesen verzerrt:
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„sein Reißen ist als das versammelnde Scheiden zugleich jenes Ziehen […] Der Schmerz ist die Fuge des Risses“ (Heidegger UN 27). Für den Schreibenden aber, der den Schmerz erfährt, ist dieser zugleich Voraussetzung einer poetischen Transformation des Seins, die zentrale Bedeutung gewinnt. „Es gibt kein anderes ‚Sein‘ als das ‚Auf-der-Schwelle-Sein‘; nein, als das ‚Schwelle-Sein‘“ heißt es in Am Felsfenster morgens (AF 91). So erhalten im Erzählen des Erzählers sowohl der Schmerz als auch die Schwelle eine doppelte Bedeutung. Sie verweisen auf eine Spannung im Text, die zwischen der psychologischen Vorgeschichte einerseits und einem ontologisch ausgerichteten Erzählen andererseits besteht. Die Schwelle, von welcher der Erzähler erzählt und seine Freunde berichten, deutet nicht allein auf die letzte noch verbliebene Schwelle zwischen Wahnsinn und Träumen, Bewusstem und Unbewusstem, aus der sich die Kultur der Vernunft ebenso wie die konventionalisierte Kunst begründen; sie wird auch zum Signifikanten einer existentiellen Erfahrung mit den Dingen selbst. In Übereinstimmung damit benennt die Geschichte des Bleistifts als Äquivalent der Schwelle die Grenze und beschreibt ihre Eigenart ebenfalls im Rückgriff auf Heidegger: „Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern jenes, woher etwas sein Wesen beginnt“ (GB 108; Heidegger VO-2, 29). In einer späteren Notiz der Phantasien der Wiederholung werden die psychologische und die ontologische Konstellation, die den Text des Chinesen des Schmerzes gleichermaßen prägen, unmittelbar zusammengefasst und zugleich autoanalytisch zugespitzt: „Es gibt keine Fähigkeit zur Verwandlung, sie ist das allerschmerzhafteste Muß“ heißt es in diesem Journal (PW 76). Psychischer Zwang und das, was die Dinge selbst gebieten, fallen in eins. So nimmt der Signifikant der Schwelle eine zentrale Stelle in Losers erzählter Geschichte ein und weist einer philosophischen Bestimmung Heideggers folgend auf die Geschichte im Sinne eines Geschehens der Welt selbst hin. Losers Erfahrung der Entfremdung ist im besonderen geschichtlichen Charakter der gegenwärtigen Zivilisation begründet. Sie verweist auf die Natur als eine verlorene Vergangenheit und auf eine geheißene Zukunft im Sinne Heideggers. Deren Eintreten soll allererst durch das Wort des Dichters vorbereitet werden. Insofern ist die Schwelle nicht allein ein Ort der Erinnerung, sondern einer der Phantasie; dessen Metapher ist die Raum-Welle, die der Erzähler beim Übergang vom Zentrum der Stadt in die Moorebene wahrnimmt (CS 149). Auch dies erschließt eine Parallele zu Heideggers Denken. Dieses geht davon aus, dass im gegenwärtigen Zeitalter des „Gestells“ dem Denker die Aufgabe zufällt, durch ein anderes Denken ein Wohnen des Menschen im „Geviert“ vorzubereiten. Weil sich für den Philosophen im heutigen Wesen der Technik eine zunehmende Vergessenheit des Seins offenbart, kommt den Dichtern und Denkern eine besondere Bedeutung zu. Sie haben die Aufgabe, das, was ist, zur Sprache zu bringen, das Verlorene wieder erfahrbar zu machen und das Künftige vorzubereiten. Weil im Geviert Ding und Welt wieder in ihr Eigenes kehren sollen, macht vor allem die Kunst Sprache zum Ort des ankünftigen Seins, „indem sie das Geheißene, Ding-Welt und Welt-Ding, in das Zwischen des Unter-Schiedes
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kommen heißt“ (Heidegger UN 28). Ebenso wie Heidegger von der Vorstellung Abschied nimmt, dass Dichter und Denker die Wörter erfinden, überschreitet auch Handkes Begriff der Phantasie den Verfügungsbereich des Subjekts. Nicht ohne Grund heißt es in seinem Text: „Es ist ein Ziehen, und ich sehe in der Landschaft den Großen Zug“ (GB 141). Anders aber als beim Philosophen ist bei Handke diese ontologische Dimension, die zugleich eine poetologische ist, im Text an jeder Stelle durch eine psychologische vorbereitet. Das Erzählen entfaltet seine Bedeutung nicht nur um den Signifikanten der Schwelle, es führt für den Erzähler selbst zu einer Grenzüberschreitung und gewinnt für ihn lebensgeschichtliche Bedeutung, weil es die unmittelbare Wahrnehmung und das Unbewusste zueinander in Beziehung treten lässt. Vor allem deshalb gleicht der Heimweg Losers vom Tarockspiel einer Rückverwandlung. Er imaginiert den Berg seines Namens, den er auf seiner Wanderung gesehen hat, und erkennt an ihm Einbruchsstellen und Durchblicke (CS 164 f.). Doch bevor er sich als Erzähler der Erfahrung der Schwelle stellen kann, bedarf es eines sinnlichen Erlebnisses, der Zuwendung zu einem Körper. So verwandelt das Erzählen einen doppelten Wunsch, der sich auch auf das Schreiben selbst richtet, in eine Geschichte. Eine Notiz der Geschichte des Bleistifts lautet: „Wenn die Schrift wie ein Zucken des Körpers wird, wird sie natürlich […]“ (GB 118). Die Phantasien der Wiederholung, welche die Geschichte des Chinesen durchziehen, führen somit gleichzeitig zur Verschmelzung von Zeichen und Körpern. Lebensgeschichtliche, imaginierte und phantasierte Erfahrungen werden in ein Signifikantennetz eingeschrieben, das sich völlig der abbildenden Referenz auf Wirklichkeit verschließt und zugleich den Raum der Erfahrung bestimmt, indem es den Ort für ein Ankommendes markiert, das zunächst als ein ganz Anderes verstanden werden muss. Der dritte Teil des Romans ist Zusammenfassung und Weiterführung zugleich, noch deutlicher als im ersten gehen in ihm das Erzählen und das Nachdenken über dieses ineinander über. Im scheinbar realistischen Beschreiben entwirft er ein System von Zeichen, in dem der Unterschied zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem, Natur und Zivilisation zwar noch da ist, aber nicht mehr als Gegensatz begriffen wird. Das Über-die-Schwelle-Schreiten ist jetzt gerade nicht als Grenzschwindel verstanden, wie der architektonische Trug des Opernhauses, bei dem Beton und Naturstein ununterscheidbar ineinander überzugehen scheinen (CS 144), sondern es hat zur Folge, dass beide Seiten dieses Unterschieds in ihrem Eigenen belassen werden. Gleichzeitig fasst dieser dritte Teil des Romans die beiden vorangegangenen zusammen und führt sie noch weiter. Bilder eines ontogenetischen Prozesses und Bilder der Phantasie verschränken sich jetzt unmittelbar; es wiederholt sich die gegenläufige Bewegung von Dekonstruktion und Neuaufbau, die auch andere Texte Handkes prägt. Der Heimgekehrte erfährt zunächst eine Situation der Entfremdung, er fühlt sich als eine „Hülle ohne Mensch“(CS 171), Geräusche hört er „sozusagen um die Ecke, hinterrücks, überfallartig, ohne die dazu gehörigen Körperbilder“ (CS 172), er verliert die räumliche Orientierung (CS 172) und hat das Gefühl, „in der Verdammnis“ zu leben (CS 174).
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Umschrieben wird dieser Zustand mit einer Metapher, die sich sowohl ästhetisch als auch ontologisch auflösen lässt: Loser verliert die „Mitte“ und die Perspektive. In der Mitte seines Gesichtsfelds sieht er entweder nichts oder aber das Zentrum seines Wahrnehmungsfeldes wird ihm zum „Ort der schwindelerregenden Sinnestäuschung“ (CS 175). Was er unmittelbar phantasiert, erscheint ihm als Gesetz der Wirklichkeit, die naturgewachsenen „Mitte-Punkte“ der Kirchtürme dagegen zeigen sich ihm als „Fälschungen“ (CS 176), er wird dabei an Lukrez’ Vorstellung vom schwarzen Loch des Unendlichen erinnert (CS 177). Wenn sich Loser nicht mehr in die Landschaften hineindenken kann, die er wahrnimmt, folgt er einer Erfahrung, über die auch der Autor Handke berichtet: „Früher habe ich mir die leeren Gegenden mit weißen Städten voll gewünscht; jetzt möchte ich, wünsche ich, will ich erreichen, daß die leeren Orte ewig so leer bleiben, beispielhaft, energisch, kräftigend leer, beispielleer“ (PW 61). Loser verweisen solche menschenleere Räume allerdings vor allem auf ein Defizit. Was ihm fehlt, erkennt er als „etwas Leibliches: Ein Sinnesorgan“ (CS 178). Er begreift, dass ihm eine besondere „Art des Schauens“ fehlt, nämlich die „Einheit von Gewahrwerden und Vorstellungskraft, die das griechische Wort ‚leukein‘ meint“ (CS 179). In diesem Zusammenhang wird die christliche Metaphorik, die den Text auch durchzieht, aufgelöst. Die Idee der Auferstehung erfährt eine Remythisierung im Hinweis auf die Osterbräuche, die ästhetische Bilder entfalten: Das frische fleischliche Weiß der aus dem Boden gegrabenen Meerrettiche erscheint dem Betrachter als „eine einleuchtende Lebens-Farbe“ (CS 180). Die Bilder und Farben dieser ästhetischen Rekodierung entsprechen den Signifikanten für eine Psychogenese, die erneut phantasiert wird. Die ästhetische Zusammenschau verdeckt den dunklen Urgrund eines Traumes von Gewalt und mörderischer Zerstückelung (CS 181 ff.). Erst nach diesem nimmt der Erwachende eine Farbe und dann eine Hibiskusblüte wahr (CS 184). Und auf die Phantasie der Zerstückelung, deren Bilder nichts anderes abbilden als die Zerschlagung der ersten imaginären Konstitution des Ich, die Grundlage für die Herausbildung des Selbst ist, erfolgt ein Neuaufbau, der wiederum als Körperphantasie beschrieben wird. Beim Duschen „wuchs der Körper allmählich aus zu sich selbst. Standbein und Spielbein bildeten sich“ (CS 185). Diese psychologisch lesbare Doppelfigur von Zerstückelung und Neuaufbau unterstreicht zugleich die ontologische Kontur von Handkes Text. Sie erinnert daran, dass das „Los“ des Sterbens in der Vorstellung Heideggers als Bedingung menschlicher Existenz auch des „Teils“ bedarf: Der Erkenntnis der eigenen Bestimmung, die es zu erfüllen gilt und die Voraussetzung für die Erlangung des Selbstbewusstseins ist (CS 189). Bekanntlich vollziehen für Heidegger die Menschen ihr eigentliches Wesen als „Sterbliche“. Diese von Hölderlin übernommene Bezeichnung wird in den Aufsätzen Bauen Wohnen Denken und Das Ding aufgenommen und entfaltet. Dort erhält das Sterben für Heidegger eine ganz andere als die übliche Bedeutung. „Die Sterblichen nennen wir jetzt die Sterblichen – nicht, weil ihr irdisches Leben endet, sondern weil sie den Tod als Tod vermögen“ (Heidegger VO-2, 51) liest man bei ihm. Diese ontologische
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Bestimmung des Philosophen wird von Handke in das dialogische Muster eingefügt, das sein Text entwirft. Die erzählte Gründung des Selbstbewusstseins erfordert für ihn einen anderen, einen „Zeugen“. Die Schwelle des eigenen Lebens wird erst deutlich im Erzählen, das einen Zuhörer anspricht. Von hier lässt sich der Holzstoß des Osterfeuers, Zeichen für die zentrale Veränderung Losers, auch als Signifikant für einen Mythos von Autorschaft erkennen, wie ihn schon die Lehre der Sainte-Victoire entwickelt. Er leitet den Erzähler auf seine Bestimmung und ermöglicht ihm ein Ankommen in einem Raum, der Zeichen des „Wohnens“ trägt, wie ihn Heidegger beschreibt. Die österreichische Landschaft und die in ihr liegende Stadt, die phantasierte Maya-Stadt von Yukatan und der Raum Heraklits, von dem dieser sagt „auch hier sind Götter“, tragen die Signatur jenes „Gevierts“, das der Philosoph definiert, das Nova in Über die Dörfer als geometrisches Muster beschreibt und das die Geschichte des Bleistifts zustimmend zitiert (GB 107; Heidegger VO-2, 24). „Im Retten der Erde, im Empfangen des Himmels, im Erwarten der Göttlichen, im Geleiten der Sterblichen ereignet sich das Wohnen als das vierfältige Schonen des Gevierts“ (GB 107; Heidegger VO-2, 25). Die Besonderheit dieses Wohnens, das Heidegger als ein „Schonen“ bestimmt, liegt darin, dass der Mensch nicht mehr machtergreifend und berechnend versucht, Herr über die Dinge zu sein, sondern sie in ihrem Wesen zu belässt. Indessen ist beim Erzähler Handke auch dazu eine psychologische Vorbereitung notwendig. Vor allem davon erzählt der dritte Teil des Chinesen des Schmerzes. Plötzlich fügen sich für Loser die wahrgenommenen Geräusche zu Tönen, gar zu einer Melodie (CS 195), vergleichbar dem Signal der Außerirdischen in der „Begegnung der dritten Art“ (CS 195). Am Morgen des Ostertags steht er auf, erblickt die Farben der Moosebene und des Berges Staufen und wandert sommerlich gekleidet hinaus in die Farben, die auch für den Autor Handke Zeichen der Selbstgewissheit sind. Sie fügen sich mit anderen Bildern zusammen, die ebenfalls auf eine Kette von ‚métaphores obsédantes‘ weisen, die den Autor bestimmt. Das Bild des Holzstoßes aus der Lehre der Sainte-Victoire und der Bohlen Novas aus Über die Dörfer setzt sich fort in den Bohlen der Eisenbahnschwellen (CS 200). Auf dem Weg zum Flughafen durchquert Loser einen Eisenbahntunnel; die Vorstellung der Wiedergeburt, die damit verbunden ist, weist zugleich auf eine Phantasie im Gewicht der Welt: „Sterben in einem Autotunnel (gespürt, wie der Körper ganz weit wurde)“ (GW 74). Aus dem Bild von Tod und Wiedergeburt erwächst unmittelbar eine Raumphantasie, „der Gegendausschnitt am Ausgang erschien durchwirkt von einem gleichsam transkontinentalen Licht […] und die Tankstellen, die Lagerhäuser und der Hangar bekommen so etwas von einer Ansiedlung in Übersee: ‚Feuerland‘ oder ‚Montana‘“ (CS 203). Diese textkonstituierende Verschränkung von unmittelbarer Wahrnehmung, unbewussten Wünschen und lebensgeschichtlich geprägten Metaphern verdichtet sich in der Szene am Flughafen. Als Namen der unbekannten Frau, die er erwartet, schreibt Andreas Loser „Tilia Levis“ ins Anmeldeformular: Was er zuerst als Naturphantasie und ästhetisches Bild entwirft, versucht er jetzt zu erleben. Die aus einer Wunschphantasie begründete Formel „Schweb ein, leichte Linde“ wird zum
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Vorgriff auf eine bewusste Handlung Losers: Der Fremden will er in Erinnerung an Vergil das Attribut leichte Linde, zusprechen (CS 70, 206). Gerade so bildet die Schrift des Textes das Zucken des Körpers ab, schreibt sich das Wünschen des Körpers unmittelbar in die Sprache ein. Ohne Frage trägt die Begegnung mit der ins Leben gewünschten und herbeiphantasierten Frau, die zuerst als ästhetisches Inbild da ist, bevor sie Körper werden kann, die Signatur einer lebensgeschichtlichen Obsession des Autors Handke. Die wie im Traum und fast sprachlos vollzogene Vereinigung von Mann und Frau gerät nicht nur zum Bild einer Aufhebung der Grenze zwischen Natur und ästetischem Abbild, weil die Frau dem Liebhaber als Landschaft und als Steinfigur zugleich erscheint. Sie ist auch nicht allein Verwandlung ästhetischer Sprache in Körperphantasien, sondern sie erfüllt darüber hinaus eine sexuelle Phantasie, die das Gewicht der Welt bereits vorzeichnet (GW 37, 41), und die auch in der Stunde der wahren Empfindung durch den spontanen und wortlosen Liebesakt mit der Botschaftsangestellten dargestellt wird. Doch die Begegnung und Vereinigung mit der Fremden führen Loser nicht einfach in eine neue Geschichte, sie leiten ihn unter anderen Bedingungen auch zurück in seine Kindheit und dies in einem doppelten Sinn. Loser besucht seine Mutter, die in einem Heim wohnt, er sieht eine Frau, die an der Grenze von Wahn und Wirklichkeit lebt, und bei ihrem Anblick befallen ihn zugleich die Obsessionen des drohenden Vaters. Sie werden hier nicht anders als in der Lehre der Sainte-Victoire und in deutlichem autobiographischem Bezug auf den Autor mit dem Bild des kalten Deutschlands, mit dem unverjährbaren „Nichts“ verbunden (CS 219–221). Erst nach diesem Rückweg in die eigene Vergangenheit, zur Vater- und zur Mutterwelt, wird Loser frei für eine Rekonstruktion seines Selbst; die erinnerte eigene Geschichte lässt ihn zu einem neuen Leben finden, das seine Eigenart und Kraft aus dem Nachleben eines Vorbilds bezieht. Seine Fahrt zum Geburtsort Vergils ist deshalb auch eine zum Ursprung des Erzählers Loser. Zugleich wird diesem in der mythischen Recodierung des eigenen Lebens auf der Reise zur Geburtsstadt des Vorbilds seine Einsamkeit bewusst. Jetzt, nach dem Durchgang durch erinnerte, unterschiedliche Bilder der Sozialisation, kann er diese als die zutreffenden Zeichen für die ihm angemessene Lebensform erfahren. Was er für sich erkennt, hat sein Erfinder schon vorher lapidar notiert: „Meine Größe: das Alleinsein“ heißt es im Gewicht der Welt (GW 61). Nur weil Loser weiß, dass er allein sein kann, ist er in der Lage, im Haus seiner Familie und im Zeichen des Lorbeerbaums an einer Szene glücklicher Eintracht teilzunehmen, nur deshalb kann er sich auch als Erzähler behaupten, der dem Sohn die eigene Geschichte berichtet. Seine Fähigkeit zum Erzählen entsteht wie das Bewusstsein der Einsamkeit aus dem Entschluss zu einer lebensgeschichtlich bedeutsamen Nachfolge, welche die Voraussetzung für die Einsamkeit ist, die vor allem den Schreibenden prägt. Die Geschichte des Bleistifts bestätigt, dass diese Idee der Nachfolge, die Loser verwirklicht, auch für seinen Erfinder Voraussetzung ästhetischer Produktion ist; Loser wird ebenfalls, als was sich sein Erfinder bezeichnet, ein Meister der Wiederholung. Dass es beim Schreiben „wohl gar keine Pioniere, nur
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die Wiederholer“ gebe und dass diese als „die einsamsten Menschen auf der Welt“ angesehen werden müssen, vermerkt das Journal Handkes lapidar (GB 128). Indessen wird die mythische Recodierung der Geschichte Losers, die zugleich eine ästhetische ist, nicht nur aus dem psychischen Prozess der Ontogenese entwickelt, sondern wiederum ontologisch gedeutet. Ursprung und Herausbildung des Selbst bilden dabei das Zentrum einer ästhetischen Phantasie. Der Erzähler erkennt sich in seinem Sohn wieder, geht in Gedanken seine eigene Entwicklung zurück und phantasiert sich so ein anderes Leben. Als Lehrer spricht er schließlich über die Bedeutung des griechischen „Lalein“, das als Bezeichnung unartikulierten Sprechens ein Hinweis auf den Ursprung des Menschen ist, aber zugleich etymologisch verwandt mit dem dichterischen Wort „Lalle“, für die Beschreibung eines Naturgegenstands (CS 231). Diese im Wort abgebildete Verknüpfung weist auf Heideggers philosophischen Entwurf zurück. Denn dessen Bestimmung des „Wohnens im Geviert“ entwirft in Anlehnung an Hölderlin die Aufgabe des Dichters und die besondere Bedeutung dichterischer Sprache. „Das Dichten bringt den Menschen erst auf die Erde […]“ (Heidegger VO-2, 66). Vergleichbares wiederholt sich am Ende des Textes. Manches spricht dafür, dass der Epilog des Romans nicht ein Schlusswort ist, sondern bloß abbildet, was der Protagonist wie sein Autor als Erzähler zu erreichen versuchen. Nicht ohne Grund steht im Zentrum des Bildes, das Loser beschreibt, wieder eine Brücke, schildern die erzählten Szenen Situationen des Heimkommens, die zugleich als Ankommen und Heimkehren erscheinen. „Jenseits der Brücke sind die Passanten sozusagen schon angekommen in ihrem Heimbereich […]“ (CS 250). Der Erzähler, auf den die Signifikanten der Brückenbohlen weisen, wandelt sich zum Brückensteher, der nur Beobachter ist, und spricht zugleich die Sprache eines Philosophen. „Ich warte“ und „ich bin“ sind die Sätze, die er über sich sagen kann. Dabei verwundert es nicht, dass er ein „ungebräuchliches Wort für die Tätigkeit des Wassers, der Bäume, des Winds, der Brücke“ findet: „sie walten“ (CS 252). Eben dies sind die Worte, die Heidegger für das Anwesen des Seins findet; denn nicht der Mensch ist die eigentlich waltende Macht auf dieser Erde, sondern das Sein, das den Menschen erst in sein Wesen weist. Das Sagen des Dichters und des Denkers sind Vorbereitung für eine vom Sein erforderte jähe Einkehr. Die Schnittstelle zwischen erzählter Geschichte und Epilog markiert einen solchen plötzlichen Übergang unmittelbar in Handkes Text. So ist der Epilog nicht bloß Abschluss des Romans und nicht allein eine Beschreibung des Erzählens, sondern auch die Vorstellung des einzig möglichen Erzählens selbst. Dieses erfordert ein Zurücktreten hinter die Dinge, das den Kanal „Ruhe, Verschmitztheit, Verschwiegenheit, Feierlichkeit, Langsamkeit und Geduld“ ausströmen lässt (CS 255). Am Ende der Geschichte, die durch eine Handlung zentriert wird, steht das Bild eines Erzählers, der „die Schwelle“ selbst ist (CS 242) und deshalb weder Anfang noch Ende noch Entwicklungen von Geschichten beschreiben, sondern allein ein „Innewerden“ abbilden und wiederholen will (PW 40). Allerdings ist dies nur aus der Erfahrung des Schmerzes möglich. Der Mann, der zu lächeln scheint und doch nur seinen Schmerz unterdrückt, ist der Held
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dieser Geschichte. Der Chinese des Schmerzes ist der Erzähler selbst: „Endlich ein chinesisches Gesicht unter all den Einheimischen“ (CS 218). Die Apotheose des Erzählers wie sein Vermögen, ins „Innere der Sprache“ zu gehen, haben eine Geschichte zur Voraussetzung, die erlebt werden muss, ohne dass sie als Gegenstand des Erzählens noch von Bedeutung wäre (CB 182). Diese Engführung von Dichten und Denken, die bei Handke zu einer erzählten Poetologie führt, hat allerdings noch eine andere Seite. Für Heidegger ist die Frage nach der Verantwortung des Menschen nur vor dem Hintergrund des Sachverhalts zu sehen, dass das Denken die eigentliche Handlung des Menschen ist. Wenn aber das Denken vor allem darin besteht, dem, was einem das Sein zuschickt, zu entsprechen, hat die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen in Bezug auf das Richtige oder Falsche in der jeweiligen Lebenssituation keinen Platz mehr. Dies eröffnet eine weitere Parallele zu Handkes Schreiben, dessen Handlungsmodelle häufig, wie gerade auch im Chinesen des Schmerzes, von einer Gewalttat handeln, diese aber nicht bewerten, sondern allein als notwendig für die Entwicklungsgeschichte eines Einzelnen ansehen. So kommt es im Werk Handkes trotz des befreienden ästhetischen Entwurfs auch zu einem neuerlichen Determinismus, der sich ohne Zweifel an sein philosophisches Orientierungsmodell anlehnen kann. Zugleich erweist sich die Annahme dieser vorgängigen Prägung als Fortschreibung einer psychischen Disposition, von der die früheren Texte handeln, die ein Ich zeigen, das nicht in der Lage ist, den Riss der Welt zu überwinden. Gerade so bringt Handkes Schreiben ein Lebensgefühl zum Ausdruck, das jenseits der Orientierungen der Moderne steht. Der Vorgängigkeit des Seins in den Überlegungen des Philosophen Heidegger korrespondiert beim Autor Handke nicht allein die Verpflichtung auf vorgegebene Muster der Beschreibung und Wahrnehmung, sondern auch die Vorgängigkeit der Sprache selbst. Mit ihr verbindet sich das Bild einer Geschichte, die sich dem handelnden Zugriff des Einzelnen entzieht. Die Selbstwerdung trägt von Anfang an die Spuren einer Gefährdung des authentischen, im Bewusstsein präsenten Ichs, und das individuelle Leben sieht sich vom Gang der Geschichte bedroht. Spätere Texte, insbesondere der Große Fall, die Morawische Nacht und der Bildverlust werden dies ebenso darstellen wie die Stücke und Texte, die den Serbienkrieg umkreisen. Neben die Phantasie einer Befreiung durch das Ästhetische tritt die Auffassung, dass die „Geschichte […] ein Teufel“ sei (Kümmel 2019). Ausgerechnet der ästhetische Text trägt damit zur Befestigung eines Denkens bei, welches das Sprechen des Einzelnen unter der Macht der zugesprochenen Rede zu einem bloßen Nachsprechen macht. Er macht deutlich, dass die kritische und zugleich ästhetisch produktive Gegenbewegung gegen den Anspruch der instrumentellen Vernunft an jeder Stelle in der Gefahr steht, die traditionellen Bestimmungen des freien Subjekts aus den Augen zu verlieren. Allerdings machen sowohl Heidegger als auch Handke diese Dezentrierung noch als eine solche kenntlich; bei Handke zudem wird das Leiden an ihr unaufhörlich und mit autoanalytischer Schärfe thematisiert. Dies unterscheidet seine erzählten Hinführungen auf das Vorgegebene im Sinne eines sich selbst
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Gebenden oder Verweigernden grundsätzlich von den Theoretikern eines subjekttranszendenten Diskurses, welche die Erfahrung der Entfremdung allein noch im ästhetischen Spiel ihrer Worte und Begriffe genießen wollen.
7.2 Wiederfindung in der Urschrift der Poesie: Die Wiederholung (1986) Der Text der 1986 erschienen Wiederholung erscheint im Rückblick als wichtiger Verbindungstext zwischen Handkes frühen sprachexperimentellen Texten und den poetologisch lesbaren Texten, die mit der Lehre der Sainte-Victoire ein vorläufiges Zentrum fanden, durch das zugleich die Beziehung zwischen Text und Bild, die vor allem in den späteren Texten intensiviert wird, entschieden in den Vordergrund gerückt wurde. Die nachfolgenden Texte nehmen diese Thematik auf und überführen sie in ein grundsätzliches Nachdenken über die Möglichkeiten und Modalitäten des Erzählens. Dies geschieht vor allem nach dem Jahr in der Niemandsbucht, das die autoreflexive Spur in Handkes Schreiben neu bestimmt. Während die früheren Texte sich einerseits mit dem Strukturalismus von Saussure und den linguistischen Hypothesen von Sapir und Whorf und andererseits mit den unterschiedlichen sprachphilosophischen sowie erkenntnistheoretischen Ansätze Wittgensteins in Verbindung bringen lassen, eröffnen die späteren eine völlig neue Dimension, weil sie sich unter dem Blickwinkel der Kunst- und Sprachreflexion Heideggers lesen lassen (Heidegger VO-2, 61–78; UN 31–33), wie der Blick auf den Chinesen des Schmerzes gezeigt hat. Dieser Wechsel der Grundorientierung von Handkes Nachdenken und Schreiben über die Bedingungen des Erzählens lässt sich zugleich literaturgeschichtlich klassifizieren. Er weist auf das Ende der literarischen Moderne und den Eintritt in eine postmoderne Konstellation. Schon ein früher Aufsatz von Michael Hays entfaltet diese Perspektive paradigmatisch (Hays 1981). Wie schon andere vor ihm greift dieser Kritiker auf die Beurteilung Peter Handkes durch Richard Gilman zurück (Gilman 1973) und betont, dass insbesondere Handkes Stücke durch ihr Prinzip der Konstruktion jede natürliche Realität außerhalb der von ihnen entworfenen negieren. Insbesondere hebt er hervor, dass die sprachtheoretischen Implikationen von Handkes Schreiben weniger Wittgenstein als vielmehr Saussure und Roland Barthes angehören (Hays 1981, 349). In der Folge davon hat man sie auch mit Raymond Federmans Begriff der ‚surfiction‘ in Zusammenhang gebracht (Klinkowitz 1978). Vor allem an Handkes Kurzem Brief und an dessen Amerikabildern erkannte man eine Tendenz des Erzählens zur ‚metafiction‘ (Klinkowitz 1978, 419). Allerdings gehen diese Versuche, Handkes Texte einer dekonstruktivistischen Lektüre zu unterziehen, die sich an Derrida orientiert, an einem entscheidenden Aspekt von Handkes Schreiben vorbei. Bereits in der ersten Phase seines Werks zeigt sich, dass schon die sprachexperimentellen Stücke und Erzählungen eine existentielle Prägung hatten. Dies gilt in stärkerem Maße noch für die Texte seit den späten Achtziger Jahren. Wie in der Sprachauffassung Heideggers ist
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ihre Sprache nicht allein Medium der Kommunikation oder der mimetischen Darstellung von Wirklichkeit, sondern vielmehr Zeichen für existentielle Konfigurationen. Unter einem literaturgeschichtlichen Blickwinkel erhält Handkes Schreiben damit eine besondere Rolle. Seine Texte stellen einerseits den Übergang von der Moderne zur Postmoderne nach, andererseits wenden sie sich, nach dem Durchgang durch eine Phase der Dekonstruktion überkommener Erzählmuster und Sprachformen, wieder einer Reetablierung traditioneller Schreibweisen zu, die allerdings ohne die vorangehende Dekonstruktion einer allein mimetischen Sprache nicht denkbar ist. Besonders deutlich lässt sich dies am Schreibprogramm der sogenannten Tetralogie, der Langsamen Heimkehr, der Lehre der Sainte-Victoire, der Kindergeschichte und des Stücks Über die Dörfer erkennen. Dieses entfaltet aus dem Rückgriff auf die literarische und ästhetische Tradition einen Gestus der Rekonstruktion. Er führt die intertextuelle und die psychologische Ebene, die Handkes Texte schon immer eröffnen, in zweifacher Hinsicht zusammen. Einerseits durch den psychologisch begründeten Entwurf einer idealen Biographie Handkes von sich selbst als Autor und Künstler. Andererseits durch die Entwicklung einer Kunstlehre, einer Poetologie, die Handke in der Auseinandersetzung mit der Tradition schreibt. Die Tetralogie versucht somit insgesamt, primäre Sozialisation, die Entstehung des Selbst durch Sprache und Erziehung, und sekundäre Sozialisation, die Herausbildung des Künstlers in unterschiedlichen ästhetischen Konfigurationen nachzustellen. Die Langsame Heimkehr beschreibt eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Selbst, ihre Beschreibung von äußerer Wirklichkeit zielt in ihrem Kern auf eine Abbildung psychischer Repräsentanzen. Die Lehre der Sainte-Victoire macht aus dieser Urgeschichte der Sozialisation einen Mythos von der Geburt des Künstlers; Herausbildung des Selbst und Entstehung von Autorschaft stellt sie als ein- und denselben Prozess dar. Die Kindergeschichte liefert den authentischen Beleg für den Zusammenhang zwischen den Gesetzen des Psychismus und der Imagination, der diese Kongruenz ermöglicht. In der Erinnerung an die Geschichte mit dem Kind wird eigene Kinderzeit rekonstruiert. Das dramatische Gedicht Über die Dörfer schließlich formuliert ausgehend von diesen Voraussetzungen einen Aufruf, der eine zweite Heimkehr beschwört: Über die Dörfer denkt sich der Autor zu seiner wirklichen Heimat zurück und verwandelt diese zu einem psychischen wie ästhetischen Inbild. Die darauf folgenden erzählenden Texte vom Chinesen des Schmerzes und von der Wiederholung verbinden diese autobiographisch zentrierte Rückkehr des Autors zu den eigenen Ursprüngen mit einer erneuten Rückbesinnung auf die literarische Tradition. Beide Texte zeigen, dass Handke unter veränderten Bedingungen zu einer mimetisch orientierten Schreibweise zurückkehrt. Dabei sind seine Texte nicht nur durch Heideggers ontologische Denkfigur einer vorgängigen Sprache bestimmt. Sie stellen sich auch wie dieser Philosoph den besonderen Anforderungen, welche die Moderne, in der Diktion Heideggers die technische Welt, für die poetische Sprache mit sich bringt. Unter diesen Voraussetzungen ist ihr Rückgriff auf die Tradition durchaus kritisch. Doch obwohl das
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Prinzip mimetischer Repräsentation von Handke durchaus als Problem bewusst gemacht wird, wendet er sich sowohl von der Selbstreflexion moderner Literatur als jetzt auch vom experimentellen Schreiben ab. An die Stelle einer bloßen Mimesis von Wirklichkeit versucht er neue Sehweisen zu rücken, die zwar nicht mehr an den erzählten Zusammenhang eines Textes gebunden, aber doch dazu geeignet sind, diesem im freien Spiel des Erzählens wieder eine abbildende Funktion zuzuweisen. Deshalb geht es bereits im Chinesen des Schmerzes nicht nur um einen Erzähler, der handelnde Figur ist, sondern zugleich um das Erzählen des Erzählens selbst, das vor allem die späten Texte Handkes bestimmen wird. Diese Doppelschichtigkeit entfaltet einerseits eine psychologische Konstellation, andererseits eine philosophisch fundierte Selbstreflexion, die eine ontologische Prägung erhält. Beide gehen ineinander über und sind durch keine scharfe Grenze voneinander getrennt. Mit der archäologischen Rekonstruktion eines früheren Wohnens, die auf nichts anderes zielt als auf eine ontologische Rekonstruktion des Wohnens im Sein, erzählt der Chinese des Schmerzes von der psychologischen Situation einer Entfernung vom Ursprung und schildert zugleich die Versuche, diese Zustand zu überwinden. Die Schwelle ist nicht allein das Zeichen für eine verlorene Vergangenheit im historischen wie existentialontologischen Sinn, sondern sie markiert auch die Möglichkeit des Eintritts in eine andere Ordnung. An diese Denkfigur schließt der Text der Wiederholung an. Er zielt auf ein Wiederfinden, das auf dem Umweg über die Kindheit die Voraussetzungen zu einem befreienden Erzählen schafft. Dass er dabei noch deutlicher als vorangehende Texte der Spur einer autobiographischen Einschrift folgt, weil die Reise ins Neunte Land auch in den Kindheitsraum des Autors führt, schließt ebenfalls an die ontologische Prägung an, die hier wie im Chinesen des Schmerzes Handkes Erzählen bestimmt. Dieser folgt, ohne ausdrücklich darauf Bezug zu nehmen, einer zivilisationskritischen Überlegung des Philosophen: „Denn es bedarf der Besinnung, ob und wie im Zeitalter der technisierten gleichförmigen Weltzivilisation noch Heimat sein kann“ (Heidegger EF, 243). Es gehört zur Besonderheit von Handkes Schreiben, dass diese Phantasie von Heimat sowohl mit der Vorstellung eines in die Sprache Gehens verbunden ist als auch ganz unmittelbar mit einer Rekonstruktion des Raums der eigenen Sozialisation, insbesondere aber dem Kindheitsraum. Zur Metapher für Heimat wird ganz entschieden Slowenien, das im „Neunten Land“ abgebildet wird, dazu gehören auch die Orte und Personen der Familiengeschichte, die spätere Texte immer entschiedener zu strukturieren beginnen und die in Immer noch Sturm eine psychologisch aufschlussreiche Verdichtung erfahren. Damit erweist sich die Wiederholung als eine entscheidende Schnittstelle für das nachfolgende Werk. Sie zeigt, dass für Handkes Erzählen die Verbindung von ontologischer und biographischer Recodierung unhintergehbar ist. Dabei folgt der Text dem Schema einer Dreiteilung, die das Wiederfinden als Erfüllung einer Verheißung begreifen lässt. Der als Titel gewählte Begriff der ‚Wiederholung‘, der zunächst in Heideggers Sein und Zeit (Heidegger SuZ 385; UN 131) erwähnt wird, lässt sich in Handkes Text in dreifacher Hinsicht ver-
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stehen. Zum einen bezieht er sich auf das bisherige Schreiben Handkes selbst: Der Text erweist sich als Nachschreiben und Zusammenfügen bisher bestimmender Themen. Stringenter und bruchloser als im Chinesen des Schmerzes erfolgt das Zusammenfügen jetzt ohne eine durch Gewalt bestimmte Wende in der Geschichte des Protagonisten, denn der Freiraum des Erzählens, nach dem Handke immer sucht, erhält hier durch den phantasierten Raum in der „Savanne der Freiheit“, im „Neunten Land“ sein zentrales Bild. Zweitens meint ‚Wiederholung‘, dass auch dieser Text der autobiographischen Spur folgt, die vorangehende Erzählungen Handkes prägt. Wie in der Lehre der Sainte-Victoire und im Chinesen des Schmerzes hat das Erzählen wiederum ein Zurückgehen in die Kindheit zur Voraussetzung. Bestimmende Phasen der eigenen Sozialisation werden dem Text im Modus einer Wiederholung eingeschrieben. Dabei scheint die geschilderte Erfahrung mit dem gesuchten Bruder noch weiter zurückzureichen als in der Langsamen Heimkehr: Bis in einzelne Motive greift der Text der Wiederholung jetzt auch auf die Bilder und Situationen einer kindlichen Sozialisation zurück, die bereits in den Hornissen das Gewebe von Erinnerung und Entwurf bilden. Der erste Teil des Romans „Das blinde Fenster“ erinnert an eine signifikante Szene des frühen Textes, in welcher der Erzähler seinen Bruder durch ein nicht ganz sauberes Fenster wahrnimmt und sich für ihn das eigene Bild und das Bruderbild übereinander spiegeln. Noch in den Hornissen steht diese visuelle Konfiguration weitgehend im Zeichen einer Verdrängung. In der Wiederholung dagegen wird vor allen Dingen der sich im Bild der Verdrängung zur Geltung bringende Wunsch thematisiert. So wie auch der Gedanke an eine Frau sich nicht als „Begehren oder Verlangen, sondern allein als das Wunschbild von dem schönen Gegenüber“ zur Geltung bringt (W 15), versenkt sich der Betrachter des blinden Fensters in die möglichen Bilder anderer, zu denen er in Beziehung treten möchte: doch die Umrisse betrachtete ich durch ein in den Glaswänden gespiegeltes Gesicht, das mein eigenes war. Mithilfe des Abbilds, das mich nicht im besonderen zeigte – nur Stirn, Augenhöhlen, Lippen –, konnte ich von den Silhouetten träumen, nicht allein der Passagiere, sondern auch der Hochhausbewohner, wie sie sich durch die Zimmer bewegten oder hier und da auf den Balkonen saßen. (W 17)
Doch bereits jetzt verlangt dieser Blick auf andere, der dem eigenen Spiegelbild eingezeichnet ist, nach der Schrift und nach der Sprache. Das noch unsichere Ich, das stolpert (W 45), das die Welt nur innerhalb der Grenzen des Internats kennt, das sich am Rande des Ortes „hinter den Gärten“ (W 49) aufhält, erfährt in der Begegnung mit einem Schriftmaler schon früh eine von ihm als magisch empfundene Bedeutung der Schrift. „Wenn ich ihm zuschaute […] erblickte ich in der entstehenden Schrift die Insignien eines verborgenen, unbenennbaren, dafür umso prächtigeren und vor allem grenzenlosen Weltreichs“ (W 50). Das In-die-Schrift-Gehen ist gleichzeitig mit der Farbe Blau verbunden (W 52), diese erscheint als Zeichen für das Eintreten in Leben und Zeit. Die Stationen und die Orte einer Jugend, die weitgehend unter dem Gesetz eines Sprachverbots stand,
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weil nach dem Verschwinden des ältesten Sohnes die slowenischen Laute im Haus verboten sind (W 71), lassen den Wunsch nach einem Namen-Geben und Singen (W 75) entstehen, das die Mutter ausübt. Beide sind in Handkes immanenter Poetologie Grundmuster des Ästhetischen. Dies führt auf den dritten Gesichtspunkt, den die ‚Wiederholung‘ in diesem Text beinhaltet: Sie weist auf die Notwendigkeit, dass jeder Schritt ins Leben zuerst in die Sprache führt und ein Aneignen von Vorgegebenem ist, ein Hören und Entsprechen, das sich in der „Gleichzeitigkeit von Anwesendem und Abwesendem“ vollzieht (W 257), die ein Wohnen und Entbergen (W 262–277) ermöglicht, die einem existentiellen Weltverständnis folgen. Bereits der erste Teil des Romans macht die ‚Wiederholung‘ deshalb zu einem Versuch, in die Sprache zu gehen, zu einem Sprechen und Hören zu kommen, das sich als ein Entsprechen im Sinne Heideggers begreifen lässt. Das Sprachverbot des ersten Teils motiviert zugleich die Zuwendung zu einem voraussetzungslosen Wahrnehmen, das allein aus der Erinnerung hervorgehen kann. Auch dies nimmt ein Thema von Handkes früherem Werk auf. Der Abschnitt „Die leeren Viehsteige“ beschreibt nichts anderes als eine Aneignung der Sprache, die sich aus dem Erinnern begründet. Das leere ‚bruissement‘ des Erinnerten und Gewesenen kann im Medium der Erinnerung wiederkehren und zu einer Erzählung werden, „die immer wieder übergehen kann ins offene Erzählen, ins größere Leben, in die Erfindung“ (W 102). Dieser Weg in die Sprache führt hier allerdings nicht auf eine Schrift im Verständnis Derridas, nicht auf eine vorgängige Ordnung, die allein die Exzentrizität des sprechenden und schreibenden Subjekts verbürgt, sondern sie weist den Erzähler Handke auf die Dinge selbst. Es ist charakteristisch für sein Erzählen, dass Landschaftsbilder und die Beschreibung der Schrift einander immer wieder überblenden, Landschaftsbild und Schriftbild werden als identisch gefasst, sie erscheinen gleichermaßen als Naturzeichen, die gerade von der „Erdenschwere“ durch „Entzifferung“, durch Einfügen in eine „Luftschrift“ befreit werden können (W 115). In mich aufgenommen hatte ich die Einzelheiten des Tals auch zuvor, nun aber erschienen sie mir in ihrer Buchstäblichkeit, eine im nachhinein, mit dem grasrupfenden Pferd als dem Anfangsbuchstaben, sich aneinanderfügende Letternreihe, als Zusammenhang, Schrift. Und diese Landschaft vor mir, diese Horizontale, mit ihren, ob sie lagen, standen oder lehnten, daraus aufragenden Gegenständen, diese beschreibliche Erde, die begriff ich jetzt als „die Welt“; und diese Landschaft, ohne daß ich damit das Tal der Save oder Jugoslawien meinte, konnte ich anreden als „mein Land!“; und solches Erscheinen der Welt war zugleich die einzige Vorstellung von einem Gott, welche mir über die Jahre geglückt ist. (W 114)
Das Erscheinen der Welt folgt zugleich einer Lautschrift, deren E-O-A-E als Klangbild ein Wahrnehmungsbild assoziieren lässt, ohne es dem Begriff zu unterwerfen (W 116). Der Verzicht auf den Anspruch der Abbildung wie auch auf beschreibende Kategorien, die Unterordnung unter die fremde Sprache des Slowenischen setzen die Wahrnehmung frei. Diese markiert auch hier eine existentielle Wendemarke, die bereits im Chinesen des Schmerzes in eine
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poetische Formel gefasst ist. Das Hölderlin-Wort „Mein ganzes Wesen verstummte“, das hier im Gegensatz zum Kurzen Brief durch die Formel ergänzt wird „und las“ (W 136), führt zunächst in eine Situation der Angst, es schildert die existentielle Figur, die Heidegger als ein Hinausgehaltensein ins Nichts bezeichnet (Heidegger SuZ 168). In-die-Sprache-Gehen heißt hier zugleich, sich der Zeitlichkeit zu stellen, es erfordert das Annehmen des eigenen Todes. Dieses Bedenken der eigenen Endlichkeit verwandelt die Wiederholung der kindlichen Wahrnehmungen wie auch den Rückgang in das slowenische Land des Bruders und der eigenen verlorenen Kindheit in eine existentielle Situation der Geworfenheit. Sie vollendet sich in der Karstlandschaft, in die der Deutschsprachige als ein Fremder eintritt, dem alles fehlt, was die Alteingesessenen auszeichnet (W 141, 149). Weil er die Sprache dieser Gegend nicht einfach sprechen kann, sondern selbst die wiedergefundene Sprache erst erlernen muss, macht er eine widersprüchliche Erfahrung. Die Sprache ist für ihn ein Medium der Befreiung und der Begrenzung zugleich. Einerseits bewahrt sie die „Phantasien der Wiederholung“, die Inbilder der Kindheit, zu denen sich der Erwachsene zurückphantasiert. Die Schreibhand, die im Dunkeln „Strich um Strich, Stift und Finger“ zusammenwachsen lässt und ein Aufzeichnen ermöglicht, bewirkt eine Selbstfindung (W 161). Andererseits ist die Schrift durch ihre Fähigkeit zur Aufbewahrung des Erfahrenen auch ein Medium der Zeitlichkeit und der Begrenzung. Sie verweist auf eine vorgängige Ordnung des Seins und bindet den Einzelnen in die Formationen einer Sozialisation zurück, die nicht gewaltfrei ist und die immer noch eine Grenze zwischen Wörterbuch und Weisheitsbuch zieht (W 206 f.). Während der Protagonist in der Lehre der Sainte-Victoire noch ein Autor werden muss, Loser im Chinesen des Schmerzes seine Befreiungserlebnisse bereits als Erzähler hat, wendet sich die Hauptfigur in der Wiederholung völlig von der Schrift ab und erschließt sich zunächst den Freiraum der Sprache: Sie geht in eine mythische Ordnung des vorschriftlichen Zeitalters zurück. Dies beginnt mit einem Gestus, der schon frühere Texte Handkes kennzeichnet: Durch eine Rückwendung zum Märchen ohne Handlung, zum „Ein-Wort-Märchen, mit der Kraft von Weltbildern“ (W 205). Es ist der Versuch, den Punkt zu finden, an dem die Wörter und die Sachen noch identisch sind und an dem die sprachliche Repräsentation der Wirklichkeit noch nicht infrage gestellt ist. Die entscheidende Wende in der Wiederholung ist indessen die Erkenntnis, dass diese Freiheit des Ursprungs nur jenseits der Geschichte, in der Erfahrung des Posthistoire möglich ist. Zugleich ist dieses Ende der Geschichte, das allein einen Neuanfang hervorbringen kann, als Katastrophe gedacht. Die Savanne der Freiheit ist der Ort, an dem die letzte Inschrift der Mayas gefunden wird, sie weist zugleich auf den Untergang dieses Volks, der mit der Ablösung der öffentlichen Verehrung durch die private Andacht beginnt. Weil die Schrift einerseits die Erfahrung der Gewalt bewahrt, die Schriftlosigkeit andererseits den Untergang besiegelt, ist das Schreiben des Autors nur noch als Nachzeichnen einer mythischen Rede möglich. Damit zielt die Wiederholung auf ein Schreiben, das sich dem Verfügungsbereich des Subjekts weitgehend entzieht und den Sprachzeichen der Natur folgt.
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Letter um Letter, Wort für Wort, soll auf dem Blatt die Inschrift erscheinen, in den Stein gemeißelt seit altersher, doch erkennbar und weitergegeben erst durch mein leichtes Schraffieren. Ja, meine weiche Bleistiftspur soll sich verbinden mit dem Harten, dem Lapidaren, nach dem Vorbild der Sprache meiner Vorfahren, wo der Ausdruck für den „eintönigen Finkenlaut“ abgeleitet ist von dem Wort für einen einzigen „Buchstaben“. Denn ohne die Wortwinkel ist die Erde, die schwarze, die rote, die begrünte, eine einzige Wüste, und kein Drama, kein Geschichts-Drama will ich mehr gelten lassen als das von den Dingen und Wörtern der lieben Welt. (W 219 f.)
Der dritte Teil mit dem Titel „Die Savanne der Freiheit und das neunte Land“ führt den Erzähler in die Ursprungslandschaft eines Karst-Gebirges. Das Bild des Tunnels, bisher durchgängig Erlösungsmetapher, wird durch das ebenfalls wiederaufgenommene Motiv des Rucks ersetzt, der im früheren Werk Handkes als ein Gegenwartsruck bezeichnet wird und hier zugleich als ein Kampf verstanden ist (W 234). Der Weg in den Karst löst zugleich die Bedeutung des Namens Kobal ein, der auf eine Grenznatur weist, gerade die Randexistenz dieses Mannes macht ihn zu einer Orientierungsfigur. Sie führt ihn, stellvertretend für viele, an eine Grenze, die bereits im Chinesen des Schmerzes angesprochen ist und die sich auf Heideggers Vorstellung von der Grenze als dem Zwischen eines Unterschieds beziehen lässt. Der Weg durch das Karstgebirge, der im Zeichen eines ersten Erlösungstraums steht, der an den wandernden Ausgestoßenen mit dem Seesack in den Hornissen erinnert (W 238), wird zum Ort einer existentiellen Prüfung, die den Protagonisten der Wiederholung Szenen aus den Hornissen nachleben lässt. Das Hören des busfahrenden jungen Mannes weist erneut und auf ganz andere Weise auf die „Gleichzeitigkeit von Anwesendem und Abwesendem“ (W 257). Es führt nicht nur in eine neuerliche Erfahrung des Ichverlusts, ausgedrückt durch die verzweiflungsvollen Traumbilder des Doppelgängers, durch den Dual der slowenischen Schriftsprache (W 261), sondern auch in die Phantasie des Krieges (W 264). Allein dieser Durchgang durch die Bilder der Gewalt und des Selbstverlusts ermöglicht einen Neuanfang. Er begründet sich aus der Erinnerung an die eigene Geburt (W 274), aus einem Gestus des Benennens (W 275), dem Innewerden der Urbilder der Natur (W 277) und schließlich dem mythischen Erzählen. In der Abfolge dieser Bilder und geschilderten Zustände wiederholt und komprimiert die Wiederholung Wendemarken früherer Texte Handkes. Das ziellose Umherschweifen im Karst bezieht sich auf eine Situation im Gewicht der Welt (W 283), der Rückblick auf Pindar nimmt die Kindergeschichte und Über die Dörfer auf (W 288), die Feldhütte des Erzählers erinnert an den Geburtsort des Erzählers in der Lehre der Sainte-Victoire (W 289), die „Orgie des Einander-Erkennens“ beruft die sexuelle Schlüsselszene im Chinesen des Schmerzes. Überdies verbinden sich durch die Erinnerung an die Gegend Orgas, die als Land der Demeter und als Fruchtland bezeichnet wird, Sexualphantasien und Raumphantasien. Im Zentrum dieses Rückgangs zum Ursprung steht deshalb erneut eine Verschmelzung von Körperzeichen und Raumzeichen: Von einer Karstindianerin aus einem Dorf namens Lippa, zu deutsch etwa ‚lind‘, „erfuhr der junge Mensch, herzbewegend, das Vertrauen auf den ersten Blick“ (W 301). Die fortgesetzten psychischen Erschütterungen erinnern nicht nur an die Selbstver-
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sicherung im anderen, die dem jungen Mann einst durch das Antlitz seiner Frau gelang, an eine Annäherung, die zugleich Ich und Du bestimmte. Die Erinnerung macht auch deutlich, dass solche Inbilder nur im Moment der Gefahr wahrgenommen und gewonnen werden können. Jene Nacht in dem Eisenbahnschacht hatte mich gelehrt, dass ein Ort oft erst Inbild wird durch den Nebenort – der Foltertunnel durch den Pioniertunnel –, und so mied ich jetzt eigens die in den Bruderbriefen erwähnten Karstdörfer, im Glauben, diese klarer umreißen zu können durch das Erforschen all ihrer Nachbarschaften. (W 312)
Der Durchgang durch die Gefährdung macht zugleich das wahre Ziel der Suche nach dem Bruder klar: Nicht diesen zu finden hat der Erzähler beabsichtigt, „sondern von ihm zu erzählen“ (W 317). Er selbst erreicht das neunte Land, von dem ihm der Bruder so oft erzählt hat, durch eine Schrift, die einerseits von der existentiellen Erfahrung der Angst geprägt ist, die andererseits in ihrem Zentrum die Beziehung zu einem anderen hat. Das Schreiben aus der Erinnerung an einen anderen begründet eine poetische Rede, die jenseits des „Traums von der Zeitlosigkeit“ eine Heimkehr ermöglicht, ein Absehen von den Feinden, die ihn als Überlebenden der Geschichte der Gewalt noch immer umgeben. Wie der Protagonist im Chinesen des Schmerzes ist auch derjenige der Wiederholung jetzt in der Lage, den großen Zug der Erzählung zu erfahren. Sein Heimweg durch die menschenleere Ebene in den Ort, die ihn wie magnetisiert erscheinen lässt, wird gleichzeitig zu einem Zurückgehen ins Erzählen; dieses Erzählen selbst aber darf nicht mehr zur Schrift erstarren, sondern muss weitergehen. Der Chinese des Schmerzes endet nach der Erfahrung einer existentiellen Situation mit einer Reetablierung des Erzählers. In der Wiederholung findet der Erzähler nicht nur zu einem Erzählen zurück, das von der Gewalt der Schriftordnung frei ist, er fordert zugleich zum Erzählen als der einzigen Möglichkeit auf, die universelle Geschichte der Gewalt vergessen zu können, indem die eigene Geschichte nicht nur wiederholt, sondern zugleich ihre Eigenart und Bedeutung wiederentdeckt wird. Während die Kindergeschichte noch mit einem Aufruf zum mythischen Gesang endet, übt die Wiederholung gerade das Voraussetzungslose, sie sieht ab vom überzogenen Anspruch einer mythischen Erzählweise, weil der Durchgang durch die Geschichte nicht nur die Erfahrung des Posthistoire bewahrt, sondern zugleich eine gewaltfreie Spur in der Schrift der Natur entdecken kann. Dies ist vielleicht eine der auffälligsten Wendemarken Handkes Schreiben. Der Autor begründet ein Schreiben, das die Erfahrungen des Posthistoire übernimmt und annimmt, das offensichtlich auch die Voraussetzungen der poststrukturalistischen Sprachtheorie kennt, die das mimetische Erzählen infrage stellt. Gleichwohl greift es in Kenntnis dieser Voraussetzungen von neuem ein existentialontologisches Deutungsmuster auf. Dieses allererst nimmt die Denkfigur der Dekonstruktion, die viele Texte der postmodernen Konstellation bestimmt, zurück, ohne hinter das Wissen der Moderne in ein begriffsloses Denken und Schreiben zurückzufallen. Aus dieser reflexiven Doppelbewegung begründet sich ein neues Erzählen.
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Paradigmatisch lässt sich am Schreiben Handkes zeigen, dass die unterschiedlichen ästhetischen und diskursiven Entwürfe der postmodernen Konstellation in der Literatur einer vom Widerspruch gekennzeichneten, umfassenden Denkfigur zugerechnet werden müssen. Sie lassen sich auf eine Bewegung des Denkens und Schreibens ein, die nicht feste Fragen und Antworten kennt, sondern allein Konstellationen von Lösungen entwirft. Sie beziehen ihre Evidenz allein aus dem ästhetischen Spiel des immer neu ansetzenden Entwurfs, den das Erzählen bewahrt. Lapidar vermerkt ein Notat in Am Felsfenster morgens: „Die Wiederholung: Ich erzähle, unterschwellig, das Erzählen“ (AF 330).
7.3 Formen poetischer Initiation: Die Abwesenheit (1987) Der 1992 verfilmte Text aus dem Jahr 1987 markiert den Übergang zu einer neuen Form epischen Erzählens, die sich ausdrücklich am traditionellen Gattungsmuster des Märchens orientiert. Neben der visuell wahrnehmbaren Wirklichkeit, die den Gesetzen der Realität entspricht und neben den für das epische Erzählen typischen Handlungsmustern etabliert sich eine autonome Ordnung. Sie reicht als einfacher Bruch der Realität in den Bezirk des Märchenhaften; als eine Strategie der berichtigenden Unordnung folgt sie dagegen den Gesetzen des phantastischen Erzählens (Jacquemin 1975, 46). Beides führt dazu, dass die handelnden Personen lediglich als Typen standardisiert werden und weder über Psychologie noch Tiefenschärfe verfügen. Unterstrichen wird diese Darstellungsstrategie dadurch, dass das Erzählen zu Beginn des Textes keine Fokalisierung vornimmt, die der identifizierbaren Perspektive eines einzelnen Erzählers untersteht. Stattdessen werden nebeneinander tretende und sich überlagernde Bilder präsentiert, die aus Blicken in Augenhöhe hervorgehen und für den Leser eine Landschaft zeigen, ohne dass ein betrachtendes Subjekt benannt wird (A 8). Die Grundfigur dieser Visualisierungstechnik zeigt sich in dem Bild, das den ersten Absatz beschließt. Es ist eine leere Wand in einem Zimmer, auf die der Abglanz des Himmels draußen fällt, eine visuelle Konfiguration, die an Hoppers Sun in an empty room erinnert (Renner 1990, 77). Wie das Bild des amerikanischen Malers markiert es eine Wechselbeziehung zwischen Außen- und Innenraum, die sich ohne Beteiligung eines wahrnehmenden Subjekts zu vollziehen scheint: Der Text operiert an dieser Stelle wie Prousts Laterna magica (Proust Pl I, 9 f.). Erst danach lenkt er den Blick des Lesers auf einen Gegenstand in diesem Bildraum, der zunächst ohne Bedeutung zu sein scheint, doch in der nachfolgenden Geschichte wird, nicht anders als in einem Märchen, aus diesem leeren ein handlungsbestimmendes Zeichen. Es ist ein kleiner Abreißkalender, der eine Rolle unter den anderen Notationssystemen spielen wird, die der Text erwähnt. Auch das folgende Bild erscheint im Text eigentümlich autonom und von individueller Wahrnehmung unabhängig. Es ist die Darstellung eines Gebäudes, das von Innen beleuchtet ist und bei dem einzelne Fenster offen stehen, hinter denen man allenfalls die bewegungs- und blicklosen Silhouetten der Bewohner
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erkennen kann. Der magische Effekt, der von dieser Innenbeleuchtung des Hauses ausgeht, rekonstruiert den Eindruck des Unheimlichen, den auch Magrittes Empire des Lumières II mit einer vergleichbaren Konstruktion eröffnet (Renner 1990, 43, 90). In genauem Gegensatz dazu steht die Beschreibung der Fassade des Hauses, wohl eines Altersheims, deren Detailgenauigkeit an die Schilderung des Landsitzes der Briests bei Fontane erinnert, die Fassbinders Verfilmung zum Ausgangspunkt seiner visuellen Adaption narrativer Strategien macht (Renner 2019, 558). Diese bildgeleitete und distanzierte Beschreibung verbindet sich mit einer psychologisierenden. Die Blickführung, die sie inszeniert, erscheint wie der Zoom in einem Film, der sich schließlich auf einen einzelnen Raum und in diesem auf ein Notizbuch richtet, das jetzt an die Stelle des Abreißkalenders tritt. Seine Rolle bleibt zunächst unbestimmt, zweifellos aber weist es bereits auf das zentrale Thema der Zeichenbildung durch Bild und Schrift hin, das auch diesen Text insgesamt bestimmt, bevor es später im Bildverlust offen thematisiert wird. Gefüllt ist dieses Notizbuch mit zwei unterschiedlichen senkrechten Reihen, einerseits sind es Zeichen, die an eine Bilderschrift erinnern, andererseits handelt es sich um sprachliche Formeln, die in einer kindlichen Handschrift verzeichnet und bisweilen mit einem Ausrufezeichen versehen sind. Sie erscheinen wie Übersetzungen der kalligraphischen Zeichen in Schrift, zugleich markieren sie eine Sprachebene, die ins Feld der poetischen Sprache weist. Die Blickführung, die den Leser zu Beginn bestimmt, setzt sich anschließend mit einer Beschreibung fort, die den Blick eines alten Mannes in einen Raum schildert. Er hat eine doppelte Funktion, zum einen verzögert er die Zeit der Wahrnehmung, zum anderen zielt er darauf, Naturzeichen zu entziffern. Dies wird deutlich etwa bei seiner Beobachtung eines Lindensporen, der beim Herabfallen der drehenden Bewegung eines Fallschirmspringers ähnelt, bevor er im offenen Handteller des Alten landet. Diese Beobachtung wird aufgezeichnet: Im Buch des Alten entsteht ein Schriftbild, das allerdings nichts „von dem augenblicklich Gesehenen“ widerspiegelt, zudem werden diese Zeichen wiederum durch eine Kolonne von Worten ergänzt. Dieser alte Mann ist kein Beobachter im traditionellen Sinn, auch reagiert er nicht auf Töne, die von außen kommen. Vielmehr scheint er „immer inständiger von den Ereignissen weg“ zu hören, statt des Lärms der Zivilisation nimmt er die Geräusche der Natur wahr und scheint sich in diese einzuwiegen (A 18 f.). Auch die zweite Protagonistin wird durch Bilder eingeführt und charakterisiert. Auf den Wänden des Zimmers ist eine Fotoserie zu sehen, die eine Frau in unterschiedlichen Stadien ihres Lebens zeigt, immer mit einem Ausdruck von „Ausgesetztheit und Verlassenheit“, gleichzeitig aber mit einem „unbesiegbare[n] Selbstgefühl“ (A 21). Diese junge Frau verkündet ein Programm der völligen Selbstbeschränkung. Sie will ganz bei sich selbst bleiben und sich nicht verändern (A 59), Bilder möchte sie nur „zufällig sehen, ohne Absicht“ und auch die „Wissensbücher“ weist sie zurück (A 60). Sie hat kein Interesse an Reisen, und glaubt nicht „an das Wunder auswärts“ (A 61). Gleichzeitig bewahrt sie eine auffällige Distanz zu anderen, sie ist durch den „Unwillen“ gekennzeichnet, sich auf andere Menschen einzulassen. Mit ihr, so der Vorwurf, „sei keine Beständigkeit,
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und damit kein Alltag möglich“ (A 25). Diese Frau akzeptiert auch keine landläufigen Koordinaten für ihre Wahrnehmung. Die geographische Bezeichnung Süden bedeutet für sie allein Sonne und Meer, während sie Norden oder Westen ohnehin nicht interessieren (A 25). Auch die dritte Person, der Soldat, wird zwar nicht durch Bilder, wohl aber von außen, durch den Blick eines anderen geschildert: In der Anrede durch seine Mutter, die ihn als einen Abwesenden charakterisiert, als jemanden, der „nirgends vorhanden“ ist (A 30 f.). Seine Abwesenheit deutet sie sogar als eine Waffe, die er gegen andere benutzt (A 32). Auch die nächste Person wird durch eine Blicksteuerung erfasst. Der Text beschreibt den leer gewordenen Warteraum, die Eltern und der Soldat sind verschwunden. In einem abrupten Schwenk beschreibt er dann das Innere eines Spiellokals und dort einen Spieler, den vierten Protagonisten in diesem Märchen.
Der Aufbruch Als der Spieler das Lokal verlässt, folgt ihm der Blick des Erzählers. Dieser schildert, wie er über die Bahngeleise nachhause geht und dabei zunächst unzusammenhängend zu sprechen beginnt (A 43). Dabei bezeichnet er sich selbstkritisch als den „Punkt, in dem sich die Lieblosigkeit bündelt“ (A 45 f.), er charakterisiert sich als Menschenfeind und Finsterling und beschließt schließlich, ein neues Leben zu beginnen. Als er zu schreiben beginnt, weil für ihn sinnvoll allein ist, was Schrift wird (A 48), scheint sich die Natur zu beleben, eine Bewegung geht durch die Halme des Feldes, die „nicht nur vom Blasen des Winds“ herrührt (A 49). Damit ist das Leitthema des Textes vorgezeichnet, das später am Beispiel des alten Mannes noch weiter entfaltet wird. Dessen Schreiben wird überdies auch als ein Entziffern charakterisiert. Er richtet seine Aufmerksamkeit zunächst auf eine römische Inschrift und das Notat, das er anschließend in sein Buch aufnimmt und ausdrücklich als lesbar bezeichnet, ist wiederum eine Koppelung von Zeichen und Wort (A 52). Seine Tätigkeit des Entzifferns mobilisiert eine Fähigkeit, die im Verlauf der Sozialisation verloren ging. Dies erklärt, warum sich der Alte ausgerechnet in einer Schar kindlicher und „halbwüchsiger Idioten“ wiedererkennt: „Er und die Schar gehören zusammen; an ihr begegnet ihm unversehens etwas, von dessen Existenz er bisher nicht einmal geahnt hat“ (A 53), heißt es, bevor er „den Seinigen nachgeht“ (A 54). Auch der Soldat wird durch andere dazu gebracht, sich auf den Weg zu machen. Er folgt zunächst einem Festzug, wie man vor allem an der Kleidung der jungen Frauen bemerken kann, schließlich durchquert er einen Fußgängertunnel und gelangt „in eine andere Erdgegend (A 58)“. Der Aufbruchsort des Spielers dagegen ist ein Brachland mit Steppengras, es ist ein Ort, in dem es verfallene Zeichen einer früheren Zivilisationen gibt, zugleich ist es ein Naturort, auf einem von Zweigen gebildeten Pfahl befindet sich ein Nest mit einem Wanderfalken (A 67). Er besteigt mitten in der Stadt einen Zug, der wie ein Sonderzug aussieht. In einem seiner Abteile treffen die vier Protagonisten
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zum ersten Mal aufeinander und setzen dann ihre Reise gemeinsam fort, ohne dass darüber eine ausdrückliche Vereinbarung getroffen worden wäre. Auch das ist ein märchenhaftes Arrangement. Logik oder Kausalität des Erzählens gelten nicht, die Figuren finden sich in einer Szene, in einem Bild wieder, das ihr einziges Bezugsfeld zu sein scheint. Sie erzählen entweder von etwas, das sie der übrigen Welt entfremdet oder sie stellen dieser ein Alternativbild entgegen. Für die gewöhnliche Welt sind sie in der Tat abwesend, vieles spricht dafür, dass mit ihrer räumlichen Entfernung auch eine zeitliche verbunden ist. Zweifellos treten sie in einen Märchenraum ein, der sich jenseits der Zeit befindet. Begründungslos auch beginnen diese Personen zu erzählen, als sie sich zusammengefunden haben.
Erzählspiel und Lebensspiel Die Frau berichtet von ihrem Herumirren (A 73), das dazu führte, dass sie schließlich in eine Anstalt eingeliefert und den Studenten im Hörsaal als psychisch Erkrankte vorgeführt wurde. Was Außenstehenden als Krankheitsbild erschien, ist gerade das, was die dort Versammelten vermissen. Ihnen öffnet die Frau die Augen „für etwas ihnen bis dahin unbekanntes“ (A 75), sie weckt in ihren Zuhörern das Fernweh, wird für diese zu einer Heldin. Als sie ihre Geschichte beendet hat, fährt der Zug an, aus dem Fenster blickt man auf ein Hochhaus mit der Aufschrift HOTEL EUROPA (A 77). Der Alte führt sich durch einen auffälligen Singsang ein, in dem er über die Zeit berichtet, in der in der „Kindheit der Völker“ alles das, was die Menschen nicht kannten, mit Namen einer imaginären Geographie versehen war. Die Quellen des Nils im Süden, der Kaukasus im Osten, das legendäre Atlantis im Westen und Ultima Thule im Norden. Zugleich markiert er den historischen Ort für die Entstehung der poetischen Sprache. Denn während die mythischen Namen in dem Maß verschwinden, wie die Welt erforscht wird und die Orte in der wissenschaftlichen Topologie neue Namen erhalten, werden die alten Bezeichnungen in die Epen verschoben, die ihnen eine neue Bedeutung zuweisen, die Anlandung von Noahs Arche auf dem Berg Ararat gibt ein Beispiel dafür. Einer traditionellen Vorstellung folgend entfalten das kindliche Benennen und die mythischen Namen aus der Kindheit der Menschheit gleichermaßen die Koordinaten für die Erfahrung des Wirklichen: „der Name ist der Gast der Wirklichkeit!“, heißt es lapidar (A 81; Lacan Schrr I, 61–70). Die Rede des Alten macht allerdings klar, dass diese Zeit unwiederbringlich verloren ist, es gibt keine Wiederholbarkeit, aber jetzt vertraut der Alte im Gegensatz zu früher im Ernst und nicht im Spiel auf „die Kraft der Orte. Ich glaube an die Orte, nicht die großen, sondern die kleinen“. Es ist der Entwurf einer Utopie denn die Kraft der Orte speist sich daraus, dass „[…] dort nichts mehr und noch nichts geschieht. Ich glaube an die Oasen der Leere, nicht abseits, sondern inmitten der Fülle hier“ (A 82). Die Orte, die aufgesucht werden, sind Möglich-
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keiten für eine „Verwandlung der Dinge“, die gerade auf den „Fundamenten der Leere“ möglich ist (A 83).
Der Weg ins andere Land Im Modus des märchenhaften Erzählens werden einige typische Strategien und Orientierungen von Handkes Poetologie noch schärfer konturiert als in seinen anderen Texten, dies gilt insbesondere für den Wechsel zwischen dem beschreibenden Erzählen und der Präsentation von Orten und Szenen, die der Realität entzogen scheinen. Dabei lassen sich einige Leitworte durchaus doppelt lesen, weil sie über die bloße Denotation hinaus auch eine philosophische Bedeutung andeuten, die in Bezug zu ähnlichen Konstellationen in Handkes Texten steht. Auch die Wandernden des Märchens kommen „vor einer Art Grenze“ (A 86) in einer Lichtung an und nicht zufällig ist diese der Ort einer Verwandlung. Einerseits ist diese Szene im Sinne Heideggers ontologisch codiert, weil sie das Wort von der ‚Entdeckung‘ in der Lichtung des Seins, das dieser als Metapher benutzt, im Erzählen zu visualisieren scheint (GA 21, 133; Huber 2005, 351). Andererseits erhält sie märchenhafte Züge gerade dadurch, dass sie dabei auf eine moderne visuelle Strategie zurückgreift. Als die vier, wie abgerückt durch eine Filmkamera nach Beendigung ihrer Mahlzeit am Tisch gezeigt werden, verwandelt sich die Szene, als folge sie einem filmischen Morphing. Die Lichtung „[…] hat jetzt im Umkreis die Gestalt eines Gartens, wo keine Zeit mehr zählt. Keine Geräusche werden vernehmlich als die des Gartens hier“ (A 93). Es ist signifikant für Handkes Erzählen, dass es, dem Märchen wie der epischen aventiure vergleichbar, solchen Augenblicken selten Dauer verleiht. Sie haben keinen Bestand, weil sie allein durch die Bewegung des Erzählens wie der Wahrnehmung gestiftet sind. Sobald diese mediale Fokalisierung endet, brechen sie zusammen. So geschieht es auch hier. Was sich als Idylle, als utopischer Moment oder als märchenhafte Szene zeigt, wird durch das Eindringen von Überresten der historischen Zeit in die Märchenzeit zerstört. Gegenstände der Zivilisation, Überreste und Abfall werden ebenso sichtbar wie ein eingestürzter Hochsitz, und die Wolken werden durch gleichfarbene Kondensstreifen miteinander verbunden, am Ende scheinen alle Zeichen des Aufenthalts der vier Wanderer gelöscht (A 97 f.). Für den Alten hat es ein Leben ohnehin „immer nur als kleine Weile gegeben, nie als eine große“ (A 96). Dies genau ist das poetologische Prinzip, dem dieser Text folgt. Es ist eine Darstellung einer Serie von erfüllten Augenblicken, und der Text insgesamt ist ein Versuch, diesen im Akt des Erzählens Dauer zu verleihen. Doch alles, was erreicht werden kann, ist eine „Dauer im Wechsel“ im Goetheschen Sinn. Sie markiert eben die Nahtstelle, die auch bei Goethe das epische Erzählen und das Märchen vergleichbar macht. Zudem ist der Weg dorthin durch retardierende Elemente bestimmt, die durch den Rhythmus des Erzählens vorgegeben sind. Eine ganz andere Funktionalisierung des märchenhaften Szenarios bestimmt die Szene, in der deutlich wird, dass der Spieler einer der Zuhörer im medizinischen
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Amphitheater war, wo er sich bereits in die als krank vorgeführte Frau verliebte, weil ihn ihre „Ausweglosigkeit“ faszinierte. Er schildert sein eigentümlich ambivalentes Verhältnis zu ihr, dessen psychogrammatische Prägung verstörend ist, weil sie völlig unterschiedliche Empfindungen vereint. Er sah, so berichtet er, „in ihrem Gesicht, so weit weg wie ich saß, keinen Unterschied mehr zwischen dem Antlitz des äußersten Jammers, der Maske unberührbarer weiblicher Seligkeit und der Fratze der höchsten Geilheit. Damals an jenem Tag haben wir einander vor aller Augen geliebt, ich Sie in Ihrer reinen Verlorenheit, Sie mich in meiner reinen Teilnahme“ (A 108 f.). Diese Szene erscheint wie die Kontrafaktur einer zentralen Szene in Goethes Wahlverwandtschaften, die das literarische Phantasma eines im Geist gezeugten Kindes darstellt (Goethe HA6, 321). Auch hier werden die Personen in äußerster Distanz, im Modus einer externen Fokalisierung (Genette) geschildert und einander wie eine Spielkonfiguration zugeordnet. Weder für ihr Handeln noch für ihre Emotionen gibt es Begründungen oder Kausalitäten. Allein die Blicksteuerung des Erzählers lässt Orte wie zufällig aufscheinen und führt Wege zusammen. Bewusste Wahrnehmung und unbewusste Verhaltensweisen überlagern einander. Es entsteht eine Welt eigener Gesetze jenseits der Regeln von Sozialisation und Zivilisation. Eine so modellierte Märchenwelt dechiffriert die unterdrückten Wünsche der zivilisierten Welt, sie radikalisiert zugleich das Begehren und entmachtet die Subjekte. Es ist nicht zufällig, dass der Text hier auch einfache denotative Sätze doppeldeutig werden lässt. „Am Morgen ist es dann Sommer geworden“, kann sowohl auf das Wetter als auch auf einen Zeitwechsel anspielen (A 110). Ohnehin befinden sich die drei Wandernden in einer besonderen Situation, sie scheinen räumlich abgetrennt, aber zugleich auch zeitlich fern von ihrer Umgebung, was jenseits der Umfriedung ist, lockt jetzt nicht mehr, es schreckt; dort kann nur wieder die übliche Zeit herrschen, das Tagesgeschehen, die Historie, die böse Unendlichkeit, der fortgesetzte große und kleine Weltkrieg. Dort hinter dem Horizont wird es todernst, die Baumspitzen bezeichnen eine Grenze, jenseits deren die Lippen der gerade Gestorbenen im Versuch noch eines Atemzugs zuckten, Scharen von Männern und Frauen sich, nach außen hin unter Koseworten, innerlich vollkommen stumm, miteinander vereinigen, alle Arten von Glaubensbekennern, vor denen es kein Entrinnen gibt […]. (A 113 f.)
Auch damit folgt der Text einer für Handke typische Erzählfigur, der Kontrastierung von Eigenwelt, Eigenzeit und historischer Zeit, die in der Regel die Reflexion über den „Eigensinn des Ästhetischen“ (Adorno) präludiert oder begleitet. Die poetologische Auflösung dieser Spannung geschieht hier wie in anderen Texten durch eine Bewegung. Dabei folgt die Bewegung der Figuren im Raum dem Rhythmus des Erzählens, wie in anderen Texten Handkes ergeben sich daraus neue Wahrnehmungen und Erfahrungen (Carstensen 2013, 189; Honold 2017, 11, 492). „Nur durch das Gehen lässt sich etwas davon wiederholen. Nur im Gehen öffnen sich die Räume und tanzen die Zwischenräume! Nur im Gehen drehe ich mich mit den Äpfeln im Baum“ vermerkt der Text (A 116) und wenig später heißt es: „Das Gehen ist das freieste Spiel. Auf jetzt. Weg hier. Der Segen des Orts gilt nur für die Reise. Der Segen des Orts ist ein Gehsegen“ (A 116 f.).
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Es ist nicht zufällig, dass sich nach dieser Formel, die Erzählperspektive grundsätzlich ändert. Während bisher alles Geschehen ohne Fokalisierung geschildert wurde, berichtet der Text jetzt plötzlich aus der Perspektive eines „Wir“. Nicht nur wird jetzt alles aus dem Blickwinkel der Figuren wahrgenommen, der Erzähler macht sich nunmehr auch selbst zum Mitwandernden und steuert so zugleich die Wahrnehmung des Lesers (A 119; Röhnert 2014, 5). Mit diesem Wechsel der Erzählperspektive einher geht die Wandlung des Handlungsraums, der zunehmend phantastische Züge erhält. Die Wanderung führt erneut in archetypisch ausgestaltete Orte, sie trägt Zeichen des Märchens wie der Utopie und wird mit den „Tafelbilder[n] aus dem Mittelalter“ verglichen (A 123). Dieser Wechsel des Handlungsraums liefert auch eine ironisch grundierte Erklärung für den Titel der Erzählung, der grundsätzlich doppeldeutig ist, wie sich im Verlauf der Bewegung der Wandernden durch den Raum zeigt. Als diese einen Soldatenfriedhof erreichen, sehen sie, dass über den dort verzeichneten Namen der Begrabenen die Formel ANWESEND steht (A 124). In der Folge erreichen Sie ein Hochland, das wie ein „eigener Kontinent oberhalb unseres Kontinents“ erscheint und das die Form eines Ovals hat, in dem die Bäume die Form von Ruinen haben. Dies ist der Bereich, in den der Alte seine Mitreisenden führen wollte. Das Hochland ist zugleich ein Bezirk, der eine andere Form der Abwesenheit ermöglicht. Denn die ‚Abwesenheit‘ im Titel der Erzählung markiert in einem Wort sowohl die Distanz zur bisher erfahrenen Wirklichkeit als auch die Befähigung zu einer neuen Form der Wahrnehmung, die für die Reisenden in einem zugleich märchenhaften und utopischen Bereich möglich wird. Wie im romantischen Kunstmärchen des Peter Schlemihl von Chamisso werden die Reisenden von dem Alten an einen Punkt geführt, an dem sich die Zeichen von Natur und Zivilisation verschränken (Chamisso 1910, 10 f.; Renner 219, 47 f.). An einem Stein erkennt der Führer das eingeritzte Zifferblatt einer Sonnenuhr, und mit Papierfetzen, die er vorher zerkaut hat, lässt er seine Begleiter das Kürzel D. I. M. lesen, das als „Deo invicto Mithrae“ übersetzt wird (A 137). Schon vorher hatte er darauf hingewiesen, dass man sich jetzt an einem Ort jenseits der gewöhnlichen Wahrnehmung befinde, dessen Übersichtlichkeit ein „Augentrug“ (A 132) sei, der es aber andererseits erlaube, gleichzeitig in den Büchern wie „in deren Begleitschrift namens NATUR“ zu lesen (A 133). Hier wird es möglich, „in all dem Leblosen, Wirren zusammenhängende atmende Zeichen (zu) entziffern“ (A 133). Gleichzeitig wird eine zentrale Formel des Textes vom Bildverlust vorweggenommen, wenn die Korrespondenz zwischen den Zeichen der Natur und der Schrift mit dem Zusammenspiel von inneren und äußeren Bilder verbunden wird: Die Reisenden sehen ihre „inneren Bilder zugleich draußen im Raum vorschweben, in Gestalt eines Worts, im Rhythmus eines Gesangs, in der Vor-Form einer Geschichte“ (A 134). Dadurch wird ihnen eine spielerische Fortbewegung möglich, die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Medien verschwinden, der Schriftakt öffnet „Augen für die anderen Lebenszeichen der Einöde“ (A 137). Die Führung durch den Alten ist dabei Verwandlung und Aufklärung zugleich (Chamisso 1910, 10 f.). Er lässt seine Gefährten Dinge sehen, die sie vorher nicht wahrgenommen hatten,
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es ist ein visuell eindeutiges „Entbergen“ (A 140), das eine philosophische Denkfigur märchenhaft verkleidet: Die Entdeckung der Schrift erscheint als ein Hervorzaubern „an den Dingen“ (A 141). Diese Aufklärung des Alten macht das märchenhafte Erzählen einem Traumbericht vergleichbar. Nicht nur die Bewegung im Raum, sondern auch die wie bewegt erscheinende Landschaft korrespondieren „mit dem Takt des Schreibwerkzeugs“ des Alten (A 143). Die Reisenden scheinen eins zu werden mit der Natur, ebenfalls wie im Traum sind Ursache und Folge, Innen und Außen nicht mehr voneinander zu trennen. Nicht zufällig verschwindet der Alte plötzlich in einem Lichtbogen am Ende einer Allee, bevor sich alle dann im Inneren einer Herberge, einem ehemaligen Bunker, wieder zusammenfinden (A 152). In diesem Innenbezirk erscheint der Alte jetzt wie ein „greise[r] Patron[..]“, die Nachrichten, die von draußen über ein Radio empfangen werden, scheinen auf eine dort abgelaufene Katastrophe hinzuweisen, die an Tschernobyl erinnert (A 157). Doch in der Begegnung mit dem Alten hat die Realzeit keine Bedeutung mehr, ihm selbst scheint, dass an einem einzigen Tag viele Tage vergangen sind.
Der Ort der Initiation Es ist ebenfalls eine von Handke oft praktizierte Strategie, dass sich am Ende seiner Texte, die unterschiedlichen und widersprüchlichen Erfahrungen seiner Protagonisten verdichten, bevor diese, wie in einem Märchen, fähig werden, sich diesen Dissonanzen zu entziehen. Im Modus dieses Textes geschieht dies im Weg einer Initiation, die von den Beteiligten erst spät erkannt wird. Nicht selten erfordern solche Initiationen eine Besinnung auf das Eigene, das schon im Vergangenen angelegt ist. So ist es auch hier. Die Reisenden werden zuerst in ihre Erinnerung geführt, bevor sie wieder zu Sprechern werden. Der Spieler erinnert sich in Bildern an Vater und Mutter, „Gedächtnisbilder“ von beiden überblenden seinen gegenwärtige Wahrnehmung (A 161). Melancholisch erinnert er sich zunächst an eine Landschaft seiner Jugend, die er als Fensterblick beschreibt. Gleichzeitig dokumentieren seine Erinnerungsbilder einen historischen und zivilisatorischen Wandel. Aus der fast leeren Ebene ist eine Stadt geworden, nur noch auf den Tafelbildern seines Vaters ist die einstige leere Landschaft zu sehen, denn dieser war fähig, aus den Zwischenräumen zwischen den Häusern die einstige Weite zu rekonstruieren. Deshalb bedeutet für den Soldaten die Orientierung an die Bilder des Vaters eine Rückgewinnung der Erinnerung. Einer typischen Märchenkonfiguration entsprechen die Selbsttäuschungen, welche die Beteiligten ihre eigene Situation verkennen lassen. Im Fall der Frau führen sie zu einer verbalen Attacke auf den alten Mann. Sie bezeichnet diesen als einen falschen Führer, als einen bloß angeblichen Schriftforscher. „Dein Lesen, Entziffern und Deuten geschah nie aus einer Erleuchtung, sondern war bloßer Zwang; die Stimme, die zu dir Nimm und lies! sagte, hast du erfunden; du hast nur, seit du sehen kannst, in einem fort zwanghaft die Augen verdreht nach deinem geschriebenen Wort, deinem Buchstaben, deinem Zeichen“ (A 169). Für
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die Frau haben die Zeichen, die der Alte nachstellt, längst ihren Sinn verloren, ihr „Zusammenhang ist gerissen“, es gibt, so führt sie aus, „schon gar nicht die Wiederkehr“ (A 170). Dieser Zweifel, der dem Arrangement des Märchens folgt, weist entschieden über den Text hinaus. Er formuliert eine verdeckte Selbstkritik des Autors, die gebrochen im Medium einer historischen Erzählform artikuliert wird. Es gehört allerdings zur Besonderheit von Handkes Schreiben, dass er dieser Gattung zugleich eine gegenläufige Botschaft zuweist. Das „wir“, in das der Text übergeht, mobilisiert nicht nur einen verdeckten Erzähler, sondern führt auch den Leser in die gleiche Unsicherheit, welche die Perspektivfiguren des Textes erfahren. Die Distanzierung vermittels der historischen Erzählform erzeugt eine moderne Form der Selbstreflexion, die durchaus autofiktionale Züge trägt. Dies spiegelt sich im Text auf doppelte Weise, einmal in der Opposition der Frau gegen den Alten und zum andern in dessen kritischem Blick auf das eigene Schreiben. Die Frau, die ihn attackiert, wendet sich gegen jede ästhetische Transformation des Wirklichen: „auch hierzulande ist leer leer geworden, tot tot, das Vergangene unwiderruflich, und zu überliefern ist nichts mehr“ (A 171). Stattdessen stellt sie den verlorenen Zeichen der Vergangenheit Namen entgegen, welche die Oberfläche der konsumptiven Zivilisation markieren: „Vanity Fair! Vogue! Amica! Harperʼs Bazaar!“ (A 172). Auch der Alte, der gegen Ende des Textes in eine stumme Landschaft wandert und ein Lied anstimmt, das die „Stille“ als Voraussetzung der Erfahrung verklärt (A 175 f.), übt am Ende Kritik am eigenen Schreiben, die sich der vergleichen lässt, welche die Frau artikuliert. Wenn er sich gegen das ewige Lesen wendet, erinnert er sich, dass das „große Grundgesetz, das ich in der Natur las“ immer nur in der Schrift und stets nur im Alleinsein übertragbar war. Gerade dies ist dafür verantwortlich, dass seine Sehnsucht jetzt verloren ist. Ein letzter Versuch zu schreiben geht allmählich in ein Zeichnen über, es sieht aus, als lösche der Alte sein bisheriges Medium der Schrift (A 181). Für die Reisenden bleibt dieser Mann hinfort verschwunden. In der Meinung er habe ihnen seine Karte hinterlassen, um ihm nachzukommen, bewegen sie sich durch unterschiedliche Landschaften, ihre Wahrnehmung wird dabei zu einem „Innewerden“ gesteigert (A 185), ihr Weitergehen erscheint wie ein „beständiges, unablässiges Ankommen“, tatsächlich kommen sie in einem Garten an, die Situation auf der früheren Lichtung scheint sich zu wiederholen (A 186). Die Stadt, die sie jetzt erreichen, war offensichtlich durch ein Erdbeben weitgehend vernichtet. Vieles spricht dafür, dass dies während ihrer Abwesenheit im Oval der Ebene stattfand und dass sie eigentlich in der Zukunft ankommen. An dieser letzten Station werden die dissonanten Erfahrungen, die sie vorher auf ihrer Wanderung machten, noch einmal aufgenommen. Ihre Erinnerung an den Alten beginnt zu verblassen, erscheint am Ende wie ein bloßes Traumbild, in dem sie sich mit Distanz wahrzunehmen glauben (A 206 f.). Der Alte erscheint ihnen jetzt in einer „bösen Abwesenheit“ (A 209), plötzlich herrscht zwischen ihnen „das Zerwürfnis“ (A 210), sie fühlen sich am Ort ihrer Ankunft „wie dahin verschlagen“ (A 212) und empfinden ein „Schuldgefühl“ (A 213). Wie eine Strafe
7.3 Formen poetischer Initiation: Die Abwesenheit (1987)
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erscheint ihnen, „daß wir die Geschichte, die eigene wie die große, loswerden hatten wollen und aufgebrochen waren in die sogenannte ‚Geographie‘?“ Lapidar heißt es jetzt zur Beschreibung dieses Zustands: „Wir waren furchtbar auseinandergefallen und es gab nichts, was uns neu hätte umgreifen können“ (A 214). Der Soldat spricht aus, was die anderen denken: Ihr Führer war ein „falscher Fürst“, er hat ihnen „den Kopf verdreht“, hat sie aus ihrer „Sphäre gerissen, [sie] vors Nichts gestellt“, sein „Zeichenzauber“ hat sie „tiefer und tiefer hinein ins Labyrinth“ geführt (A 217). Eben dies ist der Umschlagspunkt zu einer Einsicht, die vorher nicht verfügbar war. Wie in einem Märchen wird bisher Geschehenes unter dem Blickwinkel einer neuen Erfahrung anders gedeutet, erwächst aus der Selbsttäuschung eine Erkenntnis, die sich auf eine frühere Begegnung mit dem Alten beziehen lässt. In einem Traum sieht der Soldat ein Kind, das er in einem ausgehöhlten Folianten versteckt mit sich herumtrug, und hört den Vorwurf „Wie schnell habt ihr eure Kindheit verraten! Jener alte Mann war doch kein Böswilliger, sondern der ewige Kindskopf. Es darf nicht sein, dass der Stoff der Kindheit verbraucht wird!“ (A 218). Genau an diesem Punkt wird klar, dass die Reisenden den alten Mann nicht als einen Führer zu einem Endziel brauchten, sondern dass dieser sie dazu gebracht hat, auf der Suche nach ihm zu einem „Entziffern“ der Welt und der Natur zu kommen. Die Formel, dass der Weg das Ziel sei, wird hier zur Grundfigur eines Märchens, das die Beteiligten erst allmählich erkennen lässt, was sie eigentlich gelernt haben sollten. Der Text macht dies deutlich, indem er diese Schärfung der Wahrnehmung beschreibt (A 221 f.), und wie im Märchen hören die Wandernden dann, als sie verstanden haben, worum es eigentlich geht, die Stimme eines Kindes. Jetzt erinnern sie sich an ihre eigene Kindheit, in der sie sich vor andern oft nur versteckt hatten, um von ihnen gesucht zu werden. An dieser Stelle wechselt der Text von der Beschreibung der Natur zur Artikulation einer Botschaft, die nur metaphorisch formuliert wird. Der Wind, der sich jetzt erhebt, wird als „der Wind der Poesie, der Wind der Phantasie, der Wind der Ankunft in einer ganz anderen Abwesenheit“ bezeichnet (A 224). Damit benennt die märchenhafte Widersprüchlichkeit des Textes eine Spannung, die allem Schreiben zugrunde liegt. Die Abwesenheit des Alten führt die Protagonisten des Textes zur Erfahrung der anderen Abwesenheit, die einen Zustand meint, durch den Vergessenes wieder anwesend gemacht werden kann, um Gegenwärtiges zu verstehen. Es ist die Grundfigur der Poesie, die sich mit der Erinnerung verschränkt und sich am Ende nicht nur dem Text und seinen Figuren, sondern auch dem lesenden Subjekt einschreibt.
7.4 Die Sprachwerdung der Welt: In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (1997) 1974 zeichnet Mein Jahr in der Niemandsbucht bereits vor, wie in Handkes späteren Texten das Erzählen, die poetologische Reflexion und autofiktionale Entwürfe miteinander verbunden werden (Röhnert 2014). Zugleich sind dort
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thematische Orientierungen und Erzählmuster entwickelt, die in den späteren Texten wiederholt und ausgearbeitet werden. Als bestimmend erweist sich dabei die Verknüpfung der Reflexion über das Erzählen mit der visuellen Anschauung, die aus einer genauen Detailbeobachtung hervorgeht. Dabei kann sich diese gleichermaßen auf Naturbilder wie auf die technische Welt richten. Ein Beispiel für die konzentrierte Naturbeobachtung gibt eine Beobachtung von Regentropfen, die auf einen trockenen Boden fallen, es ist eine Szene, die in späteren Erzählungen fast strukturgleich wieder aufgenommen wird (IN 78). Einen Beleg für die verfremdende Darstellung der technischen Welt gibt dagegen die Orientierung des suchenden Protagonisten an den Stromzählern der Stadthäuser (IN 209). Zudem hat bereits die Niemandsbucht zwei übergreifende Erzählmuster entwickelt, die sich in der Folge fortsetzen. Es ist zum einen das Schema einer kreisförmigen Bewegung von einem Ausgangspunkt zurück zu diesem, das später vor allem in der Morawischen Nacht Bedeutung gewinnt. Auch im Text der dunklen Nacht begibt sich der Protagonist, ein Apotheker, zunächst in den umliegenden Wald, danach in den inneren Bezirk eines zweiten Waldes, bevor er die angrenzende Steppe durchwandert. Dabei berührt sein Weg imaginäre und wirkliche Orte zugleich. Eine entscheidende Rolle nach dem Durchgang durch die Steppe spielt das wirkliche Zaragoza, von wo aus er in Begleitung der Frau, die ihn ursprünglich attackiert hatte (IN 104), eine Busfahrt durch Europa unternimmt, bevor er unter gewandelten Voraussetzungen nach Taxham zurückkommt. Zum andern zeigt sich auch hier wie in der Niemandsbucht, dass die Bewegung im Raum sowohl den Rhythmus des Erzählens als auch die Segmentierung seiner Wahrnehmung bestimmt, wie es später im Bildverlust und der Morawischen Nacht der Fall sein wird (Honold 2017, 517; BV 305). Darüber hinaus folgt die Bewegung des Protagonisten durch den Raum dem Schema der aventiure: Durch die Erfahrung unterschiedlicher Orte und Zeiten geprägt kehrt der Protagonist als ein Anderer zurück in sein Heimatdorf. Diese Anlehnung an das Schema des mittelalterlichen Epos ist allerdings ironisch gebrochen. Vor seiner Reise kannte den Apotheker in seinem eigenen Lebensbereich kaum einer, das Grüßen in der Heckensiedlung, in der er wohnt, galt allein seinem Fahrrad, das für die Menschen mit seiner Frau verbunden war (IN 33). So befand er sich schon zuhause in einer „Abwesenheit“, lapidar vermerkt der Text: „einer ist immer abwesend“ (IN 35). Das einzige, wonach es ihn nach seiner Rückkehr – bei der er zum ersten Mal als der Apotheker von Taxham wahrgenommen wird (IN 289) – verlangt, ist, dass seine Geschichte geschrieben werden soll, weil sie allein so Dauer erhalten kann. Keineswegs ist auszumachen, ob die Veränderung des Protagonisten auf seiner Erfahrung oder seinen Handlungen beruht, oder ob sie sich ohne sein Zutun während seiner Abwesenheit ergeben hat. Das spannungsvolle Spiel zwischen Abwesenheit und Anwesenheit, das Handke schon im Text der Abwesenheit präsentiert, vollzieht sich auch hier.
7.4 In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (1997)
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Literarische, phantastische und wirkliche Landschaft Auch der schematisch wirkende Ablauf der Reise folgt einem offen benannten intertextuellen Bezug. Der Protagonist liest Chrétien de Troyes Epos von Lancelot, bevor er sich auf eine Rundreise begibt, auf der er zunächst phantastische Orte berührt, um dann schließlich im realen Zaragoza anzukommen. Diese Topographie folgt ebenfalls dem Erzählprinzip der aventiure. Insbesondere die Steppe, die der Protagonist durchquert, ist ein Bezirk, in dem sich real erscheinende Bilder und phantasmagorische Wahrnehmungen wie in der Chronotopie des höfischen Roman oder im Don Quijote des Cervantes überlagern, der für Handke später auch im Bildverlust bestimmend wird (Carstensen 2013, 281 f., 286). In der Abfolge der unterschiedlichen Schauplätze von Taxham, Wald, innerem Wald und Steppe tritt der Apotheker mit seinen Begleitern schon vorher in einen Bereich ein, der als Übergangsort kenntlich gemacht wird. Als einzige unter den vielen anderen gewinnt die Stadt Santa Fe Realität, zudem unterwirft sie die Reisenden ihrem eigenen Gesetz. Ausgehend von einer eigentümlich verfallenen Herberge begibt sich der Protagonist dort auf die Suche nach der Frau, die er mittlerweile die Siegerin nennt (IN 188). Diese Suche erfolgt unter eigentümlichen Bedingungen. Die Jahreszeiten im Ort wechseln unregelmäßig (IN 195), Nah und Fern sind oft ununterscheidbar (IN 193), der Suchende bewegt sich zwar ohne Furcht, doch sein Blick ist meist auf den Boden gerichtet und findet dort immer wieder Pilze (IN 197). Auch seine beiden Reisekumpane scheinen sich auf der Suche zu befinden (IN 200 f.). Die Veränderung, die er im Verlauf dieser Suche erfährt, wird dadurch visualisiert, dass er sich zu verdoppeln scheint. In einem Bild, das wie im Film durch Kadrierung und Zoom zustande kommt, sieht er den alten Apotheker des Orts als Silhouette vor der Steppe, die hinter ihm bis in die Ferne menschenleer ist, dabei hat der Apotheker den Eindruck, „er sehe da sein Selbstbildnis von später“ (IN 203). Solche Konfigurationen, die den literarischen Rückbezug auf das Epos mit einer medial gesteuerten visuellen Wahrnehmung verbinden, erschließen nicht nur Handkes Poetologie des epischen Erzählens (Pichler 2006, 70), sie modellieren zugleich die Bilder der Zivilisation, die in diesem wie auch in anderen Texten zwar genau, aber doch ohne spezifische Kontur sind. Gleichwohl entstehen aus der Verkoppelung von phantastischer und realer Welt visuelle Schemata, die Bilder der Natur und die Zivilisationsbilder, welche die technische Welt in ihrem Endstadium abbilden, werden dadurch scharf kontrastiert (Gruber 2000, 296; Luckscheiter 2012, 178–212). Die Spannung zwischen diesen Bildern bezieht der Text ausdrücklich auf die Erzählordnung des mittelalterlichen Epos, in dem unmittelbar nach der Darstellung der „herrlichsten Aue der Welt“ damit gerechnet werden muss, dass der jeweilige Held auf ein Schreckensbild stößt (IN 72). Dass dies häufig in einer anderen Zeit stattzufinden scheint, wird hier ebenfalls deutlich. Vorbereitet ist die
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Wanderung des Apothekers durch einen Zeitsprung, seine Geschichte spielt nicht in der „Zeitungszeit“ (IN 75). Als moderne Nachzeichnung dieser Konstellation beschreibt der Text zunächst den Lebensbereich des Apothekers als Enklave zwischen unterschiedlichen Zeichen der technischen Zivilisation. Es ist eine „Zwickelwelt“ (IN 12), die dem Bereich vergleichbar ist, in dem sich das Chaville der Niemandsbucht befindet. Dagegen zeichnet der phantastische Bereich der Steppe jene „seltsame Kombination von Jugoslawien und Spanien“ (IN 38) vor, welche die phantastische Topologie in der Morawischen Nacht und im Bildverlust modelliert, natürlich eröffnet sich auch eine Beziehung zur Phantasie von Europa in Kali (KA 43 f.).
Beziehung und Verwandlung Die Veränderung des Apothekers, die sich im Verlauf seiner Reise vollzieht, beruht nicht auf einem autonomen Handeln, sondern ähnelt einer Initiation, die in zwei Stufen erfolgt. Die Suche nach der verlorenen Sprache vollzieht sich in mehreren Stationen, zunächst in Begleitung von zwei seltsamen Gefährten, die als „desperados“ bezeichnet werden (IN 98). Es handelt sich um einen berühmten Wintersportler und Skifahrer und einen vormals berühmten Dichter, einen Flüchtling und Ausländer (IN 91). Damit verschränkt ist das Beziehungsspiel zu einer Frau, das alle möglichen Varianten durchdekliniert. Ohne dass dies psychologisch motiviert wäre, umfasst es Aggression und Gewalt ebenso wie liebende Innigkeit. Dass diese Beziehung dabei auf märchenhafte Weise zu einer Initiation führt, wird am Ende in einer Rede der Frau deutlich, der sich als skopus der Handlung lesen lässt. Für den Apotheker kommt es darauf an, so die Frau, sein „Stummsein“ zu verlassen, das sein „sämtliches Erleben von früher, selbst das noch so zeichenhafte – bis in die Kindheit“ zu vernichten droht. Aufhören muss er, „das Lebende zu suchen unter den Toten“ und stattdessen zurück zu den Menschen und zur Sprache gehen (IN 266). Der Weg dahin wird durch zwei Motive visualisiert, die in Utopien wie Märchen den Eintritt in einen neuen Bereich der Erfahrung kennzeichnen. Die gemeinsame Reise wird eingeleitet durch die Autofahrt durch einen Tunnel (IN 95), dann beschließt der Dichter, dass die Reise über die Grenze führen solle, dort kennt er eine Frau und hat ein uneheliches Kind, das er noch nie gesehen hat. Topographisch liegt der Ort, an dem diese Frau lebt, an einer besonderen Linie, es ist die Wasserscheide zwischen schwarzem Meer und Mittelmeer (IN 102). Vergleichbare Trennlinien markieren im Text den Eintritt in eine phantastische Welt. Beim Durchfahren der letzten Tunnelstraße, deren Ein- und Ausfahrt klar markiert sind, haben die Reisenden Halluzinationen, der Tunnel ähnelt einer „bösen Passage“, wie sie in den Epen immer wieder geschildert wird. Jenseits von ihm werden alle Zuordnungen willkürlich, die Ortsschilder sind nur noch „Verheißungstafel“ (IN 137), deren Versprechen nicht eingelöst wird, es ist eine Traumlandschaft, bevölkert von den unterschiedlichsten Menschen, die in verschiedenen Sprachen sprechen (IN 142 f.).
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In dieser Konstruktion ist die „wirkliche Wirklichkeit“ (Stifter HKA 13–2, 233) jedoch keineswegs ausgeschlossen, vielmehr strukturiert sie den Text Handkes auf ganz unterschiedliche Weise. Zum einen durch Sozialisations- und Beziehungsbilder, die über eine Referenz auf lebensweltliche Bedingungen und autofiktional chiffrierte Erfahrungen verfügen. Zum anderen dadurch, dass ihre Darstellung phantastisch, realistisch oder ironisch sein kann. Unter den leitenden Themen ist zunächst das Thema der Schuld zu nennen, das hier mit der Geschichte des Sohnes verbunden wird. Es ist von zentraler Bedeutung in allen Texten des Autors, in denen die Beziehung von Vater und Sohn häufig in unterschiedlichen Inversionen dargestellt wird. Hier wird einmal darauf abgehoben, dass der Vater den Sohn verstoßen hat (IN 28), dann wieder verschwindet der wiedergefundene Sohn zusammen mit seiner Braut in einer Szene, die der Text mit der märchenhaften Formel belegt: „dann war sein Kind verschwunden, und sie würden einander endgültig nimmerwiedersehen“ (IN 264). Signifikant für die Gegenwelt sind auch die Bilder der Gewalt, die an allen Orten unvermittelt auftauchen. Wie beiläufig wird berichtet, dass der Apotheker bei seiner Wanderung durch die Steppe von einem Jäger bedroht wird, der sein Gewehr schon auf ihn angelegt hat, doch als im gleichen Moment auf märchenhafte Weise im Hohlweg ein Doppelgänger des Apothekers erscheint, wird dieser vom Jäger „augenblicklich erschossen“ (IN 262, 263). Physische Gewalt zeigt sich auch in der Stadt Santa Fe, wo der Wandernde den Eindruck hat, dass Gewalttätige die öffentlichen Plätze übernehmen und sich gewaltbereit zeigen (IN 217). Sie haben eine eigene Sprache, bleiben unter sich und sind bereit zum „gewaltsamen Umsturz“ (IN 218). Äußerlich so verformt, dass oft nicht zu unterscheiden ist, ob sie Männer oder Frauen sind, können sie unversehens ein Killerkommando bilden (IN 219). Gewalt beherrscht auch, dies ein weiteres Leitthema von Handkes Erzählen, die Beziehung von Mann und Frau. Die gemeinsame Geschichte zwischen dem Protagonisten und der Frau beginnt mit deren gewalttätiger Attacke auf den Mann. Später hält der Dichter-Begleiter eine misogyne Rede über die Feindschaft zwischen Mann und Frau (IN 159–161), deren Tenor deprimierend ist: „So viel Schmutz und Verschmutzung zwischen den Geschlechtern wie heutzutage war noch nie. Und die nicht schmutzig sind, das sind die Dummen. Vielleicht war das immer schon so. Aber wenn, dann sicher noch nie so arg und so nackt“ (IN 161). Ihre Kontrafaktur erhält diese Szene durch die Beschreibung einer Szene, in der sich zwei Frauen in der Kirche über den fast lebensechten Leib Christi beugen und ihn von Kopf bis zu den Füßen küssen. Es ist eine Szene die zweifellos sexuell konnotiert ist, denn die beiden wären „gar nicht überrascht, würde, bei noch so einem Darüberstreichen, ihr angeblich toter Gott sich unter ihren Händen unversehens aufbäumen“ (IN 158). In seinem Journal Gestern unterwegs hat Handke eben diese Szene als wirkliche Beobachtung in Jaén überliefert (GU 376). Neben solcherart überzeichneten Passagen stehen distanzierte Beschreibungen, die Ironie mit Selbstironie verbinden. Auf den modernen Verkehrswegen werden durch Tunnels fast alle Grenzen überwunden (IN 121), doch Nebenwie Hauptstraßen sind durch allgegenwärtige Kreisel organisiert, es sind die
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rond-points Frankreichs. Ironische Selbstkritik kommt zum Ausdruck, wenn der begleitende Dichter im Radio eine Nachrede mit einer vernichtenden Beurteilung seines Werks (IN 108 f.) hört und entschieden wird das Pathos von Handkes textimmanenter Poetologie der Langsamkeit gebrochen, wenn dem Apotheker eine Tachyphobie attestiert wird (IN 124). Nichts anderes geschieht auch mit der Leitvokabel des „Hörens“, die Handkes Werk durchzieht. In einem Wanderer durch die Steppe erkennen der Apotheker wie sein Erzähler den gemeinsamen alten Lehrer Andreas Loser, der mittlerweile taub geworden ist. Und ironisch genug fällt der Kommentar aus: „So war demnach von uns dreien gerade der, der sich ein Weiterkommen vor allem durch Lauschen und Hören versprochen hatte, taub geworden […]. Und das gerade in einem Landstrich, der ‚Sabana de la Sonora‘ hieß?“ (IN 238).
Das Erzählspiel Die Steppe, die der Apotheker zu überwinden hat, ist nicht nur ein außergewöhnlicher Bereich der Erfahrung, sie ist als „schwer zu erzählende“ (IN 253) auch eine Herausforderung für den Erzähler der Geschichte, denn sie sträubt sich gegen die Bilder (IN 253). Wie vorher in der Niemandsbucht und später im Bildverlust sind die Erfahrung der Natur und das Erzählen unmittelbar miteinander verschränkt, gerade so wird die herbeigesehnte Einheit von Ich und Welt gestiftet (Carstensen 2013, 291): „Innen und Außen durchdrangen einander, wurden, eins am anderen, ganz. Erzählen und Steppe wurden eins und so war man am Platz“ (IN 246). Damit wird die Steppenwanderung des Apothekers zu einem Erzähl- und Wahrnehmungsexperiment zugleich, das der kleinen Fabel der Esche von München vergleichbar ist (Carstensen 2013, 291). Was für den Erzähler eine Herausforderung darstellt, bedeutet für den Apotheker eine grundlegende Veränderung seiner Erfahrung. Für ihn setzt eine neue Zeit ein (IN 78), und nachdem er einen Schlag auf den Kopf erhält, kann er „keinen Schritt mehr tun ohne das Bewusstsein dieses neuen Zustands“ (IN 81). Trotz der distanzierenden externen Fokalisierung des Erzählens erweist sich, dass der Text Teil eines übergreifenden Erzählspiels ist, an dem mehrere Personen beteiligt sind und in dessen Verlauf die Trennmarke zwischen dem Autor und dem Erzähler immer wieder systematisch überschritten wird. Überdies ist das Erzählen streckenweise dialogisch organisiert: Der Erzähler ist zugleich ein Hörer, er erzählt seine eigene und andere Geschichten, auch diese Strategie wird sich in späteren Texten Handkes als bestimmend erweisen (IN 294; DJ 24; MJN 1050 f.). Zudem bekommt der Erzähler eine doppelte Rolle zugewiesen. Im ersten Teil der Erzählung ist er ein Beobachter, der den Apotheker von Taxham mit Blicken verfolgt. Dabei bleibt er zunächst in einer Distanz, die textuell durch eine filmische Strategie hergestellt wird. Seine Beobachtung bringt Einzelbilder hervor, die ihn in einer schnellen Schnittfolge immer wieder in anderen Situationen zeigen (IN 51). Im zweiten Teil erzählt der Erzähler nach, was ihm der Apotheker erzählt, er unterbricht dabei dessen Erzählung mit Fragen, um dann am Ende des Textes
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wieder zu einem Beobachter zu werden. Präludiert wird damit nicht nur die komplexe Erzählstruktur des Bildverlusts und der Morawischen Nacht, sondern auch das textübergreifende Erzählmuster einer Verschränkung von Wahrnehmung und Erzählung. Die Beziehung zwischen dem Erzähler und dem Protagonisten ist jedoch komplex und prekär zugleich. Komplex, weil der Erzähler Distanz und Nähe verbinden muss, denn er soll für den Apotheker nur Aufschreiber, „nicht der Herr [s] einer Geschichte“ sein (IN 81). Prekär ist diese Beziehung, weil die Wanderung des Apothekers durch den Schlag, den er auf den Kopf erhält, nicht nur mit einem Gedächtnisverlust, sondern auch einem Sprachverlust beginnt. Seine Bewegung im Raum, die ihn zunächst durch sprachlose Bildwelten führt, wird dadurch auch zu einer Suche nach der verlorenen Sprache (IN 86). Auf den Sprachverlust antwortet ein unbestimmtes „Begehren“ (IN 87). Dem traditionellen Erzählschema ist damit eine moderne Geschichte eingeschrieben, die unmittelbar die Konstitution des Ich durch Sprache und die damit zusammenhängenden Objektkonstitutionen nachstellt, wie sie bei Jacques Lacan beschrieben ist (Lacan Schrr I, 61–70). Deshalb ist Handkes Rückgriff auf das mittelalterliche Epos und das Märchen kein Escapismus, sondern ein Verfahren, um den Blick auf das Gegenwärtige zu schärfen, die Erinnerung an die alten Textvorlagen und die gegenwärtige Wahrnehmung verdichten sich durch Überlagerung. Dies bestätigt ein kurzer Dialog zwischen dem Erzähler und dem Apotheker. Dieser führt aus: „Aber an den dort dargestellten Sommerlandschaften erkenne ich auch die jetzige, heutige Sommerwelt, tritt sie mir klarer vor Augen, und als etwas, was inzwischen Tatsache geworden ist, und nicht mehr bloß Zauber- und Märchentrick“ (IN 47). Am Ende wird der Apotheker selbst zu einem Erzähler. Sein Marsch, der auch durch Unwegsamkeiten immer geradeaus geht, schärfte nicht nur seine Sinne, sondern weckte in ihm das Bedürfnis nach einem Erzählen dessen, was er erlebt (IN 245). Im Wechselspiel zwischen dem Nachdenken über zu Erzählendes und der unmittelbaren Erfahrung steigert sich seine Fähigkeit, Gegenwärtiges wahrnehmen zu können, der Apotheker nimmt das „Umland noch schärfer wahr als in und nach der Gefahr“ (IN 245). Zum Bild für diesen Zugewinn an Wahrnehmungsgenauigkeit wird das Sternbild des Orion, das ihm in wechselnden Phasen und mit unterschiedlicher Helligkeit erscheint (IN 248 f.). Auch die Beziehung zur Frau wird durch Erzählen bestimmt. Die gemeinsame Busfahrt, die der Apotheker mit dieser am Jahresfest der Patronin von Zaragoza beginnt (IN 274), wird nur möglich, weil er ihr auf ihre Aufforderung hin seine Geschichte erzählt. Seine Wandlung zum Erzähler empfindet er auf doppelte Weise. Zum einen verspürt er an sich einen physischen Wandel. Ein anderer als der Todesschweiß, so der Text, bricht jetzt bei ihm aus. Zum anderen hat er den Eindruck, dass sein Herz blute. Die metaphorische Formel des mittelalterlichen Epos verwandelt sich für ihn in das Zeichen einer psychischen Veränderung. Er wird nicht nur zum Erzählen fähig, sondern kann auch wieder lieben. Beides geschieht in der Folge. Der Apotheker erzählt der Frau sein Leben in Abreviaturen von Sätzen, dieser Bericht über das Vergangene macht ihn fähig,
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wieder nachhause zurückzugehen. Vergleichbares erfährt die Frau, die ebenfalls ihre Lebensgeschichte erzählt, die dadurch geprägt war, dass sie dem „falsch lieben“, das schon die Epen als Motiv behandeln, entgehen wollte (IN 283). Nach diesem beiderseitigen Erzählen werden die beiden fähig, miteinander zu reisen und am Ende ihren eigenen Weg selbstbestimmt fortzusetzen, gerade aus ihrer Gemeinsamkeit folgt am Ende die Möglichkeit der Trennung. Hier liegt die dialektische Grundfigur, die Handkes Rückgriff auf die Epik kennzeichnet. Deren Erzählmuster und Bildervorrat werden benutzt, aber zugleich entzieht sich das Erzählen des Autors den Gesetzen, welche die Epen vorgeben. Weil der Protagonist, dessen Weg zunächst den Stationen und Situationen einer aventiure folgt, am Ende zu einem Erzähler wird, der mit dem Erzähler seiner Geschichte interagiert, erweist sich seine Bewegung im Raum als Metapher einer Emanzipation jenseits der vorgezeichneten Geschichten. Seine Selbstsetzung gewinnt gerade dadurch Kontur, dass an anderen Stellen dieses Textes „die Geschichte“ als eine autonome Ordnung erscheint, der keine der handelnden Personen, nicht einmal der Apotheker selbst, entkommen kann. Als der Erzähler ihn auffordert, seine Geschichte zu schreiben, äußert er: „Ich sehe sie geschrieben. Und die Geschichte selber will es so“ (IN 303). Schon vorher glauben die Reisenden, „eine Geschichte zu erleben, noch dazu eine gemeinsame“ (IN 144). Und als der Apotheker gefragt wird, ob die Mutter des Mädchens gestorben sei, antwortet er lapidar: „in meiner Geschichte wird nicht gestorben“ (IN 165). Es ist nur folgerichtig, dass es am Ende dieser Wegbeschreibung, in deren Verlauf der Protagonist eine andere Welt und zugleich eine andere Erzählwelt durchschritten hat, nicht nur zu einem Nachdenken über das Erzählen, sondern auch über die Sprache kommt. Der Vermittlungsbereich dieser doppelten Reflexion ist die Steppe, die Erfahrungsraum und symbolischer Ort zugleich ist. Die Steppe hat für den Apotheker deshalb eine besondere Bedeutung, weil ihre Bezeichnung zu den Worten gehört, die nicht zu ersetzen sind und die „selbst ihre Schreibform bewahren durch die Jahrtausende“. Als geographischer Ort ist sie das beherrschende Element der spanischen Landschaft (IN 312 f.). Als symbolischer Ort gibt sie die Möglichkeit, sich dem zu entziehen, was vorgegeben scheint. Deshalb soll der Erzähler der Geschichte des Apothekers dem Leser „Lust auf die Steppe machen“ (IN 313). Diese Formel ist durchaus doppelt konnotiert, denn sie zielt auf eine psychische wie auf eine physische Erfahrung. Der Ort der Erfahrung außerhalb der Zeit, von dem die aventiure handelt, eröffnet eine Selbsterfahrung, die sich auch als körperliche Reaktion zur Geltung bringt. In sein Haus zurückgekehrt, in dem das Buch mit der Geschichte von Ivain dem Löwenritter noch aufgeschlagen liegt, beginnt der Apotheker zu lesen und fängt an zu zittern (IN 293). Fragmentarisch zitiert der Text jetzt eine andere Lektüre seines Autors, die einst die Metaphorisierung eines großen erzählbaren Zusammenhangs möglich erscheinen ließ (LSV 78). Von Anfang an war die Steppe wie das menschenleere Hochland in der Abwesenheit (A 132 f.) auch ein Ort des Innehaltens, der zugleich eine Schnittstelle zwischen der epischen Fabelwelt und der wirklichen Welt markiert. Im Epilog wird diese Überlegung in einem Gespräch zwischen Apotheker und Erzähler
7.5 Don Juan (erzählt von ihm selbst) (2004)
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aufgenommen. Nur noch Liebes- und Abenteuergeschichten und allein noch über das Innehalten soll der Erzähler schreiben, denn dieses ist Voraussetzung für ein „Eingreifen, ins Geschehen, ins blinde Geschehen, ins blinde Weltgeschehen, in die Flucht der Erscheinungen, in das Gerede, auch das eigene, innere, und gut gegen das Herzrasen, Ohrensausen, Magendrücken und noch vieles andere mehr“ (IN 315). Doch genau an dieser Stelle wendet sich die Geschichte zurück ins Märchenhafte und genau so wird sie zu einer Apologie des Erzählens selbst. Obwohl am Ende des Textes von „uns beiden“ die Rede ist, lässt sich nicht eindeutig entziffern, ob der Epilog tatsächlich das Zwiegespräch zweier Personen ist, denn auf die Formel „Jemand ging“ fällt keine Tür ins Schloss. Dagegen scheint aus dem Innehalten wie aus der Sprache auf märchenhafte Weise Wirklichkeit zu werden. Als benutzten sie eine Zauberformel lassen die beiden es allein durch ihre Sprache schneien. Es ist ein zentrales Motiv des Neuanfangs in Handkes Schreiben (FM 289, 428; Höller 2013, 164). Am Ende glauben beide daran, dass ihre Sprache in die Natur eingreifen kann. Das Märchen von der Sprachunmittelbarkeit der Welt ist Wirklichkeit geworden.
7.5 Vom Eros des Erzählens: Don Juan (erzählt von ihm selbst) (2004) „Ich kann es bezeugen: Don Juan ist ein anderer“ (DJ 157), erklärt der Erzähler von Handkes Text über Don Juan. Handke macht den Helden der Liebe selbst zu einem Erzähler, der rückblickend seine Erfahrungen mit Frauen rekonstruiert, und dessen Geschichte er den Erzähler seines Buches wiedergeben lässt. Die Unmittelbarkeit der Erfahrung, die das männliche Sinnbild von Verführung verbürgt, wird dadurch gebrochen und konterkariert zugleich. Die Feststellung, dass Don Juan „ein anderer“ sei, und dessen Bericht über seine Beziehungen zu sieben Frauen an sieben verschiedenen Tagen dekonstruieren den traditionellen literarischen Diskurs über die Liebe ebenso wie die mit ihm verknüpften weiblichen und männlichen Projektionen. Über die Don Juans in Fernsehen, Oper, Theater und in der Realität bemerkt er: „durch das, was mein Don Juan mir von sich selber erzählte, habe ich erfahren: Das waren allesamt die falschen Don Juans – auch der von Molière; auch der von Mozart“ (DJ 157). Diese Distanzierung von der traditionellen Überlieferung verbindet Handkes Text mit einer aktuellen filmischen Adaption des Don Juan-Stoffs, es ist Jarmuschs Film Broken Flowers, in dem ebenfalls ein gealterter Don Juan seine früheren Erfahrungen mit Frauen rekonstruiert. Auch er entspricht nicht dem überlieferten Bild des Verführers, auch er ist nicht mehr Akteur, sondern eher ein Mann auf der Flucht. Als ihm seine Frau mitteilt, dass sie ihn verlassen werde, sitzt Bill Murray, der ihn spielt, unbewegt auf der Couch in seinem ‚living room‘ und betrachtet im Fernsehen den 1934 gedrehten Schwarz-Weiß-Film über Don Juan mit dem Titel The Private Life of Don Juan (Korda 1934), in dem der kranke und gealterte Douglas Fairbanks seinen letzten Auftritt hat. Es ist eine Endzeitgeschichte der
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Liebe: Nach Don Juans Tod streiten seine früheren Geliebten darüber, welcher von ihnen seine wahre Liebe gehört habe. Und schon vorher mahnte ihn sein Leporello Melville Cooper: „Sie müssen aufhören, solange die Leute Sie noch so in Erinnerung haben, wie Sie vor zehn Jahren waren“ (Korda 1:10:12). Handke als Erzähler und Jarmusch als Filmemacher zeigen dabei gleichermaßen einen Umgang mit traditionellen Stoffen, der für die Moderne typisch ist, beide entwickeln aus dem motivgeschichtlichen Zusammenhang Darstellungen, die selbstreflexiv sind. Die Unmittelbarkeit der Liebe ist bei ihnen beiden gebrochen durch Zeit und Erinnerung zugleich. Zudem entwickeln die Medien Buch und Film eigene Strategien der Distanzierung. Handke erfindet einen Erzähler, dem Don Juan seine Geschichten im Klostergarten von Port Royal erzählt, bei Jarmusch bringt ein mit detektivischen Ambitionen begabter Nachbar den Protagonisten dazu, seine früheren Geliebten aufzusuchen. Was Handkes Don Juan allein als Erzähler unternimmt, inszeniert Jarmuschs Don Juan als Reisender. Eine weitere Abgrenzung zur Tradition ergibt sich für beide Protagonisten auch dadurch, dass sie als Vertreter der unbedingten und konsequenzlosen Liebe mit der Erfahrung von Vaterschaft konfrontiert werden. Genau diese Möglichkeit ist in der Überlieferung bekanntlich völlig ausgespart. Handkes Geschichten des Don Juan umkreist die offensichtlich traumatische Erinnerung an ein totes Kind, den, wie es heißt, „ihm nächsten Menschen“ (DJ 47). Das Zentrum von Jarmuschs Don Juan-Adaption macht die Mitteilung über die Existenz eines Sohnes aus, der aus einem der Liebesverhältnisse entstanden ist. Die Suche nach diesem unbekannten Sohn ersetzt das Schema der ziellosen Repetition, das die traditionelle Verführergeschichte kennzeichnet, durch eine finale Linearität. Im gleichen Zug werden andere erzählerische Traditionen subvertiert: Broken Flowers ist auch ein Road Movie ohne klar definierte Orte und zugleich eine detektivische Suche. Dass die Begegnung mit Handkes Don Juan im Klostergarten von Port Royal erfolgt, verknüpft die erzählerische Dekonstruktion unmittelbar mit der neuzeitlichen Diskursgeschichte, die Don Juan seinen mentalitätsgeschichtlichen Ort zuweist. Wie Odysseus und Faust gehört er nicht allein zu den herausragenden literarischen Themen der europäischen Literatur, der Wandel und die Rezeption des Stoffes markieren auch einen mentalen Paradigmenwechsel. Zur Zeit der Gegenreformation sollte die Geschichte des Don Juan vor Sittenlosigkeit warnen und damit den frühneuzeitlichen Moralkodex stabilisieren. Doch ihren Höhepunkt erreicht die Rezeption des Themas zu einem Zeitpunkt, als sich die etablierte Diskurs- und Zeichenordnung bereits aufzulösen beginnt. 1787, kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution, hat da Pontes und Mozarts Don Giovanni seine Erstaufführung in Prag, im Zuschauerraum befindet sich der wirkliche Casanova: Der literarische Mythos und die Realität des Libertins laufen bereits nebeneinander her. Weitaus die meisten deutschen Don Juan-Bearbeitungen entstehen in der Zeit des deutschen Kaiserreichs. Sie belegen eine neue Parallelität von kulturellem Diskurs und individuellem Lebensentwurf, zugleich wird Don Juan von der Psychoanalyse zur „Klassifizierung und Deutung […] promiskuitiver Verhaltensweisen“ herangezogen (Rank 1942, 142–196). Dem wissenschaftlichen Verdikt
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korrespondiert ein die Mentalitätsgeschichte bestimmendes Urteil, das internalisiert wird. Denn Don Juans Befreiung von der herrschenden Moral hat auch später ihren Preis. An die Stelle von göttlicher Strafe und Höllenpein rückt jetzt die Langeweile, die der Libertin als Folge seiner ungehinderten Triebbefriedigung in der ewigen Wiederkehr des Gleichen erfährt. Bereits im 19. Jahrhundert wird Don Juan deshalb zum Melancholiker, so präsentiert ihn Lenau, so zeigt ihn Max Frischs Liebhaber der Geometrie, dessen Gemütslage im Don Juan von Jarmusch spielerisch fortgesetzt wird. Handkes wie Jarmuschs Dekonstruktion des Motivs richtet sich allerdings nicht auf diskursgeschichtliche Sachverhalte sondern unmittelbar auf die Strategien der Überlieferung, die sie beide subvertieren: Jarmusch, indem er einer Grundfigur der Postmoderne folgend Don Juans Liebesabenteuer nur noch im Verlauf einer detektivisch anmutenden Suchgeschichte seines Protagonisten aufscheinen lässt, Handke dagegen, indem er Don Juans Liebesleben allein noch im Erzählen rekonstruiert. Eine intermediale Konvergenz zwischen dem Autor und dem Filmemacher eröffnet sich schließlich dadurch, dass sie beide die Liebe als Passion, einer Formel Luhmanns folgend, als nichts anderes als ein Reglement durch vorgegebene Zeichen auffassen, das sie allerdings beide in Text und Bild auch invertieren (Luhmann 1999). Bei Jarmusch geschieht dies zum einen dadurch, dass die Geschichte der flüchtigen Beziehungen durch den Hinweis auf die Einmaligkeit der Zeugung eine grundsätzlich andere Dimension erhält. Zum anderen dadurch, dass der Weg in die Vergangenheit die Unmöglichkeit einer Wiederholung unmittelbarer Liebeserfahrung bewusst macht. Schließlich endet die Geschichte dieses Don Juan damit, dass er handlungsunfähig erscheint in einer Welt, in der die Eindeutigkeit der Zeichenwelt geschwunden ist. Der Vergleich mit dem Film von Jarmusch ist deshalb erhellend, weil dieses Medium Strategien benutzt, die auch Handkes Text bestimmen. In der Erzählung kommt Don Juan im Klostergarten zur Ruhe, seine Bewegung durch die Welt der Frauen wird stillgestellt. Im Film geschieht Gleiches auf suggestive Weise. Häufig bewegt sich der Protagonist dort nicht, allein die Kamera umkreist ihn. Dies ist im Film lange vorbereitet. Konsequent verzichtet dieser auf die Suggestion von Geschwindigkeit, selbst die Autofahrten zeigen Außenräume nur als Kulisse für den immer gleichen, wie statisch erscheinenden Innenraum des Autos. Die wiederholte Präsentation einer „Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ ersetzt die Bewegung. An ihre Stelle tritt eine Abfolge langsamer Einstellungen, die durch lange schwarze Aufblenden voneinander getrennt sind wie in einer Diashow. Der Präsenz der unmittelbaren Erfahrung Don Juans setzen sie die unwiderrufliche Vergangenheit nicht nur des Lebens, sondern auch der Bilder der Phantasie und der Liebe entgegen. Wie dieser Film führt auch Handkes Text zu einer formalen Depotenzierung des Don Juan-Stoffs. Erstens, weil die Geschichte des Don Juan nun märchenhafte Züge erhält, zweitens, weil die Liebesthematik zunehmend ihrer sexuellen Bezüge beraubt wird, dritten schließlich, weil die Geschichte des Don Juan am Ende in eine Reflexion über das Erzählen mündet. Das Eindringen Don Juans in
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den Garten des Erzählers ist ausgelöst durch seine Flucht vor einem Paar, dem er beim Sexualakt zuschaute. Dies geschah keineswegs aus sexuellem Interesse, sondern vielmehr deshalb, weil er darauf wartete, ob sich in dieser Beziehung ein Anderes, Neues, zeigen würde (DJ 33). Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Don Juan sieht einen ganz normalen Sexualakt und beginnt enttäuscht, die Minuten seiner Dauer zu zählen (DJ 37). Weil er von den Liebenden entdeckt und für einen Voyeur gehalten wird, verfolgen ihn diese bis vor die Mauer des Gartens, hinter der er, sicher vor seinen Verfolgern, zum Erzähler werden kann. Diese Verwandlung des Liebhabers zum Erzähler ist biblisch codiert, sie vollzieht sich zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. Zugleich erscheint sie nicht allein als Sprachwunder, sondern auch als märchenhaftes Naturgeschehen: „Heerscharen verschiedenartiger und -farbiger Schmetterlinge“ umgeben Don Juan wie „ein einziges, miniaturhaftes Fähnchen-, Wimpel- und Standartenschwenken“ (DJ 24). Wie dem legendarischen Franziskus nähern sich ihm die Tiere zutraulich und ohne Scheu. Zudem ist das paradiesische Bild mit der Phantasie einer natürlichen Befruchtung verbunden, die den Schmerz über das verlorene Kind vergessen lässt. Im Zeichen der Don Juans Erzählen zugeordneten Pappelsamen (DJ 129, 131, 140, 156) erscheint die Phantasie erfüllbar, dass das Erzählen selbst zu einem „Zeugen im Geist“ werden könne, wie es einst Thomas Mann als Leser Platons phantasierte (Reed 1984, 103). Zugleich allerdings stellt der Text Sprechen und Erzählen in einen historischen und diskursgeschichtlichen Kontext. Die Begegnung zwischen Don Juan und dem Erzähler findet im Garten von Port Royal statt. Von diesem Kloster aus versuchten die Jansenisten, die Herrschaft der Römischen Amtskirche durch einen diskursiven Gegenentwurf von Moral, Reflexion und Logik abzulösen, der auf Internalisierung angelegt war. Nicht ohne Grund umkreisen die Überlegungen von Pascal und Descartes Port Royal, für Foucault entsteht hier die machtgestützte Ordnung des Diskurses, die er in der Ordnung der Dinge beschreibt. Die psychoanalytische Deutung durch Otto Rank erfasst diese Dialektik von diskursiver Freiheit und Kontrolle, wenn sie darauf hinweist, dass der Don-Juan-Stoff nicht auf die „Darstellung des ungebundenen Sexualstrebens“ abziele, sondern einer Verdrängung entstamme, die mit unbewusst wahrgenommener Schuld und Strafe verknüpft ist (Rank 1942, 35). In diesen Kontext fügt sich ein, dass die Sprache Don Juans in Handkes Text eine neue Ordnung begründen will. Sie versucht immer wieder, die Unmittelbarkeit des Augenblicks anstelle der rekonstruierbaren Kausalitäten zu erfassen. Dies erklärt, warum der Bericht über die sieben Liebesepisoden eigentümlich planlos und zerstreut erscheint, warum der Gang der Erzählung seine Entsprechung in Don Juans Flucht findet, in deren Verlauf dieser über weite Strecken rückwärts geht und damit die Linearität von Zeit und die Logik der Abläufe durchbricht. Damit verbunden ist in Handkes Text die Unterscheidung zwischen der Unmittelbarkeit des Blicks und den medialen Vermittlungsformen von Sprache und Schrift. Immer wieder wird deutlich, dass sich die von Don Juan inszenierte Liebe zunächst in einem Jenseits der Sprache, in der Unmittelbarkeit des Sehens vollzieht. Für den Erzähler ist Don Juans Sehen ein Erkennen im Vollsinn des
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biblischen Wortes. Die Verführungskraft dieses Liebhabers liegt nicht in seinen Reden, schon gar nicht in seiner sexuellen Potenz, sondern allein in der Kraft seines Blickes. „Don Juans Macht kam von seinen Augen“, heißt es lapidar (DJ 74). Genau daraus ergibt sich die Anforderung an den Erzähler. Seine Aufgabe ist es, diese Offenheit zu erhalten und immer wieder zu inszenieren. Das Erzählen soll die Erinnerung an Unmittelbarkeit bewahren, während die Schrift, in die das Erzählen mündet, diese Erfahrung auszulöschen droht. Der Erzähler erkennt, dass sich Don Juans Selbstverwirklichung erst jenseits des Spiels der Liebe vollendet. Erst wenn dieser zu einem Erzählen findet, das über die bloße Aufzeichnung der erotischen Episoden hinausgeht, kann er den Eros der Sprache selbst erfassen. Allein deshalb fasziniert das Erzählspiel Don Juans, das sein Liebesspiel ablöst und transformiert, den Berichterstatter so sehr, dass er es fortzusetzen bemüht ist. Der Schlusssatz des Buches: „Don Juans Geschichte kann kein Ende haben, und das ist, sage und schreibe, die endgültige und wahre Geschichte Don Juans“ (DJ 159) ist alles andere als ein Hinweis auf eine mögliche Fortsetzung der Serie erotischer Erfahrungen dieses oder anderer Männer. Es ist eine entschiedene Aufforderung dazu, die konventionellen Liebesgeschichten zu verlassen, die immer wieder Ewigkeit versprechen, aber allesamt nur ein Ende haben. Dass die bloße Fortführung der erotischen Abenteuer nichts anderes wäre als eine Katastrophe, bestätigt der Bericht des Erzählers. Er beschreibt, dass Don Juan, nachdem er die Serie seiner Verführungen zu Ende erzählt hat, in einen manischen Zählzwang verfällt. Nicht nur ihm selbst sondern auch seinem Zuhörer erscheinen die früheren Geliebten, die sich jetzt vor den Klostermauern versammelt haben, nur noch als Zahl. Auf die rhetorische Frage, wonach er suche, nach „Zahl oder Schrift?“, möchte sein Zuhörer antworten: „Schrift“ (DJ 156). Dieser Opposition korrespondiert zunächst die Gegenüberstellung von Zählzeit und erfüllter Zeit, erzählter Zeit und Erzählzeit. Mit ihr wiederum ist das Motiv des spontanen Sehens, des Augen-Blicks gekoppelt. Dass die eigentliche Macht Don Juans in seinem Blick liegt, zeigt ein Vermögen der Anschauung, das der Unmittelbarkeit des Bildes entspricht, die das Erzählen durch Fortschreiben zu bewahren sucht. Zugleich ist die Macht, die im Blick liegt (DJ 73 f.), Zeichen eines Begehrens, von dem es heißt, ein Philosoph habe es, „indem es von der Frau als Unbedingtes wahrgenommen wurde, vor Zeiten als unwiderstehlich und gar als ‚sieghaft‘ bezeichnet“ (DJ 75). Mit diesem Verweis, der an Juan de la Cruz Llama de Amor viva und zugleich an Nietzsche erinnert, rekurriert Handke zunächst auf Bilder seiner früheren Texte. Der durch den Blick gestiftete spontane Zugang zu den Frauen eröffnet seinem Don Juan „jenes andere Zeitsystem“ (DJ 77), dessen Geschichten mit sieben Frauen geschehen niemals in der „gewohnten Zeit“, sondern in Wahrheit „in keiner Zeit“ (DJ 102 f.). Dort vollziehen sich zwar alle amourösen Abenteuer in genau definierten Räumen und unter exakt bestimmten sozialen Beziehungen. Doch entscheidend ist, dass sie den Frauen die Fähigkeit geben, sich selbst zu erleben, zum Mittelpunkt dieser Räume zu werden. Gleiches widerfährt ihrem Liebhaber: Für ihn geht es nicht allein um erotische Erfahrungen, sondern darum
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„Herr seiner Zeit“ (DJ 54) zu werden und die eigenen Möglichkeiten übersteigen zu können. Darauf weist, dass Don Juan die Fähigkeit zur ‚Beidhändigkeit‘ am Ende seiner Erzählungen wieder verliert (DJ 139). Der Raum der Liebesgeschichten gehört deshalb nicht allein der Realität, sondern auch der Phantasie an. Die Landschaften, die Don Juan entwirft, sind nicht durch ihre Eigenheit, sondern durch ihre Vergleichbarkeit auffällig: „An jedem neuen Tag betrat er ein neues, oft fernes Land, und die Landschaft, in welcher sich die Ereignisse des Tages abspielten, war oder wurde jedes Mal wieder im großen und ganzen die gleiche“ (DJ 57). Diese eigentümliche Ort- und Zeitlosigkeit kennzeichnet die grundsätzliche Verschiedenheit von Don Juans Beziehungen im Vergleich zu den Liebesverhältnissen anderer Männer: „sie, die Frauen, wegbringen, von hier, hier und hier“ ist seine Aufgabe (DJ 74). Don Juan erlebt zusammen mit den Frauen „Gleichzeitigkeit“, mit ihnen hat er einen „vollkommen übereinstimmenden Zeitsinn“ (DJ 89), erfährt er „jenes andere Zeitsystem“ (DJ 77). Die Zeit der Erzählung verleiht dem Augenblick immer wieder Dauer, die erotische Erfahrung stiftet dagegen nur ein „Abschiedsparadies“ (DJ 83), dessen Verlassen der Protagonist am Ende seines Erzählens dann schockhaft als Eintritt in die gewöhnliche Zeit erfährt: „Die Zeit war nicht mehr sein Element“ […], heißt es dann, „die Augenblicke sprangen um in Sekunden“ (DJ 54). Jetzt erlebt er einen „Verlust der Abstände und Zwischenräume“ (DJ 142) und eine „jäh hervorgebrochene ‚Taktlosigkeit‘“ (DJ 145). Bei dieser Entgegensetzung von erzählter und erfüllter Zeit, von Zählzeit und Erzählzeit bleibt Handkes Text allerdings nicht stehen. In vorangehenden Texten wie etwa dem Chinesen des Schmerzes setzte er der Denotation der Schrift allein die Kraft der Bilder entgegen. Jetzt entfaltet er zusammen mit dem Begriff der Schrift das Phantasma eines Zusammenfalls der Unmittelbarkeit von Erfahrung mit den Zeichen der Schrift. Don Juans Erzählen weist ihm den Weg. Der Erzähler bemerkt, dass „Don Juan die Lippen bewegt wie jemand, der buchstabiert“ (DJ 156). Dieses „Buchstabieren“ wird zur Metapher für eine Schrift avant la lettre, vor den diskursiven Fixierungen und den Ordnungen der Sozialisation. Sie benutzend erscheint Don Juan als ein anderer. „Vollkommen ruhig blickt er um sich, mit der Ruhe eines Wilden“ (DJ 157), es ist das Bild, mit dem auch Baudelaire den Wilden und die Kurtisane die Ordnung der Vernunft durchkreuzen lässt (Baudelaire Pl-2, 720). Das Buchstabieren vollendet sich im Erzählen Don Juans. Der Text wird deshalb zu einem Metadiskurs über das Erzählen, in dem nicht das Thema der Liebe, sondern allein die Liebe zum Erzählen zählt, die wie in einer Epiphanie erfahren wird. Der Berichterstatter von Don Juans Erzählen hat den Eindruck, dass der Eroberer der Frauen während seines Erzählens an ihm vorbei oder durch ihn hindurch blickt bis zu dem einen Augenblick, als ihm „etwas wie sein Talisman aus der Hand fiel und zu zerbrechen drohte, wobei ihm ein Name entfuhr“. Und ausdrücklich heißt es, dass es „nicht der einer Frau war“ (DJ 158). Das Rätsel bleibt unaufgeklärt, doch alles spricht dafür, dass der Name, der nicht zu verstehen ist, das Vermögen des Erzählens selbst thematisiert. Der Talisman, der einen Namen beschwören lässt, kennzeichnet einen Modus der Zeichengebung, der sich
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fundamental von den dechiffrierenden Zeichen einer encyklopädischen Kartographierung der Welt unterscheidet, wie sie die Aufklärung etablierte. Damit nähert sich Handkes Erzählen einer sprachphilosophischen Reflexion, die Adorno in der Ästhetischen Theorie entfaltet (Adorno GS-7, 86). Die Bedeutung der Zahl in Handkes Text entspricht der „meinenden Sprache“ Adornos (Adorno GS-16, 650), in der jede terminologische Fixierung Herrschaft und Verlust von Unmittelbarkeit zugleich bedeutet. Dies belegen der „Zählzwang“ (DJ 140) und die „Zeitnot“ (DJ 141), die Don Juan befallen, nachdem er seine Erzählung beendet hat. Zugleich korrespondiert Don Juans Erzählen dem Mimetischen bei Adorno. So wie dieses beim Philosophen nicht nur aus Anschauung und Unmittelbarkeit entsteht, sondern zugleich mit der denotativen Macht der Schrift verknüpft ist, entsteht Don Juans Erzählung aus einer dialektischen Verschränkung der unmittelbaren Erfahrung mit der Ordnung der Schrift. Von der Liebe erzählend „buchstabiert“ Don Juan die Frauen. Dieses „Buchstabieren“ entwirft ein Zeichensystem, das zur Metapher der Liebe und des Erzählens zugleich wird, es kennzeichnet ein Benennen, welches das Benannte in seiner Eigenheit belässt. Auf diese Weise übersetzt Handke eine in der Kritischen Theorie entwickelte philosophische Denkfigur in die Metaphorik der erfüllten Liebe: Die Sprache und die erzählten Szenen der Liebe zu Frauen transformieren den kritischen in einen mimetischen Gestus. Der Gedanke wird Wunsch, Eros ist im Wort, die erzählten Bilder des Wunsches entfalten eine „Lust am Text“, die Dauer verspricht (Barthes 1973). Schon vorher machte Don Juans Erzählen deutlich, dass dieser in seiner Beziehung zu Frauen niemals darauf aus war, der Verführer zu sein. Stets wollte er nur die „Frauenzeit“ erleben, die ihm das „große Innehalten“ ermöglichte (DJ 125). Doch die Utopie der erfüllten Erfahrung und der erfüllten Liebe gehört nicht dem Leben sondern allein dem Erzählen an und auch nur dann, wenn dieses seine Offenheit bewahrt und sich nicht zur bloßen Wiedergabe erotischer Geschichten verkürzt. Deshalb darf sich Don Juans Erfahrung mit Frauen nicht auf die erotische Erfahrung beschränken. Das „Zählen“ (DJ 125) der Frauen und Abenteuer galt es von Anfang an durch das „Buchstabieren“ zu überwinden. Während die erotischen Erfahrungen alle Frauen schließlich in die ‚Namenlosigkeit‘ (DJ 134) verweisen und zu einer einzigen „Tatsache Frau“ (DJ 65) verschwimmen lassen, kann das Erzählen Namen stiften. Es erscheint wie eine Zeugung, die in Handkes Text zum Zeichen verdichtet ist durch den „Pappelblütenflaum“ (DJ 88), der den Erzähler Don Juan umgibt. Diese erotische Apotheose des Erzählens in Handkes Text findet ihre Kontrafaktur in der Geschichte des Dieners, der das Elend des überlieferten Don Juan nacherlebt, seinen Libertinismus, der nichts anderes zur Folge hat als die Unfähigkeit, soziale Beziehungen von Dauer einzugehen. Über diesen heißt es, mit den Frauen „versuchte er auf der Stelle ein Abenteuer; von Liebe dabei keine Rede“ (DJ 86). Dieser karikierte Doppelgänger des literarischen Don Juan wünscht sich allerdings nichts sehnlicher, als ein Dichter zu sein. Sein Herr dagegen hat seine Geschichte erotischer Abenteuer längst dem Mythos überantwortet. Die Libertinage und die Monotonie der Wiederholung hat er durch sein Erzählen
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überwunden, das auf Dauer setzt und autoreferentiell wird. Im Erzählen seines Zuhörers wird es sich fortsetzen, auch dieser wird ein Zeuger im Geist sein. So kehrt dieser Don Juan zur Erotik Platons zurück und macht zugleich die moderne Differenz zu diesem deutlich. Als Erzähler überwindet Don Juan die traumatische Erfahrung des Todes seines Kindes, indem er die Fähigkeit zum Zeugen im Wort erlangt. Doch dieses Zeugen im Wort darf niemals in der Abgeschlossenheit eines Buches enden. Selbst das Buch, das Don Juans Geschichte erzählt, ist nur Teil eines unendlichen Textes, der die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit bewahren soll, ohne ihr eine abgeschlossene Geschichte zu geben. Damit stehen der Text und der Film über Don Juan in einer inversen Beziehung, die zugleich ihre innere Verbindung markiert. Handkes erzählter Rückgriff auf Sprachphilosophie und Diskursanalyse ist beherrscht von einer Sehnsucht nach dem Bild, die sich in den überbordenden Naturbeschreibungen und in Don Juans mimetischem Erzählen zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig kann er der durch Sprache vermittelten Reflexion nie entgehen. Das erzählte Wechselspiel von Innenraum und Außenraum, Imaginationsraum und Wahrnehmungsraum formt ihn deshalb durchgehend. Im Gegensatz dazu findet der Film von Jarmusch zu einer visuellen Prägnanz, die im Jenseits der Sprache die Authentizität des Augenblicks wie selbstverständlich bewahrt. Zugleich entfaltet er mit filmischen Mitteln Schemata der Narration, die er Texten entliehen hat, um die begriffslosen Bilder zu ordnen und verstehbar zu machen. Damit wiederholt sich in der Konvergenz dieser unterschiedlichen medialen Bearbeitungen des Don Juan-Themas die gleiche spannungsvolle Beziehung von Wort und Bild, Schrift und Bild, die in Handkes und Wenders Himmel über Berlin thematisch wird und die Handke in seinem Text über den Bildverlust immer wieder reflektiert (BV 746; Wenders 1992, 197).
7.6 Bild, Schrift und Erzählen: Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos (2002) Nicht anders als im Text der Niemandsbucht, der immer wieder die Grenze zwischen Autobiographie und Autofiktion überschreitet, sind auch im Bildverlust sowohl einzelne Bilder als auch ganze Erzählpassagen multipel lesbar, weil man sie unterschiedlichen Kontexten zuordnen kann, die sich überlagern. Die erzählte Geschichte, die auf den ersten Blick einer linearen Ordnung zu folgen scheint, wird immer wieder von eingeschobenen Erzählungen, Vor- oder Rückverweisen durchbrochen. An ihren Berührungsstellen kommt es zu komplexen metonymischen Verschränkungen, deren Nähe zur metonymischen Metaphorik Prousts unverkennbar ist (Keller 1991, 248). Schon auf der einfachsten Ebene des Erzählens, die den geographischen Raum der Sierra de Gredos, südwestlich von Madrid, realistisch abzubilden scheint, mischen sich verifizierbare Ortsangaben mit phantastischen Namen wie „Nuevo Bazar“, oder solchen, die Nähe und Ferne, Vertrautes und Fremdes verschränken, wie Spanien, Serbien und Alaska (Luckscheiter 2012, 143).
7.6 Bild, Schrift und Erzählen: Der Bildverlust (2002)
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Zudem ist der Text, der in einer nahen Zukunft spielt, von Anfang an mit Bildern der Gegenwart ebenso verknüpft wie mit Erinnerungen an die Vergangenheit. Die Zeit Karls des Fünften gewinnt Bedeutung, aber auch Vorausdeutungen auf eine nahe Zukunft. Und ohne Frage bezieht sich der Text immer wieder auf einen anderen Roman, den Don Quijote des Cervantes. Dies zeigen zum einen seine komplexe Erzählstruktur (Pichler 2013, 3), zum anderen die Erinnerungen an Cervantes Landschaftsbeschreibungen (MJN 925). Daneben rückt der Autor Handke allerdings auch fingierte Bezüge auf Cervantes (Pichler 2013, 4). Dass die eigentliche Beziehung auf Cervantes jedoch jenseits der Zitate und formalen Ähnlichkeiten grundsätzlicher ist, belegt der Schluss des Textes. Kurz bevor die Protagonistin am Ende ihrer Reise in dem Manchadorf ankommt, in dem sie dem fiktiven Autor ihre Geschichte erzählen will, phantasiert sie sich eine Hand, die mit einer Stahlfeder schreibt. Dieses Bild bezieht sich auf den „Traum-Autor“ Cervantes, dem der von ihr beauftragte Autor nur nachschreibt und dabei seine eigene Rolle bedenkt: „und ich, der Gegenwartsautor im Manchadorf? Was war ich im Vergleich zu ihm anderes als eine Art Notbehelf?“ (BV 709). Allerdings ist keineswegs eindeutig zu klären, ob die Frau diesen Traum wirklich hat, oder ob er ihr von dem durch sie beauftragten Autor zugeschrieben wird. Denn sie bemerkt durchaus, wie sich ihr Autor-Zuhörer „zunehmend ihrer, der Geschichte, bemächtigte“ oder „sich einverleibte“ (BV 741), dass die Geschichte in ihn hineinfuhr wie ein Dämon. Damit wird nicht nur die grundsätzliche Frage danach aufgeworfen, wer in diesem Roman eigentlich erzählt, vielmehr rückt jetzt neben die Reflexion über das Medium des Bildes, die weite Strecken des Textes bestimmt, nun auch die über das Medium der Schrift. Mit der zentralen Frage, wie Wirklichkeit durch die Zeichen der Sprache wiedergegeben werden kann, sieht sich der moderne Autor wie sein Vorläufer auf die Notwendigkeit verwiesen, „mit den Zeichen und den Ähnlichkeiten“ zu spielen (Foucault 1978, 82; Pichler 2013, 5). Das bloße Erzählen des Wirklichen tritt also in dem Maß zurück, wie sich eine eigene Wirklichkeit des Erzählens zu etablieren beginnt. Diese entwirft Bilder und Geschichten, die sich vom Paradigma der Abbildung lösen. Es entstehen Erzählwirklichkeiten oder Erzählwelten, die sich als Elemente eines Metatextes erkennen lassen, der immer wieder vom Thema des Erzählens selbst spricht. Die Handlung dieser Reise durch die Sierra wird am Ende auf das zentrale Thema des Jahrs in der Niemandsbucht zurückgeführt. Dabei wird deutlich, dass dieses Thema Handkes fiktionale und autofiktionale Entwürfe in ein transtextuelles Bezugssystem einfügt, das an jeder Stelle autoreflexiv ist. Es ist gewiss kein Zufall, dass die seinen Text bestimmende Verschränkung dieser unterschiedlichen Erzählsegmente und -wirklichkeiten auch graphisch durch den Satzspiegel unterstrichen wird. Dieser gliedert alle Erzählabschnitte so in Abschnitte, dass sie sich auch als Einzelbeobachtungen oder spontane Reflexionen lesen lassen, die der Linearität des Erzählens nicht bedürfen. Die Leerzeilen fordern zu Verknüpfungen, zur Doppellektüre oder zur Einordnung in ein textübergreifendes Bezugssystem auf. Formal ist der Text wie ein Stationendrama gegliedert, bei dem bestimmte Orte innerhalb der linearen Struktur der Gebirgsüberschreitung markiert sind.
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Es sind eine Stadt im Norden, aus der die Frau stammt, und dann Nuevo Bazar, Polvereda, Pedrada, Hondareda im Gebirge und am Ende La Mancha. Diese Orte sind zugleich Wendepunkte innerhalb der Geschichte. An jedem von ihnen ereignet sich etwas, das während eines Gastmahls, durch Konversation oder durch wortlose Zeichen zum Ausdruck gebracht wird. Zugleich sind diese Orte Entwicklungsstationen in einem doppelten Sinn. Sie markieren die Veränderung der Reisenden, die im Zentrum des Textes steht, sie sind aber zugleich Wendepunkte des Erzählens selbst, denn bei ihrer Beschreibung interagieren jeweils unterschiedliche Erzählinstanzen. Neben die Frau, die von sich erzählen lassen will und gleichwohl immer auch selbst von sich erzählt, tritt der Erzähler, der mit der Niederschrift der Wanderung beauftragt ist und der seinem Bericht, den er am Ende beim Zusammentreffen mit der Auftraggeberin in La Mancha bereits vorliegen hat, eigene Reflexionen einzeichnet. Darüber hinaus kommen immer wieder fremde Beobachter ins Spiel, wie beispielsweise ein Berichterstatter oder solche Personen, die von sich selbst erzählen. Diese komplexe Erzählsituation, in der die Erzählinstanzen ständig Perspektive und Duktus des Erzählens variieren, inszeniert eine oszillierende Wahrnehmung der Wirklichkeit, die immer wieder Doppelbilder hervorbringt. Fast alle Beschreibungen, sowohl die von Naturphänomenen als auch die von Menschen, lassen sich zwar als Bilder einer Geschichte lesen, die Wirklichkeit abzubilden vorgibt. Zugleich aber korrespondieren sie psychischen Projektionen entweder des fiktiven Erzählers oder der Figur, sodass sich an jeder Stelle Außen- und Innenwahrnehmung überlagern. Damit nimmt der Roman nicht nur einen Erzählgestus auf, der auch das Jahr in der Niemandsbucht bestimmt, er zeigt sich mit diesem Text auch insofern verschränkt, als er alle Wahrnehmungen einem Psychogramm zuordnet, das sich als Voraussetzung des Erzählens selbst erkennen lässt. Im Bildverlust führen die Doppelbilder allerdings in deutlicher Vorzeichnung der im Großen Fall beschriebenen Situation dazu, dass die Mitreisenden der Frau „im Frieden den Krieg sahen“, auch diese Doppelbilder werden mit den phantasmagorischen Wahrnehmungen Don Quijotes verglichen (BV 351). Häufig werden selbst Naturbeschreibungen doppeldeutig dadurch, dass sie in Beziehung zu einem leitenden Bild in Handkes anderen Texten stehen. Ein Beispiel dafür gibt das Motiv der Schwelle, das am Beginn der Reise eine Naturformation ist, auf der die Reisende schreitet (BV 76 f.), zweifellos aber auch auf die Texte Handkes verweist, in denen, wie paradigmatisch in der Langsamen Heimkehr, Schwellen den Übergang zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsbereichen und eine Wandlung des Wahrnehmenden selbst markieren. Diese Doppelkodierung der Naturwahrnehmungen wiederholt sich beim Blick auf technische Bilder. Als sich ein Flugzeug am Himmel zeigt, heißt es: „– es war eine Epoche der schwarzen Kondensstreifen –, noch um einen Schwarzgrund schwärzer dann bei deren Passieren der Sonne, wobei es augenblicksweise fühlbar noch kälter wurde, wie im Moment einer totalen Sonnenfinsternis“ (BV 182). In Übereinstimmung damit korrespondiert der Weg der Protagonistin durch Spanien nicht nur einem Wechsel psychischer Zustände, er folgt auch deren labiler Ordnung. Vieles spricht dafür, dass der abrupte und oft unerklärbare Wechsel der
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erzählten Bilder einer Wahrnehmung entspricht, die mit ihrer Überzeichnung von beglückenden und erschreckenden Elementen die Psychobilder einer manischen Depression nachstellt, die im Wechsel von Grandiosität und Depression stets neue Zugänge zur Wirklichkeit entwirft. Es gilt sich klarzumachen dass diese psychische Codierung der Wahrnehmung, die der Text der Reise favorisiert, auch den poetologischen Entwurf der Wirklichkeit des Erzählens bestimmt. Er verwandelt die Erzählung von der Wanderung in eine Reflexion über das Erzählen und entfaltet dabei eine eigene Ordnung des Erzählens. Diese lässt darüber hinaus auch die lebensbestimmende Kraft des Erzählens für den Erzähler selbst deutlich werden. Vieles spricht dafür, dass die in diesem und anderen Texten Handkes wie Epiphanien erscheinenden Szenen, die in der Kritik häufig als eine unangemessene ‚Erzähltheologie‘ bezeichnet wurden, in Wahrheit Ziel und Ende der psychischen Durcharbeitung einer ambivalenten Erfahrung des Ich markieren. Dass sich dieser psychische Prozess unabhängig davon durchaus eines religiösen Zeichenvorrats bedient, hat eine doppelte Ursache. Zum einen gehen die christlichen Referenzen in Handkes Texten zwar von bestimmten biblischen Bildern aus, denen er in exemplarischer Weise symbolische Qualität zuschreibt. Vorgezeichnet ist diese Schreibtechnik und die damit verbundene Reflexion über Symbole extensiv in den Aufzeichnungen von Gestern unterwegs, etwa anlässlich der Darstellung der „Wurzel Jesse in der Michaeliskirche in Hildesheim“ als einem „Hauptbild“ für den Bildverlust (GU 84). Zum anderen bestätigt sich an der subjektiven Aufladung dieses visuellen Zugriffs auf doppelt gelesene Bilder, dass diese eine psychische Dissoziation nachstellen, die gerade im Augenblick der Verwirrung die Details des Realen in besonderer Schärfe hervortreten lässt. Im Ergebnis verbindet sich die Reise durch die Landschaft deshalb zunächst mit der Darstellung eines innerpsychischen Prozesses, den der Autor sowohl seinem fiktiven Erzähler, seiner Protagonistin, als auch den Bildern und Situationen des Textes einschreibt, für die allesamt wiederholt die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum zu verschwinden scheint (vgl. GU 70). Das Ankommen der Protagonistin bei ihrem Erzähler in La Mancha vereint schließlich das Erzählspiel über die Reise mit der Psychogeschichte, die sie strukturiert. Dabei werden die beiden Ebenen der Abbildung des Realen und der Nachzeichnung des Psychischen in einer Phantasie von der Unmittelbarkeit körperlicher Begegnung miteinander versöhnt. Am Ende werden zwei Geschichten in einer Szene abgeschlossen, welche die Phantasien des Schreibens mit Phantasien körperlicher Unmittelbarkeit vereinigt. Die eingangs von Protagonistin wie Erzähler gestellte Frage nach der Rolle der Schrift findet damit ihre Antwort: Diese ist notwendig, um das Leben sichtbar zu machen, doch gleichzeitig wird sie verlöschen, sobald sie zu seiner unmittelbaren Erfahrung hingeführt hat.
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Die Geschichte Auf der Oberflächenstruktur beschreibt der Roman also zugleich eine Episode im Leben einer Frau, das Erzählen ihres fiktiven Erzählers und die mit beidem verknüpfte Eigendynamik der Erinnerung. Das Erzählen der Geschichte der reisenden Frau ist eine Auftragsarbeit, sie soll eine lebensgeschichtliche Phase der Auftraggeberin rekonstruieren, weil bei dieser die Erinnerungen an das Erlebte zu verblassen beginnen. Da sich diese aber nicht nur auf wirkliche Ereignisse und Erlebnisse beziehen, sondern zugleich auf Phantasien, die mit diesen verbunden sind, stellt sich für den fiktiven Autor zugleich die Frage, wie er Fakten und Phantasie in seinem Erzählen zueinander in Beziehung setzen kann. Dies ist in doppelter Hinsicht schwierig. Zum einen ist es ihm ausdrücklich untersagt, dechiffrierbare Namen und Orte zu benennen, allein die Orte der Phantasie dürfen Gegenstand seines Erzählens sein. Doch zugleich gehen die Phantasien der Protagonistin in das Erzählen des Erzählers ein und mobilisieren dort die ‚Phantasien des Erzählens‘, die sich beim fiktiven Erzähler selbst – von der Frau wird er auch als ein „Erfinder“ bezeichnet – einstellen. Überdies rekonstruiert dessen Erzählen nicht nur, was ihm diese berichtet, sondern auch das, was sie von anderen, die ihr erzählen, vorher gehört hat. Deshalb oszilliert sein Text zwischen dem Bericht über die Reise der Frau, ihren und seinen unterschiedlichen Wahrnehmungen und Bildern. Häufig sind diese unterschiedlichen Elemente des Erzählens zwar wie in einem Patchwork miteinander verknüpft, doch nicht immer sind sie miteinander kompatibel. Das Erzählen erscheint deshalb nicht immer zielgerichtet, vielmehr kombiniert es unterschiedliche Realitätsstufen. Damit verbunden sind Vor- und Rückgriffe ebenso wie die Rekonstruktion unterschiedlicher Erzählerpositionen und Erzählperspektiven. Bereits bei Erteilung des Schreibauftrags zeichnet sich dies ab. Die Frau erzählt dem Autor von ihrem Leben und wünscht sich offensichtlich keine bloße Wiedergabe ihres Berichts, sondern „ein richtiges Buch über sich“. Nicht ohne Grund besteht sie ausdrücklich auf einem „mehr oder weniger zünftigen Schriftsteller[.]; einem Erzähler; meinetwegen einem Erfinder, was ja nicht heißen mußte, daß der die Fakten verbog oder fälschte –“ (BV 15). Die besondere Beziehung zwischen ihr und dem Autor ergibt sich zudem daraus, dass sie früher eine seiner Leserinnen war (BV 16). Auffällig bei der ersten Begegnung der beiden ist die zwischen ihnen herrschende Fremdheit, die nicht durchbrochen werden kann und offenbar auch nicht durchbrochen werden soll. Gleichwohl gilt es für beide, den Anschein von Ursprünglichkeit zu wahren. Daraus ergibt sich die Leitfrage des Autors, ob der Auftraggeberin die Mündlichkeit oder die Schriftlichkeit wichtiger sei. Für ihn selbst, so der Autor, sei die Schriftlichkeit „der wesentliche Zusatz der Erzählung, sei deren Bereicherung – die Bereicherung“ (BV 20). Eine weitere Komplikation für den Erzähler ergibt sich daraus, dass mit der Geschichte von der Reise der Frau auch die Geschichte ihres Bruders erzählt werden soll, der als Gewalttäter im Gefängnis saß und von dem eine weitere Gewalttat zu befürchten ist.
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Die Unterschiede zwischen dem Bericht der Frau, ihren Erinnerungen und dem Erzählen des fiktiven Erzählers werden schon am Anfang klar markiert: Während die spontan aufkommenden Bilder so etwas wie eine Jetztzeit schaffen, soll die zu erzählende Geschichte in einer „Zwischenzeit“ spielen, in einer Zeit in der noch Überraschungen möglich sind (BV 27). Erforderlich dafür ist nicht nur, dass der fiktive Autor, das ist ein klarer Bezug auf Mein Jahr in der Niemandsbucht, seine Perspektive auf die „Ränderlandschaft“ der Vorstadt rückbeziehen kann, die „einen atmenden Frieden“ ausstrahlt (BV 36). Seine detailgenaue Wahrnehmung und Beschreibung der Natur zielt auch auf die Erfassung eines Lebensrhythmus, der sich zum Phänomen der langen Dauer (BV 49) in Beziehung setzen lässt. Grundsätzlich transportiert sein Text unterschiedliche Zeiterfahrungen, die ihren je eigenen Sinn erst in der Verschränkung miteinander erhalten. Die Reise der Wanderin vollzieht sich damit in Raum und Zeit zugleich. Das Erzählen zeichnet diese unterschiedlichen Zeiterfahrungen nach und entfaltet gerade dadurch seine „Eigenzeit“: Geschichten, Geschichte und die Zeit des Erzählens bestimmen gleichermaßen, aber mit unterschiedlichen Konsequenzen die Perspektive des Erzählers.
Der Weg in die Sierra: Weg in Zeit und Raum zugleich Die Geschichte der Wandernden vollzieht sich in einer nahen Zukunft, die immer wieder durch Hinweise auf politische oder technische Orientierungsdaten charakterisiert wird, gleichzeitig wird deutlich, dass der Weg durch die Sierra de Gredos auch eine andere Zeit eröffnet. Die Ausgangsdaten werden durch eine verfremdete Gegenwart gegeben, in deren Hintergrund die aktuellen Ereignisse des Balkankriegs stehen. Das mitunter abgehoben und zeitlos erscheinende poetische Programm des Erzählens formiert sich vor der Folie des Politischen, die eine Gegenwarts- wie eine Zukunftsperspektive eröffnet. So ist das Bild der nahen Zukunft in das „Dunkel einer Vorkriegszeit“ getaucht, die der Erzähler als einen „Vorkrieg, wie es ihn vielleicht noch nie zuvor gegeben hatte“ bezeichnet. Einerseits ist das Wort ‚Frieden‘ im öffentlichen Diskurs bestimmend. Andererseits war schon „der Krieg in Gang, sowohl der alte der Völker untereinander als auch ein neuer, eines jeden gegen jeden, der zweite rücksichtsloser noch auf Vernichtung bedacht als der erste“ (BV 106). Diese Dystopie ist gekennzeichnet durch das Aufflammen alter Völkerfeindschaften, das ehemals Geeinte zerbricht, der Bezug auf die Situation während des Balkankriegs ist eindeutig. In dem Augenblick, in dem die Grenzen aufgehoben sind, treten die alten Vorurteile wieder auf, die Völkerfreundschaften gelten „höchstens offiziell, und eine bloße Zeit lang, nicht auf lange Dauer“ (BV 108). Die Volksvertreter werden zu „Wortkriegsführern“, schlimmer noch in den „aktuell Führenden erstand alle über alle der einstige, zu Knochenstaub und -splitter gewordene, von den Überlieferungen möglicherweise überbewertete Pöbel der früheren Länder als Wiedergänger“ (BV 109). Die überall vorherrschende Gewalt ist ideologisch verbrämt, gleichzeitig fallen auch alle Grenzen des Anstands, und es kommt dazu, „daß mehr
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und mehr Führende, eingeladen ins je andere Land, dort ärger als je eine Pöbelmasse das Urgesetz der Gastfreundschaft missachteten“ (BV 111). Die folgenden Anspielungen auch auf Joschka Fischer und George Bush lesen sich zudem wie hellsichtige Vorzeichnungen der aktuellen Ära Trump (BV 111 f.). Doch bei der Rückkehr der Frau zeigt sich, dass sie während ihrer Wanderung durch die Sierra wie in einem romantischen Märchen in einer Parallelzeit gelebt hatte. Draußen hat mittlerweile die Zukunft begonnen: Das erste Raumschiff ist auf dem Mars gelandet und die Schilder an den Autobahnen zeigen jetzt in Leuchtziffern die Stunden, Minuten und Sekunden an. Auch die politische Szene hat sich grundlegend verändert. Das Schlusskommuniqué eines Weltpräsidenten handelt davon, dass alle „eine einzige Sprache sprechen“, Belgrad ist erneut von den Türken erobert, ein Politiker, unverkennbar der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer, steht im Jogginganzug an der Mündung der Save in die Donau, „wedelte mit einem Geldpaket und pißte zugleich in den Zusammenfluß. Aquilea war die Hauptstadt Italiens geworden. Die altgriechische Sprache war in den Schulen von Alaska bis Feuerland wieder Pflichtfach“ (BV 736 f.). Die Frau dagegen hatte während ihrer Wanderung durch die „gebenedeitverdammte Sierra de Gredos“, so teilt sie ihrem Autor mit, einerseits die Erfahrung der „jäh umspringenden Welt“, andererseits „das tägliche morgendliche Stelldichein der Bilder aus der Sierra […], der, versteht sich, friedlichen – Bild und Frieden sind zuerst und zuletzt ein und dasselbe –: Bilder, wie sie sich mir aus den anderen Gegenden […] nicht annähernd so häufig […] einstellten“ (BV 370). Deshalb erhält für sie die Formel des „Bild–Werdens“, die mit dem zentralen Thema des ‚Bildverlusts‘ verknüpft ist, zunächst eine individuelle Bedeutung. In der Sierra nimmt sie wahr, dass „die Welt steht. Sie ist nicht untergegangen […]“ (BV 370). Zugleich eröffnet die Sierra zwei unterschiedliche Wahrnehmungen von Zeit: Die Erfahrung einer anderen Zeit und das Eintreten „in so eine Zeit (die zwischendurch in Vergessenheit geraten, in Sagenhaftigkeit entrückt war)“ (BV 84). Diesem äußeren Zeitenwechsel korrespondiert für die Frau ein innerer. In ihm überkreuzen sich historische Zeit und lebensgeschichtliche Zeiterfahrung, denn in der ‚Auszeit‘ der Sierra gelingt ihr auch ein Blick zurück. Der Bericht, den sie dem Erzähler übermittelt, setzt sich auch aus einer Reihe von Erinnerungen zusammen. Diese führen die Frau zunächst zu einem Wiedererleben früherer Missgeschicke oder „nicht selten lebensbedrohende[r] Alleingänge[.]“, dann aber auch zu einer Durcharbeitung früherer Erfahrungen im psychologischen Sinn. Insofern ist die Sierra ein Raum der Verheißung wie der Gefährdung zugleich. Denn von Anfang an droht der Frau auch „der große Fall“ (BV 372), weil die Bilder, die spielend vergegenwärtigt werden, mitunter unkalkulierbar sind. Sie repräsentieren, so die Frau, „eine grundverschiedene Gegenwart […] als meine persönliche“, spielen in einer „unpersönlichen Gegenwart“ und das „in einer Zeit und in einer Zeit-Form, für welche beide es weder ein Beiwort noch überhaupt einen Namen gibt“ (BV 373).
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Diese Ambivalenz, die mit einer Überlagerung unterschiedlicher Wahrnehmungsund Beschreibungsebenen einhergeht, bestimmt bereits den Aufbruch der Frau zu ihrer Reise. Ein Naturbild verbindet sich dort unmittelbar mit einer Phantasie, die zugleich auf die Zukunft weist. In der Nacht vor der Abreise erlebt die Frau einen zerstörerischen Orkan, der Bäume entwurzelt und dadurch eine neue Landschaft entstehen lässt. Die durch die Naturkatastrophe aufgerissene Erde löst bei ihr eine Desorientierung in Raum und Zeit zugleich aus: „Wo bin ich? Wann spielte das? Und war das jetzt? Und jetzt ist wann?“ (BV 67). Damit wird eine für Handkes Texte typische Konfiguration eingeleitet. Die Frau erfährt eine Epiphanie, die Naturkatastrophe eröffnet eine neue Erfahrung. Ausdrücklich heißt es nach dem Orkan, dieser habe „Vergangenheitsschichten“ freigelegt (BV 78). Die Frau imaginiert sich „das größere Jetzt“ und die „größere Zeit“ (BV 72), und fragt sich, wann das „Gehege der größeren Zeit“ „endlich herrschen“ werde (BV 73). Vergleichbare Erfahrungen bestimmen auch die nachfolgende Reise der Frau. Immer wieder erfährt sie Zeitsprünge. Sie denkt an das eintausend Meilen entfernte wendische Dorf ihrer Kindheit, an seine Sterbens-, Todes- und Gewaltgeschichten, gleichzeitig betrachtet sie dieses Dorf als den Ursprung aller ihrer beruflichen ‚Geldgeschichten‘, unmittelbar verbunden mit dem Leitwort „Wirtschaften“ (BV 202–205), das ihr späteres Leben bestimmt. Gerade weil sie diese Erinnerungen in Form von „Bilderblitzen“, „Bildmeteoren“ oder „Zwischenbildern“ befallen, will sie die Geschichte, die sie dem fiktiven Erzähler später mitteilen wird, vorerzählen. Das Erzählen und das nachfolgende Aufschreiben sollen Dauer verbürgen (BV 209). An anderer Stelle mobilisieren die Zeitsprünge Bilder der Geschichte als Ausgangspunkte des Erzählens. Dies belegt eine Assoziation, die sich unmittelbar an die Schilderung von Regentropfen im Wegstaub anschließt. Die Reisende hat den Eindruck, auf ein Schiff zu treten, fragt sich, wo sie das Brett, über das sie zu gehen glaubt, zuerst gesehen hat, erinnert sich an das Schifffahrtsmuseum von Madrid, schließlich an die Seeleute des spanisch-österreichischen Weltreichs und plötzlich heißt es im Text: Wann war was jetzt? Im sechzehnten Jahrhundert, um 1556 genau, kurz nach der Abdankung des Emperadors, des Kaisers Karls des Fünften, und zur Zeit seiner Überquerung, in einer Sänfte, wegen seiner Gicht, der Sierra de Gredos, auf dem Weg in sein Ruhekloster (San) Juste an deren Südausläufern. Und wo war das jetzt? In dem damals größten spanischen Überseehafen, dem von San Lucar de Barrameda, auch halb so ein Flußhafen, am río Guadalquivír, unterhalb von Sevilla, Ablegestelle für das Einheimsen des fernen indianischen Golds (BV 97).
Solche Dopplungen der Zeit wiederholen und verdichten sich an unterschiedlichen Reisestationen der Frau. Immer wieder stößt sie vor allem auf eine Person, die zunächst eine historische Erinnerung weckt. Es ist ein Schauspieler, der mit seinen Komparsen als Karl der Fünfte verkleidet durch die Landschaft zieht, aber eigentlich in Hondareda seine Heimat hat. In Pedrada begegnet sie ihm zum ersten Mal während eines Gastmahls (BV 392), zu dem sich Menschen treffen, die sich
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ihre Geschichte erzählen. Auch diese Szene ist im Jahr in der Niemandsbucht vorgezeichnet (MJN 1050 f.). Alle Erzähler dieses Treffens drehen ein Gefäß mit dem gleichen „Hagebuttengewinde“, das vor Schwarzsehen oder zum Schutz gegen die Schneeblindheit schützen soll (BV 394). Die durchaus verfremdende Situation lässt dabei die Vorstellung aufkommen, dass alle wie an einer Zeitgrenze [dasitzen], einerseits klar in der Jetztzeit, und andererseits, im nächsten Augenblick und Atemzug womöglich noch klarer und schärfer in einer hinter einem rucks aufgezogenen Vorhang befindlichen zweiten Epoche, keiner vergangenen, keiner historischen, [sondern] […] einer zu der jetzigen noch zusätzlichen, diese nach Möglichkeit erweiternden und umso realeren oder faßbareren Gegenwart (BV 395).
Am Beispiel des Kaisers und seiner Komparsen wird deutlich, dass dieses Hineinragen von Bildern des Vergangenen in die Gegenwart „das jetzige Jetzt grauer als gleichwelche angeblich graue Vorzeit“ erscheinen lässt (BV 398). Der einzige, der an der Abendtafel als „nichts als von heute“ erscheint, ist ein Fotograf (BV 398). Später kommt es zu einer erneuten Begegnung mit dem Kaiser, der tot zu sein scheint. Die Frau legt sich neben ihn und wie in Poes phantastischer Erzählung des Ovalen Porträts scheint das Leben, das den Imperator verlassen hat, in ihren Leib überzugehen und ihn anschwellen zu lassen (BV 441). Diese phantastische Begegnung wird, auffällig genug, wie ein Filmbild beschrieben (BV 402) und die Situation mit einem „Wahrträumen“ (BV 444) verglichen. Auch in folgenden Situationen werden immer wieder Filmbilder beschrieben, welche die Handlung verdichten. Traumbilder, Filmbilder und psychische Dissoziationen werden nicht nur erzählerisch miteinander verknüpft, sie scheinen sich auch gegenseitig zu bedingen. Die letzte Begegnung der Protagonistin mit dem Darsteller des Kaisers überführt alle vorigen Aufeinandertreffen in reine Gegenwart: Als dieser die Frau aufnimmt, erscheint er nicht mehr wie der König der Historie, wie der im Kloster von San Juste, sondern als der Schauspieler, der in Hondareda sterben wird. Für ihn macht erst sein Sterbetag eine Erfahrung von Identität möglich, „sein König-Sein oder -Spielen zählte nicht mehr. Aus der Traum und damit die Gespaltenheit. Er war allein der, der er hier während seiner Zeit in Hondareda gewesen war: der Archivar, nicht in Simancas oder sonstwo in der historischen Welt, sondern der für die neue Siedlung hier […] ein einziger Gedächtnisraum dessen, was Hondareda gewesen sein würde“ (BV 678). Mit der Erzählung solcher Überschreitungen von Zeitgrenzen durch Bilder verbinden sich räumliche Konstruktionen. Häufig werden personale Beziehungen zunächst aus der Distanz heraus entfaltet, bevor sie in Unmittelbarkeit und Nähe gezeigt werden. Ein Beispiel dafür gibt die Begegnung der Frau mit einem fremden Mann, die überraschend genug mit der biblischen Formel des Sicherkennens von Mann und Frau geschildert wird und eine Intimität beschreibt, wie sie unter Fremden nicht möglich ist. Der imperative Satz des Mannes, dem die Frau schon vor ihrer Abreise begegnete, „Sie müssen mich lieben. Sie werden mich lieben“ (BV 52), führt tatsächlich zu einer spontanen intimen Begegnung, die alle sozialen Register überschreitet und sich unmittelbar dem Körper und der unverstellten Sexualität zuwendet.
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Reisestationen und Erzählsituationen: Nuevo Bazar, Polvereda, Pedrada, Hondareda Dem „Karussell der Orte und Schauplätze“ (BV 709), das die Frau am Ende gehend imaginiert, geht ihre Wanderung durch verschiedene Schauplätze voran, die einer wirklichen wie einer simulierten Topographie zugleich folgt. Auch diese Orte erweisen sich als Kreuzungspunkte von Raum und Zeit, ihre Bewohner leben nach einem jeweils ortsspezifischen Regelwerk und scheinen gleichzeitig unterschiedliche geschichtliche Lebensformen zu repräsentieren. Nuevo Bazar als „eine Art weiße[r] Fleck“, ein „Nirgendwo“, ein „Nicht-Name[.]“, also eine Utopie im Wortsinn (BV 228), isoliert gegenwärtige Lebensformen, dabei erscheint die Ortschaft als Bild der Moderne ebenso wie als Asyl vor dieser. Polvereda trägt nach der Durchfahrt der von Krieg und Gewalt beherrschten umgebenden Ebene Züge einer Gesellschaftsutopie, bringt aber auch in der Utopie Doppelbilder hervor. In einer Zeit, in der es „das Wort ‚Rasse‘ schon lange nicht mehr“ gab, sprechen die Menschen auf der Plaza Mayor in verschiedenen Sprachen, sie tragen unterschiedliche „Stammes- oder Volks-Trachten“ und der Erzähler bemerkt, „auch Wörter wie ‚Stamm‘ und ‚Volk‘ [seien] längst ungebräuchlich geworden, wenn nicht anrüchig und verpönt […]“ (BV 344). Die Bewohner von Pedrada sind durch die „Erinnerung als weiterwütende Gegenwart“ bestimmt (BV 454), die ihnen „Überlebensnarben“ zugefügt hat, die sie alle „offen und wie stolz vor sich hertrugen“ (BV 465). Hondareda dagegen wird zum Sammlungspunkt der von weither Kommenden, die einen Bildverlust erlitten haben. Der „transkontinentale Beobachter“, der hier streckenweise berichtet, bezeichnet dieses Gesellschaftsmodell als einen Rückfall in „längst überwunden geglaubte Zivilisationsformen“. Die Bewohner sind von Informationen abgeschnitten oder verzichten auf diese, sie kennen keinen bargeldlosen Zahlungsverkehr, natürlich auch kein Bankwesen, ihre Wirtschaft beruht auf dem Tausch (BV 478). Ihr Verhalten beschreibt der gleiche Beobachter mit dem Bild von „Kaubewegungen im Leeren“, mit denen Menschen ein traumatisches Erlebnis zu bewältigen versuchen (BV 486). Der Kern aller Verhaltensweisen der Pedradaner ist das Trauma der Gewalterfahrung. Für die Schilderung Hondaredas gibt es ohnehin zwei völlig unterschiedliche Versionen, die des Berichterstatters und die Wahrnehmungen der Frau. Schließlich wird der Bildverlust der Hondaredaner auch in einem Kommentar des fiktiven Erzählers bewertet, der seine eigene Situation auf die Bewohner projiziert (BV 598). Ergänzend erzählt der Berichterstatter, wie man versucht habe, die Hondareda-Enklave mit dem Einsatz moderner Medien wieder „in die helle Bilderwelt zurückzunavigieren“ (BV 570). Doch selbst die Filmbilder versagten, weil die Bewohner völlig „bildresistent“ (BV 572) geworden sind. Sie wehren sich deshalb nicht nur gegen die Apparate der visuellen Medien, sondern gehen gleichgültig an ihnen vorbei und behaupten, dass sie keinen Bildverlust erlitten, sondern aus eigenem Entschluss den Bildern abgeschworen hätten (BV 573). Auch damit gehen
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sie noch hinter die Vergangenheit zurück, der sich die Bewohner von Pedrada verschrieben hatten. Noch mehr als diese haben sie sich „aus der Gegenwart verabschiedet“, es sei, so der Berichterstatter, „ein Rückfall eingetreten, nicht bloß um Jahrzehnte zurück, sondern in die überwundene Längstvergangenheit, um Jahrhunderte, Jahrtausende zurück, eben ein ‚Atavismus eines Atavismus‘“ (BV 527). Darüber hinaus beruht die Beschreibung dieser unterschiedlichen Orte auf Wahrnehmungen und Urteilen, die nicht nur das Thema des ‚Bildverlusts‘ und seine Konsequenzen umkreisen, sondern zugleich Voraussetzungen und Bedingungen des Erzählens selbst entwickeln, von denen sich auch der fiktive Erzähler betroffen weiß. Die Darstellung des Weges der Frau und ihre Beobachtungen variieren spielerisch die Strategie eines Erzählens, das sich aus Träumen und Phantasien, Vorstellungen und Wahrnehmungen, Bildern und Reflexionen zusammensetzt und sich an jeder Stelle als Umschreibung dessen präsentiert, was bloße Abbildung des Wirklichen wäre. Unter diesem Blickwinkel schildern auch die divergierenden Beschreibungen der Orte durch die Frau, andere Berichterstatter und schließlich den fiktiven Erzähler nicht einfach unterschiedliche Wahrnehmungen, sondern divergierende Möglichkeiten und Strategien des Erzählens. Die immanente Poetologie des Textes wird auf diese Weise in ein Erzählspiel verwandelt, das Erzählen wird zu einer Darstellung dessen, was Erzählen zu leisten vermag.
Der doppelte Blick und die Wahrnehmung des anderen Immer wieder werden bei der Beschreibung der Reise einzelne Menschen und gesellschaftliche Lebensformen ebenso genau wie mitleidlos seziert. So enthüllen sich im erzählerisch inszenierten Doppelblick der Frau, der unterschiedlichen Berichterstatter und des Autors menschliche und gesellschaftliche Widersprüche zugleich. Der Historiker der Zone von Nuevo Bazar berichtet, dass dort das Phänomen der langen Dauer (longue durée) dazu geführt habe, dass bei den Bewohnern „nur noch die schlechten Eigenschaften“, nur die „um sich schlagenden“ erhalten seien (BV 245). Zudem leben diese Menschen in einem Zustand der Entfremdung. Zum Zeichen dafür werden Mobiltelefone, die beim Gehen hinterher gezogen werden müssen. Ihre Besitzer sind zudem verpflichtet, im Falle eines Anrufs einen speziellen Helm aufzusetzen, „welcher das Gesicht, samt Mienenspiel, des Sprechers oder Hörers den Blicken der Mitpassanten entzog und seine Stimme dämpfte und zugleich ins Unverständliche verzerrte“ (BV 246). Vor dem Hintergrund eines Krieges, den die Bewohner des Ortes nicht wahrnehmen wollen, sprechen viele von ihnen „eine neue Sprache, in der es keine Eigenschafts – und insbesondere auch keine Zeitwörter, sondern nur mehr Hauptwörter gibt; und diese ausschließlich in Abkürzungen […]“ (BV 265). Nicht zuletzt deshalb ist jeder der dort Angekommenen sein „höchsteigener Held“ (BV 249). Auch das Wort ‚Liebe‘ ist unter den Bewohnern längst verschwunden, jeder lässt seine persönliche Zeit herrschen und tyrannisiert mit seiner Eigenzeit die anderen, vor allem die neuen technischen Apparate bestärken diese Haltung (BV 250). Andere
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Formen des sozialen Umgangs pflegen allein die Ureinwohner, die sich „Die alte Schule“ nennen. Die Beobachtungen der Frau stützen diesen Eindruck des Berichterstatters. Zum einen wird sie Zeugin eines Mordes. Der Amoklauf ihrer Freundin macht ihr schlagartig klar, dass die Streu des Sägemehls, die ihr von Anfang an aufgefallen war, der Absorption des in der Zone vergossenen Blutes dient (BV 277). Offensichtlich schafft die Zone in der Tat „Zustände und zwinge sie nach außen, zum Tat-Werden, welche es vorher in einem nie gegeben habe, auch nicht verheimlicht, und auch nicht unbewusst“ (BV 275). Zum andern sieht die Reisende in den ‚Zwischenräumen‘ hinter der Warenwelt von Nuevo Bazar nur den Verfall und Bilder, auf denen verlorene Kinder oder Terroristen gesucht werden. Die durch das Erzählen überlieferten Bilder dieser widersprüchlichen Welt, die sich mit den dissonanten Bildern der Moderne in Apollinaires Zone vergleichen lassen, korrespondieren in manchem den Beschreibungen der realen Welt der Niemandsbucht (Apollinaire 1913/2013). Vieles spricht dafür, dass in dieser Zone die Rolle der „Zwischenräume“, die zum Ausgangspunkt ästhetischer Phantasie werden können, invertiert wird. Auch der Hinweis auf die Eigenzeit und das Eigenleben in Nuevo Bazar erscheint wie eine Umkehrung der produktiven Schreibphantasien des Autors Handke. Im Text des Bildverlusts markiert die Beschreibung dieses Orts deshalb den Ausgangspunkt der nachfolgenden gesellschaftlichen Gegenmodelle, welche die Frau auf ihrer Reise kennenlernt. Wohl nicht zufällig stellt ausgerechnet der „Möchtegern-Archivar“ die Frage, „ob nicht gerade der Zustand der Zone fruchtbar werden mußte für die Sehnsucht nach einer anderen Welt, einer ganz anderen Möglichkeit, oder überhaupt einer Möglichkeit“ (BV 252). In der „Zone“ selbst wird dies dadurch bestätigt, dass die Frau durch die Entfremdung, die sie in diesem Ort erfährt, in die Lage versetzt wird, das zu erzählen, was sie am meisten belastet: Es sind die Erinnerungen an ihre verschwundene Tochter und an ihren Bruder, der jetzt aus dem Gefängnis entlassen wird. Es scheint, dass der Blick auf den weiteren Weg der Reisenden zu dem von ihr beauftragten fiktiven Autor bereits eine Alternative zur Welt von Nuevo Bazar aufscheinen lässt. Nicht zufällig ist das Wiederfinden der Tochter mit der Symbolik des Osterfestes verbunden. Die Frau fühlt sich jetzt als Mitglied einer neuen Gemeinschaft, die allerdings auch von Schmerz und Schuldgefühl, der Erfahrung einer „geheimen Schuld“ geprägt ist (BV 289). Unter diesen Voraussetzungen markiert die Fahrt durch die Staubebene vor Polvereda auch den Übergang in ein neues Register des Wahrnehmens und Erlebens. Davor sieht sich die Frau allerdings in völlig ambivalente Bildwelten versetzt. Zum einen ist der Krieg während ihrer Busfahrt immer präsent, der „ewige[.] Kriegsschauplatz“ (BV 327) wird von Bombern überflogen. Überdies lässt ein von einem Rabenheer verfolgter Falke selbst die Natur als einen Bereich der Gewalt erscheinen, in dem sich Vögel in eine „gigantenhafte, geballtschwarze Mordmaschine“ (BV 329) verwandeln. Zum andern ist die Ebene vor Polvereda eine „Halluzinationserzeugerin“ (BV 328), sie eröffnet „immer neue[.] Horizonte[.]
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oder Seh-Rahmen“ (BV 326) und die Frau erlebt, dass in dem Bus jeder wie auch sie in einer „eigene[n] Zeit“ lebt (BV 323). Nicht zufällig ist diese neue Erfahrung auf doppelte Weise vorbereitet. Zum einen dadurch, dass die Wahrnehmungen der Frau wie die der anderen Busreisenden Traumbildern ähneln, dass sich alle in einer Stimmung befinden, die im Schutzraum des Busses, der sie befördert, durch „sentimiento und ilusión“ zugleich gekennzeichnet ist (BV 309). Zum andern entstehen in dieser Situation dissoziierende Wahrnehmungen, die sich poetischen Naturbeschreibungen vergleichen lassen und damit eine andere Textstrategie eröffnen (BV 313). Deshalb erscheint es nicht ungewöhnlich, dass das Ende der phantastischen Busfahrt für die Reisende in einen Schreibauftrag mündet: „Was dagegen ich gerade so wahrnahm, war nicht ein Bild von uns Busreisenden auf der Rast in der Ruine, vielmehr Schrift, Zeilen, die genauso von links nach rechts wie von rechts nach links liefen“ (BV 318). An anderen Stellen lässt sich beobachten, dass die erzählten Doppelbilder imaginäre und unbewusste Wahrnehmungen, Phantasmagorien und Traumbilder so miteinander verweben, dass ein Text entsteht, der die Grenze zum Phantastischen immer wieder überschreitet. Die Reisende täuscht sich in ihrer Einschätzung der Bewohner von Pedrada. Man begegnet ihr dort zunächst aggressiv, doch als sie sich auf die ihr feindselig Begegnenden zubewegt, schlägt die Situation um, man wendet sich ihr zu. „Was in ihren Gesichtern nach Haß und Wut ausgesehen hatte, war in Wahrheit das Mißtrauen gewesen, und zudem eine nicht bloß aktuelle – eine wie für immer geltende, auf die ganze übrige Welt bezogene Enttäuschung“ (BV 470). Ähnlich ergeht es ihren Mitreisenden. Sie alle sehen „im Frieden den Krieg“, diese doppelte Wahrnehmung wird mit den phantasmagorischen Wahrnehmungen Don Quijotes verglichen (BV 351). Der Ort Pedrada, an dem die Reisende „anstelle der üblichen Sternbilder ganz ungewohnte Konstellationen“ sieht (BV 378), verwandelt sich (BV 450). Zudem hatte die Frau dort im Hotel el Milano Real II ein irritierendes Interieur vorgefunden, in dem Gewehre und Gasmasken nicht fehlten (BV 387). Beim Verlassen Pedradas scheinen selbst die Zelte, in denen man die Nacht verbracht hatte, verändert. Auch Mitreisende, die am Vortag wie Bewohner erschienen, nehmen ihre frühere Rolle wieder ein, der Herbergsvater beispielsweise wandelt sich wieder zum Buschauffeur (BV 452). Wie in einem Traum hat die Reisende zudem den Eindruck, in jedem Einwohner einen Doppelgänger aus ihrem früheren Leben zu sehen. Im wandernden Steinmetz glaubt sie, ihren Bruder zu erkennen, das Gespräch mit ihm erscheint wie eine Traumsequenz (BV 413 ff.). Solche Begegnungen führen durchweg zu einer verstörenden Selbstbefragung, in Gedanken wendet sich die Reisende jetzt sogar an ihre toten Eltern „Vater, Mutter – sagt mir: wer bin ich?“ (BV 466).
Erinnerung als Voraussetzung des Erzählens Schon Pedrada ist ein Ort der Erinnerungen an die eigene Vergangenheit. Die Begegnung der Frau mit einer anderen Reisenden, die sie schon einmal als Journalistin begleitet hatte, gerät dabei zu einer Selbstbegegnung (BV 383 f.).
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Zudem sieht die Reisende dort im Blau des Himmels auch immer wieder Zwischenräume, die eine zeitliche Perspektive eröffnen. Ihrer Wahrnehmung von Farben ordnet sie Bilder des Bruders zu, und unversehens überlagert sich das Blau der Sierra mit den durch die Farbe Blau bestimmten Jugenderinnerungen an eine Wanderung durch die Natur, in deren Verlauf sie selbst zu einer „Obstdiebin“ wird (BV 519 f.). Es ist eben jenes Attribut, das Handke später als Metapher für ein radikales Anders-Sein verwendet. Vor der Folie dieser Erinnerungen tritt zurück, was das bisherige Leben der Frau bestimmt hat: Die Errungenschaften im vollen Wortsinn, Besitz und Eigentum verlieren an Bedeutung, das „Eigentum bildete keine Idee mehr“ (BV 513). Weil sie nunmehr auch das Bankenspiel ablehnt, das als zerstörerisch bezeichnet wird (BV 404, 405), zielt ihr Weg in die Sierra auf ein Wiederfinden des Verlorenen (BV 407). Sie möchte jetzt eine neue Art von Bank gründen, „eine Bilderbank, eine erdumspannende, zum Austausch, zum Verwerten, und zum Fruchtbarmachen all meiner, deiner und unserer Bilder“ (BV 447). Von Anfang an verbindet sich im Erzählen der Wanderung das Thema der Erinnerung mit dem des Bildes. Jedes Sehen eröffnet visuelle und zeitliche Perspektiven zugleich, die sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft weisen können. So ist das „Nachbild bei offenen Augen“ bereits das „Vorausbild von etwas, das noch hinter den sieben Horizonten lag“ (BV 190), und die Naturbilder, welche die Frau bei ihrem Aufstieg zur Candeleda begleiten, mobilisieren Erinnerungen an Verlust und Trennung, etwa an vorangegangene vergebliche Versuche, Kontakt mit dem eigenen Kind aufzunehmen. Diese Verbindung zwischen Bildern, Erinnerungen und Zukunftsbildern stellt sich allererst in der Bewegung ein: Der Text über die Wanderung in die Sierra weist dem Gehen eine besondere Bedeutung zu, die innere Bewegung von Denken und Phantasie wird mit der äußeren Bewegung der Reisenden korreliert. Auch damit erzählt der Roman von einer Schreibphantasie, die für den Autor Handke von grundlegender Bedeutung ist (Huber 2005, 333; Pelz 2007, 166; Honold 2017, 11, 492). So nimmt die Protagonistin des Romans ihr Gehen als einen Heilungsakt wahr, sie glaubt, den Bruder zu schützen, indem sie ihre Erinnerungen, vergangene Bilder und ihre Gegenwart zu ordnen versucht. Es heißt, dass sie nicht nur mit allem geht, „was ihr begegnete und unterkam“, sondern vor allem auch ging sie mit den Bildern, den sie aus der Ferne der Zeiten und der Räume in ihrem gleichmäßigen Bergangehen anfliegenden Bildern, welche für noch ganz andere Schutz – und Sicherheitszonen und Zukunftsperspektiven sorgten als die Erinnerungen, Gedanken, Gefühle und Sinneswahrnehmungen (BV 503).
Gleichzeitig ist von zentraler Bedeutung für den Text, dass das Gehen der Frau, das sich mit Erinnerung, Gegenwart und Zukunft verbindet, auch neue Formen der Wahrnehmung freisetzt. Beim Verlassen von Hondareda kann die Reisende die Rhythmik der Sierra erfahren, alles, was sie tut, erhält jetzt seinen E igenSinn, das „Zeit haben“ wird für sie prägend. Der Abstieg nach Candelada wird
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unter diesen Voraussetzungen nicht nur äußerlich zu einem Erweckungserlebnis der Rhythmisierten. Dieses Bild ist auch eng verbunden mit dem Entwurf des epischen Erzählens, den das Wandern gewissermaßen vorzeichnet. Deshalb erscheint die Fortbewegung der Frau wie ein „magisches Gehen“ (BV 504), sie verbindet unterschiedliche sinnliche Wahrnehmungen miteinander (BV 507). Neben die Erinnerungen treten Imagination und Phantasie, und es besteht kein Zweifel daran, dass die Phantasien der Frau diejenigen des beauftragten fiktiven Erzählers vorzeichnen und modellieren. Diese Darstellung des Gehens verbindet die Geschichte der Wanderin auch mit dem Autor Handke. Der „Autor“, wie es hier durchaus doppeldeutig heißt, erinnert sich daran, dass er von Jugend an „auf das Epische aus“ war, während ihm jede Dramatik „zeitlebens, als ein von dem wirklichen Geschehen ablenkendes Magnetsystem, gegen den Strich, den seinen, gegangen war“ (BV 694). Nicht zufällig werden die dramatischen Passagen, die sich der fiktive Erzähler für die von ihm aufgezeichnete Geschichte ausdenkt, wieder verworfen.
Die Eigenzeit des Ästhetischen An dieser Nahtstelle zwischen dem Erzählen einer Geschichte und dem Erzählen vom Erzählen entfaltet sich eine textkonstituierende Phantasie des Ästhetischen. Der Hinweis, dass die Wanderung der Frau auch als Nachzeichnung einer Lebensreise wahrgenommen werden kann, ist deshalb von Anfang an doppelt konnotiert. Die Wandernde glaubt, einen „Ruck durch die Geschichte“ zu verspüren (BV 348), sie hat den Eindruck, dass die anderen Reisenden einander schon einmal auf eine geheimnisvolle Weise begegnet sind: „ihre Lebenslinien hatten sich einmal überschnitten“ (BV 349). Damit zielt der Text auf die Darstellung der Eigenzeit und des Eigensinns des Ästhetischen. Das Motiv dieser anderen Zeit ist von Anfang an im Roman da, bei den Bewohnern von Pedrada, während der Busfahrt der Frau und schließlich im Ort Hondareda. Allerdings macht es die Besonderheit des Handkeschen Textes aus, dass vergleichbare Bilder sich nicht nur wiederholen, sondern dass sie auch ständig umkodiert werden. Die entscheidende Anforderung der Lektüre besteht darin, bei ihrer Entzifferung dem Duktus der Erzählung zu folgen und seine konstellative Ordnung zu beachten: Bedeutungen entfalten sich in dieser Form des Erzählens nicht konkret und schon gar nicht eindeutig, sondern allein situativ und mehrdeutig. Einen Hinweis darauf gibt der Text selbst am deutlichsten bei der Darstellung des Orts Hondareda, der von dem „Berichterstatter“ ganz anders geschildert als von der Frau. Was dieser kritisiert und als ebenso rückständig wie bedrohlich beschreibt, ist für die Frau der Ausgangspunkt für eine neue und andere Form der Wahrnehmung. Obwohl die soziale Ordnung von Hondareda quer zu allem steht, was die Reisende und ihr fiktiver Autor kennen, ermöglicht sie doch für beide eine neue Form der Wahrnehmung. Der „Atavismus“ der Bewohner eröffnet eine „Zweitzeit“ (BV 529), diese ist das große Projekt der Hondaredaner. Es ist ein Motiv, das schon die Don-Juan-Erzählung prägt. Diese „andere Universalzeit“ soll ein
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„Freisein vom Zählzwang“ (BV 641) ermöglichen, alle Zeitwahrnehmungen orientieren sich hier an den Erscheinungen der Natur (BV 643). Die Verheißung von Hondareda, wieder ein Kind der Zeit sein zu können, ist zugleich ein Versuch, hinter die Geschichte als Historie zurückzugehen und den Enthusiasmus zu bewahren, den ihr Beobachter Jakob Lebel längst verloren hat (BV 647). Die Bewohner der Senke dagegen leben „die Zeit als das Leben des Lebens“ und wenden sich gegen die „Zeit-Weise“ der Beobachter und Außenstehenden (BV 637). Auch die Frau nimmt einen „Zeitzauber“ wahr, der sich von der „chronometrisierten Normalzeit“ (BV 538) unterscheidet, weil in Hondareda völlig willkürliche Parameter zur Zeitberechnung herangezogen werden. Was dort, abgerückt von der übrigen Welt geschieht, mag skurril erscheinen, lässt sich aber nicht allein als Vorzeichnung der anderen Ordnung des Ästhetischen, sondern auch als Ergebnis lebensgeschichtlicher Erfahrung lesen. Denn die Bewohner dieses Orts sind für die Frau „Überlebende“, die „ein jeder allein und auf seine Weise, das Tal des Todes“ durchquert hatten (BV 543). Gerade sie haben erlebt, was der Frau noch bevorsteht. Sie haben nicht nur Ideen und Ideale verloren, sondern zugleich die „ersten und die letzten Bilder“: den Leuten von Hondareda ist der „Bildverlust […] zugestoßen“ (BV 531). Im Verlauf ihres Zusammenlebens in der Enklave haben sich selbst ihre sinnlichen, taktilen Wahrnehmungen geändert, sie leiden unter einem „panischen Hören“, das Angst verursacht, ihr Sehen erfolgt „allzu sehr aus den Augenwinkeln“, ihrem Geruchssinn ist Verwesungsgestank beigemengt, ihr Tast- oder Hautsinn fast völlig verkümmert (BV 549). Doch jeder Verlust wird durch eine andere Fähigkeit ausgeglichen. Die Hondaredaner haben einen erstaunlichen Geschmackssinn (BV 550), und Mahlzeiten spielen eine zentrale Rolle in ihrem Leben (BV 555). Ausgerechnet die von einem Berichterstatter als Bewohner einer „Finsterlichtung“ Wahrgenommenen, können in einem „großartige[n] Nachgestalten“ Porträts in die Luft zeichnen, die eine magische Wirkung haben und so auf die Realität einwirken, dass sie sogar Tiere zum Innehalten bewegen. Ihre bewusste Abgrenzung von anderen, nicht zufällig durch Schranken, Balken und Schwellen, bringt sie dazu, zur Beschreibung der Dinge nicht die üblichen Wort zu verwenden, sondern solche, die poetischen Namen ähneln (BV 582). Schließlich haben die Hondaredaner ein grundsätzlich neues ökonomisches System entwickelt, das allein in ihrer Enklave herrscht. Es ist die Tauwissenschaft, übrigens verbunden mit einer begleitenden Kosmogonie (BV 589), die alles aus dem Himmelstau herzustellen versucht und ein eigenes Vertriebssystem für diesen aufbaut. Für die „Bankfrau“ ist gerade dies ein Modell, das eine neue „Wirtschaftswelt statt des Frontenmechanismus zwischen finsterem Gewinner- und kläglichem Verlierertum“, eine soziale „Ausgeglichenheit“ hätte herbeiführen können (BV 633). Ausgerechnet im Kontext von Hondareda kommt es jetzt auch zu einer Phantasie der Sozialisation, welche die spätere Beziehung zwischen der Frau und ihrem fiktiven Autor vorweg nimmt. Gerade der „transkontinentale Beobachter“ beginnt die früher angefeindete Frau zu begehren. Sein möchte er „rein nichts als ein paar Augen und ein zweites Paar Augen, und so unter vier Augen […]
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sprechen, wie er noch nie unter vier Augen mit jemandem gesprochen haben wird“ (BV 534 f.). Trotz seiner weiter bestehenden Aggression der Frau gegenüber verspürt er bei ihrem Anblick einen „Sprung oder Versöhnungsruck“ (BV 535).
Der Bildverlust Eine vergleichbare Überlagerung lässt sich beim zentralen Leitwort des ‚Bildverlusts‘ beobachten, das den Skopus des Gesamttextes abgibt. Dieser handelt das Thema des Bildes auf doppelte Weise ab. Einerseits spricht er über die Bilder, die den Einzelnen, seine Wahrnehmung und psychischen Reaktionen bestimmen, es sind erinnerte Bilder, Phantasie- oder Traumbilder. Andererseits bestimmt der Roman auch grundsätzlich die Rolle des Bildes in der modernen Gesellschaft. Als Voraussetzung des individuellen Bildverlusts beschreibt er die lange Entwicklung eines kollektiven Bildverlusts im Medienzeitalter. Sie zerstört den Zusammenhang zwischen individueller Bildprojektion und den kulturell oder sozial vermittelten Bildern, die über die technischen Bildmedien verbreitet werden. Vor allem im noch nicht so lang vergangenen Jahrhundert wurde ein Raubbau an den Bildergründen und -schichten betrieben, welcher zuletzt mörderisch war. Der Naturschatz ist aufgebraucht, und man zappelt als Anhängsel an den gemachten, serienmäßig fabrizierten, künstlichen Bildern, welche die mit dem Bildverlust verlorenen Wirklichkeiten ersetzen, sie vortäuschen und den falschen Eindruck sogar noch steigern wie Drogen, als Drogen. (BV 744)
Gleichzeitig lenkt der Text den Blick auch auf den intermedialen Zusammenhang zwischen Wort und Bild, der von dieser historischen und gesellschaftlichen Entwicklung nicht berührt wird. Schon sehr früh äußert die Reisende in Hinblick auf ihre Erinnerungen und das Erzählprojekt des Erzählers: „Auch einzelne Wörter können aus der Zeit- und Raumferne als Bilder ankommen. Und vielleicht kein durchschlagenderes und innigeres Bild als so ein reines Wortbild“ (BV 213). In der Spannung zwischen diesen beiden medialen Registern vollzieht sich die Beschreibung der Reise durch die Sierra. Abgesehen davon lässt sich beobachten, dass Bilder in diesem Text Umschlagspunkte markieren, sowohl zwischen unterschiedlichen Zeitebenen und lebensgeschichtlichen Erinnerungen als auch solche, die sich im Verlauf der Wanderung durch die Sierra erkennen lassen. Als nächtliche Leserin hat die Bankfrau beispielsweise ein Bild „von dem Bett, dem sie auflag, als von der Weltkarte“, gleichzeitig überlagert sich dieses Bild mit der visuellen Erinnerung an eine alte Holzskulptur in einer wendischen Dorfkirche (BV 175). Dies ist ein Beispiel dafür, dass offensichtlich alle Bilder über sich hinausweisen. Momente des „Bild-Werdens“ (BV 176) werden nicht allein unterschiedlichen Wahrnehmungen zugeordnet, die als angenehm empfunden wurden, sondern sie ermöglichen zugleich entgrenzende Vorstellungen wie die vom „Gehege der größeren Zeit“, die eine immer wiederkehrende ästhetische Phantasie des Autors Handke
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kennzeichnet. Nicht zufällig bestimmt das Leitwort des Bildes auch die im Jahr in der Niemandsbucht beschriebenen alltäglichen Wahrnehmungen. Im Roman vom Bildverlust werden die Bilder zunächst als eine Voraussetzung für das Leben und Überleben des Einzelnen bestimmt. Das Erzählen ihrer Reisegeschichte, das die Frau dem Erzähler aufgibt, ist deshalb notwendig geworden, weil bei ihr die Erinnerungen, die sich in Form von Bildern unter anderem in ihren Träumen einstellten „nicht mehr von selber“ kamen, sondern „vorsätzlich herbei[ge]rufen“ werden mussten (BV 8). Weil sie aus den Bildern „ihr stärkstes Daseinsgefühl“ bezog (BV 21), führte sie dies in eine Krise. Diese Bilder sind weder willkürlich noch unwillkürlich, sondern sie kommen blitzartig oder meteoritenhaft […]. Wollte man sie stoppen und in Ruhe betrachten, so waren sie längst zerstoben, und mit solchem Eingriff zerstörte man sich im nachhinein auch noch die Wirkung des so jäh verschwundenen wie jäh erschienenen und einen durchkreuzenden Bruchsekundenbildes. (BV 21)
Gleichzeitig öffnen die Bilder auch ganz Persönliches, sie handeln von „einer Art Liebe“, aber grundsätzlich gilt: „das Bild als Bild, war universell. Es ging über ihn, sie, es hinaus“ (BV 23). Als Element einer Überlebensstrategie ermöglichen die Bilder dem Einzelnen auch die territoriale Abgrenzung des Eigenen von anderen, indem sie eine Rückprojektion gegenwärtiger Erfahrungen auf frühere Situationen ermöglichen. Deutlich wird dies, als sich der Frau ein Angreifer nähert und sie sich in der Erinnerung an einen Bergpfad in den Rocky Mountains in der Lage sieht, in dieser Situation ihr eigenes Territorium zu bestimmen. „Nie mehr würde der namenlose Nachbar gegen sie handgreiflich werden. Zuletzt, vor dem beiderseitigen Entschwinden, lachten sie sogar“ (BV 58). Solchen Bildern der Erinnerung an die Seite treten die sogenannten „Zielbilder“, es sind Wahrnehmungen, auf die sich die Frau fokussiert und die ihr ebenfalls helfen, sich im sozialen Kontext zu behaupten: „Mit meinen Zielbildern verteidige ich mich, ohne mich zu verteidigen – greife ich an, ohne anzugreifen – führe ich Krieg, ohne Krieg führen zu müssen“ (BV 64). An anderer Stelle heißt es: „Mit den Bildern hielt sie sich die Angreifer nicht bloß vom Leibe. Sie schlug sie damit zurück. Das jeweilige Bild diente ihr ebenso als Rüstung wie auch, sooft es um mehr ging als um friedliches Entwaffnen, als Waffe“ (BV 102). Dieses Nachdenken über das Bild wird mit der Wanderung durch die Sierra parallelisiert. Erst mit dem Bildverlust, der sich an ihrem Ende ereignet, eröffnet sich eine neue Lebens- und Überlebensstrategie. Es ist die Phantasie von der Ablösung der Bilder durch das Erzählen, das geheime Endziel des Romans vom Bildverlust (BV 715), eine zentrale Überlegung, die auch Handkes Zusammenarbeit mit Wim Wenders bestimmt. Allerdings blendet auch diese utopische Perspektive die unmittelbare Gesellschaftskritik am entwickelten Medienzeitalter nicht aus, die Handkes spätere Texte zunehmend bestimmt und die im Großen Fall einen vorläufigen Höhepunkt findet (GF 235). Vielmehr verleiht diese Kritik auch der Geschichte der Wanderin
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durch die Sierra Kontur. In deren Erzählen beim Autor im Manchadorf werden die Reflexion über den individuellen und den kollektiven Bildverlust noch einmal verdichtet und in Hinblick auf die Erfahrungen der Frau selbst fokussiert. Statt über die Welt der Wirtschaft, was ihren fiktiven Erzähler besonders interessieren würde, unterhält sie sich mit ihm vor allem über den Bildverlust, der den Autor schon früher betroffen hat als sie selbst. Dabei stellt sich heraus, dass Bildverlust keineswegs heißt, dass keine Bilder mehr wahrgenommen werden, sondern dass die lebensleitenden Bilder, Erinnerungsbilder und Inbilder deshalb jetzt „keine Wirkung mehr“ haben, weil sie unter dem Einfluss der von außen kommenden „gemachten und gelenkten und nach Belieben lenkbaren Bilder, und deren Wirkung“ ihre Kraft zu verlieren drohen (BV 743). Es ist allerdings auffällig, dass die Vermittlung zwischen individueller Erfahrung und allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklung ausgerechnet noch durch ein technisches Bild geleistet werden kann, welches das Unbewusste und das Bewusste, individuelle und kollektive Erfahrung verbinden kann. Immer wieder beschreibt der Text Filmbilder, die in besonderer Weise geeignet sind, das Imaginäre und das Reale miteinander zu verschränken. Darauf weist eine Überlegung am Ende des Textes: „Im Bild erschienen Außen und Innen fusioniert zu etwas Drittem, etwas Größerem und Beständigem. Die Bilder stellten den Wert der Werte dar. Sie waren unser scheinbar sicherstes Kapital. Der letzte Schatz der Menschheit“ (BV, 745; GU 85). Dieses Zusammenspiel äußerer und innerer Bilder kennzeichnet auch das Ende der Wanderung durch die Sierra. Die Frau, die sich von einer „Asendereada“, einer vom Weg Abgekommenen, zu einer „Aventurera“, einer Abenteurerin, wandelt, wird während sie durch einen Farnwald läuft, immer schneller „von den aufeinanderfolgenden Welt-Schauplätzen durchquert“ (BV 713), erst dann erfährt sie den endgültigen Bildverlust. Die Geschichte, die der fiktive Erzähler berichten soll, war von Anfang an auf diesen Bildverlust angelegt, von hier aus bestimmt sich zugleich die besondere Aufgabe des „heutigen Autors“. Denn die Frau erlebt den Bildverlust, während dieser „bereits die Allgemeinheit erfaßt und betroffen hatte, noch, bis zu dem gerade erzählten Augenblick […]“. Vorher hieß es von ihr, dass sie „im Bild war, mit den Bildern und aus den Bildern lebte“. Diese Konstellation ist ausschlaggebend für die Bestimmung der Rolle des Autors, der sich fragt, „ob für die Geschichte des Bildverlust nicht ausnahmsweise ich, der heutige Autor, der richtigere bin als ihr Miguel (de Cervantes y Saavedra, oder wie er hieß), für den das seinerzeit noch kein Thema, oder Problem, gewesen wäre?“ (BV 715 f.). Die Konsequenzen eines Sturzes, der für die Frau den „brüsken Bildverlust“ zur Folge hat, werden im Epilog in einem Gespräch mit dem Autor erläutert. Was ihr widerfährt, ist nicht allein körperlich, vielmehr ist sie „gefällt von dem auf die vorangegangenen, heillos durcheinanderzuckenden Bilderblitze gefolgten Löschblitz des Bildverlust, verhängt über sie und die Welt, ging sie gleichsam (ohne ‚gleichsam‘) durch den Tod. So wollte es die Geschichte“ (BV 717). Der Bildverlust der Frau findet also innen und außen statt: „Ihr Fall […] war ein kleiner Fall von außen, und ein großer Fall im Innern. Ja, zuerst war der Bildverlust, und dann erst verhaspelte sich ihr Gang, kippte sie seitwärts, stürzte und
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überschlug sich […]“ (BV 716). Beim Versuch, diese Situation anzunehmen, erkennt der fiktive Erzähler eine Nähe zu Cervantes. Wie dessen Held sucht die Frau Abenteuer auch da, wo gar keine, „zumindest keine äußeren, sichtbaren, zu bestehen waren“, auch die Abenteuergeschichten des Cervantes waren nichts anderes als Versuche, sich aus dem Bildverlust „Heraus[zu]wirtschaften“ (BV 718). Aus dieser doppelten Erfahrung entsteht der Übergang zu einem neuen Sehen. Dieses ist ebenfalls eingeleitet durch Wahrnehmungen und nicht zufällig getaktet durch ein Hinschauen, das schnell folgenden Filmschnitten und Schwenks vergleichbar ist. Die Frau glaubt, einen Film über sich selbst wahrzunehmen, der sie die Beziehung zu ihrem früheren Geliebten verstehen lässt. Es wird ihr klar, dass dieser niemals „vollkommen gleichzeitig“ mit ihr war, vielmehr lässt sich sagen, dass „die volle Liebe, oder anders gesagt, die Liebesfülle“ bei ihm jeweils erst einsetzte, wenn sie abwesend war (BV 722). Die Katastrophe des Bildverlust führt also zu einer Intensivierung der Erinnerungen. Diese richtet sich vor allem auf die Beziehung zwischen Mann und Frau, sie umkreist das Begehren, und sie macht eine neue Erfahrung des Körpers und der Körperlichkeit möglich. Deshalb ist die Geschichte mit dem Mann, welche die Frau erlebt, auch die Erfahrung eines Verlusts und eines Sich-Wiederfindens (BV 723). Damit eröffnet der Bildverlust einen neuen Blick auf sich selbst, er ermöglicht ein „merkwürdiges Kindschaftsgefühl“ (BV 724), das wiederum Träume hervorbringt. Keineswegs führt er zu einem Verlust der Traumbilder, welche die Bilder im „klarsten Wachen, die morgendlichen“ (BV 724) ersetzen konnten. Schließlich wird der Frau bewusst, dass es mit ihrer Geschichte nur weitergehen kann, wenn sie auch von ihrer Schuld erzählt. Einem völlig Unbekannten, einem neben ihr liegenden Soldaten bekennt sie, dass sie bei ihrer ersten Durchquerung der Sierra „dem Kind unter ihrem Herzen den Tod gewünscht“ habe (BV 725). Zugleich hatte sie mit diesem Todeswunsch gegen das eigene Kind den Entschluss verbunden, Erfolg zu haben und ein Machtmensch zu werden, sie wollte „mittun beim Weltbedeutungsspiel“ (BV 726). Von Bedeutung ist, dass das Gespräch über den Bildverlust, das am Ende des Textes stattfindet, Auftraggeberin und Autor miteinander verbindet, sie sprechen jeweils vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrung und es ist kein Zufall, dass dabei die unterschiedlichen Redepositionen nicht mehr identifizierbar sind. Ausdrücklich heißt es nach einem durch Anführungszeichen herausgehobenen Statement: „Dreimal raten, wer von den beiden das sagte“ (BV 745) und schon vorher liest man, dass das „Zwiegespräch der Abenteurerin des Bildverlusts und ihres Autors […] jeweils das Selbstgespräch der oder des einen hervorgerufen von dem Mitsichselberreden des oder der anderen“ war (BV 743). Am Ende dieses Zwiegesprächs eröffnet der Blick auf den Einzelnen auch einen auf die Gesellschaft: „‚Der Verlust der Bilder ist der schmerzlichste der Verluste.‘“ – „‚Es bedeutet den Weltverlust. Es bedeutet: es gibt keine Anschauung mehr. Es bedeutet: Die Wahrnehmung gleitet ab von jeder möglichen Konstellation. Es bedeutet: Es gibt keine Konstellation mehr‘“ (BV 746).
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Die pessimistische Formel „Wir werden vorderhand ohne das Bild leben müssen“, wird jetzt allerdings in eine dialektische Denkfigur eingebunden. Die Medienkritik bleibt nicht einfach eine Rede vom Verlust, vielmehr macht die medial gesteuerte Erfahrung des Bildverlusts den Weg frei für die Rolle des Schreibens. Und so heißt es weiter: „‚Vorderhand. Aber ist andererseits nicht gerade solch ein Verlust begleitet von Energie, auch wenn diese, vorderhand, blind ist?‘“ – „‚Cuerpo del mundo. Körper der Welt. Wir, die Verbannten, voll Leidenschaft‘“ (BV 746).
Entfaltung der Anschauung Unmittelbar verknüpft mit der textbestimmenden Thematik des ‚Bildverlusts‘ ist das Thema der Wahrnehmung, das den Begriff der Anschauung umkreist. Unter Bezug auf das Goethe-Zitat „Zum Schauen geboren, zum Sehen bestellt“ (BV 573) bestimmt der Berichterstatter das Anschauen als eine Übung, die sich an einfachen Gegenständen erprobt. Nicht zufällig ergibt sich in seiner Rede ein Querverweis auf den Autor Handke, wenn er den „Baumschatten an den Felswänden“ (BV 574) zum Beispiel nimmt. Dieser Berichterstatter ist es auch, der dem „Raubbau der Bilder“ das Erlernen des Anschauens gegenüber stellt und dabei ein zentrales Leitwort des Autors Handke benutzt: „Bildsamkeit“ (BV 575). Was er reflektiert, ereignet sich in der Geschichte der Frau. Schon in Hondareda und im Gegenüber zu den bereits vom Bildverlust Betroffenen wird sie zunehmend zu einer neuen Form der Wahrnehmung fähig. Diese wird im Text metaphorisch damit umschrieben, dass sie die „Schrift“ und den „Rhythmus“ der Erscheinungen erfassen kann (BV 593). Insbesondere dann, wenn sich der Blick der Frau auf Natur und Landschaft richtet, erscheint ihr Beschreiben wie ein Erzählspiel, die Worte verselbstständigen sich während der Beschreibung, deutsche, spanische und arabische Vokabeln werden bestimmend und jeder Anblick eines Ortes mobilisiert die Erinnerung an andere Orte. Der Rauch in der Siedlung riecht „wie in Tiflis, in Stavanger und in Montana, und neben dem Almanzor spiegelte sich in dem Bergwasser jetzt auch die Front meines Bürohauses am Zusammenfluß der zwei Flüsse in meiner Flußhafenstadt“ (BV 594). Schließlich lässt ihr Blick zurück auf Hondareda „die Ortschaft wie eine Millionenstadt aussehen, wie Shanghai oder São Paulo, fotografiert von einem Satelliten auf halber Strecke zwischen der Erde und dem Mond“ (BV 666). Zugleich verbindet dieser Blick Gegenwart und Vergangenheit, er schärft das Urteil über das eigene frühere Leben, von dem es jetzt nur noch ablehnend heißt, dass jeder „seinen Wahnsinn in sich“ habe (BV 595). An einem Morgen beobachtet die Frau einen Quittenbaum, an dem mehrere Früchte zu sehen sind und spontan verbindet sie Erinnerungen an ihre Jugend mit den gegenwärtigen Wahrnehmungen in Hondareda. Ihr Blick erscheint ihr nun selbst „als Eingreifen, Mitwirken und Anstoß“, er ist ein Beispiel für das richtige Hinschauen (BV 609). Diese Form der Wahrnehmung, die sich den von einem anderen Beobachter übermittelten Bildern entgegensetzt (BV 613), ist mehr als bloßes Wahrnehmen, es ist
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ein Herbeidenken. Unmissverständlich macht der Text deutlich, dass gerade dies Kennzeichen für den Modus des Erzählens ist, wie es dem fiktiven Erzähler von der Frau aufgegeben ist. Seine Aufgabe wird es sein, die „erscheinenlassende, zutagefördernde Begeisterung“ der Reisenden „mit oder ohne den Begleitschmerz“ in der Erzählung über die Reisende immer wieder mitspielen zu lassen (BV 616). Damit ist die Anforderung an den Erzähler der Geschichte der Frau bestimmt. Wohl nicht zufällig ist an dieser Stelle ein Erzählerkommentar eingeschaltet der offensichtlich auch auf die den Roman begründende immanente Poetik des Autors Handke weist, denn die Erinnerungen des fiktiven Erzählers entsprechen den Bildern, die der Erzähler der Niemandsbucht mitteilt. Der Erzähler spricht zudem – auch das eine deutliche Referenz auf die dort mitgeteilten ambivalenten Wahrnehmungen – von seinem „oft verdammt verqueren und manchmal verflucht nichtswürdigen Leben“, in dem er gleichwohl immer wieder „neu staunend und neustaunend eine ungeheure, eine gewaltige, eine unumstößlich friedliche Welt aufblitzen sehe“ (BV 598). Er ist sich bewusst, dass dieses Staunen niemals „in Gestalt etwa der Sonne oder des reinen Lichts“ sondern häufig am Beispiel der „Unscheinbarkeit der Unscheinbarkeiten“ erschien, als der „Randstein einst auf dem Peloponnes; als der Schatten des Kindes in Oklahoma; als der Bootsplanken in Kappadozien“ (BV 599). Dabei hat er die Furcht, dass auch ihm selbst der Bildverlust drohe, dass er möglicherweise schon von ihm betroffen sei. In ironisch verfremdeter Form wird diese Konzentration auf das Detail zum Bestandteil der Geschichte der Frau, wenn sie ihren im Vorjahr verlorenen Schal in der Sierra wiederfindet (BV 700 f.). So begründet sich die neue Form der Wahrnehmung als Gegenentwurf zu einem in der gegenwärtigen Gesellschaft stattfindenden medial erzeugten Bildverlust, der über lange Zeit auch die eigenen inneren Bilder bedrohte. Dass der Weg der Wanderin vom Bildverlust zu einer neuen Form der Anschauung führt, welche die „Herumtreiberin“ befähigt, eine „jungfräuliche Welt“ wahrzunehmen, zeichnet die Möglichkeiten vor, die das Erzählen allerdings auch in der Zeit des Bildverlusts noch haben kann. Dies gilt vor allem dann, wenn die bestimmende neue Wahrnehmung Zeit- und Körpererfahrung auf eine ebenso intensive, wie eigentümliche Weise miteinander verbindet. Die Frau erinnert sich, dass sie in ihrer Jugend bei der Fahrt von ihrer Studienstadt nach Hause durch einen Tunnel häufig die träumerische Phantasie hatte, sich im „Einbaum der größeren Zeit“ zu befinden. Gleichzeitig erschien ihr diese Verwandlung, die unverstellt sexuell konnotiert war, wie eine Entgrenzung: „Und: Im Tunnel kam einer über sie. Einer? Einer als alle“ (BV 602).
Die Kraft des Erzählens und die Erfahrung des Körpers Die Reflexion über die Rolle des Erzählens ist an vielen Stellen dieses Textes mit dem visuellen Medium des Films verbunden. Auffällig ist, dass sich die Frau während der Wanderung insbesondere angesichts des ihr drohenden Bildverlusts
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häufig an Filmbilder und Filme erinnert und dass nachgestellte Filmbilder immer wieder das Erzählen durchschneiden. Offensichtlich kommt ihnen eine Vermittlerposition zwischen den subjektiv wahrgenommenen Bildern und dem Erzählen zu, das sich am Ende dem Bildverlust entgegen stellt. Zugleich erweisen sich Filmbilder und Traumbilder häufig als austauschbar: Die Ebene des Imaginären, die beide verbindet, immunisiert sie gegen die medial inszenierte Vernichtung individueller Bilder in der Alltagswirklichkeit. Nicht selten erinnert sich die Frau an Filme, in denen sie früher gespielt hat. In der Folge nimmt sie auch gewöhnliche Situationen als Filmerlebnisse war, die Grenze zwischen Traum und Film verschwindet für sie. Gerade das Gefühl, in einem Film mitzuspielen, erleichtert ihr das Leben: „indem sie eine Schlafende darstellte, schlief sie ‚wirklichwahr‘ (wie die Kinder seinerzeit in dem wendischen Dorf gesagt hatten), und auch tiefer und friedlicher als sonst irgendwann“ (BV 123). Besonders gegen Schluss, nach dem erfolgten Bildverlust und als die Frau mit dem Autor gemeinsam zu erzählen beginnt, verdichten sich die Hinweise auf Filmbilder. So heißt es beispielsweise: „In einem Film hätte das den Anschein von Flucht gegeben“ (BV 752). Und an anderer Stelle: unversehens ging sie mir dann rückwärts, auf den Fugger-Speicher mit dem Glastor zu. In einem Film hätte das „Angst“ signalisiert, geradezu, als habe sie sich auf einmal vor ihrer Hinrichtungsstelle gefunden. Doch jetzt, schon auf der Türschwelle, stürzte sie von neuem voran. […] Eine Filmeinstellung hätte allein ihre nächtlichen Augen gezeigt. (BV 753)
Neben diesem Bezug des Erzählens auf ein anderes Medium gewinnen die lebensgeschichtlichen Voraussetzungen an Bedeutung, die unterschiedliche Reaktionen auf die unmittelbare Erfahrung modellieren. Zwar besteht zwischen dem fiktiven Erzähler und der Frau von Anfang an eine Verbindung, die beide zu einer besonderen Wahrnehmung prädestiniert. Beide verbindet die Herkunft aus einem Dorf und eine elternlose Kindheit, die sie dazu befähigt, ihre Gaben „zum Leuchten“ zu bringen (BV 356). Doch als die Reisende dem Mann von ihrer Grenzsituation zwischen Leben und Tod während ihrer ersten Durchquerung der Sierra erzählt – sie war damals mit ihrer Tochter schwanger und von ihrem Mann verlassen – zeigt er wenig Empathie (BV 361): Die Frau bemerkt während ihres Berichts sein nachlassendes Interesse. Äußere Ereignisse, so wirft sie ihm vor, seien für ihn von Bedeutung nur dann, indem du dank dessen, was dir von außen zustößt, von dir selber überrascht wirst […] und so ein Problem entdeckst […] überhaupt ein Lebensproblem, im Zusammenhang natürlich mit dem äußeren Abenteuer, wobei Äußeres und Inneres nun aber so wirklich wie wörtlich Hand in Hand gehen. (BV 365)
Es ist die Haltung des Autors Handke selbst, der als Erzähler die Dramatik nicht in den berichteten Ereignissen sondern im Erzählen selbst finden will. Zweifellos beinhaltet diese implizite Referenz auch eine kritische Selbstbefragung. Gleichwohl kulminiert diese autoreflexive Passage nicht anders als die erzählte Geschichte des Bildverlusts in einer Apotheose des Erzählens, auf die der Text
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des Bildverlust von Anfang an zuläuft. Vorbereitet ist dies dadurch, dass die Frau mehrfach als Erzählerin gegenüber anderen auftritt und auf andere Erzähler trifft, bevor sie ihr letztes Gespräch mit dem Autor führt und das Ende ihrer Erzählung mitteilt. In der Krisensituation des sich abzeichnenden Bildverlusts braucht sie den Erzähler als Halt. Sein Schreiben ist ein „Umschreiben“ ihrer Geschichte, von dem er selbst vermutet, dass es für sie „eine Art von Entsühnung“ darstelle (BV 24). Doch auch für ihn wie für seinen Erfinder geht es um das „(Er-)öffnen eines Schreibraums“ (Wagner 2010, 129). Deshalb steht schon am Beginn der Reise ein Zwiegespräch mit dem Autor darüber, welcher Beginn erzählt werden solle (BV 94 f.). Kompliziert wird das Erzählen des Erzählers schließlich dadurch, dass dem letzten Erzählen der Frau, die ihm ihre Geschichte im Manchadorf berichtet, unterschiedliche Erzählstationen und Erzähler vorausgehen. Besonders im Blick auf den letzten Ort, den die Frau besucht, muss sich der von ihr gewählte Erzähler gegen andere Erzähler durchsetzen. Sein Erzählen ist ein Nacherzählen und Neuerzählen zugleich. Gerade dass seine Geschichte bereits eine Tradition hat, motiviert ihn zum Schreiben. Dagegen spielt die mit der Gleichsetzung von Autor und Urheber verbundene Originalitätsanforderung für ihn ausdrücklich keine Rolle. Auch damit stimmt er mit einer zentralen Überlegung des Autors Handke überein, dessen Schreiben sich auch als „Wiederholung“ der Tradition versteht (BV 621). Die in sich stimmige Rekonstruktion der eigenen Geschichte, die er an den Bewohnern von Hondareda bewundert, wird ihm zum Vorbild für das eigene Schreiben: Aus ihr entsteht, was er als „freischwingend Wahres“ (BV 620) bezeichnet. Für die Frau selbst ist das Erzähltwerden genauso bedeutend wie das Gefühl, gefilmt zu werden. Zudem stellen sich an den Wendemarken des Erzählens auch spontane Erinnerungen ein, die sich in Phantasiebilder verwandeln. Diese sind entweder auf eine geschichtliche Vergangenheit bezogen, etwa die Erinnerung an Johanna die Wahnsinnige (BV 146), oder sie sind lebensgeschichtlich konnotiert. So tritt dann der Mann, dem sie als Bankfrau einen Kredit verweigert hatte, während ihrer Wanderung nochmals auf und mobilisiert die Erinnerung an ihr früheres Verhalten (BV 137). Solche Situationen einer Nähe, die zugleich Vergangenes bewusst macht, lassen die Frau schon sehr früh zu einer Erzählerin werden, welche die Geschichte, die der fiktive Erzähler über sie verfassen soll, mit beeinflusst. Ihrem Bericht über die erste Durchquerung der Sierra de Gredos kommt dabei besondere Bedeutung zu, weil er in einzelnen Erzählsegmenten berichtet wird und schließlich zu einer Grenzerfahrung führt, die sich zwar als Wahrnehmungsstörung zum Ausdruck bringt, aber doch genau mit dem korrespondiert, was auch die ästhetische Phantasie kennzeichnet. Es ist ein invertiertes Kippbild, wie es in Handkes Texten häufig vorkommt. Die Bankfrau findet sich in einem w eltfremden Bild. „Alles gerade noch Vertraute war aus diesem herausgekippt, und ich selber dazu. […] Die ganze Welt, ich eingeschlossen, stand verdreht und verschoben, vollkommen seitenverkehrt, ohne eine Korrekturmöglichkeit im Hirn […] und kopf gestanden hat auch der Himmel“ (BV 154).
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7 Neubegründung des Erzählens in der Rückbindung an die Tradition
Auch die Verfremdung, die von einem Ölbild der wahnsinnigen Johanna ausgeht, erweist sich als Kern einer ästhetischen Wahrnehmung, denn unter dem Eindruck dieses Bildes kann die Wanderin im „Augenblick des Staunens und Anstaunens“ leben (BV 158). Mit dieser Konzentration auf eine besondere Form der Wahrnehmung verbindet sich ein anderer Aspekt. Während einer Mahlzeit im Schloss macht ein Gast die Frau darauf aufmerksam, dass sie etwas als Ganzes nur in Anwesenheit eines Dritten zu tun vermag. Nicht allein das Erzählen, sondern auch die durch dieses gestiftete kommunikative Situation ist Voraussetzung ihrer Selbsterfahrung. Der Autor ihres Lebensberichts wird bei seinem späteren Erzählen im Manchadorf gerade darauf den Blick lenken und, wie es eine Textpassage im Futur zwei suggeriert, noch hinzugefügt haben: „‚der ganze Mensch muß erzählen!‘“ (BV 162). Unter diesen Voraussetzungen führt die Begegnung der Frau mit ihrem fiktiven Erzähler im Manchadorf zur Interaktion zweier Erzähler, die gemeinsam eine Geschichte rekonstruieren. Vorbereitet ist dieses sozial vermittelte Erzählen durch die Begegnung der Frau mit ihrem Möchtegernliebhaber aus der Flusshafenstadt und dem Mann, in dem sie am Ende ihren Bruder zu sehen glaubt oder vielmehr den, „welcher sich ihr als ihr überlebender Bruder zeigte“ (BV 681). In beiden Fällen kommen sich die beiden Figuren erst durch das Erzählen einer Geschichte nahe. Nicht zufällig wohl erzählt gerade der, „aus welchem sie ihren Bruder heraushörte“ (BV 684), eine Erlösungs- und Erweckungsgeschichte, das Erzählen scheint in der Lage, jegliche Schuld zu tilgen. Von Anfang an lässt sich auch feststellen, dass das Erzählen des Erzählers in dem Maß intensiver wird, wie die Frau selbst zu einer Erzählerin wird. Beim Anhören der Brudergeschichte etwa vermischt sich dessen Innenperspektive mit den „Albträume[n] des alternden Autors“ (BV 170). Schon sehr früh auch bringt sich der fiktive Autor der Reisegeschichte während des konzertierten Erzählens als ein Akteur zur Geltung, der zunehmend von Gefühlen bestimmt ist: Sein Blick auf die Bankfrau schärft sich so, dass er das „unbeschreibliche[.] Schwarz“ ihrer Augen wahrnimmt (BV 214). Umgekehrt erscheinen der erzählenden Bankfrau ihre Erinnerungsbilder als ein „Kapital“, denn je intensiver sie über die Zeit der Bilder spricht, umso deutlicher ahnt sie, dass danach eine Zeit ohne diese kommen würde (BV 219). An dieser Stelle verbinden sich die Phantasien ihres Autors unmittelbar mit den Erinnerungsblitzen der Frau. Die Beschreibung des Autors wird mehr und mehr zu einem phantastischen Konglomerat von Erinnerungsfetzen, die nichts unmittelbar miteinander zu tun haben. Dagegen gewinnt etwas ganz anderes Bedeutung. Die erzählerische Annäherung an die Frau führt zu einer vom Autor schon zu Beginn des gemeinsamen Erzählexperiments phantasierten Vereinigung mit ihr: „Sie umschließt mich mit den Beinen und holt mich heim in sich. Dort krümme ich mich selig. Es duftet nach Lilien“ (BV 224). Dies setzt sich fort, wenn die erzählte Geschichte am Ende in die Gegenwart des wechselseitigen Erzählens von Frau und Autor mündet. Nachdem sich beide über die Macht der Bilder verständigt haben, erfährt die Frau von der Rückkehr ihrer Tochter, sie fühlt sich „von ihrem Kind freigesprochen: einmal davon, daß
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dieses lebte und guter Dinge war; und dann schon von der puren Tatsache Kind, davon, daß sie ein Kind hatte. Nie wieder eigens etwas für dieses tun wollen. Bloß mit ihm sein. Das Tun würde sich so von selber ergeben“ (BV 750). Jetzt kann die Frau sogar ein Kinderlied singen, das von Nähe und vom Verlust der Nähe, aber auch von Schuld gegenüber dem Kind handelt und dabei deutlich macht: „die Schuld wurde geheilt“ (BV 755). Die erinnerte Vergangenheit wird durch das Lied erzählbar gemacht. Es ist von entscheidender Bedeutung für den Gesamtentwurf des Romans, dass sich diese Erfahrung zugleich mit einer Wende in der linearen Erzählordnung des Textes verbindet. Eben hier stellt der Erzähler dem Leser sogar vorübergehend frei zu entscheiden, wie die Geschichte der Frau, wie ihre Selbstbefreiung weitergegangen ist, er bietet sogar unterschiedliche „Erzählvarianten“ dafür an (BV 726). Es sind bekannte Erzählmuster: Das Eingestehen von Schuld, die Artikulation der Stimme, die Liebeserklärung, die Fähigkeit zur „Verwechslung“ (BV 727), die Kraft der Anschauung oder das Anspannen des Körpers allein. Möglich allerdings wird dies erst durch einen Akt der Verwandlung. Im Fall der Frau ist das der Sturz in eine Grube, der zunächst einen Kontrollverlust auch über ihren Körper zur Folge hat. Wie ein Käfer krabbelt sie am Boden, sie hüpft „in der Hocke, mit schiefem Mund, aus dem ihr die Zunge hing wie nur je einer Idiotin“, sie schwankt, sie bewegt sich rückwärts, es ist ein Zustand der Verwirrung, der sie wie eine ihrer Sinne Beraubte erscheinen lässt (BV 728 f.). Erst als sich die Frau dem Manchadorf des Autors, dem Ort gemeinsamen Erzählens nähert, kehrt sie, wie Hinweise auf inzwischen in der Welt Geschehenes belegen, aus ihrer Märchen- und Traumzeit „in die Normalzeit“ zurück. Auch dies ist von Bedeutung für die Rolle des Erzählens, denn nach dem Bildverlust kennt die Frau kein Dauer erzeugendes „Und“ mehr, einen Zusammenhang verbürgt jetzt einzig die Geschichte selbst. Gleichwohl ist die Begegnung der Frau mit dem Autor zunächst schwierig, sie erkennen einander nicht, schließlich macht sie sich zu dem Speicherhaus auf, in dem er wohnt. Sie ist noch immer barfuß, nimmt mit ihm ein Abendessen ein und erst jetzt beginnt sie, ihm die Geschichte von der Durchquerung der Sierra de Gredos und ihres Bildverlusts zu erzählen. Genau dies markiert den Moment eines Umschlags, denn daraus entsteht auch eine körperliche Begegnung des Autors mit der Frau. Beide begeben sich ins Haus, doch die Geschichte ist keineswegs aus, sondern sie führt über phantastische Bilder, die erneut an Cervantes erinnern, unmittelbar in das Begehren, zu körperlicher Nähe und einer neuen Unmittelbarkeit jenseits der Bilder. Dieser Augenblick des Sich-Findens, „das große Bluten hin zum andern“ (BV 758), ist zugleich eine Sprachfindung. Die Frau erinnert sich an einen Traum und beschließt, Hondareda umzubenennen in La Nueva Numancia, die fast vergessene und zerstörte Stadt, die für sie wie für ihren Erfinder zum Ausgangspunkt der Phantasie von einer anderen Welt wird. So endet die Geschichte in einer Begegnung zwischen Wanderin und Autor, die zweifellos körperlich ist, ohne dass jetzt ein körperlicher Akt ausdrücklich beschrieben werden müsste. Der Schluss zeigt einen Schwebezustand, in dem es keine klare Trennung zwischen der Geschichte, dem Handeln der Figuren und
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dem Erzählen selbst gibt und in dem Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen. Zum Bild für das Weiterwirken des Erzählens jenseits dieser Koordinaten wird ein Gefährt, eine Kutsche, die anhält, aber im Stehen noch nachschwankt. Diese Bewegung, die „nicht sobald aufgehört haben“ wird, ist die Metapher des Erzählens selbst, das allein Thema dieses Textes ist (BV 759).
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Selbstreflexion und poetologische Skizzen: Die Journale, Skizzen und Aufzeichnungen
Die Texte, die zumeist unter der Rubrik Journale betrachtet werden, versammeln jeweils eine Abfolge von Selbstreflexionen und Beobachtungen des Autors Handke, die sich über den Zeitraum von 1975 bis ins Jahr 2015 erstrecken. Weil sie mit genauen Zeitangaben versehen sind, lassen sie sich, unabhängig von ihrem tatsächlichen Erscheinungsdatum, einer zeitlichen Abfolge zuordnen. Das Gewicht der Welt den Jahren 1975–1977, die Geschichte des Bleistifts 1976–1980, die Phantasien Wiederholung verzeichnen Notate von 1981–1982, Am Felsfenster morgens von 1982–1987, Gestern unterwegs von 1987–1990 und Vor der Baumschattenwand nachts von 2007–2015. Eine Sonderrolle in einem doppelten Sinn nimmt das Notizbuch ein, eine Vorform der Journale und der fiktionalen Texte, dessen Aufzeichnungen sich auf das Jahr 1978 beschränken, ferner die Schrift Noch einmal für Thukydides, die Miniaturen versammelt, die den Aufzeichnungen der übrigen Journale vergleichbar sind und in den Jahren 1987–1989 erschienen sind. Ebenfalls eine besondere Rolle spielt Ein Jahr aus der Nacht gesprochen von 2010, eine Notatsammlung, die sich allein auf dieses Jahr bezieht, sich aber auf Traumbilder beschränkt.
8.1 Poetologische Notate: Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975–März 1977) (1977), Die Geschichte des Bleistifts (1982) und Phantasien der Wiederholung (1983) Die Aufzeichnungen, deren erste den Untertitel „Ein Journal (November 1975–März 1977)“ trägt, sind nicht einfach Vorarbeiten zu den Werken. Zwar sollte das Gewicht der Welt ursprünglich diese Aufgabe erfüllen, doch bereits dieser Text und mehr noch die nachfolgende Geschichte des Bleistifts und die Phantasien der Wiederholung bestätigen einen Sachverhalt, der sich schon im Gewicht der Welt andeutet. Die Aufzeichnungen sind den Texten strukturell und inhaltlich vergleichbar, sie sind © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_8
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der Beobachtungsform des Reisens und Flanierens verbunden, beschreiben eine Ziellosigkeit des handelnden Subjekts (Bartmann 1984, 111) und pendeln wie die erzählenden Texte zwischen dem Versuch des Beobachters, alle Beziehungen zur Welt abzubrechen und doch wieder in Zuständen der Epiphanie zu sich zu finden (GW 51; 177; 265; 324; Bartmann 1984, 117). Schließlich heben diese Journale immer wieder darauf ab, dass die Schwelle zwischen Privatheit und Mitteilung, Innenwelt und Außenwelt nicht scharf ist, sondern einen Übergangsbereich darstellt, in dem sich die „fixen Ideen einzelner“ in einen „Mythos vieler“ verwandeln lassen (GW 278). Ohne Zweifel bilden auch die Journale nicht anders als die fiktionalen Texte eine fortschreitende Selbstreflexion ab. Schon das Gewicht der Welt hat man mit guten Gründen der nicht narrativen Form der Erzählungen und Romane Handkes an die Seite gestellt und darauf hingewiesen, dass die weißen Stellen zwischen den Notizen die gestrichene Form „Erzählen“ sind (Bartmann 1984, 113). Zudem zeigt sich, dass die Phantasien der Wiederholung durch ihre Idee der kreativen Wiederholung zugleich eine poetologische Reflexion vollenden, die sich bereits in den vorangegangenen Journalen andeutet. Sie alle zusammen begründen und rechtfertigen den auffälligen Rückbezug der späten erzählenden Texte Handkes auf die literarische und philosophische Tradition. Unterstreichen lässt sich dies, wenn man sich klar macht, dass das Gewicht der Welt, dessen Titel auf Sartres Das Sein und das Nichts verweist, nach der Vorbemerkung zur gekürzten Taschenbuchausgabe „Phantasie der Ziellosigkeit“ heißen sollte (GW 267; Tb/st 500, 8). Bei Sartre bezieht sich die Formel vom ‚Gewicht der Welt‘ auf die Frage nach der Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen. Weil dieser „verurteilt ist, frei zu sein“, trägt er „das ganze Gewicht der Welt auf seinen Schultern […]: er ist, was seine Seinsweise betrifft, verantwortlich für die Welt und für sich selbst“ (Sartre 1962, 696). Dass Handke dieser existentialistischen Ontologie folgt und mit Sartre die „Geworfenheit“, die Tatsache der Geburt, bereits als eine „Verantwortlichkeit“ begreift, die auf die „Eigentümlichkeit der menschlichen Realität“ weist, „daß sie ohne Entschuldigungsgrund ist“ (Sartre 1962, 698), legen einige andere Notizen klar. Sie zeigen, dass das Schreiben und die Tätigkeit der Phantasie Versuche sind, diesen Zustand vergessen zu machen, wenn nicht gar zu überwinden. Über die Absicht einer Befreiung von der Geschichte handelt bereits das Gewicht der Welt (GW 138) ebenso wie davon, dass der Blick auf Landschaften immer auch einer auf die Geschichte ist (GW 218). In der Geschichte des Bleistifts wird dies als ontologische Dimension des Schreibens deutlich: „Schreibend reinige ich mich, meine Vorfahren, mein Volk, durch die Form; und meine Vorfahren sind nur wenige, meine Nachkommen aber sind alle!“ (GB 149). Abgesehen von dieser zugleich psychologischen und philosophischen Fundierung des Schreibens beschreibt das Gewicht der Welt, dessen Entstehung aus der unmittelbaren Wahrnehmung die Geschichte des Bleistifts schildert, die Bedingungen und das Verfahren des Schreibens als eine allmähliche Verdichtung von Beobachtungen, Zitaten, Erinnerungen, Träumen und Phantasien zu selbständigen Textsegmenten. Die Phantasien der Wiederholung schließlich liefern nicht nur Versatzstücke einer Poetologie, die sich im Rückgriff auf die Tradition
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vollendet, sie lassen auch eine stärkere Konzentration und Gewichtung erkennen; die formlose Form wird jetzt offenbar bewusster eingesetzt. Dabei zielen die Journale nicht unbedingt auf eine analytische Dechiffrierung des Schreibvorgangs, vielmehr beschränken sie sich darauf, die Wahrnehmungen und Erfahrungen des Autors ebenso wie seine autoanalytischen Einsichten schärfer zu konturieren. Schon von Anfang an zielen die Journale dabei auch auf eine Zerstörung vorgegebener literarischer Formen, wie sie die Texte des Autors zumindest bis zum Kurzen Brief bestimmt; sie repräsentieren eine offene Form, die sich weder eindeutig dem Tagebuch, noch der Autobiographie zuordnen lässt. Wie alle anderen Texte Handkes stehen allerdings auch sie in der Versuchung, an die Stelle der eliminierten traditionellen Formen einen neuen ästhetischen Zusammenhang zu setzen (Pütz 1982, 102). Es lässt sich erkennen, dass das Gewicht der Welt durchaus einer Formung unterliegt, seine Gesamtstruktur weist genau abgezirkelte zeitliche Bögen auf und ist durch die Darstellungsprinzipien von Parallelität und Gegenläufigkeit bestimmt (Pütz 1982, 106 f.). Zudem deuten der Beginn, eine Szene des Sich-Bückens im Herbst, und der Schluss, ein Erheben des Hauptes im Frühling in dem Bewusstsein, sich „freigedacht“ zu haben (GW 9, 325), darauf hin, dass hier den Notizen ein Zusammenhang zugeschrieben wird, der nicht beliebig ist: Die Aufzeichnungen des Journals schildern eine Ursprungsgeschichte der poetischen Phantasie, die in den folgenden Journalen weitergeführt wird. Die Geschichte des Bleistifts und die Phantasien der Wiederholung verzichten allerdings auf eine vergleichbare zeitliche Strukturierung. Das Ende der Phantasien macht deutlich, dass die Journale Abschnitte einer Entwicklung schildern, die nicht abgeschlossen ist. Diesen Text beendet weder wie im Gewicht der Welt eine allegorisch lesbare Szene, noch wie in der Geschichte des Bleistifts ein unendlicher Wunsch (GB 250), sondern eine offene Perspektive: „Ich werde mich entschlossen verirren“ (PW 99). Ihre Bedeutung erhalten die Journale deshalb durch ihre besondere Form; mehr noch als die anderen Texte lassen sie sich dem Darstellungsmodus vergleichen, der die Chronik der laufenden Ereignisse bestimmt. Nicht minder deutlich als das Drehbuch, das persönliche Wahrnehmungen und öffentliche Bilder ineinander spiegelt, versuchen die Journale, die Erlebnis- und Bewusstseinsvorgänge in einem nicht selektierten, nicht zugerichteten Zustand festzuhalten (Pütz 1982, 102). Die Notizen erscheinen als eine „Reportage des Bewußtseins“ (Pütz 1982, 9), bei der das Ich die „Summe aller Impressionen“ und beobachtende Instanz zugleich ist (Pütz 1982, 10). Dadurch wirkt das Journal wie eine leere Einschreibfläche (Bartmann 1984, 112), die Äußerungen ohne intentionale Form dokumentiert. Gleichzeitig wird der Text der Aufzeichnungen zu einer „Reportage der Sprachreflexe“, zum Versuch, die „Augenblicke der Sprache“ festzuhalten, wie es die Vornotiz zum Gewicht der Welt formuliert (GW 6). „Immer wieder auf die paar Momente am Tag hindenken, wo die schmerzhaft sprachlose, stammelnde Welt spruchreif wird“ (GW 194). So sind wie in den anderen Texten Handkes unverstellte Wahrnehmungen des Subjekts, das Schreiben selbst und der Anspruch auf Mitteilung unmittelbar miteinander verbunden. Doch während das Gewicht der Welt selbstbewusst darauf abzielt, die „ewige Entzweitheit zwischen einem und der Welt“ (GW 118)
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8 Selbstreflexion und poetologische Skizzen: die frühen Journale
dadurch zu überwinden, dass die eigenen „fixen Ideen“ in die „Mythen mehrerer“ verwandelt werden (GW 277), mithin auf die Fähigkeit des Schreibens und der Phantasie setzt, verbinden die Phantasien der Wiederholung gerade diese Verwandlung nicht mit einem Versuch der Selbstbehauptung, sondern sie leiten sie aus einer Nachfolge her. Im Gewicht der Welt wird das „sich selber anschauen“ zur Voraussetzung des „nachdenken[s]“ (GW 17), das Gefühl für andere leitet sich aus dem „Ich-Gefühl“ ab (GW 51; Jurgensen 1979, 179), aus einem radikalen Selbstbezug, der die Innerlichkeit als „Methode der exoterischen Rede des Journals“ (Bartmann 1084, 117) erweist. Überdies wird die Beziehung zwischen dem Ich und der Welt in einem fast mechanistischen Bild dargestellt. Das Ich ist eine „unzuverlässige Maschine zum In-Gang-Setzen der Welt: als ob gleichsam erst das Ich sich einschalten muß (wie ein Kraftwerk), damit die Welt beleuchtet wird (sich erleuchtet)“ (GW 20). Dieses Bild wird später durch die Vorstellung eines antropomorphen Sehens ergänzt. Es ist klar, dass unter diesen Bedingungen der häufig benannte Mythos vom Narziss, sicher im Bewusstsein der Vorwürfe, welche die Kritik immer wieder gegen den Autor erhob, eine neue Bewertung erfährt. „Der Mythos von Narziß: Ob nicht vielleicht gerade das lange, forschende Anschauen des eigenen Spiegelbilds (und im weiteren Sinn: der von einem verfertigten Sachen) die Kraft und Offenheit zu langem, unverwandtem, sich vertiefendem Anschauen andrer geben kann?“ (GW 239). In den Phantasien der Wiederholung dagegen schreibt der Aufzeichner des Journals vor allem über die Vorbilder, an denen er sich misst. Seine „Freude des Wiederholens“ (PW 42) richtet sich auf die literarische Tradition, das eigene Schreiben orientiert sich an den Klassikern, am Zeitgenossen Ludwig Hohl, aber auch an den antiken Autoren, wie zum Beispiel an Vergil. Durch Mich-Vergleichen erst finde ich mich: und nur mit den Klassikern kann ich mich, Satz für Satz, vergleichen, mich unterscheiden und so mich finden – die meisten wollen lesend, schauend, usw. unmittelbar sich finden: so verlieren sie sich (z. B. an die Musik). Ich kann nur geduldig vergleichend etwas von mir herausfinden (Pont-de-Ruan, Balzacs Landschaft). (PW 53)
Wie die Phantasien der Wiederholung verzeichnet schon die Geschichte des Bleistifts, dass sich die eigene Fähigkeit zu schreiben aus dem Vermögen zur Wiederholung herleitet. „Ich nehme erst richtig wahr in der Wiederholung“ (GB 98) heißt es dort, „Sich deutlich halten durch Wiederholung“ (GB 187) wird als Grundsatz formuliert, und obwohl der Gedanke aufkommt, das Wiederholen habe sich nur auf das Alltägliche zu beziehen (GB 157), erscheint es als ein Grundsatz, der das Unzeitgemäße des eigenen Schreibens erfasst. Dieses provoziert gerade dadurch, dass es zurückgreift. Daraus ergibt sich zugleich eine Bewertung des eigenen Schreibens: Bei meinen früheren Arbeiten habe ich mich noch im Schutz der anderen, der Pioniere, erlebt. Bei der jetzigen Arbeit aber bin ich ganz auf mich allein gestellt (ohne doch Pionier zu sein). Aber es gibt beim Schreiben wohl gar keine Pioniere, nur die Wiederholer. Und die Wiederholer sind die einsamsten Menschen auf der Welt; das Wiederholen ist die allereinsamste Tätigkeit. (GB 128)
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Schließlich wird das Wiederholen dem Erinnern gleichgestellt; die dichterische Phantasie selbst ist nicht voraussetzungsloser Entwuf, sondern Rückgriff. Eben dies verkoppelt die Versatzstücke einer Poetologie mit einer Autoanalyse. Die Methode der Verbindung weist dabei unmittelbar auf die Entwicklung, die in der Lehre der Sainte-Victoire geschildert wird. „Erst, wenn das, was war, in die Phantasie gehoben, noch einmal kommt, wird es mir wirklich: Phantasie als die auslegende Wiederkehr“ (GB 202). Das Gewicht der Welt will noch voraussetzungslose subjektive Erfahrungen verzeichnen und betrachtet diese als ein „Möglichkeitsfeld für alle“, das Motto „Für den, den’s angeht“ weist darauf hin. Gleichzeitig lässt es das Ich wiederum als ‚shifter‘ erscheinen (Bartmann 1984, 114), wie dies bereits frühe fiktionale Texte vorzeichnen und wie es in den späten Texten häufig der Fall ist. Gerade deshalb bedarf dieses Journal noch einer Beschreibung plötzlicher Wandlungen, wie sie auch die fiktionalen Texte Handkes erzählen. Eine Notiz stellt diese als ein Traumbild dar, in dem „die Wörter wie auf Zehntelsekundenzeigern oder auf umspringenden Flugzeuganzeigetafeln [sich] immerfort umbildeten und die Dinge sich ebenso rasend veränderten, bis schließlich kein Wort und kein Ding mehr wahrnehmbar war, nur die unaufhörliche Verwandlung aller Wörter und Dinge“ (GW 172; Bartmann 1984, 114). Die Geschichte des Bleistifts gibt diesem Ich dadurch individuelle Kontur, dass sie es als ein schreibendes bestimmt und auf das Schreiben anderer verweist. Das Schreiben wird als eine Methode der Selbstversicherung begriffen, die sich durch das angestrebte Verfahren der Wiederholung zugleich der Erzählweise des Mythos annähert, Schreiben ist „Arbeit am Mythos“ (Blumenberg) in einem doppelten Sinn. Die zunehmenden wörtlichen Zitate literarischer und philosophischer Autoritäten, unter denen Vergil, Goethe und Heidegger besonders zu nennen sind, zeigen, dass sich der Mythos von Autorschaft, der sich in den Journalen wie in den Texten durchzusetzen beginnt, aus einem Mythos der Nachfolge entwickelt und eben dadurch lebensgeschichtliche Bedeutung erhält. Auch die Vorstellung der eigenen Repräsentanz begründet sich schließlich daraus (Bartmann 1984, 118). Der Verfasser der Geschichte des Bleistifts, der zunächst die Möglichkeit von Meisterschaft in der Literatur in Zweifel zieht (GB 145), vermerkt schließlich im Anschluss an Überlegungen, die auf das eigene Schreiben zielen: „[…] Vielleicht gibt es in der Literatur also doch Meister: die Meister der Wiederholung. Und vielleicht gibt es doch eine Art Sieg: etwas festgestellt, etwas behauptet zu haben […]“ (GB 209). Gerade das Einrücken in die Tradition bestärkt die fast mythische Qualität des Schreibens, die über eine psychologische Grundierung verfügt. Aus dem ‚mythe personnel‘ (Mauron 1962, 284, 286) von Autorschaft erwächst die Utopie einer Verständigung. Die „mythologischen Bilder“ des Bewusstseins und der eigenen Existenz, die „Zwischendinger[.]“ zwischen „Sachen und Bildern“ entstehen lassen, sollen durch das Schreiben „vorstellungs- und sprachfest“ und „zu etwas still strahlendem Neuen“ werden, „in dem das Alte, das ursprüngliche Erlebnis, aber geahnt ist, wie die Raupe im Schmetterling!“ (GW 31 f.).
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8 Selbstreflexion und poetologische Skizzen: die frühen Journale
Diese Überlegungen zur Verwandlung der Bilder des eigenen Bewusstseins weisen erneut auf die bestimmende Struktur der Journale. Diese sind einerseits rückwärtsgewandt, indem sie immer wieder die politische und literaturtheoretische Polemik aufnehmen, welche die theoretischen Essays vom Elfenbeinturm-Aufsatz bis hin zur Kafka-Rede durchziehen, andererseits werden in den Journalen nicht nur die Voraussetzungen und die Eigenart eigenen Erzählens reflektiert, sondern bereits Versatzstücke künftiger Texte entworfen. Dabei ist auffällig, dass es sich bei diesen vor allem um Naturbeschreibungen handelt, deren Umfang und Intensität zunimmt (GB 20–24; 42 f.; 52 f.; 229; 233; 240 f.) und die zudem die lebensgeschichtlichen Signifikanten des Maulbeerbaums, der Zypresse und des Hohlwegs aufweisen, die auch in den fiktionalen Texten an zentralen Stellen wiederkehren (GB 42 f.; 158). Diese Schilderungen sind zugleich Übungen, um das bloße Anschauen zu erlernen, sie folgen einem Wunsch des Gewichts der Welt: „Das Betrachten so lange aushalten, das Meinen so lange aufschieben, bis sich die Schwerkraft eines Lebensgefühls ergibt“ (GW 324). Natur und Landschaft erweisen sich dabei einerseits als Projektionsflächen des Unbewussten, wie sich an den Phantasien der Verschmelzung mit der Landschaft belegen lässt (GB 42 f.; 45). Die „Urerlebnisse“ sollen in der „Naturbeschreibung“ (GB 82) verborgen und die eigenen Probleme in die Natur mitgenommen werden (GB 175); das einzige Gefühl der Einsamkeit entsteht aus der fehlenden „Vermählung mit der Natur“ (GB 110). Andererseits verweist der Versuch, ein „Heraus aus der Sprache“ zu finden, das Inbild zu erreichen und in Bildern zu schreiben, nichts anderes meint die Betrachtung über das „Innewerden“ (PW 40) und das „ins Innere der Sprache gehen“, wo „Welt und Ich eins in der Sprache“ wären (GB 182), gerade auf die Oberfläche der Natur selbst. Diese ist ein System von Zeichen, aus seiner Abbildung, nicht aus der ungebundenen Phantasie begründet sich das Vermögen des Schreibens. „Wenn ich ganz ruhig versunken bin, nehme ich wahr eine Art ewiger Schrift (besser: ewiger stiller Rede); wenn ich ganz ruhig aufmerksam bin, nehme ich wahr eine Art ewiger Bilderfolge: das bewußte Schreiben aber hieße, daß beides in eins geschieht: RIDET ACANTHUS (Vergil)“ (GB 49 f.). Die Formen der Natur weisen auf das Formgesetz des Schreibens und auf die Gesetze der Phantasie selbst, sie verhindern das „die Dinge verratende[.] Sprachdenken[.]“ (GB 212) und ermöglichen es, bei den Dingen zu bleiben, zu „lauschen“ (GB 234), wie es in Anlehnung an das Hyperion-Zitat ausgeführt wird, das in Losers Geschichte im Chinesen des Schmerzes seine poetologische Deutung erfährt. Allein so wird dem Verfasser der Journale die Selbstgewissheit möglich, die er immer wieder durch Schreiben, in einem „[N]achsprechen“ der Welt erfährt (GB 155). Und so erst gewinnt seine anschauende Phantasie den Status der Objektivität, erweist sich das Phantasiebild des „nunc stans“ zugleich als der Augenblick der Sachlichkeit (GB 198). Jetzt kann der Blick auf das „persönliche[.] Epos“ der Notizbücher (GW 315) den Wunsch hervorrufen, nur noch „Vom Schnee in den Rocky Mountains“ zu schreiben (GW 321). Diese Verbindung von Gefühl und Anschauung erfüllt das Gesetz der „Realisation“, das auch im Zentrum der Poetologie steht, welche die Lehre der Sainte-Victoire entwickelt (GB 200).
8.2 Das Notizbuch, 31. August 1978–18. Oktober 1978
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In scharfem Kontrast zu dieser Vergewisserung über die eigene Psychologie und die Methode des eigenen Schreibens stehen die polemischen Passagen der Notizen. Unter ihnen fällt auf, dass das Ich, das schreibend dem Mythos vieler zustrebt, sich handelnd und denkend allererst von den Meinungen der vielen abzusetzen bemüht ist. Der Schreiber der Journale erkennt nicht nur selbstkritisch, dass er auf Streit und Kontroverse aus ist (PW 63); indem er das „Gerede-Ich“ dem „ruhigen Ich“ und dem phantasierenden Denken (PW 84) gegenüberstellt, grenzt er auch schon das „Gemeinschafts-Erlebnis“ des Schreibens (PW 31) von den herrschenden Meinungen ab: „jede Art Gruppe ist mein Feind“ heißt es sehr emotional in der Geschichte des Bleistifts (GB 152), in den Phantasien der Wiederholung wird daraus ein politischer Grundsatz. „Wenn einer einmal ein Weltbild hat, wird er erbarmungslos; und die Gruppe mit einem gemeinsamen Weltbild wird mörderisch“ (PW 92). Hier schlagen die autobiographischen Notizen den Bogen zurück zu einer literaturtheoretischen Kontroverse, in deren Mittelpunkt für ihren Verfasser nicht nur die zeitgenössischen Autoren, sondern vor allem Brecht steht, der die „Zerstörung […] der freien Literatur“ einleitet, und damit zugleich die Haltung in Frage stellt, mit der sich Handke Ende der sechziger Jahre behaupten will (GW 110). Vorgezeichnet ist hier bereits die selbstreflexive Grundlage für die große politische Kontroverse über Serbien, die Handkes Theaterstücke bestimmt und deren Spuren auch die späten Texte seit der Morawischen Nacht fortschreiben.
8.2 Schreiben, Sehen, Zeichnen: das Notizbuch, 31. August 1978–18. Oktober 1978 (2015) Das 2015 veröffentlichte Notizbuch (Abb. 8.1), das die Zeit vom 31. August 1978 bis zum 18. Oktober 1978 beschreibt, also in die Entstehungszeit der Langsamen Heimkehr fällt, gibt einen Einblick in die Beziehung der Notizbücher im engeren Sinn, zu den autoreflexiven Aufzeichnungen der Journale vom Gewicht der Welt bis zu Am Felsfenster. Während diese eine Zwischenstufe zwischen autoreflexiven und der Beobachtung verpflichteten Notaten bilden, in der viele Leitgedanken der fiktionalen Texte vorgezeichnet werden, sind die Notizbücher im engeren Sinn eigentlich Reportagen. Dabei muss allerdings hinzugefügt werden, dass das als Notizbuch Veröffentlichte nur eine entschiedene und weitreichende Auswahl darstellt, deren Prinzip noch archivalisch aufzuarbeiten ist (Fellinger, NB 55). Für das jetzt als Text zum Druck Gebrachte dieser Aufzeichnungen gilt, wie man gezeigt hat, dass es sowohl unmittelbare Übereinstimmungen zwischen diesen Aufzeichnungen und dem fiktionalen Text gibt (LH 47; NB 58), als auch erkennbare Umstellungen und Weglassungen. Handke selbst weist auf beides, wenn er davon spricht, dass er die Notate beim Schreiben „verwendet“ habe (AF 59; NB 58 f.). Daraus ergibt sich eine doppelte Bedeutung dieses Notizbuchs für das Erzählen in den fiktionalen Texten. Zum einen konturiert es sehr scharf die zentrale Opposition von Natur und Zivilisation, die nicht nur in der Langsamen Heimkehr
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8 Selbstreflexion und poetologische Skizzen: die frühen Journale
Abb. 8.1 Peter Handke: Zeichnung aus Notizbuch, 2015, 14–15. (Deutsches Literaturarchiv Marbach; mit freundlicher Genehmigung von Peter Handke)
eine Leitlinie bildet. Einerseits fühlt sich der Aufzeichner selbst als „Zivilisationsdämon[.]“ (NB 35), andererseits erhalten Natur und Landschaft für ihn deshalb eine besondere Funktion. Sie markieren einen Schutzbereich der nicht zufällig mit dem Bild einer Muschel verknüpft ist (NB 34). Ein weiteres Attribut erhält dieses Aufgehen in der Natur durch den bewussten Verzicht auf den eigenen Namen, so mit Blick auf die Figur des Sorger (NB 46, 33), und die Verfremdung des Eigenen zum Bestandteil eines Steckbriefalbums (NB 36), weil sich der Aufzeichner in den Städten als „unter Schurken meinesgleichen“ fühlt (NB 42). Aus dieser Sammlung und Abgrenzung zugleich begründet sich die Idee von der Erfassung eines vorgängigen Zusammenhangs in der Natur, der nicht als Sinnzusammenhang gedacht wird, sondern zunächst eine natürliche Beziehung von Dingen und Zeichen meint. Da diese dem unmittelbaren Blick nicht unmittelbar zugänglich ist, muss sie im Wahrgenommenen erst dechiffriert werden. Der Text bezeichnet dies im Vorgriff auf die drei Jahre später erscheinende Lehre der Sainte-Victoire als ein „Freiphantasieren“ (LH 111 ff., LSV 18) und, in der Diktion Heideggers, eine „Verwandlung und Bergung der Dinge in Gefahr“. Sie ist kein allein intellektueller Akt, sondern sie entsteht aus einem kreativen Zugang zur Welt jenseits der Schrift: aus dem Zeichnen (LH 45 f.). In diesem werden Linien erschlossen, welche die Wahrnehmung wie das wahrgenommene Bild zugleich bestimmen (LSV 66). Es ist eine folgenreiche epistemologische und apperzeptive Wende, deren Bedeutung ebenfalls später in einer autoreflexiven Passage des Jahrs in der Niemandsbucht hervorgehoben wird (MJN 376 f.).
8.2 Das Notizbuch, 31. August 1978–18. Oktober 1978
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In Verbindung damit wird die in späteren Texten fortgeschriebene Vorstellung von der Schrift und den Zeichen der Natur ausgearbeitet, die etwa Sorger in der Langsamen Heimkehr die Landschaften (NB 39) und die Natur „lesen“ lässt (NB 55). Auch dabei wird das kreative Element unterstrichen, denn der Autor hebt darauf ab, dass die „Systematik des Sehens“ überwunden und ein „phantasierendes Sehen“ erreicht werden muss (NB 44). Es ist von zentraler Bedeutung für den Zusammenhang seiner eigenen Schriftwelten und Bilderordnungen, dass er gerade dies in der Landschaftsmalerei vorgezeichnet sieht. Die Bedeutung des Rückgriffs seiner Texte auf Bilder der Landschaftsmalerei erklärt sich von hier. Das Notizbuch skizziert auch ein Zusammenwirken von räumlichen und zeitlichen Kategorien, wie es sich in den Texten der Tetralogie als bestimmend erweist. Unmissverständlich vermerkt ein Notat: „HORIZONT als Zeitmaß in der G[[eschichte]]“ (NB 49). Ein vergleichbarer Wechsel der Kategorien bestimmt die Wahrnehmung, allerdings auf ambivalente Weise. Die Konzentration auf das Naheliegende und unmittelbar Sichtbare kann auch zu phantastischen Desorientierungen führen, so ist das Entdecken von Erdformen immer wieder mit der Entfernungstäuschung verbunden (NB 48). Dieses Zusammenspiel von räumlichen und zeitlichen Kategorien der Wahrnehmung eröffnet zugleich die Bedeutung der autobiographischen Spuren des Erzählens, die in einem kongruenten Bild dargestellt werden. Den Aufzeichner leitet die Vorstellung, dass er durch die Zeit hindurchgehen könne, „‚durch die Jahre‘, wie durch Fluchten von Räumen, die im Durchgehenkönnen erst schön werden“ (NB 50). Diese Vorstellung erweist ihre psychologische Bedeutung darin, dass sie auf eine Autoanalyse zielt, die unmittelbar mit der Herausbildung des Selbst und seinem reflexiven Niederschlag im Erzählen verbunden ist. Es geht dem Schreiber darum, die „Ablagerungen weg[zu]räumen, die sich um ihn gebildet haben“ und ganz konkret um seine besondere Rolle in der Familiengeschichte, wie sie später in Immer noch Sturm ausdrücklich thematisiert werden wird. Schon jetzt beschäftigen ihn „Herkunftsträume“ und der Sachverhalt, dass seine Schwester ein Tagebuch hatte, „wo er als der einzig Verlorene in der Familie aufgeführt war“ (NB 45). Daraus begründet sich nicht nur die psychologische Einsicht, dass „der Hintergrund des Bildes […] schon einer andern Wirklichkeit anzugehören [schien], dem Traum“ (NB 51). Das Bild ist auch Visualisierung einer Entwicklung des Selbst, die am Ende nur durch eine Modellierung von außen, in der Orientierung an einer Form entstehen kann. Sie lässt die psychologische Durcharbeitung des Eigenen, die Formung des Selbst, zum Muster einer ästhetischen Bearbeitung der Wirklichkeit werden. Neben die Verknüpfung von räumlichen und zeitlichen tritt deshalb im Notizbuch eine Überlagerung von psychologischen und ästhetischen Kategorien. Die meiste Zeit bewegte sich seine bloß heimatlose Hülle ohne Verstärkung und Gewicht durch ein Selbst […] selten gelang es […], diese Hülse heimzuholen, zu erden und in der Erde dann selbstbewußt und anonym aufgehen zu lassen, […] Durchdringenkönnen der ‚Tiefe der Jahre‘*?, als Ergebnis des Selbsteinstellerlebnisses in einer Form. (NB 52)
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8.3 Sehen bei Nacht und bei Tag: Am Felsfenster morgens. Und andere Ortszeiten 1982–1987 (1998) Der Text von Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987) ist ein Buch von Aufzeichnungen, das visuelle Wahrnehmungen und reflexive Betrachtungen eng miteinander verknüpft. Handke selbst weist auf dieses Doppelspiel, wenn er seine Notate lediglich als „Reflexe, unwillkürliche, gleichwohl bedachtsame“ bezeichnet, die „ausschwingen“ wollen (AF 7). Ausdrücklich weist er die Bezeichnung Tagebuch zurück und spricht von einem Buch, das durch die „Einheit zwischen Reflex, Reflexion und Gegenstand“ gekennzeichnet sei, also von vornherein das Sehen und das Denken aneinander vermitteln will (AF 94). Nicht zufällig kombiniert das Cover der Erstausgabe eine ornamentale Konfiguration mit einem Pfeil und lässt sich damit auf eine Definition von Literatur beziehen, die eine Wechselbeziehung zwischen dem Visuellen und dem Reflexiven, zwischen Bild und Wort entwirft: „Literatur: Es genügt nicht das Bild – es muß jenes eine (1) Wort dazukommen, welches das Bild erst zum Bild-Pfeil macht“ (AF 431), es ist eine Formel, die wie eine Paraphrase von Roland Barthes’ Bestimmung des „punctum“ in der Fototheorie der Hellen Kammer erscheint. Für den Leser kommt es deshalb darauf an, den zentralen Sehpunkt der Notatsammlung zu erschließen, der für den „ortsbedürftig[en]“ (AF 20) Autor sowohl räumlich als auch werkgeschichtlich und psychologisch genau markiert ist. Die dominierende Sehachse ist zunächst durch Salzburg vorgegeben, wo Handke seine Unterkunft oben auf dem Mönchsberg, in einem Haus gefunden hat, das auf der Rückseite bis an den steilen Abhang herangebaut ist. Dort ist sein ‚Felsfenster‘, das Naturblicke erlaubt, in denen als beherrschende Form immer wieder der Pyramidenberg des Staufen-Massivs erscheint (AF 241), der am Ende vom Bild des Mont Salvage aus dem Parzival überblendet wird (AF 419). Werkgeschichtlich begleiten die Aufzeichnungen aus den letzten fünf der insgesamt acht Jahre, die Handke in Salzburg verbrachte, vier große Romane und Erzählungen, Der Chinese des Schmerzes, die Wiederholung, der Nachmittag eines Schriftstellers und die Abwesenheit. Sie belegen auch eine poetologische Neuorientierung, bei der nicht mehr Geschichten, sondern das Beschreiben des Schreibens selbst in den Vordergrund rückt. Programmatisch heißt es über die Wiederholung: „Ich erzähle, unterschwellig, das Erzählen“ (AF 330). In einer Erzählung kommt es nicht darauf an „Ursachen, Wirkungen, Aufeinanderwirkungen“ zu zeigen (AF 46), auch nicht auf die „Beschreibung von Aktionen, Reflexionen, Reflexen“ (AF 229). Vielmehr soll durch das Zurücktreten des Erzählers hinter die Dinge eine wirkungsästhetische Dynamik zwischen Text und Autor ausgelöst werden. Das „In-der-Ruhe-Lassen des einen gegenüber dem anderen“ begreift der Aufzeichner als ein „Sein-Lassen“, das „in mir dafür das Zusammenwirken bildet“ (AF 46). Allein wenn sich der Text darauf beschränkt, alles, was er verzeichnet, in seinem Eigenen zu belassen, kann er die „Evokation einer so unerhörten wie einleuchtenden Dingfolge“ erreichen, er präsentiert einen „einmaligen Zusammenhang […], der durch das Evozieren ein für allemal gilt“ (AF 229).
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Begonnen hatte diese Wende mit der Langsamen Heimkehr. Die dort vorherrschende Konzentration auf das Anschauen und Beschreiben der Natur, die sich gegenüber der Handlung autonomisiert, setzt das Felsfenster mit einer Fülle von Naturbeschreibungen in Form kleiner Miniaturen fort, die sich an einigen Stellen zu Beschreibungen von Wanderungen erweitern, welche die in der Abwesenheit und im Bildverlust geschilderten Wege vorzeichnen (AF 534, 450, 473; Klettenhammer 2004, 325–338). Begleitet werden viele dieser Beobachtungen durch Verweise auf das Gartenbaubuch des Lucius Iunius Columella, das in den Aufzeichnungen eine ähnliche Funktion erhält wie das Obstbaubuch des Filip Kobal in der Wiederholung, es wird zu einem Text, der die Wahrnehmung zugleich leitet und ordnet (Columella 1983). Es ist nur konsequent, dass darüber hinaus nicht wenige Notate bereits die Thematik des Bildes und der visuellen Wahrnehmung umkreisen, die im Bildverlust zentrale Bedeutung gewinnt. Innerhalb des Berichtszeitraums kommt den Verweisen auf den Text der Wiederholung besondere Bedeutung zu. Dessen Protagonist Kobal wird nicht nur häufig wie eine real existierende Person skizziert und angesprochen, die ihn betreffenden Beschreibungen sind zugleich mit offensichtlich authentischen Erinnerungen des Berichtenden verbunden. Psychologisch spiegeln die Aufzeichnungen eine zugleich bewusste und unbewusste Fixierung auf das Thema der Herkunft, wie sie sich bereits in Über die Dörfer am Ende der Tetralogie angedeutet hatte. Es ist eine Linie, die in Immer noch Sturm ihren bis jetzt deutlichsten Ausdruck findet, gleichermaßen aber auch Texte wie die Morawische Nacht bestimmt. Sinnfällig ausgedrückt wird diese Rückwende zunächst dadurch, dass das „Felsfenster“ auch ein Zeitfenster ist, das Ausblicke in ganz andere „Ortszeiten“ ermöglicht. Die zweifellos wichtigste unter ihnen ist die Kinderzeit. Ausdrücklich heißt es, der Platz am Felsfenster morgens sei „eine Wiederkehr oder Wiederholung des Platzes auf der blaubemalten Truhe in der hölzernen Galerie oben außen damals in der Kindheit am Großvaterhaus“ (AF 412). Es ist ein Doppelblick auf Gegenwart und Vergangenheit, wie ihn später auch der Versuch über den Stillen Ort inszenieren wird (VO 74). Am Schluss der Aufzeichnungen wird deutlich, dass auf diese Weise auch ein künftiges Schreibprogramm skizziert ist. Vor einer Nische seiner Heimatkirche bedenkt der Verfasser der Aufzeichnungen die „heiter-beschwingte, musikalische Glaubensgewißheit“ des zwölften Jahrhunderts und verbindet diesen Gedanken mit einem Blick auf die Natur draußen. Unmittelbar darauf folgt ein Notat, in dem er eine vergleichbare Situation im „Obstgarten der Vorfahren“ wiederzusehen glaubt. Lapidar folgert er: „Nein, mit diesem Garten bin ich noch nicht am Ende, und auch nicht mit den Vorfahren“ (AF 540). An dieser Stelle markieren die Aufzeichnungen unter Bezug auf die Wiederholung, dass ihr Rückgriff auf das Vergangene entschieden auf eine Durcharbeitung im psychologischen Sinn zielt: „sich von den Vorfahren befreien; aufhören, sich für ihren Gefangenen zu halten, oder auch für ihren glücklichen Erben; ohne sie dabei aber zu verraten“ (AF 231) heißt es im Blick zurück. Dabei wird deutlich, dass dieser inszenierte Blick auf den innersten Kern des Schreibenden selbst weist. „Ich mache, was ich bin: = Schreiben“ (AF 189) vermerkt er lapidar.
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Diese psychologische Konfiguration, die zugleich das Muster für eine poetologische Strategie liefert, in der Gegenwart, Vergangenheit und erinnerte Vergangenheit unmittelbar miteinander verknüpft werden, verdichtet sich im Kontext der Aufzeichnungen zudem in zwei ganz unterschiedlichen Registern. Das erste weist unmittelbar auf den auch Prousts Recherche bestimmenden Zusammenhang von Erinnerung und medialer Transformation der Wahrnehmung, zu deren Zeichen die laterna magica wird (Proust Pl I, 9 f.; Deleuze 1997, Bd. 2, 58 f.). Bei Handke ist eine korrespondierende Situation verzeichnet, in der ein Blick nach draußen, der Gegenwart und Vergangenheit verbindet, wie eine mediale Inszenierung dargestellt ist. „Gestern, beim Lesen am Felsfenster morgens, fühlte ich mich in einem Licht- und Farbenraum, der das ganze verzweigte Haus, bis in die hintersten Kammern und Nischen, erschloß, und ich, lesend, war die diesem Raum entsprechende Farben- und Licht-Komplementärfigur, eine Form festen Lichts bis in die innersten Gehirnwindungen (10. Mai 1986)“ (AF 360). Die zweite Verdichtung dieser psychologischen Konfiguration erschließt sich im Bezug auf eine Reihe von Traumaufzeichnungen. Ganz anders als im Jahr aus der Nacht gesprochen, wo Handke ausschließlich seine Träume während eines Jahres notiert, sind die im Felsfenster berichteten Traumbilder offensichtlich auf eine Kontextualisierung angelegt. Einige entwerfen in ihrem Zentrum durchaus intrikate Phantasien von einem Kind. In diesen überlagern sich in verschlüsselter Form offensichtlich Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend, zumal bei denen, die in Zusammenhang mit Bildern der Mutter stehen, und an die eigene Vaterschaft in Gesellschaft der Tochter Amina – der Aufenthalt in Salzburg begleitet ja deren Schulzeit (AF 359). Das Kind im Traum zeigt sich durchweg wie eine miniaturisierte Märchenfigur und die dargestellten Situationen, in denen Vater und Kind zugleich erscheinen, erweisen sich als phantastische Konfigurationen, die phantasmatische Zustände spiegeln. Dabei verstärken die häufig unnatürlichen Größenverhältnisse nur eine unbewusste Angst vor dem eigenen Versagen: „Mein Kind war gestern nacht eine riesenhafte Totemsäule, mich, mit mehreren farbigen Maskenschädeln übereinander, weit überragend. In Wirklichkeit aber steckte es drinnen in der Säule, kleinwinzig, und redete leise da heraus, auf meiner Brusthöhe“ (AF 473). Daneben überlagern sich in diesen Träumen auch die Empfindungen von Fürsorge, Abwehr und Fremdheit so, dass sie sich nicht eindeutig voneinander abgrenzen lassen. Gewiss nur scheint, dass sie eine Situation des ‚double-bind‘ abbilden. „Ich hatte mein Kind in der Hand, eingeschlossen in einen Eisklumpen, und wärmte es, das sehr über Kopfschmerz klagte, unter meinem Rock, am Herzen, ins Leben zurück. So klein war das Kind, in dem Eis fast gar nicht mehr da“ (AF 359). Auch Phantasien von Nähe und Verlust sind in der Regel unmittelbar miteinander verbunden. Eine empathische Haltung beschreibt eine beiläufige Bemerkung: „Wann ich, gleichwo, ein Kind panisch-angstvoll nach seinem Vater rufen hören, fühle ich mich gerufen, von gleichwelchem Kind“ (AF 522). Dem steht eine fast traumatische Verlustphantasie gegenüber: „Ein Kind sprang von der Haustür ein paar Stufen hinab, dem Kindermädchen in die Arme, traf aber stattdessen daneben auf dem Boden auf und war verschwunden. Das Mädchen erklärte
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sogar, da sei nie ein Kind gesprungen (1. November)“ (AF 536). Noch radikaler werden diese Phantasien durch die Verbindung mit einer familialen Grundfigur. Ein phantasmatischer Traum vom Großvater verbindet sich mit einer Phantasie von nackten Säuglingen im eigenen Haus, die als „Probesäuglinge für die erst noch zu gebärenden“ (AF 264) bezeichnet werden, an anderer Stelle erweisen sich zwei „nackte kleine Gliederpuppen“ als „winzige Kinder, mit Beinstümpfen“. Der Träumende erfährt, dass sie einer mittlerweile getrennten Beziehung entstammen und verspürt, die „Winzlinge in der Armbeuge […] die Tragik der Eltern, von Eltern überhaupt“ (AF 265). Den Gesetzen der Traumlogik folgend kommt es auch immer wieder zu Doppelungen, Vertauschungen und Verdichtungen der Bilder. Ihre gemeinsame Leitlinie ist offensichtlich die Phantasie einer Ursituation, die zwar im Kontext der Familie dargestellt wird, aber entschieden der psychogenetischen familialen Ausdifferenzierung vorangeht. Deutlich wird dies daran, dass die Beziehung von Vater, Mutter und Kind in den Träumen als reversibel erscheint. Der Leitsatz, dass Schreiben nichts anderes sei als ein „entzifferndes Wiederfinden der Kindheit“ (AF 267) oder das „[H]inerzählen, auf ein Kind“ (AF 321) verdichtet sich dabei zu einer invertierten Vater-Kind-Konfigurationen. „Die Vaterschaft der Kindheit ist vielleicht die wirklichste oder wirksamste: das Kindsein als Vater und Mutter“ (AF 371). Diese Überlegung kulminiert in vergleichbaren Überlegungen zur Beziehung von Vater und Sohn, die das späte Werk immer dichter durchziehen: „Der Vater braucht den Sohn, mehr als der Sohn den Vater (ich wiederhole mich)“ (AF 488) vermerkt das Journal. Auffällig genug kommt es neben dieser psychogenetischen Inversion mitunter auch zu einer Verdoppelung, die an Kafkas Texte erinnert, weil sie die Trennung von Traumwelt und Wirklichkeit labil werden lässt. In einem Traum, in dem der Großvater und das Kind in verschiedenen Bettkammern im Sterben liegen und der Aufzeichner das Kind rettet, indem er es von den „Mitteln des Arztes […] um den Kopf gewickelten Karten“ befreit und ihm seine Wunschnahrung besorgt, findet er nach seiner Rückkehr beide Bettkammern leer. Unmittelbar darauf springt das Bild um: „Dann mein eigenes Kind, das am Morgen heimkam und mir, in meine Bettkammer, hinaufrief, dass die Träume alle nie stimmen“ (AF 522). Zuweilen sind diese Träume den übrigen Bildern der Aufzeichnungen vom Tage konträr entgegengesetzt. So vermerkt der Schreibende an einer Stelle: „Ruhe: ein Bildstock auf dem Land, zwischen weitschwingenden Weizenfeldern, und die Mutter und ich dort auf einer Holzbank“ (AF 493). Ein nachfolgender Traum macht jedoch deutlich, dass offensichtlich auch dieses idyllische Bild im Innersten gebrochen ist. Er entfaltet ein intrikates Bild der Beziehung zur Mutter, indem er es mit dem Thema des Schreibens in Zusammenhang bringt. Die andernorts vom Autor verzeichnete Überlegung, dass ihn sein Schreiben schon in der Jugend von den Verwandten und auch von der Mutter entfernt habe, eine Situation, der ein Gefühl der Schuld entsprang, verdichtet sich im aufgezeichneten Traum zu
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einem Bild, das den Körper und den Tod der Mutter obsessiv mit dem Thema des Schreibens und der Vorstellung von einem Buch verbindet: Ich hatte wieder einmal meine tote, von mir getötete?, Mutter bei mir, diesmal in Form eines langen flachen Pakets, das ein Buch war. Ich wollte diese tote Mutter loswerden und suchte nachtlang nach einem Platz, wo sie niemand fände, wo vor allem der Gestank mich nicht verriete. […] Noch konnte niemand wissen, daß das eingewickelte Buch auf meiner Schulter die tote Mutter war. Was tun? (AF 468 f.)
Unmittelbar verbindet der Text die Phantasien von Kindheit, die als Grundlage des Schreibens dargestellt werden, mit Erinnerungen an die authentische eigene Kindheit. Die Psychogenese des Berichtenden und die Genese des Autors werden damit zu ein und derselben Geschichte. Mit Blick auf die tatsächliche Kindergeschichte heißt es: Meine Kindheit bestand fast nur aus dem Warten auf das Ereignis; auf das Erscheinen der endlich wirklichen Welt hinter der Scheinwelt. Und der Ort für dieses Warten und für das endliche Erscheinen konnte nur zuhause, die Heimat, sein. Daher das Grauen, ja, des Heimwehs, als ich in das Internat kam: Es war dort nichts mehr zu erwarten (21. November). (AF 420)
Daraus entwickelt sich ein Schreibgestus, der das Nicht-Gelebte zu verwandeln sucht und aus der Erinnerung an die Kindheit die ästhetische Phantasie entfaltet. „Eine ‚glückliche Kindheit‘ verbringe ich erst in der glückenden Erinnerung (18. Januar)“ (AF 441) vermerken die Aufzeichnungen. „Wo die Schwelle beseitigt ist, oder nicht mehr ist, muß ich einsetzen, das Ich, das Kind“ (AF 122), heißt es weiter und „Ein guter Satz geht immer in die Kindheit zurück; findet etwas aus der Kindheit wieder […]“ (AF 123). Franz Kafka, dessen zunehmende Wertschätzung das Felsfenster durchzieht, wird zum Vorbild für diese Verschränkung von kindlicher Erfahrungswelt und literarischem Schreiben. Sein besonderes Gewicht erhält dieser Bezug zudem dadurch, dass er sich auch in ein Traumbild einschreibt: „Im Traum las ich einen Text Kafkas, den es gar nicht gibt. Er erschütterte mich so, dass ich aufweinte. Der Text handelte davon, daß alle glücklichen Vergleiche Vergleiche mit der Kindheit sind. ‚Der Blick auf die Kindheit ist der Blick auf Alles‘“ (AF 222). Dabei lässt sich erkennen, dass der Blick zurück in die Kindheit immer auch eine Erinnerung an Slowenien ist. Szenen, Lieder (AF 168) und Worte in slowenischer Sprache werden verzeichnet (AF 295), gleichzeitig deuten sich für den Beobachter die Zeichen für ein neues Jugoslawien an, das ihm abstoßend wie Wien erscheint (AF 510 f.). Und wie eine Vorausdeutung auf die spätere Auseinandersetzung über Serbien erscheint seine Frage, ob es nicht eine „Stärke der Slowenen“ sei, „keinen Staat zu bilden, kein Staatsvolk sein zu wollen (DW; 8. Oktober)“ (AF 114). Wie die Erinnerung an die Mutter erfahren auch die Phantasien von einem Kind, dem eigenen oder auch nur vorgestellten, eine phantasmatische Brechung, die mit dem Nachdenken über die eigene Vaterschaft eng verbunden ist. Dass sich dies ebenfalls mit dem Motiv des Buchs verbindet, weist darauf, dass hier ein lebensgeschichtlich wirksames Phantasma des Autors fortgeschrieben wird. „Ich spielte mit meinem Kind, indem ich es in einem dicken Buch, foliantdick, mit mir herumtrug, damit tanzte und sang. Aber als ich das Buch dann öffnete,
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war das Kind nicht mehr drin. Dabei hatte ich es doch gerade da hineingetan (31. Dezember 1986)“ (AF 431). Die diese psychischen Einschriften begleitende poetologische Wende zu einem neuen Schreiben (Lüdke 1998), das die nachfolgenden Texte bestimmen wird, belegen die Aufzeichnungen des Felsfensters einerseits, indem sie sich motivisch auf diese Träume rückbeziehen lassen, andererseits aber auch durch eine davon unabhängige Schreibweise. Dabei folgen sie zwei Orientierungen, deren Kontur sich in den Notaten nebeneinander erkennen lässt. Zum einen ist es eine Reflexion über die Rolle des Sehens im unmittelbaren und physischen Sinn, es ist die Auffassung, dass das Sehen erlernt werden müsse. „Wie schwer ist das Sehen. Und es gibt keine Schule dafür; jeder kann es nur selbst lernen, Tag für Tag neu. Aber dann, in der Betrachtung, hat selbst das Schwarz der toten Blätter jetzt ein Leuchten“ (AF 539). Davon abgeleitet entwickelt sich zum anderen ein Nachdenken über das Vermögen der Anschauung, das der visuellen Wahrnehmung eine psychologische Dimension verleiht, am deutlichsten da, wo Handke im Bezug auf Spinoza vom „anschauende[n] Wissen“ spricht (AF 37). Gemeint ist damit ein Zurücktreten hinter die Dinge, das einer psychogrammatischen Prägung untersteht. „Noch einmal ‚Anschauung‘: so lange in ihr verharren, bis sie mir schmerzlich wird und ich so durchlässig werde, in der Schmerzhaftigkeit – bis das Angeschaute und ich schmerzlich-durchlässig-einander-durchdringend werden“ (AF 531). Dem korrespondiert eine durchgängige Psychologisierung der Sätze, die in der Tetralogie wie im Chinesen des Schmerzes einen philosophischen Bezug eröffneten. „Hören, lauschen: als eine Art, von sich abzusehen (3. Mai)“ (AF 53) heißt es an einer Stelle und wenig später unter Verweis auf Hölderlin „Schauend sich zurücknehmen“ (AF 57). Deutlicher allerdings als die fiktionalen Texte zeigt dieses Journal, dass es bei Handke keinen Selbstentwurf ohne entschiedene und mitunter aggressive Abgrenzungen gibt, erkennbar wird auch, dass das nachfolgende Projekt einer Weltreise einen Grund darin hat, dass der engere Kreis des Lebens als unerträglich empfunden wird. „Das inländische ‚Gerede‘ ist mit den Jahren angewachsen zum ‚Geschnatter‘; und dieser Umwelt muss (will) ich bald endgültig entkommen“ vermerkt das Journal (AF 516). Neu ist, dass daraus jetzt eine epochale Signatur wird, nicht zufällig werden zwei Fragen aufgeworfen, die unmittelbar das Konzept des Romans vom Bildverlust bestimmen. „Die Bilder gelten nicht mehr: Ist das nur ein Problem des (meinen) Alterns? Oder das Problem einer Epoche? Eines Zeitalters? („Der Bildverlust“)“ fragt sich der Autor selbstkritisch (AF 530), um dann unmittelbar darauf mit einer Hoffnungsformel zu antworten: „Aber werden nicht gerade im wehen Entschwinden die Bilder vielleicht noch einmal möglich, in der Geste des sie-nicht-mehr-Fassenkönnens?“ (AF 531). Die grundsätzliche Dialektik, die der Text vom Bildverlust entfalten wird, ist damit schon vorgezeichnet. Von dieser lebensgeschichtlich wie poetologisch folgenreichen Wende abgesehen, lassen sich in den Aufzeichnungen des Felsfensters ganz unterschiedliche Strategien erkennen. Die eine führt zu einer Selbststilisierung des Autors, der auf seiner besonderen Fähigkeit zum Sehen und zur Wahrnehmung beharrt, dabei verschränkt sich sein Selbstbild mit der Darstellung des Protagonisten Loser in der Langsamen Heimkehr (CS 48) ebenso wie mit dem Bild des Indianers in
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späteren fiktionalen Texten. „Die Welt wird vielleicht untergehen. Aber dort und dort an den Rändern wird ein Lauscher geboren. (Und das muß nicht ein Indio oder ein Turkmene sein.) Und so lebe ich, leben wir zwei, weiter (30. April)“ (AF 470). Schließlich wird in dieser Verschränkung von Sehen und Anschauung die für den Text des Bildverlust zentrale Bestimmung von Bild und Inbild vorbereitet: „Durchs Phantasieren, das strukturierende, rückt zugleich die Gegenwart, wie zum Beispiel jetzt morgendlich vor dem Felsfenster, vor Augen, als Bild, und Inbild“ (AF 436). Die andere Strategie richtet sich in wachsendem Maß gegen die politische Öffentlichkeit, zunehmend ist der Autor bemüht, sich auch deutlich von der veröffentlichten Meinung der Zeitungen abzugrenzen. Der Gestus seiner späteren Auseinandersetzung mit den Medien zur Zeit des Serbienkriegs wird hier bereits vorbereitet. Beide Strategien der Abgrenzung verbinden sich in diesen Aufzeichnungen mit einer grundsätzlichen Abwehr Österreichs, die auch die eigene Schreibsituation bestimmt. „Es ist wohl nicht zu ändern: Hier in der Heimat, in Ö., erscheinen mir die Zwischenräume, die die Natur so schön läßt, allzu oft verstopft und verklebt und vernichtet durch eine darin lauernde, hassende, böse Bevölkerung […]“ (AF 472), notiert er, um dann anschließend unversöhnlich grundsätzlich zu werden. „Die Österreicher, ein vaterloses Volk!“ (AF 480), vermerkt er und selbst angesichts der „Musterhaftigkeit der Natur“ fragt er sich: „Warum sind wir Österreicher nur solche Arschlöcher?“ (AF 477). Dabei unterhält er sich in Gedanken mit Walker Percy, der ihn, mit gutem Grund, ermahnt, „in der Mitte“ zu bleiben: „You know, for an Austrian writer writing means BORDERLINE“ (AF 478). Allerdings tritt dieser Abwehr anderer eine entschiedene Selbstbefragung an die Seite, sie macht deutlich, dass die häufig konstatierte Außenseiterrolle auf einer psychischen Disposition beruht, in der sich Selbstzweifel, Aggression, aber auch der Anspruch auf eine Sonderrolle miteinander verbinden. Rückblickend sieht sich der Aufzeichner selbst als einen „furchtbare[n] Einzelgänger“ und stellt die eher rhetorische Frage, ob er am Ende „furchtbar auch für [s]ich selber“ sei (AF 385), ausdrücklich auch benennt er sein Versagen als Vater (AF 488) und schließlich seine „Liebesunfähigkeit“ (AF 507). Jedoch ist gerade dieser Begriff eine euphemistische Umschreibung für die in vielen Texten verzeichnete irritierende Labilität im Verhältnis zu Frauen, die nicht einfach ein Erzählmuster, sondern tatsächlich auch ein Lebensmuster zu sein scheint, das stets mit auffälliger Akribie gezeichnet wird (MJN 189; IN 106, 159; Carstensen 2014, 59–61). Der Faszination von Frauen, denen er zufällig begegnet (GW 121, 183, 196), vom, gewiss auch narzisstisch wahrgenommenen, „Augenpaar“ (MN 374; Carstensen 2013, 366), von strahlenden weiblichen Erscheinungen (TO 22), dem Bedürfnis nach Schönheit in Gestalt einer Frau (GU 427), tritt häufig eine körperliche Aggression gegenüber, mitunter ist sie auch unmittelbar mit ihr verknüpft. Sie ist in ihrer Unvermitteltheit und Intensität auffällig. Im Felsfenster verdichtet sich diese Haltung zu einem Traumbild, dessen massive Direktheit ihre volle Bedeutung erst dann gewinnt, wenn man sie als traumhaft verschobene Abbreviatur vorangehender und folgender Darstellungen männlicher Aggression
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gegenüber Frauen einordnet. „Aus dem Halbschlaf heraus, im Innersten gepeinigt von ihrem Gerede, versetzte er ihr, aus der Tiefe der Tiefen heraus, eine gewaltige Ohrfeige, und von ihr kam dann das erste wahre Geräusch, das er je von ihr gehört hatte: ein wunderbares Seufzen, worauf sie aus dem Raum lief, in die Nacht hinaus, worauf in den Raum und in die Nacht endlich der Friede einzog“ (AF 186 f.). Die narzisstische Spur, die dieses Traumnotat auch prägt, durchzieht zugleich die selbstkritischen Überlegungen. Gerade die Tatsache, dass das eigene Selbst offensichtlich noch nicht stabil ist, wird als Voraussetzung für das Schreiben und dessen Offenheit angesehen: „Ich habe kein Bild von mir, nicht einmal eine Meinung. Zum Glück weiß ich immer noch nicht, wer ich bin. – Und hier wiederhole ich mich nicht nur gerne, sondern auch selbstbewußt“ (AF 505). So begründet sich aus dem scharf gezeichneten Psychogramm die Aufgabe des Schreibens, dabei verschränken sich Selbstkontrolle, Selbstfindung und eine auffällige Selbstsicherheit: „Die Erinnerung an meine verschiedenen, allesamt schrecklichen Einsamkeiten ist zugleich meine Rechtfertigung; und sie macht mich unangreifbar (22. April)“ (AF 288). Mit dieser Vorstellung einer Selbstgründung gerade im Augenblick der Krise verbindet sich eine andere Reflexion über das Schreiben, die nun allerdings im Gegensatz zu früheren Äußerungen durchaus psychologisierend gelesen werden muss. Ausdrücklich heißt es: „Mein verworrenes Inneres verlangt und drängt nach der Klarheit des Schriftlichen“ (AF 310). Diesem Satz korrespondiert eine ebenfalls psychologisierende Verknüpfung von Wahrnehmung und Schreibakt. „Wahrnehmer der Leere, das war ich von Anfang an; und im Wahrnehmen der Leere wurde ich zum Schreiber. Die Dinge zeigen sich mir erst mit der Zeit, und nur selten, ereignishaft“ (AF 112). Damit ist die Grundfigur der das Felsfenster durchziehenden Poetologie ausgedrückt. In Reflexion und Traumnotat zugleich wird ein „Übertritt aus dem eindimensionalen begrifflichen Leben, mit seinen gar zu seltenen Einsprengseln von Ahnung, in das geistige, stetige, reine der Bilder“ (AF 411), umkreist, wie ihn allein der Text erreichen kann. Es ist kennzeichnend für dieses Journal, dass es immer wieder diese traumhaften Verdichtungen von Poetologie und Selbstreflexion umkreist und ihnen so auch eine psychologische Evidenz verschafft. Ein signifikantes Beispiel dafür liefert die doppelte Darstellung des Themas vom Lesen, das dem des Schreibens an die Seite gestellt wird. „Lesen, das Erlebnis meiner selbst“ (AF 77) notiert der Verfasser zunächst distanziert, um dann gegen Ende seiner Aufzeichnungen vom Lesen am Beispiel eines phantastischen Traumbilds zu sprechen. „Heute Nacht las ich ein Buch, dessen Text, dessen Lettern allmählich übergingen in leuchtendweiße Eisschollen, von Seite zu Seite mehr Fläche einnehmend, zuerst noch mit mannigfaltigen Rissen und Zwischenräumen, bis am Ende des Buchs, auf der letzten Seite, nur noch das glatt zugewachsene, wolkige Schneeweiß herrschte, mit großem Glanz, eine herrliche Lektüre“ (AF 495). Der intellektuelle Akt des Lesens verwandelt sich in eine phantastische Konfiguration, die an die Reise von Poes Arthur Gordon Pym in die weiße Welt des Nordens und des eigenen Unbewussten erinnert.
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Nicht anders als dieser Traumtext berühren die Aufzeichnungen des Journals die Grenze zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, um sie immer wieder zu überschreiten: Gerade darin sind sie den fiktionalen Texten verwandt, deren Bedingungen, Entstehung und Eigenart sie umkreisen und die sie zugleich einem lebensgeschichtlichen Kontext zuordnen. Es ist bemerkenswert, dass der Verfasser des Felsfensters die Psychoanalyse abwehrt, indem er sie als einen „Sündenfall“ wie den Turmbau von Babel, „nur in der Gegenrichtung, in die Tiefe statt in die Höhe“ (AF 152) bezeichnet, zugleich aber auf Träume verweist, deren psychologische Bedeutung ihm bewusst sein muss, und die allesamt auf eine archäologische Entzifferung angewiesen sind. Sie folgen einer Zeitschiene, weil auch sie im Späteren das Frühere enthüllen. Unter diesem Blickwinkel wird klar, dass eines der überlieferten phantastischen Traumbilder exakt dieses Baugesetz der Journale und diese Grundfigur auch der fiktionalen Texte zu einem einzigen phantastischen Bild verdichtet. Es ist ein Schiff, dessen gesamte Kontur erst langsam erkennbar wird: Allein durch das Hochstemmen seiner Passagiere beginnt es, sich von Deck zu Deck aus dem Meer zu heben, sodass immer neue Ebenen zum Vorschein kommen (AF 204 f.). Zweifellos ist dies eine Metapher für das Ent-Decken des Vergangenen, für die archäologische Grundfigur, die Handkes Schreiben grundsätzlich bestimmt. Dass sie dem Gesetz der Psychogenese nachfolgt, zeigt sich nicht zuletzt an dem unmittelbar folgenden Notat. Dort erinnert sich der Aufzeichner an den Beginn seines Schreibens, das an einem zunächst nicht wahrgenommenen Ort seinen Ursprung hat, es wird möglich nicht an der sichtbaren Oberfläche, sondern in einer tieferen Schicht, in den „unterirdischen ehemaligen Bunker[n]“ (AF 205).
8.4 Visuelle und reflexive Miniaturen: Noch einmal für Thukydides (1990) Die Textsammlung, deren erste Ausgabe bereits 1990 erschien und die 1995 und 1997 durch insgesamt sechs weitere Texte ergänzt wurde, lässt sich als Paradigma für das Schreibverfahren der Journale ansehen. Die kleinen Skizzen enthalten in der Regel genaue Beschreibungen von Naturszenen, die von Details wie fallenden Regentropfen, Formationen von Faltern und Vögeln oder von Phänomenen wie einem Wetterleuchten oder einer Wolkenformation ausgehen. Sie sind chronologisch gereiht und werden verschiedenen Schauplätzen in Österreich, Jugoslawien und Spanien zugeordnet. Dabei ist der Hinweis auf die Schreibweise von Thukydides zumindest in einer Hinsicht angemessen, weil die Abfolge der Szenen in der letzten Ausgabe einer Chronologie folgt, die durch die Benennung der Jahreszeiten gegliedert ist. Andererseits wird die mit dem Namen Thukydides geweckte Erwartung einer Darstellung historischer Ereignisse oder geschichtlicher Abläufe gründlich widerlegt. Der innere Kern der Texte ist vielmehr ihr Versuch, eine ganz andere Geschichte zu schreiben, eine, die sich allein auf Anschauung gründet. Es ist eine Geschichte von Bildern, die keine Kausalitäten erzeugt. Sie konterkariert systematisch das Gesetz der allgemeinen Geschichte und der in
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ihrem Kontext sich ereignenden Vorgänge. Thukydides wird damit als Erzähler, nicht als Historiograph zum Vorbild. Im gleichen Zug erhalten auch Raum und Zeit eine andere Valenz. Die Besonderheit der Szenen stützt sich nicht auf die Unverwechselbarkeit von Orten und Ereignissen, sondern auf die Erfassung von Augen-Blicken, an denen gerade ihre Momentaneität fasziniert. Auch für ein Erzählen im traditionellen Sinn ist hier kein Platz. Ganz bewusst offensichtlich wird der Begriff der Epopöe mit kleinteiligen, fast banalen Situationen verbunden (THU 27, 33, 55, 103). An die Stelle einer Interaktion zwischen dem Betrachter und dem von ihm gewählten Objekt treten nichts anderes als die Dehnung der Augen-Blicke, besonders deutlich dann, wenn ein Blick plötzlich eine Konstellation von Zeichen wahrnimmt (THU 75). Diese erhalten ihre Bedeutung einerseits dadurch, dass sie das gewählte Objekt minutiös nachzeichnen, andererseits dadurch, dass sie die Wahrnehmung selbst zum Gegenstand machen. Dabei wird die Identität des wahrnehmenden Subjekts ebenso wie seine individuelle Perspektive weitgehend zurückgedrängt. Als folge sie dem technischen Gesetz der fotografischen Abbildung erscheint die Wahrnehmung wie eine Spiegelung der Wirklichkeit mit Worten. Der Berichtende verhält sich neutral wie das Objektiv eines Fotoapparats, die Sprache funktioniert wie der Film, auf dem die einfallenden Bilder fixiert werden. Dies bringt auch die Erzählperspektive zum Ausdruck. Zwar spricht der Beobachtende bisweilen in der Ich-Form (THU 11, 75, 81), doch mitunter verschwindet er hinter dem Berichteten (THU 7, 19, 87–89), manchmal wird allein in auktorialer Erzählweise von ihm berichtet (THU 23, 29, 41, 45). Allerdings gibt es Momente, in denen plötzlich anderes aufblitzt. Dass die wirkliche Geschichte im Hintergrund immer präsent bleibt, zeigt sich in dem programmatischen Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere, wenn der Berichterstatter im Hotel Terminus in Lyon plötzlich die Stimmen der „Kinder von Izieu“ zum Himmel schreien zu hören glaubt „fast ein halbes Jahrhundert nach ihrem Abtransport, jetzt erst recht“ (THU 89). Dazu kommt ein Weiteres. Insgesamt hat die Anordnung der Texte in der letzten Ausgabe einen Skopus, den die beiden Texte der Kleinen Fabel der Esche von München (THU 91) und der Epopöe vom Verschwinden der Wege oder Eine andere Lehre der Sainte-Victoire – wiederum schon durch ihren Titel in Abgrenzung von traditionellen Formen des Erzählens – bilden (THU 103). Wenn der Erzähler in der Kleinen Fabel der Esche von München über den Ort des Erzählens spricht, skizziert er zugleich sein eigenes Verfahren, in dem er darauf abhebt, dass die Esche selbst von einem Bild „zum Geschehen“ wurde. Dieses Geschehen ist nichts anderes als ein Ergebnis von Anschauen und Betrachten. Die Wahrnehmung des Erzählers konzentriert sich zunächst auf die Wetterseite des Baumes. Er hat dabei nicht nur den Eindruck, in eine Wildnis versetzt zu sein, zum ersten Mal erhält er auch eine Vorstellung von den Himmelsrichtungen in der Stadt. Das „Erzählen des Baums“ schafft eine imaginäre Topographie (THU 94 f.), die sich inmitten der Stadtlandschaft eröffnet. Der entscheidende Umschlagspunkt ist, dass sich beim zweiten Blick das „selbstlose Schauen“ zu einem „absichtlichen, übereifrigen“ wandelt. Die zweite
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Welt, die der Erzähler jetzt über den bloßen Blick hinaus wahrnimmt, erscheint dadurch, dass sein Blick gewissermaßen seine Unschuld verliert und er selbst den Eindruck hat, als würde er den „Erscheinungen Gewalt“ antun (THU 96). Es ist von Bedeutung, dass sich gerade so eine Wahrnehmungsweise zum Ausdruck bringt, die sonst Handkes Erzählen, aber auch seine Journale bestimmt. Es ist die Aufladung der unmittelbaren Wahrnehmung mit erinnerten und phantasierten Bildern zugleich. Jetzt regt sich genau gegen dieses Verfahren Widerstand, der Erzähler versucht, das Vergleichsbild abzuschütteln. Die Doppelung des Blicks erscheint ihm als „verdächtiges Bildergeprunke“, das er bei Autoren wie Ernst Jünger oder Julien Green mit Distanz wahrgenommen hat. Genau deshalb verlässt er zunächst den Baum, um am nächsten Morgen wieder zu kommen. Erst dann scheint der unvoreingenommene Blick, den der Erzähler immer angestrebt hatte, zu gelingen. Die Esche verkörpert ihm „nichts als die Gegenwart, keine Mittelachse des Gartens mehr, keinen Blickfang, geschweige denn den ‚Weltbaum‘“ (THU 100 f.). Nicht einmal die Erinnerung an die Toten gelingt an diesem Allerseelentag des 2. November 1989. Allein das Wort „Niemandsrose“ stellt sich ein, während sich der Autor bemüht, nur noch das „Grauen“, „Blauen“ und „Grünen“ der Baumrinde wahrzunehmen. Er zielt auf die Rücknahme eines Zeichens und der individuellen Geschichte zugleich. Statt des Pfeils, den das Journal des Felsfenster morgens auf seinem Cover abbildet, benutzt der Erzähler jetzt die Zeichen der Natur selbst, „lange nackte[.] Blattstengel[.]“ als Pfeile und wirft sie gegen den Stamm, an dem ein verrosteter Nagel, ein Überrest der Zielscheibe von damals, an eine andere Geschichte erinnert, an die Lebensgeschichte jenseits der Naturbilder (THU 101 f.). Stellt man in Rechnung, dass diese Fabel von der Esche zugleich das neue Schreibprogramm eines Erzählens der unmittelbaren Wahrnehmung zum Thema macht, so erhält der letzte Text dieser Sammlung, die Epopöe vom Verschwinden der Wege eine besondere Bedeutung. In vieler Hinsicht scheint er ganz grundsätzlich das damals leitende Schreibprogramm zu widerlegen, das sich zwar auch auf die Anschauung gründete, die Wahrnehmung jedoch stets mit einem Akt der Sinngebung verband. Dieser stand zwar auch außerhalb der Verfügungsgewalt des Subjekts, der prinzipielle Rekurs Handkes auf Heideggers Wort vom „Hören auf den Zuspruch des Seins“ (Heidegger UN 33) in der Lehre der Sainte-Victoire weist darauf, aber er beschränkte sich so wenig auf die bloße Anschauung wie die Lehre selbst, die ein erzählbares Geschehen darstellt. Genau dies wird in der Erzählung vom Verschwinden der Wege dekonstruiert und nicht zufällig macht der Autor diese Erfahrung am gleichen Ort, der Montagne Sainte-Victoire. Durch einen Waldbrand sind nicht nur die alten Wege, sondern auch die „Weltlandschaftsbilder[.]“ verschwunden (THU 107). Noch beunruhigender ist, dass in dieser Todeslandschaft, die Pflanzen und Tiere gleichermaßen erfasst hat, selbst die Erfahrung der Gegenwart nicht mehr möglich ist. Diese Desorientierung zeigt sich visuell, akustisch und mental zugleich (THU 108). An dieser Stelle erfolgt zum ersten Mal die Mobilisierung eigener Erfahrungen. Dem Erzähler wird klar, dass er mit dem Wegeverlust im Massiv der Sainte-Victoire zugleich die Orientierungen seines früheren Lebens in einem doppelten Sinne verloren hat. Zum einen sind
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es die poetischen Wege, die unterschiedliche Lebenserfahrungen sinnvoll miteinander zu verbinden schienen. Zum anderen berührt der Pessimismus dieses Bildes einer im Wortsinn verbrannten Erde ein Phantasma, das lebensgeschichtlich das Schreiben immer mitbestimmt hatte, die Phantasie von einem Weg, der zu zweit beschritten wird. Doch es ist auffällig, dass der Erzähler diese Erfahrung „mit einem Zusatz von Einverständnis“ beschreibt (THU 110). Damit liefert dieser kleine Text einen Gegenentwurf zu den werkbestimmenden Phantasien von Initiation und Produktion, die andere Texte umkreisen. Im Zusammenspiel mit dem Text über die Esche wird das psychische Spiel zwischen Grandiosität und Depression zur Inszenierung eines poetischen Programms.
8.5 Fragmente von Autorschaft: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990 (2005) Das Journal mit dem Titel Gestern unterwegs versammelt Aufzeichnungen vom November 1987 bis zum Juli 1990. Der ständige Ortswechsel, der in dieser Zeit stattfand, hat zur Folge, dass in diesem Text auch das pure „Mit-Schreiben“ bisweilen zu Gunsten eines „nachträglichen, leicht zeitversetzten Notieren[s]“ (GU 5) abgelöst wird. Grundsätzlich bestimmen dieses Journal längere Abschnitte mit Beobachtungen, die Bilder von Natur und Zivilisation schildern, nur stellenweise ist der Text von reflexiven Passagen und einigen Traumnotaten durchzogen. Eine Grundfigur ist auch hier das Wechselspiel zwischen Erinnerung und Gegenwart, das ein Nachdenken über die eigene produktive Tätigkeit mit Blick auf die Jugendgeschichte begründet. Am 24. Dezember 1987 vermerkt der Autor, wie schon an anderer Stelle, „im Internat bin ich vernichtet worden“ (GU 57). Später wird er notieren, dass ihm die bösen Erfahrungen dort immer noch zeitweise die Blicke austrocknen (GU 326), dass das „Ausgesetztwerden“ ins Internat „wie ein Skalpiertwerden“ war (GU 208). Doch kurz vorher hatte er in einem anderen Notat auch das Gegenbild entworfen, das zu einer Leitfigur der eigenen produktiven Tätigkeit wurde: Das frühere Leben in der Antike, das „voll klarer Zwischenräume“ war (GU 56). Diese dialektische Konfiguration bestimmt die Ordnung seiner Aufzeichnungen ebenso wie die späten fiktionalen Texte. Vergleichbares gilt für den Aufzeichner selbst. Wie der Erzähler des Bildverlust und des Jahrs in der Niemandsbucht ist er ein „Chronist im Zwiespalt“ zwischen Teilnahme und Bericht (GU 235). Zum Ausdruck kommt dies einerseits in der Erfahrung, dass die „Wiederholung“ recht eigentlich das „Geheimnis des Lebens“ sei (GU 45), ganz äußerlich dokumentiert etwa in der Korrespondenz der Blicke aus dem Felsfenster in Salzburg und aus einem Hotelfenster in London (GU 242). Andererseits zeigt sich, dass die Aufzeichnungen ein neues Lebensprinzip abbilden, das die Reise des Autors nach den langen Jahren in Salzburg und der „Zeit [s]einer Sesshaftigkeit dort“ (GU 230) bestimmt: „Fragmentarisch leben – um nicht fragmentarisch phantasieren-schreiben zu können“ (GU 122).
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Das Journal von Gestern unterwegs ist darüber hinaus ein Dokument neuer Orientierungen, unter denen die an der romanischen Kunst besonderes Gewicht erhält. Die Bögen romanischer Kirchen, die Handke ausführlich schon in der Kathedrale von Santo Domingo in Soria bewundert hatte, werden zu einem Zeichen, das wie Hogarths ‚Line of Beauty‘ den Text durchzieht, etwa dann, wenn sich im Marmortischmuster eines Cafés von Coimbra der Alaskahimmel „mit seinen weit geschweiften haarfeinen Wolken“ zu spiegeln scheint (GU 140). Grundsätzlich beeindruckt den Autor „die Ruhe der Ruhe“, die von den romanischen Gestalten ausgeht (GU 502). Schließlich wird die Schilderung der romanischen Bögen von Santo Domingo zum Ausgangspunkt für eine Beschreibung des eigenen Erzählens, das die bisherige pauschale Charakteristik des „Epischen“ in einer Reihe metaphorischer Assoziationen auflöst. Die romanischen Bögen sind ein „Erzählvorbild: B ögen/Übergänge/Statuarik/ Ereignislosigkeit/Ereignisse-Dinge-Waagrechtes/und zuletzt das pure Dastehen, Zusammenstehen mehrerer“ (GU 504). Weitere Stichworte für eine Charakteristik des eigenen Schreibens liefert die Romanik im Hinblick auf den ‚Bildverlust‘, eine Bezeichnung, unter der sich in diesem Journal sowohl der Bildverlust als auch das Jahr in der Niemandsbucht verbergen. Ausdrücklich sprechen die Aufzeichnungen vom „Abenteuer der Varianten in der Wiederholung“ (GU 167), das in der Tat ein immer wiederkehrendes Schreibprinzip Handkes ist, und sie bewerten diese Schreibhaltung als einen Rückgriff auf die Tradition, wie ihn der Autor grundsätzlich versucht: „Romanik: die klassische Antike, (wieder?) kindlich geworden“ (GU 297). Auffällig ist eine offensichtlich ausführliche Beschäftigung mit den Evangelien des Neuen Testaments. Dabei wird der geistesgeschichtliche Rückbezug lebensgeschichtlich kontextualisiert. Zunächst konzentrieren sich die Notate auf geläufige Bilder der religiösen Malerei, auf die Heimsuchung der Maria, den Einzug in Jerusalem, das Abendmahl, die Kreuzigung, die Kreuzabnahme. An ihnen heben die Aufzeichnungen Details hervor, die sie zum Ausgangspunkt einer von der geläufigen Exegese der biblischen Texte abweichenden Deutung machen. Es zeigt sich, dass diese Bildanalysen ebenfalls einen verdeckten Kommentar zum Verfahren des eigenen Schreibens darstellen. Dies geschieht durch eine genaue und struktural verfahrende Bildbeschreibung, die am Ende den Weg für eine Lesart des biblischen Textes freimacht, die zu einer radikalen Säkularisierung nicht nur des Bildinhalts, sondern vor allem auch der Gestalt des biblischen Christus führt. Im doppelten Bezug auf das Evangelium des Matthäus und auf die eigene Lebensgeschichte wird diese Parallelführung von biblischer Exegese und lebensweltlich orientierter Deutung auf den Punkt gebracht. „Er ist nicht der Gott der Toten, sondern der Lebenden“ zitiert der Aufzeichner Matthäus 22,32, um dann fortzufahren: „und das lesend, sah ich mein Kind (27. Januar)“ (GU 514, Unterstreichung vom Vf.). Damit wird eine ambivalente Rolle der biblischen Texte für Handkes Schreiben angedeutet, die sich in unterschiedlichen Formen des Rückgriffs auf religiöse Erfahrungen spiegelt. Zunächst zeigt sich, dass seine Lektüre der Evangelien recht genau einer korrekten theologischen Lesart folgt. Kein Zweifel auch besteht daran,
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dass er diese Texte in der Tat als eine Herausforderung für sich selbst ansieht. Das Journal von Gestern unterwegs stellt dabei den oft ästhetisierenden Präsentationen religiöser Erfahrungen, die seine Texte, etwa bei der Darstellung der Liturgie des Abendmahls zeigen, eine radikal entmythologisierende Variante an die Seite. „Wenn Gottes Sein im Werden ist, dann ist auch uns mehr möglich“, zitiert er zustimmend den Theologen Jüngel (GU 464). Auf der anderen Seite markiert der Autor des Journals den Widerstand, den ihm die biblischen Texte entgegen setzen. Es wird deutlich, dass sie für ihn einer Umformung bedürfen und dass diese allein im Schreiben erfolgen kann. „Und doch: die Evangelien werden mir immer wieder unheimlich, weil ich ihnen im Leben kaum folgen kann – sie werden mir so zum Abgrund –, während die Kunst mich auffängt, in irdischer Heiligkeit, und ich ihr folgen kann, urbe et orbe“ (GU 524). Und durchaus doppeldeutig vermerkt er an späterer Stelle, dass das „Christliche“, das durch Christus und die Evangelien bezeugt wird, „eben erst in Erscheinung durch die Schrift“ trete (GU 390). Eine entscheidende Rolle bei dieser säkularisierenden Transformation spielt die Nacherzählung von Bildern der religiösen Malerei. Die zentrale Stelle, welche die Deutung von Poussins LʼÉté ou Ruth et Booz in der Obstdiebin einnimmt (OD 466), ist hier vorgezeichnet. Dieser Akt der Ekphrasis, der bei Handke zu einer erzählenden Übersetzung wird, lässt sich Prinzipien der Homiletik vergleichen. Er zielt einerseits auf eine Herausarbeitung psychologisch deutbarer Bildelemente, andererseits werden die Bilder zu Visualisierungen ästhetischer Verfahren, die den Modus des eigenen Schreibens betreffen. Damit verbindet sich die Herausarbeitung eines mit Blick auf Jesus entwickelten Psychogramms, das autoanalytische Züge trägt. So verwundert es nicht, dass Jesus auffallend menschliche Züge erhält und dass auch seine heilsgeschichtliche Rolle entschieden psychologisiert wird. Nicht zufällig kommt dabei die Beziehung von Vater und Sohn ins Spiel, die Handkes Texte immer wieder umkreisen. Lapidar heißt es über Jesus: „‚Sich vom Vater befreien‘? War es nicht im Gegenteil sein Problem gewesen, daß es keinen Vater gab, von dem er sich hätte befreien können?“ (GU 419). Wenn den Verfasser des Journals an Jesu Geschichte die „Entdeckung des Göttlichen in sich – die wiederum zum Menschendrama an sich führt“ (GU 245) interessiert, so zielt er keineswegs auf einen theologischen Kommentar. Vielmehr belegt eine weitere Stelle, dass er Jesus damit ein menschliches Psychogramm zuschreibt. Er hebt darauf ab, dass dieser die Jünger immer wieder beiseite nimmt, sie anherrscht, um dann unvermittelt aufzubrechen (GU 536). Ohnehin zeigt er schon immer Ausbrüche gegen alle und jeden, möchte alle niedermachen weil sie sich ihn nicht zu ihrem König wünschen. Das Journal kommentiert diesen Sachverhalt wie folgt: „ist dieser Wahn (?) nicht in jedem von uns, für plötzliche Momente? ‚Erkennt, ihr Dreckskerle, dass ich derjenige welcher bin!‘?“ (GU 537). So kippt die Textlektüre, die sich auf Jesus richtet, am Ende in die Beschreibung einer Größenphantasie um, in die sich der Autor offensichtlich selbst hineindenken kann. Es scheint nicht zufällig, dass er im Anschluss daran einen Traum berichtet, in dem er zum ersten Mal sein Haus sieht, diesen Anblick
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aber als ein phantastisches Bild präsentiert, das die Überhöhung des eigenen Ich durch eine Raumphantasie zum Ausdruck bringt. Er beschreibt, wie sich das Haus im Traum „von Raum zu Raum erweiterte und unterirdische, geheime Räume, alle still ausgeleuchtet, bekam, und wie alle Leute aus der Gegend sich in meinem Garten versammelten, unter der himmelhohen Zeder (3. April)“ (GU 538). Eine vergleichbare Psychologisierung biblischer Themen zeigt sich auch beim Blick auf Leitthemen der religiösen Malerei. Paradigmatisch dafür ist eine Reflexion des Autors über die Szene aus Lukas 1,39–40, die in der malerischen Tradition als „Heimsuchung der Maria“ apostrophiert wird. Es ist der Besuch von Maria bei Elisabeth, die, selbst schwanger mit Johannes, Maria als die Mutter von Jesus begrüßen wird. Ausdrücklich vermerkt der Autor, dass ihm die Dialektik dieser Konstellation erst spät bewusst wurde: „Was ich (auch) nicht wußte: der englische Gruß, das Ave Maria, ist zusammengefügt aus dem des Engels und dem Aufschrei der Elisabeth, der vor der schwangeren Maria das eigene Kind im Leib aufhüpft: ‚Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes‘“ (GU 523). Auch hier richtet sich das Interesse des Autors auf die Verschränkung des biblischen, des heilsgeschichtlichen und des psychologischen Kontexts. Er wiederholt dabei eine doppelte Lesart der biblischen Texte, wie sie Goethe in vergleichbarer Weise in seinen Wanderjahren und ebenfalls mit Blick auf die Szene der „Heimsuchung“ vorgezeichnet hat (Goethe HA8, 21, 23; Renner 2019, 130). Dabei bestätigt sich grundsätzlich, dass viele Passagen des Journals der Beschreibung und Deutung von Bildern entspringen und dass dabei neben den Bildern des eigenen Lebens diejenigen der religiösen Malerei und der biblischen Texte eine besondere Bedeutung erhalten. Es ist signifikant für Handkes Schreiben, dass er damit nicht nur ein biblisches und ein säkulares Deutungsschema nebeneinander her laufen lässt, sondern dass er beide zugleich miteinander verschränkt. An einem Gründonnerstag, das scheint ihm selbst bemerkenswert, fasziniert ihn an einem Steinkapitell der Kathedrale in Lubo eine Szene, die menschliche Gefühle einer ästhetischen Figur einzeichnet. Er vermerkt, dass der Jünger Johannes einen „Bogen beschreibend in den Armen des ihn tröstenden Herrn beim Letzten Abendmahl“ liegt und er konstatiert „Kummer und zugleich Geborgenheit“, die vom „schmerzerfüllte[n] Tröster über ihm“ ausgehen (GU 157). Auch der Verweis auf Poussins Letztes Abendmahl ist durch ein psychologisierendes Urteil fokussiert: „mehr Nacht kann rings um Menschen nicht sein“ kommentiert der Autor das Bild (GU 263). Diesem Deutungsansatz folgend lenkt eine Beschreibung der Kreuzabnahme Tintorettos in Caen den Blick zuerst auf die Farben der Gewänder und die Schatten in den Gesichtern, um dann die Aufmerksamkeit auf die „helle leere Ferne“ zu richten, die den Betrachter an Beckmanns Exilbilder aus Holland erinnert und damit unversehens auf eine ganz andere Geschichte verweist (GU 281 f.). Solche Doppelblicke verdichten sich wie beiläufig in einem Hinweis auf die Leiter der Kreuzabnahme, die der Autor auf einem Email des sechzehnten Jahrhunderts in Limoges sieht und mit der durchaus doppeldeutigen Bemerkung bedenkt „überall lehnt sie noch“ (GU 285).
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Dieser Gestus der Entfaltung einer doppelten Bedeutung vermeintlich eindeutiger Bilder setzt sich fort in einer Betrachtung von Poussins Einzug Jesu in Jerusalem von 1642. Hier lenkt der Autor den Blick auf eine Änderung des geläufigen Bildinhalts, die das Zentrum verschiebt. Wo auf vielen bildlichen Darstellungen dieser Szene seit dem Mittelalter ein Mann oben in der Krone eines Baums oder einer Palme sitzt, ist bei Poussin niemand zu sehen. Sein Bild verbindet mit dieser Aussparung eine andere Blicklenkung, denn das „Licht ist weniger auf Jesus als auf denen, die ihn begrüßen, auf deren blauen und roten Gewändern“ (GU 481). Dagegen erinnert sich der Autor später im Musée Unterlinden in Colmar, dass ihn bei den vielen Darstellungen des „Einzugs“ gerade das bei Poussin ausgesparte Detail interessiert habe. Offensichtlich unter dem Eindruck von Jacques Callots Stich von Jesu Einzug beeindruckt ihn in Colmar ein Mann im Baum, der „immer wieder als die Verkörperung des Baums selber“ Jesus begrüßt (GU 510; Callot 1635). Seine psychologische Zuspitzung findet dieser Blick auf religiöse Darstellungen bei der Betrachtung der Skulptur des fast nackten Christo de la Buena Morte in Jaén, die junge Frauen in einer Seitenkapelle streicheln und küssen während sie einander anlächeln. Sehr genau erfasst der Autor, der diese Szene beschreibt, die latente Sexualität, die ihr innewohnt, und auffällig genug befällt ihn „ein gewisses Grauen auch beim Zuschauen, über die Frauenwelt“ (GU 376). Sein Kommentar folgt der Einsicht, dass am Bild entscheidend nicht ist, was es zeigt, sondern was es an Reaktionen hervorruft. Zweifellos erfassen diese Kommentare zu religiösen Bildern und Skulpturen einen wesentlichen Aspekt, der die Rolle von Bildern in Handkes Texten ganz grundsätzlich bestimmt. „Schreiben: Anhand des gegenwärtigen, augenfälligen Bilds das Andere Bild sich vergegenwärtigen, das Andere Bild bedenken“ (GU 377) heißt es dort programmatisch. Zugleich verbindet diese Reflexion den Blick auf Cézanne, den die Lehre der Sainte-Victoire präsentiert hatte, mit der Thematik des Bildes, wie sie der Bildverlust entfaltet. An Cézanne erkennt der Autor das „Prozeßhafte, das Dramatische seiner Bilder“ und dabei wird ihm klar, dass sich diese einer „Ruhe zu nähern“ versuchen, die nichts anderes ist als eine „Vermählung des Ich mit den Dingen“ (GU 251), wenig später wird er in Entsprechung dazu die Rolle des Bildes für sich selbst bedenken: „im Bild sein“ heißt für ihn „dasein, mitsein, mitdenken“ (GU 256). Die Aufzeichnungen dieses Journals, die bis in den Juni 1990 reichen, erscheinen eigentümlich abgeschottet gegenüber realen Entwicklungen in der politischen Wirklichkeit. Alle Wahrnehmungen werden der Frage nach den Möglichkeiten einer poetischen Transformation der Realität zugeschlagen, selbst dann, wenn die Sehnsucht nach Jugoslawien eine melancholische politische Kontextualisierung erfährt (GU 443). Etwa dann, wenn der Autor sein Jugoslawien als einen Heimatbezirk betrachtet, der einen Gegenentwurf zu dem von Hofmannsthal in den Briefen des Zurückgekehrten beschriebenen Deutschland bildet, „wo kein Ding mehr wirklich war (ist)“ (GU 462 f.; Hofmannsthal SWKA XXXI, 151–174). Ausdrücklich bemerkt er dazu, dass er froh sei, „nichts zu erzählen zu haben vom Krieg“ (GU 553), zudem vermerkt er melancholisch die Formel „Mein
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Weltbild ist erschöpft“ als möglichen Eingangssatz für den Bildverlust (GU 455). Immer wieder steht zudem die Frage nach der Verwandlung von Wirklichkeit im Schreiben im Vordergrund. In Anlehnung an den Begriff des Metanoein bei Johannes Baptist formuliert der Aufzeichner: „das Prinzip der Dichtung, gegenüber den Tatsachen: diese umdenken“ (GU 530). Folgerichtig heißt es in radikaler Abkehr von einer Konzentration auf das bloß Faktische und mit Blick auf den geplanten Text des Bildverlusts: „die Historie, den Krieg und den Frieden, werde ich erfinden“ (GU 525). Eine angemessene Sprache für das Politische scheint in diesem Journal nicht vorhanden. Mit Meng Dou und Xu Guoming (GU 428) werden zwar zwei Namen von jungen Männern genannt, die im Zusammenhang mit den Unruhen auf dem Tianmen-Platz hingerichtet wurden, der Film der Abwesenheit wird sie ebenfalls erwähnen, doch diese Namen sind unvermittelt in die Aufzeichnungen eingerückt, kein Register ist vorhanden, mit dem das Ereignis eingeordnet oder bewertet werden kann. Dagegen erscheint auch in diesen Aufzeichnungen der Traum als eine zweite Wirklichkeit, in der sich die Wahrnehmungen und Erfahrungen des Autors so verdichten, dass die Traumnotate ein Netz bilden, das dieses Journal organisiert. Ausdrücklich wird der Traum als „die greifbare, bildhafte, sich selbst erzählende Mystik“ (GU 527) zu einer notwendigen komplementären Erfahrung erklärt, die das Eigene deutlicher macht als der vernünftige Diskurs. „Immer noch erlebe ich im Traum die Gefühle so rein, wie ich sie im Wachen kaum habe: die Ehrfurcht, das Erbarmen, auch den Haß, den Zorn (zurück in Soria, 10. Dez.)“ (GU 496). Thematisch pendeln die Träume zwischen Bildern der Gewalt, der Dissoziation und Phantasien eines wortlosen Einverständnisses zwischen Mann und Frau, das nur angedeutet wird. Das Attribut „manisch-depressiv“, welches das Journal dem Tagesablauf des „Einzelmenschen“ ebenso zuschreiben will wie der „Historie“ (GU 521), verwandelt sich in disparate Bilder. Der Autor träumt von Gummipuppen, die „übereinander herfielen und einander aufschlitzten“ (GU 451), oder von seinem Versagen bei der versuchten Rettung eines ertrinkenden Kindes (GU 548). Szenen eines völligen Orientierungsverlusts (GU 519) oder Todesphantasien (GU 518 f.) stellen sich diesen Schreckensbildern an die Seite. Demgegenüber verzeichnet das Journal auch Bilder eines wortlosen Einverständnisses, etwa wenn der Träumende einen Ochsen streichelt, den ihm eine schöne Frau anvertraut hatte und es lapidar heißt: „über das Tier erwachten wir zur Liebe füreinander (15. April)“ (GU 540). In auffälliger Weise umkreisen die Träume die Beziehung des Ich zu anderen, indem sie die Instanzen von Ich und Nicht-Ich, deren Ausdifferenzierung Voraussetzung für die Ichbildung ist, in Bilder verwandelt miteinander agieren lassen. Ein Beispiel gibt der Traum von einer Riesin und der „Liebe zu ihr auf den ersten Blick“. Es gelingt dem Träumenden zunächst, diese Frau davon zu „überzeugen, daß ich es sei“. Doch genau dies bleibt nicht von Dauer, denn „vor ihrem Begehren, das weit inniger und göttlicher war als das meine, war ich es dann wieder einmal nicht (23. Januar)“ (GU 513). Im Nachhinein erweist sich dieser Traum als Transformation einer psychischen Spannung, die auch in einer vorher
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dem Journal anvertrauten Szene zum Ausdruck kommt. Unter dem Datum des vorangehenden 28. Juni notiert der Autor: „Gestern Abend der Schmerz, als ich im Erzählen von ‚uns beiden‘ WIR sagen wollte und es dann aber verschweigen mußte zum ICH“ (GU 415). Eben diese Konstellation verleiht dem Ende des gedruckten Journals sein besonderes Gewicht. Dieses verdichtet die in den Träumen deutlich werdenden psychischen Spannungen schließlich zu einer Geschichte, die wie die Nacherzählung einer manisch-depressiven Erfahrung erscheint. Nicht ohne Grund auch dürfte es sein, dass diese kurze Erzählung einem auktorialen Erzählduktus folgt, der das Beschreiben und das Urteilen nebeneinander stellt. Ausgehend von einer Situation, in der das „Er“ des Protagonisten dieser Szene glaubt, dass der „Lichtmensch“ in ihm verschwinde und ihm der „Todesschweiß“ ausbricht, werden zudem Szenen und Bilder präsentiert, die sich als Momente einer schwierigen Sozialisationsgeschichte lesen lassen. Sie beziehen sich nicht allein auf die Herausbildung des Ich im sozialen Kontext, sondern auch auf die Genese von Autorschaft. Auf einen frühen Zustand der „Sprachlosigkeit“ und das Leben in einer „Kathedrale des Stummwerdens“ folgen zunächst Trauer und dann eine phantastische und kafkaeske Dissoziation. Neben die Phantasie des „Heimkommens“, zeichenhaft verbürgt dadurch, dass der Träumer „am Abend seine Tasche neben die ihre stellte“ (GU 551), tritt eine Deformation der Wirklichkeit. Alle Sachen des Protagonisten verschwinden im Lauf der Zeit, allein ein Schuh bleibt ihm. Bemerkenswert allerdings ist, dass ihn diese Dissoziation zu einer anderen Wahrnehmung befähigt, in der das Phantasmatische nicht mehr vom Bild der Phantasie zu unterscheiden ist. In gewissen Momenten sieht er „den Zweiten Planeten namens Erde, fremd, geheimnisvoll heraustreten aus dem Ersten Planeten Erde, als den im Grunde ersten“ (GU 552). Gerade so wird die abschließende Erzählung, die das Journal verzeichnet, auch zu einer Apotheose von Autorschaft und einer Wunschphantasie, die alle Widersprüche der Sozialisation in einem märchenhaften Entwurf aufzuheben versucht. Sie folgt einem schon vorher ausdrücklich formulierten Programm: „Die höchste Kunst: die Märchen, an die man glauben kann“ (GU 401). Es verwundert nicht, dass dann unmittelbar aus den Bildern der Dissoziation ein Phantasma vom Schreiben entsteht. Dass es sich hier um die Wunschphantasie eines Autors handelt, der nicht nur seine Wahrnehmungen und Erfahrungen umschreibt, sondern sich auch ein Leben erschreiben will, indem er dissonante Fragmente eines gelebten Lebens in einer märchenhaften Skizze spannungsfrei zusammenfügt, zeigt sich daran, dass die Phantasie von Autorschaft eng mit der von einer gelingenden Beziehung zwischen Mann und Frau verknüpft wird. Die dissoziierenden Bilder werden entschieden konterkariert durch eine intime Szene der Liebe. „Nachtlang, ohne irgendein Zutun, herzten ihrer beider Leiber einander“ (GU 552), vermerkt der Text, ohne Namen zu nennen. Im gleichen Zug wird das „Unverständnis“, in dem sich der Protagonist befindet, zum Ausgangspunkt einer neuen Wahrnehmung. Sie trägt märchenhafte Züge, doch in Wahrheit zielt sie allein darauf, den Blick auf „das
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Märchen der Tage, der Jahreszeiten, der Jahre im Frieden“ zu ermöglichen (GU 552). Es ist nichts anderes als die Welt der alltäglichen Bilder, die zum Erscheinen gebracht und in ihrer Eigenheit belassen werden. Erst an dieser Stelle lässt die kleine Erzählung den Fokus erkennen, auf den sie schon immer ausgerichtet war. Die Erfahrung der Liebe erweckt den Wunsch, ein Buch „lesen zu gehen“, und im Zeichen des Poetischen wird der Protagonist „handlungsfähig, in seinem Bereich“, dieser aber ist nichts anderes als das Schreiben (GU 552). Wie sich schon vorher in den Aufzeichnungen andeutete, wird das Schreiben ganz bewusst zur Schrift der Evangelien in Beziehung gesetzt, wo die Sprache in „Durchdrungenheit vom Göttlichen“ spricht. Der Traum von der notwendigen Kunst wird dabei auffällig überhöht, denn er wird durchaus doppeldeutig mit der Formel von der „Heiligen Schrift“ verbunden. In diesem Augenblick betritt der Autor erstmals sein Haus, es wird deutlich, dass die kleine Skizze von Anfang an nichts anderes als eine Initiationsgeschichte war, die den Text der Wunschphantasie ebenso wie das Journal selbst in die reale Lebenswelt des Autors Handke einmünden lässt. Zum Bild dafür wird eine Raumphantasie. Es ist die „prachtvolle Leere“ des Hauses in Chaville, die das Lesen ebenso wie das Schreiben ermöglicht. Jetzt sieht der Protagonist der aufgezeichneten Geschichte, der mit seinem Autor eins geworden ist, mit wacher Aufmerksamkeit nicht nur einen Brief mit Worten der Liebe, sondern auch die Natur, die das Haus umgibt (GU 553). So ist das Schlussbild des Journals nichts anderes als das in eine Erzählung verwandelte Phantasma der Versöhnung von lebensweltlicher Erfahrung und Autorschaft.
8.6 Halbschlafbilder: Ein Jahr aus der Nacht gesprochen (2010) Wie bereits deutlich wurde, prägt die Aufzeichnung von Träumen Handkes Journale in unterschiedlicher Weise. Zumeist sind sie so in die übrigen Notate eingestreut, dass kein innerer Zusammenhang zwischen ihnen zu erkennen ist und die Unmittelbarkeit der Traumszenen autonom erscheint. Andererseits gibt es wiederkehrende Motive und Problemkreise, die sich häufig als Subtext oder Kontrafaktur der übrigen Aufzeichnungen lesen lassen. In den späteren Journalen, zumindest seit Am Felsfenster morgens, scheint ihre Aufnahme aus den Notizbüchern in den Journaltext immer deutlicher einer Absicht der Pointierung zu folgen. Anders ist dies in Ein Jahr aus der Nacht gesprochen, wo der Autor ausschließlich Sätze und Szenen verzeichnet, die unmittelbar dem Schlaf zugeordnet werden. In einem Gespräch bemerkt er über diese Aufzeichnungen: „Irgendwie habe ich innerlich aufgehorcht, ich wurde wach, manchmal mitten in der Nacht, manchmal am frühen Morgen. Ich habe mir die Sätze, die Bilder durch den Kopf gehen lassen und sie dann aufgeschrieben“ (Greiner 2010). Die Annahme, dass diese Notate einen unverstellten Blick auf den Autor ermöglichen könnten, wird jedoch enttäuscht. Viele von ihnen sind Szenen und
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Bilder, bei denen die Bearbeitungsspuren deutlich erkennbar sind. Es sind Traumerzählungen im wortwörtlichen Sinn. Was die Psychoanalyse die Bearbeitung des Traums in der Erinnerung und erzählenden Mitteilung nennt, die Umwandlung des latenten Trauminhalts in den manifesten Traum, kennt auch Handke, jedes Träumen scheint ihm bereits auf Mitteilung und Erzählung angelegt. Im Journal der Baumschattenwand hat er diese Wechselwirkung zwischen Traum und Traumerzählung verdeckt angesprochen. „Träume, ihr zeigt mir, wie ich ‚im Grunde‘ bin: schwach, abhängig, untertänig(st), unterwürfig. Aber ich will nicht wissen, wie ich im Grunde bin. Denn ich kann auch ganz anders sein. Träume, zeigt mir, wie ich anders bin!“ (VB 155). Dieser Programmatik folgend verzeichnet das Journal der Traumaufzeichnungen ganz unterschiedliche Texttypen, die offenbar unterschiedliche Grade der Bearbeitung spiegeln. So stehen neben Traumszenen im engeren Sinn, etwa der, welche die Erinnerung an ein Bild Cézannes mit der Phantasie von einem Kind verbindet (EJN 154), kafkaesk wirkende Miniaturen, wie sie nur im Traum möglich sind: „Er hat die Hand in den Fluß der Träume gesteckt und sie trocken wieder herausgezogen“ (EJN 74). Viele Aufzeichnungen wirken demgegenüber wie Umschreibungen zu Sentenzen: „In der Stunde der Auferstehung suche dein Heil“ (EJN 130) oder „Ein jeder, der rätselt, ist willkommen“ (EJN 132). Manche Notate könnten auch einer Sammlung von Aphorismen entstammen: „Finden dauert länger als Suchen“ (EJN 181), „Die Menschen verschwinden, und die T-Shirts bleichen aus“ (EJN 44), „Merkwürdig, daß die besten Schwimmer immer die sind, die das am meisten brauchen“ (EJN 90). Mitunter erfahren sie auch eine satirische Zuspitzung: „Das Verhalten der Männer hat sich stark verändert, außer wenn sie lieben“ (EJN 65). Nur gelegentlich kann man Hinweise finden, die sich unmittelbar auf den Autor selbst richten. An zwei Stellen erscheint er unter dem Kürzel „P. H.“. Diese Sätze sind deshalb interessant, weil sie sich sowohl auf Handkes Werk als auch auf seine Selbstdarstellung beziehen lassen. Das erste Notat spricht explizit nicht nur den Text der Wiederholung an, sondern auch die damit verbundene Verbindung Handkes zu Slowenien. Sie erscheint hier eigentümlich gebrochen. „‚P. H. Im Neunten Land?‘ – ‚Neunmal kennt er das Land nicht‘“ (EJN 30). Später heißt es in einer kurzen berichteten Szene, die sich sowohl auf das frühere Werk als auch auf die Rolle des Autors im öffentlichen Diskurs über Serbien beziehen lässt: „‚Und als letzter wird sprechen P. H., der Rebell.‘ – ‚Ich bin kein Rebell‘“ (EJN 177). Der Sicherheit und Rigorosität des öffentlichen Urteils tritt damit ein unbewusster Selbstzweifel entgegen. Entsprechend findet neben dem ansprüchlichen Satz „Niemand will was von mir. Die Kultur muss sich ändern!“ (EJN 24) auch die Unsicherheit über das eigene Vermögen als Autor ihren Ausdruck: „Es kann zur Schrift kommen, aber es kann auch zu nichts kommen“ (EJN 162). In auffälligem Gegensatz dazu geben einige Traumsequenzen Aufschluss über eine geheime Neigung, das Reglement persönlicher und sozialer Beziehungen bewusst aufs Spiel zu setzen. Am deutlichsten wird dies in einer Traumszene, die, in Realität umgesetzt, durchaus desaströse Folgen haben könnte. „Ich habe mir
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diese Frau extra für die Nacht ins Haus gebracht, Gemahlin. Und jetzt beleidigst du sie“ (EJN 76): Es ist eines der wenigen Beispiele dieses Journals, in dem der latente Trauminhalt offensichtlich unbearbeitet stehen geblieben ist. Unter diesem Blickwinkel lässt sich die Sammlung dieser Aufzeichnungen als ein Brückentext ansehen, der von den übrigen Journalen zwar stellenweise durch einen anderen Modus der Bearbeitung von Träumen abweicht, sich aber nicht grundsätzlich von ihrer Darstellungsweise entfernt.
8.7 Ganz andere Spiegelbilder: Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007–2015 (2016) Gegenüber der Programmatik und der Verdichtung lebens- und werkgeschichtlicher Reflexionen in Gestern unterwegs erscheint die Sammlung der Notate des bisher letzten Journals deutlich weniger strukturiert. Zudem handelt es sich um eine Abfolge ganz unterschiedlicher Textformen und segmentierter Texte. Gemäß seiner Devise „das Denken ist nicht in den Haupt-, sondern in den Zeitwörtern“ (VB 317) sucht der Verfasser immer wieder nach verbalen Umschreibungen von Substantiven, etwa nach Verben zur Liebe (VB 367) oder zur Poesie (VB 257). Daneben stehen Sentenzen des Verfassers, Redeversatzstücken und Zitate von anderen Autoren. Dabei zeigt sich, dass viele von ihnen auf eine Interpretation oder Umdeutung angelegt sind. Ein Beispiel dafür gibt der Bezug auf Adorno: „‚Es gibt kein wahres Leben im falschen‘? – Blödsinn: Es gibt keine wahren Sätze inmitten von falschen“ (VB 276). In ähnlicher Weise verfährt Handke bei einem Bezug auf die Bergpredigt: „Wenn ich meine Nächsten erlebe, liebe ich mich selbst“ (VB 110). Einige der kurzen Zitate verbinden Gelesenes mit weiterführenden Reflexionen von Handke selbst, dabei gewinnen unter anderem die Autoren John Cheever (VB 87), Giacomo Leopardi (VB 286), Ernst Jünger (VB 127) und Hölderlin (VB 316), aber natürlich auch Musiker wie Johnny Cash (VB 90) und van Morrison Bedeutung (VB 322). Abgesehen davon werden durch die Thematik des Schreibens und Lesens in diesem Text einige werkgeschichtliche Perspektiven eröffnet, zum Beispiel auf Über die Dörfer (VB 296), Immer noch Sturm (VB 22, 68, 74, 194), auf den Versuch über den stillen Ort (VB 167, 168), Die schönen Tage von Aranjuez (VB 144, 148, 151), Die Obstdiebin (VB 75, 221) und den Großen Fall (VB 78, 117), aber auch Rückbezüge auf die Hornissen (VB 289) oder das Prinzip des „Freiphantasierens“ in der Lehre der Sainte-Victoire (VB 281 f.). Davon abgesehen wird in diesem Journal das eigene Schreiben immer wieder zu Goethe in Bezug gesetzt. Dabei gibt eine briefliche Formel Goethes in einem Brief an den Herzog Carl August die Leitlinie vor, „in meinem beschränkten Kreise das Herkömmliche lebendig zu erhalten“ (VB 6), ist dort vermerkt. Ausdrücklich wird die Vorbildfunktion Goethes betont und das eigene im Schreiben
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des anderen gesucht. Lapidar heißt es: „So wie Goethe seinerzeit streng-mild an seine Freunde schreibend: So schreibt er auch an mich, in der Jetztzeit“ (VB 348). Zustimmend folgt der Autor Goethes bewusster Trennung von Dichtung und Geschichte, die, wie dieser in einem Brief an Niebuhr ausführt, in ihrem jeweils Eigenen belassen werden sollen (VB 384). Unmittelbar daran an schließt sich Handkes Überlegung zur Melodik der „überdauernde[n] Epik“ (VB 129) und zur Suche nach der anderen Zeit an: „Nicht die Geschichte – das Geschehen!“ fordert er ein und meint dabei eine Aufmerksamkeit, die sich auf die Natur richtet (VB 141). Offensichtlich folgt er dabei nicht nur Goethes Urteil über den Historiker, dieser sei zwar „nicht Vertreter der Lüge, aber der Verbreiter; nicht der Dieb, aber der Hehler“, sondern entscheidend ist für ihn, dass die Historie „keine Geschichte“ hergibt, „keine Erzählung, geschweige denn ein Märchen“ (VB 317). In Korrespondenz zu Goethes Äußerungen gegenüber Carlyle, die Poesie sei das „glückliche Asyl der Menschheit“ (VB 332) setzt er ebenfalls und durchaus mit Pathos auf das „zarte Universalnetz des Poeten“, das sich dem „Höllennetz“ von Al-Qaida, CIA und anderen entgegensetzt (VB 22). Ganz allgemein wird das Schreiben als eine „Suchbewegung“ (VB 114) charakterisiert und als seine Voraussetzung eine Phantasie benannt, die zugleich eine andere Form der Erkenntnis ist. „Phantasie, sich strukturierend und erweiternd zur Fiktion, Erfindung (ohne Gewolltheit): das wahre Denken. In der Fiktion bin ich der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit am nächsten“ (VB 272). Es ist eine Bestimmung, die sich Adornos Konzept der exakten Phantasie vergleichen lässt (Adorno GS-1, 342). Ein grundsätzlicher Unterschied zu den anderen Journalen besteht darin, dass Vor der Baumschattenwand wie die unveröffentlichten und das veröffentlichte Notizbuch von einer Serie von Zeichnungen durchzogen ist. Vieles spricht dafür, dass auch dies auf eine Orientierung an Goethe zurückgeht. Es erscheint nicht zufällig, dass dessen Formel aus einem Brief an Kästner vom Januar 1773 „Ich bin jetzt ganz Zeichner“ (VB 338) ganz bewusst als ein Element der Selbststilisierung aufgenommen wird, die auch dieses Journal prägt. Dabei erläutern die Bilder nicht den Text, sondern sie stellen in ihrer zusammenhanglosen Abfolge eine Form der Wahrnehmung nach, die der Autor Handke seinen Lesern mit einem Zitat aus Wilhelm Meisters Wanderjahren nahelegt „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selber sind die Lehre“ (Goethe HA-8, 304; VB 366). Die Tatsache, dass es sich hier um eine Stelle aus der Aphorismensammlung der Betrachtungen im Sinne der Wanderer handelt, legt die Vermutung nahe, dass sich Handke in seinem Journal überdies Goethes Technik der selbstverständlichen Kombination von Erzählung und Aphorismus zum Vorbild genommen hat. In der Tat weist sogar das Journal selbst noch eine Substruktur auf, es ist durch eine Reihe kurzer Sentenzen durchzogen, die jeweils mit dem Attribut „eins der 11 Gebote“ versehen sind. Sie folgen inhaltlich und formal Goethes Betrachtungen im Sinne der Wanderer (HA-8, 283–309) und den Notaten Aus Makariens Archiv (Goethe HA-8, 460–486) aus den Wanderjahren. Neben allgemeinen Äußerungen über die Poesie, „Dichterisch denke der Mensch“ als Abwandlung von Hölderlins Gedicht und Heideggers Interpretation (HVO 61–78; Hölderlin GSA2.1, 372 ff.; VB 316), stehen psychologische Selbstermunterungen: „Du sollst deinen
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Dämonen mobilisieren!“ (VB 117), „Wie du gewürfelt bist worden, so bleib nicht liegen!“ (VB 135), „Jeder sein eigener persönlicher Wegmacher“ (VB 380). Keineswegs entgeht der Autor hier der Versuchung alterskluger Äußerungen, die den Charakter von Sinnsprüchen bekommen. „Das Sinnlose (s. o., nicht das ‚Unsinnige‘) mit Ernst, mit ‚vollem Ernst‘, verrichten: Ideal“ (VB 187), „Du sollst einmal am Tag etwas, wonach dir der Sinn stand – ein Ding, einen Ort, einen Blick –, entschlossen versäumen!“ (VB 229) oder: „Du sollst schauen, wo du schon immer geschaut hast!“ (415). Darüber hinaus erhält der insbesondere ab 2015 deutlicher werdende Rückbezug auf Goethe eine doppelte Funktion. Zum einen markiert er Prinzipien des eigenen Schreibens, dies wird etwa deutlich daran, dass Handke seine eigene Vorstellung vom „Zwischenraum“ mit Goethes leitendem Attribut „heiter“ verbindet (VB 327, 134). Zum anderen lässt sich beobachten, dass er seine Haltung gegenüber der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit am goetheschen Habitus ausrichtet. Mit offensichtlicher Zustimmung zitiert er Goethes Äußerung über die Erbärmlichkeit der Menschheit „en masse“ (VB 324; Goethe Gesprr. 10; 1821) und immer wieder umkreist der Bezug auf diesen Autor die Thematik von Vaterschaft und Sohnsein, die sich mit der Vorstellung der früheren eigenen Illegalität verbindet, die sich am ehemaligen Kriegsschauplatz des Vexin-Plateaus wieder einstellt (VB 150). Die Bedeutung der Eingangsformel „Der Vaterlose fühlt sich immer im Blickpunkt, im Guten wie im Bösen“ (VB 7) erweist sich dabei als Selbststilisierung im doppelten Sinn. Ihre volle Bedeutung erhält sie dadurch, dass dem Autor auch Goethe „als eine Art Vaterloser, hochfahrend-hoffärtig“ erscheint (VB 404). An späterer Stelle wird der Vaterlose sogar mit Luzifer verglichen, als der „sich in jedem Sinn Überhebende“, und die Frage gestellt, ob er vielleicht „sich überhebend gegen den Gott in sich selber, das Göttliche in sich selbst?“ sei (VB 419). Dass es sich hier um eine Psychologisierung handelt, legt der auffällig nüchterne Hinweis auf Goethes distanzierte Reaktion beim Tod seines Sohnes nahe. Damit wird eine zentrale Thematik des eigenen Schreibens als Wiederholung einer bestehenden Konstellation dechiffriert, die Radikalität des eigenen Selbstentwurfs wird durch den Bezug auf einen anderen zugleich legitimiert und konturiert. Doch damit nicht genug. Diese Konstellation erschließt auch das zentrale Phantasma des eigenen Lebens, das als „Mein“ Mythos bezeichnet wird, es ist eine auffällige Identifikation mit Christus als Sohn. Sie folgt einer Umdeutung der Isaak-Geschichte, wenn sie mit Bezug auf den Sohn Gottes ausführt: „Der aber wird nicht geopfert – er opfert sich“ (VB 172). Unterstrichen wird diese Stilisierung durch eine der eingefügten Zeichnungen, die mit Hinweis auf die Niemandsbucht das expressive Bild des Gekreuzigten aus einer Kapelle des 13. Jahrhunderts zeigt, dessen Arme und festgenagelte Hände unnatürlich vergrößert sind (VB 383). Insgesamt wird so der Rückbezug auf Christus als Gottessohn fortgesetzt, der schon Gestern unterwegs bestimmt (GU 390, 514). Eine Gelenkstelle bildet dabei der Hinweis auf Matthäus 23,9: „Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen“, den der Autor lakonisch kommentiert: „dazu war ich Vaterloser kein Mal versucht“ (VB 202).
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Die Mehrzahl der eingefügten Bilder operiert allerdings kontrastiv zu dieser Konstellation. Sie erhalten ihre Bedeutung nicht allein als Abbilder sondern weil sie zugleich den Modus eines Schreibens konturieren, das sich als bloße Nachstellung der Unmittelbarkeit von Wahrnehmung versteht. Die Formel „Was einen doch alles in Anbetracht der Baumschatten anweht…“ (VB 404) markiert dies, sie lässt sich mit der im Journal verzeichneten Auffassung der Musik verbinden, die „vom Denkzwang, der Denkerei erlöst“, aber dann doch „zu (be) denken gibt“ (VB 280). Der Ausgangspunkt bleibt dabei die unmittelbare und situative Wahrnehmung, für die das Spiel des Lichts zur Voraussetzung wird. Sie geschieht ohne bewusstes Handeln des betrachtenden Subjekts. Das Mondlicht „enträumlicht, statt Raum […] zu schaffen; es konturiert und entwirklicht zugleich das Konturierte“ (VB 412). Dem so erzeugten „Baumschattenspiel in der Nacht“ entspricht das „Sonnenfleckenspiel am Morgen“, beide zusammen lösen für den Verfasser des Journals sein Verständnis der Formel „Ut pictura, ut poesis“ ein (VB 298). Unter diesen Voraussetzungen entfalten die in den Text eingefügten Bilder eine eigene Dynamik. Deutlich machen dies die beiden Skizzen mit der Bezeichnung „Baumschattenwand“ (Abb. 8.2) (VB 409, 411), die sich unmittelbar auf den Titel des Journals beziehen. Sie stehen mit einer anderen Skizze in Zusammenhang, die den Titel nächtliche Fassade Versailles St. Louis an der Traumschwelle trägt (VB 309). Im Kontext der übrigen Bilder machen diese drei deutlich, dass das, was unmittelbarer Wahrnehmung zu entstammen scheint, zugleich einen Übergangsbereich zwischen bewusster und unbewusster Wahrnehmung erschließt. Die drei Bilder ähneln Halbschlafbildern. Die projizierten Schatten werden offensichtlich überlagert von psychisch generierten Bildern. Sie entfalten dadurch eine Wirkung, die sich dem bewussten Zugriff des Schreibenden und Zeichnenden entzieht. Nicht selten auch erscheinen sie, wie etwa die Bilder von Regen oder Schneeflocken auf einem Fenster, als ornamentale Sehtafeln, die ein Zusammenwirken von bewusster und unbewusster Wahrnehmung inszenieren (VB 52 f.). Der Untertitel des Journals, Zeichen und Anflüge von der Peripherie umschreibt dies. Er lässt offen, ob die Bezeichnung „Peripherie“ auf einen Ort im Raum oder den Modus der psychophysischen Wahrnehmung weist. Zugleich sind sowohl die „Zeichen“ als auch die „Anflüge“ auf eine Deutung angewiesen. Die Interaktion von Text und Bild ist deshalb ein wesentliches Element dieses Textes. Dass das Schreiben als ein „Umträumen“ bezeichnet wird, bestätigt diese Vernetzung von Bild und Textbereich (VB 17), die sich in der formelhaften Sentenz ausdrückt „‚Und‘: Lektüre des Buches und Lektüre des Selbst“ (VB 194). Bedeutung gewinnt dabei, dass der Terminus des Selbst unmittelbar auf das Umfeld der familialen Sozialisation bezogen ist, welches das Journal immer wieder sinnfällig werden lässt. Eine Zeichnung mit der Benennung „Mein Kind“ (VB 177) und eine andere, die den Bruder Hans zeigt (VB 97), belegen dies. Der Verfasser erinnert sich an seinen sterbenden Großvater (VB 238) und zweimal mit verfremdenden Formeln an seine Mutter. Einmal heißt es „Kein Paradox: die leibhaft(ig)e Seele. (So erschien mir, zeitweise, meine Mutter)“ (VB 235). Dann wiederum kehrt der Schock wieder, den der Selbstmord dieser Frau, an dem sich
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Abb. 8.2 Peter Handke: Zeichnung aus Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007–2005 (VB 409). (Deutsches Literaturarchiv Marbach; mit freundlicher Genehmigung von Sophie Semin)
der Autor schuldig fühlt, einst ausgelöst hatte. Wieder ist es eine Wahrnehmung, bei der sich Realität und Traumphantasie in einer nächtlichen Szene ununterscheidbar miteinander verschränken. „Mondlicht die ganze Nacht, und meine Mutter liegt tot (20. November 1971–20. November 2013“ verzeichnet der Text (VB 275). Schließlich überlagern sich die familialen Reminiszenzen in einer Konfiguration, die das Bild der Familie wie der eigenen Vaterschaft in traumhafter Verdichtung zusammenfallen lässt. Der Autor, der nach einem Verb für die Liebe
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sucht, beharrt darauf, dass diese „durch und durch“ gehe und vermerkt, „wie letzte Nacht im Traum im Umarmen des Kindes – das zugleich auch mein toter Bruder war –, und das ausrief: ‚Mein Vater!‘“ (VB 367). Damit verbindet sich ein weiterer Versuch, das zu bestimmen, was das eigene Selbst begründet. Er ist Resultat einer intensiven Selbstbefragung, die deutlich macht, dass der Schreibende sich bewusst ist, dass er trotz seiner entschiedenen Selbstsetzung nach wie vor auf das Urteil anderer angewiesen ist. Ein Traumnotat bringt dies zum Ausdruck: „Wieder einmal wurde über mich abgestimmt, und ich band mir die Augen zu, um nicht zu sehen, wer für mich und wer gegen mich stimmte“ (VB 240). Dass hier eine grundsätzliche psychogrammatische Fixierung ins Spiel kommt, bestätigt das auch in diesem Journal verzeichnete lebensbegleitende Phantasma von der grundsätzlichen Verschiedenheit von Mann und Frau (VB 151). Es wird in der Substruktur der „elf Gebote“ mit der Formel vom „Begehren des Begehrens des anderen“ aufgenommen, die dem psychoanalytischen Ansatz von Jacques Lacan folgt. Für den Verfasser des Journals leitet sich hier die grundsätzliche Frage ab, die seine eigene Sozialisation bestimmt: „Wer oder was ist ‚der andere‘?“ (VB 421). Von diesem Ende her lassen sich die Journale als ein Spiel vom Fragen lesen, das in immer neuen Ansätzen die Bedingungen des eigenen Lebens umkreist.
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Anverwandlung des Eigenen im Schreiben
9.1 Die doppelte Geschichte des Erzählers: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten (1994) Der 1994 entstandene Text bildet ein zentrales Vermittlungsglied zwischen Handkes fiktionalen Texten und den authentischen Aufzeichnungen des Autors. Mit beiden ist er auf mehrfache und komplexe Weise verknüpft. Zum einen, weil der Text eine Lebensphase des Autors autobiographisch rekonstruiert und zugleich Perspektiven auf das fiktionale Werk eröffnet: Er gibt Hinweise auf die Entstehung einiger Texte und nimmt nicht wenige ihrer Leitworte explizit auf. Zum anderen dadurch, dass das Ich, das in der Niemandsbucht spricht, sowohl Züge des Autors als auch solche seiner Figuren trägt. Das dort sprechende Ich lässt sich mit dem Ich-Erzähler von Prousts Recherche vergleichen, der ebenfalls mit seinem Autor verschränkt ist. „Der Ich sagt, der Ich aber nicht immer bin“, paraphrasiert Proust diesen Sachverhalt (Proust 1963, 61; Keller 1991, 207 f.). Weil Handkes Ich-Erzähler Keuschnig allerdings den Namen der Figur eines anderen Textes trägt, erhält die Beziehung zwischen Fiktion und Realität, Autor und Figur eine weitere Dimension, sie weist in die Werkgeschichte des Autors und verschränkt eine biographische und eine intellektuelle Entwicklungsphase so eng, dass man von einem „Erzählen in Echtzeit“ gesprochen hat (Honold 2017, 400). Diese werkgeschichtliche Konturierung verleiht dem Erzählkonzept der Autofiktion, der bewussten Verschränkung von faktualem und fiktionalem Erzählen, das diesen Text charakterisiert, seine besondere Kontur (Wagner-Egelhaaf 2006, 358). Die Grenzziehung zwischen dem Erzähler Handke, dem Autor in der Niemandsbucht und den Figuren des Handkeschen Werkes, die in der Niemandsbucht in veränderter Gestalt auftreten, wird im Erzählen immer wieder spielerisch überschritten. Die Figur des Doppelgängers, mit der sich Handke in seine Texte einschreibt, hat man deshalb mit guten Gründen als eine zentrale Konfiguration aller seiner Texte dechiffriert (Müller 2017). © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_9
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Mit der Romanfigur Keuschnig teilt der Berichterstatter der Niemandsbucht sogar deren zentrale Erfahrung einer Epiphanie (MJN 252). Das unterscheidet ihn von anderen Personen, etwa dem Sohn des Berichterstatters, der den Namen einer anderen Romanfigur Handkes trägt. Valentin stellte in der Langsamen Heimkehr schon immer eine Seite seines Autors dar, doch jetzt erhält er eine andere Geschichte zugeschrieben, die ihn im Modus der Fiktion auf eine neue Weise zu seinem wirklichen Erfinder in Verbindung setzt. So sind in der Niemandsbucht an jeder Stelle Lebensgeschichte, Werkgeschichte und Fiktion auf komplizierte Weise miteinander verbunden. Für die Lektüre des Textes folgt daraus, dass die Rekonstruktion des Authentischen aus dem Fiktionalen keine Gültigkeit haben kann, wenn nicht im gleichen Zug das Fiktionale als ein Element betrachtet wird, das die reale Erfahrung des Autors modelliert. Was als dessen Suche, als seine Bewegung im Raum und als seine Lebensorte dargestellt wird, ist niemals allein Abbild von Wirklichkeit, sondern immer zugleich das Ergebnis von Schreibversuchen, Schreibbewegungen und imaginären Raumkonstruktionen. Im Nachhinein wird deutlich, dass die Niemandsbucht gerade insofern nicht allein eine Vorzeichnung zu der im Bildverlust entfalteten Poetologie des Erzählens darstellt, sondern auch als Paralleltext zu diesem fiktionalen Entwurf gelesen werden kann. Das zentrale Thema des Erzählens, das sie mit dem späteren Text verbindet, wird in ihr unter dem Blickwinkel einer biographischen Konstellation und einer persönlichen Anforderung zugleich dargestellt. Deshalb ist der Text, der in Form einer Selbstfindung und Selbstbestimmung präsentiert wird, nicht nur mit einer genauen Datumsangabe, dem Jahr 1994, verbunden, die mit seinem tatsächlichen Erscheinen korrespondiert, sondern auch mit der Schilderung einer Schreibkrise des Autors.
Die autobiographische Inschrift Der Text schildert eine Selbstentfremdung des Protagonisten im Alter von 56 Jahren, die als traumatische Erfahrung einer Verwandlung über den Erzähler kommt (MJN 11). Diese wird zur Signatur einer Lebensepoche, die von einem „täglichen Hin und Her zwischen Ausweglosigkeit und seelenruhigem Weitermachen“ (MJN 12) gekennzeichnet ist, einem Aus-der-Zeit-Fallen (MJN 17). Sie lässt den von Versagensangst bestimmten Erzähler auf eine zweite, eine „neue Verwandlung“ (MJN 13) warten, die ihm das Schreiben wieder ermöglichen soll. Darauf zielt das dem Text vorangestellte Motto aus dem Brief des Jakobus 1,22: „werdet aber Täter des Wortes und nicht bloß Hörer“. Anders allerdings als im späteren Text vom Bildverlust ist dazu keine Bewegung im Raum mehr erforderlich. Das Eingreifen „in meine Zeit“ (MJN 22) bedarf hier keiner Reise, das Reisen hat sich in dieser Phase verbraucht, eine klare Korrespondenz zu der lebensgeschichtlichen Situation Handkes in dieser Zeit. Sie korrespondiert durchaus der Rückkehr nach Europa, die in der Langsamen Heimkehr geschildert wird.
9.1 Die doppelte Geschichte des Erzählers: Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994)
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Im Unterschied zu der dort erzählten Rückkehr in die Vorgaben der Tradition will sich der Erzähler der Niemandsbucht jedoch, nicht anders als sein Erfinder, bewusst schon räumlich in eine Abseitsposition begeben, die ihm einen verfremdenden Blich auf die gesellschaftliche Realität und die intellektuellen Diskurse ermöglicht. Er sucht nach einem „Niemandsland“ (MJN 27), das er schließlich wie Handke selbst in Chaville, in einem kleinen Ort vor Paris findet. Ohnehin ist er fasziniert vom Außen der Vororte, es zieht ihn „hinaus in diese Nichtigkeit“ (MJN 272), vollends nach einem Ausflug ins Zentrum von Paris hören die „Weltstadt-Dinge“ für ihn auf, wichtig zu sein. Weil das Leben dort als „Ortsschwund, oder Raumentzug“ (MJN 291) und als eine „Entdinglichung“ erfahren wird (MJN 291), stellt die Entscheidung für die Vorstadt einen geradezu existentiellen Gegenentwurf dar. Zudem fordert die Wahrnehmung der gesellschaftlichen und politischen Realität zu einem poetischen Gegenentwurf heraus. Auch diese Abgrenzung zeigt sich schon äußerlich. Das gewählte Haus ist ganz anders als das, was sich alle andern wünschen (MJN 295). Ebenso eröffnet das Eindringen in die Außenbezirke der Stadt eine neue Sphäre, die für den Erzähler bestimmend ist, weil er sie allein seiner Perspektive unterwerfen kann. Dies ist umso notwendiger als die äußere Realität Frankreichs seinem individuellen Lebensentwurf Widerstände entgegen bringt, die er durchaus aggressiv benennt: Nichts verständlicher, als endgültig aufzugeben, mit der Feststellung, in diesem Land, gelichtet von der Aufklärung, zusammengestutzt von der Vernunft, durchgeplant und vereinheitlicht von der Grammatik, sei kein Platz für einen Wald; die unveränderten Geräusche der Zivilisation, der Autos, der Eisenbahnen, der Hubschrauber in dem Restwald scheinen das zu bestätigen (MJN 326).
Vor dieser Folie werden die Konturen des poetischen Gegenentwurfs deutlich, der das Schreiben wieder ermöglichen soll. Er steht in Beziehung zu den entsprechenden Überlegungen, die in die Geschichten der Freunde und in die des Sohnes ausgelagert sind. Der Berichterstatter sucht nach dem von der modernen Welt Verschütteten, vor allem aus ihm will er seine eigenen Bildwelten konstruieren. Nicht zufällig fällt kurz vorher zum ersten Mal das Leitwort des ‚Bildverlusts‘, es umschreibt an dieser Stelle jedoch nur einen der Aspekte, die der spätere Text, Handke wendet sich ausdrücklich gegen die Bezeichnung als Roman, mit diesem Titel ausführen wird (Schwagerle/Kastberger 2009, 30). Der ‚Bildverlust‘, der den Weg in die Niemandsbucht begleitet, ist der Verlust einer Vorstellung, eines Inbildes vom anderen, das man in sich trägt. Dass dies zu einer tiefgreifenden Entfremdung vor allem zwischen Partnern führen kann, belegt die geschilderte Beziehung des Berichterstatters zur „Katalanin“, der Frau Ana. Der Weg in die Niemandsbucht ist auch die bewusste Abwehr von zu viel Nähe in den Beziehungen zu ihr. Eine bewusste Distanz zu anderen bestimmt auch die Beziehung zum Sohn Valentin. Die geographischen Koordinaten dieses Orts für seine neue Selbstgründung beschreibt der Erzähler räumlich als eine „Bucht“ (MJN 78), in der sich die „Nacht des Erzählens“ (MJN 80) ereignen kann. In ihr werden einzelne Elemente
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der Wirklichkeit zu einem Ganzen zusammengefügt, ohne dass es des Überblicks bedürfte. Zum einen gilt der Grundsatz „Fragmentarisch erleben, ganzheitlich erzählen“ (MJN 73), zum anderen ist es die Phantasie, die eine ganzheitliche Wahrnehmung möglich macht. Der Weg in die Bucht ist zugleich der Versuch, wieder ins Erzählen zu kommen, ein Lebensprogramm, das nur als Schreibprogramm verwirklicht werden kann. Auch darüber hinaus gibt der Text lebensgeschichtliche Daten des Erzählers Keuschnig, die mit denen seines Erfinders Handke übereinstimmen. Wie dieser ist er nach Europa zurückgekehrt und die Bilder des Fremden verschwinden, werden überlagert von gegenwärtigen Erfahrungen, der Begegnung mit einem Minister (MJN 128) als dem Repräsentanten der „schimärischen Welt“ (MJN 134), mit einem Lehrer und schließlich mit Filip Kobal, der zugleich als eine Romanfigur auftritt (MJN 148). Die durch die aktuelle Politik geforderte Stellungnahme zu Serbien macht zudem eine doppelte Entfremdung bewusst: Gegenüber dem eigenen Volk, hervorgerufen durch die lange Abwesenheit vom Land der Geburt, und gegenüber dem „Volk der Leser“, die auch auf der Entwicklung des eigenen Schreibens beruht. Der Erzähler der Niemandsbucht ist sich durchaus bewusst, dass er sich zu dieser Zeit in eine Außenseiterposition hineingeschrieben hat (MJN 158). Eine wesentliche Voraussetzung für sein neues Projekt des Schreibens ist, dass dieses nicht nur durch gegenwärtige Wahrnehmungen, sondern auch durch Erinnerungen gesteuert ist, die sich auf die Herkunft des Erzählers beziehen. Sie lassen Bilder erscheinen, die den Autor Handke prägen und die auch der fiktive Autor im Bildverlust benennen wird. Häufig treten diese Erinnerungsbilder an im Text beschriebenen Durchblicken in Zivilisation oder Natur auf. Ein Beispiel dafür gibt, dass der Erzähler anlässlich einer Schilderung der Natur in der Niemandsbucht, insbesondere der hängenden Gärten, einen Kirchenbesuch in einer russischen Kapelle beschreibt, der ihn unmittelbar an das slowenische Rinkolach, den Nachbarort von Griffen erinnert. Die liturgischen Gesänge in dieser Kapelle bringen ihm nicht einfach die Kindheit zurück (MJN 967), sondern lassen ihn sich als Menschen und in einer Gemeinschaft mit anderen fühlen (MJN 968). Die Messe verspricht ihm Frieden, bevor er sich wieder unter „die Heiden“ draußen mischt, „von denen ich dann […] bald wieder selber einer war“ (MJN 969). Schließlich lässt der Bezug auf den Epheserbrief des Apostel Paulus den Erzähler die Kapelle als ein „Haus“ wahrnehmen, das ihm Geborgenheit gibt. Die damit verbundenen Erinnerungen an das Slowenische der Jugend bewegen ihn immer wieder dazu, sich in der Kapelle den „Frieden holenzugehen“ (MJN 968). Es ist charakteristisch für Handkes Schreiben, dass die Schilderung dieser, durchaus ernst zu nehmenden, religiösen Erfahrung zugleich in ein anderes Register hinüberspielt. Eine Reflexion des Erzählers über den Akt der Wandlung in der Messe macht dies deutlich. Er hebt darauf ab, dass diese in der orthodoxen Kirche durch Beschwörungsworte des Priesters initialisiert wird, während der katholische Ritus auf ein „Verwandeln allein durch Erzählen“ setzt (MJN 970). Gerade diese Formel ist doppelt lesbar. Sie lässt sich nicht nur auf den religiösen
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Ritus beziehen, sondern ist zugleich eine zentrale Vorstellung, die alle Reflexionen des Autors Handke über das Vermögen des Erzählens bestimmt. Zugleich ist sie ein Gegenentwurf zur Erfahrung der politischen Welt. Das doppelt konnotierte Erlebnis der Wandlung antwortet auf die lebensgeschichtliche Erfahrung vieler Ortswechsel, die unterschiedlichen Lebensbereichen und gesellschaftlichen Wirklichkeiten korrespondieren (MJN 979 f.). Vor allem aber setzt es sich der von Krieg und Gewalt bestimmten gegenwärtigen Welt entgegen. Deren Konturen beschreibt die Figur des Lesers, die in mancher Hinsicht im Text zu einem Alter Ego des Erzählers wird und die im Doppelbezug auf Handke und auf die literarische Tradition den Namen Wilhelm trägt. Er sieht sich konfrontiert mit dem „Binnenblitzkrieg“ (MJN 928) in Deutschland, aber er ist wie der Erzähler in der Lage, auch eine andere Ordnung der Dinge zu erfahren, indem er zum einfachen Schauen und Anschauen zurückfindet (MJN 927). Voraussetzung dafür ist, dass Deutschland befreit wird von „der Hirnschwellensprache“ der Meinungsmacher und dass der „einstige Feind“ zunächst „für seine Wortspektakel keine Gaffer mehr fand“ (MJN 929). Nicht anders als in der Lehre der Sainte-Victoire zielt dieser Wunsch auf ein anderes Deutschland (LSV 98). Wie der Erzähler findet der Leser seine Sicherheit dadurch, dass sich bei ihm in der Begegnung mit Büchern ein Verstehen seiner selbst und seiner Lebenswirklichkeit einstellt, und dass wiederkehrt, was verloren schien: Die literarische Tradition, Goethe, Grimm, Novalis, Mörike, August Sander. Die Kraft dieser Texte bringt ein „Dazwischenfunken“ hervor, das die Erfahrung einer „Zwischenzeit“ (MJN 931) ermöglicht. Nicht zufällig verbinden sich bei dieser Schilderung Bilder, die zugleich religiös und poetisch konnotiert sind: Palmwedel, ein Apfelbaum und der Teich von Wilhelms „Jugendgewässer“ (MJN 932). In einem Gespräch mit dem Verleger wird die autofiktionale Inschrift der Niemandsbucht angesprochen, denn dieser äußert trotz seiner Bedenken die Hoffnung, dass das Buch Leser finden könne, da, so der Autor, „ich es sei“. Allerdings weist der kritische Gesprächspartner auch darauf, dass der Erzähler immer noch nicht „fertig mit [sich] selber“ sei (MJN 982). Gerade dies scheint seine im Text charakterisierte Schreibweise zu bestätigen. Diese schafft selbst keine linearen Zusammenhänge, sondern unterstellt sich den „Zeitschwellen“, nach denen der Ablauf des Jahres die Natur verändert (MJN 435, 983 f.; Honold 2017, 580). An einer Stelle spricht der Erzähler überdies davon, dass er sich mit den Palmen die Gegenwart holen wolle (MJN 985). Weil alle wahrgenommenen Bilder auch Zeitmomente markieren, kommt es allerdings zu „ständigen Doppelbildern auf [seiner] Netzhaut“, die dem Sich-Überlagern der Palmfächer entsprechen (MJN 986). Das Erzählen, das seine Kraft aus der Wahrnehmung bezieht, gibt zwar einerseits Sicherheit, doch es konstituiert das Ich niemals als stabile Größe, sondern muss es je erneut erschaffen, nicht zufällig wird die Metapher des Verirrens dafür zentral (MJN 990). Dieser Sachverhalt prägt insgesamt auch das Erzählen des Erzählers in der Niemandsbucht. Die Stringenz der autobiographischen Inschrift ist durchweg gebrochen, das Erzählen ist durchsetzt von Rückblicken und diegetischen Reflexionen, gleichzeitig entwirft es unterschiedliche Tableaus, die nicht immer
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schlüssig miteinander verbunden sind. Zudem ist die Perspektive des Erzählers dadurch beeinflusst, dass andere Erzähler auftreten und deren Geschichten nur punktuell, nämlich beim letzten gemeinsamen Zusammentreffen und Erzählen miteinander verknüpft werden.
Der Modus des Erzählens In den Passagen des Textes, die sich auf die Voraussetzungen, Bedingungen und die Eigenart des Erzählens beziehen, verbindet der Text der Niemandsbucht autofiktionale mit intertextuellen literarischen Bezügen auf andere Texte Handkes. Nicht zufällig wählt er als Beispiel dafür, dass sich die Sprache des fiktionalen Textes auch als ein geschlossenes autoreferentielles System betrachten lässt wie die Sprache des Rechts. Er orientiert sich damit an Vorstellungen des frühen Autors Handke (MJN 212). Diese Auffassung von Sprache als einem Ordnung schaffenden Element im Chaos der Dinge zeichnet vor, was die eigene literarische Sprache zu entwickeln hat (MJN 217). Es kommt darauf an, „wie diese umschreibend, in Distanz zu der Sache, mit einem eingeschränkten Bestand von Begriffen [zu arbeiten], so daß die Wörtermyriaden, die zuvor vielleicht am meisten zu meiner Sprachenverwirrung beigetragen hatten, gar nicht erst in Betracht kamen“ (MJN 212). Die zweite Voraussetzung dieses Erzählprogramms ist die intensive visuelle Wahrnehmung, die sich mit anderen sinnlichen Erfahrungen verbinden kann. Zum Beispiel dafür wird ein Kirschbaum in einem abgeschlossenen Garten (MJN 282), der nicht allein die Erinnerung an einen anderen, öffentlich zugänglichen Kirschbaum im Dorf Rinkolach, dem Ort in der Heimat weckt. Der Erzähler besteigt ihn auch und wiederholt dann, was er auch als Kind erlebte. Weil er jetzt die Kirschen mit den Lippen pflückt, wie er es auch in seiner Kindheit gemacht hatte, verbindet sich seine visuelle Wahrnehmung mit taktilen und olfaktorischen Empfindungen, die sich einstellen und zugleich erinnert werden (MJN 285). Mit guten Gründen kann man diese synästhetische Wahrnehmung mit der Madeleine-Episode vergleichen, mit der das Erzählen von Prousts Marcel beginnt (Proust PL1, 46 f.). Diese Vorstellung wird später noch überhöht. In einem krisenhaften Moment seiner Wahrnehmung als selbst die Friedlichkeit der Erscheinungen bei ihm nur ein Würgen auslöst (MJN 397), erreicht der Erzähler eine erneute Selbstkontrolle dadurch, dass er seinen Text nicht als Fragment ansieht, sondern als ein Ganzes, dessen Zusammenhang allein durch seinen Blick gestiftet werden kann: „Es war mein Blick, der bewirkte, dass es so war“, so allein kann ein „Bild von der Welt“ entstehen, das sich der Schimäre entgegen setzt (MJN 399). Anders allerdings als Prousts Marcel, für den sich das Erzählen aus einer sinnlichen Erfahrung begründet, die Erinnerungen eröffnet, hat Handkes Erzähler darüber hinaus eine benennbare Erfahrung, die sich wie ein Erweckungserlebnis einstellt. Angesichts der Herausforderung, die gefüllten Notizbücher in einen Text umzusetzen (MJN 376), ist der Schreibende mit etwas konfrontiert, das er selbst nur schwer klassifizieren kann. Er nennt es das „Vorhandene“ aber „Unantastbare“
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in ihm selbst, das von anderen dann, hier antwortet er zweifellos auf die Literaturkritik, welche die Schreibweise des Autors Handke fokussiert, als ein „erzählendes Gebet“ und, diesem Begriff stimmt er zu, ohne ihn wortwörtlich zu verstehen, als seine „Religion“ bezeichnet wird (MJN 377). Im Vordergrund dieser Reflexion über das Erzählen steht der kontrollierte Umgang mit Sprache, der sich allerdings eher auf die früheren Texte des Autors Handke beziehen lässt. Schreiben begründet für ihn ein „Vertrauen, ein ganz unerhörtes, wie noch kein Mal, in die Wörter, in mich, in die Welt“. Nachdem er einmal damit begonnen hat, freut er sich auf die folgende „Einmannexpedition“ (MJN 377). Das Unternehmen des Schreibens steht jetzt plastisch vor ihm, es geht um nichts anderes als um das „Erzählen von Vorgängen, friedlichen, die schon das Ganze und insgesamt am Ende vielleicht das Ereignis wären“ (MJN 380). Es will eine Darstellung der „Fülle der Welt“ leisten (MJN 380), die er bereits im Vorort erlebt hat. Deshalb bedenkt er nicht die Reaktion möglicher Leser und verspürt gerade deshalb eine „neuartige Freiheit“ (MJN 382). An der „Stelle des vergessenen Körpers“ nimmt er „eine Sinnlichkeit [wahr], mir lieb, indem sie da war, ohne irgendwo hinzuwollen“ (MJN 383). Diese Schreibphantasie wird nicht anders als später im Bildverlust mit einer intermedialen Phantasie verbunden. Der Erzähler sieht eine Kinoleinwand, auf der die Buchstaben in Lettern erscheinen, am nächsten Morgen beginnt er zu schreiben. Was er tut, ist vor allem deshalb beruhigend, weil es visuell wahrnehmbar ist, weil es als „Schrift-Bild“ (MJN 392) erscheint. Der Autor, der an dieser Stelle mit den Worten des Erzählers über sich selbst spricht, verschreibt sich dem Hinsehen auf die Natur und erhofft, dass dieses Bild von der Welt niemals mehr zu einer „Schimäre umspringen“ werde (MJN 399). Zugleich ist ihm bewusst, dass die Kritik gerade diese Darstellung, es sind die Vorzeitformen der Langsamen Heimkehr, nicht ohne Weiteres akzeptieren wird, ohnehin hat sie schon die zynische Frage gestellt, „ob auf die Knie zu fallen […] eine geeignete Haltung zum Denken sei“ (MJN 405). Doch für den Erzähler wie für Handke selbst beginnt alles Erzählen zunächst völlig unansprüchlich mit dem bloßen Zuschauen. Dieses ist die „einzig mir mögliche Tat“ entgegengesetzt der Welt der Ereignisse, des Kriegs, und sie ist möglich allein aus einer konstruierten Distanz. Nicht zufällig erinnert ihn jetzt das Fensterbrett im Hotel des voyageurs an dasjenige im Haus in Rinkolach (MJN 692). Gerade so entsteht das Schreiben allein aus dem „Augenmerk für die Außenwelt“, es kann in der spielerischen und leichten Form eines bloßen Mitschreibens erfolgen und muss gerade eben kein Paris-, Amerika- oder Arktisbuch hervorbringen. Vor allem deshalb erinnert sich der Erzähler an eine alte Formel „Greif ein mit deinem Zuschauen!“ (MJN 693 f.). Es ist ein Schreibprogramm der Selbstbeschränkung, das in Grundzügen Handkes immanenter Poetologie folgt. In ihm kommt es allein darauf an, Ursprünglichkeit zu erreichen, es ist die Formel für das Aufschreiben, aus dem am Ende eine Erzählung wird. Für ihr Gelingen ist weder diskursives oder wissenschaftliches Wissen noch ein „Augenblickswunder“ (MJN 696) notwendig. Allerdings braucht dieses Programm des Aufzeichnens, das die Niemandsbucht
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entwickelt, einen Bezug auf das Leben des Erzählers selbst. Es verlangt danach, dass sich der Schreibende, wenn er nicht scheitern will, in sein Buch „wechselweise selber hineinspiel[t]“, um seiner Sache die „nötige Blöße zu geben“ (MJN 699). Dieser Entschluss, der eine autofiktionale Prägung des Schreibens zur Folge hat, ist ein bewusster Gegenentwurf zu den Texten, die der Kriege, Irrfahrten oder sonstiger Katastrophen als Anlass für das Schreiben bedürfen, weil sich das Schreiben verbraucht hat und aus sich selbst heraus keinen Zusammenhang mehr stiften kann. Diesen Weg will der Erzähler nicht gehen. Lapidar formuliert er: „ich will es anders“ (MJN 700). Zugleich bemerkt er selbstkritisch, dass er auch am Ort der Niemandsbucht vorübergehend vergessen hat, dass seine eigentliche Fähigkeit die Phantasie ist, er sich aber wieder auf das Urteilen und Beurteilen verlegt hat (MJN 701). Umso mehr ist er sich der Anforderung bewusst, dass sein Schreiben jetzt ein entschiedenes „Zurück zu der ersten Idee des reinen Augenzeuge-Seins“ erfordere, das „Vergnügen des Wahrnehmens“ muss wieder möglich sein. Angesichts der Schwierigkeit, ein Erzählen aus der Unmittelbarkeit zu entfalten, das vom „Erzählzwang“, dem Berichten von Geschichten, frei ist (MJN 702), hat der Autor zwar zunächst den Eindruck, dass er seinem Traum vom Schreiben nur „[nach] stümpere“ (MJN 704). Doch dann erkennt er, dass seine erste Verwandlung, die ihn seine Fähigkeit zum Schreiben grundsätzlich zweifeln infrage stellen ließ, ihren Grund darin hatte, dass er an der Möglichkeit zweifelte, bei jedem Aufschreiben wieder eine neue Geschichte entdecken zu können. Jetzt dagegen will er zu einem „erfinderischen“ Erzählen kommen „ohne ein spezielles Erfinden“ (MJN 705). Damit ist das Schreibprogramm skizziert, das in späteren Texten vorherrscht und das im Bildverlust als dem Roman vom Erzählen umgesetzt wird. Gelingen kann das Vorhaben im Beschreiben von Wahrnehmungen, die sich im Verlauf von Wanderungen durch die Natur einstellen. Gerade deshalb ist die Niemandsbucht sowohl der Ort einer selbstgewählten Entfernung und Entfremdung von der übrigen Welt als auch der ideale Ort, an dem sich das Schreiben nach einem eigenen Gesetz wieder neu begründen kann.
Die „Niemandsbucht“ als Raum des Erzählens Mit dem Programm der Reduktion von Ort und Zeit, wie auch der Beschränkung auf einen begrenzten Ausschnitt der Wirklichkeit ist die Wahrnehmung der landschaftlichen Umgebung als Bucht verbunden. In dieser eröffnen sich kleine Naturräume, deren Beschreibung an die Gartenbilder von Paul Klee erinnern (Abb. 9.1) (MJN 712). Dem Rückzug in Natur und Landschaft korrespondiert der in den Bereich des Heimlichen, in das Haus, das immer mehr wie ein Raum wahrgenommen wird, der von allem anderen freigehalten werden muss. Dies gilt zunehmend selbst für soziale Beziehungen, ganz bewusst spielt der Erzähler auch gesellschaftlich ein „Spiel des Verlorengehens“ (MJN 729).
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Abb. 9.1 Paul Klee (1879–1940): Erinnerung an einen Garten, 1914. (Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, © akg-images/picture alliance)
Entschieden ausgeblendet bleibt dabei die Weltgeschichte, es gelingt dem Verfasser nicht, diese schreibend in Bilder zu verwandeln. Allenfalls in Träumen ist dies möglich, wenn die Zeit der Handlung eine „jeweils […] vergangene, beinah schon legendäre“ ist (MJN 735), in die sich der Erzähler hineinphantasiert (MJN 736). Dieser Abgrenzung entspricht eine räumliche. Die Bucht wird als ein Bezirk mit Grenzen empfunden, eine der sinnfälligsten Abgrenzungen gegenüber anderen Räumen ist die Stelle, an der sich zwei von Paris nach Versailles führende Straßen berühren, es ist ein Ort, der auch offiziell „Pointe“ heißt. Unmittelbar aus dieser Raumphantasie entsteht eine Schreibphantasie. In dem Maß wie sich der Schreibende wechselnde Orte als der Bucht zugehörig denkt, verändert sich auch sein „Schreibfeld“ (MJN 750). Er hat ein Ebenbild von der Gegend im Sinn, das allerdings jederzeit auch „umspringen“ kann. Im Wechsel dieser Raumbilder, die im Verlauf von Wanderungen erfahren werden, entstehen die Phantasien, die das Schreiben hervorbringen und modellieren. Zugleich verweist der Lebenskreis der Bucht auf Kindheitserinnerungen, die sich im Unterschied zu später erinnerten Bildern niemals auf exotische Orte richteten, lapidar heißt es: „Die Weiße Stadt ist nichts für mich“ (MJN 770).
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Gleichzeitig wird das Entstehen der Phantasie wie eine räumliche Wahrnehmung beschrieben. Es sind die „Zwischenraumstaffeln“, die „Kindheitsinbilder“ hervortreten lassen (MJN 771). Sie werden durch die Bebauung dieser Gegend unterstützt. Die unterschiedlichen Häuser der Pariser Vorstädte, für die man den Ausdruck Pavillon eingeführt hat (MJN 774), erinnern den Autor an seine Heimat, er hat den Eindruck, dass die Menschen, die in ihnen wohnen „Kleinhäusler“ sind, oder, hier greift er unmittelbar auf seine Erinnerungen an die Jugendzeit zurück, „Keuschler“ (MJN 776). Wie die erinnerten sind allerdings auch die gegenwärtig wahrgenommen Bilder bedroht. Es beginnen die Bruderkriege der Gegenwart, bei denen sich selbst leibliche Brüder bekriegen, und die „1997“ entstehenden Kriege in Deutschland, die Auseinandersetzungen über den Balkan (MJN 782 f.). Schon vorher hat sich dieser Ausbruch von Gewalt in der unmittelbaren Nachbarschaft angedeutet. Nicht nur stellt sich eine Entfremdung von den Nachbarn ein, diese erscheinen auch aggressiv durch den Lärm, den sie mit ihren Maschinen erzeugen, und durch die Intensität, mit der sie die Zwischenräume durch bauliche Maßnahmen zu schließen beginnen und dabei die freien Durchblicke mit „Abräume[n]“ verstellen (MJN 804). Der Protest dagegen, einigermaßen kurios dadurch präsentiert, dass der Erzähler den lärmenden Maschinen der Nachbarn einen Bleistift als sein Werkzeug entgegenhält, bleibt wirkungslos (MJN 810). Vor diesem Hintergrund von Aggression, Gewalt und Krieg erhalten die Beobachtungen des Erzählers, die sich auf Tiere und die Natur richten, ihre besondere Bedeutung. Es sind Gegenbilder zur Gewalt draußen und zugleich Versuche, das vermeintlich Selbstverständliche auf eine neue Weise wahrzunehmen. Exakt an diesem Punkt übernimmt der Erzähler Keuschnig die Perspektive der früheren Romanfigur Keuschnig. Wie diese stellt er sich die Frage: „Wer sagt denn, dass die Welt schon entdeckt ist?“ (MJN 816), und versucht, neue Wahrnehmungen und Schreibhaltungen an jeweils neu bestimmten Schreiborten, aber immer inmitten der gegenwärtig präsenten Natur der Niemandsbucht miteinander zu verbinden. Allerdings eröffnet die Beschränkung auf wenige Schreiborte und die unmittelbare Wahrnehmung auch eine Spannung zwischen Außen- und Innenwahrnehmungen. Es kommt zu einer „Durcheinanderschöpfung“, welche die „panische Welt“ hervortreten lässt „hinter der üblichen, der brüchigen, schimärischen“ (MJN 828). Diese panische Welt führt zu einer Verlangsamung der Wahrnehmung (MJN 828), in der die Details hervortreten. Sie ist möglich nur, wenn sich der Erzähler während seines Schreibens vom eigentlichen Leben in der Niemandsbucht fernhält. Seine selbst gewählte Niemandsbucht in der Natur, die das erlaubt erscheint deshalb als ein Asylland (MJN 848). Seine neue Wahrnehmung von Details richtet sich auf Gegenstände der Zivilisation und der Kunst zugleich, auf das Pissoir beim Pont Mirabeau ebenso wie auf den abgeschlagenen Kopf des Apostel Johannes, auf dem der Erzähler den ganzen Planeten wahrzunehmen glaubt (MJN 852). Offensichtlich ermöglicht ihm seine Selbstbeschränkung ein „Bilderdenken“ (MJN 856), das auch Blicke in die Zeit ermöglicht. Der Erzähler nimmt seine katalanische Frau Ana in unterschiedlichen Kontexten wahr und stellt gleichzeitig
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Bezüge zu seiner eigenen Lebensgeschichte her, etwa zur Stiege im Dorfhaus des Bruders. Natürlich ist dies zugleich eine Reminiszenz an Handkes Text der Lehre der Sainte-Victoire (LSV 70) und eine Vorzeichnung der Zitation der Alexiuslegende in der Morawischen Nacht und in der Obstdiebin. Auch so wird eine Ursprungsphantasie mobilisiert, die mit dem Thema des Schreibens verknüpft ist. Selbst die Kinderschrift Valentins wiederholt sich in der eigenen Schrift und verbindet sich mit dem Thema des stammelnden Erzählers, der sich einem „Lalein“ verschreibt, das allein die Dinge der Natur und nicht das Eigene ins Recht setzt, es ist eine Aufnahme der immanenten Poetologie des Chinesen des Schmerzes (MJN 863; CS 231). Das Pilzesuchen des Erzählers, das keine Ähnlichkeit hat mit den Suchtechniken der Suchtrupps, bekommt dadurch seine besondere Bedeutung (MJN 865–892). Die mit ihm verbundenen Naturschilderungen weisen über die detailgetreue Beschreibung hinaus auch auf den metaphorischen Komplex, der die Bestimmung des Schreibens umgibt. Denn sie erfordern den besonderen Blick, dem die „Ferne verloren“ geht (MJN 886) und der sich neben allem anderen Geschehen zur Geltung bringt: „Abseits zu suchen war auch: im Abseits der Zeit“ (MJN 890).
Die Geschichten vom Erzählen: Freunde und Erzähler Von Anfang an wird der Versuch des Erzählers, „sich bildsam zu halten“ (MJN 894), durch Wahrnehmungen ergänzt, die aus Irrtümern und Augentäuschungen hervorgehen. Die Bedeutung der Geschichten, die ihm mitgeteilt werden, besteht darin, dass sie immer wieder von diesen Täuschungen erzählen. Das Motiv des Teleskops, das der Erzähler benutzt, um auf den Fernblick zu weisen, der für ihn durch die Mitteilung anderer möglich wird (MJN 909), erhält deshalb noch einen anderen Sinn. Es lässt sich auch umgekehrt im Sinn des psychischen ‚teleskoping‘ verstehen, das eine besondere Form des indirekten Erzählens ermöglicht. Zu einer ganzen Geschichte wird die Erzählung des Erzählers erst dadurch, dass sich die eigene Sozialisationsgeschichte und die Geschichten der Freunde überlagern und dadurch eine neue Geschichte entsteht. Ein Beispiel dafür gibt die Erzählung von jener Helena, die der Erzähler in Griechenland kennen lernte. Dieses Zusammenwirken von individuellem und kollektivem Erzählen zeichnet vor, was auch im Bildverlust Voraussetzung des Erzählens ist: Die soziale Interaktion, die sich auf Hören, gemeinschaftliches Erzählen und ein Gespräch gründet, das sich fundamental vom öffentlichen Diskurs unterscheidet. Im Bildverlust stellt der fiktive Erzähler ausdrücklich das „inständigste Zwiegespräch“ dem Wort Dialog gegenüber, das er als eine nur andere Bezeichnung für einen öffentlich geführten Monolog bewertet (BV 139). Wie in diesem späteren Text sind auch die unterschiedlichen anderen Erzähler in der Niemandsbucht keine Figuren, die über eine individuelle Psychologie verfügen, vielmehr führt ihre Typisierung dazu, dass sie nur wie Schemata von Figuren wirken, die unterschiedliche Erzählentwürfe erkennbar machen.
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Die Gesamtheit der so konstruierten Geschichten, die wie in einem patchwork einem Sänger, einem Maler, einem Leser, einer Freundin, einem Architekten und Zimmermann und schließlich einem Priester zugeschrieben werden, wiederholt und präzisiert Erfahrungen des fiktiven Erzählers und lässt zugleich die Konturen seines Erzählprogramms erkennen. Die diesen Erzählungen zugeordnete Geschichte des Sohnes entfaltet darüber hinaus lebensgeschichtliche Bezüge im Rekurs auf die Geschichte des Erzählers und Vaters. Zweifellos werden auf diese Weise Charakteristika des Erzählers wie seines Erfinders zugleich erschlossen. Von Bedeutung ist auch hier wie im späteren Roman vom Bildverlust, dass Gültigkeit offensichtlich nur das erlangen kann, was in Form einer Geschichte erzählt wird, die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Beschreibungen werden nicht benannt, sondern im Verlauf einer Bewegung nachgezeichnet. Die Geschichte des Sängers, die als erste mitgeteilt wird, umkreist Handkes zentrale Vorstellung vom Augenblick der besonderen Wahrnehmung als einer Voraussetzung für das Erzählen. Für den Sänger ergibt sich dieser aus seiner „Sterbensoffenheit“ (MJN 441), die es ihm beispielsweise möglich macht, an einer Grabstätte eine „Zehntelsekunde der so genannten Vorzeit“ zu sehen (MJN 445). Bei seiner Wanderung durch Schottland überlagern sich zudem gegenwärtige und erinnerte Bilder, seine Busfahrt vergleicht er mit der Schiffsreise von Platons Kritias, er erinnert sich an Hitchcocks Film der 39 Stufen (MJN 455; Hitchcock 1935) oder an andere Orte wie den Busbahnhof in Kairo. Dabei denkt er auch an Liedtexte, die er selbst gesungen hat, als er „so wie ein andrer im Bild, im Lied war“ (MJN 457). Sein melancholischer Hinweis darauf, dass niemand mehr sein Lied brauche, zweifellos eine selbstkritische Überlegung seines Erfinders, verweist ihn am Ende nur auf sich selbst. Auch daraus folgt eine Bemerkung, die über seine Geschichte hinausgeht: „Alles, was ich bisher getan habe und noch tun werde, gehört mir und niemandem“ (MJN 461). Darüber hinaus benennt die Geschichte des Sängers zwei weitere Bereiche, die für das Schreiben seines Erfinders von Bedeutung sind: Die ständige Rückbesinnung auf die eigene Herkunft aus einem begrenzten ländlichen Bereich, die sich in kleinen Szenen einstellt (MJN 467), und die Bereitschaft, sich im Verlauf seiner Wanderung auf ein Spiel mit dem „Verlorengehen“ (MJN 471) einzulassen. Gerade aus dieser Überlagerung von authentischer Erinnerung, gegenwärtiger Wahrnehmung, Phantasie und Traum entsteht die Selbstgewissheit, die in der Formel „Ich bin mit meinem Lied“ ihren Ausdruck findet (MJN 472). Die Geschichte des Lesers berichtet ebenfalls von einer Reise, dieser unternimmt sie, um zu sich selbst zu finden, weil sein ganzes bisheriges Leben von „Aussichtslosigkeit“ bestimmt war (MJN 478). In ihrem Verlauf nimmt er wie der Protagonist der Langsamen Heimkehr immer wieder geologische Formationen wahr, die Phantasiebilder in ihm hervorrufen, in einem einfachen Tümpel sieht er etwa zum ersten Mal „in seinem Land eine Welt offen“ (MJN 479). Solche Durchblicke eröffnen zugleich eigenartige Doppelungen. Zum einen sind es Reminiszenzen an literarische Texte, die sich der Leser in die Landschaft phantasiert. Im Schnee stellen sich Erinnerungen an die Nibelungen, den
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Parzival, den Grünen Heinrich, den Nachsommer, aber auch die Wahlverwandtschaften und den Wilhelm Meister ein. Wie in Handkes Werk und in klarem Bezug auf die Langsame Heimkehr soll aus der Erinnerung an diese Texte das „Epos von morgen“ entstehen. Dieses zielt auf einen kulturellen Rückbezug und ermöglicht es, von einem „gewissen Deutschland“ abzusehen und entschieden so tun, als gäbe es dieses gar nicht, dagegen das Geschehen nicht mehr ansiedeln in einem einzelgängerisch ausgedachten Idealland, sondern eben in jenem weltweiten Deutschland, unter Verwendung von noch und noch deutschen Sachen und Ortsnamen, den wenigen unschuldig gebliebenen gleichwie den belasteten, gerade diesen! (MJN 483)
Bei dieser Überlegung, die sich während seiner Rundreise durch Deutschland einstellt, verbindet sich die Erinnerung der Figur des Lesers mit biographischen Hinweisen auf den Autor Handke. Die Rede ist von einem halbem Deutschsein, dem Abschwören vom Vater, davon dass er sich von seinem Vaterland fernhalten will (MJN 486). Erkennbar reproduziert sich durch die Perspektivfiguren des Erzählers Keuschnig und des Lesers die ambivalente Einstellung des Autors Handke zu seinem Vater, die später in der Morawischen Nacht umerzählt wird. Hier eröffnet sie zunächst zwei unterschiedliche Perspektiven. Ein „Umschwungbuch“, ein Unternehmen, das selbst Hölderlin nicht gelungen sei (MJN 487) werde er nach seinen lebensgeschichtlichen Erfahrungen wohl nicht zustande bringen können, hält der Leser dem Erzähler vor. Doch während dieser die Deutschlandreise des Lesers in Gedanken mit verfolgt, fühlt er sich gleichwohl „herausgehoben in eine unschuldigere, rein augenblickshafte Gegenwart“ (MJN 490), obwohl die Deutschen „ihr heiliges Töten, am Vater Rhein oder auf den Elysischen Gefilden“ praktizieren und sich dabei als die „legitimen neuen Hellenen“ fühlen (MJN 488). Die Übereinstimmung zwischen beiden geht soweit, dass der Erzähler überzeugt ist, dass der Leser auch seinen früheren Mordplan gegenüber dem Vater verstehen könne, der seinen Grund ausdrücklich nicht in dessen Verstrickung in die deutsche Geschichte hat. Vielmehr exculpiert der Erzähler seinen Vater, der zwar „seiner Rolle nach“ zu den Tätern gehört habe, aber dabei „nicht anders unernst gewesen sein [konnte] als bei allem sonst“ (MJN 496). So verbindet sich die vom Leser zur Sprache gebrachte uneingeschränkt intensive Orientierung des Erzählers am Vater, der „[s]einem Herzen der nächste“ ist und ihn zu einem „Hinauf-Denken von tief unten [veranlasst], wie es einzig von einem Sohn, einem des Vaters bedürftigen, hat kommen können“ (MJN 498), mit dem Versuch, im Lesen ein anderes Deutschland entdecken zu können. In einer symbolischen Szene liest er während eines Fußballspiels gemeinsam mit einer Polizistin in den Novelas ejemplares des Cervantes und diese erotisch aufgeladene Leseszene weckt in ihm die Vorstellung, dass es noch ein Deutschland gebe, das wachgeküsst werden könne. Lapidar heißt es schließlich: „Der Gedanke war so sehr Bild, daß er an ihn glaubte“ (MJN 506). Die darauf folgende Geschichte des Malers, die eine Reise durch Spanien beschreibt, steht unter dem Leitwort der „Ferne“ (MJN 510), das unterschiedliche visuelle Wahrnehmungen, äußere und innere, beklemmende und beruhigende
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miteinander verknüpft. Aus dem Wechselspiel dieser Bilder ergibt sich die Aufgabe des Malens: Die „Verwandlung“ oder die „Wiedergabe durch die Verwandlung“ (MJN 514), diese richtet sich auch auf die „Geschichten der Schwärze im äußersten Hintergrund“, deren Bewegung „von ihm höchstselbst zu kommen schien“ (MJN 512). Unter diesem Blickwinkel wird das Wort „Fernesehen“ zu einer Metapher des poetisierenden Blicks, der diesem Künstler zugeschrieben wird (MJN 517). Dabei ist dieser zur „Wiedergabe durch die Verwandlung“ und „schwungvollen Entstellungen“ (MJN 514 f.) ebenso fähig wie zur Selbstbeschränkung. Paul Klees Diktum „Die Ferne und ich sind eins, ich bin Maler“ (MJN 514) wird zu seiner Leitformel und nicht zufällig liefern für die malerische Vereinigung von Ferne und Nähe offensichtlich die Gartenbilder Klees eine Vorlage, die nur einen beschränkten Raum zeigen, der aber jenseits der Gartenmauern und ihrer Türen einen weiteren Ausblick vermuten lässt (MJN 516; Klee 1914). Nicht zufällig nähert sich dieser Maler auch dem Medium des Films, dessen Funktionsgesetz als cool media eine Interaktion zwischen dem Sehenden und seinem Objekt erfordert, um ein Imaginäres hervorzubringen, in der Diktion des Textes eine „Entrückung“ (MJN 517). Die Bilder des Malers, die alle den gleichen Titel ‚La vega negra‘, die schwarze Aue, tragen, sollen eine Bewegung des Blicks inszenieren, welche die Anschauenden zum „Betrachten“ fähig macht (MJN 519). Aus der Bewegung des Blicks, die Nähe und Ferne vereint, entsteht schließlich eine neue Ganzheit: „Da ruht die Welt!“ (MJN 518), kommentiert der Maler diesen totalisierenden Effekt. Der Weg des Malers zum Film, der ihn dazu bringt, William Faulkners Als ich im Sterben lag zu verfilmen (MJN 524), hat zwei weitere Veränderungen seiner Wahrnehmung zur Folge. Auch sie sind dem Entwurf des poetischen Blicks zuzuordnen, auf den alle eingeschobenen Erzählungen zulaufen. Konfrontiert mit dem Medium des Films, dem „Lichtspiel“ (Münsterberg 1916), wird der Maler aufmerksam auf das Licht, insbesondere auf das der „Gegend hinter dem Spiegel“, wie der Filmtitel heißt (MJN 526). Gleichzeitig erleidet er infolge des Misserfolgs seines Films einen „Verlust der Ferne“ (MJN 531), den er als einen Bildverlust empfindet, weil er „ohne jenes Gespür der Ferne nicht mehr malen – seine Farbe nirgendwohin auf den Weg schicken konnte“ (MJN 533). Dies zeichnet bereits entschieden eine Konstellation des Bildverlust vor, in dem gerade das Verschwinden der gewohnten Bilder eine Konstruktion neuer visueller Welten hervorbringt. Erzählwelten sind es im späteren Text, hier jedoch handelt es sich um andere Bildwelten, die aus der Konzentration auf das Detail entstehen. Aber sie führen nicht zu Entwürfen wie sie Cézannes intensive Betrachtung der Sainte-Victoire hervorbringt, die Handke in seiner Lehre der Sainte-Victoire einlässlich beschreibt. Die neue Malerei, die der Maler jetzt allein noch anstreben kann, passt sich der Natur selbst an, wird eine „Felsmalerei“, die keine „weggesperrten Bilder“ mehr kennt (MJN 537). Damit geht die künstlerische Entwicklung des Malers hinter die Tradition zurück. Sie zielt auf eine Ursprünglichkeit, die sich allein aus dem Betrachten der Natur begründet, nicht zufällig steht am Ende dieser Geschichte des Malers der Blick in ein „Scheinfenster“ (MJN 540).
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In mancher Hinsicht scheint die „Geschichte meiner Freundin“ die Ursprungsphantasie, die der Maler reflexiv entwickelt, vorzuleben. Bei ihr beginnt dies damit, dass sie sich schon äußerlich aller „Schätze“, die sie auf unterschiedliche Weise in ihr Eigentum brachte, meist sind es natürliche Objekte wie ein Ast oder ein Holzprügel, entledigt. Charakterisiert als die „einzige Sorglose“ (MJN 544) beharrt sie zugleich nie auf dem Eigenen. Überdies präsentiert sich die frühere Schönheitskönigin von Jugoslawien bewusst unansehnlich. Sie nimmt auf ihrer Reise immer wieder neue Rollen ein, mal erscheint sie wie eine Freischärlerin, mal wie eine Köhlersfrau oder die „dahinverirrte Vorhut des versprengten ‚Zirkus Morgenland‘ (MJN 564). Ihr Interesse richtet sich allein auf das Unveränderliche und Wiederkehrende. Unter ihren „Fundstücken“ befindet sich ein Stein, der als Inschrift ein Fragment Heraklits trägt: „Das Wesen eines jeden Tages [sei] ein und dasselbe“ (MJN 542). Auf diese Weise findet sie zu einer besonderen Wahrnehmung. Nichts mehr auf der Welt hat für sie noch „einen besonderen oder Eigen-Namen“ (MJN 546), dagegen versucht sie, alles, was sie sieht, neu zu benennen und verwendet dabei nur selbst erfundene Namen „in der Form von Umschreibungen oder Bildern“ (MJN 547). Ihr Umgang mit Sprache verweigert sich der eindeutigen Denotation, die sie als das Verstörende ansieht, das jede Schrift hervorbringt (MJN 549). Nicht zufällig nimmt der Erzähler in diesem Zusammenhang auf den philosophischen Nominalistenstreit bezug. An die Stelle der aufgezeichneten Schrift tritt für die Freundin eine visuell wahrgenommene „Schrift der Erscheinungen“. Diese zeigt sich ihr wie auch schon Schiller beim Blick auf Landschaften, aber auch bei einer Wahrnehmung der Dächer einer Stadt (Schiller NA-22, 273). Nie zählen für sie die generischen Benennungen, sondern allein die subjektiven, die auf eigener Wahrnehmung und Erfahrung beruhen. Nicht „das Meer“ fasziniert sie, sondern das türkische Meer, das durch eine eigene intensive Erfahrung für sie selbst zum Paradigma für das Wort Meer, „das Original“ wird (MJN 551). Zurückgekehrt in ihre Geburtsstadt entwirft die Freundin in einer Dachkammer „Karten imaginärer Landschaften“, schon vorher wurde auf ihrer Reise jeder Ort zum Punkt auf einer „besonderen Weltkarte“, auf der sie in ihrer Imagination Spuren hinterlässt. Deshalb durfte sie, so ihre Phantasie, keinen Fehltritt machen, um nicht ihre „Zeichenschrift“ zu löschen, oder gegen ihr „Spurenziehen“ zu verstoßen (MJN 567). Durch diese Dekonstruktion des Raums im Wechselspiel von realer und imaginärer Wahrnehmung begründet sich wiederum eine neue Erfahrung von Zeit. Die „Eigenzeit“ überlagert die numerische Zeit und lässt ein „Beispiel der reinen Gegenwart“ entstehen (MJN 569), das ausschließlich visuell begründet ist. Die Gegenwart der Wahrnehmung wird zu einer leitenden Phantasie und zu einem Paradigma der poetischen Erzählung selbst, sie erscheint in Bildern, welche die lineare Entfaltung des Erzählens unterbrechen. Wechselnde Bilder und Umsprungsbilder, filmischen Schnitten vergleichbar, begründen Szenen des Innehaltens und Beobachtens. Dabei scheut der Text weder das befremdende noch das märchenhafte Bild.
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Diese Aufladung des Alltäglichen mit Bedeutung, die bis an die äußerste Grenze des Schreibbaren geht, verbindet die Freundin mit dem Erzähler und beide mit ihrem Erfinder. Als sich die Frau hinhockt, um ihre Notdurft zu verrichten, haben im Nu Falter „den Urinfleck lückenlos besetzt und tränkten sich daran“ (MJN 574). Am Ende sieht sie in einer Bucht unter dem Wasser die „Sarkophage eines versunkenen Altertumsfriedhofs, oder versteinerte Boote“ (MJN 576) und am Himmel ein ganzes Geschwader von Fallschirmspringern herabsinken, während sie in der Nähe Flügel von Lindenblüten wahrnimmt, „umzackt inzwischen von Fledermausschwärmen“. Für die Frau vollendet sich auf diese Weise ein „glücklicher Tag“ (MJN 577), verbunden wie auch im Bildverlust mit der Heimkehr der verloren geglaubten Tochter. Er liefert zugleich das Leitbild einer ästhetischen Grenzerfahrung, wie sie Handkes Texte immer wieder darstellen (DJ 24). Auch die Geschichte des Architekten und Zimmermanns berichtet von einer Wanderung durch den Raum, diesmal ist es Japan. Zu einer Selbsterfahrung kann sie ebenfalls führen, weil der Reisende bereit ist, sich „fruchtbar zu verirren“ (MJN 579) und gerade so „von sich selber“ zu lernen (MJN 581). Dabei kommt den vielen Gesprächen, die er auf seiner Wanderung führt, weniger Bedeutung zu als den unvollendeten Häusern, die er auf einem Erbgrundstück errichtet (MJN 583), und den anderen Bauten, die er, von anderen unbemerkt, in den „versteckten Niemandsländern aller Erdteile“ platziert, um sie dann, einer Erinnerung seiner Karstkindheit folgend, unter „Schutt- und Rußhaufen“ zu tarnen (MJN 585). Er selbst bezeichnet seine Tätigkeit, die ihm nichts einbringt, als „Leerbauen“, „Erinnerungsbauen“ und „Aufmerk-Bauen“ (MJN 586). Daraus ergibt sich eine eigentümliche Inversion der zentralen Erzählkonstellation des Chinesen des Schmerzes. Der Architekt und Zimmermann konstruiert seine Häuser in kulissenhafter Fragmentarität, während der Protagonist des Chinesen aus der Betrachtung der Schwellen die ursprünglichen Häuser als ganze zu rekonstruieren bestrebt ist. Beide verbindet allerdings, dass sie sich im Bereich imaginärer Konstruktionen bewegen, die Raum für ihre Phantasie eröffnen. Beider Tätigkeit umkreist zugleich eine fundamentalontologische Überlegung Heideggers, weil sich ihre Phantasie auf Orte des Wohnens und Bauens richten, die geeignet sind, den eigenen Ursprung bedenken zu können (Heidegger VO-2, 25). Einerseits erinnert sich der Architekt und Zimmerman an eine Landschaft seiner Geburt oberhalb von San Pelagio bei Aurisina, nahe der jugoslawischen Grenze, und erkennt, dass dieser Ort „eine Art von Grundriß für sein Leben wie für seinen Beruf vorgezeichnet“ hat (MJN 605). Andererseits nehmen seine in der Erinnerung an den Herkunftsort entstandenen Bauten Bezug auf die römische Architektur, deren Bedeutung für sich er erst später und zurück in Italien mit der Formel „Die Antike und ich sind eins“ bekräftigen wird (MJN 609). Seine frühere Idee, in einem japanischen Niemandsland „ein Tarn-Bauwerk nach seiner Art“ zu hinterlassen (MJN 590) zeigt, dass es ihm weder auf die Vollendung noch die Funktionalität seiner Bauten ankommt, sondern allein darauf, dass diese Erinnerungen und Phantasien zugleich hervorrufen können.
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Diesem kreativen Umgang mit Erinnerungen entgegen stehen die Erfahrungen von Orten der Geborgenheit und die durch einzelne Reisebilder ausgelösten Ursprungserfahrungen. Da ist zum einen die Beschreibung eines Toilettenhäuschens, welche die Geborgenheit im Abort des elterlichen Hofs nachzeichnet und zum Gegenstand eines Briefs an den Erzähler wird, der hier als der Autor des Versuch über den stillen Ort erkennbar wird (MJN 595). Zum anderen gewinnt die Beziehung zu einer Frau mit mongolischem Gesicht Bedeutung. Sie entwickelt sich aus einer sprachlosen Begegnung und unter ihrem Einfluss beginnt der Architekt nun auch, die fremde Welt der Japaner anders wahrzunehmen (MJN 603). Einen folgenreichen Einschnitt bildet hier die Begegnung mit dem Buddha von Kamakura, wo er unter den Besuchern ein „gemeinsames Weinen“ erlebt (MJN 600). Lebensgeschichtlich allerdings gewinnt jetzt ein Bild Bedeutung. Es ist die Maske in einem No-Spiel, die dem Architekten „ein Selbstporträt“ zu zeigen scheint. Es ist, so die entsprechende Legende, das Gesicht eines Mannes, der „begriffen in einem Augenblickstraum von seinem ganzen Leben“ ist und gleichzeitig bemerkt, dass „umgekehrt dieses ganze Leben selber solch ein Traum ist“ (MJN 611). Der Text lässt keinen Zweifel daran, dass dieses Inbild gerade deshalb so wirkmächtig ist, weil es im Imaginären wirkt. Beim Architekten löst es zunächst eine Phantasie von Ganz-Sein aus, die ihm den Eindruck vermittelt, dass „seine vielen Stimmen sich zusammengeschlossen“ haben. Jetzt kommt er zu der Überzeugung, dass es „Zeit für seinen Bau“ ist (MJN 612). Während die Wanderung am Ende nur das Gefühl vermittelt, „noch überhaupt nirgendwo“ (MJN 612) gewesen zu sein, macht es die Phantasie, nicht die unmittelbare Erfahrung, möglich, „einzugreifen“. Diese Denkfigur korrespondiert mit einer zentralen Schreibphantasie des Autors Handke (CS 25). Die nachfolgende Geschichte des Priesters ist ebenfalls durch die Thematik des Bildes und des Bildverlusts zentriert. Das Nachdenken dieses Wandernden über christliche und weltliche Bilder führt ihn zu einem Bedenken der Beziehung zwischen Schrift und Bild, Bibeltext und visueller religiöser Symbolik. Diese Überlegungen stehen neben einer klaren und expliziten Auseinandersetzung mit der katholischen Amtskirche, deren Umgang mit Opfern einer Vergewaltigung und das Verhalten einzelner Priester werden scharf kritisiert (MJN 616). Dagegen mobilisiert der Priester spirituelle Erfahrungen. Sie gehen von seiner Erinnerung an die Fresken und Holzschnitzereien eines Altars aus, die ihm bewusst machen, dass er „vorbehaltlos und heiter“ an die Bilder der Bibel glaubt und dass ihm in diesen „das Leben erschienen“ ist. Ein „Bildverlust“ ist für ihn unmöglich (MJN 623). Allerdings stellt sich für ihn schon immer die Frage, in welchem Verhältnis das Bild zum Wort steht, er denkt dabei an die bilderlose Nachbardorfkirche, die zu ihrem Patron den Hiob hatte. Lebensgeschichtlich ist eine Erfahrung bestimmend, die unmittelbar mit einer Sprache verknüpft ist, die er mit dem biblischen „Wort“ gleichsetzt. Er erinnert sich, dass ihm seine Ehe mit einer Frau deshalb als unmöglich erschien, weil ihm anlässlich seiner Entscheidung, Bauer zu werden, zum ersten Mal die Bedeutung des Wortes „Berufung“ deutlich wurde. Sie wird in der Folge bestimmend für
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seine Entscheidung zum Priestertum, über die er sich wie viele andere erst in einem „zweite[n] Erscheinen“ endgültig klar wird (MJN 627). Neben dieser spirituellen Erfahrung durch das Wort steht gleichrangig die Wirkung eines Bildes, das der Priester aber nun nicht in Hinblick auf das dort Dargestellte wahrnimmt, sondern an dem er ein Zeichenfeld dekodiert, das allein für ihn Bedeutung erlangt. Es ist ein weltliches, kein religiöses Bild, nämlich Breughels Der dunkle Tag, sein korrekter Titel lautet Der düstere Tag (Abb. 9.2). Es ist eine der sogenannten „Weltlandschaften“ des Malers. Gerade dies erhält Bedeutung nicht nur für die Geschichte des Priesters, sondern auch für die anderen Erzählungen der wandernden Freunde. Denn die Weltlandschaft ist eine Kompositlandschaft, sie vereint unterschiedliche Motive und Szenen in einem Bild, die nicht unbedingt demselben abgebildeten Szenario angehören. Es ist eine genaue Entsprechung zu den Landschaften, die Handke erzählen lässt und die er selbst immer wieder erzählt. Auch in diesen überlagern sich ständig unterschiedliche Bildwelten. Für die Erfahrung des Priesters mit Breughels Bild ist noch ein anderer Gesichtspunkt von Bedeutung. Er löst die Gegensätze, die das Bild zeigt, im Sturm havarierende Schiffe, ein unzugängliches Hochgebirge und der Bereich friedlichen dörflichen Zusammenlebens, in ein Zeichenfeld auf, dem er eine symbolische Konnotation einschreibt. Vor dem dunklen Hintergrund bedrohlicher Natur und
Abb. 9.2 Pieter Bruegel d. Ä. (um 1525/30 – 1569): Der düstere Tag, 1565; aus der Folge von sechs Bildern der Jahreszeiten. (Wien, Kunsthistorisches Museum, © akg-images/picture alliance)
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katastrophischer Ereignisse fokussiert er seinen Blick auf die einzige helle Stelle des Bildes. Es ist eine in der Düsternis blinkende Messerschneide vor der hellen Wand eines Hauses, an dem noch gebaut wird. Bedrohung und Beruhigung, das Messer und das Geborgenheit versprechende Haus stehen unmittelbar nebeneinander und gerade diese Spannung lässt beim Priester eine das Bild überschreitende Phantasie entstehen. Er sucht nach dem „Helle[n] an dem heutigen dunklen Tag“, dieses erscheint ihm „jetzt in dem Rund eines Apfels […] jetzt im Oval eines Maiskolben“ (MJN 629). Es ist auffällig, dass sich der Priester in dieser Szene ausschließlich an visuellen Signalen orientiert, während er sonst vieles übersieht. Mit der Unmittelbarkeit seiner visuellen Wahrnehmung verbindet sich in seiner Geschichte eine andere ganzheitliche Erfahrung, die er seinen Schülern ermöglicht. Er geht dazu über, diesen den Text der Bibel nicht mehr vorzulesen, sondern sie selbst lesen zu lassen. Sie brauchen dann, so stellt er fest, den Text nicht mehr „zusammenzubuchstabieren“, sondern sie können ihn „gleich geläufig heraus[bringen]“, als sei ihnen nichts an ihm fremd, sie finden „dabei Satz für Satz den Nerv des Ganzen“ heraus (MJN 632). Vor diesem Hintergrund verlieren die Hinweise auf politische Ereignisse an Gewicht: Die Erinnerung an die Volksabstimmung von 1920, die sich mit einer Fahrt nach Slowenien in das Gebiet nördlich der Drau verbindet, und der Hinweis auf die systematische Auslöschung des Slawischen, die sich auf dem Friedhof beobachten lässt (MJN 636). Stattdessen endet die Erzählung des Priesters mit der expressiven Schilderung einer Predigt in der Kirche von Rinkolach, die nicht nur den Prediger sondern auch die Kanzel beschreibt, deren sichtbarer hölzerner Aufbau sie wie eine Baustelle inmitten der fortgeschrittenen Zivilisation erscheinen lässt. Als der Prediger anschließend mit den Nachbarn auf deren Hofbank sitzt, erinnert er sich im Nachtwind nicht allein an seine Kindheit, sondern auch an eine neue deutsche Bibelübersetzung, die anstelle des Wortes Hoffnung das Wort Zuversicht setzt. Nicht anders als die vorangegangenen Erzählungen der Wanderer erzählt seine Geschichte von der Notwendigkeit neuer Bild- und Sprachwelten, um der Gegenwart eine Perspektive geben zu können. Allerdings ist diese nur als Prozess denkbar: In der Nachtstunde empfindet der Priester ein „Morgenwerden“, das ihn zugleich erschreckt, denn es ist nicht einfach eine sich abzeichnende Erfüllung, sondern die Wiederkehr einer Sehnsucht. Am Ende erhebt sich für ihn die Frage, ob er denn ein „drittes Erscheinen“ brauche (MJN 647). Die Geschichte des Sohnes, die auf die Erzählungen der Freunde folgt, intensiviert die Beziehung zwischen dem Erzählen von der Niemandsbucht und den eingeschobenen Berichten in zweifacher Hinsicht. Zum einen erschließt der Blick auf den Sohn, der den Namen einer Figur von Handkes Werk trägt, eine biographische Linie, die auf den Autor Handke selbst weist. Zum anderen zeigt der Text am Beispiel des Sohnes die für den Autor Handke charakteristische Verbindung von poetischer Praxis und ästhetischer Reflexion. Verknüpft damit ist ein Motiv, das auch den Text des Bildverlust bestimmt, die Fremdheit zwischen Eltern und Kind. Das Verhältnis von Vater und Sohn ist in der Niemandsbucht durch Fremdheit und Gleichgültigkeit des Vaters gegenüber dem Sohn bestimmt.
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Umgekehrt erscheint das Leben des Sohnes als Gegenentwurf zu dem des Vaters. Grundsätzlich unterscheidet ihn von diesem, dass er nicht an Österreich oder Deutschland leidet (MJN 665). Bei seiner Reise fällt zudem auf, dass er sich von allem Slawischen fernhält (MJN 655), den Balkan empfindet er als fremd (MJN 671), das Eintauchen in diese Welt als einen Orientierungsverlust, verbunden mit dem Verlust jeder Kontrolle der äußeren Erscheinung, es ist ein bewusst inszeniertes „Verkommen“ (MJN 675). Frei wird der Sohn erst, als er „seines Vaters Jugoslawien“ (MJN 678) verlässt und die Grenze nach Griechenland überschreitet. In der Kirche des Nikolaos Orfanos sieht er schließlich ein Fresko, von dem auch schon der Vater erzählt hatte. Dessen Aufmerksamkeit war dadurch erregt worden, dass hier ein bestimmter Moment der Auferstehung Christi gezeigt wird, eine „Episode dazwischen“ zwischen Grablegung und Verkündigung. Der Ich-Erzähler der Niemandsbucht deutet dieses Bild als einen Neuanfang der Welt. Doch der Sohn widerspricht seiner Wahrnehmung, er sieht vor allem den „weltraumschwarze[n] Himmel“ (MJN 682), der das Bild bestimmt. Diesem Eindruck folgend deutet er seine Reise als Bewegung in ein „Nirgendwo“, er empfindet, weder Vater, noch Mutter noch wirklich Freundschaft gehabt zu haben und er erfährt, dass er „verloren, seit jeher“ (MJN 683) ist. Dem Erzähler-Vater wird im Bericht über diese Bildauslegung des Sohnes bewusst, „dass von all meinen Leuten der, von dem ich am wenigsten wußte, mein Sohn war; ich wußte gar nichts von ihm“ (MJN 683). Andererseits gibt es Ähnlichkeiten zwischen den beiden. Sie beziehen sich gleichermaßen auf das Thema des Sehens, beispielsweise klärt der Sohn den Vater darüber auf, dass ein Nachbild von einem Gegenstand nur dann möglich ist, wenn dieser nicht fixiert wird (MJN 657). Doch auch hier gibt es entscheidende Unterschiede. Anders als für den Vater zählt für den Sohn keine Anschauung der Natur als Landschaft, seine „grundandere Anschauung“ zielt nicht auf die Erscheinung selbst, sondern über diese hinaus auf „deren Gesetzlichkeit“ (MJN 660). Zweifellos ist dieser Sorger nicht anders als die Romanfigur des Valentin Sorger auch ein Beobachter von „Schwellen“ (MJN 661). Ein Konvergenzpunkt zwischen Vater- und Sohngeschichte ist dann die Reise des Sohns durch Slowenien. Der Ort Piran erhält hier eine besondere Bedeutung (MJN 668), denn dort wird der Sohn fähig zu erfahren, was seinem Vater geschah. Er erlebt einen „Umschwung“ der Wahrnehmung (MJN 672), der ihn schließlich von seiner „Ortsfremdheit“ (MJN 673) befreit und ihn alles Gesehene schreibend verarbeiten lässt: In Ohrid beginnt er, seinen Text über das unterschiedliche Grau der Winterbäume zu schreiben, der später mit einem Preis bedacht wird (MJN 677). So wird im Verlauf dieser Geschichte im Wechselspiel von Erzählerbericht und Sohnesperspektive nicht nur dessen mentale Disposition erschlossen, gleichsam kontrapunktisch werden auch Erfahrungen und Wahrnehmungen mitgeteilt, die Facetten des Ich-Erzählers deutlich werden lassen, die sich zugleich seinem Erfinder zuschreiben lassen. Wie im Bildverlust schreibt der Autor auch hier von sich, indem er anderen eine Geschichte zuschreibt.
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Die Rekonstruktion von Identität Die Geschichte des Sohnes wiederholt damit in mancher Hinsicht diejenige des Vaters und wird zugleich zu ihrer Kontrafaktur. Sie weist eine Parallele auf zum Weg des Vaters durch die Welt, der am Ende schließlich in die Bucht mündet, in der seine Verwandlung möglich wird. Zugleich schließt die Geschichte des Sohnes die berichteten Geschichten der Freunde ab und erst danach folgt die eigentliche Geschichte des Jahrs in der Niemandsbucht in Kapitel IV. Sie beginnt zuerst mit einer Skizze, die mit dem Titel „das Jahrzehnt“ überschrieben ist und geht dann in absteigender Linie in die Kapitel „das Jahr“ und „der Tag“ über. Damit fügt sie dem räumlichen Muster der Heimkehr in das Enge und Umgrenzte einen zeitlichen Entwurf hinzu, grundsätzlich bewegt sich die Erzählung vom Umfassenden und Übergreifenden ins Detail. Am Ende verkürzen sich Raum und Zeit zur Darstellung des Augenblicks des Erzählens. Die für Handkes Schreiben charakteristische Verschränkung von Lebensgeschichte und Werkgeschichte, die im Zuge einer offenen oder fiktional verdeckten Selbstreflexion erfolgt, charakterisiert das Jahr in der Niemandsbucht, indem sie einen Blick zurück bis in die Anfänge von Handkes Autorschaft eröffnet. „In den Büchern, die ich seit der Aufgabe meines Juristenberufes geschrieben habe, bin der Held mehr oder weniger ich selber. Wenn ich damit durchkam, dann gelang mir das nur, weil ich die Gestalt eines Buchs war“, äußert der Erzähler schon zu Beginn programmatisch (MJN 42). Seiner Existenz als Figur im Buch wird das schreibende Handeln in der Wirklichkeit entgegengesetzt. Allein im Schreiben, so der Erzähler, „konnte ich anders handeln, vor allem stetiger“, fand ich „oft mein[.] Gleichmaß“ (MJN 43). Im Leben dagegen „ist der mir gemäße Platz der eines Zuschauers, und im Schreiben will ich mich weniger als früher in Aktion setzen und vordringlich Chronist“ sein (MJN 44). Gleichwohl wird dieses Zuschauen als eine Form des Handelns bewertet, entscheidend ist dabei, dass es den „Blick hinter mich“ (MJN 46) eröffnet. Vergleichbare Seiten- und Rückblicke auf das fiktionale Werk durchziehen den gesamten Roman der Niemandsbucht. Die Lehre der Sainte-Victoire und die Langsame Heimkehr sind ständig präsent, gleichzeitig werden die Konturen des Textes vom Bildverlust vorgezeichnet. Dabei gehen immer wieder unterschiedliche Zeitebenen ineinander über. Am Ende mündet alles in eine Szene der reinen Gegenwärtigkeit, es ist der Moment des gemeinsamen Erzählens, in dem alle Geschichten miteinander verknüpft werden und der nicht zufällig unter der Überschrift „Der Tag“ von den anderen Handlungs- und Erzählsträngen abgesetzt ist (MJN 991 ff.). Deshalb lässt sich diese Szene als erzähltes Bild einer Grundfigur von Handkes poetischem Programm ansehen: Es ist wiederum der Eintritt in eine andere Zeit. Dass das Motiv des gemeinsamen Erzählens und Zuhörens auch im Bildverlust eine zentrale Rolle spielen wird, belegt die Bedeutung dieser Konstellation. Die Zusammenkunft mit den Freunden erfolgt zwischen Weihnachten und dem neuen Jahr. Sie ist modelliert wie eine Ursprungssituation, in der für einen Augenblick „der Namen ledig“ für den Augenblick die Schöpfung aufsteigt (MJN
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994) und sie folgt auf Passagen, die schildern, wie der Erzähler in äußerster Konzentration bei sich und im Haus bleibt und ihn nichts nach außen führt. Stattdessen eröffnen sich ihm bei Blicken in seinen Garten immer wieder einzelne Erinnerungsräume, das Berichten und Beschreiben erscheint wie eine Fahrt durch Orte und Zeiten, bei denen immer zugleich der „Gedanke [s]einer Herkunft“ (MJN 1011) eine zentrale Rolle spielt. Am Ende des Textes erscheint das Erzählen als eine Möglichkeit, Vorgeschichte und Geschichte, autofiktionale Konstruktion und fiktionales Erzählen ineinander übergehen zu lassen. In dem Maß wie diese Bezugsebenen zur Deckung kommen, verspürt der Erzähler eine neue „Bereitschaft zur Schriftlichkeit“ (MJN 1021). Sein „Durcheinanderdenken“ wird als ein Beiseitestehen beschrieben, das ihn selbst zu einem „Leser“ macht, der ein „Buch lesen [will], welches die Welt neuweht“ (MJN 1032). Dieses Lesen stützt sich nicht allein auf Sehen und Wahrnehmen, es erfordert auch eine Bereitschaft zur Verwandlung, die Fähigkeit, sich in Anlehnung an ein Wort von Goethe „bildsam“ zu erhalten. Jede Statik gilt es zu vermeiden, denn: „Die Nichtverwandelten sind an sich selbst zu Grunde gegangen“ (MJN 1034). Die letzte Szene vollzieht sich im Speiseraum der ‚Auberge des Echelles‘ in Porchefontaine, es ist eher ein Unort, umgeben von Zeichen der Zivilisation und inmitten von Lärm. Gleichwohl ist dieser Ort abgetrennt vom Alltagsleben, von den „seltsamen Kriegen“ der Wanderer gegen alle Radfahrer, der Raucher gegen die Trinker, der Briefschreiber gegen die Telefonierer, der Schweinekämpfer und Kriegsverbrecher (MJN 1050 f.). Die Freunde finden sich ein zur „Stunde des Erzählens“. Sie berichten ihre unterschiedlichen Geschichten, doch am Ende wird mit der Geschichte des Kochs, des „kleinliche[n] Prophet[en]“ (MJN 1058), eine zentrale Prophezeiung benannt, die dieser einst falsch verstand (MJN 1060). Die Stimme aus dem Dornbusch deutete er als Aufforderung zum Handeln einerseits und zum Eintreten in die Geschichte andererseits. Doch in Wahrheit, so erkennt er jetzt, kommt es auf eine Neuschöpfung der Welt an, die das Historische wieder zum Märchen werden lässt. „Aus den beiden entzweiten Geschichten soll eine dritte werden“ (MJN 1062). Die Erlösung der Menschheit ist nur über das Vergessen möglich und die einzige Vision die Bedeutung hat, ist „die Versöhnung“ (MJN 1063), allein sie ermöglicht ein „Ende“ (MJN 1066). Es ist kein Zufall dass der Sänger, der jetzt fehlt, gerade hier sein „Letztes Lied“ beginnen könnte (MJN 1067).
9.2 Rekonstruktion von Leben: Die Morawische Nacht. Erzählung (2009) Der Text aus dem Jahr 2009 antwortet sowohl auf das Jahr in der Niemandsbucht von 1994 als auch auf den Bildverlust aus dem Jahr 2002. Sowohl das Konzept einer Autofiktion im ersten Text, das sich aus einem engen Zusammenspiel von faktualem und fiktivem Erzählen, autobiographischen und fiktiven Textelementen herleitet, als auch die erzähltheoretische Reflexion aus dem zweiten Text werden
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jetzt zusammengeführt und auf eine neue und fast spielerische Art miteinander verknüpft. Dabei ist auffällig, dass der Schluss der Erzählung alles, was vorher erzählt wurde, die lange Reise durch Europa und das Gastmahl der Freunde auf einem Schiff am Ufer der Morawa, wie eine phantasmatische Konfiguration erscheinen lässt, die nicht aus der Abbildung von Wirklichkeit, sondern allein aus einer durch das Erzählen verbürgten Phantasie hervorgeht. Als eine Vorausdeutung auf den Schluss des Textes, in dem sich die Koordinaten von Raum und Zeit auflösen, lässt sich eine Passage lesen, in welcher der Erzähler mitteilt, dass die Reise des früheren Autors „in keiner Zeit“ stattgefunden habe und erklärend hinzufügt, dass das, was in dieser Reisegeschichte eigentlich zählt „alle Zeiten“ sind, „miteinander, durcheinander, gegeneinander – parallele, gegenläufige, einander zuwiderlaufende, durchkreuzende“ (MN 45). Ergänzt wird diese Beschreibung durch eine Reflexion über das Erzählen selbst. Dem poetologischen Begriff der „Erzählzeit“ werden die auch im Don Juan verhandelten Begriffe von „Zählzeit“ und „Erzählzwangzeit“ an die Seite gestellt, die Handkes eigener Poetologie angehören: Sie umschreiben unterschiedliche Strategien, um lebensgeschichtliche Abläufe so wiederzugeben und zu verknüpfen, dass sie einander erläutern oder korrigieren. Dass das Ende der Erzählung auszulöschen scheint, was das Erzählen vorher konstruiert hatte, spiegelt konsequent die zentrale Problematik, die der Text als ganzer umkreist. Nicht anders als vorangehende und folgende Texte ist auch die Erzählung der Morawischen Nacht durch das Thema der Identität zentriert, zugleich macht sie deutlich, dass diese als unverwechselbare Ganzheit nicht mehr durch ein unverstelltes Erinnern oder Erzählen abgebildet werden kann. Sie lässt sich vielmehr nur durch ein komplexes Erzählspiel rekonstruieren, das auf den Sachverhalt antwortet, dass sich die traditionelle Vorstellung unverwechselbarer Identität an jeder Stelle der modernen Erfahrung der Diffusion von Identität konfrontiert sieht. Damit verweigert der Text eine Eindeutigkeit, die viele suchen. Schon die Erzählanordnung macht dies deutlich. Sie umkreist zum einen, nicht zuletzt dadurch, dass sie mehrere Figuren zusammen mit dem Erzähler erzählen lässt, die Identität einer Figur, die als der „frühere Autor“ bezeichnet wird, und sie lässt gleichzeitig erkennen, dass diese wie in einem filmischen ‚Morphing‘ die Konturen einer anderen Identität überlagert, es ist die des wirklichen Autors. Weil diese aber niemals als ganze erkennbar wird, sondern nur in unterschiedlichen Segmenten aufscheint, muss sie der Leser erst noch konstruierend und rekonstruierend zusammensetzen (Müller 2017). Dadurch wird er zum Mitakteur eines Erzählspiels, seine Rolle lässt sich der eines Filmzuschauers vergleichen, der angeregt durch die Bildfolgen, welche die Schnitte eines Films aneinander reihen, sich mental eine Kohärenz konstruiert, die der Film selbst niemals en detail ausführt. Diese vom Text intendierte Anforderung an den Leser wird in einer fast beiläufigen Episode deutlich. Diese schildert auf den ersten Blick eine Liebesbeziehung und ist doch zugleich eine dem Text eingeschriebene Werk- und Schreibphantasie des Autors, der sich nicht allein seinen Text sondern auch seinen
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Leser entwirft. Der „frühere Autor“ erzählt davon, wie er mit der Frau, die ihm von seiner Reise bis auf das Boot gefolgt ist, ein „anderes Zeitmaß“ fand, dass sie „Augen füreinander bekamen, gleichzeitig“ und sie schließlich fähig wurden, „in ein anderes System, […] von der einen Welt in eine zweite“ überzugehen. Dies geschieht in dem Augenblick, in dem er die Frau als Leserin eines Buches wahrzunehmen glaubt, wie er es sich „immer erträumt hatte in der Hand eines erträumten Lesers“. Die Bedeutung dieses Bildes wird mit dem Hinweis auf eine filmische Präsentationstechnik verbunden: Der besondere Augen-Blick dieser Wahrnehmung wird mit dem Fischaugenobjektiv einer Filmkamera fokussiert (MN 264 f.). Die Komplexität der geschilderten Erzählstrategie verbindet sich in diesem Text allerdings auch mit einem gegenläufigen Prinzip, das eine entscheidende Akzentverschiebung gegenüber vorangehenden Texten des Autors deutlich werden lässt. Der Konstruktion von Erzählen, der sich die einzelnen Episoden wie auch der gesamte Text der Niemandsbucht verschrieben haben, steht in der Morawischen Nacht eine Rekonstruktion von Leben gegenüber, die viel massiver und ausführlicher ist als in diesem Text. Nicht nur deshalb, weil sie lebensgeschichtlich weiter zurückreicht, sondern vor allem deshalb, weil sie bislang nur angedeutete oder bewusst chiffrierte Themen, die das Gesamtwerk Handkes strukturieren, entweder in der Form unverstellter Berichte und Reflexionen des Erzählers oder im Modus der ästhetischen Transformation in eine erfundene Geschichte präsentiert. Dem narrativen Muster einer Rundreise durch Europa folgend, die den Ort des ersten Schreibens, den Herkunftsort des Vaters, den letzten Wohnort der Mutter und schließlich die Dörfer der eigenen Kindheit berührt, entfaltet der Text eine Auseinandersetzung mit Vater- und Mutterwelt, er rekonstruiert die Entwicklung des „früheren Erzählers“ zum Autor und die damit verbundenen Orientierungen. Darüber hinaus gibt er einen schonungslosen Bericht über die Einschätzung des Autors durch Literaturkritik und öffentliche Meinung, der sich im Modus einer kaum verschlüsselten Selbstkritik präsentiert. Nicht zuletzt im Kontext dieser Schilderung spielt das Thema ‚Balkan‘ eine besondere Rolle, weil es auf mehreren Ebenen verhandelt wird. Es weist nicht nur auf einen kontroversen politischen Diskurs, den Handke explizit als öffentlicher Intellektueller und verdeckt als Autor führt, sondern es markiert zugleich unterschiedliche Strategien einer poetischen Transformation des „bloß Wirklichen“, des Faktualen und Politischen in Handkes Schreiben.
Balkan als Thema und Metapher: Der doppelte Balkan Der öffentliche Diskurs über Handkes Haltung gegenüber Serbien und dem Balkankrieg fokussierte sich auf eine politische Frage und verdeckte fast völlig den Sachverhalt, dass sich die Attacke des Autors auf den medial vermittelten Diskurs nicht allein auf ein politisches Urteil gründete, sondern auch eine zentrale lebensgeschichtliche Fundierung von Handkes poetischen Strategien berührte. Die Einsicht, dass der unvoreingenommene Blick für die Dinge, den er als Autor beansprucht, in Wahrheit auf eine Prägung in der Welt des Kindes zurückgeht,
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gewinnt im Zuge der öffentlichen Auseinandersetzung offensichtlich noch mehr Bedeutung als in seinen früheren Texten. Deshalb beruhen auch seine politisch lesbaren Äußerungen implizit auf einer Verteidigung der Kindheit und dem eigenen poetischen Entwurf der Welt zugleich. Die zunehmend formelhaft eingesetzte Bezeichnung ‚Balkan‘ verwandelt sich zu einer Metapher, die völlig unterschiedliche Bezugsfelder haben kann. Einerseits verbindet sich mit ihr die Erinnerung an eine kindliche Erfahrung, die Namen und Bilder bewahrt und zugleich die Phantasien und ganz persönlichen Inbilder hervorbringt, die den Autor ein Leben lang begleiten. Andererseits entfaltet das Wort ‚Balkan‘ eine politische Phantasie, die den ehemaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien zum Modell für ein spannungsfreies Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien macht, eine rückwärtsgewandte Utopie, die spätestens im Balkankrieg zusammenbricht (Honold 2017, 394). Der Text der Morawischen Nacht, der auf den Balkan schon durch seinen Titel Bezug nimmt, entfaltet diese zwei Bezugsfelder gleichermaßen, doch anders als vorangegangene Texte. Entschieden anders vor allem als der Bildverlust, trennt er die beiden Bezugsebenen durch klare Grenzmarken. Auf diese Weise setzt er den poetischen und den politischen Diskurs gleichermaßen ins Recht. Zugleich werden in diesem Text die Grenzen zwischen Fiktion, Autofiktion und poetischer Reflexion deutlicher als in anderen erkennbar. Neben der Aufgabe der Konstruktion erhält der Leser die Möglichkeit zur Dekodierung der unterschiedlichen Textfelder, für die Lektüre folgt daraus, dass sie weniger auf ein lineares Lesen als auf ein segmentales Dechiffrieren setzen muss. Erkennen lässt sich zugleich, dass das Thema des ‚Balkan‘ unmittelbar mit dem des Schreibens verknüpft ist, denn die Erzählsituation erschließt nicht nur Bezüge auf andere Texte Handkes, sondern sie rekonstruiert auch den Ort und die Bedingungen des Schreibens. Nicht zufällig wird das Boot, das den Namen Morawische Nacht trägt, als ein „Fluchtort“ bezeichnet, es spielt damit eine ähnliche Rolle wie das Haus in der Niemandsbucht oder der Ort in der Mancha aus dem Bildverlust. Zugleich wird dieser Ort mit zwei Namen verbunden, die als Leitmetaphern und Erinnerungsbilder immer wieder dann in Handkes späten Texten auftauchen, wenn vom Schreiben und der poetischen Phantasie die Rede ist. Zum einen ist es Samarkand, der Name für einen Ort jenseits der Geschichte, und zum anderen die Stadt Numantia, die letzte Trutzburg der Keltiberer gegen das Reich der Römer. Einen Fluchtort bildet dieser Raum des Erzählens auch im historischen wie im politischen Sinn, weil sich dort Menschen aus Porodin und den Nachbardörfern zusammenfinden, Bewohner einer Enklave, die später noch ausführlich beschrieben wird. Überdies trägt das Boot der Morawischen Nacht die „übergroße Flagge“ eines längst versunkenen Landes und von seinem Bewohner wird es als Ort einer „autoproklamierte[n] Exterritorialität“ angesehen (MN 35). In ihr ruft der Erzähler, der „frühere Autor“, Zuhörer zusammen, um ihnen seine Geschichte zu erzählen, häufig aber erteilt er das Wort auch einem der ihren, weil einige von ihnen selbst Akteure in der zu erzählenden Geschichte waren (MN 31).
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Konterkariert wird diese selbstgewählte Exterritorialiät durch die Intensität der Bilder, die der frühere Autor in Begleitung eines anderen auf seiner ersten Reisestation wahrnimmt. Seine Busreise führt ihn nicht nur nach Porodin, sondern auch über diesen Ort hinaus in einen Bereich, in dem die Dorfbewohner ihre Hinterbliebenen bestatten, nachdem der Raum im Inneren des Dorfes nicht mehr ausreichte. Bei der Ankunft an dieser Begräbnisstätte verdichtet sich seine Wahrnehmung zu einer blitzhaften Erkenntnis des historischen Moments, denn die Gräber der in die Enklave Geflüchteten und dort Bestatteten sind vernichtet (MN 57). Damit präsentiert der Text eines der für Handke typischen Umsprungsbilder zwischen Außen- und Innenwahrnehmung (MN 77). Ihre Besonderheit ist, dass sie nicht nur disruptiv wirken, sondern dass sie die gegenwärtige Wahrnehmung mit Erinnerungen verbinden und sie dadurch lebensgeschichtlich konturieren. Dem Reisenden wird bewusst, dass die Mitreisenden Vertriebene dieses Dorfes sind, die zum Gedächtnis der Toten angereist sind und nicht nur diese, sondern auch die verlorene Zeit betrauern, in der es noch ein „Ein-Volk-Dorf“ gab (MN 87). Alles, was ihnen bleibt, ist die stumme Begegnung der einst miteinander Lebenden, die einander jetzt fremd erscheinen, wenn auch nicht unmittelbar feindselig. Ein einzelnes Kind aus dem „Feindvolk“ reagiert auf die früher Bekannten mit einem „verhohlen[en]“ Winken (MN 94), doch auf der Weiterfahrt durch die Umgebung der Enklave kommt es zu ersten Angriffen, zu Steinwürfen der Kinder in einem Bereich, in dem die alten Ortsnamen ausgelöscht und durch neue Namen in kyrillischen Schriftzeichen ersetzt sind (MN 100). Der Zornesausbruch, mit dem der Buschauffeur auf diese Situation antwortet, lässt sich zweifellos als ein Metadiskurs des Autors Handke lesen, der dem Text eingeschrieben wird. Er benennt zunächst die zugrunde liegende politische Situation, die Loslösung einer Ethnie aus dem ursprünglichen Staat mit dem Ziel der Autonomie. Darüber hinaus bewertet er diese neue Ordnung als ein Beispiel für „de[n] moderne[n] Staat, den neumoderne[n]“, der auf einen Hass gegründet sei, der sich von Generation zu Generation vererbe (MN 104). Manches spricht dafür, dass die politische Haltung, die dieser Sprecher für sich beansprucht, mit den politischen Ansichten des Autors Handke übereinstimmt. Dies umso mehr, weil er als sein Ideal die „Staatenlosigkeit“ bezeichnet und sich selbst einen Apachen nennt, der fern von der Welt stolz auf sein Reservat ist (MN 106). Es ist ein Bild, das Kafkas Amerika-Roman in der Figur des „Negro“ benennt und das Ernst Jünger mit seiner Leitfigur des „Waldgängers“ aufnimmt (Neumann 1985, 61; Politzer 1965, 230; Jünger SW-7, 317, 349). Beeinflusst von dieser Haltung grundsätzlicher Distanz, die der Blick aus der Exterritorialität ermöglicht, nimmt der Reisende die unterschiedlichen Grenzen wahr, die er bis nach Belgrad zu überschreiten hat. Im gleichen Zug setzt seine „Entfremdung“ von der Welt des Politischen poetische Bilder und Phantasien frei: Die politische Reflexion und die Genauigkeit des Ästhetischen interferieren. Der Abschied des früheren Erzählers von einer schönen Fremden steht im Zeichen einer Linde, er hört eine Frau einen „Gesang aus dem tiefen Balkan“ singen (MN 112). Zugleich hat er den Wunsch, sich von dem Balkan der Grenzstädte, „der tausend unsichtbaren, allesamt bösen und bitterfeindlichen Grenzen von Tal zu
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Tal, von Dorf zu Dorf, von Bach zu Bach, von Misthaufen zum Misthaufen“ (MN 113 f.) zu entfernen. Er wünscht sich zurück auf sein Hausboot an der Morawa und in den „anderen Balkan“ seiner Jugenderinnerungen. Dabei imaginiert er sich eine Brücke als Punkt der möglichen Rückkehr und verwandelt seine Wahrnehmung in eine Phantasie jenseits der Jetztzeit: „Die Inka sind nicht ausgestorben. Sursum corda!“ (MN 116). Doch der Text Handkes bleibt bei solchen Transformationen keineswegs stehen. Vielmehr wird die Balkanthematik im zehnten Abschnitt erneut und mit anderer Intensität aufgenommen. Während dort die politische Einstellung des wirklichen Autors Handke im fiktionalen Kontext problematisiert wird, verwandelt sich der Text stellenweise in eine Satire, beispielsweise dann, wenn der Erzähler das merkwürdige Hinsterben und die tödlichen Unfälle der letzten Anhänger der Vorstellung von einem großen und zusammenhängenden Land auf dem Balkan in einem anderen Europa beschreibt. Die wenigen Überlebenden der alten Ordnung treffen sich an wechselnden und geheimen Orten zu sogenannten Konferenzen. Der letzte Konferenzort, zu dem sich auch der Wanderer schließlich aufmacht, liegt in einer Doline, der Delana Dolina oberhalb von Triest, in einem Karst, von dem auch die Karstgebirge in Yucatan und Minas Gerais ihren Namen haben. Die Konferenz findet zu einer Zeit statt, in der nach Meinung des Autors eine neue politische Ordnungsvorstellung, nämlich „Mitteleuropa“ Bedeutung gewonnen hat. Er selbst ist allerdings der Meinung, dass im Namen dieses neuen Ordnungsbegriffs alles Balkanische, selbst die Erinnerung daran ausgelöscht wird (MN 512 f.). Nachdem von den Anhängern der jetzt anscheinend überkommenen Balkanidee viele auch im Zug gewaltsamer Auseinandersetzungen ums Leben gekommen sind, bleiben mit dem früheren Autor nur noch drei übrig, neben ihm ein ehemaliger Justizminister eines sehr großen Landes, der von niemandem mehr ernst genommen wird (MN 517), und eine ehemalige Motorradrennfahrerin aus Japan, jetzt Professorin für slawische Literaturen, die nach dem Tod ihres jugoslawischen Geliebten jedes Jahr den Balkan bereist. Sie versammeln sich unter einem Baum, an dem eine sowohl Lateinisch als auch Kyrillisch beschriftete, verrostete Schiffsglocke hing (MN 521). Diese satirische Zuspitzung wird mit dem Rückweg des früheren Autors zu seinem Schiff ebenso parallelisiert wie mit seinem mentalen Abschied von dem, was er jenen Balkan nennt, „der diesen Namen verdiente“. Es ist – hier werden vorangegangene poetische Bilder des Textes zitiert – ein Bereich, in dem Erinnerungen und Bilder von anderen Gegenden, Erfahrungen und Zeiten zusammenkommen. Sie bilden ein Ensemble von „Einsprengsel[n]“ und zwar solchen „in der Zeit und in den Räumen“ zugleich (MN 524). Diese Vorstellung vom Balkan korrespondiert den Erinnerungen, die von der Raum- und Zeitinsel des Schiffes der Morawischen Nacht ausgehen, während der Ort Porodin, den der Wandernde zu Beginn und am Ende seiner Reise aufsucht, ein Bezirk ist, der die Signatur der Geschichte trägt. Ohnehin ist er die Fiktionalisierung des authentischen Porodin, von dem der Autor Handke zweimal berichtet (WR 75; UT 60).
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Frei von der Geschichte wird der frühere Erzähler erst durch die Bewegung im Raum, die es ihm ermöglicht, seinen Blick allein auf Pflanzen und Tiere zu richten. Im Verlauf der Reise und Wanderung wird es ihm möglich, seinem politischen Urteil über den Zusammenbruch des alten Balkan ein poetisches Bild entgegenzusetzen, das sich den politischen Begriffen entzieht, indem es an die Stelle der Reflexion die Unmittelbarkeit einer Körpererfahrung setzt: „das alte junge Europa erwachte […] in seinem dahingehenden Körper, in dessen Zwischenräumen, und weniger die Länder als diese und jene Winkel, und die Winkel verbanden sich, als andere Gelenke, ohne Grenzen, ohne eine Grenze“ (MN 529). Allerdings hat diese Wahrnehmung keine Dauer. Die Signatur der Gewalt, die Porodin beim ersten Besuch kennzeichnete, wiederholt sich in verzerrter Form beim zweiten Aufenthalt des früheren Autors, bei dem er den Ort „desenklaviert“ vorfindet. Keine kyrillischen Buchstaben sind mehr zu sehen, waffenlos aber gut überwacht zeigt sich der Ort, ohne sichtbare Zeichen des Krieges. Er hat sich in eine Erholungslandschaft verwandelt, gleichwohl beschreibt ihn der Zurückkehrende mit beißender Ironie. Er hört „das ständige Alarmschrillen aus den geparkten fabrikneuen Autos“ und bemerkt: „Fehlten nur noch Fußgängerzonen und das Lächeln tibetanischer Mönche. Fehlten sie?“ (MN 545). Die neuen Bewohner erscheinen ihm als bloße „Stellungshalter“ (MN 546), die Idylle als eher bedrohlich. Hinter der schönen Fassade sieht er die verlassenen Häuser und die Zeichen der Ausgewanderten, die langen Jahre der früheren Umzingelung haben bei ihm ein Gefühl der Gefahr bewahrt, das er auch jetzt nicht los wird. Doch das ist nicht alles. Um zurück zu seinem Boot zu kommen, muss er die Bombentrichter aus dem Zweiten Weltkrieg durchqueren, die nur an die erste von drei Bombardierungen erinnern, die das Land im 20. Jahrhundert erleiden musste (MN 550). Eine Unterbrechung erfährt sein Weg beim letzten der Trichter, er stammt von einer Bombe aus dem bisher letzten Krieg, die ziellos nach dem Angriff auf die Brücke von Varvarin und die darauf feiernden Menschen abgeworfen worden war (MN 552). Seine kreisförmige Wanderung durch Europa beginnt sich an einem Punkt zu schließen, an dem ein von Gewalt gezeichneter Kreislauf der Geschichte sichtbar wird. Der Krieg, der Voraussetzung dieser Erzählung ist, markiert nicht nur eine einmalige Katastrophe, sondern er wird zugleich zu einer weltgeschichtlichen Signatur, die der Autor später im Großen Fall beschreibt und gegen die er sich in der Morawischen Nacht mit politischer Reflexion und ästhetischen Strategien zugleich zur Wehr zu setzen versucht.
Die Wiedergewinnung der eigenen Vergangenheit Die Spannung zwischen dem Politischen und dem Poetischen, die sich im Nachdenken über das Thema ‚Balkan‘ verdichtet und die durch den zweimaligen Aufenthalt in Porodin einerseits und die Beschreibung des Wegs dorthin andererseits konträre Bilder zugeordnet bekommt, wird in zwei weiteren Episoden narrativ entfaltet, mit denen zugleich die Grenze zwischen Autofiktion, Fiktion und Satire
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spielerisch überschritten wird. Es ist zum einen die Beschreibung von der Fortsetzung der Reise des früheren Autors in Österreich und zum anderen der Bericht über seine Teilnahme an einem Weltkongress der Maultrommelspieler, eine märchenhafte Episode, die sich zugleich als Satire lesen lässt. Seine Wanderung vom Wiener Flughafen in die Stadt erweist sich als eine spiegelbildliche Entsprechung der Reise zum Vater in Deutschland. Beide Geschichten verfügen über eine autofiktionale Einschrift, setzen aber unterschiedliche Akzente. Die Reise nach Deutschland betont in erster Linie eine lebensgeschichtliche Linie, die Reise nach Österreich umkreist die Bedingungen von Autorschaft. Dies kündigt sich bereits auf dem Flug nach Wien an, der die Linearität der Erzählung psychologisch bricht. Er erscheint nicht nur wie ein Austritt und anschließender Wiedereintritt in die Zeit, sondern er inszeniert zugleich ein Wechselspiel von Andenken und Eingedenken. In Wien gelandet, beschließt der frühere Autor, seine europäische Wanderung durch einen Fußmarsch vom Flughafen in die Stadt Wien fortzusetzen, die er als „Zentrum seines Irregehens“ (MN 316) bezeichnet, weil er sich in ihrem inneren Bezirk regelmäßig verirrte. Zweifellos spiegelt sich in dieser metaphorisch lesbaren Anekdote die frühere Einstellung des wirklichen Autors zu Österreich. Doch ebenso wie das Bild Deutschlands hat sich jetzt der Blick auf Österreich entscheidend verändert: „Von dem einst großen Reich war nur das Labyrinth in seinem Zentrum geblieben? Nein, mit dem, wie sagte man?, neugeordneten Europa schien etwas davon zurückgekehrt, zumindest bei manchen Landsleuten, vor allem den jüngeren“ (MN 318). Das „altbekannte Maulheldentum“ scheint zu verschwinden, die „Blicke waren kein ‚Geschau‘ mehr, durften ‚Blicke‘ oder ‚Schauen‘ heißen, und vor allem waren es, wenn überhaupt welche laut wurden, die Stimmen, die – hörte er da aber recht? – Selbstverständlichkeit zusammen mit Ruhe ausstrahlten“ (MN 319). Es scheint, als habe sich jetzt eine europäische Utopie vollendet, die nach der Selbsteinschätzung des früheren Autors immer auch Zentrum seiner Bücher gewesen war. Die neue politische Konstellation eröffnet auch eine neue Sprache und macht Wahrnehmungen möglich, die früher dem fiktionalen Text vorbehalten waren. Diese Veränderung wird durch den Bezug auf ein anderes Medium beschrieben. Die Wanderung in die Stadt entfaltet Filmbilder, gleichzeitig stellen sich so intensive Erinnerungen an Bilder von Orten und Landschaften des Balkans ein, dass der Wandernde am Ende verwundert ist, auf dem Land nur den österreichischen Dialekt zu hören, während er selbst schon die Donau als Dunav zu bezeichnen beginnt (MN 331). Parallel zu dieser Gewinnung einer neuen Wahrnehmung steht eine Episode, die dem früheren Erzähler auf unvermutete Weise Kreativität bescheinigt. Auch sie trägt zugleich poetische und satirische Züge und bezieht die poetische wie die politische Phantasie aufeinander. Der Wanderer kommt zum „Gasthaus der Namenlosen“, einem Gebäude „mehr Bauernhaus als Gasthof“ (MN 337 f.), dessen Bewohner er auf den ersten Blick für Insassen eines Flüchtlingslagers hält, bevor ihm klar wird, dass es sich um die Teilnehmer an einem Weltkongress der Maultrommelspieler handelt. Es ist ein Bereich, der wie eine Gegenwelt zu dem durch Krieg und Vertreibung beherrschten Porodin erscheint. Die Teilnehmer
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am Kongress sind allesamt Individualisten, die von überallher, aber zugleich, so formuliert es der Erzähler metaphorisch, „aus keiner Herren Land“ (MN 347) kommen. Und obwohl er zunächst nur „Wut“ (MN 348) verspürt, weil er viele der gespielten Lieder für affirmativ hält, beteiligt er sich schließlich selbst, so berichtet ein anderer Teilnehmer erstmals auf dem Schiff der Morawischen Nacht, am Wettbewerb und es gelingt ihm, einen eigentümlichen Ton zu finden, einen „Traumton, […] aus der Scheidelinie zwischen Schlaf und Erwachen, ein[en] Schwellenton“ (MN 351). Dieser Ton erschließt eben das, was Motto dieses Weltkongresses ist, eine „Mittelwelt“ (MN 352). So wird der Kongress zum poetischen Bild einer Vereinigung von Völkern, sozialen Klassen und Individuen, das in scharfem Gegensatz zu dem Schrecken steht, den der an den Gasthof angrenzende Friedhof der Namenlosen dokumentiert und den die Erinnerung an den kriegszerstörten Balkan bewahrt.
Einschrift des Realen: das Thema der Schuld Deutlicher als andere Texte Handkes entfaltet die Morawische Nacht im Zuge einer Reise des früheren Autors eine autofiktionale und autoanalytische Linie, die seine eigene psychische Disposition ebenso wie familiale Konstellationen neu bewertet. Im Bericht über seine Reise erzählt der frühere Autor von einer Schuld, die einerseits mit dem Schreiben selbst und andererseits mit seiner Familie zusammenhängt. Damit werden seiner Geschichte lebensgeschichtliche Erfahrungen und Konditionierungen des Autors Handke eingeschrieben. Die Formel, dass den früheren Autor das „Gefühl einer Schuld, einer unbestimmten, einer insofern unheilbaren“ bestimme (MN 222), eröffnet für ihn wie für seinen Erfinder eine Konstellation, die Schreiben und Leben unmittelbar und mitunter auf fatale Weise miteinander verknüpft. Drei Bezugsfelder erweisen sich hier als bestimmend. Erstens die frühe Beziehung zu einer jungen Frau auf der Insel, die zum Ort der ersten Schreibversuche wird, zweitens die Lebensgeschichte seiner Mutter und drittens die lebenslange Auseinandersetzung mit dem absenten Vater. Indem der frühere Erzähler die Orte aufsucht, die diese Beziehungen bestimmten, unternimmt er zugleich eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit. Erinnerung und Autoanalyse werden dadurch im Text unmittelbar aufeinander bezogen. Die Zeitmarke, die der Reisende auf seinem Weg zurück in die Orte der Jugend durchschreitet, wird durch eine räumliche Markierung ergänzt, die geeignet ist, eine psychische Grenze zu chiffrieren. Es ist ein Bild, das in vielen Texten wiederkehrt. Wie die Protagonistin im Bildverlust, die sich in den „Einbaum der größeren Zeit“ hinein phantasiert (BV 602), muss der Reisende einen Tunnel durchqueren, an dessen Ende die Vaterwelt beginnen kann, die mit den Phantasien der Jugendzeit verbunden ist. Auch damit wird deutlich, dass die doppelte Geschichte des früheren Autors und seines Erfinders, die von drei ganz unterschiedlichen Beziehungen erzählt, durch die Darstellung einer psychischen Disposition zentriert ist (MN 274). Es ist eine grundsätzliche Erfahrung von Entfremdung, die sich im Schreiben wiederholt und zugleich dessen Voraussetzung ist.
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Aus dieser Spannung resultiert eine dissoziative Selbstwahrnehmung. Ein Begleiter, der zunächst die Geschichte des früheren Autors weiterführt (MN 225), beobachtet, wie dieser zuerst in die Luft und dann auf das Glas des Zugabteils zu stricheln beginnt (MN 227). Später beobachtet er den Autor in einem Leichenzug (MN 230), wie er dort immer wieder über die Schulter sieht, um sein Raumsehen zu schärfen, auch in einer „Meermarkthalle“ nimmt er ihn wahr (MN 233). Mitunter erscheint der Autor als sein eigener Doppelgänger, sein Auftreten wirkt wie ein „Spiel mit sich selber, mit der eigenen Einbildung“ (MN 237). Doch zugleich wird an ihm noch eine ganz andere Seite erkennbar. Im Halbdunkel einer Spielhöhle zeigt sich sein Gesicht verzerrt und voll „Ungeduld mit sich selber, mit der Welt, mit dem Raum, mit der Zeit, mit der Nacht“ (MN 238). Der Beobachter stellt sich die Frage, ob dies das wahre Gesicht des früheren Autors sei, sein „wahres Ich“ oder nur irgendein anderes oder gar eine Verdoppelung von diesem selbst. Und in der Tat: Es gibt eine andere Seite, über die der frühere Autor selbst zu sprechen beginnt. Er berichtet zunächst vom Scheitern seiner Beziehungen zu Frauen, er erkennt, dass er als „der Schreiber, als der er sich verstand, kein Recht“ hatte, „zugleich mit einer Frau zu sein“ (MN 242). Schreiben bedeutet für ihn „ein Dritter zu sein, und nicht Teil eines Paars“ (MN 243). Deshalb empfindet er Schuld gegenüber seinem „Schreiberleben“, das „bei Seelentodesstrafe“, ein Leben „jenseits der Geschlechterliebe“ verlangte (MN 243). Er berichtet ausführlich von seinem Kampf mit einer Frau, unverstellt schildert er eine Gewalthandlung gegen diese und offenbart die tödlichen Gewaltphantasien, die ihn dabei zusätzlich begleiteten (MN 248). Seine Geschichte, die sich mit der des wirklichen Autors berührt, enthüllt eine psychogrammatische Struktur, die er selbst erkennt (MJN 189; IN 106, 159; Carstensen 2014, 59–61). Seine Selbstdarstellung und sein Selbstverständnis als Schreiber erklären sich daraus, dass er „entschlossen ein Niemand geworden war […] grundanders als der und der Autor“ (MN 249 f.). Als er im Verlauf seiner Rundreise die Morawische Nacht zu vergessen beginnt und sich seine Wanderung „weg vom vermaledeiten Balkan“ auf die Insel seiner Schreibanfänge richtet (MN 123), wird er allerdings mit einer ganz anderen Schuld konfrontiert. Offen wird er jetzt auch für Erinnerungen, die Reise im Raum wird zu einer mentalen Zeitreise. Sie führt ihn über den Ort seines Anfangs, natürlich ist es Handkes Insel Krk, als Autor auch in die früheren Lebensbereiche von Vater und Mutter, die zugleich, im Falle des Mädchens und des Vaters einen verdeckten, im Fall der Mutter einen offenen Kreuzungspunkt von Lebens- und Werkgeschichte markieren. Zunächst kehrt er an den Ort zurück, an dem sein Schreiben begann. Er denkt dabei an die Schuld, die er dadurch auf sich geladen hat, dass er als Schreiber seine Beziehung zu der jungen Frau von der Insel zerstörte. Klar wird ihm dies, als er in einer Bettlerin am Kirchtor Antje, das Inselmädchen aus dem Sommer seines ersten Buches wiedererkennt. Ihr folgend will er sich zunächst in der Erinnerung an die frühere Zeit beruhigen, indem er die Distanz eines Beobachters einnimmt und diese formelhaft bekräftigt: „Sich nirgends einmischen. Geschehen lassen.
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Sein lassen: Das war Teil seines Gesetzes geworden. Und doch. Und doch“ (MN 151). Aber die Haltung aus dem Chinesen des Schmerzes (CS 252), die hier zitiert wird, erscheint jetzt nur noch als ein abgelebtes Gesetz, das mit der Wendung „und doch“ eine entschiedene lebensgeschichtliche Infragestellung erfährt. Text und Leben sind aufeinander bezogen und sollen sich wechselseitig begründen, doch an dieser Stelle widerlegt das Leben die Bilder der Fiktion, die der frühere Erzähler von jener Zeit bewahren wollte. Er erfährt, dass das Mädchen von ihm ein Kind erwartete und sie wirft ihm vor, dass er dieses und im übertragenen Sinn auch sie getötet habe (MN 152). Die Reaktion des früheren Autors ist ein Gefühl der Gefährdung, das sich auf seine Zuhörer überträgt, es ist die dialektische Grundfigur, die zunehmend Handkes Wahrnehmung sozialer Beziehungen und Verhältnisse bestimmt. Diese Dialektik bestimmt auch die Erinnerung an Vater und Mutter. Zunächst führt die Reise auf den Spuren der Familiengeschichte in den Bezirk des Vaters, des leiblichen Vaters von Handke. Ausdrücklich heißt es, dass das Ziel dieser Reise in die Vergangenheit nicht so sehr das Grab des Vaters sei als vielmehr der Versuch, die „Vaterlandschaft“ kennenzulernen und alles Gesehene in Form von „Seh- und Hörbilder[n]“ an die Fremde zu übermitteln (MN 286). Zum ersten Mal wird sich der Wandernde darüber klar, dass er, obwohl die Mutter früher nie etwas vom Vater erzählte, ein „Kind der Liebe“ war (MN 288). Diese Erkenntnis macht ihn offen für Wahrnehmungen, befreit ihn von der bedrohlichen Vaterobsession, die sein Leben und Werk wie das seines Erfinders durchzogen hatte. Bewusst nimmt er jetzt „Zonen“ wahr, zwischen West und Ost, Inselgebirge und Landschaft. Schließlich erweitern sich seine Landschaftswahrnehmungen zu einer Vorstellung von Deutschland, die ganz anders ist als jene, an die sich der Autor Handke früher voll Hass erinnerte: „Ein friedlicheres Land als dieses sollte er nicht durchwandert haben, weder vorher noch nachher“ (MN 291). Er sieht auch ein Deutschland, in dem es Bücher gibt und in dem gelesen wird: Sein eigenes Buch findet der Autor, wenn auch im Sperrmüll, auf der Straße. Überdies entdeckt er in diesem Deutschland die durch „Lesen sich öffnenden Zwischenräume[.]“ (MN 292). Es ist ein Bild, das Handkes Texte immer wieder einer „anderen“ Form der Wahrnehmung zuordnen und es ist eine zentrale Metapher, mit welcher der Autor auch seinen eigenen poetischen Zugriff auf die Wirklichkeit umschreibt. In diesem Wahrnehmungsraum Deutschland gelingt der Blick auf das Einzelne. Er ist charakteristisch für einen Autor, dem schon „in seiner Schreiberzeit nachgesagt worden war: er sei eher ein Zeichner von Einzelnem, Dingen wie Menschen“ (MN 294). Der Wandernde fühlt sich geborgen in dieser Gegend des Harz, die an den Vater erinnert. Er fühlt sich durchaus nicht bedroht von „gleich welchem deutschen Volk“, vielmehr sind „er und die Zeit […] für einmal im Gleichmaß“, die „zitternde Sekunde“ bleibt aus, einen Schutzengel braucht er „in diesem Deutschland nicht“ (MN 295 f.). Nur vorübergehend scheint dieser Zustand gefährdet, als der Wandernde die Schüler eines Internats beobachtet, gewiss eine Reminiszenz an das authentische Tanzenberg der Jugend Handkes, und sich, von außen auf das Gebäude blickend,
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dessen Inneres imaginiert. Allein jetzt, in der Verknüpfung dieses Deutschlandbildes mit eigenen Erinnerungen könnte die „zitternde Sekunde“ stattfinden (MN 299), doch die früher dominante Assoziation eines fremden und strafenden Vaters kommt nicht zurück. Die mentale und physische Rückkehr in die familiale Vergangenheit macht jetzt nicht den Vater sondern den Sohn zu einem Schuldigen. Dem früheren Autor wird bewusst, dass er „kein Bild von dem Vater“ hat, dass er mit diesem nicht mehr sprechen kann und dass er es versäumt hat, die Mutter nach ihm zu fragen. Diese unterbliebenen Fragen haben ein „bitterliches Schuldgefühl“ (MN 301 f.) zur Folge und bringen Zorn auf sich selbst hervor: „Ah, meine verdammte Vaterlosigkeit! Ohne Vater: außerhalb des Rechts“ (MN 302; vgl. VB 150, 419). Auch diese Szene erhält eine eindringliche psychische Kontur durch die Phantasie eines alten Weibes, das den Vaterlosen beschimpft und ihm einen Tod als Menschenfeind prophezeit (MN 303–305). Die lebensgeschichtliche Bedeutung der Auseinandersetzung mit der Mutter, die ebenfalls im Fortgang der Wanderung erfolgt, zeigt sich nicht zuletzt daran, wie die Erinnerung an sie textuell inszeniert wird. Denn es heißt, dass sie dem früheren Autor nicht nur im Traum erscheint, sondern dass dieser ihr Gesicht zumindest einmal auch als eine „Erscheinung“ wahrnimmt, die „grundanders als ein[.] Traum“ ist, denn sie kommt plötzlich, wirkt wie ein „Bildeinschuss mitten ins Herz“ und verschwindet danach zwar wieder, brennt aber ein Nachbild ein (MN 499 f.). Der Text zeichnet die Intensität dieser „Erscheinung“ einerseits dadurch nach, dass er das Bild wie eine filmische Nahaufnahme beschreibt, der Wandernde sieht: „Einzig das Gesicht der Mutter, vom Dunkel umgeben“. Andererseits psychologisiert er diese Wahrnehmung dadurch, dass er sich – der filmischen Technik von Schuss und Gegenschuss folgend – auf den Blick der Mutter konzentriert und den Gegenblick des Sohnes nur umschreibt: Die Augen der Mutter sind „schlichtweg gegen ihn, wie er war, oder wie er gewesen war“ gerichtet „und das aber mit all dem Feuer, das von den sonst sanften Augen der Mutter ausgehen konnte, und noch einem Feuer, darüber hinaus“ (MN 500). Dieser Mutter gegenüber fühlt sich der frühere Erzähler, den eine Fremde schon vorher als „Muttersohn“ (MN 273) beschimpft hatte, „weiterhin schuldig“ (MN 431), er ist überzeugt, dass er sie im Stich gelassen hat, dass ihr Tod letztlich durch ein „wie einverstandenes Geschehenlassen“ verursacht wurde. Es weckt immer wieder sein „Grundschuldbewusstsein“, dass sie in seinen Träumen auftritt, „worin dann regelmäßig der Tod bevorstand; worin sie jedes Mal neu wieder im Sterben lag“ (MN 431). Sein Schuldbewusstsein ist auch verantwortlich dafür, dass ihm am Kindheitsort kein nachfühlendes Wiedererleben der eigenen Kindheit mehr möglich ist, vielmehr hat der frühere Autor den Eindruck eines Absturzes im Traum, aus dem er allerdings von der mütterlichen Stimme zurückgerufen wird. Im Traum erklärt die Mutter ihren Sohn für unschuldig, kritisiert seine falschen Annahmen, vor allem die Meinung, dass er keine Frau an seiner Seite dulden könne. Fälschlich habe er ihr ein unglückliches Leben zugeschrieben und sie beschuldigt, nur seinen Vater, nicht aber den Bruder geliebt zu haben und nicht die Wahrheit zu sagen, als sie ihm schrieb, sie sei ganz glücklich zu sterben. Dem allem widerspricht sie und folgert: „Zwar fürchtete ich dein wie deines Bruders
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Verlorengehen: Aber das deine konnte ich mir nie so recht vorstellen“ (MN 501 f.). Sie beharrt darauf, ein glückliches Leben gehabt zu haben und deklariert: „genug der Schuld und genug des Schuldsuche. Genug der Selbstmarter und des Marterns der andern, die jedoch jeweils die deinigen waren, die deinigen sind“ (MN 502).
Phantasien von Autorschaft Die mit der voranstehenden Episode auf dem Weltkongress der Maultrommelspieler zusammenhängende Strategie einer poetischen Verwandlung der Welt wird in der Morawischen Nacht nicht zufällig im Augenblick einer Krise thematisiert, dann nämlich als sich der frühere Autor auf den Weg zu der Insel macht, die der Ort seiner ersten Schreibversuche und zugleich einer Schuld ist. Eben dies korrespondiert einem Doppelspiel, das als konstante Grundfigur Handkescher Texte ausgemacht werden kann. Auf verstörende Irritationen, hier sind sie durch die Begegnung mit der eigenen Vergangenheit und dem familialen Umfeld ausgelöst, antwortet der Versuch, sich als ein Autor zu behaupten, der auf eine Verwandlung der unmittelbaren Wahrnehmung und Erfahrung abzielt. Der Text zeichnet nach, dass Handke hier zwei unterschiedliche Wege geht, die sich im Verlauf des Werks ausdifferenzieren, bevor sie schließlich nicht selten synchronisiert werden. Der Entwurf eines eigenen Schreibstils und die Pointierung eigener Wahrnehmung entfalten sich neben dem bewussten Rückgriff auf die literarische Tradition. Damit wiederholt die Erzählung eine Grundfigur, die sich bereits im früheren Werk Handkes auseinandergelegt hatte. Neben der radikalen Subjektivität der Stunde der wahren Empfindung bildet sich ein Rekurs auf die literarische Tradition heraus, der mit der Langsamen Heimkehr eingeleitet wird. In der Erzählung der Morawischen Nacht werden beide Möglichkeiten des poetischen Selbstentwurfs nachgezeichnet und zugleich in eine lebensgeschichtliche Dialektik eingerückt. Das erste Modell wird im Verlauf der Reise des früheren Autors zur Insel seiner Schreibanfänge nachgezeichnet. Der Reisende benutzt nicht mehr „die angestammten“ Ortsnamen oder er lässt die durchwanderten Orte namenlos sein. Die Insel, die er besucht, heißt deshalb bei ihm in der Erinnerung an einen Wildwestfilm Cordura, auch die ihm Begegnenden tragen außer Kobal und Keuschnig keine Namen (MN 124). Zweifellos ist diese Bewegung im Raum, deren Beschreibung keiner topographischen Genauigkeit folgt, vor allem eine Selbstfindung im psychologischen Sinn. Sie verbindet Erinnerung und Gegenwart, Außenwahrnehmung und Selbstwahrnehmung miteinander. Auf dem Weg in seinen Geburtsort erscheint ihm dieser wie eine „Fata Morgana, eine Luftspiegelung in seinem Inneren, aus einer sehr fernen Zeit?“ (MN 403). Und schon vorher hat der Wandernde den Eindruck, als trete er „mit der Gehzeit mehr und mehr, in seine Fußstapfen von ehedem, in Fußstapfen aus Luft, füllte mit dem Körper von jetzt Schritt um Schritt den luftigen Umriss seines Körpers von einst aus, und das ergäbe einen einzigen Körper, jenseits von einst und jetzt, einen Körper so fest wie nur je einen“ (MN 128).
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Dieses zugleich physische und psychische Bild folgt einer bewussten und intellektuellen Wahrnehmung. Der frühere Autor erkennt, dass am Ende allein das Schreiben den neuen und anderen Zustand bewahren kann, den er als seine „Selbstvergessenheit“ apostrophiert (MN 134). Indem es auf ein Buch zielt, begründet dieses ein „Gesetz“, das schon mit seinem Anfang in Kraft tritt (MN 135). Der frühere Autor ist, auch dies korrespondiert einer Grundfigur von Handkes Schreiben, ein „Nachbild-Maler“, der versucht, das „Innen des Außen“ (MN 390) zu erzählen. Diese Selbstgewissheit über den eigenen Modus des Schreibens und dessen Bedeutung wird in der Nähe des Ortes der Kindheit noch ausführlicher formuliert. Der frühere Autor begegnet dort Filip Kobal, der inzwischen ein Filmemacher geworden ist, und trägt diesem seine Auffassung von der Bedeutung des Schreibens vor, denn er ist überzeugt, dass „das Geheimnis der Zeit […] nicht verfilmt werden“ kann (MN 421). Gegen die Bilder des neuen Mediums mobilisiert er allein die Phantasie in der Literatur: „Franz Kafka war nicht tot. Franz Grillparzer und Adalbert Stifter lebten, mitten unter uns im Nebenraum. Samarkand war nicht weniger sagenhaft und wirklich als früher, war sogar näher gerückt, diesseits der Grenze, wenn auch zum Dorf geschrumpft, zum Nachbardorf […]“ (MN 420). In der Phantasie des früheren Autors entsteht eine geistige Genealogie, sie wird später durch die Begegnung mit einem Jungen ergänzt, der ihm als Autor nachzufolgen fähig ist. An ihm erkennt er eine „Osmose“, die „an Leib und Seele [geschah, denn] der abgedankte Autor, [hatte] den zukünftigen erkannt“ (MN 540). Ergänzt wird diese Erkenntnis durch eine Überlegung, welche die visuelle Wahrnehmung in einen psychologischen und entwicklungsgeschichtlichen Kontext stellt. Den Bildern des Films entschieden überlegen ist nach Meinung des früheren Autors der „Blitzmoment“, der in einem Kind geweckt werden kann und der an diesem anscheinend spurlos vorübergeht, ihm aber „zeitlebens, eingebrannt bleiben würde“ (MN 422). Zweifellos ist diese Überlegung ein autofiktionaler Einschub. Sie lässt sich unmittelbar auf die Wahrnehmung des Gesichts der Mutter beziehen, die der frühere Autor anlässlich seiner Rückwanderung nach Österreich schildert (MN 499). In der Begegnung mit Kobal und der sich anschließenden Reflexion des früheren Autors verdichtet sich deshalb eine Grundfigur von Handkes späterem Erzählen. Es ist die Überlagerung von authentischer Erinnerung und fiktiven Episoden, die dem Faktischen überschrieben werden, schließlich die Mobilisierung von Phantasien, die sich aus eben diesem Zusammenspiel von Fiktion und Faktizität begründen. Nicht zufällig tritt jetzt neben Kobal auch Gregor Keuschnig auf und zwar der Gregor Keuschnig der Niemandsbucht. Der Text visualisiert diese narrative Konfiguration in einem Bild: Die Dörfer des früheren Autors, Gregor Keuschnigs und Filip Kobals bilden zusammen ein „sehr spitzes Dreieck“ (MN 424). Die aus dem Bildverlust und der Niemandsbucht bekannte Konstellation, dass eine frühere Figur des Handkeschen Werks erneut auftritt, gewinnt auch hier besondere Bedeutung. Als dieser Keuschnig sich umwendet und den Blick auf den früheren Autor richtet, erlebt er Begegnungen
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seines eigenen Lebens noch einmal. Im Frühlicht des Tages begegnen ihm auf der Alten Straße seine Vorfahren (MN 429), auch solche, die er nur dem Namen nach kannte. Allein, darüber ist er froh, die Mutter begegnet ihm nicht. Solche Rückbezüge auf die Vergangenheit eröffnen allerdings nicht selten eine innere Dialektik. Im Text der Morawischen Nacht zeigt sich dies auf doppelte Weise. Einmal dann, wenn der frühere Autor versucht, sich bei seinem Rückweg an die Stätten seines früheren Lebens in die Tradition der österreichischen Literatur zu stellen, zum anderen dann, wenn er sich seinen Kritikern konfrontiert sieht. Als ein satirisches Parallelstück zu dieser produktiven Entfaltung des Eigenen lässt sich der Bericht über das „Symposium über Lärm und Geräusche“ lesen, der die poetische Reflexion ebenfalls mit einer autofiktionalen Inschrift versieht, denn dort werden Teilnehmer geschildert für die, nicht anders als für den Autor Handke, Geräusche nicht allein akustische Wahrnehmungen sind. Vielmehr markieren sie Ereignisse und Erfahrungen, die eine obsessive Reaktion bewirken. Die daraus resultierende Geräuschkrankheit bewirkt „eine Art Raumverlust“, eine Desorientierung, für die letztlich die „Weltgeräusche“ verantwortlich sind, die zunehmend die natürlichen Geräusche, „das Rieseln des Wassers, das Rauschen des Windes und des Regens, das Knistern des fallenden Schnees in den Winterbüschen“ verschwinden lassen (MN 172). Wie der Autor Handke verbindet auch der frühere Autor Krisen der Erfahrung mit Geräuschwahrnehmungen. Wie dieser erinnert er sich an „Urgeräusche“, an „Nachklänge, die für immer im Ohr bleiben würden“ (MN 180) und damit an eine „Zeit des verwandelnden Hörens“ (MN 181). Es ist eine Ursprungsphantasie und eine poetische Phantasie zugleich, die mit Handkes parallelen Phantasien von der „anderen Zeit“ oder einem anderen Zustand der Wahrnehmung verknüpft ist, die Auslöser oder Begleitphänomene des Schreibens sind. Nicht zufällig entsteht diese Phantasie während eines allgemeinen Aufbruchs von Numancia, den der Rundreisende mit einem ortsansässigen Dichter beginnt, den er in der Nacht auf der Morawa als Juan Lagunas bezeichnet (MN 183). Die Geschichte, die dieser erzählt, korrespondiert zweifellos der des ehemaligen Autors, dem Handke eigene Erfahrungen zuschreibt. Es ist eine Geschichte des Verlusts nicht nur des Vaterlands und der Dörfer, sondern auch der Namen, welche diese bezeichneten und die „Namen für jeden Moment im Leben“ waren, „auch für die Momente, die sich wiederholten“ (MN 191). Dass dieser Dichter sich zur Beschreibung eigener Erfahrungen auch Zitate aneignet, die der Autor Handke schon vorher benannte, „sein ganzes Wesen verstummte und lauschte“ (MN 196; KB 79; GB 234), und dass er gesprächsweise eine Reflexion des Autors Handke zum Thema des epischen Erzählens nachzeichnet, komplettiert die autofiktionale Spur, die diese Episode bestimmt. Der Weg nach Österreich führt nicht nur zu einer Auseinandersetzung mit Vaterwelt, Mutterwelt und der eigenen Kindheit und Jugend, sondern er ist auch eine Begegnung mit Ferdinand Raimund. An die Suche nach der eigenen Sprache schließt sich eine Heimkehr in die Tradition des Erzählens an, doch ausgerechnet dieser Versuch eröffnet ebenfalls eine innere Dialektik. Der frühere Autor macht
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sich nach Gutenstein auf, dem letzten Lebensort Ferdinand Raimunds, weil er sich als Teil einer Tradition begreift, die sich nicht in historischen Bezügen erschöpft, sondern etwas verbürgt, das über die Geschichte hinausweist. Es ist ein „Jetzt“, das „von der Kalenderzeit nicht zu zerstören“ ist, er hat den Eindruck, dass er mit all den anderen „Schreibern für immer in einem Raum gewesen“ ist, der zugleich wie eine Zeitfalte erscheint. Das Wort „morada“ steht dafür ein, dessen Etymologie an ein Verweilen in Raum und Zeit erinnert. Es bezeichnet die Zelle, die Theresa von Avila als „Schloß der Seele“ (korrekt: Castillo Interior) apostrophierte (MN 365). Doch zugleich eröffnet die Sphäre Raimunds, in die sich der Wanderer begibt, eine unauflösbare Spannung zwischen der Verwandlung der Welt in ein theatralisches Spiel und einer tödlichen Dissoziation, die das Leben dieses Autors bestimmt. Ins Monumentale verzerrt nimmt der Reisende hier seine eigene psychische Disposition wahr, und nicht zufällig kommt es ihm so vor, als schiebe er seinen Heimweg immer wieder auf (MN 369). Zugleich hat er im Gebirge ein verstörendes märchenhaftes Erlebnis. Nach einem Sturz spricht ihn eine Gemse an und beschimpft ihn als Verräter, sie forderte ihn auf, „in die Sphäre der Lebenden, der Heutigen, der Augenpaare“ zurückzukehren, weil ihn seine falschen Ekstasen in nichts anderes als „die Schneeblindheit“ führten (MN 374).
Autoreflexion und fiktionale Selbstkritik Was der frühere Erzähler auf dem Rückweg von Gutenstein erfährt, korrespondiert dem Bild, das andere von ihm entwerfen. Der Fremde, der ihn eine Zeit lang begleitet und dem er sich nahe fühlt, erweist sich nicht nur als Kenner seines Werks, sondern zugleich als dessen schärfster Kritiker. Zudem erfasst seine Kritik neben dem Werk auch die psychische Disposition des früheren Autors. Dieser trägt Züge des Autors Handke, der hier im Modus der Fiktion mit den Worten eines anderen eine entschiedene Selbstkritik vorlegt, indem er den Diskurs der anderen, vor allem den der etablierten Literaturkritik aufnimmt. Ob diese Fiktionalisierung des Realen ernstzunehmen ist oder schon wieder eine Depotenzierung darstellt, lässt der Text offen. Allerdings spricht vieles dafür, dass sich in den Worten des Fremden Handkes Selbstkritik und seine Beharrung auf dem Eigenen, das immer noch selbstbewusst vertreten wird, mischen. Der Fremde, dem der Wandernde begegnet, hat in mancher Hinsicht Züge von diesem selbst, erst später wird dem früheren Autor klar, dass er den biblischen Namen Melchior trägt und ein Farbiger ist. Im Zentrum seiner Lebensgeschichte, die er erzählt, steht die problematische Beziehung zu einem Vater, der selbst den Tod seines Sohnes zum Anlass für ein Gedicht nehmen wollte (MN 412). Die Obsession, mit welcher der Fremde diese Geschichte mitteilt, eröffnet Perspektiven auf die verdeckte Obsession vom Vater, die auch Handkes frühere Erinnerungen an seinen leiblichen Vater bestimmen. Nicht zufällig erscheint ihm – die Anspielung auf Kafkas Urteil ist deutlich – als trage der Fremde „den Vater auf
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dem Rücken“ und nicht zufällig bezeichnet er diesen als „[d]er andere, ‚ich‘“ (MN 414). Auch diese Differenz von ‚Ich‘ und ‚Er‘ ist zweifellos mit der Beziehung auf Kafka verknüpft (Honold 2017, 426). In auffälliger Weise korrespondiert das Bild dieses Wandernden mit den widersprüchlichen und dissoziierenden Wahrnehmungen des früheren Autors, insbesondere wenn es um die pauschale Einschätzung anderer Wanderer, anderer Menschen geht. Zudem kehren für den Wanderer in Begleitung des Fremden Bilder seiner Vergangenheit zurück, auch wenn dies nur im Modus eines Films geschieht, dessen Regisseur Filip Kobal ist (MN 418 f.). Verwandt zeigen sich die gemeinsam Reisenden auch darin, dass sich die Kritik Melchiors am früheren Autor unmittelbar an dessen Selbstkritik anschließt, denn dieser wird sich im Verlauf seiner Reise durch Spanien und Portugal zurück nach Österreich seiner von Zeit zu Zeit ausbrechenden „Entrücktheit“ (MN 218) bewusst. Diese geht von kleinen Wahrnehmungen aus, Ausschnitten der wahrgenommenen Wirklichkeit. Ihre Verheißung, zugleich aber auch ihre Gefahr besteht darin, dass sie ihn dazu bringt, die Welt als Ganzheit darzustellen, vielleicht sogar als „beste[.] aller möglichen Welten“. Der Autor erscheint dadurch „zwar enthoben der Last des eigenen Ich“, doch zugleich ist dieser Zustand eine Bedrohung, die gefährlich vor allen Dingen in der Zeit des „Schreiberlebens“ wird, weil sie zum Verlust eines angemessenen Realitätsbezugs führt (MN 219). Später wird der Bruder diese Selbstanalyse verstärken, wenn er darauf hinweist, dass der frühere Autor mit seinen Schreibversuchen nicht nur das häusliche Leben behindert, sondern auch die Familie „durcheinander-, wenn nicht auseinander gebracht, und möglicherweise sogar zerstört“ habe (MN 497), ausdrücklich spricht er von der „Schreibtyrannei“ (MN 498) des Bruders. An diese psychologische Beobachtung knüpft die Kritik Melchiors an, wenn sie den eigentümlichen Sonderweg beschreibt, den der frühere Autor in seinem Schreiben einschlug. Offensiv verkündet er ihm gegenüber das Ende der „Dichterliteratur“ und der dichterischen Sprache (MN 437), er wendet sich gegen den „Traum vom Schreiber als Urheber“, spricht von der Zeit der „schreibenden Arrangeure“, die sich letztlich einer „Zeitungssprache“ bedienen und Texte verfassen, die man „auf jeder Schreiberschule“ lernen kann. Er bietet an, das Buch der europäischen Reise, die der frühere Autor gerade macht, selbst vorzulegen (MN 438). Zweifellos ist diese Kritik invers, denn sie nimmt auf, womit sich Handke selbst von anderen abgrenzt, vor allem dann, wenn er entschieden darauf beharrt, dass diejenigen, die heute schreiben, als „Alleininhaber der Worte und Sätze“ auftreten, weil „Büchersprache gleich Journalsprache“ geworden ist (MN 441). Die „edlen Seelen“ findet Melchior, der zum Kritiker des früheren Autors wird, allein noch unter den Analphabeten, und diejenigen, die sich als Dichter bezeichnen sind für ihn nichts anderes als „Desperados, auf verlorenem Boden“ (MN 440). Der Kritiker Melchior, der sich selbst als „das Monstrum, das jubiliert“ (MN 442) bezeichnet, rühmt sich damit, dass er gerade die einfachen Menschen aus der Herkunftsgegend des früheren Autors nicht ernst nehmen möchte. Scharf kritisiert er am früheren Autor dessen Liebe zum Balkan, die ihm als „nur noch
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Abweichlertum“ erscheint, eine Haltung, die diesen auf den „Müllhaufen der Geschichte“ bringe (MN 439). Unübersehbar richtet sich diese Kritik in grundsätzlicher Weise auf jeden Anspruch von Autorschaft. Polemisch bemerkt er schließlich, dass der frühere Autor selbst „bloß noch eine Romanfigur“ sei (MN 443). Er ist ein Gespenst, ein revenant im Wortsinn, weil er auf die schöpferische Kraft vertraue, die sich allererst aus der Sprachlosigkeit begründet, während er schon längst in einer Zeit lebt, der alle Wörter und Sätze „von vorneherein zur Verfügung [stehen], gleichsam als Fertigteile“ (MN 444). Auf den Punkt gebracht wird diese Fundamentalkritik, als der frühere Autor später einen Aufsatz liest, den Melchior über ihn verfasst hat. Dort wird ihm vorgeworfen, dass er „vor sich selber geflüchtet“ sei, dass er nur „dem Abseitigen nachgegangen“ war, dass er die Augen vor der Realität geschlossen habe, ganz anders als andere Autoren. Alle Themen des öffentlichen Diskurses, so der Vorwurf, habe er ausgespart, weil er „[n]irgends […] ein Herz für seine Zeitgenossen“ zeigte (MN 536). Seine Begeisterung für einfache Naturphänomene wird ebenso ins Lächerliche gezogen wie seine Haltung zur Religion, die als „Rückfall ins Animistische“ bewertet wird (MN 537). Diese Überlegungen folgen einer Erkenntnis, die der Autor auch bei seinem Weg zur Insel seiner ersten Schreibversuche macht. Das Aufschreiben, das er jahrelang praktiziert hat, erscheint ihm jetzt nicht einfach nur als ein Versuch, die „vermaledeite Mündlichkeit zu vermeiden“ (MN 133), er erkennt, dass er auf diese Weise seine „höchstpersönliche Mündlichkeit“, mehr noch als das, „die eigene Stimme“ loszuwerden versuchte (MN 133).
Die Dialektik der Geschichte und die Reise in die Utopie des Ästhetischen Trotz der klaren thematischen Linien, welche diese Erzählung Handkes erkennen lässt, folgt auch sie nur bedingt dem Modus linearen Erzählens. Gekennzeichnet ist sie vielmehr, nicht anders als der Bildverlust, durch einen ständigen Wechsel dissonanter Bilder, die eine zentrale Dialektik visualisieren: Es ist die Spannung zwischen der Abbildung von Wirklichkeit, die sich in individuellen Erfahrungen konfiguriert, und ihrer poetischen Transformation. Zur Dramaturgie Handkeschen Erzählens gehört es, dass die Abfolge dieser sich widersprechenden Bilder unterschiedliche Geschwindigkeiten hat. Wie im Film wechseln auch in der Morawischen Nacht langsame Einstellungen mit schnellen Schnittfolgen. Dabei beschleunigt sich der Wechsel der Bilder ausgerechnet im Umfeld des Vertrauten, in der Nähe zu den Orten der Kindheit und kurz vor der Rückkehr auf das Boot am Ufer der Morawa. Besonders am Schluss der Erzählung führt dies zu einer Konturierung von Gegensätzen. Die Dialektik der Geschichte und das Versprechen der Phantasie treffen hier randscharf aufeinander. Dabei erweist sich, dass auch Namen, die bisher im Kontext von Handkes Schreiben eindeutig waren, neu kontextualisiert werden. Als sich der frühere Autor während seines Rückwegs desorientiert fühlt und sich unter Menschen aus dem Morgenland in Samarkand glaubt, seinem poetischen Sehnsuchtsort, richtet
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er seinen Blick auf Details und zufällig am Boden liegende Gegenstände, häufig der Beginn einer Erfahrung der Entrückung (MN 457). Doch jetzt fühlt er sich plötzlich bedroht, die Idylle wird von einer Gewaltphantasie durchkreuzt. Der muslimische Mann, den er beim Beten beobachtet, erweckt in ihm den Eindruck, dass er „eine Maschinenpistole oder, nein, eher einen Säbel ziehen und damit auf die so frevelhaft gleichgültige Menge losgehen“ würde (MN 460). Eine vergleichbar widersprüchliche Erfahrung wiederholt sich, als er beim Rückweg in seinen Heimatort dessen Neusiedlungsgürtel durchschritten hat. Obwohl das Dorf mittlerweile einen anderen Namen hat, stimmen dessen Vokale mit dem alten Namen überein, für einen Augenblick scheint ihm das ein Zeichen dafür zu sein, dass „doch eine Heimkehr möglich“ sei (MN 462). Mehr und mehr vertraute Details erblickt er, die ihn an seine Jugend erinnern. Als er das Friedhofstor durchschreitet, hört er von fern die Stimme des Muezzin, das Tor erhält für ihn „im Augenblick einen orientalischen, sozusagen von Samarkand dahergewehten Namen“, er hat den Eindruck, „dass es wirklich wahr hier war“ (MN 465). Doch sofort kehren ambivalente Eindrücke zurück. Stellenweise scheint sich alles feindlich gegen den Eintretenden zu erheben, zugleich wäre er im Verlauf eines Erdbebens fast gestürzt, aber unmittelbar danach erlebt er eine doppelte „Entrückung“. Zunächst nimmt er alle Dinge vergrößert wie durch eine Lupe wahr, bis er wieder zu seinem normalen Sehen zurückfindet. Dennoch ist die Stunde des Wahnsinns, die den heimkehrenden Wanderer erfasst hat, nicht vorbei. Die Begegnung mit seinen Vorfahren auf dem Friedhof verwirrt ihn, Geräusche überfallen ihn, bevor er am Grab seiner Mutter steht. Nach der Führung durch eine alte Frau verspürt er Sehnsucht nach der Frau seines Lebens und tatsächlich erscheint ihm diese in Begleitung seines Kritikers Melchior, doch sofort schlägt seine Sehnsucht in Aggression um: Er schleudert einen zum Spieß zugespitzten Haselstock gegen sie (MN 474). Als dieses Traumbild seiner „Wahnsinnsstunde“ (MN 475) schwindet, verlässt er den Friedhof, klettert über die Mauer eines Obstgartens. Es wird ihm bewusst, dass er zeit seines Lebens „ein Obstdieb gewesen“ ist und sich dazu bekannt hat (MN 477 f.). Doch jetzt ist der Obstgarten von Obdachlosen bewohnt, unter denen sich auch ein Asiate befindet. Dieser sitzt in einer Mulde, die der Wanderer „als den Bombentrichter in dem einstigen Obstgarten erkannte“ (MN 480), auch das Paradies der Kindheit war von Anfang an von den Zeichen der Gewalt durchkreuzt. Zweifellos prägt diese Dialektik auch den Schluss des Textes, denn die Rückkehr des früheren Erzählers an den Ort des Erzählens erschließt keinen neuen Lebensbereich. Sie führt in Wahrheit nirgendwohin, erschließt im Vollsinn des Wortes nichts anderes als eine Utopie. Die Frau, die der Autor in der Nacht noch empfangen hatte, ist am Morgen verschwunden, sie „gehörte nicht ihm“ (MN 555). Auch die Zuhörer und Teilnehmer des Abendgesprächs sind nicht mehr da, obwohl sie für den Leser und außerhalb des Textes noch sprechen. Jetzt aber verschwinden sie in der erzählten Geschichte wie die Gestalten eines romantischen Traums. Gleiches gilt für den Fluss und das Schiff selbst, das zunächst zum Einbaum schrumpft und dann versinkt, während die Morawa versiegt. Auch die
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poetische Fahrt mit dem Einbaum, die der Autor früher in sein Sehnsuchtsland unternommen hatte, scheint hier zu Ende. Grundsätzlicher Zweifel befällt ihn, er richtet sich nicht nur auf seine Zuwendung zu den „Verlorenen auf dem Balkan“, sondern auch auf ihn selbst. Er stellt sich die schneidende Frage, ob der Verlorene am Ende nicht er, der Autor selbst, und sein Unternehmen der Nacht nichts anderes als ein „Griff in den Staub“ gewesen sei. Die einzige Beschwichtigung, die ihm ein Engel zusprechen kann, ist eine Formel des Bezeichnens: „To je to. I to je to“, das ist das und das ist das (MN 557). Am Ende bleibt allein eine „Geographie der Träume“ übrig, von der sich der Autor wünscht, sie möge jetzt und in der Stunde seines Todes bestimmend sein (MN 557). Es zeigt sich, dass das Verschwinden des Bootes mit dem Namen ‚Morawische Nacht‘ mit dem allnächtlichen Traum von dem Buch korrespondiert, das der Autor jeweils über Nacht geschrieben und beendet hat, um dann am nächsten Morgen festzustellen, dass es nicht mehr da ist. Alles, was ihm bleibt, ist eine Seite, die sich bei geschlossenen Augen „und zwar als Handschrift“ zeigte, doch nie gelang es dem Autor, „sie zu entziffern, kein Wort, höchstens einzelne Buchstaben“ (MN 558). Allerdings endet der Text nicht im melancholischen Selbstzweifel, sondern mit einem Versprechen, dieses nimmt allerdings jeden überhöhten Anspruch zurück. Am Schluss der Erzählung steht eine Phantasie der Produktivität, die sich zwar nicht materialisiert, aber gleichwohl Wirkung erzeugt. Für den Erzähler, der darauf beharrt, dass von der Nacht etwas blieb, ist es allerdings nicht mehr als ein Geschmack oder ein Vorgeschmack. Er benennt ihn mit einem Wort aus seiner arabischen Zeit: „es lautete samara“ und es bedeutete, „die Nacht im Gespräch verbringen“. Mit diesem Wort verbindet der Erzähler die Namen „Stara Vas und Samarkand“, diese weisen auf den Ort der Herkunft des wirklichen Autors und auf den mythisch aufgeladenen Namen, der viele seiner erzählerischen Entwürfe begleitet. Dem früheren Autor scheint, dass das „dreimalige a“, das diese Worte verbindet, ihnen Klang jenseits jeder Bedeutung verleiht (MN 559). Formelhaft verkürzt erscheint hier die poetologische Grundfigur der Morawischen Nacht. In ihrem Zentrum steht die Phantasie von einem Schreiben, das sich auf die Wiedergabe einer unmittelbaren Wahrnehmung begrenzter Dinge beschränken kann. Es folgt einer bewussten Rücknahme des Anspruchs auf das Erzählen einer ganzen und abgeschlossenen Geschichte. Was hier zunächst zählt, ist das je erneute Verharren im Augenblick der Wahrnehmung, der chiffrenhaft festgehalten wird. Gerade die Konzentration auf diesen hat eine Wirkung zur Folge, die über ihn hinausweist. Wie der Sekundentraum, der die Erinnerung an eine ganze Traumnacht prägt, so wirkt auch der poetische Augenblick: „Ein schräges Leuchten aus den Wolken, schau, das war manchmal das Leben“ (MN 560). Dieser Satz fasst den Text in ein Bild und gerade weil er nicht urteilt, weist er ihm eine Rolle zu, die nicht abschließend zu klären ist. Am Ende stehen ein offener Text und ein offener Schluss, an die Stelle einer abgeschlossenen Geschichte rückt der offene Raum der Phantasie. Mehr kann das Erzählen nicht erzwingen.
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Die zwischen 1989 und 2013 entstehenden Versuche, deren zweiter, der Versuch über die Jukebox in der Erstausgabe noch den Untertitel einer Erzählung trägt und deren letzter, der Versuch über den Pilznarren zuerst als Eine Geschichte für sich bezeichnet wird, lassen sich als Textsorte nicht eindeutig klassifizieren. Deutlich ist nur, dass sie Überlegungen aufgreifen, variieren und weiterführen, die bereits im Nachmittag eines Schriftstellers vorgezeichnet sind. Es ist daher sinnvoll, die Darstellung der Versuche im Ausgang von diesem Text zu entwickeln. Schon bevor Handke im Jahr in der Niemandsbucht die doppelte Geschichte seines Lebens und Schreibens erzählt, präsentieren einige seiner Versuche eine Verbindung zwischen Autoreflexion, Autoanalyse und fiktionalem Entwurf. Zusammen mit dem Versuch über die Jukebox zeigt bereits der erste von ihnen, der Versuch über die Müdigkeit, ein Grundmuster, dem die fünf Versuche insgesamt folgen und das ihre Rolle im Kontext des Werkes von Handke bestimmt. Alle praktizieren eine Form der uneigentlichen Rede, indem sie aus unmittelbaren Beschreibungen weiterführende und assoziativ verfahrende Reflexionen entwickeln. Dabei verbinden sie aktuelle Betrachtungen mit erinnerten Geschichten und erschließen durch diese Verknüpfung unterschiedliche reflexive und emotionale Bezugsfelder. Es spricht manches dafür, dass die Jukebox, von welcher der zweite Text handelt, nicht nur ein nostalgisch betrachtetes Objekt der Zivilisationsgeschichte ist, sondern dass sie zugleich die leitende Metapher für das Konstruktionsgesetz der Versuche insgesamt darstellt. Sie ist nichts anderes als ein Archiv medial transformierter Erinnerungen, dessen Songs die Leitmotive für Erfahrungen in der Vergangenheit und ihre Mobilisierung in Gemütszuständen der Gegenwart liefern. In seiner Verfilmung der Schönen Tage von Aranjuez hat Wim Wenders die Jukebox in eben dieser Weise in seine Bilderfolge eingesetzt. Nicht zufällig wiederholt die bei ihm inszenierte Interaktion von Bild und Musik das Zusammenwirken von Song, Lied und Erzähltext, das auch Handkes Texte prägt und das sich charakteristisch in den fünf Versuchen, besonders natürlich im Versuch über die Jukebox zeigt. Zudem treten dieser intermedialen Konfiguration © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_10
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andere medial vermittelte Erinnerungen an die Seite: Es sind erinnerte Filmsequenzen, die insbesondere im letzten der Versuche durch den Verweis auf Henry Fords Two Rode Together mit James Stewart und Richard Widmark Bedeutung gewinnen.
10.1 Auf dem Weg zum Schreiben: Nachmittag eines Schriftstellers (1987) Dass die kleine Stadtwanderung des Protagonisten im Nachmittag eines Schriftstellers in eine als „Kaschemme“ bezeichnete Gaststätte führt, in deren Hinterzimmer sich eine Jukebox befindet (NS 60), ist nicht die einzige Verbindung dieser Erzählung zu den späteren Versuchen und nachfolgenden fiktionalen Texten. Vielmehr zeichnet dieser Text einerseits deren Grundfigur, eine Wanderung, die am Ende zum Ausgangspunkt zurückführt, und andererseits ihr zentrales Thema vor, die Frage nach dem richtigen Weg, um ins Schreiben zu kommen, und dessen Bedeutung für den Autor. Dass es um diesen selbst geht, wird deutlich daran, dass diese Wanderung wie in der Morawischen Nacht und späteren Texten im Garten des Schriftstellers beginnt und wieder in diesen zurückführt. Wie in anderen Texten auch ersetzt dabei die Beschreibung des Wegs die Schilderung einer Handlung. Gleichzeitig präsentiert der Nachmittag eines Schriftstellers Elemente, die das spätere Erzählen des Autors und insbesondere seine Versuche strukturieren, unverstellt und ohne die Chiffrierung späterer Texte. Dies gilt sowohl für die Schilderung der Rolle des Schreibens und der aktuellen psychischen Disposition des Erzählers als auch für die Charakteristik des Schreibprogramms, das er im Erzählen entfaltet. Dadurch entsteht die Kontur eines Psychogramms, das zugleich die soziale Rolle des Autors reflektiert und erkennen lässt. Sein Ausgangspunkt ist die Erinnerung an die Bedrohung durch einen Sprachverlust, die Handkes eigene Erfahrung rekonstruiert. Sie initiiert eine Folge von Bildern und Situationen, bei denen sich die erzählerische Rekonstruktion genauer Bilder mit der Konstruktion metaphorisch lesbarer Zusammenhänge verbindet. Es sind Orte und Situationen, wie sie auch die Versuche und die späteren Texten des Autors strukturieren. In der Regel handelt es sich um standardisierte Bilder, die den Übergang von der Naturzur Stadtlandschaft, das Durchschreiten von Un-Orten (NS 21 f.), das Motiv der Brücke (NS 29), die Überlagerung des aktuellen mit einem erinnerten Stadtbild (NS 31) zeigen. Die Darstellung einer Sommerlandschaft (NS 39) gehört ebenso dazu wie die Phantasie von der Erscheinung einer fremden Frau, deren Anwesenheit alles verändert (NS 68) und schließlich das Bild von fallendem Schnee, das die psychische Disposition eines Neuanfangs markiert und bei Handke immer eng mit dem Schreiben verbunden ist (NS 54; FM 289, 428; Höller 2013, 164). Deutlicher als in späteren Texten wird erkennbar, dass sich das Schreiben aus einer Erinnerung an die kindliche Wahrnehmung begründet und Kinderphantasien aufnimmt. Auch das Verhalten des Schriftstellers, insbesondere seine Fixierung auf nur begrenzte Schreibziele und ihre Vorläufigkeit wird zu seiner Kinder- und
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Jugendzeit in Beziehung gesetzt. Dadurch erscheint die Bewegung im Raum wie eine Zeitreise, die durch den Eindruck der Natur das „erlösende[.] Gefühl der Kindlichkeit“ wiederbringt (NS 19). Damit verbindet sich die Rekonstruktion einer aktuellen psychologischen Disposition des Schriftstellers. Vom Sprachverlust bedroht ist er zugleich dadurch bestimmt, dass ihn sein Schreiben in eine soziale Rolle einfügt, die ihn belastet und der er nicht entsprechen will (NS 15). Diese sich allmählich einstellende Einsicht visualisiert der Text durch Raumbilder. Die Wanderung des Schriftstellers führt zunächst durch Naturräume und dann in eine Stadtlandschaft, die eigentümlich abstrakt wie ein Labyrinth von Räumen erscheint. Zunächst durchschreitet er eine Folge von Hinterhöfen, dann weiten sich die umschlossenen Höfe zu einer Abfolge von freien Plätzen (NS 25 f.). Gleichzeitig wird erkennbar, dass diese räumliche Bewegung beim Schriftsteller eine Dissoziation auslöst, die er selbst zu seinem Schreiben in Beziehung setzt: „War es nicht auffällig, dass fast nur die Zeiten des Schreibens ihm seinen Wohnort derart entgrenzen konnten?“ (NS 26). Dieser räumlichen Dissoziation korrespondiert eine psychische. Im Verlauf des Wegs in die Stadt überlagern sich bewusste und unbewusste Wahrnehmung so sehr, dass sie der Wandernde offensichtlich nicht mehr voneinander trennen kann. Zudem erfolgt der Eintritt in einen von anderen bevölkerten Raum in einer Situation, in der sich der Schreibende bewusst von der Öffentlichkeit zurückgezogen hat, um einen anderen Blick auf die Wirklichkeit zu gewinnen. In den Zeitungen, deren Überschriften den Lesenden zu überfallen scheinen, zeigt sich ihm die soziale Welt allein als bedrohlich. Er überfliegt die Zeitungsartikel und gerät in einen „seltsamen Zustand von Raserei und Erstarrung in einem“ (NS 33). Der Kontrast zwischen dem Text der Zeitungen, der ihn den „Gesichtskreis“ verlieren lässt (NS 38), und der Sehnsucht nach dem eigenen Buch, ironisch genug dadurch repräsentiert, dass der Wandernde zunächst eines seiner eigenen Bücher im Schaufenster einer Buchhandlung sieht (NS 41), könnte nicht größer sein. Autorschaft bedeutet für ihn selbst gerade nicht die Einfügung in einen sozialen Zusammenhang, vielmehr tritt sie diesem kritisch gegenüber und ist allererst die Erfüllung eines Jugendtraums, der sich auf „die Literatur das freieste aller Länder“ richtet (NS 35). Doch diese Phantasie vom Buch und vom freien Land der Literatur ist der Situation, in der sich der mittlerweile bekannte Autor befindet und in der er sein Verhältnis zu anderen zu bestimmen versucht, entschieden entgegengesetzt. Ausdrücklich bewertete er sein Schreiben nicht nur als Absonderung von anderen Menschen, sondern explizit sogar als seine „Niederlage als Gesellschaftsmensch“ (NS 73). In dieser Spannung zwischen sozialer Rolle und individueller Phantasie der Selbstverwirklichung wiederholt sich die zentrale psychische Dissoziation, die viele Texte Handkes beschreiben und umkreisen. Damit wird der Nachmittag auch zu einem autoanalytischen Text. Diese Linie entfaltet sich ebenfalls im Verlauf der Beschreibung einer Bewegung. Einerseits nimmt der Schriftsteller bei seinem Gang in die Welt der anderen bisweilen den „Blick eines Lesers“ wahr, andererseits fühlt er sich beim Durchschreiten einer Gasse dem „gemeinsamen bösen Blick“ (NS 42 f.) der Menschen ausgesetzt, den er wie in einer Filmsequenz wahr-
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zunehmen glaubt. Unter dem Druck dieser psychologischen Herausforderung führt der Hass, der ihm von anderen entgegen gebracht zu werden scheint, dazu, dass er nur noch ihn bedrohende Einzelbilder wahrnimmt. Der Text vermittelt den Eindruck, dass ein Filmbild, in dem sich der Protagonist zu befinden glaubt, reißt und dieser allein noch „die auf den Schriftsteller zielenden Stimmen und Geräusche“ hören kann, es ist eine Dissoziation, die paranoische Züge hat (NS 45 f.). Wie in nachfolgenden Wanderungs- und Reisegeschichten Handkes wird diese Dissoziation nicht nur als psychischer sondern auch als räumlicher Kipp-Punkt bestimmt. Diesmal ist es eine Stelle, an der sich die Straße zur Ausfallstraße erweitert und an der „Rücken an Rücken, zwei Gekreuzigte, der eine stadteinwärts, der andere zur Peripherie gerichtet“ zu erkennen sind (NS 50), es ist ein Bild, das die Phantasie einer Ichspaltung nach außen projiziert. Charakteristisch für Handkes Erzählen ist, dass an diesem psychischen und räumlichen Umschlagspunkt schließlich ein ganz anderes Thema, wiederum ist es das des Schreibens, Bedeutung gewinnt. In der Erzählung vom Nachmittag eines Schriftstellers geschieht dies jedoch nicht im Weg einer Initiation, vielmehr wird der Blickwechsel langsam vorbereitet. Zum einen durch die Episode von einer Verunglückten, die in einer reduzierten Sprache und wie mit „Kindheitslauten“ Bruchstücke ihrer Lebensgeschichte zu erzählen beginnt, die der Schriftsteller weniger entziffern als ahnen kann (NS 53 f.). Dem korrespondiert die Beschreibung eines Zuhörers im Gasthaus, der die andern am Tisch mit einem „wortlos mitfühlenden Rhythmus“ betrachtet und eine Distanz durchhält, die den Schriftsteller zu der Frage bringt: „War er nicht der ideale Erzähler?“ (NS 75). Was damit gemeint ist, erschließt sich in der dritten Parallelgeschichte, der Begegnung des Schriftstellers mit seinem Übersetzer. Dieser erzählt seine Lebensgeschichte und hebt dabei auf die Zeit ab, in der er selbst ein Autor war. Dass seine Geschichte derjenigen des Schriftstellers und in letzter Konsequenz der des Autors entspricht, machen sowohl die Wortwahl als auch die geschilderte Entwicklung seines Schreibens deutlich. Er verliert zunächst das wie selbstverständliche Schreiben, das der Illusion folgt, es käme allein darauf an, die wahrgenommenen Bilder „eines nach dem anderen, zu schildern“. Nach dem Schwinden der Bilder versucht er, sein Schreiben aus einem „Horchen“ zu entwickeln, das auf der Annahme gründet, in ihm selbst gäbe es so etwas wie einen „Urtext“ zu finden, der noch wirkungsmächtiger sei als die individuell geprägten „Inbilder“ (NS 79). Doch diese Absicht, die frühere Schreibhaltungen Handkes nachzeichnet, die individualpsychologische wie die existentialontologische Codierung seines Schreibens, erweist sich am Ende als eine Konstruktion, die zu sehr auf einen Verfügungsanspruch des Autorsubjekts setzt. Der Versuch, einen Zusammenhang erzwingen zu wollen, erscheint ihm nunmehr als ein „Sündenfall“. Deshalb folgt der Übersetzer jetzt der Maxime „Nichts Eigenes mehr“, er wird vom Autor zum Übersetzer und findet für diese Tätigkeit die Metapher des „mitspielen[s]“ (NS 80, 81). Mit dieser zeichnet die Erzählung bereits das Schreibkonzept vor, das Handke später im Versuch über den geglückten Tag weiter präzisieren wird (NS 81, VT 66).
10.2 Das Erzählen der Inbilder: Versuch über die Müdigkeit (1989)
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Präfiguriert ist das Zurücktreten hinter die Dinge, dem das Schreiben folgen soll, in einer intermedialen Konfiguration, welche die Aufzeichnung durch Schrift und die visuelle Wahrnehmung scharf voneinander absetzt. In einer „Kaschemme“ versucht der Schriftsteller, beim Lesen einer Postkarte eine Episode seiner Lebensgeschichte zu rekonstruieren, doch während das Bild auf der Vorderseite stabil ist, sind von der Schrift auf der Rückseite nur Striche, einer Keilschrift ähnlich, übrig geblieben. Gleichwohl erscheinen ihm diese Zeichen als „eine Bedrohung, ein den Adressaten anspringendes Omen des Todes und des Endes“ (NS 59). Konträr zu dieser Erfahrung steht der Blick in einen Verkehrsspiegel auf der Straße, in dem durch die optische Brechung der Perspektive alles so verwandelt scheint, als „träte man, das alles miteinander anschauend, auf eine Lichtung hinaus“ (NS 60). Später wird deutlich, dass diese visuelle Wahrnehmung nichts anderes vorzeichnet als den Doppelblick der Phantasie, der ganz unterschiedliche Bilder vereinen kann, den Blick durch die Scheiben der „Kaschemme“ auf die nächtlich befahrene Straße und den durch das Fenster des heimischen Schreibzimmers in die Natur eines Sommertags (NS 66). In Übereinstimmung damit macht die Tätigkeit des späteren Übersetzers exemplarisch deutlich, dass es beim Schreiben allein um ein Bewahren des in der Anschauung Vorgefundenen gehen soll. Die Erzählung vom Nachmittag eines Schriftstellers ist nichts anderes als die erzählerische Auseinanderlegung dieser Denkfigur. Sie schildert die Überwindung einer früheren Form des Schreibens durch eine neue Schreibformel. Diese heißt: „Weitertun. Sein lassen. Gelten lassen. Darstellen. Überliefern“ (NS 90). Nicht zufällig beschließt ein Motto aus Torquato Tasso den Text der Erzählung, es erweist sich als Fortführung der neuen Formel, die diese erschlossen hat: „… es ist alles da, und ich bin nichts“ (NS 93).
10.2 Das Erzählen der Inbilder: Versuch über die Müdigkeit (1989) Das Thema oder der Gegenstand, den die Versuche in ihrem Titel in den Vordergrund rücken, ist stets nur Auslöser für ein Erzählen, das ständig den Gegenstand wechselt und sich zugleich autonomisiert. Nichts, was beschrieben wird, erlaubt eine einlinige Lesart, ständig wird das Thema, das der Titel der Versuche jeweils vorgibt, überschritten. Abgesehen davon, dass diese Texte immer wieder Parallelgeschichten entwerfen, verfügen sie über eine komplexe Verknüpfung von Zitaten, die auf der Oberfläche des Textes erscheint und diesem zugleich eine Substruktur verleiht. Bereits die ersten beiden Versuche zeigen dies paradigmatisch. In ihnen wird das Thema der Müdigkeit ebenso wie die Suche nach der Jukebox und ihre Beschreibung einerseits zum Ausgangspunkt für eine weiterführende Reflexion, die sich auch auf politische Gegebenheiten richtet, andererseits erscheint sie als Gradmesser unterschiedlicher psychischer Dispositionen. Grundsätzlich sind das Politische und das Private miteinander verzahnt. Dabei markiert die Müdigkeit einen aktuellen Zustand ebenso wie ein sich artikulierendes Begehren, eine Sehnsucht nach anderem. Gleichzeitig wird schon hier eine funktionale Wechselbeziehung
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zwischen den Versuchen deutlich: Die Fortsetzung des Versuchs über die Müdigkeit durch den Versuch über die Jukebox wird bereits am Ende des Textes angesprochen (VM 78). Weil auf diese Weise Autoreflexion und Kritik in einem Sprechen a propos an jeder Stelle eng miteinander verbunden sind, kann das Thema der Müdigkeit gleichzeitig von unterschiedlichen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und einem Wechsel der Emotionen berichten. Dabei charakterisiert der Erzähler selbst seine Erzählhaltung als „Herzlosigkeit“. Mit dieser Metapher bezeichnet er einen Gestus der Erforschung und eine Haltung der Distanz, die darauf aus ist, ohne übersteigerte Emotion „den Bildern nachzugehen, die ich habe von meinem Problem, mich dann jeweils, wörtlich, ins Bild zu setzen und dieses mit der Sprache, samt seinen Schwingungen und Windungen, zu umzirkeln“ (VM 23). Auf diese Weise zielt der Versuch über die Müdigkeit auf das Erzählen mentaler Zustände, die sich sowohl auf allgemeine soziale und historische Konfigurationen als auch auf individuelle Erfahrungen des Erzählers beziehen. Der Text spielt diese in einer fingierten Wechselrede durch. In ihr verbinden sich Kindheitserinnerungen mit der Rekonstruktion des Wegs zum Schreiben, beide zusammen lassen das Sozialisationsmuster erkennen, welches das Selbst des Erzählers bestimmt. Um dies deutlich zu machen bewertet der Erzähler unterschiedliche Formen der Müdigkeit, er berichtet gleichermaßen von „schlimmen“ und „schöneren und schönsten Müdigkeiten“ (VM 22 f.). Dies zeichnet sich bereits in der Erinnerung an die eigene Lebensgeschichte ab. Neben die entfremdende Erfahrung der Universität (VM 10 f.) und der Schichtarbeit während des Studiums, bei der sich die Außenseiterposition dessen, der früh zu schreiben beginnt, bereits abzeichnet (VM 40–42), rückt eine Verklärung des Vergangenen, die sich ganz bewusst auf die eigene Herkunft und Familie richtet und die ebenfalls als eine Form der Müdigkeit bezeichnet wird. Ausdrücklich ausgenommen von den „Müdigkeiten zum Fürchten“ (VM 24) sind die Erinnerungen an die frühe Kindheit und die Arbeit auf dem Feld, die nicht nur die Mühsal der Kinderarbeit, sondern auch Bilder einer Eintracht der Generationen und der Familie verzeichnen (VM 24–28). Programmatisch heißt es dazu: „Wenn die Vergangenheit so war, daß sie es schafft, zu verklären, so soll sie mir recht sein, und ich glaube solcher Verklärung. Ich weiß, dass diese Zeit eine heilige war“ (VM 28). Zweifellos ist hier der Rekurs auf die Bedeutung der Familiengeschichte in Immer noch Sturm vorgezeichnet. Einer im späteren Werk ausgezogenen Linie korrespondiert auch die Erinnerung an Handwerker, insbesondere Zimmerleute (VM 33–40), die nostalgisch der Moderne der „Automatenbediener“ (VM 29) entgegen gesetzt werden. Daneben stehen Formen der Erfahrung, die als dissonant erscheinen. Da ist zum einen die Beziehung zu Frauen, die generell nicht einem stabilen Register folgt. Im Verhältnis von Mann und Frau wird die Müdigkeit vor allem zu einer Metapher für Veränderungen, für das Entstehen der „entzweienden Müdigkeit“ (VM 15, 16, 20, 46–48). Dagegen ist der Blick auf die jüngste Geschichte Österreichs unmittelbar mit dem Thema der Gewalt verbunden (VM 17). Hier wird unter dem Stichwort der Müdigkeit die kollektive Befindlichkeit einer Nation verhandelt, die soziale
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Beziehungen beschreibt, wie sie der Große Fall später als Weltzustand darstellen wird. Diese Passagen zeichnen den grundlegend pessimistischen Blick auf die Geschichte vor, der später Handkes politische Überlegungen zu Serbien und grundsätzlich zu Geschichte und Politik bestimmt. In nuce verhandelt wird hier bereits das Thema von der Geschichte als „Teufel“ (Kümmel 2019). Fast in Thomas Bernhardscher Manier sieht der Betrachter „Übeltäter“ um sich und einen „wimmelnde[n] Haufen fortgesetzter Gewalttäter und Handlanger“ (VM 31), um lapidar mit dem Statement zu schließen: „Das Weltgericht gibt es nicht“ (VM 32). Einen entschiedenen Gegenentwurf dazu liefert das Bild einer Menschheit „in kosmischer Müdigkeit“ (VM 78), das sich im Lauf der Geschichte zwar noch nicht erfüllt hat, das vorzuzeichnen aber die Aufgabe des Erzählens ist. Dies führt auf den Kern dieses und der anderen Versuche. Ihre Konzentration auf einzelne Bilder und Zustände zielt in letzter Konsequenz auf die Entfaltung einer Poetologie, die das Entstehen der literarischen Phantasie und das Erzählen auf die visuelle Wahrnehmung ebenso wie auf Inbilder zurückführt, die das Schreiben zentrieren. Dass kein Erzählen ohne Wahrnehmung und kein Text ohne Orientierung am Bild entsteht, wird zur poetologischen Grundregel. Nicht zufällig zitiert der Erzähler jetzt eines seiner poetischen Leitmotive, die Regentropfen im sommerlichen Staub, und nicht ohne Selbstironie spricht er von „meinem ersten, sich immer neu wiederholenlassenden Bild“, das im Nachmittag eines Schriftstellers in der Tat als eine Erinnerung an die früheste Kinderzeit dechiffriert wird (VM 72, NS 76). Damit handelt der Text ausgehend von der Metapher der Müdigkeit von einem Erzählen, das darauf zielt, das „reine Bild“ zu erfassen. Die Müdigkeit kennzeichnet einen Zustand, in dem sich die Blicke fokussieren und aus dem Sehen schließlich nicht nur Bilder, sondern vor allem das Erzählen hervorgeht. Ziel ist, so wird es am Ende des Textes offen ausgesprochen, die „sich selbst erzählende Welt als sich selbst erzählende Menschengeschichte, so, wie sie sein könnte“ (VM 57). Damit wird die Müdigkeit zur zentralen Formel für das Verhältnis des „Sprach-Ichs zur Welt“, das sich erst allmählich und in unterschiedlichen Ausprägungen endgültig herausbildet. Dabei ist die erste Stufe „stumm, schmerzhaft ausgeschlossen von den Vorgängen“, in der zweiten geht „das Stimmengewirr, das Gerede von draußen, auf mein Inneres über“, in der dritten kommt Leben „in mich, indem es da unwillkürlich, Satz um Satz, zu erzählen anhebt, ein gerichtetes Erzählen“, das immer ein Objekt sucht. Erst in der vierten Phase, derjenigen der „klaräugigen Müdigkeit“ erzählt „die Welt, unter Schweigen, vollkommen wortlos, sich selber, mir wie dem grauhaarigen Zuschauernachbarn da und dem vorbeiwippenden Prachtweib dort“ (VM 56). Allein dann stellt sich der erfüllte Augenblick ein, der Stillstand und Wende zugleich ist: „Die Bilder der flüchtigen Welt rasteten ein, eins und das andere, und nahmen Gestalt an“ (VM 57). Vieles spricht dafür, dass diese poetologische Überlegung auch von gemalten Bildern beeinflusst ist, von Poussins Darstellung der Sieben Sakramente im Museum zu Edinburgh, von denen der Erzähler berichtet (VM 58). Es ist von Bedeutung, dass er in einer kleinen Studie über diese Bilder auf ein weiteres Leitbild zu sprechen kommt, das seine Texte ebenfalls immer wieder durchzieht, es ist die Wandlung bei der Messe, die er in ihrem religiösen Kontext zwar durchaus ernst
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nimmt, dies belegen viele Episoden auch der späteren Texte, die er aber zugleich poetologisch rekontextualisiert (Wagner-Egelhaaf 1989, 270 ff.). Bedeutung gewinnt dies, weil Handke an Poussin sieht, was beim Blick auf den Maler Claude Lorrain den Autor Goethe beeindruckt. Dessen Formel, dass Claudes Landschaften die „höchste Wahrheit ohne eine Spur von Wirklichkeit“ zeigen (Goethe A-24. 2; 355), der Hinweis auf eine auffällige Autonomisierung der malerischen Zeichen, korrespondiert Handkes nicht nur in seinen fiktionalen Texten wiederholten Auffassung, dass die Wandlung auch ganz allgemein als Umschlag eines Zeichens in das „Allerwirklichste“ angesehen werden kann, dass sie mithin sinnliche und religiöse Wahrnehmung unmittelbar miteinander verbindet (MJN 979 f.; PW 29; LSV 66). In die interne Poetologie des Autors übertragen folgt daraus, und genau dies zentriert den Blick auf Poussins Sakramente, dass solche Zeichen immer schon zugleich auf eine „ANDERE Geschichte“ weisen können (Handke, blau 2018). Dieser Vorstellung von der auf Zeichen gegründeten Phantasie, die das bloß Wirkliche überschreitet, um ein „Allerwirklichstes“ zu erreichen, folgt der Versuch über die Müdigkeit ebenso wie die späteren Versuche.
10.3 Zeichen der Technik und Zeichen der Landschaft: Versuch über die Jukebox (1990) Anders als der Versuch über die Müdigkeit, der weiterführende Reflexionen im Ausgang von emotionalen Konstellationen beschreibt, die sich in verschiedenen sozialen Registern einstellen, geht der Versuch über die Jukebox von einem einzelnen Objekt aus, das er in unterschiedlichen lebensweltlichen Situationen sucht und zeigen will. Damit präsentiert er besonders klar das für alle Versuche leitende Prinzip einer Beschränkung und Konzentration der Wahrnehmung auf einen genau bestimmten und abgegrenzten Bereich, in dem sich, dem modernistischen Konzept der „Zone“ Apollinaires vergleichbar, unterschiedliche Bilder und Zeitebenen überlagern (Apollinaire 1913/2013). Die Bilder und Muster der alltäglichen Wirklichkeit werden auf diese Weise verfremdet und zum Auslöser von Assoziationen, welche die bloße Erfahrung und die gegenwärtige Wahrnehmung überschreiten. Dabei verbindet sich wiederum der Blick auf sich selbst mit dem auf die Umgebung. Die Jukebox ist ein Objekt, das auf der einen Seite eng mit Handkes Erinnerungen an Amerika verbunden ist, andererseits weist sie durch die intermediale Perspektive, die sie eröffnet, grundsätzlich in seine Sozialisationsgeschichte zurück, denn sie spielt in diesem Text Musik aus den sechziger und siebziger Jahren (Honold 2017, 317). Immer wieder finden sich Hinweise auf Stücke, von denen auch Handkes andere Texte berichten: Die Lieder der Beatles und der Stones, die ihn „gehoben“ haben (AF 274), aber auch Credence Clearwater Revival und die Songs von Van Morrison (AF 465). Dass nach der Jukebox zunächst ausgerechnet in Spanien gesucht wird, und sich die Zeichen der Neuen und der Alten Welt dabei eng verbinden, zeigt, welche Bedeutung die textuelle Superposition unterschiedlicher Bilder, Orte, Kulturen und Zeiten für Handkes Erzählen zunehmend bekommt.
10.3 Zeichen der Technik. Versuch über die Jukebox (1990)
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Die Suche nach der Jukebox ist, auch das eine autoreferentielle Grundfigur von Handkes Erzählen, zugleich ein Paradigma für die sich immer wiederholende Schwierigkeit, ins Schreiben zu kommen. Auch jetzt empfindet der Erzähler, der die Perspektive des Autors übermittelt, „angesichts des bevorstehenden Schreibens Beklommenheit“ (VJ 9). Die Stadt Soria, in der seine Suche beginnt, bestärkt das Gefühl, sich in einer besonderen Situation zu befinden. Als Ort, an dem der Dichter Antonio Machado lebte, markiert sie einerseits den Beginn einer Reise zum eigenen Selbst des Autors. Andererseits gibt diese Stadt, die seit langer Zeit „fast außerhalb der Geschichte“ steht, auch Anlass zum Nachdenkens über eine Vorvergangenheit. An ihrem Rand lag das zunächst altiberische und dann römische Numantia, das in den Texten des Autors zur Signatur einer katastrophisch verlaufenden Geschichte wird, die er immer wieder seinen Texten einschreibt. Jetzt allerdings steht die lebensgeschichtliche Bedeutung des Zeichens der Jukebox im Vordergrund. Der Versuch soll „die Bedeutung dieses Dings in den verschiedenen Phasen seines nun schon lange nicht mehr jungen Lebens“ klären (VJ 11). Nicht anders als Filip Kobal orientiert sich dabei auch der Reisende des Versuchs an einem Buch, hier ist es ein Handbuch über die Wurlitzer-Jukeboxen, das nicht nur technische sondern auch historische und soziale Kontexte erschließt (Botts 1984). Als die Jukeboxen, so das Buchreferat des Suchenden, zur Zeit der Prohibition in den zwanziger Jahren zum ersten Mal in den „Hintertürwirtshäusern“, den „Speakeasies“ aufgestellt wurden, markierten sie einen Versammlungsort der Schwarzen nach ihrer Arbeit auf den Jutefeldern. An den „jute points“ hörten diese die Musik von Billie Holiday, Jelly Roll Morton und Louis Armstrong, die von den Sendern, die im Besitz von Weißen waren, nicht gespielt wurde. Neben diesem sozialen Bezugsfeld erschließt das beigezogene Handbuch einen historischen Umbruch: Die Blüte der Jukeboxen nach Aufhebung der Prohibition endet mit dem Zweiten Weltkrieg als die Materialien Plastik und Stahl rationiert wurden und auch Firmen wie Wurlitzer elektromechanische Teile für Flugzeuge zu bauen begannen. So werden die Jukeboxen im Text zum Zeichen eines historischen Wandels, von dem allerdings die erstaunliche Konstanz ihrer äußeren Ästhetik nicht betroffen ist (VJ 14 f.). Die Bedeutung ihrer ästhetischen Ikonik visualisiert Wenders Verfilmung der Schönen Tage von Aranjuez, wo der im Hintergrund des Sommerdialogs schreibende Erzähler die Umrisse einer Jukebox zeichnet, die mit den Konturen des Bildausschnittes korrespondiert, in dem der Mann und die Frau dieses Stücks erscheinen. Wenders gibt damit einen werkgeschichtlichen Hinweis auf Handkes ursprüngliche Idee, einen Dialog über dieses Objekt auf die Bühne zu bringen. In einer autoreflexiven Passage wird eine der Leitideen für diesen Versuch skizziert, ein „unverbundenes Miteinander vieler verschiedener Schreibformen“ und eine Verbindung von „Augenblicksbilder[n]“ und „weit ausholenden, dann jäh abbrechenden Erzählläufen“ (VJ 68). Wie sehr sich dabei Bild und Text gegenseitig beeinflussen sollen, macht die Überlegung deutlich, dass auch eine Verbindung mit „fragmentarischen Filmszenen denkbar wäre“ (VJ 69).
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Angesichts der historischen Referenzen des Objekts der Jukebox – die letzte ist nur verschlüsselt angedeutet durch die Verknüpfung des 1977 entstehenden Soundtracks Saturday night fever der Bee Gees mit einem „Ende des Krieges“, diesmal ist es der Vietnam-Krieg (VJ 27) – erscheint dem Erzähler selbst seine Reise als eskapistisch. Sie markiert seinen Ausstieg aus der Geschichte, zumal er sich der Teilnahme an dem historischen Ereignis des deutschen Mauerfalls von 1989 verweigert. Dies ist umso erstaunlicher, als er selbst gerade diese friedliche Revolution mit einer Befreiung der Völker vergleicht, die wie ein „sich selbst erzählendes Märchen, das wirklichste und wirksamste, das himmlischste sowie das irdischste“ erscheint (VJ 26). Doch ganz ausdrücklich nimmt der Erzählende auch in diesem historischen Moment die Beobachterposition eines Außenseiters ein. In Spanien, entrückt vom übrigen Europa, unternimmt er eine Vermessung fremder Orte, er begibt sich in ein auch gesellschaftliches Abseits, indem er sich bewusst mit der Jukebox als einer Sache „für Weltflüchtlinge“ befasst. Seine Aufmerksamkeit für einen Gegenstand der Zivilisationsgeschichte geht dabei entschieden über die unmittelbare Faszination von diesem lebensweltlichen Objekt hinaus. Zum einen betrachtet der Erzähler den technischen Gegenstand wie ein sozialgeschichtliches Dokument. Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Programme interessiert ihn das Durcheinander und die teilweise unbekannten Stücke besonders dann, wenn diese nur handschriftlich bezeichnet sind (VJ 108 f.), noch mehr beeindruckt ihn, wenn die Programmschilder vollkommen leer sind und die gespielten Stücke nur unmittelbar gehört werden können (VJ 136). Zum andern werden die Jukeboxen zur Signatur einer radikalen Konzentration auf das Eigene, weil sie der Suchende zusammen mit ihrem jeweiligen Umfeld allein als Projektionsfläche seiner selbst ernst nimmt. Die Orte, an denen er nach Jukeboxen sucht, schaffen am Ende ein phantasmatisches Beziehungsnetz, das seine Wahrnehmungen organisiert und sich dabei autonomisiert (VJ 52 f.). In Soria entsteht schließlich aus der Lust an der „Variante dieser so gleichförmig erscheinenden Orte“ (VJ 134) die Erfahrung der „langen Zeit“ (VJ 128). Zudem weiß der Suchende, dass die Jukeboxen, nach denen er in allen Städten sucht, nur an bestimmten Orten zu finden sind. Es sind die „Zwischenbereiche“ einer Kaserne, eines Bahnhofs, einer Tankstelle oder eines Kanals hinter den Gütergleisen. Einen solchen „Jukebox-Parade-Ort“ findet er zum Beispiel auch in Casarsa in der friaulischen Tiefebene (VJ 55). Bei seiner Suche stellen sich unterschiedliche lebensgeschichtliche Erinnerungen ein, die sich mit der Gegenwart verbinden. Die Jukeboxen im Ebrotal erinnern an die heimatlichen Feldhütten, in der Erinnerung ist „ihr Haus- oder Örtlichkeitszauber auf die Jukeboxen übergegangen“ (VJ 78). Dabei tritt das Bild eines Kindes vor einer Box, die Madonnas Like a Prayer spielt (VJ 80), neben die Erinnerung an eine defekte Jukebox im japanischen Nikko (VJ 80 f.). Dem sich Erinnernden wird klar, dass er in seiner Jugend im „Bauchklang“ (VJ 83) der Jukebox nicht nur eine andere Musik hörte als im heimischen Radio, die sogenannten „amerikanischen Schlager“, er nahm sie auch geradezu körperlich wahr und lebte in ihren Texten. Er spürte in sich selbst den geheimnisvollen „Schönen Fremden Mann“ oder glaubte
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sich auf die „Route Sixty-Six“ versetzt (VJ 84). Initiiert durch die Musik der Jukebox verbindet sich die intensiv erfahrene fremde Welt mit den erinnerten Orten seiner Jugend. Die Verknüpfung des technischen Objekts mit Jugendbildern lässt diese zu psychologisch wirkungsmächtigen Inbildern werden (VJ 112 f.), besondere Bedeutung erhält hier eine Jukebox in Jugoslawien (VJ 114). Doch auch politische Ereignisse spiegeln sich auf diese Weise, sie zeichnen den sich in der Zeit des Serbienkriegs auf die Geschichte fokussierenden Blick vor, nicht zufällig wird auf die Kärnter Volksabstimmung nach dem Friedensvertrag von Saint-Germain und den späteren „Anschluss“ Österreichs an Deutschland angespielt. Die Jukebox in einer Espresso-Stube an der Durchfahrtsstraße befindet sich zunächst in der „Stadt der Volksabstimmung von 1920“ und dann in der „Stadt der Volkserhebung von 1938“ (VJ 84). Auch später werden Ereignisse der Geschichte zu Hintergrundbildern für die Suche und das Schreiben des Erzählers. Von der Exekution des Paares Ceausescu liest er „mit altem, frisch erwachtem Grauen vor der Geschichte“, er erwähnt den amerikanischen Militäreinsatz in Panama (VJ 123), gleichzeitig liefern ihm Theophrasts Charaktere Bilder für seinen Blick auf die Rolle des Menschen in der Geschichte (VJ 124). Dabei sind die durch die Jukebox ausgelösten Erinnerungen physisch und psychisch zugleich geprägt. Schon in der Studienzeit erfährt der sich Erinnernde durch das Musikerlebnis mit der Jukebox an wechselnden Orten das einmalige Erlebnis der „Levitation“, die ihm wie eine „Entgrenzung“ oder „Weltwerdung“ erscheint (VJ 88). Daran an schließen sich Erfahrungen im Ausland (VJ 91), besondere Bedeutung gewinnt die ebenfalls im Zeichen einer Jukebox stehende Begegnung mit einer Indianerin in Alaska, natürlich ein Verweis auf die Langsame Heimkehr. Hier wird das technische Objekt zum Erinnerungszeichen für eine einschneidende psychische Wende. Denn diese Begegnung wird als Unterwerfung unter eine „von jemand anderem vorgestellte Entscheidung“ empfunden (VJ 93), pathetisch wird sie als ein „Aufgeben seines Namens, seiner Art Arbeit, jeder einzelnen seiner Gewohnheiten“ bezeichnet, es ist eine als existentiell empfundene Situation, in der sich der Suchende selbst mit Parzival vergleicht (VJ 94). Immer deutlicher zeigt sich jetzt die Parallelisierung der von der Jukebox hervorgerufenen Musikerfahrung mit Strategien und Empfindungen, die sonst allein mit dem Schreiben verbunden sind. Es ist nicht zufällig, dass mit dem Hinweis auf die räumlichen „Zwischenbereiche“, an denen die Jukeboxen zu finden sind, ein Bild aufgenommen wird, das als Metapher auch Handkes poetologische Selbstreflexion bestimmt. Die mit der Suche nach der Jukebox verbundene Bewegung im Raum visualisiert deshalb, wie schon am Anfang angedeutet, zugleich den Weg zum Schreiben, zudem zeichnet sie eine zentrale Grundfigur des späteren Textes vom Bildverlust vor. In der Tiefe seiner nächtlichen Träume, welche die am Tag erschauten Bilder aufnehmen, zeigt sich dem Reisenden nicht allein das Fremde und schon gar nicht das bloß Wirkliche, sondern allein „sein Gesetz als Bild, Bild um Bild“ (VJ 28). Er ordnet diese Bilder einem weltumspannenden Epos von Krieg und Frieden zu, in dem allein Kinder die Hauptfiguren sein sollen. Als Zuschauer und Zuhörer seiner
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eigenen Träume hat er jetzt Erfahrungen, die er „im Wachen nie“ macht: Die „Ehrfurcht vor einem bloßen Menschenantlitz, oder die Verzückung, vor dem Traumblau eines Berges, oder sogar die Gläubigkeit“ (VJ 29). Angesichts dieser radikalen Konzentration auf die eigene Wahrnehmung, die an die Stelle der Zuwendung zum Wirklichen tritt, verliert Picassos Motto, Bilder mache man wie die Prinzen ihre Kinder mit den Schäferinnen und nicht mit Blick auf das Pantheon, ebenfalls an Bedeutung (VJ 31). Zweifelhaft wird dem Erzähler auch, ob die Jukebox, die nicht einmal in der Kunst des Popart erscheint und nur in einem Song Van Morrissons erwähnt wird, überhaupt ein geeigneter Gegenstand für ein Buch sein könne. Doch hier gibt der Hinweis auf die Bilder Edward Hoppers, insbesondere auf Nighthawks, einen entscheidenden Hinweis: Dort ist zwar keine Jukebox abgebildet, doch in die nächtliche Bar dieses Malers lässt sie sich hineinphantasieren, die Orte der Jukebox wiederholen sich als Orte der Phantasie (Renner 1990, 77–80). Damit wird eine weitere Perspektive dieses Versuchs vorgegeben. Die Phantasieräume, welche die Jukebox erschließt (VJ 33), verbinden die Erfahrung mit einem technischen Objekt der Moderne im Text mit einer traditionellen Ästhetik: In Soria führt der Anblick der romanischen Kathedrale Santo Domingo zu einer Erfahrung, die mit dem schon bekannten Bild für eine Initiation (Abb. 10.1), mit einem „Ruck“, den der Erzähler verspürt, verbunden wird (Carstensen 2013, 25 f., 160; VJ 121). Es ist ein Wort, dessen Eigentümlichkeit ihm durchaus bewusst ist, auf dem er aber gleichwohl beharrt (VgT 88). Wie beim Musikerlebnis vor der Jukebox kommt es auch vor der Kathedrale zu einer körperlichen Erfahrung. Der Reisende fühlt die Proportionen des Baus „in den Schultern, den Hüften, den Sohlen, wie seinen eigentlichen, verborgenen Körper“ (VJ 38). Zudem folgt auch diese Konfiguration einer Überlagerung von moderner und alter Welt wiederum den Doppelbildern in Apollinaires Zone (Apollinaire 1913/2013). Gerade so erschließt sich für den Erzählenden, wovon
Abb. 10.1 Kathedrale Santo Domingo in Soria: Romanisches Tympanon des Hauptportals. (© Yvan Travert/akg-images/picture alliance)
10.3 Zeichen der Technik. Versuch über die Jukebox (1990)
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er anlässlich der Jukebox handeln will. Es ist das Gesetz eines neuen Schreibens, wonach er sucht, und der Versuch über die Jukebox ist nichts anderes als dessen Rekonstruktion im Kontext lebensweltlicher Bilder. Wieder ist eine Geschichte über etwas genau Bezeichnetes allererst eine verdeckte Erzählung über den Schreibenden selbst. Am Ende führt die Suche nach der Jukebox an einen Schreibort in Soria, der angenommen wird, obwohl der Suchende mit Kinderreimen die Einsicht umkreist, „dass es ihm nirgends recht war“ (VJ 65). Bemerkenswert ist, dass diese Überlagerung von Vergangenheit und Moderne auch mit der Koinzidenz einer geometrischen Figur arbeiten kann. Der Rundbogen, den der Schriftsteller im Film der Schönen Tagen von Aranjuez zeichnet, korrespondiert auch dem in der romanischen Architektur dominierenden Bogen. Er repräsentiert damit zugleich eine „Line of beauty“ (VT 8), von der im Versuch über den geglückten Tag die Rede sein wird. Dass die Suche, die der Versuch über die Jukebox darstellt, zugleich eine leitende poetologische Grundfigur Handkes erschließt, zeigt sich dabei wiederum auf doppelte Weise: In einem Gestus der Abwehr und in einer Neuorientierung. Weil die epischen Formen der vergangenen Epochen und ihr „vielwisserischer wie ahnungsloser Totalitätsanspruch –, in heutigen Büchern praktiziert“, auf ihn inzwischen wie „ein bloßes Getue“ wirken (VJ 70), suchte er zunächst, seiner bisherigen Schreiborientierung folgend, nach einer Einheit stiftenden Erfahrung mit Gegenständen, die „den Abstand wahren; umkreisen; umreißen; umspielen“ und der Sache „von den Rändern her den Begleitschutz geben“ sollte (VJ 70). Jetzt aber zeichnet die Suche nach den Jukeboxen eine neue Form der Darstellung vor, in der sich dem Rhythmus dieser Reise folgend die Phantasie des Schreibenden so artikuliert, dass „in ihren Bildern der Ort und die Örtlichkeit, wo er die Erzählung aufschreiben würde, miterschienen“ (VJ 73). Wenn er sich, um schreiben zu können, in die Nähe einer Jukebox begibt, vergleicht sich der Suchende mit einem „recogido“, der durch die angespannte Aufmerksamkeit im Sinne der Theresa von Avila charakterisiert ist (VJ 99). Durch seine vom technischen Objekt initiierte Fähigkeit zur Konzentration können sich Gegenwartsaugenblicke in der Vergangenheitsform ereignen und zwar ohne Umschweife, anders als in den Träumen, „als bloße Hauptsätze, so kurz und einfältig wie jeweils der Augenblick“ (VJ 71). Diese wechselseitige Verschränkung vergangener und gegenwärtiger Bilder wird zum Zentrum des Schreibens. „Längst leblos gewordene Bilder kamen in Schwung und Schwebe, brauchten so nur noch niedergeschrieben zu werden“ (VJ 100). Im Gegenüber zu einer Jukebox kommt es „zusammen mit dem Dahinphantasieren, ohne das ihm so zuwidere Beobachten, oft zu einem SichVerstärken, oder eben Gegenwärtigwerden, auch der anderen Anblicke“ (VJ 102). Lapidar folgert der Berichtende: Der Gegenwart „wurden die Gelenke eingesetzt“ (VJ 103). Weil damit auch die „alleserwärmende Phantasie“ in den Rhythmus des Erzählens einbezogen wird (VJ 72), wiederholt sich beim Schreiben, was die Suche nach der Jukebox vorgezeichnet hatte. So wie in der durch sie ermöglichten Musikerfahrung überlagern sich auch beim Schreiben unterschiedliche Bilder der eigenen Lebensgeschichte, unversehens etwa rückt „eine Birke von Köln als
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Zypresse nach Indianapolis“ (VJ 73). Leitende textuelle Merkmale des zwei Jahre später entstehenden Bildverlusts sind damit formuliert. Es ist nur konsequent, dass das Schreiben und Beschreiben unter diesen Voraussetzungen zunächst auf die Erschließung des Gegenwärtigen zielt: Soria soll allein als Soria vorkommen und „gleichermaßen Gegenstand der Erzählung sein wie die Jukebox“ (VJ 73). Diese ist für den Erzähler vor allem „ein Ding der Ruhe, oder etwas zum Ruhigwerden, zum Stillesitzen, in ziemlicher Reg- und fast Atemlosigkeit“ (VJ 85). Sie markiert den Anfangspunkt und die Voraussetzungen des Schreibens. „festhalten und gelten lassen, was ein Ding einem bedeuten und, vor allem, was von einem bloßen Ding ausgehen konnte“ (VJ 110 f.). Damit einher geht eine neue Wahrnehmung, die eine wechselseitige Verschränkung von Bild und Text ermöglicht, denn die Suche nach der Jukebox führt nicht nur in die Städte, sondern macht dem Erzähler auch die umgebende Natur bewusst. Dass er dabei für seine Wahrnehmung der spanischen Landschaft die Metapher des Lesens benutzt, erschließt eine zentrale Verbindung zwischen vorangehenden Texten wie der Langsamen Heimkehr und nachfolgenden wie dem Bildverlust oder der Morawischen Nacht. Aus dieser Haltung ergibt sich eine Orientierung an der Wahrnehmung von Geographie und Landschaften, die der Schreibende als „erdend“ empfindet, denn, so wird ihm deutlich, in Spanien „sei die Geographie immer eine Dienerin der Geschichte gewesen, der Eroberungen und Grenzziehungen und erst jetzt werde mehr auf die ‚Botschaften der Orte‘ geachtet“ (VJ 126). Diese Verbindung von Lenkung und Ablenkung der Wahrnehmung macht deutlich, was die Suche nach der Jukebox auch inszenierte: Nicht nur um eine Suche nach Bekanntem und Verlorenem ging es, sondern immer auch um eine Konstruktion von Fremdheit, aus der heraus der andere und neue Blick möglich wird. Die Suche nach einem bekannten Gegenstand im Raum wird zu einer Initiationsgeschichte, die konstellative Konfiguration von technischer Welt, Kultur und Landschaft zeichnet die Voraussetzungen des Schreibens vor. Ihr tritt am Ende des Textes wie eine Miniatur ein weiteres Bild an die Seite, das ebenfalls die Verwandlung der Welt in Zeichen visualisiert. Der Erzähler beobachtet ein junges Mädchen, das am Nebentisch chinesische Zeichen in ein Heft malt, „in einer Schrift viel regelmäßiger als die seine in diesen Wochen“ (VJ 139). Eben davon geht ein entscheidender Impuls auf den Suchenden aus, der zuerst nach der Jukebox, aber in Wahrheit schon immer nach einem Neuanfang für sich selbst als Schreibenden suchte. Beim Anschauen der fremden Schrift „spürte er mit Staunen, daß er jetzt erst wirklich aufgebrochen war von dort, wo er her kam“ (VJ 139).
10.4 Schreibversuche: Versuch über den geglückten Tag (1991) Das Grundprinzip der Versuche, dass das jeweilige Thema zugleich im Wortsinne wie auch als Idee behandelt werden soll, formuliert dieser Text bereits zu Beginn (VT 8). Durchweg lassen sich die Etymologien und linguistischen Überlegungen, welche die Formel vom geglückten Tag mit dem geglückten Augenblick wie dem
10.4 Schreibversuche: Versuch über den geglückten Tag (1991)
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geglückten ewigen und einmaligen Leben verbinden, zugleich als Fragmente möglicher Lebensentwürfe und als Erinnerungen an gelebtes Leben lesen (VT 22). Dabei erinnert der Berichtende daran, dass das Gefährliche der Tag selbst sei (VT 29), er spricht davon, wie schwierig es ist, das leben zu können, was er sich wünscht. Er beschreibt seine Unfähigkeit, das Licht des Morgens angemessen wahrzunehmen und bezeichnet sich selber als „Verräter an meinem Tag“ (VT 68 f.). Sein Pendeln zwischen Hoffnung und Scheitern reproduziert eine ambivalente psychische Disposition, die nicht nur diesen Text bestimmt. Ihre beiden Seiten werden im Versuch über den geglückten Tag formal in einer dialogischen Form präsentiert, die wie ein Selbstgespräch erscheint. Wie die Suche nach der Jukebox folgt auch das Nachdenken über den geglückten Tag unterschiedlichen Beschreibungsregistern. Diese laufen allerdings nicht ständig parallel und sie entfalten auch keine durchgehenden Linien. Vielmehr wird in diesem Versuch, deutlicher als in den vier anderen, das Erzählen selbst zu einem experimentellen Verfahren, das die Probleme des Schreibens unmittelbar nachstellt und auf die Notwendigkeit des „Immer-wieder-Neuansetzen[s]“ oder sogar „Durcheinanderwerfens“ abhebt (VT 54). Zur Leitmetapher wird das Durchsägen eines Baumstamms, das zunächst leicht vonstatten geht, schwierig wird, wenn es sich dem Kernholz nähert, bisweilen sogar abgebrochen werden muss, um neu anfangen zu können (VT 46–48). Dabei richtet sich der „trotzige[.] Tagtraum“ des Erzählers (VT 14) bewusst auf einen kleinen Zeitabschnitt, der dem Geist der Epoche widerstrebt, es wird deutlich, dass die Suche nach dem geglückten Tag auch einem Leiden an der Gegenwart entspringt, das überwunden werden soll. Ausdrücklich heißt es von ihr, sie sei auf Zukunft und auf Handeln ausgerichtet (VT 24). Diese lebensgeschichtliche Konstellation erfährt im Versuch eine philosophische Umschrift, die Überlegungen aus der Geschichte des Bleistifts, dem Gewicht der Welt (PW 40; GW 94, 114) und den Phantasien der Wiederholung (GB 49 f.) aufnimmt und damit die Reflexion über das Erzählen mit einer existentialphilosophischen Überlegung verbindet. Das Wort „heiß[en]“, das im Text auch bedeuten, vor allem aber verheißen meint (VT 10; Heidegger UN 28), und die Formel „zeitigen“ (VT 70), schließlich die für eine Erfahrung des geglückten Tags notwendige Haltung des „Innewerdens“ (VT 35), die sich mit dem „Hören“ verbindet, weisen auf den für den Erzähler bestimmend werdenden Satz Heideggers, dass der Mensch in der Sprache den „Zuspruch des Seins“ erfahren kann (Heidegger UN 33). Doch es ist charakteristisch für Handkes Schreiben, dass dieser philosophische Bezug auch in diesem Text eine mehrfache Lesart erlaubt, weil er darüber hinaus eine psychologische und eine intermediale Kodierung erfährt. Zunächst setzt der nur angedeutete Blick auf die eigene Geschichte eine Phantasie frei, die das Gegenwärtige zu einer Wahrnehmung in Beziehung setzt, die zweifellos ins Unbewusste reicht und wie ein phantastischer Einbruch in die gewöhnliche Wirklichkeit erscheint. Fast verstörend heißt es an einer Stelle des Textes: „so streiften seine Stirn seine Toten“ (VT 52). Es ist eine Konfiguration, die in Immer noch Sturm wie ein phantastischer Traum inszeniert werden wird.
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Eine vergleichbare psychologische Linie eröffnet an anderer Stelle das Zusammenwirken von Traum und visueller Wahrnehmung. Von den Träumen werden einige beiseitegeschoben, andererseits aber die bewahrt, „die ein den Tageslauf verlangsamendes, im Weltgeschehen haltendes Gewicht wären“ (VT 31). Die daraus begründete Wahrnehmung verschränkt reale und phantastische Elemente, denn sie sieht „die verschiedenen Erdteile“ zusammenwachsen. Dadurch wird auch dieses Bild psychologisiert, das „Fremdlicht des Nachmittags“ wird „enthext“ und erscheint dem Schreibenden wie ein Phantasma, als eine „aus dir selbst dir vorgespiegelte[.] Fata Morgana“ (VT 31). Diese psychologische Konstellation verbindet sich mit einer intermedialen Formung. Sie korrespondiert einerseits Überlegungen über die Beziehung von Wort und Bild, die Handke anlässlich der Filmarbeit am Himmel über Berlin zusammen mit Wim Wenders entwickelt. Zum andern deutet der Text voraus auf das zentrale Thema des Bildverlusts, das die Wechselbeziehung zwischen den Medien von Schrift und Bild neu bestimmt. Während der Filmarbeit neigt Handke allerdings dazu, dem Bild den Vorzug zu geben, während Wenders gerade auf der Besonderheit des Worts beharrt und programmatisch äußert: „Das Wort wird bleiben“ (Wenders 1977, 197). Im Versuch über den geglückten Tag versucht Handke dagegen, eine Balance zwischen dem Bild und dem Wort, dem Schauen und dem Schreiben herzustellen, wie er sie auch in Am Felsfenster morgens entwickelt, wo er schließlich Wort und Bild als untrennbares Korrelat bestimmt: „Am Anfang war das Wort? Am Anfang war das Bild? Das Bild gibt das Wort“ (FF 439), heißt es dort. Übereinstimmend damit pendelt auch der Versuch über den geglückten Tag zwischen der doppelten Faszination durch das Wort und durch das Bild. Sie wird durch den Bezug auf den „Urtext“ der Bibel konturiert (VT 90), der einer poetischen Um-Schreibung einiger Formeln aus den Briefen des Apostel Paulus folgt. Diese werden exegetisch nicht unbedingt korrekt verwendet, korrespondieren aber der biblischen Grundierung von Wenders Äußerungen über das Verhältnis von Wort und Bild. Sie folgen andererseits einer poetisierenden Übersetzung des griechischen Textes des Neuen Testaments durch Handke. Dies gilt für den Verweis auf das griechische „anagignoskein“ (VT 10) ebenso wie für die Formeln vom „Wurf des Auges“ (1. Kor. 15,52; VT 36, 64, 75) und vom „klingenden Wort“, einer poetischen Neuformulierung der biblischen Bezeichnung für Verkündigung (2. Tim. 4,2; Barth 1998, 130–132). Auch das dem Text vorangestellte Motto „Der den Tag denkt, denkt dem Herrn“, dekontextualisiert eine paulinische Formel aus dem Römerbrief, in der es um das heilsgeschichtliche Versprechen der Annahme jedes Menschen durch Gott geht. Der schon zu Beginn eröffnete Bezug des Textes auf Hogarths Selbstbildnis mit Hund zeigt (Abb. 10.2), dass diese Fixierung auf das Wort Teil einer intermedialen Konfiguration ist, die den Text insgesamt bestimmt. In der Vorstellung des Erzählers verbindet sich die Form von Hogarths „Line of Beauty“, die auf einer
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Abb. 10.2 ‚Gulielmus Hogarth‘ (1697–1764): Selbstbildnis, 1745. (© The Print Collector/Heritage Images/picture alliance)
Palette des Selbstbildes zu sehen ist, auf doppelte Weise mit Naturformationen, zunächst mit einer Sedimentlinie in einem Stein, dann mit Linien, die er in der Landschaft wahrnimmt (VT 7, 8). Zudem stellt der Versuch zweimal ganz offen Hogarths ästhetische Grundidee, die in dem Werk über The analysis of Beauty entwickelt wird, nach, die auch auf einem Selbstporträt von 1745 zu sehen ist (Bexte 1995, 212–228). Einmal, als der Erzähler beschreibt, wie er mit seiner Katze in einer „langen geschweiften Diagonalen“ im Garten geht, offensichtlich eine Anspielung auf Hogarths geometrische Figur der Serpentina (VT 51), schließlich dann, als er in der Erinnerung an zwei Lieder von Marilyn Monroe und bei der Beobachtung von fallenden Platanenblättern den Eindruck hat, dass Hogarths Line of Beauty „nicht eingegraben in die Palette, vielmehr darübergespannt wie ein geschweiftes Seil oder eine Peitschenschnur sei“ (VT 85). Dieses Bild, das sich darauf bezieht, dass die Inschrift auf der Palette von Hogarths Selbstbild wie dreidimensional erscheint, metaphorisiert das Verfahren von Handkes Schreiben, das mit einer vergleichbaren Überlagerung arbeitet: Mit der Überschreibung von Bildern durch Sprache. Dadurch erfasst der Text sehr genau den kunstgeschichtlich bemerkenswerten Sachverhalt, dass Hogarth die strenge Trennung zwischen der Linearität der Schrift und der Ikonik des Bildes überwinden will (Bexte 1995, 212–228). Zudem sind die erzählten Bilder Sehtafeln, die auf doppelte Weise operieren. Neben den Blick des Erzählers auf sich selbst rücken sie den auf eine Natur, die sich im Anschauen zur Landschaft verwandelt. Der besondere Effekt dieser Wechselbeziehung ergibt sich daraus, dass
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sie nicht nur im Schreiben entfaltet wird, sondern zugleich wieder Bilder hervorbringt, denen das Schreiben nachfolgen kann. Dass Sehen und Schreiben in Beziehung treten und ohne einander nicht auskommen können, verdichtet sich in der Formel, die auch die Zusammenarbeit mit Wenders bestimmt: „Schauen und weiterschauen mit den Augen des richtigen Worts“ (VT 83). Zum Ziel wird ein „Im-Wort-Sein“ (VT 59) und dies wird nicht einfach theoretisch entwickelt, sondern im Erzählen vorgeführt. Dieser Konstellation folgend inszeniert der Text eine Serie von versuchten Neuanfängen, die den geglückten Tag erschließen sollen. Es sind Textsegmente, die entweder mit genauen Naturbeschreibungen einsetzen oder diese mit Zivilisationsbildern verbinden. Doch sie scheitern auf unterschiedliche Weise immer daran, dass sich die Serie der wahrgenommenen Bilder nicht zusammenfügen lässt (VT 56–59). Es fehlt, in deutlicher Anspielung auf Hogarth, der „Schwung“, der eine Verbindung herstellen könnte, deshalb stellen sich am Ende nur „Sprachlosigkeiten“ ein (VT 58). Eine Änderung zeichnet sich erst ab, als der Erzähler in einem Pariser Vorortzug die Idee vom geglückten Tag entschiedener fokussiert und sie von einer „Lebens- in eine Schreibidee“ verwandelt (VT 63). Nach dieser Konzentration auf allein das Schreiben geht es schließlich darum, die Grundfigur zu finden, nach der dieses der unmittelbaren Wahrnehmung folgen kann. Während der Zugfahrt durch eine lang geschwungene S-Kurve, die den Erzähler an Hogarths ‚Line of Beauty‘ erinnert, gelingt dies spontan. Der Erzähler assoziiert jetzt nicht nur eine Verbindung dieser Linie zum Sediment des Kiesels, sondern bringt sie auch in Zusammenhang mit seinem Bleistift, dem Instrument des Schreibens. Diese Verknüpfung legt einen Schreibgestus nahe, den der Erzähler mit dem Leitwort „Mit“ apostrophiert. Dieses weist auf eine Form des Schreibens, die das Wahrgenommene nur aufzeichnet, ohne es dabei einer festen Regel zu unterwerfen, welche die Dinge zurichten will (VT 66). Diesem Grundsatz folgt eine synästhetische Beschreibung des geglückten Tags (VT 72–75), die nicht nur Hören und Sehen verbindet, sondern neben die Leitvokabel des „Mit“ ein „Und“ stellt. Es ist das parataktische Erzählprinzip, das Handke am mittelalterlichen Epos, und immer wieder am Parzival fasziniert (AF 414). Er bezeichnet es als „ideale Erzählereinfalt“. Diese erzählte Schreibutopie wird zu einer Phantasie von Autorschaft, die im Bezug auf Ungaretti die religiöse mit einer poetischen Lichtmetapher verbindet (VT 77). Sie zielt nicht auf ein Verwandeln oder Anverwandeln, sondern auf ein „gewährenlassen“ der Dinge (VT 74). Erneut geht es um ein „Innewerden“ der Formen der Natur (PW 40; GB 94, 114), denn diese erschließen das Formgesetz des Schreibens ebenso wie die Gesetze der Phantasie, sie verhindern das „die Dinge verratende […] Sprachdenken […]“ (GB 212). Zugleich ist dieses Schreibprogramm psychologisch konnotiert: Am geglückten Tag wird der Schreibende „rein sein Medium gewesen sein“ (VT 74), allein so gelingt ihm das „glorreiche Vergessen der Historie“ (VT 87).
10.5 Der Weltkreis des Erzählens: Versuch über den Stillen Ort (2012)
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Der Wunsch „Heim zum Buch, zum Schreiben, zum Lesen“, der auf eine spielerische Reihung ganz unterschiedlicher Bilder aus Film und Realität folgt (VT 89 f.), wird deshalb als Einlösung eines Traums verstanden. Doch dieser ist keiner, den der Erzähler „gehabt“ hat, sondern eben der, den er „in diesem Versuch hier, gemacht“ hat, den er sich zu erschreiben im Begriff ist (VT 90 f.). Damit endet auch dieser Versuch in einer autoreferentiellen Figur. Er selbst stiftet erst, wovon er handelt, doch er inszeniert damit eine „Verwandlung“, die als leitende Phantasie des Schreibens Dauer erhalten soll (VT 91).
10.5 Der Weltkreis des Erzählens: Versuch über den Stillen Ort (2012) Der Versuch über den Stillen Ort greift auf das Erzählschema zurück, das bereits den Versuch über die Jukebox bestimmt. Es beruht auf einer Koppelung von Orten, an denen Stille Orte zu finden sind, mit Erinnerungen an die Jugendgeschichte und an spätere Reisen. Dabei lässt die Kette der Erinnerungen, die von der frühesten Kindheit auf dem Land und dem Dorf Stara Vas (VO 13) über die Internatszeit (VO 16) bis in die Studienzeit (VO 52) reicht, ebenfalls Stationen einer Sozialisationsgeschichte erkennen, die insgesamt eine Initiation zum Schreiben befördern. Dies beginnt mit dem traumatischen Erlebnis einer Inkontinenz im Speisesaal des Internats, die eine frühe Ausgrenzung zur Folge hat. Ihr Gegenbild findet diese Szene in der Erinnerung an eine Übernachtung in einer Toilette, deren Beschreibung Parallelen zur Situation des Protagonisten in den Hornissen und zu einer Szene in der Wiederholung entfaltet und die zugleich auf den schreibenden Autor selbst verweist. Am Schluss des Textes wird die dialektische Figur von Ausgrenzung, Weltflucht und Reintegration, welche die Erinnerungen bestimmt, nicht mehr als allgemeine Lebensfigur erzählt, sondern als Sozialisation eines Autors präsentiert. Apostrophiert wird diese als Weg von einem „Geschlagensein mit Stummheit“ zu einer „Wiederkehr der Sprache und des Sprechens“ (VO 107). Nicht zufällig korrespondieren den zitierten Songs im Versuch über die Jukebox jetzt Verweise auf Literatur, auf William Faulkner (VO 46) und Thomas Wolfe (VO 48), die mit den Erinnerungen an die Jugend verbunden sind. Damit markieren die Stillen Orte auf doppelte Weise Umschlagspunkte einer Sozialisationsgeschichte, die durch Sprechen und Schreiben zurück zu den anderen führt. Die Darstellung ihrer Abfolge mündet in ein durchaus pathetisch gezeichnetes Bild. „Einsilbig geworden durch die Worte wie Wörter der anderen“ (VO 107) erfährt der Erzähler, dass er im Stillen Ort zur Sprache zurück findet und wieder sprachmächtig wird. Dies erscheint wie ein Erweckungserlebnis, denn in ihm „hebt es zu reden an“ und das geschieht auch noch „im Psalmenton, mit Feuerzungen, in Ausrufen“ (VO 108). Die „neuen Wörter“, die er findet, verwandeln zugleich die Geräusche, die er draußen vernimmt. Aus dem „Grölen, Gellen, Toben und Kreischen“ wird „Volksgemurmel und Weltgeräusch“, das den
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Erzählenden dazu motiviert „voll von der Redelust“ zu den anderen zurückzukehren (VO 109). Unter dem Blickwinkel dieses Schlusses erhält die immer wieder beschriebene und selbst gewählte Randposition des Erzählers, die er bisweilen selbst als eine Folge von „Gesellschaftswiderwillen“, sogar als „antisoziale[n] Akt“ betrachtet (VO 75), ihre nachträgliche Legitimation. Sie suchte von Anfang an nach einem Raum, der es ermöglichte, Phantasien und Wunschvorstellungen zu formieren. Der stille Ort der Toilettenhäuser gibt dabei zunächst ganz äußerlich die Gelegenheit zur Besinnung und zum Nachdenken über alles, was draußen ist. Doch es ist entscheidend, dass dieser Fluchtraum von Anfang an zugleich zu „etwas Grundandere[m]“ wird (VSO 49), dass sich der Bereich des vermeintlichen „Asylort[s]“ (VO 21) in Wahrheit zum Raum einer ganz persönlichen Utopie wandelt. In der Selbstreflexion des Erzählers führt das Grundandere des Ortes dazu, dass ihn der stille Ort „über das Ding und den Platz hinaus“ auch als „Idee“ begleitet (VSO 69). Schon zuvor wird der Stille Ort, und das macht ihn den Orten der Jukeboxen vergleichbar, in einem ganz einfachen Sinn zum Bereich einer besonderen Wahrnehmung. Die Außengeräusche werden dort „statt entrückt oder gar gegenstandslos“ sogar „haut- oder trommelfellnah“ wahrgenommen (VO 37), in den Toiletten des Internats sind ständig Wassergeräusche zu vernehmen (VO 20), während die Stillen Orte in Japan durch eine Ruhe gekennzeichnet sind, die sie zu Räumen der Erinnerung und der Meditation zugleich machen. Die Tempelgartentoilette von Nara in Japan gibt dafür das Beispiel (VO 65–67). Dort wird die besondere Situation am Stillen Ort auch als Voraussetzung des Schreibens bestimmt. Über seine reale Beschaffenheit hinaus wird dieser Ort zu einer Denkfigur, einem „Vorwurf“, dem Wortsinn des griechischen ‚problema‘ folgend. Er kennzeichnet „etwas zu Umfahrendes, zu Umkurvendes“ und kein Zweifel herrscht daran, dass das Medium dieser Umfahrung allein „die Sprache ist, die des umkreisenden oder umreißenden Erzählens“ (VO 69 f.). Damit metaphorisieren die Topographie und die Beschreibung der Stillen Orte nicht anders als die Suche nach den Jukeboxen und deren Beschreibung den Weg von einer selbst gewählten Abgrenzung zur Transformation der Außenseiterposition in eine produktive Haltung, die zur Phantasie und zum Schreiben führt. Ausdrücklich heißt es, dass man die Stillen Orte auch „allein aus sich selber heraus schaffen konnte, von Fall zu Fall, […] inmitten von dem zeitweise noch ungleich stärker geisttötenden Gerede“ (VO 46). Dass es dabei gleichzeitig zu einer neuen Selbstwahrnehmung kommt, die alle Zeichen eines psychischen Neuanfangs trägt, fasst der Text ebenfalls in ein Bild. Im Vorraum zur Toilette der Fakultät, in der sich der Erzähler die Haare wäscht, sieht er zunächst einen seiner Professoren, der ihm bisher mit Ablehnung begegnet war. Dessen Vorbereitung auf ein Rendezvous, die am Waschtisch erfolgt, scheint jetzt ein geheimes Einverständnis zwischen ihm und dem vormaligen Studenten zu begründen, das ihr Verhältnis hinfort ändert (VO 56). In einer zweiten, parallelen Szene sieht der Erzähler seinen Doppelgänger, ebenfalls am Waschtisch vor einer Toilette und wird zu einem analytischen Blick auf sich selbst herausgefordert, der um die Frage „wer war ich“ kreist (VO 60).
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Wie im Versuch über die Jukebox treten solchen sozialen und psychologischen Konfigurationen immer wieder ästhetische Wahrnehmungen an die Seite. Dies beginnt mit einem Aufenthalt des Internatsschülers auf der Krankenstation, wo er durch die großen Fenster zum ersten Mal die aus den anderen Zimmern nicht wahrnehmbare Natur um das Schulgebäude herum auf andere Weise sieht. Dabei folgt seine Wahrnehmung dem romantischen Fensterblick der Malerei, denn sie führt zu einer ästhetischen Transformation. Die „altvertraute“ Landschaft verwandelt sich in eine „zugleich neue“, zudem schwindet die Grenze „zwischen ihr und dem Krankenzimmer“, beides wird dadurch ausgelöst, dass der Blick des Wahrnehmenden von Anfang an in eine „grundandere Richtung“ führte (VO 25). Es ist zugleich eine psychologische Codierung der Wahrnehmung, die sich in einer Szene in Nara wiederholt, wo der Blick durch ein Astloch im Plankenboden des Aborts zu einem Doppelblick wird. Der Schauende sieht hinunter auf Lehm, Steinchen, Sandkörner und Kiefernadeln und erinnert sich an einen anderen Blick, der sich sechs Jahrzehnte vorher aus dem Abort des Großvateranwesens durch die Bretterritzen hindurch auf den Hühnerhof richtete (VO 74). Damit wird deutlich, dass die Stillen Orte nicht nur ein Register der Erinnerungen strukturieren, sondern dass sie zugleich auf ein ganz privates Bildarchiv verweisen. Den medialen Erinnerungen, welche die Reihe der Jukeboxen mobilisiert, treten in der Serie der Aborte visuelle Erinnerungen an die Seite. Was beide Archive miteinander verbindet, ist, dass sie zugleich alltägliche Formen verzeichnen, denen der Erzähler ästhetische Qualität verleiht. Auf seiner Reise durch die Stillen Orte entdeckt er nicht nur die explizite Ästhetik, mit der Friedensreich Hundertwasser eine Toilette in Kawakawa auf Neuseeland gestaltete oder die zufällig durch Zigaretten verursachten und wie Muster erscheinenden Brandspuren auf Toiletteninstallationen. Ihm erschließt sich auch die „konzentrierte Geometrie“ (VO 82, 83) der Stillen Orte, die sowohl auf ihrer Lage und Form, als auch ihrer Ausstattung beruht und die durchaus der Ästhetik der Jukebox vergleichbar ist. Erst im Innern der Stillen Orte zeigt sich dem Betrachter ihre „geometrische Gestalt, Kreis, Oval, Zylinder, Kegel, Ellipse, Pyramide, Pyramidenstumpf, Kegelstumpf, Rechteck, Tangente, Segment, Trapez“ (VO 81). Auch wenn der Wahrnehmende durch den Blick der Ethnographen, den er in Büchern kennen lernt und durch Fotobände über die Toiletten der Welt durchaus beeinflusst ist, erweist sich am Ende doch nur die eigene Wahrnehmung als entscheidend, die mit einer Einwegkamera festgehalten wird (VO 87). Deren Bilder erschließen wie die Texte des Autors eine Bilderfolge, die sich über die ganze Welt zu erstrecken scheint und die am Ende die Geometrie des „petit coin“ zu einem Muster für die Geometrie des gesamten Erdkreises macht, eine Vorstellung, die der Erzähler auf das Griechische „Aeï ho theós geométrei“ bezieht (VO 82). Diese Verschränkung des Doppelblicks auf Enge und Weite, dessen Zurichtung der Erzähler ironisch mit dem von Sanitärinstallationen bekannten Namen „Ideal Standard“ kennzeichnet (VO 90), führt zu einer Fixierung auf geometrische Formen. Diese wiederum markieren eine Gelenkstelle zwischen den Versuchen und dem übrigen Werk des Autors Handke. Die Konsequenz, mit der sie die Beobachtung geologischer Formationen in späteren Texten bestimmt, belegen
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unter anderen die Langsame Heimkehr und die Texte in der Folge der Niemandsbucht. So besteht die Besonderheit des Versuchs über den Stillen Ort darin, dass er sich wie der Versuch über die Jukebox am Ende entschieden nach außen richtet und das ursprünglich gewählte Objekt überschreitet. Er erschließt die Voraussetzungen für einen neuen Blick auf Landschaft und Natur (VO 100 f.), indem er eine grundsätzliche Parallelität (VO 104) zwischen den Wahrnehmungen der Außenwelt und der Stillen Orte erschließt. Die Phantasie des geschlossenen geometrischen Weltkreises ist nichts anderes als die Leitmetapher für eine Schreibstrategie, die alle Texte des Autors zueinander in Beziehung setzt.
10.6 Suche nach dem Eigenen im Anderen: Versuch über den Pilznarren (2013) Der fünfte und letzte Text der Versuche entwirft mit einer Parallelgeschichte zugleich eine ‚Selberlebensbeschreibung‘ des Autors Handke. Die Geschichte des Pilznarren ist eigentlich die eines Doppelgängers, die seine Erinnerungen an die eigene Herkunft und Entwicklung zum Teil in spielerischer Ironie aber auch mit indirekten Verweisen spiegelt. Sie beginnt in der Kindheit, in einer ländlichen Umgebung, verweist auf Slowenien und lässt den Pilznarren am Ende zum Strafverteidiger bei einem internationalen Gerichtshof werden, eine Marginalie, die zweifellos auf Handkes Serbientexte anspielt. Zum Bild für diese narrative Camouflage wird eine Anekdote des Textes, die schildert, wie sich im Zweiten Weltkrieg die Partisanen als Pilzsucher verkleideten und der Pilzsucher sich „einmal umgekehrt für den Wald als Partisan verkleidet“ habe, um zu finden, worauf er aus war (VP 209). Wie in anderen Texten des Autors, die einen Doppelgänger auftreten lassen, ermöglicht dieses Erzählschema auch hier Selbstdarstellung, Selbstreflexion und Selbstkritik zugleich. Zweifellos metaphorisiert das Narrentum dieses Pilzfreundes, das sein bürgerliches Leben verändert (VP 54 f.), die besondere Rolle, die sich der Erzähler selbst zuschreibt und die den Blick der anderen auf ihn bestimmt. Wie häufig in Handkes Texten ist diese zentrale Konfiguration durch einen intermedialen Bezug verstärkt. Neben den Verweis auf Thomas Hardys Roman Far from the Madding Crowd tritt die filmische Erinnerung an den Western Two Rode Together von John Ford, in dem James Stewart und Richard Widmark zusammen agieren. Diese Doppelung der Protagonisten wird im Film aus einer visuellen Konfiguration entwickelt, die Handke aufnimmt und die eine einzige Perspektive verbindlich macht. Es ist das Bild von Widmarks auf dem Geländer der Front Porch ausgestrecktem Beinpaar in Stiefeln (VP 8 f.), die denen vergleichbar sind, die auch der Erzähler in seinem Haus trägt (Abb. 10.3). Damit wird das Doppelspiel des Erzählens einerseits ironisiert und andererseits mit einer Wahrnehmung verknüpft, die Handke in seinen Texten mehrfach wiederholt: Es ist ein Bild Ernst Machs, das visualisieren soll, dass die Wahrnehmung des eigenen Körpers sich mit derjenigen der umgebenden Wirklichkeit verbindet. Als Blick aus dem Auge des
10.6 Suche nach dem Eigenen im Anderen: Versuch über den Pilznarren (2013)
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Abb. 10.3 Still aus John Ford: Two Rode Together, 02:30
Betrachters zeigt es dessen Körper und Beine zusammen mit einem Zimmer und einem Fensterblick nach draußen (Mach 1870, 1886; Bloch 1965, 224). Daneben ermöglicht die den Versuch bestimmende Doppelung der Figur eine Distanz, die das Eigene zwar verfremdet, aber zugleich ernst nimmt. Deshalb sind trotz der Abstandnahme des Erzählers zu sich selbst als Person die Texte seines Erfinders stets präsent, man könnte diesen Versuch durchaus als einen verkürzten „Leitfaden durch Peter Handkes Werk“ ansehen (Rosenfelder 2013). Vom Jahr in der Niemandsbucht ist ausdrücklich die Rede (VP 59) und von der Wiederholung (VP 72), auch der Apotheker von Taxham aus der Abwesenheit ist erwähnt (VP 188). Schließlich wird auf die Versuche, denen der Text selbst angehört, hingewiesen (VP 208). Dass im Zentrum der Geschichte vom Pilzesuchen des Freundes das Geld steht, lässt sich zugleich als ironischer Verweis auf die Rolle des Geldes im Bildverlust lesen. In der Ökonomie der verdeckt erzählten Selbstreflexion verkörpert der pilzsuchende Jugendgefährte darüber hinaus die psychologische Konditionierung des Erzählers, der sich durch seine Neigung für eine Literatur, die auf Phantasie, Erzählen und Erfinden beruht, von der Wissensliteratur abgrenzt, der sich der Freund zuwendet (VP 35). Allerdings liefert diese Geschichte keine Darstellung kohärenter Psychologien von Personen, sie entfaltet lediglich ein Erzählmodell, das wie eine „Sehtafel“ für die Wahrnehmung von Eigenem und Fremdem benutzt werden kann. Keinesfalls auch geht es um eine Gegenüberstellung von zwei differenten Einstellungen zur Wirklichkeit. Das Pilzesammeln des Freundes wird vielmehr zum Ausgangspunkt einer indirekten Selbstbeschreibung des Autors, die sich mit einer Paraphrasierung und Metaphorisierung seiner literarischen Strategien verbindet. Ein Beispiel dafür gibt der Hinweis auf die „Säume, Ränder und die Lichtungen“ (VP 40), die Leitmotive in Handkes Werk sind. Deshalb sind die Parallelgeschichten des Erzählers und des Freundes auch miteinander verschränkt, beide zusammen erst erschließen das Selbstbild ihres Erfinders, der mit zwei Geschichten zugleich spielt und sie aleatorisch miteinander verknüpft.
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Deutlich sind dabei die Züge einer Selbststilisierung, die sich an Leitworten des Autors orientieren. Wenn er den jungen Freund als „Schatzsucher“ beschreibt und ihn mit einem „Auserwählte[n]“ vergleicht (VP 20) oder mit Blick auf ihn erzählt, dass er vom „Schauen und Hören“ ins „Sinnen“ kam, „wobei er sich weit mehr am Platz fühlte als bei gleichwelchem Denken“ (VP 21), entfaltet er Versatzstücke einer Poetologie. Sie korrespondiert dem eigenen Rekurs auf die Rolle der kindlichen Phantasie, die sich im Glauben des Freundes, über Zauberkraft zu verfügen, spiegelt (VP 24). Mitunter allerdings ist diese Selbststilisierung im anderen auch eigentümlich gebrochen. Der Selbstüberhebung im Gestus der Grandiosität werden in zweifellos kritischer Absicht die Albträume eines geistig zurück gebliebenen Mädchens gegenüber gestellt, dessen Obsessionen wie eine Nacherzählung der Phantasien von Paul Schreber anmuten, welche die Bilder der eigenen Erwählung aus einer wahnhaften Obsession hervorgehen lassen (VP 32; Freud 1973, 203). Im Wechselspiel der beiden Geschichten artikuliert sich damit auch eine Form der Selbstkritik. Im Blick auf sich selbst am Beispiel des Pilznarren erkennt der Autor zunächst kritisch seine Neigung, die eigene Sicht auf die Welt zu übersteigern und utopisch zu verklären. Allerdings steht im Hintergrund seiner Darstellung des Narrentums des Pilzsammlers auch die Utopie einer gelungenen Biographie, die sich für den Auto zumindest darin beweist, dass er den eigenen Weg gefunden hat, der ihn die Erinnerung an die Kindheit erhalten und zugleich zu etwas ganz anderem finden lässt. Vorgezeichnet ist dieser indirekte biographische Verweis im Versuch über die Müdigkeit, in dem ebenfalls ein Junge aus dem heimischen Dorf „in die Pilze geht“, der Versuch über den Stillen Ort präsentiert im Rückblick auf Kindheit und Jugend eine vergleichbare Doppelgängergeschichte (Müller 2013). Die Bewahrung des eigenen und das Fremde im eigenen erweisen sich als untrennbar miteinander verknüpft, doch offensichtlich lässt sich die Spannung zwischen beiden nicht in einer einzigen und linearen Sozialisationsgeschichte auflösen. Dies legt die als Märchenszene beschriebene Wende des Textes nahe, die das „Verschollengehen“ des Pilznarren und sein „Verschwinden von der Erdoberfläche“ schildert. Dieses Ereignis markiert zugleich einen Registerwechsel des Erzählens. Er vollzieht sich plötzlich und zeichnet dabei eine Erzählung des Propheten Habakuk nach (VP 192 f.). Erst ein Jahr später erscheint der Pilzsucher wieder beim Erzähler, der mittlerweile an seiner Geschichte schreibt. Der Ausgangspunkt dieser offen erzählten Lebensbeschreibung des Freundes war eine Initiationsgeschichte, welche die Parallelität zwischen der Geschichte des Freundes, der des Erzählers und derjenigen ihres Erfinders unterstreicht. Die entscheidende Wende im Leben des Freundes ist eine „Alltäglichkeit[.]“ (VP 62), die gleichwohl wie in vielen Texten Handkes als Initiation erfahren wird. Beim Durchqueren einer „lichten Weite“ (VP 64) sieht der Freund zum ersten Mal einen Steinpilz und hat den Eindruck, einen Moment des „Jetzt“ zu erfahren (VP 68). Seine Wahrnehmung des Pilzes lässt diesen als märchenhaft erscheinen, zumal sie mit Bildern verknüpft wird, die aus Legenden stammen. Vergleichen lässt sich diese Episode mit der Wahrnehmung des ersten Feigenbaums, die eine Wende-
10.6 Suche nach dem Eigenen im Anderen: Versuch über den Pilznarren (2013)
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marke in der Geschichte des wirklichen Autors und in seinem Text über die Wiederholung darstellt (VP 72). Auch im Versuch über den Pilznarren führt dieses Ereignis zu einer grundsätzlichen Veränderung der Wahrnehmung. Über den Freund heißt es: „Er kam ins Hören, so wie man ins Gehen kommt, ins Sinnen, ins Denken, oder auch ins Stocken“ (VP 75). Gleichzeitig kommt es zu einer Geräuschüberflutung, er hört alle Geräusche der Zivilisation, empfindet sie als Bedrohung, während der Pilz für ihn ein „Glückspilz“ ist (VP 76 f.). Auch diese Wahrnehmung wird mit Kindheitserinnerungen verbunden, Bilder von Gegenwart und Kindheit überlagern sich (VP 80) und nichts darf diese einmalige Erfahrung stören (VP 84 f.). Daraus ergeben sich Parallelen zum poetologischen Konzept und zur Selbstreflexion des Autors, ganz abgesehen davon, dass der Freund wie dieser bei seinen Naturwanderungen immer wieder als Zeichen der Geschichte Bombentrichter beschreibt (VP 134 f.) und dass die Faszination des Freundes von Pilzen in ironischer Anspielung auf Kants Kritik der Urteilskraft als „interesseloses Wohlgefallen“ bezeichnet wird (VP 48; Kant KdU § 2). Von grundsätzlicher Bedeutung für die interne Poetologie des Textes ist, dass die geschilderte Pilzsuche eine „Unnatur des Blicks“ erfordert, eine besondere Form der Wahrnehmung, die verfremdet und zugleich dechiffriert (VP 125). Die Bewegung des Pilzsuchers in Suchschritten, die in der Folge auch als „epische“ Schritte bezeichnet werden, eröffnet damit eine Parallele zur poetologischen Vorstellung von einem Schreiben, das sich auf Beobachten und Sehen gründet und sich im Gehen einstellt (VP 128– 130). Dies ist Voraussetzung für einen kreativen Wechsel von „Geistesgegenwart und auf einmal Abwesenheit, völliger Abwesenheit und auf einmal vollkommener Geistesgegenwart“ (VP 52). Seine Existenz wird ein „ständiges Spiel zwischen Wissenslust!, Geselligkeit und Geheimnis“ (VP 54), das auch seine Beziehungen zu Frauen bestimmt, in denen ihm erst zuletzt „der ersehnte Ruck“ zuteilwurde (VP 59). Die Narrheit des Pilzsuchers versetzt ihn auf einen „Auslug-Sitz zu seinen Zeitgenossen“ (VP 107), in seiner Vorstellung verknüpfen sich Wege und Orte mit Lebenserinnerungen, er läuft auf einem „Vorgeburtsweg“ oder benutzt den „Völkerwanderungsweg“ (VP 108). Zugleich wird er zum „lebendige[n] Verweilen“ (VP 109) ebenso fähig wie zur Teilhabe. Als Beobachter befindet er sich im „Gleichgewicht mit ihnen allen, Schatzsucher und zugleich Alltagsmensch“ (VP 115). Auf diese Weise verbinden sich poetologische und lebensgeschichtliche Muster. Der Pilzsucher entfernt sich von der normalen Lebenswelt, er lebt in einem „Zwischenraum“, ein wörtliches Selbstzitat des Autors (VP 90). Selbst im Film beginnt ihm die Zeit lang zu werden (VP 96 f.), er konzentriert sich auf ein suchendes Sehen, auf das „Ausfindigmachen oder Ansichtigwerden aller gleichsam aus der Reihe tanzenden Erscheinungen“ (VP 101). Sein geplantes Pilzbuch sollte gegen Ende „mehr und mehr das Gewicht verlagern, vom Pilzsuchen hin zum Gehen“ (VP 137), das vor allem ein „Alleingehen“ ist (VP 138). Diese Stilisierung des Pilzsuchers erschließt eine existentielle Situation: Er ist ein Abenteurer und „zugleich ein letzter wie erster Mensch“ (VP 143). Der Pilz wird
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in dieser Lesart zu einer Metapher für das jenseits der Grenze Liegende, das es weder in Alaska noch im Himalaja noch gibt, er ist Zeichen der „Letzten Wildnis“ (VP 144). Es ist nicht mehr der erkenntnistheoretisch bestimmbare Raum, sondern der „bestirnte[.] Himmel[.] der Phantasie“ (VP 149). Wie häufig in Handkes Texten kommt es gegen Ende des Versuchs zu einer schnellen Abfolge dissonanter Erfahrungen. Situationen der Orientierung und Neuorientierung, von Verlust und Wiederfinden wechseln sich in immer kürzeren Abschnitten ab. Und wie auch in anderen Texten des Autors zeigt sich, dass diese Dissonanz am Ende zugunsten einer befreienden Perspektive aufgelöst wird, die einen Dreischritt des Textes von Initiation, Absturz und Restitution vollendet. Diese Grundfigur der fiktionalen Texte nimmt der Versuch über den Pilznarren pointierend auf. Sein Untertitel Eine Geschichte für sich lässt sich als Hinweis darauf lesen, dass er zwar eine individuelle Geschichte präsentiert, dabei aber zugleich eine dem Erzählen zugrunde liegende Schematik wiederholen will. Nach der Geschichte der Initiation kommt es deshalb im Text zu einer überraschenden Wende. Nachdem der Freund an einen Punkt gekommen ist, an dem sich seine Leidenschaft für die Pilze ins Monströse gesteigert hatte, verändert sich seine Wahrnehmung grundsätzlich. Plötzlich erscheint ihm die Natur bedrohlich, selbst das „geliebte Rauschen und Rascheln der Bäume“ nimmt er als ein „gegen ihn gerichtetes Tuscheln, als ein Gemauschel, als ein unheilverkündendes Geraune, als ein böses Orakel“ wahr (VP 182). Spontan erinnert er sich, dass die großen Waldläufer der vergangenen Jahrhunderte, Walt Whitman oder Henry Thoreau, nirgendwo Pilze erwähnten, und dass die Pilze für die indischen und arabischen Völker „nur in der Nähe von Scheißhäusern wuchsen“ (VP 184). Der Pilznarr beginnt, die Pilze zu hassen und zu beschimpfen (VP 185) und fühlt sich von ihnen sogar verfolgt und gejagt (Apel 2013). Damit beschreibt der Text einen Wechsel der Wahrnehmung, der fast schulmäßig der psychogrammatischen Figur eines Umschlags von der Grandiosität zur Depression folgt und diese eindrücklich visualisiert. Vergleichbar ist diese Szene dem Wechsel der Naturwahrnehmung, der in Goethes Werther einen fundamentalen psychischen Wandel des Protagonisten ins Bild setzt. Und wie in Goethes Text hat dieser auch hier einen Verlust des vertrauten Raums zur Folge. Aus der Innenperspektive des Pilzsuchers ist es „aus mit dem Raumgefühl“ (VP 175). Er erleidet eine grundsätzliche Desorientierung. Raum und Zeit, die in Texten wie der Langsamen Heimkehr Kantischen Kategorien zu entsprechen schienen, verlieren ihre ordnende Kraft. Dieser Umschwung hat eine längere Vorgeschichte. Die Beobachtung, dass ein böses Pilzvolk die anderen Pilze vernichtet (VP 140), zeichnet dabei als Naturbild die fortschreitende Entfremdung des Pilzsuchers von seinem sozialen Bezugsfeld vor, die man einer metaphorischen Doppellektüre unterziehen kann (VP 153). Er bemerkt, dass er seine Frau über seiner Sammelleidenschaft zu vergessen beginnt. Mitten im Berufsleben benutzt er die freien Stunden zur Flucht in den Wald, es zeigt sich, dass „alles Sonstige für ihn mehr und mehr zur Nebensache wurde“ (VP 157). Schließlich entwickelt er eine grundsätzliche Abneigung gegen andere Menschen, zunehmend lehnt er seinen Beruf ab und verachtet diejenigen, die ihn
10.6 Suche nach dem Eigenen im Anderen: Versuch über den Pilznarren (2013)
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umgeben (VP 160). Ihr Zeichen findet diese Entfremdung in einer Szene, in der er sich während eines Richterspruchs statt des Baretts einen mächtigen Schirmpilz auf den Kopf setzt (VP 162). Als ein selbsternannter Herr der Wälder (VP 164) duldet er niemanden, schon gar nicht die „Querwaldeinradler“ (VP 165), schließlich verlassen ihn Frau und Kind. Befreit von allen sozialen Bindungen beginnt er, sein Pilzbuch zu schreiben, das übrigens nie fertig werden wird (VP 122). Er findet sogar Gleichgesinnte, allerdings zeigt sich, dass diese „allesamt eher Verlorene“ waren, dabei jedoch „jeder für sich allein“. So erreicht er zwar einen Zustand, in dem „Hochmuth und Hoffart verschwunden“ sind (VP 173), doch seine Distanz zu anderen ist unaufhebbar: „Seinesgleichen gab es nicht“ (VP 172), heißt es lapidar. Dies ändert sich erst nach dem Verschwinden des Freundes. Seine Rückkehr und sein Besuch beim Erzähler seiner Geschichte setzen eine Selbstheilung voraus, die anschließend in der gemeinsamen Wanderung der beiden bestätigt wird. Die Bilder, die sich in deren Verlauf einstellen, führen fort, womit die Geschichte des Pilznarren vor seinem Verschwinden geendet hatte: Es kommt zu einer fast märchenhaften Schilderung der Natur im Verlauf der Wanderung zu einem Gasthaus, das nicht zufällig den Namen ‚LʼAuberge du Saint Graal‘ trägt. Der deutlichste Bezug dieses Versuchs auf das Werk des Autors besteht damit nicht im unmittelbaren Zitat, sondern in der Nachzeichnung von dessen Orientierung am Märchen und am höfischen Epos des Mittelalters (VP 60, 216). Als der Pilznarr zurückkehrt, scheint ihn der Erzähler bereits zu erwarten (VP 195), Erzählzeit und erzählte Zeit gehen jetzt ineinander über, der Alter Ego zeigt sich einen Augenblick lang wie der „Verlorene Sohn“ (VP 197). Er hat sich äußerlich nicht verändert, doch in der Phantasie des Erzählers wirft er sein Pilzbuch ins Kaminfeuer, an einem anderen Abend gibt er sogar seine Absicht zu erkennen, ein „Antipilzbuch, ja ein Antiwaldbuch“ (VP 200) zu schreiben. Stattdessen verharrt er jetzt in der Beobachtung: Indem er die Aufmerksamkeit des Erzählers auf die Ablagerungen im Garten lenkt, werden die Landschaftsformationen der Langsame Heimkehr präsent (VP 201). Dieser andere, nicht obsessive Blick auf die Natur verbindet die beiden Freunde auf folgenden Wanderungen. Das Kinobild, das den Anfang der Geschichte bestimmt, wird wieder aufgenommen, doch jetzt phantasiert sich der Erzähler als Partner Richard Widmarks in Two Rode Together. Die Parallelerzählung, die der Text praktizierte, kommt an ihr Ende, Freund und Erzähler unterscheiden sich nicht mehr, sie haben vergleichbare Ziele und konzentrieren sich auf „unser beiden [sic] Abenteuer“ (VP 207). Es ist die zweite Initiation in dieser Geschichte. Sie nimmt den früheren Orientierungsverlust in einer „panisch werdende[n] Außenwelt“ zurück, in welcher der Pilzsucher „zu den […] durcheinanderspielenden Räumen und Zeiten“ (VP 177) gehörte. Nach seiner Rückkehr und in Gegenwart des Erzählers endet diese Desorientierung in ausdrücklichem Bezug auf die Kategorie der Zeit. Zur Metapher für die psychische und soziale Restitution des Pilzsuchers wird die andere Zeit, die Leitformel für die poetische Neuentdeckung der Welt: „Wir sind in der Zeit, endlich!“ konstatieren er und der Erzähler (VP 211). Das aber meint in diesem Text: Beide sind zugleich in der Welt
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der Phantasie angekommen. Die Gäule verwandeln sich in Reitpferde und beide begeben sich in einen großen Wald, der nichts anderes als eine poetische Phantasie des Erzählers ist: „Von mir. Gedacht. Getagträumt. Vorgesehen. Solch eine Vorsehung: Es gab sie“ (VP 212). Es ist nur folgerichtig, dass diese fortgesetzte Löschung des Realen, die den Weg von Freund und Erzähler bestimmt, den Text des Versuchs in ein Märchen verwandelt. Er schildert die Begegnung mit der hohen Gestalt einer Frau (VP 215), das Trio nimmt zusammen eine Mahlzeit ein und ausgerechnet diese märchenhafte Szene wird jetzt als „das Allerwirklichste, das Notwendige“ bezeichnet. Der Erzähler charakterisiert diese Erweiterung der Erzählwelt, die über die Beschreibung des Tatsächlichen hinausreicht. „Luft, Wasser, Erde und Feuer als die vier Elemente, und der Märchenmoment als das fünfte, das Zusatz-Element“ (VP 217). Gleichzeitig markiert er das Märchen als den notwendigen Entwurf einer Gegenwelt. Sie ist einerseits die einzige Möglichkeit, um dem „täglichen Giftgeschwätz, den sommer- und herbstlichen Giftregentagen, den Anrufen jahraus, jahrein bei den Internationalen Giftzentralen“ Widerstand zu leisten (VP 217). Jetzt wird deutlich, dass die Narrheit des Pilzsuchers einem „Kranken an der Zeit“ entsprang (VP 179). Unter diesen Voraussetzungen kann allein das Märchen, das der Erzähler erzählt, einlösen, was die Leitvorstellung des nie geschriebenen Pilzbuchs des Pilznarren war, „daß eine Gesellschaft doch weiterhin Zukunft hat. Es wird einmal. Es wird wieder“ (VP 143). Das märchenhafte Ende des Versuchs vereint nicht nur den Pilznarren und den Erzähler in einer gemeinsam geschaffenen Gegenwelt zur bestehenden. Es lenkt den Blick auch entschieden auf den Autor und dessen Fähigkeit, im Schreiben mit unterschiedlichen Formen der Darstellung zu spielen und die Welt umzuerzählen. Eine Episode am Ende lenkt den Blick darauf. Eigentümlich heißt es über die vorgerückte Stunde, in der sich Pilznarr, Erzähler und Frau in der Auberge befanden und versuchten, die Zeit zu raten „Wir irrten uns alle vier. Aber wer sich am stärksten irrte und am gewaltigsten verschätzte, das war er“ (VP 217). Zum ersten Mal in der Geschichte ist jetzt der Autor in dieser selbst präsent, er ist der vierte, die Person, die alle umgreift, so wie das „fünfte, das Zusatz-Element“ des Märchens alle Wahrnehmungen, Reden und Register vereint.
Das Grundandere der Poesie: Handkes doppelter Diskurs über Serbien
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Als Handke am 5./6. und 13./14. Januar 1996 einen Text unter dem von der Redaktion gewählten Titel Gerechtigkeit für Serbien. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina vorab in der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung publizierte, kam es in Deutschland wie im westlichen Ausland zu einer öffentlichen Auseinandersetzung über den Autor, die sich nicht auf das Feuilleton beschränkte und die von ungewöhnlicher Schärfe war. Es schien, als wiederhole sich eine Grundfigur von Handkes Rolle als Schriftsteller im öffentlichen Diskurs. Wie 1966 in Princeton befand sich der Autor schlagartig im Gegensatz zur Meinung und Orientierung anderer Autoren, vor allem aber zur öffentlichen Meinung und zum herrschenden Diskurs der bürgerlichen Intellektuellen (Döring 2018). Dabei hatten sich die Vorzeichen zwar nicht umgedreht, aber doch eigentümlich verschoben. Während die deutschen Autoren in Princeton vor der Frage standen, ob sie sich öffentlich gegen den Vietnam-Krieg wenden sollten und Handke die Position eines vermeintlich unpolitischen Autors vertrat, der alles Augenmerk allein auf die Sprache und die Gesetze des Schreibens lenken wollte, weil für ihn auch die engagierte Literatur nur ein besonderer Fall von „Beschreibungsimpotenz“ sein konnte, entfaltete er jetzt mit den Mitteln des ästhetischen Textes eine politische Kritik, die an den Kern der vorherrschenden Meinung ging, zu der sich das deutsche Feuilleton ebenso wie die deutsche Politik entschlossen hatte. Beim Thema Handke und Serbien gewinnen deshalb außer der persönlichen Sicht des Autors auf die Entwicklung im früheren Jugoslawien, wie sie in vielen seiner ästhetischen Texte vorgezeichnet war, zwei weitere Gesichtspunkte Bedeutung. Zum einen war die sich nach 1996 durchsetzende Meinung über die angemessene Haltung des Westens gegenüber Serbien nur möglich auf der Grundlage eines Diskurswechsels, der sich im Bewusstsein der deutschen Literaten und Intellektuellen erst mit dem Jahr 1989 vollenden sollte, dessen Genese und Eigenart aber bis in die unmittelbare Nachkriegszeit, in die Neuorientierung der damaligen jungen Autoren zurückreichte. Erst dadurch war die auffällige Allianz © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_11
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zwischen Politik und Feuilleton möglich, die auch noch Deutschlands Beteiligung an den NATO-Luftangriffen auf Jugoslawien begleitete, die 1994 einsetzten und im Kosovokrieg 1999 kulminierten. Zum zweiten ist zu berücksichtigen, dass die Herausbildung des öffentlichen Diskurses in der entwickelten Mediengesellschaft eine weitere Ausdifferenzierung erfahren hatte. Sie hing unmittelbar mit der digitalen Verbreitung der öffentlichen Meinung und einer Zunahme der bildgesteuerten Information zusammen, die auf politische Ereignisse gewissermaßen in Echtzeit reagieren und diese bewerten konnte. Dass die kriegführenden Parteien zudem Medienagenturen wie Ruder Finn Public Affairs beschäftigten, die ihre Sicht der Dinge publikumswirksam verbreiten sollten, verschärfte diese Situation (Wagner 2010, 265; Lengauer 1998, 353–370). Im Eingang zur Winterlichen Reise spricht Handke diese Entwicklungen nicht nur an, er verbindet mit ihnen auch eine kritische Überlegung, die sich auf den Wahrheitsgehalt von Information im Medienzeitalter bezieht. Was weiß man, wo man vor lauter Vernetzung und Online nur Wissensbesitz hat, ohne jenes tatsächliche Wissen, welches allein durch Lernen, Schauen und Lernen, entstehen kann? Was weiß der, der statt der Sache einzig deren Bild zu Gesicht bekommt, oder, wie in den Fernsehnachrichten, ein Kürzel von einem Bild, oder, wie in der Netzwelt, ein Kürzel von einem Kürzel? (WR 56)
11.1 Der Kontext der ‚Nachkriegsliteratur‘ und das ‚Ende der Nachkriegszeit‘ Vieles spricht dafür, dass gerade die Reaktion des deutschen Feuilletons und der deutschen Intellektuellen auf den Serbientext des Autors unter dem Blickwinkel spezifisch deutscher Erfahrungen gedeutet werden muss. Auch der österreichische Autor Handke ist von diesem Diskurs betroffen, denn auf ihn werden die herrschenden Register der deutschen und dann auch der internationalen Literaturkritik zunächst ebenfalls angewandt. Wie 1966 in Princeton führten dabei unterschiedliche nationale Kontexte zu dezidierten Urteilen. Besonders für die Deutschen war die Verbindung zwischen Literatur und geschichtlicher Erfahrung selbst da bestimmend, wo sie nicht offen thematisiert wurde. Nicht nur für sie, sondern auch für ihre europäischen Nachbarn endete nach einer Einschätzung von Peter Sloterdijk die sogenannte ‚Nachkriegszeit‘ erst mit dem Jahr 1989, dem Jahr des Mauerfalls. Bis zu dieser historischen Wende ging es in erster Linie darum, die Kriegsfolgen mental, politisch und ideologisch zu kontrollieren und zu überwinden (Sloterdijk 2008, 9). Für die deutschen Autoren, Kritiker und Intellektuellen waren in dieser Phase die Fixierung auf das verhängnisvolle Erbe des Kriegs und die Auseinandersetzung mit der Frage nach der deutschen Schuld von zentraler Bedeutung. Sie prägten, nicht zuletzt unter dem Einfluss der ‚Frankfurter Schule‘ von Adorno und Horkheimer, alle intellektuellen Diskurse nach 1945 und waren darüber hinaus Element des politischen und ideologischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland. Eine Besonderheit dieser Situation war, dass vor allem der Schulddiskurs von einem breiten politischen
11.1 Der Kontext der ‚Nachkriegsliteratur‘ und das ‚Ende der Nachkriegszeit‘
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Spektrum der deutschen Nachkriegsgesellschaft getragen wurde, das von der engagierten Linken bis zu den konservativen Medien der Bundesrepublik reichte, hier waren sich selbst TAZ und Springer-Presse einig. Dagegen hatten sich andere europäische Nationen nicht vergleichbar kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt. In der Tat kennt die deutsche als einzige unter den europäischen Literaturen den Terminus ‚Nachkriegsliteratur‘. Er versteht das Jahr 1945 als radikalen Bruch und setzt die Abkoppelung von der europäischen Moderne, die sich nach 1933 vollzogen hatte, unter neuen Bedingungen fort. Die internationale Marginalisierung der deutschen Literatur in dieser Zeit und der häufig damit verbundene Vorwurf eines auffälligen „Erfahrungsverlusts“ hängen unmittelbar damit zusammen (Rutschky 2008). Gleichzeitig lässt sich festhalten, dass der radikale Traditionsbruch von 1945 auch nachfolgende literarische Entwicklungen in Deutschland prägte, die fast immer zu ästhetischen und politischen Polarisierungen führten. Das Jahr 1989, das neben der Vereinigung der beiden Deutschlands die Zusammenführung ihrer höchst unterschiedlichen Literaturen zur Folge hatte, markiert zwar den Beginn neuerer Tendenzen der deutschen Literatur, bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass dieser Neubeginn ebenso wie der des Jahres 1945 nicht nur eine Ablösung, sondern zum Teil nur eine Neuformulierung vorangehender Probleme war. Insbesondere die Wendemarken 1945 und 1968, das Jahr der sogenannten Studentenrevolution und einer durchgreifenden Politisierung der Literatur, erschienen nach der Wiedervereinigung in einem neuen Licht und wurden neu bewertet. In den Jahren von 1945 bis 1989 werden deshalb Register entwickelt, auf die sich deutsche Autoren und öffentliche Intellektuelle noch gegenwärtig beziehen, selbst wenn sie diese nicht offen benennen. In diesem Rahmen werden zugleich die Texte aller deutschsprachigen Autoren gelesen und im Feuilleton verhandelt. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass sich an den literarischen, historischen und politischen Wendemarken der Jahre 1968 und 1989 nicht nur neue Autoren mit alternativen Schreibkonzepten zu Wort meldeten, sondern dass viele der Autoren der ersten Stunde nach 1945, im Westen Günter Grass, Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger, im Osten vor allem Christa Wolf, ihr Werk über diesen Wendepunkt hinaus weiterführten, ihm aber eine neue Ausrichtung gaben. Besondere Bedeutung im vorliegenden Zusammenhang erhält der Sachverhalt, dass die deutsche Literatur nach 1945 und nach 1968 unter jeweils anderen Vorzeichen durch eine auffällige Konvergenz von ästhetischem und politischem Diskurs gekennzeichnet war, während sich nach 1989 die politischen und ästhetischen Positionen neu formierten. Am Beispiel von Heinrich Böll und Günter Grass, die beide nach 1989 auch zu anderen Schreibweisen fanden, wurde deutlich, dass selbst das Nobelpreiskomitee der deutschen Koppelung von politischer Reflexion und literarischer Produktion folgte. Heinrich Böll bekam den Nobelpreis, nachdem er über Jahre hinweg in der Auseinandersetzung der deutschen Regierung mit der außerparlamentarischen Opposition eine kritische Position bezogen hatte. Günter Grass erhielt den Preis, nachdem er sich immer wieder dezidiert gegen die deutsche Wiedervereinigung ausgesprochen hatte und dabei Überlegungen
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11 Das Grundandere der Poesie
vorbrachte, die auch viele europäische Nachbarn Deutschlands anstellten. Das Werk und die Rezeption Peter Handkes in Deutschland stehen unter diesen Voraussetzungen im Kontext von drei unterschiedlichen Registern, die sich nach 1945 ausbildeten und zumindest bis 1989 fortliefen. Zugleich zeigt die öffentliche Diskussion über Handkes Serbientexte, dass in aktuellen politischen und ideologischen Auseinandersetzungen auch noch nach der Wende zu Entpolitisierung und Entideologisierung von Literatur und Kritik auf einen bereits lange vorher bestehenden Formelvorrat der Deutungen und Urteile zurückgegriffen wurde. Das erste der Nachkriegsregister ist eine Schreibweise, die Ästhetik und Moral zu vereinen sucht und dabei die deutsche Geschichte und die deutsche Schuld in der Geschichte umkreist. Es kulminiert in einem deutschen Literaturstreit, der zunächst über die Rolle der Avantgarde und danach über die moralische Verantwortung der Autoren in der früheren DDR, schließlich in der Paulskirchen-Debatte über den literarischen und intellektuellen Umgang mit dem Thema des Holocaust und der deutschen Schuld geführt wird (Jaspers 1946; Anz 1995, 9, 80; Schirrmacher 1999; Brumlik 2000). Daneben steht zweitens eine politisch engagierte Literatur in der Nachfolge Sartres, welche die ästhetische und politische Wende des Jahres 1968 vorbereitet und durch diese zugleich radikalisiert wird. Sie lässt sich am Beispiel der Entwicklung des Werks von Peter Weiss und Hans Magnus Enzensberger nachverfolgen. Von der ersten Behandlung des Themas Auschwitz durch Weiss reicht sie bis zu Enzensbergers subversiver Lektüre deutscher Geschichte im Untergang der Titanic, wo die datierten Ortsangaben Havanna 1968 und Berlin 1977 die Veränderungen und Enttäuschungen der deutschen Linken markieren. Drittens schließlich entsteht aus dem bewussten Traditionsbruch von 1945 eine Literatur des ästhetischen Experiments, sie beginnt mit Peter Handkes Wendung gegen die „Beschreibungsimpotenz“ der Gruppe 47 und wird von Helmut Heißenbüttel und Günter Eich aufgenommen. Bei Handke führt sie unter anderem zum Konzept einer in der romantischen Tradition stehenden Literatur der sogenannten ‚Neuen Innerlichkeit‘, zu dem es keine internationale Entsprechung gibt. Dass ausgerechnet diese Innovation von einem österreichischen Autor ausgeht, ist signifikant. Im Jahr des Kongresses in Princeton formuliert nicht nur Handke seine Vorbehalte gegen die bis dahin dominierenden Gruppe 47, aus der auch fast die gesamte Kritik des deutschen Feuilletons hervorgegangen ist. Die Autoren sehen sich zugleich mit neuen gesellschaftlichen Fragen konfrontiert. Einerseits äußert sich Allen Ginsberg über die gegenwärtige „Glücksexplosion“ in den Vereinigten Staaten, die mit der populären Psychodroge LSD stattfinden soll, und zeigt sich beeindruckt von der neuen Pop- und Kitschzivilisation. Andererseits nehmen Autoren wie Enzensberger, Lettau und Weiss an einem Teach-in gegen die amerikanische Intervention in Vietnam teil, auf dem auch Susan Sontag sprach. Sie und andere drängen schließlich auf eine Politisierung der Literatur, die bis 1968 dann den Gruppenkonsens sprengt (Zimmer 1966, 17 f.). Damit erweist sich vor 1989 bereits das Jahr 1968 als eine entscheidende Wendemarke der deutschen Gegenwartsliteratur. Es gehört allerdings zur
11.2 Die Diskursregel der Mediengesellschaft
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Dialektik dieser spezifisch deutschen Entwicklung, dass der damalige reflexive und kritische Fortschritt mit einer ästhetischen Regression verbunden war. Ausgerechnet im Zeichen der Literatur um 1968 formuliert sich nicht allein das Ideal politischer Toleranz, sondern zugleich eine massive Intoleranz gegenüber innovativen literarischen Konzepten. Insbesondere die sich bereits in den fünfziger Jahren in den USA etablierende postmoderne Literatur wird von den 68ern ebenso abgelehnt wie das Konzept des Realismo magico in der südamerikanischen Literatur. Auch von der deutschen Kritik wurden diese international relevanten Strömungen nur mit großer Verzögerung aufgenommen wurden.
11.2 Die Diskursregel der Mediengesellschaft Was sich in der öffentlichen Auseinandersetzung über die verschiedenen Phasen des Balkankrieges angedeutet hatte, tritt schließlich im Jahr 2001 aus Anlass der publizistischen und medialen Verarbeitung des Terrorangriffs von 9/11 noch deutlicher hervor. Dabei zeigt sich klarer als vorher, dass die Änderung der öffentlichen Diskursregel unmittelbar mit der Wechselbeziehung zwischen den Print- und den Bildmedien zusammenhängt. Deutlicher noch lässt sich jetzt auch erkennen, dass die Macht der Bilder eine Eigendynamik erhält und das rationale Urteil ebenso delegitimiert wie die unmittelbare Anschauung. Damit ist eine zentrale Thematik von Handkes Text über den Bildverlust berührt, die immer schon sein Schreiben bestimmt, für welches das aus der Anschauung gewonnene Bild zentrales Element des poetischen Verfahrens ist. Jetzt sieht sich der Autor damit konfrontiert, dass sich der öffentliche Diskurs neben der Moral immer wieder auf die vermeintliche Unwiderlegbarkeit der Bilder stützt, um seine politischen Positionen zu konturieren. Dies gewinnt besonders dann Bedeutung, wenn es um die Frage geht, wie Krisen, die durch politische oder kulturelle Faktoren ausgelöst wurden, bewältigt werden können. Auch wenn man davon ausgeht, dass der moralische Diskurs ohnehin eher konfliktbereit ist, weil er dazu neigt, Positionen nicht nur zu polarisieren sondern auch absolut zu setzen, war es eine Besonderheit des bildgesteuerten Diskurses über Serbien in Deutschland, dass am Ende auch die im Namen der aufgeklärten Vernunft Sprechenden zu Bellizisten wurden. Handke thematisiert dies ausdrücklich mit Hinweis auf Jürgen Habermas, zeigt aber gerade darin auch Voreingenommenheit, weil er die Meinung des Philosophen mit jener der von ihm abgelehnten Medien gleichsetzt (GT 18; Wagner 2010, 262). Durch solche Äußerungen, wie auch generell durch seine mündlichen Statements trug Handke durchaus zu einer Polarisierung des öffentlichen Diskurses bei, die dem sachlich gerechtfertigten Kern seiner Medienkritik abträglich war (Wagner 2010, 267). Dabei korrespondiert der theoretische Mediendiskurs durchaus mit Handkes Kritik an der politischen und gesellschaftlichen Realität gegenwärtiger Gesellschaften, wie sie etwa der Große Fall darstellt. Während Noam Chomsky 2001, wie viele Europäer auch, der Leitvorstellung einer konsensualistischen Lösbarkeit politischer wie kultureller Differenzen folgt (Chomsky 2003, 18), ohne deren
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11 Das Grundandere der Poesie
innere Dialektik, die Verpflichtung auf den rationalen Diskurs, die Menschenrechte und ihre mögliche Durchsetzung durch einen „gerechten Krieg“ zu bedenken, führt eine Überlegung des Autors Paul Auster entschieden weiter. Für ihn ist die neue kulturelle Auseinandersetzung, die sich im Modus eines asymmetrischen Kriegs, das betrifft den Jugoslawienkrieg ebenso wie den Terrorangriff von 9/11, zum Ausdruck bringt, ein Zeichen für den Beginn des 21. Jahrhunderts. Das historische Datum markiert deshalb keinen temporalen Abschnitt der Geschichte mehr, vielmehr ist es ein Zeichen für die neue globalisierte Weltordnung, die durch eine grundsätzliche Unvereinbarkeit unterschiedlicher sozialer Erfahrungswelten gekennzeichnet ist (Auster 2001, 13–15; Schami 2004, 17). Diese Perspektive der Globalisierung hat Handke im Auge, wenn er die Konfrontation des im Konfliktfall mehr oder weniger amerikanisch dominierten „Westens“ mit Serbien auch kulturell codiert (UT 44). In der Diskussion über den Balkankrieg, wie auch schon vorher in der über 9/11, benutzen die deutsche, die europäische und die amerikanische Diskussion einen metaphorischen Formelvorrat, der sich in der globalen Mediengesellschaft im Wechselspiel von Bild und öffentlichem Diskurs widersprüchlich entfaltete. Dafür war die von François Lyotard dechiffrierte Delegitimation der „grands récits“ unmittelbare Voraussetzung. In der durch sie bewirkten „Neutralisierung der Werte“ erkennt Baudrillard zugleich eine mediale Delegitimation der Realität selbst (Baudrillard, 2001, 51). Am Ende von Unter Tränen fragend zitiert Handke die Äußerung eines Sprechers der Medienagentur Saatchi & Saatchi, die genau dies belegt. Das „Zeitalter der Information ist vorbei“, verkündet dieser. „Wir treten ein in das Zeitalter der Idee: Das heißt, wir brauchen einen Kontext, welcher der Information einen Sinn gibt“ (UT 157; Wagner 2010, 265). Nicht zuletzt aus vergleichbaren Einstellungen ergab sich im öffentlichen Diskurs eine „Neutralisierung der Werte“ die in letzter Konsequenz auch den Diskurs der ‚public intellectuals‘ delegitimierte, deren Erklärungsanspruch an der politischen und sozialen Realität scheiterte. Die so entstandene Lücke des Verstehens wurde durch die neue Macht der Bilder gefüllt, zugleich wurden diese zur Grundlage einer Manipulation neuen Ausmaßes. In diesem Zusammenhang hat Niklas Luhmann auf die sich immer entschiedener ausbildende mediale Konstruktion von Realität hingewiesen. Gleichzeitig hat er deutlich gemacht, dass ‚Wahrheit‘ und ‚Information‘ in den Massenmedien eine unterschiedliche Wertigkeit haben. Für die Medien geht es nicht um wahr oder falsch, sondern allein um Information oder Nichtinformation (Luhmann 1996, 36, 44). Wahrheit in den Massenmedien ist bloßes Supplement von Information (Luhmann 1996, 64 f.). Der sich parallel dazu konstituierende Siegeszug der Bilder ist seit langem Gegenstand medienhistorischer Analyse. Dass er fortschreitend die subversive Kraft des Ästhetischen konterkarierte, hatte zugleich politische Konsequenzen, die zuerst Theodor Adorno und dann Vilém Flusser aufzeigten (Adorno GS-7, 158 f.). Medien, so erkannte man, machen nicht allein bewusst, dass die Menschen nicht mehr wirklich miteinander reden, sondern auch, dass am Ende das ‚Spektakel‘ und die Hyperrealität der Medien, auch wenn sie miteinander verschränkt sind, sogar
11.2 Die Diskursregel der Mediengesellschaft
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an die Stelle „wirkliche[r] gesellschaftliche[r] Tätigkeit“ treten (Debord 1978, 7). Sie deformieren das Funktionsgesetz sozialer Systeme (Luhmann 1990, 269). Das Bild ersetzt nicht nur diskursive Formationen, es wird auch zu einer Ware, es erzielt Wirkung durch seinen Tauschwert, nicht durch seine angemessene Wiedergabe wirklicher Zustände. Dies gewinnt besondere Bedeutung in einer interkulturellen Kommunikation, in der selbst Alterität zu einem medialen Konstrukt wird. Arjun Appadurai betont, dass sich in der globalen Gemeinschaft reale, traditionelle, politische, moralische und kulturelle Ordnungen auflösen. Sie werden durch Bilder ersetzt, die nur noch imaginierte Gemeinschaften und Welten hervorbringen. Die Medien führen deshalb nicht zu einer neuen Erfahrung der Wirklichkeit oder einer Korrektur unangemessener Einschätzungen. Vielmehr machen sie möglich, dass unterschiedliche Gruppen, die in einer globalen Diaspora leben, alles allein auf ihre eigene Imagination ausrichten. Für Arjun Appadurai wird die Imagination dadurch selbst „zu einem sozialen Fakt und zum zentralen Element der neuen globalen Ordnung“ (Appadurai 1996, 31). Unter dem Einfluss der Medien entstehen, auch dies ist von Bedeutung für die Beurteilung der Situation im früheren Jugoslawien, „Ethnoscapes“, „Mediascapes“ und „Ideoscapes“, Konstruktionen einer virtuellen Identität, die auf ethnischen oder selbst gesetzten Stereotypen beruhen, die durch die Massenmedien verbreitet werden. Sie schaffen neue prägende Muster, welche die ursprünglichen Orientierungen zwar zitieren, aber grundsätzlich variieren und transformieren. Die Bewusstwerdung dieser neuen Situation vollzog sich ebenfalls nicht mehr allein über einen rationalen Diskurs, sondern sie wurde vorwiegend durch das Medium des Bildes geleistet. Doch weder die neokonservative Annahme eines ‚clash of cultures‘, damit auch eines Konflikts zwischen Fortschritt und Reaktion im Feld der Politik, noch die postkoloniale Interpretation militärischer oder terroristischer Konflikte berücksichtigten diese mediale Modellierung politischer Gegensätze und ihre Konsequenzen (Habermas/Derrida 2004). Diese Ausblendung ist dafür verantwortlich, dass auch auf neue Konflikte überkommene und der aktuellen historischen Situation nicht mehr angemessene Diskursmuster angewendet wurden. Diese Diskursmuster sind in der Regel historische Rückprojektionen, die simulieren sollen, dass die aufgeklärte Gesellschaft ein früher einmal begangenes Unrecht im Lauf der Geschichte niemals mehr wiederholen werde. Im Fall des Balkankriegs werden deshalb Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, die deutschen Konzentrationslager und den Holocaust mobilisiert. Dagegen wird 2001 in der Auseinandersetzung zwischen dem Westen und der islamischen Welt eine moralisch begründete Akzeptanz von Alterität als notwendige Antwort auf die Schuld der europäischen Kolonialmächte und im Falle Deutschlands auf die historische Schuld des Faschismus eingefordert. In der Diskussion darüber vergaßen vor allem die Deutschen, dass der Wandel ihrer Einstellung zum Balkankrieg und die Änderung des herrschenden politischen Diskurses auch aus der Manipulation durch eine mediale Inszenierung entstanden waren. Angesichts der im Fernsehen präsentierten Bilder von serbischen Lagern hatte ihr
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damaliger Außenminister Joschka Fischer die bis dahin gültige deutsche Leitformel deutscher Außenpolitik, „Nie wieder Krieg“, durch den Leitsatz „Niemals wieder Konzentrationslager“ ersetzt, um Deutschlands militärisches Eingreifen in den Krieg auf dem Balkan zu legitimieren. Parallel dazu kursieren seit 1999 in der militärischen Führung Vorstellungen über eine von Serbien geplante ethnische Säuberung, den sogenannten „Hufeisenplan“ (Feldhoff/Steinhoff 2000). Dabei ist festzuhalten, dass die im politischen Diskurs üblichen historischen Recodierungen zwar moralisch integer, zugleich aber auch deshalb problematisch sind, weil sich in einer medial verfassten Gesellschaft die Zeichen der Politik, der Literatur und der Warenwelt nicht mehr voneinander unterscheiden lassen, weil selbst die Information zur Ware geworden ist. Abgesehen davon, dass das medial vermittelte Sehen eine andere Reaktion des Betrachters hervorbringt als die unmittelbare Erfahrung (Habermas/Derrida 2004, 52 f.), ergibt sich das Urteil des Publikums häufig nicht aus dem Ereignis selbst, sondern aus der besonderen Form seiner kommunikativen Vermittlung (Borradori 2004, 75). Damit hat Jacques Derrida eine zeichentheoretische Überlegung verbunden. Er macht deutlich, dass Sprache ihre unmittelbare referentielle Funktion verlieren kann, wenn sie zu benennen sucht, was sprachlich nicht angemessen ausgedrückt werden kann. Die den Diskurs über Serbien leitende Annahme eines Genozids mitten in Europa gehört zweifellos dazu (Habermas/Derrida 2004, 368). Unter diesen Voraussetzungen kann die bloße deiktische Benennung schon auf die traumatisierende Wirkung eines Ereignisses weisen, für das es keinen „Horizont von Antizipation, Wissen, Benennung“ gibt, der seine „Identifizierung, Bestimmung und Interpretation“ ermöglichen würde (Habermas/Derrida 2004, 123). Gerade deshalb insistiert Baudrillard darauf, dass sich allein der Tod dem sozialen Tauschgesetz entziehen könne, das Grundlage der gegenwärtigen Gesellschaft ist. Dieser Denkfigur folgend, stellt er ins Zentrum seiner Medientheorie den Begriff des sogenannten „simulacrum“ (Baudrillard 1994, 1–43, 87–95). Dieses ist eine visuell vermittelte Grundfigur für das „absolute und unwiderrufliche Ereignis“, das sich im Zuge seiner medialen Vermittlung schon deshalb jeder historischen Einordnung entzieht, weil es mit den unendlichen Fiktionen des Kinos, damit auch Ereignissen, die niemals wirklich stattgefunden haben, vergleichbar ist (Derrida 2002, 56 f.). Vor allem durch diese Verbindung mit der Fiktion der Medien kann ein Gewaltereignis die symbolische Kraft entfalten, die seine eigentliche Wirkung begründet (Derrida 2002, 74). Die Bilder, Metaphern und kollektiven Erinnerungen, die der journalistische wie der wissenschaftliche Diskurs benutzen, sind deshalb dafür verantwortlich, dass katastrophale Ereignisse häufig einem distanzierten und rationalen Urteil entzogen werden. Baudrillard wie auch Slavoj Žižek verknüpfen die symbolische Wirkung solcher Ereignisse zudem mit unbewussten Prozessen. Medial vermittelte gewalttätige Handlungen mobilisieren bei den Betrachtern eine nicht eingestandene „tiefgreifende […] Komplizenschaft“ (Derrida 2002, 23), die „Sicht der Bilder“ erschließt nichts anderes als „unsere Urszene“ (Derrida 2002, 72). Es ist durchaus fatal, sich vorzustellen, dass dies alle Teilnehmer an einem öffentlichen Diskurs gleichermaßen betreffen kann.
11.3 Der Mediendiskurs über Handke und Serbien
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Baudrillards und Žižeks psychologische Deutung lässt sich nicht anders als Derridas semiotische Argumentation auf eine Überlegung des Philosophen Kant zurückführen, die geeignet ist, die Vehemenz der Reaktionen auf den Jugoslawienkrieg zu erklären. Für den Philosophen wird ein Ereignis, so folgert er etwa mit Blick auf die Französische Revolution, zu einem „historischen Zeichen“ vor allem durch die Art und Weise, in der es wahrgenommen wird. Dabei entfaltet es neben seiner Referentialität als „signum demonstrativum“ eine doppelte Zeitstruktur. Als „signum demonstrativum“ erinnert es an die Vergangenheit, als „signum prognosticon“ weist es gleichzeitig auf die Zukunft (Kant KA-7, 86).
11.3 Der Mediendiskurs über Handke und Serbien Alles begann mit einem Bild. Am 5. August 1992 veröffentlichte die britische Agentur ITN ein Bild, das de facto aus dem Lager Trnopolje stammt und ausgemergelte Männer hinter Stacheldraht zeigt, in deren Mitte der Bosnier Alič Fikret zu sehen ist. Das Bild, dessen Authentizität zunächst nicht infrage gestellt wurde, schließlich erhielt der Reporter Gutmann dafür den Pulitzer-Preis, wird drei Tage später vom Daily Mirror unter der Überschrift „Belsen 92“ und in der Berliner tageszeitung neben der Überschrift „Militärischer Einsatz rückt näher“ veröffentlicht (Deichmann 1999, 229). Die doppelte Geschichte zum Bild war gefunden, die Begründung für den deutschen Eintritt in den N ATO-Kriegseinsatz und die Referenz auf die deutschen Konzentrationslager. Letztere schien so naheliegend, dass sich im Bemühen der Printmedien, das Bild mit Geschichte zu unterlegen, der journalistische Diskurs verselbständigte und sich anschließend im Diskurs deutscher Intellektueller fortsetzte. Es kam zu einer auffälligen freiwilligen Gleichschaltung der meisten Medien, die erst sehr spät selbstkritisch bedacht wurde, als sich herausstellte, dass es hier nicht um das angebliche Konzentrationslager Omarska ging und die Aufnahme keineswegs als Beleg für ein umzäuntes Lager genommen werden konnte, sondern gestellt war. Die dahin gehenden Recherchen lassen sich nicht widerlegen (Deichmann 1999, 228–258). Es zeigte sich, dass Handkes Einwände gegen die vorherrschende Berichterstattung über Serbien durchaus einen sachlichen Grund hatten, denn sie zweifelten nicht Sachverhalte an, wandten sich aber mit Recht gegen verkürzende Darstellungen und vorschnelle Urteile, die nicht selten mit nicht angemessenem Bildmaterial unterlegt waren. Es ging damit auch um eine Inszenierung, welche die Opfer realer Gewalt, folgt man einer Überlegung Agambens, durch die Gewalt des Mediums noch einmal zum Opfer machte (Agamben 2002). Handke bezieht sich in seiner Fahrt im Einbaum ausdrücklich auf dieses vorgebliche Lagerbild (FE 98), und der WDR, der die Genese dieses und anderer Bilder untersucht, stellt seine Dokumentation zum ersten deutschen Kriegseinsatz nach 1945 unter die Überschrift „Es begann mit einer Lüge“ (Angerer/Werth 2001). Angesichts der vor allem in deutschen Printmedien vorherrschenden zustimmenden Haltung zur deutschen Beteiligung am Eingreifen der NATO von 1994 bis zum sogenannten Kosovokrieg von 1999 konnte Handkes Meinung nur
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auf entschiedene Ablehnung stoßen. Dabei dürfte durchaus eine Rolle gespielt haben, dass der Autor seine Medienkritik zugleich moralisch begründete. Vermutlich weckten seine Argumente auch die Selbstzweifel gerade derer, die bisher aus moralischen Gründen jede kriegerische Handlung Deutschlands abgelehnt hatten, sich nun aber entschlossen hatten, wie es ein Kritiker zynisch formulierte, die eigene Vergangenheit wegzubomben (Gritsch 2012; Gritsch 2003, 163–169). Die NATO unternahm, so die Befürworter des Angriffes auf Serbien, eine „humanitäre Intervention“, im Jahr 1999 galt sie der Rettung der Albaner im Kosovo. Diesen Krieg als unmoralisch darzustellen, musste unweigerlich zum Ausschluss aus der Erzählgemeinschaft führen (Seeßlen 1999, 175). Nachdem der deutsche Außenminister Fischer sowohl auf dem Parteitag der Grünen als auch später zusammen mit dem Verteidigungsminister Scharping im Bundestag auf die vermeintlich authentischen Bilder serbischer „Konzentrationslager“ verwiesen hatte, war die Formel gefunden, die in der nach 1989 veränderten Situation des vereinigten Deutschland auch die Autoren und Intellektuellen überzeugen konnte. Es schien klar, wie auch die anderen Bilder aus dem Krieg zu deuten seien, und natürlich musste der Schuldige namhaft gemacht werden können. Dass Handke selbst dies für eine zentrale Wendemarke des öffentlichen Diskurses hält, zeigt die schneidende Karikatur, mit der er später im Bildverlust den damaligen deutschen Außenminister Joschka Fischer darstellt (BV 736 f.). Als Teilnehmer des öffentlichen Diskurses konzentriert sich Handke zunächst darauf, im Vorwort und Epilog seines Reiseberichts aus der durch den Vertrag von Dayton entstandenen Republika Srpska die antiserbische Berichterstattung westlicher Printmedien zu kritisieren, daneben auch das Engagement anderer Autoren und Intellektueller für die Kroaten und bosnischen Muslime. Grundsätzlich will er die medial entwickelten Feindbilder gegenüber „den Serben“ hinterfragen. Dabei hatte er mit Le Monde, FAZ und Spiegel durchaus mächtige Widersacher. Es zeigte sich, dass dort niemand bereit war, Modus und Qualität der eigenen Berichterstattung infrage zu stellen. Stattdessen bildete sich eine breite Front der Ablehnung gegen Handke, die von bürgerlichen bis hin zu linken Medien reichte. Der gegen Gerechtigkeit für Serbien erhobene Vorwurf der Demagogie wurde schließlich von den meisten Printmedien übernommen. Damit verbanden sich persönliche Angriffe. Handke wurde unterstellt, er wolle das Massaker von Srebrenica leugnen, Hans-Christoph Buch ordnete den Autor im Tagesspiegel in die Gesellschaft von Autoren ein, die dem Faschismus nahestanden, wie Ezra Pound und Louis-Ferdinand Céline. Schließlich bescheinigte Hans Rauscher im Standard vom 14. Mai 1999 dem „Wiederholungstäter gegen humanes Denken“ das Niveau von Holocaust-Verharmlosern und warf ihm vor, „die moralisch-intellektuelle Verrottung jener Intellektuellen erreicht zu haben, die Stalin und Mao für die Schaffung eines ‚neuen Menschen‘ priesen“ (Gritsch 1996; Colbin 1999; Reinhardt 1999). Eine neuerliche Kulmination fand diese öffentliche Auseinandersetzung anlässlich der geplanten Verleihung des Heine-Preises 2006, die Handke dazu brachte, mit seinem „Je refuse“ der Haltung Zolas zu folgen und auf dem fortdauernden Anspruch der Literatur auf einer Kritik des Politischen zu beharren (Wagner 2010, 268; Handke 2006).
11.4 Die „bösen Fakten“: Texte über Serbien
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11.4 Die „bösen Fakten“: Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996), Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996), Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei J ugoslawienDurchquerungen im Krieg, März und April (1999), Rund um das Große Tribunal (2003), Die Geschichte des Dragoljub Milanović (2011) Handkes provokative Äußerung „Niemand weiß, was im Kosovo passiert, denn niemand kann hinein […] Die Flüchtlinge sagen doch alle das gleiche. Muß das deshalb glaubhaft sein?“ (Reinhardt 1999) macht deutlich, dass sich seine Serbientexte durchaus auf den öffentlichen Diskurs nicht nur einlassen, sondern auch jenseits der medienkritischen Überlegung eine politische Position beziehen (Brokoff 2011, 66). Der vor dem Krieg entstandene Abschied des Träumers vom Neunten Land aus dem Jahr 1991, die 1996 publizierte Winterliche Reise und ihr Sommerlicher Nachtrag aus dem gleichen Jahr, schließlich Unter Tränen fragend, der Bericht über die Karwochenreise von 1999 und der Text Rund um das Große Tribunal von 2002, der über eine Reise nach Den Haag 1998 berichtet, bringen dies auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck. Damit eng verbunden ist das Theaterstück Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg, dessen Proben zur Uraufführung in Wien nach der Karwochenreise und noch während des NATO-Einsatzes „Operation Allied Force“ vom 24. März bis 10. Juni 1999 stattfinden. Schließlich liefern die Kuckucke von Velika Hoća Bilder aus dem Kosovo, der zum Ort einer serbisch-albanischen Auseinandersetzung wurde, die den Eingriff der NATO provozierte. Der Abschied des Träumers konzentriert sich mit der Metapher des „Neunten Land“ auf ein Bild Handkes von Jugoslawien, das eng mit seinen Erinnerungen an Slowenien und seiner zugleich politischen und poetischen Phantasie von der Andersheit des Balkan verknüpft ist (WR 86 f.). Die Winterliche Reise setzt der medialen Berichterstattung über den Krieg in Serbien und den nach Handkes Meinung offenkundigen Vorurteilen eine poetisierende Schilderung des serbischen Hinterlands gegenüber. Ihr erster Teil, der durch eine scharfe Medienkritik gekennzeichnet ist, versteht sich gleichwohl als eine Erzählung und nicht einfach als Tatsachenbericht. Der zweite Teil allerdings zeichnet schon vor, was dann auch den Sommerlichen Nachtrag bestimmt. Angesichts der durch den Krieg zerstörten Landschaften (SN 188 ff.) erscheint dem Autor selbst sein Projekt eines poetischen Gegenentwurfs zum Kriegsbericht der Medien nicht mehr zweifelsfrei. Deshalb ist es auffällig, dass der Text von Unter Tränen fragend, der während der Luftangriffe im Verlauf des sogenannten Kosovokrieges geschrieben wird, nicht anders als Rund um das große Tribunal einen erneuten Angriff auf die Berichterstattung der westlichen Medien und die westliche Politik gegenüber Serbien, schließlich auch auf die Tätigkeit des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag
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formuliert, die immer wieder und durchaus doppelsinnig als das Geschehen in einer Camera obscura bezeichnet wird (RT 21, 35). Die Geschichte des Dragoljub Milanović handelt als letzter der Serbientexte von einem Ereignis, das Handke als sinnfällig für die juristische Aufarbeitung des Jugoslawienkriegs ansieht. Der ehemalige Direktor des Senders RTS wird, nach Eintreten einer neuen politischen Konstellation, von einem serbischen Gericht zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil er das Sendegebäude nicht evakuiert hatte und während des NATO-Angriffs sechzehn Angestellte den Tod fanden. Dagegen wurde der Bombenangriff auf dieses zivile Gebäude vom Jugoslawientribunal in Den Haag ein Jahr später als „Fehler“, nicht aber als Kriegsverbrechen eingestuft (GDM 6 f.). Im Tenor folgt diese Geschichte Handkes grundsätzlicher Kritik am Haager Gerichtshof, die er später in seiner Schrift Rund um das große Tribunal niederschreibt (FE 91, RGT 30 f.). Zugleich findet sie ihre Parallele in der Verurteilung des Novislav Djajić Lovis durch ein deutsches Gericht, die eine zentrale Episode des Einbaums ausmacht (RGT 52, 56 f., 539). Nach Handkes Auffassung sind in diesem Prozess die Fakten, die zur Entlastung des Angeklagten hätten führen können, nicht angemessen beurteilt worden bis hin zu der Tatsache, dass der Internationale Gerichtshof von regulären serbischen Truppen spricht, denen Lovis angehört haben soll, während das deutsche Gerichte das fraglose Kriegsverbrechen als eine Aktion von Freischärlern einstufte. Die in diesem Text vorgetragene Kritik folgt grundsätzlich einem binären Schema, das allerdings nicht grundsätzlich vorherrscht, sondern im Bericht über die Serbienreise und dann in späteren Texten modifiziert wird. Schon die Fahrt im Einbaum, die, durchaus in Übereinstimmung mit dem Bericht über die Serbienreise einige dieser Linien weiterzieht, trägt durch das Diskursspiel, das sie inszeniert, zu einer Differenzierung der „bösen Fakten“ durch den poetischen Diskurs bei. Daran schließen sich die Tablas von Daimiel und die Kuckucke von Velika Hoća an, die wie eine Fortsetzung zur Sommerlichen Reise den Bildern des Krieges, teils ernsthaft, teils ironisch gebrochen, eine poetisch verklärte Alltagswelt gegenüberstellen. Am journalistischen und medialen Diskurs wie an Handkes Serbientexten lässt sich exemplarisch das Aufeinandertreffen zweier Narrative beobachten, die den Bedingungen einer medial geführten Auseinandersetzung nicht entgehen können. Zum Problem wird dabei nicht allein, dass sich Handke „der als Einheitsfront wahrgenommenen Kriegsberichterstattung komplementär entgegenstellen“ wollte (Brokoff 2011, 80) und einen Gegendiskurs entfaltet, sondern dass beide Diskurse dadurch im Innersten miteinander verwandt sind, dass sie sich gleichermaßen auf Bilder beziehen. Dabei sieht es Handke als seine Aufgabe an, die Bilder einer authentischen Wahrnehmung den künstlichen, „anderen und andersartige[n] Bilder[n]“ entgegenzusetzen. Diese sind angepeilt oben von einem gut gewählt Kamerahochsitz, desgleichen kadriert und noch trefflicher ausgeleuchtet, hochglanzbereit und farbraffiniert für den vom Interplanetarischen Photographenverband allsonntäglich verliehenen Goya-, Wurlitzer- oder ‚Bilder-ohne-Grenzen‘-Preis. (SN 235 f.)
11.4 Die „bösen Fakten“: Texte über Serbien
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Es geht also nicht in erster Linie um die Fakten selbst, sondern um das Erklärungsmodell, das Narrativ und dessen Angemessenheit, in das sie eingefügt werden. Wenn Handke die Besonderheit des ästhetischen Textes gegenüber der Faktendarstellung des journalistischen und öffentlichen Diskurses betont, folgt er einer Medienkritik, die sich schon in seiner frühen Sprach- und Medienkritik abzeichnete (EF 19–28). Abgesehen davon sollte man sich allerdings klarmachen, dass der journalistische Bericht auch dann, wenn er sich als Tatsachenbericht ausgibt, nicht selten eine Konstruktion ist, welche die Vermittlung des bloß Faktischen systematisch überschreitet. Schon der Urvater der Reportage, Egon Erwin Kisch, zeichnet mit seinem Leitbegriff der ‚logischen Phantasie‘, den er zuerst 1918 in einem Text über das Wesen des Reporters verwendet, eine Schreibweise vor, der auch aktuelle Reportagen uneingestanden zu folgen scheinen (Cuevas Dávalos 2019, 15 f.). Die kürzlich aufgedeckte R elotius-Affäre des Spiegel kann deshalb nicht völlig überraschen. Kisch betont gegenüber den sogenannten „Leitartiklern“ die journalistische Notwendigkeit, die Lücken zwischen den Tatsachen durch Textelemente zu schließen, die allein dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit folgen. Dass dieses Verfahren allerdings unweigerlich auch eine politische und ideologische Funktion hat, gesteht er 1935 in einer Rede über Reportage als Kunstform und Kampfform ein, wo er unmissverständlich darauf beharrt, dass jede Reportage letztlich ein „anklägerisches Kunstwerk“ sein müsse (Cuevas Dávalos 2019, 15). In der Selbstdarstellung der Medien werden diese Schreibstrategien in der Regel allerdings nicht thematisiert und das Augenmerk ausschließlich auf die Vermittlung von Information gelenkt. Tatsächlich jedoch sind, natürlich aus den verschiedensten Gründen, auffällige Schematisierungen medialer Diskurse nicht zu leugnen. Harold Bloom führte dies dazu, das Fernsehen als „consensus monster“ zu bezeichnen (Bolz 2003, 263). Umgekehrt lassen sich auch in Handkes Darstellung der politischen Fakten im Erzählkonzept seiner Serbientexte Muster erkennen, die dem politischen Urteil selbst dann unterstehen (Deichmann 1999), wenn man ihm das „Recht eines anderen, des poetischen Blicks auf die politische Welt“ zugesteht (Löffler 2005, 79). Jedoch ist das politische Urteil des Autors keineswegs so eindimensional, wie viele Medien glauben machen wollen. Der Verfasser der Berichte über Serbien formuliert dies explizit selbst: „Das Problem – nur meines? – ist verwickelter, verwickelt mit mehreren Realitätsgraden oder -stufen, und ich ziele, indem ich es klären will, auf etwas durchaus ganz Wirkliches, worin alle die durcheinanderwirbelnden Realitätsweisen etwas wie einen Zusammenhang ahnen ließen“ (Handke 1996; Reinhardt 1999). Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Prämisse, dass die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens, die am 23.12.1991 von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt wurde und welche die Unabhängigkeitsbestrebungen der anderen Teilrepubliken nach sich zog, ein funktionierendes, multikulturelles Staatsgebilde zerstörte, das ein Vorbild für Europa hätte sein können, Jugoslawien erscheint ihm als „das wirklichste Land in Europa“ (AT 27), in dem die Völker des Balkans dem „Fluch der Geschichte“ entkommen konnten (AT 30). Den Beleg dafür
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will er mit Blick auf die europäische Geschichte, aber auch im Kontext seiner eigenen slowenisch geprägten Familiengeschichte in Kärnten liefern. Der 2010 erscheinende Text Immer noch Sturm schreibt diese politische Implikation in eine Familiengeschichte ein. Handke hält daran fest, dass der Weg Sloweniens in die Unabhängigkeit nicht allein durch eigenen Entschluss, sondern durch ein Einreden von außen erfolgt sei (AT 28 f.). Für ihn handelt es sich um eine Unterwerfung unter das Urteil der westlichen Staaten. Bildhaft zeigt sich diese für ihn dadurch, dass der slowenische Staatspräsident bei einem öffentlichen Auftreten in der Haltung „eines Kellners, fast Lakaien, den Ausländern sein Land andient“ (WR 136). Dem geht voran, dass Handke im Abschied des Träumers vom Neunten Land die politische Veränderung in einem Diskurswandel der slowenischen Intellektuellen und Schriftstellerkollegen vorgezeichnet sieht, die immer deutlicher westlich geprägte öffentliche Erwartungen bedienen (AT 15, 19, 20). Legalistisch bewertet er die Unabhängigkeitsbewegung als Aufkündigung eines „gemeinsam beschlossenen Bundesstaat[s]“ (AT 22), ideologisch wendet er sich gegen das „Gespenstergerede von einem Mitteleuropa“, welches das „urslowenische Märchen vom Neunten Land“ zerstörte (AT 18). Verbunden damit ist ein antimodernistischer und antiwestlicher Affekt, der die öffentliche Auslöschung aller Hinweise auf kulturelle Identität, auf Folklore und Tradition zugunsten der Schaffung einer künstlichen „Westwelt“, kritisiert, die alle Dinge „gegenstandslos“ erscheinen lässt (AT 10), dafür wird die Dominanz westlicher, übrigens klassischer, Musik im ganzen Land zum Zeichen (WR 138). Von hier aus erklärt sich die Formel von den „durch den Vertrag unter die Macht des Moslemstaats gekommenen Serben von Sarajewo“ (WR 150). Sie ist zwar in dieser Form völkerrechtlich nicht korrekt (Pellet 1992, 178–185) und korrespondiert nicht der Konstruktion von Bosnien-Herzegowina, wo die Serben in der eigenständigen Teilrepublik/Entität der Republik Serbska leben (Brokoff 2011, 75; ET 93). In der Konsequenz allerdings arbeitete der Vertrag von Dayton tatsächlich Handkes Idealbild einer multikulturellen staatlichen Ordnung in Rest-Jugoslawien entgegen. In Bosnien-Herzegowina kam es in seiner Folge zu einer fast vollständigen ethnischen Segregation zumindest der Bosnier und Serben und zum Ende ihres früheren räumlichen Zusammenlebens. Die Porodin-Episode der Morawischen Nacht liefert zu diesem Urteil eine Erzählung (MN 57), das mit ihr verbundene Umsprungsbild zwischen Außen- und Innenwahrnehmung macht zugleich den Modus deutlich, mit dem politische und poetische Reflexion interferieren. In einem Kommentar der Winterlichen Reise zu dem Roman von Dragan Velikić Zeichner des Meridian, einer „scherbenhafte[n] Geschichte über das zerschellte Jugoslawien“, bemerkt Handke in einer programmatischen Äußerung, die sich auf sein eigenes Pendeln zwischen politischer und poetischer Reflexion beziehen lässt: „Erzählung und Erzähltes wirken ineinander und ergeben zuletzt neben ‚Buch‘ und ‚Land‘ ein Drittes“ (WR 107). Zustande kommt dies, nichts anderes geschieht bei Handke selbst, durch einen „Zusammenstoß von
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g eographisch-geschichtlichem und dem entsprechenden Splitter-Ich, das zugleich doch nicht weniger ‚Ich!‘ ist“ (WR 107). Doch mitunter bleibt das Splitter-Ich des Erzählers von Handkes Serbientexten in einem vorgegebenen Diskurs stecken, dies ist besonders dann der Fall, wenn die Reflexion geschichtlich perspektiviert wird. Zur Erklärung des Massakers von Srbrenica hebt Handke immer wieder auf dessen „Vorgeschichte“ im Kampf der Serben gegen die Türken und Hitlerdeutschland ab (SN 199, 239–241; AT 49), obwohl er selbst an anderer Stelle ausführlich die Problematik solcher historischer Bezugnahmen betont (Handke 1993, 73). Dadurch bewegt sich der Autor unvermeidlich parallel zu einem nationalistischen Diskurs der Serben, wie er ausgerechnet von dem für Srebrenica verantwortlichen General Mladić in einer von der BBC dokumentierten Rede artikuliert wird (Brokoff 2011, 79). Eine vergleichbare Problematik ergibt sich, wenn die „Erzählung“ der Winterlichen Reise mit dem Brief des ehemaligen Partisanen unter Tito, Slobodan Nicolić, und dessen 1992 formulierter Klage über die Auflösung Jugoslawiens endet. Indem Handke hier die Worte eines anderen und eines Repräsentanten von Titos Jugoslawien übernimmt, blendet er bei seinem Urteil die Komplexität der politischen Entwicklung danach, und eben auch Dayton, bewusst aus: „Der Verrat, der Zerfall und das Chaos unseres Landes, die schwere Situation, in die unser Volk geworfen ist, der Krieg […] in Bosnien-Herzegowina, das Ausrotten des serbischen Volkes“ (WR 161) werden in diesem Zitat beschworen. Überdies hat man darauf hingewiesen, dass diese Äußerung des ehemaligen Partisanen einer Sicht folgt, die mit dem vom Philosophen Mihajlo Marković verfassten Gründungsmanifest des serbischen Nationalismus korrespondiert (Brokoff 2010; Brokoff 2011, 73). Zu bemerken ist auch, dass der Autor in Belgrad die Anklage des Dragan Velikić gegen die eigene serbische Obrigkeit „nicht hören“ will (WR 112). Anlässlich des Besuchs von Višegrad im Sommerlichen Nachtrag zu einer winterlichen Reise (SN 188 f.) verbindet der Autor mit seiner Kritik an der juristischen und journalistischen Behandlung der dortigen Kriegshandlungen, die immer wieder einen Blick auf drei Kriegsparteien einfordert (SN 213), allerdings eine auffällige Empathie vor allem mit den serbischen Müttern (SN 193). Durchweg werden deren Leidbekundungen als würdevoller geschildert als die der bosnischen Mütter, die das gleiche Schicksal erlitten hatten (SN 205 f.). Hier verbindet sich eine angesichts der in Den Haag verhandelten Fakten irritierende Infragestellung des Ablaufs der Geschehnisse mit einem grundsätzlichen Zweifel an der Korrektheit der medialen Berichterstattung. Dieser spiegelt allerdings eine auch in der Forschung kontroverse Bewertung (Brokoff 2011, 84 f.). Eine vergleichbare Situation ergibt sich hinsichtlich der Frage nach der serbischen Vertreibung der Bosnier aus der Krajina (WR 66, 68). Dort hebt der Autor hervor, dass serbische Opfer in den Medien grundsätzlich anders dargestellt werden als bosnische und dass bei diesen überdies eine Inszenierung des Leids durch den Close Up der Kameras zu vermuten sei (WR 67). Unter diesen Voraussetzungen ist die Vermutung, dass die Problematik von Handkes Winterlicher Reise wie des Sommerlichen Nachtrags nicht so sehr in ihrem politischen Urteil als in ihrer durchaus ambivalenten Sprache und
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Perspektive liegt, nicht ohne Weiteres zu entkräften. Dies fällt umso deutlicher auf, wenn man das Theaterstück von der Fahrt im Einbaum damit vergleicht. Dort geben die beiden Filmregisseure, die sich einer komplexen Lage konfrontiert sehen, am Ende ihr gemeinsames Filmprojekt über den Jugoslawienkrieg auf. Es gelingt ihnen nicht, ihre Wahrnehmung der Geschehnisse in eine publikumswirksame Story zu verwandeln, in der alles „schön der Reihe nach“ abläuft (EF 123).
11.5 Die Herausforderung der Politik und das Versprechen der Poesie Handkes Bemerkung, dass zwischen den Gewalttaten und Verbrechen der am Krieg beteiligten Akteure und den Bild- und Text-Manipulationen der Journalisten, unter denen manche „genauso arge Kriegshunde seien wie jene im Kampfgebiet“ (WR 149), nicht unterschieden werden könne, muss allerdings entschieden differenziert werden. Denn der Autor macht zugleich eine klare Trennung zwischen den „entdeckerischen Journalisten“, die als teilnehmende und beobachtende „Feldforscher“ (WR 148) „vor Ort (oder besser noch: in den Ort und die Menschen des Orts verwickelt)“ (WR 148) sind einerseits und dem, was er den Propaganda-Apparat der westlichen Medien andererseits nennt. An ihm kritisiert er, dass er auf ein Vokabular zurückgreift, das wegen seiner historischen Recodierung unangemessen und manipulativ zugleich ist, als Beispiele nennt er: „Massaker“, „Konzentrationslager“, „Massenvergewaltigungen“, „ethnische Säuberung“ oder „Soldateska“. Dabei gilt es festzuhalten, dass er hier nicht Sachverhalte infrage stellt, sondern die genannten Begriffe als markierte Zitate in seinen Text einrückt (UT 22). Mit diesem Verfahren greift er auf seine frühe Sprach- und Medienkritik zurück, die bereits den Essay Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms mit ganz ähnlichen Worten bestimmt hatte (EF 20 f.). Daneben kritisiert Handke nicht nur, dass zur Beförderung einer manipulativen Absicht der Berichterstattung immer die gleichen standardisierten Leidensbilder verwendet werden, er kann auch auf eindeutige Bildmanipulationen hinweisen, wie sie das schon genannte vorgebliche Konzentrationslagerbild darstellt (Sexl 2011, 89–106; Breuer 2001, 285–303; Schöningh 2000, 159–169). Im Gegenzug will der Autor die „eingefahrenen Medienstandards“ (WR 70) durch „Sprachund Bildempfindlichkeit“ (WR 69) überwinden. Ausdrücklich bemerkt er in einem Interview: „Meine Arbeit ist eine andere. Die bösen Fakten festhalten, schon recht. Für einen Frieden jedoch braucht es noch anderes, was nicht weniger wert ist als die Fakten“ (WR 159). Sein damit verbundener Hinweis auf das Vermögen des Poetischen ändert natürlich nichts, und das bestreitet er keineswegs, an den zu kritisierenden Sachverhalten des objektiv vorhandenen Leids, der wirklichen Gewalt und den militärischen Aktionen, die mittlerweile in Den Haag als Kriegsverbrechen bewertet wurden. Sachverhalte wie das Massaker von Srbrenica leugnet Handke grundsätzlich nicht. Allein dekontextualisiert erscheinen manche seiner Aussagen als Relativierungen, die eine ideologiekritische oder moralische Bewertung provozieren können (SN 241; Steinfeld 2010; Höller 2007, 118).
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Handke kann seinen Anspruch, dem manipulativen Sprach-, Bild- und Mediengebrauch journalistischer Kriegsberichterstattung die „grundandere“ Macht und Autorität der poetischen Sprache entgegenzustellen, durchaus einlösen, soweit es ihm gelingt, das ganz andere der poetischen Welt als Kritik des Bestehenden sichtbar zu machen. Scheitern musste dagegen der Versuch, dem politischen Wort in bestimmter Negation allein Gegenworte oder Zeichen entgegenzusetzen. Obwohl seine Rede am Grab von Milošević keineswegs als Würdigung oder gar Akzeptanz der serbischen Handlungen im Krieg betrachtet werden kann, gab dieser ostentative Akt Anlass zu Fehldeutungen. Dass keiner der Kritiker allerdings inhaltlich auf Handkes mittlerweile veröffentlichten Text einging, kennzeichnet die fatale Schematisierung der öffentlichen Auseinandersetzung (Kastberger 2009, 62–64). Auch wenn Handke selbst bis zuletzt daran zweifelte, ob er seine Rede in der vorgefundenen Konstellation mit den anderen Rednern überhaupt hätte halten sollen, konterkarierte sein Auftreten letztlich seinen Anspruch auf Aufklärung (Brokoff 2011, 61–88; Sexl 2011, 89–106). Dass Handke der Buchausgabe von Gerechtigkeit für Serbien den Text Abschied des Träumers vom Neunten Land voranstellt, deutet an, wie er sich die Lösung vorstellte. Dieser Text verbindet nicht nur den politischen und den angestrebten erzählerischen Diskurs, er belegt auch, dass zwischen beiden eine Wechselwirkung besteht. Zugleich macht er deutlich, dass diese emotional besetzt ist. An die Stelle kollektiver geschichtlicher Bilder rückt sie die persönlichen, sie mobilisiert über Worte und Bilder eine frühe Erlebniswelt, um aus ihr die Bilder der poetischen Phantasie hervorgehen zu lassen. Es geht um eben den Wechsel vom Abbild zum Inbild, den später der Bildverlust thematisiert, indem er dabei durchaus den kriegerischen Bilderkampf des Serbienkrieges nachzeichnet (BV 743). Die sich daraus ergebende Notwendigkeit, die Bilder von Handkes Serbientexten zu kontextualisieren, hat die politische und literarische Kritik am Autor häufig verfehlt. In völlig unangemessener Weise zeigte sich dies, wenn sie glaubte, Handke einen Rückfall in die Bilderwelt des ‚Blut und Boden‘ unterstellen zu können (Zülch 1996, 67; Düwell 2007, 577–587). Grundsätzlich erfordert Handkes Hinweis, dass es sich bei seinem Reisebericht aus Serbien Wort für Wort um einen „Friedenstext“ handle, der die Möglichkeiten eines „gemeinsamen Erinnern[s]“ (WR 159) und einer Versöhnung der verfeindeten Kriegsparteien befördern will, eine doppelte Lesart. Zum einen spiegelt er in der Tat eine konkrete Friedenshoffnung, die Handke nach dem Abkommen von Dayton hat (WR 112; Höller 2007, 111). Zum anderen hebt Handke im Sommerlichen Nachtrag zu einer winterlichen Reise ausdrücklich und schon vorher immer wieder implizit darauf ab, dass dieser Bericht nicht nur die poetische gegen die politische Sprache ausspiele, sondern dass es sich auch um einen Text handele, der seine innere Logik ganz anders als ein journalistischer Bericht entfaltet. Der Ausweg aus den Verstrickungen und Belastungen der Geschichte, auf den Handkes Serbientexte zielen, ist nicht allein eine politische Perspektive, sondern in letzter Konsequenz ein poetisches Programm, es ist die Vorstellung einer „anderen Zeit“, die Handkes Text immer wieder mobilisieren. Doch darüber
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hinaus ist diese ästhetische zugleich eine politische Utopie, die den Verhältnissen zwar nicht angemessen sein mag, aber nichts von ihrer Herausforderung verliert. Darauf zielend will der Autor die eigene Wahrnehmung den sich häufenden Spiegelungen immer der gleichen durch die Medien transportierten Bildern entgegensetzen, die am Ende zu „Verspiegelungen in unseren Sehzellen selber“ (WR 39) führten. Als Voraussetzung dazu verlangt es ihn nach „Augenzeugenschaft“ (WR 39), er will sich „als irgendein Passant, nicht einmal als Ausländer oder Reisender kenntlich“ durch das Land bewegen (WR 40). Die politische und die ästhetische Implikation dieses Programms sind unterschiedlich zu bewerten. Handke selbst ist sich im Übrigen der inneren Dialektik seines Schreibens durchaus bewusst, schon im Jahr 1993 hatte er notiert: „Das Poetische und die Politik sind ja nicht zu trennen“ (Handke 1993, 80). Der Text der Winterlichen Reise bestätigt dies. Sachlich lässt sich zwar anmerken, dass er das Kriegsgebiet bewusst ausspart (Brokoff 2011, 70) und dass, erst im Sommerlichen Nachtrag eingestanden, an die Stelle genauer Wahrnehmung mitunter auch ein voreingenommener Blick tritt, dem man Ungenauigkeit (SN 178 f.) und zuweilen auch privatistische Selbststilisierung vorwerfen könnte (Brokoff 2011, 71). Allerdings hat Handke gerade den letzten Einwand weitgehend entkräftet, indem er selbst die Prämissen seiner Wahrnehmung auf der Reise deutlich macht. Sie kann durchaus als eine literarische Form angesehen werden, als eine ästhetische Versuchsanordnung, die das reale Material transformiert (AT 39), ausdrücklich verwendet er für seinen Sommerlichen Nachtrag den Begriff „Erzählung“ (SN 167; Brokoff 2011, 66). Sein Hinweis, dass sein Text auf den Frieden ziele, ist über den konkreten Realitätsbezug hinaus auch Metapher für den Versuch, der Welt der „bösen Fakten“ das Bild einer ästhetisch transkribierten Wirklichkeit entgegenzusetzen (WR 159). Dass dieses Textspiel mitunter so durch die Realität konterkariert werden kann, dass es infrage zu stellen ist, macht gerade der Sommerliche Nachtrag deutlich. Zudem werden auch dort Zweifel erkennbar. Konfrontiert mit Reaktionen auf die Reisegeschichte kommt Handke der Gedanke, er könne durch sein „Niederschreiben etwas Unrichtiges, Falsches, ja Unrechtes getan haben“ (SN 176 f.). Dies führt in der Karfreitagsreise zur selbstkritischen Bemerkung: „Du kannst nicht auf Dauer Feind deiner Zeit bleiben“ (UT 89). Die Morawische Nacht bestätigt, wie dieser Zweifel fortdauert und sich auch in andere Texte einschreibt. Mit der selbstkritischen Einsicht verbinden sich Beobachtungen des Tatsächlichen. Angesichts des zerstörten Višegrad, wo keine Minarette mehr stehen (SN 194), heißt es zudem unmissverständlich: „Und spätestens hier hörten wir drei Männer im Auto auf, unsere serbische Wintergeschichte frühsommerlich zu wiederholen; hörten überhaupt auf, die Personen einer bereits geschehenen und aufgeschriebenen Geschichte zu sein (was doch Erholung, Lust und vor allem Schutz sein konnte); und spätestens nach dem folgenden Abend […] schien es dann nötig, […] zu unserer Wintergeschichte diesen Nachtrag oder Zusatz zu machen“ (SN 188). Insofern leistet der Sommerliche Nachtrag auch eine Korrektur der poetischen Phantasie von Jugoslawien. Nicht anders geschieht es in Unter Tränen fragend. Die Parteinahme für Serbien weicht nicht hintergehbaren Einsichten. Der Erzähler ist erschrocken über
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den „Totalnihilismus der gegenseitigen Vertreibungen […] der bedenkenlosen Vertreibung der Muslime und Kroaten durch diese und jene der mehrheitlichen Serbenschaften“ (UT 97). Alles beruht auf einer nicht mehr kontrollierbaren Logik, die nur noch ein „Warum das? Wozu?“ als Frage erlaubt (UT 98). Dabei zeigt sich, dass diese Einsichten auch die Nahtstelle zwischen der angemessenen Wahrnehmung des Politischen und dem poetischen Bild der Wirklichkeit markieren. Besonders beeindruckt den Erzähler die im Kampfgebiet wahrgenommene Zertrümmerung der Werkzeuge, die doch einmal „Zeichen der Menschwerdung“ waren (UT 117). So steht am Ende zunächst auch das „Weitererzählen“ unter einem Bilderverbot, später wird unter dem Druck der journalistischen „Erzählungen“ das Wort „‚Erzählung‘, eins der edelsten der Menschheitsgeschichte, etwas Zuwideres und für lange Unbrauchbares“ (UT 73). Das poetische Erzählen muss sich ändern, es gelingt allein noch im „Abweisen jedenfalls der großen, der ausgemalten, der zu Ende geschilderten, der monumentalen und panoramischen Bilder“, alles was möglich ist, sind Miniaturen, mit anderen verbunden zu einer „Arabeske“ (SN 224). Handke greift hier einerseits Schlegels Vorstellung von der Arabeske als der „[…] älteste[n] und ursprüngliche[n] Form der menschlichen Fantasie“ auf (Schlegel KSA II, 318 f.). Sie entfaltet statt nicht linear erzählbarer Zusammenhänge eine verkürzte Kombination von Wort und Bild, die ihre Evidenz aus einer Umschreibung des Tatsächlichen durch den Text gewinnt (Oesterle 1985, 187). Andererseits wird die Arabeske bei ihm auch zu einer epochalen Signatur, darin ist sie dem Capriccio zu vergleichen, auf das Ernst Jünger zurückgreift, um die Signatur der Geschichte offenzulegen (Jünger SW-7, 80). Ein vergleichbares Urteil fällt später Unter Tränen fragend, wenn der Autor lapidar konstatiert: der „Traum von der Geschichte als einer Utopie wird durch diesen nicht nur vermeidbaren, sondern auch scheinheiligsten Krieg bis zum Zeitenende etwas Ausgeträumtes und Untotes, eine untote Idee […] etwas Gefälschtes sein“ (UT 136). Schon dem Reisenden des Sommerlichen Nachtrags schien das Wissen auf der Reise immer ungewisser, „während die Ahnung, die, gemäß meiner Erfahrung, ganz anders vorausweist als jedes Wissen, immer gewisser wurde“ (SN 243). Unter dieser Einschränkung folgt der Bericht über die Serbienreise der grundsätzlichen Überzeugung, dass allein in der „Ahnung“, im Anderen des poetischen Textes eine alternative Wahrnehmung möglich wird, die weder durch die Begriffe von Vernunft und Politik noch durch politisch eindeutige Namen und Bezeichnungen konditioniert ist. Dabei erweist sich in dieser literarisch rekodierten Wiedergabe des vermeintlich allseits Bekannten die Figur des distanzierten Beobachters von außen als eine sinnvolle und notwendige literarische Inszenierung. Sie folgt dem erkenntnistheoretischen Modell, das Musil in seiner Skizze der Erkenntnis des Dichters formuliert hat (Wagner 2009, 303). Zugleich lässt sie sich auf literarische Vorbilder beziehen, auf den aufgeklärten Besuch fremder Welten bei Swift ebenso wie auf die Beobachtung der modernen Welt bei Baudelaire. In dieser Weise ist die Rolle der Reisenden im Sommerlichen
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Nachtrag zu einer winterlichen Reise durch eine textuelle Ordnung, durch die Erzählung, in der diese sich befinden, bestimmt (WR 175). Allein unter dieser Vorgabe lässt sich die Formel von der „Gerechtigkeit für Serbien“ verstehen, es geht dem Autor weder um ein Bestreiten der Sachverhalte noch um eine Anklage, sondern um das Bestreben „überhaupt bloß nach Bedenklichkeit, Zu-bedenken-Geben“ (WR 150). Es geht, jenseits der Parteien, auch grundsätzlich um den gegenwärtigen Status aller Gesellschaften. Angesichts von Srebrenica stellt sich die Frage, „wie ein solches Massaker denn zu erklären ist, begangen, so heißt es, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, und dazu nach über drei Jahren Krieg, wo, sagt man, inzwischen sämtliche Parteien, selbst die Hunde des Krieges, tötensmüde geworden waren“ (WR 147). Der Versuch, die „kristallinische[.] Alltagswirklichkeit“ der nicht in den Krieg involvierten Landesteile zu beschreiben (WR 141), ist unter diesen Voraussetzungen zu bewerten. In der Schilderung idyllisch wirkender Alltagsszenen, von Menschen, die „Wasser tranken, von der Hand in den Mund“ (WR 84), in der Beschreibung von „truthahngroßen Suppenhühnern“ und „andersgelben Nudelnestern“ auf dem Markt – kontextuell übrigens Gegenbilder zu den abwertenden Berichten über serbische Märkte – (WR 97), der Darstellung eines Familienessens (WR 101) und des Verkaufs von Treibstoff aus Flaschen und Gläsern (WR 114) wollte die wörtliche und substantialistische Lektüre vieler Kritiker eine rückwärtsgewandte Idealisierung erkennen. Sie wurde als ideologischer Gegenentwurf zum medienwirksamen Klischee des bösen Serbien angesehen. Doch in letzter Konsequenz greift diese Lesart entschieden zu kurz. Sie erfasst nicht das semiotische Spiel, das der Text inszeniert, denn dieser zielt darauf, aus einem vermeintlichen Blick zurück einen prospektiven Blick zu entbinden. So schildert die Brunnenszene nicht einfach eine andere Welt, sondern sie wird zu einem Zeichen, das ohne den Kontext der vorhergegangenen Ereignisse nicht lesbar ist, sie visualisiert zudem „eine[.] große[.] Nachdenklichkeit, eine[.] übergroße[.] Bewußtheit“ der Bevölkerung (WR 84 f.). Dagegen zeigt das Bild des Familienessens, dass der Ort Porodin, in dem die Szene stattfindet, als Sprachinsel zugleich zum Zeichen für die Utopie sprachübergreifender Verständigung wird. Daneben verbindet sich mit der Beschreibung der Treibstoffverteilung in Flaschen und Gläsern die „Wunschvorstellung“, dass dieser Umgang mit dem Treibstoff als einem „Bodenschatz“ so „weitergehandhabt“ werden „und vielleicht sogar übergehen auf anderer Herren Länder“ solle (WR 114). Schließlich beschwört der Blickkontakt mit einem Lastwagenfahrer aus Skopje/Mazedonien, dessen Transistorradio eine „orientalische, fast schon arabische Musik“ spielt, ein „gemeinsames Gedächtnis“, dessen Schwinden einen „Phantomschmerz“ auslöst (WR 139). In einem Interview betont Handke ausdrücklich die Differenz zwischen der Beschreibung und der Wahrnehmung des Wirklichen und ihrer textuellen Rekonstruktion, die diese Szenen bestimmt. Gefragt nach den eigenen Beweggründen für seine Rückkehr auf den Balkan antwortet er, dass es eine Heimkehr und ein richtiges Zuhause nur „im Buch“ geben kann (Steinfeld 2010). Diese Klassifikation der alternativen Welt als Buchwelt entkräftet den Vorwurf politischer Naivität ebenso wie den der Parteilichkeit grundsätzlich.
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Überdies zeigt sich schon im Sommerlichen Nachtrag, schließlich im Folgetext Unter Tränen fragend, dass das Gesehene keineswegs spurlos an dem Reisenden vorüber gegangen ist und dass auch die poetisierenden Hoffnungsbilder die tatsächlichen Zeichen des Kriegs nicht löschen können. Vielmehr reichen dessen Bilder bis in die Gegenwart. Selbst beim Wahrnehmen ganz anderer Bilder kommt es für den Berichtenden jetzt zu einem „zwangsweise[n] Verwechseln mit einem der täglichen Massengrabbilder“ (SN 247). Am Ende soll es in seiner versuchten „Geschichte ohne menschheitsfeindliche Bösewichte“ keinen Standpunkt und kein „Feind-Bild“ mehr geben (SN 249). Vielleicht aber, so überlegt er selbstkritisch, verzeichnet seine Erzählung allein einen „Durchbruch der Trauer, oder […] zur Trauer“ (SN 248). Dass es in diesen Texten neben der Medienkritik um ganz anderes geht als eine einseitige politische Parteinahme oder eine Relativierung von Gewalt, wird vor allem dann deutlich, wenn der Autor selbst ins Spiel kommt. Mehr als ein Jahrzehnt später belegt der Text Immer noch Sturm, dessen Kern eine Familienaufstellung bildet, dass Handkes Auseinandersetzung mit dem Balkankrieg ihren verdeckten Ausgangspunkt in seiner Erinnerung an Slowenien hat. Sie ist nicht allein politisch geprägt, sondern entfaltet aus einer biographischen Konstellation eine poetische Grundfigur des Schreibens, die alle Texte des Autors gleichermaßen durchzieht (Hafner 2006, 47–63; Hafner 2008). Ausdrücklich thematisiert er dabei den Verlust der Vertrautheit, die er einst bei seinen Wanderungen durch die neu gegründete Republik Slowenien, seine „Gehheimat“ (WR 134), verspürte. Nicht zufällig bezieht er sich am Ende des Sommerlichen Nachtrags auf Ivo Andrićs Rückblick auf Višegrad, der diesen Ort als „Ursprung“ der eigenen Erinnerungen bezeichnet, wo man „frei die ersten Schritte tat“ (SN 250). Gleichzeitig betont der Berichtende, dass er ein vergleichbares Gefühl in Serbien vorher nie hatte (WR 141), eine ganze Zeit lang waren auch für ihn die Serben sogar „Feinde des Menschengeschlechts“ (WR 62). Gerade deshalb bleibt die Frage nach dem Zusammenleben der Ethnien das zentrale Thema. Wenn Handke im Abschied des Träumers vom Neunten Land von „Unwirklichkeit“ (AT 10, 12, 15) spricht, verwendet er den Begriff gerade nicht medienkritisch, sondern bewertet ihn als eine Entfremdung, die sich unter ausdrücklichem Bezug auf Hofmannsthal sowohl literarisch als auch psychologisch verstehen lässt und einen sozialen Kontext zur Voraussetzung hat. Ihr setzt er die neu gewonnene poetische Grundhaltung entgegen, der seine Serbientexte folgen. Die reale Erfahrung Sloweniens ließ die Dinge für ihn ‚gegenständlich‘ nur solange bleiben, als es ihm gelang, diesem Land Geschichtslosigkeit zuzuschreiben. Der Einbruch der Realität in Form des Krieges setzte dem ein Ende und forderte eine Gegenbewegung im Schreiben heraus. Gleiches gilt für den Begriff der „Entwirklichung“ im Sommerlichen Nachtrag zu einer winterlichen Reise (WR 175). Auch er lässt sich auf die Konfiguration einer Erzählung beziehen, in der sich die Personen „als Figuren eines fast schon alten Spiels“ bewegen (WR 175). Damit weist das Konzept des Sommerlichen Nachtrags über die Winterliche Reise hinaus. Es etabliert, neben den bekannten Rückgriffen auf die Aktualität der Ereignisse, ein ästhetisch vermitteltes
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ahrnehmungsprogramm. Dieses folgt der schon vorher gefundenen Leitformel, W dass es um eine noch zu schreibende Geschichte gehe, welche die Völker aus ihrer „gegenseitigen Bilderstarre“ erlösen soll (WR 76). Gerade so erweist sich die poetisierende Darstellung als Gegenentwurf zu den medialen Bildern, die wohl nicht zufällig kontrastiv als „Nachfolge Francisco Goyas“ bewertet werden (WR 63; Jünger SW-2, 315). Während Goya in seinen Desastres de la Guerra die unveränderliche Signatur seiner Epoche ins Bild fasst, will Handke eben dies überwinden, indem er einen geschichtsfreien Raum des Schreibens eröffnet, der auch anderen Bildern Raum gibt. Obwohl er dabei grundsätzlich an die „begriffsauflösende Kraft des poetischen Denkens“ (WÜ 76) glaubt, ist ihm allerdings die innere Dialektik dieses Versuchs schon immer bewusst. Ein frühes Dokument dafür ist der Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere, in dem er zeigt, wie sich die Erinnerungen an eine Geschichte der Gewalt durch die Bilder, die der poetisierende Blick entwirft, nicht einfach löschen lassen, sondern dass sie wie in einem Palimpsest durchscheinen (AT 25 f.; NT 85–89). Dieser Wechsel von Übermalung und Dechiffrierung bestimmt die Serbientexte insgesamt. Davon unabhängig bestimmt die Denkfigur einer Transkription von biographischen, psychologischen und politischen Perspektiven, die als Umschreibung der Welt den Hintergrund der Serbienreise bildet, schon immer Handkes Schreiben. Seit In einer dunklen Nacht prägt sie noch deutlicher die Bilder seiner Texte, die der Leitformel „Schreibend bleib immer im Bild“ folgend (GB 94) in der Regel multiperspektivisch dechiffriert werden müssen. Dies ist von besonderer Bedeutung, weil Handkes Serbientexte durch die zentrale Metapher ‚Balkan‘ auf ganz verschiedenen Ebenen mit den übrigen fiktionalen Texten vernetzt sind, die wiederum ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen. Unter Tränen fragend spitzt einerseits die politische Argumentation Handkes zu und steht so parallel zum Text von Rund um das große Tribunal, gleichzeitig finden einige politische Bezüge unmittelbaren Eingang in das Theaterstück vom Einbaum. Doch in beiden Fällen erwächst aus dem politischen Argument die Phantasie einer anderen Wahrnehmung. Es gehört zur Strategie von Handkes Argumentation, dass sie immer wieder vermeintlich festgelegte Begriffe umkodiert und damit doppelt lesbar macht. Von zentraler Bedeutung ist die Reflexion über den Begriff ‚Propaganda‘ der bewusst invertiert, und dann sowohl als politische Ideologie wie auch als Mobilisierung von Widerstand zugleich verstanden wird. Im Fall der Serben, die sich gegen ein westliches Deutungsmonopol zur Wehr setzen wollen, ist der Rekurs auf Tradition, Kultur und Folklore die „Propaganda“ als bloße Verbreitung eines Gegenbilds, ein Beharren auf dem eigenen als eine Form des inneren Widerstands. Sie „machen Propaganda für ihr Land, auch ohne gefragt und gefilmt zu werden, aus eigenem – jeder propagandiert da für sich allein!“ (UT 53). Es ist eine Abwehrhaltung, weil sich das Land „von einer unbezwingbaren Übermacht bedroht, umzingelt, eingekesselt“ sieht: „Es zieht sein ältestes und feiertäglichstes Gewand an, und warum nicht seine schönste Volkstracht? Und es tanzt seine ältesten und traditionellsten Tänze“ (UT 19 f.). Dem gegenüber erscheint die Propaganda der westlichen Kriegsmächte als „Trommelfeuer aus sogenannten Informationen“ (UT 21). Für
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den Autor folgt daraus, dass das „erste Opfer des Krieges […] die Wahrheit“ ist, und deshalb eine neue Sprache gefunden werden muss (UT 23). Zugleich wird hier eine autobiographische Referenz eröffnet, welche die aggressive Abwehr als Folge einer traumatischen Konstellation erscheinen lässt. Unerwartet kommt es jetzt, ausgelöst durch die Kriegsbilder in Serbien, zu einem „Sichwiederholen meiner ersten Kriegserinnerung, oder meiner ersten Erinnerung überhaupt?“: Dem Berichterstatter erscheint das Inbild eines Bombenangriffs auf den heimatlichen Hof im April 1945 (UT 64 f.). Unzweifelhaft verbindet sich diese Erinnerung später in einer psychischen Superposition mit der Erfahrung eines NATO-Bombenangriffs (UT 147 f.). In diesem Zusammenspiel erinnerter Bilder aus der Kindheit, damit kongruenter Bilder aus Jugoslawien und gegenwärtiger Wahrnehmungen in Frankreich wird eine Dissonanz deutlich, die sich zunächst nicht auflösen lässt. In der Überlagerung dieser Bilder zeigt sich keine „Zugleichräumigkeit“, vielmehr erscheinen sie als eine Art „Ortsräuberei“, sogar ein „Weltentzweireißen“ (SN 246). Die eigene Erfahrung des Krieges hat, einem Diktum Theodor Adornos folgend, auch eine „zeitlose Folge von Schocks“ deutlich gemacht, zwischen denen „Löcher, paralysierte Zusammenhänge klaffen“ (Adorno GS-4, 60). Die Intensität dieser Erfahrung führt dazu, dass die westliche Berichterstattung nach der Rückkehr nach Frankreich als „Wort- und Bilder-Pornographie“ (UT 155) wahrgenommen wird. Erneut zeigt sich, dass es in den Serbientexten nicht nur um den authentischen Bericht und auch nicht allein um die politische Anklage geht, sondern immer auch um den Versuch, die eigene bildhaft gewordene Erfahrung als Korrektur der Bilder und Begriffe der journalistischen Information und zugleich als Äußerungsform eines zugleich individuellen und poetischen Widerstands ins Recht zu setzen (UT 71). Was Handke hier unternimmt, hat er an anderer Stelle zu einer Formel verkürzt: Er weist darauf hin, dass ausgerechnet diejenigen, die sich der Öffentlichkeit mit der Formel „Die Phantasie an die Macht“ präsentiert hatten, jetzt im Balkankrieg als Kriegsherren handeln. Sie alle versucht er mit dem Gestus einer poetischen Auslöschung zu treffen: Ihre Namen werden auf das Kürzel ihrer Anfangsbuchstaben reduziert so wie sie selbst eine komplexe politische Situation auf plakativ verwendete Namen verkürzen (UT 56).
11.6 Orte des Widerstands und der Phantasie: Die Tablas von Daimiel. Ein Umwegzeugenbericht zum Prozeß gegen Slobodan Milošević (2005), Die Kuckucke von Velika Hoća. Eine Nachschrift (2009) Der Text über Die Tablas von Daimiel. Ein Umwegzeugenbericht zum Prozess gegen Slobodan Milošević schließt unmittelbar an die Kritik des Prozesses in Den Haag an, wie sie in Unter Tränen fragend und in Rund um das große Tribunal formuliert wurde. Erneut kritisiert Handke die juristischen Leitlinien des Haager Gerichtshofs, insbesondere die Annahme einer „joint criminal enterprise“ (JCE), welche die Verantwortung Miloševićs und nicht örtlicher Befehlshaber für das
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Massaker von Srebrenica begründen sollte – eine Feststellung, die dann vom Gericht nicht nur letztlich nicht getroffen wurde, sondern gegen die es begründete Zweifel anmeldete (TD 25, 34; ICTY: Karadžić, case no. IT-95–5/18-T, Rn. 3460, S. 1303 und Anm. 11027). Für Handke erscheint ohnehin ein ‚detail significatif‘ im Verständnis von LeGoff nicht weniger beweiskräftig als ein Urteil, das auf einer solchen juristischen Konstruktion beruht. Eine mimisch unterstrichene Geste von Milošević weist für ihn auf die Realität der balkanischen Machtstrukturen zu dieser Zeit, die ihn die juristische Grundannahme der Alleinverantwortung in Frage stellen lässt (TD 32). Darüber hinaus kritisiert er unabhängig von der Diskussion der Gerichtszuständigkeiten, die er auch im Stück über den Einbaum aufwirft, die letztlich ideologischen Vorgaben für ein Gericht, das er als „Schuldspruchtheater“ oder „Bewußtseinstheater“ klassifiziert (TD 18). Wie im Stück vom Einbaum unterstreicht er diese Meinung durch eine Visualisierung. Die Metapher der Camera obscura, mit der die Genauigkeit von Vermeers Ansicht von Delft (Abb. 11.1) verglichen wurde, setzt er dem Bild entgegen, welches das Haager Gericht von der Wirklichkeit entwirft (TD 22). Dagegen bringt er, einem Begriff der französischen Gerichtsbarkeit folgend, seine ‚intime conviction‘ ins Spiel, die für ihn die Rechtmäßigkeit und
Abb. 11.1 Jan (Johannes) Vermeer, gen. Vermeer van Delft (1632–1675): Ansicht von Delft, um 1660/1661. (Den Haag, Mauritshuis, © akg-images/picture alliance)
11.6 Tablas von Daimie (2005) und Kuckucke von Velika Hoća (2009)
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Angemessenheit des Verfahrens in Den Haag grundsätzlich in Frage stellt. Der Terminus der „Umwegzeugenschaft“, den er schon im Titel für sich beansprucht, gewinnt dadurch eine doppelte Bedeutung. Zum einen entzieht er sich damit der vom Gericht vorgenommenen Klassifikation von Zeugen. Zum andern weist er darauf, dass das endgültige Urteil über Serbien erst später gesprochen werden kann. In einer poetischen Figur weisen darauf das Motto von Ibn Arabi „Die Zeit ist Richterin“ und die den Text beschließende Anekdote der Tablas von Daimiel. Diese sind Seen in der Mancha, die durch den stellenweise unterirdisch fließenden río Guadiana gebildet werden, der durch sogenannte ojos an die Oberfläche dringt. Doch eine invasiv wirkende Landwirtschaft – der Anbau von Mais entzog dem Fluss das Wasser – ließ die Tablas verschwinden und zerstörte das unterirdische Wassersystem (TD 62 f.). Der Autor verwandelt dieses geologische Ereignis in eine geschichtliche Metapher. Zudem verweist er mit einer poetischen Erzählfigur, die sich zu einem einfachen Bild verkürzt, auf die Dialektik der Geschichte. Er rückt am Ende seiner Reise zu den Tablas zwei Spanier nebeneinander. Seinem Fahrer, der mit der Formel „mir ist etwas genommen worden“ den Verlust einer alten Ordnung beklagt, zu deren Bild eine geologische Formation wurde, stellt er das „ständige Grinsen“ eines Spaniers in Brüssel gegenüber. Es ist der spanische NATO-Generalsekretär Javier Solana, der die militärische NATO-Aktion gegen das alte Jugoslawien befehligte. Damit verkürzen und verdichten sich die vorangehenden juristischen Überlegungen zu einer poetischen Form der Subversion. Sie allein scheint dem Autor in dieser Situation noch sinnvoll. Damit zeichnet das Ende der Tablas von Daimiel vor, was später in kurzem Zeitabstand und auf unterschiedlicher Weise auch Die Kuckucke von Velika Hoća im Zusammenspiel mit der Morawischen Nacht unternehmen. Im Kontext der Serbientexte begründen sie eine ästhetische Transformation, indem sie reale und imaginierte Bilder ineinander spiegeln. Die Morawische Nacht, die an einer Stelle auch als „imaginierte Reportage“ (MN 287) bezeichnet wird, erscheint 2009. Ein Jahr zuvor, im Sommer 2008 waren die Kuckucke von Velika Hoća als eine „Reportage“ nach Handkes dritter Reise in die serbische Enklave im südlichen Kosovo entstanden. Wenige Monate zuvor, am 17. Februar 2008, war die Unabhängigkeit des Kosovo erklärt worden. Der Ort Porodin in der Morawischen Nacht ist ein Beispiel für die Überlagerung von realem und poetischem Diskurs, die beide Texte bestimmt. Sie vollzieht sich im Spiel der Namen, das die Orte zugleich konturiert und verfremdet. Die reale Geographie ist durch eine „Geographie der Träume“ (Fetz 2009, 194) überformt. Der Ortsname Porodin verbindet ein Dorf in Serbien, „in der Nähe der Stadt Velika Plana“ (MN 8) mit der Phantasie einer Enklave im Kosovo, beide geographischen Daten verschwinden am Ende der Morawischen Nacht (MN 557; Fetz 2009, 201). Doch schon vorher sind beide längst nicht mehr topologisch bestimmbar, sondern verfügen über eigene Koordinaten. Grundsätzlich zielt die Wahrnehmung von Orten in der Morawischen Nacht auf ein „hier wie dort in unserem Europa“ (MN 560), sie folgt einer Beschreibung des Balkans, welche die wirklichen Orte mit einer politischen Utopie, einer poetischen Phantasie und dem Raum k indlicher
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Erinnerungen zugleich verbindet. Es sind Namen, die zu Zeichen dafür werden, dass „doch eine Heimkehr möglich“ ist (Fetz 2009, 462). Dafür stehen Samara, das ursprünglich der Morawischen Nacht als Titel zugedacht war, und das in vielen späten Texte erscheinende Samarkand. Beide sind, anders als Porodin allein, einer mythischen Geographie zuzurechnen (Kastberger 2009, 67; Fetz 2009, 462). Der auf diese Weise imaginär kodierte Balkan beginnt einerseits räumlich schon „lange vor der geographischen und morphologischen Grenzlinie“ (MN 523), zugleich markiert er eine zeitliche Dimension, die ihn in die Nähe einer anderen Welt rückt, einer Utopie in Raum und Zeit im wörtlichen Sinn. Deshalb erscheinen die Erinnerungen, die sich mit dem Wort Balkan verbinden, als „Einsprengsel […] in der Zeit und in den Räumen, Vorwegnahmen, Inselchen, Inselmomente“ (MN 524). Bleibt hinzuzufügen, dass mit der Schilderung dieser anderen Welt immer auch Bilder von Natur und Naturgeschichte verknüpft sind (Fetz 2009, 196). Nicht zufällig stellen die beiden dem Sommerlichen Nachtrag vorangestellten Motti die Frage nach einer Darstellung der Geschichte, die Saint-Simon erörtert, neben eine Naturszene aus dem mittelalterlichen LancelotEpos (SN 164). Im Kontext dieser imaginären Geographie ist die Morawische Nacht nicht anders als der Text über Velika Hoća auch ein Jugoslawien-, ein Balkan- oder ein Europa-Buch, das an jeder Stelle die politischen Koordinaten überschreitet (Fetz 2009, 199). Nicht zufällig spielt dabei die Beschreibung der Gegend eine zentrale Rolle, die schon in Handkes vorangehendem serbischen Reisebericht als „Inbild der stillen und friedlichen Mitte des europäischen Kontinents“ erschienen war (UT 60 f.). In der Karwoche 1999 hatte der Berichtende den Eindruck, „als seien diese Dörfler hier unfähig, die Kriegsnachrichten nachzuvollziehen; da sie aber doch daran glauben müssen, wird mit diesem Unwirklichkeitszwiespalt auch ihr Alltagsleben unwirklich“ (UT 63). Im Text der Kukucke entfaltet der Berichterstatter vergleichbare Bilder, doch sie werden anders kontextualisiert. Das beginnt damit, dass der Gegendiskurs des Politischen und die Leitworte des Journalismus jetzt nicht aggressiv abgewehrt, sondern spielerisch verwendet werden (Höller 2009, 205). Schon deshalb ist die Nachschrift der Kuckucke der Sommerlichen Nachschrift zur winterlichen Reise an die Seite zu stellen. Beide greifen eine Phantasie aus dem Epilog zur Winterlichen Reise auf, die ein „ausscheren zu einer anderen Geschichte“ beschwört, die sich der „Unheilskette“ der „Jahrhundertgeschichte“ entgegensetzen könnte (WR 157). Diese erneute „Nachschrift“ ist allein durch das Nachhinein der Schrift möglich und von „Nachdenklichkeit geprägt“ (Höller 2009, 206), obwohl der Autor in Albanien eine politische Situation vorfindet, die mit jener der Serben in Bosnien-Herzegowina vergleichbar ist, weil die Bevölkerung in einem „fremden Staat“ leben muss (DKV 7). Doch auch hier werden diese politischen Daten mit den Namen und Zeichen einer mythischen Geographie überschrieben. Dadurch folgt der Text einer signifikanten Doppelbewegung, die sich aus Lektüre und Relektüre der Daten ergibt, auf die er sich bezieht. Zunächst wird das „Verschwinden der Sprache der Besiegten“ (Höller 2009, 208) in einer Beobachtung
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sinnfällig gemacht, wie sie sich auch in der Auslöschung der kyrillischen Schrift in der Porodin-Episode der Morawischen Nacht findet (DKV 97; MN 100, 521). Das Kartenlesen des Autors wird zur kriminalistischen Lektüre eines kulturellen und politischen Registerwechsels (Höller 2009, 209) und die Nachschrift verschweigt nicht den Sprachverlust und die Traumata, welche die Bewohner des Gebiets prägt, eine Passage, die man mit guten Gründen auf den erzählten Raum der Hornissen rückbezogen hat (Höller 2009, 217). Doch zugleich bewertet der Text, der auch das Versagen der journalistischen Ursachenerforschung belegt (DKV 8 f., 44 f., 46; Höller 2009, 211), die kulturellen Registerwechsel im albanisch-serbischen Gebiet als „Polyphonie“ (Höller 2009, 207) und liest im Gegenwärtigen die Zeichen einer möglichen Zukunft. Sie scheinen auf durch die „entdeckerische Kraft des Erzählens“, die sich zunächst auf Vekoslavs verborgenen Garten richtet, das Projekt eines Mannes, der in der dörflichen Gemeinschaft sonst nur als ein „Mittel- und Zukunftslose[r]“ erscheint (DKV 69; Höller 2009, 214). Sie verdichten sich beim Übergang über die Brücke von Mitrovica, wo nach Beiseiteschieben der Stacheldrahtrollen der Blick auf den albanischen Teil ein fast utopisches Bild wahrnimmt: Der „Friede hatte seinen Grund – er lag in der Luft und ebenso klar auf der Hand –“ (DKV 26 f.). Es ist von Bedeutung für diesen anderen Serbientext, dass dieses Bild von Pathos und Sozialromantik frei ist. Die Konzentration auf die Kuckucke eröffnet eine humoristisch und nicht ohne Selbstironie geschildert Gegenwelt zu Rambouillet, dem Ort der politischen Entscheidung: Es ist ein „regelrechtes Kuckuckswelttreffen oder -konzil“ (DKV 39). Gleichzeitig rückt an die Stelle der großen politischen Utopie der Blick auf die einfachen Dinge, der das Erzählen steuert und zugleich dafür sorgt, dass sich dieses nicht selbst überschätzt. Das „Deutungslose“, so vermerkt der nach Frankreich Zurückgekehrte, „es wirkt nach – nachhaltiger Teil des Bleibenden und Überdauernden; jedenfalls, jetzt und jetzt, in mir. Und so möchte ich es überliefern, hier und hier“ (DKV 97; Höller 2009, 219).
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Dafür dass Handke am Theater wie auch im Schreiben vor allem das Dramatische vermeiden will, gibt es viele Belege, die sowohl seine Überlegungen zum Theater als auch seine Vorstellungen über das Erzählen betreffen. In der Geschichte des Bleistifts sind sie sentenzhaft vorformuliert, in späteren Erzählungen wird darauf Bezug genommen. Alle diese Äußerungen machen deutlich, dass sich der Rekurs des Autors auf das Epische keinesfalls mit dem von Brecht vergleichen lässt (Lehmann 2012, 67). Programmatisch heißt es in der Geschichte des Bleistifts: „Ein Epos aus Haikus, die sich dabei aber keinesfalls als solche Einzeldinge bemerkbar machen, ohne Handlung, ohne Intrige, ohne Dramatik, und doch erzählend: das schwebt mir vor als das Höchste“ (GB 52). Aus dieser Überlegung erklärt sich auch Handkes Faszination von Aischylos, bei dem er einige seiner Ansätze vorgezeichnet sieht und der ihm von allen Dramatikern „als der vollkommenste“ erscheint, weil es bei ihm „nur die Wortgewalt“ als ein „reines Drama“ gibt (GB 238). Bleibt hinzuzufügen, dass diese Entdramatisierung von Anfang an auch den Blick auf andere Medien bestimmt. Die Verfilmungen der Linkshändigen Frau oder des Himmel über Berlin geben Beispiele für den Film, der Blick auf Cézanne in der Lehre der Sainte-Victoire und der ausführliche Bezug auf Poussins LʼÉté ou Ruth et Booz in der Obstdiebin belegen dies nachdrücklich für die Malerei (OD 466).
12.1 „Zum Dreinschlagen fremd“: Das Spiel vom Fragen Oder die Reise zum Sonoren Land (1989) Dass Handke trotz einer Aversion gegen das Theater, die er 1967 in einem Brief an Henning Rischbieter äußert, kontinuierlich Texte für das Theater schreibt (Lehmann 2012, 67), hat einen doppelten Grund. Zum einen ist das Sprechtheater Handkes, das man auch als ein letztlich unaufführbares Lesedrama abzuwerten versuchte, der Ort eines öffentlich inszenierten Sprachexperiments, in dem sich © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_12
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Sprachbewusstsein und Sprachreflexion von Anfang an verbinden und damit die Grundfigur des Kaspar durch alle anderen Stücke fortschreiben. Zum zweiten beziehen sich die Stücke Handkes immer wieder auf Bilder, die Referenzen zu den erzählenden Texten aufweisen. Nicht zufällig gibt die Szenenanweisung des Spiels vom Fragen als Handlungsort schon zu Beginn ein Landschafts-Plateau an, das in vielen erzählenden Texten Handkes ebenfalls bevorzugter Ort der Handlung ist. Vorgezeichnet ist diese Überkreuzung von Sprache und Sprachbild bereits in der Geschichte des Bleistifts: „wenn ich ganz ruhig versunken bin, nehme ich wahr eine Art ewiger Schrift (besser: ewiger stiller Rede); wenn ich ganz ruhig aufmerksam bin, nehme ich wahr eine Art ewiger Bilderfolge: das bewußte Schreiben aber hieße, daß beides in eins geschieht[…]“ (GB 49 f.; 63). Schließlich stiftet die öffentlich vorgetragene Sprachreflexion auf der Bühne eine neue Beziehung zwischen dem Publikum und den Akteuren. Diese korrespondiert der intertextuellen Beziehung zwischen Erzähler, Figuren und Leser, die Handkes Texte ebenfalls immer wieder so eindringlich inszenieren als folgten sie Roland Barthes Bestimmung des „intertexte“ (Barthes 1974, 94). Im Innern seiner Texte korrespondiert dem die Darstellung von Erzählgemeinschaften, die insbesondere in Mein Jahr in der Niemandsbucht, in der Morawischen Nacht und im Bildverlust zentrale Bedeutung erhalten. Darüber hinaus hat diese Schreibpraxis offensichtlich auch eine psychologische Komponente: In ihrem Kern geht es um die Frage, inwieweit sich das Ich über Sprache oder Schrift artikulieren kann. Das Theater kann dazu eine Möglichkeit bieten, es wiederholt dabei nur, was schon auf der inneren Bühne des Autors geschieht: „Wie oft bin ich schmerzlich allein auf der Bühne meines Innern, und dann kommen endlich andre dazu, du und du, manchmal die Völker der Erde, und auf meiner Bühne spielen wir dann nicht, sondern sind einfach zusammen, und in meiner Brust ist es weit und warm geworden“ (GB 13). Mit guten Gründen hat man in diesem psychologischen Bild auch eine Analogie zur „Polarität von Zuschauer und Akteur im Theater“ (Lehmann 2012,70) gesehen. Zugleich geht es um das zentrale Thema des Verhältnisses von Schrift und Sprache, das Handke ebenfalls in der Geschichte des Bleistifts ausführlich benennt und das später immer wieder passagenweise in seine erzählenden Texte eingeschoben ist. In dem, was ich geschrieben habe, bin wohl ich, aber es fehlt meine Stimme. […] Als wäre es eine Erlösung, alles vom Schriftlichen ins Mündliche überzuführen. Ich würde nur noch, manchmal, reden, nicht mehr schreiben. (GB 134)
Gerade diese Alternative verfolgt er jedoch nicht, dagegen belegen seine erzählten Reflexionen über Sprache und Schrift, dass diese Überlegung nicht nur sein Erzählen bestimmt, sondern dass sie dort auch immer wieder offen verhandelt wird. Dahin weisen einerseits die Vorstellung vom stammelnden Erzählen im Chinesen des Schmerzes (CS 231) und die immanente Poetologie in Mein Jahr in der Niemandsbucht (MJN 836). Andererseits ist dieses Thema unmittelbar mit dem von der Suche nach der verlorenen Sprache verbunden. Dies belegt vor
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allem In einer dunklen Nacht (IN 86), wo der Entschluss des Protagonisten, zu den Menschen zurückzugehen, unmittelbar eine Entscheidung für die Sprache, ein Aufheben des Verstummens erfordert (IN 266). Damit stehen das Theater und das Erzählen bei Handke in einem spiegelbildlichen Verhältnis: Das Theater verweist durch seine Sprache auf geschriebene Texte und die geschriebenen Texte entwerfen ihrerseits eine Vorstellung von Sprache. Diese Wechselbeziehung entwickelt sich dynamisch, denn das Spiel vom Fragen thematisiert die Suche nach einer neuen Form des Theaters und stellt sie zugleich dar. Programmatisch sind sich der Mauerschauer und der Spieler in einem Satz einig: „Laß uns eine Zeitlang noch ohne Ziel gehen!“ (DSF 156). Daraus begründet sich zugleich eine Abkehr vom Reglement des traditionellen Theaters. Wenn die Schauspielerin zu Beginn betont: „[…] ich tue dann nichts, ich verkörpere einfach […]“ (DSF 24), meint sie dies im wortwörtlichen Sinn. Sie weist nicht auf eine Rolle, die sie darzustellen hat, sondern auf die Präsenz ihres Körpers, den allein sie ins Spiel bringt. Gerade so kann der Schauspieler zu einem „Wahrspieler“ werden (DSF 24). Konfiguriert ist diese Präsenz des Körpers auch an späterer Stelle. Als zitierte sie zentrale Überlegungen von Jacques Lacan spricht die Schauspielerin über das Begehren selbst, „einzig das Begehren meines Gesichts, das Begehren meiner Augen“ (DSF 95; Lacan Seminar I, 226 f.; XI, 122). Auch daraus erwächst eine Anforderung an das Stück, das auf die Bühne bringen will, was recht eigentlich nicht gezeigt werden kann. Während das traditionelle Theater den Körper zum „unnahbaren Massiv“ macht und die Schauspieler als „in den Käfig lockende Affen“ betrachtet (DSF 27), erfordert das Spiel vom Fragen eine neue Kunst auch des Theaterspiels (DSF 25; Roeder 2012, 180 f.). Doch abgesehen von diesem Programm, das ein Fragespiel und ein Suchspiel zugleich umreißt, weil alle Fragen im Verlauf einer Reise erlernt werden müssen, stellt dieses Stück nicht nur die Gegenwart des Bühnengeschehens her, die eine andere Form von Gleichzeitigkeit schafft als das Erzählen. Das Theater lässt auch präsent werden, was das Schreiben beständig umkreist: Die Gegenwart der Stimme und den Augenblick der gemeinsamen Rede, auch wenn diese oft nur deklaratorischen Charakter haben mag. Deshalb hat man Handkes postdramatisches Theater, das emphatisch auf Literatur bezogen ist, als „Sprachtheater und Theater der Sprache“ bezeichnet (Lehmann 2012). Genau genommen ist dieses Stück „nichts und alles. Ein Singspiel ohne Gesang. Ein Sprechstück, eine Litanei, ein Wortschwall. Eine Pantomime. Eine Zauberposse. Ein philosophischer Disput. Ein Prüfungs- und ein Lehrstück“ (Henrichs 1990). Die Reise zum Sonoren Land, die der Untertitel des Stücks verspricht, macht deutlich dass es bei der Sprache hier zunächst um ihren Klang und nicht so sehr um eine transportierte Bedeutung geht. Dies artikulieren die Schauspieler, wenn sie als ihr Problem erkennen, „daß wir heutigen Spieler unfähig zur Durchlässigkeit sind“ und dass „unsere Gesten nur noch uns selber zeigen, statt hinaus in einen Raum“ zu weisen (DSF 26). Um diese Durchlässigkeit zu erreichen, ein Bild, das an die Rolle der persona, der Maske im antiken Schauspiel anschließt, gilt es, „von vorne wieder mit dem Fragen“ anzufangen (DSF 29). Allein so kann
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der „d r i t t e Körper“ entstehen, von dem der Schauspieler spricht (DSF 27). Dadurch entsteht auf der Bühne eine Performance, die durch ihre Verbindung mit der Geschichte von Wolframs Parzival die Vorstellung einer Rückkehr zur Unmittelbarkeit mobilisiert. Diese weist entschieden in die Erfahrungs- und Gefühlswelt der Kindheit zurück, der Schauspieler lebt „von der Frucht [s]einer Kindheitswunden“ (DSF 28; Roeder 2012, 180 f.). Gerade deshalb ist das Fragen, um das es hier geht, weder zielgerichtet noch standardisiert, es gründet auf autoreferentiellen Sprachgesten, nicht auf linguistisch bestimmbaren Sprechakten. Zugleich durchschlägt dieses „ausstehende Drama des Fragens“ (DSV 29) mit einem zivilisationskritischen Gestus die Oberfläche der herrschenden Diskurse, wie es auch in anderen Texten des Autors, insbesondere im Großen Fall geschieht. Durch seine auf der Bühne inszenierte Konzentration auf Stimme und Körper entzieht sich das Stück auch partiell dem Gesetz der Repräsentation und berührt gerade so die Körperlichkeit des Zuschauers (Roeder 2012, 182 f.). Parallel dazu wird in der Beziehung des Schauspielers und der Schauspielerin allein der Körper zum verbindenden Element, allerdings in einer signifikanten Doppelfigur. Einerseits weist er auf die „Spur von Blut und Sperma kreuz und quer durch den Kontinent“ (DSF 33), die für den Schauspieler zum phantasmatischen Bild seiner Liebesbeziehung wird, andererseits wird diese Form von Körperlichkeit umgehend wieder spielerisch gelöscht in der Vorstellung, dass sich die Liebenden in einem wie körperlosen „Ineinanderübergehen“ vereinen (DSF 35). Es ist eine Phantasie, die Handke im Text der Obstdiebin wiederholen wird (OD 436). Die beiden Alten deuten diese Doppelbewegung aus der historischen Konstellation: „Was für umständliche Spiele die Paare doch heutzutage spielen müssen“ (DSF 101), weil sie „keine Zeichen“ mehr haben, „die ihnen den Umweg des Redens abkürzten“ (DSF 101). Eben diese Doppelfigur von Konkretion und Löschung als Zeichen eines anderen wiederholt sich insgesamt auf der Bühne. In einer als „schamlos bezeichneten Neuzeit“ wird das „Stummbleiben und Nichtfragen“, von dem sich die Schauspielerin betroffen weiß, zum „Lebenszeichen einer ursprünglichen Scheu“ (DSF 29). Zugleich stellt sich die Sprache auf der Bühne dem „Wespenschwarm des Geredes“ entgegen (DSF 89), dem auch der Zuschauer in seinem Alltag untersteht. In der „Durchlässigkeit“ der Schauspieler wird ihm die Möglichkeit einer mentalen Befreiung angeboten, die sich jenseits der Identifikation mit den Figuren auf der Bühne vollzieht. Eine völlig andere Qualität erhält das Thema des Fragens durch den Bezug auf Wolframs Parzival, in dem bekanntlich die Mitleidsfrage eine zentrale Rolle spielt. Handke hat sich mit diesem Epos nachweislich seiner Notizbücher seit 1970 immer wieder auseinandergesetzt, die Bühnenhandlung folgt dem Schema des Epos, weist ebenfalls drei Teile auf, von denen der letzte nochmals über fünf Szenen verfügt. Damit etabliert das Stück zugleich das Schema der aventiure, die Reise der Protagonisten ist eine Fragereise, die sich wie in der mittelalterlichen Vorlage als „Bildungsweg“ vollzieht. Wie diese auch endet es im Fragen (Pektor 2012, 165).
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Vorgestellt ist dies alles durch eine Gruppe von Menschen, allesamt typisierte Figuren mit sprechenden Namen, die sich im „Hinterland“ treffen und sich aufmachen, um im „Sonoren Land“ das richtige Fragen, das sie verlernt haben, wiederzufinden. Es sind drei Paare, die Alten, die jungen Schauspieler, der Mauerschauer und der Spielverderber, und schließlich Parzival, der Protagonist Wolframs von Eschenbach. Dessen „tumber Tor“ erscheint bei Handke allerdings eher als ein „Verstörter“, jedenfalls als ein Nachkomme seines Kaspar. Weil nicht nur das Fragen, sondern auch die gemeinsame Sprache dieser Personen erst noch gefunden werden muss, berühren die häufig antithetisch angelegten Dialoge Themen, die vom Alltäglichen bis zum Pathos des Verkündens reichen. Handke selbst hat diesem Stück in einem Interview aus dem Jahr 1992 zudem einen übergreifenden werkgeschichtlichen Zusammenhang zugewiesen, dort nannte er es seinen „Faust“ (Kathrein 1992, 15). Dass das Spiel vom Fragen ursprünglich die „Kunst des Fragens“ heißen sollte, deutet an, dass das richtige Fragen, das hier erlernt werden soll, eine Kunst und zugleich die Voraussetzung von Kunst in den Blick fassen müsste (Pektor 2012, 165). Neben diesem mehrschichtigen Sprachspiel gewinnen Bilder eine besondere Bedeutung. Mitunter lässt Handke das Reden sogar hinter die Bilder zurücktreten und in deutlichem Rückgriff auf den in der Widmung genannten Ferdinand Raimund kann sich die Bühne zum Zaubertheater verwandeln (DSF 110 f.; Henrichs 1990). Vorgezeichnet ist dies nicht nur in den vielen Naturbildern mit dem für Handke typischen Inventar von Zypressen, Maulbeerbäumen und Saftbeeren (DSF 86), sondern auch in den sich damit verbindenden verfremdenden Bildern der Schauplätze und solchen, welche die Wahrnehmung durchkreuzen: „Pappellicht: Entfernungsverzerrlicht, Autozusammenstoßlicht“ (DSF 86), schließlich aber in der märchenhaften Szene, in der das „Rad des Fragens“ und eine Hütte als „Palast des Fragens“ erscheinen und sich das Licht zum „Fragelicht“ wandelt (DSF 129). Diese Verkürzung der Handlung zur Sprachhandlung verfügt über eine verdeckte Einschrift. Die Suche nach dem richtigen Fragen, die das Spiel schildert und die es zugleich in seinem Innern inszeniert, hat eine historische und eine lebensgeschichtliche Dimension. Grundsätzlich folgt auch dieses Stück Handkes Strategie, „den semantischen Bereich seines Themas als Durchquerung der Sprachwelt seiner Kindheit anzulegen und jenseits des Geläufigen jene anderen Zeichen […] zu fixieren, die seine Formensuche vorantreiben“ (Wagner 2010, 115). Dies modelliert das Spiel vom Fragen als Wiederfindung und als Lernprozess zugleich. Beide erfolgen in einer Bewegung: „Das Fragen abbrechen geht jetzt nicht. Das Spiel muß weitergehen“ deklariert der Mauerschauer (DSF 47). Die historische Referenz erfordert die Übersetzung einer geschichtlichen Erfahrung in die Gegenwart, einer Sprache in eine andere. Parzival, der zu Beginn wie Kaspar als infans, als sprachlos Unmündiger im Wortsinn auftritt und erst noch seine eigene Sprache finden muss, wird für die anderen zum Garanten dafür, dass es eine verlorene Sprache gibt, die sie finden können. Für ihre „heutigen
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Erwachsenenkörper[.]“, die „stumpf geworden von den Wiederholungen, gegenwartsunfähig gemacht durch die Erinnerungen“ sind, geht es darum, „die Bilder [des] fremde[n] Ritter[s]“ wieder „ins Leben“ zu übersetzen (DSF 37). Dieser Rekurs ist zugleich lebensgeschichtlich konnotiert. Parzival, der sich nur durch Körperreaktionen und Gesten ausdrücken kann, gibt als ersten Laut ein sonores Summen von sich, bevor seine eigentliche Spracherziehung erfolgen kann. Ausdrücklich wird er als das „Kind Parzival“ (DSF 42) bezeichnet, seine ersten Worte sind nichts anderes als Formeln, Versatzstücke und Zitate aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen, die er nachspricht und die isoliert keinen Sinn ergeben (DSF 49–51). Hier setzt das Drama seiner linguistischen Erziehung ein, in der das Wort „Vater“ an erster Stelle steht (DSF 49). Der Spielverderber äfft als schwarzer Pädagoge Parzivals Sätze nach, damit dieser „die Spielregeln schockhaft begreift, von seiner Verbannungsinsel zu uns übersetzt und endlich mit uns mitspielt“ (DSF 42). Unberührt davon geht Parzivals Sprachwerdung jedoch weiter, obwohl er auf die zunehmend aggressiver werdenden Fragen der beiden Alten wiederum zunächst mit Formeln aus der Welt der medial vermittelten Unterhaltung antwortet: „Und sag mir, wo die Blumen sind? Und wer wirft den ersten Stein? Und was geschah wirklich mit Baby Jane?“ (DSF 106). Damit folgt das Spiel vom Fragen sowohl der Textvorlage des mittelalterlichen Parzival als auch Handkes Kaspar. Doch in der letzten Szene werden beide Bezugstexte auf eigentümliche Weise invertiert. Parzival erscheint in einer Naturszene zunächst wie ein sprachloses Tier auf seine Körperlichkeit reduziert, bevor er in Anwesenheit des Einheimischen, der als Bühnenmeister auftritt, zuerst Sätze aus Literatur und Philosophie zitiert (DSF 122 f.). Danach verfällt er in eine monomanische Rede, ein Konglomerat von phantastischen Bildern, Märchenszenen und der Konfiguration phantastischer Erinnerungen an Vater und Mutter, die ein patchwork aus literarischen Sätzen darstellt (DSF 126). Schließlich beginnt er darüber zu sprechen, dass er in seinem Leben wichtige Fragen vor allem an seine Eltern unterlassen hatte. Doch nicht um diese versäumten Fragen des familialen Zusammenlebens geht es jetzt und auch nicht um die Einfügung in einen sozialen Kontext wie im mittelalterlichen Epos. Stattdessen erkennt Parzival, dass er eine ganz andere „Kunst des Fragens“ hätte erlernen müssen. Diese ist nicht zielgerichtet, sondern offen, nicht zweckbezogen, sondern so spielerisch wie die Frage nach einer „Phantasiestraße“ (DSF 133). Am Ende jedoch tritt Parzival zurück. Das Stück konzentriert sich auf die drei Figuren des Spielverderbers, des Mauerschauers und des Einheimischen. Erst im Wechselspiel ihrer dissonanten Reden werden die Konturen eines anderen Fragens deutlich, das sich bei Parzival nur angedeutet hatte. Von Anfang an steht das destruktive Sozialverhalten des Spielverderbers, das an jeder Stelle auf eine Dekonstruktion der großen Worte wie der Phantasiebilder zielte, in scharfem Gegensatz zu der Teichoskopie des Mauerschauers, dessen Blick Naturbilder erfasst, wie das „Spiegellicht“ hinter dem Wald oder den dunklen Fleck eines Eichenhains, und diese zugleich allegorisch kontextualisiert. Er spricht vom „Aufwind aus der Heimat des Fragens“, von der Stille und der Frage, ohne die es kein Bild gibt (DSF 62). Damit bringt er einen hohen Ton auf die Bühne, der
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den poetischen Phantasien seines Erfinders korrespondiert, wie sie im Bildverlust präsentiert werden. Die linguistische Sozialisation Parzivals wird durch Bilder einer kulturellen Sozialisation abgelöst, die der Mauerschauer immer wieder gegen den Spielverderber verteidigen muss. Auf der Bühne wiederholt sich in der Tat das innere Drama des Autors, der zwischen dem Anspruch auf einen erhabenen Ton der Poesie und dem Selbstzweifel pendelt. Nicht ohne Grund nimmt der Spielverderber, wenn er zum Blick auf die Schuhspitzen mahnt und vom gesenkten Blick spricht (DSF 63), ein kritisches Selbstbild des Autors auf, das dessen frühe Texte durchzieht (AW 31). In der letzten Szene verwandeln sich diese Referenzen in eine Trias widersprüchlicher Weltentwürfe. Der Mauerschauer, der am ehesten Überlegungen Handkes zitiert und dessen literarischen Vorbildern folgt, – er spricht auch als Tschechow und Raimund – folgt einer Phantasie der Poesie und benutzt dabei Handkes Signalwort des „Schauens“ als Metapher für die andere Wahrnehmung und das Sich-Versenken in die Dinge (DSF 78). Zugleich bindet er diese poetische Phantasie in ein Bild kultureller Sozialisation ein. Das schärfere Schauen ist auf das Lesen angewiesen, das zugleich die Rolle des Buches bestimmt: Als Leser spricht der Mauerschauer über das Lesen (DSF 89). Dieses begreift er als „Erlösung von den Spiegelbildern, durch den Eintritt in das Eine Bild“ (DSF 90), zugleich befürchtet er, dass die „Zeit des Lesens“ vorbei ist. Es ist eben die Grundfigur, die Handke einige Zeit später im Bildverlust behandeln wird, wo das Lesen und die Bilder von einem historischen Umbruch bedroht sind. Exakt diese Linie ziehen die Kommentare des Spielverderbers aus. Er ist eine der Gegenfiguren, die Handke dem eigenen Anspruch immer wieder entgegensetzt, sie nimmt die Selbstzweifel des Autors ebenso auf wie die die Vorbehalte des Feuilletons gegen ihn. So richtet sich die Kritik des Spielverderbers einerseits auf die poetischen Bilder des Mauerschauer, unter denen die Linde hervorsticht (DSF 84), und auf den hohen Ton, der diesen den anderen fremd macht: „Deine Art Schauen, heißt das nicht Vereinsamung, im Sinne von: Für nichts mehr in Frage kommen?“ (DSF 77). Andererseits attackiert er den damit verbundenen philosophischen Kontext. Er erklärt das Wort „Lichtung“, das den Bezug auf die in anderen Texten angesprochene Existentialontologie Heideggers eröffnet (Huber 2005, 351), für „Mittelalter“, als „unwirkliche[n] Ort“ (DSF 134). Gleichzeitig leitet er einen Strategiewechsel ein, dem Handkes Stück in der Tat dann folgt: Das Erzählen vom Fragen wandelt sich zum „fragende[n] S p i e l“ (DSF 135). Es ist eine poetische Denkfigur, dass der Vollzug der Frage mehr ist als die zu erwartende Antwort. Dieses Fragen Spielen heißt: Offen bleiben für das Ungewohnte und noch nicht Gedachte. Allerdings erscheint auch dieser Versuch vom Gang der Zeiten überholt. Der Spielverderber hält es für möglich, dass die gemeinsame Reise ins Sonore Land sinnlos war, ganz anders als der heroische Zug der Cheyenne zurück in ihr Heimatland (DSF 144). Doch gleichzeitig hat er Angst, nach dieser „Zeit im Weltreich der Stille und der fragenden Phantasie und des zur Frage geweiteten Traums“ zurückgehen zu müssen in den Bezirk einer „Despotie der Wappen, Fahnen, Nummern- und Namensschilder“. Der Sinn des Spiels vom Fragen, an dem auch
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er, wenngleich bloß als Kritiker, teilnimmt, liegt in den Phantasien, welche die Fragereise eröffnete. Er besteht auch in dem Aufschub, den die Reise zur Frage gewährte. „Schwindet das Fragen, so schwindet auch mein Schöpfungsgefühl“ (DSF 150), erkennt er jetzt. Darin eröffnet sich die Leistung des Theaters, die Handkes Stück im Wortsinn inszeniert. Als ein Spiel, das für die Dauer des Bühnenhandelns der historischen Zeit enthoben ist, wenn es seiner Eigenzeit folgt, erlaubt es einen Blick auf das im Lauf der Geschichte Verlorene. Man mag hier ein unangemessenes Pathos erkennen, doch allererst ist es eine Konzentration der Wahrnehmung auf die einfachen Dinge, ein Außenblick aus dem Fenster der Zivilisation in das, was sie hinter sich gelassen hat. Insofern repräsentiert der Einheimische das Verlorene und das Eigene zugleich. Zusammen mit ihm handelnd ist Parzival weder eine abgelebte Figur noch eine bloße literarische Reminiszenz. Im Geschehen auf der zeitgenössischen Bühne, die ihn fremd erscheinen lässt, wird er zu einer Vermittlungsinstanz. Er markiert als Figur das Ineinandergreifen von Kindheitsphantasie und poetischer Phantasie. Nicht zufällig übt er im Wechselgespräch mit dem Einheimischen die Worte „Wind“, „Himmel“, „Staub“ und „Wasser“ ein und mit guten Gründen spricht er am Ende seiner nachfolgenden literarischen Phantasien von seiner „Kindheit an der Märchenquelle“ (DSF 127). Der Einheimische dagegen ist schon immer da, wo die anderen erst hinwollen. Er repräsentiert eine utopische Gegenwart und muss anders als diese keine Reise unternehmen. Und im Unterschied zu seinem Autor braucht er keine „Zwischenräume mehr“ und damit auch keine Fragen. Er ist bei sich in einer Natürlichkeit, welche die Poesie erst einzuholen hat (DSF 159; Wagner 2010, 113). Ihm ist es vorbehalten, auf die Bilder zurückzugreifen, welche die ästhetische Transformation der Natur durch seinen Autor bestimmen. Für sie steht zum einen die Phantasie, sich in die Bewegung der Bäume mit einwiegen zu können (DSF 159) und zum anderen das Bild der ersten Regentropfen, die auf einen staubigen Weg fallen und an die autoreferentielle Welt des Ästhetischen erinnern. Allein dort können die Fragen enden: „Die Rose ist ohne warum“ heißt es am Ende des Stücks (DSF 160). Dieses hat die Phantasie vom Ursprung sichtbar gemacht, wird sie aber nie einlösen können. Bestehen bleibt sie allein, solange das Spiel vom Fragen dauert.
12.2 Theatralische Experimente: Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) und Spuren der Verirrten (2006) Bevor sich Handke dem großen erzählerischen Entwurf der Niemandsbucht zuwendet, nimmt er mit den beiden Stücken Die Stunde da wir nichts voneinander wussten und Spuren der Verirrten noch einmal den experimentellen Ansatz auf, den er in das Mündel will Vormund sein und in seinen Sprechstücken vorgezeichnet hatte. Das Stück über das Mündel hatte die Distanz zum Geschehen, die in den Prosatexten durch die Perspektivierung des Erzählens hergestellt wird,
12.2 Theatralische Experimente: Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten (1992)
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durch seine konsequente Überführung in sprachlose Abläufe erreicht. Diese zeigten sich gleichwohl dramatisiert durch die Stringenz der Gesten, welche die Figuren vorführen. Ihr Verhalten erscheint dabei ritualisiert und standardisiert zugleich, die Körper-Pantomime simuliert ein Sprechen zwischen den Personen. Es macht deutlich, dass zwischen diesen nicht nur ein Spannungs- sondern auch ein Herrschaftsverhältnis besteht. Dadurch führt die Sprachlosigkeit einerseits zu einer Dramatisierung der Bewegungen und andererseits dazu, dass die Zuschauer zu interpretierenden Mitakteuren des Bühnengeschehens werden. Eine vergleichbare Ersetzung abwesender theatralischer Elemente fand in den frühen Sprechstücken statt. Dort traten das Sprachhandeln und die Wortspiele „als Schauspiele ohne Bilder“, an die Stelle einer theatralischen Inszenierung, die mit Figurenzeichnungen und Bühnenbildern arbeitet (ST1 21). In der Stunde, da wir nichts voneinander wußten, findet eine weitere Reduktion statt. Die auf der Bühne Auftretenden werden in erster Linie anhand ihrer Gesten, Schritte und Bewegungen wahrgenommen. Sie lassen sich bei ihrem „Sich – Einspielen“ (DS 9) nicht als definierte „Rollen“ entziffern, sondern bleiben tanzende, flüchtige, wechselnde Körpergestalten, mit guten Gründen hat man ihr Auftreten als „Performance“ bezeichnet (Roeder 2012, 182). Nicht sie sind es, worauf es in diesem Stück ankommt, vielmehr ist der Platz, auf dem sie erscheinen und den die Bühne darstellt, der eigentliche Akteur des Stücks. Das Schauspiel beschränkt sich darauf, einen Schau-Platz darzustellen. Das Sich-Einspielen der Figuren ist ein bloßes Auftreten, eine Einspielung im medialen Sinn. Daraus ergeben sich zwei Stilisierungen, die unmittelbar miteinander zusammenhängen. Sie eröffnen zugleich eine Parallele zwischen dem Bühnengeschehen und dem Medium des Films. Es scheint nicht zufällig, dass Charlie Chaplin vorbeiflaniert (DS 63), ein Star des frühen Stummfilms, denn in manchem erinnert das, was auf der Bühne gezeigt wird, an die mediale Strategie des frühen Stummfilm. Der „freie Platz“, der Schau-Platz erscheint am Anfang jeder Szene wie in einer filmischen Aufblende im „hellen Licht“ um am Ende wie in der Abblende dunkel zu werden (DS 7, 64). Darüber hinaus folgt die Darstellung der gerade in frühen Filmen üblichen Konzentration auf einen Ausschnitt, es ist das Prinzip der Kadrierung, das viele Filmtheoretiker und Regisseure beachten. Von Bedeutung ist dieses für die Darstellung von Bewegung, die im frühen anders als im modernen Film weder durch eine bewegliche Kamera noch durch unterschiedliche Zoom-Einstellungen realisiert wird. Auf der kadrierten Leinwand, bei den experimentellen Regisseuren ist es zudem eine quadratische Leinwand, wird die Darstellung von Bewegung dadurch intensiviert, dass die Figuren die Leinwand durchschreiten (Eisenstein 1932/1991, 157–176). Genauso geschieht es hier auf dem Schau-Platz von Handkes Stück. Zugleich wird die Bedeutung des Spiels mit der Bewegung noch dadurch unterstrichen, dass sich gegen Ende alle beschleunigt zu bewegen beginnen (DS 62). Handkes Stück ist deshalb im Wortsinn nicht nur Schauspiel auf einem Schau-Platz sondern auch Bewegungsspiel. Das Spiel mit Raum und Zeit, die Voraussetzung jeder modernen medialen Präsentation, wird damit in konzentrierter Form durch die Visualisierung des Theaters bewusst gemacht. Oder um es zu pointieren: Das Theater zeichnet
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eine mediale Entwicklung vor, die seine Konkurrenz werden wird. Zugleich wird deutlich, dass Bewegung und Schauplatz nur substitutiven Charakter haben. Sprache kommt zwar nicht auf die Bühne, doch sie wird simuliert, auch das Verstummen und das Reden werden visualisiert und sind dadurch so präsent, wie sie es auch im Stummfilm immer sind (DS 56). Dieses sprachlose Bühnengeschehen ist gleichwohl von Sprache begleitet. Die Bühnenanweisungen sind mehr als Hinweise, sie benennen nicht einfach eine sich verändernde Situation sondern verändern mit dem Wechsel der Bilder zugleich den eigenen Sprachduktus. Erkennbar besteht eine Wechselbeziehung zwischen dem Text der Anweisungen und den Bildern, die sie entwerfen. Das Stück ist auch als ein Lesestück angelegt, das durch den Rhythmus der Sprache modelliert wird, diese folgt einem linguistisch hergestellten Bewegungsbild. Die Beschreibungen von Personen mit satzanalogen Partizipialkonstruktionen, vorzugsweise im Präsens (DS 15), schildern zugleich die Bewegungen. Sie werden zunehmend abgelöst von einem Stakkato kurzer Sätze (DS 62), die in erster Linie Handlungen und Geschehnisse schildern. Der Leser der Bühnenanweisungen gewinnt dadurch den Eindruck eines Wechsels von Verlangsamung und Beschleunigung. Die Bilder und Szenen, die auf dem Schauplatz der Bühne zu sehen sind, entstammen zum Teil dem Alltagsleben, sie beruhen auf einer genauen Beobachtung von Figuren, die durch ihre Tätigkeit (DS 11, 25) oder ihre Kleidung charakterisiert sind (DS 18, 37). Doch es zeigt sich, dass dies nicht alles ist, auch die Anweisungen sind Teil eines Spiels, folgen einem Sprachspiel. Einige Personen werden mit dem Wort „als“ beschrieben, als seien sie Schauspieler oder erhalten ein Attribut zugeschrieben, das einigermaßen abstrakt ist: „Ein Beliebiger geht nun an einem Beliebigen vorbei […]“ (DS 37). Überdies wirkt der „Platznarr“, der auftritt, wie der Spielleiter eines Geschehens (DS 34, 39). Immer wieder auch ist das reguläre Geschehen von Referenzen auf literarische oder kulturell codierte Bilder durchsetzt. Eine vorbeigehende Schönheit erinnert an Baudelaires À une passante (DS 19), einer, der sich über den Platz „schwingt“, mobilisiert die Erinnerung an Tarzan (DS 36) und ein Papageno durchkreuzt die Szene (DS 23, 43). Die Verbindung von mimetisch abgebildeten Gestalten der Gegenwartswelt mit solchen topischen Figuren inszeniert kollektive Erinnerungen und macht das „Sehen zum Lesen“ (Schößler 2010, 194). Daneben zeigt sich ein „Hüpfschritte-Macher“ neben einem „High-noon-Helden“ und einem „gleichmäßig stillen Schreiber“ (DS 47), eine selbstironische Passage, in der Handke zugleich als Person und Autor präsent scheint. Von Anfang an allerdings ist die real erscheinende Szene von phantastischen und verfremdenden Elementen durchzogen. Ein Greis trägt auf seinem Haupt eine „mächtige Wiege, samt entsprechendem Wappen“ (DS 12) und man sieht einen „als Moses, vom Sinai zurückkehrend mit den Gesetzestafeln“ (DS 33). Auch Abraham und Isaak treten auf (DS 46). An manchen Stellen verdichten sich die Auftritte der unterschiedlichen Personen und ihre Kombination zu Traumsequenzen und Bildern (DS 26 f.). Eben dies ist der Zielpunkt des Stücks. Die Schlussszene, in der die Zuschauer auf die Bühne gehen (DS 63 f.), ist von Anfang an dadurch vorbereitet, dass die Szenen und ihre Konstellation auf eine
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nicht nur visuelle sondern zugleich unbewusste Dechiffrierung angelegt sind. Der physischen Interaktion von Zuschauern und Bühnenfiguren geht eine psychische voraus. Wie im Medium des Films ist sie in diesem Schau-Spiel allein durch ein Feld der visuellen Wahrnehmung generiert, das in Wahrheit mentale Abläufe kopiert und sichtbar macht: Aufmerksamkeit und Ausblendung, Realitätsprüfung und Imagination, Erinnerung und Assoziation. Die „fundamentale Geste“ des Hin- und Hergehens der Schauspieler auf der Bühne, die Handkes Stücke seit dem Spiel vom Fragen prägt (Schößler 2010, 194), bestimmt auch das Stück Spuren der Verirrten. Dort bewegen sich vorzugsweise Paare, in der Regel Mann und Frau, über die Bühne, zu denen sich zumeist ein „Dritter“ gesellt (SV 14). Anders als im Spiel vom Fragen führt die Bewegung der Akteure aber nur zu begrenzten szenischen Konfigurationen von Handlungs- und Beziehungskonstellationen, die ikonographisch auf der Bühne visualisiert werden. Das Bewegungsspiel wird jetzt durch ein Sprachspiel ergänzt, allerdings sind beide entschieden auf „Spuren“ verkürzt. Markiert werden diese entweder durch die Bühnenanweisung oder durch den Blick eines Ich, das die Wahrnehmung des Zuschauers steuert. Damit erweist sich auch hier die Arbeit des Zuschauers als entscheidendes Element des theatralischen Entwurfs. Er hat den szenischen Andeutungen zu folgen, sieht sich dabei aber anders als der Dritte, der hinzukommt und das Geschehen weitertreibt oder die am Ende auftretende Ich-Instanz, die ihre eigene Perspektive zur Geltung bringt (SV 13), der Anforderung einer Deutung ausgesetzt, die kein eindeutiges Register der Entschlüsselung zur Verfügung hat. Vielmehr erfordert die Vielfalt der Textverweise und Entwürfe, die im Zusammenspiel von Handlungssplittern, Psychogramm und Regieanweisung auch Handkes Schreibbewegung nachstellt, die Fähigkeit des Zuschauers, das Geschehen auf der Bühne zugleich zu semiotisieren und zu dekonstruieren. Weil diese Bewegung des Deutens bei den unterschiedlichen Handlungsfragmenten immer wieder neu ansetzen muss, zerschlägt sie jede lineare Dramatisierung des Bühnengeschehens. Die Bühne wird zu einem „champ de distribution“: Dem Schau-Platz des Spiels vom Fragen korrespondiert das Handlungs-Feld der Spuren, das ein Feld möglicher Deutungen eröffnet (Barthes 2003, 17, 18, 102). Etabliert wird dadurch auch eine eigene Zeitordnung, welche die Bühnenzeit von der Realzeit ebenso unterscheidet wie vom Zeithorizont ihrer Deutung. Daneben eröffnet das Stück selbst zwei interne Zeitebenen. Es lässt zunächst, wenn auch rudimentär, einen Weltzustand aufscheinen, der im Zeichen einer jederzeit möglichen Gewalt steht. Auf der Bühne erscheinen szenische Splitter, die Formen des alltäglichen Zusammenlebens andeuten, die unmittelbar in Gewalt umschlagen können (SV 60–62). Ausdrücklich verkündet der Dritte: „Es wird bald Krieg hier geben. Schon zu lange ist Frieden in dieser Erdgegend, viel zu lange. Und dieser Frieden ist bloß noch äußerlich. In Wirklichkeit, das heißt im Innern, existiert er nicht mehr“ (SV 19). In dieser Situation sind die einzelnen Figuren, das ist die zweite Zeitebene, „Verirrte“, die nirgendwo ein gemeinsames Ziel finden können, deshalb kennen sie
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nur ihren eigenen Zeithorizont, sie leben in einer Zeitblase. Daraus entsteht ein mitunter fast zirzensisches Clownsspiel, das von „kurzen, unzusammenhängenden Szenen“, die ein „Beobachten von Typen“ und „seltsamen Verhaltens“ ermöglichen, bestimmt ist. Häufig werden auch die „Spuren vergangener, ebenso kurzer wie nichtssagender Begegnungen“ sichtbar gemacht (Lhotzky 2007). Der damit verknüpfte Bilder- und Zitatmix bezieht sich auf Texte und Erinnerungen Handkes (SV 16, 31, 32, 83), auf Wolfram von Eschenbach (SV 64) und auf das Alte Testament (SV 54). Er macht das Konstruktionsprinzip des Stückes deutlich, das im Spiel selbst dessen Voraussetzungen hinterfragt. Durch die Interaktion des Ich, das sich selbst als eine Rolle bezeichnet, und durch das Handeln der Zuschauer und Zwischenrufer wird deutlich, dass einerseits der Dritte ebenfalls nur eine Rolle spielt (SV 65) und dass sich andererseits das zuschauende Ich schließlich zum Akteur erklärt (SV 80). Als solcher ist es zugleich Interpret, es beschreibt, was auf der Bühne vor sich geht, und urteilt über die möglichen Formen der theatralischen Darstellung von Wirklichkeit. Die Zeit seines Deutens führt dieses Ich zu einem zugleich historischen und poetologischen Urteil: „Die Zeiten der Tragödie […] sind vorbei, weil es keine Schuldigen mehr gibt, weder bewußt Schuldige noch unbewußt Schuldige“, schließlich beharrt es darauf, dass hier, wo es spricht, eine ganz andere Zeit gilt, „die Spielzeit, welche seit jeher endet, ohne ein Ende zu haben“ (SV 77 f.). Dies führt auf die poetologische Inschrift des Stücks, die ein Kritiker Handkes „Hardcore-Poetisierung“ genannt hat (Hilpold 2007). Ohne Zweifel umschreibt der Begriff der Spielzeit Handkes poetische Phantasie einer anderen Zeit, die zumeist in Augenblicken der Gefährdung oder in Szenen der Destruktion aufscheint. Die Formel „zurück ins Gleichmaß“ (SF 82) markiert die Notwendigkeit einer Besinnung auf das ganz andere der Poesie, das in dem ihm Widerständigen aufscheint. Dies markiert die wichtigste Aufgabe des Zuschauers, für den sich aus Andeutungen mit einem „Ruck“ das Bild einer anderen Welt einstellt. Wie immer bei Handke entsteht es aus dem Detail oder dem isolierenden Blick. Ohne auf die Perspektive klar bestimmter Figuren angewiesen zu sein, präsentiert der Text unvermittelt Sätze dieser immanenten Poetologie: „Mitten im Binnenland das Meer herbeigestaunt. Vor einem Stück Rasen die Savanne der Freiheit herbeigestaunt“ (SV 83). Wieder erweist sich eine dialektische Denkfigur als zentral: Ausgerechnet die Erfahrung des Fremden ermöglicht den Blick auf das Eigene. In einem Fremden kann man dem eigenen Vater „nachschauen“, und das Verlöschen seiner Sprache transformiert sich in eine Phantasie von der Entstehung der Sprache (SV 84). Am Ende transzendiert auch die Leitformel vom Verirren ihre wörtliche Bedeutung, sie wandelt sich zur Metapher für den Ursprung der poetischen Sprache. An diesem Punkt ist die Zeit des Dramas endgültig vorbei, das Stück endet in einem lyrischen Text, der Zeiterfahrungen als Traumbilder erscheinen lässt und das bloß Wirkliche systematisch depotenziert (SV 87 f.).
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12.3 Unter dem Gesetz der Geschichte: Zurüstungen für die Unsterblichkeit. Ein Königsdrama (1997) Dass das Königsdrama, nicht erst seit Shakespeare, immer auch ein Kriegsdrama ist, bestätigt dieses Stück auf mehrfache Weise (Henrichs 1997). Zum einen geht es um einen wirklichen Krieg, von dem ein kleines Enklavenvolk bedroht ist, zum anderen um die Auseinandersetzung zwischen zwei nicht miteinander vereinbaren Lebenshaltungen, welche die Brüder Pablo und Felipe verkörpern. Schließlich zeigt sich, dass Pablo, der ein neuer König werden soll und auf den das von den „Raumzerstörern“ bedrohte Volk der Enklave seine ganze Hoffnung richtet, selbst ein Zerrissener ist. Seine auch zerstörerische Energie beruht auf einem „Riß“, einer „wie angeborenen Bodenlosigkeit“. Pablo ist fasziniert von Macht und Ruhm und hat zugleich Selbstzweifel: „Kein Erfolgs- oder Siegestag bisher in meinem Leben ohne Schuld und Tod“ (ZU 65). Mit guten Gründen erinnert ihn die Erzählerin an sein Versagen und daran, dass auch er auf andere angewiesen ist (ZU 68 f.). Ihr erklärt er lapidar: „Ich bin nie ein ganzer geworden“ (ZU 104). Das ist nicht einfach eine literarische Anspielung auf Johann Nestroys letzte Komödie, sondern es weist auf ein inneres Drama, dessen Nähe zur psychischen Disposition des Autors Handke offenkundig ist. Indem dieser mit dem Stück seinen poetischen Leitworten folgt, pendelt er nicht nur zwischen Erlösungsmärchen und Verzweiflungsgeschichte. Er unterstellt Personen und Szenen auch einer stets nur labilen Ordnung, die jederzeit in ihr Gegenteil umschlagen kann. Wie im Spiel vom Fragen ist die Handlung auch hier durch ein inneres Drama des Autors zentriert, während die äußere Handlung das Psychodrama Pablos visualisiert und mit der Geschichte seines Volkes verknüpft (DSF 63; AW 31). Dahinter verbirgt sich keine bloß spielerische theatralische Regie, denn diese Spannung ist auf doppelte Weise codiert, sie bezieht sich auf eine individuelle Lebensgeschichte und die politische Geschichte der Gegenwart zugleich. Das Stück weist auf die Dominanz der Familiengeschichte, die in Handkes erzählenden Texten ebenso wie im Stück Immer noch Sturm und den Reiseberichten über Serbien, die nach den Zurüstungen fortgesetzt werden, eine zwar oft verdeckte gleichwohl, aber prägende Rolle einnimmt. Gleichzeitig umkreisen sie alle nicht nur das Thema Serbien, sondern auch die Rolle des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, über den der Autor später schreiben wird. Nicht zufällig findet sich bereits in den Zurüstungen eine Anspielung auf Delft, die später anlässlich einer Reflexion des Autors über Vermeers Ansicht dieser Stadt zum Ausgangspunkt einer kritischen Reflexion über das Kriegsverbrecherverfahren in den Niederlanden wird (ZU 9; FE 88). Das Stück, das Lesern, Zuschauern und Kritiker mitunter als abgehobene Konstruktion erscheint, die in erster Linie Handkes Poetologie in Bilder verwandelt auf die Bühne bringt, hat damit einen harten Kern. Es ist offen eine Brudergeschichte, verdeckt ein Vater- und Mutterdrama und darüber hinaus ein politisches Stück, das kaum verhüllt mit Bezügen auf die Slowenien wie Serbien betreffende Geschichte der Völker Jugoslawiens nach Auflösung des einheitlichen Staates anspielt. Und auch in diesem wie in anderen Stücken ist der hohe Ton,
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der Handkes Adepten so gefällt, wie er seinen Kritikern missfallen mag, häufig ironisch und spielerisch gebrochen. Auf fast beiläufige Art ist dies der Fall, wenn in einem Monolog der Erzählerin, die als „neue und letzte Erzählerin“ auftritt und am ehesten diesem Ton folgt (ZU 49), in Anspielung auf den serbischen Nationalmythos von den „Volksleidensgeschichten vom Amsel- bis zum Krähenfeld“ (ZU 83) die Rede ist. Gleiches zeigt sich bei der Darstellung des Großvaters, der von einer mythischen Sonnenzeit (UT 8) erzählt und spielend den Übergang von der hohen zur Umgangssprache findet: „Lecke Boote! Lecke Portale! Lecke Kutschen! Lecke Welt! Leckt mich, alle“ (ZU 12). In einem Interview des Jahres 1992 betont Handke, dass es ihm in dem noch zu schreibenden Stück um eine Darstellung der „Familie, die verschwunden ist“ gehe, aber nicht um ein „sogenanntes Arme-Leute-Drama, sondern daß das Könige sind und daß die zugrunde gehen wie in einem Königsdrama von Shakespeare“ (Kathrein 1992, 14). In Immer noch Sturm wird er diese Geschichte auf andere Weise umschreiben, indem er die Brüder der Mutter zu Widerstandskämpfern macht. Hier jedoch treten solche konkreten politischen Überlegungen zunächst zurück, obwohl diese Geschichte mit der eigenen Brudergeschichte verknüpft ist. Im Jahr in der Niemandsbucht thematisiert der Autor diesen Bezug ausdrücklich in einer am 29. Juni 1993 verfassten Passage: In dem folgenden Jahr blieb ich in meinem Geburtsort Rinkolach in der Jaunfeldebene, untergekommen wie als Kind im Keuschlerhaus der Eltern, inzwischen rückerworben von meinem erfolgreichen Bruder, meinem Fast-Zwilling, dem stillen König unserer Familie, und dem Verlierer noch und noch (von ihm werde ich zu gegebener Zeit vielleicht mein erstes Drama schreiben, mit dem Titel „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“, eine Tragödie?). (MJN 405 f.; ÖLA 326/W7, Bl. 244)
Offensichtlich überlagern sich die Brudergeschichte und das innere Drama des Autors so, dass dieses in zwei Figuren auseinandergelegt werden kann. Die Phantasie vom begnadeten Weltkind Pablo rückt neben die selbstkritisch hinterfragte Rolle des beschränkten, aber literarisch kreativen und sensiblen Felipe (ZU 106), den das Stück wie ein Kind auch auf einer Schaukel zeigt. Es ist gewiss kein Zufall, dass beide vaterlos aufgewachsenen Söhne sich ihren Vater nach ihren eigenen Vorstellungen imaginieren (ZU 30) und dass beide auf je unterschiedliche Art durch den Tod ihrer Mütter traumatisiert sind (ZU 86 f.). Was ein Rezensent den „Kampf Handkes gegen Handke. Friedenssänger gegen Amokläufer. Oder auch: Alpenkönig gegen Menschenfeind, eine alte Wiener Zaubertheateraffäre“ genannt hat, ist die Konsequenz dieser Konstellation (Henrichs 1997). Handkes Vorüberlegungen zeigen allerdings, dass er diesen familialen Kern seines Stücks zugleich über- und umschreiben will. Er führt aus, dass das Stück archetypisch werden solle (Kathrein 1992, 14), gegenüber Siegfried Unseld spricht er von einem „Menschheitsdrama“, und dem „Versuch, zu einer neuen, gewaltlosen Gesellschaft zu kommen“ (Handke/Unseld 2012, 668). Diese Überlegungen verbinden auf durchaus prekäre Weise die politische und die ästhetische Einschrift des Stücks. Daraus ergibt sich ein Problem, das auch die vorangehenden und nachfolgenden Serbientexte betrifft. Denn der Wunsch, der Realität des Krieges eine
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poetische Welt gegenüber zu stellen, steht immer in der Gefahr, die ästhetischen Bilder, die nur als solche in ihrer Autonomie, nicht aber als Beschreibungen einer real existierenden Wirklichkeit Bestand haben, zu substantialisieren. Im Theaterstück mag diese Gefahr zwar geringer erscheinen als in den erzählenden Texten, doch wenn das Enklavenvolk als „Weltkindvolk“ bezeichnet wird, überlagern sich die dort bestimmenden Vorstellungen vom „Neunten Land“, vom „Sonoren Land“, vom „Land der wahren Empfindung“ und der „Niemandsbucht“ mit den politischen Phantasien von Balkan, Serbien und Slowenien. Dies lässt sich an einzelnen Bildern erkennen, die Nahtstellen zwischen dem Bereich des Mythischen, des Poetischen und des Politischen darstellen. Hervorzuheben unter ihnen ist das kieloben liegende Boot der Eingangsszene (ZU 7), das auf die Fahrt im Einbaum ebenso vorausdeutet wie auf das Boot der Morawischen Nacht. Es ist doppeldeutig, denn es erinnert an den Einbaum als das Urgefährt Serbiens und es zeugt zugleich vom Gang der Zeit (FE 115). Es ist dann weniger Symbol als bloßer Überrest von Geschichte. Zudem ist es als ein Zeichen des Vergangenen mit Bildern einer jüngst vergangenen Zeit verbundenen, den Grenzschranken der modernen Nationalstaaten (ZU 32). Dies erschließt eine weitere Bedeutungsebene des Stücks. Seine Bühnenbilder belegen, dass in ihm die Geschichte selbst zum Akteur wird. Sie stellen Zeichen einer sich verändernden Welt bereit, die allmählich in den Schutt der Ablagerungen der Zeit eintauchen und vom Vorübergehen der Zeit, sogar ganzer Zeitalter künden (ZU 32). Zudem geht es um eine konkrete Geschichte. Die Bühnenanweisung zu Beginn, die eine Enklave „zum Beispiel im Bergland von Andalusien“ benennt (ZU 6), kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Geschichte Sloweniens und Serbiens im Hintergrund steht. Die Veränderungen im unabhängigen Slowenien (ZU 34, 74) werden ebenso visualisiert wie die Aufhebung von Grenzschranken, die letztlich zum Einbruch fremder Mächte führt, in denen sich der Westen mit seinem Machtanspruch über die früheren Länder Jugoslawiens erkennen lässt. Wie später die Internationalen Beobachter in der Fahrt im Einbaum verkünden die Raumverdränger lapidar: „Die Welt, auf diese oder eine andre Weise, gehört uns“ (ZU 58). Sie sind die Exponenten der „Großmachtleute“, die „gar kein eigenes Reich“ mehr brauchen (ZU 42). Dass die geschichtliche Entwicklung dabei an jeder Stelle dialektisch ist und Freiheit in ihr Gegenteil umschlagen kann, verdichtet sich im Motiv der „Schlacht am Schwarzen Berg“ (ZU 20), das die Erinnerung an die Schlacht am Weißen Berg, in der die böhmischen Stände der Übermacht Habsburgs unterlagen, mit einem anderen Vorzeichen versieht und als Katastrophe bewertet. Hinter der mythischen Geschichte, welche die Zurüstungen für die Unsterblichkeit beschwören und aus der sich Vergangenheit wie Zukunft der geschilderten Enklave begründen sollen, steht ein Raster von Begriffen, die es möglich machen, das Geschehen auf der Bühne kritisch und im Bewusstsein gegenwärtigen Wissens und aktueller geschichtlicher Erfahrung zu bewerten. Der einleitende Satz „Rache! Rache? Gerechtigkeit“ (ZU 8, 11) des Großvaters und Ahnherrn leitet eine vernichtende historische Diagnose ein. Sie sieht das Volk der Enklave in einer sterbenden Welt, die allein durch einen Aufbruch zur Unsterblichkeit überwunden
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werden kann, die sich am Ende als nichts anderes als ein utopisches Bild erweisen wird. Die Gerechtigkeit, die an der Stelle der Rache ein vernünftiges Urteil einfordert, weist auf Handkes Serbientexte zurück und steht in Konkurrenz zu zwei weiteren Leitworten. Es ist zum einen das „neue Recht“, das Pablo in die Enklave bringen soll (ZU 75) und es ist zum anderen das „Gesetz“ einer anderen Zeit, an das die Erzählerin erinnert und das Pablo durch den Glauben an einen möglichen Frieden ersetzen möchte (ZU 121 f.). Das Recht Pablos ist Grundlage für die Unabhängigkeit des Enklavenvolkes, zugleich endet mit ihm die mythische Zeit, auch der letzte König ist jetzt von der Erde verschwunden, das „Königsspiel ist ausgespielt“ (ZU 76 f.). Vorübergehend scheinen sich die neue Ordnung Pablos und das Versprechen der Erzählerin zu ergänzen. Unter ihrer Anleitung werden in der Enklave historische Ablagerungen in Schichten abgetragen (ZU 81), dabei erscheint eine andere Geschichte. Es entsteht ein „Reich“, in dem man die „täglichen Erscheinungen geschliffen sehen [kann] zu Kristallen“ (ZU 82). Doch in Wahrheit hat Pablo „sein eigenes Gesetz nicht gefunden“, er hat nur eine „Zwischenzeit“ begründet, die ihrerseits überwunden werden muss (ZU 110). Dazu will er sich an einem mythischen Vorbild ausrichten. Im Gespräch mit Felipe erinnert er an das Epos von Gilgamesch als Suche nach der Unsterblichkeit, aber er weiß, dass dies nur als Idee zu verstehen ist (ZU 88). Für ihn selbst entsteht der Gedanke der Unsterblichkeit allein zwischen „Todesangst“ und „Unsterblichkeitsenergie“ (ZU 89). Doch was er den Raumverdrängern entgegen setzen möchte, die das Wissen der Aufklärung und die moderne Emanzipation des Individuums rückgängig machen wollen (ZU 96 f.), scheitert, weil es auf eine Verwirklichung in der „Alltagszeit“ angewiesen ist. Unsterblichkeit aber gibt es nur unter dem neuen Gesetz, das „eine[.] neue[.] Weise von Zeit“ begründen kann (ZU 90 f.). Daraus ergibt sich die im Stück bestimmende Einschätzung von Gerechtigkeit und Recht, die beide der Dialektik des historischen Urteils und der Geschichte unterstehen. Sie werden schon deshalb problematisch, weil sich der Weltzustand in der Alltagszeit nicht eindeutig bestimmen lässt: „Mitten im Frieden sind wir im Krieg“ konstatiert der „Raumverdränger Eins“ (ZU 92). Die Gerechtigkeit bezieht sich unter diesen Voraussetzungen, wie vom Autor Jahre zuvor eingefordert, allein auf die notwendige Haltung in einer von Rache und Gewalt gekennzeichneten politischen Konstellation. Und das Recht als bestimmendes Element der neuen Ordnung, die Pablo seinem Volk nach Jahren der Abwesenheit bringt (ZU 75), ist nichts mehr als eine sich autonomisierende ordnungsstiftende Macht, die am Ende wohl totalitär wird. In seinen Überlegungen zum Prozess in Den Haag wird Handke das Recht allererst als Ordnung der Sieger ansehen und als Ergebnis eines eingeschränkten Blicks auf die Tatsachen. Die „Eindimensionalitätsbrille“ (ZU 95), mit der die Raumverdränger wahrnehmen, deutet auf diese Überlegung voraus. In den Reiseberichten aus dem Serbienkrieg erscheint das Recht schließlich als bloß humanistisch verbrämte Legitimation der westlichen Eingreiftruppen, in der Fahrt im Einbaum wird später ausdrücklich auf „blutrünstige Richter“ hingewiesen (FE 7, 69). Das Recht kann schon deshalb keine dauerhafte
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neue Ordnung hervorbringen, weil es selbst der Dialektik der Geschichte untersteht. Diese Überlegung scheint geeignet, die neue Ordnung Pablos durch das Gesetz der neuen Zeit zu ersetzen, für das die Erzählerin steht. Sie verspricht Pablo, dass sie ihn dann, wenn sich ihm „der Riß“ auftut, „ganzerzählen“ kann, sie will ihm „grün“ sein (ZU 104). Daraus könnte eine Schematik folgen, die den Bezirk des Poetischen der Ordnung des Realen und der Dialektik der Geschichte entzieht. Doch diesen Weg geht Handke auch in diesem Stück nicht. Denn die Verheißung des ganz anderen, das die ästhetische Ordnung anbietet, kann hier nie vollendet werden, sondern muss ein leitendes Bild bleiben, das zunächst allein die „Anschauung“ befördert (ZU 99). Folgerichtig verwandelt die Bühnenanweisung das Inventar der Eingangsszene in bloße Modelle (ZU 126). Damit steht die Verheißung selbst im Zeichen eines fundamentalen Widerspruchs. Dass das neue Gesetz „unausweichlich“ und dabei „umgreifend, ausschließlich fundamental“ sein wird, klingt nicht zufällig bedrohlich (ZU 134). Es ist ein Hinweis darauf, dass alles, was wirklich wird, sich am Ende in eine totalitäre Gefahr verwandelt (GF 169, 219). Wer das denkt, kann keine Lehrstücke mehr schreiben. Stattdessen hat Handke mit der Geschichte der recht eigentlich vaterlosen Söhne Pablo und Felipe die Signatur einer historischen Situation skizziert, in der sich die Gesellschaft dem Gesetz der Filiation, der Übergabe zivilisatorischer und kultureller Tradition vom Vater auf den Sohn entzieht, und die Söhne, losgelöst von allen Einbindungen als „schreckliche Kinder der Neuzeit“ die Welt ins Unglück stürzen (Sloterdijk 2014). Der Rekurs von Handkes Stück auf die biblischen Psalmen korrespondiert dabei durchaus er Radikalität eines Lukas-Worts, welches das apokryphe Thomas-Evangelium überliefert: „Jesus sprach“, heißt es dort, Die Menschen denken wohl, dass ich gekommen bin, um Frieden auf die Welt zu bringen. Und sie wissen nicht, dass ich gekommen bin, um Zerwürfnisse auf die Welt zu bringen. Feuer, Schwert, Krieg. Denn es werden fünf sein in einem Hause: drei werden gegen zwei und zwei gegen drei sein, der Vater gegen den Sohn und der Sohn gegen den Vater. Und sie werden allein dastehen. (Lukas 12,51; Sloterdijk 2014)
Diese Grundfigur wird in Handkes Stück nicht aufgelöst, weder Pablo noch Felipe können eine dauerhafte neue Ordnung in Frieden begründen. Das genau bestimmt den Ort der Erzählerin in Handkes Stück. Dauer kann allein ihr Erzählen stiften, dies aber nur solange es andauert. Schon vorher hatte die Erzählerin Pablos „Verbot der Sorge“ (ZU 124) die Forderung an die Seite gestellt: „Stellt euch, was ihr tut oder laßt, als Erzählung vor“. Nur wenn dies möglich ist, „ist es recht“ (ZU 123). Deshalb wird der Schluss des Stücks offen gehalten durch das Erzählen, welches das Spiel nicht nur kopiert, sondern in Wahrheit weiterführen kann: „Besser, das Gesetz weiter so anzuspielen, wie hier geschehen, damit der Schrecken hinausgeschoben wird“ (ZU 134).
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12.4 Nema problema. Nema Jugoslavije: Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999) Das Stück, das im Jahr 1999 aufgeführt wird, nimmt in mehrfacher Hinsicht nicht nur auf Handkes Berichte über Serbien, sondern auch explizit auf die öffentliche Auseinandersetzung über diese Texte Bezug. Dies geschieht in der Form eines Sprechstücks, dessen Figuren Grundmuster und Bilder von Handkes Poetologie ebenso vortragen wie die leitenden Formeln des öffentlichen und durch die Interaktion von Bild- und Text bestimmten Diskurses der Medien über den Krieg in Jugoslawien. Seine besondere Bedeutung erhält das Stück nicht allein als neuerlicher „Nachtrag“ zum Balkankrieg, sondern dadurch, dass es in einer Situation entsteht, in der Handkes endgültiges Urteil über diese Vorgänge noch keineswegs ausformuliert ist. Während am Wiener Burgtheater die Proben zur Fahrt im Einbaum stattfinden, unternimmt der Autor im März und im April 1999 noch zwei Reisen in das zu diesem Zeitpunkt von Nato-Flugzeugen bombardierte Serbien. Die genaue Route dieser Reisen, die ihn auch ins bosnische Srebrenica führten, hielt er auf einer Landkarte in allen Details fest. Blickt man auf die Strategie des Stücks, so fällt zunächst auf, dass die theatralische Absicht, das Publikum zu einer Reaktion herauszufordern, innerhalb des Stücks selbst schon als Handlungsmuster vorgezeichnet ist, denn dieses entwirft eine Beziehung zwischen Darstellern und Beobachtenden. Zwei Regisseure, ein Amerikaner und ein Spanier, hinter denen sich John Ford und Luis Buñuel, später Antonio Machado verbergen, wollen einen Film über den Krieg auf dem Balkan drehen und lassen sich dazu von einem Fremdenführer, einem Historiker, drei Journalisten und einem Ansager deren unterschiedliche Sicht auf die Ereignisse vortragen. Diesen Berichterstattern stehen drei Figuren gegenüber, die nicht auf ein professionelles Urteil aus sind, ein Waldläufer, ein „Irrer“ und eine Feldfrau. Keiner von beiden Gruppen gehören der Grieche und der Dichter an, der Erstere hat sich von seinem journalistischen Beruf abgewandt, der Letztere erscheint nur als marginalisierte Randfigur. Dass es in dieser Konstellation um die Vorbereitung, eigentlich das Casting eines Films geht, macht zudem deutlich, dass für Handke jedes Urteil über den Krieg von vornherein im Spannungsfeld von Sprache, Schrift und Bild entsteht. Zudem weist der Bezug auf John Ford auf eine Erzählphantasie des Autors zurück, die seit dem Kurzen Brief auch andere Texte durchzieht und sich im Spätwerk verdichtet (KB 195). Mit einem Zitat des authentischen Machado, einem Vers aus En el entierro de un amigo endet das Stück vom Einbaum. Die drei dem Stück vorangestellten Motti folgen einer bei Handke geläufigen Strategie von Mehrfachverweisen. Das Zitat von Ivo Andrić, das unmittelbar an die vorangehenden Serbienberichte anschließt, zielt auf deren zentrale dialektische Denkfigur, dass die „moralische Euphorie“, natürlich meint der Autor hier die des Westens, auch die Urteilenden selbst zu „blutrünstige[n] Richter[n]“ werden lassen kann (FE 7). Indem das Stück diese Linie weiter auszieht invertiert es zugleich alle Positionen gründlich und lässt auch die Helfer als Täter erscheinen.
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Zugespitzt wird dies durch das Auftreten des „Irren“. Er verdeutlicht in zeichenhafter Abbreviatur die Handlungsnorm einer westlichen Gesellschaft, die sich, folgt man Handkes Polemik der Serbientexte, im Zeichen der Humanität zum Richter aufschwingt und dabei selbst schuldig wird. „Ich bin ein Massenmörder“, führt dieser aus, „Vielleicht der größte in diesem, in unserem, Krieg. Und wenn nicht der größte, so der dafür typische. Ich wurde Massenmörder, weil mir das Helfen mißlang“ (FE 69). Ein Zitat aus Goethes serbischen Liedern folgt ebenfalls einer Linie, die nicht nur Handkes Serbientexte, sondern auch seine späten Erzählungen bestimmt, es markiert die Differenz zwischen der poetischen und der geschichtlichen Bewertung von Ereignissen. In dieser spannungsvollen Beziehung erhält die Phantasie des friedlichen Zusammenlebens, die das dritte Motto aus einem Gesetzbuch des serbischen Königs Dušan beschwört, die Bedeutung einer Leitformel, die Handke in seinen Serbientexten sowohl argumentativ entfaltet als auch visualisiert. Die Personen, deren Sprechen sich im Rahmen dieser Motti bewegt, sind standardisiert, sie durchlaufen keine Entwicklung, verfügen über keine Psychologie. Eine wirkliche Handlung kennt das Stück nicht, selbst die angekündigte Fahrt im Einbaum findet nicht statt. Dass sich in der letzten Szene der Einbaum als zu klein erweist, um alle aufzunehmen, erinnert ohnehin eher an Géricaults Floß der Medusa – nicht zufällig erhält der Einbaum am Ende ein Segel – oder an das Ende von Emir Kusturicas Film Underground, den Handke in seinen Serbientexten zitiert (WR 48). Das sind gute Voraussetzungen für eine Aufführung, die jenseits der Praktiken des sogenannten Regietheaters auf die Evidenz einer Sprache setzt, die zwischen der mimetischen Abbildung und der Benennung des Tatsächlichen pendelt. Zugleich sind es schlechte Voraussetzungen für die Rezeption eines Stücks, dessen standardisierte Bilderwelt schematische Reaktionen eines Publikums hervorruft, das mitunter auf nichts anderes aus ist, als seine schon gegen die Serbientexte geäußerten Vorbehalte zu erneuern (Stolle 1999). Es scheint, dass darin der Grund für die verhaltene bis ablehnende Haltung von Publikum und Kritik liegt, die insbesondere die Wiener Aufführung durch Peymann hervorgerufen hat. Allerdings verfuhr diese auch bewusst plakativ, weil sie die sehr allgemein gehaltene Anweisung für das Bühnenbild eher als Bebilderung eines schematischen Diskurses aufnahm. Die Ironie, die Handkes Textvorlage auch kennzeichnet, kam unter diesen Voraussetzungen nicht zum Tragen. Zugleich wurde der berechtigte Kern von Handkes Medienkritik durch die karikierende Darstellung der drei Internationalen so ins Lächerliche überzogen, dass er schon wieder entschärft war (Assheuer 1999). Der erste gibt sich als ein Experte aus, der alle Institutionen zu kennen scheint und im Gespräch nur ihre Organisations-Kürzel benennt. Er schreibt in der „INTERNATIONAL TIMES“ und hat seinen Schuldspruch über Serbien schon gesprochen (FE 63 f.). Der zweite Internationale erzählt statt Fakten ebenso reißerische wie gefühlvolle Geschichten im Stil der Yellow Press (FE 69). Sie korrespondieren exakt dem Bericht des Ersten Internationalen, der das Massaker von Kravika, den Überfall auf ein friedliches Dorf am Heiligen Abend
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schildert (FE 84–86). Der dritte Internationale dagegen kritisiert, unmittelbar an den Ersten Internationalen gewandt, die journalistische Formelsprache, die sich ebenfalls längst zu Abbreviaturen verkürzt hat. Es ist charakteristisch für dieses Stück, dass es einerseits wortgenau tatsächliche Einschätzungen und Urteile des Autors wiederholt, die bereits in den vorangegangenen Serbientexten verzeichnet sind, andererseits aber unterwirft es diese einem doppelten semiotischen Spiel. Zum einen wechselt die Zuordnung von Sprechern und Text mitunter in unerwarteter Weise. Denkfiguren des Autors durchziehen auch die Rede von Personen, von denen sie gerade nicht erwartet werden (FE 17). Zum anderen sind die Referenzen auf den authentischen Handke-Ton eigentümlich gebrochen. Deshalb stehen die theatralische Präsentation der Realität und der Versuch ihrer ästhetischen Transformation im Stück keineswegs so gegeneinander wie es die Schematik der Figuren erwarten lässt. Nach dieser vertreten die drei „Internationalen“ den Diskurs des Journalismus, von dem „Hereingeschneiten“ werden sie deshalb auch als diejenigen angesprochen, denen die Sprache, das Bild zum Krieg und, wie sie selbst betonen, die damit verbundenen Bilder-Geschichten gehören (FE 70 f.). Der Grieche dagegen setzt als ein verkapptes Alter Ego des Autors und zugleich als ein Kommentator, der dessen Argumenten folgt, seine Bilder denen des Krieges gegenüber (FE 72). Zweifellos leistet gerade diese Figur eine entschiedene „Differenzierung der Repräsentation des Kriegs“ (Wagner 2010, 155). Zugleich allerdings gerät der Grieche in die Dialektik des öffentlichen Diskurses und zieht deshalb ein Urteil auf sich, das die Schlagworte des öffentlichen Diskurses über Handkes Serbientexte wiederholt. Alles, was vom öffentlich vorherrschenden Modus des Berichts abweicht, bezeichnet der Erste Internationale als eine „Verhöhnung der Opfer“ (EF 70). Weil sich der Grieche wie auch andere gegen das „filmische Meisterwerk zu diesem Krieg“ wandte, hat er nicht nur „den Traum des Dichters vor die Hunde gehen lassen“, sondern sich auch „am Glanz der Kinderaugen versündigt und das auf der Flucht erschossene Kind noch einmal erschossen“ (FE 73). Offensichtlich wird hier in invertierter Form die Diskussion über Handkes Favorisierung des Films Underground von Emir Kusturica so aufgenommen, dass sie die unterschiedlichen ideologischen Positionen überschreitet (RGT 23). Daneben stehen einlinige Rückbezüge auf frühere Texte des Autors. Sie betreffen zum einen Ereignisse des Jugoslawienkriegs, zum anderen deren Darstellung im medialen Diskurs der journalistischen Berichterstattung. Leitlinie ist die Annahme Handkes, dass die Unabhängigkeit insbesondere Sloweniens bereits zu einer Verwestlichung und zur Unterwerfung unter die Macht und die Zeichen des globalen Kapitals geführt habe. Sie ist von der Auffassung geleitet, dass die journalistische Berichterstattung nichts anderes sei als eine kapitalistische Kolonisierung der Gesellschaft in einem Land, das am Ende von Euro- und Dollarscheinen dominiert wird (FE 12). Daneben sind Passagen hervorzuheben, die konkrete sachliche Kritikpunkte Handkes an der westlichen Berichterstattung über den Krieg ausformulieren. Zentrale Bedeutung hat hier der Hinweis auf den für die Morde in Višegrad Verantwortlichen (FE 51; Deichmann 1999), von dem
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ein öffentliches Schuldeingeständnis erwartet wurde, ein letztlich von den Medien erzwungenes Ritual. Wenn nichts anderes angegeben wird, so heißt es im Text, ist „die Welt“ immer „die Öffentlichkeit“, „die internationale Gemeinschaft“, „der Okzident“ oder „der Internaut“ (FE 55). Daneben stehen die unterschiedlichen Interpretationen der „bösen Fakten“, von denen Handkes Serbientexte handeln. Der Ansager und der Historiker nehmen dabei Rollen ein, die der Medienkritik des Autors korrespondieren, zugleich aber dessen Leitbilder ironisch verfremden. So schildert der Fremdenführer das Kriegsgebiet zunächst allein als Kultur- und Geschichtsraum wie als Bezirk des authentischen Lebens, er folgt damit Handkes mythisierendem und poetisierendem Bild vom Balkan, das alle Texte seit der Wiederholung durchzieht. Erst danach mutiert dieser Führer zu einem modernen Analytiker, der den Krieg aus sozialen und geographischen Gegebenheiten erklärt: „Nein, das hier war kein Krieg der Religionen oder der Völker, vielmehr ein Krieg des Hinterlands gegen die Stadt, eines Hinterlands, das ein einziges Riesengebirge ist […]“ (FE 17). Ausgerechnet mit dieser Formel wiederholt sich, allerdings in ironischer Verfremdung, was der Ausgangs- und Zielpunkt von Handkes Reisen in das Hinterland des Krieges war. Umso bemerkenswerter, dass aus diesem Blick im Stück weder Wissen noch Gewissheit erwachsen. Es zeigt sich, dass die dort geäußerten vermeintlich vernünftigen Urteile ohnehin grundsätzlich infrage gezogen werden, weil sie nur als das Ergebnis vorgefertigter Register angesehen werden. So berichtet der Fremdenführer, dass der Ansager als „Amateurfunker in drei Enklaven“ immer wieder Funksprüche aussandte, die in die Weltnachrichten und schließlich als „Fakten in d[ie] jeweiligen drei Geschichtsbücher[.]“ eingingen (FE 19). Und die Formel von der „Phantasie an die Macht“, die ursprünglich den gesellschaftlichen Aufbruch verkündet hatte, lässt jetzt nur noch dessen aktuelle Löschung erkennen. Ausgerechnet die Generation, die einst unter diesem Motto angetreten war, stellt nun die Befehlshaber im Krieg gegen Serbien. Dass in diesem Stück weder die poetischen Vorstellungen noch der kritische Blick des Autors auf die politische Realität und ihre mediale Präsentation ungebrochen einer einzelnen Figur zugerechnet werden, bewahrheitet sich gerade bei der Präsentation des Dichters. Sie korrespondiert entschieden den vielfältigen Brechungen des Eigenen, die Handke auch seinen erzählenden Texten einschreibt. Wie diese präsentiert das Stück vom Einbaum ein Reflexions- und Diskursfeld, das klar umgrenzte Diskursformationen ebenso wenig kennt wie eine einzige zentrierende Perspektive, in der sich ein Autor-Ich ungebrochen zur Geltung bringen könnte. Nur im Modus eines ‚bruissements‘ ist die Antwort auf die „bösen Fakten“ möglich (Barthes 2003, 17, 86, 102). Diese Struktur ist dramatisch nur bedingt darstellbar, denn ihre Umsetzung ist über die unmittelbare Wahrnehmung hinaus zugleich auf eine philologische Entzifferung aus. Kein Wunder, dass einige Kritiker und Rezensenten, die auf unmittelbare theatralische Evidenz setzten, gerade daran scheiterten. Die Sätze des Autors Handke, denen sowohl der Fremdenführer als auch der Grieche und der Ansager, schließlich ausgerechnet der Waldläufer folgen, lassen wie in
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einem Rebus unterschiedliche Facetten des Autors und zugleich variierende Zuschreibungen von außen erkennen. Zweifellos wird hier eine besondere Form der Interaktion mit dem Publikum im Theater ebenso inszeniert wie mit dem Publikum von Feuilleton und Politik. Auch dabei bleibt bestimmend, dass alle Referenzen zwischen Erfinder und Figur mehrfach gebrochen sind. In diesem Kontext gewinnt die Ironie ihre Bedeutung. Ausgerechnet das von den Kritikern abgewertete Pathos von Handkes mythischen Gegenwelten verkürzt sich in der Figur des Waldläufers zu unkontrolliert ausgestoßenen Urlauten. Doch während diese bei ihm wie eine Persiflage der Handkeschen Ursprungsphantasien erscheinen, umkreisen die Urlaute, in die auch der Ansager und der Fremdenführer verfallen, unterschiedslos die Leitworte des öffentlichen Diskurses wie seines Gegendiskurses (FE 20). Auch die Maultrommel, die vor allem in der Morawischen Nacht zum Zeichen einer Gesellschaft außerhalb der öffentlichen Diskursnorm wird, erscheint hier ebenfalls zum Zeichen verkürzt und auf eine intertextuelle Dechiffrierung angelegt (MN 347). Daneben verfallen selbst aus dem Blickwinkel der Figuren, die im Stück einen begrenzten Wahrnehmungshorizont zugeschrieben bekommen, Leitvorstellungen von Handkes poetischem Gegendiskurs der Kritik. Auf diese Weise verbinden sich beim Autor Kritik und Selbstkritik, zudem werden beide ihrerseits wieder depotenziert. So kritisiert der Chronist die Annahme eines möglichen friedlichen Zusammenlebens der Ethnien, ein zentrales Leitmotiv von Handkes Balkan-Bild, ausgerechnet als eine „Erfindung mancher Kriegsführer“. Gleiche Kritik trifft Handkes Vorstellung, dass diese gesellschaftliche Utopie allein in einem großen Land hätte realisiert werden können, aber nicht in einem „erkünstelten und herbeimassakerten Kleinstaat“ (FE 27). Was für die Beziehung zwischen dem Autor und seinen Figuren gilt, bestimmt auch diese selbst. Das dem Waldgänger anstelle eines Namens zugewiesene Attribut weist keinesfalls allein auf eine atavistische und vormoderne Figur, vielmehr erscheint unter dieser Folie zugleich die moderne Figur des Waldgängers, dessen Außenseitertum sich, so zeigt es später die Morawische Nacht, auf die bewusste Negation des Bestehenden gründet (MN 109).
Medium des Films und Medium des Theaters Berücksichtigt man die zentrale Rolle, welche die Reflexion über die Erkenntnisleistung von Sprache und Bild in Handkes Texten einnimmt, so gewinnt die handlungsbestimmende Verschränkung zwischen Theater und Film, die das Stück zu seinem Ausgangspunkt nimmt, besondere Bedeutung. Denn so wie die durch Bilder gesteuerte journalistische Berichterstattung in den Serbientexten als gesellschaftliche Macht bestimmt wird, erscheint jetzt auch das Medium des Films als eine Diskursordnung, die Macht ausübt. Nicht zufällig folgen die beiden Regisseure dem Anspruch der drei Internationalen, wenn sie ihrerseits lapidar verkünden: „wir beide bestimmen […] die Geschichte“ (FE 13). In Handkes Stück erhalten sie die gleiche Macht wie die „sonore[n] Schwätzer“, denen gegenüber
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nach Meinung des Griechen „die Welt von vornherein auf verlorenem Boden“ steht (FE 86). Trotz der Erkenntnis des Ersten Berichterstatters, dass alle nur Gefangene ihrer „Anfangsmeinung“ sind und darauf aus, diese zu erweitern, „noch schriller, und vor allem monoton […]“, formuliert der Zweite Berichterstatter selbstbewusst „Wir sind der Markt“ und fährt fort „Wir sind die Welt. Wir sind die Macht. Wir schreiben die Geschichte“. Der erste Internationale erklärt zugleich die begründende Diskursregel: „Und die Geschichte braucht nun einmal Schuld, Schurken, Sühne, Gnadenlosigkeit“ (FE 87). Diese Form der Entlarvung des Faktischen wie auch der individuellen Orientierungen durch Ironie setzt sich fort in einer Bemerkung des Ansagers, der den Regisseuren zwar Entscheidungsfreiheit zugesteht, aber diese zugleich unter das herrschende öffentliche Diskursreglement stellt: „Es soll Ihr Film werden! Es bestehen nur gewisse Richtlinien, gezogen durch das Weltkomitee für Ethik, das internationale Ästhetik-Institut, undsoweiter“ (FE 14). Die Wendung gegen die „allunseligmachende[n] Schemata“ (RGT 56) wird in diesem Stück zugleich als eine ideologiekritische und medienkritische Perspektive entwickelt. Deshalb ist die Ironie des Stücks keineswegs parteiisch eingesetzt, gerade als Medienkritik trifft sie zugleich die Gegenposition. Denn der Regisseur O`Hara, der ursprünglich John Ford heißen sollte, spricht mit Formeln, die sich auf den Autor und Erzähler Handke selbst beziehen lassen, wenn er sich für seinen Kriegsfilm „etwas schön der Reihe nach Erzähltes“ wünscht, das „wie ein-und-aus-geatmet, ob mit dem Atem des großen Geistes der Rockies oder dem des Ebro- oder Donaudeltas“ erscheinen soll. Auch der für Handkes Erzählen zentrale Begriff des Rhythmus wird durch diesen Zusammenhang ironisch verfremdet (FE 22). Damit verbunden ist die Anspielung auf eine weitere Leitvorstellung Handkes, die sich stets an der Berührungsstelle von poetischem Entwurf und politischer Welt zeigt: Es ist die Phantasie vom „Eingreifen“, die in anderen Texten als ein Eingreifen des Beobachters bestimmt wird. Hier leitet sie den „verschwundenen Autor“, der sie ausgerechnet aus dem Bewusstseinswandel eines forschenden Historikers entstehen lassen wollte (FE 24). Daran anschließend gewinnt der Handkes Reflexion über Serbien bestimmende Gegensatz zwischen der Geschichte und ihrer poetischen Transformation Bedeutung, dessen Konturen sich im Verlauf der unterschiedlichen Diskurse herausbilden. In der zynischen Perspektive des Historikers ist die Geschichte nichts anderes als eine Fälschung: „Die wahre Geschichte kennt niemand. […] Und die falscheste Historie ist jene, die Religion spielt, Vernunftreligion“ (FE 41 f.). Doch andererseits ist es gerade der Historiker, der die Geschichte Serbiens nicht nur in polemisch verkürzter Form rekonstruiert, sondern auch eine Beziehung zu anderen kriegerischen Verbrechen herstellt. Er eröffnet damit eben den Diskurs, der nach Handkes Meinung die internationale Wahrnehmung Serbiens durch polemische Leitworte und Bilder modelliert hat. Dieses, so der Historiker, zeigte sich „eifrig im Ausrotten der Juden und Zigeuner und bombardierte[.] Dresden, Berlin, Coventry und Linz“. Zynisch wird diese Fälschung der Tatsachen zugleich als die
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international vorherrschende Sichtweise bewertet: „kein Gott sieht auf Dich herab, sondern der interkontinentale Satellit“ (FE 36). Gegen die Präsentation dieser Fakten, Einschätzungen und Fehleinschätzungen wendet sich der Regisseur O`Hara, wenn er darauf abhebt, dass es für den Film durchaus möglich sei, mit einer „guten Lüge“ aufzuhören und dabei „Legenden oder […] Lebenslügen“ weiterzuspinnen, während seine Kollege Machado die Bilder des Films gegen die Fakten der spanischen Geschichte setzt (FE 43). Diese „gute Lüge“ des Films eröffnet zugleich die grundsätzliche poetische Reflexion, die Handkes Stück im Innersten leitet und über den öffentlichen Diskurs hinaushebt. Vorbereitet ist sie in einer Episode, die der Chronist erzählt. Dieser, der sich immer eine Maske aufgesetzt hatte, wenn er zum Täter wurde und Grausamkeiten beging, berichtet zugleich von einer ganz anderen Erfahrung. Inmitten seiner Gewalthandlungen und -phantasien erscheint ihm unerwartet gerade bei einem, den er zu seinem Feind gemacht hatte, „für einen Augenblick ein unglaublich sanftes Menschengesicht, ein verlorenes, sterbenseinsames Menschenkindgesicht – das Schönste, was dir auf der Erde begegnen kann –“ (FE 33).
Das andere Bild der Kunst Das Stück, das ein politisches Thema und eine mediale Interaktion zugleich thematisiert, umkreist zugleich eine durch mehrere Figuren präsentierte Reflexion über das Ästhetische, die am deutlichsten zunächst in der Rede des Griechen hervortritt. Mit ihr verbindet sich eine unmittelbare Referenz auf das Bild eines Malers, das als Umsprungsbild das Ästhetische aus einer dialektischen Beziehung zur gesellschaftlichen und politischen Realität hervorgehen lässt. In mancher Hinsicht tritt der Grieche zunächst als eine Maske, eine persona, seines Erfinders auf. Er teilt dessen politisches Urteil, wenn er die westlichen Helfer im Krieg als kleine „Teufel des Gutseins“ und „Humanitätshyänen“ bezeichnet (FE 94), er weist mit diesem auf die Problematik der gerichtlichen Aufarbeitung des Massakers von Višegrad und darauf, dass Berichten über bosnische Kriegsverbrechen in Den Haag weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird als den Verfahren gegen serbische Angeklagte (FE 90; RGT 31–33). Seine Zweifel an der Erinnerungsfähigkeit beigezogener Zeugen korrespondieren exakt mit den Beobachtungen, die Handke später in seiner Schrift Rund um das große Tribunal vermerkt (FE 91; RGT 30 f.). Das Gleiche gilt für die Einschätzung der Anklage gegen Novislav Djajić Lovis, die eine zentrale Episode des Einbaums ausmacht (RGT 52 f.) und die Kritik an dem deutschen Gerichtsverfahren (RGT 56 f.). Gegenüber der Bemerkung des Ersten Internationalen, Sprache sei deshalb eine „Nebensache“, weil „in diesem Krieg die Politik versagt hat“, fordert der Grieche mit guten Gründen eine angemessene Sprache ein. Denn die journalistische Absicht, „die Wunde offen zu legen“, verschleiert nur eine ideologische Bewertung der bloßen Fakten (FE 76) und umschreibt, kaum verhüllt, dass die Journalisten längst mit ihrer Sprache Politik machen wollen. Demgegenüber zeigt sich, dass die andere Sprache, die der Grieche einfordert, entschieden über den
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politischen Kontext des Stückes hinausweist. Sie ist einerseits mit der Perspektive des Waldläufers und der Fellfrau mit ihrem Einbaums verbunden, andererseits steht sie im Zusammenhang mit der vom Griechen angesprochenen Vorstellung einer „Zwischenzeit“ (FE 80). Diese findet eine Entsprechung in vielen Texten Handkes, die eine ästhetische Wahrnehmung gegen die Erfahrung des Alltäglichen und Widerständigen setzen. In diesem Zusammenhang gewinnen der Begriff und das Bild der Camera obscura zentrale Bedeutung. Zum einen durch ihre interne Funktion im Stück vom Einbaum, zum anderen, weil das Bild der Camera obscura in Handkes nachfolgendem Text Rund um das Große Tribunal wieder aufgenommen wird (RGT 21, 35). In beiden Fällen bezieht sich der Autor offensichtlich auf einen Artikel von Lawrence Weschler, der unter dem Titel Inventing Peace 1995 im New Yorker erschien (Weschler 1995; Kastberger/Pektor 2012, 43). Der Kommentar Weschlers suggeriert dort, dass durch die Camera obscura „the chaos of the world might be drawn in and tames back to a kind of order“ (Kastberger/Pektor 2012, 42). Dieser Kommentar Weschlers geht allerdings fundamental an der Funktionsweise des optischen Instruments der Camera obscura vorbei. Denn deren optische Technik beruht ja gerade darauf, dass sie die außerhalb der Box liegende Welt zwar invertiert, sie aber gleichwohl vollkommen detailgenau reproduziert. Weder verändert der technische Apparat das Bild, noch hat der Betrachter eine Möglichkeit, dieses zu perspektivieren. Ganz im Gegenteil dazu muss er alles von einem durch die Gesetze der Physik vorgegebenen Sehpunkt im Inneren der Camera obscura aus wahrnehmen. Mit guten Gründen hat man deshalb darauf hingewiesen, dass sich das wahrnehmende Subjekt erst nach der historischen Ablösung der Camera obscura als Leitmedium des künstlichen Bildes zur Geltung bringen konnte (Crary 1990, 72 f.). Es scheint, als habe Handke diese Referenz auf die Camera obscura angemessener umgesetzt als der Autor, auf den er sich bezieht. Allerdings, und das macht die Besonderheit seines Rückgriffs auf die Camera obscura aus, auf doppelte, dabei völlig unterschiedliche Weise (FE 89; RGT 21). In Rund um das Große Tribunal wird die Camera obscura zu einer Metapher für den Untersuchungssaal, in dem das Urteil gefällt wird. Durch diese Kontextualisierung rücken zwei Aspekte in den Vordergrund. Einerseits die Isolation der Richtenden von der Wirklichkeit draußen und zum anderen die Einlinigkeit ihrer Argumente, Schlussfolgerungen und Beschreibungsregister. Das technische Funktionsgesetz der Camera obscura, deren Bildprojektion den physikalischen Strahlensätzen untersteht und sich mit diesen auch berechnen lässt, wird zur Metapher für die Funktionsregel der öffentlichen und ideologischen Diskurse, nach deren Gesetz die Wirklichkeit abgebildet wird. In der Fahrt im Einbaum tritt dagegen ein anderer Aspekt der Camera obscura in den Vordergrund. Unbeschadet seiner Ablösung durch andere Bildmedien, wie das Panorama und später den Film, lebt dieses optische Instrument bei den Landschafts- und Porträtmalern solange fort, bis diesen das Medium der Fotografie zur Herstellung von Malvorlagen und der Fixierung von Motiven zur Verfügung steht. Dies gilt gerade auch für Vermeer (Hockney 2001/2006). Der Rekurs
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des Stückes vom Einbaum auf Vermeer und seine Benutzung der Camera obscura entfaltet deshalb verdeckt eine grundsätzlich andere Überlegung als die Schrift über das große Tribunal. Denn hier wird das optische Instrument der Camera obscura nur zur technischen Voraussetzung einer ästhetischen Darstellung der Wirklichkeit, die mitten im Krieg die Ansicht von Delft als ein Bild des Friedens präsentiert. Diese Denkfigur spitzt die innere Dialektik von Handkes Stück zu. Denn dieses Urteil über das Bild Vermeers gibt ausgerechnet der zweite Internationale ab, der schon vorher dadurch aufgefallen war, dass er die politischen und historischen Sachverhalte in plakativ zu lesende Geschichten verwandelte. Nicht anders geht es jetzt, denn er ist unfähig, zwischen den Zeichen der Politik und denen der Kunst zu unterscheiden. Weil für ihn alle Bilder einem einzigen Diskurs angehören, kann er seinen Kommentar unmittelbar mit seinem Bericht über das Kriegsverbrechen an der Brücke von Višegrad verbinden, kann ihm das friedliche Delft zur Vorzeichnung eines jugoslawischen Friedens, zur einlinigen Metapher für den politischen Frieden werden. Doch gerade diese beschränkte Sehweise bestätigt auf fatale Weise Handkes pejorativen Vergleich des Gerichts und der dort Versammelten mit Menschen in einem geschlossenes System, das ebenfalls durch die Camera obscura visualisiert wird. Für den Zweiten Internationalen bereiten sich die Strafverfolger des Haager Gerichtshofs durch das Ansehen eines Friedensbilds, das neben dem Gerichtsgebäude angesehen werden kann, auf ihren Urteilsspruch vor, denn „ihr ruhiges Recht-Schöpfen entsprach auf den Tupfer den Bildschöpfungen Vermeers“ (FE 89). Für den Berichterstatter ist deshalb klar: der Maler hatte, malend, mitten im Krieg den Frieden erfunden – sein Delft wandelte wie Jesus im Sturm auf dem Wasser (Matthäus 8, 23–27)! Und ich dachte: kein Wunder daß unsere Richter und Ankläger Kraft suchen bei solchen Bildern! Auch Sie erfinden, indem sie unbeirrbar anklagen und verurteilen, ohne Zweifel den Frieden. (FE 88)
Gerade hier zeigt sich jedoch eine der für Handkes Stück typischen Brechungen, denn für den Autor sind die Sätze des Kommentators nur dann richtig, wenn sie grundsätzlich anders kontextualisiert werden. Die ästhetische Leistung des Bildes von Vermeer liegt gerade jenseits der Konditionierungen der Camera obscura. Sie entsteht im Wortsinn aus einer Übermalung der durch dieses Instrument vorgegebenen Linien und Konturen und ist damit nicht einfach Abbildung sondern schon Transformation. In vergleichbarer Weise kann sich die ästhetische Botschaft der Fahrt mit dem Einbaum allein aus einer Relektüre und Überschreibung des Kommentars entfalten, den der zweite Internationale abgibt. Eben diese Spannung zwischen zwei Lesarten hat die Aufführung zu erschließen, denn das Stück inszeniert immer auch eine „innere ‚Bühne‘ des Schreibens“, die letztlich der „Polarität von Zuschauer und Akteur im Theater“ vergleichbar ist (Lehmann 2012, 70). Keinesfalls ist es deshalb angemessen, die Beurteilung des Ästhetischen bei Vermeer durch den Zweiten Internationalen als einlinige Botschaft zu lesen, die auf den Autor verweist. Vielmehr zeigt dieser durch die Diskursverschränkung,
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die er inszeniert, dass das Ästhetische je neu bestimmt werden muss und nicht einfach eine Gegenwelt darstellt. Keine Übermalung kann der Dialektik des Realen entgehen. Erst am Ende des Stücks erscheint der Einbaum, von dem im Titel die Rede ist. Vor allem durch die Kommentare der Fellfrau wird er zum Zeugnis einer mythischen Geschichte (FE 115), zugleich erinnert er an ein Ursprungsland. Doch gerade dieses Bild, das Titel wie Skopus des Stückes darstellt, wird am Ende auf mehrfache Weise dekonstruiert. Zunächst schon deshalb, weil es in Konkurrenz zu einer Maschine steht, die als „Neue-Welt-Orgel“ die Menschen, die sich aneinander gelegt haben, weil im Einbaum ohnehin kein Platz für sie alle ist, auseinander schiebt und aus der Szene hinaus befördert (EF 120). Diese Kontrafraktur macht deutlich, dass der Einbaum zu keinem Ursprungsland mehr zurückfahren kann, in dem sich die gesellschaftliche Utopie einer vorgeschichtlichen Gesellschaft erfüllen könnte. Seine Bedeutung hat er als ein bloßes Zeichen, welches das Stück in die von ihm geschilderte Wirklichkeit einrückt. Nicht zufällig weist die Fellfrau auf seine Unzerstörbarkeit, indem sie ihn mit einem Bild vergleicht, aus dem die Farbe rinnt und das nach Meinung seines Malers gerade deshalb die Idee „nach Hause“ gehen lässt (FE 119). Der Ursprung, an den dieses urzeitliche Gefährt erinnert, ist nichts, wohin man zurückkehren kann, er bleibt eine Phantasie, die dem Bestehenden so gegenüber tritt wie der „Walddickichtstanz“ des Waldläufers. Er markiert eine symbolische Konfiguration, die ihren sozialen Kontext verloren hat (FE 79). Und der wahre Ort des Einbaums befindet sich, so die Fellfrau: „An der Grenze zwischen Schlafen und Wachen“ (FE 117). Das Szenario der letzten Szene unterstreicht diese Darstellungsstrategie des Stücks. Sowohl der vom Waldläufer geschilderte Bezirk der Natur als auch die Schilderung des Balkans durch die Fellfrau (FE 115) erweisen sich als Zitate und Bilder, die Bruchstücke aus Texten Handkes darstellen und gerade durch diese Zersplitterung auf das „Hirngespinst“ Jugoslawien hindeuten (MN 506). Der Verweis auf Obstgärten und die Sierra de Gredos (FE 118), auf tanzende Schmetterlinge (FE 115) oder die Beschreibung einer Himbeere (FE 112) lassen sich als weitere Beispiele nennen (FE 98, 106, 118). Doch sie alle zeichnen nicht die Konturen eines geschlossenen Texts vor, der sich der Ganzheit von Vermeers Bild des Friedens an die Seite stellen ließe (FE 118). Angesichts des Scheiterns der Utopie erscheint auch die Verheißung der Ästhetischen nur noch prekär. Die Koordinaten dieser Bilder im Stück ergeben sich aus dem Scheitern einer politischen und gesellschaftlichen Utopie, welche die Einheimischen, die als Fellfrau und Waldläufer auftreten, sich selbst haben fremd werden lassen (Wagner 2010, 159). Weder können sie sich noch berühren, noch sind sie mit sich selbst identisch. Der Regisseur Machado bemerkt, „daß die Leute hier mit dem, was sie geäußert haben, immer wieder etwas grundanderes sagen wollten. Ihre Gesten, ihre Augen und ihre Stimmen widersprachen ihrem Reden, fast Wort für Wort“ (FE 121). Seinen Kollegen veranlasst dies zu der Bemerkung, dass jeder dieser Einheimischen eines Übersetzers bedürfe (FE 122). Konfrontiert mit einer historischen Wende, an der die Gesellschaft „mehr und mehr in Horden“ zerfällt, sogar an ihr Ende kommt (EF 123), versagt das
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neue Medium, das ohne gesellschaftlichen Rahmen nicht auskommt (Kracauer 1979, 223–226; Deleuze 1997 II, 216, 399). Der geplante Film wird schließlich nicht gedreht. Damit zieht das Stück auch einen vorläufigen Schlussstrich unter die öffentlichen Debatten über den Krieg. Machados Zitat seines Dichtervorfahren macht deutlich, dass die einzige Wahrheit in einer Gesellschaft, die dem symbolischen Tausch widersteht, der Tod ist und dass am Ende des großen Meinungskriegs die Bewohner des früheren Jugoslawiens, das „tragische[.] Volk“ (FE 92), ohne die weiterleben muss, die ihnen ihre Welt zu erklären beanspruchten: „Kein Problem. Kein Jugoslawien“ (EF 126; Baudrillard 1994, 1–43, 87–95).
12.5 „Endstation des Theaters“: „Warum eine Küche?“ (2003), Untertagblues. Ein Stationendrama (2003), Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts. Ein Monolog (2008/9) Die Reduktion der Bühne auf einen bloßen Schauplatz, welche die Stunde da wir nichts voneinander wußten vorgenommen hatte, und die Einschränkung des Figurenhandelns auf Gesten und Bewegungen in den Spuren der Verirrten setzen sich als eine experimentelle Strategie der Stücke von Handke zunächst in den Texten fort, die er für das Schauspiel La cuisine von Mladen Materić schreibt, dann im Untertagblues und schließlich in Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts. Die radikalste Reduktion präsentieren dabei die unter dem Titel „Warum eine Küche?“ versammelten Szenen. Hier erscheinen nicht einmal mehr sprachlose Personen wie in den Spuren der Verirrten. An die Stelle von Akteuren treten Gegenstände (CU 21 f.) und Blicke, an die Stelle von Kommunikation rückt das Erzählen von Erinnerungen, das keine Adressaten hat (CU 19). Die unverbundenen Szenen folgen keiner linearen Ordnung, mitunter präsentieren sie nur ein aleatorisches Spiel, das Küchenzutaten mit Ortsnamen kombiniert, als handle es sich um Menüpositionen aus einem Sternelokal (CU 24). Allein die Kombination bestimmt als Regulationsprinzip auch die lyrischen Passagen, die zudem das Unvereinbare unmittelbar nebeneinander rücken und gleichzeitig offenlassen, welchem poetologischen Ordnungsbegriffe sie folgen wollen: „Lied-Litanei-Erzählung-Monolog-Dialog etc.“ (CU 28). Gleiches gilt für die unter der Rubrik „Erzählungen“ verzeichneten Passagen, die durch die Bühnenanweisung als grundsätzlich segmentierbar charakterisiert sind: „Dialog, Trialog, Tetralog, Pentalog etc.“ (CU 18). Der Untertagblues, der im Untertitel ein Stationendrama verspricht, ist alles andere als diese poetologische Bezeichnung erwarten lässt. Formal handelt es sich in erster Linie um einen Monolog in der Untergrundbahn, der durch die Stationen, die diese passiert, segmentiert ist. Auch hier eröffnet sich die Möglichkeit eines kombinatorischen Umgangs mit dem Text. Der „wilde Mann“, der als Sprecher auftritt, könnte, wie der Text ausführt, auch „Volksredner“, „Spielverderber“
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oder „Volksfeind“ heißen (UB 9), die Bahn-Stationen tragen in der Regel drei Namen, die Referenzen auf unterschiedliche Zeiten und Kulturkreise kombinieren. Die Rede des Protagonisten ist nichts anderes als eine manische Beschimpfung der Mitpassagiere, die in der Regel von äußeren Beobachtungen ausgeht und sich auf deren Kleidung, Habitus und Bewegungen konzentriert (UB 54), dabei verurteilt sie Behinderungen ebenso unnachsichtig wie überzogene und auf Effekt angelegte Selbstdarstellungen (UB 42 f.). Zweifellos folgt dieser aggressive Monolog, der sich zuerst an die Passagiere und dann an die Zuschauer richtet, die zuletzt frontal angesprochen werden, einer psychischen Disposition, deren Aggressivität die Folge einer Selbstüberschätzung ist. Die Logik, die dieses Stück bestimmt, ist allein Psycho-Logik. Getriggert von Detailbeobachtungen und Assoziationen entfaltet sich das monologische Sprechen in obsessiven Girlanden, deren Kennzeichen es ist, dass sich in ihnen bewusste und unbewusste Wahrnehmungen ständig überlagern und vermischen und so die Wahrnehmung insgesamt permanent recodieren. In dieser Hinsicht ist auch dieses Stück ein „Versuch“ über die Wahrnehmung und ein Dokument für die Macht des Unbewussten zugleich. Unschwer lässt sich erkennen, dass die Bilderwelt dieser psychischen Störung mit den Urteilen und der poetischen Bilderwelt des Autors korrespondiert (UB 19 f.) und dass die Beschimpfungen, die der wilde Mann von sich gibt, den oft bösen Blicken seines Autors auf die ihn umgebende Gesellschaft entsprechen, wie sie in den erzählenden Texten, insbesondere im Jahr in der Niemandsbucht und in der Morawischen Nacht verzeichnet sind und später in den Unschuldigen weitergeführt werden. Gleichzeitig erfolgen auch Beleidigungen unter Rückgriff auf literarische Formen oder hochsprachliche Ausdrücke. „Grimasse zu Grimasse, Staub zu Staub, Unkraut zu Unkraut“ (OB 29) heißt es an einer Stelle, „verstummt mein ganzes Wesen und schweigt?“ an einer anderen, die Bezug auf eine ästhetische Leitformel des Autors nimmt (UB 31). Die Abwehr gegen die anderen ist gekennzeichnet durch die Leitworte ihrer „Unnatur“ (UB 10) und „Unform“ (UB 22), die in der Abwehr der „ewig Heutigen“ ihren Zielpunkt finden. Dabei trifft die verbale Aggression ganz unterschiedliche Ziele. Sie richtet sich auf soziale Gruppen wie Priester (UB 36 f.), Gelehrte (UB 38–40) oder Paare (UB 33–35), und sie inszeniert einen systematischen Wechsel zwischen der Außensicht auf körperliche Details (UB 31) und einer Innensicht, die vermutete unbewusste Wahrnehmungen rekonstruiert. Schließlich folgt sie einer Zuschreibung erfundener oder vermuteter Geschichten (UB 22). Wenn ganz am Ende dem „wilden Mann“ eine „wilde Frau“ gegenübertritt, die ihm die gleiche Aggression entgegenbringt wie er den andern, schlägt sein Gemütszustand abrupt um. Es zeigt sich, dass sein Monolog auf der Bühne der zum Zuschauerraum hin offenen U-Bahn den typischen Wechsel von der Grandiosität zur Depression, der eine manisch-depressive Störung charakterisiert, durch Sprache sinnfällig macht. Unversehens erscheint der wilde Mann in der Rede der wilden Frau nicht nur als hässlich, auch sein Anspruch, ein anderer zu sein, wird systematisch und aggressiv zerstört: „Du: verholzt von deinem Schönheitswahn“, charakterisiert ihn die Frau und hält ihm vor: „wußtest du denn
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nicht, daß heutzutage die Schönheitssuche und die Verkümmerung Hand in Hand gehen?“ (UB 76). Vorbereitet war dieser Wechsel durch eine Phase des völligen Alleinseins (UB 67), an deren Ende eine Station steht, die einen Leitnamen trägt, an dem sich reale Geographie und Handkes Psycho-Topologie überlagern: Nueva Numancia. Dass diese Disposition von Anfang an kein kontrolliertes Sprachhandeln mehr zulässt, zeigt sich spätestens dann, als der wilde Mann, der am Ende vor den Beschimpfungen der wilden Frau flüchten will, dieser „unversehens entgegen“ flieht und „Zuflucht“ sucht, „bei ihr, der Vollstreckerin“ (UB 77). Diese Wende, die einen Absturz des monologischen Sprechers in die Depression markiert, läuft parallel mit einem fast märchenhaften Schluss: Die Untergrundbahn fährt „hinauf in die Taghelle“. Die beiden „episodisch enger aneinander“ stehenden Protagonisten erscheinen nur noch als „Silhouetten vor einem sonnigen Hintergrund“. Zunächst befinden sie sich in einem Endbahnhof, der keinen Namen trägt, nur Zahlen sind zu sehen, bis der Name einer „Übergangsstation“ aufscheint „Toisin – Autoisin – Potamoisin“ (UB 78). Untergrundfahrt und Psychospiel sind zu Ende, die Dominanz des Unbewussten schwindet, jetzt gilt eine andere Ordnung, deren Reglement noch nicht klar ist. In der Nachbemerkung zu Bis dass der Tag euch scheidet bezieht sich Handke unmittelbar auf das Vorbild von Samuel Beckett, in dessen Stück Das letzte Band er eine vollkommene und notwendige „Reduktion des Theaters“ sieht, weil sich Beckett „von den Resten des Symbolismus und der Meinungen zur Existenz“ befreit habe (BTS 51). Ausdrücklich bemerkt Handke, dass er selbst über diesen Punkt nicht mehr hinaus kann und bezieht sich dabei auf sein eigenes Stück Bis daß der Tag euch scheidet (BTS 51). In ihm dominiert in der Tat und in extremer Form die Statik, die er immer wieder auf die Bühne bringen wollte. Zwei Statuen, ein Mann und eine Frau stehen nebeneinander in derselben Haltung, nur für ihren Monolog tritt die weibliche Figur kurz aus ihrer Nische heraus, um sich am Ende wieder zurückzuziehen. Dass die beiden gleichwohl ganz unterschiedlich erscheinen, geht allein vom Blick des Betrachters aus, dem die Frau in äußerstem Kontrast zu dem Mann zunächst wie das „blühende Leben“ erscheint (BTS 8). Auch dieser Text ist eine lange Beschimpfung, eine systematische Demontage des Mannes durch die Frau und letztlich auch ein vernichtendes Urteil über das gemeinsame Zusammenleben, das von Anfang an in dem Satz zusammengefasst wird: „Wir zwei spielen zwei verschiedene Spiele […]“ (BTS 10). Das Urteil über den Mann folgt dabei einer für Handke typischen Opposition. Der Mann, dessen Fixierung auf Formen ohne Bedeutung die Frau kritisiert, wird mit dem „Zeigen der Kinder“ konfrontiert, das nichts bedeuten soll, weil es der reinen Lust folgt, „auf nichts und noch einmal nichts zu zeigen, geheißen von niemandem, bezogen auf niemanden“ (BTS 16). Es ist der Gegenentwurf zum Bewusst-Sein des Mannes (BTS 16). Aber auch der Mann war bei sich selbst nur, solange er allein war. Sowie ihm die Frau begegnete, hatte er „auf der Stelle das Zentrum verloren“ (BTS 20), von Anfang an war diese Beziehung gestört. Zwar setzt sich am Ende der männliche Anspruch gegenüber der Frau durch, der Mann will, so die
12.6 Heimkehr zu den Ahnen: Immer noch Sturm (2010)
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Frau, selbst „das verkörperte Zeichen sein“ (BTS 22). Doch die Frau muss, bildlich gesprochen, in der Dunkelheit bleiben. In Umkehrung des geläufigen Trauspruchs müsste ihr Treueversprechen lauten: „bis daß der Tag uns scheidet“ (BTS 23). So schreibt sich das Register der Spannung zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten in die Beziehung zwischen Mann und Frau und die Charakterisierung ihres Gegensatzes ein, als folge es einem sexistischen Klischee. Doch eben dies hält das Stück in der Schwebe. Die Bühnenanweisung schildert, wie in dem Augenblick, in dem die Frau als Sprecherin ihre eigene Rolle bestimmt hat und gleichwohl im „Schauen“ geblieben ist, sich die Statue des Mannes ihr angleicht. Dies geschieht in einem Moment des „Innehaltens“, für dessen Beschreibung Handke seine Worte mit denen Becketts verbindet. Es ist ein Innehalten, so die Frau, „bis mein letztes Echo auf dein letztes Band verhallt“ (BTS 27). Wieder ist die Handlung eines Stücks auf die Darstellung eines Psychodramas reduziert, gleichzeitig wird dessen Formel „Fortdauernder Sturm“ zur Vorausdeutung auf das Stück Immer noch Sturm, mit dem Handke das Psychodrama seiner Familie auf die Bühne bringt (BTS 27).
12.6 Heimkehr zu den Ahnen: Immer noch Sturm (2010) In Bis daß der Tag euch scheidet war das Wort ‚Sturm‘, das in Referenz auf Shakespeare in den Titel einging, bereits als Metapher für eine prekäre Beziehung zwischen Mann und Frau verwendet worden, jetzt beschreibt es die Beziehungen von drei Generationen einer Familie und die besondere historische Konstellation, die diese prägte (BTS 27). Wiederum geht es auch hier um ein Drama des Innern. Alles, was erscheint, ist durch den radikal subjektiven Blick eines „Ich“ hervorgebracht, das als Figur neben den Familienmitgliedern auftritt. Doch dieses Ich kann den anderen keine stabile Perspektive vermitteln, weil es sich verdoppelt. In seiner Wahrnehmung überlagern sich unterschiedliche lebensgeschichtliche Erfahrungen, die sich wechselseitig beeinflussen. Im Zuge einer Superposition von psychischen Zuständen und Sprechakten kommt es zu einer Aufhebung der für Theaterstücke typischen textuellen Unterscheidung zwischen Bühnenanweisung und Figurenrede. Was dieses Ich präsentiert, ist immer zugleich Erinnerung und Szenenbild, beide werden gleichermaßen erzählt. In der Spannung zwischen Gegenwart und Erinnerung wird Handlung nicht allein im Dialog mit anderen, sondern grundsätzlich auch als eine Interaktion zwischen Schauplatz und Personen inszeniert, die allein vom berichtenden Ich entworfen wird. Deshalb korrespondiert in diesem Stück dem Drama des Innern, das sich zwischen dem wahrnehmenden und dem sich erinnernden Ich abspielt, ein Szenen- und Schauplatzwechsel im Äußeren, der unterschiedliche Stadien einer Familienaufstellung ins Bild setzt. Wenn das Ich, welches das Zentrum dieser fast therapeutischen Konstellation darstellt, seine Familie, die Mutter, die Großeltern und die Geschwister der Mutter in der Gegenwart wahrnimmt, wird seine aktuelle Wahrnehmung von der Erinnerung an symmetrische Szenen in der Vergangenheit überlagert, die wie in
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einem filmischen ‚Morphing‘ als eine Überblendung von Bildern erscheint und zudem an das Medium der Schwarz-Weiß-Fotografie erinnert. Kompliziert wird diese Überblendung zusätzlich dadurch, dass sich dieses Ich nicht nur in ein wahrnehmendes und ein sich erinnerndes verdoppelt, sondern weil es in seinen Erinnerungen auch selbst auftritt. Einerseits wird es von den Vorfahren, die ihm in seiner Gegenwart erscheinen, als „Nachzügler“ (IS 9) angesprochen, andererseits sieht es sich selbst gleichzeitig in der Vergangenheit als Kind, es imaginiert sogar Szenen, in denen es sich noch im Leib seiner Mutter befindet. Die sich überlagernde gegenwärtige Wahrnehmung und die Erinnerung werden zudem, als folgten sie der Logik des Traums, zeichenhaft durch einzelne Situationen und Gegenstände miteinander verbunden, die das berichtende Ich schon einmal gesehen zu haben glaubt. „Da seid ihr nun, Vorfahren. Die längste Zeit habe ich auf euch gewartet. Nicht ich lasse euch nicht in Ruhe. Es läßt mich nicht in Ruhe, nicht ruhen“ (IS 10). Zentrale Bedeutung erhält dabei die Bank, von der aus das Ich, als wäre es ein Zuschauer, das Figurenensemble seiner Vorfahren und zugleich sich selbst beobachtet. Damit entwirft das Stück ein Spiel der Perspektivierung, das die klassische Grenze zwischen Zuschauer und Bühne entweder invertiert oder spielerisch benutzt. Die Sitzbank, von der aus das Ich um sich schaut, markiert eine zeitliche und genealogische, eine psychische und eine theatertechnische Grenze zugleich. Sie weist auf die Vergangenheit der Familie, ist darüber hinaus Zeichen einer phantasmatischen Konstruktion und bestimmt schließlich auf der Bühne den Ort, an dem sich zwei Perspektiven überlagern, der Blick des berichtenden Ich auf Vergangenheit wie Gegenwart und der des Zuschauers auf die zentrale Figur. Verkoppelt ist dieses ambivalente Zeichen der Bank mit einem anderen, dessen Wiederkehr in unterschiedlichen Szenen ebenfalls einer Traumlogik zu folgen scheint, wie sie auch andere Texte und Stücke des Autors durchzieht: Neben der Bank steht ein Apfelbaum „mit etwa 99 Äpfeln“ (IS 7, 44, 71), der schon in den Zurüstungen für die Unendlichkeit als Zeichen präsent war (ZU 33). Weil sich gegenwärtige Szenen, Erinnerung und Tagtraum ohne Markierung überlagern, ist der Bühnenraum, der eigentlich ein Erzählraum ist, durchgreifend verfremdet, dies betrifft Topographie und Zeit zugleich: „Eine Heide, eine Steppe, eine Heidesteppe, oder wo. Jetzt, im Mittelalter, oder wann“ (IS 7). Diese und andere Passagen legen klar, dass in diesem Stück nicht anders als in Handkes späteren Texten alle Zeichen eine doppelte Funktion haben. Sie sind niemals allein denotativ und abbildend, es geht eben nicht nur um das Jaunfeld in Kärnten, sondern alle Bilder sind immer zugleich gleitende Signifikanten in einem psychisch codierten Subtext. Dessen aleatorisches Baugesetz macht ihn an jeder Stelle der Logik des Traums vergleichbar, es inszeniert einen ständigen Wechsel zwischen mimetischer Abbildung und psychogenetischer Chiffrierung. Deutlicher als andere Texte greift Immer noch Sturm auf den familialen und autobiographischen Kern zurück, der in verdeckter Form von Handke schon immer variiert wurde. Bereits die Hornissen verzeichnen Hinweise auf den Bruder der Mutter (HO 131, 133), deren Lebensgeschichte wurde in Wunschloses Unglück erzählt. Die Wiederholung stellte mit Filip Kobals Suche nach
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dem verschollenen Bruder eine Verbindung zwischen der Familiengeschichte und dem slowenischen Widerstand her (W 71, 238), in der Morawischen Nacht trifft der Erzähler seine Familienangehörigen in Kärnten (MN 429). Die Familie steht auch im Hintergrund der Zurüstungen für die Unsterblichkeit, die mit Immer noch Sturm durch gemeinsame Bilder vernetzt sind (ZU 33). Jetzt aber ist diese Familiengeschichte zum ersten Mal dynamisiert, es findet eine ständige Umgruppierung der Personen statt, welche die sozialen Regeln sinnfällig macht, der diese unterstehen. Deutlich wird dies am Beispiel der Schwester der Mutter, der es nie gelang, sich einen „Platz“ zu verschaffen (IS 17) und an dem berichtenden Ich selbst, das als „Bankert“ von Gregor als „Familienfeind“ und „Volksfeind“ beschimpft wird (IS 80) und das die Mutter schon vorher im „Spiel“, das nichts anderes als ein Sozialisationsspiel ist, als „Vaterlose[n]“ bezeichnete (IS 12). Ohnehin hatte es schon immer eine Außenseiterrolle in der Familie und seine Mutter war ausgegrenzt, weil sie sich einem Deutschen zugewandt hatte (IS 61 f.). Diesem sozialen Register kann keiner entkommen: „Du hast im übrigen keine Wahl, es ist dein einziges Spiel, seit jeher, dein einziger Bauplan. Bleib bei uns, Sohn“, sagt die Mutter (IS 43). Diese Rekonstruktion einer Familiengeschichte ist auf doppelte Weise mit Sprache verbunden. Zum einen bezieht sie sich auf eine „familiäre Schrifttradition“ (Höller 2007, 13), zum andern zeichnet sie die Sprachpolitik auf dem Gebiet des österreichischen Kärnten nach, die unmittelbar den Verlauf der politischen Geschichte spiegelt. Diese Schrifttradition ist Handke durch die Briefe seines Onkels Gregor vermittelt, die er bereits bei seiner Vorbereitung für Die Hornissen liest und die sowohl in der Wiederholung (W 154, 181) als auch in den Zurüstungen für die Unsterblichkeit (ZU 36 ff.) aufgenommen werden (Haslinger 1992). In Immer noch Sturm werden jetzt ganze Dialoge und Briefpassagen im Wortlaut eingerückt (IS 50 ff.). Zu dieser Referenz auf überlieferte Texte gehört auch das immer wieder erwähnte Obstbaubuch, die Mitschrift des Onkels Gregor Siutz aus der Obstbauschule in Maribor mit dem Titel Sadjarstvo! Obstbau! (W 161, 165; ZU 36 ff.). Dieser Text wird jetzt zum „heiligen Buch der Familie“ stilisiert (IS 23), auf das mehrfach Bezug genommen wird (IS 24 f., 51). Präludiert wird damit die spätere Rolle der gesprochenen Sprache, denn die gemeinsame Lektüre in dieser Schrift wird zu einem gemeinschaftlichen Übersetzungsspiel der Familie. Dieses Thema der Übersetzung als einer besonderen Form des Schreibens durchzieht alle Texte Handkes. Dramatisiert wird das Thema der Sprache schließlich in einer Wechselrede der Figuren, welche die Sprachpolitik in Kärnten memoriert. Dabei wird deutlich, dass die Sprache deshalb im Zentrum der Familiengeschichte steht, weil die Brüder der Mutter, die sich jeweils für eine andere Sprache entschieden, ihr Leben in unterschiedlicher Weise führen mussten. „Wie man doch herumverschlagen wird“, kommentiert dies die Familie (IS 99). Darüber hinaus werden die deutsche und die slowenische Sprache sozial und politisch konnotiert. „An unserer Sprache sind wir alle Versammelten hier zu erkennen, erkennen wir uns wenigstens untereinander […]. Keiner in der Gegend hat so gesprochen wie wir. Keiner im ganzen Land spricht so wie wir, wird so gesprochen haben wie wir“ (IS 14). Der Großvater
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schildert die Geschichte seiner sich nur langsam vollziehenden linguistischen Sozialisation. Er betont, dass das Deutsche den jungen Männern „nicht bloß die Haus- und Hoftore geöffnet“ hat (IS 19), doch andererseits haben für ihn alle Slowenen, die deutsch sprechen, „schon die Heimat verloren“ (IS 23). In einer langen Schimpfrede auf die Deutschen und ihre Sprache wird er dies später weiter ausführen (IS 67). Das Leben der Brüder ist unterschiedlich und schicksalhaft mit ihrer Sprachwahl verknüpft. Valentin, für den die deutsche Sprache auch eine Ablehnung des Slawischen beinhaltet (IS 82), fällt wie Benjamin im Krieg der deutschen Wehrmacht. Gregor dagegen vollzieht mit seinem Wechsel zum slowenischen Widerstand auch einen Sprachwechsel. Er beharrt darauf, dass ihm mit der slowenischen Sprache der Raum seiner Herkunft nicht nur vertraut, sondern auch zu einem Hoffnungsraum wird. Auch die Schwester entdeckt mit dem Slowenischen und ihrem Anschluss an den Widerstand eine neue Erfahrung der Gemeinsamkeit, der Dual des Slowenischen wird dafür zur Metapher (IS 92). Der zu Jonatan umbenannte Gregor verbindet dies mit der Ideologie des Widerstands: Das Slowenische kennt das Wort „ich“ nicht, betont er (IS 106). Vorgezeichnet war dies im Jahr 1936, dem „Jahr von Sonne und Schnee“ (IS 30), wo in der Heimat zum ersten Mal eine Umbenennung stattfand, die ohne Macht vonstatten ging. Es ist das Jahr, in dem Gregor, der die Identität der Familie durch das Slowenische stärken will, aus dem slowenischen Maribor nach Kärnten zurückkehrt (Leskovec 2013, 36). Die Zuwendung zum slowenischen Hoffnungsraum geht bei ihm mit einer grundsätzlichen Ablehnung des Westens einher. Er führt slawische Bräuche im Haus ein, von seiner Schwester wird er deshalb zunächst als „Der mit seinem ewigen Jugoslawien“ apostrophiert (IS 40). Der familiale Dissens spiegelt die Auseinandersetzung über die Sprache, die nach 1920 auch die Slowenen selbst in Windischsprachige und Projugoslawische gespalten hatte. Die politische Kontextualisierung dieser linguistischen Sozialisation, die alle Familienmitglieder betrifft, eröffnet eine allgemeine und eine werkgeschichtliche Perspektive zugleich. Offensichtlich liefert Handke am Beispiel der Geschichte des slowenischen Widerstands in Kärnten noch einmal einen verdeckten und zum Teil invertierten Kommentar zu seinen Serbientexten. Wenn er in einem Interview ausführte, sein Stück sei „ein Sturm gegen die Geschichte, gegen Geschichte als Fortschrittskategorie“ (Greiner 2010), dann betont er die dialektische Grundfigur von Geschichte, die sowohl die Serben als auch die Slowenen auf Kärntner Boden betrifft. Beide werden von den westlichen Staaten, die im Namen von Vernunft und Humanität handeln, in eine Rolle gedrängt, die sie nicht wollten. Gleichzeitig werden die Befreiten nur auf eine andere Weise erneut unterworfen. „Die heutigen Teufel dagegen spielen Engel, und teufeln und teufeln, und teufeln am Morgen, teufeln am Abend, teufeln in der Nacht… Und das ist die ganze Geschichte…“ (IS 150). So finden sich am Ende die Serben als Teil des Staates Bosnien-Herzegovina wieder, die Slowenen, die alles auf ihre Unabhängigkeit gesetzt hatten, die Träger eines „tragischen Widerstands“, deren Handlungen Handke in Karel Prušnik-Gašpers Erinnerungsbericht Gemsen auf der Lawine
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verzeichnet findet (MN 88), werden dagegen nach 1945 dem Staat Österreich zugeschlagen. Dieser beansprucht ihren Widerstand für sich selbst (IS 149) und klassifiziert die Slowenen zugleich als Minderheit. Der Traum von der Befreiung in einem freien Europa (IS 96, 125) bricht zusammen durch eine militärische und eine linguistische Unterwerfung. Bereits die englischen Befreier fordern die Slowenen auf, deutsch und nicht slowenisch zu sprechen (IS 141). Nicht zufällig ähneln diese als „Raumverdränger“ bezeichneten Besatzungstruppen (IS 142) den „Raumzerstörern“, die in den Zurüstungen für die Unsterblichkeit das Volk der Enklave bedrohen (ZU 65, 68 f.). Unter diesen Voraussetzungen wird die Sprachinsel zur Signatur einer selbstbestimmten und zugleich gewaltfreien Geschichte. Lapidar vermerkt der Text: „Jenseits der Sprache bricht die Gewalt los“ (IS 140). Doch es ist nicht nur die Gewalt des Krieges sondern auch die Kolonialisierung durch andere. Die alten Priester gehen in das neue Jugoslawien und zu den Slowenen kommen neue Priester aus den westlichen Teilen Österreichs (IS 144). Der Versuch, die geschichtliche Wirklichkeit nicht nur nachzuzeichnen sondern auch umzuschreiben verbindet in diesem Stück das Ich, das als Protagonist auftritt, mit seinem Erfinder. Wiederum wird die Fixierung auf die Geschichte der Familie zu einem zentralen Thema, das der Autor in einem Interview hervorhebt. „Das Leben der Toten hat mich immer beschäftigt, schon Die Hornissen, mein allererster Roman, beruhen auf einer Geschichte, die mir meine Mutter erzählt hat und in die ich mich hineingeträumt habe“ (Greiner 2010). Damit ist ein weiteres Stichwort gegeben, das der Text benennt und das für den Autor selbst ebenfalls gilt: Das Schreiben geht unmittelbar aus einer Fähigkeit des Träumens hervor, die zugleich die „Geschichte der Ich-Werdung“ modelliert (Höller 2007, 67 ff.). Handke selbst unterstreicht diese Bedeutung des Traums für sich, sie bestätigt sich überdies in seinen Traumaufzeichnungen Ein Jahr aus der Nacht gesprochen (Greiner 2006). Wie schon für die Hornissen lässt sich dies auch für den Text von Immer noch Sturm noch genauer belegen. Dessen Satz „Ich habe sie vorzeiten, in einer anderen Zeit, gesehen, und sehe sie jetzt wieder, samt der Sitzbank, auf der ich einst mit meiner Mutter gesessen bin […]“ (IS 7), reicht in Wahrheit über das Stück hinaus, er erscheint wie eine Abbreviatur von Handkes Formel, er habe „fünf Jahre herumgeträumt an diesem“ (Patterer/Winkler 2012). Dabei geht auch dieses Träumen von Texten aus. Es sind wieder die Feldpostbriefe des Onkels Gregor, die der Autor schon früh liest (Haslinger 1992, 67 ff.). In einem Brief vom 16. Januar 1963 berichtet er der Mutter einen Traum, in dem er selbst sein Onkel Gregor war und vermerkt, „alles, was ihm widerfuhr, das erlebte ich an mir, ganz unbeschreiblich war das“ (Haslinger 1992, 69). Daran anzuschließen scheint sich eine späte Traumaufzeichnung, die 2008 dem Tagebuch anvertraut wird. Sie entwirft nicht nur ein Szenenbild, sondern lässt in ihm, nicht anders als im Stück, den Autor selbst auftreten. „Prozession der toten Vorfahren, auch Nachbarn, aus dem Dorf, zwischen Erhabenheit und Bedrohlichkeit, und ich uralt wie sie alle“ (Herwig 2011, 315). Unter diesem Blickwinkel wird das Stück zu einer dramatischen Inszenierung der eigenen Traumwelt, die das Ich des Stücks zum Spielleiter werden lässt, eine dramatische Konfiguration, die Handke auch im Spiel vom Fragen verfolgt (IS 161; DS 34, 39).
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Doch gerade die dort vorgezeichnete Perspektive eröffnet sich hier nicht. Die am Ende ausgesprochene Formel „[…] endlich aus der Albtraum Geschichte, und nichts als die ewige Kinderzeit“ (IS 152), die den Eintritt in einen anderen Zustand zu verheißen scheint, bleibt ein bloßer Wunsch, der sich im Lauf der Geschichte nicht erfüllen lässt. Auch dies ist in einer Szene vorgezeichnet, die traumhafte Züge hat. Der Bruder will dem Ich in einen Rock der Vorfahren helfen, doch dieser zerreißt beim Anziehen (IS 160 f.). Gleichzeitig hört das Ich seine Ahnen mit den Worten und der slowenisch-deutschen Mischsprache der Windischer reden. Er breitet die Arme aus, um sie hinter sich zu versammeln und anzuführen, doch es kommt zu einer dramatischen Wende, denn Gregor und die Mutter beginnen zu sprechen und konterkarieren seine Phantasie. Wie auch in anderen Stücken Handkes kommt es in der Klimax des Stückes zu einem immer schnelleren Perspektivenwechsel, der den Dialog der Akteure dramatisiert. Gleichzeitig gewinnt die Selbstkritik des Autors Kontur, auch hier wird sie von anderen Personen ausgesprochen. Gregor erinnert an die geschichtliche Erfahrung und beschwört einen fortdauernden Sturm als das geheime Gesetz der Geschichte. Er wirft dem Ich vor, es habe „kein Recht zum Märchen“ und versuche gleichwohl, „auch noch den Spielleiter“ zu spielen (IS 161). Schon vorher hatte er ihm Naivität bescheinigt: „Nur ein Kind der Liebe malt solche Einfaltspinselbilder. Zimmert aus seinem Daherund Dahingeträumten Weltenräume. Träumt, und bestimmt, daß wir Toten nicht tot sind. Tot sind wir, Nachfahr, tot. Nacht um Nacht und ohne Jüngsten Tag tot“ (IS 155). Wenn Gregor auf die Wirkungslosigkeit gerade auch der Texte weist, die das Ich identifikatorisch als Dokumente des Widerstands liest (IS 156), erweitert die traumhafte Szene die implizite Selbstkritik des Autors so, wie sie auch seine späteren erzählenden Texte bestimmt. Die Formel ist bekannt: „Du und deine andere Zeit. Es ist aus mit der – wann wirst du das wahrhaben wollen?“ (IS 153). Gregors Äußerungen zielen damit auf den politischen Kontext der poetischen Ahnenbeschwörung, dagegen macht die Mutter das psychogenetische Modell deutlich, aus dem das Erzählen hervorgeht. Nicht im Feld der Politik, wohl aber im Erzählen können die Phantasien des Kindes noch einmal beschworen werden. Die Selbstverdoppelung, die das Schreiben zu inszenieren versucht, um den Traum der anderen Zeit zu verwirklichen und das Trauma der familialen Außenseiterrolle zu überschreiben, dechiffriert sie als den Wunsch, dem Ich „von früher gegenüberzustehen“. Doch dieser Wunsch geht nicht in Erfüllung, eine Aufhebung der Zeit ist nicht möglich. Damit endet das mütterliche Verstehen in einem double-bind, das den regressiven Wunsch des Sohnes erkennt, während es ihn zugleich als Erwachsenen auf Distanz hält: „Du kannst nicht alles bestimmen, Herr Sohn“ (IS 162) tritt sie dessen Formel „Ich binʼs, der bestimmt“ (IS 162) entgegen, die den gleichen Absolutheitsanspruch erhebt, den auch die Raumverdränger formulieren. An dieser Stelle wird die psychologische Konstellation zugleich durch ein Märchenbild visualisiert. Der Doppelgänger des Ich tritt auf, in einem Kampf wirbeln sich beide herum. Vergleichbar einer Szene in den Zurüstungen für die Unsterblichkeit, wo Pablo sagt, er sei „nie ein Ganzer gewesen“ (ZU 104), heißt es jetzt „wer ist stärker, ich oder ich?“ (IS 163).
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Angesichts dieser romantischen Ichdiffusion formiert sich eine im Stück phantasierte Selbstermächtigung. Sie wird möglich, weil sich der Sprecher des Stücks endgültig vom Akteur zum Erzähler seiner Geschichte wandelt. Das Stück, das wie ein Drama in fünf Teile gegliedert ist, verwandelt sich in ein Spiel des Erzählens, das die Gattungsgrenze bewusst für obsolet erklärt. In diesem wird das Märchen von der Widergewinnung der Vergangenheit wahr. Am Ende kommen „im Erzählen (ob bloß gedacht oder laut geworden), auf mein In-die-Hände-Klatschen und Fingerschnipsen hin, von allen Seiten jene vielen daher[.], die vorher zeitweise im Hintergrund vorbeigezogen waren“ (IS 166).
12.7 Sozialisationsspiele: Die schönen Tage von Aranjuez. Ein Sommerdialog (2012) und Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten (2015) Das doppelte Spiel mit der Identität eines Ich und zugleich mit Formen des Theaters, das auf konturierte Instanzen angewiesen ist, setzt sich in den beiden Stücken Die schönen Tage von Aranjuez und Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße fort. Der erste Text durchkreuzt bereits mit der Klassifikationen als Sommerdialog die Eindeutigkeit der formalen Bestimmung, der zweite geht unter dem Titel Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten ähnlich spielerisch mit formalen Vorgaben um. Die Bezeichnung als Schauspiel nimmt er in wörtlicher Form auf. Wie schon in Spuren der Verirrten wird der Schauplatz zu einem Mitakteur, zumal er einen wirklichen Ort und phantasmatische Projektionen des Ich zugleich sichtbar macht (SV 14). In beiden Fällen handelt es sich um einen experimentellen Umgang mit vorgegebenen Formen, der zugleich Splitter von autobiographischen Referenzen wie in einem bricolage zusammenfügt (Derrida 1967, 418). In den Schönen Tagen von Aranjuez wird die Abkehr von der erwarteten Form explizit formuliert: „He, eine Aktion! War's denn nicht gedacht: Keine Handlung – nichts als Dialog?“ Die Antwort des Mannes: „Eine kleine Aktion darf sein“ (AR 63 f.) scheint dem zunächst zu widersprechen. Doch auch dazu kommt es in diesem Stück nicht wirklich. Beruhigt erklärt der Mann: „Zum Glück ist das hier zwischen uns beiden kein Drama. Nichts als ein Sommerdialog“ (AR 43). Im Fortgang zeigt sich allerdings, dass beide Formeln am Kern des Stücks vorbei führen. Denn dieser Dialog findet zwischen zwei Figuren statt, die unterschiedliche Sprachregister benutzen, überdies ist er asymmetrisch. Der fragende Mann initialisiert Erzählungen der Frau, der kurze Ja- oder Nein-Antworten auf die gezielten und lenkenden Fragen des Mannes untersagt sind. Dieser präsentiert sich distanziert, scheint unbeindruckt von den auch intimen Geständnissen der Frau. Sie dagegen spricht unverstellt von ihrem Begehren, das reine ziellose Lust zu sein scheint, die keines konkreten Objekts bedarf. Es korrespondiert Lacans Formel vom „Begehren des Begehrens des anderen“, das in Handkes Werk von der
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Lehre der Sainte-Victoire bis zur Obstdiebin nachgestellt wird (LSV 25; GF 180; OD 435). Der erste „Liebesakt“, von dem die Frau berichtet und den sie als ein „Einswerden zweier Körper, und was für eines!“ (AR 8) bezeichnet, hat ebenfalls nichts mit einem bestimmten Mann zu tun, sondern ist eine Körperwahrnehmung, die an kein Gegenüber, nicht einmal an eine sexuelle Handlung gebunden ist. Sie stellt sich ein beim Schaukeln, in der Klimax der Bewegung, die sich verlangsamt, bevor sie die Richtung wechselt. Es ist zugleich das Bild einer orgiastischen Erfahrung (AR 11–13). Die Frau kann dem Mann, mit dem sie sich im Dialog befindet, nicht einmal sagen, ob diese erste Erfahrung, von der sie berichtet, tatsächlich der Moment war, in dem sie ihre Sexualität entdeckte. Aber das Gefühl dauert fort, ist irreversibel wie eine Defloration, nur dass, die unverblümte Frage des Mannes macht es deutlich, kein Blut geflossen ist (AR 12). Doch wie der erste Geschlechtsakt präfiguriert auch diese Erfahrung gleichwohl spätere sexuelle Erfahrungen, in denen der Mann als Partner allerdings ebenfalls keine Rolle spielte. Er wurde einerseits nur als „Silhouette“ wahrgenommen (AR 19), andererseits ist die wortlose Vereinigung von Mann und Frau, die anschließend geschildert wird, nichts als das Zulassen des reinen und nicht objektgerichteten Begehrens (AR 21). Nicht zufällig verbinden Anspielungen auf Salz und ein Bergwerk diese sexuelle Phantasie mit der in Kali geschilderten Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau, die allein vom Phantasma der Frau ausgeht (AR 32). Damit zeigt sich, dass die Grundfigur dieses Dialogs nicht auf Verständigung zielt, sondern auf die Markierung einer Distanz, die sich wie zwangsläufig aus einer Geschlechterdifferenz zu ergeben scheint. Gerade hier liegt der dramatische Kern dieses Dialogs, der umso nachhaltiger wirkt, weil er nicht offen ausgesprochen wird. Deshalb bleiben die Klischees der sexuellen Determination im Dialog nicht nur bestehen, sondern sie werden durch eine wechselseitige Zuschreibung noch verstärkt, allerdings nicht durchweg in konventionalisierter Form. Die Frau beharrt darauf, dass das „wahre Gesicht der Frau“, das in der Konstanz des Begehrens zu liegen scheint, diese „zum Alleinsein“ verdammt (AR 53). Parallel dazu versucht sie, die Reaktionen des männlichen Körpers aus seiner Zurichtung durch Erziehung zu erklären (AR 37 f.). Doch zugleich überschreitet die Frau dieses Register. Ihre Liebe mit einem Mann ist niemals Rache gegen einen anderen, sie ist vielmehr ähnlich ziellos wie ihr Begehren. Die universelle Rache gegen das andere Geschlecht, der andere Frauen folgen, liegt ihr fern (AR 36), auch wenn sie eine Zeitlang in der feindlichen Attitude der Feministin verharrte (AR 52). Ungeachtet dessen bestehen ihre „Männerfolge“ und ihre „Fick- und Vögeljahre“ (AR 33), nach denen der Mann ungeniert fragt, aus Episoden, die allesamt Spielformen der Intimität entfalten, die das Thema der Liebe als Passion umkreisen (AR 34, 36,38, 40; Luhmann 1999). Eine Übereinstimmung zwischen Mann und Frau stellt sich in einem ganz anderen Bereich ein, nämlich dann, wenn sich beide in unterschiedlicher Weise Bildern zuwenden. Der Name Aranjuez, der diesen Dialog zentriert, bezieht sich auf eine Reise des Mannes, in deren Verlauf dieser im Garten des Schlosses von Aranjuez die „Casa del Labrador“ aufsucht, die sich als ein kleines Schloss
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erweist, in dessen Innerem sich Gemälde mit idyllischen Gesellschaftsszenen aus dem Landleben befinden (AR 31). Erwartet hatte der Mann einen Holzbau oder eine Hütte und damit verbunden das „Licht eines Liebesakts“ (AR 32), eine besondere visuelle und zugleich körperliche Erfahrung also. Eine vergleichbare Erleuchtungsszene hat die Frau nach einem Liebesakt, sie nimmt Natur auf neue Weise wahr, intensiv und sinnlich und gerade dies verstärkt die sexuelle Körpererfahrung, die sich jetzt jenseits „aller sogenannten erogenen Zonen“ bewegt. Sie kennt keinen Unterschied von Ich und Er mehr, sondern nur noch „das Körperuniversum, Punkt und Universum zusammengefallen: Ein Körperpaar, liegend in der Unendlichkeitsschleife“ (AR 41). Durch diese Konstellation wird eine zentrale Liebeskonfiguration der frühen Goethezeit invertiert, die Gegenüberstellung von Mann und Frau mit den Topoi von Wanderer und Idylle, die den Handlungsraum des Mannes vom Kulturraum der Frau unterscheiden. Hier erweist sich die Frau, die „Ergriffenheit von diesen zerbrechlichen Männern“ empfindet, als der dominierende Partner, der ganz aus der Gewissheit des Körpers lebt (AR 47), während die Männer, die beständig von Liebe sprechen (AR 45), in erster Linie einem sozialen und kulturellen Konstrukt von Liebe folgen und dieses zugleich durch Bilder kodieren, die sie in sich tragen oder die sie im Kulturraum aufsuchen. Damit schließt sich dieses Stück an Handkes zentrales Thema vom Bildverlust an. Der Mann ahnt den Verlust der Inbilder, über die er nicht in körperlicher Unmittelbarkeit verfügen kann und die er durch konstruierte Bilder ersetzen muss, die Frau dagegen sieht, dass die universelle Bilderkonkurrenz auch das Bild der Frau von sich selbst an jeder Stelle in Frage zieht, um sich herum sieht sie allein „Masken statt Gesichter“ (AR 53). Doch es scheint, dass hier aus dem asymmetrischen Dialog tatsächlich ein, wenn auch nur vorübergehendes, Einvernehmen entsteht. Während die Frau über die Liebe spricht, verfällt der Mann in eine lange Beschreibung der Natur, er zeigt ihr „rhythmische[s] Relief“ (AR 57) und mobilisiert gerade dadurch andere Phantasien der Frau, die sich aber nun nicht mit Natur, sondern mit kulturellen Zeugnissen verbinden, auf die Handke immer wieder Bezug nimmt. Es ist der Film, nicht zufällig wohl unter anderem John Fords Endstation Sehnsucht, und es sind literarische Figuren, gewiss nicht zufällig „Garvein oder Erec oder Parzival“ (AR 58). Zugleich stellt sich bei der Frau eine ganz andere Phantasie ein. Es ist das Verlangen, Frau eines Mannes und mit diesem vereinigt zu sein. Die männliche Phantasie von Aranjuez und die weibliche Phantasie des Begehrens kommen so vorübergehend zur Deckung (AR 59). Die interne Dramatisierung des Stücks, die sich, wie auch in den anderen Stücken Handkes gegen Ende beschleunigt und noch einmal Gegensätze mobilisiert, vollzieht sich jetzt auf doppelte Weise. Zum einen berichtet der Mann davon, wie sich Pflanzen aus dem Schlossgarten allmählich über ihre Terrain hinaus in die Meseta ausbreiten, zugleich sieht er, dass auch unter den Tieren ein Kampf stattfindet, in dem am Ende die aus Asien eingewanderten Hornissen als die „Killer der Bienen“ dominieren. „So ein Rhythmus war nicht gedacht“, konstatiert er diese Entwicklung (AR 65). Überdies wird der Dialog von Mann und Frau jetzt zunehmend mit Geräuschen verbunden, die sich wie die mood
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music eines Hitchcock-Films steigern und immer bedrohlicher werden. Zuerst sind es Geräusche der Natur und dann der Zivilisation, die sich allmählich in Alarmund Schreckenszeichen verwandeln. Nicht zufällig erinnert sich der Mann an ein „Hexenkreisgehen“ seiner Jugend, in dessen Verlauf er unversehens einer gefährlichen Bedrohung gegenüberstand (AR 67). Offensichtlich kann die Gegenwart des Dialogs unter dem Druck der geschichtlichen Zeit nicht bestehen bleiben. Wieder und auf ganz andere Weise steht die Begegnung von Mann und Frau im Zeichen des Widerspruchs und ist deshalb fundamental bedroht. Die Frau fürchtet, sich in den „Einbaum des Todes“ zu verwandeln und düpiert die Illusionen des Mannes, der an seinen Erfinder erinnert, wenn ihn die Frau als „Du mit deinen ewigen Apfelzaubermärchen“ anredet (AR 69). Wieder endet eine Begegnung mit einem Bild, das dem Traum zu entstammen scheint, der Körper der Frau verwandelt sich, leuchtet in einem magischen Licht von innen heraus. Es ist als das letzte Zeichen zugleich das Ende der „schönen Tage von Aranjuez“, die jetzt mit einem wörtlichen Zitat des Mannes zum ersten Mal auf den Text bezogen werden, dem die Formel entstammt, auf Schillers Don Carlos. Gleichzeitig rückt eine weitere zentrale Leitformel von Schillers Protagonist als Zitat in Handkes Text ein: „O wer weiß, was in der Zeiten Hintergrunde schlummert?“ (AR 69 f.; Schiller NA-7.1, 364). Diese Konvergenz zweier Stücke ist auf doppelte Weise aufschlussreich. Zum einen, weil die Frau den Mann als Fernando anredet, es ist der Name des Mannes der Gräfin Eboli, die sich in Schillers Stück, nachdem sie erkannt hat, dass Don Carlos nur die Königin liebt, an diesem rächt. Damit wird eine dramatische Konfiguration angedeutet, in der die Utopie einer unerfüllbaren Liebe durch die Macht der Verhältnisse infrage gestellt wird. Zum anderen lässt sich beobachten, dass Handkes Stück bereits durch seinen Titel ankündigt, dass es dazu einen Gegenentwurf darstellt. Dieser ist nichts anderes als die Rekonstruktion des Moments in Schillers Drama, der noch unberührt von den späteren Entwicklungen ist. Von Anfang an ging es offensichtlich darum, diesen Augenblick zumindest für die Dauer des Stücks zu sistieren. Der sommerliche Dialog ist nichts anderes als ein Versuch, die Zeit zu dehnen und die Utopie einer geschichtslosen Dauer aufscheinen zu lassen. Doch diese poetisch inszenierte Peripetie ist zu Ende in dem Augenblick, in dem das Gespräch beendet ist, dessen Gegenwärtigkeit die Geschichte ausblendete (AR 69 f.). Die Handlungskonfiguration des Stücks Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten beruht auf vergleichbaren Strategien, sie spielt offen mit theatertheoretischen Überlegungen, indem sie das Ich als Protagonisten in zweierlei Gestalt auftreten lässt, als „Ich, Erzähler“ und als „Ich, der Dramatische“, dabei sind beide „nicht immer unterschieden“, sondern „zeitweise beide in einem“. Zu allem Überfluss befindet sich noch ein weiterer Doppelgänger des Ich unter der Gruppe der sogenannten „Unschuldigen“, deren Wortführer als „Häuptling/Capo“ auftritt, dessen Frau sich ebenfalls in mehrfacher Gestalt zeigt. Einzig bei der „Unbekannten von der Landstraße“ handelt es sich um eine einzelne Figur (DU 6).
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Diese Aufsplitterung der Figuren erschließt auf zweifache Weise eine Beziehung auf den Autor Handke selbst. Zum einen spiegelt die Doppelung des Ich Aspekte von dessen Autorschaft, die zwischen dem Erzählen und dem dramatischen Entwurf pendelt, wobei sich das Erzählen als die bevorzugte Äußerungsform darstellt. Zum anderen erschließt diese Spaltung wiederum ein psychisches Drama des Innern. Die Aufspaltung der Figuren rekonstruiert in dramatisierender Form Aspekte von Handkes Schreiben, das psychogenetische und kulturelle, unbewusste und textuelle Versatzstücke miteinander kombiniert. Damit werden die Voraussetzungen des Schreibens wie der Ichkonstitution, die beide einer permanenten Wandlung unterliegen, auf die Bühne gebracht. In den eingeschobenen Szenenbeschreibungen, die nicht nur den Schauplatz, sondern auch die Handlung entwerfen, spricht „ICH, oder der, in den ich mich verwandelt habe“ und konstatiert eine Gewalttat gegenüber einer Frau „wie aus einem Tagtraum erwachend“. Es ist die bei Handke immer wiederkehrende Konfiguration einer durch Aggression bestimmten Beziehung von Mann und Frau. Ausgerechnet dieser Gewaltakt ist jetzt der Ausgangspunkt für ein dramatisches Gespräch (DU 57 f.). Die Straße, an der das Ich sitzt, wird gleichzeitig zu einer Projektionsfläche, auf der sich eigene Erfahrungen spiegeln, die auf lebensgeschichtliche Schnittstellen und andere Orte ebenso verweisen wie auf die besondere Rolle des Ich als Maske des Autors, der hier seine psychologische und werkgeschichtliche Wegbeschreibung auf die Bühne bringt. Nicht zufällig markiert die Straße einen Bereich, den der Protagonist anderen nicht zugänglich machen möchte: „Du führst dich auf, als wär sie dein, oder gar, als wär sie ein Stück von dir, oder gar, als wärst du ihr Wächter“, kommentiert dies der Wortführer der Unschuldigen (DU 48). Unter diesen Voraussetzungen wird die Straße zum symbolischen Ort eines Sprachspiels. Die formelhafte Wendung des Wortführers, die eine Anspielung auf Zuckmayers Autobiographie mit einer auf Kafkas Vor dem Gesetz verbindet, zeigt, dass es hier auch um eine Opposition von textueller und alltäglicher Wirklichkeit geht. Sie steht in einer Reihe mit anderen Formeln, die aus der Literatur, dem Arsenal der Sprichworte oder dem Schlager bekannt sind und entweder zitiert oder spielerisch umgeformt werden: „Himmel und Erde werden vergehen“ (DU 44), „Ecce poeta“ (DU 35) „Freude, holder Niemandsfunken“ (DU 14). „Meinen täglichen Gruß gib mir heute“ (DU 13), „Hier bin ich Menschenkind, hier kann ich's sein“ (DU 10), schließlich „Sag mir wo die Sphären sind, wo sind sie geblieben?“, eine Anspielung auf den von Pete Seeger komponierten Antikriegssong, den sowohl Marlene Dietrich als auch Joan Baez sangen (DU 45). Selbst die Aggression gegen andere präsentiert sich in einem Sprachspiel, als „Pack! Doppelpack! Tetrapack!“ (DU 49) werden die Unschuldigen bezeichnet. Sie, die sich auf das bloß Bestehende konzentrieren, werden überdies zum Gegenstand einer Satire, die sich etwa auf den Tourismus und das posing der Selbstinszenierung in der Medienwelt richtet, in der Klischeebilder und konsumgesteuerte Imaginationen die Realität mehr vernichten als wahrnehmen lassen (DU 73 f.). Gegenstand dieser Kritik wird die Ideologie der Straße, die hier nichts anderes ist als das
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Dogma des sogenannten Gutmenschentums. Dieses wird als eine politische Verfallserscheinung beschrieben, deren Leitworte der Capo, gleichsam das repressive Double des Wortführers, demontiert, um am Ende allein noch den Begriff der guten Nachbarschaft gelten zu lassen (DU 79). Die Handlung besteht zunächst in der Konfrontation des Ich und der Unschuldigen, hinter denen man den Autor und die von ihm kritisierte Gesellschaft seiner Zeit erkennen kann. In dieser Antithese, die nur ganz beiläufig durch vier jahreszeitliche Datierungen segmentiert wird, lassen sich unterschiedliche Sozialisationsmuster erkennen. Die Straße eröffnet wie in den Spuren der Verirrten im Wortsinn einen Schauplatz des Geschehens, der die Theaterbühne ausmacht. Gleichzeitig ist sie der Ort einer phantastisch deformierten Selbstreflexion. Die Figuren, die sich auf ihr bewegen, entspringen der Phantasie des Autors und transportieren Splitter seines Werks, seiner Aversionen und Obsessionen. Diese werden in traumlogischer Verschiebung und Verdichtung miteinander kombiniert: „Und da kommt sie, da erscheint sie, da fliegt sie mich an, da erstreckt sie sich, die Landstraße, vorderhand leer. Und indem ich mir das laut vorerzähle, ist die Straße auch schon bevölkert mit mir, der ICH am Rand der Straße daherschlendere, mit ausgreifenden, epischen Schritten, vorderhand allein“ (DU 7). Damit bildet die Landstraße auch eine Grundfigur der Literatur selbst ab, auf ihr wird ein poetisches Spiel mit anderen Texten und Bildern des Alltagslebens zur Aufführung gebracht. Die Figuren sind, psychologisch gesehen, Abspaltungen eines einzelnen Ichs, zugleich folgt ihre Darstellung dem Reglement einer kreativen Kombinatorik, wie sie den Kern literarischer Produktion ausmacht. Diese hält sich weder an eine feste Perspektive, noch entwirft sie eine stabile Person. In diesem Arrangement wird das Ich zu einem shifter, statt mit anderen zu sprechen, kann es sich auch einfach entschließen, in ein „dramatische[s] Selbstgespräch“ einzutreten (DU 58). Damit in Zusammenhang steht die spielerische Referenz auf das Schreiben des Autors selbst und die leitenden Worte und Bilder, die seine Texte durchziehen. Die Landstraße wird zu einer Bühne, auf der Texte und Werkbezüge nicht ohne ironische Brechung hörbar gemacht werden. So belustigt sich der Anführer über das Requisit der Maultrommel (DU 39), ein anderer fragt: „Noch so eine Mutter-Vater-Geschichte?“ (DU 37). Zudem phantasiert sich das erzählende Ich einen Sohn (DU 24), die Geschichte des Juan de la Cruz wird angesprochen (DU 41–43) und auch das in Handkes erzählenden Texten immer wiederholte Bild der Regentropfen im Staub darf nicht fehlen (DU 38). Neben diesen werkgeschichtlichen Bezügen stehen in Form von Verzettelungen Hinweise auf das Alltagsleben. Sie bilden einen scharfen Kontrast zu der Anrede an die „Gottesmutter von der Landstraßeneiche“ (DU 106 f.) und die Anspielung auf einen verlorenen Sohn, gefolgt von einer Serie typischer Handke-Formeln, die gleichwohl ins Umgangssprachliche verfremdet sind: „der Himmel und ich, wir zwei schwofen!“ (DU 109). Auf diese Weise ergeben sich „endlose Meta-Schleifen: Text, der den Text kommentiert, Text, der die Bühne und die Ichs erst einmal entstehen lässt, die aber wiederum den Text sprechen, der wieder etwas anderes entstehen lässt. Sprechen
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als performativer Akt“ steht im Zentrum des Dramas, das sich damit an die früheren Sprachspiele anschließt (Fischer 2019). Parallel zu diesen Referenzen, die klarmachen, dass auf der Straße das Vermögen von Autorschaft in einem Wortund Bilderspiel vorgestellt wird, zeigt sich eine Gegenwelt, deren Attribute mit der von Handke wie seinen Protagonisten verachteten modernen Lebenswelt übereinstimmen. In einer sprachkräftigen Philippika werden die Menschen auf der Straße, die sich hinter dem „Wortführer“ versammeln, als die „ewig Heutigen“ bezeichnet (DU 50; Wiele 2015). In diesen Zusammenhang gehört die weitere Aufspaltung des Ich in einen Doppelgänger. Diesem werden jetzt Erinnerungen zugeschrieben, die der Autor während seiner Reisen gemacht hat, es sind allesamt topographische und lebensgeschichtliche Daten, offensichtlich nichts anderes als ausgelagerte Fragmente der Erinnerung (DU 63 f.). Als solche lassen sich auch die Kommentare des Einen und der Anderen ansehen, wenn sie über den „Buchstabenkrieg“ räsonnieren und dabei Urteile und Vorurteile des Autors transportieren. Auch dessen Bezugspersonen und Bezugstexte werden in einem ironisierenden Sprachspiel benannt: „Ein Haiku? Basho? Issa? Inoue? Ozu?“ (DU 70). In Übereinstimmung mit der grundsätzlichen Umcodierung bühnentechnischer Bezeichnungen wird die Begegnung dieser Figuren als „Freilichtspiel“ bezeichnet, auch die Sprache soll auf dem Schauplatz des Theaters sichtbar gemacht werden (DU 71). Im Gegensatz dazu erscheinen die Unschuldigen als die „einzige und letzte Weltmacht“, die sich völlig dem Diktat des Bestehenden unterworfen hat, „ihr macht mit dem System gemeinsame Sache, und gemeinsame Sachen“ (DU 85), äußert der Capo, wenn er die Meinung des abwesenden Ich und zugleich des Autors nachzeichnet. Parallel dazu schildert die Frau diesen als verschroben und vergleicht ihn mit dem Idioten der Landstraße (DU 90). Auch die anderen Menschen auf der Landstraße attackieren das Ich verbal, es ist für sie der böse Nachbar, der viele Eigenschaften oder besser gesagt Eigenheiten des Autors aufweist. Mit Fortgang der Handlung wird er nicht nur als „Volksfeind“ bezeichnet sondern auch als einer, der „ganz allein, als Ingroup auftritt“ (DU 97). Bedrohlicher in diesem Szenario erscheint die Unbekannte von der Landstraße. Als Vertreterin der Gegenwelt berichtet sie von Bildern des Krieges und versetzt das Ich in ein Selbstgespräch, in dem dieses wiederum das Dramatische verweigert und lapidar und äußert: „Im Epischen sehe ich das ganz andere Gesetz“. Es ist eine klare werkgeschichtliche Anspielung auf den Autor, wenn der „epische Schritt“ mit Parzival in Verbindung gebracht und dessen Schwester als eine „im Gewand einer Obstdiebin“ geschildert wird. Schließlich ist es doppelte Ironie, wenn der Name Pazific Palisades in diesem Zusammenhang an den Erzähler erinnert, den Handke nicht unbedingt schätzt: Thomas Mann (DU 102 f.). Auffällig genug allerdings vertreten auch die Figuren der Doppelung keine stabilen Positionen. Deutlich wird dies in der für Handke typischen Beschleunigung der Wechselreden in der Klimax des Stücks, die den Dialog dramatisiert. Der Häuptling der Unschuldigen, der in mancher Hinsicht ein Kritiker des Ich ist, dem er einige von Handkes Fixierungen zuschreibt, demontiert zugleich dessen alltägliche Verhaltensweise (DU 114) und bildhaften Leitformeln
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wie „die Maya, die Athabasken, die Windischen“ (DU 129). Doch andererseits hebt er am Ende hervor, dass ihn mit dem Ich eine gemeinsame Kindheit verbindet, deren Sprachwelt sie gemeinsam memorieren (DU 116, 151, 154 ff.). Auch die Unbekannte von der Landstraße, die lange Zeit an den Lippen des Ich hängt, folgt, als sie selbst zu sprechen beginnt, dem Muster seiner Naturbeschreibungen. Dabei verwandelt sie alle Naturbilder zugleich in Zeitbilder, indem sie diese mit naturnahen Datierungen verbindet. Beides steht in scharfem Gegensatz zur Kritik der Frau, die das Ich als einen Fremden bezeichnet, „der nicht unsere Sprache spricht“ (DU 144). Verbunden weiß sich das Ich auch durch einen gemeinsamen geschichtlichen Pessimismus mit dem Häuptling. Nicht zufällig spielt dieser auf Shakespeares Der Sturm an und stellt damit eine Querverbindung zum autobiographischen Text Immer noch Sturm her (DU 125). Seine Formel „Es gibt kein Zurück mehr“ (DU 139) korrespondiert der Tatsache, dass dem Ich mit der Zeit „alles […] von Tag zu Tag rätselhafter“ wird (DU 129). Bei diesem allerdings geht die Fremdheit auf seine entschiedene Ablehnung der Welt der Unschuldigen zurück, die ebenfalls Versatzstücke von Handkes Zivilisationskritik versammelt. Das Ich beschimpft die Unschuldigen als Automaten, kritisiert ihre „Pandemie“ (DU 127) und dass sie den „letzten systemlosen weißen Flecken“ in Anspruch nehmen (DU 125). In Umkehrung des Titels der berühmten Gravur aus Goyas Caprichos heißt es, dass der Unschuldsschlaf Monster gebiert (DU 126; Goya 1799). Durch sein eigenwilliges Beharren auf einer grundsätzlichen Abwehr der anderen ist das Ich als Straßenwanderer dem Waldgänger anderer Stücke Handkes vergleichbar (MN 109). Sein Widerstand gegen die moderne Lebenswelt und ihre Leitworte ist deshalb nicht nur psychologisch, sondern auch ideologiekritisch lesbar. Leitvorstellungen sind dabei die Dialektik der Freiheit und die Abwehr des Missbrauchs großer Worte. Damit wird der Bezug auf die Kritik des Westens in den Serbientexten und die Revokation der Moderne im Großen Fall unübersehbar. Das Ich spricht von der „Freiheit als Diktat und Diktatur“, sein Vorwurf lautet: „Vor lauter Freiheiten kein Wind, kein Sturm, kein Ansturm einer Freiheit. Was habt ihr nur aus der Freiheit gemacht!?“ (DU 134). Die entscheidende Abgrenzung des Häuptlings der Unschuldigen vom Ich besteht darin, dass er dessen Rückwendung zu den Toten, den Vorfahren in der Vergangenheit ebenso ablehnt wie den Traum. Er fordert ein Ende der Träume und den Anfang des „Dauerhaften Friedens“, allein die „Traumfreien“ sind für ihn auch die „Universalfreien“ (DU 133). Dagegen glaubt das Ich zunächst, seinen Gegenentwurf zum Bestehenden dadurch verwirklichen zu können, dass es in die Linie seiner Vorfahren einrückt: „Knecht sein, wie meine Vorfahren. Endlos hier eingespannt sein, ins Umreißen, Umrunden, Ornamentieren“ (DU 134) formuliert er und beschwört dabei die Bildwelt von Immer noch Sturm. Doch solche Rückwendungen gelingen ebenso wenig wie das Eintauchen in eine phantastisch verfremdete Szene auf der Landstraße, die den Schauplatz der Spuren der Verirrten zu zitieren scheint. Das Landstraßenbild beginnt zu verblassen, es „vergilbt, bleicht aus, wird durchsichtig, verduftet, verkrümelt sich, sang- und klanglos“,
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verschwindet wie in einer filmischen Abblende, um nach einem Diskurs zwischen dem epischen und dramatischen Ich über die angemessene Wiedergabe der Wirklichkeit wie in einer Aufblende wieder zu erscheinen (DU 166). Jetzt aber sind die Figuren auf der Straße verändert, sie sind „ledig aller Kostüme und Zutaten, als bloße sich still an Ort und Stelle bewegende Silhouetten, jede für sich, im Abstand zur anderen“ (DU 173). Die Wechselrede zwischen dem erzählenden und dem dramatischen Ich hatte in einer theoretischen und praktischen Aporie geendet. Jetzt nach der Wiederaufblende des Landstraßenbilds sprechen ICH-DER-DRAMATISCHE und ICH-ERZÄHLER zum ersten Mal unisono und verkünden eine Auflösung aller Gegensätze im Wachtraum, in ihm hat „der Träumer nicht nur das erste, sondern auch das letzte Wort“ (DU 177). So wird am Ende der lebensleitende Traum vom Vermögen der Autorschaft mit seinen Spannungen und Widersprüchen auf die Bühne gebracht. Das Theater ist der Ort, der ihn zugleich in Bilder und Sprache verwandelt – um den Preis einer fortschreitenden Austreibung der Wirklichkeit aus dem Theater. Das Experiment mit der Sprache ist totalitär geworden in dem Maß wie der Autor selbst zur letzten Wirklichkeit wurde. Handkes Stücke haben kontinuierlich auf diesen Punkt hingearbeitet.
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Mit der Übersetzung von Walker Percys Roman The Moviegoer im Jahr 1980 wird neben anderen Orientierungen, die beide Autoren verbinden, das visuelle Medium des Films thematisch. Schon zuvor hatte Handke in einer Studie über den Maler Pongratz betont, dass „die Schemata fürs Schreiben und Malen“ vergleichbar sind (EF 14; Mixner 1977, 172). Der Einfluss der Medien von Film und Bild prägt sein Schreiben in der Folge auf unterschiedliche Weise. Erstens begründet er seit der Linkshändigen Frau eine Adaption filmischer Strategien und seit der Lehre der Sainte-Victoire eine Auseinandersetzung mit der Malerei. Zweitens bringt er eine textbestimmende und zugleich grundsätzliche Reflexion über das Verhältnis der Medien von Schrift und Bild wie im Bildverlust hervor. Diese wird auf doppelte Weise ausdifferenziert: Dadurch dass die intermediale Beziehung von Schrift und Bild durch die von Wort und Bild ergänzt wird und dadurch, dass neben der Unmittelbarkeit des Worts auch die der visuellen Wahrnehmung zum Thema wird. Der Begriff der Intermedialität wird auf diese Weise neu bestimmt. Drittens gewinnt die produktive Auseinandersetzung mit dem Medium des Films in Handkes Verfilmungen eigener Texte und in der Zusammenarbeit mit Wim Wenders eine zentrale Rolle. Sie teilt sich wiederum den Texten mit, insbesondere der Bildverlust bestätigt diese intermediale Spur im Werk des Autors.
13.1 Vom Text zum Film: Handke als Kinogänger, Autor und Regisseur Viele Texte Handkes sind durch Passagen charakterisiert, die filmische Darstellungstechniken nachstellen. In der Linkshändigen Frau werden Muster und Variationen filmischer Sequenzen erzählerisch umgesetzt (Durzak 1982, 139) und in der Angst des Tormanns beim Elfmeter wird der allmähliche Orientierungsverlust des Protagonisten mit Strategien des Films visualisiert: „die Wirklichkeit erscheint dem Helden wie eine in Schnitt und Gegenschnitt, in Totale und Detail, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_13
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in Zoom und Schwenk künstlich hergestellte Ansicht: eine Montage von Bildern und Geräuschen: eine zusammengestellte zweite oder dritte Natur, die nur noch Abbilder von Bildern der Wirklichkeit liefern kann“ (Grossklaus 1979, 52). Die Orientierung am Film beeinflusst zugleich den Charakter der textuellen Verwendung von Zeichen. Nicht anders als in den nur scheinbar ikonischen Filmbildern ist in der Linkshändigen Frau wie auch im Tormann das visuell Eindeutige semiotisiert. Wie im Film entsteht aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Semiotisierungsstrategien die Simulation einer zweiten Wirklichkeit. Die Verfilmungen beider Texte führen diese Linie fort, aus den semiotisch schon zugerichteten Zeichen und Bildern, den Trivialmythen der Bewusstseinsindustrie und den Mythen des Alltags lassen sie eine Welt jenseits der Alltagswahrnehmung entstehen (Grossklaus 1979, 100–122), die gleichwohl von hoher visueller Einprägungskraft ist (Schober 1977, 180). Daneben zeigt sich eine zweite Linie, die ebenfalls von der Reflexion über den Film bestimmt ist, auch sie ist in Percys Roman über den Kinogeher vorgezeichnet. In diesem Roman folgen die Filmbesuche des Protagonisten nicht nur einer „Idee der Suche“ (Percy 1980, 19), die in Momentbildern zum Ausdruck kommt (Percy 1980, 24 f., 72 f., 76). Das Sehen von Filmen wird darüber hinaus, so lesen wir in Handkes Übersetzung, zu einer Form der „Bezeugung“ (Percy 1980, 67). Sie erfüllt den existentiellen Gestus, den Handke in Anlehnung an Heidegger ins Zentrum seines Textes der Wiederholung stellt. Bei Percy heißt es: Was ist eine Wiederholung? Eine Wiederholung ist die Wieder-Herstellung einer vergangenen Erfahrung, zu dem Zweck, das entschwundene Segment Zeit auszusondern, dergestalt, dass sie, die entschwundene Zeit, als sie selber erfahren werden kann, ohne die übliche Verfälschung durch Ereignisse, die die Zeit verklumpen lässt wie Erdnüsse in Melasse. (Percy 1980, 83)
Es ist charakteristisch für Handke, dass er diese philosophische Denkfigur aufnimmt und sie zugleich in Anlehnung an filmische Präsentationsstrategien erzählerisch umsetzt. Daraus entsteht ein inszeniertes Spiel mit der Zeit, das im Text eine fast experimentell hergestellte Raum-Zeit-Konstellation schafft. Unmittelbar damit zusammen hängt es, dass in Handkes Texten immer wieder Bilder und Metaphern des Lichts, des Leuchtens und der weiblichen Augen, schließlich auch eine Folge von Blicken an die Stelle einer kausalen Geschichte treten (GB 178 f.; Höller 2013, 133). Die Protagonistin verfügt über die Fähigkeit, sich zu „verschauen“ (LF 10). Am Ende des Textes verwandelt ihr Blick durch ein Fenster starre Natur in bewegte, sie selbst erscheint durch eine spiegelnde Scheibe in dieses Naturbild einbezogen. Bild und Inbild, flächige Projektion und perspektivischer Ausblick verschränken sich nicht nur wie in einer filmischen Überblendung, sie inszenieren auch die durch sie ermöglichte Verbindung von Wahrnehmung und Imagination. Vergleichbare kinematographische Strategien beschreiben auch andere Texte. „Kreisende Totalen von Landschaften, die einander überblenden, die Städte bei Nacht, die Berge bei Tag, die Ebenen am Abend, von Hügeln und Hubschraubern aus. Völlige Lautlosigkeit. Blick auf
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Hochhäuser, Flußtäler, Bergrücken. Es entsteht der Eindruck von Geschichte“ (CLE 66), heißt es in der Chronik. Handkes späte Versuche und seine Zusammenarbeit mit Wim Wenders gehen über diese motivischen Umsetzungen hinaus. Sie entwickeln ein ästhetisches Programm, das zunächst vor allem auf die Bilder zu setzen scheint. Seine Journale sind durch eine Hinwendung zur Anschauung und begriffslosen Wahrnehmung geprägt. Die im Gewicht der Welt und den Phantasien der Wiederholung geschilderten „Urerlebnisse“ bestärken den Autor darin, auf ein „Heraus aus der Sprache“ zu setzen und in Bildern zu schreiben. Das Märchen der Abwesenheit, das Spiel vom Fragen, Der Nachmittag eines Schriftstellers und die Versuche setzen dieses Programm fort. Auch hier nähert sich Handke einer Konstruktion von Bildsequenzen an, die man in einem allgemeinen Sinn als filmisch bezeichnen könnte. Diese intensive Umsetzung unterschiedlicher medialer Strategien und motivischer Hinweise auf das Medium Bild in Handkes Schreiben kann auch auf vielfältige Weise philologisch belegt werden. Vom Kurzen Brief bis zur Obstdiebin nehmen seine Texte immer wieder offen Bezug auf Filme, Regisseure oder signifikante Filmszenen (KB 193–195; OD 188, 217, 414; v. Hofe/Pfaff 1980, 71). Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass zentrale Denkfiguren der Medientheorie nacherzählt oder im Erzählen funktionalisiert werden. Eine entscheidende Verdichtung bietet hier zweifellos die Erzählung vom Bildverlust, in der die Unterscheidung zwischen unmittelbarer Wahrnehmung, Nachbild und Traumbild ebenso differenziert wird wie die kategorielle Unterscheidung zwischen den individuell geprägten Inbildern und den kollektiv vermittelten Bildern der entwickelten Mediengesellschaft. Dabei lässt sich deutlicher als in den früheren Texten erkennen, dass Handkes Erzählen Positionen nachzeichnet, die sowohl für die Medienreflexion der Moderne als auch für ihre Vorgeschichte im 19. Jahrhundert kennzeichnend sind. Daraus ergibt sich für manche seiner Texte eine neue Bewertung. Natürlich betreffen diese Überlegungen zum bewegten Bild auch die Funktion der gemalten Bilder, die in Handkes Erzählen ebenfalls eine zentrale Rolle erhalten. Zu nennen sind hier vor allem Cézannes Montagne Sainte-Victoire und Homme aux bras croisés (LSV 36) in der Lehre der Sainte-Victoire und die dort präsentierte Reflexion über die Landschaftsmalerei von Ruisdael (LSV 18, 118 f.) über Courbet (LSV 31–33) bis zu Edward Hopper (LSV 19 f.). Schließlich Ruisdaels Großer Wald in der Geschichte des Bleistifts (GB 214), Breughels Der düstere Tag in der Niemandsbucht (MJN 629) und Poussins Ruth et Booz in der Obstdiebin (OD 466). Bereits die Einfügung dieser Bildzitate in Handkes Texte setzt die für die Medientheorie konstitutive Annahme einer Spannung zwischen Blick und Bild, die letztlich schon bei Poussin vorgezeichnet ist, in eine narrative Strategie um. Die damit zusammenhängende zentrale Frage der Wahrnehmungstheorie nach den Bedingungen des Sehens, insbesondere nach der Wechselwirkung von objektiven und subjektiven Faktoren, ist für Handke von Anfang an von Bedeutung. Wenn seine Texte immer wieder zeigen, dass das Auge kein völlig v erlässliches
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Organ ist und das Sehen keineswegs nur eindeutige Wahrnehmungen vermittelt, folgt er der Sinnesphysiologie des 19. Jahrhunderts. Diese beschreibt eine Autoreferentialität der visuellen Wahrnehmung, aus der Ernst Mach und Robert Musil später bekanntlich erkenntnistheoretische und erzählerische Konsequenzen ziehen (Crary 1990; Mach 1905, 44). Hermann von Helmholtz erkennt mit Hilfe des von ihm konstruierten Augenspiegels, dass in den zwei menschlichen Augen jeweils plane Bilder erscheinen, die erst im Cortex in ein dreidimensionales Bild verwandelt werden (Helmholtz 1882, Bd. 3, 541.609). Zudem macht er darauf aufmerksam, dass das Auge die Welt ohnehin nur als ein „Aggregat farbiger Flächen“ wahrnimmt, ein Sachverhalt, der ästhetische Nachbildungen in der Malerei wie in Texten entscheidend beeinflusst hat und der auch die ganzheitlich orientierte Naturwissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts prägt (Helmholtz 1959, 93–135). Alexander von Humboldt, um ein Beispiel zu nennen, will in seinem geographischen Werk Kosmos im Zusammenspiel von Naturbeobachtung, Reflexion und Einbildungskraft die „äußerlichen Erscheinungen in die innerliche Vorstellung“ übersetzen (Humboldt 1845/1847, Bd. 1, 70). Von hier begründen sich zwei unterschiedliche Diskurse, ein medientheoretischer und ein ästhetisch-philosophischer, die beide der medialen Innovation folgen. Bereits Humboldt hebt die Bedeutung der optischen Medien hervor, die auf eine immer perfektere Simulation dreidimensionaler Räume zielen. Er vergleicht die Intensität der gemalten Bilder der Natur mit den technischen Simulationen des Panoramas und des Dioramas (Humboldt 1845/1847, Bd. 2, 93). Gleichzeitig entfaltet die wissenschaftliche Erforschung der Wahrnehmung in Optik und Physiologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts auffällige Parallelen zum zeitgenössischen ästhetischen Diskurs über die Imagination. Beide konvergieren gerade darin, dass sie eine Autonomisierung des Betrachters beschreiben (Crary 1990, 90). In der Folge etabliert sich die Annahme einer Komplementarität zwischen dem von der exakten Wissenschaft erforschten Wahrnehmungsraum und dem Raum der ästhetischen Imagination, den Maine de Biran auf einen ‚sens intime‘ zurückführt (Maine de Biran 1949, 180). Nicolas Artaud und Joseph Joubert in Frankreich, Friedrich Schlegel in Deutschland fassen die Imagination nicht mehr als eine Spiegelung, sondern als eine Substitution der sinnlichen Wahrnehmung der Welt auf (Artaud 1869, 51; Schlegel KSA II, 371). Diese Linie zieht Baudelaire später bekanntlich weiter aus. Im Salon von 1859 entwickelt er eine Semiotik des Ästhetischen, der die ganze sichtbare Welt zu einem „Magazin der Zeichen und Bilder“ wird, zu einem mentalen Wahrnehmungsraum, der eigenen Gesetzen untersteht (Baudelaire Pl-2, 627). Handkes Texte nehmen diese Verknüpfungen nicht nur auf, sie zeichnen sie auch nach und entfalten ihrerseits aus dem experimentellen Umgang mit visuellen Wahrnehmungen die ästhetische Imagination. Damit greifen sie auf Strategien der literarischen Moderne zurück und nähern sich etwa Prousts erzählten Wahrnehmungsexperimenten an, die ihrerseits dem traditionellen Imaginationsbegriff des 19. Jahrhunderts folgen (Warning 1991, 312 f., 317 f.). Ein Beispiel gibt die bekannte Szene der Recherche, die Marcels ersten Schreibversuch auslöst, die Kutschfahrt von Martinville nach Vieuxvic: Diese eröffnet eine Abfolge
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von zweidimensionalen und dreidimensionalen Bildern im perspektivisch wahrgenommenen Raum (Proust Pl I, 476 f.). Ein Wechselspiel von Fläche und Tiefenraum, Wahrnehmungsraum und Gedächtnisraum bestimmt auch die Madeleine-Episode, überdies bezeichnet der Erzähler dort die Tiefe der wahren Kunst als räumlich, die Wahrheit des Verstandes aber als flächenhaft (Hohl 1977, 55, 65; Proust Pl IV, 177–180). Auch bei Handke führt immer wieder das Sehen aus der Bewegung zu neuen Wahrnehmungen, viele erzählte Bilder korrespondieren dabei der Simulationstechnik des Films, in der Raum und Bewegung systematisch verkoppelt sind. „Nur im Gehen öffnen sich die Räume und tanzen die Zwischenräume“ (A 113) heißt es programmatisch in der Abwesenheit. Komplementär zur so bestimmten visuellen Wahrnehmung im natürlichen Raum entfaltet sich auch für Handke die Imagination im psychischen Raum, ein Beispiel gibt der blinde Erzähler der Hornissen, der Vergessenes rekonstruiert. Anders als ein Sehender kann er wahrnehmen, „was er will“. Erzählte, erinnerte und phantasierte Bilder überblenden sich für ihn, zerschneiden und zerstückeln „die weiße und leere Ebene des Gehirns“ und verknüpfen Erinnerung und Gegenwart. Wim Wenders Bis ans Ende der Welt schildert analog dazu eine technische Rekonstruktion des „ersten“ und des „zweiten“ Sehens für Blinde (HO 15; Wenders 1992, 32 f.). Beide Darstellungen folgen einem vergleichbaren Konzept, sie erfassen damit zugleich die Rolle der visuellen Wahrnehmung in der Moderne. Zunächst bestätigen sie, dass die nur vermeintlich verlässliche visuelle Erfahrung durch poetische oder technische Simulation ersetzt und verändert werden kann. Schon in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hatte sich zuvor die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Körper die visuelle Wahrnehmung beeinflusst, verändert oder gar substituiert. Lange bevor in Bis ans Ende der Welt synchron zu den wahrgenommenen Bildern ausdrücklich dieser „biomechanische Vorgang des Sehens“ aufgezeichnet wird, verkoppeln zuerst der Tormann, dann der Kurze Brief Körpererfahrung und Wahrnehmung. Eine Zypresse scheint im letztgenannten Text Besitz vom Körper des Erzählers zu ergreifen, als dieser sie betrachtet. Doch zugleich gibt es eine Gegenbewegung, die ebenfalls aus der Psychologie des Sehens begründet ist. Die Natur zeigt, wie aus „Verwechslungen und Sinnestäuschungen Metaphern“ entstehen (KB 79). Voraussetzung dafür sind im Text wie im Film ein Wechsel von Beschleunigung und Verlangsamung und eine Fokussierung des Blicks, die auch das Kleinste bedeutsam werden lässt. Imaginäres und Imagination fallen dadurch zusammen, wie es die Filmtheorie von Kracauer über Balázs bis zu Kittler betont. Zusätzlich verbinden sich wie in der kinematographischen Sprache visuelle und akustische Elemente aufs engste. Der Glanz einer Stahltischplatte oder ein prasselnder Regen im Tormann (TO 17, 112), das Geräusch des Sturmes und einer Schreibmaschine in Falsche Bewegung (FB 81), das Gebell eines Hundes in der Lehre der Sainte-Victoire (LSV 56). Obsessive Reaktionen auf Geräusche verzeichnen auch die Niemandsbucht, und in der Morawischen Nacht, wo von einem „Symposium über Lärm und Geräusche“ erzählt wird, bewirken die „Weltgeräusche“ sogar „eine Art Raumverlust“ (MN 172).
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Grundsätzlich folgen Handke und dann mit ihm auch Wim Wenders einer modernitätskritischen Überlegung, wenn sie das Auge nicht mehr als das Leitsymbol der Aufklärung ernst nehmen, sondern im Gegenzug ganz im Sinne der Dialektik der Aufklärung immer wieder auf die unaufgeklärte Selbstüberschätzung des Sehens in der Moderne hinweisen. In Wenders Bis ans Ende der Welt macht die Visualisierung der Träume Sehende blind, führt die technische Reproduktion der inneren Bilder zu tiefgreifenden Dissoziationen. Im Jahr in der Niemandsbucht erscheint das Filmen als Gewaltakt gegenüber einer Gemeinschaft, die sich den kollektiv verbreiteten Bildern widersetzt, im Himmel über Berlin kritisieren die Engel, die Augen der Menschen seien nur noch „gewohnt zu nehmen“. Gleichwohl entsteht auch aus dieser Kritik eine produktive Spannung, die einer für die ästhetische Moderne konstitutiven Überlegung folgt. Baudelaire erfährt beim Betrachten der Bilder von Constantin Guys „un duel entre la volonté de tout voir, de ne rien oublier, et la faculté de la mémoire qui a pris l’habitude d’absorber vivement la couleur générale et la silhouette, l’arabesque du contour“ (Baudelaire Pl-2, 698). Entsprechend verdichten sich schon für den Protagonisten des Kurzen Briefs Erinnerung, Erfahrung und ästhetische Anschauung zum „systematischen Erleben“ (KB 124), auch er folgt der bei Baudelaire vorgezeichneten Abkehr vom Mimetischen und der Autonomisierung der visuellen Zeichen (Herding 1986, 252). Bei Handke entwickelt sich auf dieser Grundlage eine durch Bilder, Embleme und visuelle Eindrücke zugleich motivierte und gesteuerte Suche nach dem verlorenen Ursprung. Sie folgt in den Hornissen einer psychologischen, im Fall der Reise nach La Defense einer modernitätskritischen, in Eine winterliche Reise einer medien- wie ideologiekritischen Spur. In den späten Romanen und Journalen wird noch klarer als in den Texten bis in die achtziger Jahre deutlich, dass diese Suche ontologisch begründet werden kann, zudem weist Handke darauf hin, dass es ihm um eine Rekonstruktion „im Sinne einer neuen Moderne“ gehe (Wagner 2010, 151). Die Überlegung, dass auch mediale Erfahrungen in erster Linie kognitive Bemeisterungen von Zeit und Raum und insofern wesentlich für die Selbsterfahrung des Menschen sind, ist zentraler Bestandteil der materialen Medientheorie. Die Medien bringen nach ihrer Auffassung die moderne Vorstellung des Menschen überhaupt erst hervor, indem sie psychische und physiologische Abläufe simulieren und nachstellen. Vor allem der Film setzt in der räumlich-zeitlichen Koppelung von on-screen und off-screen unbewusste Vorgänge ins Bild, die filmische Technik der Rückblende funktioniert wie das Gedächtnis, der Schnitt bringt die Trennung von Realem und Imaginärem hervor und korrespondiert der Assoziation, die Großaufnahme dagegen der Wahrnehmungsselektion. Mit diesen medientheoretischen Überlegungen lässt sich Handkes Schreibweise zweifellos verbinden. Ihre erzählten Bilder und visuellen Wahrnehmungen verknüpfen Physiologie, Psychologie und Imagination, Körperbilder und sinnliche Erfahrungen. Die neue „Art des Schauens“ im Chinesen des Schmerzes, die „Einheit von Gewahrwerden und Vorstellungskraft“, die das
13.2 Experimente der Wahrnehmung: Chronik (1971) und Falsche Bewegung (1975)
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griechische Wort leukein ausdrückt, ist also nicht allein eine historische Rückprojektion. Sie korrespondiert auch der wechselnden Interaktion von Betrachter und Objekt in unterschiedlichen Raum-Zeit-Koordinaten, die für die neuzeitliche Auffassung von visueller Wahrnehmung und das charakteristische Zusammenspiel von ‚visual world‘ und ‚visual field‘ konstitutiv ist, von dem die Medientheoretiker sprechen. Handkes Verfilmungen des Tormanns und der Linkshändigen Frau folgen solchen grundsätzlichen Überlegungen und setzen sie zugleich in Bilder um. Gleichzeitig verdichten sie eine Darstellungsabsicht, die Handkes Texte spätestens seit dem Tormann bestimmt. Aus den semiotisch schon zugerichteten Zeichen und Bildern, die sie erzählen und die den „Trivialmythen der Bewußtseinsindustrie“ wie den „Mythen des Alltags“ angehören, lassen sie neue Bedeutungszusammenhänge entstehen: „Signifikate des ersten Systems […] werden zu Signifikanten im zweiten bzw. dritten: im mythischen System“ (Grossklaus 1979, 58). Gerade so können Text und Film Dinge und Gegenstände der Welt aus ihrem entfremdeten Status als Zeichen trivialmythischer Zusammenhänge lösen und nach dem Durchgang durch einen vorsemiotischen Zustand einen Gegenmythos der „entsemiotisierten Welt“ schaffen (Grossklaus 1979, 60). Die Äußerung Handkes anlässlich der Verfilmung der Linkshändigen Frau „Es soll mythisch sein, mythisch!“ weist in diese Richtung (Schober 1977, 180).
13.2 Experimente der Wahrnehmung: Chronik der laufenden Ereignisse (1971) und Falsche Bewegung (1975) Ohne Zweifel bestärken die Filme und Verfilmungen Handkes von Anfang an auch eine andere Linie, die sich in seinen Texten spätestens seit dem Kurzen Brief durchzusetzen beginnt: Die Annäherung an eine unvermittelte Erfahrung wird wieder über das Erzählen einer Geschichte versucht (Nägele/Voris 1978, 102). Die Tendenz der Remythisierung im Erzählen und die narrative Semiotik des Films erweisen sich dabei als strukturellsymmetrisch. Gleichwohl bringt diese Symmetrie durchaus unterschiedliche Wirkungen hervor. Dass man den Text der Falschen Bewegung als „Prosaauflösung“ eines Drehbuchs (Durzak 1982, 141) betrachtet hat und mitunter der Eindruck vorherrscht, die Einheit einiger Texte, insbesondere der Linkshändigen Frau, entstehe erst am Schneidetisch (Durzak 1982, 141), fällt dabei weniger ins Gewicht als die Tatsache, dass die Bildsequenzen des Films grundsätzlich andere Wirkungen erzeugen als die der Texte. Der Misserfolg der Tormann-Verfilmung und die verhaltene Rezeption der Linkshändigen Frau weisen darauf. Dabei ist sich Handke der besonderen Schwierigkeiten des Mediums Film durchaus bewusst. Schon in einer Studie von 1968 erkennt er, dass die Bilder des Films nicht anders als die literarischen Formen zur „Bildung einer genormten (und auch normativen!) filmischen Syntax“ führen:
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Ein Filmbild ist kein unschuldiges Bild mehr, es ist, durch die Geschichte aller Filmbilder vor diesem Bild, eine Einstellung geworden: das heißt, es zeigt die bewußte oder unbewußte Einstellung des Filmenden zu dem zu filmenden Gegenstand, der auf diese Weise der Gegenstand des Filmenden wird […] die Einstellung von dem Gegenstand dient als Ausdruck des Filmenden: die Einstellung, dadurch, dass vor ihr schon eine Reihe von gleichen Einstellungen von dem Gegenstand produziert worden sind, die alle das gleiche bedeuten, wird, das kann man sagen, zu einem filmischen Satz, der nach dem Modell bereits vorhandener filmischer Sätze gebildet worden ist. (E 69)
Das Drehbuch zur Chronik der laufenden Ereignisse, einem Fernsehfilm des WDR, der 1971 ausgestrahlt wurde, trägt dieser Überlegung noch Rechnung. Es zielt durch seine Anlage zudem auf eine weitere Differenzierung. Es legt klar, dass die Bildersprache des Fernsehens bereits in Konkurrenz zu der des Kinofilms steht. Anders als der Kinofilm, der allererst die „Wunschbilder“ bewahren kann, zeigt der Fernsehfilm allerdings auch „jene Schreckgespenster und Schreckbilder“, die „dem Film bei der Sendung vorausgehen und ihm folgen würden“ (CLE 129). Das Abbilden dieses Kontrastes macht ihn zugleich literarisch, persönlich und politisch. Literarisch ist der Fernsehfilm, insofern er auf eine Erzählabfolge aus ist, die vertraut erscheint und bekannte Einstellungen benutzt; literarisch wird er auch dadurch, dass dieses Erzählen allegorisch wird (CLE 129 f.). Formal geschieht dies, indem das Drehbuch zwischen die Wunschsequenzen von Kinofilmen typische Fernsehbilder des politischen Features, der Diskussionsrunde und der Unterhaltungsshow einfügt. Persönliches Dokument ist der Fernsehfilm, weil er versucht, die „Chronik der Fernsehbilder, die in der Bundesrepublik in den Jahren 1968 und 1969 von den politischen Vorgängen, vor allem von der Bewegung der Studenten, gezeigt wurden“ (CLE 128 f.) mit einer „Chronik der Bilder meiner Gefühle, Wünsche und Befürchtungen von damals“ (CLE 129) zu verbinden. So wird eine private Handlung in öffentlichen Filmklischees erzählt, darin wiederum sind Themen des Fernsehens eingeblendet (Nägele/Voris 1978, 103). Politisch ist dieser Film nicht nur, weil er einen „mythischen Kampf zwischen Kino- und Fernsehbildern“ zeigt, in dessen Verlauf schließlich „die Kinobilder von den Fernsehbildern verdrängt werden“ (CLE 137), sondern weil er bewusst macht, dass die Fernsehbilder einerseits die unmittelbare Wahrnehmung von Wirklichkeit deformieren, andererseits die Wirklichkeit selbst verändern können. Damit weist der Fernsehfilm nicht nur auf die Unvereinbarkeit von politischen und poetischen Anschauungen voraus, die das Drehbuch der Falschen Bewegung zentriert, er knüpft zugleich an Überlegungen an, die Handke in seiner Büchner-Preis-Rede und in einer Stellungnahme zum Ende des Vietnamkriegs entwickelt. Die Geborgenheit unter der Schädeldecke berichtet davon, dass die „fertigen Bilder“ des Fernsehens nur eine „Fiktion von Verständigung“ (WÜ 73) erzielen, weil sie als ritualisierte Bildfolgen allein noch bereits feste Begriffe und Meinungen abrufen und wiederholen lassen. Noch provozierender bringt die Argumentation in Was soll ich dazu sagen? Fernsehen und Politik in Verbindung, indem sie die Existenz einer politischen Moral grundsätzlich in Zweifel zieht.
13.2 Experimente der Wahrnehmung: Chronik (1971) und Falsche Bewegung (1975)
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Die Vietnam-Friedensverhandlungen in Genf erscheinen nicht anders als gewerkschaftliche Lohnverhandlungen. Sie sind ritualisierte Kämpfe, die nicht nach Sachzwängen oder Geboten der politischen Moral ablaufen, sondern längst nur noch das Gesetz der Medien erfüllen. So ist der Waffenstillstand in Vietnam nicht aus der doch immer nur beschworenen menschlichen Friedensliebe entstanden, auch nicht aus der Materialerschöpfung, sondern aus der Bewußtseinserschöpfung der kriegführenden Amerikaner und ihrer Fernsehzuschauer. Diese Erschöpfung des Bewußtseins tritt dann als Sehnsucht nach Frieden auf, die man mit Friedensliebe nicht verwechseln darf. ‚Danke fürs Mitmachen, danke fürs Zuschauen!‘ (WÜ 27)
Es ist nur folgerichtig, dass in der Chronik der laufenden Ereignisse kaum mehr deutlich wird, dass die Geschichte der drei Hauptfiguren Baumont, Spade und Kelly, die immer wieder durch die Allmacht der Fernsehbilder zerrissen wird, die Story des Gläsernen Schlüssels von Dashiell Hammett nacherzählt (CLE 53, 115; ÜD 82). Denn dieses Handlungsmuster ist von Handke bereits dem Duktus der Fernsehbilder angepasst. Die Handlung wird „ganz langsam, vielleicht auch langweilig“ erzählt, und alle Aktion im Film „geschieht eigentlich immer nur durch den Film selber, durch den Schnitt oder durch die Art der Einstellung“ (Scharang ÜH 82). In verschiedener Hinsicht allerdings durchbricht der Fernsehfilm diese Langsamkeit. Mitunter werden die Formen der Fernsehunterhaltung und -information ins Absurde verzerrt, etwa in einer politischen Diskussion über die Rolle der Schizophrenie in der Gesellschaft (CLE 48). Daneben werden sie auch in eine Folge von Slapstickeinlagen umgeformt, so in der Schilderung einer Fernsehshow mit Geschicklichkeitsspielen (CLE 57 f.). Bisweilen entstehen auch Bildfolgen, die nicht Abläufe sind, sondern aus einer Kompilation von Fernsehfilmbildern oder aber aus Einstellungen des dokumentarischen Fernsehspiels entstehen (CLE 95–97, 101, 120). Schließlich werden durch das Medium des Bildes auch Perspektiven entworfen, die sich dem Erzählen Handkes als verwandt erweisen (CLE 66). Einige Passagen sind zudem durch das Darstellungsprinzip einer allegorischen Bildersprache bestimmt: Bilder werden mit Texten gekoppelt und erhalten so die Aufgabe der Demonstration. Der Blick auf die Dinge verbindet die Chronik der laufenden Ereignisse mit der Falschen Bewegung. Auch in diesem Text kommt es neben der Demonstration des Bilder-Sehens zu einer Verkoppelung von Bild und Schrift (FB 16, 18). Was oberstes Gesetz der Fernsehwirklichkeit ist, erscheint der Hauptfigur Wilhelm zugleich als Voraussetzung des Schreibens. Doch in diesem Drehbuch, das sich nicht auf die Überzeugungskraft einer beliebigen Geschichte verlässt, sondern Züge und Figuren aus Goethes Wilhelm Meister nacherzählt, umerzählt und als Kontrast einer neuen Geschichte benutzt (Pütz 1982, 69), ist die Wahrnehmung kein Verfahren, das durch die Voraussetzungen des Mediums bestimmt wird. Sie ist vielmehr als „erotischer Blick“ aus dem Gefühl des Wahrnehmenden begründet:
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13 Die Konkurrenz von Wort und Bild
Was ich sehe, ist dann nicht mehr nur ein Objekt der Beobachtung, sondern auch ein ganz inniger Teil von mir selber. Früher hat man dazu, glaube ich, Wesensschau gesagt. Etwas Einzelnes wird zum Zeichen für das Ganze. Ich schreibe dann nicht etwas bloß Beobachtetes, wie die meisten das tun, sondern etwas Erlebtes. Deswegen will ich eben gerade Schriftsteller sein. (FB 58)
Ganz anders als Goethes Wilhelm Meister findet der Wilhelm der Falschen Bewegung keine harmonische Beziehung zur Welt. Sein Bezugssystem bilden eine überzivilisierte Welt und die Gesetze der Technokratie (Mixner 1977, 214), die Handke bereits bei seiner Beschreibung von ‚La Défense‘ als Voraussetzungen einer modernen Ortlosigkeit erscheinen (WÜ 37). Wilhelm löst sich aus allen Beziehungen und sucht schließlich einen extremen Ort in der Natur, die Zugspitze auf, um dort schreiben zu können. Sein Entschluss zum Schreiben und gegen das Handeln (Pütz 1982, 72) konterkariert Goethes Vorstellung von Entwicklung. Die Begegnung mit anderen Menschen ändert nicht Wilhelms Bewusstsein, sondern erweist sich als „Falsche Bewegung“ (Pütz 1982, 67). Die Absicht der Selbstfindung, die sich beim Betrachten eines Photos einstellt (FB 11), führt in immer größeren Gegensatz zu den „Tatsachenmenschen“ (FB 36). Eine zunehmende Entfernung von der Gesellschaft erwächst auch aus der Steigerung privater Stimmungs- und Wunschbilder (Nägele/Voris 1978, 104), die im Schreiben ebenso bewusst werden wie die Unmöglichkeit ihrer politischen Einlösung (FB 52). Diese Erfahrung verbindet Wilhelm unmittelbar mit seinem Erzähler. Wie dieser weiß er sich in Distanz zum Politischen, er ist nicht in der Lage, seine Wünsche in gesellschaftliche Praxis zu überführen. Offensichtlich schreibt der Autor Handke auf diese Weise der Geschichte Wilhelms Bilder seines eigenen Lebens und Signifikanten seiner eigenen Texte ein, es ist eine Strategie, die seit der Niemandsbucht perfektioniert wird. Die Traumbilder des Halbschlafs (FB 38 f.), die Metaphorik des Übers-Eis-Gehens (FB 48; MN 34), die Erfahrung der Einsamkeit und der Verlassenheit in Deutschland (FB 42, 45), der Wunsch, allein und beziehungslos zu sein (FB 8, 70) und das Bild der Natur als Gegenwelt und Ort einer intensiven Selbsterfahrung (FB 55, 81), die zugleich Voraussetzung des Schreibens ist, erweisen die Bildsequenzen der Geschichte Wilhelms als Fragmente eines autoanalytischen Diskurses, der keiner logischen Verknüpfung bedarf. Es ist auffällig, dass dieser Text den Bilderfolgen des Films schon ein anderes Prinzip der Verknüpfung entgegensetzt, das für das Schreiben Bedeutung gewinnt. Wilhelm begründet seine Entfernung von der Politik und den Menschen damit, dass er der Ablenkung des zufälligen Sehens entgehen will. Gegenüber Therese äußert er: „zum Schreiben muß ich mich ungestört und genau erinnern können, sonst schreibe ich nur was Zufälliges“ (FB 32). Später heißt es, als „Erinnerungsvorgang wird das Schreiben, glaube ich, endlich selbstverständlich werden“ (FB 77 f.). Das Erinnern erweist sich damit als eine Form der poetischen Phantasie, welche die Außen- und die Innenbilder miteinander vermittelt. An die Stelle einer Harmonie von Individuum und Gesellschaft setzt die Falsche Bewegung
13.3 Semiotik der Wahrnehmung: Die Angst des Tormanns (1970)
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eine Verschmelzung der Wahrnehmungsbilder und der Bilder von Phantasie und Erinnerung. Ausgerechnet diese utopische Botschaft des Ästhetischen erhält durch eine emblematische Abbildung Gewicht. Sie erscheint in einer Bildeinstellung, die wiederum Bild und Schrift unmittelbar aufeinander bezieht: Das Bild der Ebene und des Himmels. Schrift über dem Bild: ‚Manchmal starrte ich lange vor mich hin, absichtlich ohne etwas anzuschauen. Dann machte ich die Augen zu, und erst an dem Nachbild, das sich dabei ergab, merkte ich, was ich vor mir gehabt hatte. Auch während ich schreibe, schließe ich die Augen und sehe einiges ganz deutlich, das ich bei offenen Augen gar nicht wahrnehmen wollte‘ (FB 61 f.)
Diese Darstellung des Schreibens führt auf eine Einstellung in der Chronik der laufenden Ereignisse zurück, in der eine Spielszene durch Stimmen kommentiert wird: „Man schließt die Augen, damit sich inzwischen alles verändern kann, aber dann ist es zu spät, die Augen wieder aufzumachen“ (CLE 103). So erwächst unmittelbar aus dem filmischen Erzählen die Reflexion auf die Voraussetzung schreibenden Erzählens.
13.3 Semiotik der Wahrnehmung: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) Wim Wendersʼ Verfilmung der Angst des Tormanns beim Elfmeter ist eine werkgetreue Adaption von Handkes Text. Der erste Film des Regisseurs begründet eine lange Zusammenarbeit mit dem Autor, in deren Verlauf Wenders zudem zentrale Motive und visuelle Konstellationen Handkes seiner eigenen kinematographischen Sprache anverwandelt. In der Tormann-Verfilmung versucht er, die Orientierungslosigkeit des Protagonisten mit einfachen Mitteln zu inszenieren. Die bei Handke vorgezeichnete Reduktion von Sprache und Handlung setzt er auf unterschiedliche Weise ins Bild. Die Kamera operiert mit Distanz schaffenden Totalen, ihre Bewegung wird durch lange Aufblenden in Schwarz unterbrochen, die zudem entscheidende Handlungselemente aussparen. Ganz am Anfang wird ein Torschuss gezeigt, auf den der Torwart überhaupt nicht reagiert (2:31). Die intime Beziehung zur Kinokassiererin wird nur angedeutet (19:05), ebenso der Mord an ihr, nur die Szenen davor und danach werden ausführlich gezeigt (27:35, 27:39). Systematisch verfremdet wird durch die Kamera auch der Handlungsraum des Burgenlandes, das häufig aus einem fahrenden Bus heraus oder bei Nacht so gezeigt wird, dass die Leuchtreklamen an der Straße mitunter Amerika assoziieren lassen (36:02). Im Fortgang des Films folgt die Kamera zudem immer mehr dem Blick des Protagonisten Bloch. Dadurch wird dessen zunehmend obsessive Wahrnehmung einzelner Gegenstände oder Details auch zur Perspektive des Filmzuschauers. Der Blick durch eine Jalousie auf den Flughafen (19:33) oder im Innern des Raums auf eine Teekanne (20:44) geben dafür Beispiele (1:09:32), ebenso sich drehende Landschaften, die der Protagonist aus der Totalen von oben wahrnimmt, eine deutlicher Rückbezug auf eine Strategie der Chronik der laufenden Ereignisse (10:02:20; CLE 66).
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13 Die Konkurrenz von Wort und Bild
Daneben steht eine fast dokumentarische Abbildung von Räumen durch eine langsam fahrende Kamera, welche die ländlichen Interieurs der Siebziger Jahr durchaus beklemmend erscheinen lässt. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass Bloch immer wieder in dunklen Räumen (8:30), im Kino (4:42, 1:14:50) oder als Hörer von Musikboxen – natürlich ist auch eine Wurlitzer dabei (10:08, 35:29, 45:50) – nach Orientierung sucht. Mitunter befindet er sich in Zimmern, bei denen eine Jalousie am Fenster den Blick nach außen versperrt (19:06). So erscheint er auch im Raum verloren. Gefühle zeigt er nicht, selbst die Frauen, denen er sich auf seine unvermittelte Art zuwendet, geben ihm keinen Halt, allesamt rothaarig oder mit Perücke erscheinen sie ohnehin austauschbar. Dazu kommt, dass die Filmbilder Bloch nicht nur auf Distanz halten wie etwa dann, wenn er von außen in einem gläsernen Fahrstuhl gezeigt wird (13:20). Er befindet sich auch, Handkes Text folgend, in einer immer wieder fremd erscheinenden Umgebung an der Südgrenze des Landes. Nicht allein während seiner Busfahrten, sondern auch am Busbahnhof scheint er verloren, wenn er sich an den Drehtafeln der Fahrpläne zu orientieren versucht und ihn fremde Sprachen umgeben (31:00 ff.). Das zentrale Thema der Wahrnehmungsstörung, das die Textvorlage bestimmt, wird im Film minutiös umgesetzt. Dabei lassen sich mehrere Ebenen unterscheiden. Zunächst der Verlust sozialer Empathie, der den handelnden Figuren nicht bewusst ist, den der Filmbetrachter aber desto deutlicher schon durch ihre Gestik wahrnimmt: Die Gefühlskälte Blochs gegenüber Frauen, die sich in einem fortgesetzten double bind spiegelnde Kälte der Gastwirtin gegenüber ihrem Kind oder die der Bedienung gegenüber einem behinderten Kind, geben dafür Beispiele. Ebenso Blochs unmotivierte Gewaltausbrüche, ein immer wiederkehrendes Motiv des Erzählers Handke (Höller 2013, 121), oder sein bisweilen aggressiver Redestil, die er ebenso unvermittelt zeigt, wie er den Mord begangen hat (1:17:20, 1:21:00). Wie in der Textvorlage erhalten entscheidendes Gewicht jedoch zunächst die immer wieder ins Bild gesetzte Spannung zwischen dem beschreibenden Wort und der Realität und schließlich Störungen der visuellen Wahrnehmung, die sich in einer Spannung zwischen Blick und Bild einstellen. Satirisch verfremdet präsentiert der Film dagegen die Leistung denotativer Sprache, als Bloch nach dem Weg zum Gasthaus fragt. Zunächst bekommt er keine Antwort von den Einheimischen, weil diese entweder nicht hören können – Taubheit scheint verbreitet in dieser ländlichen Gegend – oder nicht hören wollen, weil sie den Fragenden als Fremden nicht in ihren Bezirk eindringen lassen. Danach aber mischt sich eine Frau ein und liefert eine akribische Beschreibung des Wegs zur Grenze, die selbst den wechselnden Straßenbelag nicht zu schildern vergisst (41:00 ff.). Diese detailgenaue Sprache verfremdet die gesamte Situation. Ihre logische Ordnung passt nicht in das Umfeld des Dorfes, wo es über die dortigen Schüler heißt, dass sie nur Einzelworte sprechen und eigentlich „sprachbehindert“ sind (41:45). Sie steht auch in völligem Kontrast zu den häufig anakoluthischen Sätzen, die Bloch selbst spricht und die bei ihm und anderen zu asymmetrischen Dialogen führen (53:40). Der denotativen Sprache tritt eine andere gegenüber, die durch Leerstellen gekennzeichnet ist. Diese müssen vom
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Filmbetrachter entweder psychologisch oder logisch aufgelöst werden, weil sie durch Präsuppositionen der jeweiligen Sprecher geprägt sind. Dass solche Leerstellen für den, der sich orientieren will, auch zu Dissoziationen führen können, zeigt sich an Bloch selbst, der beim Zählen die Eins auslässt und erst mit der Zwei beginnt (57:40). Nicht zufällig heißt es später bei seiner Freundin im Gasthaus, das Kind „zählt nicht“ (1:00:21). Jede individuelle Desorientierung hat soziale Konsequenzen. Die vom Filmbetrachter geforderte Interaktion mit der im Film präsentierten Sprache korrespondiert seiner Blicksteuerung, die ihm nicht anders als dem Protagonisten ständige Neuorientierungen abverlangt. Damit wird der Zuschauer auf doppelte Weise zum Mitakteur. Nur an wenigen Stellen, etwa als Bloch neben der getöteten Kassiererin amerikanischen Münzen aufnimmt, die später in der Zeitung als ein Indiz benannt werden, das zum Mörder führen soll, erhält er einen Aufmerksamkeitshinweis durch eine dissonante Tonfolge auf der Tonspur. Dagegen ist er häufig auf den Blick Blochs anwiesen, bei dem durchaus nicht klar ist, ob seine Wahrnehmung verlässlich ist. Das schlagendste Beispiel gibt eine Szene, in welcher der Protagonist von einer Brücke in den Fluss schaut, in dem der vermisste Schüler tot zu sehen ist. Der Zuschauer folgt mit der Kamera dem Blick Blochs und in dem Moment, in dem dieser den Schüler sieht, erhält er wie zuvor bei den Münzen ein Aufmerksamkeitssignal auf der Tonspur. Bloch dagegen blickt deutlich länger als der Zuschauer auf den Vermissten, zeigt aber keinerlei Reaktion (1:05:49). Der Film lässt offen, ob er den Toten nicht bemerkt oder das Gesehene verdrängt hat. An anderen Stellen kann der Zuschauer sehen, was die Beteiligten nicht wahrzunehmen scheinen. Die Bedienung im Gasthaus sieht in der Zeitung die amerikanischen Münzen abgebildet, ohne eine Verbindung zu Bloch herzustellen, der eine solche Münze verloren hat (1:10:04). Auch kann sie das sehr genaue Phantombild Blochs, das sie in dessen Gegenwart wahrnimmt, im Gegensatz zum Filmzuschauer nicht dechiffrieren (1:31:35). In diesen Szenen ist die Beziehung zwischen den Zeichen und den zu bezeichnenden Gegenständen gekappt, dies folgt sehr genau der linguistischen Reflexion, die Handkes Textvorlage entwickelt. Damit verbunden ist der Hinweis auf die Arbitrarität der Zeichen. Demonstriert wird sie am Beispiel des Gerichtsvollziehers, für den der Preis der Dinge das einzige Ordnungselement seiner Wahrnehmung ist (10:03). Die Frage nach der Eindeutigkeit von Zeichenordnungen betrifft in diesem Film auch die Schrift. Ironisch wird dies an der Tafelanschrift deutlich, welche die Ein-Wort-Sätze der Schüler nicht ändern kann. Erkennbar wird das auch, wenn Bloch als Leser einer Sensationspresse gezeigt wird, die durch Übertreibung geradezu phantastische Bilder erzeugt. „Hinten aus seinem Kopf sprang eine Fledermaus heraus und klatschte gegen die Tapete. Mein Herz übersprang einen Schlag“ liest er als Schlagzeile und blickt völlig unbeeindruckt auf die Szene, die ihn umgibt (17:28). Auch an anderer Stelle ignoriert er, was ihm durch Schrift mitgeteilt wird. Den in der Zeitung gedruckten Bericht über seinen Mord an der Kassiererin verdeckt er sofort durch ein Umschlagen der Zeitungsseite. Damit wird dieser durch die Nachricht über den vermissten Schüler überblendet (40:15).
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Neben diese visuellen Desorientierungen, die im Fall Blochs individuelle Ursachen zu haben scheinen, rückt Wenders Film in Übereinstimmung mit der Textvorlage das Problem der Entzifferung von Zeichen. Dieses wird zweimal und jedesmal in denotativer Sprache vorgeführt. Zum ersten Mal, als der Grenzwächter darüber spricht, dass man eines zum Flüchten Entschlossenen habhaft werden kann, indem man seine Bewegungen deutet und gleichzeitig vorauszusehen versucht, welchem Kalkül diese folgen (1:27:50, 1:28:43). Zum zweiten Mal wird diese Frage anlässlich der Überlegungen über das Elfmeterschießen aufgeworfen, der zentralen Thematik von Handkes Textvorlage. Auch diese Grundsituation des Fußballs ist durch eine Zeichenkette physischer Gesten gesteuert, die bei dem Schützen wie dem Tormann mit einer reflexiven Überlegung interagiert. Diese wird allerdings aporetisch, weil beide Akteure zugleich die Reaktion des Gegenübers in die eigenen Überlegungen einzubeziehen versuchen (1:35:50). Die Konsequenz beider Szenen ist, dass soziale Entscheidungen durch Sprache grundsätzlich nicht lösbar sind. Das aufgeklärte Vertrauen auf die eindeutige Kommunikation wird durch die Erkenntnis ersetzt, dass es keine Regel zur Bewältigung solcher Situationen gibt. Immer ist man „im Nachteil“, weil einen der andere auch beobachtet. In Wenders Verfilmung wird dieses sprachund kommunikationstheoretische Zentrum von Handkes Textvorlage zugleich auf der Ebene der visuellen Wahrnehmung abgehandelt. Bereits zu Beginn des Films wird gezeigt, dass der Filmzuschauer nicht anders als der Zuschauer beim Fußball der Fokussierung des eigenen Blicks untersteht. So wie jeder Sprecher einer immanenten Logik der Sprache folgt, zeigt das Gespräch über das Elfmeterschießen, in dessen Verlauf sich Bloch als ein bemerkenswert überlegter und klarer Sprecher präsentiert, dass auch die visuelle Wahrnehmung einer Regel untersteht: „Man schaut auf den Ball und nicht auf den Torwart“ heißt es lapidar (1:34:50). Eben diese Dialektik der Wahrnehmung kann am Ende erklären, warum Wenders Film an einer Stelle ein Bild zeugt, das dekontextualisiert scheint und gerade deshalb als autonomes visuelles Zeichen wahrgenommen werden kann: Die Großaufnahme eines Apfels (1:05:13). Es ist offensichtlich das einzige eindeutige Zeichen in diesen Verstrickungen linguistischer und visueller Wahrnehmung. Ohne es schon zu wissen, fügt Wenders seinem Film damit auch ein prospektives Zeichen ein, dessen Bedeutung sich erst im späteren Werk Handkes (KA 112; Höller 2013, 53) und in den Schönen Tage von Aranjuez entfalten wird (A 65, 69).
13.4 Geschlechterrollen und Wahrnehmungsmuster: Die linkshändige Frau (1978) Während Wim Wendersʼ Verfilmung des Tormanns die sprachanalytischen Elemente von Handkes Textvorlage in ein dichtes Netz von Kurzdialogen und szenischen Konstellationen übersetzt, tritt in Handkes Verfilmung der Linkshändigen Frau Sprache zunächst in auffälliger Weise zurück, gleichzeitig sind die Bilder häufig mehrfach kodiert. Als Regisseur arbeitet Handke mit langen Einstellungen, ganz ähnlich wie Wenders zeigt er viele seiner Totalen wie eine
13.4 Geschlechterrollen: Die linkshändige Frau (1978)
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Abfolge von Diabildern, dabei findet ein auffälliger Wechsel zwischen gut ausgeleuchteten und dunkel gehaltenen Szenen statt. Die Protagonistin präsentiert sich häufig auffällig starr und unbewegt, in den ersten Einstellungen ähnelt sie fast einer Silhouette, ihre sparsamen Bewegungen lassen sie bisweilen statuenhaft erscheinen. Ähnliches gilt für das erste Auftreten ihres Mannes Bruno. Als sie ihn am Flughafen abholt, ist die Begrüßung zunächst stumm, der Mann trägt eine Sonnenbrille und die Distanz, die selbst diese Begegnung prägt, wird dadurch unterstrichen, dass die Kamera eine schräg angeschnittene Perspektive vorgibt (5:26). Gesteigert wird dieses Moment der Distanzierung durch die nachfolgende Autofahrt in die sich herabsenkende Nacht, in deren Verlauf sich kaum entschlüsselbare Konturen von Stadt und Land zeigen (6:09; 7:10 ff.). Bereits am Flughafen erschien das Paar durch die Fokussierung der Kamera eigentümlich abgegrenzt von den anderen Menschen in einem Gebäude, das mehr als ein architektonisches Zeugnis der Moderne erscheint als ein Begegnungsort für Menschen. Darüber hinaus visualisiert der Film in Einzeleinstellungen immer wieder Bilder einer Gegenwelt, die sich in der Beziehung zu einem Kind etabliert. Dieses befindet sich zumeist in der Nähe der Mutter, wird von ihr ausgegrenzt nur, als sie wieder zu arbeiten beginnt. Die beiden baden zusammen in der Badewanne (1:37:45), und als sie das Büro verlassen, in dem ihnen Bruno seine Einschüchterungstechniken vorgeführt hatte, verfallen sie gemeinsam in den Hüpfschritt, der bei Handke immer eine Abgrenzung vom alltäglichen Zwang markiert (49:45). Wie ein Kind auch läuft die Frau in ihrer Wohnung auf Stelzen, als sie ihr neues Lebenskonzept umzusetzen beginnt (17:56). Diese Bilder ohne Sprache treten in deutlichen Kontrast zu den Szenen, in denen Männer sprechend dominant zu werden versuchen. Die Begegnung mit dem Schriftsteller, der auf die Frau nicht anders als ihr Mann Bruno einen kaum verdeckten sexuellen Druck ausübt, verläuft zwar zunächst über weite Strecken hin in auffälliger Sprachlosigkeit. Doch fordernd erscheint dagegen bereits die Körpersprache des Mannes, bevor dieser schließlich seinen Anspruch gegenüber der Frau offen ausspricht. „Warum spielen Sie das Mutter-Kind-Spiel?“, bemerkt er sarkastisch, als Marianne auf seine Avancen nicht eingeht (35:25), nachdem er an die Vergangenheit erinnert hatte und eine rudimentäre Verführungsrede unternahm. Bruno wiederum möchte, dass sich seine Frau für einen Restaurant- und nachfolgenden Hotelaufenthalt nach seinen Vorstellungen anzieht. Seine Formel „Hast du noch etwas vor diese Nacht?“ ist eine sexuelle Forderung, die nach dem Essen in Anwesenheit des Kellners explizit gemacht wird. Zu den vorherrschenden, auffällig distanzierenden Bildern passt der kontrollierte Wechsel zwischen Innen- und Außenräumen. Der Film beginnt mit einer Parkansicht, die perspektivisch einen Tiefenraum entfaltet. Wie häufig bei Handke und Wenders ist diese Totale von zwei differenten Geräuschen auf der Tonspur begleitet, den Naturlauten des Vogelgezwitschers und technischen Geräuschen, die auch hier wie fast immer bei dem Regisseur und dem Autor von Zügen oder Flugzeugen ausgehen (1:15). Auffällig ist auch, dass die sparsamen Kamerabewegungen beispielsweise dann, wenn ein Zoom auf das Wohnhaus der
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13 Die Konkurrenz von Wort und Bild
Frau und anschließend auf den Innenraum stattfindet, stillgestellt werden, bereits zu Beginn wird ein Stillleben die Kamerafahrt beenden (2:35). Bei der Darstellung der Frau dominieren über weite Strecken fokussierte Bilder, die allein sie zeigen. Ihr langer und schwerer Pelz, den sie anfänglich beim Verlassen des Hauses anlegt, konterkariert zunächst die sexuell konnotierten literarischen und bildnerischen Imaginationen der ‚Frau im Pelz‘. Er erscheint nicht wie ein Attribut der Verführung sondern wie eine schützende Hülle des Körpers. Marianne selbst präsentiert sich fast durchweg in einem langen Kleid, das ihre Körperformen zwar erahnen lässt, aber letztlich verdecken soll. An einer einzigen Stelle im Film wird ihr Körper im Wortsinn sichtbar. Vor dem Spiegel entblößt sie ihre Schultern und blickt sich dabei intensiv an. Diese Einstellung markiert die vom Text vorgezeichnete Selbstfindung der Frau, die hier als Wiederfindung des Körpers visualisiert wird und zugleich den Beginn ihrer Übersetzertätigkeit einleitet (54:00). Eine Voraussetzung dazu scheint die Ausklammerung der Männer zu sein. Sie wird deutlich pointiert in einer Szene, in der Franziska, die sonst alles erklären kann (48:50 ff.), und Marianne sich umarmen und die Kamera dies als Silhouettenbild zeigt (1:46:40). Allein im Kontext des kontrollierten Wechsels von distanzierenden und Körperbildern erhält Sprache ihre besondere Rolle. Während die direkte Sprache den Männern vorbehalten scheint, ist das Sprechen der Frau eigentümlich vermittelt. Dies wird bereits zu Beginn deutlich, als das Kind im Innern des Hauses sein Wunschgedicht vorliest: „Wie ich mir ein schöneres Leben vorstelle…“ (3:35), das der Filmzuschauer als inneren Monolog der Protagonistin dechiffrieren möchte. Der Außenblick der Frau am Fenster macht dabei deutlich, dass ihre Konzentration auf sich selbst Abgeschlossenheit zur Voraussetzung hat. Spätere Blicke durch Fenster oder die Küchentür werden dies unterstreichen (7:28). In den ersten Szenen mit Bruno erscheint die Frau in der Tat wie ein gesprochenes Wesen, ihre Nähe zum Mann visualisiert der Film als eine Vereinigung, die sich zum Zeichen verkürzt und zudem mit dem Bild eines Baums überblendet wird (12:45). Solche Visualisierungen des gesprochen Werdens und des stellvertretenden Sprechens gehen der direkten Rede der Frau mit Bruno voran. Allerdings ist diese durch ihre Wortwahl eigentümlich indirekt, denn Marianne, die sich von ihrem Mann trennen will, begründet dies keineswegs in der analytischen Sprache der Freundin Franziska oder der Selbsterfahrungsgruppen (1:16:50), sondern sie spricht davon, dass sie eine „Erleuchtung“ gehabt habe (14:20). Kinematographisch interessant ist diese Passage, weil die Rede der Frau zunächst aus dem Off zu kommen scheint. Da sie den Mund geschlossen hat, stellt sich beim Zuschauer wiederum der Eindruck ein, dass es sich um einen inneren Monolog handle. Erst anschließend werden Sprache und Sprechen der Figur synchronisiert. Dabei eröffnet das „Wehe Dir, wenn ich es sage“ (15:06) allerdings eine eigentümliche linguistische Ambivalenz. Die Formel von der „Erleuchtung dass du von mir weg gehst“ verwandelt sich in die unmittelbare Aufforderung: „lass mich allein“ (16:09).
13.4 Geschlechterrollen: Die linkshändige Frau (1978)
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Das vermittelte Reden der Frau wird sich später fortsetzen, wenn sie als Übersetzerin von Flauberts Trois contes präsentiert wird und sich in der ersten Erzählung mit dem Titel Un coeur simple offensichtlich mit der Figur der Félicité identifiziert (41:45). Ihr Übersetzen erscheint als Versuch einer Sprachfindung, die nur aus der Konzentration auf sich selbst möglich ist. Nicht zufällig hatte ihr der Herausgeber als Folge dieser Tätigkeit eine lange Zeit der Einsamkeit angekündigt (45:30 ff.). Die Distanz, die der Film durch Handlung und Bilder aufbaut, wird durch zwei weitere Elemente verstärkt. Zum einen durch eine kontrapunktische Tonspur und ironische Verfremdung. Zu Beginn der Beziehungskrise und im Verlauf ihrer späteren Steigerung werden die Szenen mit dem Schlager „Rote Rosen sollen blühn“ unterlegt (24:15), und an den Schauplätzen sind die Straßennamen rue de la raison (24:15) und rue terre neuve zu lesen (1:24:40). Zum andern dadurch, dass die Momente der Selbstversenkung der Frau, die zumeist mit Blicken durchs Fenster nach draußen verbunden sind, beim Filmbetrachter eine Verwirrung hervorrufen, die wie eine phantastische Verfremdung des Realen erscheint. Diese eröffnet einen Bereich des Imaginären. Als der Filmzuschauer von außen auf die Hausfront mit dem von innen beleuchteten Fenster blickt, aus dem die Frau nach außen sieht, stürzt sich aus dem darüber liegenden Fenster offensichtlich ein Selbstmörder, ohne dass dies eine Reaktion bei der Frau auslösen würde (48:20). In einer späteren Bildeinstellung, die ebenfalls diese beiden von innen erleuchteten Fenster zeigt, ist das obere, aus dem sich der Mensch gestürzt hatte, immer noch erleuchtet und die Läden sind halb geschlossen, als laufe dort oben ein ganz normales Leben ab. Eine ähnliche Verfremdung, die von einem Fensterblick ausgeht und dabei die Unterscheidung zwischen visueller und imaginärer Wahrnehmung für den Filmzuschauer problematisch werden lässt, wird Wenders in seiner Verfilmung der Abwesenheit wiederholen (F–A 1:16:19). Die genannte Einstellung macht deutlich, dass die Selbstfindung der Frau, die der Film dem Text folgend vorstellen soll, keineswegs ungebrochen ist, und dass die visuelle Präsentation dies schärfer konturiert als der Text. Zwar wird die Entwicklung der Frau einerseits durch das viele Texte Handkes durchziehende Hoffnungszeichen des Schneefalls signalisiert (1:18:45), doch zugleich führen das Schreiben und Übersetzen der Frau auch in eine Isolation. Die Bilder, die sie allein fokussiert, werden mit einer Totale kontrastiert, die ein altes Paar zeigt, das sich in einem kleinen Gartengrundstück in ruhiger Zweisamkeit aufhält (58:22). Marianne dagegen wird später der offensichtlich vereinsamte Verleger prophezeien: „Du wirst genauso enden wie ich“ (1:28:20). Sie selbst konstatiert schon vorher, dass ihr das Schreiben mitunter wie eine Ausrede vorkomme (1:26:40). Darüber hinaus markieren die Filmbilder eine zunehmende Distanz der Frau zu ihrem Kind, bereits optisch zerbricht die Mutter-Kind-Dyade. Visualisiert wird dies in einer Szene, in der Marianne während eines Gesprächs unbeteiligt auf ihr und ein anderes Kind blickt, die beide im Bildhintergrund wie Schauspieler auf einer Bühne einen Streit austragen (1:18:45). Obwohl die Kinderbilder diejenigen des latent gewalttätigen männlich-weiblichen Rollenspiels verdrängen, eröffnen sie jetzt keine Alternativwelt mehr. Die Fremdheit zwischen Mann und
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13 Die Konkurrenz von Wort und Bild
Frau, welche die Eingangsbilder am Flughafen gezeigt hatten, wird am Ende durch das Bild zweier Kinder abgelöst, die gemeinsam eine Unterführung durchqueren, sich an deren Ende aber trennen und die entgegengesetzte Richtung einschlagen (1:48:50). Während der Text der Filmvorlage ein Sich-Versenken der Frau schildert, das zum Ausdruck bringt, dass sie zu sich selbst findet, zeigen die Filmbilder vor allem das Ende sozialer Kohäsion. Das Schlussmotto fasst diesen visuellen Eindruck in eine sprachliche Sentenz: „…Ja, habt ihr nicht bemerkt, daß eigentlich nur Platz ist für den, der selbst den Platz mitbringt…“ (1:49:54).
13.5 Textuelle und visuelle Konstruktion von Identität: Der Himmel über Berlin (1987) In der Zusammenarbeit zwischen Handke und Wenders, die im Himmel über Berlin ihren Höhepunkt findet, werden diese Ansätze fortgeführt und zugleich in den Kontext einer grundsätzlichen Medienreflexion gestellt, die im Medium des Films und in spiegelbildlicher Entsprechung zu den Texten des Autors eine zentrale Thematik des Handkeschen Erzählens aufnimmt. Auch Wenders bestimmt die Bedeutung der Medien Schrift und Bild neu, indem er sie zueinander in Beziehung setzt. Zu Beginn des Himmel über Berlin hört man die Stimme des Engels Damiel und sieht in einem Insert, wie einige Zeilen eines Gedichts von Handke geschrieben werden. Der Filmbesucher liest dort: „Als das Kind Kind war, / wußte es nicht, dass es Kind war / alles war ihm beseelt, / und alle Seelen waren eins“ (00:13–00:48). Dieser Filmbeginn, der auch die Szene am Schluss vorzeichnet (1:58:58), ist in doppelter Hinsicht interessant. Zum einen, weil er die besondere kinematographische Technik der weißen Aufblende benutzt, die im Unterschied zur schwarzen Aufblende vom Zuschauer wahrgenommen und seit Eisenstein als Illusionsbrechung empfunden wird (Eisenstein 1999, 157– 176). Hier dient sie der Unterstreichung des Leseakts, der dem Zuschauer abverlangt und durch ein weiteres filmisches Mittel unterstützt wird. Wir hören einen Off-Ton, der dem filmisch inszenierten Lesen vorangeht. Zum anderen bricht die Präsentation der weißen Fläche, auf die geschrieben wird, von Anfang an die für den Film seit den zwanziger Jahren angestrebte Perspektivierung des Raums, der jetzt zuerst als Fläche, nicht als Tiefe erscheint. Es ist ein Verfahren, dessen sich auch Fassbinder immer wieder bedient. Sprache und Schrift, die sonst nur zwei unter vielen möglichen filmischen Zeichensystemen sind, erhalten dadurch eine herausgehobene Bedeutung. Das Wechselspiel von Aufblende, Voice-over und Schriftbild rekonstruiert den Leseakt und dessen Verknüpfung von lautlichem Zeichen, Gedankenbild und Visualisierung des Gedankenbilds. Zugleich greift die Technik der weißen Aufblende auf das Medium der Malerei zurück. Für Kandinsky führt die Darstellung der weißen Fläche zur Selbstreflexivität der Malerei (Kandinsky 1955, 139, 168), Rodtschenko, der im Manifest der Konstruktivisten die „Augen für die Fläche öffnen“ will, erscheint im Anschluss an Malewitsch das Quadrat auf der reinen weißen Fläche als ihre Nullform (Spielmann 1994, 143 f.; Rodtschenko 1988, 184 f.).
13.5 Konstruktion von Identität: Der Himmel über Berlin (1987)
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Der mediale Rückgriff nimmt also nicht allein Bezug auf die moderne Medienkonkurrenz von Bild und Schrift, sondern er stellt sie zugleich zur Disposition. Ganz bewusst verzichtet dieser Film in weiten Passagen auf die volle Entfaltung seiner spezifisch kinematographischen Mittel. Für die semiotische Beziehung von Text und Bild heißt dies im vorliegenden Fall auch, dass Drehbuch und Text fast identisch werden (Wenders 1992, 246–248). Allein der Sprache fällt die Verknüpfung von visueller Wahrnehmung, Imagination und Erinnerung zu. Das von Sprache und Schrift inszenierte Gedankenbild tritt dem visuell wahrgenommenen Bild gleichrangig an die Seite. Der Präsentation von Fläche und Schrift in der Eingangssequenz von Wenders Film korrespondieren in der Folge die Weitwinkelaufnahme, die ebenfalls den dynamischen Handlungsraum des Films in Fläche zurückverwandelt, ebenso wie die flächig wirkenden Schuss- und Gegenschussbilder und die durch den Wechsel von Farb- und Schwarz-Weiß-Bildern erzeugte Brechung des perspektivischen Wahrnehmungsraums (33:56 f., 1:25:29 f., 1:39:29, 1:50:56 f.). Sie erschließt sowohl Szenen der Liebe (33:15), als auch Bilder der Vergangenheit (38:20, 51:22). Unter diesen Voraussetzungen bedarf das Medium des Films nicht der seit den zwanziger Jahren favorisierten technisch-optischen Simulation von Raum, vielmehr setzt es wie das Erzählen auf die Mobilisierung imaginativer Raumbilder. Allerdings verzichtet Wenders nicht einfach nur auf avancierte filmische und kinematographische Mittel, sondern er funktionalisiert diese Rücknahme, entfaltet sie selbst als Spiel. Die Flächenbilder werden bewusst den perspektivischen Blicken von oben, aus der Engelswelt, entgegengesetzt, die Intermedialität, die der Film durch die enge Bindung von Wort und Bild betont, wird zugleich als Intertextualität entfaltet (Abb. 13.1) (36:45). Die Engel korrespondieren einem literarisch mehrfach codierten Bild des Engels, der Handlungsraum Berlin wird in einen Geschichtsraum verwandelt, der auf einen nicht zufällig fast blinden Erzähler angewiesen ist und dabei mythisch überhöhte Ereignisse wie Menschwerdung und Sprachwerdung ebenso zeigt wie die Raumordnungen, die ihn selbst strukturieren (38:15).
Abb. 13.1 Still aus Wim Wenders/Peter Handke: Der Himmel über Berlin, 02:34
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Dies führt zu einem Funktionswandel wie zu einer Autonomisierung der visuellen und der schriftlichen Zeichen. Bild und Schrift bilden nicht ab, sondern sie organisieren bewusste und unbewusste Wahrnehmungen, die Erinnerungen und Phantasien freisetzen. Die Bedingtheit der Wahrnehmung wird gerade dadurch evident, dass das Medium auf seine einfachen Elemente reduziert wird und weder auf Illusion noch auf Suggestion aus ist. Wenders Film ist von langsamen Bildern geprägt, die in völligem Gegensatz zum herrschenden Trend der auf immer schnellere Wechsel fixierten visuellen Wahrnehmung stehen. Ohne Zweifel orientiert er sich hier an den Einstellungen von Yasujiro Ozu, an der experimentellen Wandlung des perspektivisch organisierten Filmbildes zum flächigen Display, über das Godard äußert: „Ce n’est pas une image juste, c’est juste une image“ (Bordwell 1997, 28 f.). Auf diese Weise wird die historische Abfolge der dominanten Medien revoziert, das avanciertere Medium des Films kehrt zu Strategien der vorangehenden Medien von Schrift und Sprache zurück. Aus der ursprünglichen Konkurrenz der Medien von Schrift und Bild entsteht deshalb in diesem Autorenfilm eine neue Form ihrer Interaktion. Das Erzählen von Homer stiftet Kontinuität im Wechsel der Bilder. Der aus vielen Filmen bekannte Peter Falk tritt als er selbst und als Schauspieler auf, seine Rolle folgt dem Rollenspiel der Sozialisation und schafft einen spezifisch narrativen Code (46:10 f.). Vor allem durch diese Wechselwirkung von Schrift, Wort und Bild entsteht die von Handke angestrebte „Gemeinsprache“, die Sprache nämlich, „die jedem vertraut ist“ (vgl. FF 76). Damit finden Handke wie Wenders zu einer neuen Moderne. In Wenders Film will der Engel vom „zeitlosen Herabschauen“ zum „Aushalten eines jähen Anblicks“ kommen und Mensch werden, um sich „eine Geschichte erstreiten“ zu können (Wenders 1987, 84). Handke dagegen versucht, ein „Menschenkind“ zu bleiben, indem er zu einem Schreiben jenseits des Wissens, zu einem „Heraus aus der Sprache“ kommt (GB 94). Der Engel Cassiel, der wie Handkes Loser das Verlorene durch Sprache und Zeichen zugleich wiederholen will, spricht mit Worten, die an den Epilog des Chinesen des Schmerzes erinnern: „Ernst bleiben! […] / Nichts weiter tun als anschauen, sammeln, bezeugen, beglaubigen, wahren! Geist bleiben! Im Abstand bleiben! Im Wort bleiben!“ (Wenders 1987, 255; CS 251 f.). Der Text, die Statik der Filmbilder von Wenders und die mythischen Bilder von Handkes Erzählen konvergieren in dieser Hinsicht entschieden. Diese doppelte semiotische Strategie leugnet die postmoderne Infragestellung des Mediums Schrift, sie geht zugleich hinter den modernen Glauben an die Allmacht des Bildes zurück, weil die Sprache kein Medium von Herrschaft mehr sein darf. So kommt es in Wenders Film durch die Inserts des Handkeschen Textes wie durch die zum Sprechen gebrachten Bilder der Figuren zu einer Dekonstruktion des Mediums Film durch den Film selbst: Sie korrespondiert entschieden der erzählten Abwehr der Filmbilder und ihrer falschen Suggestionen in Handkes Text über den Bildverlust. Der „Naturschatz“ an Bildern ist aufgebraucht, so heißt es dort, und der Mensch „zappelt als Anhängsel an den gemachten, serienmäßig fabrizierten, künstlichen Bildern, welche die mit dem Bildverlust verlorenen
13.6 Visuelle Einschreibungen: Mal des Todes (1986)
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Wirklichkeiten ersetzen, sie vortäuschen und den falschen Eindruck sogar noch steigern wie Drogen, als Drogen“ (BV 744). Im Himmel über Berlin dagegen verstehen Handke wie Wenders Sprache und Schrift erneut als sinnstiftende Bezugssysteme, die sich nicht nur gegenüber dem Bild als dem Medium der neuen Zeit behaupten, sondern dieses sogar erst erschließen. Nicht zufällig ist die Handlung des Films durch ein zweites Insert mit einem Text abgeschlossen, der an den ersten unmittelbar anschließt: „Ich weiß jetzt, was kein Engel weiß“ (Wenders/Handke 1987, 168), schreibt Damiel, und der Film setzt hier alles auf Wort und Schrift. Programmatisch äußert Wenders: „Ich glaube nicht an vieles in der Bibel, aber doch, inbrünstig, an diesen ersten Satz: ‚Im Anfang war das Wort.‘ Ich glaube auch nicht, dass es einmal heißen wird: ‚Am Ende war das Bild…‘ Das Wort wird bleiben“ (Wenders 1992, 197).
13.6 Visuelle Einschreibungen des Eigenen: Mal des Todes (1986), Die Abwesenheit (1992), Die schönen Tage von Aranjuez (2017) Kennzeichen dieser drei Verfilmungen ist eine große Nähe zu den jeweiligen Textvorlagen. Bei Die schönen Tage von Aranjuez und der Abwesenheit ist das naheliegend, bei Mal des Todes, das sich auf Handkes Übersetzung eines Textes von Margrit Duras bezieht, wird eine Nähe gleichwohl dadurch hergestellt, dass die Verfilmung ein Arsenal von Bildern benutzt, die Handkes Werk prägen. Dies gilt auch für die Verfilmung der Abwesenheit, mit der Wim Wenders die Bilder der Textvorlage noch durch solche ergänzt, die anderen Texten von Handkes Werk angehören. Die drei Filme sind deshalb nicht allein durch die Linearität ihrer Handlung bestimmt, sondern auch durch eine aleatorische Bildverwendung, die zugleich intertextuelle und intermediale Perspektiven eröffnet. Neben die Umschreibung anderer Texte, die Einschreibung des Eigenen in das Andere und die intermediale Transformation tritt das Prinzip einer Variation, das wie in den Texten ein sich autonomisierendes Feld von Zeichen hervorbringt. Dies scheint keineswegs zufällig. Vielmehr spricht alles dafür, dass Handke als Regisseur und Berater auch im Medium des Films seine Strategien des Erzählens durch die Vernetzung von Wort und Bild ebenso wie seine Vorstellungen von Autorschaft durch Visualisierung bekräftigen will. Dazu passt, dass er in den Schönen Tagen und in Mal des Todes auch als der wirkliche Autor Handke erkannt werden kann. In den Schönen Tagen tritt er als Gärtner auf und trägt natürlich eine Leiter (49:20), in der Abwesenheit verabschiedet er zusammen mit Luc Bondy den alten Mann, der sich zu seiner Wanderung aufmacht und redet ihn mit dem Namen Antonio aus den Schönen Tagen an (14:07). In Mal des Todes spricht er nicht nur aus dem Off, sondern am Ende auch selbst als Person (56:40 ff.). Gerade diese drei Filme nutzen die Gelegenheit, die intensiven Natur- und Landschaftsbeschreibungen aus Handkes Texten zu visualisieren. Dabei fällt eine Konzentration auf den Wechsel der Jahreszeiten auf, die Kontrastierung von Schnee und Pflanzen, eine Reihe unterschiedlicher Bilder von Wasser als Meer,
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13 Die Konkurrenz von Wort und Bild
Fluss, Kanal oder auch als Regen, vor allem aber immer wieder Landschaftstableaus, die psychologisiert oder den Stadtbildern entgegengesetzt werden. Viel deutlicher auch als in den Texten kann auf der Tonspur des Films Handkes obsessive Abwehr aller Formen von Zivilisationsgeräusch, dem Zeichen für den Einbruch der geschichtlichen Welt und ihrer Formen der Gewalt, hervortreten. Sie ist, besonders in der Abwesenheit, nicht nur durch die Technik des abrupten Schnitts unterstrichen. Sie wird auch wie in den jeweiligen Textvorlagen zur Metapher für eine Poetologie, welche die Erfahrung der Stille als Voraussetzung der angemessenen Wahrnehmung wie des Schreibens auffasst und im Lauschen und Hören auf das Meer oder das Rauschen der Bäume zu einer Erfahrung befähigt, die wie aus der Zeit gefallen erscheint (MdT 39:47; AR 7:30; AF 49:35). Mal des Todes (Abb. 13.2) schildert in langen Einstellungen, die eher eine kaleidoskopische Bilderfolge als eine Geschichte zeigen, eine Begegnung von Mann und Frau, die sich, ohne die Identität der beiden zu konturieren, auf die Visualisierung und Kommentierung des sexuellen Begehrens konzentriert. Dabei wird gleichzeitig unmittelbare Nähe und äußerste Distanz inszeniert. Eine fast körperliche Nähe, indem der Film die Frau zum Objekt einer Kamera macht, die ihren Körper immer wieder voyeuristisch präsentiert. Eine immer wieder neue Distanz, indem dieser durch andere Bilder konterkariert wird. Zum einen dadurch, dass die Beziehung zwischen Mann und Frau völlig aus der Perspektive des Mannes gezeigt und erzählt wird. Zum anderen, weil der Körper der Frau durch die Bildsequenzen in ganz unterschiedliche Zusammenhänge rückt. Seine visuelle Präsentation wechselt zwischen der Darstellung von Posen, welche die Frau durch Ambiente und Kleidung wie ein Model zeigen, und einer Fokussierung auf ihren Körper allein, der mitunter fast unverhüllt gezeigt wird (31:08). An anderen Stellen ist er so durch gemalte Bilder überblendet, dass er wie mortifiziert erscheint. Es sind Fresken, auf denen die Gesichtszüge der Figuren nur zum Teil erkennbar sind (24:10, 31:40, 40:49). Sie entstammen dem sogenannten ‚Fürsteneinzug‘ im Schloss Freisaal, der von einer Darstellung der Kardinaltugenden durch allegorische Frauengestalten begleitet ist. Sie werden durch
Abb. 13.2 Still aus Peter Handke: Mal des Todes, 31:08 (ORF)
13.6 Visuelle Einschreibungen: Mal des Todes (1986)
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Grisaille-Bilder ergänzt, die neben Schlachten und Szenen aus der römischen Antike Vorbilder antiker Tugendhaftigkeit wie Mutius Scaevola oder Lucretia abbilden. Das Thema der Leidenschaft, das der Film behandelt (41:35), wird durch diesen gemalten Tugendkatalog entschieden konterkariert. Diese Brechung wiederholt sich, wenn neben das Filmbild des fast unbekleideten Körpers der Frau die Darstellung seiner Silhouette rückt, die nur Konturen erkennen lässt (23:35). Dem korrespondiert, dass der Film immer wieder Natur- und Landschaftsbilder durch symbolische Konnotation auf einen sexuellen Inhalt bezieht (6:43–6:47). Mit dieser spezifisch kinematographischen Strategie auf der Bildebene verbindet dieser Film eine weitere auf der Tonebene. Die Bildsequenzen werden durch die Stimme Peter Handkes aus dem Off kommentiert. Dieser spricht dabei den Zuschauer zunächst mit der Anrede ‚Sie‘ (4:50) an, bevor er als Sprecher und Figur die Bildfolgen zugleich auf sich und das Thema der Liebe bezieht und in das ‚Du‘ überwechselt (58:11). Diese mediale Konstruktion erschließt einen psychologischen Subtext. Das Auge der Kamera hebt die Distanz zwischen dem Sprecher und den Bildern auf, indem sein Fokus den männlichen Blick nachstellt. Die so gesteuerte Blickführung lässt die Strategie des technischen Mediums und die Psychologie des Sehakts zusammenfallen. Diese Koinzidenz wird in den Bildfolgen auch zum Thema. Immer wieder richtet sich die Kamera auf das Auge der Frau, doch gerade diese Bildeinstellung hat eine doppelte Funktion. Zum einen zeigt sie das Auge als Körperorgan, wenn sie Tränen in ihm erscheinen lässt (24:24). Diese sind eine Reaktion auf den gesprochenen Text aus dem Off ebenso wie auf die immanente Logik der Bilder. Zum anderen ist das Auge der Frau zugleich das Instrument für die Etablierung eines Gegenblicks (12:00). Die filmische Strategie von Schuss und Gegenschuss wird so entschieden psychologisiert. Dem Blick des Mannes, der eins ist mit dem des Filmzuschauers, widersetzt sich der Blick der Frau. Bereits zu Beginn ist dieser Gegenblick in eine aggressive Szene eingefügt: Während der Blick des Zuschauers wie des Mannes das Gesicht und den Gegenblick der Frau erfasst, spuckt diese ihr Gegenüber an (16:50). Die männliche Perspektive, der die Bildsequenzen des Films zunächst folgen, wird auf diese Weise entschieden gebrochen. Dabei ist das Verhalten der Frau eine Reaktion auf die Gewalt, die Teil der Sexualität des angesprochenen Mannes wie des Sprechers aus dem Off ist. Der Film thematisiert dies ausdrücklich. Dass der Körper der Frau nach Misshandlung schreit, bemerkt die Stimme aus dem Off (18:30), Sexualität wird als ein Akt der Unterwerfung benannt, der auf das „Eindringen“ in den Körper der Frau verkürzt wird (6:46). Aus dem männlichen Blickwinkel erscheint diese „immer bereit“ und sie erfüllt dieses Klischee, wenn sie den Mann auffordert, sie zu „nehmen“ (50:40). Dass der Gegenblick allerdings durchaus ambivalent sein und situativ ganz unterschiedliche Reaktionen zur Folge haben kann, wird in einer kurzen Szene an späterer Stelle eindrücklich deutlich. Während die Frau den Mann direkt anblickt – wieder sind seine Perspektive und die des Zuschauers eins – öffnet sie im Sitzen langsam ihre Beine und lenkt den Fokus der Kamera wie den Blick des Mannes
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auf ihr Geschlecht. Doch die Kamera zeigt dieses am unteren Bildrand gerade nicht. Im gleichen Zug hält der unbeirrt auf den Mann gerichtete Blick der Frau diesen auf Distanz. Diese zwei gegenläufigen Körpersignale subvertieren durch ihre Gleichzeitigkeit die Dominanz wie die eindeutige Gerichtetheit des männlichen Begehrens. Die Frau, die in den ersten Bildsequenzen bloßes Objekt des männlichen Blicks zu sein scheint, entzieht sich dem Mann: Eben in dem Augenblick, in dem sie ihr eigenes Begehren zeigt, wird sie auch zur Sprecherin. Doch ihre Aufforderung „Nimm mich“ (51:05) mündet in ein double bind, das durch widersprüchliche Körpersignale evoziert wird. Zugleich korreliert diese visuelle Inszenierung einer sprachlichen. Die Szene illustriert eine psychische Spannung, welche die Frau mit der Formel vom Begehren des Begehrens des anderen zum Ausdruck bringt (49:40). Dieser schon im Journal Vor der Baumschattenwand unter der Rubrik der „11 Gebote“ notierte zentrale Satz Jacques Lacans wird zur Leitformel der visuell vorgestellten Begegnung (Lacan Seminar I, 226 f.; VB 420 f.). Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die besondere Rolle der Sprache in diesem Film. Obwohl auch die Frau zu einer Sprecherin wird, privilegiert das Wort am Ende doch den männlichen Blick auf doppelte Weise. Nicht nur deshalb, weil die männliche Wahrnehmung der Frau durch eine sprachliche Kommentierung aus dem Off begleitet ist, sondern vor allem deshalb, weil der Mann auch als ein Erzähler etabliert wird. Er berichtet zunächst die Geschichte eines Kindes, dessen eingeblendete Lebensdaten eine Nähe zur Geschichte des Autors vermuten lassen (45:10). Darüber hinaus wird der Sprecher aus dem Off von Anfang an zugleich als Schreiber charakterisiert. Bereits die erste Szene beginnt wie Der Himmel über Berlin damit, dass sie einen Text zeigt, der gerade entsteht. Der endgültige Titel des Films wird erst im Weg einer Reihe von Durchstreichungen gefunden (2:00). Am Schluss des Films rücken Bleistifte ins Bild, die zweifellos das Schreibwerkzeug des Autors Handke zeigen, der als Sprecher und Schreiber eine zentrale Rolle zugewiesen bekommt. Dieser Sachverhalt ist in doppelter Weise von Bedeutung. Er markiert zum einen die Interaktion zwischen den Medien von Bild und Text, die ein zentrales Thema von Handke und Wenders ist. Zum andern weist sich Handke, dessen Film ja seine Übersetzung von Margarete Duras zugrunde liegt, wiederum als ein Wiederholer aus, er eignet sich einen Text an, indem er ihn durch Bild und Schrift transformiert. Den inhaltlichen Vorgaben des Textes von Duras folgend ist das Thema der Sexualität mit dem des Todes verbunden. Der Tod scheint von der Frau auszugehen (35:10), Krankheit und Tod können an ihr wahrgenommen werden (33:50). Dadurch erhalten die gezeigten Szenen eine existentielle Kontur, die diesen Film mit den erzählten Lebensentwürfen in anderen Texten Handkes verbindet. Dabei folgt die Darstellung der Begegnung mit einer Frau, die nicht nur Lust verspricht, sondern zugleich immer an den Tod erinnert, einem Phantasma, das auch die zentrale sexuelle Begegnung von Mann und Frau in Kali prägt (K 93 f.). Von Anfang an sind damit Bilder des Sehens (19:09–19:29) und des Todes miteinander verknüpft (20:07–20:21). Der Blick des Mannes erfasst die visuellen Zeichen für die Ambivalenz von Sexualität (21:52), die ein zentrales Thema
13.6 Visuelle Einschreibungen: Mal des Todes (1986)
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Handkes ist. Lust und Aggression, der Vereinigungswunsch und eine fast tödlich erscheinende Fremdheit zwischen Mann und Frau prägen es. In der frühen Formel von der „Sexualität als der letztmögliche[n] Feindschaft“ ist diese psychische Disposition vorgezeichnet (GW 200). Der psychologische Kern für diese Ambivalenz der Gefühle liegt in der Unfähigkeit des Mannes zur voraussetzungslosen Liebe. Ich habe „niemals geliebt“ (31:43) und „Ich liebe nicht“ (40:20), gesteht er der Frau. Damit ist dem Text von Duras eine zentrale Thematik von Handkes Werk überschrieben. Der Hinweis der Autorin, der Text richte sich mit dem Motiv des liebesunfähigen Mannes am Ende gegen einen Homosexuellen, geht fundamental an dieser Einschreibung der eigenen Lebensproblematik in Durasʼ Text vorbei (Struck 2014, 62). Der Autor selbst bemerkt dazu in einem Interview: „Ich habe mich da auch selbst umrissen gefühlt. Es ist ja die Beschreibung der Unmöglichkeit, einen Menschen ganz zu besitzen. Je mehr man besitzt, desto irrealer wird alles […]“ (Müller 1989). Mit dieser Einschreibung einer sehr persönlichen psychologischen Konnotation verbindet sich der besondere Modus, nach dem die Medien von Text und Bild in diesem Filmprojekt interagieren. Dass die Stimme aus dem Off am Ende mit der im Film auftretenden Person des Autors Handke verbunden wird, gibt dieser Verfilmung eine ganz andere Richtung. Im Nachhinein erweist sich, dass das, was als filmische Bilderfolge gezeigt wird, zuerst durch Sprache gestiftet wurde. Von Anfang an war alles Geschehen nichts anderes als eine Wortschöpfung, die keiner abzubildenden Wirklichkeit bedurfte. Eine Schlüsselszene ist in diesem Zusammenhang die eingeblendete Niederschrift „Und dann lauschen Sie jenem Brausen, welches sich nähert. Sie lauschen dem Meer“ (39:56), die anschließend zunächst in eine Reihe von Körperbildern und dann in Naturbilder übersetzt wird, in denen das Meer eine zentrale Rolle einnimmt (1:03 ff.). Es dürfte kein Zufall sein, dass Handkes Film mit einer vergleichbaren Szene beginnt wie einige Jahre vorher Schlöndorffs Verfilmung der Liebe von Swann: Mit einem Schreiben, das die Filmbilder vorzeichnet (Schlöndorff 1984). Dazu gehört auch, dass er die Serie der Bilder immer wieder durch eingeblendete Schrift unterbricht und dass der zentrale Satz „Wie kann das Gefühl, zu lieben, erwachen?“ in einer Aufblende in Schwarz und mit Großbuchstaben eingeschoben ist (48:32). Die eigentümliche Ambivalenz, in der bei Handke sowohl der sichtbare Körper der Frau als auch das Thema der Liebe miteinander verknüpft sind, hat hier ihren Grund. Damit wiederholt sich im Medium des Films eben die Konfiguration, die auch Prousts Recherche bestimmt. Leidenschaft und Unmittelbarkeit sind allererst durch Sprache erzeugt. Diese schafft eine psychische Realität, die sich auf ganz unterschiedliche Weise zum Ausdruck bringen lässt: Durch die visuellen Strategien des Erzählens wie bei Proust ebenso wie durch die filmische Adaption und Transformation von Text bei Handke. Bei welchem Medium Handkes Präferenz auch in diesem Filmprojekt ist, wird in den Schlusseinstellungen deutlich. Nach einem Buch am Ufer zeigen sie zunächst Bleistifte und dann wiederum in einer Aufblende in Schwarz ein Zitat von Juan de la Cruz: „O Wort, mein Bräutigam, zeig mir den Ort, wo du verborgen bist“ (1:04:29).
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Es scheint keineswegs zufällig, dass ausgerechnet der Vers des spanischen Mystikers, der Mal des Todes beendet, ziemlich zu Beginn der Verfilmung der Abwesenheit von einem alten Mann gesprochen wird, dessen spätere Abwesenheit die Grundfigur dieser Erzählung darstellt, weil sie das Verhalten der anderen Protagonisten entscheidend beeinflusst (9:30). Nicht zuletzt durch diese Verknüpfung zweier Filmprojekte Handkes wird deutlich, dass dessen Filme insgesamt Fortschreibungen und Variationen zentraler Themen ins Bild setzen, die auch seine Texte bestimmen. Wie in diesen entsteht deshalb auch in den Filmen ein übergreifender Zusammenhang, der sie miteinander vernetzt. Zunächst führt dies dazu, dass die Textvorlage im Film kaum verändert wird. Auch dort finden sich vier Personen wie zufällig, um anschließend einen gemeinsamen Weg zu gehen, dessen Ziel sie zu Beginn nicht kennen. Außer dem alten Mann sind es ein Soldat, ein Spieler und eine junge Frau. Die narrative Ebene des Films zeigt ihren Aufbruch, den Weg, den sie sich durch Natur und Landschaft suchen, und ein Zusammenfinden am Schluss. Kinematographisch auffällig ist, dass vorwiegend nur die Stationen dieser Wanderung einen dreidimensionalen Raum als Handlungsraum zugeordnet erhalten. Sobald sich die Figuren bewegen, dominiert dagegen die Visualisierung einer Abfolge von Landschaftsbildern, die wie eine Serie von Diaprojektionen erscheint. Sie zeigen die Figuren, die zumeist in eine Totale eingefügt sind, nur von Ferne (1:00 ff.). Es ist eine Technik der Distanzierung, die sich dem epischen Erzählen des mittelalterlichen Epos ebenso vergleichen lässt wie vielen Filmanfängen im modernen Westernfilm, die beide gleichermaßen die Bewegung des Protagonisten im Raum durch eine distanzierende Totale fokussieren. In der Abwesenheit wird dieses Verfahren der Präsentation noch dadurch intensiviert, dass die Abfolge von Landschaftstableaus durch Zeichnungen unterbrochen wird (53:00 ff.). In diesem Szenario wird das Thema der Abwesenheit dadurch visualisiert, dass der alte Mann im Verlauf des gemeinsamen Wegs verschwindet und es den Protagonisten nicht gelingt, ihn wiederzufinden. Doch abweichend vom Buch endet der Film mit einem Monolog der Frau des alten Mannes, die seine Person so schildert, dass vieles von dem, was er vorher gesagt hat, konterkariert wird. Die übrigen aus dem Buch übernommenen Motive und Handlungselemente werden -unabhängig davon, dass auch Verschiebungen vorgenommen werden- im Film so in visuelle Bausteine verwandelt, dass ihre Bedeutung durch die filmtypische Kadrierung des Bildraums optisch klar hervortritt. Sie favorisieren durch ihre Ikonik eine eindeutige Lesart, bevor sie kontextualisiert werden. Dies gilt insbesondere für Bildeinstellungen, die wie Illustrationen zu Leitbegriffen des Handkeschen Erzählens erscheinen. Dazu gehört der Zwischenraum, der einen Durchblick erlaubt, er ist sowohl beim Aufbruch der Frau als auch bei dem des alten Mannes durch einen Weg markiert, der offensichtlich zu Handkes Haus in Chaville führt (6:59; 14:31), später wird sich dieser Blick in der Landschaft wiederholen (1:32:26). Dem korrespondiert der Aufbruch des Soldaten, der mit dem Durchschreiten eines Tunnels beginnt, ein ebenfalls häufiges Motiv der Erzählungen (21:35). Dieses verdichtet sich in einem Naturbild, das zugleich
13.6 Visuelle Einschreibungen: Die Abwesenheit (1992)
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eine Wendemarke in der Beziehungskonstellation der Figuren bedeutet. Die junge Frau und der Spieler rasten vor einem Felsen, der einen portalähnlichen Einschnitt aufweist, der in sein Inneres führt. Unter diese standardisierten Bildeinstellungen gehören das Szenario der Lichtung und einer freistehenden Hütte (1:30:37) und einzelne Motive wie die Leiter, die als ikonisches Zeichen für ein anderes Wissen sowohl hier (29:59) als auch in den Schönen Tagen von Aranjuez gezeigt wird (ARF 49:20; GU 550 f.). Dahin gehören auch der Blick aus einem fahrenden Bus oder die Weidezäune, die den betrachteten Landschaften ein Muster einzeichnen. Am Anfang stehen vier Aufbruchsszenen. Die Frau wird in ihrem Haus gezeigt, der Soldat bei seinen Eltern, der alte Mann spricht in seinem Haus mit seiner Frau und nur der Spieler befindet sich von Anfang an in einem öffentlichen Raum. Die Bewegung der Figuren wird durch die Bilder des Films auf einzelne Stationen fokussiert, dabei wird die Tatsache, dass sie von überallher kommen, in einer Einstellung deutlich, in der die vier an einer Wegkreuzung aus vier verschiedenen Himmelsrichtungen aufeinander zu gehen (21:55–22:50). Diese Konstellation von vier Personen im Raum wird sich später an unterschiedlichen Wendemarken der Handlung und in differenten Landschaftsräumen, etwa bei der Übersteigung eines Bergkamms, wiederholen (1:00–1:40). Der alte Mann ist von Anfang ein Sprecher, er kommentiert das Treffen und gibt das Aufbruchssignal zu einer Pilgerreise, die allerdings nicht an die gewohnten Orte führen soll, sondern zu einer tierra nueva (25:40). Gleichzeitig erscheint seine Rede wie ein Metadiskurs, der die unmittelbare Rede der Figuren umfasst, er könnte ebenso aus dem Off gesprochen sein. Das macht dieses Filmprojekt der Präsentationstechnik von Mal des Todes vergleichbar. Noch ein anderes Element verstärkt die Spannung zwischen visualisierter Handlung und Sprache. Der alte Mann spricht Spanisch, der Soldat und die junge Frau Französisch, der Spieler Deutsch. Diese Sprachmischung verdichtet sich in einer Szene, in welcher der alte Mann die Aufforderung zum „Hören“, die am Beginn der neuen Erfahrungen steht, auf lateinisch, griechisch, spanisch und deutsch ausspricht (49:35). Die Untertitelung der Bildsequenzen und die Mischung der Sprachen schaffen also nicht nur Distanz, sie korrespondieren auch dem Prinzip der Plurilingualität, das Handkes Texte ebenfalls praktizieren. Der Zuschauer folgt deshalb einer Reise im Raum und in der Sprache zugleich. Da die Landschaften immer wieder mit Zivilisationsbildern und -geräuschen kontrastiert werden, Mountainbikern, Joggern, Wanderern, Autos, Bahnen und Flugzeugen (25:50, 34:30, 51:00), erscheint die Wanderung der vier zugleich als eine Bewegung durch die Zeit, die ihren Bereich mit Bildern der modernen Zivilisation kontrastiert. Dies wird noch in anderer Hinsicht deutlich. Der Eintritt in eine Landschaft, die alle Wandernden als ein anderes Reich wahrnehmen, ist nicht nur durch einen Gendarmen, sondern auch durch einen römischen Grenzstein markiert, der mit der Inschrift D. I. M. (‚Deo invictae Mithrae‘) als Relikt einer vorchristlichen Zeit erkennbar ist (55:35–57:30). Diese Raum- und Zeitschwelle wird in Übereinstimmung mit Handkes immanenter Poetologie vom alten Mann als Übergang in ein Land ohne Zeichen gedeutet. In der Perspektive des Autors Handke heißt dies, dass es die Zeichen für die Entzifferung dieses Bereichs
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erst noch zu finden gilt. Die Suche der Protagonisten richtet sich damit auf eine andere Wahrheit oder eine neue Form der Erkenntnis. Gleichzeitig werden eindeutige Referenzen auf die Wirklichkeit gezeigt. Die Wanderer finden ein Paket mit einem Zeitungsausschnitt, dessen Titel auf das Attentat gegen den spanischen Minister Carrero Blanco im Jahr 1973 verweist und dafür das Wort „Verschwinden“ benutzt. Daneben bemerken sie Bücher, die sich auf Traumerzählungen und die Märchen der Gebrüder Grimm beziehen. Weil die Wandernden zusammen mit diesen auch das Bild eines Jungen im Matrosenanzug finden, eröffnen sich zugleich ein kultureller und ein familialer Kontext für ihre Reise. Beide hängen sehr eng mit der psychischen Entwicklung der Protagonisten zusammen (59:59). Es entspricht einem weiteren Element von Handkes Poetologie, dass für den alten Mann die Grenzüberschreitung eine Rückkehr bedeutet, die Wiederholung einer Erfahrung, die er schon vor langer Zeit hatte und die er jetzt seinen Mitwanderern zugänglich machen möchte. Auch dies markiert den besonderen Charakter dieser Reise, die nach einer Busfahrt jetzt nicht zufällig allein noch im Gehen fortgesetzt wird. Zudem charakterisiert der alte Mann diese Fortbewegung in Übereinstimmung mit einer zentralen Leitfigur von Handkes Erzählen als Voraussetzung für einen besonderen Modus der Wahrnehmung und der Gewinnung von Erkenntnis (50:00–51:50). Äußerlich führt diese Wanderung aus der Zivilisation hinaus. Sie wird zur Suche nach einem Bereich der Stille, der wie eine Visualisierung der ‚anderen Zeit‘ erscheint, nach der viele Protagonisten der Texte Handkes suchen. Der alte Mann spricht dies aus und wendet sich zugleich gegen eine Zivilisation, die diese Stille verloren hat (1:03). Seine Rede bezieht den Film damit auf das im gleichnamigen Roman ebenfalls zentrale Motiv, das dort im Lied an die Stille benannt wird (1:14; A 175, 176). Gleichzeitig wird deutlich, dass diese Reise ins Unbewusste führt. Von der Frau wird die Wanderung als „Pilgerreise in uns selbst“ bestimmt (58:22), und in der Tat erfahren die Protagonisten mehr über sich selbst und ihre Beziehung zu anderen. Motivisch wird ihre Wanderung am Ende mit dem Text des Grünen Heinrich verbunden, in dem für Handke eine vergleichbare Parallele zwischen der Bewegung im Raum und der Selbsterfahrung exemplarisch vorzeichnet ist (1:41:12). Als tertium comparationis verbindet dieser Bezug auf Gottfried Keller den Film der Abwesenheit motivisch mit Mal des Todes. Dort liest der begehrende Mann nicht anders als der alte Mann der Abwesenheit einer Frau den Grünen Heinrich vor, um so – dem Protagonisten des Kurzen Briefs vergleichbar – seine Selbsterfahrung im Modus einer literarischen Chiffrierung auszudrücken. Grundsätzlich zeichnet die Bewegung der Personen durch den Raum eine zentrale Figur der späten Erzählungen Handkes nach, die häufig das Baugesetz der mittelalterlichen aventiure nachstellen, das durch einen Dreitakt von Aufbruch, Reise zum Ziel und Rückkehr zum Ausgangspunkt bestimmt ist. Nicht anders als im Roman verändert die Abwesenheit des alten Mannes allerdings das Verhalten der übrigen Personen grundsätzlich (1:17). Ihr Suchen und dann ihre Suche nach ihm erscheinen deshalb so aussichtslos, wie ihr Weg von Anfang an
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nach den Normen der realen Welt ziel- und planlos war. „Wer sucht, findet nicht“, kommentiert der Soldat am Schluss mit Worten Kafkas ihren Weg, den er als einen bloßen Traum und für beendet erklärt. Im gleichen Zug erklärt die junge Frau dem Spieler, dass der Weg, den man durchschritten hat, ihnen nichts als eine chimärische Welt erschlossen habe (1:34). Gerade dies korrespondiert der Textvorlage, in der die Abwesenheit des alten Mannes dazu führt, dass die Wahrnehmung der anderen zu einem „Innewerden“ (A 185) gesteigert wird und ihr Weitergehen wie ein „beständiges, unablässiges Ankommen“ erscheint (A 186). Ihr Weg verwandelte sich in eine Suche, die jeden in sein Eigenes führt, die Räume, welche die Personen durchschritten, änderten nichts daran, dass jeder von ihnen, so die Kommentierung, „im Exil überall“ blieb (1:01), eben dies charakterisiert ihre tierra nueva. Die Koordinaten dieser Reise zum eigenen Selbst, die sich mit der äußeren Bewegung im Raum verknüpft, werden deutlicher erkennbar, als die Protagonisten alle zusammen in einem Gasthof versammelt sind und von sich zu erzählen beginnen. Dabei zeigt sie die Kamera zunächst von vorn und nebeneinander wie das rudimentäre Tableau eines Abendmahls. Die Erzählungen der vier erweisen sich damit als geheime Gegengeschichte zur Reise. Sie liefern zu den Außenbildern der Landschaft die inneren Bilder, die diese in den Wandernden mobilisiert haben. Deshalb reichen sie sowohl in die historische Zeit als auch in die Geschichte der Psychogenese. Die Erinnerungen des Spielers mobilisieren Bilder seines Vaters und seiner Mutter. Wie im Wunschlosen Unglück wird die Mutter als aus der Gesellschaft Ausgestoßene erinnert (IS 17). Sie richtet einen feindlichen Blick auf das Kind, das ihr entgegenkommt, während der Vater vor einem Holzkreuz als ein ermatteter Mann erscheint, der nicht will, dass der Sohn bei ihm bleibt (1:09:31). Es ist eine Konfiguration, die Handkes Erzählungen ebenso wie seine Journale durchzieht. Die entscheidende Metapher, die diesen Film zudem mit Handkes Immer noch Sturm verbindet, ist der Hinweis des Spielers darauf, dass er sich in der Landschaft von seinen Eltern erblickt fühlt (1:09). Der Soldat erinnert sich an einen Fensterblick aus seiner Kindheit in eine freie Ebene, die er sich bebaut wünschte. Die Bilder der nachfolgenden Zivilisation beherrschen seine Erinnerung, bis ihm klar wird, dass sein Vater, ein Maler, die später völlig veränderte Landschaft auf seinen Bildern immer noch als unberührte malte: Aus einem kleinen Durchblick rekonstruierte er die ursprünglich leere Ebene (1:11). Diese Konstellation liefert zugleich das zentrale Bild für die Wanderung der vier, denn der Soldat schildert, dass er immer durch die Landschaft und dabei auch durch die Bilder seines Vaters gegangen sei (1:11:53). Doch weil dieser Vater nicht mehr lebt, verwandelt sich die Erinnerung in eine Rede vom Verlust, die zu dem Ausruf „père apparais!“ führt, sie setzt sich später bei Wiederaufnahme der Suche fort und verbindet sich dann mit einer Geste erhobener Arme, die an eine Gottesanrufung erinnert (1:12:16, 1:28:54). Der Imperativ „apparais“ bewegte sich ohnehin linguistisch nicht mehr im Feld realer Erfahrungen.
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Durch einen nachfolgenden Schnitt werden ein Raum- und zugleich ein Diskurswechsel markiert. Die Widerstände, die sich dem utopischen Projekt entgegensetzen, werden deutlich dadurch, dass die historische Zeit zum Thema wird. Als die Kamera statt des Gastraums ein Bett zeigt, hinter dem eine rohe Felswand zu sehen ist, erklärt sich der alte Mann zwar bereit für die Stille, fragt sich aber zugleich, ob er diese in der gegenwärtigen Zeit überhaupt noch finden kann (1:12:30). In Wahrheit ist die Zeit der Stille vorbei, er erzählt, was er ihr verdankt, und schildert zugleich, dass sie ihn hochmütig machte. Dabei wünscht er sich seine frühere Empfänglichkeit zurück, denn sie ist die „Mutter der Phantasie“. Die von ihm angesprochene Zeitkritik setzt sich in der Rede der jungen Frau fort. Sie führt auch beim Filmzuschauer zu einem Illusionsbruch, denn die Frau beschimpft nicht nur den alten Mann als Lügner, sie bezeichnet zugleich die römischen Überreste, die sie ebenso wie die Zuschauer des Films gesehen hat, als Attrappen und Filmdekorationen. Die Namen Euphrat und Tigris gelten nicht mehr für sie, das Land der tierra nueva, das der Film opulent bebildert hatte, ist für sie nichts anderes als „le vide vide“, eine vollkommene Leere (1:16:14). Der Präsenz, die das Medium des Films suggerierte, setzt sie die Erfahrung entgegen, dass die Vergangenheit nicht mehr rückholbar ist. Dieser Verlust wird eindrücklich durch eine Bildkonfiguration visualisiert, die das Repertoire des Mediums der Malerei aufgreift. In einem der wenigen harten Schnitte des Films, der zugleich einen Orts- wie einen Zeitwechsel inszeniert, sieht man die Frau des alten Mannes als Rückenfigur am offenen Fenster. Es ist eine zentrale Konfiguration der romantischen Malerei (1:16:19), die bei Caspar David Friedrich das Bewusstsein des Verlorenen in Zeit und Natur thematisiert. Doch gleichzeitig erscheint diese visuelle Konfiguration wie eine Traumszene, das Filmbild erlaubt keine eindeutige Lesart, sondern bringt seine Ambivalenz als Medium der Abbildung und des visualisierten Imaginären zugleich ins Spiel. Als von oben eine Stola in den Arm der Frau fällt, verhüllt sie mit dieser ihr Gesicht und scheint in einen Traum zu verfallen. Der folgende Schnitt, der wieder einen Ortswechsel einleitet und die Kamera auf die junge Frau fokussiert, die über ihr Zuhause spricht, könnte deshalb auch eine Traumsequenz einleiten. Zumindest jedoch wird der Filmbetrachter in eine grundsätzlich Unsicherheit geführt, weil er die Authentizität des Filmbildes nicht überprüfen kann. Die spezifische Simulationstechnik des Films vernetzt auf diese Weise das Reale mit dem Imaginären. Gleichzeitig spricht die junge Frau über einen Traum, in dem sie sich als letzten Menschen vorstellt. Diese Sequenz markiert nicht allein deshalb einen fundamentalen Einschnitt der Handlung, weil der alte Mann jetzt verschwunden ist (1:16:49), er leitet auch eine Wiederholungsstruktur ein, in der die inneren Bilder der Protagonisten diese durch eine Serie von Filmbildern führen, welche die tatsächliche Realität abbilden sollen. Von diesem Wendepunkt aus führt die Reise der verbliebenen drei, die jetzt von der Frau des alten Mannes begleitet werden, zwar weiter, aber jeder von ihnen geht zunächst einen anderen Weg und folgt einem sehr persönlichen Ziel. Erst am Ende finden sie unter veränderten Bedingungen wieder zusammen. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Suche nach dem verschwundenen alten Mann im „Grab
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der Kinder des Landes“ (1:22:37) abgebrochen wurde. Die Frau des alten Mannes sucht den Verschwundenen weiter, der Soldat folgt immer noch dem Bild seines Vaters, dessen Wiederkunft er wiederholt beschwört, der Spieler und die junge Frau aber finden jetzt unter neuen Bedingungen zueinander. Ihre Geschichte ist für den gesamten Film von zentraler Bedeutung. Formal und inhaltlich vernetzt sie diesen mit dem Text von Kali und dem Filmprojekt der Schönen Tage von Aranjuez, dabei wird ein intermediales Bildrepertoire erkennbar, das Text und Film miteinander verknüpft. Darüber hinaus gewinnen zwei Aspekte besondere Bedeutung. Zum einen umkreisen die Filme und der Text das Thema des Begehrens zwischen Mann und Frau, das in der komplexen Beziehungsgeschichte des Films eine übergreifende Leitlinie darstellt. Zum andern wird deutlich, dass dieses zugleich durch die Medien von Bild und Sprache erzeugt wird. Dabei zeichnet die visuelle Wahrnehmung des Anderen durch den Blick zunächst eine Steigerung der Leidenschaft vor. In Mal des Todes steigert sich das männliche Verlangen beim voyeuristischen Anschauen der Frau, in Kali sucht die Frau von Anfang an einen Mann, den sie nur von einem Fernsehbild kennt (K 33), in der Abwesenheit schließlich entdeckt der Spieler seine Leidenschaft für die junge Frau, als diese Objekt einer medizinischen Demonstration im Hörsaal ist (A 75). Doch in allen drei Fällen ist das Bild nur der Auslöser der Leidenschaft, deren Intensivierung und Bestätigung erfolgt durch das Wort. Im Dialog von Mann und Frau in den Schönen Tagen, in der suggestiven Rede des Mannes in Mal des Todes, die am Ende auch die Frau zu einer Sprecherin macht, und in der Rede des Spielers in der Abwesenheit, die als Parallelaktion von Wort und Phantasie zugleich visualisiert wird. Dabei gilt hier: Während der Mann spricht, hält die Frau ihre Augen geschlossen (47:30). Wie in vielen der späteren Texte und Stücke Handkes kennt auch dieser Film eine Klimax, die nicht nur Widersprüche aufbrechen lässt und kontrastiert, sondern zugleich einen Gegendiskurs etabliert, der die lineare Entwicklung der Protagonisten konterkariert. Die Frau des alten Mannes wird am Ende und ausgerechnet während des Festes der Abwesenheit (1:38 ff.) zu seinem schärfsten Kritiker und demontiert wie auch die junge Frau alle utopischen Formeln, die er benutzt hatte. Dabei zerstört sie die zentrale Utopie des Mannes mit den Worten „Es ist nicht mehr möglich, in der Stille zu leben“ (1:38:39). Was in der Textvorlage der Abwesenheit zu einer verdeckten Selbstkritik des Autors Handke an seinen literarischen Konfigurationen wird, weil für die vergangene Zeit keine „Wiederkehr“ möglich ist (A 170), verbindet sich hier mit einer Kritik an der filmischen Simulationstechnik, die im Medium des Films selbst vorgebracht wird. Dagegen beschreibt der Soldat den alten Mann wie einen Weisen, der seine Begleiter durch das gemeinsame Gehen zur Suche nach ihrem eigenen Selbst motiviert (1:24:29), längst Vergessenes wieder in Erinnerung bringt und dem Herumirren, von dem die junge Frau spricht, einen Sinn gibt (28:06, 34:30). Dieser ist nichts anderes als der sonst allein in den Seiten eines Buches verborgene Stoff der Kindheit (1:24:50). Damit deutet der Soldat die prophetische Sprache des alten Mannes, der das Gehen und Hören in pathetischer Weise als Wege zu
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Erkenntnis und Selbsterkenntnis stilisiert hatte, aus einer zugleich psychogenetischen und existentialphilosophischen Perspektive. Er rekurriert damit auf die zentrale Doppelorientierung von Handkes Texten (50:00 ff.). Das Motiv der Kindheit wird darüber hinaus zugleich kinematographisch pointiert. Auf der Tonspur ist eine Maultrommel zu vernehmen, in der Morawischen Nacht das Zeichen einer Welt, die den Anforderungen der Realität entzogen ist (1:26; MN 347 f.). Damit folgt die Tonspur der Strategie der mood music, gleiches gilt für den Einsatz der Kantaten von Schütz, die während des Essens im Gasthof aus dem Off eingespielt werden. Dass solche akustischen Signale gleichzeitig Zeitmarken setzen, zeigt sich am Schluss. Die Rede der Frau des alten Mannes wird durch das Geräusch von Helikoptern fast übertönt. Was in diesem Moment nur vermutet werden kann, bestätigt der Fortgang des Festes der Abwesenheit, der die zunehmende Aggressivität zwischen einigen Teilnehmern einer geschichtlichen Realität zurechnet, die diesen Film mit der Thematik des Großen Fall verbindet. „Der letzte Krieg hat schon begonnen, nur Sie wissen es noch nicht“, äußert eine der teilnehmenden Frauen zu ihrem Gegenüber. Damit wird ein Zeichen eingelöst, das den Film von Anfang an durchzieht. Bevor der Soldat mit seiner Suche beginnt, spricht er auf seinem Posten Worte, die sich zunächst nicht verstehen lassen (17:30), später zeigt sich, dass er sie sich auf die Hand geschrieben hat (33:34). Dies eröffnet eine intermediale Spur zu einem kurzen Notat in Gestern unterwegs (GU 428), denn es handelt sich um drei Namen von Chinesen, die in der Folge der Unruhen auf dem Tianmen-Platz hingerichtet wurden. Gleichzeitig ist die Klimax dieses Films von einer erneuten Veränderung der Rolle von Sprache und Bild wie ihres Wechselverhältnisses gekennzeichnet. Das nur durch Sprache verbürgte Begehren des Spielers zur jungen Frau findet seine zeichenhafte Bestätigung und Verdichtung nicht nur im Umfeld einer Saline, sondern auch durch das Naturzeichen eines auskristallisierten Salzblocks, den der Soldat dem Spieler und der jungen Frau mit den Worten „fin de recherche“ überbringt (1:34:30). Vorher hatte sich die junge Frau bemüht, an einer Bushaltestelle ein Notizbuch zu entziffern, das vom Autor Handke sein könnte. Schrift und Sprache führt der Film an dieser Stelle zusammen und verbindet sie mit einer intermedialen Referenz. Mit der Formel „Ich suche nicht, ich warte“ nimmt die Frau dabei eben die Haltung ein, die schon im Chinesen des Schmerzes eine existentielle Kontur erhält (1:28; CS 252). Fortgeführt wird diese Spannung zwischen Sprache und Bild am Ende des Films. Nach dem Hinweis einer Festteilnehmerin auf den letzten Krieg zeigt die Kamera unvermittelt Kinder, die ein Suchspiel veranstalten. Dann wechselt sie zu einer Fußspur am Ufer eines Wasserlaufs, die zu einem Zeichen von Dauer wird, denn sie verwischt nicht (1:43:40). Mehr als die Sprache verbürgen die Bilder auf diese Weise Neuanfang und Dauer zugleich. Der Film macht deutlich, dass die Ordnungen der Sprache und des Bildes durch eine Arbitrarität koinzidieren, die gerade im intermedialen Wechselspiel Räume der Phantasie eröffnet.
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Auch Wim Wenders Verfilmung der Schönen Tage von Aranjuez ist in ihrem Kern eine recht genaue Umsetzung von Handkes Stück aus dem Jahr 2012, gleichzeitig lässt sie sich als Parallelentwurf zu dessen Mal des Todes ansehen. Vor allem das zentrale Thema des Begehrens und der Liebe wird dabei in großen Teilen wörtlich aus der theatralischen Textvorlage übernommen. Die Schilderung der ersten sexuellen Erfahrung der Frau noch ohne Partner, in der, wie sie schildert, aus ihrem Ich ein Es und aus einem Es ein Ich wurde (11:43), präfiguriert das Spiel der Identitäten, das der Dialog der beiden inszeniert. In ihm ist der Mann zunächst der Fragende, bevor er schließlich auch zu einem Sprecher wird (1:08:50). Mehr noch als für das Stück bildet diese dialogische Struktur ein Darstellungsproblem auch für den Film, das bereits zu Beginn offen thematisiert wird. „Wer macht den Anfang“ sagt der männliche Gesprächspartner und fährt fort: „Ist es überhaupt eine Geschichte?“ (7:15). Wenders verdichtet und ergänzt diese dialogische Struktur der Vorlage konsequent durch einen Bezugsrahmen, der mit kinematographischen Mitteln geschaffen wird und eine eigene mediale Sprache entfaltet. Er verleiht den Filmbildern sowohl eine Fokalisierung als auch eine strenge Rhythmisierung, welche die Fixierung der Textvorlage auf das sprechende Paar visuell verstärkt. Immer wieder kommt es zu einer internen Kadrierung des Bildraums, dominant ist dabei eine Laube, in deren Zentrum die Dialogpartner zu sehen sind und die Ausblicke in die Landschaft eröffnet, die wie Fensterausblicke wirken. Daneben tritt ein konsequenter Wechsel von Außenraum und Innenraum, der nicht nur den Handlungsraum strukturiert, sondern zugleich unterschiedliche Realitätsebenen erschließt. Verbunden ist dies mit einem variierenden Zusammenspiel von Bild- und Tonspur. Wie in der Verfilmung der Abwesenheit setzt der Ton vor dem Bild ein, hier wie dort dominieren ihn Naturgeräusche. In der Abwesenheit ist es das plätschernde Wasser, hier ist es das Zwitschern der Vögel. Dieses verbindet sich mit dem Geräusch des Windes in den Bäumen, das korrespondierend zur Beschleunigung der Kamerafahrt an Lautstärke zunimmt. Besonderes Gewicht erhält die Musik auf der Tonspur, welche die Einstellungen und Bildwechsel begleitet. Gleich zu Beginn ist als Einstimmung auf das Sommergespräch Just a perfect day von Lou Reed zu hören, während die Kamera von den Stadtbildern auf den Naturraum und dann auf das Haus schwenkt (2:13 ff.). Gleichzeitig eröffnet sich ein Blick in den Innenraum, in dem schon bevor das Interieur wahrgenommen werden kann, das Lichterspiel einer Wurlitzer Jukebox auffällt (3:24). Es wird klar, dass einige Szenenwechsel mit Songs parallel geschaltet sind, die aus dieser Musikbox ertönen. Die Musik auf der Tonspur wird durch andere Elemente ergänzt. Die zentrale Rede der Frau über ihre ekstatische Erfahrung wird von einem anderen technischen Apparat begleitet, hier ist das Geräusch einer Schreibmaschine zu hören (28:20). Darüber hinaus tragen die Geräusche zu einer Dramatisierung der Handlung bei. Zum Schluss deutet eine dominant werdende Tonspur mit Geräuschen der technischen Zivilisation das Ende des Sommerdialogs an und
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liefert wie die Textvorlage einen pessimistischen Blick auf den Einbruch der Geschichte (1:23:40). Die übrigen Filmbilder und die Kameraführung ergänzen diese Strukturierung. Der Film beginnt mit langen Einstellungen in der Totale, mit einem Blick von den Champs-Élysées auf den Arc de Triomphe (00:39 ff.). Darauf folgen andere Stadtbilder, die in langsamen Bildeinstellungen wie eine Folge von Diabildern erscheinen. Kontrastierend dazu steht die extreme Fokalisierung der Kamera durch einen Fernrohrblick, der Raum und Zeit synchronisiert, indem er zugleich die Skyline von Paris und die Bewegung eines Radrennfahrers mit dem Gelben Trikot zeigt (59:30). Ihre Kontrafaktur ist die Verwandlung des Filmbilds in ein Stillleben während des Sommerdialogs. Ähnlich operieren die Schwenks der Kamera. Gleich am Anfang leiten sie den Blick auf eine Natur- und dann eine Gartenlandschaft. Schließlich fokussieren die Kamerabewegungen den Blick des Zuschauers zuerst auf das Ambiente von Haus und Garten, bevor sie ihn auf das sprechende Paar lenken. Parallel dazu unterstreicht die Kamera zentrale Punkte des Dialogs, indem sie die Geschwindigkeit der Bildfolgen und Schwenkbewegung steigert. Dies geschieht vor allem in dem Augenblick, in dem die Fragen des Mannes fordernder und die Antworten der Frau intimer werden. Damit zusammen hängt eine weitere Variante der Kamerabewegung. Als der Dialog der beiden wie im Theaterstück das Thema von Leidenschaft und Begehren dominant werden lässt, beginnt die Kamera, die beiden Sprecher zu umkreisen. Dadurch verschiebt sich die Perspektive für den Zuschauer ständig, er sieht die Sprechenden nicht nur einmal frontal und dann in Rückenansicht, sondern er nimmt auch eine Überlagerung der beiden Figuren wahr, die wie ein Austausch ihrer Identität erscheint, weil sie die Konturen verwischt und die Positionen von Mann und Frau ständig ändert. Es ist die kinematographische Entsprechung zu einer Passage des Textes, in der die Frau den Mann nur als Silhouette wahrnimmt (AR 19). Als sie den intimen Teil ihres Lebensberichts erzählt und über ihre Leidenschaft nachdenkt, schwenkt die Kamera dagegen in die Höhe und zeigt in langsamer Bewegung die Baumkronen. Ihr Fokus, der den Blick des Zuschauers leitet, wird in dieser Szene eins mit dem Blick der Frau, die Außensicht wird zu einer psychologischen Innensicht (44:00 ff.). Anders als der Text der Schönen Tage kann der Film eine Form der Selbstreflexivität entfalten, die sich sowohl auf das Medium des Bildes als auch auf das der Schrift richtet. Deutlicher als im Mal des Todes wird hier gezeigt, dass die Bilder, die der Filmbetrachter wahrnimmt, aus einem Text hervorgehen und dass schon in diesem bildhafte Phantasien und Strategien des Erzählens zusammenwirken. Ohnehin ist es ein zentrales Merkmal bereits des Dialogs in der Textvorlage, dass der Mann auf die weibliche Schilderung früherer Liebesbeziehungen der Frau mit einer Serie von Naturbeschreibungen antwortet (AR 61–63). Eingefügt sind diese Szenen in eine Ausgangskonstellation, in welcher der Film mit seinen spezifischen Mitteln selbstreflexiv wird. Schon zu Beginn richtet er den Blick des Zuschauers nicht nur auf den Innenraum des Hauses. Vielmehr schwenkt die Kamera in diesem von der Jukebox auf den Schriftsteller, der das Geschehen,
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das der Zuschauer sieht, erst erfindet und mit seiner Schreibmaschine in Text verwandelt (4:28). Dabei ist dieses Wechselspiel auf intrikate Weise zeitversetzt. Bisweilen beschreibt der Schriftsteller, was er und der Zuschauer zugleich sehen und verbindet dabei Kommentar und Regieanweisung. Zuweilen aber schreibt er zuerst die Szene streckenweise auf dem Papier nieder, bevor sie in der simulierten Wirklichkeit des Films dann tatsächlich abzulaufen beginnt. So wird die Handlung, die aus einem Dialog besteht, zuerst geschrieben, teilweise auch gesprochen, bevor sie mit Bildern visualisiert werden kann. Schon am Anfang des Films, der Zeit und Ort der Handlung fixiert, wird die Formel „Und wieder ein Sommer und wieder ein schöner Sommertag“ vom Autor zuerst gesprochen und dann geschrieben, bevor der Film die sprechenden Dialogpartner zeigt (5:49). An späterer Stelle wird dieses Zusammenspiel zweier Realitätsebenen dadurch intensiviert, dass sich während des gezeigten Dialogs für kurze Zeit die Stimme der Frau und die des an seiner Schreibmaschine nachdenkenden Schriftstellers so überlagern, dass sie wie ein Echoton klingen. Die zwei Bildebenen, die Wenders in diesen Szenen nebeneinander herlaufen lässt, sind in der Regel durch Schnitte voneinander getrennt, bisweilen aber auch miteinander verschränkt. Dafür steht eine Szene, in welcher der Blick des Schriftstellers aus dem Innenraum seines Hauses auf die Gartenszenerie genau der von der Frau vorgegebenen Blickrichtung folgt. Ihr ist eine andere gegenüber zu stellen, in welcher der Schriftsteller das Haus vorübergehend verlässt und dabei im Bildraum der von ihm erzählten Geschichte mit den beiden Dialogpartnern zusammen eine Trias bildet (1:14:09). Wenders ergänzt diese filmischen Blicke auf das Interagieren von Text und Bild mit einer auffälligen visuellen Ikonik. Während er schreibt, zeichnet der Erzähler in sein Notizbuch die Umrisse einer Jukebox, die mit den Konturen des Bildausschnittes korrespondieren, in dem der Mann und die Frau des Films erscheinen (Abb. 13.3) (36:09). Es ist nicht nur ein ironischer Hinweis auf die Autorschaft Handkes, sondern auch auf dessen ursprüngliche Idee, einen Dialog über diesen technischen Apparat auf die Bühne zu bringen. Ihre Steigerung erfährt diese Wechselbeziehung zwischen Zeit- und Realitätsebenen, als im Innenraum des
Abb. 13.3 Still aus Wim Wenders: Aranjuez, 1:03:50
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Hauses plötzlich vor der Jukebox ein Flügel mit Nick Cave eingeblendet ist, der Into my Arms singt, während im Hintergrund die Dialogpartner im Garten zu einem Still eingefroren erscheinen. Es ist eine markante Superposition von nunmehr drei Bild- und zugleich Realitätsebenen, die dadurch hervorgehoben wird, dass der Song von Cave die Ton- und die Bildspur parallelisiert (1:03:50). Das Zusammenspiel von Innenraum und Außenraum metaphorisiert zugleich die Interaktion zwischen dem Raum der Phantasie und einer durch Text oder Bild erzeugten Wirklichkeit. Wieder wird wie im Mal des Todes der Innenraum zum Ausgangspunkt einer medial inszenierten Wirklichkeit. Durch seine mit der Technik des Schnitts verbundene Interaktion der Medien von Text und Schrift schreibt der Film der Präsenz seiner Bilderfolgen auf der Bild- und Tonspur Zeit- und Realitätssprünge ein. Die mediale Konstruktion von Wirklichkeit wird damit anschaulich gemacht. Abgesehen davon und in Übereinstimmung mit Überlegungen Handkes im Versuch über die Jukebox realisiert der Film durch seine Schnitte, was dem Autor als mögliche Schreibweise vorschwebte, das „unverbundene[.] Miteinander vieler verschiedener Schreibformen“ und eine Verbindung von „Augenblicksbilder[n]“ und „weit ausholenden, dann jäh abbrechenden Erzählläufen“ (VJ 67 f.). Die Brechung der medialen Illusion und damit eine weitere Stufe der Selbstreflexivität markiert Wenders dadurch, dass der Schriftsteller am Ende den Bildraum des Films und den Phantasieraum des Zuschauers verlässt und sich die Kamera anschließend auf die Jukebox fokussiert, aus der The world is on fire von Gus Black zu hören ist (1:28:30). Neben dieser Fixierung auf Musik konzentriert sich der Film, der fast alles auf Sprache und Rede setzt, am Ende auf ein wortloses Bild. Er geht hinter seine eigenen medialen Möglichkeiten zurück, indem er Cézannes Lehre der Sainte-Victoire zeigt (1:30:30). Dabei zeichnet die Kamera die auf diesem Bild zu sehenden geologischen Linien des Berges nach, die Handkes Selbst- und Bildreflexion in der Erzählung von der Lehre der Sainte-Victoire bestimmen. Zum letzten Mal inszeniert der Film eine Wechselbeziehung von Bild und Schrift, indem er das Bild implizit nicht nur auf eine Landschaft, sondern auch auf einen Text verweisen lässt. Er inszeniert damit ironisch das Wirkungsgesetz des modernen Mediums, das auf einer Interaktion von Bild und Wahrnehmung beruht, die auch den Ursprung des Schreibens markiert. Doch während dieses Bild im Text Handkes seine Grenzen überschreitet, indem es zu einer Sehtafel wird, die Reflexion ermöglicht, endet die Konzentration auf das Bild im Film mit seiner Löschung, mit einer Verpixelung des Bildraums und der Auflösung aller Strukturen. Dass das Versprechen der Medien von Bild und Text gleichermaßen infrage gezogen wird, zeugt von einem Pessimismus, der in Handkes Stück von Anfang an bestimmend war und den die Protagonisten bereits eingangs formulierten, als sie davon sprachen, dass der Sommer ihres Dialogs möglicherweise der letzte sei. Die Geräuschattacken der technischen Zivilisation, unter denen der männliche Dialogpartner leidet, zeugen ebenso davon. Kurz vorher war die Beziehung von Mann und Frau mit Fiktion und Vorstellungskraft in Beziehung gebracht und zugleich begrenzt worden, als der Mann wie in
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Handkes Text die ideale Rolle der Frau allein in der Welt der Westernfilme und im mittelalterlichen Epos erkennen konnte (1:16:00). Doch dieses Versprechen der fiktionalen Entwürfe stellt Handkes Rückgriff auf das Don Carlos Zitat „O wer weiß, was in der Zeiten Hintergrunde schlummert?“ (1:25:20; AR 69 f.; Schiller NA-7.1, 364), das er in die Textvorlage wie den Film einrückt, ebenso infrage wie der Song The world is on fire, mit dem dieser Film endet.
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14.1 Das Märchen der anderen Welt: Kali. Eine Vorwintergeschichte (2007) In seinem Aufsatz über den Erzähler notiert Walter Benjamin: „Das Märchen, das noch heute der erste Ratgeber der Kinder ist, weil es einst der erste der Menschheit gewesen ist, lebt insgeheim in der Erzählung fort. Der erste wahre Erzähler ist und bleibt der von Märchen“ (Benjamin 2007, 103–128). Peter Handke, dessen Reflexion über das Erzählen im Bildverlust in mancher Hinsicht Parallelen zu Benjamins Überlegungen aufweist, folgt diesem Satz des Philosophen in seiner Erzählung Kali. Eine Vorwintergeschichte aus dem Jahr 2007. Allerdings bildet das Märchen nur den innersten Kern dieser Geschichte, die zugleich Elemente der Mystik, des Epos, des Initiationsromans und des Roadmovies aufweist. Dabei gilt es sich allerdings klarzumachen, dass auch die in Kali präsentierten Bilder und Szenen Teil eines intertextuellen Beziehungsnetzes sind, das andere Texte des Autors Handke gleichermaßen bestimmt und eng mit seinen im Erzählen entwickelten metatextuellen Reflexionen verknüpft ist. Viele der märchenhaften und mythischen Motive korrespondieren dem „mythe personnel“ (Mauron 1962, 284, 286), den der Autor seinen Texten einschreibt, zugleich gehören sie seiner textübergreifenden Behandlung der Themen von Wahrnehmung, Erfahrung und Erinnerung, Schrift und Bild an. Gerade in der märchenhaften Erzählung, die der Autor hier vorlegt, wird dieses generelle Schreibprinzip einer kreativen Schematisierung deutlich, das mit einem begrenzten Bestand an erzählerischen Versatzstücken immer wieder neue Geschichten und Erzählsituationen hervorbringt. Beobachtung und Bewegung, Abfahrt und Ankunft, Erinnern und Wiedererkennen, Krise und Neubeginn, Vergangenes und Gegenwärtiges, Kindheit und Tod, um nur einige dieser Bezugspunkte zu nennen, stehen im Zentrum eines Spiels textueller Variation, das am Ende vor allem das Vermögen des Erzählens selbst bestätigt.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_14
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Die Reise ins andere Land Im Zentrum dieses Textes steht die Erzählung von der Reise der Protagonistin, einer Sängerin, in die Gegend ihrer Kindheit. Sie führt zunächst in das Umfeld eines Kalibergwerks, dessen Darstellung über die geologische Beschreibung hinaus alle Züge eines symbolisch aufgeladenen Orts aufweist. Gleichzeitig wird dort die Suche nach einem Kind beschrieben, deren Schilderung, Verlauf und glücklicher Ausgang in der Tat wie ein modernes Märchen erscheinen. Es ist eine Geschichte vom Verlieren und Wiederfinden zugleich, die durch konträre Erfahrungen gekennzeichnet ist, zudem sind die Zeichen, die dieses Märchen strukturieren, nicht immer eindeutig. Diese Ambivalenz, die für den ganzen Text prägend ist, zeigt sich zuerst in seinem Titel und schließlich in der Geschichte der Protagonisten selbst. Kali ist der Name einer indischen Gottheit, die Tod und Zerstörung bringt, danach aber auch ein neues Leben. Natürlich bezieht sich der Titel Kali zugleich ganz einfach auf den Handlungsort der Erzählung in der Nähe eines Bergwerks. Keine Frage aber, dass es um beides geht. Es ist signifikant für die Mehrschichtigkeit von Handkes Erzählen in diesem Text, dass sich nicht nur die Leser, sondern auch die Protagonistin selbst immer wieder über das täuschen, was sie sehen und erleben, und dass die Eindeutigkeit der Zeichen, die sie umgeben, grundsätzlich infrage gestellt wird. Dies belegt eine zentrale Szene. Die Frau sieht einen Mann, den sie suchen will, zunächst allein im Fernsehen, gleichwohl gibt sie sich der Illusion hin, dass sie der auf dem Bildschirm Erscheinende unmittelbar ansprechen wolle. Dieser hatte sich beim Aussprechen des Wortes ‚Kali‘ in der Sendung in Richtung des weißen Kalibergs gewandt, sie dagegen glaubt, dass er sie „wie in Zärtlichkeit“ (K 33) zu sich rufe. In der Folge kommt es zu einer doppelten Täuschung. Dass der Mann in Wahrheit über den Berg aus Kalisalzen in seinem Rücken spricht und sich nicht an sie wendet, wird sowohl der Sängerin als auch dem Leser erst viel später klar. Doch auch der Ingenieur des Kalibergwerks im toten Winkel weiß nicht wirklich, wer die Frau, die er offensichtlich immer schon erwartet hat, wirklich ist. Erst allmählich glaubt er, dass sie eine Tod bringende Wiedergängerin der Göttin Kali sei. Eine vergleichbare Unsicherheit befällt auch den Erzähler des Textes, dies zeigt sich bereits in der rätselhaften Einstiegsformel, mit der er seine Schilderung beginnt. Sein Erzählen ist nicht einfach ein Bericht, sondern ein Versuch, die Irritation zu verarbeiten, welche die visuelle Wahrnehmung der Frau bei ihm auslöst: „Auch mir hat sie Angst gemacht, macht sie Angst. Aber ich möchte mich ihr stellen“ (K 7). Dies ist allerdings nicht einfach, denn der Erzähler ist sich seiner Rolle keineswegs sicher, er muss erst zu sich selbst wie zu seiner Geschichte finden. Während er anfänglich nur ein Beobachter des Geschehens ist, tritt er im Verlauf der Handlung schließlich auch als Autor und Leser seiner eigenen Erzählung auf. Die biblische Formel „so steht es geschrieben“, mit der er selbst die Perspektive des
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Lesers einnimmt, markiert diese Distanz. Und erst durch sein „umfassende[s] Zuschauen“, das zu einer genauen Beobachtung jeder Geste, jedes Blicks, jedes Wortwechsels führt, gewinnen die Figuren der Geschichte Kontur. Die Erzählanordnung des Textes beinhaltet damit auch eine Metareflexion des Erzählers über sich und seine Geschichte. Von Anfang an nimmt dieser selbst die Perspektive des Zuschauers ein, dabei wird deutlich, dass sein Erzählen nicht nur aus der visuellen Wahrnehmung hervorgeht, sondern sich auch in Konkurrenz zu dieser behaupten muss. Zudem hängt es unmittelbar mit dem Medium der Musik zusammen, denn der Erzähler beobachtet die Sängerin von dem Moment an, als er den Schlussklang eines Konzerts, des letzten während ihrer winterlichen Tournee, hört. Danach richtet sich sein Blick in unterschiedlichen Situationen auf die Frau, während ihres Fußwegs oder im Verlauf einer Taxifahrt. Zur Irritation des Erzählers durch die Frau trägt auch seine Beobachtung bei, dass ihre Stimme keineswegs warm ist und dass dies aus ihrer Art des Schauens zu erklären ist. „Ihre Art Schauen war finster, und es hat mir Angst gemacht, eine seltsame Angst“, bemerkt er (K 14). Zugleich eröffnet sich an dieser Stelle eine intermediale Perspektive. Die Frau sucht ein Kino auf, dort richtet sich ihr Blick nicht nur auf die leere Leinwand, sondern auch auf die Zuschauer. Die Leinwand des Kinos erscheint dabei als ein Feld der psychischen Projektion und der Imagination. Es scheint, als inszeniere der Text die für die visuelle Wahrnehmung konstitutive Spannung zwischen Blick und Bild, wenn er berichtet, dass die Frau beim Verlassen des Kinos eine phantastisch deformierte Wirklichkeit wahrnimmt: Ein Zeitungsverkäufer verkündet den ewigen Frieden, doch seine beruhigende Botschaft wird durch das aggressive und befremdliche Verhalten von Passanten und Hausbewohnern konterkariert (K 20–23). Die Begegnung der Frau mit einem Musikanten des Orchesters führt zu einem gemeinsamen Barbesuch, der ziemlich abrupt mit einer Zurückstoßung des Mannes durch die Frau endet: „Nicht Du. Nicht gestern, nicht heute, morgen. Keine Nacht, keine einzige, kein Tag, kein einziger. Keine Angst, du bist es nicht“ (K 27). Gleichzeitig berichtet die Frau von ihrer Absicht, den Winter in ihrer „Kindergegend“ zu verbringen und fügt hinzu: „dort ist der Winter noch Winter. Oder: es ist eine Auswanderer-Gegend“ (K 30). Diese erste Sequenz endet mit der eingangs beschriebenen Szene, in der sich visuelle Wahrnehmung, Sprache und Imagination in einer kommunikativen Situation überlagern. Zwischen Blicken auf die Natur von ihrer Terrasse und solchen in ihr Hotelzimmer sieht die Frau auf dem Bildschirm ihres Fernsehers den Bergwerksingenieur, den sie aufsuchen will (K 33). Diese Suche nach dem Mann, die in das Land der Kindheit führt, verbindet sich mit einer Fahrt der Frau zu ihrer Mutter, deren Beschreibung einfache Szenen entwirft, welche die Gegenwart auf Vergangenheit rückbeziehen. Der Busfahrer, der sich später auch als Wirt des Gasthauses zu erkennen gibt, in dem die Frau übernachtet, ist ein Jugendfreund von ihr, beide bezeichnen sich selbst als Leser, und vom Busfahrer heißt es, dass sein Lesen aus einem „bedürftig sein“ hervorgehe (K 47). Wie in einem Spiel im Spiel treten Schauspieler auf, die auf das spätere Geschehen vorausweisen, denn sie spielen ein Stück mit dem Titel „Die Auswanderer“ (K 48).
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Gleichzeitig eröffnet sich ein anderes intertextuelles Register. Die Wechselrede der Frau mit ihrer Mutter, die früher offensichtlich einmal ein Star war, eröffnet einen deutlichen Bezug auf das biblische Evangelium, sie umkreist den Satz „das Leben ist erschienen“, doch die Mutter fragt: „Und jetzt: das Leben ist verschwunden?“ (K 57). Die Begegnung, in deren Verlauf der Tochter deutlich wird, dass ihr Vater Selbstmord begangen hat und ihre Mutter sie als Kind nicht gebären wollte (K 59), erhält im Text eine doppelte Funktion. Zunächst bedeutet die Erzählung der Mutter für die Frau eine psychologisch wichtige Wendemarke, sie macht sie frei, in eine neue Geschichte einzutreten. Dann aber zeigt sich, dass der Erzähler diesen psychologischen Wendepunkt zugleich zu einer Wendemarke des Erzählens selbst macht, indem er dessen Status verändert. Während der Text bis dahin nur von einer geheimen Spannung geprägt war, die sich zwischen seinen realistischen und phantastischen Elementen, der Beschreibung des Naturbereichs und der geheimnisvollen Figur der Frau, eröffnete, verbindet er in der Folge konsequent die Zeichenordnung der Utopie mit der des Märchens und des höfischen Epos. Einerseits zitiert er bekannte Bilder und Versatzstücke dieser Textsorten, andererseits ersetzt er die Beschreibung von Handlung durch eine Abfolge von Zeichen, die alles Geschehen in Bildern verdichtet. Die Erzählordnung verwandelt sich in eine symbolische Ordnung, die eine eigene Logik entfaltet und an jeder Stelle die bloße Abbildung von Wirklichkeit überschreitet. Die Utopie kündigt sich an in der Begegnung mit der Mutter, deren Erfahrung eines psychischen Chocs bei ihr zugleich eine Initiation ausgelöst hat. Nach dem Selbstmord ihres Mannes scheint sie wie in einer selbstgewählten Ort- und Zeitlosigkeit zu verharren und tut den ganzen Tag über „Nichts“ (K 60). Dieser Haltung nähert sich die Tochter an. Schon zu Beginn ihrer Reise zum Kindheitsort sind für sie alle identifizierbaren Orts- und Zeitangaben gelöscht (K 35), später zeigt sich, dass sie sich von den Zeichen der Zivilisation ebenso wie von realen geographischen Bezeichnungen fernhalten will (K 68). Für den Erzähler befindet sie sich „auch nicht mehr im Jetzt und Jetzt, im Hier und Hier“ (K 35). Das Kapitel „Un pays dont nul ne revient“ aus Chrétiens Lancelot, der sie als Buch von Anfang an begleitet (K 36), markiert ihren Ausstieg aus der realen Zeit. Er lässt sie überdies ein anderes Europa als das gegenwärtige wahrnehmen. Eine Mitfahrerin kommt zu dem Schluss, dass das in Chrétiens Epos Beschriebene die „Geschichte von Europa, dem anders aktuellen, von unserem Europa“ sei (K 44). Mit dieser Reise, die in ein „Utopia“ im genauen Wortsinn zu führen scheint, verbinden sich bekannte Motive der klassischen Utopie. Das zentrale Thema der Suche nach einer neuen Welt lässt sich als Name des Schiffes ‚Die Auswanderer‘ lesen, es wird mit den Motiven des Meers und der Insel verbunden. Der Bereich des Kalibergwerks erscheint nicht nur wie ein abgerückter, utopischer Bezirk, sondern auch wie ein Asyl für die Auswanderer, die eigentlich Geflüchtete sind. Dies wiederholt die für Utopien des 18. Jahrhunderts typische Spannung zwischen Exil und Asyl (Renner 2019, 507; Haas 1961, 67). Wie in vielen klassischen Utopien seit Schnabels Insel Felsenburg ist auch bei Handke die Reise in das
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unbekannte Land heilsgeschichtlich konnotiert. Die Einfahrt in den Hafen der Insel erscheint der Frau wie die Ankunft an einer Grenze „von der Art, wie sie in unseren Breiten längst abgeschafft sind“ (K 71), und nicht zufällig bedarf die Einfügung in diese andere Welt der Unterrichtung durch eine geistliche Person, eine Pfarrerin. Wie die Mutter lebt auch die Pfarrerin in einer Umgebung, die von der übrigen Welt abgeschottet erscheint, wie diese glaubt sie nicht daran, dass die neue Generation auch eine neue Welt schaffen könne. Ein Zeichen dafür sind die früher von den Bilderstürmern übermalten Fresken mit Bildern der biblischen Geschichte, die jetzt durch Salzfraß fast ausgelöscht sind (K 80). Über ihre eigene Generation urteilt diese Pfarrerin: „wir richten nichts als Unheil an in der lieben Welt, und das nicht einmal durch unser Tun und Lassen, sondern durch unser bloßes Dasein“ (K 81). Der Vergleich mit einer früheren Generation, in der die Männer noch vor der Kirche standen, zeigt ihr jetzt nur eine Kirche voll mit Menschen, die nichts Gutes verheißen. Die Menschen der Gegenwart verkörpern für sie „[…] das Unheil. Das schuldlos Schlechte nimmt inzwischen, machtvoll und auch nicht mehr zu bekämpfen, die Stelle des einstigen Bösen ein“ (K 82). Damit verwandeln sich die Bilder der Utopie in eine Dokumentation der Heilsverlorenheit, die der Erlösung bedürftig scheint und in der die Kinder allen Grund hätten für einen „gottgewollte[n] Kinderkreuzzug“ (K 83). Es ist die moderne Variante eines Weltzustandes, den Georg Lukács als die „transzendentale Obdachlosigkeit“ beschrieben hat (Lukács 2009, 59, 127), die das Ende des alten Epos und die Notwendigkeit einer modernen Erzählform begründet, die bei Lukács der Roman als Stellvertreter des Epos ist. Dieser Denkfigur folgt die Erzählung von Kali, wenn die Rede der Pfarrerin davon handelt, dass der gegenwärtige Zustand der Welt „erzählbar von niemandem“ sei (K 87). Für Lukács, der eben diesem Urteil folgt, muss deshalb, und hier berührt er sich entschieden mit Handke, die Stiftung eines Zusammenhangs an die Stelle einer verlorenen Unmittelbarkeit treten (Lukács 2009, 59). Unter diesen Voraussetzungen erhält die Suche nach dem verschwundenen Kind, die im Hintergrund der Handlung abläuft, eine heilsgeschichtliche, eine mythische und eine märchenhafte Bedeutung zugleich. Gleichzeitig erfordert diese mehrfach codierte Situation der Suche eine neue Textform: An die Stelle des beschreibenden Erzählens rückt die lyrische Rede der Pfarrerin, die unmittelbar an die der Nova in Über die Dörfer (ÜD 96–106) erinnert. Die Geistliche will „Eingreifen“ in einem verloren scheinenden Weltzustand. Ja, es ist die Hölle. Und ganz anders als in der Vorstellung. Und ganz anders als in der Überlieferung. Eine Hölle ohne Teufel. Eine Hölle ohne Flammen. Eine Hölle ohne Schall und Wahn, erzählbar von niemandem.
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Eine melodische Hölle, eine summende Hölle, eine Hölle aus zehn Milliarden verschiedener Erkennungsmelodien. Eine Hölle der Apparaturen, Tastaturen und Systeme. (K 86 f.)
Es gehört zur Besonderheit dieses Textes, dass sich seine utopischen Elemente nicht nur unmittelbar mit märchenhaften Motiven, Handlungsmustern und Erzählsequenzen verbinden. Sie ergänzen auch die für Handke typischen Naturbeschreibungen, die sich einerseits werkgeschichtlich auf die Langsame Heimkehr und intertextuell auf das „sanfte Gesetz“ von Stifters Bunten Steinen beziehen (Stifter HKA-2.2, 12). Eine Parallele ergibt sich auch zu Goethes Novelle, deren Geschehen sich in einer Topographie symbolischer Orte entfaltet. Diese literarischen Referenzen, die den Autor darüber hinaus auch als Leser der Bibel ausweisen, finden sich neben expliziten Bezügen auf die Alltagskultur, die unterschiedlicher nicht sein könnten. John Lennon und Freddy Quinn sind ebenso präsent wie Uma Thurman aus Kill Bill. In der Begegnung der Protagonistin mit dem Mann aus dem Bergwerk verdichten sich die Orte und Handlungskonfigurationen, die auch Elemente eines romantischen Märchens sein könnten. Dies beginnt motivisch mit der Wanderung der Sängerin durch eine verfremdete Natur und dem Aufstieg auf einen Berg, der zu einem geheimnisvollen Baumhaus führt, in dem der gesuchte Fremde aus dem Fernsehen mit seinem Kind wohnt. Er scheint sie erwartet zu haben und begrüßt sie mit der überraschenden Formel „Lange haben Sie auf sich warten lassen“ (K 93). Märchenhaft erscheint dem Leser diese Begegnung auch dadurch, dass sie einem Reglement folgt, das er nicht kennt. Dies zeigt sich zunächst bei der Schilderung des Nachtmahls der beiden. Der Mann sitzt mit dem Rücken zur Frau, offensichtlich dürfen sie sich nicht in die Augen schauen: „Er will nicht, er darf nicht Auge in Auge mit ihr geraten“ (K 97). Gleichzeitig spricht der Mann von seiner ganz persönlichen Schuld, gerade diese Passage macht eine autofiktionale Einschrift deutlich, die sie mit den anderen Texten des späteren Werks Handkes verbindet. Er hat seine Frau, die mittlerweile verstorben ist, „nicht an sich heran gelassen“ und die Schuld jeweils den Umständen gegeben (K 98). Zeit seines Lebens hat er auf einen Dritten gewartet, der ihm und seiner Frau „vorleuchte“, aber erst als sie gestorben ist, kann er ihr nahe sein in den Erscheinungen der Nacht (K 99). Eine vergleichbare Konstellation wiederholt sich in der nachfolgend geschilderten Beziehung zu der Fremden. Alles, was die beiden sagen, folgt den Formeln eines geheimen Reglements, das er nicht kontrollieren kann. Ohne es wirklich zu wissen, glaubt er in der Frau eine Todesbotin zu erkennen, ohne Widerstand begründet er seine Distanz zu ihr als ein Gesetz, das er in Chrétiens Lancelot findet. Dessen Protagonist darf nicht in das Zimmer der Königin eintreten: Nur seinem Herzen, nicht aber seinem Körper ist dies erlaubt (K 100 f.). So untersteht alles, was der Mann tut, einem Gesetz, das ihm wie auch der Frau unbedingte Unterwerfung abverlangt. „Warum ich? Warum gerade ich?“, fragt er später, als er zu begreifen beginnt, dass das Erscheinen der Frau kein Liebesabenteuer sondern
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nur seinen Tod ankündigt. Sie allerdings sagt nur: „So ist es gedacht. So habe ich es gesehen, auf den ersten Blick“ (K 125). Als er sie fragt, warum sie sterben wolle, antwortet sie: „Ich möchte nicht. Ich muß. Ich soll. So ist es bestimmt. So wird es gefordert“ und führt weiter aus „ich habe es ausgesprochen, daß ich es tun werde; habe so mein eigenes Urteil gesprochen“ (K 114 f.).
Die Einschrift des Realen Mit diesen literarischen Referenzen verbinden sich Bilder, die im Status der Verfremdung familiale und soziale Konstellationen andeuten, die erkennbar der realen Welt angehören. Da ist zum einen die Erinnerung an die Gewalt des Vaters gegenüber dem Sohn (K 103) und an ein Zusammenleben der Eltern, das beide als verlorene Gestalten erscheinen lässt (K 107 f.). Daneben steht zum anderen die Beschreibung der Gesellschaft der „Auswanderer“, die in literarisch verfremdeter Sprache sehr genaue Bilder einer globalen Armutsmigration präsentiert. Es sind, wohlgemerkt Bilder, die so beschrieben werden, dass sie empathisch wahrgenommen werden können. Ihre diskursive Recodierung ist allerdings allein dem Leser aufgegeben, der Text selbst verweigert sie. Damit macht der Text im Modus einer Märchenerzählung, aber gerade deshalb umso pointierter eine Schreibstrategie deutlich, die auch andere Texte Handkes bestimmt. Die in dem Bergbaukomplex Arbeitenden sind die „Flüchtlinge dieses neuen Jahrtausends“, die nirgends mehr heimisch werden, die inzwischen „aus sämtlichen Gegenden“ kommen, es sind „Umstrukturierte[.]“, die arbeiten wollen, es aber nicht mehr können, denn sie sind „durch die Flucht dazu unfähig geworden, wohl für immer […]. Sind, ein jeder für sich, in diese Landschaft gestolpert und gepurzelt wie auf offenem Meer von einem Schiff gestoßen und dabei fast ertrunken. Und der Schock weicht nicht. Sie sind auf ewig Schiffbrüchige“ (K 110) und haben deshalb „in ihrem Überlebenskampf jede Lebenskraft verloren“ (K 111). Weil sie nicht mehr träumen und lieben können, gibt es auch keine Kinder mehr in dieser Gegend. Umso befremdlicher, dass die Pfarrerin gerade hier eine Predigt hält, die für den Erzähler einem „Abkanzeln“ der Menschen ähnelt, sie nennt sie „Gesindel […] auf Gottes Erde“, auch „Desperados“ (K 156) und spricht keineswegs über die Situation der Auswanderer, sondern über die herrschende „Zeit der Schamlosigkeit“ (K 157). Es ist zweifellos eine Rede, die einen außertextuellen Diskurs, kaum verschlüsselt in eine Predigt, reproduziert.
Auf dem Weg zum Erzählen: Bild und Sprache Die zentrale Denkfigur Handkescher Texte, dass jede Krise auch ihre Überwindung entfaltet, verdichtet sich in diesem Märchen in der Darstellung der Frau, die als mythische wie als Märchenfigur Tod und Leben zugleich bringen kann. Auf diese Weise wird auch dieser Text zum Buch einer Verwandlung, die mit der Abkehr von der alltäglichen eine neue Welt entdeckt, die märchenhaft ist
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und manchem befremdlich erscheinen mag. Gleichzeitig verlassen Darstellung und Sprache des Textes wie schon im Bildverlust gewohnte Register. Der Erzähler unterbricht sich häufig selbst, fragt nach, hält inne und setzt wieder neu an, verstößt nicht selten auch gegen übliche grammatikalische und stilistische Formen. Übereinstimmend mit den Texten des Bildverlusts und der Morawischen Nacht ist dies mit einer medialen Reflexion verbunden, die sich auf die visuelle Wahrnehmung und das Erzählen ebenso bezieht wie auf die Medien von Text und Bild. Die Geschichte der Suche nach dem Kind, die von Anfang an als Subtext die Geschichte von Mann und Frau begleitete, lässt dies evident werden. Dass beide Geschichten miteinander verbunden sind, zeigt sich, als die Frau mit der Suche beginnt und diese in den Vordergrund der Handlung rückt. Jetzt gewinnt eine andere Eigenschaft der Frau Bedeutung, denn sie wird vom Text als „Finderin“ beschrieben. Diese Fähigkeit beruht auf ihrem „woandershin schauen“, das Finden, so führt sie selbst aus, „geschieht entweder im Augenblick, im Handumdrehen, oder erst viel, viel später!“ (K 147). Doch bei ihrer Suche nach dem Kind kommen noch andere Faktoren ins Spiel. Der Großvater, ein Maler, ahmt für die Frau zunächst seines Enkelkindes „Gangart und Geschau“ nach, während seine Frau die „Art zu reden und dessen Stimme nachspielte“ (K 149). Entscheidend wird jedoch etwas ganz anderes. Im Atelier des Malers hängt ein Landschaftsbild des 17. Jahrhunderts (K 150 f.), das die Frau genau betrachtet. Im Licht ihrer Taschenlampe entdeckt sie eine zunächst unbestimmte Form, die offensichtlich der Scheitelwirbel eines Kindes ist. Diese Szene rekonstruiert ein für Handke zentrales Motiv. Der Blick der Frau benutzt das Bild als eine „Sehtafel“, auf der sie wie der Protagonist der Lehre der Sainte-Victoire für sie bestimmende Linien entdeckt, diese bleiben zudem nach dem Ausschalten der Lampe als Nachbild „noch eine Zeitlang sichtbar“ (K 151). Damit verbindet der Text einen doppelten Blickwechsel. Zum einen berichtet der Erzähler jetzt, dass er die Frau in einer Landschaft stehen sieht, die der des gemalten Bildes ähnelt. Zum anderen scheint sich die wirkliche Landschaft unter dem Blick der Frau zu verwandeln. Eine idyllische Szene zeigt sich, in der man Stimmen zu vernehmen glaubt, die aus einer anderen Zeit stammen und sagen: „Wir führen keinen Krieg“ (K 155). Schon vorher kommt es dem Erzähler so vor, als habe die Frau „soeben eine Schwelle überschritten, die Schwelle zur Heimlichkeit“ (K 152). Auf diese Weise steht im Text die in ein gemaltes Bild verwandelte Wirklichkeit unmittelbar neben der märchenhaften Verwandlung des Bildes in einen wirklichen Handlungsraum. Das Motiv der Verwandlung, das Handkes Texte immer wieder als Effekt einer medialen Transformation beschreiben, von der Wahrnehmung ins Bild, vom Bild in die Schrift, bestimmt auch dieses Märchen. Gleichzeitig wird diese Konfiguration allerdings auch überschritten, denn das Märchen imaginiert seinem eigenen Gesetz folgend eine andere Zeit. Diese zeigt einen Weltzustand vor allen sozialen Ordnungen. Damit nimmt das Märchen die sozialen Register der Utopie, die der Text von Kali verzeichnet, endgültig zurück. An ihre Stelle rückt die Beschreibung einer Zeit, die eine Abbildung der Wirklichkeit durch die Zeichen der Schrift noch nicht kennt. Die Szene der Erlösung, die den Text abschließt, entfaltet damit eine texttheoretische und eine
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medientheoretische Perspektive zugleich. Es ist kein Zufall, dass sich vorher der Erzähler einschaltet und über das nachzudenken beginnt, was er nicht tun sollte. „Laß diese Frau. Meide sie. Todesgeschichten, insbesondere gewaltsame, sind nicht dein Fach“, ermahnt er sich selbst und verharrt in der Folge als Beobachter (K 115). Schon als sich die beiden im Bergwerk befinden, bevor sie den Berg in der ursprünglichen Absicht besteigen, sich dort von einem Grat hinunter zu stürzen, verliert der Erzähler den Kontakt zum Geschehen. Er hört zwar noch, was die beiden sagen, ist aber jetzt „woanders, nicht in der Tiefe dort“ (K 126). Und in der entscheidenden Szene auf dem Gipfelgrat vermerkt er: „Ich kann die beiden nicht mehr sehen und schließe die Augen […]“ (K 131). Dort auf dem Gipfel geschieht das eigentlich Märchenhafte. Es ist nicht einfach der Entschluss der beiden, weiter und zusammen zu leben und sich nicht dem mythischen Todesurteil zu unterwerfen, sondern es besteht in der Wiederentdeckung einer Sprache, die vor jeder Kodifizierung durch eine Schrift, die soziale Regeln und Gebote transportiert, allein in der Verfügung des Einzelnen steht. In den Wind hörend vernimmt der Mann, dass sein vermeintliches Todesurteil zwar gesagt aber nicht geschrieben ist: „Und – da – es – nirgends – geschrieben – steht, – und nur – gesagt – ist, – müßt – ihr – es – nicht – tun“, spricht er wie in Trance (K 132). Und weiter hört er: „Ihr seid frei. Ab mit euch“ (K 133). Die Erlösung der beiden besteht darin, dass sie auf ihren eigenen Ursprung in der Sprache verwiesen und damit auch zum Sprechen befreit werden. Diese Wendung, die das unerwartete Ereignis eines Märchens nachzeichnet, wird damit zugleich zu einem Metatext über dieses selbst. Sie radikalisiert die Vorstellung vom Märchen als einem Medium, das seine Kraft auf die unmittelbare Sprache eines Erzählers gründet und nicht notwendig der Schrift bedarf. Das ist die eigentliche Ursprungsphantasie, die dieser Text entwirft. Während des folgenden Fests entwerfen die Feiernden die Phantasie einer vorgeschichtlichen sozialen Ordnung avant la lettre. Sie lassen nicht nur die „beleidigende[n] Geräusche der Gegenwart“ hinter sich, sondern äußern einen gemeinsamen Wunsch: „Und kein Vaterland und keine Muttersprache mehr. Und keine Besitztümer und sonstigen -tümer mehr. Und keine Zwiebeltürme und sonstigen Türme mehr. Und das Spielen kein bloßer Zeitvertreib mehr: Freude, ja, Freude“ (K 142). Es entspricht der immanenten Logik des Textes, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, zu dem das Kind wiedergefunden werden kann. Seine physische Wiederkehr wird zugleich zu einem geschichtlichen Zeichen. Der Zeitenwandel, den dieses ankündigt, scheint in der Rede der Pfarrerin zunächst heilsgeschichtlich kontextualisiert: „Das Leben ist neu erschienen. Die Träume sind zurückgekommen: Schaut, schaut – hört, hört“ (K 158). Doch im gleichen Zug fordert die Pfarrerin eine radikale Konzentration auf die Gegenwart ein: „Dort leben, wo die Welt ergreifend ist. Und wo ist sie ergreifend? Hier, im Toten Winkel. […] Unser Geburtstag ist heute“ (K 159). Diese Vorstellung der Zukunft im Gegenwärtigen gründet sich, und das ist die letzte Phantasie dieses Textes, auf eine Vorstellung vom Ursprung des Erzählens, das allein diesen Zustand bewahren kann. Zugleich verbindet sie sich mit einer Hoffnung, die sich auf das Kind richtet, wenn es „ins Erzählen“ kommt (K 159). Der Ursprung der Zeiten, des Märchens und des Erzählens sind eins.
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14.2 Der Widerruf der Moderne: Der Große Fall (2011) Der Text aus dem Jahr 2011 erzählt zunächst eine einfache und voraussetzungslose Geschichte. Ein Mann, von dem wir erfahren, dass er ein Schauspieler ist, verlässt das Haus einer Frau, bei der er die Nacht verbracht hat, durchquert den Naturraum eines Waldes, bis er durch Randsiedlungen und Vororte ins Zentrum einer großen Stadt, vermutlich ist es Paris, gelangt, wo er sich zu Filmaufnahmen einfinden soll. Diese begrenzte Geschichte ist einerseits durch den Titel des „Großen Falls“ eigentümlich überhöht, andererseits präsentiert sie sich in einem Gewebe aus Zitaten, die sich auf andere Autoren und zugleich auf frühere Texte Handkes rückbeziehen lassen. Allerdings sind diese Bezüge nicht immer so eindeutig markiert wie in der Szene, in welcher der Protagonist als einer begrüßt wird, der „das Gewicht der Welt“ trägt (GF 185). Diese Strategie, die das Schreiben des Autors schon früher prägt, wird im Großen Fall jedoch so überzeichnet, dass sie zu einer Hybridisierung des Erzählens führt, in der die intertextuellen Bezüge auf andere Autoren wie auf das eigene Werk radikal transformiert und aleatorisch verwendet werden. Durch die spannungsvolle Beziehung zwischen Prätext und Text entsteht eine „negierte Dialogizität“ (Blasberg 1991, 514, 525, 534). Sie führt auch zu einer Rekontextualisierung vorangehender Texte des Autors. Während vergleichbare Erzählspiele in diesen immer wieder eine sinnstiftende Erfahrung entfalten, die zumindest vorübergehend Bestand zu haben scheint, endet das Spiel der Referenzen jetzt mit der Markierung eines unauflösbaren Widerspruchs, es dient der Herausarbeitung eines geschichtlichen Moments, der sich im Zeichen einer irreversiblen Katastrophe präsentiert. Dieser doppelten und zugleich widersprüchlichen Ordnung des Textes korrespondiert eine komplexe Erzählhaltung. Zum einen pendelt der Erzähler zwischen Distanz und Nähe zum Berichteten, zum anderen erzählt der Protagonist seiner Geschichte ebenfalls von einem anderen, über den er eine Geschichte liest, die er mit seiner eigenen zu vergleichen beginnt. Diesem narrativen Spiel mit Identitäten und Gewissheiten korrespondiert eine inhaltliche Doppelung. Im Kontext der Geschichte seines Protagonisten beschreibt der Erzähler zugleich eine gesellschaftliche, historische und mentale Konstellation, die Voraussetzung seines eigenen Schreibens ist. Vieles spricht dafür, dass er dabei auch die Perspektive seines Erfinders mitteilt. Text, Metatext und Autoreflexion sind unmittelbar miteinander verzahnt. Diese für den späten Text charakteristische Inversion folgt nicht nur einer Spur, die Handkes Schreiben von seinen Anfängen an prägt, sie mündet auch in eine Zurückweisung der Moderne, die eine schon vorher sich abzeichnende Einstellung Handkes radikalisiert. Während sich das experimentelle Schreiben seiner frühen Texte noch an einem ästhetischen Konzept der Moderne orientierte und dem Gestus der permanenten Innovation folgte, stellt er später den Begriff der politischen Moderne als eines linearen Fortschrittsmodells grundsätzlich infrage. Bereits in der Reise nach La Défense dechiffriert er das Sozialmodell der aufgeklärten Gesellschaft als ökonomisch begründete Machtordnung (WÜ 36). In
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frühen Texten wie Die Geborgenheit unter der Schädeldecke und Was soll ich dazu sagen zieht er diese Linie weiter aus und markiert die Unvereinbarkeit des normierten politischen Diskurses mit der individuellen Erfahrung. In der Winterlichen Reise führt er schließlich beide Positionen zusammen, indem er nicht nur ein Verschwinden der Welt in den Bildern konstatiert, sondern auch darauf abhebt, dass die Bilder zum Instrument politischer Manipulation werden (WR 39, 72, 149). Im Text des Großen Falls werden beide Denkfiguren aufgenommen. In den Bildern der Stadt wird zum einen die Dialektik des Fortschritts als Umschlag von der Emanzipation in Gewalt und Herrschaft deutlich. Zum anderen trägt die Stadt die Signatur einer medial verfassten Welt, welche die authentische Wahrnehmung ebenso unterdrückt wie sie das politische Urteil manipuliert. Diese Strategie des Großen Falls bereitet sich schon in der narrativen Verknüpfung von psychologischen Referenzen und philosophischen Orientierungen vor, welche die späten Romane und Journale prägt. Sie verbindet sich auch mit der autobiographischen Selbstreflexion und poetologischen Reflexion in der Tetralogie, schließlich mit der späteren existentialontologischen Prägung des Erzählens, welche die Grundlage für eine zugleich erkenntnistheoretische Infragestellung des aufgeklärten Begriffs der Moderne legt und eine der Verfügung des Subjekts entzogene Wirklichkeit beschreibt (Nenon/Renner 1989, 104–115; Huber 116–119). Diese Linien nimmt der Große Fall auf und verbindet sie mit einem politischen Urteil über die gegenwärtige Gesellschaft. Die unterschiedlichen Konzepte visueller Wahrnehmung, die Handkes Texte entfalten, spiegeln diesen Wandel in der Auffassung der Moderne, dabei werden aus dem Vermögen visueller Wahrnehmung unterschiedliche Paradigmen für den Status des Subjekts entwickelt. Besondere Bedeutung kommt dabei der im Rückgriff auf die Antike entfalteten Vorstellung einer „Einheit von Gewahrwerden und Vorstellungskraft“ zu, die im Chinesen des Schmerzes das griechische Wort leukein (CS 179) ausdrückt. Sie beschreibt eine Interaktion von Betrachter und Objekt in unterschiedlichen Raum-Zeit-Koordinaten, die ästhetische Bilder mit lebensgeschichtlichen Erfahrungen verbindet. Allerdings versteht der Autor sein Schreiben in dieser Phase nicht als Abbildung der Wirklichkeit, sondern als ein „Nachsprechen“ der Welt (GB 155). Wenn Handke über eine Rekonstruktion „im Sinne einer neuen Moderne“ spricht (Wagner 2010, 151), die im Sehen entfaltet wird, stellt er diese beiden Modelle der Wahrnehmung in einen neuen Kontext. Er zielt jetzt vor allem auf die subversive Kraft visueller Wahrnehmung. Diese richtet sich gegen die Erscheinungsformen der modernen Welt und die von ihr privilegierten Bildwelten der „Universal-Pictures“ (GW 34) ebenso wie gegen das „Diktat“ der „Nachrichtenwirklichkeit“ (GW 291). Der Große Fall pointiert dabei die zugleich visuelle und mentale Konditionierung des Menschen im Zeitalter des Bildes. Wie im Bildverlust zielt die Suche nach einer neuen Wahrnehmung, die er inszeniert, nicht auf den naiven Blick, vielmehr entfaltet sie sich in der Grundfigur eines bewussten Wiederfindens des Verlorenen. Dies meint der Autor, wenn er über die „natürlichen“ Bilder spricht, die er den „künstlichen“ Bildern der medial vermittelten Welt entgegensetzt. Unter diesem Blickwinkel auch bezeichnet er
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als „Bildverlust“, den Verlust dieser natürlichen Bilder, er ist die eigentliche Katastrophe des Menschen (BV 726). Wenn der „Naturschatz“ an Bildern aufgebraucht ist, „zappelt“ der Mensch nur noch „als Anhängsel an den gemachten, serienmäßig fabrizierten, künstlichen Bildern, welche die mit dem Bildverlust verlorenen Wirklichkeiten ersetzen“ (BV 744). Was Handke im Bildverlust reflexiv entwickelt, schreibt er dem Protagonisten des Großen Falls als Erfahrung zu. Entwickelt wird dies in einer komplexen Erzählsituation, die einen Erzähler, den Mann, den dieser schildert, und die Geschichte, die der Geschilderte berichtet, zugleich präsentiert. Während die Raum- und Zeitkoordinaten dieser Geschichte ganz einfach sind – die geschilderte Wanderung aus dem Naturbereich ins Zentrum einer Stadt findet zwischen einem wirklichen Donnerschlag und dem erwarteten „Großen Fall“ an einem einzigen Tag statt – wandelt sich die Rolle des Erzählers entschieden. Auf einen distanzierten Beginn folgt eine langsame Annäherung an seine Figur. Die Perspektive des Erzählers, der schließlich von „[s]einem“ Schauspieler spricht und sich zunehmend in diesen hineinversetzt (GF 40), verschränkt sich am Ende mit der seines Protagonisten, zunehmend werden Sätze aus dessen Innenperspektive gesprochen. Diesem Pendeln zwischen Identitäten korrespondiert ein abrupter Wechsel zwischen Empathie und Abwehr gegenüber allen beschriebenen Personen, deren psychologische Motivation keineswegs klar ist. Deshalb scheint der Sachverhalt, dass der Protagonist ein Schauspieler ist, ein Signal dafür zu sein, dass die gesamte Erzählsituation in Wahrheit eine experimentelle Spielkonfiguration darstellt. Durch diese Erzählstrategie wird zugleich die Grenze zwischen dem Realen und dem Imaginären konsequent gelöscht. Der Schauspieler imaginiert sich Situationen, die seine Beziehung zu der Frau, die er gerade verlassen hat, neu bestimmen könnten. Er glaubt, sich in einem „Durcheinander von Ortsgefühlen“ zu befinden, die ihm erscheinen, „als lägen sie in einem Innenraum, der sich zugleich im Freien befand, und umgekehrt“ (GF 42). Deshalb wird das Schauspielen, von dem die Rede ist, zur Metapher einer Lebensstrategie. Denn als Schauspieler verfügt der Protagonist über die Fähigkeit, die Grenze zwischen bewusster und unbewusster Erfahrung ständig und spielerisch überschreiten zu können. Anders als die Schauspieler in Filmen, die als Schlafende fragwürdig erscheinen (GF 12), heißt es von ihm, er „schlief wirklich, während er den Schlaf spielte, und schlief und schlief, und spielte und spielte“ (GF 12). Zweifellos hat der Erzähler bewusst einen Protagonisten gewählt, in dessen Leben der Übergang zwischen dem „Er“ der Filmrollen und dem „Ich“ des Schauspielers fließend ist. In seinen Filmen wird dieser zu einem, den alle sofort erkennen, während er im gewöhnlichen Leben von anderen nicht als der Darsteller einer bestimmten Rolle wahrgenommen wird (GF 16). Mittlerweile aber hat er aufgehört zu spielen, er ist der Überzeugung, dass es „keine Geschichten mehr zu erzählen“ gibt, gleichwohl erfahren wir, dass sein Aufbruch aus dem Haus der Frau nur Station auf dem Weg zu einer neuen Filmgeschichte in der Stadt ist, die offensichtlich von einer Gewalttat handelt (GF 18).
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Ortsbilder und Zeitbilder Die im Großen Fall geschilderte Gegenüberstellung eines Naturbereichs, der individuelle Erfahrungen ermöglicht, und einer Zivilisation, die als latente oder offene Gewaltordnung erscheint, ist ebenfalls in vielen vorangehenden Texten des Autors vorgezeichnet. Doch während noch im Kurzen Brief zum langen Abschied am Ende eine Versöhnung zwischen Natur und Zivilisation im Garten des Regisseurs John Ford stattfinden kann und gleichzeitig die Bilder der Phantasie und des Mediums Films zur Deckung gelangen, ist jetzt bereits der Naturbereich von Zeichen der Zerstörung durchzogen (v. Hofe/Pfaff 1980, 74). Die Dialektik der modernen Zivilisation kennt keine Schutzräume mehr, darin folgt der späte Text einer Überlegung, die bereits Don Juan und Der Bildverlust entwickeln. Es gilt sich in Erinnerung zu rufen, dass die Texte Handkes das Thema der Gewalt auf durchaus unterschiedlichen Ebenen verhandeln. Die immer genauer bestimmte Gewalt in politischen Konstellationen, im familialen Kontext und insbesondere in der Beziehung zwischen Mann und Frau, schließlich aber die Vorstellung von der Gewalt des zurichtenden Blicks, sind vorgezeichnet durch den Mord in Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (TO 7) oder den geträumten Lustmord in der Stunde der wahren Empfindung (SWE 34 f., 43, 64). Im Großen Fall gibt es eine vergleichbare Szene, als der Protagonist schildert, wie ein Sammler durch einen Wespenschwarm zu Tode gestochen wird. Es ist eine wirkliche und zugleich eine symbolische Ermordung, denn dieser Mann, der eigentlich ein Börsenmakler ist, repräsentiert auch alle die, welche die Integrität des Waldes, in dem sich der Protagonist geborgen fühlt, durch ein Verhalten zerstören, das Kennzeichen der modernen städtischen Zivilisation ist. Wie das Thema der visuellen Wahrnehmung nimmt auch das der Gewalt ihm vorangehende Darstellungen im Werk Handkes nicht nur auf, sondern spitzt sie zugleich zu, indem im Zeichen der Gewalt politische, psychologische und ästhetische Reflexion aufeinander bezogen werden. Während die Gewalt zwischen Mann und Frau im Kurzen Brief unvermittelt auszubrechen scheint, ist sie im Wunschlosen Unglück präzis im Zusammenhang der ländlichen Gesellschaft etabliert. Im Chinesen des Schmerzes wird durch ein Hakenkreuz an politische Gewalt erinnert, in den Balkantexten ist Gewalt, nicht anders als im Don Juan, schon durch die Kondensstreifen der Kampfflugzeuge am Himmel ständig sichtbar. Im Großen Fall dagegen scheint die politische Gewalt in allen Bildern präsent, welche die Zivilisation vor dem „Großen Fall“ bestimmen. Am deutlichsten tritt sie in den medialen Präsentationen des Präsidenten in Erscheinung, die der Protagonist im Innersten der Stadt auf einem riesigen Bildschirm sieht, wo der Politiker sein militärisches Eingreifen nicht als Krieg, sondern als Erfüllung eines gottgewollten Gangs der Geschichte bezeichnet (GF 235). Während sich in der Gesellschaft Protest gegen einen Präsidenten erhebt, der „kein Gesicht hat“ und dessen Art zu gehen ein „Geschichtsfälschergang“ ist, bleibt dem Schauspieler nur der symbolische Widerstand, er subvertiert das staatsmännische Auftreten des Präsidenten, indem er es nachspielt (GF 237).
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Unmittelbar verknüpft sind diese Bilder politischer Gewalt einerseits mit einer Vaterphantasie des Protagonisten (GF 239), der sich an die einengenden Zusprechungen seines Vaters erinnert, die dem Sohn erst Dinge in den Kopf kommen ließen, die er vorher nicht gedacht hatte, andererseits mit einem Nachdenken über die eigene Vaterrolle. Ausgelöst wird dies durch eine zufällige Wahrnehmung in der Metro, wo er in Begleitung zweier junger Frauen ein Neugeborenes in einem Körbchen sieht, das zu ihm heraufschaut und von dem er annimmt, es „bedeute“ ihm den Satz: „Vater, warum hast du mich verlassen?“ (GF 233; Blasberg 1991, 528; Huber 2005, 229). Es ist eine Handkes Texten obsessiv eingeschriebene Phantasie, die sich in wechselnden Konfigurationen auch in anderen Texten wiederholt (A 161; OD 244; AF 488, 522; GU 419; VB 150, 367). Dieser Parallelisierung von politischer und familialer Gewalt korrespondiert die Darstellung der Beziehung von Mann und Frau, die sich über wechselseitige Wahrnehmungen entfaltet und von Anfang an von einer latenten Gewalt gekennzeichnet ist, die sich in einer Liebesszene des Schlusses verdichtet. Dort verwandelt sich die Zuneigung zur Frau in die Phantasie, sich gegenseitig umzurennen und zu „bekämpfen und zu zerfleischen bis aufs Blut“, bis sie „zeitlebens ineinander eingerenkt wären“ (GF 279 f.). Auch dies ist eine Szene, die als authentische Erinnerung wie als textuelle Konfiguration Handkes Schreiben (Herwig 2012, 233– 235) und auch die Verfilmung von Mal des Todes bestimmt.
Poetisierung des Wirklichen Gerade die Beziehung zwischen Mann und Frau zeigt, dass es im Großen Fall keine Versöhnungsphantasien mehr gibt, die von Dauer sind. Blick und Gegen-Blick, Bild und Gegenbild heben sich nicht auf, sondern entfalten eine unaufhebbare Dialektik. Deutlich wird dies vor allem an der Art und Weise, in der Momente der Epiphanie mit dem Eindruck gekoppelt sind, „Zeitschwellen“ (GF 57) zu überschreiten, auch damit wird eine frühere Konfiguration in Handkes Werk zunächst aufgenommen und dann subvertiert. Zunächst sind diese Zeitschwellen mit Naturzeichen verknüpft, die auch in anderen Texten Handkes eine zentrale Bedeutung erhalten, hier ist es die Feder eines Falken. Diese Zeichen ordnen die Zeitschwellen unterschiedlichen Erfahrungsräumen zu, Paris, Rom und Madrid werden genannt (GF 58). Gleichzeitig führen diese fundamentalen Änderungen der Wahrnehmung auch im Großen Fall zu einer Veränderung des Wahrnehmenden selbst, der ruckhaft die Identität eines anderen annimmt. Der Schauspieler verwandelt sich selbst in den alten Mann, den er zu sehen glaubt, er beginnt, dessen Geschichte zu erzählen (GF 67): Das Erzählen wird zu einem Versuch, der „Gewalt des Zusammenhangs“ (Kluge/ Negt 1981, 19) zu entgehen, indem es den „Gegenwartsruck“ einübt (GB 142). Diesen Akten der spontanen Phantasie wird ein bewusstes poetisches Programm für Wahrnehmung und Erzählung an die Seite gestellt. Wie schon in anderen Texte Handkes wird es mit einem erotischen verknüpft, die Phantasie entsteht im Augenblick der Zuwendung zu einer Frau.
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Leitlinie des poetischen Programms im Großen Fall ist eine erneute Orientierung Handkes an Goethe. Offensichtliche Bezüge auf dessen Werk durchziehen den Text; auch hier gilt allerdings, dass jede narrative Erschließung von Referenzen zugleich auf deren Neukodierung zielt. Deutlich wird dies daran, dass der Autor seinen Rückbezug auf das Goethesche Spätwerk dem Pathos des Faust entgegen setzt, denn dieser scheint ihm genau ein Modell der Aneignung und Unterwerfung der Welt vorzuzeichnen, dessen katastrophisches Ende sich im Großen Fall vollendet. Unter diesem Blickwinkel erhält der Bezug auf Goethes Wilhelm Meister seine Bedeutung, allerdings eröffnet er eine signifikante Dialektik. Denn der Protagonist des Großen Falls folgt einem „Irrtumslehrpfad“, der sich mit seiner Konzentration auf die genaue Naturbeschreibung am Romanbeginn der Wanderjahre und an Wilhelms Wahrnehmung und Deutung der Natur unter der Führung von Jarno orientiert (GF 61–63; Goethe HA8, 6–12). Deshalb erzeugt diese Einübung ins Sehen und Erkennen zugleich „Irrtumsblitze“ (GF 64), die ein „Suchen, Finden, Verlieren, Im-Kreis-Gehen, ein Verwechseln in der Natur und durch die Natur“ zur Folge haben, das Symbolkraft hat (GF 66). Auch dies ist einer erzählerischen Grundfigur von Wilhelm Meisters Bildungsweg vergleichbar. Aus dieser Spannung entstehen zunächst Gegenbilder zu einer als Bedrohung wahrgenommenen modernen Welt, deren verhängnisvoller Status dem Protagonisten auf seinem Weg durch den Wald sichtbar wird. Dabei korrespondieren viele von ihm wahrgenommene Bilder der Simulationstechnik des Films, in der Raum und Bewegung systematisch verkoppelt werden. „Nur im Gehen öffnen sich die Räume und tanzen die Zwischenräume“, heißt es dazu programmatisch schon in der Abwesenheit (A 113; Gamper 1987; Wenders 1991; Wenders 1992, 32 f.). Nicht zufällig werden an anderer Stelle die Tätigkeit des Sammelns und ein Sammler beschrieben, der seine Aktivität als eine Kunst bezeichnet, die aus „Forschergeist, Rhythmus und Fingerspitzengefühl“ besteht (GF 97). Es ist signifikant, dass Handke auch hier zugleich einen intermedialen Bezug eröffnet, der die Zeitlosigkeit dieses Programms der Weltaneignung unterstreicht. Die Orientierung an dem „Oberen Leitenden“, das ebenfalls auf den späten Goethe verweist (GF 174), verbindet sich mit seiner Phantasie vom „Sanften Lauf“, die ihn an den gleichnamigen Film mit Bruno Ganz aus dem Jahr 1967 erinnert und an eigene frühere Versuche, die Umgebung zu „vermessen“ (GF 173). Eine weitere filmische Erinnerung schließt sich hier an. Der wandernde Schauspieler, der durch Phantasie alles in das Bild einer großen Harmonie zurückverwandeln will, weiß zwar, dass auch dieser Versuch nur eine „Fälschung“ hervorbringen würde, doch er beruhigt sich durch die Erinnerung an einen Schauspieler, der in seinem letzten Film im Kies geht und sagt „das Gehen im Kies ist so tröstlich“ (GF 87). Es ist eine Reminiszenz an Handkes Verfilmung der Linkshändigen Frau. Die Selbstgewissheit, die der Protagonist an dieser Stelle gewinnt, weist auf seine spätere Phantasie voraus, in der er zum Retter seines Sohnes wird, der sich in einer phantastischen Bedrohung befindet, weil ihm eine „dritte Hand“ unmittelbar aus dem Brustinneren bricht (GF 210). Auch diese Szene wird vor der
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Folie eines intermedialen Bezugs geschildert. Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass sie auf den familialen Bereich beschränkt ist und nicht das filmische Pathos von Gran Torino entfaltet, wo sich Clint Eastwood für einen anderen opfert. Dieser ganzheitlichen Erfahrung korrespondiert eine Szene, in welcher der Protagonist an einer Messe in einer Kapelle im Wald teilnimmt. Dort verwandelt sich die Feier der Eucharistie unversehens in eine sexuelle Phantasie, der Leib einer Frau wird als „Herabkunft der Allgegenwart des Geistes in der Nacht“ empfunden (GF 179), als eine geheimnisvolle Macht, die den Mann das „Begehren des Begehrens des anderen“ erfahren lässt (GF 180). Auch hier folgt der Text mit dieser Formel dem Diktum Jacques Lacans über die weibliche Sexualität, das Handke schon in der Lehre der Sainte-Victoire auf seine eigene Vorstellung des „Versöhnungswunsches“ bezieht (LSV 25). Diese Bezüge belegen, dass Handke komplementär zum Vermögen der visuellen Wahrnehmung im natürlichen Raum die Bedeutung der Imagination im psychischen Raum erzählend hervorhebt. Schon für den blinden Erzähler der Hornissen hatten sich erzählte, erinnerte und phantasierte Bilder überblendet und dabei Erinnerung und Gegenwart verknüpft (H 15). Handkes Kooperation mit dem Regisseur Wim Wenders entwickelt diese Konfiguration weiter. Unter Rückgriff auf die Analyse der visuellen Wahrnehmung im 19. Jahrhundert schildert dieser in Bis ans Ende der Welt, wie synchron zu den wahrgenommenen Bildern auch der „biomechanische Vorgang des Sehens“ aufgezeichnet wird (Wenders 1987). Wie es die Filmtheorie von Kracauer über Balázs bis zu Kittler betont, fallen dabei Imaginäres und Imagination zusammen.
Jenseits der Sprache Diese Ausdifferenzierung der visuellen Wahrnehmung ist Voraussetzung für die Subversion der durch Medien bestimmten modernen Welt, die der Große Fall explizit formuliert. Er stellt die Thematik des Sehens und der Wahrnehmung endgültig in einen politischen Kontext und liefert gleichzeitig eine psychologische Ergänzung zu der in der Dialektik der Aufklärung kritisierten Selbstüberschätzung des Sehens in der Moderne. In Bis ans Ende der Welt macht die Visualisierung der Träume Sehende blind, die technische Reproduktion der inneren Bilder führt zu tiefgreifenden Dissoziationen. Im Jahr in der Niemandsbucht erscheint das Filmen als Gewaltakt, im Himmel über Berlin kritisieren die Engel, die Augen der Menschen seien nur noch „gewohnt zu nehmen“. Auch in Handkes spätem Text über Don Juan entfaltet die Fixierung auf die Problematik visueller Wahrnehmung zudem ein poetologisches Programm, das durch eine intermediale Reflexion geprägt ist. Von zentraler Bedeutung ist jetzt die Unterscheidung zwischen der Unmittelbarkeit des Blicks und den medialen Vermittlungsformen von Sprache und Schrift. Die von Don Juan inszenierte Liebe vollzieht sich in einem Jenseits der Sprache, in der Unmittelbarkeit des Sehens. Dem Erzähler erscheint das Sehen dieser Figur wie ein Erkennen im Vollsinn des biblischen Wortes. Die Verführungskraft dieses Liebhabers liegt nicht in
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seinen Reden, schon gar nicht in seiner sexuellen Potenz, sondern allein in der Kraft seines Blicks (DJ 74). Zugleich kommt ins Spiel, dass der Augen-Blick des Sehens, der seine eigene Zeitordnung schafft, auch in den Bereich des Imaginären führt. Auf diese Denkfigur bezieht sich Der Große Fall. Die Beziehung zu Frauen wird hier ausschließlich durch das Sehen gestiftet, allerdings hat das „Antlitz“, nach dem der Protagonist bei allen Frauen sucht, nichts mit den medial präsentierten Bildern zu tun, die Frauen ausschließlich als Ware behandeln, vielmehr werden von hier die Bilder einer selbstverständlich gewordenen Gewalt durchbrochen. Schon zuvor hat die Teilnahme an einer Messe den Blick des Protagonisten grundlegend verändert. An ihrem Ende mit einem „Geh hin in Frieden“ entlassen (GF 182) und anschließend vom Priester als Schauspieler erkannt, empfindet er Freude (GF 186). Zwar ist diese wie im Chinesen des Schmerzes eine Freude im Angesicht der Katastrophe, sie ist „durchwirkt von Schmerz“ (GF 188), doch sie erlaubt ihm die emphatische Wahrnehmung einer beliebigen Straße, die er mit den Worten „Salve, Carretera, Magistrale, Highway Sixty-six“ begrüßt (GF 189). Dabei hat er ein, wiederum visuelles, Erlebnis, das zur Allegorie seiner Hoffnung auf Veränderung wird. Er sieht einen mit Soldaten besetzten Bus, der von einer jungen Frau mit offenem blonden Haar und einer in die Augen springenden Schönheit gesteuert wird (GF 190). Diese Erfahrung bereitet ihn auf die Wahrnehmung von zwei anderen Frauen vor, von denen die eine ein „Antlitz“ hat, wie er es die ganze Zeit gesucht hatte (GF 248). Dabei wird ihm bewusst, dass sein Blick eine Wiederholung ist, ein Wiedererkennen der Frau, mit der er die Nacht verbracht hat. Er erkennt, dass er „ihre Liebe mißbraucht“ hat (GF 249). Im Nachhinein kann er jetzt die Worte entziffern, die sie in dieser gesehenen Szene gesprochen hat: Sie berichtete von einer Liebe „ohne Erwartung“ (GF 250). Diese Passagen memorieren wiederum Konstellationen früherer Texte. Ausdrücklich heißt es im Großen Fall unter Bezug auf den Don Juan, dass Zeitschwellen wie selbstverständlich Momente des Zusammenfalls von Gedachtem und leibhaftig Erscheinendem markieren. Im Zeichen des Endes jedoch, das der Große Fall vermuten lässt, erscheint ein solcher Zusammenhang von Gedachtem und Zeichen nur noch wie eine Angst einflößende Gesetzlichkeit (GF 59). Unter diesen Voraussetzungen wandelt sich das Sehen selbst. Immer wieder präsentiert der Große Fall labile Blickwechsel, das Sehen ist nicht mehr voraussetzungslos. Auch das zeigt sich darin, dass er Strategien des visuellen Mediums Film nachstellt. Wenn die Wahrnehmung des Protagonisten zwischen den Bildern der Natur und denen der Zivilisation pendelt, erinnert er sich an Filme und Filmschauspieler (GF 18), dabei werden die filmischen Bezüge und die Filmschauspieler auch offen benannt. Diesen inhaltlichen und zitierenden Referenzen korrespondiert der Modus der Darstellung. Wie in einem Film springen die Bilder abrupt um, als sich der in die Stadt wandernde Protagonist plötzlich im „Niemandsland“ eines Gleisfelds findet und eine filmreife Szene mit Polizisten in Zivil erlebt (GF 197–200). An anderer Stelle verlässt er eine Waldlichtung rückwärts und assoziiert dabei Kamerafahrten, er denkt an die Sekundenauftritte
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Alfred Hitchcocks in seinen Filmen, gleichzeitig erinnert er sich an die zentrale Stelle in Antonionis Blow up, wo eine Lichtung zum Ort eines Verbrechens wird, das nur ein Foto aufgezeichnet hat und das später nicht wieder verifiziert werden kann (GF 102; Renner 2019, 467). Dieser Bildwechsel zwischen wahrgenommener Wirklichkeit und erinnerten Filmszenen inszeniert eine Doppelsicht, wie sie bei Autoren der Klassischen Moderne häufig im Zusammenhang mit optischen Medien entwickelt wurde. Bei Musil und Proust ist es das Teleskop, bei Marcel Proust neben diesem auch die Laterna magica (Proust Pl I, 9 f.). Ernst Jünger spricht zudem in einem frühen Essay vom „stereoskopischen Sehen“, das zwischen der „Topographie“, auf welche die reale Wahrnehmung verwiesen ist, und der magischen „Trigonometrie“ der Phantasie vermittelt (Jünger SW-9, 22). Dabei entsteht der „stereoskopische Genuß“ durch eine „einsame Vermählung von Objekt und Auge“ (Jünger SW-17, 286), die das „Schöne“ und das „Schreckliche“, das Bewusste wie das Unbewusste gleichermaßen freisetzt (Bohrer 1978, 183 f.; Jünger SW-7, 93). Bei Handke verbinden die stereoskopischen Bilder in vergleichbarer Weise Gefährdung und Beruhigung, Realität und Phantasie und auch sie operieren mit der Opposition von Zahlen, die allein der Ratio unterstehen, und Zeichen, die nur durch die Phantasie lesbar sind. Der Große Fall greift hier auf eine Konstellation zurück, die im Don Juan vorgezeichnet ist. Auch dieser wird, nachdem ihn sein erotisches Abenteurerleben in einen manischen Zählzwang versetzt hatte, der seine früheren Geliebten in Zahlen verwandelte, von einem Zuhörer aufgefordert, nach der „Schrift“ zu suchen (DJ 156). Diese sollte den Augen-Blick festhalten, der das „sieghafte“ Begehren entfaltet. Mit dieser Formel des Don Juan, die an Juan de la Cruzʼ Llama de Amor viva und auch an Nietzsche erinnert, rekurriert Handke zugleich auf Bilder seiner früheren Texte. Seinem Don Juan eröffnet der durch den Blick gestiftete spontane Zugang zu den Frauen schließlich ein „andere[s] Zeitsystem“ (DJ 77), von dem er erzählen kann. Seine Erfahrungen mit Frauen geschehen niemals in der „gewohnten Zeit“, sondern in Wahrheit „in keiner Zeit“ (DJ 102 f.). Diese Konstellation nimmt der Große Fall mit der Formel von der Frau als dem „anderen Buchstaben“ auf (GF 180), doch er bleibt bei der Opposition von erzählter und erfüllter Zeit, von Zählzeit und Erzählzeit ebenso wenig stehen wie der Don Juan. Stattdessen zielt er auf das Phantasma eines Zusammenfalls der Unmittelbarkeit von Erfahrung mit den Zeichen der Schrift. Sein „Buchstabieren“ (DJ 156) wird zur Metapher für eine Schrift avant la lettre, vor den diskursiven Fixierungen und den Ordnungen der Sozialisation. Sie macht schon Don Juan zu einem anderen. „Vollkommen ruhig blickt er um sich, mit der Ruhe eines Wilden“ (DJ 157), es ist das Bild, mit dem Baudelaire den Wilden und die Kurtisane die Ordnung der Vernunft durchkreuzen lässt (Baudelaire Pl-2, 720). Auch damit nähert sich Handkes Erzählen der sprachphilosophischen Reflexion, die Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie entfaltet (Adorno 1970, 86; Adorno 1984, 36). Don Juans „Zählzwang“ (DJ, 105), der sich mit Adornos Konzept der „meinenden Sprache“ vergleichen lässt (Adorno GS-16, 634, 650; Huber 2005, 450 f.), wird in seinem Erzählen durch eine Strategie
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des Mimetischen abgelöst. Sie verschränkt die unmittelbare Erfahrung mit der Ordnung der Schrift: Von der Liebe erzählend „buchstabiert“ Don Juan die Frauen, so wie der Protagonist des Großen Falls die Frau als „anderen Buchstaben“ erfährt. Das „Buchstabieren“ entwirft damit ein Zeichensystem, das zur Metapher der Liebe und des Erzählens zugleich wird, es kennzeichnet ein Benennen, welches das Benannte in seiner Eigenheit belässt. Damit übersetzt Handke die in der Kritischen Theorie entwickelte philosophische Konstellation einer Trennung von meinender und mimetischer Sprache in die Metaphorik der erfüllten Liebe: Die erzählten Szenen der Liebe zu Frauen transformieren den kritischen in einen mimetischen Gestus: Der Gedanke wird Wunsch, Eros ist im Wort, die erzählten Bilder des Wunsches entfalten eine „Lust am Text“, die Dauer verspricht (Barthes 1974, 94). Doch dieses utopische Programm der Erotik wird im Großen Fall zwar aufgenommen, aber schließlich radikal gelöscht. Dort trifft der Protagonist am Ende die Frau, die er verlassen hatte, zwar unter veränderten Bedingungen wieder, aber als Treffpunkt wählen sie nicht das Café de l´Espoir, sondern das Café du Destin, der Hoffnungsraum ist geschlossen (GF 277).
Ende der Zeiten Ihre Bedeutung erhält diese Revokation von Hoffnung dadurch, dass der Erzähler im Großen Fall wie vorher in der Lehre der Sainte-Victoire und im Chinesen des Schmerzes immer wieder eine Beziehung zu seinem Erfinder herstellt, wenn er das Vermögen des Erzählens gegenüber der bloßen Erfahrung der Wirklichkeit betont. Schon in der Langsamen Heimkehr spricht der Erzähler, dessen Weg nach Europa die Entwicklung des Autors spiegelt, seine Figur Sorger mit „Du“ an und schreibt ihr eine Erfahrung zu, die seine eigene ist. Auf seiner „ersten wirklichen Reise“ lernt er, „was der eigene Stil ist“ (LH 199), in der Lehre der Sainte-Victoire ist dieser Stil gefunden, zugleich kann der Erzähler sagen, er habe sich in sich selbst zurückverwandelt (LSV 93). Im Großen Fall schreibt sich nicht nur diese autoreflexive Konstellation fort, wie in vorangegangenen Texten ist auch hier jede Beschreibung allegorisch überformt. Auf dem Weg in die „Megastadt“ findet der Protagonist die Stadt zunächst schön und im „Ebenmaß“ (GF 125), doch am Ende erscheinen ihm ihre Häuser wie die „Fragmente eines den gesamten Erdkreis durchziehenden Kreuzes“ (GF 128). Diese Formel gibt einen Hinweis darauf, dass auch in diesem späten Text die von Handke präsentierte Topographie zugleich als Metaphorologie gelesen werden muss. Ihre Besonderheit besteht allerdings darin, dass sie keine einstelligen Relationen eröffnet. Vielmehr erschließen fast alle Bilder von Natur, Zivilisation und Raum nicht allein kontextuelle Bezüge, sondern verweisen zugleich auf andere Texte des Autors und deren leitende Bilder. Sie fügen sich in einen werkgeschichtlichen und metareflexiven Zusammenhang, der seinerseits autoreflexiv, mitunter auch philosophisch rekodiert ist. Ein Beispiel dafür ist, dass für den Protagonisten der Langsamen Heimkehr die Wildnis in Alaska zu „seinem
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höchstpersönlichen Raum“ (LH 11) wird und dass alle seine Versuche der „Zusammenschau“ zugleich Blicke auf sich selbst sind. „Es beschäftigte ihn ja schon seit langem, dass offenbar das Bewusstsein selber mit der Zeit in jeder Landschaft sich seine eigenen kleinen Räume erzeugt, auch da, wo es bis zum Horizont hin keine Abgrenzungsmöglichkeiten zu geben schien“ (LH 107). Die Raumbilder des Waldes, die Ursprungsphantasien von Natur und insbesondere die Erinnerungen an die Alaska-Frau im Großen Fall verweisen also durchweg auf frühere Texte. Dass hier vor allem die Langsame Heimkehr fokussiert wird, wo Handke am Beispiel seines Protagonisten zugleich seine eigene Rückkehr vom Naturbereich Alaskas in die europäische Zivilisation und Kultur beschreibt, gibt dem Endzeittext des Großen Falls seine besondere Bedeutung. Zum ersten Mal im Werk Handkes wird individuelle Erfahrung im Kontext einer unhintergehbaren katastrophische Weltgeschichte chiffriert, die auch vorangehende Texte des Autors rekontextualisiert. Verdichtet wird dies durch einen weiteren werkgeschichtlichen Bezug. Bei seinem Weg in den Wald findet der Protagonist in einer Gemeinschaft von Obdachlosen nicht nur die Überreste einer besonderen Form von „Ökumene“ (GF 50), sondern zugleich das Werkheft eines Jungen, der im Unterholz sein Schlupfloch gesucht hatte. Diese Szene nimmt Bezug auf die Lehre der Sainte-Victoire, wo sich im Bild eines Holzstoßes, die Erinnerung an die Geschichten des „Heiligen Alexius unter der Stiege“ einstellt. Das von Hofmannsthal übernommene Thema durchzieht als Bild viele Texte Handkes und ist auch in seinem Rückblick auf die Familiengenealogie zentral (LSV 70; Wagner 2010, 86; Hofmannsthal SWKA XXXIII, 136 f.). Zusammen mit der Erinnerung an den georgischen Maler Pirosmani wird es zu einem „Wunschbild“ des Erzählers von sich selbst „als dem Schriftsteller“ (LSV 56). Dieses Kinderbild als Chiffrierung von Autorschaft vereint im „Augenblick der Phantasie“ nicht allein „die eigenen Lebensbruchstücke in Unschuld“, es verbürgte damals auch Schutz vor den Erinnerungen an väterliche wie politische Gewalt, die, – der Topographie des Großen Falls vergleichbar – ihr Zeichen im Bild eines „kalten Feldes“ finden. Im späten Text jedoch wird die Geschichte des Kindes, an das nur noch Überreste erinnern, zur Parabel für den Verlust von Kindheit und die grundsätzliche Ausweglosigkeit einer Welt, in der bereits die Kinder nichts anderes erfahren als Fremdheit (GF 54 f.). Diese Wendung hat besondere Bedeutung deshalb, weil alle Kindergeschichten Handkes, auch die diesen Namen tragende Erzählung, über eine besondere psychologische Inschrift verfügen. Sie lassen sich auf einen textübergreifenden „mythe personel“ beziehen, den der Autor Handke allen seinen Geschichten einschreibt (Loch 1977, 238, 247) und der in der Superposition seiner Texte erkennbar wird (Mauron 1962, 23). Dabei werden Bilder der Ontogenese, Erinnerungen an die Kindheit, mit Wahrnehmungen der Natur, nicht selten Landschaften unmittelbar verbunden. Diese zugleich autoreflexive und metareflexive Spur scheint im Großen Fall allerdings zunächst hinter einer aus aktueller Beobachtung gespeisten Zivilisationskritik zu verschwinden. Die Wanderung des Protagonisten in die Stadt setzt den Blick auf ein Zivilisationstheater frei, in dem die Defekte der
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modernen Gesellschaft skizziert werden. Dies beginnt scheinbar belanglos, indem das Eindringen der Freizeitgesellschaft in den Naturraum mit heftiger Abwehr geschildert wird. Auf einer Lichtung trifft den Protagonisten, der noch die „Menschenleere“ fühlt, plötzlich der „Schock der Leibhaftigen“ (GF 72), als dieser Raum von anderen Menschen besetzt wird. Er hat den Eindruck, von einem „Unschönen“ angesprungen zu werden, das er als „Auswuchs“ (GF 77) empfindet. Die „Lichtungsbesetzer“, Geher, Läufer, Radfahrer und Altenwandergruppen, erscheinen durchweg als Karikaturen der Freizeitgesellschaft. Je näher er der Stadt kommt, umso deutlicher erscheinen die wahrgenommenen Bilder und Szenen zudem als visualisierte Abbreviaturen von Soziogrammen. Auf die Gemeinschaft der Obdachlosen folgen die Alten, die Paare und die von Jungen betreuten Alten, bevor der Wanderer in eine Zone eintritt, in der er die gleiche Aggression bemerkt, die auch auf den umzäunten Schulhöfen herrscht (GF 158 f.). Noch näher dem Stadtzentrum beschreibt der Schauspieler eine Gesellschaft der Verlorenen und ständig Gewaltbereiten, eine zerfallende Zivilisation, Häuser die zum Verkauf stehen, Menschen die sich nicht mehr zurechtfinden. Die Geschichte vom „Großen Fall“ beginnt, so suggeriert es der Erzähler, hier. Der Weg durch den Raum zeichnet ihm eine zeitliche Entwicklung vor, Raumkoordinaten lassen sich als Zeitkoordinaten lesen. Unter diesem Blickwinkel ist das große Ereignis, von dem immer die Rede ist, das im Verlauf der Erzählung selbst aber nicht stattfindet, durch die „großen und kleinen Kriege“ vorbereitet (GF 165), von denen die ersteren in der Dritten Welt, die kleinen aber zuhause, „tagaus und nachtein“ stattfinden, es sind, so der Text, keine Bürgerkriege sondern „Nachbarnkriege“ (GF 165). Diese sind letztlich grundlos, aber tödlich, sie finden zwischen Personen statt, die sich durchaus ähneln und unter gleichen Bedingungen leben, den Gesellschaftsforschern gelten sie als ein „unerklärliches Phänomen“ (GF 167). Zwar sieht der Schauspieler nur das Vorstadium dieser Kriege, das allein durch Gewalt gegen Sachen gekennzeichnet ist, doch er bezeichnet diese Phase bereits als eine Endzeit im doppelten Sinne, als ein Endstadium und als eine Zeit, die niemals mehr endet (GF 169). Zugleich steht das Überschreiten der „Schwelle“ zur inneren Stadt im Zeichen einer absurden Verfremdung (GF 219). Auf den endgültigen Eintritt in diesen Bezirk bereitet sich der Wandernde in einer öffentlichen Toilette vor, die er wie einen Andachtsraum wahrnimmt (GF 220 f.). Die Stille in ihr bildet einen scharfen Kontrast zum Lärm der Parallelstraßen der Stadt, deren Häuser hier von Graffiti bedeckt sind, deren Spiegelschrift letztlich unentzifferbar bleibt und die Versöhnung wie Gewalt zugleich transportiert (GF 225). Dass der „stille Ort“, dem Handke auch einen Text gewidmet hat, zum letzten Residuum wird, ist keine bloß ironische Erzählfigur, sondern die Verurteilung einer zum Untergang verurteilten Welt, die sich nicht mehr aus eigener Kraft retten kann (VO 23, 39, 44). Gegen die zunehmend beunruhigenden Wahrnehmungen des Protagonisten mobilisiert der Text zunächst satirische Blicke. Die Telefonierenden, die sich Plexiglashelme überstülpen, beschäftigen sich nicht mehr mit „Entziffern und Lesen“ (GF 228), sie haben die Fähigkeit des „Lauschens“ verloren, wie es im Rückbezug auf den Chinesen des Schmerzes heißt (GF 78). In den von Traurigkeit
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befallenen Passagieren der Metro ahnt er einen „Tötungswunsch“, in den Wagons nimmt er einen „wahren Pestgestank“ wahr (GF 230). Die fast unbekleideten Frauen auf dem Bildschirm des großen Platzes bilden für ihn einen bizarren Gegensatz zu den verschleierten Frauen in der Menge, über Bildern wie Menschen nimmt er nur noch eine „große Ratlosigkeit“ wahr (GF 242). Vor allem in dieser vermeintlich nur beschreibenden Sequenz verdichtet sich die allegorische Struktur des Texts. Sie weist auf eine poetologische und eine philosophische Rekodierung zugleich. Die poetologische erschließt sich ausgehend von der visuellen Metaphorik des Textes. Das Sehen entfaltet zunächst befreiende Phantasien. Der Schauspieler sieht sein Spiegelbild, phantasiert sich in die anderen und spricht auch ihnen eine Phantasie zu, welche die „Untergrundgesichter“ (GF 231) besänftigt und sie in Schauspieler längst vergangener Filme verwandelt. Schließlich gelingt ihm ein „Ausweichtanz“ (GF 258), er glaubt, die beim Eintritt in den Wald verlorene Falkenfeder wieder an seinem Hut zu tragen und wirft einen Brief ohne Adresse ein, fest überzeugt, dass dieser seinen Sohn gleichwohl erreichen werde. Zu diesem poetologischen Konzept gehört auch, dass im Großen Fall wie in vorangehenden Texten Handkes Bilder der Kindheit und Landschaftsphantasien aufeinander bezogen sind. Schon vorher sieht der Wandernde im Waldmenschen vor allem das „einstige Kind“ (GF 118), später in der Stadt setzt er den bedrohlichen Bildern die visuelle Phantasie eines Naturbildes entgegen, das ausdrücklich als „Nachbild“ bezeichnet wird, es ist ein „Urstromland“ (GF 251; Goethe WAII, 11, 281 f.). Die poetologische Bedeutung dieser Wahrnehmung besteht zum einen darin, dass sie aus einer bereits von Goethe beschriebenen psychophysischen Reaktion entsteht, die schon bei diesem Autor den Kern der poetischen Phantasie begründet. Zum anderen hat das Bild des „Urstromlands“, das im Umfeld der Erinnerung an den Sohn entsteht, Bedeutung in der immanenten Poetologie der Texte Handkes. In der Lehre der Sainte-Victoire markiert der Versuch, ein Urstromtal unter der Stadt „freizuphantasieren“ (LSV 94 f.), die Macht der ästhetischen Phantasie. Diese richtet sich zugleich gegen eine genau bestimmbare Realität, das „Freiphantasieren“ erschließt dort „ein anderes Deutschland“ unter dem historisch Gegenwärtigen (LSV 77). Der Große Fall nimmt diese Vorstellung ebenso auf wie das Motiv der „anderen Zeit“, das als Gegenbild zur historischen und gesellschaftlichen Situation der Gegenwart vom Kurzen Brief zum langen Abschied (KB 25) bis zum Don Juan (DJ 77) die immanente Poetik Handkescher Texte zentriert. Beiden Bildern korrespondiert im Großen Fall die Phantasie von „ferne[n] Zeiten und Räume[n]“ (GF 267), unter denen die Erinnerung an die Neue Welt und die „Alaska-Frau“ eine zentrale Rolle einnimmt (GF 152, 274). In den vorangehenden Texten markieren diese Bilder zugleich eine Nahtstelle zwischen den poetologischen und den philosophischen Referenzen, die der Große Fall weiter entfaltet. Sie folgen einer Orientierung des Autors, die seine Texte parallel zur „Kehre“ in Heideggers Werk seit dem Chinesen des Schmerzes bestimmt. Der Hinweis darauf, dass die Menschen nicht mehr „Lauschen“ können, verweist auf den Protagonisten Loser in diesem Text. Mit der
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etymologischen Dechiffrierung dieses Namens als „Lauscher“ orientierte sich Handke an einer Denkfigur Heideggers, die dem Menschen die Verpflichtung zum „Hören“ und „Entsprechen“ zuweist: Indem der Mensch aber auf den „Zuspruch des Seins“ hört, ist dieses zum Subjekt geworden, während das menschliche Subjekt dezentriert erscheint (Heidegger UN 33). Schon in früheren Texten transformierte Handke, dem Philosophen folgend, diese Anforderung in ein poetisches Programm. Allerdings erkannte er bereits damals die innere Dialektik des Versuchs, „Ins Innere der Sprache [zu] Gehen“ (GB 182), denn die Natur ist kein voraussetzungsloser Projektionsraum, sondern sie zeigt sich auch als ein autonomes Zeichensystem. Der Große Fall nimmt diese Denkfigur auf, stellt dabei aber zugleich die Möglichkeit einer ästhetischen Transformation der philosophischen Anforderung grundsätzlich infrage. Im Text erschließt sich dieser Sachverhalt einerseits durch die Worte und Bilder, die sich zugleich als Beschreibungen und als philosophische Referenzen lesen lassen, andererseits durch die systematische Destruktion früherer Natur- und Landschaftsbilder. Die Wanderung von der Natur in die Zivilisation ist durch zwei Orte geprägt, die ihr eine neue Perspektive verleihen. Zum einen durch die Lichtung, auf welcher der Protagonist zum ersten Mal die Zerrbilder der modernen Freizeitgesellschaft erblickt, und zum andern durch die Schwelle zum inneren Zentrum der Stadt. Es sei daran erinnert, dass bei Heidegger die Lichtung das Innewerden auf das Sein markiert. Die Schwelle wiederum ist Ü bergangsund Umschlagpunkt zugleich, dessen Spannung, dessen „Zwischen“ es auszuhalten gilt (Heidegger UN 26). Im Chinesen des Schmerzes ist die Schwelle darüber hinaus nicht nur Bild einer existentiellen Erfahrung, sondern auch Ort der Phantasie und Zeichen von Autorschaft, Zeichen des Dichtens. Eine vergleichbare Konstellation scheint sich im Großen Fall zwar zunächst noch anzudeuten, wenn der Protagonist unter dem Druck der widersprüchlichen Phantasien von Liebe und Gewalt, die ihn in schnellem Wechsel befallen, glaubt, dass die Zeit für den „zweiten Sanften Lauf“ gekommen sei (GF 279). Doch wie in einem Umsprungsbild wird diese Hoffnung fast im gleichen Moment radikal gelöscht. Das Neue, das für Heidegger an der Schwelle beginnt, eröffnet jetzt weder eine neue Wahrnehmung noch eine lebbare Zukunft. Das Ästhetische, von dessen Vermögen Heidegger ausdrücklich spricht, hat seine Macht verloren (Heidegger UN 28, 30). Jetzt wird klar, warum der Wandernde schon zu Beginn den Eindruck hat, es sei „aus mit den Menschen“ und warum ihm der alte Mann, in dessen Geschichte er sich phantasiert, als „der letzte der Menschen“ erscheint (GF 69). Die „Endzeit“, die der Protagonist erfährt und die auf den „Großen Fall“ zuführt, ist nicht mehr änderbar. Konfrontiert mit den Bildern, die auf sie vorausdeuten, empfindet er „Zeitnot“, es ist eben die Erfahrung, die Don Juan macht, wenn er zu erzählen aufhört und aus dem durchs Erzählen gestifteten anderen Zeitsystem in die Realzeit zurückkehrt. Pointiert wird dies im Großen Fall durch die Umcodierung eines Landschaftsnamens, der im vorangehenden Werk zentrale Bedeutung hat. „Feuerland oder Montana“ ist noch im Chinesen des Schmerzes eine Formel für die Phantasie eines Neubeginns innerhalb der Geschichte (CS 203). Jetzt steht am Ende der Erzählung
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die Datierung „Great Falls, Montana, Juli-September 2011“ (GF 279), doch der Name „Montana“ signalisiert nunmehr, dass es keine Alternative mehr gibt zwischen Natur und Geschichte, ästhetischer Anschauung und Erfahrung, sondern dass beide in einer katastrophischen Wechselbeziehung stehen: Das Naturland der Great Falls ist zugleich der Standort atomarer Vergeltungswaffen. Die Zeichen der Endzeit sind der Geschichte von Anfang an eingeschrieben, die „Zwischenräume“ sind nicht mehr lebbar (MJN 36 f.), endgültig sind sie als eine nur ästhetische Konfiguration dechiffriert, die mit dem Erzählen endet und dieses nicht überdauert.
14.3 Radikalisierung des Erzählens: Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere (2017) Erzählkonstellation Die späte Erzählung schließt in mehrfacher Hinsicht unmittelbar an das Jahr in der Niemandsbucht, den Bildverlust und die Morawische Nacht an. Schon der Untertitel, der eine einfache Fahrt ins Landesinnere anspricht, macht klar, dass es wie in diesen drei Texten um die Beschreibung einer Bewegung im Raum geht, dabei wird die Topologie der Niemandsbucht explizit aufgenommen. Zudem folgt die Handlung der vor allem im Spätwerk Handkes bestimmenden Chiffre einer Kreisbewegung, die sich „als Zirkel von Ausziehen, sich Verlieren, sich Finden und Heimkehren nachzeichnen lässt“ (Blasberg 1991, 528). Der Beginn der Reise eines Ich-Erzählers im Garten des eigenen Hauses bei Chaville nimmt nicht allein offen Bezug auf den zentralen Ort der Niemandsbucht, sondern er ist auch durch eine Verbindung von Naturbildern und Ortsbeschreibungen charakterisiert, die sich eng an diesen Text anlehnt (OD 9). Auch in ihm eröffnet die Topologie zugleich Zeit-Räume, die sich in unterschiedlicher Weise betrachten lassen, als Orte der Vergangenheit und der Erinnerung oder als Zeichen neuer und anderer Erfahrungen. Eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Text des Bildverlusts und der Obstdiebin ist die Figur der Obstdiebin selbst: Es wird deutlich, dass die Suche der Protagonistin aus dem Bildverlust einem Kind galt, das jetzt die Obstdiebin ist, die nunmehr ihrerseits in der zentralfranzösischen Hochebene nach ihrer verschwundenen Mutter sucht (OD 62). Schon deshalb lassen sich beide Geschichten parallel lesen. Der Tochtersuche im Bildverlust korrespondiert hier die Suche nach der Mutter. Viele Bilder, die mit dem Verlauf der Wanderung der beiden Frauen verknüpft werden, sind gleich oder wiederholen sich. Ein Beispiel gibt die Benutzung eines Wörterbuches, das Referenzen auf eine andere Sprache eröffnet, denn viele Wahrnehmungen werden sofort übersetzt oder bilingual präsentiert. Daraus ergibt sich eine textübergreifende Vernetzung, die den Leser auf ein nahezu geschlossenes System von Zeichen verweist. Denn das genannte Motiv des Wörterbuchs durchzieht nicht nur viele Texte Handkes, auch Filip Kobal bedarf eines solchen Wörterbuchs. Es wird deutlich, dass es wie andere der mehrere Texte des Autors übergreifenden Motive auch ein autofiktionales
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Zeichen ist: Nicht nur verbirgt sich hinter der Figur Kobal Peter Handkes Onkel Gregor Siutz, der Autor selbst führt ebenfalls stets ein Wörterbuch mit sich, wenn er Orte des Balkans und der eigenen Herkunft erkundet (W 206 f.). Kein Zufall auch ist es, dass sich der „frühere Erzähler“ in der Morawischen Nacht erinnert, in seiner Jugend ebenfalls ein Obstdieb gewesen zu sein (MN 477 f.). Außerdem eröffnet der Raum der Kindheit, den er mit dieser Reminiszenz verbindet, einen autofiktionalen Bezug. Nicht nur innerhalb des Textes der Obstdiebin werden der Frau Eigenschaften zugeschrieben, die den Ich-Erzähler, der nach ihr sucht, charakterisieren, auch über den Text hinaus wird so indirekt eine autobiographische Einschrift von Handkes Erzählung dechiffrierbar.
Die Figur als Maske des Erzählers Dass die Obstdiebin die Tochter einer anderen Romanfigur ist, gibt zu einigen grundsätzlichen Überlegungen Anlass, die nicht nur diesen, sondern alle Texte Handkes spätestens seit der Niemandsbucht betreffen. Die dort bestimmend werdende Darstellung von Protagonisten im Kontext mit anderen Figuren eröffnet den Blick auf eine besondere Strategie von Handkes Erzählen. Zu Recht hat man kritisiert, dass die Personen in seinen Texten über keine individuelle Psychologie verfügen, die sich kontextuell oder extratextuell dechiffrieren ließe (Mangold 2017). Dennoch greift diese Bewertung zu kurz, weil sie den besonderen Status der Beziehung zwischen dem Autor und seinen Figuren nicht angemessen berücksichtigt. Offensichtlich geht es ihm keineswegs darum, plausible Psychogramme individueller Charaktere zu entwerfen. Vielmehr präsentieren seine Figuren in ebenso isolierter wie zugespitzter Form Verhaltensmuster und psychische Dispositionen, die sich auf den Autor selbst zurückführen lassen, allerdings erschließen sie damit jeweils nur Facetten seiner Identität. Beispielsweise wird im Ensemble einiger Figuren die lebensgeschichtliche Konstellation rekonstruierbar, die den Autor zum Schreiben einer Geschichte veranlasst, oder aber eine einzelne Figur wird zur Maske einer bestimmten psychischen Disposition. Vieles spricht zudem dafür, dass die in den letzten Texten besonders deutlich werdende Perspektivierung des Erzählens durch eine einzelne Figur, die gleichsam ungerührt ihr soziales Umfeld durchschreitet, eine grundsätzliche Einstellung des Autors selbst ins Bild setzt. Dessen Blick auf den umgebenden sozialen und politischen Kontext ist dadurch bestimmt, dass er zwar immer wieder einzelne Wahrnehmungen bewertet oder kritisiert, zugleich aber auch eine grundsätzliche Haltung von Distanz und Verweigerung zum Ausdruck bringt. Er legt keinen Wert darauf, diskursive Begründungen für das eigene Schreiben zu entfalten. Die narrative Spielkonfiguration, in der sein Pilzsammler, seine Obstdiebin oder seine Geschäftsfrau unterschiedliche soziale Felder durchschreiten, lässt sich mit der von Ernst Jünger beschriebenen Haltung des „Waldgängers“ vergleichen, der unbeirrt von allen politischen Entwicklungen seinen eigenen Weg verfolgt und dabei umso deutlicher die Widersprüche der ihn umgebenden sozialen und geschichtlichen Realität erkennen lässt.
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Die Obstdiebin als Alter Ego des Erzählers und der Erzähler als Alter Ego des Autors Eine Parallele zwischen dem Erzähler und der Obstdiebin ergibt sich zunächst daraus, dass dessen Gang und Wahrnehmung der Frau vergleichbar sind. Im Augenblick des Abschieds von seinem Haus in Chaville nimmt er Doppelbilder wahr, Erinnerungen an frühere Erlebnisse und Szenen (OD 51). Danach gelingt ihm ein freies Ausschreiten, das ihm ein Gefühl der „Illegalität“ verschafft (OD 53) und eine eigentümliche „Hochgemutheit“ auslöst (OD 55). In der Folge macht er „epische“ Schritte und kommt in einen Ort mit den beiden Bars Espérance und Providence. In Gedanken vergleicht er seine Gebärden mit denen der Obstdiebin, die er erst noch suchen muss. Ihre Bewegungen, die er sich vorstellt, erscheinen ihm bereits als ein „Schriftbild, wie das einer Notenschrift“ (OD 57). Darüber hinaus wird die besondere Beziehung zwischen dem Erzähler und der Obstdiebin durch die Eröffnung einer Blickachse unterstrichen, die dessen erste Wahrnehmung der Frau fokussiert. Besonders einprägsam wird ihre Erscheinung für ihn, weil er sie mit einem Fernrohrblick wahrnimmt. Vieles spricht dafür, dass hier eine zentrale Szene aus Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren nachgestellt ist. Dort kann Wilhelm Nathalie nur in der Ferne und durch ein Fernrohr sehen, gleichwohl will er eine Beziehung zwischen ihrem und seinem Wandern herstellen (OD 124; Goethe FAI-10, 163, 384). Auch ihr Außenseitertum verbindet den Ich-Erzähler und die Obstdiebin. Mit Blick auf diese berichtet der Erzähler über ihr „Schlafwandeln am hellichten Tag“ (OD 159) und ihre Verwendung einer „Diebestasche“ (OD 161). Deutlich wird dabei, dass sie zu einem doppelten Blick befähigt ist, der wie auch beim Erzähler die unmittelbare Wahrnehmung mit Zeichen der Erinnerung und der Phantasie zugleich überformt. Bereits zu Beginn der Erzählung überblenden sich in der Vorstellung der Frau Bilder des gegenwärtigen Frankreichs und entfernter Weltregionen wie Brasilien oder Sibirien (OD 163–165). Darüber hinaus werden ihre gegenwärtigen Erfahrungen mit Bildern der Jugend verknüpft, mit der Erinnerung an die Zeit, in der sie statt ihres Taufnamens und ihres mütterlichen Rufnamens Alexia von den Besitzern der Obstgärten ihr gegenwärtiges Attribut als Diebin erhielt. Dabei wird ihr Stehlen vom Erzähler ausdrücklich nicht als Vergehen klassifiziert, sondern als eine Handlung, die sie dem „Heimlichen“ verpflichtet, dem, was nur sie wahrnimmt, was aber offensichtlich auch andere bestimmt. Die Frau entzieht sich nicht nur dem rechtlichen und sozialen Regelsystem, ihr im Obstdiebstahl zutage tretendes Außenseitertum befähigt sie auch zu einem besonderen Blick auf die Wirklichkeit, der eine ästhetische Dimension eröffnet (OD 171). Dies belegt ihre Orientierung im Raum, denn sie richtet ihren Blick stets nur auf einzelne Bäume, die in ihrer Vorstellung ein System von trigonometrischen Punkten bilden, das sich wie ein Raster über die Landschaft legt und von Anfang an den unverstellten Blick transformiert. Es ist ein Bild, das sehr genau Ernst Jüngers Metapher von der „Trigonometrie“ der Phantasie entspricht, einer Kraft der Imagination, die neben topographische Vorstellungen tritt und mit diesen zusammen den Blick auf die „beiden Masken
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ein und desselben Seins“ erlaubt (Jünger SW-9, 22). Bei Handke wird diese Orientierung seiner Protagonistin als ihr „Ortwerden“ (OD 173) umschrieben, es ist eine Metapher, die eine existentielle Disposition zum Ausdruck bringt und eine ontologische Bedeutungsebene erschließt. Dass die Obstdiebin einem individuellen Orientierungssystem folgt und sich nicht den Regeln der Sozialisation unterwirft, begründet für ihren Vater zugleich ihre Sonderstellung. „Du hast einen Auftrag, mein liebes Kind. Du musst deinen ganz besonderen Platz in der Welt gegen die alle behaupten, und du hast darüber hinaus eine Pflicht. Du hast die Pflicht zur Macht“, aber es ist eine Macht, die eine „ganz andere“ sein soll (OD 178). Der Weg, den diese Protagonistin selbstbestimmt geht, beginnt mit einer visuellen Wahrnehmung. Sie sieht den Sternenhimmel in einem Fenster, lässt ihn auf sich einwirken und hat zunächst den Eindruck, ein Nachbild zu sehen. Dessen Eigenart besteht darin, dass es die Medien von Bild und Schrift verbindet, die visuellen Zeichen, die sie sieht, werden schließlich zu einer Schrift, mehr noch, zu einer „Handschrift mit verbundenen, lückenlos an- und ineinander geschlungenen Buchstaben“ (OD 237). Im gleichen Zug wird ihr klar, dass es sich um kein Nachbild von etwas handelt, das sie schon vorher gesehen oder übersehen hat. Es kommt auch nicht zu dem für das Nachbild typischen Umspringen des Bildes. Dagegen sieht sie Wörter, die fortlaufen und eine Schrift bilden, die aber nicht entziffert werden kann (OD 238). Dass sich diese zunächst unentzifferbare Schrift im Anschluss an die Zeichen der Natur zeigt, überspielt nicht nur die mediale Grenze zwischen Bild und Text. Spätestens hier wird deutlich, dass die Obstdiebin eine alter persona des Autors ist. Ihre Erfahrung zeichnet vor, was dessen Ziel ist: Die Entzifferung der Welt durch ein Schreiben, das die Welt erzählbar macht und seine eigenen Zeichen zugleich wieder auf andere Weise verschlüsselt. Nicht zufällig korrespondiert diese von Sternbildern ausgehende Orientierung einer Denkfigur von Theodor W. Adorno. In ihrem Zentrum steht der von Walter Benjamin übernommene Begriff der Konstellation, der als Signatur des sogenannten „mimetischen“ Denkens eine Beschreibung und zugleich Verwandlung der Welt durch die ästhetische Anschauung beschreibt, die sich vom Begriff fernhält. Adorno umkreist diese visuelle Konstruktion begrifflich, wenn er folgert: „Das Schriftähnliche solcher Konstellationen ist der Umschlag des subjektiv Gedachten und Zusammengebrachten in Objektivität vermöge der Sprache“ (Adorno GS-6, 167 f.). Bei Handke allerdings wird diese Konfiguration in eine religiöse Metaphorik übersetzt, sie korrespondiert mit einer anderen Passage, in der das Ereignis der Transsubstantiation im Verlauf einer Eucharistiefeier eine tiefgreifende Bewusstseinsveränderung der Protagonistin metaphorisiert (OD 491 f.; LSV 66; Barth 1998, 140). Als sie den Sternenhimmel anschaut, wird die Obstdiebin zudem mit einer Formel der biblischen Verkündigungsgeschichte als eine „Auserwählte[..] unter den Frauen“ bezeichnet (OD 239 f.). Das Kind, das in ihren Träumen erscheint, ist zwar „klar ihr eigenes“, doch keine Rede ist von seiner Geburt oder seinem Erzeuger, entscheidend bleibt allein, dass sich die Frau in einem „Mutter-und-Kind-Reich“ befindet, wie man es sich zunächst nur im „Jenseits der Träume“ vorstellen kann (OD 244).
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Dieser Visualisierung des Imaginären, die zu ästhetischen Formen drängt, korrespondieren spätere Wahrnehmungen der Frau, die der Strategie filmischer Präsentation folgen. Beim Verlassen eines Hauses mit einer Trauergesellschaft hat die Obstdiebin keine kontinuierliche Wahrnehmung, vielmehr nimmt sie eine Kette von Einzelbildern wahr, die, eingefroren wie die Stills eines Films eine serielle Abfolge bilden (OD 250). Diese Rolle filmischer Bilder bildet dabei nicht nur eine textuelle Strategie, sie bestimmt auch die Wahrnehmung der Frau. Angekommen in der Gegend von Cergy erinnert sie sich an einen Film von Eric Rohmer (OD 188) und im Verlauf ihrer Wanderung besucht sie verschiedene Kinofilme (OD 217), die sie insbesondere den Ort Courdimanche mit besonderer Intensität wahrnehmen lassen.
Die Zeichen des Krieges und der Gewalt Im Gegensatz zu der besonderen Wahrnehmung der Obstdiebin, die sich auf Zwischenräume richtet, die den poetischen Blick ermöglichen, stehen klar gezeichnete Bereiche, die den Handlungsraum der Erzählung strukturieren. Im Hintergrund dieser Wahrnehmungen von Natur, die den Weg der Protagonistin begleiten, stehen Zeichen des Kriegs und der Gewalt, damit ist auch dieser Text durch eine dissonante Grundfigur bestimmt, wie sie in Handkes Schreiben immer deutlicher hervorzutreten beginnt. Vor ihrem Eintritt in den Wald durchquert die Obstdiebin wie der frühere Erzähler der Morawischen Nacht einen Bombentrichter. Der Krieg, aus dem dieser stammt, ist nicht nur mit einem genauen Datum verbunden, der Schlacht von Vexin 1944, sondern er zeigt sich auch hier als Signatur einer zeitüberdauernd von Gewalt beherrschten Welt (OD 258). Während in der Morawischen Nacht das Durchqueren der in der Natur noch erkennbaren Bombentrichter auf drei Kriege des Zwanzigsten Jahrhunderts weist (MN 550), eröffnet der Text der Obstdiebin eine vergleichbare historische Perspektive. In einem Gasthaus liest ein Gast ein Buch über die Somme-Schlacht, damit tritt neben das Bild des Zweiten Weltkriegs die Erinnerung an diese große Schlacht des Ersten Weltkriegs (OD 75). Eine visuelle Wahrnehmung der Wanderin macht dies deutlich. Zweimal sieht sie eine unlesbare Schrift. Zum ersten Mal, als sie an ihre Mutter zurück denkt, die in ihren Kindheitsnächten „riesengroß“ an ihrer Kammertür steht, ein Bild, das an Kafkas Urteil erinnert, erscheinen in dieser Schrift nur „einzelne Buchstaben aufblinkend“ (OD 432). Später, als sie durch die Prairie der Flussniederung an der Troësne streift, sieht sie bei geschlossenen Lidern ebenfalls eine nicht entzifferbare Schrift, doch jetzt „stauten sich die Zeilen im heillosen Durcheinander, kein Buchstabe zu entziffern, kreuz und quer, in der Form eines Scheiterhaufen“ (OD 502). Diese Konfiguration wahrnehmend, hat sie den Eindruck, dass ihr der „Große Fall“ (OD 503) bevorsteht, sie benennt dabei eben die Metapher, mit der Handke in seinem gleichnamigen Text das Ende jeder geschichtlichen Utopie beschreibt. Ihr phantasmatisches Bild visualisiert die Vorstellung einer über alle Zeiten
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fortdauernden Geschichte der Gewalt, es schließt sich damit an den Geschichtspessimismus Alexander Kluges an (OD 256; Negt/Kluge 1981, 198). Wie bei Kluge sind die Bilder der Geschichte, die diesen Text Handkes durchziehen, nicht allein durch offene Gewalt und Krieg geprägt, sondern ebenso durch die „Gewalt des Zusammenhangs“, die Kluge und Negt in Geschichte und Eigensinn unter anderem als Voraussetzung des Widerstands Einzelner bestimmen. Die von diesen Autoren beschriebene Dialektik der Geschichte lässt sich einer Geschichte des Widerstands zuordnen, die in der Obstdiebin an zentraler Stelle in den Text eingeschoben ist. Es ist der Selbstmord des jungen Tschechen Zdeněk Adamec, welcher der Geschichte von Jan Palach an die Seite gestellt wird, Handkes bisher letztes Stück wird ihn zum Protagonisten machen (Handke 2020). Damit eröffnet sich ein politischer Kontext, in dem einzelne Namen für den jungen Begleiter der Obstdiebin besondere Bedeutung gewinnen, er nennt diese bei ihrem Vornamen und markiert seine Empathie mit ihnen. Zdeněk hat sich für ihn „aus der Welt katapultiert, um zu protestieren gegen die Welt“ (OD 317). Er entzieht sich dem herrschenden Diskurs und verhält sich überall anders als alle anderen. In ein Bild gefasst heißt dies, dass er im Zeitalter der digitalen Information wieder zu einem Sprayer wird (OD 319). Diese ebenso eindeutige wie klare politische Passage von Handkes Text erschöpft sich deshalb nicht in der Beschreibung des politischen Widerstands von Jan Palach. Sie zielt darüber hinaus auch auf eine grundsätzliche Kritik alles Politischen, wie sie Adamec zum Ausdruck bringt. Damit wandelt sich der Status von Handkes Text entschieden. Es wird erkennbar, dass sein ästhetischer Gestus, selbst seine ästhetisierende Attitüde, nicht nur als das gelesen werden dürfen, was sie vordergründig zur Anschauung bringen, Vielmehr beziehen sie sich dialektisch auf eben das, was sich ihnen entzieht und im Innersten widerstrebt. Das Ästhetische wird hier tatsächlich im Sinne Adornos eine Form der Kritik, insofern es alles das darstellt, was „nicht der Fall ist“ (Adorno GS-11, 50). Es ist deshalb keineswegs überraschend, dass ausgerechnet auf diesen unverstellten politischen Diskurs eine lange Abhandlung über Haselnüsse folgt. Diese von Handke immer wieder praktizierte Erzähltechnik der thematischen Inversion durch völlig unterschiedliche inhaltliche Bezugsfelder kann ebenfalls als eine Figur der Kritik entschlüsselt werden. Die Konzentration der Figur eines alten Mannes auf die Beschreibung der Haselnuss (OD 319–324) ist so kontextualisiert, dass sie zugleich politisch und ontologisch lesbar wird. Sie wird zum Auslöser für eine Reflexion über das arabische Wort dikr, das Erinnern und Gedenken oder auch Eingedenken meint und damit die Formen der Erfahrung geschichtlicher Ereignisse betrifft. Diese Überlegung bringt zum Ausdruck, dass es niemals allein darum gehen kann, sich individuell oder kollektiv an ein Ereignis zu erinnern, sondern dass die Fähigkeit, ohne Fixierung auf ein einzelnes Ereignis „eingedenk“ sein zu können, entwickelt werden muss (OD 326). Allein sie kann, anders als die eingeübte Rhetorik des Erinnerungsdiskurses eine tiefer gehende existentielle Dimension entfalten, ein „Lauschen“, das sich an Hölderlin orientiert und Heideggers „Hören auf den Zuspruch des Seins“ korrespondiert (vgl. GB 234; Heidegger UN 33).
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Die Bilder der Natur und die Dialektik der Wahrnehmung Handkes spätere Texte belegen, dass es in seinem Schreiben zunehmend zur Ausbildung eines über die Grenzen der einzelnen Texte hinweg laufenden Netzwerks sich autonomisierender Bilder kommt, die signifikant häufig aus der Beobachtung entstehen. Diese minutiösen Naturbeschreibungen, die oft kurze Abschnitte aus der Baumschattenwand zu längeren Prosapassagen ausbauen (Böttiger 2019), gehen, wie die Handschriften, Skizzen und Entwürfe des Autors belegen, nicht selten aus vorher skizzierten Bildern hervor. Die Genauigkeit dieser Naturbilder kann dabei durchaus in Gegensatz zu der Schematik treten, mit der sie erzählerisch eingesetzt werden (Mangold 2017; NB 22 f.). Das Grundmuster solcher Konfigurationen ist ein Einbruch der Phantasie, der von einer alltäglichen und begrenzten Wahrnehmung ausgeht und eine Vorstellung von anderen Bereichen, Zeiten oder alternativen Welten auslöst. Zu Beginn der Obstdiebin wird die vergleichsweise unbedeutende Episode eines Bienenstichs zum Auslöser für Bilder der Phantasie. Mobilisiert werden diese zudem in einem besonderen Augenblick, an einem Sommernachmittag, in dessen Verlauf der Ich-Erzähler den Eindruck hat, von seiner „Zeitnot“ befreit zu sein (OD 13). Es ist ein Augenblick der Stille, der an Mallarmés Nachmittag eines Faun erinnert und gleichzeitige Wahrnehmungen zu ermöglichen scheint (Mallarmé 1876). An solchen Berührungsstellen von alltäglicher Welt und Phantasie kommt es nicht selten zur Wahrnehmung von Doppelbildern, häufig auch zum Gefühl des Wahrnehmenden, ein anderer zu sein. Zu Beginn des Textes sieht sich der Erzähler beispielsweise selbst und vergleicht sich mit Cézannes Gärtner Vaillier (OD 15), er gerät in einen Zustand des Halbschlafs, in dem er die Stimme der Obstdiebin mit ihrer besonderen Modulation zu hören glaubt. Allerdings verbinden sich mit solchen Momenten häufig auch dissonante Erfahrungen. Der Erzähler, der das Gefühl hat, ins Land „einzusinken“ (OD 20), beginnt wie der Protagonist der Niemandsbucht, über das eigene Leben, die verrinnende Zeit und die eigene Produktivität nachzudenken. Er erfährt wie dieser, dass seine Erfahrung von Erfüllung und Konzentration auf sich selbst von Todesgedanken durchkreuzt wird. Mit einem Mal zeigt sich ihm die „Geschichte der letzten Monate und Jahre, mörderisch zugeschärft“ und er glaubt, im Garten einen „Todesschrei“ zu vernehmen (OD 22 f.), spontan scheint ihm sein Abschiedsschmerz unter der Formel „für immer“ (OD 27) zu stehen. Solche Erfahrungen der Gefährdung, die gleichermaßen dem Netz konstanter Bilder angehören, das im Zentrum von Handkes Poetologie steht, erhalten dort immer auch Gegenbilder, die vergleichsweise konstant sind. In der Erzählung von der Obstdiebin sind es die Augen eines Säuglings, die Erinnerung an die slowenische Sprache, der Blick auf einen Naturgegenstand. Wie in der Niemandsbucht ist es hier eine gelbe Quitte (OD 28). Und nicht anders als in diesem Text werden durch die visuelle Wahrnehmung sprachliche Assoziationen ausgelöst, welche die eigene Situation bestimmen. Nicht zufällig stellt sich die Vorstellung ein, man könne „zu zählen aufhören“. Zudem werden Erinnerungen an unterschiedliche Schreiborte wach, während der Erzähler versucht, angesichts seines „Eigentums“ zu bestimmen, was er überhaupt sein „Eigen“ nennen kann.
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In der Obstdiebin erhält diese Reflexion eine grundsätzliche und über den Text hinaus weisende Bedeutung. Denn hier nimmt sich der Erzähler ausdrücklich selbst zurück, sogar die Vorstellung einer Stiftung des Eigenen durch Autorschaft an einem „Werk“ verliert an Bedeutung gegenüber dem, was „das Werk der Natur“ ist (OD 33). In dieser erkennt er eine andere Ordnung, einen Rhythmus, den er sich aneignen kann. In ihr werden Bilder wahrgenommen, die über eine eigene Kraft verfügen. Es sind „menschenleere Bildmomente aus der Vergangenheit, in der Regel einer Längstvergangenheit, ohne einen Zusammenhang mit gleichwelchem Tagesgeschehen, von keinem Gedächtnis und keiner vorsätzlichen Erinnerung herbeirufbar“ (OD 34 f.). Unter diesen Voraussetzungen nimmt die Obstdiebin, die später von einem farbigen Jungen begleitet wird, stellvertretend für den Erzähler wahr. Sie erfasst die Bedeutung der Naturbilder, unter denen Einzelbeobachtungen wie der Blick auf eine Eichenkrone hervorstechen (OD 301) und die sich, auch das eine Grundfigur der Poetologie Handkes, vor allem in der Bewegung einstellen. Dabei vollzieht sich diese weniger zielgerichtet als spielerisch, von „weiter spielen“ spricht die Wandernde selbst, als sie sich zum Weitergehen motivieren will (OD 474). So ist es nicht überraschend, dass die Frau und der Junge Schritte vorwärts und rückwärts machen, dass sie Wege „ohne Stege und Brücken“ (OD 302) suchen, während sie den Eindruck erwecken, sich in einer eigenen Zeit zu bewegen. Auch dies folgt einer typischen Erzählstrategie Handkes: An die Stelle einer erzählbaren Handlung tritt die Beschreibung einer Bewegung der Figuren im Raum. Sie bringt Bilderketten hervor, denen der Leser zu folgen hat und die seinen Blick steuern. Dabei werden diese autonom erscheinenden Bilder durch die erzählte Bewegung der Protagonisten nicht nur erzeugt, sondern zugleich auch geordnet. Baudelaires Denkfigur des mit Bewusstsein ausgestatteten Kaleidoskops, das die Wahrnehmung der Moderne zum Ausdruck bringt, scheint hier als Erzählfigur nachgestellt (Baudelaire 1967, Pl-2, 692). Damit wiederholt sich, was den Weg der Wanderin im Bildverlust kennzeichnet. Auch jetzt erschließen die charakteristischen Doppelbilder, die der Frau zugeschrieben werden, nicht nur alternative Bilder, sondern zugleich eine Zeitschicht unter der Gegenwart. Es stellt sich die Illusion ein, sie und der Junge „seien in dem Landschaftsbild so etwas wie ein Anachronismus“, sie bewegten sich nämlich durch die Landschaft in einer Zeit, in der noch gar keine Kartoffeln in Europa angebaut wurden (OD 303). Dadurch kommt es zur Erfahrung einer grundsätzlichen Verfremdung. Im Blick zurück kann ein Zeichen der modernen Zivilisation den Eindruck der Landschaft „als etwas Unzeitgemäßes“ stören, als ein „Fehler im Ortsbild; Bildstörer; Fremdkörper“ (OD 309). Diese Überlagerung unterschiedlicher zeitlicher Erfahrungen, die auch an anderen Stellen des Textes beschrieben wird, erhält in der Geschichte des Mannes, der nach den Überresten seines auf dem Schlachtfeld vermissten Vaters sucht, eine psychologische Inschrift, unter deren Blickwinkel sich die Geschichte der Wanderin lesen lässt. Ausdrücklich heißt es im Text über diesen Mann, dass er in seinem Verschollenen nicht den Vater betrauert, „sondern sein Kind. Und nichts schrie lauter zum Himmel als Gejammer um ein verschollenes Kind“ (OD 471).
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So wie die Suche dieses Siebzigjährigen Phantasien hervorbringt, welche die genealogische Zeitfolge invertieren, so nimmt die Wandernde zunehmend Bilder wahr, die nicht einfach nur wie Nachbilder wirken, sondern erst sehr viel später als „Vergangenheitsbild, Gegenwartsbild und Zukunftsbild in einem“ erscheinen (OD 473). Diese neue Form der Wahrnehmung, welche die Wandernde unterschiedliche Zeiterfahrungen machen lässt, wird durch eine synästhetische Erfahrung ergänzt, die auch das Hören einbezieht. Gekoppelt ist der Blick auf die Natur nicht nur mit einer Erinnerung an Musik, der Rap von Eminem wird beispielsweise genannt. Die Obstdiebin wird auch dazu angeregt, auf die Natur zu „lauschen“, sie soll eine Haltung einnehmen, mit der Handke schon im Chinesen des Schmerzes eine Wahrnehmung chiffriert hat, die auf einen verborgenen Sinn zielt. Wieder ist Heideggers Formel „Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht. Das Entsprechen ist hören“ im Hintergrund des Textes präsent (Heidegger UN 33; GB 234). Das Zirpen einer Grille motiviert die Frau schließlich zu der Überlegung, dass auf der Welt doch das „Heimliche […] vorherrschen“ möge (OD 214).
Die familiale Einschrift und ihre poetische Transformation Richtet man das Augenmerk über die Beziehung von Mutter und Tochter hinaus auf das Verhältnis der Obstdiebin zu ihrem Vater, so lassen sich einerseits spiegelbildliche Entsprechungen zur Familiengeschichte des früheren Erzählers aus der Morawischen Nacht erkennen. Andererseits werden diese Entsprechungen zu einem poetischen Bild überformt, das märchenhafte Züge trägt. Dazu passt, dass die Bewegung der Frau im Raum niemals wirklich zielgerichtet ist, sondern einer spielerischen Konfiguration unterschiedlicher Erfahrungen folgt, die nicht notwendig linear miteinander verknüpft sind. An die Stelle einer fortlaufenden Geschichte treten poetische Bilder, die den Zugriff einer kontinuierlichen psychischen Durcharbeitung nicht zulassen. Auch dieser Text bezieht sich in seinem Kern auf das Thema von Vaterschaft und Kindsein. Viele der Erinnerungen der Frau, die davon ausgehend um den Begriff der Autorität kreisen (OD 146), beschreiben dissonante Erfahrungen. Ihre Gefühle pendeln zwischen der Erinnerung an Fürsorge und Zurückweisung durch den Vater und dem Eingeständnis, dass sie – längst kein Kind mehr – schließlich mental „weder ihres Vaters noch ihrer Mutter Kind, [sondern] niemandes Kind“ war. Sie selbst deutet diese Haltung als Reaktion auf eine Erfahrung des „double bind“, die vom Vater ausging: „Ohne sie handgreiflich zu verstoßen, hat er sie verstoßen“ (OD 230), erinnert sie sich und hebt darauf ab, dass sich der Vater für seine „Lieblosigkeit“ selbst hasse (OD 233). Die grundsätzliche Distanz der Obstdiebin zu ihrem Vater wird dadurch deutlich, dass ihr dieser im Rückblick immer mehr wie ein „Gorilla“ erscheint, weil er als „Amateurhistoriker“ auftritt und Eigenschaften und Abspaltungen des Männlichen repräsentiert, wie sie sich auch in den unterschiedlichen Figuren zeigten, welche die Geschäftsfrau im Bildverlust umgeben. Diese Darstellung des Vaters
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bezieht sich in doppelter Weise auf den Autor Handke und auf andere Texte seines Werks. Zum einen, weil dem Vater hier eine Haltung zugeschrieben wird, die der Autor an sich selbst beobachtet. Es ist das Bestehen auf einer „Staatenlosigkeit“, die zur Metapher für einen Rückzug von anderen und vorherrschenden politischen und gesellschaftlichen Einstellungen wird. Zum anderen, weil in der Schimpfrede des Vaters eine aggressive Einstellung gegenüber Politikern zum Ausdruck kommt (OD 154 f.). Darüber hinaus gewinnt Bedeutung, dass das Kind-Sein der Obstdiebin Alexia/ Alexis eine poetische Codierung erhält, die einer familialen Konstellation in der Lehre der Sainte-Victoire entspricht. Motivisch wird ihre Geschichte auf die des Heiligen Alexius bezogen, der eine Zeit seines Lebens, unbemerkt von seinen Eltern, unter einer Stiege ihres Hauses verbringt. Diese Korrespondenz auch zum Text des Bildverlusts wird zunächst wie beiläufig angedeutet, als die Obstdiebin in einem Zug unter der Treppe zum Etagenteil schläft (OD 109). Später ist der dem Versteck des Alexius vergleichbare Ort eine Kammer, in der sich schon die Mutter von Alexia aufhielt (OD 426). Dieses Bild bereitet unmittelbar auf die bevorstehende Zusammenkunft der Familie vor. Wie in einem Text von Kafka tauchen verloren geglaubte Gegenstände wieder auf und werden zu Zeichen für den Fortgang der Handlung (Kafka GS-1, 242). Nicht zufällig wird jetzt von einem Halstuch, einem Schal berichtet, der ebenso unvermittelt wiedergefunden wird wie der verlorene Schal in der Geschichte des Bildverlusts (OD 429), auch damit verbindet die Alexius-Episode Mutter- und Tochtergeschichte. Offensichtlich war die Mutter am gleichen Ort, aber ihr Bild wird gerade dadurch ambivalent. In der Erinnerung erhält sie phantastische Züge, sie erscheint als die „in den Kindernächten riesengroße Mutter“, wiederum eine offene Anspielung an Kafkas Vaterphantasie im Urteil (OD 431).
Bilder von Entzweiung und Vereinigung Der Ambivalenz dieser im Feld der Geschichte aufscheinenden dissonanten Bilder korrespondiert die Darstellung der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen der Obstdiebin und ihrer Doppelgängerin. In ihrem Verlauf zeigen sich „Mordgier“ und „Totschlagswut“, die in den Hassgefühlen der früheren Freundin vorgezeichnet sind (OD 347–351), aber sie werden im Text auf doppelte Weise entschärft. Zum einen, weil die beiden während der distanzierten Beschreibung ihres Kampfes durch den Hinweis auf das Marionetten-Museum Derrière les jardins in Fribourg nicht wie Menschen, sondern wie Spielfiguren erscheinen. Zum andern, weil der Erzähler die Beschreibung ihrer körperlichen Auseinandersetzung mit einem Zitat aus Hölderlins Dichtermut beendet (OD 515): „Wandle nur wehrlos [korr: fort] durchs Leben, und fürchte nichts!“ (Hölderlin GSA-2, 62–65). Zugleich ist diese Szenen durch den visuellen Bezug auf einen anderen literarischen Text rekodiert. Als sie einige Blutstropfen betrachtet, ist die Obstdiebin dem Weinen nah, die Blutstropfen, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen, erscheinen als literarische Remiszenz. Sie erinnern an die Blutstropfenszene in
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Wolframs Parzival, die den Einbruch eines Trance-Zustands markieren, dessen Bezugsfelder sich nicht eindeutig auflösen lassen (OD 515; Hasebrink 2005, 237–248). Explizit spricht der Text Vor der Baumschattenwand von der Obstdiebin als dem „letzten Epos“ des Autors und bezeichnet die Protagonistin als „Parzivals Schwester“ (VB 196). Eine vergleichbare Funktion wie dieser Rekurs der Erzählung auf andere literarische Text erfüllt sein Bezug auf ein Bild. Mit ihm versucht der Erzähler ausdrücklich, die alten mit Gewalt verbundenen Geschichten der Bibel aus der Geschichte der Obstdiebin zu verbannen. Es ist Poussins LʼÉté ou Ruth et Booz, Teil eines Jahreszeiten-Zyklus (OD 466) (Abb. 14.1). In der Niemandsbucht erhält die Kompositlandschaft von Breughels Der düstere Tag ihre besondere Bedeutung dadurch, dass sie in ein Feld von Zeichen aufgelöst wird, dem eine über das Abgebildete hinaus gehende symbolische Konnotation zugeschrieben wird (MJN 629; OD 466). Poussins Bild in der Obstdiebin lässt sich in vergleichbarer Weise betrachten, zumal der Maler mit seiner terminologischen Unterscheidung von „aspect“ und „prospect“ eine Überlegung entwickelt hat, die auch für die Beziehung von Text und Bild herangezogen werden kann. Er selbst unterscheidet zwischen dem Sichtbaren, dem Abbildcharakter des Bildes, und seiner Deutung (Poussin 1968, 143 f.). Poussins Bild, das eine detailgenau gemalte arkadische Landschaft abbildet, zeigt in seinem Zentrum eine biblische Szene, die Begegnung von Ruth und Boas,
Abb. 14.1 Nicolas Poussin (1594–1655): The seasons, summer, or Ruth and Booz, 1640–1644. (Paris, Musée du Louvre, © Heritage Art/Heritage Images/picture alliance)
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aus deren Verbindung Obed hervorgehen wird, der die Stammlinie Jesu begründet. Dadurch erhält das Bild wie viele andere des Malers Poussin eine doppelte Inschrift, die nicht abgebildet ist (Köhler 2008). Einerseits eröffnet es dem bibelkundigen Betrachter eine heilsgeschichtliche Perspektive. Andererseits zeigt es in der Konzentration auf Ruth und Boas ein Paar, das keineswegs den idyllischen Anschein einzulösen vermag, den die Landschaft dieses Bildes suggeriert. Denn die verwitwete Ruth, die dem Boas auf Knien dankt, muss um das Recht der sogenannten Nachlese bitten, das ausdrücklich den Armen und Fremden vorbehalten ist. Als Schwiegertochter der von Israel in das Land Moab ausgewanderten Naomi ist sie eine Fremde, der nach dem israelischen Moabitergesetz die Integration versagt bleibt. Gleichwohl hat sie Naomi auf ihrem Weg zurück nach Israel schützend begleitet. Ihre spätere Ehe mit Boas folgt, zumindest aus der Sicht der Schwiegermutter Naomi, einer klaren juristischen Überlegung. Denn die Regeln für die sogenannte „Leviratsehe“ und die „Lösung“ führen dazu, dass sowohl Naomi als auch Ruth jetzt in alle Rechte verheirateter Frauen und die Erbfolge Elimelechs eingesetzt werden (Dtn 25,5 ff.; Lev 25,23). Hervorzuheben bleibt, dass der biblische Text allerdings in erster Linie auf die enge Beziehung zwischen Naomi und Ruth abhebt, die beide zusammen später den Sohn des Boas und der Ruth erziehen. Deshalb rufen die Frauen in Naomis Umgebung, die das juristische Arrangement durchschaut haben, nach der Geburt von Ruths Kind „Naomi ist ein Sohn geboren worden“ (Ruth 4,17). Naomi und Ruth, Schwiegermutter und Schwiegertochter werden zum Sinnbild einer Gemeinschaft jenseits der patriarchalen Familienordnung und fern einer Ausgrenzung des Fremden. All dies kann Poussins Bild nicht abbilden, erst in der Deutung entfaltet es seine innere Dialektik. Diese lässt sich der Grundfigur von Handkes Text vergleichen, der seine Beschreibungen einer Geborgenheit versprechenden Natur immer wieder mit Bildern der Bedrohung kombiniert, die zwar zum Teil visualisiert werden, häufig aber nur als eine Inschrift erscheinen, die es zu entziffern gilt wie die Bilder der Maler. Deshalb steht in seinem Text das Motiv der Fremdheit, das sich daran zeigt, dass die Obstdiebin „keinem Staat angehören“ will (OD 499), unmittelbar neben den Phantasien erfüllter Momente in unterschiedlichen Beziehungen. Gerade so zeigt sich, dass alle diese Schilderungen häufig über eine verdeckte Botschaft verfügen. Sie umkreisen immer wieder das Phantasma einer idealen Familie, ohne es dauerhaft Wirklichkeit werden zu lassen. Damit erschließt dieser Bezug auf ein Bild das Baugesetz von Handkes Text, der zwischen Visualisierung und sprachlicher Denotation oszilliert, wenn er widersprüchliche Erfahrungen präsentiert. Er stellt die Grundfigur von Poussins Bild nach und inszeniert eine reflexive Bewegung des Lesers, ohne sie zu einem endgültigen Ziel führen zu wollen. Diesem Wechselspiel von visueller Denotation und imaginativer Konnotation korrespondiert das von Visualisierung und Psychologisierung, das in Handkes Text ebenfalls als unabgeschlossene Bewegung präsentiert wird. Die Beziehung der Obstdiebin zu ihrem jungen Begleiter gibt dafür ein Beispiel, das den Blick auf Gewalt und Versöhnung zugleich lenkt. Während der Wanderung bemerkt die Frau
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zuerst eine psychische Veränderung des Jungen. Er läuft immer schneller, weil er die Obsession hat, eine Katastrophe verhindern zu müssen, die „Riesin Angst“ überfällt ihn (OD 400). Beide beginnen zu laufen, kommen in ein Haus, in dem sie in Gegenwart eines Mannes, der Gäste erwartet zu haben schien, und erleben in einem Raum, der über ein Tischfußball (OD 411) und eine Jukebox (OD 412) verfügt, eine Gemeinschaftsszene. Die unerklärliche Unruhe, die beide befallen hatte, ist zunächst gebannt. Die junge Frau, ein Mädchen und der Mann tanzen schließlich und der Erzähler glaubt, den Tanz von Mutter und Sohn in John Fords Die Früchte des Zorns noch einmal zu sehen, eine familiale Urszene, die ihm zeitlos Schutz und Geborgenheit zu visualisieren scheint. „So ist es. So war es. So wird es gewesen sein“, konstatiert er (OD 414). Doch diese Szene des Einverständnisses ist bedroht. Die Obstdiebin spürt, wie in dem jungen Mann eine Bereitschaft zur Gewalt entsteht, sie versetzt sich empathisch in die Gedanken des Jungen und erkennt seine Terrorphantasien, die sich mit Selbstmordgedanken verbinden (OD 416–418), erkennbar haben hier die Messerattacke in Magnanville und der Anschlag in Nizza eine Spur im Text hinterlassen. Erst als sie den Jungen in den Paartanz mit einbezieht, löst sich die Spannung. Ihr Begleiter erkennt, dass sie ihn durchschaut hatte. Zum ersten Mal, so die Erzählung, mündet ihr Gespräch tatsächlich in einen Dialog (OD 418). Diese Szene zeichnet das Bild einer Vereinigung vor, das der Frau in ihrem Traum erscheint. Diese Phantasie ist von dem Begehren bestimmt, das die Frau auf den Jungen richtet. Doch sie imaginiert die ersehnte Vereinigung allein körperlos, weil, so der Text, die Bestimmung der beiden füreinander „zugleich Begehren war und das Begehren zugleich Bestimmung –, aber ein Handeln, eine Aktion, ein Akt kam nicht in Frage“ (OD 435). Die damit verbundene Vorstellung der Obstdiebin, in einen Bereich „jenseits der Zeit und der Orte, und auch jenseits von Mann und Frau“ (OD 436) einzutreten, korrespondiert dem Bild eines Autors, dessen Texte Handke sonst meidet: Robert Musil hat es in seinem Mann ohne Eigenschaften zweimal beschrieben (Musil GS-1, 125; Musil GS-4, 1084). Bei Handke gehen die Körper von Mann und Frau „ohne ein Zutun, nachtlang ineinander“ über (OD 436), Musil beschreibt, wie die Körpergrenzen der Menschen verschwinden, sie können einander „ähnlich wie im Traum zwei Wesen […] durchschreiten […], ohne sich zu vermischen“ (Musil GS-1, 125). Beide Autoren verbindet, dass diese körperlosen Beziehungen auch Einsichten zur Folge haben, die künftige Erfahrungen modellieren. Handkes Obstdiebin wird sich bewusst, dass sie „mit ihrem Traum zu bleiben“ hat, „bis zu der Stunde ihres Absterbens“, Musils Protagonist tritt in einen „anderen Zustand“ ein. Dieser ist „klar und übervoll von klaren Gedanken“, bleibt aber ebenfalls im Modus der Anschauung und hält sich sogar vom Begriff fern. Ausdrücklich heißt es, dass er „von der Schärfe befreit“ sei (Musil GS-1, 125). Sowohl bei Musil als auch bei Handke lassen sich hier Anknüpfungen an ein Vorstellungsbild der Mystik erkennen, der Einfluss des Juan de la Cruz bestimmt zweifellos auch die Obstdiebin (Wagner 210, 140).
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Das Fest der Versöhnung und die Apotheose der Schrift Am Ende der Wanderung, die über weite Strecken wie ein Suchspiel (OD 529) des Erzählers und ein Suchlauf der Obstdiebin verläuft, kommt es zur Vereinigung von Vater, Tochter und Sohn. Vorbereitet ist diese Begegnung durch ein Erzählen über das Erzählen. Der Bruder berichtet über die Spannungen in der Familie, über seine Situation und seinen Weg. Dabei werden gemeinsame Erinnerungen der Geschwister ebenso benannt (OD 534) wie eine Anekdote über den Spieler Javier Pastore von Paris Saint Germain (OD 535–536). Danach findet in einem als geologisches Plateau beschriebenen Bereich das Fest der Vereinigung statt, zunächst idyllisch eingeleitet durch den Blick auf einen Kinderballon, durch Erzählungen und friedliche Stimmen, nur wenig irritiert durch ein rasendes Auto und eine Drohne, die am Rande als Zeichen für Kriegshandlungen wahrgenommen werden (OD 541). Dass die Obstdiebin rückwärts zu laufen beginnt, ist ein Zeichen für die Ausnahmesituation, die sie jetzt erlebt. Diese unterbricht die Linearität des Erzählens, die vorher mit der Bewegung der Personen im Raum gleichlief. Im Text erscheint diese Szene wie ein still gestellter Augenblick, in dem Sprache und Musik zu hören sind. Die Erzählung verwandelt sich in die Darstellung eines Tableaus. Dies setzt eine Erzählstrategie fort, die schon vorher den Bericht von der Bewegung der Obstdiebin bestimmte. In der eingeschobenen Geschichte eines Mannes, der seine verlorene Katze sucht, gelingt der Frau und dem begleitenden Jungen die Durchquerung eines Dickichts nur, weil sie einem Menschen auf der Flucht folgen können. Die Flucht als Spiel wird zur Metapher ihres Wegs (OD 378). Dieser an die Seite tritt die Vorstellung eines Erzählspiels, das der Text selbst entwirft. Am Ende rückt an die Stelle der vom Erzähler berichteten Geschichte der Obstdiebin, deren Wahrnehmung durch andere, von denen es ausdrücklich heißt, dass sie ihr unterschiedliche Versionen ihrer Geschichte zuschreiben könnten (OD 543). Die vom Text schon immer intendierte Interaktion zwischen Autor, Erzähler und Leser wird damit nicht nur evident gemacht, sondern auch eingefordert. Der Satz „eine Taube jagte einen Falken, der gellte vor Angst“ gibt einerseits einen Hinweis auf diese performative Kraft von Vorstellung und Erzählung, andererseits markiert er die phantastische Deformation der Wirklichkeit, zu der das Erzählen fähig ist (OD 544). Danach beginnt das Fest im Schutz eines Zeltes, nicht nur logistisch wohlorganisiert durch die Bankfrau aus dem Bildverlust, sondern auch dadurch, dass diese durch eine kollektive Blicksteuerung alle Anwesenden zunächst den Sonnenuntergang betrachten lässt. An dieser Stelle mischt sich der Erzähler ein und beschreibt den Modus dieser Wahrnehmung. Ausdrücklich bemerkt er: „Die Augen von uns Zuschauern konnten so offen bleiben und weiteten sich im Betrachten womöglich noch, ohne ein Blinzeln“ (OD 546). Eine ähnliche Blicksteuerung findet statt, als von der Musik berichtet wird, ausdrücklich wird jetzt der Leser angeredet, und es heißt im Text, jeder der das liest, „möge sich die gerade von ihm erwünschte [Musik] dazudenken“ (OD 547).
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Im Zentrum dieser Szene steht jetzt allerdings eine Festtagsrede des Vaters, der sich in dieser Situation zu wandeln scheint. Ursprünglich ein Einzelgänger, der sich aggressiv von anderen abgrenzte, spricht er plötzlich nicht nur mit einem von ihm bis dahin nie gehörten „Wir“ (OD 550). Er gibt mit seiner Rede auch der Ehe eine psychosoziale Deutung, weil diese die beiden Sätze „Ich werde beobachtet“ und „Ich fühle mich gesehen“ (OD 554) als Sozialisationsmuster verpflichtend mache. Zuvor schildert er die Situation des Staatenlosen und Entfremdeten, der sich, die Anspielung auf einen Text seines Erfinders ist evident, wie mit einem Einbaum gestrandet und deshalb wehrlos und desorientiert fühlt. Doch am Ende seiner Rede, die immer deutlicher ein Bekenntnis zur Gemeinschaft und zum Miteinander wird, beschwört er die gemeinsame Erfahrung mit einem Kind: „Sind Kinder einem Menschen doch die Seele“ (OD 557), bemerkt er. Die Mutter bleibt von dieser Rede zunächst unberührt im wortwörtlichen Sinn, doch für die Obstdiebin hat sich die Situation grundlegend verändert, sie legt die Arme um sich selbst, „drückte sich selber an sich“ und sieht bei geschlossenen Augen wiederum die Schriftzüge zurückkommen, zunächst als „helle Handschrift auf schwarzem Grund, Wiederholung der Milchstraße bei offenen Augen. Dann sprangen die Schriftzüge um in Schwarz, während der Grund weiß wurde: viel leerer Platz, in Gestalt von hellen Buchten um die unentzifferbaren Worte“ (OD 558 f.). Damit öffnet sich die Schrift selbst, die Zwischenräume der Buchstaben werden zu aufscheinenden Räumen, die den Bereich einer Selbstfindung markieren. Die Zeit der Obstdiebin ist zu Ende, nur eine helle Sommersträhne im dunklen Haar bleibt als Zeichen der Erinnerung an eine Wanderung, die am Ende nicht länger als drei Tage gedauert hat. Es würde allerdings zu kurz greifen, würde man die Schrift, die immer wieder in den Träumen und Phantasien der Protagonistin erscheint, allein mit der Schrift der Erzählung selbst gleichsetzen. Dagegen spricht schon, dass sie als sich wandelnd und prinzipiell unlesbar klassifiziert wird und dass sie nicht selten in Zuständen der Entrückung oder Dissoziation erscheint. Das Bild der Schrift, das an Wendemarken des Textes erscheint, muss vielmehr auf doppelte Weise aufgelöst werden. Zum einen weist es auf die Schrift, die das Medium der Erzählung selbst ist, dann ist es bloße Metapher des Schreibens. Zugleich aber weist es auf ein verborgenes Zeichensystem, das dieser Schrift der Erzählung eingeschrieben ist und der Dechiffrierung bedarf. Damit ist die Schrift Medium der Abbildung von Wirklichkeit und Instrument ihrer ästhetischen Transformation zugleich. Die Vorstellung, dass sich daraus die Notwendigkeit einer generellen Entzifferung der Zeichen im Text wie in der Wirklichkeit begründet, verbindet eine Denkfigur der Romantik mit einer Erfahrung der Moderne. Theodor W. Adornos Begriff der „Écriture“ in Malerei und Musik zielt auf diese verdeckte Struktur aller ästhetischen Zeichensysteme, die auch den Text Handkes bestimmt. Adornos Denkfigur einer „lesbaren Konstellation von Seiendem“ entfaltet dazu eine weiter führende Überlegung, die unmittelbar auch den literarischen Text betrifft. Als das „Schriftähnliche“ bezeichnet sie den „Umschlag des subjektiv Gedachten und Zusammengebrachten in Objektivität vermöge der Sprache“
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(Adorno GS-7, 167 f.). Neben der Abbildung von Wirklichkeit wird die so verstandene Sprache auch zum Zeichen einer blitzhaft aufscheinenden Erkenntnis. Dies genau beschreibt den Modus, in dem sich Handkes Sprache und Bilder der Wirklichkeit nähern. Sie bilden diese nicht ab, sondern berühren sie nur. Auch dafür hat Adorno die Formel gefunden: Kunst greift „gestisch nach der Realität, um in der Berührung mit ihr zurückzuzucken. Ihre Lettern sind Male dieser Bewegung. Ihre Konstellation im Kunstwerk ist die Chiffrenschrift des geschichtlichen Wesens der Realität, nicht deren Abbild“ (Adorno GS-7, 425). Realisiert ist dieser erzählerische Gestus auch in der Geschichte von Handkes Protagonistin. Blickt man auf die Beschreibung ihres Wegs, so endet die Wanderung der Obstdiebin einerseits in einer durchgreifenden Ambivalenz. Durch unterschiedliche Beobachter könnten ihr, wie ihr Erscheinen auf dem Plateau bestätigt, mehrere Geschichten zugeschrieben werden. Daraus resultiert eine Offenheit, die mit den Assoziationsketten in der Rede des Vaters korrespondiert. Andererseits gewinnt der Text insgesamt gerade aus der Bewahrung dieser Offenheit seine fortdauernde Wirkung. Darauf weist eine eigentümlich ambivalente Formel, die das Bemerkenswerte und das Dauernde zugleich betont. Die Geschichte der Obstdiebin ist „Bleibend seltsam. Ewig seltsam“ (OD 559). Wie der Bildverlust konzentriert sich auch dieser Text darauf, im Modus einer Geschichte unterschiedliche, mitunter auch irritierende Ansichten und Bilder der Wirklichkeit zu eröffnen und durch ihre Reihung erzählbar zu machen. An die Stelle der bloßen Abbildung von Wirklichkeit und der Fixierung auf eine durch Handlung bestimmte Geschichte setzt er eine Bilder- und Szenenfolge, deren Écriture zu entziffern dem Leser je erneut aufgegeben ist. Allein diese Arbeit des Lesens kann Erfahrungen mobilisieren und dauerhaft zugänglich machen, die das bloße Erleben überschreiten. Sie ermöglicht eine Wahrnehmung, die alles, was sich als Wirklichkeit zeigt, durch Phantasie und Sprache verwandeln kann.
14.4 Neuerzählen der Welt: Das zweite Schwert (2020) Nach der heftigen öffentlichen Diskussion anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises stellte man die Frage, ob sich der erste danach entstandene Text Handkes auf diese Auseinandersetzung beziehen würde. Sein Titel, der von einem Schwert handelt, und sein erster Satz „Das also ist das Gesicht eines Rächers!“ lassen dies durchaus vermuten. Doch der Bezug auf die öffentliche Diskussion Ende des Jahres (2019) wird durch den Hinweis auf Zeit und Ort der Entstehung „April - Mai 2019. Ile-de-France/Picardie“ zunächst zurückgewiesen (ZS 156). Auch der Titelzusatz „Eine Maigeschichte“ weist in eine andere Richtung, auf Natur und einen Neuanfang, der zudem mit dem Osterfest verknüpft wird, auf die Assoziation eines eher idyllischen Szenarios. Doch ganz abgesehen davon, dass Datierungen in Texten Handkes häufig absichtlich fiktiv sind, steht diese Geschichte in der Tat im „Echoraum des großen Streits vom Herbst“ (Kühn 2020). In einem zentralen inhaltlichen Punkt bezieht sie sich auf ein Thema, das in Handkes Auseinandersetzung mit dem
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Journalismus und insbesondere mit der journalistischen Berichterstattung über den Jugoslawien-Krieg Bedeutung erhält. Es ist die Frage nach dem Umgang mit Bildern, die politische Vorgänge dokumentieren sollen: Thema der Geschichte vom Zweiten Schwert ist die geplante Ermordung einer Journalistin, die mit einer Bildmanipulation nicht angemessen über die Mutter des Erzählers, die seltsam genug als „heilige Mutter“ bezeichnet wird, berichtet hat (ZS 73 f., 96). Dies eröffnet einen werkgeschichtlichen und einen biographischen Bezug. Zum einen spielt der Vorwurf der Bildmanipulation in der Auseinandersetzung über den Serbienkrieg für Handke eine zentrale Rolle, die er in der Fahrt im Einbaum auch anspricht (FE 98). Zum andern hat diese Frage für den vorliegenden Text einen authentischen Hintergrund, weil er einen unmittelbaren Bezug auf Handkes Mutter eröffnet: Vorlage für die Geschichte des Erzählers im Zweiten Schwert dürfte die entschiedene Wendung des Autors gegen eine Bildmontage in Katie Mitchells Inszenierung des Wunschlosen Unglücks 2014 im Kasino des Wiener Burgtheaters sein. Ein authentisches Bild von Handkes Mutter wurde dort in ein Foto der Menschenmenge einmontiert, die 1938 auf dem Heldenplatz in Wien Hitler bejubelte (ZS 74). Handkes Empörung über diese dramaturgische Strategie ist belegt (Wurmitzer 2020). Verbunden damit ist im Text ein Tötungswunsch, der sich auf die als „Fernschreiber“ bezeichneten Journalisten richtet, es sind zweifellos die gemeint, die Handke in seinen Serbientexten von den „Feldforscher[n]“ vor Ort unterscheidet (ZS 73 ff., WR 148). Unmittelbar in Zusammenhang damit verzeichnet der Text zudem eine Passage, die sich als Selbstkritik des Autors lesen lässt. Der Erzähler erinnert sich an seine Neigung zur Gewalt in der Kinderzeit und im späteren Leben, er fühlt sich sogar „zum Mörder“, wenn auch nicht zum Rächer geboren (ZS 68 f.). Dabei mischen sich fingierte und authentische Referenzen. Neben die angebliche Ermordung des Vaters treten Bilder der Gewalt gegenüber Frauen, die in Selbstäußerungen des Autors Handke offen eingestanden und tatsächlich verbürgt sind (MJN 189; IN 106, 159; Carstensen 2014, 59–61) und deren Unvermitteltheit und Intensität auffällig ist. Auch ein im Journal von Am Felsfenster morgens verzeichnetes Halbschlafbild gibt darauf einen Hinweis (AF 186 f.). Solche klaren Bezüge lenken zunächst davon ab, dass sich die Erzählung auf mehrfache Weise von aktuellen Referenzen löst. Zum ersten verwandelt sie das als authentisch erzählte Ereignis in eine Geschichte, welche die über den Text hinausweisenden Bezüge bewusst löscht und den Auslöser der Handlung hinter eine Abfolge von Verweisen auf andere Texte Handkes zurücktreten lässt. Dies geschieht bereits strukturell, denn die Geschichte erhält ihre Kontur dadurch, dass sie eine Bewegung durch den Raum darstellt, die Voraussetzung für das Beobachten und Sehen des Protagonisten ist. Obwohl ihr Ziel, die Suche nach der Journalistin, genau bestimmt ist, erscheint sie eigentümlich ziellos. Einer in der Obstdiebin, der Morawischen Nacht und anderen Texten praktizierten Erzählweise entspricht zudem der eigentümliche Wechsel von Verzögerung und Beschleunigung der Bewegung, der schon mit der auffällig langen Vorbereitung des Aufbruchs einsetzt. Damit korrespondiert, dass sich in der Wahrnehmung des betrachtenden Erzählers die Zeit zu dehnen scheint und damit die gewöhnlichen
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Koordinaten von Raum und Zeit verändert werden (ZS 23). Dass es danach neben der Suche auch um eine Selbsterfahrung gehen wird, deuten der explizite Verweis auf den Anton Reiser von Karl Philipp Moritz und die implizite Referenz auf Handkes Kurzen Brief zum langen Abschied an (SZ 67). Zum zweiten ist auch dieser Text durch den für Handke charakteristischen Bezug auf andere Erzählformen geprägt. Selbst in seinen verkürzten szenischen Bildfolgen spielt er auf den Erzählmodus der mittelalterlichen aventiure an, zudem ist die Geschichte des Erzählers von romantischen und märchenhaften Motiven durchsetzt. Darauf weist nicht zuletzt der Traum des Protagonisten, der sich auf seine aktuellen Erfahrungen bezieht und diese zugleich durch eine vorübergehende Desorientierung vergessen macht. Diese ambivalente Rolle des Traums, ein traditionelles Motiv romantischer Texte, ist auch eine zentrale Konfiguration Handkeschen Erzählens, die vor allem im Bildverlust Bedeutung gewinnt (BV 97, 395, 538). Märchenhaft und poetisch zugleich sind die Szenen, in denen der Erzähler den Eindruck hat, dass ihn Tiere ansprechen. „Tu es! Tu es!“, ruft ihm vor Beginn seiner Rachefahrt ein Rotkehlchen zu und an deren friedfertigem Ende redet ihn eine „verspätete Amsel“ in der Nacht als „Bräutigam, Bräutigam“ an (ZS 157). Neben diesen märchenhaften Elementen der Erzählung entfalten die Koordinaten der Reise, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Bussen und Straßenbahnen unternommen wird – auch dies ein motivisches Schema, auf das Handke wiederholt zurückgreift – immer wieder unmittelbare Bezüge auf andere Texte des Autors. Auf dessen Don Juan ist angespielt durch einen Abstecher des Erzählers ins Kloster Port-Royal, der Versuch über den geglückten Tag wird angesprochen durch einen Verweis auf die ästhetische Figur der „line of beauty and grace“ des dort ausführlich behandelten Malers Hogarth, das Gedicht an die Dauer (SZ 66, GD 22) und der Versuch über den Pilznarren werden präsent durch den Bezug auf Goethes Begriff der „Geistesgegenwart“ (VP 52), das Stück Immer noch Sturm durch eine Episode mit dem Rock des Vorfahren (ZS 109, IS 160 f.). So läuft die geschilderte Reise auch hier mit einem „Aufbruch ins eigene Werk“ parallel (Müller 2020). Diese Spannung zwischen unterschiedlichen Textbausteinen charakterisiert den besonderen Modus des Erzählens. Dieser entwirft eine Miniatur, die zentrale Elemente von Handkes Schreiben nicht nur zitiert, sondern zugleich spielerisch reorganisiert und transformiert. In diesem Patchwork von Verweisen auf vorangegangene Texte, einem textuellen bricolage, werden – auch dies charakterisiert Handkes Schreibweise – unterschiedliche Deutungen möglich. Die das Erzählen organisierenden Referenzen sind nicht nur in sich ambivalent, sie entfalten auch unterschiedliche Bezugsfelder für ihre Auflösung, es ist eine Technik, welche die letzten Texte des Autors durchweg bestimmt. Zudem lässt sich beobachten, dass sich dieses Spiel mit dem Eigenen und dem Fremden nicht nur der endgültigen Fixierung entzieht, sondern auch ironisch gebrochen ist. Eine triviale Szene nimmt ausdrücklich Bezug auf Prousts Recherche: Als der Erzähler aus der gemeinsamen Weinflasche der in einer Bar am Bahnhof Versammelten trinkt, bemerkt er den „Nachgeschmack des Zigarettenrauchs“ und erinnert sich an Prousts M adeleine-Episode aus der Recherche (ZS 29), die damit persifliert wird.
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Darüber hinaus bestimmt der Bezug auf diesen Autor Handkes Spiel mit Verweisen, Bildern und Orten durchgehend, wenn auch sonst nur in verdeckter Form (ZS 114). Ironie bestimmt auch andere Szenen und Bilder. Im zweiten Teil der Erzählung sieht sich der Protagonist unversehens als „Rächer mit den verschiedenfarbigen Socken“ (ZV 110). Dieses Bild steht in eigentümlichem Gegensatz zu der Vorstellung, die er von sich selbst entwirft. In ihr erscheint er mit einem dreiteiligen blauschwarzen Dior-Anzug, einem breitkrempigen Borsalino und einer Bussardfeder im Hutband, zudem mit dunkelgetönter Brille (ZS 138). Dieser karikierenden Beschreibung an die Seite rücken Formeln wie das „Epos der Ersatzbusstrecke“ (ZS 146) oder der Hinweis auf die „Narretei“ der eigenen Pilzsuche (ZS 130), schließlich die Szene, in welcher der Erzähler das Kastanienblatt, auf dem sich ihm die „line of beauty and grace“ zeigt, einfach verschluckt (ZS 156). Ein autobiographischer Verweis ergibt sich dagegen durch die Schilderung des Aufbruchsorts. Es ist ein Szenario, das zweifellos die Gegend um Chaville präsent werden lässt, deren Koordinaten ebenfalls zitiert werden. Fast standardisierte Natur- und Zivilisationsbilder stehen hier nebeneinander, die Jahreszeit des Frühlings rückt neben die Unorte der Vorstadt (ZS 22 f., IN 209). In der „Bar der drei Bahnhöfe“ werden überdies Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten und Nationalitäten geschildert. Nach dem Ende des Fußballmatches im Fernsehen ergeben sich Feierabendgespräche, die Geschichten vom sozialen Abschied ebenso berichten wie Lebensträume und Phantasien. Einer der höheren Angestellten spricht sogar von seiner Sehnsucht, in die „obersten Etagen zum Rittertum“ zu kommen (ZS 40–45). In einem ironischen Wechselbezug erschließt sich auf diese Weise eine Nähe zwischen dem Autor und dem Erzähler, der über seine Ortswechsel und den ewigen Entschluss zum Aufbruch nachdenkt (ZS 33), sich in Halbschlafbildern auf den Tag einstimmt (ZS 18), die Gesellschaft der Bewohner im Hotel der Reisenden aufsucht und sich dabei melancholisch an John Lennons Life is very short erinnert (ZS 29). Dass das Sehen und die Wahrnehmung der Natur für den späteren Aufbruch Bedeutung gewinnen, weil sie diesen vorbereiten und erst in seinem Verlauf ihre endgültige Wirkung entfalten, deutet sich bereits am Anfang an. „Zeitlebens, zu einem, wie ich meinte, entscheidenden Aufbruch entschlossen, hatte ich vorher eine, wie ich wiederum meinte, dazugehörige, eine wesentliche Ablenkung gesucht, und zwar jedesmal in der Natur. Und so auch jetzt und hier“ (ZS 33). Bereits der geschilderte Ort des Hauses und seiner Umgebung erscheinen als Bezirk einer privilegierten Beobachtung der Natur, die in mancher Hinsicht die intensiven Naturbilder der Journale, insbesondere von Am Felsfenster morgens nachzeichnet. Die dort vorherrschende Fokussierung auf das „Sehen“ (AF 539) leitet unmittelbar aus diesem die Befähigung zum Wort ab, das am Ende zum Erzählen führt (AF 439; BV 746). Nach dem Aufbruch aus dem Haus treten die Beschreibung der Bewegung und die Bewegung des Sehens in ein unmittelbares Wechselverhältnis. Das „gewahr“-Werden des Erzählers erfasst eine Bewegung in der Natur, die im Lauf des Frühlings voranschreitet.
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Bilder beinah wie sonst in den Zeitraffern, Ruck um Ruck – begrünt, und am letzten Morgen zog und wellte sich, bei großer Sonne und Zephyr, das, von Baumart zu Baumart das Spiel wechselnde, unendlich vielfältige Grün, kein Haus, das den Blick ablenkte, himmelan zu dem einfältig reinen Blauen. Und nicht bloß leuchtete, schimmerte, glänzte, selbst graute! jedes der Grün anders, anders das der Weiden, Erlen und Pappeln am Hügelfuß, der Buchen und Eschen auf halber Höhe, der Birken, Eichen, Robinien, Vogelbeeren, Edelkastanien allüberall […]. (ZS 36)
Dabei scheinen die Zeichen der Zivilisation und der Natur zunächst gleichermaßen prägenden Formen zu unterstehen, die an die ästhetische Figur von Hogarths „line of beauty and grace“ erinnern. Dies zeigt bereits das harmonische Bild von zwei Rauchsäulen über dem Nachbarhaus, die ursprünglich ganz unterschiedlich sind, dann aber „im Widerspruch zur vorsintflutlichen Brudermordstory“ nicht nur die gleiche Farbe und Konsistenz annehmen, sondern sich schließlich auch miteinander verbinden (ZS 21). Eine Entsprechung zu dieser visuellen Konfiguration bildet der panoramatische Blick des Erzählers, der die vor ihm ausgebreitete Landschaft als ein Bewegungsbild wahrnimmt, wie es für die romantische Wahrnehmung charakteristisch ist. „Jeder einzelne Baumwipfel auf der Hügelflanke zeigte sich als eine Mühle. Die Mühlen, sie mahlten und mahlten. Was machten die – gar die Fortsetzung? Doch: die Fortsetzung. Und wie dort von Laub zu Laub dies verschiedene Grün herrschte, so mahlte, drehte, zirkelte, kreiselte es von Blattwerk zu Blattwerk deutlichst unterschieden“ (ZS 37). Die in die Natur projizierte geometrisierte Bewegung verbildlicht zugleich eine psychische: Den Weg vom Sehen zum Wort, der zunächst, der biblischen Archäologie menschlicher Sprachbildung folgend, mit dem Benennen beginnt. Damit verbindet sich implizit die nicht nur im Versuch über den Pilznarren entwickelte poetologische Vorstellung von einem Schreiben, das sich vor allem auf Beobachten und Sehen gründet, das sich erst im Gehen einstellt (VP 128–130) und dabei ein Spiel von „Geistesgegenwart […] völliger Abwesenheit und […] vollkommener Geistesgegenwart“ inszeniert (VP 52). Schon die bloße Wahrnehmung führt hier zu einer Wortfindung: Die sprachlichen Zeichen gewinnen am Ende mehr Bedeutung als die Bilder, sie lassen dabei eine imaginäre Topographie entstehen (Luckscheiter 2012, 12): Ja, oft hatten die Namen jener Orte, in der Regel mehrsilbige, für sich stärkere Bildkraft und Kontur als die nebulösen Bildhöfe oder -beigaben im Anhängselbereich. ‚Circle City, Alaska‘, ‚Mionica‘, ‚Archea Nemea‘, ‚Navalmoral de la Mata‘, ‚Brazzano di Cormòns‘, ‚Pitlochry‘, ‚Gornji Milanovac‘, ‚Hudi Log‘ (übersetzt ‚Bösenort‘), ‚Locmariaquer‘: rein gar nichts war mir dort passiert, weder Gutes noch Böses, keine Liebe, keine Angst, keine Gefahr, kein Gedanke, keine Erkenntnis, geschweige denn ein Zusammenhang oder, Gott im Himmel oder wo, eine Vision. Ich hatte die Orte nur gestreift, war zufällig durchgekommen […]. (ZS 39)
Die Selbstgewissheit der Anschauung und die Geschlossenheit der Naturbilder können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass alles, was zwischen den beiden Blicken in einen Spiegel, von denen der Erzähler am Anfang und am Ende des Textes berichtet, von einer inneren Spannung durchzogen ist, die allerdings in der
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Wahrnehmung des Erzählers verdeckt wird. „Und trotzdem sah und erlebte ich diesen Umkreis der Hügel weiterhin als die, die sie mir am Anfang erschienen waren. Die Tatsachen konnten der Illusion nichts anhaben. Die Einbildung war dauerhaft, nahm mit der Zeit an Räumlichkeit, Stofflichkeit, Farbigkeit – an Rhythmik noch zu. Ob wirklich oder nicht: sie wirkte“ (ZS 35). Doch dieser panoramatische Blick auf den „Ewigen Hügel“ von Vélizy hat eine nicht offen gelegte Inschrift (ZS 35), denn inmitten des emphatisch geschilderten Panoramas der Hochfläche von Vélizy befindet sich die am Anfang erwähnte Militärbasis (ZS 16). Es handelt sich um die Base aérienne 107 Villacoublay auf dem Plateau von Vélizy, auf der nicht nur die Staatsgäste Frankreichs ankommen, sondern auch die Gefallenen französischer Kriege heimgeholt werden. Während der Luftschlacht um England zu Beginn des Zweiten Weltkrieg und später als die Alliierten ihre Bombenangriffe auf Deutschland begannen, war sie ein Flugplatz der Deutschen Luftwaffe. Damit wiederholt sich eine Konfiguration die auch das Ende des Großen Falls bestimmt. Wie in anderen Texten des Autors verbinden sich die Bilder einer versöhnten Natur mit offenen oder verdeckten Zeichen von Krieg und Gewalt (ZS 35, MN 550, GF 279, CS 203). Ein weiteres Beispiel dafür verzeichnet der Text der Zwei Schwerter, wenn der Erzähler auf dem Stein einer alten Ufermauer eine Inschrift findet, die wiederum an eine vergangene Geschichte der Gewalt erinnert und damit die idyllische Konfiguration der „Maigeschichte“ auch literaliter konterkariert: „HEUTE ACHTEN MAI 1945 – LÄUTEN DIE GLOCKEN DEN SIEG“ (ZS 117). Eben an diesem Punkt wendet er sich einer ganz anderen Schrift zu, die ebenfalls mit dem Ort Port-Royal verknüpft ist. Es ist der Text von Blaise Pascals Pensées. „Schließ die Pforten deiner Sinne!“ formuliert der Erzähler im Anschluss an diesen (ZS 119). Eine vergleichbare dialektische Spannung, die sich zwischen Wahrnehmungen, Zeichen und Texten entfaltet, bestimmt die gesamte Erzählung. Blickt man auf die Suche des Protagonisten, so zeigt sich, dass sie zwischen seinen zwei Spiegelblicken am Anfang und am Ende (ZS 11, 157) auch von einer doppelten Wahrnehmung beim Blick auf die Mitreisenden geprägt ist, denn er begegnet Ausgeglichenen und Ruhigen ebenso wie Derangierten und Aggressiven. Immer wieder ist seine Wahrnehmung zudem von den für Handke typischen Umsprungbildern (Höller 2013, 117), Wechseln der Register der Wahrnehmung, durchzogen, die sich hier nicht selten an den Umkehrschleifen der Busse einstellen (ZS 99, 148). Dadurch verwandelt sich das Erzählen in ein Spiel, das auf die Fixierung und Pointierung von Gegensätzen aus ist. Es etabliert eine doppelte Ordnung, die ebenfalls einem Verfahren romantischer Märchen korrespondiert. Sie weist zugleich entschieden über die erzählte Wirklichkeit hinaus: Das Erzählen erschließt eine andere Diskursordnung, die mit der poetischen interferiert. Sein Signalwort findet dieser Doppelbezug durch den Hinweis auf das Schwert im Titel und die ergänzende Charakteristik als Maigeschichte. Ihr korrespondieren die zwei Teile der Erzählung, auf deren ersten mit dem Titel „Späte Rache“, ein zweiter folgt, der mit „Das zweite Schwert“ überschrieben ist.
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Manches spricht dafür, dass diese textuelle Konfiguration in Übereinstimmung mit dem biblischen Kontext steht, den Handkes Erzählung bewusst ins Motto setzt, und dass sie sich auch auf die heilsgeschichtliche Verknüpfung des Alten und des Neuen Testaments beziehen lässt. Überraschend allerdings ist, dass diese Linearität im Erzählen auf doppelte Weise invertiert wird. Darin nimmt dieses eine Dialektik auf, die bereits den biblischen Text bestimmt: Die Passage aus dem Lukas-Evangelium eröffnet schon beim Evangelisten eine Spannung zwischen der Bereitschaft zur Gewalt und einem bewussten Verzicht auf diese. Die mittelalterliche Zwei-Reiche-Lehre, die sich ausdrücklich auf diese Stelle bezieht, hat im Investiturstreit mit diesen Worten des Evangelisten das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Macht zu bestimmen versucht. Doch neben dieser politischen Lesart ist für die biblische Exegese von Bedeutung, dass die Stelle in Zusammenhang mit der Passionsgeschichte und der Auferstehung Jesu steht und dass ihr Kontext Zugeständnisse an eine zelotische Auslegung ebenso erkennen lässt wie deren Abwehr (Schirmer 2009). Jesu Aufforderung an die Jünger, sich eine Börse und ein Schwert zu beschaffen, ist keineswegs ein Aufruf zur Gewalt, vielmehr bedeutet Jesus den Jüngern zunächst nur, dass sie nach seinem Tod auf sich allein gestellt sein werden. Als ihn wenig später Petrus mit dem Schwert zu verteidigen beginnt, ermahnt er sie, das Handeln der Knechte des Hohenpriesters zu akzeptieren, er heilt sogar das von seinem Jünger abgeschlagene Ohr des Malchus (Lukas 22: 51,52). Sinnvoll ist es deshalb, die Passage auch unter dem Skopus des Evangeliums des Matthäus zu lesen, wo es ausdrücklich heißt: „Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durch das Schwert umkommen“ (Matthäus 26: 52). Diese Kontextualisierung verändert den Status der im Text angekündigten Rachegeschichte grundsätzlich. Dass sich die Dialektik des biblischen Textes in Handkes Erzählung zunächst fortschreibt, erschließt deren Funktionsregel. Es wird deutlich, dass sie für das vorangestellte Motto bewusst keine eindeutige Lesart vorgibt, sondern die Deutung erst im Zuge eines Erzählens entfaltet, welches die unterschiedlichen Koordinaten nur allmählich ausdifferenziert. Grundsätzlich folgt sie dabei der Figur einer homiletischen Auslegung, die Regeln praktischen Handelns entwirft. Dies kennzeichnet den für Handke typischen Umgang mit den Evangelien, den auch seine Psychologisierung biblischer Themen in Gestern unterwegs belegt (GU 523, 537). Jetzt wird diese Strategie der Textauslegung sowohl durch einen geistesgeschichtlichen als auch einen autofiktionalen Bezug bestärkt. Dabei gewinnt zunächst die Station des Klosters Port-Royal Bedeutung. Es ist ein Ort, der zum Zeichen einer spirituellen Wende wurde, die eine fundamentale Neubestimmung des christlichen Glaubens in der politischen Welt zum Ziel hatte. Die Bewegung der Zisterzienser setzte der auf weltliche Macht fixierten römischen Kirche eine neue Spiritualität entgegen. Bereits Handkes Don Juan umkreist diese geistesgeschichtliche Wendemarke. Im Zusammenhang seines Schreibens hat dieser religiöse Bezug allerdings eine durchaus ambivalente Konsequenz. Es lässt sich nicht übersehen, dass gerade die im Text vorgelegte säkulare Deutung
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des biblischen Worts, die Parallelisierung von religiöser und poetischer Sprache, eine autofiktionale Spur erschließt, die in einigen Journalen zu einer durchaus irritierenden Identifikation des Autors mit Christus führt (GU 419, 245, 538, VB 172, 383). Seine ausdrückliche Orientierung an Christus als Gottessohn, die schon Gestern unterwegs bestimmt, setzt sich damit fort (GU 390, 514). Grundsätzlich belegt diese Verknüpfung zudem die zentrale Bedeutung der autoanalytischen Linie, die auch diesen Text bestimmt: Sie wird zum Kreuzungspunkt eines erzählten Diskursspiels, das gesellschaftskritische, psychologische und poetologische Überlegungen miteinander verbindet. In Port-Royal trifft der Erzähler einen seiner Nachbarn, einen früheren Richter, der im Zuge einer Kritik seines Berufsstands den „Rechtsmißbrauch“ kritisiert, den er als ein Zeichen für den modernen Verlust der von Rousseau bestimmten volonté générale deutet (ZS 130 f.). Ohne erfahren zu haben, was die Absicht des Erzählers ist, begleitet ihn dieser Richter mit seinen Wünschen und konstatiert: „Sie haben ein ernstes Vorhaben“ (ZS 133). Diese Episode schließt sich an eine Reflexion des Erzählers über die Autorität von Richtern an, die unverkennbar ihre Vorlage in Handkes Infragestellung des Internationalen Gerichtshofs von Den Haag hat. Jetzt allerdings erfolgt die Kritik allein in einem satirischen Bild: „Hätten [die Richter] wahrhaftig das Recht auf ihrer Seite, so müßten sie keine Juristenhüte tragen. Die Erhabenheit ihrer Wissenschaft wäre Autorität genug. Doch da ihre Wissenschaft eine bloß eingebildete ist, muß der Weg der Rechtsherren jener der Einbildungskraft sein, wodurch sie dann tatsächlich Autorität ausüben. Alle Autoritäten sind verkleidet“ (ZS 119). In satirischer Zuspitzung wird nichts anderes als eine usurpatorische Selbstermächtigung kritisiert. Der Formel „Ich schlage um mich mit meinen Rechten, also bin ich“ (ZS 131) hatte der Erzähler schon vorher lapidar entgegengesetzt: „jetzt gibt´s keine Gerechtigkeit mehr auf Erden ohne Gewalt“ (ZS 120). Doch diese kritische Distanz bricht in der Folge zusammen. Zunächst beansprucht der Erzähler selbst das Recht des Schwertes, sein „wahrhaftes Recht“, um den Fall „Meine Mutter“ zu lösen (ZS 120). Doch in einem nachfolgenden Traum erinnert er sich an seine frühere Frage nach dem Widerstand der Mutter im ‚Dritten Reich‘. In der Rolle eines Anklägers wie die Journalistin, an der er sich rächen will, hatte er schon als Kind die „Mutter-Sohn-Szene“ (ZS 121) so sehr gestört, dass die Mutter wie eine Angeklagte weinte, „wortlos, wimmerte, schluchzte vor ihrem Möchtegern-Richter“. In der phantastischen Perspektive des Traums verlängert sich diese Vergangenheit bis in die Gegenwart: „ihr Schluchzen wird niemals aufgehört haben“, vermutet der Träumer (ZS 122). Kurz darauf kehrt sich die Situation radikal um. Wie häufig in Handkes Texten wird dies psychologisch eindrucksvoll dadurch visualisiert, dass es in einer Abfolge von erzählten Filmbildern geschieht. Auf eine Großaufnahme in „Supercinemascope“ folgt eine Aufblende in Schwarz und dann erneut ein Close up auf das Gesicht der Mutter, diesmal in Schwarz-Weiß und auf bedrohliche Weise verfremdet. Das „Muttertraumgesicht“ wird in dieser Bilderfolge zu dem „einer Rächerin“ (ZS 123). Diese Szene wiederholt eine zentrale obsessive Erinnerung an die Mutter, die in der Morawischen Nacht auch als „Erscheinung“ wie ein
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„Bildeinschuss mitten ins Herz“ auftritt (MN 499 f.), der ebenfalls als ein Filmbild erscheint, in dem sich „Einzig das Gesicht der Mutter, vom Dunkel umgeben“ (MN 500) zeigt. Weil dieser Traum so klar wie schneidend ist und das Bild „primärer Mütterlichkeit“ (Winnicott) durch seine bedrohliche Intensität selbst „schon der Racheakt“ ist, der keines Grundes bedarf, bleibt dem Erzähler keine andere Wahl als aufzuwachen, „weggeflüchtet, von der Historie hin zur Gegenwart“ (ZS 124). Was diese Formel meint, deutet sich bereits dadurch an, dass diese Gegenwart mit dem Namen Blaise Pascal verbunden wird. Das Denken und die Texte Pascals eröffnen einen Fluchtraum, einen Durchblick im Lauf der Zeiten. Der Satz „Nous sommes embarqués“ (ZS 126) wird zu einer Formel für ein Zurücktreten hinter die Dinge, das hier als poetologische Formel entwickelt wird. Diese korrigiert eine frühere Vorstellung des Autors über den Modus des Schreibens. Die Geschichte des Bleistifts hatte noch die unbegrenzte Allmacht der Phantasie gefeiert. „Erst, wenn das, was war, in die Phantasie gehoben, noch einmal kommt, wird es mir wirklich: Phantasie als die auslegende Wiederkehr“, konnte man dort lesen (GB 202). Jetzt wird diese freie Verfügung über die Erscheinungen auf doppelte Weise differenziert. Zum einen durch einen Verweis auf den „Schein“ und das „Schöne“, wie sie Schiller im 27. Brief seiner Ästhetischen Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen näher bestimmt. Dort beschreibt er, wie der „ästhetische Bildungstrieb“ das „dritte fröhliche[.] Reich[.] des Spiels und des Scheins“ errichtet. Dieses nimmt dem Menschen „die Fesseln aller Verhältnisse“ ab (Schiller NA-20, 410) und verweist ihn auf sich selbst: „Nichts darf ihm hier heilig sein als sein eigenes Gesetz“, heißt es programmatisch im 26. Brief (Schiller NA-20, 512). In seiner Rede zur Verleihung des Nobelpreises setzte Handke auf diese Autonomie des Ästhetischen, indem er sie nicht nur dem öffentlichen Diskurs entgegensetzte, sondern sich diesem zugleich auch verweigerte. Er stellte ihm allein seinen ästhetischen Entwurf von Über die Dörfer entgegen. In der Erzählung vom zweiten Schwert klammert Handke die politische Dimension seiner Überlegungen ebenfalls aus, zudem bestimmt er den ästhetischen „Schein“ unabhängig von Vorstellung oder Begriff der Schönheit, die auf einen gesellschaftlichen Kontext verwiesen wären. „Der Schein, er ist für sich, und von sich aus, Materie; ist Stoff; Urstoff, Stoff der Stoffe“, heißt es (ZS 125), und wenig später vermerkt er: „Alle die Wüsteneien und Badlands der Schönheit. Dagegen die Quellen, Bäche, Ströme und Meere des Scheins! Pazifik des Scheins“ (ZS 126). Es ist von Bedeutung, dass die so begründete Selbstgewissheit des Erzählers im Text biographisch recodiert ist und dass dies nun ausgerechnet auf die wirkliche Mutter Handkes bezogen ist, deren Erzählungen für die Erinnerungen des Autors zentrale Bedeutung gewinnen (Greiner 2010). Das Erzählen der Mutter präfiguriert und initiiert das Erzählen des Erzählers. „Und sie erzählte und erzählte. Sie erzählte am Morgen, sie erzählte am Abend, sie erzählte in der Nacht“, berichtet dieser (ZS 70). Dass sein Wunsch, Rache zu nehmen, in der Erzählung unmittelbar mit seinen Erinnerungen an dieses mütterliche Erzählen verbunden ist – zweifellos auch eine Anspielung auf die lebensgeschichtliche
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Bedeutung des „drame de mon coucher“ bei Proust – gewinnt für diese Geschichte besondere Bedeutung. Denn auch sie mündet in eine Apotheose des Erzählens, das, gerade indem es sich vom unmittelbaren Bezug auf Wirklichkeit freisetzt, ein ganz anderes Bild von dieser entwerfen kann. Dieses ist exklusiv im eigentlichen Wortsinn, es lässt nur zu, was sich dem bloß Wirklichen entgegensetzen lässt. Das „zweite Schwert“ ist das Wort, es ist nicht „das Schwert aus Stahl“ (ZS 157). So vollzieht sich im Kontext des Erzählens eine Depotenzierung und zugleich Transformation des Wirklichen. Die erzählerischen Elemente, mit denen Handke dies schildert, sind vertraut. Wie in anderen Texten steht am Ende auch dieser Reise ein Fest, das alle Spannungen aufhebt (ZS 152 ff., OD 541, ÜD 37, 41) und in dessen Verlauf sich, als sei es ein Traum, alle bisherigen Orientierungen auflösen. Wie in dem Kinderspiel, an das sich der Erzähler erinnert, verschieben sich für ihn die Koordinaten seiner bisherigen Orientierung: „Und plötzlich rollte die Kugel, rollten die Murmeln ganz woandershin, als zu Beginn dieser Geschichte gedacht“ (ZS 156). Möglich wird dies allein deshalb, weil der Protagonist ein Erzähler ist, der nicht nur eine oder seine Geschichte erzählt, sondern diese zugleich im Erzählen reorganisiert. Sein Text kann Wirklichkeit einschließen oder ausschließen, er ist eine Inszenierung, keine Geschichte die erzählt wird, sondern eine Phantasie über das Vermögen des Erzählens. Sowohl die Koordinaten der beschriebenen Wirklichkeit als auch ihr Umgang mit ihnen stehen allein in der Verfügungsgewalt des Erzählers. Im Verlauf des Festes glaubt dieser in einer Frauenrunde die Täterin zu erkennen, an der er seine Mutter rächen möchte. Die Passage, in der er sie identifiziert, ist allerdings entschieden doppeldeutig: „War das wirklich sie? – Es war sie. Ich bestimmte es so“ (ZS 156). Allein in diesem durch den Erzähler verbürgten Szenario kann sich die lang geplante Rache vollziehen, und dies geschieht jetzt auf unerwartete Weise. Die Vernichtung der verhassten Frau erfolgt allein durch den Akt des Erzählens. „Sie, die Übeltäterin, Sie und ihresgleichen gehörten nicht in die Geschichte, weder in diese noch in sonst eine! Es war darin kein Platz für sie. Und das war meine Rache. Und das genügte als Rache. Das war und ist Rache genug“ (ZS 156 f.). Diese Wendung weist über die Handlung der Erzählung hinaus. Sie wird zum Zeichen für eine textübergreifende Grundfigur des Erzählens, auf die Handke in seinen späten Texten immer wieder zurückgreift. Das Umerzählen, das den Kern der Erzählung ausmacht, erhebt auch jenseits des einzelnen Textes den Anspruch, die Welt neu zu entwerfen. Dies geschieht in einer fortlaufenden Bewegung, an welcher der Autor beständig arbeitet. Nicht zufällig ist sie durch den Blick in die Natur ausgelöst und verbürgt zugleich. Beim Blick auf das Plateau von Vélizy vermerkt der Erzähler stellvertretend für seinen Erfinder: „Ja! Und dazu noch kein Ding, sondern ein Wort!“ – „Womöglich die Ewige Wiederkehr?“ – „Nein! Was ich sah, als Wort wie als Sache, war die Fortsetzung.“ – „Die Ewige?“ – „Nichts als die Fortsetzung. Auf zur Fortsetzung!“ (ZS 37). Das Erzählen muss weitergehen.
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Die Rezeption von Handkes Werk in Literaturkritik und Literaturwissenschaft kreist von Anfang an um einige wenige Themenfelder, die zum einen durch die öffentliche Diskussion über den Autor und zum anderen durch spezifisch wissenschaftliche Fragestellungen bestimmt sind. Vor allem zu Beginn von Handkes schriftstellerischer Karriere überlagern sich dabei die journalistische und die literarische Kritik schon deshalb, weil sich der Autor selbst zu einem enfant terrible der Literaturszene stilisierte. Zu einer vergleichbaren Verbindung von öffentlicher und wissenschaftlicher Kritik kommt es im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung über Handkes Serbientexte (Deichmann 1999), die anlässlich der Nobelpreis-Verleihung 2019 wiederauflebt. Dabei wiederholt sich eine fast strukturgleiche Debatte, ohne dass sich die Grundpositionen verändert hätten. In ihr lässt sich sowohl ein noch stärkeres Auseinandertreten des journalistischen und des literaturkritischen Diskurses beobachten, als auch ein Rückgriff nicht nur auf immer wieder die gleichen Argumente, sondern auch auf vergleichbare Methoden bei der Beeinflussung der öffentlichen Meinung über den Autor. Insofern hat sich an der frühen Einschätzung der Handke-Kritik durch Rolf Michaelis: „Peter Handke und seine Kritiker – das ist die Geschichte von Mißverständnissen und Verkennungen, von gläubiger Anhängerschaft und diffamierender Bekämpfung, von überraschenden Konversionen und Apostasien“ (Arnold TK 1978, 116) nichts geändert. Die Äußerung aus der vierten Auflage des Sonderhefts von Text und Kritik über Handke gehört selbst dieser Entwicklung an, denn sie entwirft ein völlig anderes Bild des Autors als die vorangehenden Auflagen. Einen vergleichbaren Wandel in der öffentlichen Einschätzung des Autors dokumentiert auch der 1972 erschienene Materialienband von Michael Scharang Über Peter Handke. Anlässlich der dort abgedruckten Kontroverse zwischen Peter Handke und Peter Hamm, der sich von einem scharfen Kritiker zu einem wohlmeinenden Begleiter von Handkes Werk wandelte (Hamm 2017), bemerkte der Herausgeber: „Handke ist kein Symptom, symptomatisch ist das Verhalten jener Kritik, die ihn als positives oder negatives Symptom hinstellt“ © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0_15
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(Scharang ÜH 11). Gerade dies bestätigen die öffentlichen Diskurse während des Serbienkriegs und anlässlich der Verleihung des Nobelpreises 2019. Diese Interaktion zeigte von Anfang an, dass die Kontroverse der Kritik fast niemals allein ästhetisch motiviert war, sondern einer politischen Auseinandersetzung angehörte (Arnold TK 1978, 115), die nach den angemessenen ästhetischen Kategorien suchte. Sie transportierte zudem einen Mythos von Handkes Beginn in Princeton (Arnold TK 1978, 117 f.). Rolf Michaelis, der an keiner Stelle Handkes Schreibweise in Frage stellt, weist mit guten Gründen darauf hin, dass die Formel vom „Überläufer“, die Peter Hamm gegen Hellmuth Karasek ins Feld führt, in der Tat in signifikanter Weise das „Cliquendenken“ der Kritik und der literaturtheoretischen Schulen deutlich macht, „auf das Handkes Werke in den sechziger Jahren stießen“ (Arnold TK 1978, 122). Dabei spricht er nicht nur die „Barriere ideologischer, materialistisch-marxistischer Kritik“ und die „bohrende, enervierende Energie von Handkes Sprache und Denken“ an (Arnold TK 1978, 122), sondern auch beiläufig den Neid, der das „Lieblingskind“ der Kritik trifft (Arnold TK 1978, 116). Auch für Scharang ist es klar, dass Handke nicht zuletzt aufgrund seines literarischen Erfolgs zu einer „suspekte[n] Figur zwischen zwei Lagern“ stilisiert wurde (Scharang ÜH 11). Durch seine fiktionalen Texte wie durch seine literaturtheoretischen Essays hat der Autor diese Fixierung der Fronten eher bestärkt als in Zweifel gestellt. Sein 1968 in der ZEIT veröffentlichter Angriff auf die Sprache des SDS (Scharang ÜH 309) bestätigt dies. Er zeigt auch, dass er selbst mitunter seine eigene Haltung überzeichnet. Wie in seinen literaturtheoretischen Essays baut er schreibend und argumentierend Gegenpositionen auf, die in dieser Form nicht vorhanden sind. Dies gilt für seine Anfänge ebenso wie für die Auseinandersetzung über Serbien. Beide große und auch öffentlich geführte Diskurse sind allerdings von Anfang an dadurch verbunden, dass die politischen Haltungen Handkes von seinen poetologischen Grundauffassungen, vor allem aber von der Überzeugung, dass die Poesie einen Gegenentwurf zum Politischen darstellen müsse, niemals zu trennen sind. Eine auffällige Wende im Urteil der Kritiker leitete das Wunschloses Unglück ein. Sie beruhte nicht allein auf der von der Literaturkritik konstatierten Öffnung Handkes zu einer realistischen Schreibweise, sondern zugleich auf einem Paradigmenwechsel in der deutschen Nachkriegsliteratur. Er ist zu einem guten Teil aus einer Enttäuschung der Hoffnungen zu erklären, welche die Studentenbewegung von 1968 auslöste. In der Folge wird in Handkes Stücken und Texten zunehmend auch eine utopische Dimension von Kunst erkannt und gewürdigt (Arnold TK 1978, 129 f.). Michael Schneider, der ursprünglich von der „formalistischen Phantasie“ (Scharang ÜH 96) Handkes spricht und ihm vorwirft, dass er ein Lebensgefühl zum Ausdruck bringe, das „gesellschaftlich nicht vermittelt, d. h. überhaupt nicht sozialisierbar“ (Scharang ÜH 97) sei, weil er sein „Desinteresse am ‚sozialen Aufbau‘ der ‚zweiten Natur‘“ durch „deren Ästhetisierung und Naturalisierung“ kompensiere (Scharang ÜH 99), kommt nur zwei Jahre später
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zu einer entgegengesetzten Einschätzung, die durchaus folgenreich ist. In das da konstatiert er, es könne „gerade unsere noch allzu abstrakte und allzu begrifflich Linke von Handkes hochentwickeltem sinnlichen Erkenntnisvermögen viel lernen, wenn er seine Trotzhaltung gegen die Vernunft der politischen Aufklärung endlich ablegen, endlich erwachsen würde“ (Arnold TK 1978, 124; Schneider 1974, 44 f.). Trotz dieses Wandels in der Kritik lassen sich die Folgen der zugleich ästhetischen und ideologischen Kontroversen der Jahre 1968 bis 1974 über Handkes Werk bis heute noch erkennen, allerdings kommt es zu charakteristischen Verschiebungen. Während viele Kritiker in ihren Wertungen zumindest noch verdeckt auf die von Handke selbst ursprünglich ins Spiel gebrachte Alternative von experimentell orientierter und engagierter Literatur zurückgreifen und diese in Variationen fortschreiben, betont Scharang schon sehr früh, dass Handkes literaturtheoretische Programmatik eine Scheinalternative entwickle, weil seine Entscheidung gegen die engagierte Literatur auf einer einseitigen Lesart seiner Opponenten Sartre und Brecht beruhe. Dagegen ist für ihn ausschlaggebend, dass die Gegnerschaft dieses Autors gegen die „Beschreibungsliteratur“ nur belege, dass Handke „einen Begriff, der eine literarische, gesellschaftliche und politische Dimension hat“, nämlich den Begriff des „spätbürgerlichen Realismus“ auf eine „literarische Dimension“ reduziere (Scharang ÜH 12). Davon unabhängig bleibt für ihn „Handkes Denken literarisch“. Im gleichen Zug jedoch hält er dessen Zugriff auf die Realität für angemessener als den der „idealistischen Weltverbesserer mit linkem background“. Allerdings wird seine Aufforderung, dass das „literarische Denken“, das „implizit theoriefeindlich“ und nur ein „Schwebezustand“ sei, sich früher oder später „zum theoretischen Denken entscheiden“ müsse, von Handke gerade nicht erfüllt (Scharang ÜH 1977, 13). Vielmehr sieht sich die Kritik mit dem Sachverhalt konfrontiert, dass dieser seinen Zugriff auf die Wirklichkeit zwar in dialektischer Form als Korrektur des Bestehenden, aber immer im Gestus einer Autonomisierung des Ästhetischen entfaltet. Trotz des Rückgriffs auf frühere Polarisierungen haben sich die gegenwärtigen Untersuchungen zum Werk von Handke entschieden versachlicht. Dabei werden insbesondere drei Themenkomplexe konturiert. Erstens die biographische und autobiographische Einschrift der Texte Handkes. Zweitens sein selbstbewusst vorgetragener Rückgriff auf traditionelle literarische Formen und drittens sein damit verbundenes textübergreifendes Erzähl- und Zitatspiel, das einen spezifischen Handke-Ton entfaltet. Was die autobiographische Einschrift angeht, so hat Handke von Anfang an die geheime Inschrift seiner Texte hervorgehoben. Bereits über die Stunde der wahren Empfindung bemerkt er: „Unverschämter als in meinem letzten Buch kann ich nicht mehr schreiben, glaube ich: Da ist die Grenze zum bloß Privaten hin erreicht – sonst würde es nur privat werden“ (Arnold TK 1978, 33). Gleichzeitig betont er von Anfang an einen grundsätzlichen Zusammenhang „zwischen Politik und Privatheit“ (Arnold TK 1978, 38): „Als ob die subjektivistische Literatur, die ich mache, nicht auch als Korrektur, als ein Modell von Möglichkeit, Leben darzustellen, akzeptiert werden kann“ (Arnold TK 1978, 39). Der Überzeugung folgend, „dass Literatur nur dann verbindlich wird, wenn sie in die äußerste Tiefe des ICH
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hineingeht“ (Arnold TK 1978, 44), schreibt er Texte, in denen sich die Bewegung der kritischen Selbsterforschung, die zum Moment einer nach außen drängenden Kritik wird, in einer Verbindung zwischen „der äußersten Oberfläche“ und „dem äußersten Verbohrten“ zur Geltung bringt (Arnold TK 1978, 44). Dass die Aufnahme dieser Haltung in der Kritik auch zu Verkürzungen der Dialektik führt, die Handkes Selbstäußerungen markieren, zeigen die ersten Kritiken, welche dieser Spur folgen. Insbesondere Reich-Ranicki, der dem Autor der Langsamen Heimkehr einen Mißbrauch religiöser Bilder vorwirft und dabei die in der neueren Forschung hervorgehobene Komplexität von Handkes höchst unterschiedlicher Verwendung religiöser Metaphern ebenso verfehlt wie die Differenz von Psychogramm und Fiktion, gibt dafür ein Beispiel. Er deklassiert diesen Roman als ein „episches Manifest der baren Innerlichkeit“ (Werner 1980, 99). Differenzierter verfährt Manfred Durzaks Monographie über Peter Handke und die deutsche Gegenwartsliteratur. Allerdings folgt auch sie zunächst ihrem Untertitel vom Narziß auf Abwegen in einem pathologisierenden Gestus. Durzak, der Kohuts Theorie des Narzissmus aufnimmt, sieht zwar, dass Handkes Schreiben, das er aus einem „psychischen Defekt“ und aus „psychischen Deformationen“ herleitet, nicht einfach deren Abbildung ist, sondern auf eine produktive Transformation zielt. Am Ende verfällt er jedoch gerade beim Blick auf die Tetralogie und die Journale einer Verkürzung, die er ursprünglich vermeiden wollte. Er führt aus, dass die „immer stärker hervorgetretene Unverschämtheit, mit der er sich selbst zum Fixpunkt seiner literarischen Arbeiten gemacht hat, die künstlerische Verarbeitung immer stärker zurücktreten und dafür den psychischen Rohstoff immer stärker hervortreten ließ“ (Durzak 1982, 30). Beim Blick auf die Stunde der wahren Empfindung folgt er dabei der psychoanalytischen Deutung Tilmann Mosers, der in seiner Analyse dieses Romans zumindest eine offene Grenze zwischen dem „schlüssigen klinischen Bild“ des Borderline-Patienten Keuschnig und seinem Autor suggeriert (Moser 1981, 1138). Bei dieser Reduktion des Psychologischen auf die Sprache der Fallanalyse bleibt jedoch der Akt der produktiven Verarbeitung, der Transformation des psychischen Materials in die ästhetische Konfiguration völlig außer Acht. Schon 1979 formuliert Peter Hamm deshalb völlig zu Recht, dass der – im Übrigen eingestandene und reflektierte – Narzissmus Handkes „nicht ernsthaft Gegenstand der Kritik sein“ könne (Werner 1980, 39). Reich-Ranickis Position ist symptomatisch für den überwiegenden Teil der Rezensionen, die zwar durchweg auf dezidierte Urteile aus sind, sich aber weder bereit zeigen, den inneren Zusammenhang von Handkes literarischem Werk noch die sich verändernden theoretischen Voraussetzungen seines Schreibens zu reflektieren. Diese Rezensionen markieren in zunehmender Schärfe eine Grenze, welche die Literaturwissenschaft von der auf Aktualität verpflichteten Kritik trennt. Der Vorwurf der Mystifikation, den sich nach Reich-Ranicki auch andere Kritiker zu eigen gemacht haben, trifft im Fall Handkes ein Schreiben, dessen theoretische Fundierung sich immer mehr dem schnellen Zugriff entzieht und das gerade deshalb dem Vorurteil verfällt. Die Subsumption von Handkes Über die Dörfer unter den Titel „Sehnsucht nach Heimat“ (SPIEGEL,
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01.10.1984) ist nur ein Beispiel für solche Rubrizierungen, die einen Sachverhalt durch seine Erfassung mit Hilfe eines vorgegebenen Rasters entwerten. Dagegen bestätigte Handkes Rede zu Nobelpreisverleihung 2019 gerade das Vermögen des Ästhetischen, sich den herrschenden Diskursen nicht nur zu entziehen, sondern diese durchaus auch infrage zu stellen. Es ist symptomatisch für die Eingefahrenheit auch intellektueller Diskurse, dass dieser Funktionswandel des von Handke zitierten Textes von Über die Dörfer in seiner Valenz gar nicht erkannt wurde (Weidermann 2019). Zu einer entschiedenen Versachlichung der Literaturdebatte führte erst der Sachverhalt, dass die autobiographische und biographische Einschrift von Handkes Texten zunehmend im Zug einer werkgeschichtlichen Perspektive untersucht wurde. Paradigmatisch dafür sind zu Beginn zunächst die Monographien von Manfred Mixner und Rainer Nägele/Renate Voris. Während Mixners Monographie die Prägnanz ihres Zugriffs aus einer unmittelbaren Kenntnis der österreichischen Literaturszene begründen kann, entwickeln Nägele/Voris Handkes literarische Position nicht nur aus der Analyse einiger entscheidender „Koordinaten der Literatur“, die sie ebenfalls auf die Ansätze des Grazer „Forum Stadtpark“ und der „Wiener Gruppe“ beziehen. Differenzierter als Durzak legen sie klar, dass in Handkes Werk „der auffallend starke und in späteren Texten zunehmende Anteil autobiographischer Materialien, von literarischem Interesse“ ist (Nägele/Voris 1978, 32). Damit gerät eine Schreibmotivation ins Blickfeld, die im Wechsel der Themen und Schreibweisen zugleich Wendepunkte und durchlaufende Entwicklungen in Handkes Prosa und sich verändernde Voraussetzungen des Schreibens erfasst (Nägele/Voris 1978, 34). Gleiches gilt für die Untersuchung der Dramen. Sie befasst sich besonders mit der widersprüchlichen Beziehung zu Brecht und kann zeigen, dass Handke „keineswegs von einem Nullpunkt ausgeht, sondern von einer Theater- und Dramasituation, in der die Reflexion auf die Problematik der Gattung […] bereits schon zur Tradition geworden ist“ (Nägele/ Voris 1978, 71 f.). An diese Überlegung schließen sich die späteren Untersuchungen zur „postdramatischen Epik“ Handkes (Lehmann 2012, 67–74) an, die in den Sammelband von Kastberger/Pektor aufgenommen sind (Kastberger/ Pektor 2012). Gerade sie belegen, wie sehr diese späten Stücke ebenfalls über eine autobiographische und autofiktionale Zentrierung verfügen, die sie mit Blick auf die politischen Auseinandersetzungen des Autors am deutlichsten in der Fahrt im Einbaum und in Bezug auf seine Familiengeschichte am klarsten in Immer noch Sturm zum Ausdruck kommen. Die für Handkes späte Texte charakteristische Verbindung einer „Dekonstruktion vorgegebener Diskurse“ mit der „Kategorie des Utopischen“, wie sie die BüchnerPreis-Rede pointiert, wird ebenfalls zu Recht thematisiert, auch wenn sie mitunter hinter einen „Kult der Unmittelbarkeit“ zurückfällt (Nägele/Voris 1978, 138). Von Bedeutung ist dabei der Hinweis Nägeles in einer späteren Untersuchung zum Wunschlosen Unglück, dass die Transformation autobiographischer Daten im fiktionalen Text bei Handke bereits auf den Entwurf einer Poetologie hinläuft (Nägele 1983, 388–402).
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Korrespondierend dazu verfolgt die essayistisch angelegte Studie von Peter Pütz die signifikanten Wendemarken in Handkes Werk, die Wechsel und Kontinuität zugleich erkennen lassen. Auch Pütz liest die Texte des Autors als Entwurf einer sich fortschreitend komplettierenden Poetologie, die mit der „Publikumsermutigung“ von Über die Dörfer auf die utopische Kraft und die „Allmacht des künstlerischen Scheins“ weist (Pütz 1982, 121 f.). Dabei betont er, dass diese Poetologie auch ein erkenntnistheoretisches Programm entfalte, das den „angeblich resignierenden Rückzug in die Privatsphäre“ als „fundamentale Rückbesinnung auf die erkenntnistheoretische Funktion des Subjekts“ versteht (Pütz 1982, 8). In Übereinstimmung damit hebt die Monographie von Christoph Bartmann, die ihren Titel Suche nach Zusammenhang auf das Grillparzer-Zitat bezieht, das in der Lehre der Sainte-Victoire zitiert wird (Bartmann 1984, 1; LSV 100), auf die Kontinuität von Handkes Werk ab. Er bestimmt Handkes Schreibweise als „phänomenologisch“ (Bartmann 1984, 21) und zugleich als Ergebnis eines werkbestimmenden Prozesses, in dem die Kategorie des Zusammenhangs das Thematische und das Strukturelle aufeinander bezieht (Bartmann 1984, 167). Wie schon vorher Volker Bohn (Bohn 1976, 368) erschließt Bartmann damit zugleich einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Thematisierung des Sprachlichen und der Problematisierung von Identität (Bartmann 1984, 116). Der „Modell- und Etüdencharakter“ und der „freiwillige Reduktionismus“ des frühen Werks (Bartmann 1984, 47) entwerfen für ihn bereits den Übergang in einen postreflexiven Zustand, der schließlich von den Texten nach dem Kurzen Brief eingelöst wird. In ihnen bildet sich allmählich ein kontinuierliches Ich als „Dauerhaftigkeit des Bewusstseins“ aus (Bartmann 1984, 139). Unter dieser Perspektive erscheint die Reihe der Protagonisten in Handkes Werk als eine „Interpretanten-Reihe“, eine „immer neue Ausgabe einer Vorstellung von sich selbst, die, sobald sie Zeichen ist (in Gestalt eines Helden), schon den nächsten Interpretanten nach sich zieht“ (Bartmann 1984, 144). Gerade so entfalten Handkes Texte seit dem Kurzen Brief eine Formenlehre, die schließlich in der Lehre der Sainte-Victoire offen zu einer Poetologie wird (Bartmann 1984, 168). Dass der Weg zum „Gesetz“ und die „Begierde nach Zusammenhang“ (Bartmann 1984, 238) spätestens in der Langsamen Heimkehr auf eine Rückeroberung von Zeiträumen und der „Kindheitsgeographie“ (LH 109) zielen, ist dabei die entscheidende weiterführende Perspektive. Sie weist darauf, dass Handkes Schreiben durch eine autobiographische Mitte zentriert ist. Diese wird in dem Maß deutlich, wie sich das poetologische System vervollständigt und die autobiographische Erinnerung sich als Voraussetzung der ästhetischen Imagination zu erkennen gibt. Die biographischen Arbeiten zu Handke haben die Notwendigkeit des Blicks auf diesen Sachverhalt entschieden bestärkt. Nach den Biographien von Adolf Haslinger (1992), Georg Pichler (2002) und Hans Höller (2009), lässt sich dies an Malte Herwigs Meister der Dämmerung (2012) paradigmatisch zeigen. Einen wichtigen Zwischenbereich eröffnet dabei zunächst die Arbeit von Fabjan Hafner (2008), die das Slowenien-Thema durch das gesamte Werk Handkes nachverfolgt
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und am Beispiel dieser Thematik eine innere Linie des Schreibens erschließt, die neben dem biographischen auch einen politischen Zusammenhang erfasst. Unter dem Titel Peter Handke: Unterwegs ins Neunte Land untersucht Hafner die Werkgeschichte Handkes am Leitfaden einer lebensgeschichtlichen Linie. Sie wird einerseits durch die Erfahrungen des Autors im slowenischen Kärnten bestimmt. Andererseits gründet sie darauf, dass Slowenien für den Autor Handke auch zu einem Konstrukt wird. Was Hafner als dessen Utopie beschreibt, kann sich an theoretische Überlegungen Slavoj Žižeks anschließen, der Handkes Vorstellung von Slowenien mit Lacan als ein imaginäres Phantasma auffasst, das aus einer Konstruktion des Anderen hervorgeht. Die pointierende Formel, dass dies zugleich eine „extreme Form des Rassismus [sic]“ begründe (Hafner 2008, 34; Žižek 1992, 69; Žižek 2004; 2019), ist allerdings unhaltbar. Sinnvoller erscheint es, diese werkgeschichtlich relevante Konstruktion mit Robert Pfaller als Resultat der für westliche Intellektuelle typischen Haltung der „Interpassivität“ anzusehen, die das verlorene Eigene in einem anderen rekonstruieren will. Dieser Überlegung folgend konstatiert Hafner in Handkes Texten ein Pendeln zwischen der Konstruktion von Anwesenheit und Abwesenheit. Durch dieses wird die autobiographische Recodierung der Texte zu einer Schreibstrategie, die dem Gesamtwerk eine innere Linie gibt. Die beiden Texte der Wiederholung und der Abwesenheit ergänzen sich spiegelbildlich, gerade weil sie beide durch einen autofiktionalen Kern zentriert sind. „Mündet die Wiederholung in einen Erzählaufbruch, so steht am Ende der Abwesenheit die Nachfolge eines Verschwundenen, ein Aufgehen in der Absenz“ (Hafner 2008, 208; vgl. Hamm, 2002, 132). Die Wiederholung erhält dabei auch deshalb besondere Bedeutung, weil sie das Erinnern und das Vergegenwärtigen des Vergangenen ebenso aufeinander bezieht wie der Text der Niemandsbucht (W 101; Hafner 2008, 190). Zusätzlich dazu lässt der dritte Abschnitt der Wiederholung mit dem Titel Die Savanne der Freiheit und das Neunte Land sehr genau den Anteil des Imaginären am Erzählen erkennen (W 225–334). Auf die vom Erzählen geleistete Verschiebung innerhalb des familialen Bezugsfelds, die den eigenen Vater durch den Großvater ersetzt und die Brüder der Mutter in eigene Brüder verwandelt, hatte schon Haslinger hingewiesen (Haslinger 1992, 14; vgl. Hamm 2006, 120), als er den in Handkes Texten verzeichneten Wechsel von Identitätsverlust und Identitätssuche beschrieb (Haslinger 1992, 38). Deutlichstes Zeichen dafür ist ein Traum, in dem Handke eins wird mit seinem Onkel (Haslinger 1992, 69). Dieser Überlegung folgend deutet Hafner bereits die Hornissen als „eine Rückholung, eine Korrektur der Historie – durch ein induktives Verfahren, das im besonderen Einzelschicksal durch dekonstruierende Insistenz das Überindividuelle freizulegen imstande ist“ (Hafner 2008, 82). Er zieht diese Linie bis zum Text des Bildverlusts aus, wo sich die Bankfrau an den eigenen Mittelpunkt und den Ort der wendischen Vorfahren erinnert (Steinfeld 2002; Hafner 2008, 321). Zu berücksichtigen gilt es zwar, dass die Vaterkonfiguration zuweilen auch als eine „funktionale Leerstelle“ fungiert, doch die werkbestimmende und autobiographische Bedeutung der wirklichen Vaterfigur
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wird durch diese textuelle Strategie keineswegs gelöscht (Blasberg 1991, 528; Huber 2005, 229). Das Slowenische ist allerdings nicht nur die „vorerste Sprache der Kindheitslandschaft“ (Hafner 2008, 88). Indem es der geschichtsbeladenen deutschen Sprache entgegengesetzt wird, markiert es auch das kritische Verhältnis zu Deutschland (Hafner 2008, 159; Müller 1993). Dies verleiht den immer wieder erwähnten Wörterbüchern und dem Verweis auf die „Ein-Wort-Märchen“ in der Wiederholung ihre besondere Bedeutung (W 205). Während sich die Konturierung und Funktionalisierung des Slowenien-Themas als ertragreich für die Deutung der fiktionalen Texte erweist, greift Hafner bei der Serbiendiskussion allerdings etwas zu kurz, wenn er Slowenien und nicht Jugoslawien zum Zentrum von Handkes politischer Utopie macht, die sich ja zunächst auf den untergegangenen Vielvölkerstaat Jugoslawien richtet. Damit übereinstimmend legt Herwig in seiner Biographie zunächst einen Schwerpunkt auf die Rekonstruktion der frühesten Familiengeschichte Handkes. Auch für ihn ist diese durch die besondere Lebenssituation der slowenischen Minderheit in Kärnten bestimmt, darüber hinaus aber auch durch die politische Geschichte dieses Landes im Kontext der österreichischen und deutschen Geschichte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg (Hafner 2008, 40–42). Da Handkes Stiefvater wie sein leiblicher Vater der deutschen Wehrmacht angehörten, ergibt sich für Herwig eine doppelte Orientierung des Autors. Der Kampf der Jugoslawen gegen Deutschland wird zu einer „Art Gründungsmythos für Handkes Seelenheimat“ (Herwig 2012, 29) und der Onkel Gregor, der Bruder der Mutter, wandelt sich „in Handkes literarischem Kosmos zum erträumten historischen Gegenbild zu den deutschen Vätern“ (Herwig 2012, 25). Einerseits hat Handke offensichtlich auch seine Mutter, die eine wichtige Adressatin früher Briefe ist (Herwig 2012, 18.07.2011), gegen den Stiefvater beeinflusst (Haslinger 2011, 46; Herwig 39), andererseits wird seine Familiengeschichte in den fiktionalen Texten immer wieder nachgezeichnet und umgeschrieben. Aus dieser besonderen Situation, die zudem durch die schwierige Beziehung zwischen dem Stiefvater und der Mutter belastet ist, begründete sich für Herwig die Gegenbewegung einer entschiedenen Selbstsetzung. Sie geschieht von Anfang an allein im Schreiben. Dieses ist eine Form der „Totenbeschwörung“ (Herwig 2012, 25), aber zugleich eine Transformation von Erfahrung. Die Formel des Erzählers aus der Wiederholung „[…] dieser stille Erzähler, in meinem Innersten, war etwas, das mehr war als ich […]“ (W 16) kann dabei durchaus, wie es Herwig nahelegt, als ein Selbstkommentar des Autors gelesen werden (Herwig 2012, 116). Sie beschreibt eine Doppelung von Identität, die sich zur inneren Dialektik einer Sozialisationsgeschichte in Beziehung setzen lässt, in der das Schreiben ebenfalls eine Außenseiterposition begründet. Es ist die immer wieder geschilderte Distanz schon des jungen Autors zu den anderen Mitgliedern der Familie (GB 150; Herwig 2012). Bedeutung gewinnen dabei nicht nur die bereits in der Gymnasialzeit einsetzenden Aufzeichnungen in Notizbüchern (Herwig 2012, 106), sondern auch die Briefe an die Mutter, die sich intensiv auf diese familiale Konstellation
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beziehen (Herwig 2012, 187). Ausgehend davon liest Herwig den Text der Hornissen als Spiegelung und zugleich als Bewältigung dieser Situation. Es ist charakteristisch für sein biographisches Dechiffrieren der Texte, dass er dabei reale Erfahrungen und literarische Konfigurationen gleichwertig nebeneinander rückt. Dazu gehört auch, dass er im Kontext von Handkes Auftritt in Princeton die Publikumsbeschimpfung als eine „schallende Befreiungskomödie“ klassifiziert (Herwig 2012, 150). Weil er überdies Handkes Vokabular aufnimmt, ist der Übergang zwischen den Quellen, der Beschreibung und den fiktionalen Texten nicht immer eindeutig markiert. Daraus entsteht ein mitunter feuilletonistisch wirkender Zugang, der allerdings durchaus kreativ und pointierend ist: „Verwandlung, nicht Wiederholung heißt Handkes künstlerisches Prinzip“ (Herwig 2012, 125, 215). Die durch Höllers Monographie hervorgehobene Wendung zum Klassischen ist so eine Verwandlung, die 1979 in der Rede zum Kafka-Preis ausgesprochen wird. Zudem führt die Vermittlung zwischen fiktionalen und autobiographischen Texten auch zu überraschenden Einsichten. Am deutlichsten belegt dies eine Briefstelle, die den Terminus der Schwelle jenseits ihrer philosophischen Kontextualisierung (Renner/Nenon 1988, 104–115; Huber 2005, 116–119) mit einer lebensgeschichtlichen Erfahrung verknüpft. Es ist das Schwellenerlebnis, das der Autor in einer krisenhaften Situation – beim Eintritt in das Haus von Hermann Lenz – hat, der ihm, so Handke, „das Leben gerettet“ habe (Herwig 2012, 205, 207). Zu Gelenkstellen zwischen den Bereichen des Realen und des Fiktionalen werden auch andere Schlüsselszenen, die eine doppelte Auflösung ermöglichen. Beispiele geben der Hinweis auf die Urszene des Staunens (HO 14; Herwig 2012, 77), die sich später wiederholen wird, oder auf das Weggehen in den Schnee (Herwig 2012, 78 f.). Dagegen wird die ebenfalls in vielen Texten des Autors präsente Erinnerung an die Internatszeit in Tanzenberg als eine reale Konstellation entschlüsselt, die sowohl für eine Erfahrung der Eingrenzung (GU 94 f.), als auch für die erste Begegnung mit der Literatur verantwortlich ist (Herwig 2012, 93). Nicht nur hier misst der Autor Handkes Aufzeichnungen besondere Bedeutung zu. Generell gilt seine Aufmerksamkeit sowohl den Tagebuchnotizen, die Handke als „spontane Aufzeichnung zweckfreier Wahrnehmungen“ klassifiziert (GW 5), als auch den Originalnotizheften, in denen sich Zeichnungen, Satzfetzen, Adressen und Fundstücke als sehr persönliche Lebensspuren versammeln (Herwig 2012, 161). Dabei skizziert Herwig auch Charakterzüge und psychische Dispositionen des Autors. Er beschreibt dessen Neigung zum Eklat, die sich in Stücken und Texten wie der Publikumsbeschimpfung oder der Lebensbeschreibung ausdrückt, auch als private Verhaltensweise (Herwig 2012, 122 f., 142). Er behandelt die von Handke unverstellt beschriebene Neigung zu Gewaltphantasien (Herwig 2012, 122; Haslinger 1992, 40; SF 57 f.), die immer wieder geäußerte Abneigung gegen Frauen (Herwig 2012, 197) und den eingestandenen Gewaltausbruch gegenüber Marie Colbin (Herwig 2012, 241; Colbin 1999). Auch die Äußerungen weiblicher Gewalt, die sich in seinen Texten finden, sind in einem Notat des Tagebuchs vorgezeichnet (Herwig 2012, 233–235). Sie ergänzen die Szenen von Ehe
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und Familie, die dem Kurzen Brief ebenso eingeschrieben sind wie der Kindergeschichte. An Intensität werden sie nur durch die Bilder der Beziehung zu Sophie Semin übertroffen, die in Eine Frage des Lichts und in der Morawischen Nacht verzeichnet sind (Herwig 2012, 303). Ausgehend davon liefert Herwigs Blick auf die Quellen zugleich Elemente eines Psychogramms. Er zeigt, dass der Autor zu Panikattacken neigt und belegt die in den Texten immer wieder beschriebene Abneigung gegen Geräusche (Herwig 2012, 162; Tagebuch, März 1976 DLA). Dazu kommt ein Hinweis auf die „schreckliche Grenzenlosigkeit der Depression“, die sich durchaus mit profanen Alltagsproblemen verbindet (Herwig 2012, 163). Auch sie ist in den wechselnden psychischen Dispositionen Handkescher Protagonisten immer wieder nachgezeichnet. Ein Beispiel dafür gibt der Angsttraum aus dem Kurzen Brief (KB 9), der sich auf einen Brief Handkes an seine Mutter beziehen lässt, in dem er von einem Traum berichtet: „ich war vielmehr Onkel Gregor, ich meine damit: alles, was ihm widerfuhr, das erlebte ich an mir; ganz unbeschreiblich war das“ (Höller 2009, 7; Herwig 2012, 167). Zweifellos belegt dieser Traum eine prekäre psychische Balance, die sich in dem zum Ausdruck bringt, was der Autor selbst Traumrhythmusstörungen nennt (Herwig 2012, 197). Eine zentrale Rolle in Herwigs Darstellung nimmt die Nachzeichnung der öffentlichen Auseinandersetzung über Handkes Serbientexte ein. Sie beschreibt nicht nur dessen politische Haltung zur Entwicklung auf dem Balkan, sondern erklärt seine schriftlichen Äußerungen einerseits aus einem spezifischen Glauben an die Macht der poetischen Sprache als Gegenentwurf zur Welt des Politischen, andererseits aus einer vehementen Abwehr vorgefasster Meinungen, wie sie der Autor im medial vermittelten öffentlichen Diskurs vorherrschen sieht (Herwig 2012, 131). Die Auseinandersetzung mit der französischen Presse, Le Monde und dem Nouvelle Observateur, wird hier ebenso nachgezeichnet wie die gleichzeitigen deutschen Diskussionen, die unter anderem zur Nichtaushändigung des Heine-Preises führten. Herwig sieht zu Recht, dass in einer Situation, in der am Ende „fast nichts mehr zu verstehen“ ist (Handke SZ 2006), die literarische Form, in der Handke sein Bild von Serbien entwirft, auf die Grenzüberschreitung zurückgeht, die er mit der Wiederholung vorgenommen hatte. Sie war bereits programmatisch ein Weg in ein anderes Land, das zugleich Kindheitsland ist. Weil damit gleichfalls ein Bezug auf die frühen Schreibanfänge auf der Insel Krk eröffnet wird, ist auch der politische Balkandiskurs am Ende vom „Gesetz seines Schreibens“ beherrscht (Herwig 2012, 258). Auch in ihm geht es um die Schaffung einer poetischen Gegenwelt, die den „Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere“ möglich macht (THU 89; Herwig 2012, 261). Es ist deshalb nicht nur konsequent, sondern Ausdruck eines unbeirrten Festhaltens am eigenen poetologischen Programm, dass Handke 1999 den Büchner-Preis aus Protest gegen die NATO-Bombardierung Belgrads und die Form ihrer politischen und medialen Legitimierung zurückgibt (Herwig 2012, 286). In der Rede zu dessen Verleihung hatte er sein Credo der poetischen Phantasie formuliert, zu dem er immer wieder zurückkehrt.
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Es ist nur folgerichtig, dass Herwig seine Biographie mit den Grundfiguren von Rückkehr und Wiederholung beendet, durch die er Handkes Werk zentriert sieht. Zu einem materialen Zeichen solcher Rückwendung wird das Obstbaubuch des Onkels, das wie ein Kruzifix in einem Zimmerwinkel in Handkes Haus in Chaville hängt und das als Zeichen seine Texte durchzieht. Eine damit übereinstimmende sprachliche Verbindung zwischen Leben und Werk signalisiert die 1987 im Tagebuch vermerkte Formel „Den Toten kann ich immerhin mehr versprechen als den Lebenden“ (Herwig 2012, 312). Sie verbindet der Biograph mit den Erinnerungen an den Obstgarten der Vorfahren, die Handke im Journal Am Felsfenster morgens festhält (AF 540). Mit äußerster Intensität dokumentiert auch das Jahr in der Niemandsbucht den „Versuch, Leben und Schreiben miteinander zu vereinen“ (Herwig 2012, 271), und die Erfordernis, sich in den Text „wechselweise selber hinein[zu]spielen“ (MJN 699). Daraus ergibt sich der Skopus dieser Biographie. Mit Blick auf die Morawische Nacht formuliert sie: „Es ist, als ob der Dichter im Schreiben das Gespräch mit den Toten fortsetzte und sie so zum Leben erweckte“ (Herwig 2012, 313). Insbesondere ein im Tagebuch verzeichneter Traum vom 4. Januar 2008 bestätigt diese Obsession (Herwig 2012, 315; IS 161). Indem er den Autor mit dem Spielleiter in Sturm gleichsetzt (IS 162), folgert der Biograph, der Autor habe „im Namen seines […] Vorfahren die Zeiger der Zeit angehalten und die Toten auferstehen lassen. Gegen alle Gesetze der Welt beschwört er das Recht und die Macht der Erzählung […]“ (Herwig 2012, 317). Die Rückbindung Handkes an die literarische Tradition behandelt paradigmatisch Hans Höllers Monographie unter dem programmatischen Titel eine ungewöhnliche Klassik nach 1945, die seine Biographie des Autors ergänzt (Höller 2007). Sie untersucht das Gesamtwerk Handkes unter thematischen Gesichtspunkten, die sowohl eine autobiographische Linie („das Pathos meiner Herkunft […] verlangt von mir das Klassische“) als auch den Rückbezug auf die Tradition („Goethe und Stifter“) erschließen. Den Texten nach den siebziger Jahren kommt dabei besondere Bedeutung zu. Insbesondere die aus einer Schreibkrise hervorgehende Langsame Heimkehr als folgenreicher Umschlagspunkt in Handkes „Schreiberleben“ leitet für ihn Handkes Weg zu Goethe ein (Höller 2013, 34). Damit wird ausdrücklich die deutsche Klassik und nicht ihre Umschreibung im Sinn einer „Klassischen Moderne“ zum Referenzpunkt. Innerhalb dieses Feldes werden die zentralen Motive, Bilder und Gedankenfiguren von Handkes Schreiben in Einzelanalysen erschlossen, der Verfasser möchte dabei Handkes „eigensinniges Erzählen mit den geschichtlichen Voraussetzungen des Schreibens und Denkens nach 1945 in Beziehung“ setzen (Höller 2013, 13). Dies geschieht durch die Eröffnung von Perspektiven, die Höller „geologische Fenster“ nennt, „in denen sonst auseinander liegende, manchmal weit versetzte Bedeutungs-Schichten in ihrem Zusammenhang sichtbar werden“ (Höller 2013, 12). Der Bezug auf den Text des Parzival wird hier ebenso deutlich (Höller 2013, 97) wie die Nachzeichnung der Räume des Epos (Höller 2013, 137) oder der Anschluss an das Märchen bei Goethe (Höller 2013, 153). Intensiv wird auch die Funktion der Bilder und Motive herausgearbeitet, die in Handkes Texten so oft wiederkehren, dass man sie einem transtextuellen Netz zurechnen kann: Das
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Motiv des Umsprungbildes (Höller 2013, 117) und des Rucks (Höller 2013, 141), schließlich der Bombentraum (Höller 2007, 9) und die Bilder des Apfels (Höller 2013, 53), der Leiter (Höller 2013, 141) und des Mannes aus Oberösterreich (Höller 2013, 157, 159). Dabei wird eine Funktionalisierung dieser Bilder herausgearbeitet, die in Handkes Schreiben stets inhaltliche und strukturelle Wendemarken begleiten, dies gilt insbesondere für das Motiv des Schneiens (Höller 2013, 164) und die Darstellung der „zitternden Sekunde“ (Höller 2013, 181). Im Gegenzug folgt der Verfasser dem Diktum von Botho Strauß, dass Handke im Sinne von Foucault als ein „Episteme-Schaffender“ angesehen werden muss (Höller 2013, 13). Er deutet das Motiv der Schwelle auch philosophisch, allerdings nicht in Bezug auf Heideggers bei Handke zitierte Überlegungen zur Schwelle (Nenon/Renner 1989, 104–110), sondern mit Blick auf Benjamins „Schwellenkunde“ (Honold 2017, 445). Grundsätzlich wird das so verstandene Klassische bei Handke auch in den Kontext von Gefährdungen gerückt. Bestimmt ist dieser einerseits durch die psychische Disposition des Autors, dabei gewinnt die Referenz auf Kafka ebenso Bedeutung wie die latente Faszination von Gewalt, die mitunter durchaus zu einer „anstößigen Poetisierung“ führen kann (Wagner 210, 133). Zugleich antworten Handkes Texte auf die politischen Konstellationen ihrer Zeit. Eine besondere Rolle spielt hier der Krieg, der sowohl einen autobiographischen als auch einen zeithistorischen Bezug eröffnet. Handkes Notat „Romanik: die klassische Antike (wieder?) kindlich geworden“ aus dem Journal Gestern unterwegs (GU 297) erschließt eine Verbindungslinie zwischen der von Höller beschriebenen Orientierung des Autors an der Weimarer Klassik mit ihren auch an der Antike geschulten Schreibmustern und der Bestimmung des epischen Schreibens bei Handke, die Thorsten Carstensen in seiner Studie Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition untersucht. Allerdings fasst Carstensen den Begriff des „klassischen Schreibens […] präziser unter dem Begriff des romanischen Erzählens“, in diesem lassen sich für ihn „Repräsentation und Imagination kaum auseinanderhalten“ (Carstensen 2013, 25). Mit guten Gründen sieht der Verfasser hinter der mimetischen Darstellung auch die „epische Suche nach der Kindheitslandschaft“ (Carstensen 2013, 119), die das ganze Werk durchzieht: Sie verbindet sich mit intertextuellen Bezügen, doch der Blick auf die Wirklichkeit ändert sich grundsätzlich. Die „romanische Modellierung des Wahrgenommenen steht im Zentrum eines autoreflexiven Schreibprogramms, das die perspektivische Formung aller Vermittlung von Welt immer schon mitdenkt“ (Carstensen 2013, 25 f.). Dabei gewinnen Handkes Journale als zentrale Schaltstelle seiner Bild- und Textfiguren besondere Bedeutung. In ihnen wird die Romanik ausdrücklich zur Leitmetapher des epischen Schreibens erklärt. Sie ist einerseits „Erzählvorbild“ (GU 504), andererseits erläutert sie unter einem anderen Blickwinkel das werkbestimmende Schreibprinzip eines „Abenteuer[s] der Varianten in der Wiederholung“ (GU 167). Nicht zufällig deuten diese Notate schon auf das Erzählprinzip voraus, das auch den Text des Bildverlusts bestimmt. Ohnehin markiert das Jahr 1987, in dem Handke diese Sätze aufzeichnet, eine poetologische Wende.
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Wie der Autor in Soria, wo er, wie der Versuch über die Jukebox berichtet, die Skulpturen von Santo Domingo beschreibt (VJ 121), orientiert sich Carstensen ebenfalls an visuellen Mustern. Er folgert, dass die Romanik für den Autor eine Kunst initiiere, „die in einem Gestus der Schlichtheit beständig auf existentielle Basisfragen und mythische Bilder zurückkommt, um diese aus wechselnden Perspektiven darzustellen und sie mit neuen Facetten anzureichern“ (Carstensen 2013, 20). Es ist das utopische „Projekt eines reinen epischen Erzählens“ (Carstensen 2013, 22). Eingebettet ist dieses in den Gestus einer „sentimentalische[n] Weltaneignung“, die in den meisten Figuren angelegt sei, denen die „Erfahrung eines grundsätzlichen Mangels“ (Carstensen 2013, 40) gemeinsam ist. Den Sachverhalt, dass in Handkes späteren Texten das Erzählen von Geschichten gegenüber dem „erzählerische[n] Arrangement der Wirklichkeit“ an Bedeutung verliert (Carstensen 2013, 106), deutet Carstensen zugleich als eine epochale Figur, die dem Autor einen besonderen literaturgeschichtlichen Ort zuschreibt, es ist ein Versuch, „moderne Subjektivität mit dem kollektiven Anspruch des Epos“ (Carstensen 2013, 111) zu vereinen. Bei diesem Blick auf die Romanik der historisch, literarisch und kunsthistorisch zugleich ist, schlägt jedoch in letzter Konsequenz eine autobiographische Inschrift durch. Historisch vertritt die Romanik für Handke auch die „Dorfheimat“, das Kollektive gegenüber einer Gotik, die er als Repräsentation von Macht ansieht. Damit ergibt sich eine eigentümliche Verknüpfung mit einer autobiographischen Reminiszenz an die Stiftskirche von Griffen. Sie erfasst das Beharren auf dem Romanischen zugleich als eine politische Inschrift, wie sie spätere Texte Handkes immer wieder in vergleichbar vermittelter Form bestimmen wird. Die romanischen Skulpturen sind „Wahrzeichen einer peripheren Landschaft, die ohne ‚weltliche Herrschaftszeichen‘ auskommt“ (Carstensen 2013, 160; GU 11), auf eine vormoderne Art beinahe demokratisch oder ein „gemeinsamer Atem“, wie es in Gestern unterwegs heißt. Als Kunstwerke besitzen die romanischen Skulpturen zudem Modellcharakter. Sie sind einerseits „mythische Reinformen“, welche die verlorene Geschichte aufbewahren, andererseits „verkörpern sie ein zu Bildformeln verdichtetes Erzählen“ (Carstensen 2013, 164), das dem Autor als Vorbild für die Erneuerung der epischen Traditionen gilt. Das romanische Erzählen entwickelt unter diesem Blickwinkel einen „phänomenologischen Blick“ (Carstensen 2013, 171). Gerade er verbindet das Reale mit der „Kraft der Imagination“ (Carstensen 2013, 179). Unmittelbar damit verknüpft ist die vielfach hervorgehobene Wende von Handkes Erzählen zu einer Poetik der Langsamkeit (Huber 2005, 333; Pelz 2007, 166), bei der sich das Erzählen einerseits am Innehalten an den Schwellen, andererseits an der Bewegung des Gehens durch Landschaften, Städte und Stadtrandgegenden orientiert (Honold 2017, 465; MJN 580). Was Carstensen als die „anmutige, entschleunigte Teilhabe des Ichs an der Welt“ bezeichnet (Carstensen 2013, 189), wird in Alexander Honolds Untersuchung Der Erd-Erzähler. Peter Handkes Prosa der Orte, Räume und Landschaften zum Organisationszentrum einer Linie der „Verlangsamung“ (Honold
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2013, 492), die das Gesamtwerk Handkes bestimmt. Für ihn ist der Autor ein „Erzähler der Erde, ein mit fußgängerischer Langmut und penibler Beharrlichkeit vorgehender Chronist von Orten, Räumen und Landschaften. Einer, dem sich die Welt als Erfahrung in doppelter Weise erschließt, durch die eigene Fortbewegung im Raum und durch den sie nach- und umgestaltenden Zug des eigenen Schreibens in der Zeit“ (Honold 2017, 11; Hummel 2007, 93). Honold erschließt deshalb das figurative Schema des Passgangs in Handkes Weg- und Fahrtbeschreibungen bis in syntaktische Feingliederungen. Zugleich beschreibt er auffällige rhythmische Sequenzen, welche die Landschaftsbeschreibung bestimmen (Honold 2017, 517; BV 305). Daraus entsteht das Bild einer „topo-graphischen Poiesis“, die sich mit vielen Beobachtungen zur Überlagerung von imaginärer und realer Topographie bei Handke verbinden lässt (Luckscheiter 2012, 12), gleichzeitig aber die Spannung „von Panik und Sprachstörung“ fortschreibt, die das frühe Werk bestimmt (Wagner 2010, 19). Honold belegt dies schon zu Beginn im Zuge einer intensiven autobiographischen Entzifferung der Hornissen, die als „Erinnerungslandschaft im Sprachexperiment“ (Honold 2017, 14) eine experimentelle, eine autobiographische und eine existentielle Spur aufweisen (Honold 2017, 11; Renner 1985, 1, 4; Wagner 2010, 19). Nicht zuletzt durch diese Verknüpfung werden selbst in den Landschaftsbeschreibungen des Handkeschen Werks durchlaufende Linien erkennbar. Besondere Bedeutung gewinnt hier die Verbindung zwischen der Langsamen Heimkehr und der Lehre der Sainte-Victoire. Diese schließt nach Honolds Einschätzung fast „nahtlos“ an jene „Ästhetik der Erdbeschreibung und Formen-Erkundung an, zu der die Tätigkeit des Geologen Sorger […] mehr und mehr geworden war“ (Honold 2017, 180). Dabei zeichnet der Text der Lehre der Sainte-Victoire bereits die Form vor, die Handkes Erzählen in seinen späteren Texten kennzeichnet. Schon die Lehre ist eine „aus narrativen, deskriptiven und reflektierenden Anteilen zusammengesetzte ‚Mischgattung‘“, eine „hybride[.] Verbindung von divergenten Textformen und Darstellungsweisen“ (Honold 2017, 180). Diese erschließt über die Raumbilder hinaus auch soziale Kontexte. Im Bildverlust macht Honold ein ganzes „Zweigstellen-System von Schwellen und Kontaktzonen“ zum Baugesetz von Handkes Erzählen (Honold 2017, 544). Angesichts dieser Technik der Vernetzung, welche die einzelnen Texte ebenso organisiert wie ihre Wechselbeziehung, hat man mit guten Gründen und im Blick auf das späte Werk Handkes die Frage gestellt, ob nicht alle seine Texte als ein „fortgeschriebenes Epos“ zusammengehören und die „vermeintlichen Redundanzen“ eben Handkes „Phantasien der Wiederholung“ sind (Wiele 2017). Die auffälligen rhythmischen Sequenzen, welche die Landschaftsbeschreibung bestimmen (Honold 2017, 517; BV 305), eröffnen zugleich eine visuelle Dimension, die das Erzählen organisiert. Das in der Langsamen Heimkehr begonnene Erzählen als „graphisches Projekt der Erfassung und Zeichnung landschaftlicher Erscheinungsformen“ (Honold 2017, 222; LSV 108) wird in der „landschaftlichen Bilder-Schrift“ der Lehre der Sainte-Victoire substantiell erweitert und in der Erzählung Die Wiederholung fortgeschrieben (Honold 2017, 233).
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Neben diesen monographischen Ansätzen folgen Einzelanalysen einigen zentralen Punkten, die sich sowohl auf die Intertextualiät als auch auf die Textordnung von Handkes Schreiben richten. Außer den Referenzen auf die österreichische und die Weltliteratur, die immer wieder thematisiert werden, sind dabei insbesondere der Rückgriff auf die Sprachtheorie Ludwig Wittgensteins (Wagner 2010, 113) und die Philosophie Heideggers von Bedeutung. Letztere führt einerseits zu „einer postulatorischen Rhetorik und einem herrischen Verkündigungsgestus“ (Wagner 2010, 84), andererseits zu einer von der Tetralogie ausgehenden Neubestimmung der Rolle des dichterischen Subjekts (Renner/Nenon 1989, 104–115; Huber 2005, 116–119; Meyer 2004, 252–275.) und einer Einschreibung ontologischer Grundfiguren in Handkes Texte. Allerdings verliert dieser besondere Aspekt des Heidegger-Bezugs sein Gewicht, wenn wie stellenweise bei Huber der poetische und der philosophische Text parallel gelesen werden, wie mit Blick auf den Großen Fall festzuhalten ist. Dagegen ist zu berücksichtigen, dass Handke die Leitworte Heideggers zugleich situativ transformiert (Huber 2005, 186–189). Vielfach werden bei ihm Verweise eröffnet, doch im gleichen Zug durch das Erzählen schon wieder dekonstruiert. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Orte und Namen in Handkes Texten häufig eine imaginäre Geographie entwerfen, in der durch die Verknüpfung von Raum- und Zeitbezügen Chronotopoi entstehen (Wagner 2006, 14; Luckscheiter 2012, 143). Sie werden durch eine komplexe intertextuelle Erzählstruktur – der Bezug auf Cervantes liefert dabei das Muster – weiter differenziert (Pichler 2013, 5). Zudem verbinden sich die Orte dieser „Geo-Poetik“ mit einer vorzugsweise auf die Kindheit gerichteten „Psycho-Topographie“ (Wagner 2010, 92 f.). Die so entstehenden „hybride[n] und dissonante[n] Zeichenwelten“ (Wagner 2006, 11) und das „verzweigte[.] System der Bezugnahmen auf seine eigenen früheren Texte wie auf einen kaum noch überblickbaren weltliterarischen Kanon“ überlagert alle Versuche einer Periodisierung von Handkes Werk (Wagner 2010, 91) und lässt den besonderen Status seines Erzählens erkennen, der sich in der Niemandsbucht als eine „erzählende[.] Erzählforschung“ zum Ausdruck bringt (Wagner 2010, 119), die sich dem allein realistischen ebenso wie dem offen psychologisierenden Erzählen verweigert.
Bibliographie
Peter Handke: Werke und Texte mit Siglen Mit Rücksicht auf eine leichtere Benutzbarkeit wird, soweit vorhanden (mit Ausnahme der Tetralogie „Langsame Heimkehr“), nach den Taschenbuchausgaben zitiert: der „Hausierer“ nach der bei Fischer verlegten Ausgabe, die anderen Texte nach den bei Suhrkamp gedruckten Taschenbuchausgaben. Die S uhrkampTaschenbuchausgaben sind mit den Erstdrucken in der Regel seitengleich. Abweichungen ergeben sich nur da, wo die Erstausgaben im Residenz-Verlag erschienen sind. Nicht seitengleich mit den Erstausgaben sind die Taschenbuchausgaben der „Hornissen“ (Frankfurt, 2. vom Autor überarbeitete und gekürzte Ausgabe 1980), des „Wunschlosen Unglücks“ und der Tetralogie „Langsame Heimkehr“. Die Stücke, Hörspiele, Prosatexte, Essays, Feuilletons und Rezensionen werden ebenso wie die Lyrik, sofern sie in Sammelbände aufgenommen sind, nach diesen Ausgaben zitiert; die Fassungen in den Sammelbänden sind mitunter geringfügig vom Autor überarbeitet. Das „Gewicht der Welt“ wird nach der ungekürzten Erstausgabe zitiert. A Die Abwesenheit. Ein Märchen [1987], Frankfurt a. M. 1990. AF Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987), Salzburg/ Wien 1998. AR Die schönen Tage von Aranjuez. Ein Sommerdialog, Berlin 2012. AT Abschied des Träumers vom Neunten Land, in: Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise, Frankfurt a. M. 1998, S. 5–32. BA Begrüßung des Aufsichtsrats. Prosatexte [1967], Frankfurt a. M. 1981. BTS Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts. Ein Monolog, Frankfurt a. M. 2009. BV Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. Roman, Frankfurt a. M. 2002.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Renner, Peter Handke, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04907-0
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Bibliographie
BW/HK Peter Handke, Alfred Kolleritsch: Schönheit ist die erste Bürgerpflicht. Briefwechsel, Salzburg 2008. BW/HL Peter Handke, Hermann Lenz: Berichterstatter des Tages, hg. und mit einem Nachwort von Helmut Böttiger, Charlotte Brombach und Ulrich Rüdenauer, Frankfurt a. M./Leipzig 2006. BW/HU Peter Handke, Siegfried Unseld: Der Briefwechsel, hg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor, Berlin 2012. CLE Chronik der laufenden Ereignisse. Filmbuch, Frankfurt a. M. 1971. CS Der Chinese des Schmerzes, Frankfurt a. M. 1983. CU „Warum eine Küche?“ Texte für das Schauspiel ‚La Cuisine‘ von Mladen Materić, Wien 2003. DJ Don Juan (erzählt von ihm selbst), Frankfurt a. M. 2004. DLA Teilvorlass Peter Handke, Deutsches Literaturarchiv Marbach. DS Die Stunde da wir nichts voneinander wußten. Ein Schauspiel, Frankfurt a. M. 1992. DSF Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum Sonoren Land, Frankfurt a. M. 1989. DU Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten, Berlin 2015. E Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1972. EJN Ein Jahr aus der Nacht gesprochen, Salzburg/Wien 2010. FB Falsche Bewegung, Frankfurt a. M. 1975. FE Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg, Frankfurt a. M. 1999. GB Die Geschichte des Bleistifts [1982], Frankfurt a. M. 1985. GD Gedicht an die Dauer, Frankfurt a. M. 1986. GDM Die Geschichte des Dragoljub Milanović, Salzburg/Wien 2011. GF Der Große Fall, Berlin 2011. GU Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Salzburg 2005. GW Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 bis März 1977), Salzburg 1977. H Der Hausierer. Roman [1967], Frankfurt a. M. 1992. HO Die Hornissen. Roman [1966], Frankfurt a. M. 1977. IAI Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Frankfurt a. M. 1969. IN In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Roman [1997], Frankfurt a. M. 1999. IS Immer noch Sturm, Berlin 2010. KB Der kurze Brief zum langen Abschied. Erzählung [1972], Frankfurt a. M. 2001. KG Kindergeschichte, Frankfurt a. M. 1981. K Kali. Eine Vorwintergeschichte, Frankfurt a. M. 2007. KVH Die Kuckucke von Velika Hoča. Eine Nachschrift, Frankfurt a. M. 2009.
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LF Die linkshändige Frau. Erzählung, Frankfurt a. M. 1976. LH Langsame Heimkehr [1979], Frankfurt a. M. 1984. LP Leben ohne Poesie. Gedichte, Frankfurt a. M. 2007. LS Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980–1992, Frankfurt a. M. 1992. LSV Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt a. M. 1980. MJN Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten [1994], Frankfurt a. M. 2007. MN Die morawische Nacht. Erzählung, Frankfurt a. M. 2008. MOMZ Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007, Frankfurt a. M. 2007. NB Notizbuch (31. August 1978 – 18. Oktober 1978), hg. von Raimund Fellinger, Berlin 2015. NS Nachmittag eines Schriftstellers. Erzählung, Salzburg 1987. OD Die Obstdiebin oder einfache Fahrt ins Landesinnere, Frankfurt a. M. 2017. ÖLA Teilvorlass Peter Handke, Österreichisches Literaturarchiv Wien. PW Phantasien der Wiederholung, Frankfurt a. M. 1983. RGT Rund um das Große Tribunal, Frankfurt a. M. 2003. SN Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996), in: Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991). Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996). Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996), Frankfurt a. M. 1998, S. 163–250. ST1 Stücke 1, Frankfurt a. M. 1972. Darin: Publikumsbeschimpfung, Weissagung, Selbstbezichtigung, Hilferufe, Kaspar. ST2 Stücke 2, Frankfurt a. M. 1973. Darin: Das Mündel will Vormund sein, Quodlibet, Der Ritt über den Bodensee. SV Spuren der Verirrten, Frankfurt a. M. 2006. SWE Die Stunde der wahren Empfindung. Erzählung [1975], Frankfurt a. M. 1982. T Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Erzählung [1970], Frankfurt a. M. 1972. TD Die Tablas von Daimiel. Ein Umwegzeugenbericht zum Prozeß gegen Slobodan Milošević, Frankfurt a. M. 2006. THU Noch einmal für Thukydides [1990], München 1997. U Die Unvernünftigen sterben aus. Stück, Frankfurt a. M. 1973. UB Untertagblues. Ein Stationendrama, Frankfurt a. M. 2003. ÜD Über die Dörfer. Dramatisches Gedicht [1981], Frankfurt a. M. 2002. UT Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999, Frankfurt a. M. 2000. VB Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007–2015, Salzburg 2016. VJ Versuch über die Jukebox [1990], in: Drei Versuche, Frankfurt a. M. 1998, S. 81–215.
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Bibliographie
VM Versuch über die Müdigkeit [1989], in: Drei Versuche, Frankfurt a. M. 1998, S. 5–80. VO Versuch über den Stillen Ort, Berlin 2012. VP Versuch über den Pilznarren. Eine Geschichte für sich, Berlin 2013. VT Versuch über den geglückten Tag. Ein Wintertagtraum [1991], in: Drei Versuche, Frankfurt a. M. 1998, S. 217–303. W Die Wiederholung [1986], Frankfurt a. M. 1999. WM Wind und Meer. Vier Hörspiele, Frankfurt a. M. 1970. WR Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996), in: Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991). Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996). Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996), Frankfurt a. M. 1998, S. 34–161. WU Wunschloses Unglück. Gedichte, Aufsätze, Texte, Fotos [1972], Frankfurt a. M. 1992. WÜ Als das Wünschen noch geholfen hat, Frankfurt a. M. 1974. ZS Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte, Berlin 2020. ZU Zurüstungen für die Unsterblichkeit. Ein Königsdrama, Frankfurt a. M. 1997.
Werkverzeichnis/Erstausgaben 1966 Die Hornissen. Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1966 Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1967 Die Literatur ist romantisch, Berlin: Oberbaumpresse. 1967 Der Hausierer. Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1967 Begrüßung des Aufsichtsrats. Prosatexte, Salzburg: Residenz. 1968 Kaspar, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1969 Das Mündel will Vormund sein, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1969 Deutsche Gedichte, Frankfurt a. M.: Euphorion. 1969 Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1969 Prosa, Gedichte, Theaterstücke, Hörspiele, Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1969 Quodlibet, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1970 Wind und Meer. Hörspiele, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1970 Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Erzählung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1971 Chronik der laufenden Ereignisse. Filmbuch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1971 Der Ritt über den Bodensee, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1972 Traum von der Leere der Flüssigkeit, Wien. 1972 Wunschloses Unglück. Erzählung, Salzburg: Residenz. 1972 Stücke 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bibliographie
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1972 Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1972 Der kurze Brief zum langen Abschied. Erzählung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1973 Stücke 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1973 Die Unvernünftigen sterben aus. Stück, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1974 Als das Wünschen noch geholfen hat. Gedichte, Aufsätze, Texte, Fotos, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1975 Der Rand der Wörter. Erzählungen, Gedichte, Stücke, Stuttgart: Reclam. 1975 Die Stunde der wahren Empfindung. Erzählung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1975 Falsche Bewegung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1976 Das Ende des Flanierens, Wien: Davidpresse. 1976 Die linkshändige Frau. Erzählung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1977 Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 – März 1977), Salzburg: Residenz. 1979 Langsame Heimkehr. Erzählung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1980 Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1980 Das Ende des Flanierens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1981 Kindergeschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1981 Über die Dörfer. Dramatisches Gedicht, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1982 Die Geschichte des Bleistifts, Salzburg: Residenz. 1983 Phantasien der Wiederholung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1983 Der Chinese des Schmerzes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1986 Die Wiederholung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1986 Gedicht an die Dauer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1986 Chambas, Jean-Paul/Handke, Peter: rien de plus calme quʼun cœur blessé, Paris: Christian Bourgois/Maison de la Culture de La Rochelle et du Centre-Ouest. 1987 Nachmittag eines Schriftstellers, Salzburg: Residenz. 1987 Die Abwesenheit. Ein Märchen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1987 Der Himmel über Berlin. Ein Filmbuch von Wim Wenders und Peter Handke, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1989 Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum Sonoren Land, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1989 Versuch über die Müdigkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1990 Noch einmal für Thukydides, Salzburg: Residenz. 1990 Versuch über die Jukebox, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1991 Versuch über den geglückten Tag. Ein Wintertagtraum, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1991 Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine Wirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerungen an Slowenien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1992 Die Stunde da wir nichts voneinander wußten. Ein Schauspiel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1992 Theaterstücke in einem Band, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
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Bibliographie
1992 Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980–1992, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1994 Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1995 Die Tage gingen wirklich ins Land. Ein Lesebuch, Stuttgart: Reclam. 1996 Die Abwesenheit: Eine Skizze. Ein Film. Ein Gespräch, Dürnau: Kooperative Dürnau. 1996 Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Sawe, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1996 Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1997 Zurüstungen für die Unsterblichkeit. Ein Königsdrama, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1997 In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1998 Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987), Salzburg/ Wien: Residenz. 1999 Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1999 Lucie im Wald mit den Dingsda. Eine Geschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2000 Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2002 Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2002 Mündliches und Schriftliches. Zu Büchern, Bildern und Filmen 1992– 2002, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2003 „Warum eine Küche?“ Texte für das Schauspiel La Cuisine von Mladen Materić [„Pourquoi la cuisine?“ Textes écrits pour le spectacle La Cuisine de Mladen Materić. 2001], Wien: Edition Korrespondenzen. 2003 Rund um das Große Tribunal, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2003 Untertagblues. Ein Stationendrama, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2003 Über Musik. Mit Illustrationen von Amina Handke. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gerhard Melzer, Graz/Wien: Droschl. 2004 Don Juan (erzählt von ihm selbst), Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2005 Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Salzburg: Jung und Jung. 2005 Die Tablas von Daimiel. Ein Umwegzeugenbericht zum Prozeß gegen Slobodan Milošević, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2006 Spuren der Verirrten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2007 Kali. Eine Vorwintergeschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2007 Leben ohne Poesie. Gedichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2007 Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bibliographie
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2008 Die morawische Nacht. Erzählung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2009 Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts. Ein Monolog [Französische Erstschrift, Jusqu’à ce que le jour vous sépare ou Une question de lumière, 2007 und Deutsche Version 2008], Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2009 Die Kuckucke von Velika Hoča. Eine Nachschrift, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2010 Ein Jahr aus der Nacht gesprochen, Salzburg/Wien: Jung und Jung. 2010 Immer noch Sturm, Berlin: Suhrkamp. 2011 Der Große Fall, Berlin: Suhrkamp. 2011 Die Geschichte des Dragoljub Milanović, Salzburg/Wien: Jung und Jung. 2012 Die schönen Tage von Aranjuez. Ein Sommerdialog. 2012, Berlin: Suhrkamp. 2012 Versuch über den Stillen Ort, Berlin: Suhrkamp. 2013 Versuch über den Pilznarren. Eine Geschichte für sich, Berlin: Suhrkamp. 2015 Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten, Berlin: Suhrkamp. 2015 Notizbuch. 31. August 1978 – 18. Oktober 1978, Berlin: Insel. 2015 Tage und Werke. Begleitschreiben, Berlin: Suhrkamp. 2016 Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007–2015, Salzburg: Jung und Jung. 2017 Die Obstdiebin oder einfache Fahrt ins Landesinnere, Berlin: Suhrkamp. 2020 Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte, Berlin: Suhrkamp.
Filmverzeichnis Drehbuch von Peter Handke 1969 Drei amerikanische LPs, Regie: Peter Handke, Wim Wenders. 1970 Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Drehbuch gemeinsam mit Wim Wenders, Regie: Wim Wenders. 1975 Falsche Bewegung, Regie: Wim Wenders. 1971 Chronik der laufenden Ereignisse, Regie: Peter Handke. 1978 Die linkshändige Frau, Regie: Peter Handke. 1985 Das Mal des Todes, Regie: Peter Handke. 1987 Der Himmel über Berlin, Drehbuch gemeinsam mit Richard Reitinger und Wim Wenders, Regie: Wim Wenders. 1992 Die Abwesenheit. Ein Märchen, Regie: Peter Handke. 2016 Die schönen Tage von Aranjuez, Drehbuch gemeinsam mit Wim Wenders, Regie: Wim Wenders.
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Bibliographie
Peter Handke: Weitere Werke und Texte Handke, Peter: Noch einmal vom Neunten Land. Gespräche mit Jože Horvat, mit einem Anhang und zehn Reproduktionen, Klagenfurt 1993. Handke, Peter: Gerechtigkeit für Serbien (Teil 1), in: SZ, 05.01.1996. Handke, Peter: ‚Ich bin nicht hingegangen, um mitzuhassen‘. Interview mit Peter Handke, in: Die Zeit, 02.02.1996, verfügbar unter: https://www.zeit. de/1996/06/Ich_bin_nicht_hingegangen_um_mitzuhassen, 29.10.2019. Handke, Peter: Das gerade Gegenteil, in: Focus, H. 11, 1999, 15.03.1999, verfügbar unter: https://www.focus.de/politik/ausland/serbien-das-gerade-gegenteil_ aid_175593.html, 29.10.2019. Handke, Peter: Moral ist ein anderes Wort für Willkür. Der Schriftsteller Peter Handke über die Nato-Bomben auf Serbien und die Frage, warum Amerika umerzogen werden muß, in: SZ, 15.05.1999. Handke, Peter: ‚Gegen Schreihälse und Einpeitscher‘. Peter Handke im NEWSInterview über seine Trauerrede für Slobodan Milošević, in: News, 23.03.2006. Handke, Peter: Ich wollte Zeuge sein. Die Motive meiner Reise nach Požarevac, Serbien – an Miloševićs Grab, in: Focus, H. 13, 2006, 27.03.2006, verfügbar unter: https://www.focus.de/kultur/medien/zeitgeschichte-ich-wollte-zeugesein_aid_218700.html, 30.10.2019. Handke, Peter: Parlons donc de la Yougoslavie, in: Libération, 10.05.2006, verfügbar unter: https://www.liberation.fr/tribune/2006/05/10/parlons-donc-de-layougoslavie_38687, 29.10.2019. Handke, Peter: Was ich nicht sagte. Eine Entgegnung auf die Kritik am Heinrich-Heine-Preis, in: FAZ, 30.05.2006. Handke, Peter: Am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen. Die Debatte um den Heinrich-Heine-Preis, in: Süddeutsche Zeitung, 01.06.2006. Handke, Peter: Je refuse! Ein Briefwechsel, in: FAZ, 09.06.2006. Handke, Peter: Zdeněk Adamec – Eine Szene, Frankfurt a. M. 2010 Handke, Peter, Siegfried Unseld: Der Briefwechsel, hg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor, Berlin 2012. Handke, Peter: Schnellkraft und Wuchtwelle. Der Dichter im Museum. National Galleries of Scotland. Allein mit dem Maler Nicolas Poussin und seinen sieben Bildern von den sieben Sakramenten. Eine Anschauung von Peter Handke, in: blau H. 28, 21.04.2018. Handke, Peter: Zeichnungen. Mit einem Essay von Giorgio Agamben, München 2019. Handke, Peter: Rede zu Verleihung des Nobelpreises, in: Kurier online, 07.12.2019, verfügbar unter: https://kurier.at/kultur/peter-handkes-nobelpreisrede-imlivestream/400696151, 19.12.2019.
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Gespräche und Interviews mit Peter Handke Behmann, Jan C./Mladen, Gladić: „Ich habe keine Schublade“. Interview mit Peter Handke, in: Der Freitag, H. 34, 2018, 26.09.2018. Blum, Heiko R.: Gespräch mit Peter Handke, in: Michael Scharang (Hg.): Über Peter Handke, Frankfurt a. M. 1972, S. 79–84. Böttiger, Helmut, Peter Handke: ‚Die Obstdiebin‘. Eine einfache Fahrt ins Landesinnere, verfügbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/peter-handkedie-obstdiebin-eine-einfache-fahrt-ins.950.de.html?dram:article_id=402091, 21.01.2019. Gamper, Herbert, Peter Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper, Zürich 1987. Greiner, Ulrich: Ich komme aus dem Traum. Ein ZEIT-Gespräch mit dem Schriftsteller Peter Handke über die Lust des Schreibens, den jugoslawischen Krieg und das Gehen in den Wäldern, in: Die Zeit, 01.02.2006. Greiner, Ulrich: Eine herbstliche Reise zu Peter Handke nach Paris. „Erzählen“, so sagt er, „ist eine Offenbarung“. Ein Gespräch mit dem berühmten Schriftsteller über seine neuen Bücher ‚Ein Jahr aus der Nacht gesprochen‘ und ‚Immer noch Sturm‘, über die enttäuschende amerikanische Gegenwartsliteratur und über sein umstrittenes Engagement in Bosnien, in: Die Zeit, H. 48, 25.11.2010. Hoghe, Raimund: Unsereiner hat keine Gemeinde. Ein Besuch bei Peter Handke auf dem Mönchsberg in Salzburg, in: Die Zeit, 29.10.1982. Kathrein, Karin: „Ich wär so gern skrupellos“. Bühne-Gespräch mit Peter Handke, in: Bühne 5 (1992), S. 12–17. Kümmel, Peter: „Die Geschichte ist ein Teufel“. Der Schriftsteller Peter Handke im Gespräch über den Brand von Notre-Dame und das Unglück Europas, in: Die Zeit, H. 18, 25.04.2019. Kurtz, Ulrich: „Das sind die Sachen, die mich zum Schreiben bringen“. Peter Handke im Gespräch mit Ulrich Kurtz über Doppelgänger, Verstorbene, Schwellen, in: Das Goetheanum 67.4 (24. Januar 1988), S. 21–25. Kurtz, Ulrich: „Da war ich vielleicht etwas naiv“, in: Kleine Zeitung, 07.05.2010. Linder, Christian: Die Ausbeutung des Bewußtseins. Gespräch mit Peter Handke, in: ders.: Schreiben & Leben, Köln 1974, S. 33–45. Müller, André: Wer einmal versagt im Schreiben, hat für immer versagt. André Müller spricht mit Peter Handke, in: Die Zeit, H. 10, 03.03.1989. Müller, André: ‚Ich bin ein Idiot im griechischen Sinne‘. Interview mit Peter Handke, in: Profil, 01.09.2007, verfügbar unter: https://www.profil.at/home/ichidiot-sinne-182406, 29.10.2019. Schwagerle, Elisabeth, Klaus Kastberger: „Es gibt die Schrift, es gibt das Schreiben“. Peter Handke im Gespräch mit Klaus Kastberger und Elisabeth Schwagerle in seinem Haus in Chaville, 1. April 2009, in: Klaus Kastberger (Hg.): Peter Handke. Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift, Wien 2009, S. 11–30.
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Bibliographie
Steinfeld, Thomas: Ich erzähle von einem Leben, das über mich hinausgeht. Peter Handke über den Roman „Der Bildverlust“ (im Gespräch mit Thomas Steinfeld), in: Süddeutsche Zeitung, 30.01.2002. Steinfeld, Thomas: Im Gespräch: Peter Handke Du mit deinem Jugoslawien, in: Süddeutsche Zeitung, 26.11.2010.
Sonstige Primärtexte mit Siglen Adorno GS Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1970 ff. Arnold TK Text + Kritik: Peter Handke. Hg. von Heinz Ludwig Arnold H. 24, Stuttgart, München und Hannover 1969; München 1971; München 1976; München 1978. Baudelaire Pl Baudelaire, Charles: Œuvres complètes, hg. von Claude Pichois, Paris 1975. Goethe A Goethe, Johann Wolfgang von: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, in: ders.: Artemis Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Zürich 31977, Bd. 24. Goethe FA Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Frankfurt a. M. 1989. Goethe Gesprr Goethe, Johann Wolfgang von: Goethes Gespräche, hg. von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 1–10, Leipzig 1889–1896. Goethe HA Goethe, Johann Wolfgang von: Hamburger Ausgabe, hg. von Erich Trunz, 14 Bde., München 121981. Goethe WA Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. (Weimarer Ausgabe). Abtlg. I–IV. 133 Bde. in 143 Teilen. H. Böhlau, Weimar 1887–1919. Heidegger EF Heidegger, Martin: Aus der Erfahrung des Denkens, in: Gesamtausgabe. Erste Abteilung. Veröffentlichte Schriften 1910–1976, 13. Band, Frankfurt a. M. 1983. Heidegger SuZ Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 111967. Heidegger VO Heidegger, Martin: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954. Heidegger UN Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1975. Hofmannsthal SWKA Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hg. von Rudolf Hirsch, Christoph Perels, Heinz Röllecke, Frankfurt a. M. 1991.
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